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German Pages [236]
F. L. CARSTEN DIE ERSTE ÖSTERREICHISCHE REPUBLIK IM SPIEGEL ZEITGENÖSSISCHER QUELLEN
BÖHLAUS ZEITGESCHICHTLICHE BIBLIOTHEK Band 8 Herausgegeben von Helmut Konrad
DIE ERSTE ÖSTERREICHISCHE REPUBLIK IM SPIEGEL ZEITGENÖSSISCHER QUELLEN von F. L. Carsten
Aus dem Englischen übersetzt von F. L. Carsten
BÖHLAU VERLAG WIEN - KÖLN - GRAZ
Gedruckt mit Unterstützung durch das Bundesministerium für Wissenschaft und Forschung
CIP-Titelaufnahme der Deutschen Bibliothek Carsten, Francis L. : Die erste österreichische Republik im Spiegel zeitgenössischer Quellen / von F. L. Carsten. Aus d. Engl, übers, von F. L. Carsten. - Wien ; Köln ; Graz : Böhlau, 1988 (Böhlaus zeitgeschichtliche Bibliothek ; Bd. 8) Einheitssacht.: The first Austrian republic < d t . > ISBN 3-205-05087-8 NE: GT ISBN 3-205-05087-8 Das Werk ist urheberrechtlich geschützt. Die dadurch begründeten Rechte, insbesondere die der Übersetzung, des Nachdruckes, der Entnahme von Abbildungen, der Funksendung, der Wiedergabe auf photomechanischem oder ähnlichem Wege und der Speicherung in Datenverarbeitungsanlagen, bleiben, auch bei nur auszugsweiser Verwertung, vorbehalten. © 1988 by Böhlau Verlag Gesellschaft m. b. H. und Co. KG., Wien Satz: Werner L. Laudenbach (Laserdruck) Druck: Remaprint, Wien
Inhalt
Vorwort des Herausgebers
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Vorwort des Autors
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I.
Der Zusammenbruch der alten Ordnung Die Revolution 1918 bis 1919
II.
Krisenjahre 1920 bis 1922
III.
Jahre des Fortschritts 1923 bis 1927
11 >. 37 83
IV. Wiener Unruhen und ihre Folgen 1927 bis 1929
101
V.
123
Die letzten Jahre der Demokratie 1930 bis 1932
VI. Österreich unter Dollfuß 1933 bis 1934
143
VII. Österreich unter Schuschnigg 1934 bis 1937
167
VIII. Die Opposition
193
IX. Das Ende der österreichischen Unabhängigkeit
205
Zusammenfassung
225
Bibliographie
229
Register
231
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Vorwort des Herausgebers
Die Geschichte der Republik Österreich im kurzen Zeitraum vom Zusammenbruch der Habsburgermonarchie bis zur Eingliederung in das Deutsche Reich kann heute wohl als ein besonders intensiv bearbeitetes Feld historischer Forschung gelten. Weit über Österreich hinaus ist dabei das Interesse vor allem auf die großen Bruchlinien jener zwei Jahrzehnte gerichtet: In weniger als einer Generation mußten die Österreicher vier ganz unterschiedliche politische Systeme mit höchst differenten Werten und Normen in drei geographisch ganz verschiedenen Staatsverbänden erleben. Die Habsburgermonarchie als riesiges Vielvölkerreich, die demokratische Republik in den umstrittenen neuen Grenzen, der Ständestaat und schließlich die „Ostmark" des Deutschen Reiches waren die Stationen jener Jahre. Dazu kamen die Polarisierung der Innenpolitik, die völlig ungeklärte nationale Identität, die einem Kleinstaat nicht entsprechende kulturelle und wissenschaftliche Weltgeltung, der Gegensatz des „Wasserkopfes" Wien und der Bundesländer, die ökonomischen Unausgewogenheiten, die die Auswirkungen der Weltwirtschaftskrise verstärkten und vieles mehr. In der österreichischen Geschichte jener Zeit, die kürzer dauerte als etwa die Zeit der großen Koalition in der Zweiten Republik, bündelte sich die europäische Geschichte der Zeit zwischen den Weltkriegen. Die Brüche der österreichischen Geschichte im 20. Jahrhundert hatten auch unmittelbare Auswirkungen auf die zeitgeschichtliche Forschung. Erst in den sechziger Jahren gelang die akademische Verankerung des Faches, vorerst an der Universität Wien, und erst vier Jahrzehnte nach dem Ende des zweiten Weltkriegs konnten alle österreichischen Universitäten auf einen zeithistorischen Lehrstuhl verweisen. Die langen Zeitgeschichtslosen Jahre der Zweiten Republik ließen die Forschung zur Geschichte Österreichs des 20. Jahrhunderts zu einem großen Teil im Ausland ablaufen. Neben Felix Kreissler in Frankreich ist es vor allem Francis L. Carsten, der von England aus entscheidende Werke beigesteuert hat. Wenn auch die heutige österreichische Zeitgeschichtsforschung beachtliche Resultate erzielt und vor allem eine Fülle von Detailbefunden zur Zwischenkriegszeit vorzulegen hat, so bleibt es doch ein zu konstatierendes Phänomen, daß große Überblicksdarstellungen eher im Blick des Auslandes auf Österreich entstehen als im Land selbst. Francis L. Carsten, der in Deutschland am Widerstand gegen den Nationalsozialismus teilgenommen hatte, hat im Jahre 1977 eine große Gesamtdarstellung des Faschismus in Österreich vorgelegt. Er spannte darin den Bogen vom Antisemitismus und Deutschnationalismus des 19. Jahrhunderts bis zur Herrschaft des Nationalsozialismus und erschloß eine Fülle von neuem Quellenmaterial in Österreich selbst, indem er regionale Archive durchforstete. Bei der hier vorliegenden Arbeit wählte er einen anderen Zugang: In der Durchsicht der englischen Archive und Zeitschriften entwickelte er ein Bild von außen auf Österreich, eine Perspektive, die vor allem deshalb von größter Bedeutung ist, weil dieses Bild im historischen Prozeß der drei7
ßiger Jahre für das Verhalten der Westmächte in allen Fragen, die Österreich betrafen, wirksam wurde. Als das Buch 1986 in englischer Sprache erschien, war es sehr bald klar, daß für den deutschsprachigen Markt eine Übersetzung folgen sollte, um den wichtigen Text einem breiteren Publikum zu erschließen. Francis L. Carsten steht in der angelsächsischen Forschungstradition, der es immer gelungen ist, komplexe Sachverhalte differenziert, mit jedem Anspruch der Wissenschaftlichkeit, aber dennoch publikumsfreundlich, kulinarisch darzubieten. Durch das verwendete Material bedeutete dies aber auch, im Original englischsprachige Quellen so zu übertragen, daß sowohl das Typische erhalten bleibt als auch neuer Sprachfluß nicht beeinträchtigt werden sollte. Prof. Carsten hat sich selbst der Mühe dieser Übersetzung unterzogen, und von der Seite des Verlages hat Frau Mag. Christa Hämmerle eine Feinlektorierung unternommen. Für eventuell noch immer vorhandene Probleme trägt aber ausschließlich der Herausgeber, der im Zweifelsfall die Entscheidung zu tragen hatte, die Verantwortung. Es ist zu hoffen, daß dieses Buch eine ähnliche Aufnahme in der Öffentlichkeit finden wird wie die bisherigen Arbeiten des Autors, der als Verfasser von Monographien und als Herausgeber von Fachzeitschriften in der ersten Reihe der englischen Historiker (und an der Spitze der mit der Zeitgeschichte Mitteleuropas befaßten Fachkollegen) steht. Helmut Konrad
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Vorwort des Autors
Dieses Buch beruht auf einer Reihe bisher fast unbenutzter Quellen zur jüngsten österreichischen Geschichte, die sich zum größten Teil in London befinden: Es sind nicht nur die außerordentlich umfangreichen Akten des Foreign Office, des War Office und des britischen Kabinetts (soweit dort österreichische Fragen diskutiert wurden), sondern auch die Bestände der britischen Gesandtschaft in Wien, die - im Gegensatz zu den Akten der meisten anderen britischen Botschaften und Gesandtschaften - fast vollständig erhalten sind. Dazu kommen die fast vergessenen Berichte der Mitglieder der Society of Friends (Quäker), die Anfang der zwanziger Jahre in Wien und anderen österreichischen Städten arbeiteten und die sich nicht nur mit Wohltätigkeit und Fürsorgefragen befaßten. Andere Archive - wie das der Labour Party oder das Imperial War Museum - erwiesen sich als weniger ergiebig. Demgegenüber enthielten die großen englischen Zeitungen, die ständige Korrespondenten in Wien hatten, oft direkte Augenzeugenberichte, ihre Leitartikel beschäftigen sich von Zeit zu Zeit und vor allem während der nur zu häufigen politischen Krisen mit österreichischen Angelegenheiten. Sie sind hier nur als Ergänzung herangezogen worden. Viele österreichische Minister, Beamte und Politiker unterhielten sich oft vertraulich mit dem britischen Gesandten oder anderen Diplomaten in Wien, die dann nach London berichteten. Daraus ergibt sich ein lebendiges Bild der damaligen Zeit, das in vielerlei Beziehung neues Licht auf bekannte Ereignisse wirft oder bisher unbekannte Einzelheiten beleuchtet - nicht nur was Wien und die österreichische Regierung anlangt, sondern auch hinsichtlich der Entwicklung in den Ländern und der Stimmung und politischen Ausrichtung in kleineren Städten und auf dem Lande. Während in den frühen zwanziger Jahren die furchtbaren sozialen Verhältnisse in Wien und anderswo im Vordergrund der Berichterstattung standen, waren es später der Aufstieg und Niedergang der Heimwehr, dann das „autoritäre" Regime unter Dollfuß des österreichischen Nationalsozialismus mit seinen Beziehungen zu Deutschland bis zum Anschluß. Daneben spielten wirtschaftliche und finanzielle Probleme sowie die Möglichkeiten einer Hilfe für Österreich eine wichtige Rolle - wobei sich schließlich herausstellte, wie macht- und hilflos die britische Regierung war. Die österreichische Ausgabe dieses Buches entspricht der englischen Fassung, die 1986 bei Gower/Maurice Temple Smith erschienen ist. Druckfehler wurden bereinigt, die vielen Zitate so gut wie möglich von mir ins Deutsche übersetzt, stellenweise wurde der Text etwas erweitert. Mein Dank gilt den Angestellten des Public Record Office und der Society of Friends in London, die mich während vieler Monate mit Akten versorgten, und vor allem meiner Frau, für deren ständigen Rat und Mithilfe bei der Übersetzung der vielen Zitate aus den englischen Quellen, die sich oft als sehr schwierig erwies. London, im Herbst 1986 F. L. C.
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I. Der Zusammenbruch der alten Ordnung Die Revolution 1918-1919
Nach mehr als vier Jahren blutiger Kämpfe an vielen Fronten und enormen Verlusten an Menschenleben und Material brach das Reich der Habsburger, das Mitteleuropa mehr als vier Jahrhunderte beherrscht hatte, zusammen. In den letzten Tagen des Oktobers 1918 bildeten sich in Wien, Prag und Budapest aus den führenden politischen· Parteien Nationalkomitees, die die Macht übernahmen, und die alte Ordnung brach zusammen. In einer Note an den amerikanischen Präsidenten Woodrow Wilson erklärte die letzte Regierung der Doppelmonarchie sich zur Annahme der Friedensbedingungen der Entente bereit, und am 4. November wurde der Waffenstillstand mit den feindlichen Mächten abgeschlossen - eine Woche früher als von der Regierung des Deutschen Reiches. Schon zwei Wochen vor dem Waffenstillstand bildeten die Abgeordneten der deutschsprachigen Bezirke der Monarchie eine provisorische Nationalversammlung des unabhängigen deutsch-österreichischen Staates und wählten einen Vollzugsausschuß, der die Regierungsgewalt übernehmen sollte. Nur wenige Tage darauf folgten die Tschechen, die Ungarn, die Polen und die Südslawen diesem Beispiel und bildeten ihre eigenen Regierungen. In Mitteleuropa triumphierten der Nationalismus und das Prinzip der nationalen Selbstbestimmung. Doch in dem sich auflösenden Reich lebten die Nationalitäten nicht in getrennten Gebieten, sondern miteinander vermengt. Wo immer man die Grenzen der neuen Staaten ziehen würde, entstanden nationale Minderheiten, die unter die Herrschaft der Nationalität fallen mußten, die sich in dem neuen Staat als die herrschende Nation etablieren und den Rechten der Minderheiten nur wenig Beachtung schenken würde. Weder den Südtirolern noch den Sudetendeutschen, um nur zwei Beispiele zu nennen, sollte es gestattet sein, sich der neuen deutsch-österreichischen Republik, die am 12. November offiziell proklamiert wurde, anzuschließen, und in dieser selbst gab es größere slawische Minderheiten. Die Symptome der kommenden Auflösung der Doppelmonarchie wurden in London sorgfältig registriert. Im August 1918 beschrieb ein Memorandum des britischen Generalstabs die Meutereien und Desertionen in der österreichisch-ungarischen Armee, die ein riesiges Ausmaß angenommen hatten. Es schilderte auch die Streiks, die im Januar und aufs neue im Juni des Jahres in Wien und anderen Städten ausbrachen und wirtschaftliche und politische Ursachen hatten. Im Januar hatten die Verhandlungen zwischen den siegreichen Deutschen und Österreichern und der neuen bolschewistischen Regierung in Brest-Litowsk „gerade einen toten Punkt erreicht, und die Massen des Volkes waren entschlossen, daß der Friede mit Rußland nicht ein Opfer des Imperialismus werden sollte, wie sie befürchteten; für den Augenblick wurden die wirtschaftlichen Ängste zugunsten politischer Ziele vergessen". 11
Von Wiener Neustadt und Wien dehnte sich die Streikbewegung rasch nach Oberösterreich und in die Steiermark aus. Doch fünf Monate darauf blieb sie im großen und ganzen auf Wien und Niederösterreich beschränkt. Die Ursache war eine empfindliche Kürzung der Brotration, die „die Erregung erhöhte und Verzweiflung unter den Arbeitern hervorrief. Ein Streik wurde unvermeidlich. Er wurde hinausgeschoben aber nicht verhindert durch einen Aufruf der sozialdemokratischen Partei, der besagte, angesichts der allgemeinen Lage in Europa sei der Augenblick für einen Streik ungeeignet, an die Arbeiter appellierte, alle unbesonnenen Handlungen zu vermeiden und sie gleichzeitig warnte, ihre Stärke nicht zu überschätzen."
Dieser Appell wurde unterstützt vom Arbeiterrat, der während des Januarstreiks gebildet worden war und sich gegen jede Ausdehnung des Streiks wandte. Daher war die Streikbewegung im Juni „nicht mit der vom Januar zu vergleichen", aber trotzdem brachte sie "manche wirtschaftliche Zugeständnisse" und „trug wesentlich dazu bei, den Zusammentritt des Reichsrats unvermeidlich zu machen". Am Schluß stellte das Memorandum fest, im Gegensatz zum Januar seien im Juni „alle politischen Ziele gegenüber der Sorge um das tägliche Brot zurückgetreten". Die Zusammenkunft des Arbeiterrats am 18. Juni wurde kurz erwähnt, aber ohne ihr größere Bedeutung beizumessen, und ein Vergleich mit den viel bedeutenderen russischen Sowjets, die den Bolschewiki bei ihrer Machtergreifung geholfen hatten, wurde nicht gezogen.1 Ende Oktober telegraphierte der britische Gesandte in Bern, Lord Acton, er sei von dem katholischen Geistlichen Anton KoroSec, dem Leiter der südslawischen Gruppe des Reichsrats, aufgesucht worden. Von ihm habe er gehört, in Wien gäbe es „keine Autorität mehr". Die herrschenden Gruppen dort seien „viel mehr darauf bedacht, ihre persönlichen Besitztümer zu retten als den Staat". In der Wiener Bevölkerung konzentrierte sich alles auf die Ernährungsfrage. Die sozialistischen Führer hätten die Arbeiterklasse fest in der Hand, und ihnen sei klar, daß „ordnungsloser Bolschewismus (promiscuous Bolshevism) dem Volk kein Brot bringen wird". Die Vorräte an Nahrungsmitteln seien gefährlich knapp, und eine Volkserhebung könne „jeden Augenblick ausbrechen"; doch gäbe es „keine Wahrscheinlichkeit einer politischen Revolution unter den Deutschösterreichern", die damit "zufrieden wären, den politischen Status ihres Landes der Friedenskonferenz zu überlassen"; die Drohung, sich dem Deutschen Reich anzuschließen, brauche nicht ernst genommen zu werden.2 Der Haß der Massen galt natürlicherweise dem Deutschland Kaiser Wilhelms II. und nicht der neuen Deutschen Republik, die am 9. November 1918 entstand. Einige Wochen später sandte Lord Acton einen Bericht über die Unterredung mit dem Bischof von Feldkirch, der erklärte, die italienische Armee habe „den südlichen Teil von Deutschtirol besetzt, von einem Punkt nördlich von Trient an, wo die Sprachgrenze liege, bis zu einem Punkt jenseits und inklusive des Brenners". Wenn dies durch den Friedensvertrag bestätigt werden sollte (wie es neun Monate später geschah), würde Nordtirol „keine andere Wahl haben als sich Bayern anzuschließen, wozu unter den Tirolern keine Neigung bestehe... Der Bischof... sagt, in Deutsch12
tirol gäbe es weder eine Neigung zum Anschluß an die deutsch-österreichische Republik noch an Deutschland." Der britische Gesandte stellte mit Recht fest, daß „das Prinzip der Selbstbestimmung aufgegeben worden sei". 3 Nicht nur in Tirol, sondern auch in Kärnten, im Burgenland und in Böhmen sah sich das neue Österreich bald mit den einander widersprechenden Ansprüchen der Nationalitäten konfrontiert, die seit dem 19. Jahrhundert ein unlösbares Problem für die Doppelmonarchie gebildet hatten. Inzwischen hatte sich ein anderes und zunächst viel schrecklicheres Problem mehr oder minder von selbst gelöst - das der Demobilmachung der bunt zusammengesetzten Armee und ihrer Rückkehr in die Heimat. Zur Zeit des Waffenstillstandes drohte ein Chaos. Ein englischer Geschäftsmann, der während des Krieges in Österreich interniert gewesen war, berichtete: „Der Zusammenbruch der österreichischen Armee war total und überstieg sogar die Erwartungen der größten Pessimisten in Österreich. Die Soldaten liefen einfach von der Front und ihren Offizieren fort. . . Soldaten stürmten die Züge, zerbrachen die Fensterscheiben um hineinzukommen, die Dächer der Eisenbahnwaggons waren voll von ihnen . . . Doch die meisten Soldaten auf den Dächern wurden beim Passieren der Tunnels heruntergestoßen und getötet, die Schienen waren überall mit Toten gesäumt." Er erwähnte auch das gute Funktionieren der Eisenbahnen, besonders auf der Linie Triest-Wien: „Von Laibach, wo all die verschiedenen Armeen zusammentrafen, lief ungefähr alle 20 Minuten ein Zug ab, so daß pro Tag 70 bis 100.000 Mann befördert werden konnten. So erfolgte die Demobilmachung, in etwa drei Wochen, während man dafür ungefähr zwei Jahre angesetzt hatte." Was die Bevölkerung der Steiermark, welche die Armeen auf ihrem Rückzug passieren mußten, betraf, so war diese „froh darüber, daß die Armeen auf ihrem Rückzug die Eisenbahn benutzten. Denn man hatte sehr befürchtet, daß die heimkehrenden Soldaten die Hauptstraßen benutzen und, da sie nichts zu essen hatten, rauben, plündern und brandlegen würden". Die Heimkehr der Soldaten löste auch in Wien schwere Befürchtungen aus, aber die Stadt blieb ruhig. „Viele Reiche, Aristokraten und Erzherzöge verließen Wien" und retteten sich in die Schweiz, nach Böhmen oder auf ihre Güter, und die Soldaten trachteten nur danach, so rasch wie möglich nach Hause zu kommen. 4 Der gleiche Bericht enthielt auch andere wichtige Nachrichten: „Es ist klar, daß die neue Regierung sehr schwach ist, und besonders durch den Verlust Victor Adlers, des berühmten Sozialdemokraten, besitzt sie keinen Führer, der Initiative und Energie besitzt." Adler war wenige Tage nach seiner Ernennung zum Außenminister der neuen Regierung gestorben. Am Tage der Proklamierung der österreichischen Republik kam es zu blutigen Zusammenstößen vor dem Parlamentsgebäude, bei denen zwei Menschen'getötet und viele verwundet wurden. In Wien hieß es, wenn „es nur eine organisierte Kraft von hundert Mann gegeben hätte, die sich für irgendeine andere Regierung eingesetzt hätte, dann wäre sie mit der eben ernannten jungen Regierung leicht fertig geworden". Was die Wiener Bevölkerung betreffe, sie „vergesse schon den ganzen Krieg, denke kaum an Regierung, Politik, Finanzen und sei faktisch zu ausgehungert, um die Energie aufzubringen, sich mit so etwas zu beschäftigen". Sie warte nur auf 13
den Augenblick, an dem „sie von irgendwoher Hilfe erhielte, bis etwas Nahrungsmittel und Kohle kommen". Der Berichterstatter beschrieb die Österreicher als „eine degenerierte R a s s e , . . . außerstande, irgendwelche Energie zu entfalten. Daher sind die Juden mit ihrem Ehrgeiz die führenden Leute im Lande, und sie haben jetzt die Regierung in den Händen. Aber sie werden allgemein gehaßt." 5 Es ist richtig, daß in der neuen Koalitionsregierung zwei Juden saßen: Otto Bauer als Außenminister (nach dem Tod von Victor Adler) und Julius Deutsch als Unterstaatssekretär im Staatsamt für Heerwesen. Aber das bedeutete keineswegs, daß die Juden „jetzt die Regierung in den Händen haben" oder das Land beherrschten.· Wie wir sehen werden, gaben der Kriegsverlauf und seine Folgen dem Antisemitismus starken Auftrieb, der sich in Österreich schon vor dem Krieg entfaltet hatte und von den zwei führenden bürgerlichen Parteien, den Christlichsozialen und den Großdeutschen, gefördert wurde. Sie bildeten zusammen mit den Sozialdemokraten die neue Regierung. Indem er diese Punkte betonte, spiegelte der Bericht genau die Tendenzen wider, die im Bürgertum und Kleinbürgertum von Wien vorherrschten und dem Verfasser anscheinend gut bekannt waren. Er erwähnte auch „Leute des alten politischen und sozialen Systems", die darauf aus seien, „ihre höheren Positionen nicht durch Liberalität zu bewahren, sondern durch autokratische Methoden, . . . und so alle demokratischen Ideen der Gegenwart ignorieren". Zweifellos standen viele von ihnen der neuen Republik mit bitterer Feindschaft gegenüber, die sie für alles Schlimme, das ihrem Land widerfahren war, verantwortlich machen wollten, was nur zu bequem war. Die Ausrufung der Deutschen Republik und die Bildung einer provisorischen deutschen Regierung unter sozialdemokratischer Führung (im Gegensatz zu Österreich) riefen in Österreich eine wachsende Agitation für den Anschluß hervor. Diese wurde vor allem von den Sozialdemokraten unterstützt, die sich ihrer eigenen Schwäche und Isolierung in einem konservativen und katholischen Lande bewußt waren und auf die Hilfe ihrer deutschen Genossen hofften. Schon im November 1918 schrieb der Historiker und Beamte im Foreign Office, Lewis Namier: „Es scheint wahrscheinlich,.daß die Deutschösterreicher sich letztendlich mit Deutschland vereinigen werden." Er schlug vor, ein offizielles Communiqué herauszugeben: „Anscheinend werden in Deutsehösterreich von deutschen Agenten Gerüchte kolportiert, daß Großbritannien beabsichtige, die Deutschösterreicher in eine Donauföderation zu zwingen und daran zu hindern, sich an Deutschland anzuschließen, sollten sie das wünschen. Die britische Regierung hat keine derartigen Absichten, sie wird das Recht Deutschösterreichs, über seine Zukunft selbst zu bestimmen, respektieren, ebenso wie sie das Recht jeder anderen Nation, das gleiche zu tun, respektiert."
Man kam dann überein, im Unterhaus durch Oberst Josiah Wedgwood eine Anfrage in dieser Richtung stellen zu lassen. Die Antwort, gegeben von Bonar Law, dem Schatzminister, war, daß „diese Gerüchte gänzlich unbegründet sind". 6 Zur gleichen Zeit schrieb Arthur Balfour, der Außenminister, an den Privatsekretär des Königs George V.: „Widerstand gegen die Vereinigung des deutschen Österreichs mit dem Rest der germanischen Völker zu leisten, . . . würde eines der Grundprinzipien verletzen, für die die Alliierten gekämpft haben - das Recht auf 14
Selbstbestimmung." Eine solche Vereinigung würde „politisch nicht ohne Vorteile" sein, denn sie hätte zur Folge „eine beträchtliche Verstärkung des Gewichts von Süddeutschland gegenüber dem Norden, und die Führung könnte so den Händen Preußens entgleiten". 7 Einige Wochen darauf stellte ein Memorandum über „Deutsch-Österreich", das vom Political Intelligence Department des Foreign Office verfaßt wurde, noch eindeutiger fest: „Wir können die Deutschösterreicher nicht ausrotten, wir können nicht erreichen, daß sie sich nicht mehr als Deutsche fühlen. Sie müssen irgendwohin gehören. Nichts würde dadurch gewonnen, daß man sie zwingt, getrennt von Deutschland zu existieren. Eine solche erzwungene Trennung würde nur den deutschen Nationalismus fördern, könnte aber weder die Zusammenarbeit zwischen den beiden Zweigen verhindern noch ihre spätere Vereinigung. Schließlich ist die Vereinigung von Deutschösterreich mit Deutschland von unserem Gesichtspunkt aus nicht unvorteilhaft, weil sie das Gleichgewicht zwischen dem katholischen Süden und dem protestantischen Norden wieder herstellen und dazu beitragen würde, dem Preußentum (Prussianism) in Deutschland Einhalt zu gebieten. Der Plan, den Deutschösterreichern 'zu verbieten, sich an Deutschland anzuschließen, selbst wenn beide Seiten es wünschen, muß daher aufgegeben werden, sowohl aus prinzipiellen Gründen wie aus denen der Zweckmäßigkeit."
Mehrere hohe Beamte sprachen ihre Zustimmung zu diesem Memorandum aus, unter ihnen Sir William Tyrrell, der Unterstaatssekretär im Foreign Office. 8 Es zeigt ganz eindeutig, wie klar man das Problem bereits 1918 erkannte und wie gering die Opposition in London gegen den Anschluß war. Doch die Franzosen leisteten entschlossenen Widerstand, und schließlich legte der Vertrag von St. Germain fest, die Unabhängigkeit Österreichs sei „unabdingbar", es sei denn, daß der Rat des Völkerbundes einer Änderung seines Status zustimmte. Die Franzosen traten dafür ein, die Alliierten sollten sich verpflichten, einer zukünftigen Vereinigung von Deutschland und Österreich mit Gewalt entgegenzutreten - aber das wurde abgelehnt. 9 Die bitteren Kämpfe der Kriegsjahre und die furchtbaren Verwüstungen in Frankreich und Belgien hatten die Leidenschaften so stark entfacht, daß alle rationelleren Erwägungen in der politischen Atmosphäre von 1919 mißachtet wurden. Doch die Anschlußfrage ließ sich nicht so ohne weiteres beiseiteschieben. Vor allem die österreichischen Sozialdemokraten traten dafür ein, da sie sich davon eine Linderung der finanziellen und wirtschaftlichen Sorgen des Landes erhofften. Aufgrund vertraulicher Berichte, die der britischen Gesandtschaft in Bern zugingen, beschuldigte sie Sir Horace Rumbold deshalb als „sozusagen infiziert mit alldeutschen Ideen . . . Die Wiener Sozialisten erwarten, sie könnten den Staatsbankrott durch den Anschluß Deutschösterreichs ah die Deutsche Republik verhindern." Obgleich bei den Wahlen vom Februar 1919 die für den Anschluß eintretenden Parteien - die Sozialdemokraten und die Großdeutschen - eine klare Mehrheit von fast 60 Prozent der Stimmen erhielten, glaubte Rumbold noch immer, „daß die Mehrheit der deutschösterreichischen Bevölkerung eine Vereinigung mit Deutschland ablehnt". 10 Im April berichtete ein britischer Diplomat aus Wien: „Die Propaganda für den Anschluß ist während der vergangenen Monate gewachsen und jetzt so stark geworden, daß kein politischer Führer offen dagegen auftritt. Von Anfang an war es völlig Idar, daß der Anschluß früher oder später unvermeidlich werden würde, wenn 15
nicht die Nachfolgestaaten dazu gebracht werden könnten, ihre chauvinistischen Tendenzen aufzugeben und ihre Grenzen für den Verkehr mit Österreich zu öffnen."
Er schlug vor, eine Konferenz mit den Nachfolgestaaten abzuhalten, um die Frage zu diskutieren. Aber im Foreign Office notierte Lord Hardinge: „In diesen Staaten grassieren noch alle Eifersucht und Erbitterung aus dem Kriege . . . Eine Konferenz zu dieser Zeit würde das sehr wahrscheinlich nur verschlimmern und keine Linderung bringen, denn sie würde den betroffenen Staaten deutlich machen, wo ihre Interessen voneinander abweichen." 11 Im Juni 1919 schrieb Otto Bauer an den österreichischen Staatskanzler Karl Renner, der in St. Germain mit den Alliierten verhandelte: „Alles sagt, jetzt bleibt kein anderer Weg als der Anschluß. Gerade in den bürgerlichen Kreisen, die bisher am kühlsten waren, ist der Anschlußgedanke jetzt viel stärker als jemals zuvor." Jedes Zurückweichen in dieser Frage wäre „jetzt der größte Fehler". 12 Doch das Zugeständnis mußte gemacht werden, und das war einer der Gründe für Bauers Rücktritt als Außenminister wenige Wochen später. Im Foreign Office notierte Lewis Namier trotz seiner betont konservativen Einstellung: „Der Wechsel hat offensichtlich stattgefunden, um den Franzosen entgegenzukommen und günstigere Friedensbedingungen zu erhalten . . . Doch schließlich wird die Politik Deutschösterreichs aufgrund der Logik der Tatsachen in die Richtung gehen müssen, die Bauer angedeutet hat, d. h. auf eine engere Verbindung mit Deutschland hin . . . Möglicherweise wird Bauer (nun), da er nicht mehr im Amte ist, einen noch größeren Einfluß haben als im Amte, und die Zusammenarbeit zwischen ihm und Renner wird vermutlich weitergehen was nicht schlecht ist. In den Tagen seiner Größe hat Österreich nie eine so anständige Regierung gehabt wie heute, und nie so fähige Staatsmänner." 13
Im November war der britische Außenminister Curzon noch immer davon überzeugt, „daß eine große Zahl von Österreichern glaubt, ihre Rettung liege in einer solchen Vereinigung [mit Deutschland]. Und aufgrund der Tatsache, daß die Alliierten Mächte Österreich durch einen Vertrag daran gehindert haben, sich an Deutschland anzuschließen", war Lord Curzon der Meinung, daß „diese Mächte eine starke moralische Verpflichtung haben, dafür zu sorgen, daß Österreich nicht dadurch Ruin und Hungersnot erleidet, weil es an einer Vereinigung mit Deutschland gehindert wird".14 Andererseits betonte ein Memorandum, daß im August 1919 im Foreign Office verfaßt wurde, die Gefahren, die ein Anschluß mit sich bringen würde: „Sobald Deutschland in Wien ist, ist es wiederum auf dem Weg zum Balkan und nach Konstantinopel und wird seine Politik des .Drangs nach Osten' erneuern, die eine der Ursachen des Krieges war. Damit wird die Frage der deutschen Minderheit in Böhmen akut und die Existenz der Tschechoslowakischen Republik bedroht." 15 Hier wurde angedeutet, was sich 1938 bewahrheiten sollte - allerdings unter völlig veränderten Verhältnissen in Mitteleuropa. Die starke deutsche Minderheit in Böhmen, die sich mit Österreich vereinigen wollte, brachte ein weiteres unlösbares Problem. Anfang 1919 erklärte Otto Bauer gegenüber einem britischen Offizier, der tschechische Anspruch auf die deutschsprachigen Bezirke sei „das schwierigste Problem, mit dem sich die deutschösterreichische Regierung im Augenblick beschäftigen müsse . . . Die ganze Zukunft Deutschösterreichs hänge von der Lösung
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dieser Frage ab . . . Sollte die Friedenskonferenz den tschechischen Anspruch unterstützen, würde es viele Jahre lang keinen Frieden geben, denn Deutschböhmen unter tschechischer Herrschaft würde für Böhmen eine Quelle der Schwäche und für Deutschösterreich eine dauernde Quelle der nationalistischen Agitation sein. Der Verlust der deutschböhmischen Kohlengruben würde den Ruin Deutschösterreichs verursachen."16 Doch es war vergeblich, daß die Sozialisten sich auf „das Recht der Selbstbestimmung, wie es in den 14 Punkten Präsident Wilsons festgelegt wurde", beriefen, und ebenso vergeblich, daß 114 von insgesamt 195 Gemeinden Südmährens den Wunsch nach Vereinigung mit Österreich aussprachen. 17 Die Friedenskonferenz entschied zugunsten der Tschechoslowakischen Republik und deren Anspruch auf die historischen Grenzen von Böhmen und Mähren. Auch in Südmähren, wo es möglich gewesen wäre, die deutschsprachigen Bezirke, die an Ober- und Niederösterreich angrenzten, an Österreich abzutreten, ohne der Tschechoslowakei ernstlich zu schaden, wurde Österreich kein Zugeständnis gemacht. Ebensowenig erreichte die österreichische Regierung irgendein Zugeständnis von Italien, das auf dem Wortlaut des geheimen Vertrags von London (abgeschlossen 1915, um Italien zum Kriegseintritt zu gewinnen) und auf der Brennergrenze bestand. Im Juli 1919 schrieben der französische Ministerpräsident Clemenceau und der britische Außenminister Lord Balfour an den italienischen Außenminister Tittoni und betonten, die Forderung habe „unter vielen Bewunderern Italiens eine peinliche Überraschung ausgelöst . . . Wenn Sprache, Rasse und der Wunsch der Bevölkerung die Entscheidung der Friedenskonferenz beeinflußt hätten, wäre Südtirol nie italienisch geworden." 18 Aber die Prinzipien der Nationalität und der Selbstbestimmung mußten strategischen Erwägungen Platz machen, und Italien erhielt, was es verlangte. Auch in Nordtirol machten die Italiener 1919 „starke Propaganda für Vereinigung mit Italien", „die einzige Möglichkeit einer Wiedervereinigung der Provinz", wie der britische Hohe Kommissar Lindley aus Wien berichtete. 19 Doch der starke „provinzielle Patriotismus" der Tiroler und ihre Abneigung gegen Wien reichten nicht aus, um sie zugunsten Italiens zu beeinflussen; Nord- und Südtirol blieben voneinander getrennt. Im Süden wurden die Österreicher mit den territorialen Ansprüchen eines weiteren Staates konfrontiert: denen des neuen Königreichs der Jugoslawen, das die slowenischen Bezirke, im Süden von Kärnten und in der Steiermark besetzte und deren Abtretung verlangte. Anfang 1919 sandte Oberst Cuninghame, der britische Militärbevollmächtigte, aus Wien Resolutionen, die von den Stadträten von Bleiburg und Tarvis angenommen worden waren. Sie forderten, nach wie vor „zur ungeteilten Provinz Kärnten im Rahmen der deutschösterreichischen Republik" zu gehören und widerlegten somit „die slowenische Behauptung, daß das besetzte Gebiet wünsche, mit dem Jugoslawischen Königtum vereint zu werden". 20 Zur Lösung der Frage beschlossen die Alliierten, in Südkärnten eine Volksabstimmung abhalten zu lassen, und eine Kontroll-Kommission unter Vorsitz eines britischen Obersten etablierte sich in Klagenfurt, unterstützt von britischen, französischen und italienischen Truppen. Aus Klagenfurt berichtete Oberst Peck im August 1920: „Die Einstellung vieler Bewohner der Gegend um Klagenfurt ist weder betont pro-österreichisch noch pro17
jugoslawisch, aber ihr brennender Wunsch ist, daß das Gebiet unter keinen Umständen geteilt werden solle, und sie wären bereit, die eine oder andere Lösung zu akzeptieren, um dies zu erreichen." Er verurteilte scharf das Verhalten der jugoslawischen Behörden, die mit Ermutigung des französischen Kommissars „offen den Instruktionen der Kommission Widerstand entgegensetzten". Letzterer „opponiere gegen jede Maßnahme, die nach seiner Meinung den Hoffnungen und Wünschen der Jugoslawen schade, oder unterstütze eine solche nur sehr lauwarm . . . Es ist daher zweifelhaft, ob es möglich sein wird, eine freie und gerechte Abstimmung durchzuführen." 21 Die Abstimmung fand wie geplant am 10. Oktober 1920 statt. Es kam zu keinen ernstlichen Zwischenfällen, obwohl, wie Peck London mitteilte, alarmierende Gerüchte kursiert waren, „daß drei Tage vor dem Plebiszit ein fürchterliches Terrorregime errichtet werden würde, das am Abstimmungstag seinen Höhepunkt erreichen sollte". Trotz aller Vorsichtsmaßnahmen gelang es Hunderten von Außenseitern, in das Gebiet einzudringen: „Viele von ihnen waren mit Revolvern, mit schrecklich aussehenden Totschlägern, Knütteln oder dicken Stöcken bewaffnet. Die jugoslawischen Sokol-Banden zählten mehrere Tausend . . . Auf der anderen Seite standen organisierte Einheiten von Arbeitern und Studenten aus Wien und anderen Gegenden Österreichs, die man in das Abstimmungsgebiet infiltriert hatte, mit ähnlichen Waffen."
Mehr als 95 Prozent der Berechtigten nahmen am Plebeszit teil. „Das beweist auch, daß niemand durch irgendwelchen Terrorismus an der Teilnahme verhindert worden ist. Das hat die Österreicher sehr überrascht und Fürst Borghese schwer enttäuscht." (Borghese war der italienische Abstimmungskommissar.) 22.000 - darunter viele Slowenen - stimmten für Österreich "und 15.000 für Jugoslawien.22 Nach Ansicht von Oberst Peck hatten „die Mißwirtschaft und die scharfen Unterdrückungsmaßnahmen des Generals Meister [Majster], der während der vergangenen sechzehn Monate hauptsächlich für die Verwaltung verantwortlich gewesen war, viel dazu beigetragen, die Neigung unter den Slowenen zu unterminieren, die keine betont rassischen Gefühle hatten, sich an Jugoslawien anzuschließen. Vor einigen Tagen äußerte der österreichische Vertreter zu diesem Punkte, die österreichische Nation sollte auf dem Marktplatz von Klagenfurt ein Denkmal für General Meister errichten um festzuhalten, was er durch seine Methoden für Österreich erreicht habe."
Peck meinte auch, daß die Angst vor der Einberufung zur jugoslawischen Armee viele dazu veranlaßt habe, für Österreich zu stimmen, „das keinen militärischen Ehrgeiz habe". Außerdem hätten die Leute gewählt „ohne jede Furcht, daß man je feststellen könne, für welche Seite sie gestimmt hätten". Nach der Bekanntgabe des Resultats habe der französische Kommissar folgendes bemerkt: „Wir haben das Plebiszit durch die Geheimhaltung der Stimmen verloren." 23 Angesichts der Lage, die 1919-20 in Mitteleuropa herrschte, war dies eine denkwürdige Sache, und Südkärnten blieb österreichisch, im Gegensatz zur Südsteiermark, die an Jugoslawien fiel. Abgesehen von allen territorialen Ansprüchen führte der Zusammenbruch der Doppelmonarchie, die im großen und ganzen ein einheitliches Wirtschaftsgebiet gebildet hatte, zu einer Schließung der Grenzen und endlosen wirtschaftlichen Konflikten.
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Im November 1919 schrieb Lindley aus Wien: „Zur Zeit verfolgen die Tschechoslowakei und Jugoslawien die selbstmörderische Politik, ihr Hauptaugenmerk auf ihre gegenseitige Vernichtung zu richten. Die Schwierigkeiten an den verschiedenen Grenzen sind unvorstellbar, und es ist fast unmöglich, irgend etwas über sie zu befördern." E r habe bisher nur die eine Seite gehört und bezweifle nicht, daß ein Teil der Schuld auch die Österreicher treffe, denn die österreichische Regierung „besitzt keine wirkliche Autorität über die Provinzen, die faktisch eine Art Grenze gegen die Hauptstadt gezogen haben. Kurz, in Mitteleuropa ist jeder damit beschäftigt, eine Palisade mit den schärfsten Dornen um seinen Besitz zu errichten, in der schönen Hoffnung, er könne darin florieren . . Vier Wochen später fügte er hinzu: „Seit Jahrhunderten hat sich der Handel in Mittel- und Südosteuropa in bestimmten Kanälen bewegt, und die Verbindungswege haben sich dementsprechend entwickelt. Diese Kanäle und Wege sind nun auf einmal blockiert worden, ohne daß es Zeit für eine Anpassung gegeben hätte. Das Resultat ist wirtschaftliches Chaos und Hungersnot in bestimmten Gegenden, die sich in unmittelbarer Nähe zu anderen befinden, in denen es Überfluß an Lebensmitteln gibt." Lindley schlug daher vor, die Alliierten sollten Druck auf die neuen Staaten ausüben, „gegenüber Österreich eine freundlichere Handelspolitik" zu betreiben; aber das war nur schwer zu erreichen. Anfang 1920 schrieb er mit Bezug auf die Eisenbahnen der früheren Monarchie, daß diese damals „ a l s e i n einziger Konzern geführt und gut geleitet wurden. Jetzt werden sie von sieben verschiedenen Staaten kontrolliert, . . . die alle mehr oder minder auf Kriegsfuß miteinander stehen." Lindley wandte sich sogar an Präsident Masaryk, um ihm die Gefahr der aktuellen Lage vor Augen zu führen. Doch er mußte feststellen, „daß Masaryks Haß auf Wien sich durch die neue Situation keineswegs vermindert hat. Das ist nicht staatsmännisch gedacht und gefährlich für die Zukunft seines eigenen Landes, das auseinanderfallen wird, wenn Österreich an Deutschland fällt." E r drang darauf, das Problem „ernstlich in die Hand zu n e h m e n " , sonst würde seiner Ansicht nach „ganz Mitteleuropa ein Opfer der Anarchie werden". 2 4 Ähnliche Schwierigkeiten gab es mit den Regierungen der anderen Nachfolgestaaten. Im Juni 1919 teilten die Österreicher der Alliierten Handelskommission in Wien mit, daß die polnische Regierung entgegen einer Vereinbarung, die sie vor zwei W o c h e n unterzeichnet habe, die Ausfuhr von Kohle, Öl und Benzin verweigere. Falls das Verbot nicht aufgehoben würde, „müsse in Wien alles, inklusive der Beleuchtung, eingestellt werden". Alles, was das Foreign Office daraufhin tun konnte, war, den Bericht an den Hohen Wirtschaftsrat der Alliierten in Paris weiterzuleiten. 2 5 Im Oktober wurde aus Wien berichtet, daß die Jugoslawen zwar die von ihnen unterzeichneten Lebensmittelverträge nicht annulliert hätten, aber „alle möglichen Schwierigkeiten machten und nichts geliefert hätten . . . Die Stadt habe keine Kohle, nur für fünfeinhalb Tage Vorrat an Getreide und keine Aussicht auf Zucker, Fleisch oder F e t t . " Züge mit Kohle aus Schlesien, die durch die Tschechoslowakei fuhren, waren nicht in Österreich angekommen. In der ersten Dezemberwoche wurden 527 19
Wagenladungen vermißt: „Kohle muß irgendwo in der Tschechoslowakei sein", vermerkte Lindley lakonisch. 26 Im gleichen Monat schickten die Polen Kartoffeln auf 50 offenen Güterwagen, „mit dem Ergebnis, daß alle Kartoffeln durch Frost verdorben und unbrauchbar waren", obgleich die Österreicher geschlossene Waggons zum Abholen geschickt hatten. Als der britische Gesandte in Warschau scharf dagegen protestierte, antwortete der polnische Eisenbahnminister, man habe 250 Güterwagen mit Kartoffeln abgeschickt. Aber er konnte nicht angeben, ob die Waggons geschlossen waren. Daraufhin schrieb der britische Gesandte nach Wien: „Diese Leute sind in ihren Gewohnheiten zutiefst zynisch und leichtlebig. Sie verweisen immer auf ihre Unerfahrenheit und tun Dinge, die nach unseren Begriffen von ehrlichem Handeln, seltsam erscheinen." 2 7 Derartige Handlungen verhinderten eine Verbesserung der Lage in Österreich und ganz besonders in Wien. Während des Jahres 1919 und darüber hinaus blieb die Lage verzweifelt. Im Januar berichtete Oberst Cuninghame: „Nach außen ist alles ruhig im Inneren aber gibt es eine Menge Unruhe, zwar ohne jede Beziehung zum theoretischem Bolschewismus, aber zu einer Situation der Not und Verzweiflung." 100.000 Männer seien als arbeitslos registriert.
Einige Wochen später schrieb ein anderer britischer Offizier: „Als ich am 16. Februar Wien verließ, war Mehl für eine Woche vorhanden. Britische Ärzte, die die Krankenhäuser besichtigten, berichten, daß die Sterblichkeit aufgrund der Knappheit an Fleisch und Milch sehr hoch s e i . . . Bolschewismus und Lebensmittelnot wetteifern zur Zeit miteinander, und ersterer scheint zu gewinnen." In den großen Städten hätten die Armen schwer unter dem Mangel an Lebensmitteln, Kleidern und Kohle, zu leiden, andererseits werde „eine große Menge von Lebensmitteln anscheinend aus Ungarn, der Tschechoslowakei und von reichen Bauern in Deutschösterreich hereingeschmuggelt . . . Fast alles kann im Schleichhandel bezogen werden. Zum Beispiel scheinen die Restaurants keine Schwierigkeit zu haben, Eier und Omeletts zu servieren, während es den Krankenhäusern fast unmöglich ist, solches zu erhalten."
Die Mahlzeiten in den Restaurants seien „denen in London an Qualität und Quantität gleichwertig", aber draußen würden die Armen „auf kleine Krusten Brot" warten. 28 Im März schrieb ein holländischer Arzt an den Oxforder Professor für Medizin, die Wohlhabenden könnten „für unglaubliche Preise" alle möglichen Waren kaufen. „Alle, die mit dem illegalen Warenverkehr in Verbindung stehen, verdienen so viel, daß sie imstande sind zu kaufen, was sie wollen." Aber „die Armen und die unteren Beamten sowie die große Masse der ehemaligen Soldaten und Offiziere verhungern". In den Krankenhäusern lägen die Dinge noch schlechter: „Die Lebensmittel, die wir für unsere Patienten bekommen, sind ,Hundefraß', und dieses häßliche Zeug wird in solch kleinen Mengen ausgegeben, daß die Hälfte der Patienten am zweiten Tag davonläuft. Es bricht einem das Herz, diesen Szenen beizuwohnen und nicht helfen zu können." 2 9 Ein britischer Offizier, der Wien im April besuchte, fand „die Armen in einer be20
mitleidenswerten Lage". A b e r die bürgerlichen Schichten glauben, sie seien „viel schlechter daran als sie es wirklich sind. Die reichen Leute können alles erhalten, indem sie h o r r e n d e Preise zahlen." Er beurteilte die Wiener als „außerordentlich folgsam u n d ruhig" und hielt einen bolschewistischen Umschwung für „ganz unwahrscheinlich". In Innsbruck andererseits gäbe es keine Lebensmittelknappheit, und die dortigen Preise seien nicht zu hoch. 3 0 Inzwischen waren die ersten Mitglieder der von den Q u ä k e r n organisierten Hilfsmission in Wien a n g e k o m m e n . Auch sie begannen, ü b e r die Lage zu berichten. So stellten sie etwa in bezug auf die Steiermark größten Mangel an Fett fest, der hier besonders stark e m p f u n d e n werde. Schmuggel zwischen Stadt und Land werde hier nicht so offen praktiziert wie in Wien, aber der akute Mangel an Kohle bedeute, daß nur ein paar Fabriken arbeiten können, die meisten H o c h ö f e n der Alpinen M o n t a n gesellschaft stünden still. Andererseits hätten von den Alliierten organisierte Lebensmittelsendungen es erlaubt, zu Ostern etwas größere Rationen auszugeben. 3 1 Im Mai 1919 u n t e r n a h m Dr. Hilda Clark ihre erste Reise nach Wien, um im A u f t r a g von G e n e r a l Smuts die medizinische Lage zu untersuchen. Sie fand die Straßen „voll hoffnungsloser und schlecht aussehender Menschen". Die Kinder erhielten nur 800 Kalorien, während sie 1500 bis 2000 benötigen würden. A m 16. Mai schrieb sie in ihr Tagebuch: „. . . besuchte einen der zwei Orte, wo die A m e r i k a n e r heute mit der Essensausgabe beginnen. Die Kinder, die daran teilnehmen, sind die angeblich unterernährtesten. Aber diejenigen, die wir in den Schulen sahen und die nicht teilnehmen, sehen genauso schlimm aus, und von den Kindern die wir in der Kinderklinik sahen, waren viele offensichtlich noch schlechter d a r a n . " D e r Vorsitzende der britischen Lebensmittelkommission habe ihr mitgeteilt, daß die Transportfrage eines der schwierigsten Probleme sei: „Wir hatten 1000 T o n n e n kondensierte Milch fertig zum Absenden, wurden aber in Boulogne von den Franzosen aufgehalten, - und bis diese sich zum Transport bereit erklärten, waren nur m e h r 400 T o n n e n übrig." A k u t e r Mangel, d e m „zur Zeit niemand abhilft", bestehe auch an Seife und Kleidern, davon seien vor allem Babys betroffen. Einige M o n a t e darauf konnte Hilda Clark berichten, daß die Amerikaner 100.000 Schulkinder zwischen 6 und 14 J a h r e n ernährten, aber nichts für die unter sechs J a h r e alten täten. Diese würden an Rachitis leiden und nicht genug wachsen, „und alle benötigen Hilfe, vor allem Fett". 3 2 Im O k t o b e r berichtete ein anderes Mitglied der Hilfsmission der Q u ä k e r : „Was können wir tun? Wir fühlen uns ganz ohnmächtig angesichts der Katastrophe, die k o m m e n muß. Sicherlich hätten alle Leute mit A u s n a h m e der Wiener längst revoltiert und drastisches Eingreifen verlangt. Ihre Freundlichkeit, Geduld und ihre leichtlebige Art sind bezaubernd, aber oft sehnt man sich danach, daß sie etwas mehr Draufgängertum und berechtigte Unzufriedenheit zeigten."
Kurz darauf erwähnte dieselbe Helen Fox jedoch eine solche Aktion, die einer ihrer österreichischen F r e u n d e beobachtet hatte, als Kohle für das H a u s eines Bankiers geliefert wurde: „ D i e Leute kamen mit Körben, T ü t e n und Rucksäcken und holten sich, was sie konnten, der Auslader half mit, und vier oder fünf Polizisten sahen zu!" Ihr Freund h a b e diese Aktion für „das hoffnungsvollste Zeichen, das er seit langem gesehen h a b e " gehalten - ein G e f ü h l , das sie voll teilte. 3 3 Ein a n d e r e r Q u ä k e r notierte: „Es ist furchtbar, die ausgehungerten Gesichter der 21
Leute auf der Straße zu sehen. Die Ration der letzten Woche bestand aus 1 Ά Pfund Brot, V4 Pfund Mehl, l/4 Pfund Erbsen und {/& Pfund Fett. Aber es gibt keinen oder nur sehr wenig Brennstoff, um die Lebensmittel zu kochen." Im Dezember war in Graz die Brotration mit einem großen Laib pro Person die Woche größer als in Wien „aber das Brot war größtenteils aus Mais gebacken und ist wesentlich schlechter als in Wien." Auch hier fehlten Zucker, Fett, Milch und Fleisch, waren Kohle und Holz ebenso knapp, und es gab weder Benzin noch Kerzen. Nur Kranke und Babys unter einem Jahr erhielten frische Milch. Es wurde auch berichtet, daß die Leute, da es keine Kohle gab, ihre Türen zerhackten und in den Parks die Rinde von den Bäumen ablösten. In den Wäldern wurden die Bäume unter Polizeiaufsicht gefällt: „Ich habe kleine, ausgehungerte Buben gesehen, mit spindeldürren Beinen und erschöpften, schmalen Gesichtern, fast zu Boden gedrückt unter einer Last von mindestens 100 Pfund . . . Das ganze Leben in Wien wird bestimmt vom Mangel an Heizmaterial."*4 Zwei Briefe vom November und Dezember 1919 beschrieben die Situation in den Läden und auf den Märkten: Es gab Kohl, Rüben, Karotten, kleine Äpfel und Kartoffeln, und Delikateßläden verkauften importierte Waren zu horrenden Preisen. „Der Schleichhandel hat den legalen Handel fast überrundet. Während die vollen Rationen oft nicht erhältlich sind, kann man ähnliche Nahrungsmittel zu Wucherpreisen von den Schleichhändlern kaufen." Mit der zunehmenden Inflation seien die Preise um ein Vielfaches gestiegen, aber die Gehälter und Löhne hätten sich nur verdoppelt. Hausierer mit ihren Rucksäcken beherrschten den Schwarzen Markt. „Der Holzhandel scheine auch in ihren Händen zu sein", und von den Friedhöfen verschwänden selbst die hölzernen Kreuze.35 Im November berichtete Lindley, der britische Hohe Kommissar: "Seit einer Woche fällt zeitweise Schnee, aber es gibt keine Kohle zum Heizen, und nur wenige Menschen haben genug, um in der Küche Feuer zu machen. Ebenso fehlt es an Holz oder Torf als Ersatz. Im Hotel Bristol, wo ich wohne, sind die Zimmer ganz ungeheizt, und morgens und abends erhält jeder Gast nur einen kleinen Krug mit Wasser. Die heutigen Zeitungen berichten vom Tod neugeborener Kinder aufgrund der niedrigen Temperatur in den Krankenhäusern."
Was die Lebensmittel betreffe, so würden „die Rationen, die von den Alliierten geliefert werden, zum Leben nur reichen, wenn sie durch Zuschüsse ergänzt werden, die man heimlich aus lokalen Quellen kauft. Die von der Regierung festgesetzten Preise für die örtlichen Produkte haben diese völlig vom freien Markt vertrieben." Als König George V. diesen Bericht las, war er so erschüttert, daß er Curzon bat, ihn der Alliierten Konferenz in Paris zuzuleiten, damit man etwas für das ausgehungerte Wien tue.36 In Wien fand Oberst Cuninghame die Behörden „außerstande, mit den sich häufenden Schwierigkeiten fertig zu w e r d e n . . . . Das Ergebnis ist, daß die Stadt nun der Härte des Winters ausgesetzt ist, ohne irgendwelche Reserven an Lebensmitteln oder Heizmaterial zu haben." Die Lage der Kinder, „die von ihren Eltern in eiskalten Häusern zurückgelassen werden", mache jegliche Vorsorge von wohltätigen Organisationen völlig nutzlos. Um die Lage zu mildern, rief Cuninghame Vertreter aller Parteien und sozialen Gruppen zusammen und drang in sie, die Kinder zu retten und 22
die Aktivitäten der Quäker zu unterstützen. Die Antwort wurde sofort gegeben: Ein Betrag von fast zwei Millionen Kronen wurde auf der Stelle gezeichnet, und ausreichend Sachspenden versprochen, um bestimmte Schulen und Kinderheime zu heizen, ebenso wie die Wohnungen von Frauen, die von den Kinderkliniken betreut wurden; so konnte Cuninghame feststellen: „Die Organisation ist erst am Anfang, und schon sind wichtige Ergebnisse erzielt worden." Im Gefolge der Versammlung entstand die Gesellschaft „Britische Hilfe für die Wiener Kinder", mit Cuninghame als Vorsitzenden und dem Britischen Hohen Kommissar als Ehrenvorsitzenden. Für Zusammenarbeit mit der Regierung und den lokalen sozialistischen Organisationen war gesorgt. Staatskanzler Renner sprach seinen Dank aus und sagte seine Unterstützung zu. Das war ein großer Erfolg, denn noch kurz zuvor hatte Lindley geschrieben: „Die Bevölkerung ist so apathisch geworden und durch gegenseitiges Mißtrauen so uneins, daß ich glaubte, es würde ihnen nie gelingen, einander zu helfen." 37 In Wien wurde Anfang 1919 eine Lebensmittelmission der Entente eingerichtet, deren Leitung ein anderer britischer Offizier, Major E. V. Bethell innehatte. Wenn Züge mit Lebensmitteln eintrafen (meist aus Triest), wurden die Bestände den österreichischen Behörden übergeben, die ihrerseits für die Verteilung sorgten. Diese erfolgte „unter den Armen faktisch ohne Bezahlung, Wohlhabende müssen einen gestaffelten Preis je nach ihrem Einkommen zahlen.38 Als später im Jahr die Hilfsmission der Quäker eintraf, stimmte sie ihre Tätigkeit mit den lokalen sozialistischen Organisationen ab. Zwei ihrer Mitglieder nahmen an einer Sitzung des Arbeiterrats - „einem ausgezeichneten Menschenkreis" - teil und boten Hilfe an, die selbstverständlich gern akzeptiert wurde. Man versprach die Lieferung von Kartons mit kondensierter Milch, Dörrgemüse, Eierpulver, Seife und von je 50 kg Kakao und Zucker für die innere Stadt. Bald war die Mission imstande, an Kinderzwischen einem und sechs Jahren, die keine Milchration erhielten, Becher mit Kakao auszugeben: „Dieses heiße Getränk ist die einzige kräftigende Nahrung, die die Kleinkinder erhalten." Dazu kamen Lebertran, Milch, Butter und Wäsche, die zu sehr niedrigen Preisen angeboten wurde.39 Im November konnte die Mission berichten, daß ihre Kleiderverteilung jetzt funktioniere: „Wir übergeben das Tuch . . . an die Schneidergewerkschaft, und diese liefert uns so und so viele Dutzend Kleider pro Woche." Diese wurden an Krankenhäuser und Kinderheime verteilt und zu niedrigen Preisen verkauft. Mit dem erhaltenen Geld wurde Milch erworben. 40 Diese Tätigkeit wurde während der folgenden zwei bis drei Jahre in verstärktem Umfang fortgesetzt. England konnte den Österreichern auch in anderer Art helfen - bei der großen Knappheit an Güterwagen, die alle Hilfsaktionen hemmte. Doch als vorgeschlagen wurde, zu diesem Zweck 1500 britische Wagen aus der Kriegszeit zu benutzen, die noch in Frankreich waren, widersprach das Verkehrsministerium und schlug vor, die Franzosen sollten stattdessen frühere deutsche Güterwagen verleihen, welche laut den Waffenstillstandsbedingungen ausgeliefert worden waren. Im Dezember 1919 telegraphierte Curzon nach Paris, man solle Druck auf die französischen Behörden ausüben, diese Güterwagen freizugeben, denn auch in dem von den Alliierten besetzten Rheinland verursachte die Knappheit an Güterwagen große Besorgnisse. Wenn nötig, müsse die Frage im „Obersten Rat" der Alliierten erörtert werden. Curzon un23
terstrich, daß „wir sehr dafür sind, etwas für Österreich zu tun, selbst wenn es zu unserem Nachteil wäre". 41 Im gleichen Monat wurde in Österreich der ganze Passagierverkehr zehn Tage lang sistiert. Lindley befürchtete, falls die Alliierten die Güterwagen zur Verfügung stellten, würde das „nur zeitweise helfen aber das Problem nicht wirklich lösen". Die britische Regierung schlug vor, eine Behörde aus Fachleuten zu bilden, die für die Verteilung der Güterwagen in den betroffenen Ländern zuständig sein sollte. Aber man benötigte weitere drei Monate, um die Vorkehrungen zu treffen, Österreich die 1500 Wagen, die noch in Frankreich waren, zu leihen. Die holländische Regierung suchte Güterwagen, um Spenden aus Holland nach Österreich zu transportieren, und man kam überein, für diesen Zweck die britischen Wagen in Frankreich zur Verfügung zu stellen.42 Der andere Vorschlag der britischen Regierung wurde anscheinend nicht weiter verfolgt. Vielleicht ist es nicht sonderlich überraschend, daß man verhältnismäßig wenig für Österreich tat, zumindest während der ersten 15 Monate nach Kriegsende, und daß die Fraivzosen dazu weniger Bereitschaft zeigten als die Engländer. Man muß bedenken, daß alle Länder, die am Weltkrieg teilgenommen hatten, mit schweren politischen und wirtschaftlichen Problemen zu ringen hatten, und ganz besonders Frankreich und Belgien, die so schwer verwüstet worden waren. Am Ende des Jahres 1919 schrieb Lindley: "Am meisten leiden zweifellos die überlebenden Mitglieder des alten Mittelstandes, denen es jetzt finanziell schlechter geht als dem sogenannten Proletariat und die an einen gehobeneren Lebensstil gewöhnt sind . . . Der Verbrauch an Elektrizität ist so beschnitten, daß sehr wohlhabende Leute nicht mehr als zwei Zimmer ihrer großen Häuser benützen können, und nachts sind diese fast ganz dunkel, denn pro Haushalt sind nur ein oder höchstens zwei elektrische Birnen erlaubt."43
Die allgemeine Not wurde verschärft durch den scharfen Gegensatz, der sich zwischen den Zentralbehörden und den Ländern bildete, und durch die wachsende Feindschaft der Länder gegen Wien und seine Sozialisten. Im September 1919 schrieb der Vorsitzende der britischen Hilfsmission: „Die Provinzen ignorieren die Regierung völlig, und diese ist total außerstande, auf längere Sicht hin weiterzuarbeiten. Es scheint ganz klar zu sein, daß die reaktionäre Bewegung aufgrund der Not, die wegen des Kohlenmangels und des herannahenden Winters zu gewärtigen ist, immer stärker werden wird." Und im November desselben Jahres sah der britische Hohe Kommissar die Ursache der Not nicht nur in den neuen politischen Grenzen, die Mitteleuropa durchliefen, sondern ebenso in den von den Ländern gegen Wien errichteten Schranken: „Die Ursachen für die Feindschaft der Provinz gegen Wien wechseln, aber die hauptsächliche ist anscheinend der sozialistische Charakter der Wiener Behörden, der den provinziellen Gefühlen nicht entspricht. In allen alten Reichsteilen hat es immer eine Menge Eifersucht auf Wien gegeben, und jetzt glauben sie, ist die Zeit gekommen, es zu erniedrigen."
Seiner Ansicht nach sollten· die Höchstpreise aufgehoben werden, da die Regierung außerstande war, sie zu erzwingen. „Es wird ein großes Geschrei geben, aber die Mehrheit würde nur zu gern eine Maßnahme akzeptieren, die ihr von außen aufer-
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legt wird."44 Doch auch eine solche Verordnung hätte die Feindseligkeit der Länder gegenüber dem „roten" Wien nicht vermindert. Es gab auch ein wichtiges Element der Stabilität und Ordnung, nämlich die Polizei unter ihrem tüchtigen Leiter, Johann Schober. Lindley beschrieb ihn als „vermutlich den fähigsten Beamten in Österreich und absolut zuverlässig. Er wurde immer mit dem Schutz König Edwards betraut, wenn seine Majestät nach Marienbad kam, und er hat die Polizei wie die Gendarmerie in einem bemerkenswerten Zustand der Bereitschaft erhalten." 45 Lindley äußerte sich ähnlich auch, als der britische Militârattaché im Haag seine Meinung über den Arbeiterrat von sich gab und behauptete, die Räte könnten „die Entscheidungen der Behörden ständig konterkarrieren,, und versuchten, „den Weg für eine unbegrenzte Diktatur des Proletariats vorzubereiten". Wer immer imstande sei, „die Lage in Österreich zu verstehen, wird zustimmen, daß die gegenwärtige Situation im wesentlichen die selbe ist wie die in Ungarn zur Zeit von Béla Kun". Lindley opponierte sofort, daß „die Institution der Arbeiterräte keineswegs die beherrschende Rolle im Leben des Landes spielt, welche ihr das Memorandum zuschreibt . . . Niemand, den ich kenne, glaubt, daß die gegenwärtige Lage in Österreich ,im wesentlichen' die gleiche ist wie die in Ungarn zur Zeit von Béla Kun." Deren Charakteristika, „keine parlamentarische Regierung, Prozesse und Hinrichtungen wegen abweichender politischer Meinungen, allgemeine Plünderungen und allgemein ein Regime des Terrors gegen die oberen und bürgerlichen Klassen - treffen auf Österreich nicht zu, und ich vermute, der Verfasser des Memorandums hält sie nicht für .wesentlich"'. Noch bemerkenswerter sei, daß er nichts über „die Tüchtigkeit der Polizei und Gendarmerie unter der Leitung des Polizeipräsidenten Schober" berichte. „Diese ist vielleicht das überraschendste Element der gesamten Lage, und sie beruht auf dem Charakter des Polizeipräsidenten, der mir selbst gesagt hat, er habe die volle Unterstützung von Dr. Renner." 46 Auch während der folgenden Jahre sollte sich Schober des vollen Vertrauens und der Zuneigung der britischen Diplomaten erfeuen. Was die Arbeiterräte betraf, die damals eine wichtige Rolle im Leben Wiens und einiger anderer Städte spielten, so beschrieb Oberst Cuninghame im Juli 1919 den Zentralrat als „eine patriotische und vernünftige Gruppe von Menschen". Aber er gab zu, daß sie „unter der Bourgoisie beträchtliche Bedenken verursacht haben, da sie in dieser Einrichtung den Anfang eines Sowjetregimes sieht". Es bestehe die Gefahr, xlaß jüngere Sozialisten, „unzufrieden mit dem langsamen Fortschritt sozialistischer Gesetzgebung", den Arbeiterrat dazu benutzen könnten, die Opposition einzuschüchtern und „Privilegien zu fordern, die die sozialistischen Führer nicht bereit sind zuzugestehen". Solange der Arbeiterrat aber den sozialistischen Führern folge, sei alles in Ordnung. Anfang 1920 berichtete der Oberst, der Zentralrat,stehe in seiner überwältigenden Mehrheit nach wie vor hinter den Führern der sozialistischen Partei'. 47 Im Gegensatz zu Deutschland, wo die Arbeiterbewegung gespalten und in drei große Parteien geteilt war, blieb die österreichische Rätebewegung unter der Kontrolle der Leitung der Sozialdemokratischen Partei. Ein vom zweiten Sekretär der britischen Gesandtschaft im November 1920 verfaßtes Memorandum beschrieb die 25
Arbeiterräte als „kaum etwa» anderes als eine sozialdemokratische Parteiorganisation", eine Konferenz vom Juni 1919 habe diese Kontrolle durch die Partei unterstrichen. Laut dem Memorandum war die Entwicklung der Räte örtlich ,sehr unterschiedlich': Sie seien stark und einflußreich in Wien und Niederösterreich und besonders in Salzburg, „wo sie eine beherrschende Position in den Landesämtern für Lebensmittelkontrolle, Verwertung von Kriegslagern, Umstellung der Kriegsindustrie und Wohnungsfragen einnehmen". In Linz sei es den Arbeiterräten gelungen, Unruhen beizulegen, und in Kärnten bestehe deren Haupttätigkeit „in der Opposition gegen eine alldeutsche Reaktion". In Tirol hingegen sei es ihnen nicht gelungen, sich zu etablieren. Im Frühjahr 1919 hätten einige Arbeiterräte direkte Verwaltungsaufgaben übernommen, aber später habe sich das geändert, und sie seien keine „potentiellen Sowjets". „Wie alle österreichischen Einrichtungen", fuhr das Memorandum fort, „haben die Räte eine etwas akademische Art. Nichts, was sie tun oder sagen, kann die Kardinaltatsache ändern, daß Österreich hungert und bankrott ist und nur existieren kann mit Erlaubnis seiner früheren Feinde." Der Triumph der Sozialdemokraten in der Konferenz vom Juni 1919 beruhte auf der Vehemenz, mit der sie auf dieser Tatsache bestanden, als die Kommunisten die sofortige Proklamation einer Sowjetrepublik forderten. Der Vorsitzende, Friedrich Adler, antwortete „in nicht zu widerlegender A r t . . . , daß erstens Österreich von den Westmächten abhinge, und zeitens, daß der Kommunismus den Bauern . . . nichts zu bieten habe, was sie nicht bereits besäßen. Es gäbe keine großen Güter, die man enteignen und teilen könne." 48 In Wiener Neustadt gab es einen radikaleren Arbeiterrat. Laut einem Bericht vom April 1919 arbeiteten dort Sozialdemokraten und Kommunisten trotz aller Differenzen zusammen. Die Arbeiter- und Soldatenräte „üben eine zeitweise Kontrolle aus und bestimmen im allgemeinen die Politik", hieß es. Ein Komitee aus acht Männern - vier vom Gemeinderat und je zwei vom Arbeiter- und vom Soldatenrat übte die Lebensmittelkontrolle aus. Seine Mitglieder nahmen an Durchsuchungen teil, die vom Gemeinderat angeordnet wurden. Damit die Armen das sehr teure Fleisch kaufen konnten, setzte die Stadt Spezialpreise für etwa 5000 Einwohner fest, die weniger als 3000 Kronen verdienten, und kam für die Differenz auf. Außerdem unterstand die Lebensmittelverteilung in jeder Firma einem von den Unternehmern benannten Mann, der von Arbeitervertretern beaufsichtigt wurde. Als die Lebensmittelnot im März besonders akut war, beschlagnahmten radikale Arbeiter die Vorräte in den Läden und verkauften diese Waren zu etwas reduzierten Preisen, die sie für angemessen hielten, an die Bevölkerung. Nach Ansicht des Berichterstatters waren solche „sowjetähnlichen Zustände" aber eine „Eigenart dieses Bezirks". 49 Tatsächlich bildete Wiener Neustadt mit seinen bedeutenden industriellen Unternehmungen eine Ausnahme. Nichts dergleichen wurde aus einer anderen österreichischen Stadt berichtet. Auch in Villach arbeiteten die Arbeiter- und Soldatenräte eng zusammen. Laut einem ihnen feindlichen Memorandum versuchten sie, „soviel Macht wie möglich in ihre Hände zu bekommen". Sie waren in mehreren Verwaltungsbehörden vertreten, wie etwa dem Lebensmittel- und dem Wohnungsamt. Im Dezember 1918 bildete sich unter sozialdemokratischem Einfluß ein Kärntner Soldatenrat für das ganze Land. 26
Die örtlichen Einheiten sollten nach den G r u n d s ä t z e n Wahl der K o m m a n d a n t e n , Abschaffung der R ä n g e und U n t e r o r d n u n g unter die Soldatenräte organisiert werden. Diese o r d n e t e n sich willig tüchtigen Offizieren unter, akzeptierten aber keine Führer, „die schwach und energielos waren". Später wurde für die Soldatenräte ein Z e n t r a l o r g a n mit Sitz in Wien geschaffen, in d e m die Länder entsprechend d e r Stärke der örtlichen Einheiten vertreten waren. Da die meisten Einheiten in der Hauptstadt konzentriert waren, beherrschten die Wiener Soldatenräte diesen Z e n tralrat. A b e r das M e m o r a n d u m gab zu, daß in den K ä m p f e n mit d e n Jugoslawen die Soldatenräte „voll und ganz ihre Pflicht erfüllten", obgleich am A n f a n g einige von ihnen aufgrund der internationalen Arbeitersolidarität gezögert hätten. U m nicht allen Einfluß zu verlieren, hätten die R ä t e den nationalen Kampf in Kärnten unterstützt. 50 Nach Ansicht des Brigadiers, der an der Spitze der britischen Militärmission in Kärnten stand, stand die Bevölkerung „in scharfer Opposition zu d e m System einer Regierung durch Soldatenräte oder andere , R ä t e " \ Er schätzte die örtlichen Volkswehreinheiten in Hinblick auf „eine ernstere U n t e r n e h m u n g " als „ganz unzuverlässig" ein und hielt sie für „eine G e f a h r für das Land", für „nichts anderes als eine Part e i g r u p p e " der Sozialisten für politische Zwecke. 5 1 Da die Volkswehr aber gut gegen die Jugoslawan kämpfte, zeigte der Brigadier mit dieser Meinung nur, wie'voreingen o m m e n er war - vermutlich aufgrund von Informationen, die er von österreichischen Offizieren erhalten hatte. Die große Mehrzahl der W e h r m ä n n e r der Volkswehr bestand - vor allem in Wien und einigen anderen Städten - zweifellos aus Sozialisten, die ihr auf Veranlassung ihrer Partei beigetreten waren. 5 2 Der britischen Regierung wurde mehrfach mitgeteilt, daß diese M ä n n e r gefährlich und unzuverlässig seien: Im März 1919 informierte der Schweizer G e s a n d t e in Wien Sir H o r a c e R u m b o l d in Bern, daß die Volkswehr „unzuverlässig" sei und es im Wiener Arsenal, das eine „regelrechte F e s t u n g " sei, 20.000 Bewaffnete gäbe. Er riet dringend, alliierte T r u p p e n nach Wien zu bringen, um die O r d n u n g wiederherzustellen. Im April telegraphierte Lord Acton aus Bern, er h a b e vom Vizepräsidenten des Roten Kreuzes gehört, daß Dr. R e n n e r nicht imstande sei, die T r u p p e n bei der Stange zu halten, und diese sich faktisch zu „ R o t e n G a r d e n " entwickelt hätten. In Wien sei „die Spaltung zwischen Regierung und R o t e n G a r t e n komplett". 5 3 Ein Bericht aus Wien vom gleichen Monat beschrieb.die Steirische Volkswehr als „ Z e n t r u m des Bolschewismus in der Steiermark, sofern ein solcher existiert" - was anzudeuten scheint, daß dieser nicht besonders stark war. Die Einheiten der Volkswehr seien durch Matrosen der früheren Österreich-ungarischen Marine verstärkt worden, die „revolutionären Ideen huldigen sollen". Doch der gleiche Bericht erwähnte auch, daß Volkswehreinheiten in der Steiermark von der Regierung benutzt worden seien, um Requisitionen vorzunehmen, und daß eine Einheit in Leoben „ausgezeichnete Beziehungen zu den Behörden und den (antibolschewistischen) Soziald e m o k r a t e n " unterhalte. D e r e n Haupttätigkeit bestehe in der Organisierung eines wöchentlichen Tanzes, was sie „verdientermaßen populär bei der L e o b e n e r Bevölker u n g " mache. 5 4 Die Nachrichten widersprachen sich offensichtlich und spiegelten damit wohl verschiedene T e n d e n z e n in d e n örtlichen Einheiten wider.
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In Wien, so berichtete Oberst Cuninghame, erzeugten Volkswehrleute Unruhe, als sie gemeinsam mit Mitgliedern der Arbeiterräte „eigenmächtig Requisitionen in den Häusern von Lebensmittelhamsterern durchführten". Die Folge war, daß die Restaurants schlossen, was es „für uns alle sehr schwierig machte, da man keine Lebensmittel kaufen kann". Cuninghame beklagte sich daher bei Julius Deutsch, dem Staatssekretär für Heerwesen, der ihm versprach, weitere Requisitionen zu verhindern. 55 Drei Monate darauf, im Juni 1920, war Cuninghame davon überzeugt, „daß die neue österreichische Armee in gar keinem Sinn kommunistisch ist . . . Zu keiner Zeit in der jüngsten Geschichte Österreichs hat es eine geringere Gefahr von .Kommunismus', .Bolschewismus' oder der .Errichtung einer Sowjetregierung' gegeben, und es ist unwahrscheinlich, daß die Gefahr zunimmt, es sei denn, es gäbe einen allgemeinen Zusammenbruch in Mitteleuropa."
Seine Einstellung zur Volkswehr war keineswegs rein negativ, denn er fügte hinzu: „Von der alten Volkswehr werden 11.000 Mann [in das Bundesheer], und diese werden nicht das schlechteste, sondern bestimmt das beste Element sein." 56 Die britische Gesandtschaft ihrerseits stellte fest: „Die Volkswehr und die Arbeiterräte intervenierten oft in der Anwendung des Gesetzes und übernahmen Aufgaben, die sie der Polizei überlassen sollten. Die Mittelschichten beklagten sich häufig über ,Terror', aber es gab keine Zerstörungen von Privateigentum, mit Ausnahme der Plünderungen von einigen Lebensmittelgeschäften." 57 Ende 1919 erklärte Curzon eindeutig mit Bezug auf die angebliche Absicht der österreichischen Regierung, die neue Armee „ausschließlich aus Mitgliedern der Sozialdemokratischen Partei zu rekrutieren", daß dies „ausschließlich eine Frage der österreichischen Innenpolitik ist, und ich bin nicht der Ansicht, daß die Regierung Seiner Majestät befugt ist oder das Recht hat, in dieser Sache zu intervenieren." 58 Im Jahre 1919, besonders nach der Proklamation der ungarischen Räterepublik, war die Aufmerksamkeit der britischen Offiziere und Diplomaten ständig auf die sogenannten „Roten Garden" und die kommunistische Gefahr im allgemeinen gerichtet. Einige Wochen vor der Proklamation in Ungarn berichtete ein britischer Offizier aus Wien: „Ein neuer Plan der Bolschewisten besteht in der Unterminierung der öffentlichen Dienste - Eisenbahn, Post- und Telegraphenwesen, Beamtenernennungen - durch Geheimagenten, die sich langsam in diesen Diensten unabkömmlich machen sollen . . . Da eine große Zahl von Arbeitern aus verschiedenen Gegenden die bolschewistische Politik unterstützt, erscheint dies nicht allzu schwierig... Sie erhalten zur Zeit Hilfe durch die hohen Lebenshaltungskosten, den Mangel an Häusern und Wohnungen, Arbeitslosigkeit und Knappheit an Lebensmitteln, Kleidern und Kohle."59
Im April suchte der Schweizer Gesandte in London das Foreign Office auf und übermittelte einen dringenden Appell seiner Regierung: Der einzige Weg, die Proklamation einer Sowjetrepublik in Wien zu verhindern, bestünde in der „Sendung einer Division alliierter Truppen". Professor Lammasch, der letzte kaiserliche Ministerpräsident, informierte die britische Gesandtschaft in Bern, über 60 Prozent der Wiener Volkswehr „seien als Rote Garden zu betrachten" und die Sowjetrepublik würde am 14. April proklamiert werden. Noch weiter von der Wahrheit entfernt war ein Bericht 28
der Prager Gesandtschaft vom Juni, daß ein bolschewistischer Putsch bevorstünde: „Dr. Bauer wird wahrscheinlich dem Direktorium angehören, Dr. Deutsch vielleicht." Eine Zusammenarbeit mit den Magyaren sei sicher.60 Am 21. April veröffentlichte die Times eine sensationelle Beschreibung der Unruhen in Wien vor dem Parlamentsgebäude, bei denen fünf Tote und 40 Verwundete zu beklagen waren und die von einem „besonders zuverlässigen" Volkswehrbataillon unterdrückt wurden. „Die gestrigen Ereignisse", fügte die Zeitung hinzu, „waren anscheinend das Werk einer kleinen Gruppe von Agitatoren, die mit den Budapester Bolschewisten zusammenarbeiten. Abgesehen von den lokalen Kommunisten nahmen zweifellos viele ungarische und russische Agitatoren an der Demonstration teil." Und am folgenden Tag hieß es: „Trotz vieler Verhaftungen gibt es in Wien noch immer zahlreiche Unerwünschte. Heute Nachmittag, zum Beispiel, erklärte ein Mann auf russisch: Wenn die Regierung nicht bis Dienstag die Forderungen der Arbeitslosen und Kriegsinvaliden bewilligte, würde sie hinweggefegt werden, trotz aller Drohungen der Entente, keine Lebensmittel mehr zu schicken." Falls der Mann wirklich russisch sprach, kann seine Zuhörerschaft nicht sehr groß gewesen sein.61 Am 17. Juni veröffentlichte die Times einen nüchternen Bericht über den kommunistischen Putschversuch in Wien, bei dem die Polizei angreifende Demonstranten durch Gewehrfeuer zerstreute, wobei sieben Menschen umkamen. Volkswehreinheiten unterstützten die Polizei, „und abgesehen von der unmittelbaren Szene der Unruhen herrscht in der Stadt absolute Ruhe."62 Wie die britische Gesandtschaft meldete, hatten die Kommunisten versucht, „die in Wien herrschende Arbeitslosigkeit auszunutzen, um einen ,Putsch' zu organisieren,... der Versuch war ein totaler Fehlschlag."63 Im Herbst 1919 gab es neue Nachrichten über wachsende kommunistische Aktivität und Vorbereitungen, „die Unruhe auszunutzen, die das Anwachsen des gegenwärtigen Elends hervorrufen muß". Als im November Wahlen für die örtlichen Wiener Arbeiterräte stattfanden, beteiligten sich nur 10 bis 15 Prozent der Wähler. Daher wurden, so Lindley, „viele Kommunisten gewählt".64 Doch Anfang 1920 konnte Oberst Cuninghame berichten, trotz der Konzentration der Roten Armee an der Grenze von Galizien gäbe es kein „Wiederaufleben der kommunistischen Tätigkeit in Wien". „Die kommunistischen Führer haben keine ernstzunehmende Gefolgschaft und scheinen nicht über die Geldmittel für eine baldige Sonderunternehmung zu verfügen." Der zentrale Arbeiterrat befinde sich nach wie vor ganz „im Einklang mit den Führern der sozialistischen Partei"65 Die Kommunistische Partei Österreichs wurde rasch zu einer unbedeutenden politischen Kraft am Rande der Arbeiterbewegung, mit sehr beschränktem Einfluß in Wien und noch geringerem außerhalb der Hauptstadt - im Unterschied zur deutschen Partei, die sich zu einer Massenpartei entwickelte. Wenn sie je eine Chance besessen hatte, die .Macht zu ergreifen, - und eine solche war auch in den ersten Monaten des Jahres 1919 nie sehr groß gewesen, - so zerstörte der Zusammenbruch der ungarischen Sowjetrepublik im August 1919 jede derartige Hoffnung, was von den Engländern rasch erkannt wurde. Im gleichen Monat registrierte Oberst Cuninghame „den Zusammenbruch der kommunistischen Bewegung in Österreich . . . Sie sind jetzt harmlos."66 Auch innerhalb der Volkswehr ging der kommunistische 29
Einfluß rasch zurück, und das Rote Bataillon Nr. 41 wurde aufgelöst, obgleich es nicht an dem versuchten Putsch teilgenommen hatte. Die führende Partei in der im November 1918 gebildeten Koalitionsregierung waren die Sozialdemokraten, nicht aufgrund der Zahl ihrer Ministersitze, sondern wegen der starken Persönlichkeiten des Staatskanzlers Dr. Renner und des Außenministers Dr. Bauer. Beide wurden, ebenso wie ihre Partei, von den britischen Vertretern mit großer Aufmerksamkeit beobachtet. Im November 1919 berichtete Lindley über eine Parteikonferenz, die gezeigt habe, „daß die ganze Partei erkannt hat, daß es für den Staat zur Zeit unmöglich ist, die Politik der Partei betreffend Sozialisierung der Industrie in größerem Umfang durchzuführen". Das habe auch Bauer betont, als er erklärte, Österreich sei von ausländischem Kapital abhängig: „Die Mitglieder waren deprimiert infolge der schrecklichen Lebensmittel- und Brennstofflage in der Hauptstadt und der finanziellen Situation des Landes, sie empfanden klar, daß der Augenblick nicht günstig war für irgendwelche Anträge zugunsten radikaler Aktionen . . . Die Sozialdemokratische Partei hat ihre Einheit erhalten, und die meisten Redner betonten die Notwendigkeit, ihren Feinden gegenüber eine einheitliche Front zu bewahren."
Die sozialistischen Führer hätten keine Furcht vor dem Bolschewismus, denn dieser stelle keine ernstliche Bedrohung dar, aber infolge des herrschenden Elends Furcht vor „einem Zustand allgemeiner Anarchie". Zwei Wochen darauf beschrieb Lindley die Lage in Wien als „unerträglich". Er befürchtete „eine furchtbare Umwälzung" und meinte, es sei „keineswegs verwunderlich, daß die Sozialdemokraten laut nach Vereinigung mit Deutschland rufen und diese Losung von Tag zu Tag ein stärkeres Echo in der Bevölkerung findet". 07 Oberst Cuninghame war der Ansicht, daß die Sozialisten, indem sie ihre Einheit bewahrten, „den Kommunismus auf der einen und die Reaktion auf der anderen Seite vermieden" hätten. 68 Während die deutsche Arbeiterbewegung durch die Spaltung in einander feindlich gegenüberstehende Parteien ungeheuer geschwächt wurde, blieben die österreichischen Sozialisten verhältnismäßig stark. Doch nach dem Auseinanderbrechen der Koalitionsregierung im Jahre 1920 standen sie in dauernder Opposition, und ihre Stärke war sehr ungleichmäßig über das Land verteilt. Abgesehen von Wien beruhte sie vor allem auf der Arbeiterschaft in industriellen Ballungszentren in Niederösterreich und der Steiermark. Die Christlichsoziale Partei, der Rivale der Sozialisten, wurde vor allem von den bürgerlichen Schichten und den Bauern unterstützt. Schon im Juli 1919 schrieb Oberst Cuninghame über deren Bemühungen, „eine politische Organisation zu vervollkommen, die die Anliegen der Länder außerhalb Wiens vertreten soll", und „die Bauern zu bewaffnen und zu organisieren". Dies erfolge vor allem in Salzburg, Tirol und der Steiermark. „Es seien besondere Vorsichtsmaßnahmen getroffen worden", fügte er hinzu, „um die Ernte gegen alle gewaltsamen Requierierungsversuche durch örtliche oder zentrale Sowjets zu verteidigen" - (womit er anscheinend die Arbeiterräte meinte, die in Wirklichkeit keine Sowjets waren). In den Ländern existierte jetzt eine organisierte Widerstandsbewegung gegen alle Versuche, die Diktatur des Proletariats zu errichten; „die bewaffneten Bauern können als eine loyale und gesetzachtende Gruppe angesehen werden, die kaum Unruhe stiften werden", vorausgesetzt, die durch den Friedensvertrag vorgesehene Entwaffnung erfolgte gleichzeitig für
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Bauern und Arbeiter. Er hielt die Bauernverbände für „einen wichtigen Faktor der Stabilität in der gegenwärtigen kritischen Lage". Im August kehrte er zum gleichen Thema zurück und erwähnte eine „beträchtliche Erholung" vom Gefühl der Hoffnungslosigkeit, das in Österreich noch im Frühjahr geherrscht habe. Diese beruhe vor allem auf „dem Erfolg der Organisation des Bauernbundes - einer heute mächtigen konservativen Einrichtung, die durch ihren Einfluß erreicht hat, daß die Gewerkschaftsführer in Wien genötigt waren, eine gemäßigte Politik zu befolgen". 6 9 Und im Oktober fügte er hinzu, in der Steiermark seien „die Beziehungen zwischen den Bauern und Arbeitern sehr gespannt. Beide Seiten sind bewaffnet, und ein Konflikt kann jeden Tag ausbrechen." Aber laut einer anderen Quelle arbeiteten die Bauernräte in der Obersteiermark „in wichtigen Fragen eng mit den Arbeiterräten zusammen" und verstärkten so vor allem bei der Lebensmittelverteilung ihre Macht und ihren Einfluß. 70 In Salzburg, Tirol und der Steiermark wurden von den Bauernverbänden in Opposition zum „roten" Wien die ersten Heimwehren gebildet. Schon im August 1919 äußerte Renner gegenüber Cuninghame seine Bedenken über die „wachsende Stärke der Christlichsozialen Parteien", die eine „Rückkehr zu reaktionärem politischem Einfluß" bedeute. 7 1 Seine Vorbehalte waren nur zu berechtigt, denn die Heimwehren sollten bald die Existenz der demokratischen Republik bedrohen, die in der Bevölkerung nur geringe Begeisterung zu erwecken schien. Dies zeigte sich etwa in ihrem ersten Jahrestag im November 1919, als die sozialdemokratischen Versammlungen zur Feier des Tages „ganz gut besucht" waren, es aber, wie Lindley bemerkte, „keinerlei Zeichen von Begeisterung" gab: Die Wiener „benutzten die Gelegenheit, an einem schönen Tag einige Stunden in der schönen Umgebung zu verbringen".« Doch es bestand auch kein Wunsch nach einer Rückkehr der Habsburger, und die monarchistischen Gruppen - meist frühere Offiziere - blieben sehr klein. Cuninghame teilte im August 1919 fest: „Die Monarchisten haben keinen Versuch gemacht, die österreichische Politik zu beeinflussen. Das ist, von ihrer eigenen Warte aus gesehen, vernünftig, denn die Tendenz in Stadt und Land ist gegen jede Rückkehr der Habsburger." Das könnte sich möglicherweise ändern, falls die Monarchisten in Ungarn Erfolg hätten. Im Frühjahr 1919 wurde der Vorsitzende der britischen Hilfsmission von einem monarchistischen Emissär aufgesucht, der ihm mitteilte, daß „das Land für einen Regierungswechsel reif" sei. In Wien seien „mindestens 30 Prozent der Bevölkerung" auf ihrer Seite, „das platte Land würde geschlossen für einen Wechsel stimmen". 7 3 Das war ein Wunschtraum, und ein Memorandum, das in London für die britische Regierung verfaßt wurde, stellte kurz und bündig fest: „Es besteht kein Wunsch nach einer Rückkehr der Habsburger oder deren Regime." 74 Als in Deutschland im März 1920 der reaktionäre Kapp-Putsch ausbrach, bemerkte Lindley, daß ein ähnliches Unterfangen in Österreich „eine Riesentorheit" wäre. Es sei jedoch in Hinblick auf „die elende Situation der österreichischen Offiziere und das unverantwortliche und abenteuerliche Temperament der Ungarn . . . nicht unmöglich, daß ein solcher Versuch unternommen wird." 75 Als aber der frühere Kaiser Karl 1921 überraschend im Burgenland landete, um von dort aus nach Buda31
pest zu marschieren, blieb in Österreich alles ruhig. Eine monarchistische Bewegung entstand erst wieder als Gegengewicht zum Aufstieg des Nationalsozialismus und zu deutschen Einmischungen in Österreich, und selbst dann wurde sie keine Massenbewegung. Doch eine andere reaktionäre Strömung verursachte zu einer Zeit, als es an allem Notwendigen mangelte, große Erregung in Wien und an anderen Orten. Sie richtete sich gegen die jüdischen Flüchtlinge aus Polen. In Wien fanden Massenversammlungen statt, in denen wütende antisemitische Reden gehalten und die Ausweisung aller Flüchtlinge gefordert wurde.76 Im September 1919 brachte der Manchester Guardian die alarmierende Nachricht, daß laut Ankündigung der österreichischen Regierung etwa 130.000 Flüchtlinge binnen weniger Tage das Land verlassen müßten, sonst würden sie zwangsweise deportiert werden. Diese Verordnung konnte zwar nicht durchgeführt werden infolge der Knappheit an Waggons und Kohle, aber man befürchtete antisemitische Ausbrüche. 77 Aus Wien schrieb ein britischer Offizier, die Zahl von 130.000 Flüchtlingen sei übertrieben, und etwa 60.000 seien nach Polen zurückgekehrt. Es habe keine Deportationen gegeben, aber „zweifellos wäre in Österreich das antijüdische Gefühl sehr stark, und man sei sehr dafür, daß die Regierung eingreife". Und das britische Mitglied der Interalliierten Lebensmittelkommission fügte hinzu, es gäbe in Wien nur etwa 30.000 jüdische Flüchtlinge, die vor allem aus Galizien kämen. „Die Polen machen anscheinend große Schwierigkeiten, wenn diese Flüchtlinge die Grenze erreichen, aber es scheint, daß etwa 100.000 durchgekommen sind." Von den restlichen 30.000 würden nur 400 beabsichtigen, irgendwie nach Palästina zu gehen; der großen Mehrheit sei es gleichgültig, „wohin sie gehen, solange es nicht Galizien ist". Inzwischen hatte die österreichische Regierung weitere antisemitische Versammlungen verboten. Die Antisemiten planten daraufhin Demonstrationen in der Nähe des alten jüdischen Bezirks in Wien, die jeden Sonntag stattfinden sollten, aber die letzte wurde von der Polizei verhindert. 78 In London notierte Lewis Namier, der selbst polnisch-jüdischer Abstammung war, daß „die Minderheitsklauseln des Friedensvertrages alle diese Flüchtlinge berechtigen, sich um die Staatsbürgerschaft zu bewerben, und die österreichische Regierung versucht dies durch Massenausweisungen zu verhindern." Die Staatsbürgerschaft sei nur denjenigen Flüchtlingen verliehen worden, die am 1. August 1914 innerhalb der Grenzen der neuen Republik gewohnt hätten - was die Kriegsflüchtlinge ausschloß. Namier schlug vor, von Österreich zu verlangen, den Ausweisungsbefehl zurückzuziehen, bis man die Frage weiter diskutieren könne. „Und wir sollten damit drohen, falls sie in so drastischer Weise vorgingen, in ebenso drastischer Weise die Zufuhren abzuschneiden", von denen Österreich abhinge.79 Die Akte enthält nichts weiter zu diesem Thema, anscheinend wurde die Frage ohne großes Aufheben geregelt; die angedrohten Deportationen fanden jedenfalls nicht statt. Der Antisemitismus in Wien blieb jedoch stark und konnte jederzeit für politische Zwecke ausgenutzt werden. Seit ihrer Geburt litt die österreichische Republik unter schwerstem Mangel an allem lebensnotwendigen, wobei die Situation durch die Haltung der Nachfolgestaaten und das Fortbestehen der Kriegswirtschaft zusätzlich erschwert wurde. Nur zu oft 32
befürchteten die britischen Beobachter e i n e n völligen Z u s a m m e n b r u c h , „Anarchie" o d e r „ C h a o s " . W ä h r e n d d e s s c h r e c k l i c h e n W i n t e r s 1919—20 k o n n t e das L a n d nur durch H i l f e v o n a u ß e n ü b e r l e b e n , u n d a u c h das nur m i t M ü h e . B e i d e n W a h l e n v o m Februar 1919 erhielten die Sozialdemokraten mit über 4 0 Prozent der S t i m m e n w e s e n t l i c h m e h r als ihre C h r i s t l i c h s o z i a l e n G e g n e r , a b e r d a n n g i n g ihr S t i m m e n a n t e i l zurück. S o b l i e b d i e R e v o l u t i o n b e s c h r ä n k t auf d i e p o l i t i s c h e u n d k o n s t i t u t i o n e l l e E b e n e . Österreich wurde eine bürgerliche Republik, die von der konservativen C h r i s t l i c h s o z i a l e n Partei regiert w u r d e , nicht v o n d e n S o z i a l i s t e n . D i e B e z i e h u n g e n z w i s c h e n d e n b e i d e n P a r t e i e n litten unter e i n e m s c h a r f e n A n t a g o n i s m u s , d e r d i e t i e f e Kluft zwischen d e n w e n i g e n großen Städten und d e n vielen Kleinstädten und D ö r f e r n widerspiegelte.
Anmerkungen 1 2 3 4 5 6 7 8 9 10 11 12 13 14 15 16 17 18 19 20 21 22 23 24 25 26 27
„Notes on the Situation in Austria Hungary", August 1918: Public Record Office London (PRO), FO 371, Bd. 3136, Fo. 359 f. Lord Acton an Foreign Office, Bern, 31. Oktober 1918: ebenda, Bd. 3134, Fo. 26 f. Acton Memorandum, 19. Dezember 1918: ebenda, Bd. 3507, Fo. 54. Bericht von L. H. Faber, 8. Januar 1919: ebenda, Bd. 3514, Fo. 298 ff. Bericht von Faber, a. a. O., Fo. 303 f., 313. Zu Einzelheiten über die Zusammenstöße am 12. November 1918 siehe F. L. Carsten, Revolution in Mitteleuropa 1918-1919, Köln 1973, S. 68 f. Namiers Notiz, 11. November 1918: FO 371, Bd. 3139, Fo. 123 1Ï. Balfour an den Sekretär des Königs, 11. November: FO 800, Bd. 200. Ungczcichnctcs P. I. D. Memorandum, 9. Dezember 1918: FO 371, Bd. 4355, Fo. 192 ff. M. L. Dockrill und J. D. Goold, Peace without Promise - Britain and the Peace Conference 1919-23, London 1981, S. 112 f.; Erich Zöllner, Geschichte Österreichs, Wien 1961, S. 499. Rumbold an Curzon, Bern, 1. März 1919: FO 371, Bd. 3529, Fo. 447. In den Wahlen vom Februar 1919 erhielten die Sozialdemokraten 40, 76 und die Großdeutschen 18, 36 Prozent der Stimmen. Memorandum von F. O. Lindley, 23. April 1919: Documents on British Foreign Policy 1919-1939 (zitiert als DBFP), 1. Serie, XII, London 1962. Nr. 143, S. 177. Bauer an Renner, 8. Juni 1919: Haus-, Hof- und Staatsarchiv, Nachlaß Bauer, Karton 261. Namiers Notiz, 2. August 1919: FO 371, Bd. 3530, Nr. 110413. Foreign Office an Treasury, 12. November 1919: DBFP, I. Serie, VI, 1956, Nr. 278, S. 376. Memorandum von C. Howard Smith, 13. August 1919: FO 371, Bd. 3530, Fo. 523 f. Rumbold an Foreign Office, Bern, 4. Januar 1919: FO 371, Bd. 3529, Fo. 359. Bericht von Sir Thomas Cuninghame, Februar 1919 und Note der Schwedischen Gesandtschaft, 5. März, mit Notiz Namiers vom 7. April 1919: FO 371, Bd. 352'), Nr. 27254, Bd. 3541. Clemenceau und Balfour an Tittoni, Paris, 29. Juli 1919: FO 371, Bd. 3509. Lindley an Curzon, 9. Dezember 1919: DBFP, 1. Serie, VI, Nr. 363, S. 498. Resolutionen vom Januar 1919, übersandt von Oberst Cuninghame am 22. April: FO 371, Bd. 3508. Tarvis wurde an Italien abgetreten und zu Tarvisio umbenannt. Oberst S. Capel Peck an Curzon, Klagenfurt, 28. August 1920: FO 371, Bd. 4628. Der gleiche, 13. Oktober 1920: DBFP, 1. Serie, VII, 1962, Nr. 248, S. 292 ff. Der gleiche, 20. Oktober 1920: ebenda, Nr. 257, S. 309 ff. Lindley an Curzon, 7. November, 5. Dezember 1919, 1. Januar 1920: DBFP, 1. Serie, VI, Nr. 265, 356, 406, S. 352, 494, 550. Cuninghame an War Office, 3. Juni 1919; Notizen vom 7.-12. Juni: FO 371, Bd. 3543. Cuninghame an Foreign Office, 17. Oktober; Lindley an Curzon, 16. Dezember 1919: DBFP, 1. Serie, VI, Nr. 219, 378, S. 298 IT., 514. Rumbold an Lindley, Warschau, 13. Dezember 1919: PRO, FO 120, Bd. 924.
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Berichte von Oberst Cuninghame, 26. Januar, und von Leutnant W. A. Reaves, 24. Februar 1919: FO 371, Bd. 3529, Fo. 399, 434 f. Prof. K. F. Wenckebach an Sir William Osler, 2. März 1919: FO 371, Bd. 3530, Nr. 5683Ü. Undatierte Notizen von Hauptmann John de Vars Ha/ard: FO 371, Bd. 3508, Nr. 66064. Bericht über die Steiermark, 20. April 1919: Society of Friends Library, London, Papers relating to Friends' Relief Mission in Austria, Karton 5, Paket 3. Tagebuchnotizen von Hilda Clark, Mai 1919: ebenda, Karton 4, Paket 2. The Friend, Bd. L1X, 28. November 1919, S. 724. Briefe von Helen Fox, 16. Oktober und 7. November 1919: Papers relating to Friends'Relief Mission in Austria, Karton 4, Pakete 2 und 3. Briefe von E. M. Pye, Francesca Wilson und M. A. L., 30. November, 9. und 23. Dezember 1919: ebenda, Karton 4, Paket 3 und Karton 5, Paket 3. Briefe von B. B. Hoysted und Fritz Schwyzer, 20. November und Dezember 1919: ebenda, Karton 4, Paket 3. Lindley an Curzon, 4. November, und Lord Stamfordham (Privatsekretär des Königs) an Curzon, 14. November 1919: DBFP, 1. Serie, VI, Nr. 252, S. 327 ff., S. 329, Anm. 1. Cuninghame an Lindley, 25. November, und Lindley an Curzon, 22. November 1919: FO 120, Bd. 925; DBFP, 1. Serie, VI, Nr. 297, S. 399 f. Leutnant Reaves an War Office, 24. Februar 1919: FO 371, Bd. 3529, Fo. 434. Berichte vom 3. September und 9. Dezember 1919: The Friend, LIX, S. 612; Papers relating to Friends' Relief Mission in Austria, Karton 4, Paket 3. Helen Fox' Brief vom 7. November 1919: ebenda, Karton 4, Paket 2. Curzon an Norman, 12. Dezember 1919: DBFP, 1. Serie, VI, Nr. 368, S. 507. Earl of Derby an französisches Außenministerium, Paris, 9. Januar 1920, mit Zitat aus Lindleys Bericht vom 1. Januar: ebenda, XII, 1962, Nr. 69, S. 98 f.; Foreign Office an Sir Ronald Graham, 13. März 1920: FO 371, Bd. 3535. Lindley an Curzon, 31. Dezember 1919: DBFP, 1. Serie, FO 371, Bd. 3533. C. K. Butler an Sir William Goode, 4. September, und Lindley an Curzon, 7. November 1919: DBFP, 1. Serie, VI, Nr. 171, 264-65, S. 222, 351 f. Lindley an Foreign Office, 10. Januar 1920: FO 371, Bd. 3548. Bericht des Militârattachés im Haag, 16. Dezember 1919, und Lindleys Kommentar, 14. Januar 1920: FO 371, Bd. 3532-33. Cuninghame an Oberst Twiss, 1. Juli 1919, und sein Bericht, 21. Januar 1920: DBFP, 1. Serie, VI, Nr. 3, S. 5; FO 371, Bd. 3534. Memorandum über Arbeilerräle von G. M. Young, 6. November 1920: FO 371, Bd. 4655, Fo. 198204. Bericht von C. K. Butler, 25. April 1919: FO 371, Bd. 3530, Fo. 147-52. „The Carinthian Soldiers'Council", 3. August 1919: FO 371, Bd. 3510. Brigadier Delme Radcliffe an Chef des Imperial General Staff, Klagenfurt, 18. September 1919: FO 371, Bd. 3510, Nr. 135177. Zur Volkswehr siehe Carsten, Revolution in Mitteleuropa, S. 63-86. Rumbold an Foreign Office, 20. März, und Acton an das Foreign Office, 27. April 1919: FO 371, Bd. 3529, Fo. 486, Bd. 3530, Nr. 65363. Bericht vom 20. April 1919: Papers relating to Friends' Relief Mission in Austria, Karton 5, Paket 3. Cuninghames Brief vom 23. März 1919: FO 371, Bd. 3525. Lindley an Curzon, 19. Juni, mit Cuninghames Bericht vom 5. Juni 1920: FO 371, Bd. 3524, Fo. 534 f. „Austria. Annual Report, 1920", S. 10: FO 371, Bd. 5786. Curzon an Lindley, 15. Dezember 1919: DBFP, 1. Serie, VI, Nr. 376, S. 514. Bericht von Leutnant Reaves, 24. Februar 1919: FO 371, Bd. 3529, Fo. 436. Rumbold ah Foreign Office, Bern, 5. April, mit Notiz vom 7. April, und Cecil Gosling an Curzon, Prag, 16. Juni 1919: FO 371, Bd. 3530, Fo. 36, 42, 242. The Times, 21.-22. April 1919. The Times, 17. Juni 1919.
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Memorandum von Ci. F. Young, im Foreign Office empfangen 6. Dezember 1920: FO 71, Bd. 4655, Fo. 200. Cuninghame an Oliphanl, 17. Okiober und Lindley an Curzon, 25. November 1919: DBFP, 1. Serie, VI, Nr. 219, 305, S. 299, 408. Bericht Cuninghames, 21. Januar 1920: FO 371, Bd. 3534, Fo. 7. Cuninghame an Sir Ronald Graham, 28. August 1919: FO 371, Bd. 3531, Fo. 23. Lindley an Curzon, 7. und 22. November 1919: FO 371, Bd. 3531, Fo. 244, 516. Cuninghame an Graham, 28. August 1919: ebenda, Fo. 22. Berichte Cuninghames, 8. Juli und 28. August 1919: DBFP, 1. Serie, VI, Nr. 22,147, S. 37 f., 194. Bericht Cuninghames, 17. Oktober, und Bericht „from a sure source", 29. Juli 1919: FO 371, Bd. 3530, Nr. 144566 und 115336. Cuninghame an Balfour, 10. August 1919: DBFP, 1. Serie, VI, Nr. 101, S. 140. Lindley an Curzon, 14. November 1919: FO 371, Bd. 3531, Fo. 456. Bericht Cuninghames, 28. August, und Bericht C. Κ. Butlers, 4. September 1919: DBFP, 1. Serie, VI, Nr. 147,171, S. 194, 221. Memorandum von C. Howard Smith, 15. August 1919: ebenda, Nr. 112, S. 156. Lindley an Curzon, 19. März 1920: FO 371, Bd. 3536. Zu Einzelheiten über diese Massenversammlungen siehe die Wiener Polizciberichte vom 25. September, 5. Oktober 1919 und 27. April 1920: Verwaltungsarchiv Wien, Pol. Dir. Wien, Berichte 1919 und Berichte 1920. Manchester Guardian, 16. September 1919. Captain Marochetti an War Office, und R. Butler an Marochetti, beide 28. Oktober 1919: FO 371, Bd. 3544. Andere Quellen geben die Zahl der in Wien verbliebenen Flüchtlinge mit ca. 25.000 an. Notiz von Namier, 16. September 1919: FO 371, Bd. 3544.
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II. Krisenjahre 1920-1922
Der Beginn der zwanziger Jahre brachte Österreich keine Erleichterung von seinen wirtschaftlichen und politischen Schwierigkeiten, und es blieb nach wie vor von lebenswichtigen Zufuhren und finanziellen Krediten der Alliierten abhängig. Die soziale Not wurde verschärft durch ständig steigende Preise und zunehmende Inflation. Anfang 192Ü berichtete Oberst Cuninghame aus Wien: „Die wichtigste Ursache für die hiesigen Befürchtungen ist das ständige Ansteigen der Lebensmittelpreise. Auf jeden Fall ist für die normale Verteilung nur eine ganz kleine Ration Brot und Mehl erhältlich, der 2-Pfund-Laib kostet heute 3,80 Kronen und wird in Bälde auf 5 Kronen steigen . . . Darunter leiden vor allem Menschen mit fixem Einkommen, von denen eine wachsende Zahl dem Verhungern ausgesetzt ist, so daß die Zahl der Verzweifelten z u n i m m t . . . Darunter leiden vor allem Menschen mit fixem Einkommen, von denen eine wachsende Zahl dem Verhungern ausgesetzt ist, so daß die Zahl der Verzweifelten z u n i m m t . . . Den Mitgliedern der Arbeiterklasse, die in gewissem Umfang von steigenden Löhnen profitieren, was nur durch die ständige Inflation der Banknoten ermöglicht wird, geht es besser. Doch letztlich hat sich die Lage verschlimmert durch das Aufhören der Kohlenzufuhr, so daß die Straßenbahnen nicht in Betrieb sind und kein Brennmaterial - weder Kohle noch Holz - an private Haushalte abgegeben wird."
Binnen Kürze würde zwar wieder Kohle an Haushalte verteilt werden können, aber für die Fabriken gäbe es überhaupt keine.1 Die Not traf auch die Mitglieder der britischen Kolonie in Wien. Sie erhielten „eine gänzlich unzureichende" Menge an Fleisch und Fett und pro Woche und Person einen kleinen Laib Brot, bestehend „aus allem möglichen außer Mehl". „Das Hauptnahrungsmittel, von dem sie leben, sei Suppe aus Kohl und Rüben" - die die Kinder nicht verdauen könnten und zu essen sich weigerten. Vor dem Krieg seien in Wien täglich etwa 40-50 Menschen begraben worden, jetzt seien es fast 2000, und Soldaten müßten den Totengräbern helfen.2 Im Februar 1920 informierte Otto Bauer ein Mitglied der britischen Gesandtschaft, daß allein in Wien 60.000 Kriegsinvaliden öffentliche Unterstützung erhielten. Sie, ihre Angehörigen, die Witwen und Kinder der Gefallenen und die Angehörigen der Kriegsgefangenen bildeten zusammen ein Sechstel der Bevölkerung, ein weiteres Sechstel bestünde aus den Beamten der ehemaligen Monarchie und deren Angehörigen. So hing ein Drittel der Wiener Bevölkerung von Unterstützungen ab und produzierte selbst nichts. Die Beamten des Justizministeriums klagten bitter, daß ihre Gehälter hinter den Löhnen der Arbeiter zurückblieben und diese außerdem noch wohltätige Gaben erhielten; bis jetzt hätten sie „schweigend gehungert", aber nun zwinge sie die Not, um Hilfe von außen zu bitten. 3 Als ein Mitglied der Hilfsmission der Quäker im Februar 1920 in Linz war, beobachtete er dort zwei große Demonstrationen. Am Morgen versammelten sich Kriegsinvaliden, Soldatenwitwen und ihre Kinder „in Massen, um ihr Elend und ihre Hungersnot zu bezeugen. Ausgemergelte Männer und Frauen standen schweigend da . . . Sie blieben eine Stunde lang, ohne sich zu bewegen, und zogen dann ebenso 37
ruhig, wie sie gekommen waren, wieder fort." A m Nachmittag demonstrierten etwa tausend Zimmerleute an der gleichen Stelle. Als ein Sozialist sie aufforderte, Disziplin zu bewahren und keine wilden Aktionen zu unternehmen, unterbrachen ihn die Arbeiter dauernd. Ihre Frauen und Kinder würden hungern und sie wüßten, wo Lebensmittel zu finden seien. „Wir haben Hunger", riefen sie, und einige verfluchten den Redner und ballten ihre Fäuste. Prälat Hauser, der Landeshauptmann von Oberösterreich, teilte dem Besucher mit, es gäbe eine „unmittelbare Gefahr einer Hungerrevolution". 4 Im März informierte Staatskanzler Renner die Vertreter der Alliierten über die kritische Lage. Der Generalstreik in Deutschland, der aus Anlaß des Kapp-Putsches gegen die Weimarer Republik durchgeführt wurde, erschwere die Lage in Osterreich, und er hoffe, daß es möglich sei, die in Rotterdam befindlichen Vorräte entweder durch das besetzte Rheinland oder auf dem Seeweg über Triest zu schicken, dem „einzigen sicheren Zufuhrhafen". Wenn der Generalstreik noch zwei Wochen dauere, würde Österreich nicht einmal mehr Kohle für die Lebensmittelzüge haben, weil die Tschechen alle Lieferungen eingestellt hätten. Renner betonte, daß Österreich „der Sache der Ordnung und Zivilisation vierzehn Monate lang treugeblieben" sei, sogar als München und Budapest in bolschewistischer Hand gewesen seien. Falls genügend Lebensmittel ankämen, würde es „auch weiterhin einen mäßigenden Einfluß ausüben", aber keine Regierung könne Ordnung aufrechterhalten, wenn die Leute hungern. Wenn die Lebensmittellage sich nicht bessere, würde Anarchie triumphieren. 5 Im Mai beschrieb ein britischer Wohltätigkeitsarbeiter die Lage in Österreich folgendermaßen: „ E s ist unmöglich, von einem Land ins andere zu reisen, ohne angehalten und auf Nahrungsmittel oder auf irgendwelche andere Dinge, die nach Ansicht der provinziellen Behörden das betreffende Land nicht verlassen dürfen, durchsucht zu werden. Sogar das hungernde Wien hat solche Barrieren. Man kann nicht auf einer der Hauptstraßen in die Stadt kommen, ohne von einer derartigen .Kontrolle' erfaßt zu werden, und falls man etwas mehr L e bensmittel bei sich hat, als zu importieren gestattet ist, werden sie einem weggenommen. . . . D i e Wiener sind wirklich ein geduldiges Volk - zu geduldig, finde ich. Sie lassen sich jedes Ausmaß an .Kontrolle' gefallen und gestatten dem Ausland, sie durch Wohltätigkeit zu ernähren."
E r habe gerade von einem ganz absurden Fall gehört, berichtete er weiter: In Oberösterreich dürften alle Besucher nur drei Tage bleiben. Eine Wienerin aber, deren Gesundheit gelitten hatte und die zur Erholung dorthin gefahren war, durfte mit Erlaubnis ihres Wirtes zwei Wochen bleiben. Doch als ihr Mann kam, ergriffen ihn zwei Gendarmen, führten ihn durch das Dorf und hielten ihn fest; dann mußte das Paar Oberösterreich binnen zwei Stunden verlassen. „Die Länder tun alles, um einander nicht zu helfen, und die Zentralregierung ist machtlos." 6 Der gleiche Berichterstatter beschrieb das „Kontingent"-System, nach dem die Regierung die Erzeugnisse der Bauern zu Preisen, die die Produktionskosten nicht deckten, aufkaufte. Auch nach Ablieferung seines „Kontingents" sei es dem Bauern nicht erlaubt, den Überschuß auf dem freien Markt zu verkaufen, sondern er müsse diesen zu den amtlich festgesetzten Höchstpreisen anbieten. Er produziere daher so 38
wenig wie möglich, außer für den Eigenbedarf, und wenn er einen Überschuß habe, verfüttere er ihn an sein Vieh, oder er verkaufe ihn auf dem Schwarzen Markt. So sorge die Regierung dafür, daß die Produktion stagniere - das „Kontingent"-System sei ein System, das „den Bauern gegen die Regierung erbittert und in ihm Feindschaft gegen die Städter erzeugt". Denn wenn er etwas in der Stadt kaufen müsse, habe er dort einen durch den Fall der Krone bedingten hohen Preis zu bezahlen. In Wien seien die Preise jetzt 30-40mal so hoch wie vor dem Krieg, und da die Bauern solche Preise für Kleider, Schuhe oder andere Bedürfnisse zahlen müßten, sei es fast unmöglich für sie, irgendwelche gewerbliche Waren zu kaufen. „So lange dieses bösartige System besteht, kann sich die Landwirtschaft nicht entwickeln und wird eine Wiederbelebung des gewerblichen Lebens in Österreich verzögert." Nach Ansicht des Schreibers sollte alle Hilfe weniger in der Einfuhr von Lebensmitteln und mehr in der Entwicklung der heimischen Produktionsmöglichkeiten bestehen. Die Interalliierte Hilfskommission habe schon des öfteren um Saatgut, künstliche Düngemittel und andere landwirtschaftliche Hilfe ersucht, ihre Appelle seien aber kaum beachtet worden, und „doch sei eine beträchtliche Förderung der landwirtschaftlichen Produktion Österreichs möglich". Er trat auch für die Abschaffung des „Kontingent"-Systems und für die Bezahlung von Marktpreisen an die Bauern ein. 7 Ein anderes Mitglied einer Hilfsmission schätzte die Preise in Graz auf 50lOOmal über dem Vorkriegsniveau, die Löhne aber nur auf 20-30mal höher. „Viele Familien, unter ihnen viele Gebildete, deren Erziehung jetzt wertlos ist, verkaufen ihre Möbel und andere Gegenstände für Lebensmittel". 8 Am meisten litten die Kleinkinder. Laut dem Jahresbericht der britischen Gesandtschaft für 1920 zählte die Bevölkerung Österreichs im Alter bis zu 15 Jahren 1.182.000 Kinder, von denen 930.000 (fast 80 Prozent) unterernährt waren. In Wien waren 327.000 Kinder (oder 96 Prozent) unterernährt, und fast die Hälfte davon erhielt eine Mahlzeit in der Schule, die von den Amerikanern gespendet wurde. Dies war, abgesehen von Schwarzbrot und Kaffee-Ersatz, oft ihr einziges Essen. Als die Amerikaner im August 206.000 Kinder medizinisch untersuchen ließen, stellte sich heraus, daß fast die Hälfte davon „schwer unterernährt" war; nur 6.000 Kinder waren nicht unterernährt, der Rest wurde mit „weniger unterernährt" beschrieben - und dies zu einer Zeit, als die meisten dieser Kinder zusätzliche Nahrung von den amerikanischen oder britischen Hilfsmissionen erhielten. 9 Aus Graz wurde berichtet, daß die Sterblichkeitsrate die Geburtenrate dermaßen übersteige, „daß in dreißig Jahren niemand mehr am Leben sein würde, wenn das so weiter ginge". Viele Kinder und Studenten besäßen keine Unterwäsche und seien „fast in Lumpen" gekleidet; zur Zeit des Berichts - im Mai - habe es weder Fleisch noch Mehl gegeben. 10 Den ganzen Sommer des Jahres 1920 hindurch verteilten die Quäker wöchentliche Rationen an Milch, Kakao, Zucker, Fett, Mehl und Seife an 40.000 Wiener Kinder unter sechs Jahren. Gegen Jahresende war deren Zahl auf 55.000 gestiegen, und die Hilfsmission hielt den Bedarf an warmer Kleidung für den dringendsten. Im Februar berichtete sie, die wöchentliche Verteilungsquote bestehe aus zwei Büchsen kondensierter Milch, einem halben Pfund Gerstenmehl, je 125 Gramm Fett und Zucker und 100 Gramm Kakao; „Reis, Seife und Dörrgemüse kamen dazu, wenn 39
vorhanden". Aus vielen Depots wurden außerdem Kleider zu niedrigen Preisen verkauft und Holz an die Frauen, die dorthin kamen, verteilt. Das ganze Unternehmen beruhte auf „der Unterstützung und Mitarbeit nicht nur der Ärzte und Schwestern in den Kinderkliniken, sondern auch der Frauen aus jedem Bezirk, die "in den Depots arbeiten." In jedem Bezirk gab es ein Frauenkomitee mit einer Vorsitzenden, um die Depots zu beaufsichtigen, die Verkäufe zu tätigen, die Indexkarten zu schreiben usw. Die Frauen erhielten zwar nur unzureichende Rationen, waren aber bereit zu dieser freiwilligen Arbeit zugunsten der Kinder. Die Ärzte arbeiteten unter großem Druck und „unendlichen Schwierigkeiten", aber voller Enthusiasmus für die gute Sache. Die Mitglieder der Mission waren der Meinung, am wenigsten werde für die jungen Menschen zwischen 15 und 20 Jahren getan, obwohl „diese es am nötigsten hätten". 11 Ende 1920 war die Mission ein kooperatives Unternehmen der Briten und der Amerikaner und eine „riesige Organisation". In den Wiener Bezirken gab es 25 Depots, von denen aus die Wochenrationen verteilt und Lebensmittel und Medizin an die Krankenhäuser verschickt wurden. Ferienaufenthalte und -heime wurden für die Kinder organisiert und Hilfsmaßnahmen für Studenten getroffen. „Dazu braucht man eine große Organisation - Büros, Speicher, Verpackungsräume, Lastwagen usw.", hieß es. Das Personal bestand aus 70 englischen und amerikanischen Freiwilligen, 80-100 österreichischen Angestellten und über 500 österreichischen Hilfsarbeitern. 12 Viele Kinder wurden nach England zu einem dreimonatigen Aufenthalt zur Erholung geschickt - und ebenso nach Skandinavien und in andere Länder. Die Visa dafür wurden auf Antrag des britischen Gesandten in Wien erteilt. Aber im Dezember verlangte das Home Office, diese Form der Visa-Erteilung müsse eingestellt werden. In Zukunft sollten nur noch diejenigen Kinder ein Visum erhalten, für die das „Komitee für Kinder aus Hungergebieten" einreiche - denn dieses sorge für eine sorgfältige ärztliche Untersuchung der Kinder, die im Interesse der britischen Volksgesundheit nötig sei. Jede andere Methode verursache ein Risiko, und „alle Vorsichtsmaßnahmen könnten umsonst sein". 13 In Salzburg organisierte das amerikanische Rote Kreuz im Winter 1920 die Ernährung von 2000 Kindern, und die Quäker besaßen dort ein Erholungsheim für unterernährte Kinder. In einem ihrer Berichte hieß es: „Ohne Lebensmittel, Kohle und Geld und bedingt durch ständig steigende Preise ist die Not ebenso groß wie in Wien, und dazu kommen all die Klagen gegen Wien." Lebensmittel könnten lediglich von denen gekauft werden, die die hohen Preise zahlen konnten, und die größte Not herrsche unter dem Mittelstand. „Wenn nicht sofort Hilfe kommt, ist die Lage hoffnungslos, und ,sofort' bedeutet nicht Monate, sondern Tage." 14 Aus Innsbruck berichtete ein britischer Journalist über das Frühstück in seinem Hotel „1. Klasse": „Der einzige echte Bestandteil an Lehensmitteln war ein Ei pro Person. Der ,Kaffee' war eine dickflüssige braune Masse unbekannten Ursprungs, verglichen damit wäre der .Eichelkaffee' aus dem Kriege köstlich gewesen. Die Scheibe Schwarzbrot und das Stück Kuchen schienen aus schlechten Kartoffeln und Glykose zu bestehen. Nach zweieinhalb Friedensjahren leiden die Österreicher unter Entbehrungen, wie sie uns in den schlimmsten Kriegstagen unbekannt waren." 15
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Im Oktober 1920 beschrieb der österreichische Gesandte in London, Franckenstein, dem Außenminister Lord Curzon die Not in Wien: „. . . eine große Hauptstadt mit über zwei Millionen Einwohnern, gelegen in einem Land, das nur noch sechs Millionen Einwohner hat, . . . umgeben von einer Mauer erbitterter Feinde . . . Für diesen verstümmelten und verarmten österreichischen Staat gäbe es nur zwei Möglichkeiten: entweder sein Los mit dem Deutschlands zu verbinden, oder mit den feindlichen Nachbarn zu einem vernünftigen Arrangement bezüglich Handel und Lieferungen zu kommen."
Er fragte Curzon, welche dieser zwei Möglichkeiten er vorziehe und appellierte dringend für Lieferungen von Kohle. Curzon antwortete, Großbritannien sei zweifellos für die zweite Möglichkeit und habe alles dafür getan. Die erste „würde gänzlich der Politik widersprechen, für die wir den Krieg geführt und gewonnen hatten." Im Januar 1921 telegraphierte er an den britischen Gesandten in Prag: „Die gegenwärtige kritische Lage in Österreich bedeutet eine Bedrohung für seine Nachbarn, und dessen Zusammenbruch würde eine positive Gefahr für sie bedeuten. Die wirtschaftliche Not in Österreich wird teilweise durch die .Blockade'-Politik der Nachbarstaaten verursacht, die Beseitigung der Handelshemmungen ist eines der praktischsten Hilfsmittel zur Abhilfe." 16
Wie Curzon betonte, maß die britische Regierung der Verbesserung der Beziehungen zwischen den Nachfolgestaaten die größte Bedeutung zu, aber diese erfolgte nur sehr, sehr langsam. Im April 1921 sprach Lord Parmoore im Oberhaus über die Situation in Wien. Die Hilfsorganisationen teilten täglich 200.000 Mahlzeiten „zu einem sehr billigen Preis" aus, zu weniger als einem Penny in englischem Geld. Dennoch gebe es „sehr viele halbverhungerte Kinder", von denen die meisten „an Größe und in ihrem allgemeinen Zustand um drei Jahre jünger aussähen als sie sollten"; unter den Wiener Kindern sei „die Tuberkulose eine furchtbare Geißel". Das Leben vieler Kinder könnte gerettet werden, wenn sie genug Milch und Lebensmittel erhielten, „aber unglücklicherweise gäbe es weder das eine noch das andere". Die Quäker hätten „eine ausgezeichnet erhaltene Herde Kühe" aus Holland importiert, aber Milch sei noch immer äußerst knapp. Weiters zollte Lord Parmoore besonders dem Werk des Militärattachés, Sir Thomas Cuninghame, Tribut. Dieser habe ihn dringend ersucht zu berichten, daß „eine furchtbare Katastrophe" eintreten würde, wenn die Hilfsaktionen plötzlich beendigt würden. In seiner Antwort betonte Curzon, die österreichische Regierung müsse Riesensummen „an entwertetem Geld für Waren zahlen, die sie im Ausland kaufe und zu unökonomischen Preisen an die Verbraucher verkaufe". Jedes derartige Geschäft verursache einen weiteren Fall der Krone, wenn es nicht durch Exporte ausgeglichen werde. Seiner Ansicht nach fehle es der österreichischen Regierung an Initiative und Mut; sie hoffe ständig auf die Hilfe der Alliierten. Immer wieder „zeige sich dieser Geist der hilflosen, ich will nicht sagen hoffnungslosen Abhängigkeit". 17 1920 bewilligte das britische Schatzamt einen speziellen Betrag für den Ankauf englischer Saatkartoffeln. Begeistert berichtete Lindley aus Wien, daß bei deren Ankunft nur 2 x h Prozent zu beschädigt zum Anpflanzen gewesen seien, und die 41
österreichische Regierung alles getan habe, um die neue Saat „akzeptabel" zu machen. Er war überzeugt davon, daß „die Ernte sehr viel größer sein werde, als man es von der degenerierten heimischen Art erwarten könne. Das ganze Unternehmen sei „eine ausgezeichnete Reklame für britische landwirtschaftliche Methoden".18 Im Jahre 1921 verteilte der Wiener Hilfsfonds entweder durch die Quäker oder durch lokale Wohlfahrtsorganisationen weiterhin Lebensmittel an Kinder unter sechs Jahren; ebenso spendete man große Mengen Lebensmittel an die Krankenhäuser. Die Quäker bemühten sich ganz besonders, auch den Mittelschichten durch Lebensmittel- und Kleiderverteilung zu helfen. Da diese vielfach nicht imstande waren, die hohen Preise für neue Sachen zu zahlen und ihre Wertgegenstände für Nahrung oder Heizmaterial verkaufen oder verpfänden mußten, unternahmen es die britischen Quäker, „20.000 der bedürftigsten bürgerlichen Familien mit Kleidern zu versehen". In Zusammenarbeit mit dem amerikanischen Roten Kreuz unterstützten sie auch „die sehr gut arbeitenden Wiener Wohlfahrtskliniken". Im April konnte Dr. Hilda Clark berichten, daß sich dank der Hilfe „das Befinden der jüngeren Kinder erstaunlich gebessert habe". Starke Anzeichen von Entbehrung gäbe es noch unter den Jugendlichen unter 20 Jahren, um die man sich nur wenig kümmere. Im Juli beendigte der Wiener Hilfsfonds seine Tätigkeit, für die er mehr als 500.000 Pfund gesammelt hatte, und die Stadt Wien verlieh an vier seiner Leiter, darunter auch Oberst Cuninghame, den Eisernen Salvator-Orden.19 Doch die Quäker arbeiteten weiter und berichteten Anfang 1922 aus Wien, daß sich die Lage finanziell wieder sehr verschlechtert habe. Es herrsche schwere Arbeitslosigkeit, gäbe aber keine Mittel, um Unterstützung zu zahlen. Trotz des weiteren Verfalls der Krone leide auch der Außenhandel, und die Fabrikanten müßten solch enorme Summen für Rohstoffe bezahlen, daß ihre Preise die des Weltmarkts erreichen würden. „Man hat uns so oft erzählt, daß keine Katastrophe bevorstünde, und sie ist nie eingetreten . . . im Augenblick aber sieht es ganz sicher nicht rosig aus."20 1922 fuhr die Hilfsmission fort, Kinder und die Mittelschichten zu unterstützen. Ihre Kuhherde lieferte Milch für Kinder und Tuberkulöse, und um die Milcherträge der Kuhherde zu steigern, wurde Ölkuchen aus Ungarn importiert. Kleider wurden umsonst oder gegen einen Spottpreis verteilt, alte Leute und bedürftige Familien erhielten Kohle. Doch im Jahre 1923 befand man, daß es „aufgrund der allgemeinen Verbesserung der Lage in Österreich", nicht nötig sei, die Arbeit fortzusetzen, und zu Weihnachten wurde sie endgültig eingestellt.21 Es war eine außerordentliche Leistung gewesen, die größtenteils auf freiwilliger Mitarbeit beruht hatte. In diesen Jahren war das Leben in Wien nicht für jeden elend. Schon im November 1919 schrieb Lindley: „Die Läden sind voll von Ausländern, die alles aufkaufen zu Preisen, die für österreichische Käufer ruinös, aber billiger als irgendwo anders in der Welt sind . . . Die Qualität der Waren ist oft ausgezeichnet, aber in ein paar Wochen wird nichts mehr da sein." Wegen der allgemeinen. Notlage würden Geschick und Fleiß, die notwendigerweise in die Produktion fließen sollten, vergeudet. Anfang 1921 stellte er fest, Wien bilde „keine Ausnahme von der Regel, daß eine Sehnsucht nach fieberhaftem Amusement in Städten entstünde, die am Rand der sozialen und finanziellen Auflösung stünden". Die Mitglieder der Reparationskommission (die im April 1921 aufgelöst wurde) mit ihren riesigen Gehältern „amüsierten 42
sich in genau der gleichen Weise wie der Teil der Bevölkerung, der in derselben Lage sei". Ihr Verhalten verursache aber in Wien weder einen Skandal noch Entrüstung wenn gewünscht würde, daß sie „ein zurückgezogenes Leben führen", solle man ihre Gehälter kürzen. 22 Für skrupellose Menschen gab es ausreichend Gelegenheit, die Situation auszunützen. Im Jahre 1920 kaufte der Herzog von Manchester von einem kleinen Wiener Geschäftsmann Pelze, für die er 50.000 Kronen in bar bezahlte und die Zahlung von weiteren 590.000 Kronen (mit dem damaligen Gegenwert von 230 Pfund) innerhalb weniger Tage versprach. Aber er verließ Wien ohne zu zahlen, und 1921 informierte die Wiener Polizei ihre Kollegen in London, die einen Haftbefehl gegen den Herzog erließen. Lindley schrieb zweimal an den Onkel des Herzogs mit der Bitte, dafür zu sorgen, daß die Sache bereinigt würde. Schließlich antwortete der Rechtsanwalt des Herzogs, der den Anspruch leugnete und lediglich einen Scheck über einen kleineren Betrag, der nicht bestritten wurde, in Aussicht stellte. Doch der Scheck kam nicht, und weitere Briefe wurden nicht beantwortet. 1923 (!) gab der Herzog schließlich zu, daß er noch einen Betrag von 18 Pfund schulde, und versprach, ihn zu bezahlen, aber selbst das geschah nicht. Wie der britische Gesandte schrieb, „hat die Affäre hier einen sehr peinlichen Eindruck gemacht". 23 Es muß viele solche Affären gegeben haben. Die Wiener Arbeiter antworteten auf die durch den Fall der Krone verursachten steigenden Lebenshaltungskosten mit Protestdemonstrationen. Während eines solchen Protestmarsches brachen im Dezember 1921 Gewalttätigkeiten aus; dabei wurden im Zentrum der Stadt Fensterscheiben eingeworfen, Hotels attackiert und Läden und Kaffeehäuser geplündert. 400 Leute wurden verhaftet. Die Gesandtschaft berichtete: „Hand in Hand mit Verzweiflung, verursacht durch die ständig steigenden Preise, geht ein Gefühl des Grolls und des Hasses gegen alle, die an Österreichs Unglück verdient haben - die .Schieber', Spekulanten . . . und dergleichen, die zumeist Juden sind." Man war der Meinung, daß dieser Ausbruch nicht überrasche, sondern eher die Tatsache, „daß die Klasse, die am härtesten betroffen i s t , . . . nämlich die Mittelklasse, bisher noch keine wirkungsvolle Aktion begonnen hat". Aber es gäbe „wenige Menschen, die so lange zu leiden fähig seien, wie die Österreicher". 24 Eine Deputation der Demonstranten wurde vom Bundeskanzler und dem Finanzminister empfangen. Sie forderten u. a. die Beschlagnahme von Gold, einschließlich dem der Kirchen und Klöster, eine progressive Vermögenssteuer, ein System von Kinderbeihilfen, ein Verbot der Einfuhr von Luxusgütern und eine Kontrolle des Devisenverkehrs. Der Finanzminister sagte zu, eine solche Kontrolle sowie eine Vermögenssteuer und Kinderbeihilfen einzuführen. Über neue Unruhen wurde nicht berichtet, und in Wien kehrte wieder Ruhe ein. Die Arbeiter konnten durch Demonstrationen und ihre gewerkschaftlichen und sozialistischen Organisationen protestieren, aber für die Mittelschichten war jeder organisierte Protest sehr viel schwieriger. Alle sozialen Klassen litten unter der immer schneller fortschreitenden Inflation. Anfang 1920, als ein Pfund Sterling 820-850 Kronen wert war, betonte ein Bericht, daß die Löhne „keineswegs in gleichem Umfang" gestiegen seien. Ein Mann, der vor 43
dem Krieg 48 Kronen (etwa 2 Pfund) verdient habe, erhalte jetzt etwa 400 Kronen, aber deren wirklicher Wert sei auf „ein Viertel des vor dem Krieg verdienten Lohns" gesunken. Im August 1920 erwähnte Lindley, ein Beamter mit einem Gehalt von 20.000 Kronen müsse jetzt 18 Prozent davon für einen Anzug und ein Paar Schuhe aufwenden. Und drei Monate darauf schrieb er: „Der Verfall der Währung habe einen solchen Preisanstieg hervorgerufen, daß es für die Mehrheit der Bevölkerung unmöglich sei, auch nur die dringendsten Einkäufe zu tätigen." Dennoch gäbe es in Wien nur 14.000 Arbeitslose, die Geschäfte „hätten größere Vorräte als vor sechs Monaten, und der Einzelhandel habe sich belebt." 2 5 Zur gleichen Zeit stellte der britische Vertreter in der österreichischen Reparationskommission fest: „Es ist klar, daß keine Regierung eines Landes fortfahren k a n n , . . . von auswärts 75 Prozent der notwendigsten Lebensmittel zu kaufen, indem sie, wie zur Zeit, Kunstwerke aus Staatsbesitz verpfändet." Es gäbe verschiedene Meinungen, „wann der Zusammenbruch der Regierung erfolgen würde" - ob in drei oder in sechs Monaten. Er persönlich halte das letztere für wahrscheinlicher. Anfang Dezember 1920 stand das Pfund auf über 2000 Kronen, und der britische Gesandte telegraphierte: „Auf einmal sind viele Leute davon überzeugt, daß die Dinge so nicht weitergehen können und daß es gleichgültig ist, wann der unvermeidliche Krach kommt." Seiner Ansicht nach sei die neue Regierung „unfähig, das Land zu regieren, und ihre Machtübernahme wäre eine der Ursachen für die gegenwärtige Lage". Die Gesandten Großbritanniens; Frankreichs, Italiens und der USA kamen zu dem Schluß, daß es unmöglich sei, die weitere Entwicklung vorauszusehen. 26 Im Januar 1921 suchte Lindley den Polizeidirektor Schober auf. Dieser glaubte, es würde innerhalb weniger Wochen ein „Chaos" geben, falls Österreich keine ausländischen Kredite erhielte. Die Krise könne zudem durch große Streiks, die die Zufuhr von Lebensmitteln verhindern würden, beschleunigt werden, und jeder Fall der Krone bringe einen neuen Preisanstieg. Schober behauptete: „Die Existenz Wiens hänge jetzt von ihm und der Notenpresse ab . . . Der Staat habe kein Geld neue Banknoten müssen stündlich gedruckt werden." Aber er war bereit, die Aufrechterhaltung der Ordnung „auf weitere 14 Tage zu garantieren". Im August 1921 bekam man 4000 Kronen für ein Pfund Sterling, und Schober, der inzwischen Bundeskanzler geworden war, ersuchte den britischen Gesandten, dafür einzutreten, daß der Oberste Alliierte Rat sich mit der Frage der österreichischen Finanzen beschäftigte, denn die .Verzögerung bei der Annahme des Sanierungsplanes, der im März im Prinzip angenommen worden war, habe „eine katastrophale Wirkung". Wie Lindley schrieb, gelte der neue Kanzler „als das letzte Pferd im Stall, und es sei schwer absehbar, welcher Minister ihn ersetzen könnte", wenn er keine Hilfe von außen erhielte. Alle, die „die Lage hier studiert haben, halten das für notwendig für die Stabilität des Staates." 2 7 Doch die Krone fiel weiter; dies erzeugte neuerlich Unruhe unter den Arbeitern und begünstigte die weitverbreitete Überzeugung von „der Notwendigkeit radikaler μnd sogar gewaltsamer Veränderungen". Im September 1921 brach unter den Eisenbahnern ein inoffizieller Streik aus, der zwei Tage dauerte. Die Gewerkschaften verhandelten mit der Regierung über eine Lohnerhöhung, konnten aber die Bewegung nicht verhindern. Die britische Gesandtschaft berichtete, daß die Arbeitslosigkeit
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zunehme, die Industrie unter diesen Schwierigkeifen leide, und die Kaufleute ihre Lager nicht mehr auffüllen könnten. Bisher habe der niedrige Stand der Krone den Export begünstigt, aber wenn die Fabrikanten ihre Rohmaterialien nicht mehr ersetzen könnten, würde zu der finanziellen eine industrielle Krise hinzukommen. 2 8 Mitte Oktober kostete ein Laib Brot 34 Kronen gegenüber nur 9 Kronen am 1. August, I kg Kartoffeln kostete 42 im Vergleich zu 10 Kronen und ein Ei 35 im Vergleich zu I I Kronen. Für das Pfund Sterling bekam man nun 11.450 und nur vier Wochen darauf bereits 24.000 Kronen. 29 Als zwei Sachverständige des Völkerbundes im November 1921 ein Memorandum über die österreichischen Finanzen verfaßten, war das darin gezeichnete Bild aber keineswegs ganz schwarz: „Handel und Industrie florieren, es gibt keine Arbeitslosigkeit. Eine wachsende Kontrolle der Landwirtschaft macht Österreich bereits wesentlich unabhängiger von Lebensmitteleinfuhren." Da das Land viel nach Ungarn exportiere, könne man von dort mehr Lebensmittel beziehen, von denen Ungarn einen Überschuß hätte. Die Kohlenknappheit sei verschwunden und die Industrie besitze Reserven, die es früher nicht gegeben hätte. Die auf der Wiener Messe erteilten Aufträge seien „gigantisch", die Fabrikanten zögen es vor, „diese Aufträge zu erfüllen, anstatt für Kronen an die Geschäfte zu verkaufen." Nur wenige Geschäfte würden Zahlung in fremder Währung verlangen und die Messe habe eine Warenknappheit in den Läden verursacht. Kredite sollten bewilligt werden, aber nicht ohne Bedingungen, wie dies die britische und französische Regierung bisher getan habe: „Kredite sind die einzige Waffe, mit der eine Kontrolle der Staatsausgaben und Steuern erzwungen werden kann." Dieses relativ rosige Bild wurde zum Teil durch einen Bericht modifiziert, den der Handelssekretär der britischen Gesandtschaft fünf Wochen später verfaßte. Auch er hielt fest, daß die Ausfuhr floriere, weil Österreich alle Konkurrenz unterbieten könne, und daß die Arbeitslosigkeit geringfügig sei mit nur 21.000 Arbeitslosen in Wien, vor allem im Hotel- und Schankgewerbe. Aber die Höhe der Ausfuhren „beruhe auf einem ständigen Verzehr an Kapital". Viele Fabrikanten würden Verluste erst erkennen, wenn sie ihre Lager auffüllen wollten und bemerkten, daß ihr Kapital nicht ausreiche, um die nötigen Rohstoffe einzukaufen. Die Bevölkerung sammle in großem Stil Devisen, und die Drohung, diese zu konfiszieren, bewirke nur, „die Leute zu weiteren Käufen zu veranlassen, so lange sie dazu imstande wären", und auf jeden Fall würden die Devisen irgendwo versteckt. Die Reallöhne seien jetzt zwischen einem Viertel und der Hälfte dessen, was sie einst gewesen waren, und das bedeute „einen riesigen Vorteil" für die Industriellen. 30 Diese Tatsachen erklären auch, warum die Unruhe unter den Staats- und öffentlichen Angestellten besonders groß war, denn deren Löhne waren noch sehr viel niedriger. Im Januar 1922 sank die Krone auf 44.000 für ein Pfund Sterling, erst danach stieg ihr Wert wieder leicht an. Der österreichische Gesandte in London plädierte dringend für einen Vorschuß auf den von Großbritannien und Frankreich versprochenen Kredit. In Wien sei Panik ausgebrochen, berichtete er, die Krone falle immer weiter, und die Preise stiegen ungeheuer rasch. Seine Regierung könne „nicht länger die Verantwortung tragen für eine Lage, die durch die Nichterfüllung der mehrfachen Versprechungen der Mächte, Österreich Kredite zu bewilligen, entstanden sei. Eine 45
Katastrophe lasse sich nur vermeiden, wenn der Vorschuß von 2.500.000 Pfund in den nächsten Tagen gezahlt würde." Großbritannien solle nicht zulassen, „ d a ß ein Volk von solch h o h e m Zivilisationsgrad, das einen'wichtigen Platz im Mittelpunkt E u r o p a s einnehme, u n t e r g e h e " . Einige W o c h e n später wurde tatsächlich ein britischer Kredit von 2.000.000 P f u n d offeriert, und die Krone stieg auf 27.000 für das Pfund Sterling. Schober drückte seinen tiefen D a n k aus und äußerte gegenüber d e m britischen G e s a n d t e n , „ f ü r ihn sei es eine ganz besondere Freude, daß England so sein V e r t r a u e n und sein Interesse an Österreich gezeigt" habe und diesem „in der Stunde der Not als erstes Land b e i g e s t a n d e n " sei. In allen Parteien und Klassen bestehe zweifellos „das größte Z u t r a u e n " zu Großbritannien. 3 1 Doch der Kredit half ebenso wie alle f r ü h e r e n Kredite w i e d e r u m nur vorübergehend, weil das Geld vor allem dazu benutzt wurde, die wichtigsten Nahrungsmittel und a n d e r e Lebensnotwendigkeiten zu kaufen. Im N o v e m b e r 1920 betonte Lindley, daß es aufgrund der Erschöpfung der bisherigen Kredite und eines „riesigen Haushaltsdefizits" zu „Hungersnot und sozialer Z e r s e t z u n g " k o m m e n werde, falls Österreich nicht zusätzliche Hilfe erhalte. Seiner Ansicht nach hätte seine Regierung drei Möglichkeiten: Ablehnung aller weiteren Hilfe, ein Ü b e r e i n k o m m e n mit den anderen Mächten, um Österreich auch weiterhin die gleiche Art von wohltätiger Unterstützung zu gewähren, oder „eine wirklich ernsthafte Anstrengung, Österreich auf die Beine zu helfen". Wenn letzteres erfolge, „würde Österreich einen zivilisatorischen und stabilisierenden Einfluß in einer G e g e n d ausüben, die durch den Krieg und seine Folgen um hundert J a h r e zurückgeworfen worden sei." A b e r dieser vernünftigere Weg wurde nicht beschritten. Ein J a h r darauf streckten G r o ß b r i t a n n i e n und Frankreich einen Betrag von 500.000 Pfund vor „zum A n kauf von Lebensmitteln außerhalb Österreichs" und e r ö f f n e t e n die Aussicht auf weitere ähnliche Kredite. 3 2 Doch laut dem österreichischen G e s a n d t e n in London erweckte dieser kleine Betrag „den schlechtesten Eindruck". D e m Foreign Office zufolge hatte die britische Regierung seit d e m Waffenstillstand Kredite von insgesamt 12.000.000 Pfund eröffnet, während die französische und die italienische Regierung „so gut wie nichts" getan hätten. A b g e s e h e n von e i n e m Kredit von 250.000 Pfund vom J a h r e 1921 hätten die Franzosen und Italiener je 1.000.000 Pfund bewilligt, aber die Krone sei weiter gefallen. „Ihre Abwärtsbewegung ist seitdem so jäh gewesen, daß sie jetzt nur noch zwischen 200.000 und 250.000 ziim P f u n d steht." U n r u h e n wurden nur durch Lohnerhöhungen vermieden, was weitere Inflation zur Folge hatte. Sollten aber die Vorräte ausgehen, so das M e m o r a n d u m , „würde die Masse Papiergeld, das die Arbeiter verdienten, ihnen nichts nützen", und es würde T u m u l t e geben. Die Regierung könne sich nicht auf das kleine H e e r verlassen, und „das Land könnte der Anarchie verfallen". A m Schluß stellte das M e m o r a n d u m vom August 1922 pessimistisch fest: Sollten neue Kredite die Agonie nur verlängern, „sei es klar, daß dabei nichts G u t e s herauskäme, und diese Politik möglicherweise sogar Schaden anrichte. Denn je länger der . Z u s a m m e n b r u c h ' hinausgeschoben werde, um so schlimmer würde es werden, wenn er eintrete." 3 3 Im gleichen Monat wurde aus Wien gemeldet, die neue österreichische Regierung unter Dr. Seipel sei „außerordentlich besorgt, da sich die finanzielle Lage ver46
schlechtere und der Wert der Krone weiter rasch verfalle. Sie befürchte, sie müsse, wenn sie die Hoffnung auf finanzielle Hilfe aufgeben müssen, die Nationalversammlung einberufen und ihr erklären, sie sei zur Weiterführung der Geschäfte nicht mehr imstande." Die Situation wurde zusätzlich verschlimmert durch die Weigerung der Bauern, ihre Produkte gegen Papiergeld zu verkaufen und die Städte zu beliefern. Außerdem konnte die Regierung die Geldforderungen der Landesregierungen nicht erfüllen, deren Haltung Befürchtungen erregte. Im August erging aus Wien ein weiterer Appell um Hilfe aus dem Ausland: Wenn keine käme, drohe „ein sofortiger finanzieller Zusammenbruch. Nur ausländischer Kredit kann Vertrauen in die österreichische Währung wiederherstellen, sowohl innerhalb wie außerhalb des Landes." 34 Im September 1922 reisten Dr. Seipel und sein Außenminister Dr. Grünberger nach Genf, um dort Lord Balfour - den „Lord President of the Council" - zu treffen. Sie gaben zu, daß die Landesbehörden oft Lebensmitteltransporte nach Wien verhinderten, meinten aber, der provinzielle Beitrag zur Ernährung Wiens sei ohnehin gering, da nur Ober- und Niederösterreich einen größeren Überschuß an Lebensmitteln hätten. Seipel klagte, das österreichische Heer sei unzuverlässig und „ein Hindernis für die finanzielle Erholung Österreichs". Er schlug vor, Polizei und Gendarmerie könnten auf Kosten der Armee verstärkt werden, aber Grünberger erklärte, die Franzosen seien aus ihm unbekannten Gründen dagegen.35 Im August erörterten die Vertreter der Alliierten Mächte einen österreichischen Antrag auf Gewährung einer Anleihe von 15.000.000 Pfund. Aber sie hatten keine Hoffnung mehr auf weitere Erfolge ihrer Hilfe und entschieden, die Frage aufgrund der „entmutigenden Ergebnisse" der bisherigen Hilfsaktionen an den Völkerbund weiterzuleiten. Sie hofften, der Völkerbund würde ein „Programm des Wiederaufbaus" ausarbeiten, mit „einer definitiven Garantie, daß weitere Beiträge eine wesentliche Verbesserung herbeiführen und nicht wie bisher vergeudet werden würden". Der Völkerbundrat ernannte ein besonderes Komitee, um die schwierigen Verhandlungen zu führen, und am 4. Oktober 1922 wurde in Genf ein Übereinkommen über den „Wiederaufbau Österreichs" abgeschlossen und unterzeichnet. Die Regierungen Großbritanniens, Frankreichs, Italiens, der Tschechoslowakei und anderer Länder garantierten eine internationale Anleihe von 650 Millionen Goldkronen; als Sicherheit verpfändete Österreich die Zolleinnahmen und die des Tabakmonopols. Die Tarife für Post, Telegramme und Eisenbahn sollten erhöht und der Haushalt binnen zwei Jahren ausgeglichen werden. Ein Generalkommissar des Völkerbundes mit dem Sitz in Wien sollte die finanziellen Reformen überwachen, und die die Anleihe und die Zinszahlungen garantierenden Staaten sollten eine Kontrollkommission ernennen. Der Anschluß wurde auf zwanzig Jahre verboten. Die Länder mit Reparationsansprüchen gegen Österreich erklärten sich bereit, diese zu stunden, damit es die nötigen Sicherheiten für die Anleihe zur Verfügung stellen könne.36 Bei der Unterzeichnung des Vertrages warnte Lord Balfour: Es bleibe noch viel zu tun, und Österreich werde bis zur Uberwindung der Krise noch viel zu leiden haben. Aber er sei davon überzeugt, „daß Österreich wieder ein wichtiger Faktor der europäischen Zivilisation werden würde, wenn das österreichische Volk und seine Regierung sich mit vollem Herzen in die Reformarbeiten stürzen." Aus Wien berichtete der neue britische Gesandte, Akers-Douglas daß alles ruhig 47
und ein drohender Streik der Metallarbeiter durch Kompromiß beigelegt worden sei. Der Kurs der Krone steige „zwar wenig, aber regelmäßig", alle Klassen inklusive der Sozialisten würden die Notwendigkeiten ernsthafter Reformen anerkennen, und die Atmosphäre für deren Einführung sei günstig. „Doch der gefährliche Augenblick wird der sein, wenn die wirklichen Reformen beginnen. Viele Gruppen würden größere Opfer als je zuvor bringen müssen, und trotz der Weichheit des österreichischen Charakters könnte der Streß zu groß werden, um ihn in Ruhe auszuhalten." 37 Widerstand gegen die Vereinbarungen kam von den Sozialdemokraten, die scharf gegen den Vertrag mit seinem System internationaler Kontrolle protestierten. Die Kontrolle sei „gleichbedeutend mit einer fremden Regierung im Lande" und zwinge Österreich, „mit dem Verlust seiner Freiheit und des Rechtes einer Nation auf Selbstregierung" zu bezahlen. Die Partei berief eine Konferenz ein, auf der Otto Bauer die Hauptrede hielt. Er warnte seine Zuhörer, sie müßten die Bedeutung des Augenblicks erkennen: Dies sei die letzte Chance Österreichs, Hilfe aus dem Ausland zu erhalten. Falls sie das Angebot des Völkerbundes ablehnen würden, müßten sie einen alternativen Plan vorschlagen, „der Österreich davor bewahren würde, seine Freiheit für einige hundert Millionen Goldkronen zu verkaufen". Dieser würde Auflagen für Banken und Industrie und höhere Steuern für die Reichen mit sich bringen. Aber würden derartige Auflagen überhaupt eine genügend hohe Summe ergeben? Laut der britischen Gesandtschaft erklärten die Sozialdemokraten, daß sie um ihre Existenz kämpfen würden, daß die „Kontrolle und die Übertragung von Vollmachten an die Regierung ihre Macht als Partei zerstören würden, jedenfalls zeitweise." Ungeachtet dessen seien die Reden auf der Konferenz „meistens in gemäßigter Sprache" gehalten worden, und die Geschichte der Partei zeige, daß ihre Führer immer „eine gemäßigte Linie" verfolgt hätten, so daß keine Gewalt oder Sabotage des Vertrages erwarten sei. Diese Ansicht wurde von Bundeskanzler Seipel bestätigt, der dem britischen Gesandten mitteilte, „die Sozialisten griffen ihn wie üblich an und versuchten zu zeigen, daß er Österreichs Unabhängigkeit opfere; aber dies sei eine persönliche und politische Vendetta." Sie würden die Kontrolle akzeptieren, vorausgesetzt, daß sie nicht fremde Verwaltung und Polizei mit sich bringe. Nach Ansicht des britischen Gesandten bestand die Politik der Sozialisten in einem „Angriff auf die Banken und das Privateigentum", in dem Glauben, es gäbe in Gestalt von fremden Wertpapieren genug Geld im Lande". 38 Die Delegierten des Völkerbundes, die Wien im November 1922 besuchten, wollten Genaueres über die Haltung der Opposition erfahren, und der Handelssekretär der britischen Gesandtschaft wurde beauftragt, Dr. Renner zu befragen. Renner beklagte sich bitter, daß Dr. Seipel „zu viel Kapital aus der ganzen Sache schlage" und „zu stark Parteipolitik" betreibe. Er würde die Gelegenheit benutzen, um den Einfluß und die wirtschaftliche Stärke der Arbeiterklasse zu reduzieren und er führe den Vertrag im Geiste einer Partei aus. Denn die Hauptlast würde durch schärfere indirekte Besteuerung auf die Arbeiterklasse fallen, und bei der Reduzierung der Zahl der Staatsangestellten würden Sozialisten entlassen, die Christlichsozialen aber im Amt belassen werden. Seipel, so fügte Renner hinzu, hätte eine Koalitionsregierung mit den Sozialdemokraten bilden sollen, als diese das vor drei Monaten vorschlugen. 48
Am Ende beschloß die sozialistische Partei, nicht gegen das Gesetz zu stimmen, mit dem das österreichische Parlament die Genfer Vereinbarung billigen mußte. Sie hielt es für einen teilweisen Erfolg, daß sie „die Ausschaltung des Parlaments und die Errichtung einer finanziellen Diktatur der Regierung verhindert hätte" und stimmte der Bildung eines außerordentlichen Kabinettsrats zu. Dieser sollte aus Mitgliedern der Regierung und 26 Abgeordneten - entsprechend der Stärke der Parlamentsfraktionen - bestehen und die Durchführung des Vertrags überwachen. Als die Regierung Seipel durch Verordnung Steuererhöhungen dekretierte, ohne das Parlament zu befragen, protestierten die Sozialdemokraten, aber ihr Antrag wurde mit 99 gegen 67 Stimmen abgelehnt. Der britische Gesandte war der Meinung, daß „die Obstruktionspolitik der Sozialisten" wahrscheinlich weitergehen werde, wenigstens bis man bei der Zeichnung der Anleihe Fortschritte gemacht habe. 39 Auch die sozialistische Arbeiterinternationale schickte prominente Führer nach Wien, um ein gemeinsames Vorgehen mit den österreichischen Genossen festzulegen. Es fanden Diskussionen mit Otto Bauer, Friedrich Adler, Karl Seitz und anderen statt, und man kam überein, daß die Sozialisten Großbritanniens, Frankreichs etc. nicht gegen den Plan der Hilfe für Österreich stimmen, aber gegen alles opponieren würden, „was die Kontrollkommission und den Generalkommissar ermächtige, die österreichische Regierung ständig vor die Alternative zu stellen, . . . zwischen einer Ablehnung der Kredite und gegen die Arbeiterklasse gerichteten Maßnahmen", vor allem in Lohn- und Arbeitszeitfragen und gewerkschaftlichen Rechten. Die französischen Sozialisten schlugen vor, in der Kammer gegen „die Unterdrückung der Unabhängigkeit einer freien Nation" zu protestieren und „das Bündnis gegen die Arbeiterklasse", das der österreichische Kapitalismus mit den ausländischen Mächten gebildet habe, anzuprangern - eine Politik, von der sie hofften, daß die Labour Party ihr zustimmen würde. 40 Anfang 1923 schrieb Akers-Douglas, Seipel und Grünberger seien bereit, nach Genf zu fahren, um die endgültigen Arrangements für die Ausgabe der Anleihe und die Überlassung von Zwischenkrediten zu treffen. Sollte ihnen das nicht gelingen, werde es zu einer neuerlichen Krise und einem erneuten Fall der Krone kommen, die in den letzten vier Monaten stabil geblieben sei. Die kommenden Wochen „würden eine kritische Periode sein und vermutlich über das Schicksal der Republik entscheiden". Ungeachtet dessen beschäftigten sich die österreichischen Zeitungen mehr mit deutschen Angelegenheiten „fast mit Ausschluß der internen Fragen". Das Parlament habe eine Sympathieadresse an den deutschen Reichstag gesandt - denn die Franzosen waren eben ins Ruhrgebiet einmarschiert, und Deutschland befolgte eine Politik des passiven Widerstandes. Das Budget vom Februar schätzte, daß der Völkerbundplan das Defizit von 5,2 auf 2,3 Billionen Kronen reduzieren würde, was einer Verminderung um 56 Prozent gleichkam. 75.000 Staatsangestellte sollten pensioniert und vor allem das Eisenbahnpersonal reduziert werden. Aber „die Regierung gehe sehr vorsichtig vor aus Angst vor einem Generalstreik der Eisenbahner". Der größte Teil der Steuern sollte durch die Einkommensteuer aufgebracht werden, gefolgt von einer Verbrauchssteuer auf Bier, Wein, Zucker usw. und einer Besteuerung von Aktien und Dividenden. Das
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Budget zeige zwar „den wohltätigen Einfluß der Völkerbundsdelegierten", gehe aber nicht so weit, wie diese es gewünscht hätten. 41 Im Juni 1923 - zu einer Zeit der Beschleunigung der deutschen Inflation - berichtete Akers-Douglas, der Kurs der Krone sei seit sechs Monaten stabil geblieben, doch die Preise hätten erheblich angezogen, so daß die Regierung ihren Angestellten etwas höhere Gehälter zugestanden habe. Der große Erfolg aber sei die Zeichnung der österreichischen Anleihe in London und anderswo, die „alle Erwartungen übertroffen" habe - und dies, während Deutschland sich in einer finanziellen Krise befinde, die schlimmer sei als alles, was dieses Land je getroffen habe. Wenn man sich an das Chaos von 1922 und den damals „drohenden Krach" erinnere, habe die Regierung Seipel „allen Grund, sich zu ihrem Erfolg zu gratulieren", und die Sozialdemokraten, die ein Fehlschlagen des Völkerbundsplanes prophezeit hätten, seien zum Schweigen oder zu „Sticheleien" verurteilt. Im August wiederholte der Gesandte, die Öffentlichkeit und die Presse beobachteten die Ereignisse in Deutschland „mit einem angenehmen Gefühl der Befriedigung, daß, während vor einem Jahr die österreichische Krone das Beispiel gab, dem jetzt die Mark folge, sie während der vergangenen zehn Monate ebenso stabil geblieben sei wie der Dollar oder das Pfund". Als aus Berlin verlautete, die Mark stehe 40 Millionen zum Pfund, „gab es an der Börse einige Nervosität . . ., aber kein Zeichen von Panik". Im Parlament setzten die Sozialdemokraten ihre Opposition gegen das Budget und andere Gesetze fort, aber Seipel sei zuverlässig, er könne „die verbleibenden Sparmaßnahmen und Reformen" rascher durchbringen, wenn „er hier und da eine Konzession mache" und mit den Pareien verhandle. 42 Die wirtschaftliche und finanzielle Lage besserte sich rasch. Österreich hatte eine Krise überwunden, die die Grundlagen der Gesellschaft erschüttert hatte - aber nicht aufgrund eigener Anstrengungen, sondern dank der Hilfe des Völkerbundes und der Großmächte. Es zeigte sich auch, daß die Einrichtungen des Völkerbundes für konstruktive Zwecke benutzt werden konnten, zu Gunsten eines früher feindlichen Landes. Daß die Bürokratie viel zu groß sei, wurde von den Österreichern selbst zugegeben. Als der Bundespräsident Dr. Hainisch den britischen Gesandten zur Jagd einlud, betonte er dies besonders: Der Krieg habe ein „gewaltiges Anwachsen" der Zahl der Beamten verursacht, so daß der Spruch kursierte: „Möge Gott England, mit der österreichischen Bürokratie strafen." Nach dem Krieg seien Tausende von Beamten aus den Nachfolgestaaten ausgewiesen worden, die österreichische Pensionen erhalten hätten. Ein paar Jahre später habe der Finanzminister ausgerechnet, daß das kleine Österreich noch immer etwa 200.000 Staatsangestellte und 130.000 Staatspensionäre habe. Zusammen mit ihren Familien müsse die Regierung nicht weniger als 800.000 Leute unterstützen, und wenn man die Beamten der Länder und Städte dazu zähle, komme man auf eine Zahl von etwa 1.500.000 - und das in einem Land mit nur sechs Millionen Einwohnern. Die Eisenbahnen würden viel zu viele Menschen beschäftigen, aber ein Personalabbau sei äußerst unpopulär - „eine solche Maßnahme könnte die Eisenbahnverwaltung oder die Bundesregierung nur mit Schwierigkeit durchführen." 4 3 Daher erfolgte der Abbau sehr viel langsamer als es von den Sachverständigen gewünscht wurde. 50
Ein anderes Problem, das durch die Stabilisierung der Währung entstand, war das Ende des Ausfuhrbooms, der auf dem niedrigen Wert der Krone beruht hatte. Im November 1922 berichtete die britische Gesandtschaft von einem „starken Rückgang der Ausfuhr in fast allen Zweigen". In vielen Fabriken seien die Maschinen veraltet oder unbrauchbar, könnten aber mangels Geldmitteln nicht ersetzt werden. Es gäbe nicht genug arbeitendes Kapital, aufgrund der Tatsache, daß man in den Inflationsjahren mit Verlust verkauft und die wirklichen Kosten nicht in einer stabilen Währung berechnet habe. Ganz abgesehen davon hätten die österreichischen Industrien vor 1914 ihre Hauptmärkte innerhalb der Monarchie gefunden und müßten jetzt „beim Verkauf in die anderen Nachfolgestaaten mit der ganzen Welt konkurrieren". Daher bestehe das Problem einer ständig stagnierenden Ausfuhr, und die Aussichten der von ihr abhängigen Industrien seien „eindeutig düster". In der Tat war eines der Ergebnisse dieser Situation das rasche Anwachsen der Arbeitslosigkeit, die in den Krisenjahren sehr geringfügig gewesen war - Ende 1924 erreichte sie einen Stand von 120.000 Arbeitslosen oder zwei Prozent der Bevölkerung. 44 Die Schwäche der Regierung und ihre Hilflosigkeit gegenüber den Ländern waren Themen, die in den Berichten aus Wien immer wiederkehrten. 1920 schrieb Lindley ziemlich optimistisch: „Beide Seiten haben erkannt, daß Wien nicht ohne die Länder leben kann und daß die Länder nicht die industrielle Bevölkerung Wiens regieren können. Nur darum ist es für die bestehende Kombination (die Koalitionsregierung) möglich gewesen, den ständigen Streit zwischen den zwei Parteien so lange zu überleben." Aufgrund der Situation in Österreich könne nur eine Regierung „in engem Kontakt mit der industriellen Bevölkerung . . . einen Anschein von Ordnung aufrechterhalten". Er habe nie „den vielen Leuten die geringste Ermutigung gegeben", die andeuteten, der Sozialismus Bauers und der anderen Führer verhindere es, daß Österreich mehr Hilfe von den Alliierten erhalte. Doch die christlichsozialen Führer Kunschak und Seipel seien der Meinung, wenn sie aus der Regierung austräten, könnten sie „einen festen bürgerlichen Block bilden . . . und den Ruin der Sozialdemokraten herbeiführen". Nur drei Wochen später brach die Koalition zusammen, als Deutsch, der Staatssekretär für das Heerwesen, im Parlament scharf angegriffen wurde, weil er ohne Zustimmung der Regierung neue Bestimmungen für die Soldatenräte erlassen hatte, und die Christlichsozialen das für illegal erklärten. Der Konflikt war so scharf, „daß die schwelende Feindseligkeit zwischen den beiden Gruppen offen ausbrach und zu gegenseitigen Beleidigungen und Drohungen führte". Die sozialistischen Mitglieder der Regierung „hätten ihre Partei um Erlaubnis zum Rücktritt ersucht", und diese würde erteilt werden. Wie Lindley schrieb: „Eine parlamentarische Regierung ist nur möglich, wenn die Empfindungen und Interessen der Minderheiten eine gewisse Beachtung finden und die übergroße Mehrheit der Bevölkerung bereit ist, die Beschlüsse ihrer gewählten Repräsentanten zu akzeptieren. A b e r alle Zeichen der Zeit deuten darauf hin, daß man alle außer völlig eigennützigen Erwägungen mehr und mehr mißachten wird." 4 5
Als Ende 1920 die neue österreichische Verfassung angenommen wurde, wurde sie auch den provinziellen Landtagen vorgelegt. Bei der Gelegenheit verliehen diese Lindley schrieb - „ihren Gefühlen deutlich Ausdruck": Der oberösterreichische 51
L a n d t a g f ü g t e s e i n e r Z u s t i m m u n g die Klausel hinzu, solange Ö s t e r r e i c h ein l e b e n s fähiger Staat bleibt". D e r V o r a r l b e r g e r L a n d t a g b e t o n t e deutlich, d a ß e r e i n e V e r e i nigung mit d e r Schweiz vorziehe. D e r T i r o l e r L a n d t a g p r o t e s t i e r t e ausdrücklich, d a ß seine F o r d e r u n g n a c h e i n e r Diskussion des V e r f a s s u n g s e n t w u r f e s vor s e i n e r V o r l a g e an das P a r l a m e n t völlig ignoriert w o r d e n sei u n d sah darin „ e i n e V e r l e t z u n g d e r d e r Provinz a u f g r u n d d e r S e l b s t b e s t i m m u n g z u s t e h e n d e n R e c h t e . . . und d e r R e c h t e des Landtags". E i n britisches M e m o r a n d u m v o m gleichen J a h r über die f ö d e r a t i v e F r a g e e r k l ä r t e : „Der Kampf zwischen den Ländern und dem Staat ist daher Teil des Klassenkampfes zwischen den Besitzenden und der Arbeiterklasse . . . Die Länder bestehen auf ihrer wirtschaftlichen Unabhängigkeit, sie schließen ihre Grenzen gegen Wien und bilden förmlich unabhängige Wirtschaftsbezirke, nur um ihre landwirtschaftlichen Produkte nicht dem hungernden Wien zu überlassen . . . Die Länder tun, was ihnen beliebt, und die Landesregierungen kümmern sich nicht um die Gesetze und Verordnungen des Staates." In W a h r h e i t sei Ö s t e r r e i c h „ e i n e F ö d e r a t i o n von P r o v i n z e n " , und die n e u e V e r f a s sung w e r d e d a r a n nichts ä n d e r n k ö n n e n , hieß es weiter. 4 6 Im S o m m e r 1921 n a h m d e r T i r o l e r L a n d t a g sogar ein G e s e t z an, das e i n e n e u e W ä h r u n g e i n f ü h r t e , die auf d e r M a r k f u ß t e und u n a b h ä n g i g von d e r K r o n e war. D i e Z e n t r a l r e g i e r u n g reichte Klage b e i m Verfassungsgerichtshof ein, d e r das G e s e t z f ü r illegal e r k l ä r t e . Selbst in Tirol rief es O p p o s i t i o n hervor, vor allem u n t e r G e w e r b e t r e i b e n d e n u n d Hoteliers, die e i n e n R ü c k g a n g ihrer G e s c h ä f t e b e f ü r c h t e t e n . 4 7 B e s o n d e r s in Tirol blieb die A n t i - W i e n - S t i m m u n g stark. Sie zeigte sich 1922 in „ A u f r u f e n d e r L a n d e s b e h ö r d e n an die S o m m e r g ä s t e , ihre F e r i e n bald zu b e e n d e n " , da angeblich L e b e n s m i t t e l k n a p p h e i t herrsche. Es gab auch P r o p a g a n d a „ f ü r die K o n fiskation f r e m d e n G e l d e s " - womit nicht das G e l d d e r T o u r i s t e n , s o n d e r n das d e r H o t e l i e r s und L a d e n b e s i t z e r g e m e i n t war, die ihre E i n n a h m e n aus d e m F r e m d e n v e r kehr angeblich v e r h e i m l i c h t e n , w ä h r e n d die ä r m e r e n L e u t e u n t e r d e m Preisanstieg litten. 4 8 W i e wir s e h e n w e r d e n , sollte das R e s s e n t i m e n t gegen „die F r e m d e n " viele J a h r e lang a n d a u e r n und auch die H e i m w e h r b e w e g u n g beeinflussen - selbst nach d e r R ü c k k e h r stabilerer Z u s t ä n d e . D e r B u n d e s p r ä s i d e n t D r . Hainisch w u r d e von Lindley, d e r ihn gut k a n n t e , folgend e r m a ß e n charakterisiert: E r sei „vermutlich kein g r o ß e r M a n n " , r e p r ä s e n t i e r e ab.er gut „ d e n b e s t e n T y p von Bürger, d e n man hier f i n d e n k a n n " . Er s t ü n d e „auf d e m F u ß l e b e n s l a n g e r Intimität mit d e n sozialdemokratischen F ü h r e r n " , d e r e n A n s i c h t e n e r nicht teile, und er k e n n e persönlich alle f ü h r e n d e n G r o ß d e u t s c h e n , „mit d e n e n er wahrscheinlich m e h r ü b e r e i n s t i m m e als mit e i n e r a n d e r e n P a r t e i " . A u c h e r v e r t r e t e e i n e „ m i l d e A r t von A n t i s e m i t i s m u s " , die in Ö s t e r r e i c h so „allgemein verbreitet,, sei. So halte e r beispielsweise d e n b e k a n n t e n Historiker P r o f e s s o r Redlich f ü r „ e i n e n M a n n von h e r v o r r a g e n d e m T a l e n t , a b e r politisch nicht ganz zuverlässig", d e r „nicht d a v o n l o s k o m m e n k ö n n e , d a ß e r j ü d i s c h e r A b s t a m m u n g sei". 4 g Im O k t o b e r 1920 sollten a l l g e m e i n e W a h l e n stattfinden. Im S e p t e m b e r b e r i c h t e te d e r e r s t e S e k r e t ä r d e r britischen G e s a n d t s c h a f t , d a ß d e r W a h l k a m p f mit vielen persönlichen Anschuldigungen geführt werde: „Das Hauptthema ist die Verantwortlichkeit der Christlichsozialen und der Sozialdemokraten für die Knappheit des Weißbrots. Tatsache ist anscheinend, daß das Maismehl, welches 52
die Regierung im Frühjahr bestellte, erst ankam, nachdem der größere Teil des amerikanischen Weizenmehls aufgegessen war, und der plötzliche Wechsel von einem sehr wohlschmeckenden zu einem offensichtlich unappetitlichen Laib wird von den führenden Parteien gegeneinander und von den Kommunisten gegen diese beiden ausgespielt."
Aus den Wahlen ging die Christlichsoziale Partei mit fast 42 Prozent der Stimmen als wesentlich stärker hervor als die Sozialdemokraten, die nur 36 Prozent erhielten. Die Christlichsozialen blieben viele Jahre lang die stärkste Partei, besonders in den konservativen Landstädten und Dörfern. Sie gewannen aber nie die absolute Mehrheit und bildeten daher meist eine Koalition mit kleineren bürgerlichen Parteien. Die Sozialdemokraten gingen nach der Wahl von 1920 in permanente Opposition. Die französische Gesandtschaft in Wien nahm an der Parteipolitik mehr oder minder offen teil. Sie „unterstütze systematisch die Christlichsoziale Partei", hieß es, zum Teil, weil die Sozialdemokraten und die Großdeutschen für den Anschluß einträten, zum Teil im Interesse der ausländischen Gläubiger. Laut der britischen Gesandtschaft unterstützten die Italiener andererseits die Sozialdemokraten, „vermutlich weil diese Ungarn feindlich gesinnt sind und den ,Anschluß' jeder Art von Donauföderation vorziehen". Lindley selbst trat für eine „neutrale" Regierung ein, da eine solche die beste Chance dafür biete, „ohne Zusammenbruch durch den Winter zu kommen", und für die Alliierten die „beste Lösung sei, falls ein Programm des Wiederaufbaus und der Kontrolle angenommen würde". Auch die Franzosen würden eine „neutrale" Regierung unterstützen, „vorausgesetzt, sie sei nicht für den ,Anschluß'". 50 Unter „neutral" verstand Lindley eine Regierung von Sachverständigen und Beamten unter der Leitung des Wiener Polizeidirektors Schober, der selbst keiner Partei angehörte. Unterstützung für Schober war die Grundlinie der britischen Politik. Ende 1920 instruierte Curzon den Gesandten, „alle nur mögliche Unterstützung der Regierung zu geben, die die größte Hoffnung erwecke, Österreich durch die bevorstehenden kritischen Zeiten führen zu können . . . Sie sind daher ermächtigt, Herrn Schober - wenn er beauftragt wird, eine Regierung zu bilden - davon zu unterrichten, daß nach Meinung der Regierung Seiner Majestät eine .neutrale' Regierung . . . am besten dazu geeignet ist, die innere Ordnung aufrechtzuerhalten und Österreichs Kredit und Wohlstand wiederherzustellen." 51
Schober hatte in den kritischen Monaten des Jahres 1919 die gesetzliche Ordnung in Wien geschützt. Er war Beamter und nicht Politiker und fühlte sich keiner Partei eng verbunden - aus britischer Sicht ein wichtiger Pluspunkt angesichts der bitteren Parteikonflikte in Österreich. Im Februar 1921 berichtete Oberst Cuninghame, die Sozialdemokraten hätten Vertrauensleute zu Schober geschickt, „um festzustellen, ob er noch willens sei, eine Regierung aus Beamten zu bilden" - eine Tatsache, die später von Schober bestätigt wurde. Ein Jahr daraufschrieb Akers-Douglas: Obgleich man kaum behaupten könne, die Regierung Schober besitze „eine ausreichende Mehrheit, hoffe man doch, daß sie imstande sein wird, die Regierung in dieser kritischen Zeit weiterzuführen." Später fügte er hinzu, die Position der Regierung sei „erschüttert", aber man hoffe, daß die Verhandlungen zwischen den Parteiführern „eine knappe Mehrheit im Parlament zustandebringen würden, die genüge, um die Regierung die Geschäfte weiterführen zu lassen, vielleicht mit ein oder zwei Umbesetzun53
gen." Der ständige Unterstaatssekretär im Foreign Office, Eyre Crowe, versah den Bericht mit dem Kommentar „erfreulich". Bevor er Bundeskanzler wurde, informierte Schober den Gesandten, „das erste, was er tun würde, w ä r e , . . . den widerspenstigen Ländern die Geldmittel abzuschneiden", denn er hielte provinzielle Abstimmungen über den Anschluß „politisch für idiotisch", und „er würde die Parteien zum Teufel gehen lassen und nur parteilose Männer in seiner Regierung haben." 52 Schober war ein „starker" Mann und einer der wenigen, der nach britischer Ansicht mit der wachsenden Krise fertig werden könnte. Aber seine Regierung bestand kaum zwölf Monate lang. Die Alternative zu einer „neutralen" Regierung war eine Koalition der Christlichsozialen mit den Großdeutschen, die sehr viel schwächer waren. Doch wegen ihrer nationalistischen und prodeutschen Politik wurde ihnen von britischer Seite besondere Aufmerksamkeit geschenkt. 1920 berichtete Lindley: „Die alldeutsche P a r t e i . . . besteht nur in den Städten und ähnelt im Grunde der deutschen Nationalliberalen Partei. In der Nationalversammlung hat sie 25 Abgeordnete, und sie ist die einzige Partei, die die Meinung der gebildeten Mittelschichten vertritt. Die Universitätsprofessoren und gehobene Berufe gehören ihr fast ausnahmslos an, durch die Angestellten der Eisenbahn und die besser gebildeten Arbeiter hat sie auch Beziehungen zur arbeitenden Bevölkerung."
Sie habe eine Unterstützung der zwei großen Parteien abgelehnt, sei aber kürzlich der Christlichsozialen Partei immer näher gekommen. Tatsächlich bildeten die zwei Parteien nach der Oktoberwahl ein Koalition. Aber Lindleys Skeptizismus war berechtigt, wenn er meinte: „Ich glaube nicht, daß eine solche Kombination länger als ein paar Monate dauern könne, es sei denn, sie würde von den Sozialdemokraten stillschweigend unterstützt." Im Juni 1921 berichtete er, über 100 Studenten, vor allem aus Graz und Innsbruck, hätten Österreich verlassen, um mit den deutschen Freikorps in Oberschlesien gegen die Polen zu kämpfen. Verantwortlich dafür seien die Professoren, die „fast alle" der Großdeutschen Partei angehörten, über deren „verderbliche Politik" er mehrfach berichtet habe. Als der Gesandte den Kanzler über die Abreise der Studenten informierte, antwortete Schober, er habe die Aufmerksamkeit der Landesbehörden darauf gelenkt, daß „ein solches Unterfangen inakzeptabel" sei. Aus Wien seien keine Studenten nach Schlesien gegangen, und er sei „entschlossen, die Mobilisierung der Studenten für parteipolitische Zwecke zu verhindern". 53 Unter der österreichischen Intelligenz, besonders unter den Studenten, hatte der deutsche Nationalismus eine lange Tradition, und seit der Zeit Georg von Schönerers ging er Hand in Hand mit einem scharfen Antisemitismus. Die Großdeutschen waren nicht anti-britisch. In einem Interview betonte ihr parlamentarischer Führer Dr. Franz Dinghofer seine „ganz besonders freundlichen Gefühle gegenüber England": „Die einzige Macht der Entente, gegen welche wir Feindschaft hegen, ist Frankreich, das wir als den Störer des europäischen Friedens betrachten." Die Propaganda seiner Partei für den Anschluß sei „in keiner Weise unvereinbar mit Gefühlen herzlicher Freundschaft für England. Wir sind uns voll bewußt, daß wir nur auf dem Weg über London eine Vereinigung mit Deutschland er54
reichen können, mit der vollen Zustimmung Englands." Er wünsche, die „herzlichsten Beziehungen zwischen England und Österreich" herzustellen. Im gleichen Jahr brachte die großdeutsche Partei den Fall der Regierung Schober zuwege und bildete dann eine Koalitionsregierung mit den Christlichsozialen unter deren Führer Dr. Seipel. Der neue Kanzler äußerte gegenüber Akers-Douglas, ein Regierungswechsel zu einer so kritischen Zeit würde im Ausland vielleicht für einen Fehler gehalten werden, „die Dinge in Österreich könnten aber nur weitergehen, wenn die Regierung eine parlamentarische Mehrheit hinter sich habe". Auch das Eintreten der Großdeutschen in die Regierung könnte mißverstanden werden, aber „er versicherte ihm aufs eindringlichste, es gäbe absolut keine Ursache für Bedenken". Er würde nicht Kanzler bleiben, wenn das Regierungsprogramm für den Anschluß einträte. Der Gesandte hatte einen durchaus günstigen Eindruck von Seipel: „Er ist ein Mann, der Intelligenz, Takt und Müßigkeit besitzt, dazu einen großen Vorteil gegenüber Herrn Schober: Er ist ein gewiegter Parlamentarier und besitzt eine viel schärf e r e Kontrolle über seine Partei . . . als sein Vorgänger, der kein Berufspolitiker w a r . . . Ich muß gestehen, daß es sehr erfrischend ist, einen österreichischen Politiker zu finden, der zuversichtlich und entschlossen ist und nicht mit gefalteten Händen darauf wartet, daß etwas passieren wird."
Was Seipels großdeutschen Partner beträfe: „Ihre politische Dummheit ist so groß, daß man befürchten muß, sie würden immer dazu bereit sein, die Regierung zu stürzen, so sehr sie auch ihre eigene Position dadurch schädigen mögen." 54 Ende 1922 bestätigte der Jahresbericht der Gesandtschaft den günstigen Eindruck, den man von Seipel hatte. Er sei „ein Mann von feiner Intellizenz und beträchtlichem Mut", der der österreichischen Außenpolitik „ein bisher nicht erkanntes Gewicht" verliehen habe. Während Schober „allgemein mit der Unterstützung der Sozialdemokraten rechnen konnte", sei Seipel für sie „Anathema", und sie würden alles tun, um ihn zu stürzen. Die christlichsozialen Abgeordneten hätten Schober verlassen, weil er ihrer Ansicht nach „nicht stark genug sei", um „mit den Parteitreibereien fertig zu werden", und weil sie einen Kanzler aus den eigenen Reihen vorzögen, „der auch für die Großdeutschen akzeptabel wäre und so einen neuen Block gegen die Sozialdemokraten bilden würde.". Der Bericht fügte hinzu, die Konflikte zwischen den Parteien „sind der Fluch Österreichs". 55 Im Jahre 1923, nach der französischen Ruhrbesetzung, bestätigte sich der Verdacht der britischen Diplomaten, als die Großdeutschen ihre „brüderlichen Grüße an das Volk, mit dem wir uns stärker als je verbunden fühlen", übersandten. 56 Doch anscheinend wurde ihre pro-deutsche Politik von den Wählern nicht unterstützt. In den allgemeinen Wahlen von 1923 verlor die Partei schwer. Ihr Stimmenanteil ging von 17 auf unter 13 Prozent zurück, und die Zahl ihrer Abgeordneten fiel von 28 auf 10.57 Diese Niederlage führte jedoch weder zu einer Änderung ihrer Politik noch zu einem attraktiveren Programm. Die Großdeutschen blieben eine kleine aber lautstarke Partei, die Propaganda gegen die Juden und für den Anschluß machte, und es kann keinen Zweifel daran geben, daß sie den Weg für die Nationalsozialisten vorbereiteten. So sehr auch Seipel und seine Partei die Anschlußpolitik ablehnen mochten - da sie jede Koalition mit den Sozialdemokraten 55
aufs schärfste zurückwiesen, gab es ohne die Großdeutschen keine parlamentarische Mehrheit. Doch Anfang der zwanziger Jahre war die Sehnsucht nach einer Vereinigung mit Deutschland keineswegs auf die Großdeutschen und rechtsradikale Kreise beschränkt. Wie es Lindley Anfang 1920 ausdrückte, erstreckte sich diese Sehnsucht „auf einen großen Teil der Bevölkerung, die bereit sei, alles willkommen zu heißen, was ihr eine Chance biete, ihrer Not zu entgehen". Die einzigen entschlossenen Gegner des Anschlusses seien die überzeugten Monarchisten, die wüßten, „daß er das Ende aller Hoffnungen auf eine Restauration bedeuten würde". Falls Österreich sich mit Deutschland vereinige, würde Wien rasch „seine vorherrschende Stellung in Südosteuropa wiedergewinnen, die es in der Vergangenheit dank seiner geographischen Lage an der Donau, seiner zivilisierten Bevölkerung und seiner wissenschaftlichen und kulturellen Einrichtungen eingenommen habe. Wien bleibe der wirkliche Außenposten der Zivilisation gegen den Nahen Osten". Der nächste Schritt nach der Vereinigung werde „eine Irredenta unter den Deutschen unter fremder Herrschaft" sein, die weder von den Italienern noch von den Tschechen eingedämmt werden könnte. Einige Wochen später fügte Lindley hinzu: falls in Deutschland ein wirklich sozialistisches und ordentliches Regime entstehe, würden die österreichischen Sozialisten, „die Berlin als ihre geistige Heimat ansehen", ihr „Drängen auf Anschluß verdoppeln". Außerhalb Wiens aber werde genau das Gegenteil davon die Folge sein, und die Christlichsozialen würden Bedenken haben, einem Staat beizutreten, der sozialistischer sein würde als das Wien, das sie so sehr ablehnten. Das schrieb Lindley kurz nachdem die deutschen Arbeiter entscheidend zur Niederlage das Kapp-Putsches beigetragen hatten, als es schien, daß Deutschland scharf nach links rücken würde - aber in Wirklichkeit ging die Entwicklung dort in genau die entgegengesetzte Richtung. Laut einem „gut informierten Beobachter" ließ sich die Begeisterung der österreichischen Sozialisten für den Anschluß „sehr einfach" durch den persönlichen Ehrgeiz Otto Bauers erklären, „von dem man annimmt, er glaube, seine außerordentlichen Talente benötigten . . . eine größere Bühne als sie Österreich biete". Und Lindley meinte, daran könne etwas Wahres sein. 58 Doch der andere prominente Parteiführer, Renner, erklärte in Antwort auf nationalistische Kritik, er habe die Anschlußidee von Anfang an und auch in den Friedensverhandlungen unterstützt und schreibe die Verantwortung für den Fehlschlag der Christlichsozialen Partei zu. Er ziehe die Vereinigung mit Deutschland einer Donauföderation noch immer vor, doch seine erste Pflicht sei es, dafür zu sorgen, daß Österreich ernährt würde. Solange der französische Imperialismus „die erste Geige spiele", komme der Anschluß nicht in Frage. Oberst Cuninghame glaubte, die klerikale Partei sei für die Habsburger und gegen das „Alldeutschtum", und in Tirol würden seiner Meinung nach die Gegner des Anschlusses überwiegen. Andererseits war Sir William Goode von der Reparationskommission der Ansicht, Oberösterreich, Salzburg und Tirol seien für eine Vereinigung mit Bayern. 59 Sicherlich mußte eine Vereinigung mit dem katholischen Nachbarn im Norden dem katholischen Tirol näher liegen als eine Verbindung mit dem „roten" Wien. Es
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mag durchaus dieses Gefühl gewesen sein, das riesige Mehrheiten für den Anschluß erzeugte, als im Frühjahr 1921 in Salzburg und Tirol örtliche Plebiszite abgehalten wurden; und zweifellos war die damalige Stimmung günstig für eine Vereinbarung mit Deutschland. Die französische Regierung schlug einen scharfen Protest der alliierten Regierungen gegen die Plebiszite vor, aber Curzon hielt einen solchen Schritt für „unnötig und unverständig". Der österreichische Gesandte in London erklärte, seine Regierung habe durch die Abhaltung der Plebiszite beabsichtigt, „die Bewegung in die richtigen Kanäle zu lenken und zu kontrollieren, und nicht, ihr einen Impetus zu verleihen, den sie nicht benötige". Die Absicht sei, zu entscheiden, „ob die Regierung an den Völkerbund appellieren solle, um dessen Zustimmung" zum Anschluß zu erhalten. Seine Regierung habe nichts getan, was dem Vertrag von St. Germain zuwiderlaufe.60 Da eine solche Zustimmung offensichtlich nicht erteilt werden würde, fanden keine weiteren Plebiszite statt. Es wäre auf jeden Fall sehr unklug gewesen, die Alliierten herauszufordern, da Österreich so stark von deren gutem Willen abhing. Aber das bedeutete keineswegs, daß die Anschlußidee tot war. Viele Österreicher fuhren fort, „die künstliche Trennung von Deutschland, wie sie die Friedensverträge festlegten, als die Hauptursache für all das materielle und auch geistige Elend ihres Landes zu betrachten" - eine Auffassung, die ein prominenter Österreicher noch im Exil nach der deutschen Okkupation von 1938 betonte.61 In einem weiteren Plebiszit sprachen sich 70 Prozent der Stimmberechtigten des Landes Vorarlberg dafür aus, als ein neuer Kanton der Schweiz beizutreten. Aber dort gab es heftigen Widerstand, zum Teil in den französisch und italienisch sprechenden Kantonen, die einen deutschen Zuwachs ablehnten, zum Teil seitens der Textilfabrikanten, die Angst vor der Vorarlberger Konkurrenz hatten, und zum Teil seitens der Protestanten, die keine Zunahme der katholischen Minderheit wünschten; der Versuch schlug fehl.62 Es kam zu keiner Sezession von Österreich; und so sehr die Bundesländer auch dagegen sein mochten, von Wien aus regiert zu werden, mußten sie es schließlich doch akzeptieren. Obgleich die Sozialdemokraten 1920 in permanente Opposition gingen, schenkten die britischen Berichte aus Wien der Tätigkeit der Partei und den Ansichten ihrer Führer nach wie vor ziemlich viel Aufmerksamkeit - vielleicht wegen ihrer relativ radikalen Politik, oder aufgrund ihrer Einstellung zu den Kommunisten, denn im Kampf gegen diese waren die österreichischen Sozialdemokraten im Vergleich zu Deutschland und Frankreich sehr erfolgreich. Anfang 1921 schrieb Lindley: „Es kann in Europa nur wenige Länder geben, die so gut mit Organen ausgestattet sind, um die Ideen und Wünsche der Arbeiterklasse auszudrücken. Den Sozialdemokraten ist es faktisch gelungen, das, was sie die proletarische Bewegung nennen würden, in einem Umfang zu institutionalisieren, der bemerkenswert ist, wenn man die Katastrophe erwägt, mit der der Krieg für Österreich endete, und die verzweifelte Situation, in der sich das Land seitdem befindet . . . Soweit ich sehe, entspricht die zahlenmäßige Unbedeutendheit der Kommunisten genau ihrer moralischen und politischen Bedeutungslosigkeit im Lnade. Man muß natürlich den ordentlichen, gutmütigen und heiteren Charakter der Österreicher selbst in Betracht ziehen, und noch stärker die instinktiv konservative Einstellung der großen ländlichen Bevölkerung. Aber nichtsdestoweniger sollte man den sozialdemokratischen Führern einen vollen Anteil am Kredit zuerkennen; sie haben die staatsmännische Fähig-
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keit bewiesen, ihrer Gefolgschaft unangenehme Wahrheiten aufzuzwingen und ihr unakzeptierbare Zurückhaltung aufzuerlegen."
Ein paar Wochen früher hatte er festgestellt: „Die sozialdemokratischen Führer sind keine Moskowiter, und vermutlich haben sie im Frühjahr 1919 das Land vor einem bolschewistischen Regime gerettet." Nun schienen sie ihm aber „nach links zu rükken" und entschlossen zu sein, „es den Christlichsozialen unmöglich zu machen, das Land zu regieren". Einen Beweis für diese „halbbolschewistische" Haltung der Partei sah Lindley in deren Appell zur Gründung einer neuen Sozialistischen Internationale, die die Regierung und ihre Institutionen offen angriffe.63 Ein Bericht eines britischen Obersten für den Nachrichtendienst behauptete, die Sozialdemokraten hätten ihre Konflikte mit den anderen Parteien im Parlament ausgetragen, während sie in der Regierung waren. Seit ihrer Niederlage würden sie aber danach trachten, „den Kampf aus dem Parlament ins Land zu verschieben, im Bewußtsein, daß die Regierung keine wirksame Waffe besässe, um einen offenen Ausbruch zu unterdrücken." Doch Oberst Cuninghame fand diese Schlußfolgerung „ganz unbegründet und ungerechtfertigt". Seiner Ansicht nach wolle die Partei erst „zurück an die Macht, wenn die Bedingungen je so wären, ihre Politik möglich zu machen". Ein Zusammenbruch der Regierung würde sie daher zwingen, etwas zu tun, was sie nicht tun wollten, oder es kämen „die Kräfte der Unordnung an die Macht, mit denen die Sozialistische Partei als solche keine Verbindung habe"; die Sozialdemokratie habe von einem Zusammenbruch der Regierung nichts zu gewinnen.64 Dieses Urteil wurde durch Bauers Rede auf der Parteikonferenz im November 1920 bestätigt. Er erklärte, die Koalitionsregierung sei glücklicherweise nicht mehr notwendig. Die bürgerlichen Parteien hätten sich von „ihrem ersten Schrecken" erholt und das Vertrauen in die Übernahme der Leitung der Geschäfte wiedergewonnen. Die Sozialdemokraten könnten sich jetzt voll und ganz in die Opposition begeben, „bis zum Zeitpunkt an dem die öffentliche Meinung eine rein sozialistische Regierung willkommen heißen würde". 65 Berichte über Konferenzen der Arbeiterräte betonten die Zusammenstöße zwischen Sozialisten und Kommunisten. Im Februar 1920 verließen die Kommunisten den Saal, als der Vorsitzende erklärte, sie seien „nicht berechtigt, die Diskussion zu unterbrechen". Als mehrere Redner für eine sofortige Massendemonstration auf der Straße eintraten, gelang es Bauer, den Beschluß zu verschieben, indem er darauf hinwies, „daß der Augenblick für solch eine Demonstration ungeeignet" sei. Die Konferenz sprach sich gegen einen Vorschlag des Finanzministers für eine Vermögenssteuer aus, weil er vorsah, daß diese in Form von Kriegsanleihen bezahlt werden könne. Das aber nütze nur den Wohlhabenden; „die Kriegsanleihe solle in Ruhe gelassen werden." Im Juni 1920 führte eine weitere Konferenz der Arbeiterräte zu einer Verschärfung des Konflikts zwischen Sozialisten und Kommunisten, und die Verhandlungen „waren durch fortwährende Szenen bedauernswerter Unruhe gekennzeichnet". Die Kommunisten wurden beschuldigt, „eine heimliche Agitation gegen die Räte und ihre Autorität zu betreiben" und eine „Einheitsfront gegen die Reaktion" zu verhindern. Bauer sprach ernsthaft über die Krise, die zum Ende der Koalitionsregierung geführt hatte: Falls die bürgerlichen Parteien „versuchen sollten, eine bewaffnete 58
Macht zu organisieren,... wäre es die Aufgabe der Arbeiterräte, die wüßten, daß sie sich auf das neue Heer verlassen könnten, zu zeigen, daß sie die Stärkeren seien". Im Mai organisierten die Sozialdemokraten eine Massendemonstration, um die Einführung der Vermögenssteuer zu beschleunigen. Die Kommunisten hielten ihrerseits eine eigene, viel kleinere Demonstration ab und benutzten in Linz die Gelegenheit, sich den Zugang zu den Regierungsbüros zu erzwingen. Sie mußten von der Polizei mit Waffengewalt zerstreut werden, wobei zehn Menschen getötet und dreißig verwundet wurden. In einer Unterhaltung mit dem britischen Gesandten erklärte Dr. Renner, die Sozialdemokraten würden nach der Isolierung der Kommunisten streben, die in Österreich „hauptsächlich aus Abenteurern und Verbrechern" bestünden. Die jüngsten Ereignisse hätten „die zahlenmäßig äußerst schwache Position der erklärten Kommunisten" bewiesen. Bei einer anderen Gelegenheit bemerkte Renner, daß alle Nachrichten, die er erhielte, darauf hinwiesen, „daß die Sowjetregierung mit einer Rückkehr der Roten Armee zu einem friedlichen Leben rasch verschwinden" würde. „Es sei unvorstellbar, daß eine Nation, die zu 95 Prozent aus Bauern bestehe, lange bolschewistisch bleibe, wenn sie sich selbst überlassen werde." 66 Renners „üblicher Optimismus" war eher gerechtfertigt, wenn er sich auf Österreich bezog, als wenn es um Sowjetrußland ging. Im allgemeinen war die österreichische Sozialdemokratie nach Lindleys Ansicht für die Führung des gemäßigten Flügels der mitteleuropäischen Arbeiterbewegung „nicht schlecht qualifiziert": „Sie hat eine gute intellektuelle Tradition, sie hat in zwei sehr kritischen Jahren an der Macht bemerkenswerte Disziplin und Festigkeit gezeigt, und sie ist nicht - wie die entsprechenden Parteien in anderen Ländern - mit den bürgerlichen Instinkten und konservativen Methoden der altmodischen Arbeiterparteien belastet. Ihre Bemühungen, den engen Pfad zwischen der Zweiten und der Dritten Internationale zu beschreiten, verdienen mit Aufmerksamkeit - und wie ich glaube mit Sympathie - beobachtet zu werden."
Sechs Monate später pries er noch einmal die „sehr gute" Disziplin der Partei: „Es kann nicht leicht sein, eine Partei mit einer Politik der Mäßigung und Erwartung zusammenzuhalten, mit nichts als enttäuschten Hoffnungen hinter ihr und nur geringer Hoffnung auf Beteiligung an der Macht vor ihr." Ein Vergleich mit den christlichsozialen Rivalen und der Qualität derer Führer erlaube „nur geringen Zweifel, wo man heutzutage nach der politischen Intelligenz in Österreich suchen muß". 67 Dies war ein für einen konservativen britischen Diplomaten überraschendes Urteil, denn gleichzeitig zieh er die Sozialisten einer „halbbolschewistischen Haltung". Anfang 1921 berichtete Lindley im einzelnen über „ein bemerkenswertes politisches Bekenntnis Dr. Bauers" auf der Konferenz der Betriebsräte des Metallarbeiterverbandes. Nach Bauers Meinung seien diese „das Erziehungsorgan, durch das die Arbeiterklasse im Laufe der Zeit berufen sein würde, in der Leitung der Industrie den Platz des Kapitalisten zu übernehmen". Sie müßten dafür sorgen, daß die wachsenden Profite „nicht von den Kapitalisten eingesammelt, sondern zum Nutzen der Arbeiter verwendet würden". Während man in England und Amerika Millionen Arbeitslose zähle, gäbe es in Österreich aufgrund der niedrigen Produktionskosten faktisch keine Arbeitslosigkeit. Diese Umstand werde - Sicherheit vor Enteignung und 59
politische Stabilität vorausgesetzt - ausländisches Kapital anziehen. Jeglicher Versuch einer gewaltsamen Einmischung in der Privatindustrie würde „von einem Ring nichtsozialistischer Mächte blockiert werden"; es sei besser, in einer kapitalistischen Fabrik zu arbeiten, als „draußen auf dem Pflaster" zu verhungern. Lindley kommentierte diese Äußerungen: „Es gibt keinen Zweifel, daß sich Dr. Bauer seit einiger Zeit stark für Mäßigung eingesetzt hat, und ich habe nur geringen Zweifel, daß der Niedergang des Kommunismus in Österreich zum großen Teil seinem Einfluß zuzuschreiben i s t . . . Und er muß sich seiner Position in der Partei sehr sicher sein, um so viele unangenehme Wahrheiten in einer Dose verabreichen zu können." Lindleys Meinung über Bauer hatte sich also weitgehend geändert. Etwa zur gleichen Zeit sprach der Handelssekretär der Gesandtschaft mit Bauer über die umstrittene Frage der Entnationalisierung der Österreichischen Länderbank und den Vorschlag, deren Sitz von Wien nach Paris zu verlegen, um die Vorkriegsschulden der Bank leichter regeln zu können. Bauer vertrat die Ansicht, daß eine solche Verlegung „ernste Gefahren in sich berge". Die Franzosen hätten großes Interesse an bestimmten tschechischen Industrien, vor allem an der Eisen- und Stahlindustrie, und die Tschechen würden die Einfuhr einiger österreichischer Industrieprodukte verhindern. Wenn die Franzosen bestimmte österreichische Fabriken durch die Länderbank kontrollierten, könnten sie diese „in einer Weise leiten, die die Interessen der tschechischen Konkurrenz fördere". Es sei daher besser, wenn die Bank in Österreich bliebe, wobei aber viel von den zukünftigen Garantien abhänge. Bauer betonte, seine Haltung beruhe nicht auf politischen Motiven, sondern auf der Sorge um das wirtschaftliche Wohlergehen Österreichs. „Wie immer machte er den Eindruck von Offenheit und Aufrichtigkeit und ebenso den großer Sachkenntnis in wirtschaftlichen Fragen." 68 1921 schrieb Öberst Cuninghame, die Sozialisten seien „entschlossen, keine Verantwortung für die Regierung zu übernehmen": Sie befürchteten, die Solidarität der Partei zu zerstören und ihren linken Flügel zu verlieren, aber bisher sei ihre Gefolgschaft intakt geblieben. Der Jahresbericht der Gesandtschaft für 1922 wiederholte, daß die Partei keine Anzeichen für den Wunsch nach Regierungsbeteiligung zeige; jedenfalls würden die Beschlüsse der „Wiener Internationale" - die im vergangenen Jahr auf österreichische Initiative entstanden war - jede Zusammenarbeit mit bürgerlichen Parteien verbieten. 69 Ein Agentenbericht vom gleichen Jahr gab die Zahl der Parteimitglieder mit fast einer Million und als „ständig wachsend" an. Ihre Führer würden „nie zu Ehren einer Theorie ins extreme Fahrwasser geraten und die Interessen der Arbeiterklasse praktisch verteidigen". Die gewerkschaftlich organisierten Arbeiter seien von ihrer Macht zutiefst überzeugt. Laut dem Bericht bestünde die „einzige illegale Tätigkeit der Partei" in der „Ordnerwehr", die etwa 120.000 Mann stark sei, aber „rein passive Funktionen" habe, im Widerstand gegen jeden Versuch einer Restauration oder einen möglichen Angriff aus Ungarn. Seit der Wahl vom März 1919, berichtete die Gesandtschaft, sei die Stadtverwaltung von Wien nach 25 Jahren christlichsozialer Herrschaft in sozialdemokratischen Händen. Unter den Parteiführern gebe es viele Juden. Daher kursiere die Losung „Los von Wien", die jeden anziehe, der daran interessiert sei, „seinen eigenen Le-
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bensmittelvorrat zu konservieren, oder der etwas gegen Sozialisten oder Juden" habe. 70 Die Weigerung, in eine neue Koalitionsregierung einzutreten, unterschied die österreichische Sozialdemokratie von anderen sozialdemokratischen Parteien und verlieh ihr eine radikalere Farbe. Das erlaubte ihr, die angenehme Position permanenter Opposition zu beziehen, und verhalf ihr zu Wahlerfolgen mit etwa 40 Prozent aller Stimmen. Doch ihre Hoffnung, auf demokratische Weise die Mehrheit zu erringen, erfüllte sich nicht. Nach den stürmischen Ereignissen des Jahres 1919 wurde die kommunistische Gefahr für gering gehalten, und alarmierende Berichte fanden nur wenig Glauben. Anfang 1920 übersandte der Brigadier der Interalliierten Militärmission in Budapest ein Memorandum Admiral Horthys, das behauptete: „Die bolschewistische Organisation in Österrreich bedeute eine sehr ernsthafte Gefahr für ganz Europa, und die österreichische R e g i e r u n g . . . unternähme nichts Ernsthaftes zu ihrer Bekämpfung." Doch im Foreign Office notierte der Historiker Harold Temperley: „Das scheint im einzelnen nicht sehr überzeugend zu sein." Im Juni 1920 übergab der Kommandant der steirischen Gendarmerie Oberst Cuninghame eine „Geheiminformation" über den „äußersten linken Flügel unter Führung bekannter Kommunisten, der aufgrund internationaler und nicht lokaler Antriebe handle", die ebenso übertrieben war. Im September behauptete Dr. Rintelen, der Landeshauptmann der Steiermark, daß Kommunisten und Sozialdemokraten jetzt zusammenarbeiteten und daß die Kommunisten in den letzten Wochen „beträchtlichen Fortschritt" gemacht hätten, aber er verband diesen Bericht mit einem Ersuchen um 7000 Gewehre für die örtliche Heimwehr. 71 Nach der Wahl vom Oktober 1920 berichtete die britische Gesandtschaft ganz nüchtern, es sei den Kommunisten nicht gelungen, auch nur einen einzigen Sitz zu gewinnen, sie hätten nicht einmal die Stimmenzahl ihrer eigenen Mitgliedschaft erreicht. In drei der ärmsten Wiener Bezirke hätten sie 740, 1175 und 1400 Stimmen erhalten - bei einer Gesamtzahl von 185.000 abgegebenen Stimmen nur 1,8 Prozent - und in ganz Österreich nur 20.000 Stimmen. 72 Im Mai 1921 kam es im Dorf St. Lorenzen in der Steiermark zu Gewalttätigkeiten, für die man die Kommunisten verantwortlich machte. Linke Bergarbeiter verhinderten Dr. Rintelen am Sprechen, er und einer seiner Anhänger wurden aus dem Fenster geworfen, niedergeschlagen und mit Steinen beworfen, bis sie das Bewußtsein verloren. Die Gendarmen verhafteten vier Arbeiter und wollten diese per Eisenbahn nach Graz bringen. Doch als sie hörten, daß bewaffnete Arbeiter alle Züge durchsuchten, um ihre Genossen zu befreien, entschieden sie, sich mit ihren Gefangenen zu Fuß auf den Weg zu machen. Da aber auch alle Pässe von Bewaffneten besetzt waren, beschlossen sie schließlich, ihre Gefangenen laufen zu lassen. Es gab scharfe Proteste und eine Interpellation eines christlichsozialen Abgeordneten im Parlament. Im Juli wurde gegen zwölf Angeklagte wegen des Überfalls verhandelt, aber nur drei wurden schuldig gesprochen und zu je zwei Monaten Gefängnis verurteilt, die anderen wurden freigesprochen. Die Sozialdemokraten verurteilten den Angriff, und einige ihrer örtlichen Führer suchten den mißhandelten Rintelen auf, um ihm ihr Mitgefühl auszusprechen. 73 Ihnen war klar, daß derartige Gewalttaten 61
den Reaktionären in die Hände spielen und die Heimwehrbewegung stärken würden. Nach dem Fehlschlagen der „Märzaktion" von 1921 in Mitteldeutschland einem von der Komintern inszenierten Putsch - kam es zu heftigen Diskussionen nicht nur in der deutschen, sondern auch in der österreichischen Kommunistischen Partei. Eine Richtung, geführt von Joseph Strasser und der kommunistischen Soldatengruppe, „verurteilte die für den deutschen Putsch Verantwortlichen aufs schärfste und mit ihnen diejenigen, die unter den österreichischen Kommunisten ähnliche Ansichten vertraten". Diese Gruppe stand auf der Seite von Paul Levi, der wegen seiner Kritik aus der Kommunistischen Partei Deutschlands ausgeschlossen worden war. Aber dann fand auf Anordnung Moskaus eine Versammlung statt, die Levi befehlsgemäß verurteilte. Strasser wurde von seinem Posten als Herausgeber der Wiener Roten Fahne enthoben und zusammen mit zwei anderen Genossen vorübergehend aus der Partei ausgeschlossen. Erst nachdem sie ihre früheren Ansichten widerrufen hatten, wurden sie wieder in ihre Funktionen eingesetzt. Aber die Versammlung endete mit einem solchen Tumult, daß sogar das Protokoll verschwand und der berichterstattende Agent keine Kopie erhalten konnte. Im Juli gab es erneut Differenzen auf einer Versammlung der erweiterten Parteizentrale. Einer der ursprünglich Ausgeschlossenen trat für einen „gemäßigteren Kurs gegenüber den Sozialdemokraten" ein, vor allem seitens der Roten Fahne. Das wies darauf hin, daß eine „rechte" Fraktion in Bildung begriffen war, die gegen den Extremismus der Führung opponierte. In einem Kaffeehaus hatte eine vorbereitende Diskussion stattgefunden, um die allgemeine Linie festzulegen, und die Anwesenden - es wurden zehn Namen genannt - waren übereingekommen, sich einmal wöchentlich heimlich zu treffen und ihre Ansichten so gut wie möglich auf Parteiversammlungen zu vertreten. Auf dieser Versammlung der erweiterten Zentrale wurde die Zahl der zahlenden Parteimitglieder mit 16.824 angegeben, die der Soldatengruppe mit 3.460 - was zusammen etwas mehr als 2Ü.Ü0Ü Mitglieder ergab. Der beträchtliche Geldmangel der vergangenen sechs Wochen wurde dank neuer Zuschüsse aus Moskau überwunden, und die Gehälter in der Zentrale konnten wieder ausbezahlt werden. 75 Die Informationsquelle für diese Berichte wurde nicht angegeben. Wahrscheinlich wurden sie von der Wiener Polizei übermittelt, denn die Verfasser schienen außerordentlich gut informiert. Im August 1922 berichtete der britische Gesandte über Demonstrationen der Arbeitslosen in Wien: Die Teilnahme daran sei gering gewesen, aber ein Teil der Demonstranten habe versucht, in das Parlamentsgebäude einzudringen, wo gerade eine sozialdemokratische Konferenz tagte. Bei den Zusammenstößen wurden zehn Polizisten und acht Demonstranten verwundet. Ansonsten sei die Woche „trotz vieler Gerüchte über mögliche Unruhen" ruhig verlaufen. Ein Agentenbericht vom gleichen Monat rechnete mit „einer scharfen Spaltung zwischen den ländlichen Gegenden, die nach rechts rücken, und den industriellen Bezirken, die sich nach links entwickeln würden". Da die Arbeiter viel radikaler als die sozialdemokratischen Führer seien, würde „der kommunistische Einfluß eine wichtige Rolle spielen und bestimmt äußerst gefährlich werden". Trotz eindeutiger Winke 62
aus Moskau beabsichtige die Partei aber nicht, „Aktionen in eigener Verantwortung zu veranstalten". Laut einem Bericht vom September 1922 betrug das Parteieinkommen der Kommunisten im August 7.000.000 Kronen, ihre Ausgaben aber 80.000.000 Kronen wovon über die Hälfte für Gehälter und Büroausgaben aufgewendet wurde. Die Zahl der bezahlten Parteifunktionäre müsse scharf reduziert werden, hieß es, was „wahrscheinlich zu heftigen internen Diskussionen führen" werde, da niemand bereit sei, das Opfer zu sein. Alle Versuche zu gewaltsamen Aktionen würden fehlschlagen, da die Massen dagegen seien.75 Im Jahresbericht der britischen Gesandtschaft wurde die Zahl der aktiven Parteimitglieder für die ersten Monate des Jahres 1922 mit etwa 15.000 angegeben und die der Sympathisanten auf 10.000-30.000 geschätzt. Geldmangel behindere jedoch jegliche Aktivität, und die Zahl der aktiven Mitglieder sei bis Oktober des Jahres auf 11.000 gefallen und bis Dezember auf etwa 7.000. Dafür sei die Zahl der Sympathisanten gewachsen. In Wien würden schätzungsweise 30 Prozent der Arbeitslosen zur Parteigefolgschaft gehören. Franz Koritschoner habe einen „illegalen Apparat" aufgebaut, der aus einer „Geheimarmee" und einer „Alarmtruppe" junger Kommunisten bestehe. Die „Geheimarmee" sei mit etwa 300 Gewehren und 250 Runden Munition pro Mann sowie Handgranaten und Revolvern ausgerüstet. Diese Gruppen sollten Unruhen stiften und die Arbeiter zu Gewalttaten verleiten; „im Sommer sei es ihnen gelungen, die Lage zu verschärfen und die Unzufriedenheit stark anzufachen". 76 Das mag so gewesen sein, aber der Bericht machte auch deutlich, daß die Mitgliedschaft der Partei im Zuge der Verbesserung der allgemeinen Lage im Herbst 1922 stark zurückging. Bei den Wiener Gemeindewahlen vom Oktober 1923 erhielt die kommunistische Partei nur noch 13.559 Stimmen. Verglichen mit den 569.226 Stimmen für die Sozialdemokratie waren das nur etwas über 2 Prozent aller sozialistischen Stimmen. 77 Außerhalb Wiens war der Einfluß der Partei noch wesentlich geringer. Die Streiks, über die nach London berichtet wurde, betrafen vor allem den öffentlichen Sektor. Im April 1920 kam es zu einem schweren Streik auf den Süd- und Westbahnlinien, der durch eine Kürzung der Mehlration hervorgerufen worden war und vier Tage dauerte. Die Führer der Eisenbahnergewerkschaft erklärten sich bereit, einen von der Regierung vorgeschlagenen Kompromiß anzunehmen, aber ihr Rat wurde von einer Massenversammlung verworfen, und radikalere junge Leute übernahmen die Führung. Einige Tage lang kamen keine Züge in Wien an. Lindley telegraphierte: „Die lang anhaltende Not scheint die Geduld der Bevölkerung erschöpft zu haben." Laut Dr. Renner übernahmen Kommunisten und Alldeutsche die Leitung der Bewegung, aber am 20. April „wurde die Arbeit auf allen Linien wieder aufgenommen." Im März ereignete sich ein häßlicher Zwischenfall: in einer Baumwollfabrik in Neunkirchen. Dort war ein Arbeiter nach einer Auseinandersetzung mit dem Fabriksleiter, einem Schweizer, entlassen worden. Ein paar Tage darauf demonstrierten die Arbeiter gegen den Leiter. Einige drangen in sein Büro ein, schleppten ihn heraus und mißhandelten ihn, so daß er bewußtlos ins Krankenhaus eingeliefert werden 63
mußte. Ein britischer Diplomat besprach den Fall mit Otto Bauer, weil er befürchtete, es könnte sich eine Bewegung „gegen die Unternehmer herausbilden, mit der Absicht der Bildung von Arbeiterräten, um die Fabriken zu übernehmen, falls die Unternehmer sie schließen wollten". Doch Bauer versicherte ihm, daß „die besser gestellten Arbeiter des Bezirks nicht zugestimmt hätten . . . und sich wegen des Zwischenfalls schämten". Auch die Gewerkschaften seien nicht daran beteiligt gewesen; die Verfolgung des Falles falle in die Zuständigkeit der Gerichte. Dem Schweizer Gesandten wurde offiziell das Bedauern ausgesprochen.78 Ende 1920 streikten die höheren Beamten für eine Gehaltserhöhung. Aber die Regierung beabsichtigte nicht nachzugeben, da sie abgesehen von der Notenpresse keine Mittel habe, um die Forderung zu erfüllen, berichtete Lindley. Anfang 1921 brach auf der Südbahn ein Streik der Eisenbahner aus, der sein Zentrum in Graz hatte. Gleichzeitig kam es zu einem Streik der Post- und Telefonangestellten, in dessen Verlauf die Streikenden das Wiener Hauptpostamt besetzten. Sie wurden von der Polizei entfernt. Nach einigen Tagen wurde der Streik durch einen „Kompromiß beendet, der in Wirklichkeit einen Sieg der Streikenden bedeutete", wie Lindley telegraphierte, da man sonst den Ausbruch eines Generalstreiks befürchtete. Im September 1921, während die Regierung noch mit den Gewerkschaftsführern über Lohnerhöhungen verhandelte, gab es einen neuerlichen kurzen Streik der Eisenbahner, von dem alle Wiener Bahnhöfe betroffen wurden. Zwölf Monate darauf streikten die Drucker. Die Gesandtschaft hielt „die wachsende Verzweiflung über die Verzögerung der Kredite" für die Ursache der Unruhe. 79 Ernster war ein Streik, der im Juni 1922 ausgerufen wurde und der Wien abgesehen vom Auto- und Flugverkehr von der Außenwelt abschnitt. Nach drei Tagen wurde er durch ein Zugeständnis der Regierung beendet: Ihre Angestellten sollten ab nun die gleichen automatischen Lohnerhöhungen erhalten wie die Arbeiter der Privatindustrie, entsprechend dem Anstieg der Lebenshaltungskosten. Dies waren die von der Gesandtschaft registrierten Streiks, und sie waren alle sehr kurz. Die Gesandtschaft versuchte auch die hypothetische Frage zu beantworten, ob die Armee im Falle eines Streiks auf den Eisenbahnen oder in den Gas- und Elektrizitätswerken eingesetzt werden könnte. 1922 antwortete Oberst Cuninghame, die Armee sei nicht imstande, einen solchen Streik zu verhindern. Die Soldaten wären vielleicht unter gewissen Umständen dazu bereit, als Streikbrecher zu handeln. Aber sie könnten, „aufgrund der natürlichen Feigheit der Österreicher und ihrem Zögern, individuell zu handeln, kaum veranlaßt werden, streikbrechende Zivilisten zu unterstützen und zu schützen"! 80 Dieses Urteil wurde von einem Berufsoffizier abgegeben, aber seine Bemerkung über „die" Österreicher ignorierte völlig die große Tapferkeit österreichischer Soldaten während des Weltkrieges. Die vielen Jahre seines Aufenthalts in Wien hatten ihm die Österreicher anscheinend nicht sonderlich sympathisch gemacht. Die britischen Diplomaten erwähnten oft die leichtlebige, gesetzestreue, geduldige und der Gewalt abgeneigte Art der Österreicher; aber das war nur ein Teil des Bildes. Abgesehen von den schon erwähnten Zwischenfällen gab es weitere. Im April 1920 kam es zu antisemitischen Ausschreitungen an der Universität Wien. Sie wurden von christlichsozialen und deutschnationalen Studenten angezettelt, „die erkannten, daß die Zahl der ihnen offenstehenden Stellen im Lande in
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Zukunft sehr begrenzt sein wird". Sie wollten jüdische Studenten von der Universität vertreiben, aber sozialistische und kommunistische Studenten stellten sich auf die Seite ihrer jüdischen Kollegen und der Rektor mußte die Universität zeitweise schließen. 1923 stießen im Wienerwald mehrere hundert Nationalsozialisten, die dort militärische Übungen abhielten, mit Sozialdemokraten zusammen. Es fielen Hunderte von Schüssen, und es gab Verwundete. Nach weiteren antisemitischen Exzessen an der Universität verfaßte die Gesandtschaft ein Memorandum, das feststellte: „Aufgrund der Verarmung der Gutsbesitzer sind die Juden die einzige wohlhabende Klasse in der Republik. Heute besitzen sie- das faktische Monopol auf Finanz, Industrie und Handel, sie beherrschen die Gebiete der Kunst, Musik, Literatur, Naturwissenschaften und Medizin. Die wichtigsten Zeitungen gehören Juden und werden von ihnen geleitet, und selbst die katholische Reichspost anerkennt ihr überlegenes Talent, indem sie sie beschäftigt. Der Besucher, welcher die Theater, Restaurants und Geschäfte Wiens voll mit Juden von äußerst unangenehmem Aussehen vorfindet, ist leicht geneigt, ihre Zahl zu überschätzen. Tatsächlich bilden sie nur sieben Prozent der Gesamtbevölkerung Österreichs und in Wien, wo sie am zahlreichsten sind, nicht mehr als 22 P r o z e n t . . . Einige von ihnen, die politische Ideale oder Ehrgeiz besitzen, werden Führer der Sozialdemokraten oder der Kommunisten, weil die anderen Parteien ihnen verschlossen sind, aber im allgemeinen nehmen die Juden nur wenig an der Politik teil. Ihre internationalen Sympathien und mangelnder Patriotismus veranlassen sie, sich den Geschäften zuzuwenden . . . Der Wohlstand und die Fähigkeiten der Juden haben natürlicherweise die Eifersucht und natürliche Antipathie ihrer weniger erfolgreichen und minder begabten Mitbürger hervorgerufen. An der Universität, wo ihre Intelligenz und ihr Reichtum drohen, ihnen ein Monopol des Lehrens und Lernens zu verschaffen, hat es in den letzten Monaten mehrere antisemitische Demonstrationen gegeben."
Das Memorandum übertrieb nicht nur die Rolle und Bedeutung der Juden im wirtschaftlichen, künstlerischen und akademischen Leben Österreichs, sondern es beruhte auch auf falschen Zahlen. Zwar war die jüdische Bevölkerung Wiens aufgrund des Krieges und seiner Folgen gewachsen, aber sie zählte weniger als die Hälfte der angegebenen Zahl. Im Jahre 1910 bildeten Juden 8,6 Prozent der Bevölkerung Wiens, und im Jahre 1923 10,8 Prozent. 81 Die vom Verfasser des Memorandums benutzten Quellen und der Verfasser selbst müssen stark antisemitisch gewesen sein. Politisch motivierte Gewalttaten gingen vor allem von den Wehrverbänden aus, die das politische Leben Österreichs schwer belasteten. Anfang der zwanziger Jahre waren die sozialistischen Arbeiterwehren und die Heimwehren die bedeutendsten. Letztere wurden von den bürgerlichen Parteien unterstützt und erhielten aus Bayern erhebliche Hilfe an Geld und Waffen, was den alliierten Vertretern in Österreich im einzelnen bekannt war. Im Oktober 1920 berichtete der Nachrichtendienst der Militärischen Kontrollkommission, die die Entwaffnung Österreichs gemäß den Bestimmungen des Friedensvertrages überwachen sollte, daß die Heimatwehren von Salzburg und Tirol enge Beziehungen zur bayerischen „Orgesch" (Organisation Escherich, nach ihrem Leiter benannt) unterhielten und bei einem Treffen in München im Juli sogar deren Direktiven akzeptiert hätten. Danach gelang der Orgesch die Beeinflussung der ganzen Bewegung in Österreich, bis hin zur Steiermark im Süden. Im September trafen in Wien drei bayerische Abgesandte mit Vertretern der Christlichsozialen und der Großdeut65
sehen zusammen, um die militärische Führung der „Orka" (Organisation Kanzler) für General Krauss zu gewinnen. Doch zum militärischen Führer für Österreich wurde General Metzger ernannt. Die Orka wünschte eine Zentralisierung der lokalen Heimwehren, was aber durch die partikularistischen Tendenzen in den Ländern verhindert werde - eine Bemerkung, die zeigt, wie gut informiert der Verfasser, ein französischer Offizier war, denn dies Ziel wurde tatsächlich nie erreicht. In seiner Begleitnotiz stimmte der britische Oberst Gösset zu. Die Heimwehrbewegung habe „große Fortschritte in ihrer Organisation" gemacht, aber es werde „schwierig sein, sie unter eine zentrale Leitung zu bringen" und die Deutschen würden mit allen Mitteln versuchen, „ihren Einfluß auf die Heimwehr zu festigen". Er informierte London, daß die Heimwehr in Innsbruck etwa tausend Mitglieder habe - frühere Offiziere, Studenten und junge Leute aus den Oberschichten, die alle bewaffnet seien; in Tirol außerhalb von Innsbruck habe sie ca. 9.000-10.000 bäuerliche Mitglieder. Sie besitze keine Kanonen, aber etwa 300 Maschinengewehre und mehrere motorisierte Panzermaschinengewehre. Viele ihrer Waffen seien kürzlich aus Bayern geliefert worden, „mit Unterstützung der Tiroler Behörden und in Einvernehmen mit den Zollbeamten." Dr. Rintelengab die Stärke der steirischen Heimwehren mit 50.000 Mann an, die aber nicht genug Waffen hätten. Er bat daher Oberst Gösset um mehr Gewehre 8 2 sicherlich eine recht merkwürdige Bitte an den Offizier einer Behörde, der die österreichische Entwaffnung überwachen sollte! Rintelen gab auch zu, daß er gute Beziehungen zu der. bayerischen Orgesch unterhalte. Im November 1920 berichtete Lindley, die Heimwehren würden „gegen den Bolschewismus und die städtische Bevölkerung" organisiert und hätten keine Beziehungen zu einer monarchistischen Bewegung. Sie seien eng verbunden mit der Orgesch, und General Ludendorff sei in Österreich aktiv, vor allem im Umfeld früherer Offiziere und Soldaten. Angeblich sei es ihm gelungen, 1.200 Offiziere eines Kriegsteilnehmerverbandes unter General Krauss für sich zu gewinnen. Als Lindley seine Bedenken gegenüber Polizeidirektor Schober äußerte, antwortete dieser, Rintelen sei „keineswegs der Heißsporn, als der er sich gäbe"; selbst wenn er beabsichtigte, die Heimwehr für ein Abenteuer zu benutzen, „würden ihm die Bauern nicht folgen". 83 Im gleichen Monat protestierte der Präsident der Interalliierten Kontrollkommission für Österreich, General Zuccari, bei der österreichischen Regierung, daß an dem beabsichtigten Landesschießen der Heimwehr in Innsbruck Leute teilnehmen würden, die mit Waffen versehen seien, welche laut Friedensvertrag der Kontrollkommission übergeben werden müßten. Er forderte die Regierung auf, dafür zu sorgen, daß „das F e s t . . . nicht den Charakter einer öffentlichen Demonstration mit Waffen, die durch den Vertrag verboten seien, annähme". Doch das Landesschießen fand trotzdem und entgegen den Wünschen der Regierung statt. Aus Protest dagegen streikten die Eisenbahner und hinderten so mehrere tausend Bayern am Grenzübertritt; nur einige hundert Unbewaffnete konnten die Grenze passieren. Ein alliierter Offizier, der als Beobachter teilnahm, war davon überzeugt, daß die Ankunft der Bayern das Signal für die Proklamation der Vereinigung Tirols mit Bayern gewesen sei, und die Heimwehren nur noch auf einen günstigeren Augenblick warteten. Oberst Cuninghame seinerseits war der Ansicht, daß diese trotz ihrer Verbindungen 66
mit Bayern „das Instrument der Christlichsozialen Partei und daher potentiell proHabsburg und nicht großdeutsch" seien. Ihr Hauptziel sei „die Bekämpfung der wachsenden Macht der Sozialisten und der bewaffneten Arbeiterverbände". 8 4 Anfang 1921 gab ein Bericht der Militärischen Kontrollkommission die Stärke der Tiroler Heimwehren mit über 22.000 Mann an (verglichen mit 2.500 Mitgliedern der dortigen Arbeiterwehr), für das viel kleinere Salzburg wurden 15.000 Mann geschätzt. Die Heimwehr stehe unter dem Kommando von Oberst Kerner mit dem bayerischen Major Hörl als Stabschef und besitze große aus Bayern stammende Waffenbestände. Über Oberösterreich, wo die Heimwehren über das ganze Land verteilt seien, sei nur wenig bekannt. In der Steiermark würden sie von der Landesregierung toleriert „als wirksamer Schutz gegen sozialistische Anschläge", und „Versuche, ihnen entgegenzuarbeiten", hätten „keinen Erfolg" gehabt. Lindley war davon überzeugt, daß die Bewegung zusammengehalten werde durch „die Furcht vor dem Bolschewismus und dem Entschluß, nicht zuzulassen, daß Österreich die gleiche Erfahrung durchmache wie Bayern und Ungarn" im Jahre 1919, aber sie beabsichtige nicht, die Verfassung abzuschaffen und die Habsburgermonarchie zu restaurieren. Im Juni 1921 wurde berichtet, daß die Tiroler Heimwehren die Wiederkehr ihres Gründungstages in militärischer Weise am Iselberg gefeiert hätten. Die Ansprachen seien von ihrem Führer Dr. Steidle und dem Orgeschleiter Escherich gehalten worden, der zwischen denen, „die Ordnung lieben, und denen, die Unruhe stiften wollten", unterschieden habe; alle, die „für Ordnung und Wiederaufbau" seien, wären willkommen, der Heimwehr beizutreten, um den „nationalen Wiederaufbau" zu fördern. Es wurde hinzugefügt, daß die Heimwehrleute Waffendepots der Armee geplündert hätten, um ihre Vorräte zu ergänzen. 85 Über die Arbeiterwehr waren weniger Einzelheiten bekannt. Anfang 1920 notierte Oberst Cuninghame, daß in vier niederösterreichischen Städten und dem Wiener Arsenal, ebenso wie in Graz, Bruck, Leoben und anderen steirischen Bergbaugebieten „Drillgruppen" existierten. Daher sei die Erklärung des Staatssekretärs für Heerwesen, Deutsch, daß es keine Arbeiterbataillone gäbe, „nur nominell wahrheitsgemäß". Lindley schrieb zur gleichen Zeit, die Arbeiter von Wiener Neustadt hätten eine Sendung mit 122 Maschinengewehren auf dem Weg nach Wien abgefangen, und in Graz seien vier Wagenladungen mit Waffen aus einem Depot entfernt worden. Als in Graz im Juni 1920 Unruhen ausbrachen, besetzten bewaffnete Arbeiter einen Stadtteil und eine Brücke über die Mur. Sie verlangten, die Polizei solle die von ihr Verhafteten freilassen; als das geschehen war, zerstreuten sich die Arbeiter. Oberst Cuninghame schätzte, die steirische Arbeiterwehr sei mehrere tausend Mann stark und mit Gewehren bewaffnet. Aber es sei sicher, „daß die Waffen in den Händen der Bauern viel zahlreicher sind". Die Arbeiter hätten ein Interesse daran, „den Eindruck zu erwecken, sie hätten mehr Waffen als wirklich der Fall sei". 86 Nach Mitteilung der Tiroler Regierung bestanden die Arbeiterwehren in Innsbruck und Umgebung aus elf Kompanien, von denen jede mit ein oder zwei Maschinengewehren ausgerüstet war, und Abteilungen in allen Industriegebieten und wichtigen Eisenbahnzentren. Der Jahresbericht der britischen Gesandtschaft für 1920 behauptete sogar, „daß die Arbeiterwehr die am besten organisierte" und „ . . . taktisch in einer viel besseren Position als ihre Rivalen" sei. Aber sie sei „keine bolschewisti67
sehe Organisation, wie so oft behauptet würde, sondern eine Organisation, belebt von dem Wunsch, die Rückkehr der Habsburger zu verhindern, die Unternehmer einzuschüchtern und die Regierung an einem Versuch zu hindern", den Einfluß der sozialistischen Organisationen einzuschränken. Sie sei also nicht „für umstürzlerische Zwecke organisiert" 87 - was völlig richtig war. Anfang der zwanziger Jahre hatten beide Seiten ihre paramilitärischen Verbände - mehr oder weniger entsprechend dem scharfen Konflikt zwischen den Großstädten und dem Land. Ein Zusammenstoß zwischen ihnen schien möglich oder wahrscheinlich. Schon im Oktober 1919 schrieb Oberst Cuninghame über die „sehr gespannten Beziehungen" zwischen Bauern und Arbeitern in der Steiermark: „Beide Seiten sind bewaffnet, und ein Konflikt kann jeden Tag ausbrechen. Die Arbeiter bildeten heimlich bewaffnete Verbände, und es sei wünschenswert, bei der Durchführung der allgemeinen Entwaffnung keine Zeit zu verlieren." Sechs Monate später, nach dem deutschen Kapp-Putsch und Generalstreik, berichtete er, auch die österreichischen Arbeiter seien erregt, und man habe „diese Ereignisse dazu benutzt, ihnen zu predigen, es sei nötig, ihre Waffen zu behalten, um dem Einfluß der neuen Armee entgegenzuwirken". Die Bewegung breite sich rasch aus, die Arbeiter würden sich auf ihre Waffen verlassen und den Unternehmern Widerstand leisten, und sie seien für direkte Aktionen. Auch allen Bemühungen, die Bildung bewaffneter Gruppen zu verhindern und Informationen über sie zu sammeln, werde Widerstand entgegengesetzt. Als ein anderer britischer Offizier im Juni 1920 Deutsch aufsuchte, meinte dieser, es bestehe „ernste Gefahr eines Bürgerkrieges", und die Entente solle die Österreicher veranlassen, „Schluß zu machen mit Bürgerwehr, Heimwehr und Arbeiterwehr, und drohen, alle weiteren Kredite zu sperren, wenn das nicht geschähe". Da dieses Interview um die Zeit stattfand, die zur Regierungskrise und dem Rücktritt der sozialistischen Minister führte, fürchtete Oberst Gösset „zugunsten einer Fortsetzung des sozialdemokratischen Übergewichts im Kabinett" Ausbruch von Unruhen in bestimmten Industriebezirken, vor allem in Graz. 88 Lindley berichtete zur gleichen Zeit: „Es kann keinen Zweifel geben, daß die Bauern, die schon immer Waffen besessen haben, sowohl in Tirol wie in der Steiermark jetzt in regulären Formationen organisiert werden, um den Angriffen bewaffneter Arbeiter Widerstand zu leisten oder vielleicht um sie anzugreifen. Kurz, es sieht eher nach einem Bürgerkrieg zwischen Stadt und Land aus als nach einer neuen Koalitionsregierung."
Er habe so oft auf die Notwendigkeit der Entwaffnung beider Seiten gedrängt, daß eine Wiederholung unnötig sei - aber jetzt sei sie „schwer durchführbar". Ein paar Tage darauf schrieb er, da beide Seiten vorbereitet seien, würden sie vielleicht „vor einem bewaffneten Zusammenstoß zurückschrecken und eher einem Kompromiß zuneigen". Die beste Hoffnung jedoch, einen Bürgerkrieg zu vermeiden, beruhe auf der Abhängigkeit Österreichs vom Ausland.89 Die britischen Offiziere drängten wiederholt auf Entwaffnung, aber ohne Erfolg. Anfang 1920 informierte Oberst Cuninghame das War Office, daß er immer dafür gewesen sei, die Waffendepots der Arbeiterwehren zu beschlagnahmen - nicht weil er eine Wiederbelebung bolschewistischer Tätigkeit befürchte, sondern weil er 68
meine, „daß zufällige Ereignisse wie ein plötzliches Anwachsen der Arbeitslosenzahl, völliger Zusammenbruch des Eisenbahntransports wegen Schneefalles oder Streiks etc. zu Straßenkämpfen führen könnten". Die Situation in der Steiermark sei „delikat" angesichts der Opposition zwischen Arbeitern und Bauern und möglicher Bedrohung der Grenzdistrikte durch Ungarn oder Jugoslawien. Die erste Aufgabe sei die Beschlagnahme der Waffen in Arsenalen und Depots, und „einem Risiko von Widerstand müsse man ins Auge sehen". Da Wien von Lebensmitteleinfuhren abhängig sei, wüßten die Arbeiter, daß sie ihre Waffen abzugeben hätten. Man müsse ihnen gleichzeitig erklären, es „bestünde keine Absicht, die industriellen Klassen was ihren realen Einfluß anbelangt, in einer untergeordneten Position zu belassen", und man müsse ihnen „die Haltung der Entente gegenüber der reaktionären Tendenz in Ungarn" klarmachen. Das treffe vor allem auf die Steiermark zu, wo Dr. Rintelen im Sommer 1919 offen die „Weißen Kräfte" in Ungarn unterstützt habe. Als der erste Sekretär der Gesandtschaft im April 1920 Rintelen aufsuchte und die Schwierigkeit einer gleichzeitigen Entwaffnung von Bauern und Arbeitern erwähnte, da jede Seite die andere verdächtigen würde, ihre Waffen zu behalten, hielt Rintelen diese Befürchtungen für übertrieben. Er sprach „mit Erbitterung über die Kommunisten und ihren Einfluß auf die sozialdemokratischen Mitglieder der Regierung" und erweckte den Eindruck, daß es ihm, wenn nur die Arbeiter entwaffnet würden, „ziemlich gleichgültig" sei, „ob die Bauern im Besitz ihrer Waffen blieben". Zur gleichen Frage äußerte Schober gegenüber dem britischen Gesandten, daß die Entwaffnung nicht durchgeführt werden könne, bevor die Regierung nicht „eine zuverlässige bewaffnete Macht" habe. Wenn er freie Hand bekomme, werde er in wenigen Monaten aus der bestehenden Armee „eine kleine zuverlässige Macht" bilden und dann die Arbeiter wie die Bauern entwaffnen. 90 Im Dezember 1920 betonte Oberst Gösset gegenüber Deutsch, dem früheren Wehrminister, daß die Entwaffnung die Aufgabe der österreichischen Regierung sei, daß man aber fünf Monate nach Inkrafttreten des Friedensvertrages noch immer nichts dafür getan habe. Deutsch antwortete, er sei durchaus dafür: Die Arbeiterwehr würde ihre Waffen abgeben, „vorausgesetzt, daß die Heimwehr zuerst entwaffnet würde. Es müßte ein Gesetz angenommen werden, das Belohnungen für abgelieferte Waffen einführte. Die Alliierten müßten diesbezüglich Druck auf die Regierung ausüben. Gösset meinte, es sei gleichgültig, ob man mit der einen oder der anderen Seite anfinge, aber die Regierung müsse es tun. Das War Office andererseits unterstützte die Ansicht Schobers, daß Vorbedingung einer Entwaffnung die Existenz einer zuverlässigen Armee sei: „Angesichts der Schwäche der gegenwärtigen österreichischen Regierung zweifle es, ob es möglich sein würde, die Entwaffnung gleichzeitig mit der Reorganisation und Reformation der Wehrmacht, die es für dringend und höchst wichtig halte, durchzuführen." Es müßten sofort Schritte unternommen werden, um das Heer zu reorganisieren und „zuverlässig" zu machen, „so daß es seine Pflicht erfüllen könnte"; die Entwaffnung würde später folgen. 91 Im Rückblick scheint es erstaunlich, daß nicht mehr getan wurde, um die Entwaffnung der Verbände zu erreichen oder wenigstens den Waffenschmuggel über die bayerische Grenze zu verhindern, über den die Alliierten gut informiert waren, zum
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Teil durch den britischen Generalkonsul in München.1*2 Doch in der weit wichtigeren Frage der Entwaffnung Deutschlands wurden wesentlich größere Anstrengungen seitens der Alliierten gemacht, und auch diese waren erfolglos. Vielleicht hätte nur eine direkte militärische Intervention mehr bewirken können, aber das war ein Kurs, dem zuzustimmen die britische Regierung nicht bereit war, weder damals noch später. Eine Drohung, Wien die Lebensmittelzufuhr abzuschneiden, wenn keine Entwaffnung erfolge, hätte in Großbritannien öffentliche Proteste hervorgerufen. Und wie sollte man die Entwaffnung der Bauern, die immer ihre eigenen Waffen besessen hatten, in den bergigen Gegenden Tirols und der Steiermark bewerkstelligen? Die Entwaffnung der städtischen Arbeiter war sehr viel leichter durchführbar, wäre aber eine einseitige Maßnahme gewesen. Als der österreichische Bundeskanzler Dr. Mayr 1921 London besuchte, um weitere Hilfe zu erbitten, warnte ihn Außenminister Curzon ausdrücklich, daß Österreich „definitive Garantien betreffend die Durchführung der militärischen Klauseln des Vertrages von St. Germain geben müsse, die zu erfüllen seine Regierung bisher deutlich gezögert habe". Das Versagen der Regierung sei besonders offensichtlich bei der Reduktion der Armee auf die festgesetzte Größe und der Übergabe und des Verkaufs von Kriegsmaterial zum Beispiel an Polen. Im Frühjahr 1920 sei ein Gesetz erlassen worden, welches eine Stärke der Armee über das im Friedensvertrag festgesetzte Maß (30.000 Mann) hinaus vorsehe. Seitdem sei eine Novelle vorgelegt worden, aber man habe keinerlei Anstrengungen unternommen, um diese zum Beschluß zu erheben. Dr. Mayr erhob keinen Widerspruch und verteidigte sich mit seiner schwachen parlamentarischen Stellung. Die Opposition sei fast so stark wie die Regierung und zwinge ihn, Maßnahmen zu ergreifen, die er ablehnen würde, wenn er stärker wäre. Anfang 1922 erklärte das War Office, einige der Bedingungen seien nunmehr erfüllt: Das Heer sei unter die erlaubte Stärke gebracht worden, auch Gendarmerie und Polizei würden den von der Botschafterkonferenz vorgesehenen Stand nicht überschreiten. Die Vernichtung und Ausfuhr von Kriegsmaterial werde bis April durchgeführt werden, ebenso die Errichtung einer einzigen staatlichen Fabrik für die Produktion von Waffen und Material für die österreichische Armee. Aber, aufgrund der Schwäche der österreichischen Regierung und der unruhigen Lage in Mitteleuropa, „sei kein nennenswerter Fortschritt zu verzeichnen bei der Übergabe von Waffen der Zivilbevölkerung und der Auflösung unerlaubter Organisationen", wie der Heimwehr und Arbeiterwehr. Trotzdem schlugen die britischen Militärbehörden keine Fortsetzung der Militärkontrolle vor, sondern deren Aufhebung, „sobald die Vernichtung oder Ausfuhr des noch verbleibenden Kriegsmaterials... und die Kontrolle der einzigen staatlichen Fabrik für die Herstellung von Kriegsmaterial beendet seien." Der britische Militârattaché in Wien solle jedenfalls nichts mit der Kontrollarbeit zu tun haben. 93 Die Einschätzung, daß alle noch ausstehenden Fragen innerhalb weniger Monate geregelt werden könnten, war viel zu optimistisch. Besonders die Konzentration der Waffenproduktion auf eine einzige Fabrik war schwer zu erreichen, so daß das sogenannte „Liquidationsorgan" noch jahrelang weiter bestand. In der viel wichtigeren Frage der Entwaffnung der Wehrverbände gab es überhaupt keinen Fortschritt. Wäh70
rend der sechs Monate vom Oktober 1922 bis zum März 1923 gelang es dem „Liquidationsorgan", in verschiedenen Depots größere Mengen an Kriegsmaterial zu entdecken, u. a. 44 Minenwerfer mit zugehörigen Bestandteilen, 66 Artillerietraktoren, 14 ältere Kanonen, 515 Mörser mit zahlreichen Lafetten und Ersatzteilen sowie große Mengen an Munition. Der Kommentar der britischen Sektion des „Liquidationsorgans" war ein einfaches Eingeständnis, daß Waffen und Munition vermutlich in großen Mengen verborgen worden seien, das meiste davon aber „mit der Zeit ans Tageslicht kommen" würde. Die Waffen befänden sich „in den Händen von unehrlichen Beamten und jüdischen Händlern zum Verkauf an Leute, die bereit seien, den höchsten Preis zu zahlen und sie aus dem Lande zu schaffen." Ferner wurde auf die „gefährliche" Bereitschaft deutscher Firmen, eine Beteiligung an und Kontrolle über österreichische Fabriken zu gewinnen, verwiesen; die Wehrverbände und deren Waffenlager blieben jedoch unerwähnt. Als eine Wiener Zeitung meldete, die Waffenfabrik in Hirtenberg habe für 35 Millionen Gewehrmunition an Jugoslawien verkauft, wurde die Fabrik inspiziert. Man fand aber nichts, was auf „illegale Produktion von Munition" hindeutete, und es wurde angenommen, daß die Munition aus dem Zweig der Fabrik in Warschau stamme, wohin viele ihrer Maschinen transferiert worden waren. 94 Doch 1924 gab es einen Zwischenfall, der bewies, daß diese Annahme nicht gestimmt hatte. Anscheinend war das „Liquidationsorgan" mit relativ unwichtigen Fragen beschäftigt und vernachlässigte die wirklich wichtigen Aufgaben, vor allem die der Entwaffnung. Die britischen Offiziere und Diplomaten in Österreich waren vor allem an der Zusammensetzung und politischen Ausrichtung der österreichischen Armee interessiert, und nicht so sehr an deren Stärke. Ein besonderes Problem waren die Soldatenräte, die in der Volkswehr eine wichtige Rolle gespielt hatten und die die Sozialdemokraten in das ständige Heer übernehmen wollten - eine Frage von großer Bedeutung, die das Ende der Koalitionsregierung herbeigeführt hatte. Im Februar 1920 schrieb Oberst Cuninghame: „Die üble Institution der Soldatenräte und Vertrauensmänner bleibt nach wie vor Gegenstand von Kritik und Angriffen." Das bezog sich vor allem.auf deren Anwesenheit in den Auswahlkommissionen für die neue Armee. Die Landesbehörden von Salzburg und Tirol waren entschlossen, jeden Soldatenrat aus diesen Kommissionen zu entfernen und jeden einfachen Soldaten aus den Kommissionen für die Auswahl von Unteroffizieren bzw. jeden Unteroffizier aus den Kommissionen für die Offiziersauswahl auszuschließen. Im Juni 1920 fand vor dem Wiener Rathaus eine Massenversammlung von 10.000 Soldaten statt, die eine Resolution zugunsten der Beibehaltung der Soldatenräte im Heer annahm. Deutsch erklärte, es sei ihre Aufgabe, Österreich gegen die Extremisten von rechts und links zu verteidigen. Privat aber fügte er hinzu, Zweck der Demonstration sei es gewesen, „den Wind aus den Segeln der extremen und kommunistischen Elemente zu nehmen", die in den alten Soldatenräten den Ton angegeben hätten. Seine Gegner behaupteten, die Demonstration sei von den Sozialdemokraten veranlaßt worden, und die neue Armee verfolge die politischen Ziele dieser Partei. 95 Oberst Gösset von der Militärischen Kontrollkommission behauptete sogar, daß die neue Armee „allgemein als das Werkzeug einer politischen Partei, nämlich der Sozialdemokraten, angesehen werde und ein starkes kommunistisches Element ent-
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halte". Die Bevölkerung fürchte die Armee und mißtraue ihr, und dies habe die Bauern veranlaßt, sich zu bewaffnen und die Heimwehren zu bilden. Die überwiegende Mehrheit der Soldaten bestehe aus Männern aus der alten Armee, die keinen Beruf und keine andere Möglichkeit hätten, ihren Lebensunterhalt zu verdienen; der Rest sei „unbrauchbar, arbeitsscheu und kommunistisch". Die Armee sei faktisch in der Hand der Soldatenräte und der Soldatengewerkschaft, des Militärverbandes. Es sei daher hoffnungslos zu erwarten, daß die Armee ein Element der Ordnung und Gesetzmäßigkeit werden würde, wie es der Friedensvertrag beabsichtige. Im Gegenteil, sie stelle eine Gefahr für den inneren Frieden dar, und die Mehrheit ziehe es vor, keine Armee zu haben und sich für die Aufrechterhaltung der Ordnung auf die Polizei zu verlassen. Die gleiche Ansicht wurde von Dr. Rintelen geäußert, als ihn ein britischer Diplomat aufsuchte. Seiner Ansicht nach war die Armee „eine rein sozialdemokratische Armee, ohne großen militärischen Wert und äußerst unbeliebt bei den Christlichsozialen", die lieber gar keine Armee haben wollten. Im Juni 1920 erklärte Oberst Gösset, der Militärverband würde „komplette Kontrolle" über das Heer ausüben, und die Offiziere „nur toleriert werden, so lange sie gegenüber den roten Gewerkschaften nachgiebig seien". Als Deutsch gefragt worden sei, wie sich die Soldaten im Fall eines Streiks oder bei Unruhen verhalten würden, habe er geantwortet, dann würden sie sicher den Streikenden beistehen. Wenn eine Armee unter dem Deckmantel der Legalität auf diese Art gebildet werde, würden andere Länder dem Beispiel folgen, und das Resultat wäre „der völlige Zusammenbruch der bürgerlichen und bäuerlichen Elemente sowie Konfusion und Chaos in ganz Europa". 9 6 Doch diese apokalyptischen Erwartungen eines britischen Offiziers hatten nur wenig mit der österreichischen Realität des Jahres 1920 zu tun. Oberst Cuninghame schrieb im gleichen Monat realistischer: „Ich bin überzeugt davon, daß die neue österreichische Armee in keinerlei Hinsicht kommunistisch sein wird . . . Der Vorschlag von General Soos, die Entente solle ,die Bildung einer Armee auf der Basis der Diktatur einer Klasse verhindern', bedeutet faktisch einen Vorschlag, daß die Entente die Bestimmungen des Friedensvertrages über die Bedingungen des Militärdienstes ändern sollte". Von der bisherigen Volkswehr würden nur 11.000 Mann in das neue Heer übernommen, und diese seien „das beste Element". Als in Linz im Mai Unruhen von einem Bataillon der Armee unterdrückt wurden, fand Lindley es befriedigend, „diesen praktischen Beweis zu haben, daß die neue Armee, wenigstens in diesem Fall, bereit und imstande sei, effektiv für die Sache der Ordnung einzutreten". Die Militärische Kontrollkommission für Österreich brachte die Frage der Soldatenräte zur Kenntnis des Interalliierten Militärkomitees in Versailles, weil sie „jede Disziplin zerstören würden und . . . unvereinbar seien mit der Aufgabe der Armee, . . . die Ordnung aufrechtzuerhalten". Die weitere Erörterung wurde dann der Botschafterkonferenz in Paris übertragen, wo der britische Vertreter, Lord Derby, Zweifel an der Zuständigkeit der Konferenz äußerte. Es wurde beschlossen, das Problem den alliierten Regierungen zu überlassen. Das Foreign Office hielt es für „nicht ratsam zu intervenieren", jedenfalls nicht im Augenblick; nur inoffiziell solle der Präsident der Botschafterkonferenz, Jules Cambon, mit dem österreichischen Gesandten in Paris reden, aber eine Intervention fand nicht statt. 72
In Wien schlug Schober vor, die Armee zu einer wirklichen Ordnungsarmee zu machen, indem man die Soldaten zwänge, in der Kaserne zu wohnen und keine anderen Arbeiten anzunehmen. Außerdem solle die Heeresstärke weiter reduziert und die (zuverlässigere) Gendarmerie ins Heer überführt werden. Beim Essen besprach Oberst Gösset die Frage der Reduktion mit einem prominenten Christlichsozialen. Als ein anderer Gast meinte, Deutsch sei der einzige Mann, der das langsam zustandebringen könne, bezweifelten Gösset und der Christlichsoziale, ob Deutsch „sein eigenes Kind töten würde", und lehnten jede Zusammenarbeit mit ihm ab.97 Im Oktober 1920 berichtete Gösset über die Zusammensetzung der neuen Armee in der Steiermark. Für das Land seien 4.000 Mann vorgesehen gewesen, aber nur 1.800 hätten sich beworben, und nur 1.200 seien akzeptiert worden, einschließlich von 700 Mann aus der Volkswehr. Nur zehn Offiziere seien Sozialdemokraten, die anderen Anhänger der bürgerlichen Parteien; die politische Einstellung der Unteroffiziere sei ähnlich verteilt, aber etwa 80 Prozent der Mannschaften seien Sozialdemokraten. Der Soldatenrat von Graz habe sogar beschlossen, Kommunisten von der Aufnahme auszuschließen. Im Dezember notierte Alexander Cadogan im Foreign Office; alle Berichte zeigten, „daß die Wehrmacht ein Werkzeug der Sozialdemokraten sei, geschaffen . . . für politische Zwecke. Was immer ihre gegenwärtigen Tendenzen sein mögen, es ist offensichtlich falsch und gefährlich, daß die einzige organisierte Kraft einer Partei und nicht dem Staat gegenüber loyal sei. Der erste Schritt für eine starke Regierung in Österreich müsse sein, die Armee von diesem Parteigeist zu befreien."
Im Februar 1921 berichtete Lindley, tausende von Soldaten wären in Uniform aufmarschiert, um die internationale sozialistische Konferenz in Wien willkommen zu heißen. Die Regierung versuche jedoch alles, um die Stärke des Heeres ohne Aufmerksamkeit zu erregen zu reduzieren. Die Gendarmerie und die Polizei seien nach wie vor „von großer Tüchtigkeit", daher verdanke man vor allem ihnen „die große Sicherheit von Leben und Eigentum hier im Lande". Lindley sprach die Hoffnung aus, die Botschafterkonferenz würde die Frage der Reduktion dieser Kräfte nicht weiter erörtern. 98 Als Oberst Cuninghame die Bataillone, die im Herbst 1921 die Ostgrenze gegen ungarische Einfälle schützten, inspizierte, beurteilte er die Einheiten aus Oberösterreich, Tirol und der Steiermark als „zuverlässig", die aus Wien und Niederösterreich hingegen als „mürrisch und unzufrieden" und „von keinem militärischen Geist beseelt". Unter den Soldaten bestehe „eine lebhafte Animosität gegen die Ungarn, verursacht durch das Benehmen der Banden gegen die österreichische Bevölkerung und die Ermordung von Gefangenen, die bei Aktionen gemacht worden seien". Der Verteidigungsminister hielt die Truppen „als Ganzes für fähig, die ihnen gestellten Aufgaben zu erfüllen", aber die Ansicht der alliierten Beobachter war, daß sie den Ungarn nicht gewachsen wären, wenn es zu einem ernsten Konflikt käme.99 Im März 1922 war Oberst Cuninghame davon überzeugt, daß man Fortschritte gemacht habe und sich „die Beziehungen zwischen Offizieren und Soldaten verbessern in dem Maße des Verschwindens der alten Tradition"; aber viele dienten nur zögernd unter dem Zwang der Umstände; Offiziere und Mannschaften hätten nicht 73
die gleiche „Geisteshaltung". Die Soldatenräte seien nach wie vor gegen die aus der Kaiserzeit stammende „alte Form der Disziplin", und die Versuche, diese abzuschaffen, seien nicht erfolgreich gewesen. Cuninghame schlug vor, die Struktur der Armee zu ändern, da sie nicht imstande sei, ihre Aufgabe zu erfüllen: Ein Milizsystem würde „vom unerwünschten Parteicharakter loskommen" und, wie er im Juni betonte, die Kosten der Armee von 40 auf 7 Milliarden Kronen senken. Doch als die österreichische Regierung eine Umstrukturierung der Armee zu einer Miliz vorschlug, wurde dies vom War Office abgelehnt. Obwohl es zugab, daß eine Miliz „der existierenden Wehrmacht an Disziplin, Moral und Tüchtigkeit wahrscheinlich überlegen sein würde", blieb die durch den Vertrag von St. Germain festgelegte lange Dienstzeit in Kraft, denn „jede Konzession gegenüber der österreichischen Regierung würde sofort Reaktionen in den anderen früheren Feindstaaten auslösen". Da auch die französische Regierung ein Milizsystem ablehnte, wurde der österreichische Antrag abgewiesen.100 Mit anderen Worten, ein sehr vernünftiger Antrag, der der österreichischen Regierung eine große Summe erspart hätte (was die Alliierten ja erreichen wollten), wurde zurückgewiesen, nur aus dem Grunde, weil Deutschland und Ungarn möglicherweise das gleiche Gesuch stellen könnten. Gerade im Fall Deutschlands wäre der gleiche Wechsel zu einem Milizsystem ebenso wünschenswert gewesen. Er hätte, vom Standpunkt der Alliierten aus gesehen, die Reichswehr mit ihrer langen Dienstzeit ersetzt durch eine viel weniger gefährliche Armee, und die politische Bedrohung beseitigt, die die Reichswehr als „Staat im Staate" für die demokratische Republik bedeutete. So sprachen politische wie finanzielle Gründe dafür, den österreichischen Antrag zu bewilligen, aber leider wurde solch rationellen Gründen nicht stattgegeben. Am Schluß der Debatte hatte Oberst Cuninghame noch immer den Verdacht, daß „die bürgerlichen Parteien die Organisation der österreichischen Armee in einer Weise zu ändern wünschten, daß sie nicht mehr als ein Instrument zum Schutz der republikansichen Verfassung des Landes angesehen werden kann, wie es derzeit der Fall ist." Seiner Ansicht nach wollten sie die Notwendigkeit von Sparmaßnahmen dazu benutzen, die bestehende Streitkraft loszuwerden. Aber die Sozialdemokraten müßten „die Weiterführung der existierenden Berufsarmee mit ihrem Charakter als republikanische Kraft unterstützen"; für sie sei jeder Vorschlag, dies zu ändern, inakzeptabel, es sei denn, ein solcher wäre völlig frei von jedem Versuch einer Restauration. Er habe die Soldaten bei „der Arbeit und beim Spiel, in der Kaserne und im Felde" beobachtet; sie seien „wirklich viel besser als allgemein angenommen", und sie hätten sich „zu einem sehr großen Teil der subversiven Elemente" von früher entledigt. „Die starke Voreingenommenheit gegen das Heer", welche die Vertreter des Völkerbundes gezeigt hätten, beruhe, seiner Ansicht nach darauf, daß sie von Männern des alten Regimes beraten worden seinen, wie Fürst Liechtenstein und Graf Mensdorf, die natürlich politisch voreingenommen seien.101 Auf der äußersten Rechten nahm diese Voreingenommenheit die merkwürdigsten Formen an. Die in Graz veröffentlichte Zeitschrift Der Freie Arbeiter, das Organ einer „Antisemitischen Proletarierunion", sprach von der Armee als einem „Judenschutzkorps", einer „Stütze der Judenrepublik", einer „Ansammlung von Elementen 74
aus allen Verbrecheralben Mitteleuropas" und behandelte das Thema „Unsere Arm e e " in einer speziellen Ausgabe. 102 Jedenfalls wurden sozialistische Einflüsse, die Anfang der zwanziger Jahre noch in gewissem Umfang bestanden hatten, vom neuen Heeresminister Carl Vaugoin, einem Christlichsozialen, ziemlich rasch zurückgedrängt. Unter ihm sollte sich die politische Ausrichtung der Armee vollkommen ändern. Eine andere politische Frage, die die Armee tangierte, bezog sich auf „Westungarn" oder das Burgenland, wie es später hieß, das sowohl von einer deutschsprachigen Bevölkerung als auch von Ungarn und slawischen Gruppen bewohnt wurde, im September 1919 wurde das Gebiet von den Alliierten Mächten der österreichischen Republik zugesprochen, aber die Ungarn opponierten gegen diese Entscheidung und weigerten sich, das Burgenland, dessen Schicksal ihrer Ansicht nach nur durch einen Friedensvertrag entschieden werden könne, zu räumen. Es kam daher zu einem schweren Konflikt und zu heftigen Kämpfen zwischen irregulären Truppenformationen, ähnlich wie damals auch in Kärnten. Als Oberst Cuninghame Anfang 1920 das umstrittene Gebiet besuchte, kam er nach Unterhaltungen mit bekannten Einwohnern und persönlichen Beobachtungen zum Schluß, daß die Bevölkerung „Anschluß an Österreich wünsche, die Beamten, inklusive der Geistlichen aber vehement dagegen seien"; als 1919 die Bolschewisten in Budapest an der Macht waren, seien die ungarischen Beamten weniger gegen Österreich eingestellt gewesen, aber das habe sich mit der Errichtung des Horthyregimes in Ungarn geändert. In Österreich sei „das reaktionäre Element" einschließlich eines großen Teils der Christlichsozialen „darauf bedacht, mit dem gegenwärtigen Regime in Ungarn auf gutem Fuß zu bleiben". Sie wären bereit, „auf die Chance einer Gebietserweiterung zu verzichten", aber die Sozialdemokraten seien Ungarn gegenüber feindlich eingestellt und anderer Ansicht. Ein anderer britischer Offizier, der die Lage untersuchte, berichtete, daß „die Dörfer, die zur Zeit des Bolschewismus darauf gedrängt hätten, österreichisch zu werden, jetzt gegen die Annexion seien . . . Viele Dörfer haben ihre Meinung geändert, weil sie fürchten, die Österreicher würden sofort auch das letzte Korn Getreide beschlagnahmen, um ihre Not zu lindern." Oder wie Lindley es ausdrückte: „Die Mehrheit der Bevölkerung sei jetzt dafür, ungarisch zu bleiben, weil sie sich nicht einem Staat anschließen wollten, der hungere und bankrott sei." Auch ein anderer Bericht war der Meinung, daß wirtschaftliche Erwägungen die nationalen Gefühle stark beeinflußten: „Das zeige sich ganz besonders darin, daß im Komitat Sopron eine viel stärkere pro-österreichische Stimmung herrsche als in Moson oder Vas, da ersteres einen ziemlich bedeutenden Handel mit Wien treibe". In den Dörfern und auf dem Lande sei die Stimmung ziemlich gleichmäßig für und gegen Österreich, aber in den Städten wäre man ganz entschieden gegen Österreich, vor allem in Sopron und Wieselburg (Moson); sogar deutschsprachige Menschen wären jetzt gegen die Trennung von Ungarn. 103 Anfang 1920 informierte Staatskanzler Renner Lindley, er habe „volles Vertrauen, daß die Mächte Westungarn Österreich zusprechen würden", aber er beabsichtige nicht, Gewalt anzuwenden. Sobald Ungarn den Friedensvertrag unterschrieben habe, sollten österreichische Einheiten die ungarischen ersetzen. Im Mai protestierte eine 75
von den Sozialdemokraten einberufene Massenversammlung in der Wiener Stadthalle gegen die Einkerkerung von Hunderten von Menschen durch die Ungarn „unter furchtbaren Bedingungen" und „unerträglichem Leiden". Im Foreign Office notierte Cadogan: „Wir können in dieser Frage nicht intervenieren." 104 Wie die Militärische Kontrollkommission 1921 berichtete, sei die öffentliche Meinung in Österreich „einstimmig der Ansicht, daß keine österreichischen Menschenleben geopfert werden dürfen, um das Gebiet zu gewinnen". Nur die Alliierten seien verantwortlich für die Durchführung des Friedensvertrages, und sie würden „allgemein und heftig getadelt", weil sie es verabsäumt hätten, das zu tun. Die österreichischen Einheiten entlang der Grenze zeigten „einen patriotischen und kriegerischen Geist, der nirgends anerkannt" werde, und die Beziehungen zwischen Offizieren und Mannschaften seien „ausgezeichnet". Aus Wien schrieb ein britischer Diplomat, die Sozialdemokraten seien bittere Feinde des Horthyregimes und die in Wiener Neustadt sogar zu jedem Kampfbereit. Die Christlichsozialen hingegen würden „ein Arrangement vorziehen", aber sie müßten „vorsichtig vorgehen, um nicht den Vorwurf monarchistischer Gesinnung oder Sympathie mit dem angeblichen .Weißen Terror' [der in Wirklichkeit recht schlimm war] auf sich zu ziehen". Im August 1921 teilten die alliierten Offiziere in Sopron der österreichischen Regierung mit, da Ungarn ihnen das umstrittene Gebiet nicht übergeben habe, könnten sie es nicht an Österreich geben.10S Schließlich wurde das Schicksal des Burgenlandes durch ein Plebiszit entschieden, das unter alliierter Aufsicht im Dezember 1921 im Bezirk von Sopron abgehalten wurde. Es ergab eine ziemlich große Mehrheit für Ungarn - 15.334 Leute hatten gegen und nur 8.227 für Österreich votiert. In Sopron war die Mehrheit mit 12.327 zu 4.620 Stimmen noch größer aber in den Dörfern der Umgebung gab es eine kleine Mehrheit für Österreich - dort stimmten 3.607 gegen und 3.007 für Ungarn. Da Verwaltung und Polizei in ungarischer Hand geblieben waren, war die Abstimmung kaum als fair zu bezeichnen. Doch im Foreign Office notierte Harold Nicolson, er hoffe, „daß die überwältigende ungarische Mehrheit die österreichische Regierung zur Vernunft bringen werde". 106 So blieb Sopron ungarisch, aber ein Teil seiner Umgebung wurde österreichisch, und das Burgenland wurde ein neues österreichisches Land innerhalb des föderativen Systems. Es war ein Kompromiß, selbst wenn dadurch eine Teilung verursacht wurde und die österreichischen Ansprüche uneingelöst blieben. Für die Einwohner der kleinen Städte und Dörfer konnte es kaum attraktiv sein, sich mit Österreich mit seiner rasch steigenden Inflation, seiner Lebensmittelknappheit und seinen bitteren Parteikämpfen - zu vereinigen. Wie auch immer ihre nationalen Gefühle sein mochten, die Mehrheit der Bevölkerung entschied sich für Sicherheit. Im Vergleich erschien das „Weisse" Regime Horthys stabil und ruhig: hatte er nicht mit Erfolg den „Roten" Terror bekämpft, während in Österreich die „Roten" noch immer mächtig waren? So setzten sich wirtschaftliche und politische Erwägungen gegenüber den nationalen durch, und Sopron wurde von seinem Hinterland abgetrennt, während sich das Burgenland in Eisenstadt eine neue Hauptstadt suchen mußte. Die frühen zwanziger Jahre waren in Österreich - ebenso wie in der Weimarer Republik - bestimmt durch einen rasch fortschreitenden Verfall der Währung, stän76
dig steigende Preise und eine katastrophale Knappheit an Lebensmitteln, Kohle und anderen Lebensnotwendigkeiten. Der Gegensatz zwischen Stadt und Land, zwischen dem „roten" Wien und den klerikalen und konservativen ländlichen Gegenden, war vermutlich noch schärfer als der in Deutschland zwischen den industriellen und den bäuerlichen Landesteilen. U m überhaupt überleben zu können, blieb Österreich völlig abhängig von ausländischer Hilfe und ausländischen Krediten. Die wirtschaftliche Schwäche und das Entstehen starker, einander feindlich gesinnter paramilitärischer Verbände sollten die Zukunft der österreichischen Republik schwer belasten.
Anmerkungen 1 2
Bericht Cuninghames, 21. Januar 1920: FO 371, Bd. 3534. Ε. E. Massey an S. P. Waterloo, London, 14. Januar 1920: FO 371, Bd. 3550. Anscheinend erhielten die Engländer nur die allgemeinen Rationen. 3 Bericht von E. Bridgeman, 9. Februar, und Brief von Dr. E. Krautmann, 31. März 1920: FO 120, Bd. 929 und 936. 4 Bericht von Fritz Kuh, 6. Februar 1920: Society of Friends Library, Papers relating to Friends' Relief Mission in Austria, Karton 5, Paket 3. 5 Lindley an Curzon, 15. März 1920: DBFP, 1. Serie, Nr. 125, S. 156 f. 6 J. Lockhard Dougan an Lindley, 17. Mai 1920: FO 120, Bd. 957. 7 Das gleiche, 8. und 27. Mai 1920, ebenda. 8 Bericht Jenny Willisons, 8. Mai 1920: Papers relating to Friends' Relief Mission in Austria, Karton 5, Paket 3. 9 „Austria. Annual Report, 1920", S. 65 f., und Lindley an Vienna Emergency Relief Fund, 2. August 1920: FO 371, Bd. 5786, Bd. 4651, Fo. 73 f. 10 Bericht Jenny Willisons, 8. Mai 1920: a. a. O. 11 Bericht von Ruth Fry, 77ic Friend, XX, 16. Juli 1920, S. 442; Minutes of the Austria & Hungary Sub-Committee of the Friends' Relief Council, 23. Dezember 1920; Bericht der Friends' Relief Mission, 11. Februar 1920: FO 120, Bd. 935. 12 Bcricht der Friends' Relief Mission, 1. Dezember 1920: Papers relating to Friends'Relief Mission in Austria, Karton 4, Paket 3. 13 Home Office an Foreign Office, 17. Dezember 1920: FO 120, Bd. 974. 14 Bcricht von Olive Hascltinc, Januar 1921: Papers relating to Friends' Relief Mission in Austria, Karton 5, Paket 3. 15 G. E. R. Gedye, ,,Is Austria Starving?", Imperial War Museum G E R G 10. 16 Curzon an Bridgeman, 7. und 15. Oktober 1920, und an Clerk, 18. Januar 1921: DBFP, 1. Serie, XII, Nr. 241, 250, S. 281 f., 296; Harry Hanak, „The Problem of the Nationalities in Czechoslovakia as seen from London, 1918-26", Conference Paper 1984, S. 12. 17 Reden Lord Parmoors und Lord Curzons im House of Lords, 13. April 1921: FO 120, Bd. 977. 18 Lindley an Curzon, 14. Juli 1921 : FO 371, Bd. 5786, Fo. 46. 19 „Austria. Annual Report, 1921", S. 46 f.; Η. Β. Johnson an Curzon, 1. Juli 1921: FO 371, Bd. 7359, Bd. 5742, Fo. 68 ff.; Bericht Hilda Clarks: Tlie Friend, XXI, 8. April 1921, S. 212. Vgl. die Erinnerungen des damaligen Staatssekretärs für Volksernährung Hans Loewenfeld-Russ, Im Kampf gegen den Hunger, München 1986, S. 280 f. 20 Kathleen D. Courtney an Alice Clark, 24. Januar 1922: Papers relating to Friends' Relief Mission in Austria, Karton 4, Paket 2. 21 „Austria. Annual Report, 1922", S. 41 f.: FO 371, Bd. 8551; Minutes of the Austria & Hungary Sub-Committee of the Friends' Relief Council, 16. März 1922 und 4. Oktober 1923. 22 Lindley an Curzon, 7. November 1919, 30. Juni 1920 und 3. Mai 1921: DBFP, 1. Serie, VI, Nr. 265, S. 353; FO 371, Bd. 5783, Fo. 152, Bd. 4645, Fo. 168. 23 Akers-Douglas an Crowe, 5. Januar 1923: FO 371, Bd. 8548, Fo. 120 ff.
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24 Keeling an Curzon, 2. und 7. Dezember 1921: FO 371, Bd. 5788, Fo. 114-20. 25 E. E. Massey an S. P. Waterloo, 14. Januar, Lindley an Vienna Emergency Relief Fund, 2. August, und an Curzon, 14. November 1920: FO 371, Bd. 3550, Bd. 4651, Fo. 74 f.; DBFP, 1. Serie, XII, Nr. 277, S. 333. 26 William Goode an Chancellor of the Exchequer, 22. November, und Lindley an Curzon, 9. Dezember 1920: FO 371, Bd. 4647, Fo. 262; DBFP, 1. Serie, XII, Nr. 288, S. 343 ff. 27 Lindley an FO, 7. Januar, 4. und 8. August 1921: FO 371, Bd. 5738, Fo. 20 ff., Bd. 5743, Fo. 221,226. 28 Bericht des Nachrichtendienstes für Periode bis 29. September 1921, und Keeling an Curzon, 23. und 30. September 1921: FO 120, Bd. 991, FO 371, Bd. 5744, Fo. 141,150 f. 29 Die Preise laut Brief von Alice Clark: Minutes of the Austria & Hungary Sub-Committee of the Friends' Relief Council, 17. Oktober 1921. 30 Memorandum von M. Aaenol und F. H. Nixon, 1. November, und Bericht von O. S. Philipotts, 6. Dezember 1921: FO 371, Bd. 5745, Fo. 12-15,103-06. 31 Franckenstein an Lloyd George und an Curzon, 24.-25. Januar 1922, und Akers-Douglas an Curzon, 16. Februar 1922: FO 371, Bd. 7335, Fo. 262 f., Bd. 7336, Fo. 112. 32 Lindley an Curzon, 3. November 1920, Notiz Cadogans, 7. Oktober und Erklärung des Earl of Crawford im House of Lords, 3. November 1921: FO 371, Bd. 4646, Fo. 202 ff., Bd. 5744, Fo. 163, Bd. 5744, Fo. 94. 33 Franckenstein an Waterloo, 5. Oktober 1921, und Memorandum des Foreign Office, 9. August 1922: FO 371, Bd. 5744, Fo. 164, Bd. 7339, Fo. 103-06. 34 Akers-Douglas an Curzon, 4. August, und Legation Vienna an Foreign Office, 11. August 1922: FO 371, Bd. 7338, Fo. 20 f., FO 120, Bd. 995. 35 O. S. Philipotts an Akers-Douglas, Genf, 7. September 1922: FO 120, Bd. 998. 36 Foreign Office an Akers Douglas, 18. August 1922: FO 371, Bd. 7339, Fo. 128; The Times, 5. Oktober 1922. 37 The Times, 5. Oktober 1922; Akers-Douglas an Curzon, 6. und 20. Oktober 1922: FO 371, Bd. 7342, Fo. 8 f., 197. Der volle Text der Genfer Vereinbarung in Bd. 7343, Fo. 41-69. 38 Akers-Douglas an Curzon, 21. September und 20. Oktober 1922: FO 371, Bd. 7341, Fo. 280 f., Bd. 7342, Fo. 196 ff. Der französische Sozialist Bracke an Arthur Gillies, 27. November 1922: Labour Party Archiv, Labour Party International Advisory Committee, Memorandum 263. 39 Akers-Douglas an Curzon, 3. und 24. November 1922 und 5. Januar 1923: FO 371, Bd. 7343, Fo. 73, 232 ff., Bd. 8537, Fo. 223. 40 Bracke an Gillies, 27. November 1922: Labour Party International Advisory Committee, Memorandum 263. 41 Akers-Douglas an Curzon, 19. Januar und 22. Februar 1923: FO 371, Bd. 8538, Fo. 45, Bd. 8539, Fo. 187-91. 42 Akers-Douglas an Curzon, 15. Juni und August 1923: FO 371, Bd. 8542, Fo. 18 f., Bd. 8545, Fo. 137; Keeling an Curzon, 13. April 1923: FO 371, Bd. 8540, Fo. 228. 43 Lindley an Curzon, 16. Mai 1921, und Chilston an Chamberlain, 3. November 1926: FO 371, Bd. 5785, Fo. 241, Bd. 11211, Fo. 45. 44 Bericht von Phillpotts, 30. November 1922, und Memorandum von Dr. Tugendhat, Londoner Korrespondent der Neuen Freien Presse, vom Januar 1925: FO 371, Bd. 7344, Fo. 153 ff., FO 120, Bd. 1009. 45 Lindley an Curzon, 22. Mai, 11. und 14. Juni 1920: FO 371, Bd. 3538. 46 Lindley an Curzon, 1. Dezember 1920, und unsigniertes Memorandum von 1920: FO 371, Bd. 4654, Fo. 140 f., FO 120, Bd. 954. Auch in den Erinnerungen von Loewenfeld-Russ ist der Separatismus der Länder und ihre Abschließung von Wien ein ständig wiederkehrendes Thema: Im Kampf gegen den Hunger. Aus den Erinnerungen des Staatssekretärs für Volksernährung 1918-1920, S. 134, 168 f, 173 f., 256, 310. 47 Lindley an Curzon, 1. Juli 1921: FO 371, Bd. 5776, Fo. 103. 48 Akers-Douglas an Curzon, 8. September 1922: FO 371, Bd. 7360, Fo. 126 f. 49 Lindley an Curzon, 16. Mai 1921: FO 371, Bd. 5785, Fo. 242 f. 50 Bridgeman an Curzon, 21. September, und Lindley an Curzon, 17. Dezember 1920: DBFP, 1. Serie, XII, Nr. 225,296, S. 270,356.
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Curzon an Lindley, 31. Dezember 1920: ebenda, Nr. 301, S. 361. Bericht Cuninghames, 17. Februar; Lindley an Curzon, 16. Juni 1921; Akers-Douglas an Curzon, 3. und 16. Februar 1922: FO 371, Bd. 5747, Fo. 117, Bd. 5776, Fo. 62 f., Bd. 7335, Fo. 297, Bd. 7336, Fo. 113. Lindley an Curzon, 14. Juni und 6. November 1920 und 6. Juni 1921 : FO 371, Bd. 3538, Bd. 4644, Fo. 223, Bd. 5776, Fo. 95 f. Dinghofer Interview, 4. April 1922, und Akcrs-Douglas an Curzon, 1. Juni 1922: FO 120, Bd. 994, FO 371, Bd. 7349, Fo. 110 f. „Austria. Annual Report, 1922", S. 3 f.: FO 371, Bd. 8551. Akers-Douglas an Curzon, 19. Januar 1923: FO 371, Bd. 8538, Fo. 45 f. C. A. Gulick, Austria from Habsburg to Hitler, Berkeley 1948,1, S. 690. Lindley an Curzon, 28. Februar, 21. März und 1. April 1920: FO 371, Bd. 3535, Bd. 3536. Bridgeman an Foreign Office, 15. September, Cuninghame an Bridgeman, 20. Oktober, und Goodc an Chancclor of the Exchequer, 22. November 1920: FO 371, Bd. 4643, Fo. 138, 209, Bd. 4647, Fo. 262. Curzon an Lindley, 12. Mai 1921: FO 371, Bd. 5775, Fo. 150. Franz Borkenau, Austria und After, London 1938, S. 10. Foreign Office Notiz mit Signatur A.W.G.R., 31. März 1919: FO 371, Bd. 3541. Lindley an Curzon, 5. Januar 1921, 17. und 22. Dezember 1920: FO 371, Bd. 5770, Fo. 93 f., Bd. 4642, Fo. 375 f., DBFP, 1. Serie, XII, Nr. 296, S. 355 f. Bericht Oberst Wethereds, 11. Dezember, und Cuninghames Antwort, 20. Dezember 1920: FO 371, Bd. 4642, Fo. 386, 391 f. Lindley an Curzon, 6. November 1920, mit Zitaten aus Bauers Rede: FO 371, Bd. 4644, Fo. 251. Lindley an Curzon, 4. Februar, 13. Mai, 3. Juni und 13. August: FO 371, Bd. 3534, Bd. 3538, Bd. 3546, Bd. 4649. Lindley an Curzon, 10. Oktober 1920 und 30. Mai 1921: FO 371, Bd. 4644, Fo. 256 f., Bd. 5756, Fo. 117. Lindley an Curzon, 22. Februar, und Bericht Phillpotts' 14. April 1921: FO 371, Bd. 5756, Fo. 71 ff., Bd. 5784, Fo. 63 f. Keinem anderen österreichischen Politiker wurde in den britischen Berichten solche Aufmerksamkeit gewidmet. Bericht Cuninghames, 17. Februar 1921, und „Austria. Annual Report, 1922", S. 4: FO 371, Bd. 5747, Fo. 117, Bd. 8551, Fo. 102. Agentenbericht, 19. Juni 1922, und „Austria. Annual Report, 1920", S. 11: FO 371, Bd. 7350, Fo. 136 f., Bd. 5786, Fo. 2. Brigadier-General R.I.G. Gorton an War Office, 8. Januar, mit Notiz vom 26. Februar 1920; Cuninghame an Lindley, 22. Juni, und Oberst Gösset an Lindley, 6. September 1920: FO 371, Bd. 3553, Bd. 4637, Fo. 168 f., 259 f., 421. Bridgeman an Curzon, 20. Oktober 1920: FO 371, Bd. 4643, Fo. 201. Berichte Cuninghames, 26. Mai und 16. Juli, und Lindleys, 11. Mai 1921: FO 371, Bd. 5747, Fo. 168 f., Bd. 5752, Fo. 103 f., Bd. 5777, Fo. 74 f. Berichte des Nachrichtendienstes für Periode bis 5. Mai und bis 21. Juli 1921: FO 120, Bd. 960 und 961. Akers-Douglas an Curzon, 25. August, Agentenbericht, 11. August, und monatlicher Bericht über Kommunisten, 28. September 1922: FO 371, Bd. 7350, Fo. 1%, 209, FO 120, Bd. 985. „Austria. Annual Report, 1922", S. 12 f.: FO 371, Bd. 8551, Fo. 102. Keeling an Curzon, 26. Oktober 1923: FO 371, Bd. 8553, Fo. 145 f. Lindley an Curzon, 16.-20. April und 5. Januar 1921, und Berichte Bridgemans vom 6. und 10. März 1921: FO 371, Bd. 3559, FO 120, Bd. 964 und 951. Lindley an Foreign Office, 7. Dezember 1920 und 16. Januar 1921, Keeling an Curzon, 23 September 1921, und Akers-Douglas an Curzon, 8. September 1922: FO 371, Bd. 4654, Fo. 162, Bd. 5770, Fo. 115, Bd. 5744, Fo. 141, Bd. 7360, Fo. 127. „Austria. Annual Report, 1922", S. 11, und Cuninghame an Keeling, 3. November 1922: FO 371, Bd. 8551, Fo. 102, Bd. 7356, Fo. 263. Bridgeman an Curzon, 1. Mai 1920, und Memorandum Keelings, nach London geschickt 10. April
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1923: FO 371, Bd. 3537, Bd. 8552, Fo. 14 ff. Für die korrekten Zahlen siehe P. G. J. Pulzer, The Rise of Political Anti-Semitism in Germany and Austria, New York 1964, S. 10, 347. Berichte Oberst Gossets, 6. und 28. September und 23. Oktober 1920 mit einem französischen Memorandum vom 22. Oktober: FO 371, Bd. 4637, Fo. 421, Bd. 4639, Fo. 317, Bd. 4625. Lindley an Curzon, 3. und 17. November 1920: DBFP, 1. Serie, XU, Nr. 264, S. 317; FO 371, Bd. 4644, Fo. 282. General Zuccari an Dr. Mayr, 8. November, und Bericht der Interalliierten Militärischen Kontrollkommission für Österreich, 4. Dezember 1920: FO 120, Bd. 978, FO 371, Bd. 4642, Fo. 292 f.; Bericht Cuninghames, 13. Dezember 1920: FO 371, Bd. 5747, Fo. 58. Berichte des Nachrichtendienstes für Periode bis 9. und 16. Januar und 9. Juni 1921; Lindley an Curzon, 11. Januar 1921: FO 120, Bd. 960, FO 371, Bd. 5751, Fo. 297 f., Bd. 5750, Fo. 69-75 (basierend auf einem französischen Bericht). Bericht Cuninghames, 3. Februar; Lindley an Curzon, 12. Februar und 11. Juni; Cuninghame an Lindley, 5. und 22. Juni 1920: FO 371, Bd. 3534, Bd. 3546, Bd. 3538, Bd. 4637, Fo. 261 ff., Bd. 3524, Fo. 535. Landesregierung Tirol an Innsbruck Sub-Commission (Armaments), 2. Dezember 1920; „Austria. Annual Report, 1920", S. 27: FO 371, Bd. 4654, Fo. 31, Bd. 5786, Fo. 2 (sehr ähnlich Lindley an Curzon, 11. Januar 1921, FO 120, Bd. 980). Cuninghame an Oliphant, 17. Oktober 1919, und an Lindley, 1. April 1920; Oberst Gösset an Director of Military Intelligence, 11. Juni 1920: FO 371, Bd. 3530, Nr. 144566, Bd. 3536, Bd. 3538. Lindley an Curzon, 11. und 14. Juni 1920: FO 371, Bd. 3538. Cuninghame an Director of Military Intelligence, 4. Januar; Bridgeman an Curzon, 30. April; und Lindley an Foreign Office, 15. November 1920: FO 371, Bd. 3546, Bd. 3537, Bd. 4640, Fo. 242 f. Oberst Gösset an General Zuccari, 6. Dezember, und War Office an Foreign Office, 11. Dezember 1920: FO 371, Bd. 4642, Fo. 247, 257 f., „secret". Im Juli 1920berichtete der Münchner britische Konsul, daß 40 Waggons mit Waffen über die Grenze nach Tirol gegangen seien: F. L. Carsten, Britain and the Weimar Republic, London 1984, S. 102. Curzon an Young, 17. März 1921; War Office an Foreign Office, 28. Januar 1922: FO 371, Bd. 57 39, Fo. 245 ff., Bd. 7352, Fo. 98. Art. 132 des Vertrags von St. Germain bestimmte: „Die Herstellung von Waffen . . . soll nur in einer einzigen Fabrik erfolgen, die dem Staat gehören und von ihm kontrolliert werden soll." War Office an Foreign Office, 10. April, und Oberstleutnant Ε. T. Hynes an War Office, 30 März 1923 und 3. November 1922: FO 120, Bd. 957, WO 155, Bd. 21. Berichte Cuninghames, 3. Februar und 18. Juni 1920: FO 371, Bd. 3534, Bd. 4643, Fo. 43 f. Oberst Gösset an General Zuccari, 7. September, und an War Office, 1. Juni 1920; Bridgeman an Curzon, 30. April 1920: FO 120, Bd. 938, FO 371, Bd. 3562, Bd. 3537. Cuninghame an Lindley, 5. Juni; Lindley an Curzon, 13. Mai; Lord Derby an Foreign Office, 20. Oktober; Gösset an Zuccari, 26. November, und an War Office, 21. Oktober 1920: FO 371, Bd. 3524, Fo. 534 f., Bd. 3546, Bd. 4639, Fo. 41, Bd. 4642, Fo. 171 f., FO 120, Bd. 938. Gösset an War Office, 3. November; Notiz Cadogans, 30. Dezember 1920; Lindley an Curzon, 28. Februar 1921: FO 120, Bd. 959, FO 371, Bd. 4642, Fo. 373, Bd. 5764, Fo. 227, 232. Bericht Cuninghames, 30. September 1921: FO 371, Bd. 5764, Fo. 227, 232. Memorandum Cuninghames, 10. März; Cuninghame an Akers-Douglas, 23. Juni; War Office an Foreign Office, 15. Juni (mit Notiz Lampsons, 17. Juni); Pariser Botschaft an Foreign Office, 30. Juni 1922: FO 371, Bd. 7355, Fo. 151-55, Bd. 7356, Fo. 227 f., 237, 240 f. Cuninghame an Keeling, 3. November 1922: FO 371, Bd. 7356, Fo. 258 ff. Bericht des Nachrichtendienstes der Militärischen Kontrollkommission für Österreich, 27. März 1921: FO 371, Bd. 5750, Fo. 20. Berichte Lindleys, 27. November 1919, Cuninghames, 9. Februar, und Captain D. B. Aitkens, 1. März 1920: FO 371, Bd. 3517, Nr. 157588, Bd. 3519, Nr. 178589, Bd. 3520, Fo. 297 f. Lindley an Curzon, 30. Januar und 15. Mai 1920, mit Foreign Office Notiz, 26. Mai: FO 371, Bd. 3518, Fo. 461, Bd. 3523, Fo. 5 ff. Bericht des Nachrichtendienstes für Periode bis 29. September 1921; Keeling an Curzon, 2. September 1921: FO 120, Bd. 991, FO 371, Bd. 5759, Fo. 26-31.
106 . Hohler an Curzon, Budapest, 18. und 23. Dezember 1921, mit Foreign Office Notiz vom 19. Dezember: FO 371, Bd. 5768, Fo. 127 f., Bd. 5769, Fo. 93 ff. Über die Burgenlandfrage im allgemeinen vgl. Karl R. Stadler, The Birth of the Austrian Republic 1918-1921, Leyden 1966, S. 136-41.
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III. Jahre des Fortschritts 1923-1927
Die mittleren zwanziger Jahre waren für Österreich nicht nur Jahre einer neuen und stabilen Währung, sondern auch eine Zeit langsamer und partieller wirtschaftlicher Erholung und größerer politischer Stabilität. Die Sozialdemokraten blieben in der Opposition, und die Regierung wurde beherrscht von der Christlichsozialen Partei unter der Führung von Dr. Seipel, der der prominenteste österreichische Staatsmann wurde. Im Sommer 1925 schrieb ein neuangekommener britischer Journalist, G. E. R. Gedye: „Obgleich die ganze Welt von der Tragödie Wiens gehört hat, haben nur wenige von seiner Erholung g e h ö r t . . . Die Metropole Wien . . . präsentiert der Welt wieder ein lächelndes, gleichgültiges G e s i c h t . . . Für diejenigen, die es in den Tagen seiner schlimmsten Erniedrigung sahen, ist dies eine überraschende Veränderung." Doch er fügte hinzu, die Zukunft sei noch immer dunkel und unter der Oberfäche sei nicht alles in Ordnung. 1 Ein anderer britischer Besucher fand nach vier Jahren Abwesenheit eine Atmosphäre „allgemeinen Wohlstands" vor. „Die Häuser sind neu dekoriert worden, die Eisenbahnen sind elektrifiziert, es gibt mehr Taxis, und man hat großartige neue Häuser und Wohnungen zu außerordentlich niedrigen Mieten gebaut." Aber auch er notierte eine Warnung: Im Herbst 1926 habe es 200.000 Arbeitslose in Österreich gegeben, allein 70.000 davon in Wien, und die Löhne seien verglichen mit den hohen Lebenshaltungskosten niedrig. Ein Mitglied der Quäker war der Meinung, angesichts der hohen Arbeitslosigkeit und der finanziellen Schwierigkeiten sei die einzige Lösung für Österreich ein „Zurück a u f s Land" und die Gründung landwirtschaftlicher Siedlungen. 2 Auch die britischen diplomatischen Vertreter registrierten die hohe Arbeitslosigkeit, die nach dem Ende des Exportbooms der Inflationsperiode eintrat. Im Januar 1925 berichtete Akers-Douglas, die Zahl der Arbeitslosen sei auf 145.000 gestiegen, und etwa die Hälfte davon gäbe es in Wien. Im Mai wurde bereits eine Zahl von 170.000 Arbeitslosen angegeben und die Lage der Industrie als „fast gelähmt" bezeichnet. Gegen Ende des Jahres glaubte die britische Gesandtschaft, die Lage verschlimmere sich; mehr als 200.000 Menschen (über 3 Prozent der Bevölkerung) erhielten Unterstützung, und die Zahl würde weiter wachsen. 3 Aber das waren nach heutigen Begriffen immer noch relativ niedrige Zahlen. 1924 war der holländische Generalkommissar Dr. Zimmerman, der vom Völkerbund mit der Überwachung der österreichischen Finanzen beauftragt war, „ziemlich pessimistisch betreffend die Fähigkeit der Regierung, wirkliche Einsparungen zu machen". Er klagte über „den Mangel an Energie und Mut bei den österreichischen Politikern sowie über die Indifferenz und Schlaffheit der Österreicher im allgemeinen". Die Regierung solle mehr Mut zeigen und sich weniger auf parlamentarische Kompromisse einlassen. Akers-Douglas stimmte dem zu und bedauerte, daß die Wähler nicht mehr Einsparungen verlangten. Während „in England das Volk und die 83
Presse oft für die Anwendung der Axt plädiert" hätten, würden das Parlament und die öffentliche Meinung in Österreich „kaum mehr tun als über die,Opfer' zu klagen, die das Land durch die Annahme der Kontrolle zu seiner eigenen Rettung zu tragen h a b e ! " Kürzlich habe es eine politische Krise wegen der Beamten gegeben, die höhere Gehälter und Pensionen forderten. D a G e n f sich geweigert habe, solch eine dauernde schwere Belastung des Haushalts gutzuheißen, hätten die Beamten der R e gierung ein „Ultimatum" gestellt, und Druck in der gleichen Richtung sei nicht nur von der sozialistischen Opposition, sondern auch von vielen Abgeordneten der R e gierungsparteien ausgeübt worden. Ihm nachzugeben hätte es ganz „unmöglich gemacht, die Verpflichtungen dem Völkerbund gegenüber zu erfüllen", und das Haushaltsbudget wäre dadurch weit über die Summe von 520,000.000 Goldkronen, die man dem Völkerbund mitgeteilt habe, gestiegen. Doch glücklicherweise bleibe die Regierung hart, und führende Minister erklärten, daß sie zwar die Forderung der Beamten für berechtigt hielten, daß „sie aber nicht die Verantwortung dafür tragen könnten, den gesamten Reformplan zu torpedieren". Andererseits hielt der Gesandte weder Seipel noch irgendein Mitglied seiner R e gierung für „kämpferische Menschen", und politische Manöver seien „so tief im Leben des Landes verwurzelt", daß „man mehr Energie für das Funktionieren der Parteimaschinerien verbrauche als für eine Zusammenarbeit im wahren Interesse des Staates." Was die Zukunft betraf, so glaubte Akers-Douglas, daß wirtschaftliche Schwierigkeiten „Österreichs Kredit zwar etwas erschüttert und das öffentliche V e r trauen beeinflußt" hätten, das aber sei kein Grund zur Verzweiflung: „Man muß zugeben, daß man in kurzer Zeit viel getan hat, und Österreich nimmt eine viel günstigere Position ein, als man das vor zwei Jahren für möglich gehalten hätte." 4 Ende 1924 beantragte die Regierung bei Dr. Zimmerman die Auszahlung einer weiteren Rate der internationalen Anleihe, „um die öffentlichen Ausgaben zu bestreiten und das laufende Defizit zu reduzieren". Zimmerman stimmte nur unter der Bedingung zu, , daß weitere große Einsparungen gemacht und die Beamtenzahlen weiter reduziert würden. Anfang 1925 teite der neue Bundeskanzler Dr. R a m e k dem britischen Gesandten mit, die industrielle Lage sei keineswegs gut. Die Industrie benötige dringend neues Kapital, und er fürchte, London habe „das Vertrauen zu Österreich verloren"; er tue, was er könne, „um die wachsenden Lebenshaltungskosten - eines der schwierigsten Probleme - zu bekämpfen". Eine Woche später fügte Akers-Douglas hinzu: „Eine Welle von törichtem und schädlichem Pessimismus ergießt sich über das Land. Die unverantwortlichen Äußerungen von Verzagtheit, die in einem Teil der österreichischen Presse erscheinen, sind keine Entschuldigung für die alarmierenden Artikel, die in gewissen amerikanischen und englischen Zeitungen veröffentlicht werden. So zum Beispiel in der „New York Times", von der hier eine Äußerung zitiert wird: Österreich stände ,am Rande des Abgrunds', oder ein Artikel der ,Morning Post' mit dem Titel .Austria infelix'." Obgleich Handel und Industrie schwer litten und die Arbeitslosenzahl steige, gebe es auch „einige günstige M o m e n t e " : die Stabilität der Währung, die Rückkehr zum Goldstandard, das Anwachsen der Staatseinnahmen, zum Beispiel aus dem Tabakmonopol. Dr. Zimmermans Bericht für Januar 1925 sei günstiger als der für Dezember 1924. Obgleich das Haushaltsdefizit noch immer groß sei, beruhe es zum Teil auf
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der Finanzierung öffentlicher Arbeiten und zum Teil auf 1924 gebilligten Vorhaben, die größere öffentliche Ausgaben verursachen würden. Es sei ein ermutigendes Zeichen, daß Anleihen mit einer festen Zinsrate für das Publikum attraktiv seien und daß man erheblich spare. Im April beschloß die österreichische Regierung, den Völkerbund zu bitten, eine Untersuchung über den Zustand der Wirtschaft in Mitteleuropa anzustellen, über „die Schwierigkeiten, die der Entwicklung der österreichischen Industrie im Wege stünden, und die Frage, wie man die bestehenden Hindernisse im Handel und Verkehr am besten überwinden könne". 5 Die Hindernisse, die die Nachfolgestaaten dem Handel in den Weg legten, machten allen wirtschaftlichen Fortschritt unmöglich. Das Problem wurde in London durchaus erkannt. Im Mai 1925 erklärte ein Beamter des Foreign Office, dank der Intervention des Völkerbundes habe Österreich „das kritische Stadium seiner finanziellen Schwierigkeiten überwunden", könne aber „keinen Markt für seine Produkte finden", und es sei „umgeben von feindlichen Ländern, die gegen Österreich hohe Zölle, Einfuhrverbote und Transithindernisse errichteten." Es gäbe drei Möglichkeiten. Die erste sei der Anschluß; er wäre „die rationale und, wie ich glaube, schließlich unvermeidliche Lösung, aus ethischen wie aus wirtschaftlichen Gründen". Aber die Tschechoslowakei, Italien und Frankreich würden kämpfen, um ihn zu verhindern, und „Deutschland würde zur Zeit kein ruiniertes Österreich willkommen heißen". Auch die demokratischen Österreicher seien nicht für die Vereinigung mit einem Deutschland, das ihrer Ansicht nach, „unter reaktionärer preußischer Vorherrschaft" stehe, nachdem Hindenburg Präsident der Deutschen Republik geworden sei: „Im Augenblick gehöre die Anschlußidee nicht in den Bereich praktischer Politik". Die zweite Möglichkeit sei eine Donauföderation, oder „die Wiedererrichtung der alten österreichisch-ungarischen Monarchie mit Wien als Zentrum unter einem anderen Namen"; was weder Italien noch die Nachfolgestaaten akzeptieren würden. Die dritte Möglichkeit wäre eine Zollunion der Nachfolgestaaten. Von diesen sei jetzt aber jeder „damit beschäftigt, seine eigenen Industrien zu fördern und zu festigen; einer Änderung dieser Politik würden sie nie zustimmen", und innerhalb einer Zollunion „würde Wien zu seiner alten Rolle zurückkehren" - gegen den Widerstand der Nachfolgestaaten. Was könnte man tun? Die einzige Lösung bestehe „im Abbau der Zollschranken, mit denen die Nachbarn Österreich umgeben haben", und in der „Abschaffung der schikanösen Einfuhr- und Durchfuhrbeschränkungen" durch die Tschechoslowakei, Ungarn, Jugoslawien und Italien. Der österreichische Antrag an den Völkerbund bezwecke, dies zu veranlassen, „Druck auf die Nachfolgestaaten auszuüben, ihre Zollpolitik zu ändern". Großbritannien seinerseits werde nie einem bevorrechteten Arrangement zwischen Österreich und den Nachfolgestaaten zustimmen, von dem es selbst ausgeschlossen wäre, und müsse darauf bestehen, an allen Zollvorteilen beteiligt zu werden. In einem Interview beklagte sich ein hoher Beamter der Handelssektion des Bundeskanzleramtes aufs schärfste über „die Verrücktheit der Schutzzollpolitik in Mitteleuropa, die sich ständig verschlimmere". Polen habe seine Zölle stark erhöht, nun habe Jugoslawien das gleiche getan, und vielleicht werde Deutschland morgen folgen. 85
Alle betroffenen Länder würden schwer leiden, „aber einige könnten es länger aushalten als andere . . . Falls die gegenwärtige Arbeitslosenrate bis zum Winter unverändert bleibe", werde das schwere Folgen haben. 6 Das Drängen der Beamten auf Gehaltserhöhung setzte sich fort und wurde durch die höheren Gehälter der Wiener städtischen Angestellten verschärft. Die Regierung suchte die Agitation zu bremsen, indem sie die Notwendigkeit betonte, „ein neues und ,normales' Budget für den Generalkommissar und den Völkerbund zu verfassen". Die britische Gesandtschaft betonte, daß es schwierig sei, die Ausgaben zu erhöhen, sie seien „an sich zu hoch", während die höheren Beamten „lächerlich unterbezahlt und kaum imstande seien, mit dem Gehalt auszukommen". Im November 1925 fand die Regierung die merkwürdige Lösung, den Beamten 28 Prozent eines Monatsgehaltes vorzuschießen, die aber vor Jahresende zurückgezahlt werden mußten, um den Haushalt für 1925 nicht zu belasten. Am 2. Januar 1926 sollte das Geld wieder ausbezahlt werden. Weitere Gehaltserhöhungen sollten durch „Einsparungen" unbekannter Art kompensiert werden, die aber „kaum realisierbar" seien. Entrüstet schrieb Sir Otto Niemeyer, der Finanzkontrolleur, aus dem britischen Schatzamt: „Es wird also klar, daß, sobald der Völkerbund Österreich als .finanziell stabil' erklärt, die Österreicher das Gegenteil demonstrieren werden . . . Wenn je eine schwache Regierung ihr Bestes getan hat, um das finanzielle Mißtrauen gegen Österreich in dem Augenblick zu verstärken, in dem das Gegenteil besonders wichtig wäre, so ist es die österreichische." E r war der Meinung, die finanzielle Kontrolle müsse fortgesetzt werden, aber das sei „zu diesem Zeitpunkt vermutlich unmöglich". 7 Das erwies sich als richtig. D e r R a t des Völkerbundes erklärte die Kontrolle für beendet, da das Budget ausgeglichen und die Währung stabil und sicher sei. Am 30. Juni 1926 wurde die Tätigkeit des Generalkommissars eingestellt, mit dem Vorbehalt einer W i e d e r a u f n a h m e im Falle einer neuen Krise. 8 Anfang 1925 schrieb ein Korrespondent, die Banken, welche die Krisenjahre überstanden hätten, wären „sicher", besonders die fünf führenden Banken. Doch im Sommer 1926 brach die Centraibank Deutscher Sparkassen gleichzeitig mit einer der Banken, die der Christlichsozialen Partei dienten, zusammen. 9 Der Z u s a m m e n b r u c h wurde ausgelöst durch die Zahlungseinstellung mehrerer örtlicher Banken, die die Centraibank auf Veranlassung der Regierung übernommen hatte. Dies war vor allem die Steirer Bank, die nach Kriegsende auf Veranlassung des Landeshauptmanns Dr. Rintelen gegründet worden war, mit ihm selbst als Präsident auf Lebenszeit. Sie arbeitete zum Nutzen der leitenden Funktionäre der Christlichsozialen Partei in der Steiermark, die von ihr reichlich Kredite erhielten. Als die Inflationskonjunktur zu E n d e ging, konnten sie die Vorschüsse nicht zurückzahlen, und einige von ihnen erlitten an der Börse schwere Verluste. U m einen Skandal zu vermeiden, wurde die Centraibank Deutscher Sparkassen zur Ü b e r n a h m e der Steirer Bank überredet, was sich „ u m so leichter arrangieren ließ, als der Hauptaktionär der Centraibank ein gewisser W u t t e war, ein unternehmungslustiger steirischer F i n a n c i e r , . . . ein enger Verbündeter Rintelens." Abgesehen von dieser Belastung wurden der Centraibank noch zwei weitere Banken angeschlossen, und diese Bürde - „zusammen mit unwahrscheinlich nachlässiger Geschäftsführung und Ausbeutung durch Wutte - machten
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den Zusammenbruch unvermeidlich." Wuttes fragwürdige Praktiken wurden „erleichtert durch spezielle Vergünstigungen, die ihm sein anderer Verbündeter, der Finanzminister Dr. Ahrer gegen den Rat der leitenden Beamten gewährte." Diese und andere anrüchige Einzelheiten wurden im Jahresbericht der Gesandtschaft für 1926 aufgezählt. Auch Ahrer war ein Protégé Rintelens, er mußte zurücktreten und Österreich verlassen, während Rintelen selbst nichts geschah. Im Parlament attackierten die Sozialdemokraten die Regierung scharf und beschuldigten sie der Unehrlichkeit und des Betrugs. Die Regierung sah sich gezwungen, die Sicherheit der Guthaben bei der Centraibank zu garantieren - ein Verlust, der auf über 2,000.000 Pfund geschätzt wurde. 10 Bald darauf brach eine andere Bank, die Postsparkasse, zusammen, und auch ihre leitenden Beamten mußten zurücktreten. Der Präsident der Österreichischen Nationalbank wurde veranlaßt, die Leitung zu übernehmen und fand ein Defizit von ca. 110 Millionen Schilling ( oder über 3,000.000 Pfund) vor. Der Schilling war im Verhältnis 1 zu 10.000 Kronen als neue Währung eingeführt worden. Doch es kam zu keiner Panik, da die Sparkassenguthaben vom Staat garantiert wurden. 11 Der Skandal betraf einige der populärsten und bestrenommierten österreichischen Banken. Trotz dieser Vorfälle blieben die Staatseinnahmen „überraschend hoch". Das Budget für 1927 sah höhere Steuereinnahmen vor, obgleich die Sätze der Einkommenssteuer ermäßigt wurden. Der britische Gesandte meinte: „Die Elastizität der Einnahmen ist einer der denkwürdigsten Züge der finanziellen Geschichte Österreichs seit dem Inkrafttreten der Genfer Abmachungen, da sie trotz der großen Finanzkrise und den wirtschaftlichen Schwierigkeiten . . . und der schweren Arbeitslosigkeit der letzten zwei Jahre angedauert hat." Im November 1926 hörte der neue britische Gesandte, Lord Chilston, vom Finanz-Sachverständigen des Völkerbundes in Wien, Dr. Rost van Tonningen, „daß die Einnahmen so schnell wüchsen, daß das Finanzministerium wieder Reserven ansammle, trotz des Verlustes durch den Bankrott der Centraibank". Doch die Affäre müsse „das ohnehin geringe Prestige des gegenwärtigen Regimes nachteilig beeinflussen" und werde „ernsthafte politische und moralische Folgen haben". 12 Laut einem Memorandum des Handelssekretärs der Gesandtschaft stieg das Staatseinkommen aus Steuern 1926 um 5 Prozent. Während der Ertrag der Einkommens- und Alkoholsteuer zurückging, stiegen die Einnahmen aus den Staatsmonopolen, vor allem der Tabakregie, aufgrund höheren Konsums um fast 15 Prozent. Auch der Ertrag aus der Körperschafts- und Umsatzsteuer und die Zolleinnahmen waren höher als d.er Voranschlag. In der ersten Hälfte des Jahres 1927 waren die Erträge aus Steuern und Monopolen wieder höher als im Voranschlag, trotz zunehmender Arbeitslosigkeit und zahlreicher Bankrotte. Nach Ansicht des Handelssekretärs deutete das an, „daß diese Schwierigkeiten auf speziellen Ursachen beruhen und nicht als Symptome der Lage des Landes zu betrachten sind." Die Regierung werde es sehr schwer haben, „jetzt, da der Generalkommissar nicht mehr hier ist, ein Sparprogramm durchzuführen". Mehrere Ministerien beabsichtigten die Einstellung zusätzlicher Beamter, aber verschiedene Zeitungen würden dies kritisieren und für eine Steuersenkung eintreten, „um die österreichischen Waren im Ausland konkurrenzfähiger zu machen." 13 87
In seinem Resümee über den Wiederaufbau unter der Aufsicht des Völkerbundes-bezeichnete Lord Chilston diesen als „einen bemerkenswerten Erfolg, wenn man in Betracht ziehe, wie die Inflation beendet, der Kredit wiederhergestellt, eine stabile Währung garantiert und dèr Haushalt ausgeglichen wurde". Unbefriedigend seien aber noch immer „das viel zu hohe Budget" und die schlechte Situation der Industrie. Das Parlament habe den Reformplan nicht in toto akzeptiert, und es habe sich bald herausgestellt, daß die Länder und die Stadt Wien nicht dazu veranlaßt werden könnten, ihre Ausgaben zu beschränken. Trotzdem habe die Regierung den größeren Teil der Forderungen des Völkerbundes durchgeführt, „und das Resultat müsse als eine große Leistung angesehen werden". In einem anderen Bericht wurde zugegeben, daß Wien und viele Länder „viel verschwenderischer seien als die streng überwachte Staatsregierung". Die Rechte der Länder würden durch die Verfassung garantiert, und ihre Interessen seien „sehr viel mehr gefestigt als das Interesse am neuen Bundesstaat"; Wien sei mit Recht stolz auf den Erfolg seiner Verwaltung, und die „Popularität der sozialistischen Gemeinderegierung scheint trotz der hohen Steuern fest verankert zu sein". 14 Es gab zweifellos Erfolge, vor allem auf finanziellem Gebiet, aber diese waren mit großen sozialen Opfern erkauft worden. Wie es ein bekannter österreichischer Historiker ausgedrückt hat: „Man fürchtete die Inflation offenbar mehr als die Massenarbeitslosigkeit." 15 Ein anderes negatives Zeichen war der Zusammenbruch führender Banken, denen die Ersparnisse zahlloser kleiner Leute anvertraut waren, und der Eindruck von Korruption und schlechtem Management, den er auf Kosten der regierenden Christlichsozialen Partei hinterließ. Als die Opposition die Praktiken der Postsparkasse und deren enorme Verluste in Börsenspekulationen scharf kritisierte, lehnten der Finanzund der Handelsminister jegliche Verantwortung dafür ab, „da sie von dem, was dort vorging, nichts gewußt hätten", und da es während der Inflation für die Bank „unmöglich gewesen wäre, ihre Ausgaben aus ihrem normalen Geschäftsgang zu bestreiten." 16 Der Forderung der Opposition, daß die Schuldigen zur Verantwortung gezogen oder eine parlamentarische Untersuchungskommission eingesetzt werden sollte, wurde nicht stattgegeben, und weder der eine noch der andere verantwortliche Minister trat zurück. Im Laufe der großen Krise der dreißiger Jahre sollten mehr Banken zusammenbrechen - mit noch katastrophaleren Folgen. Natürlich ereignete sich das gleiche auch in anderen Ländern, aber in Österreich war es Ausdruck einer permanenten Schwäche der finanziellen Basis. Obgleich der Haushalt insgesamt ausgeglichen war, hatten die Eisenbahnen noch immer ein erhebliches Defizit zu verzeichnen. Wie Akers- Douglas 1926 schrieb: „Es ist allgemein bekannt, daß noch immer viel zu viele Leute auf der Bahn beschäftigt werden, und die Axt könnte hier leicht benutzt werd e n " - das wäre aber sehr unpopulär und schwierig auszuführen. 17 In den allgemeinen Wahlen des Jahres 1923 blieb die Christlichsoziale Partei mit 82 von 165 Abgeordneten - stärker als die Sozialdemokraten, die nur auf 68 Abgeordnete kamen. Aber es gelang ihr nicht, die absolute Mehrheit zu gewinnen, und sie mußten eine Koalition mit kleineren Parteien bilden, den Großdeutschen oder dem Landbund, die zusammen 15 Abgeordnete stellten. Seipel blieb zunächst Bun-
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deskanzler. Akers- Douglas beschrieb ihn als „einen Mann von Kultur, Takt und erheblicher Gewandtheit, einen guten Redner, mit dem zusätzlichen Vorteil, daß er weiß, wie man Parteien kontrolliert. Dem Charakter und der Ausbildung nach ein Konservativer, ist er doch kein Reaktionär." Vor allem aber sei Seipel betont antisozialistisch, und - angeblich weil er ein Geistlicher sei - hätten die Sozialdemokraten „gegen ihn ständig opponiert und ihn mit Schmähungen aller Art verfolgt". Ende 1923 berichtete der Gesandte, daß „die Sozialdemokraten entschlossen seien, den unglücklichen Premierminister bis zu seinem Sturz zu schikanieren, wenn sie das erreichen können". Ihre Taktiken hätten intensive Arbeit im Parlament verhindert, aber unlängst hätten Verhandlungen zwischen ihnen und Seipel, über finanzielle und andere Fragen wie die Beamtengehälter, zu einem Waffenstillstand geführt; da dieser jedoch nur kurze Zeit dauern könne, seien in Bälde weitere Konzessionen notwendig. Das System der Gesetzgebung durch ein Arrangement zwischen den Parteien sei ein Charakteristikum der Parlamente und Regierungen der Vorkriegszeit gewesen; es bedeute, „daß man lange und hitzig debattiere und dann hie und da Konzessionen an die Opposition mache, in Fragen, die für sie wichtig, aber nicht notwendigerweise mit dem verhandelten Gesetzesvorschlag in Zusammenhang stehen, was dann der Regierung ermöglicht, diesen sofort durchzubringen." Im genannten Falle hätten die Sozialdemokraten sich bitter über die ungerechte Behandlung ihrer Anhänger durch verschiedene Ministerien beschwert, die bei Einstellungen Nichtsozialisten vorzögen; Seipel habe ihnen diesbezüglich und in anderen Belangen „Genugtuung in Worten, wenn nicht ihn der Tat verschaffen müssen". 18 Derartige Arrangements, die für das österreichische System charakteristisch waren, erlaubten es der Opposition, einen gewissen Einfluß auf die Regierungspolitik auszuüben. Als ein sozialistischer Abgeordneter im Parlament den „Terrorismus" der italienischen Faschisten angriff, erhob Seipel Einspruch gegen diese Einmischung in „die internen Angelegenheiten eines fremden Staates", mit dem Österreich gute Beziehungen unterhalte. Und der Außenminister bemerkte sogar, „daß man in Italien große Fortschritte gemacht habe". Einige Monate darauf, im Juni 1924, wurde Seipel von einem Attentäter schwer verwundet. Obwohl eine Kugel in seine Lunge eingedrungen war, wurde sein Zustand als „zufriedenstellend" erklärt. Da er Diabetiker war, wagten die Ärzte nicht, die Kugel operativ zu entfernen, um sein Leben nicht zu gefährden. Aber er erholte sich und blieb bis zum November Bundeskanzler. Dann trat er zurück, weil sich die Landesregierungen weigerten, sich in Fragen der Staatsausgaben der Autorität der Zentralregierung zu beugen. Die Regierung wollte den Anteil der Länder am Steueraufkommen reduzieren, aber diese verlangten Kompensationen: Wenn Zentral- und Landesbehörden die gleiche Funktion ausübten und - wie es der Völkerbund forderte - die Zahl der Beamten verringert werden mußte, sollten die Landesbehörden Priorität haben und die Zentralregierung nachgeben, was Seipel ablehnte. Die Krise dauerte zwei Wochen, dann wurde Dr. Rudolf Ramek, ein christlichsozialer Politiker aus Salzburg mit nur geringer Regierungserfahrung, der neue Kanzler.19 Ramek blieb fast zwei Jahre lang Bundeskanzler. Er war schwach und eher zu Zugeständnissen bereit als Seipel, der „hinter den Kulissen die Zügel in der Hand 89
behielt". Wie der Korrespondent der Londoner Times privat schrieb, behaupteten die Sozialdemokraten, Ramek sei von Seipel an seine Stelle gesetzt worden, der „in seiner Eitelkeit" hoffe, daß „dieser kleine Landgeistliche aus Salzburg einen schweren Sturz erleben würde, so daß man den allmächtigen Seipel zurückrufen müßte". Doch Ramek erwarb sich das Vertrauen der Westmächte und des Völkerbundes und zog nicht wie Seipel den Haß der Sozialdemokraten auf sich. Bald kursierten in Wien Gerüchte von Intrigen gegen Ramek, die angeblich von Seipel und der christlichsozialen Reichspost ausgingen. Doch Gedye, der Korrespondent der Times, glaubte, wenn Seipel Ramek loswerden wolle, sei „eine Intrige ganz unnötig. Ein Befehl würde genügen."20 Im Oktober 1926 trat Ramek zurück. Sein Nachfolger wurde, wie die Gerüchte vorhergesagt hatten, Seipel. Er war noch immer die dominierende Gestalt in der österreichischen Politik oder, wie es in einem Bericht der britischen Gesandtschaft hieß, „der geschickteste und verantwortungsvollste Staatsmann".21 Von Zeit zu Zeit spekulierten die diplomatischen Berichte, ob die Sozialdemokraten in der Opposition verharren oder in eine Koalitionsregierung eintreten würden. Ende 1925 vermutete Akers-Douglas, „daß die Sozialisten, sobald die Kontrolle aufgehoben wird, ihre Haltung aufgeben und möglicherweise aufhören würden, die Verantwortung zu scheuen, entweder selbst die Regierung zu bilden oder in eine Koalition einzutreten". Sie hätten erkannt, daß „es für sie unmöglich wäre, die Zügel der Macht zu ergreifen, so lange Österreich vom guten Willen des Völkerbundes, der Kontrolle Dr. Zimmermans und der Notwendigkeit von Auslandkrediten abhänge." Doch gab der Gesandte gleichzeitig zu, daß sie sich „in der Opposition in einer besseren Position befänden als wenn sie an der Macht gewesen wären", und daß sie „die meisten ihrer Forderungen in bemerkenswerter Weise durchgedrückt" hätten. Was er nicht erwähnte war, daß die Partei nur 68 von 165 Abgeordneten stellte, und die Bildung einer Koalition Kompromißbereitschaft auf beiden Seiten voraussetzte. Da der Christlichsozialen Partei zur absoluten Mehrheit nur ein Sitz fehlte, war sie in der stärkeren Position. Im Oktober 1926 berichtete der Gesandte, die Opposition bereite sich auf die Wahlen vor und dränge daher nach wie vor auf „eingehende Untersuchung der Bankskandale"; im Gegensatz dazu betone sie „die Triumphe der sozialdemokratischen Verwaltung Wiens".22 In den Wahlen von 1927 gewannen die Sozialdemokraten drei Sitze, aber dadurch änderte sich die Lage kaum, denn die bürgerlichen Parteien besaßen noch immer eine starke Mehrheit. Schon 1923 wies die Gesandtschaft auf den Erfolg von Wiens „klugem Finanzfachmann Dr Breitner" hin, der die Gemeindeeinnahmen durch Einführung einer Besuchersteuer und höhere Gas- und Elektrizitätstarife erhöht habe. „Die finanzielle Verwaltung Wiens würde viel besser geleitet als die des Staates", hieß es, und der Bürgermeister, Dr. Seitz, sei „ein fähiger Verwaltungsmann und glühender Sozialist". 1926 konnte die Stadt stolfc verkünden, daß ihr Versprechen, in fünf Jahren 25.000 Wohnungen zu bauen, in drei Jahren erfüllt worden sei, außerdem seien für die Gemeinde „unzählige Schulen, Kliniken, Kinderhorte, Gärten, Schwimmbäder, Spielfelder usw." gebaut worden. Im Haushalt für 1926 habe Wien 5,517,000 Pfund für Investitionen bereitgestellt. „Der Stolz auf die Energie und Tüchtigkeit der so90
zialdemokratischen Verwaltung scheint berechtigt zu sein, zweifellos haben sie mit ihrer Arbeit Erfolg gehabt", schrieb der Gesandte." In den Gemeindewahlen von 1923 konnten die Sozialdemokraten ihren Stimmenanteil auf 44 Prozent erhöhen, sie gewannen 78 Sitze im Stadtparlament, während ihre christlichsozialen Rivalen nur auf 42 Mandate kamen, und ein Sitz an eine jüdische Partei fiel. Im Parlament andererseits waren die Sozialdemokraten aufs Reden beschränkt. In der Debatte über das faschistische Regime in Italien unterschied Otto Bauer zwischen dem Terror in Rußland und dem in Italien: Gegen Rußland hätten die Großmächte eine bewaffnete Intervention organisiert, aber „die gleichen Mächte lebten in engster Freundschaft mit dem italienischen terroristischen Regime" und seien mit den terroristischen Regierungen Rumäniens und Jugoslawiens verbündet. Es sei das Recht jedes Abgeordneten, erklärte er, die internen Bedingungen in fremden Ländern zu diskutieren. 24 Die britischen Berichte über diese und ähnliche Debatten enthielten keinen Kommentar eines Diplomaten, doch es schien klar zu sein, daß ihre Sympathien mehr auf Seiten der Regierung Seipels als bei den Sozialdemokraten lagen. Die Großdeutschen und andere rechtsgerichtete Gruppen wurden kaum erwähnt, die Ausbreitung des Antisemitismus und die Tätigkeit der äußersten Rechten aber wie zuvor von Zeit zu Zeit vermerkt. Im Februar 1923 besuchte General Ludendorff Österreich, angeblich auf Einladung eines örtlichen Bauernbundes. Er hielt in Klagenfurt eine Rede und plädierte - nach dem französischen Einmarsch ins Ruhrgebiet - für „nationale Einheit"; Sozialisten, die die Kundgebung zu stören versuchten, seien mißhandelt worden. Seine Reise von Kärnten nach Wien wurde „von den Sozialisten beobachtet, und außerhalb Wiens mußte die Polizei den Bahnhof gegen eine Menschenmenge verteidigen, die den General aus dem Zug holen wollte." Daraufhin ersuchten ihn die Behörden, das Land zu verlassen, „da seine Gegenwart unerwünscht" und das Volk gegen ihn sei. Es wurde sogar berichtet, die Menge habe gerufen: „Nieder mit dem Mörder von Millionen!" und „An den Galgen mit ihm!" Der Hitlerputsch in München vom November löste in Österreich kein Echo aus. Die österreichischen Nationalsozialisten seien „zahlenmäßig schwach", aber machten „rasche Fortschritte" - in Wien gebe es etwa 2,000 Mitglieder und viele Sympathisanten, und es herrsche „strenge Disziplin", hieß es. Nach dem Ausschluß der Gemäßigten unter Dr. Riehl, der für Beteiligung an Parlamentswahlen eintrat, wurde berichtet, daß die Partei von einem Fünferausschuß geleitet werde, über den die deutschen Nationalsozialisten strenge Aufsicht ausübten. Diese „bestünden auf erhöhter Aktivität, keinerlei Wahlbeteiligung und Teilnahme aller Mitglieder an den Kampfverbänden". Die Partei plane ferner Massendemonstrationen gegen die Verträge von St. Germain und Versailles und den französischen Einmarsch ins Ruhrgebiet, für die sie mit der Unterstützung durch viele andere Rechtsorganisationen rechnen könne. 25 Vor allem die Ruhrbesetzung ergab ein attraktives Thema für die pro-deutsche nationalistische Propaganda, die sich vor allem gegen Frankreich richtete. Eine andere günstige Gelegenheit bot 1925 die Veranstaltung eines internationalen zionistischen Kongresses in Wien. Laut Bericht der Gesandtschaft schlugen die „Hakenkreuzler" Protestplakate gegen den Kongreß an und forderten von der Re91
gierung ein Verbot der Veranstaltung. Diese jedoch lehnte das ab, und die Polizei „ergriff ganz besondere Schutzmaßnahmen". Für den Tag der Eröffnung kündigten die Rechtsorganisationen eine Massendemonstration an, die von der Regierung verboten wurde. Doch selbst die christlichsoziale Reichspost forderte die „christliche" Bevölkerung Wiens zu Demonstrationen auf, und es kam zu schweren Unruhen. Gedye, der Korrespondent der Times, beschrieb die Ausschreitungen im Zentrum Wiens: „Die Polizei steht in der Mitte und versucht, „die Massen zu trennen und am Rande des umstrittenen Gebietes zu halten." Von Zeit zu Zeit würden die Demonstranten durch Attacken der berittenen Polizei zerstreut, aber in den Seitenstraßen formierten sie sich immer wieder mit dem Geschrei „Juden raus". „Um 10 Uhr 20 wurden im Unruhegebiet regelmäßige Angriffe auf Autos unternommen, und man versuchte, die Straßenbahnen anzuhalten und sie nach Juden zu durchsuchen. Die vom Polizeipräsidenten angekündigte .Strenge' scheint völlig zu fehlen." Unter den Demonstranten seien viele Studenten, „aber ein großer Teil bestehe allem Anschein nach aus Menschen, die eine Chance zum Plündern suchen". Gedye selbst mußte Gewalt anwenden, „um nicht von jungen, mit Stöcken bewaffneten Leuten aus dem Taxi gezogen zu werden", und alle, die den Ring entlang fuhren, „wären angehalten, herausgezogen und malträtiert worden." Über hundert Leute wurden verhaftet und viele verwundet, darunter 21 Polizisten. Die Gesandtschaft schrieb die Unruhen später„monarchistischen und alldeutschen Kreisen" zu, welche die Studenten und andere gegen die Juden aufgehetzt hätten, um die Regierung zu schwächen und den Weg für den Anschluß vorzubereiten.26 Doch ist es sehr unwahrscheinlich, daß sich Monarchisten beteiligten, und sie wären nicht für den Anschluß gewesen. Eine Zusammenarbeit der Nationalsozialisten und Großdeutschen mit den Anhängern der Reichspost und der regierenden Partei war sehr ungewöhnlich, aber der Antisemitismus verband sie alle. Für antisemitische Unruhen ließ sich in Wien immer eine Menschenmenge finden.27 Im November 1924 waren die Nationalsozialisten auch führend an einem Streik der Eisenbahner beteiligt. Die drei beteiligten Gewerkschaften - Freie, Christliche und Deutschnationale - forderten höhere Löhne und eine Teuerungszulage. In den Verhandlungen stellte die Deutsche Verkehrsgewerkschaft, die von Nationalsozialisten geleitet wurde, die weitreichendsten Forderungen und erwies sich als „besonders intransigent", während die Freien Gewerkschaften gemäßigter waren. Der Streik dauerte fünf Tage; während der Zeit wurde die Post durch Postautos zur Grenze gebracht, und die Gewerkschaften erlaubten Lebensmitteltransporte mit der Bahn, so daß es zu keiner Knappheit kam. Auch die Kohlenvorräte genügten für die industrielle Produktion. Der Streik wurde durch einen Kompromiß beendet. Die Löhne wurden um 6 Prozent angehoben, nicht um 9 Prozent, wie es die radikalsten Streikenden verlangten, und auch die geforderte Teuerungszulage wurde reduziert. Die Bahnverwaltung mußte auf die Entlassung überflüssiger Angestellter verzichten. In den Augen des britischen Gesandten war dieses Ergebnis „wenig befriedigend für den Staat", aber die Verwaltung habe wenigstens bewiesen, „daß sie durch Streikdrohung nicht gezwungen werden könne, alle Forderungen der Gewerkschaften zu bewilligen". Ein Streik der Post- und Telefonarbeiter im Jahre 1923 dauerte nur drei Tage und wurde gleichfalls durch Kompromiß beendet.28 92
Die völkischen Gewerkschaften hatten einen gewissen Einfluß auf die Angestellten und Arbeiter der öffentlichen Betriebe, aber fast gar keinen auf die industriellen Arbeiter; sie waren eine österreichische Besonderheit, ohne Parallele in Deutschland. Ein Streik der Metallarbeiter im Jahre 1924 dauerte zehn Tage und wurde der Aktivität „radikaler Elemente" unter kommunistischem Einfluß zugeschrieben. Er brach gegen den Wunsch der Gewerkschaftsführer aus, wurde dann aber von diesen als offiziell erklärt, „als sie sahen, daß sie ihn nicht verhindern könnten". Am Schluß bewilligten die Unternehmer eine Lohnerhöhung um 10 Prozent, und um 20 Prozent für die am schlechtesten bezahlten Arbeiter, aber sie war nicht für alle Unternehmer bindend. Die Radikalen waren gegen die Annahme dieser Bedingungen, und es kam zu Zusammenstößen mit gemäßigteren Arbeitern, die für die Gewerkschaftsleitung eintraten. Die Unternehmer forderten ursprünglich Einschränkungen des Achtstundentages und anderer Rechte, die sich die Arbeiter 1918 errungen hatten, blieben damit aber erfolglos. „Das Ergebnis bedeutete einen beträchtlichen Sieg für die Arbeiter", meinte die britische Gesandtschaft. 29 Viel wichtiger in den Augen der Alliierten waren die Entwaffnung Österreichs und die Aktivitäten der halbmilitärischen Verbände. Im Juli 1926 präsentierten sie die Forderung, daß diese alle militärische Tätigkeit einstellen müßten. Als die österreichischen Vertreter in Paris damit konfrontiert wurden, äußerten sie, daß nur der Republikanische Schutzbund „Schwierigkeiten machen würde", nicht aber die Heimwehren und andere bürgerliche Verbände inklusive der Nationalsozialisten. Die britische Gesandtschaft bezweifelte, daß die Regierung stark genug sei, die Wehrverbände zu kontrollieren. Es gäbe andere, dringendere Fragen der Innenpolitik, die auf Lösung warteten, und Regierung und Opposition würden kaum miteinander reden. Der Republikanische Schutzbund wurde 1923 aus den älteren Arbeiterwehren und Ordnergruppen gebildet und wuchs rasch zu einer mächtigen Organisation an, die zum Teil bewaffnet war. Als der britische Gesandte mit Bundeskanzler Ramek über das Thema verhandelte, meinte dieser: „Er selbst würde es vorziehen, wenn die Wehrverbände überhaupt nicht existierten; aber er sehe keine Möglichkeit, wie er durch Gesetz Organisationen auflösen oder beschränken könnte, die laut der Verfassung ganz legal seien." Am Anfang ihrer Tätigkeit, meinte er, hätten sie Schutz gegen den Bolschewismus oder, im Fall der Sozialisten, gegen eine Restauration der Habsburger bezweckt. Viele Mitglieder seien frühere Soldaten, und diese Tatsache - nicht eine neuerliche militärische Ausbildung - sei vermutlich verantwortlich „für die ausgezeichnete Haltung und Disziplin" des Schutzbundes bei seinem Marsch durch Wien im Juli 1926. Absicht dieses Marsches sei bestimmt gewesen, die Regierung und die Bevölkerung durch die Stärke der Organisation zu beeinflussen. Was die anderen betreffe, so sei die Heimwehr „in langsamer Auflösung begriffen", und der Frontkämpferverband sowie die Hakenkreuzler hätten keine große Bedeutung. Sie hätten keine Beziehungen zu amtlichen Stellen und veranstalteten keine militärischen Schulungen. Die letzte Behauptung entsprach nicht der Wahrheit, da alle Wehrverbände auch militärische Übungen abhielten. 1926 berichtete Lord Chilston, jede Maßnahme gegen die Wehrverbände würde von den Sozialdemokraten angesehen werden „als ein Versuch der Regierung, ihre 93
Gegner zu schwächen und als eine Maßnahme, die direkt gegen die Partei gerichtet sei", und nicht als Entgegenkommen gegenüber einer Forderung der Alliierten. Der Kanzler befürchtete, daß ein solcher Schritt den sozialistischen Einfluß stärken und von der Öffentlichkeit mißverstanden werden, würde.30 Doch der Druck der Alliierten auf die österreichische Regierung genügte, um diese zu einem Versprechen zu veranlassen, daß jede militärische Ausbildung durch gesetzliche und verwaltungsmäßige Maßnahmen verhindert werde und die Verbände jegliche militärische Tätigkeit beenden würden. Ein entsprechendes Gesetz wurde im Dezember 1926 erlassen und drei Monate später durch eine Verordnung ergänzt. Das „Liquidationsorgan" sollte die Durchführung überwachen und zwar nicht die Wehrverbände selbst, sondern deren „militärische Seite" unterdrücken (was das auch immer bedeuten mochte). 31 Für die österreichische Regierung ergab sich damit eine willkommene Gelegenheit, um die illegalen Waffendepots des Republikanischen Schutzbundes zu beschlagnahmen, die auf jeden Fall leichter aufzufinden waren als die der rechten Organisationen. Im März 1927 wurde in „einer unerwartet prompten Aktion" das Waffenlager im Wiener Arsenal beschlagnahmt und das „Liquidationsorgan" davon unterrichtet. Dieses Lager wurde vom Schutzbund als sein Eigentum angesehen, obgleich es offensichtlich aus älterer Zeit stammte. Die Polizei beschloß zu handeln, brach in der Nacht in das Arsenal ein und ersuchte um militärischen Schutz, als sie sich durch sozialistische Arbeiter bedroht fühlte. Lord Chilston war der Meinung, die ganze Aktion „sei veranlaßt worden zum Teil durch den Wunsch, die Sozialdemokraten dieser Waffen zu berauben, zum Teil um die öffentliche Meinung vor den Wahlen mit der Gefahr des sozialdemokratischen Wehrverbandes zu beeindrucken". Natürlich erregte der Vorfall Wut bei den Sozialdemokraten, die im Parlament gegen den „Einbruch" protestierten. 32 Eine ähnliche Aktion gegen die Heimwehren oder eine andere bürgerliche Organisation fand nicht statt. Als das „Liquidationsorgan" auch Maßnahmen gegen die Heimwehren forderte, verschwieg die Regierung dies der Öffentlichkeit. Damit wurde bei den Sozialdemokraten der Eindruck erweckt, daß „die alliierten Mächte hauptsächlich von Feindschaft gegen den Sozialismus motiviert seien" und der Republikanische Schutzbund „das besondere Objekt ihrer Abneigung wäre". Doch nach Ansicht des britischen Gesandten war es nur natürlich, daß die Sozialdemokraten diese Verbände „als eine Bedrohung für das sozialistische Wien ansahen, das ihnen nicht gewachsen sein würde, ebenso wie sich die Antisozialisten über den Schutzbund beschwerten." Er war auch der Ansicht, es sei „praktisch unmöglich", die Auflösung der Verbände zu erreichen, „es sei denn mit der Drohung ernsthafter Sanktionen", und das wäre „kaum im Interesse der Regierung Seiner Majestät". Notwendig seien vor allem „tolerantere Beziehungen zwischen den zwei großen Lagern", denn eine „Politik der Versöhnung müsse im Interesse eines unabhängigen und blühenden Österreichs liegen. Sollten das sozialistische Wien und die katholischen Länder nicht lernen, einander zumindest zu tolerieren, wenn nicht zu respektieren, kann kaum Hoffnung auf Fortschritt im Lande bestehen." Er trat daher für „ein Minimum an Einmischung in die inneren Angelegenheiten" Österreichs ein. 33 Doch im Rückblick scheint es fraglich, ob das der beste Kurs war. Und warum
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war ein Druck der Alliierten auf Auflösung der Wehrverbände eine „praktische Unmöglichkeit"? Nach den Bestimmungen des Friedensvertrages, den Österreich unterschrieben hatte, konnten jederzeit „ernsthafte Sanktionen" verhängt werden. Das gleiche galt für Deutschland, wo die Wehrverbände genauso florierten. Laut Bericht der britischen Gesandtschaft war der Frontkämpferverband, der in den Diskussionen ebenfalls erwähnt wurde, keine bewaffnete Formation. Sozialisten, Kommunisten oder Juden konnten ihm nicht beitreten, und er hatte außer dem veröffentlichten Programm auch ein geheimgehaltenes. Er bezweckte die Einheit aller bürgerlichen Kräfte im Kampf gegen „die rote jüdische Internationale" und hielt die Juden für Vorkämpfer des Bolschewismus. Er wollte den Widerstand gegen alle Versuche, die bürgerliche Regierung zu stürzen, und gegen jeden Putschversuch organisieren, gleichgültig, ob diese von links oder von rechts ausgingen. Sein Programm sei dem der Heimwehr ähnlich, hieß es, nur sei es noch betonter antisemitisch.34 Aber es gab auch eine starke antisemitische Komponente in den Verlautbarungen der Heimwehren, und in der Steiermark trugen deren Mitglieder das Hakenkreuz und hielten sich für einen Teil der deutschen völkischen Bewegung. Das „Liquidationsorgan" versuchte nach wie vor, die Herstellung von Kriegsmaterial und den Handel damit zu verhindern - eine Aufgabe, der es in der Vergangenheit mit nur geringem Erfolg nachgekommen war. Ein ernster Zwischenfall in der Hirtenberger Waffenfabrik im Juli 1924 machte erneut auf diese Aufgabe aufmerksam. Als alliierte Offiziere die Fabrik besichtigen wollten, wozu sie aufgrund der Verträge berechtigt waren, wurde ihnen der Zutritt verweigert, obgleich sie ihren Besuch 24 Stunden vorher angekündigt hatten. Die österreichische Regierung lehnte es ab, den Zutritt zu erzwingen, und entschuldigte dies mit „der Erregtheit der in der Fabrik beschäftigten Arbeiter und dem Wunsch, Zwischenfälle zu vermeiden". Der wirkliche Grund war vermutlich die illegale Produktion von Waffen. Das War Office besprach den Zwischenfall mit dem Foreign Office. Beide waren bemüht, „eine Möglichkeit zu finden, um Druck auf die österreichische Regierung auszuüben, der diese veranlasse, die illegale Herstellung von Waffen und den Handel mit diesen abzustellen". Der Hirtenberger Zwischenfall sollte als Beweismaterial dienen. Aber illegale Waffenproduktion wurde nicht nur in Hirtenberg betrieben, sondern auch in Enzesfeld und Steyr. Inspektionen von zwei Armeedepots durch alliierte Offiziere hatten dort „große Mengen von überschüssigem Kriegsmaterial" festgestellt. Die Offiziere fanden auch „zwei geheime Depots, deren Existenz die österreichischen Behörden dem Liqidationsorgan verschwiegen hatten", mit großen Mengen an Kriegsmaterial. Wenn nach solchen Besuchen Waffen beschlagnahmt wurden, „betrug die Anzahl, die dem Liquidationsorgan zur Vernichtung übergeben wurde, weniger als die Anzahl, die laut den Berichten beschlagnahmt worden war." Ein vom Interallierten Militärkomitee in Versailles zu diesem Thema verfaßtes Memorandum bestand aus 29 Schreibmaschinenseiten.35 Im April 1924 gab es laut dem War Office noch immer drei unerledigte Fragen. Die erste betraf verborgene Waffenvorräte. Aber man glaubte, „daß die Menge solchen Materials, die zur Zeit in Österreich versteckt ist, relativ unbedeutend" sei und vermutlich so veraltet, daß die Waffen von geringem militärischen Wert wären. Die zweite Frage war die der Produktion und Ausfuhr von Waffen. Nach Ansicht des War 95
Office war es aber „in der gegenwärtigen Lage für das Liquidationsorgan unmöglich, diesen illegalen Handel zu unterdrücken". Die letzte Frage betraf die Waffenproduktion „in einer einzigen Staatsfabrik" gemäß Art. 132 des Vertrages von St. Germain, den die österreichische Regierung nicht erfüllt habe. Daher erklärte das War Office, die Tätigkeit des „Liquidationsorgans" könne nicht beendet werden, ehe nicht diese eine Fabrik bestehe und arbeite, was innerhalb von sechs Monaten geschehen könne. Doch zwei Monate später wurde Österreich gestattet, „die einzelnen Zweige der einzigen Staatsfabrik an verschiedenen Orten zu etablieren". Als Begründung dafür wurde seine finanzielle Lage und „der gute Glauben, mit dem es die militärischen Klauseln des Vertrages von St. Germain erfüllt hat", angegeben.36 Das war eindeutig ein Rückzug, bedeutete aber auch eine hohe Anerkennung seitens des War Office, die sich von dessen Einstellung zu Deutschland, wo die Verletzungen der militärischen Bestimmungen des Vertrages von Versailles sehr viel ernsterer Natur waren, stark unterschied. Das wichtigste Problem vom britischen Gesichtspunkt aus war das zweite auf der Liste des War Office, das ganz Mitteleuropa betraf - die Herstellung und Ausfuhr von Kriegsmaterial. Im August 1924 notierte Miles Lampson, der Leiter der mitteleuropäischen Abteilung des Foreign Office: „Der Kern der Sache ist, daß Österreich wieder zum Zentrum des Waffenhandels in Mitteleuropa wird, was nicht nur gegen seine Vertragsverpflichtungen ist, sondern auch gegen die Interessen der ganzen Menschheit. Wir sollten alles tun, um es daran zu hindern." Frankreich und Italien seien „nicht unschuldig in dieser Frage". Die Alliierten hatten sogar Kenntnis von einem Brief des österreichischen Heeresministers Vaugoin an die Minister für Handel und Verkehr, in dem Ausfuhrlizenzen für Waffentransporte erteilt und die Waffen als Stahlwaren oder Maschinen deklariert wurden. Dieser Handel könne die österreichische Regierung jederzeit „in eine äußerst schwierige Lage" bringen: Ehe in Zukunft Aufträge aus dem Ausland akzeptiert würden, hätten die betreffenden Fabriken das Heeresministerium zu informieren, das dann entscheide, ob der Vertrag unterschrieben und eine Ausfuhrlizenz erteilt werden könne. Von Hirtenberg seien 64.000 Kisten Munition nach Polen und Rumänien geschickt worden, und das sei nur ein kleiner Teil der dortigen Produktion.37 Angesichts des passiven Widerstandes der österreichischen Behörden und der negativen Ergebnisse bei Inspektionen in Steyr und anderen Fabriken schlug der britische Offizier des „Liquidationsorgans" vor, die Gewährung „weiterer Anleihen... abhängig zu machen von der Haltung der Regierung in der Kontrollfrage". Das sei das einzige Argument, das bei den Österreichern Erfolg haben würde.3* Auch im Foreign Office erkannte man, daß „eine Maßnahme dieser Art - mit Ausnahme von Gewalt - der einzige Hebel sei, den die Alliierten Österreich gegenüber in Bewegung setzen können." Aber Prime Minister Ramsay MacDonald hatte Bedenken, da „die finanzielle Stabilität der mitteleuropäischen Staaten die Voraussetzung für die Entwicklung und Konsolidierung dieses Teils von Europa" sei. Die vorgeschlagene Maßnahme könne alles schon Erreichte Wieder zerstören, vor allem in Österreich, dessen finanzielle Gesundung besonders der britischen Regierung zu verdanken sei. Daher hätten die Alliierten „kein wirksames Mittel", um „einen drastischen Druck auf die österreichische Regierung auszuüben". 96
Schließlich schrieb MacDonald einen persönlichen Brief an Seipel, in dem er diesen auf die Verletzungen des Friedensvertrages aufmerksam machte, die von seiner Regierung „stillschweigend geduldet oder sogar begünstigt" würden, und auf die schädlichen Auswirkungen hinwies. Wie der österreichische Außenminister Dr. Grünberger zugab, verursachte dieser Brief in Wien „große Angst". Er erklärte mehrfach, das einzig wichtige für Österreich sei „der gute Wille der Regierung Seiner Majestät". Er sei entschlossen, allen illegalen Waffenhandel zu unterbinden, „falls es einen solchen gäbe"! Die von ihm angeführte Erklärung war, daß Waffen und Munition auf dem Weg von Italien nach Rußland oder von der Tschechoslowakei nach Jugoslawien Österreich oft in versiegelten Wagen und mit falschen Dokumenten versehen passiert hätten. Die Österreicher könnten diese Sendungen nicht anhalten, weil jede solche Handlung „ihre mächtigen Nachbarn verärgern könnte".39 Aber das entschuldigte die Herstellung von Kriegsmaterial in Österreich überhaupt nicht; und dabei blieb es. Das österreichische Heer blieb zunächst 30.000 Mann stark. Es gab oft Kritik, vor allem seitens des Hochkommissars des Völkerbundes, weil es nicht reduziert würde. 1923 behauptete man, die Regierung sei durchaus dafür, aber die Sozialdemokraten seien dagegen, und Seipel wolle einen Zusammenstoß in dieser Frage vermeiden. Dr. Zimmerman meinte, er habe „Schwierigkeiten, sich an die Mentalität der Sozialisten zu gewöhnen, die in Österreich den Staat und die Armee verteidigen" und gegen die Zusammenlegung des Heeresministeriums mit dem Innenministerium seien. Auch auf britischer Seite wurde erkannt, daß das Heeresministerium „sehr bemüht sei, die Wehrmacht zu entpolitisieren, und den ,roten' Einfluß in der Tat rasch ausmerze". Umso mehr aber würden die Großdeutschen und Nationalsozialisten nun versuchen, das Heer in ihrem Sinn zu beeinflussen, und das durchaus mit Erfolg.40 Anfang 1924 erwähnte Akers-Douglas „den ständigen Wettstreit zwischen den feindlichen Parteien, den Christlichsozialen und den Sozialdemokraten, um die Kontrolle über die Armee zu gewinnen". Was dieser noch fehle, sei „Patriotismus und Pflichtbewußtsein". Das bisher Erreichte wäre vor allem General Körner zu verdanken, und es sei zu bedauern, daß dieser kürzlich über „die reaktionären Tendenzen unter den Offizieren" und das Weiterbestehen von Differenzen zwischen Offizieren und Mannschaften geklagt habe. Gegen Jahresende schrieb der Gesandte, daß der Heeresminister Vaugoin mit Erfolg „die ,roten' Elemente" entferne und „für Rekruten antisozialistischer Couleur" sorge. Trotz heftiger Angriffe habe er viel getan, um Disziplin, Tüchtigkeit und Prestige der Armee zu erhöhen. Obgleich deren Stärke auf etwa 20.000 Mann reduziert worden sei, werde sie von „fast allen Klassen für einen teuren Luxus" gehalten, und die bürgerlichen Kreise hätten immer noch Zweifel bezüglich ihrer Zuverlässigkeit; faktisch würden nur die Sozialisten das Heer verteidigen und es für ein wichtiges Aktivum halten.41 Im Jahresbericht der britischen Gesandtschaft für 1926 wurde festgestellt, daß sich „die Disziplin des Bundesheeres sehr verbessert" habe. Die Soldaten seien eifriger, tüchtiger und mehr an ihren Pflichten interessiert als zuvor; die jüngeren Offiziere zeigten hervorragende Disziplin und wären den Offizieren der früheren Jahre 97
„hoch überlegen". Bei einer Inspektion der Militärakademie in Enns habe sich gezeigt, daß die Disziplin der Kadetten „von außerordentlich hoher Qualität" sei.42 Das war offensichtlich vom britischen Militârattaché geschrieben und zeigte, wie stark er von den Neuerungen beeindruckt war. Aber es scheint fraglich, inwieweit dies den systematischen Entlassungen aus dem Heer zu verdanken war, die Vaugoin durchführte und die öfters erwähnt wurden. Einen völlig anderen Kommentar lieferte der Wiener Korrespondent der Times, selbst ein ehemaliger Offizier, im Jahre 1925: „Selbst die wachsamste Kontrollkommission könnte kaum eine Drohung für den europäischen Frieden in einer Armee entdecken, die so demokratisch ist, daß mitten in der Militärkapelle ein winziges Pony ein Wägelchen zieht, auf dem vor dem Trommler in aller Gemütlichkeit - die große Trommel ruht."
Diese höchste Spielart der Wiener Gemütlichkeit zeigte seiner Ansicht nach eine Militärabteilung, als sie den Ring entlang marschierte.43 Die Frage war nur, inwieweit auch andere Einheiten vom gleichen Geist beseelt waren. In den Jahren 1923-1927 kehrten stabilere Zustände und einiger Wohlstand nach Österreich zurück, wenigstens an der Oberfläche. Aber aller Fortschritt, der nach den Jahren des Weltkrieges und dessen Folgen erzielt worden war, sollte durch die Katastrophe des Juli 1927 zunichte gemacht werden. Sie öffnete die alten Wunden und bewies aufs neue, wie brüchig die politischen Zustände in Österreich waren.
Anmerkungen 1 2
3 4 5 6 7 8 9 10
11 12 13 14 15
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G. E. R. Gedye, in The Times, 18. August 1925. The Friends' Council for International Service, Minutes 1921-25, 14. Januar 1925; Minutes of the Vienna Sub-Conïmiltee of the Friends' Relief Council for 1923-27, 28. September 1926: Society of Friends Library. Akcrs-Douglas an Chamberlain, 2. Januar und 30. Dezember 1925; Memorandum von C. Howard Smith, 7. Mai 1925: FO 371, Bd. 10660, Fo. 3, Bd. 10661, Fo. 5, Bd. 11211, Fo. 5. Akers-Douglas an MacDonald, 28. Juni 1924: FO 371, Bd. 9652, Fo. 79-82. Akcrs-Douglas an Chamberlain, 2. und 27. Januar, 5. Februar und 15. April 1925: FO 371, Bd. 10660, Fo. 3,125,142, 216. Memorandum von Howard Smith, 7. Mai, und Akcrs-Douglas an Chamberlain, 3. Juli 1925: FO 371, Bd. 10661, Fo. 5ff., 62ff. Akcrs-Douglas an MacDonald, 25. April 1924, und Nicmcycr an Lampson (Foreign Office), 18. November 1925: FO 371, Bd. 9651, Fo. 137f„ Bd. 10661, Fo. 196f. Lord Chilston an Chamberlain, 19. Juni 1926: FO 371, Bd. 11211, Fo. 11. Memorandum von Dr. Tugendhat, s. d., und A. W. A. Lccpcr an Chamberlain, 7. Juli 1926: FO 120, Bd. 1009 und 1013. „Austria. Annual Report, 1926"; Leepcr an Chamberlain, 2. August, und Chilston an Chamberlain, 11. November 1926: FO 371, Bd. 12078, Fo. 139, FO 120, Bd. 1013; Erich Zöllner, Geschichte Österreichs, Wien 1961, S. 505. Chilston an Chamberlain, 11. November 1926: FO 120, Bd. 1013. Das gleichc, 3. und 18. November 1926: FO 371, Bd. 11211, Fo. 44f., Bd. 11213, Fo. 173f. Memorandum von O. S. Phillpotls, 18. August 1927: FO 371, Bd. 12077, Fo. 28-33. Chilston an Chamberlain, 9. Juni 1926, und „Austria, Annual Report, 1926": FO 371, Bd. 11213, Fo. 56, Bd. 12078, Fo. 131. Zöllner, Geschichte Österreichs, S. 556.
16 Chilston an Chamberlain, 17. November 1926: FO 120, Bd. 1013. 17 Akers-Douglas an Chamberlain, 3. November 1926: FO 371, Bd. 11211, Fo. 45. 18 „Austria. Annual Report, 1922", S. 5; Akers-Douglas an Curzon, 6. und 22. Dezember 1923: FO 371, Bd. 5843, Fo. 45, Bd. 8551, Fo. 102, Bd. 9645, Fo. 167IÏ. 19 Akers-Douglas an Curzon, 14. Februar und 6. Juni 1924, und an Chamberlain, 19. März 1925; „Austria. Annual Report, 1924", S. 9: FO 371, Bd. 9645, Fo. 195, 205, Bd. 10662, Fo. 152. 20 Gedye an Harold Williams (The Times), 19. August 1925: Imperial War Museum, GERG 15. 21 Leeper an Chamberlain, 9. August 1927: FO 371, Bd. 12074, Fo. 194. 22 Akers-Douglas an Chamberlain, 30. Dezember 1925 und 25. Oktober 1926: FO 371, Bd. 11211, Fo. 4, 42. 23 Akers-Douglas an Cur/on, 6. Dezember 19Z3, und an Chamberlain, 25. Oktober 1926: FO 371, Bd. 8543, Fo. 47, Bd. 11211, Fo. 42. 24 Keeling an Curzon, 26. Oktober 1923, und Akers-Douglas an Curzon, 14. Februar 1924: FO 371, Bd. 8553, Fo. 145, Bd. 9645, Fo. 196. 25 „Austria. Annual Report, 1923", S. 15; Agentenberichte vom 26. April und 21. September 1923: FO 371, Bd. 9653, Fo. 355, Fo 120, Bd. 1000. 26 Akers-Douglas an Chamberlain, 28. August 1925, und „Austria. Annual Report, 1925": FO 371, Bd. 10660, Fo. 72, Bd. 11215, Fo. 99; The Times, 18.-19. August 1925; Gedye, Fallen Bastions, London 1939, S. 17. 27 Für Einzelheiten siehe F. L. Carsten, Faschismus in Osterreich, München 1977, S. 90f. 28 Akers-Douglas an Curzon, 14. Dezember 1923, und an Foreign Office, 13. November 1924: FO 371, Bd. 8553, Fo. 164, Bd. 9646, Fo. 231f. 29 E. O. Coole an MacDonald, 20. September 1924: FO 120, Bd. 946. 30 Phillpotts an Chilston, Paris, 16. Juli, und Chilston an Chamberlain, 20. Juli 1926: FO 371, Bd. 11212, Fo. 23ff., 19ff. 31 Sargent an Leeper, 29. Juli, und Foreign Office Notiz, 4. August 1927: FO 371, Bd. 12074, Fo. 165f., 174. 32 Chilston an Chamberlain, 8. März 1927: FO 371, Bd. 12074, Fo. 106f. 33 Leeper an Chamberlain, 9. August 1927: ebenda, Fò. 192ff. Vgl. Frank Vanry, Der Zaungast, Materialien zur Arbeiterbewegung, Nr. 27, Wien 1983, S. 126ff. 34 Lindley an Curzon, 11. Januar 1921: FO 371, Bd. 5770, Fo. 78f. 35 Foreign Office Memorandum „Breaches of the Military Clauses of the Treaty of St. Germain" vom August 1924; Oberst R. G. Finlayson (War Office) an British Section, Allied Military Committee of Versailles, 1. August 1924: FO 120, Bd. 1005, WO 155, Bd. 22. 36 Β. Β. White (War Office) an Foreign Office, 24. April, und H. J. Creedy (War Office) an Foreign Office, 28. Juni 1924: FO 371, Bd. 9648, Fo. 16,128. 37 Notiz von Miles Lampson, 29. August, und Memorandum der British Section, Allied Military Committee of Versailles, 29. August 1924: FO 371, Bd. 9649, Fo. 137, WO 155, Bd. 22. 38 Oberstleutnant R. L. Sherbrooke an Director of Military Intelligence, 30. Mai 1924: WO 155, Bd. 22. 39 Lampson an War Office, 13. August, MacDonald an Seipel, 12. September, und Keeling an MacDonald, 26. September 1924: WO 155, Bd. 22, FO 120, Bd. 1005. 40 Akers-Douglas an Curzon, 22. Februar, Keeling an Curzon, 29. März, und Agentenbericht, 26. April 1923: FO 371, Bd. 8539, Bd. 8540, FO 120, Bd. 1000. 41 Akers-Douglas an MacDonald, 31. Januar, und an Chamberlain, 9. Dezember 1924: FO 120, Bd. 939, FO 371, Bd. 9646, Fo. 269f. 42 „Austria. Annual Report, 1926": FO 371, Bd. 12078, Fo. 142. 43 Gedye, „The New Vienna", The Times, 18. August 1925.
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IV. Wiener Unruhen und ihre Folgen 1927-1929
Einige Jahre lang schien es, als ob die Wehrverbände zufrieden wären mit ihren Demonstrationen und ihren uniformierten Aufmärschen am Wochenende, die meist friedlich verliefen. Doch von 1926 an entwickelte sich im Burgenland ein harter Wettkampf zwischen dem Republikanischen Schutzbund und dem Frontkämpferverband. Beide Verbände versuchten, dort zu werben und neue Ortsgruppen zu gründen, und ihre Demonstrationen führten bald zu Zusammenstößen. Am 30. Januar 1927 planten sie Demonstrationen in Schattendorf, die von den Behörden trotz der örtlich gespannten Lage nicht verboten wurden. Beide Seiten bekamen Verstärkung von außen, und Schutzbündler blockierten den Schattendorfer Bahnhof, um die Ankunft von weiteren Frontkämpfern zu verhindern. Schließlich willigten sie ein, vom Bahnhof ins Dorf zu marschieren, wo eine sozialdemokratische Versammlung stattfand. Doch plötzlich fielen aus einer Wirtschaft Schüsse, die einen älteren Mann und ein Kind, die am Schluß des Zuges marschierten, tödlich verletzten und mehrere andere" Demonstranten verwundeten. Vergeltung wurde nicht geübt. Drei Männer, die die tödlichen Schüsse abgegeben hatten, wurden verhaftet und im Juli in Wien vor Gericht gestellt. Die Anklage lautete nicht auf Mord, sondern auf verbrecherische Gewaltanwendung und Notwehrüberschreitung. Trotzdem wurden die drei Angeklagten von den Geschworenen „zum allgemeinen Erstaunen und zur Entrüstung, besonders der sozialistischen Anhänger", freigesprochen. Wie der britische Gesandte ferner mitteilte, „sogar die bürgerlichen Zeitungen haben die Ungerechtigkeit des Urteils scharf kritisiert"; es sei ein „schauderhaftes Urteil". 1 Möglicherweise beruhte der Freispruch auf politischen Sympathien mit den Angeklagten, denn es bestand kein Zweifel, daß diese auf eine völlig friedliche und legale Demonstration geschossen hatten und daher das Recht auf Selbstverteidigung nicht in Anspruch nehmen konnten. Als sich die Nachricht von diesem Freispruch am 15. Juli in den Wiener Fabriken verbreitete, stellten die Arbeiter spontan die Arbeit ein und marschierten ins Stadtinnere, um vor dem Parlament gegen das Urteil zu protestieren. Die Elektrizitätswerke, die Straßenbahnen und Lokalbahnen standen still. Die Polizei versuchte, die öffentlichen Gebäude gegen die erregten Massen zu schützen und Übergriffe zu verhindern. Es kam rasch zu Zusammenstößen, die Polizei attackierte und verwundete einige Menschen durch Säbelhiebe; die Menge antwortete mit Pflastersteinen und anderen Wurfgeschossen. „Wie die Sozialisten selbst zugeben, befanden sich unter den Massen besonders .disziplinlose' Elemente, das heißt Kommunisten und radikale .Agitatoren, die wahrscheinlich nur zu gern bereit waren, die Polizei anzugreifen." „Gegen Mittag", so berichtete die Gesandtschaft weiter, „stürmte die Menge eine Polizeistation und zündete diese an . . . danach wurde das Zentralbüro des Wiener Hausbesitzervereins und das Gebäude der .Wiener Neuesten Nachrichten' attackiert." Immer mehr Menschen strömten aus den Vororten ins Zentrum, 101
„und da die Polizei das Parlamentsgebäude mit Erfolg abriegelte, wurden die Massen zum Justizpalast abgedrängt." Dieser wurde von einer starken Polizeiabteilung bewacht, die angeblich auf die Menge schoß. Daraufhin wurde das Gebäude gestürmt und in Brand gesteckt, Urkunden und Aktenbände wurden auf die Straße geworfen und verbrannt. Die Feuerwehr konnte das brennende Gebäude nicht erreichen. Eintreffende Verstärkungen von Polizei und Militär eröffneten mehrfach Feuer auf die Menge, teilweise mit Maschinengewehren. „Die Haltung der Massen war an verschiedenen Stellen so bedrohlich, daß sie vermutlich zum Schießen berechtigt waren", kommentierte der britische Gesandte Allen Leeper. „Eine ganz andere Frage ist es, ob sie gleichermaßen dazu berechtigt waren, die Straßen auch später mit Gewehrfeuer zu bestreichen. Aber ihr Eingreifen . . . rettete Wien zweifellos vor der Ausdehnung spontaner Unruhen zu einer schrecklichen Orgie von Blutvergießen und Plünderung." Andererseits seien „viele neutrale Beobachter der Ansicht, daß die Polizei die Massen zu früh angriff, was scharf kritisiert werden müsse." Die Bilanz waren 80 getötete Menschen und über 400 Verwundete oder Verletzte, darunter etwa 100 Polizisten.2 Selbst im Rückblick ist es schwierig, die Verantwortung festzustellen. Der Bericht der Gesandtschaft versuchte sie gleichmäßig „dem schauderhaften Freispruch, . . . der die Empörung der Massen erregte", und den „aufreizenden Reden" der Sozialisten zuzuschreiben. Und eine Reihe von Augenzeugen beobachtete, daß die Polizei auch auf fliehende Demonstranten schoß und im allgemeinen mit sehr grofiér Härte vorging.3 Was als eine völlig spontane Demonstration begann, wurde rasch zu einem Aufruhr. Der Korrespondent der Times stellte mit Recht fest, daß „die sozialdemokratischen Führer die Kontrolle über die Massen verloren hätten. Als einige von ihnen die Massen zu beruhigen versuchten, wurden sie fast mißhandelt." Abteilungen des Schutzbundes erschienen zu spät an den Unruheherden und besetzten dann strategische Punkte in der Stadt. Im Gegensatz zu früher waren sie diesmal nicht imstande, „die Massen zu kontrollieren und unverantwortliche Elemente zurückzuhalten". Die Times schrieb dies der angeblich von niemand bezweifelten Tatsache zu, „daß es eine kommunistische Verschwörung gegeben habe und die sowjetische Gesandtschaft daran beteiligt war"; ein Kommunist namens Fiala, „der angeblich die ersten Schüsse abgegeben hat", sei verhaftet worden.4 Beweise für eine solche Verschwörung sind weder damals noch später erbracht worden. Der österreichische Gesandte in London, Franckenstein, gab eine vernünftigere Erklärung: Der Ausbruch sei „aufgrund der seit längerem existierenden Spannungen zwischen den sozialdemokratischen Verteidigungsverbänden und ihren bürgerlichen Opponenten, den nationalen Frontkämpfern," erfolgt und „keineswegs das Resultat einer kommunistischen Verschwörung." Doch bezeichnenderweise fand die „Verschwörungs-Theorie" Glauben in Budapest, und der ungarische Außenminister Lajos Walkó informierte den britischen Gesandten, daß „kommunistische, von Moskau bezahlte Agitatoren für die Gewalttaten verantwortlich seien... Das Schicksal Wiens liege jetzt in den Händen von Dr. Seitz und den Extremisten." Zwar würden die Sozialdemokraten von vornherein alle Verantwortung für die Exzesse ablehnen und dies den Kommunisten zuschreiben, „aber 102
ihre Unfähigkeit, diese zu kontrollieren, beweise ihre Hilflosigkeit gegenüber dem Druck ihres linken Flügels", und „die Wurzel des Übels werde weiterbestehen", auch wenn man über die Krise hinwegkomme. Der britische Gesandte in Budapest fügte dem hinzu, daß die Ungarn im allgemeinen dazu neigten, „den unheilvollen Charakter aller Wiener Unruhen zu übertreiben . . . und deren Ursachen und Anfänge ohne Hehl den wohlgeplanten Intrigen einer kommunistischen Minderheit innerhalb der sozialdemokratischen Partei zuzuschreiben". Was an Sympathie für Wien und die Wiener früher existiert haben möge, sei dadurch vernichtet worden, daß es kommunistischen Flüchtlingen aus Ungarn „erlaubt worden sei, sich ungestraft in Wien zu sammeln und von dort gegen das gegenwärtige Regime in Ungarn zu schüren"; Unruhen müßten „früher oder später in einem Land ausbrechen, dessen Führer so lange mit dem Feuer gespielt hätten." 5 In London waren die Reaktionen gemäßigter, aber die Sympathien des Foreign Office lagen eindeutig auf Seiten der Regierung Seipel und deren Politik der Härte. Orme Sargent sprach gegenüber dem österreichischen Gesandten seine „Enttäuschung" über Verhandlungen der Regierung mit der Opposition aus. „Das schiene anzudeuten, daß sich die Regierung nicht stark genug fühle, die Ordnung ohne Hilfe von außen wieder herzustellen, wofür man wahrscheinlich schwer würde zahlen müssen." Das Anwachsen der Heimwehren im Gefolge der Unruhen wurde gleichfalls „der Schwäche der Zentralregierung angesichts sozialistischer und gewerkschaftlicher Sabotage" zugeschrieben; es zeige „starke Ähnlichkeit mit dem Aufstieg faschistischer Organisationen in Italien", und beide hätten „die gleiche Ursache". 6 Dieser Vergleich war sinnvoll, die Erklärung aber unberechtigt und typisch für die damalige Haltung des Foreign Office. Allen Leeper andererseits schrieb aus Wien: „Anerkennung gebührt den sozialistischen Führern (Seitz, Deutsch und anderen) für ihre Versuche, trotz großem persönlichen Risiko den Mob zurückzuhalten, als er ganz außer Kontrolle geriet, ebenso den Bemühungen des Schutzbundes, die Polizei (deren Zahl anfänglich jämmerlich klein war) zu retten und der Feuerwehr zu helfen . . . Um Wiens willen muß man hoffen, daß das ganze von der ausländischen Presse nicht als ein organisierter revolutionärer Ausbruch dargestellt werden wird (was es bestimmt nicht war), und daß seine Bedeutung nicht dermaßen übertrieben wird, daß ausländische Besucher vom Besuch einer Stadt abgehalten werden, die sie finanziell und moralisch bitter nötig hat."
Er fügte hinzu, die anwesenden Mitglieder des Schutzbundes hätten „sich anscheinend gut benommen und sich bemüht, die Polizei und Unschuldige zu beschützen"; einige seien aber für das Niederbrennen des Büros der verhaßten Reichspost verantwortlich.7 Am 20. Juli versuchte Leeper, das politische Fazit der Unruhen und ihrer Unterdrückung zu ziehen: Die Regierung habe sich fähig erwiesen, „eine feste Haltung zu zeigen und ihren Willen mit starker Hand durchzusetzen. Die sozialdemokratischen Führer andererseits . . . seien überrascht worden und wären nicht imstande gewesen, die Menschenmassen zurückzuhalten, von denen die meisten wohl zu ihren eigenen Anhängern zählten." Am gleichen Tag stellte die Times fest, daß die Massen ab dem Augenblick, als sie sich vom Ring zurückzogen, nicht mehr gemeinsame Sache mit den Kommunisten gemacht hätten und wieder zum „gefügigen Werkzeug" in der 103
Hand ihrer Führer geworden seien. Das habe „den Sieg Dr. Seipels garantiert", weil die sozialistischen Führer die Krise nicht verlängern wollten. „Es ist schwer, daraus nicht den Schliiß zu ziehen, daß das Motiv, das sie beseelte, nicht Angst war - Angst um die sozialistischen Einrichtungen Wiens, um das sozialistische Monopol städtischer Posten, um ihren Ruf in internationalen sozialistischen Kreisen". Die sozialistischen Führer hätten „früher als von vielen Leuten erwartet" zum Rückzug geblasen. Der Sieg der Regierung wurde jedenfalls in London willkommen geheißen, und nicht nur bei der Times. Deren Leitartikel behauptete sogar, die Bolschewisten hätten „schwer daran gearbeitet, ihre Lehre unter den Wienern zu verbreiten. Die Ereignisse von Freitag beweisen, daß sie nicht umsonst gearbeitet haben" und die Sozialisten „mehr oder weniger den Weg für die Kommunisten vorbereitet hätten".8 Wie und warum sie das getan haben sollten, wurde nicht erklärt, und die Parteinahme war eindeutig. Am Abend des 15. Juli erklärten die Freien Gewerkschaften aus Protest gegen das Urteil und die blutigen Zusammenstöße einen Generalstreik, der aber nach drei Tagen zusammenbrach. Dazu trugen auch die Heimwehren bei, die seit Jahren auf diese Gelegenheit gewartet hatten und eine starke Gegenbewegung auslösten. Wie die Gesandtschaft berichtete, verzichteten die Sozialdemokraten auf ihre Forderung nach Einberufung des Parlaments und Einsetzung eines Ausschußes zur Untersuchung des Verhaltens der Polizei. „In dieser Hinsicht hat die Regierung somit einen kompletten Sieg errungen, und die unmittelbare Krise ist zuende." Seipel lehnte es ab, das Parlament einzuberufen, bis die Arbeit nicht überall wieder aufgenommen würde. Am 17. Juli erschienen wieder die Straßenbahnen und Taxis auf der Straße; am Montag wurden die Geschäfte wieder geöffnet, der Streik der Eisenbahner und Postbeamten wurde am 18. Juli um Mitternacht abgebrochen.' Wie der Manchester Guardian berichtete, „war der Streik nie total, denn Lebensmitteltransporte, Gas- und Wasserzufuhr sowie alle Lieferungen an Krankenhäuser erlitten keine Unterbrechung." Und außerhalb Wiens wurde die Streiklosung nur teilweise befolgt. Der ausgebrannte Justizpalast wurde rasch zu einer Attraktion für die Neugierigen und „war von großen Massen umlagert... Nur die Grundmauern stehen noch. Alle Fensterrahmen sind verbrannt, und nur die Eisenverstrebungen der rechten Kuppel ragen in den blauen Sommerhimmel. Die Türen sind verbrannt, das künstlerische Schmiedeeisen im Renaissancestil ist verbogen und zerstört. Im Inneren gibt es nur geschwärzte und zerbrochene Mauern und Haufen von Gerümpel und Schutt. . . Überreste der wertvollen Urkunden liegen überall verstreut."10
Die Times hielt die Ausrufung des Generalstreiks für „unvermeidlich": „Das passierte in Österreich auch schon früher, und es gibt fast eine Tradition seiner Ausrufung beim Ausbruch einer Krise, in der die Gewerkschaften ihre Macht zu zeigen haben." Da die Sozialisten danach trachteten, „Kontrolle über den Staat zu gewinnen,... sei es nur natürlich, daß sie mit allen Mitteln versucht haben, den Verlust an Prestige wettzumachen, den sie durch die schrecklichen Szenen am Ring erlitten haben müssen."11 Außerhalb Wiens fand der 7ï/nes-Korrespondent die ländlichen Gegenden „in ihrer üblichen Ruhe" und ohne Anzeichen von Störungen vor, mit Ausnahme von 104
kleineren Unruhen in Wiener Neustadt. Doch am folgenden Tage berichtete er, in Tirol und Vorarlberg hätten die Heimwehren „die Eisenbahner und Postbeamten zur Arbeit gezwungen. Der gleiche Prozeß habe in der Steiermark begonnen... In Tirol und Vorarlberg hätten die Heimwehren mobilisiert und würden unter dem Kommando früherer Offiziere in Pflicht genommen, als ob sie zum Militärdienst einberufen worden wären." In der Steiermark seien während des Streiks „manche Städte von nationalen, andere von sozialistischen bewaffneten Gruppen besetzt worden", und jede dieser Gruppen habe, „sobald sie die Oberhand gewann, die Mitglieder der anderen Seite verhaftet". Der rasche Zusammenbruch des Streiks sei der Aktion der Heimwehren zuzuschreiben, „die in Kärnten, Tirol und Vorarlberg die Bahnhöfe besetzten und das Personal zwangen, am Sonntagabend den Dienst wiederaufzunehmen... Die Gegenbewegung, die auch die Steiermark und das südliche Burgenland erfaßte, war so stark, daß Wien vor dem Risiko einer Belagerung stand - wie in einer ähnlichen Krise bald nach Kriegsende, als die Bauern Wien die Zufuhren abschnitten."12 Der 77mes-Korrespondent war gut informiert über die Ereignisse in den ländlichen Gebieten, wo die Sozialdemokraten schwach waren und das Echo auf den Streikaufruf sehr unterschiedlich war. Ein wichtiges Ergebnis der Unruhen war der rasche Aufschwung der Heimwehren, die seit Jahren gegen das ,rote' Wien agitiert hatten und nun ihre schlimmsten Befürchtungen bestätigt sahen. Im September berichtete Lord Chilston aus Wien: „In den Ländern scheint das Gefühl gegen die Sozialdemokraten intensiver zu werden und sich immer mehr zugunsten der örtlichen Heimatwehren auszuwirken. Am vergangenen Sonntag fanden Demonstrationen dieser antisozialistischen Formationen an verschiedenen Orten statt", in Niederösterreich, in der Steiermark sowohl wie in Tirol.13 Bald wurden solche Aufmärsche zum regulären Wochenendereignis, und sie riefen Gegendemonstrationen der Sozialdemokraten hervor. Am 20. Juli fand eine feierliche Begräbniszeremonie zu Ehren der während der Unruhen Umgekommenen statt. „Die hölzernen Särge, in silberner Farbe, von der sozialistischen Partei zur Verfügung gestellt, standen im Halbkreis auf einer Plattform, die schwarz ausstaffiert und mit roten Fahnen geschmückt war." Nach den Reden des Bürgermeisters und verschiedener Parteiführer, „die den Mut der Toten priesen", wurden die Särge auf den Friedhof getragen und Seite an Seite beigesetzt.14 Als das Parlament schließlich die Ereignisse debattierte, begann (laut Bericht der Gesandtschaft) Otto Bauer im Namen seiner Partei mit drei Zugeständnissen: „Vielleicht seien sie dafür zu tadeln, daß sie keine Demonstration organisiert hätten, denn dann wäre diese in voller Ordnung verlaufen... Er könne nur sagen, daß sie keine Demonstration gewünscht hätten, denn das Schattendorfer Urteil könne nicht gegen die Regierung ausgespielt werden, und sie hätten nicht den Wunsch, das Geschworenensystem abzuschaffen." Ein weiteres Versäumnis sei gewesen, daß zur Aufrechterhaltung der Ordnung nicht genug Mitglieder des Schutzbundes an Ort und Stelle waren, und daß diese nicht schnell genug zusammengerufen wurden. Drittens sei man bei der Organisation einer Gemeindeschutzwache zu langsam vorgegangen. Der sozialdemokratische Mißtrauensantrag gegen die Regierung wurde abgelehnt, und ebenso der Antrag auf Einsetzung eines parlamentarischen Untersuchungsausschusses. 105
Einige Wochen später sprach Bauer sogar von der „Katastrophe" des 15. Juli, die „mit einem Schlag die gesamte Atmosphäre sozialdemokratischen Fortschritts verändert und das Selbstvertrauen der Bourgeoisie ungeheuer gestärkt habe - der erste Rückschlag seit langer Zeit". Ein paar tausend Demonstranten hätten die „demokratischen politischen Waffen" niedergelegt und so „die Sache der Sozialdemokratie zurückgeworfen".15 Das Resultat der Unruhen, meinte der britische Gesandte, wäre, „daß es weniger wahrscheinlich geworden sei, daß zu Krisenzeiten ein Generalstreik erklärt würde"; in den Vororten und den Ländern könne man die ersten Anzeichen der Bildung einer Nothilfe für den Fall eines neuen Streiks beobachten. In der Tat, als der Versuch im Februar 1934 wiederholt wurde, schlug er völlig fehl. Ende Juli schrieb der Handelssekretär der Gesandtschaft über die wirtschaftlichen Folgen: „Glücklicherweise sind diese anscheinend nicht von sehr ernstem Charakter, obwohl in einem Land, das so stark vom internationalen Handel und der internationalen Finanz abhängig ist wie Österreich, alles schädlich ist, was das Vertrauen des Auslandes erschüttert". Der Zinsfuß sei um ein Prozent gestiegen, und die populärsten Ferienorte seien so überfüllt, vor allem mit Deutschen, daß man in vielen keine Zimmer bekommen könne.16 Doch die politischen Folgen der Ereignisse von 1927 sollten viel länger dauern und waren sehr viel ernster. Der Eindruck, den der 7ï/nes-Korrespondent nach den Unruhen in Wien hatte, war „weniger der einer verstümmelten Nation, die mit unüberwindbaren Hindernissen ringe, sondern der einer Nation, die . . . hoffnungslos gespalten sei". Der Klassenkampf sei vorherrschend, die Zeitungen zeichneten sich aus durch „wahllose und aufreizende Beschimpfungen in einem Umfang, wie er in Mitteleuropa seinesgleichen suche", und die Gerichte seien an diesem Kampf beteiligt.17 Der Manchester Guardian andererseits brachte die Ereignisse in Zusammenhang mit dem Verbot des Anschlusses und dem durch ausländische Intervention unter den Österreichern hervorgerufenen Widerstand. „Es kann kein Zweifel bestehen, daß die Anschlußidee einer tief verwurzelten Sehnsucht des deutschen Nationalbewußtseins entspricht, und sich ihr entgegenzustellen, ist gleichbedeutend mit einer rückwärts gerichteten Auffassung von Europa". Aber Frankreich blockiere den Anschluß, die Nachfolgestaaten die Donauföderation, und Italien blockiere beides. „Österreich muß sich des Rechts beraubt fühlen zu leben, so gut es könne, und das ist kaum sehr großartig. Und es wird nicht das letzte Mal sein, daß tiefwurzelnde Unzufriedenheit in Form von blutigen Zusammenstößen zwischen zwei Klassen von Österreichern aufflammt", und jede von ihnen klage die andere einer „machtlosen Unterordnung unter den Willen des Auslandes" an.18 Die Wiener Arbeiter waren sicher bitter enttäuscht über die hohen Lebenshaltungskosten, ihre politische Ohnmacht, bürokratische Verwaltungen und die Stärke des politischen Katholizismus. Aber es scheint sehr unwahrscheinlich, daß diese Gefühle durch „den Willen des Auslandes" oder die Blockierung des Anschlusses verursacht waren. Von 1927 an enthielten die Berichte aus Wien viele Informationen über die Heimwehren und deren Verbindungen zu anderen rechten Organisationen in Österreich und Deutschland. Im September berichtete Lord Chilston von einem militärisch gegliederten Marsch von 3.000 Mann, der von verschiedenen Punkten des Inntals 106
ausgegangen und mit Abteilungen der Frontkämpfer und Gruppen aus Bayern und Württemberg abgehalten worden sei. Die Teilnehmer seien nicht nur vom Heimwehrführer Dr. Steidle gemustert worden, sondern auch vom Tiroler Landeshauptmann Dr. Stumpf, der eine Ansprache an sie gehalten habe. Zu einer Zeit, in der Österreich Frieden und Ordnung nötig habe, müßten derartige Reden „eine aufreizende Wirkung auf tausende von einseitig eingestellten Gemütern ausüben". Im November meinte der Gesandte, daß die provinziellen Wehrverbände sich zu einigen versuchten und von einem Marsch auf Wien redeten, falls man dort einen Arbeiterrat oder eine „rote Diktatur" errichte; auf eine „solche Herausforderung" würden sie „mit den radikalsten Methoden" antworten.19 Im April 1928 verfaßte der militärische Nachrichtendienst eine geheime Denkschrift über die österreichischen Wehrverbände.· Die Stärke der Heimwehren wurde auf insgesamt 107.000 Mann geschätzt, 40.000 davon in Tirol und 15.000 in Wien. Unterstützt würden die Heimwehren von der österreichischen Industrie. Ihre Mitglieder seien besser ausgebildet als die des Republikanischen Schutzbundes, der etwa 100.000 Mitglieder habe, ein Drittel davon in Wien. Beide Verbände besäßen zahlreiche Gewehre und einige Maschinengewehre, aber die Bauern seien den Arbeitern militärisch überlegen, denn deren Waffen seien in schlechtem Zustand, und sie hätten nicht genug Munition. Ein zuverlässiger Bericht über die Salzburger Heimwehr beschreibe diese als „militärisch gut organisiert", in „enger Zusammenarbeit mit dem Heer und der Gendarmerie", mit mobilen Abteilungen zur Unterstützung der regulären Kräfte und einer „Technischen Nothilfe" versehen, die im Notfall die Eisenbahnen und andere öffentliche Einrichtungen weiterführen und wichtige Plätze bewachen sollte. Der Bericht entschied zwischen den Einheiten, die unter gewissen Bedingungen bereit wären, „die gegenwärtige Regierung zu unterstützen", und „den extremen oder faschistischen Elementen", wie es vor allem die Frontkämpfer seien. Diese bezweifelten die Stabilität der Regierung und bereiteten sich angeblich auf die Machtergreifung vor, falls eine Niederlage der Regierung zur Bildung einer Koalition führen sollte - mit anderen Worten: falls die Sozialdemokraten wieder in die Regierung einträten.20 Doch es ist fraglich, ob der Frontkämpferverband eine betontere Tendenz zum Faschismus hatte als die Heimwehren, denn zu dieser Zeit gerieten diese immer mehr unter italienischen und ungarischen Einfluß und begannen sich auf die Machtergreifung vorzubereiten. Letzteres versuchten sie durch „Provokation" der Sozialdemokraten zu erreichen, vorzugsweise durch Massenaufmärsche in „roten" Hochburgen und die dabei erwarteten blutigen Zusammenstöße mit ihren Feinden. Im September 1928 berichtete Sir Eric Phipps aus Wien, es sei den Heimwehren erlaubt worden, am 7. Oktober in Wiener Neustadt einen großen Aufmarsch abzuhalten. Ihr Führer Dr. Steidle habe diese „rote" Stadt ausgewählt, weil er „überzeugt sei, daß in dieser sozialistischen Hochburg eine unerwartet große Zahl seiner Anhänger erscheinen würde. . . . Die Wahl von Wiener Neustadt für diesen Zweck wird von den Sozialisten als eine direkte Provokation empfunden." Sie antworteten mit der Organisierung einer Gegendemonstration am gleichen Ort und Tag. Laut Ansicht des Gesandten wünsche Steidle „kein Blutvergiessen, aber . . . er sei überzeugt, es wäre jetzt notwendig, den Sozialisten auf unverkennbare Art zu demonstrieren, daß die Regierung entschlossen 107
sei, mit starker Hand zu regieren, trotz der unangenehmen Lage des Parlaments mitten im roten Wien." Der Wiener Polizeipräsident Schober habe versucht, die Heimwehrführer zu einer Verschiebung des Aufmarsches um eine Woche zu überreden, aber sie hätten abgelehnt. „In der Tat, ermutigt, wie behauptet wird, durch die Wiener Hochfinanz, nähmen sie einen immer kompromißloseren Ton an, denn sie fühlten sich der Unterstützung durch Polizei und Armee sicher."21 Der 7ïmes-Korrespondent beschrieb die Szene in Wiener Neustadt zwei Tage vor den Demonstrationen als „einem Militärlager ähnlich". Truppen aus Kärnten und Tirol, alle Einheiten aus Wien und Umgebung, Artillerie und Maschinengewehrkompanien seien dort zusammengezogen. Ihre Gesamtstärke betrage etwa 6.000 Mann, dazu kämen etwa 3.000 Polizisten aus allen Teilen Österreichs. Die Kommunisten würden die Arbeiter auffordern, ihre Waffen mitzubringen.22 Am Sonntag, den 7. Oktober, schrieb Phipps: „Die Heimwehr, beschützt durch starke militärische Einheiten (zu Pferde, zu Fuß und mit Kanonen) und Gendarmerie, . . . zog früh am Morgen durch die stillen Straßen der sozialistischen Hochburg ähnlich wie die Armee des Herzogs von Alba durch die niederländischen Provinzen." Der Marsch dauerte nur etwa eine Stunde und war vor 11 Uhr zu Ende, nicht wie geplant erst um 12 Uhr. Der Manchester Guardian berichtete, nur 13.000 Mann hätten teilgenommen, nicht 18.000, wie man verkündet habe. „Als die Heimwehr die bürgerlichen Stadtteile erreichte, wurde sie mit begeisterten Hochrufen empfangen, und Blumen wurden auf sie herabgeworfen." Nach dem Abmarsch der Heimwehren, fuhr Phipps fort, „wurden die militärischen Einheiten abgezogen, und die Stadt wurde den Schutzbundführern überlassen. Die Fenster waren mit Schaulustigen besetzt, rote Fahnen wehten und etwa 35.000 reguläre und irreguläre sozialistische Demonstranten wurden mit rauschendem Beifall begrüßt." Am folgenden Tag informierte Seipel den britischen Gesandten, er habe „die Tatsache benutzt, daß die gestrigen Ereignisse friedlich verlaufen seien, und für den 11. Oktober eine Besprechung der Parteiführer anberaumt, um die Frage der Entwaffnung von Heimwehr und sozialistischen Organisationen zu diskutieren". Phipps antwortete, seine Regierung würde das „mit großer Genugtuung" zur Kenntnis nehmen. Er sei ganz besonders erfreut, das zu hören, weil er befürchte, daß solche Alarmnachrichten „einen äußerst ungünstigen Eindruck auf britische finanzielle Kreise machen würden und eine Wiederholung diese von einer Beteiligung an Anleihen für Österreich abhalten könnte." Nach London jedoch schrieb er: „Jetzt offiziellen Druck auf die Regierung auszuüben, könnte diese schwächen, ohne einen nützlichen Zweck zu erfüllen." Er habe aus guter Quelle gehört, daß die Heimwehrführer erklärten, „nichts würde sie zur Entwaffnung veranlassen". Die Sozialisten wiederum seien dazu nur bereit, wenn die Gegenseite es ebenfalls täte. Phipps war dafür, finanziellen Druck auf die Kreise auszuüben, „die Kapital brauchen und die die Heimwehr ermutigen zu marschieren und zu protestieren", denn sie werde zweifellos von Bankiers und Industriellen finanziert. Einige Wochen darauf hörte er von der Bildung eines Komitees zur Unterstützung der Heimwehr, dem „zahlreiche österreichische Finanzleute und Industrielle" angehörten.23 Laut dem Wiener Times-Korrespondenten waren die Heimwehren besser ge108
schult und weiter verbreitet als ihre Rivalen. Was ihre Zusammensetzung und Ideologie betraf, so war die Wurzel dieser Organisation seiner Meinung nach „der Haß der konservativen und tief religiösen ländlichen Gegenden auf die gottlosen und räuberischen Roten. Doch der Antrieb, der sie zu einer disziplinierten bewaffneten Macht gemacht hat, kommt von der entmachteten offiziellen Klasse, die die Hauptstütze des alten Reiches war, aber in der neuen Republik keinen Platz hat. Die Stellen und Ersparnisse dieser Klasse sind verschwunden, und ihre Söhne - ohne Möglichkeit, Karriere zu machen - wenden sich reaktionären Verschwörungen zu."
Vor einigen Wochen hätten die Heimwehren eine Gebirgsgegend an der Grenze zwischen Salzburg und Tirol abgeriegelt und dort militärische Manöver abgehalten, wobei sogar eine eigene Artillerie eingesetzt worden sei. Der Korrespondent befürchtete, daß solche Aktivitäten und die Abenteurernatur mancher ihrer Führer diese veranlassen könnte, „selbst ohne Provokation die sozialistische Herrschaft in Wien mit Waffengewalt zu beseitigen". Steidle habe von einem Marsch auf Wien gesprochen, falls die Sozialisten ihre Obstruktionstaktik im Parlament fortsetzten.24 Im November berichtete Phipps über Zusammenstöße zwischen Heimwehr und Schutzbund in Innsbruck, am zehnten Jahrestag der Gründung der Republik: Die Ordnung sei erst wiederhergestellt worden, als zwei bewaffnete Heimwehrbataillone die Stadt besetzten, was zu starken Reibereien mit dem lokalen Polizeidirektor geführt habe.25 In Tirol, wo die Landesregierung die Heimwehren förderte, nahmen diese mehr und mehr den Charakter einer Hilfspolizei an. Das britische Interesse konzentrierte sich nach wie vor auf die Frage der Entwaffnung der Wehrverbände und die diesbezügliche Haltung der Regierung. Es war völlig klar, daß nur sehr starker Druck von außen etwas erreichen würde, und ab Oktober 1928 kamen Phipps Zweifel an Seipels Politik und er begann, sie zweideutig zu finden: „Bis vor einigen Monaten hatte ich Grund zur Annahme, daß er die Heimwehrbewegung ohne viel Begeisterung betrachte, da sie eine mögliche Bedrohung für die Regierung darstellte." Ihre Führer würden den Kanzler als „viel zu schwach'.', bezeichnen und mit dem Plan spielen, „ihn durch einen ausgesprocheneren Reaktionär zu ersetzen". Möglicherweise sei Seipel aufgrund der Stärke der Heimwehrbewegung „gegen seinen Willen . . . dazu getrieben worden, in der Kontroverse über die Entwaffnung für sie Partei zu ergreifen". Nun aber gebe es Gründe für die Annahme, daß er „sich aus vollem Herzen zum Wert der Heimwehr als politische Waffe bekehrt hat". Phipps war der Ansicht, die Heimwehr sei jetzt viel stärker als der Schutzbund, denn die Bauern seien bessere Soldaten als die städtischen Arbeiter, und daher seien die Sozialisten jetzt wirklich für die Entwaffnung - „einfach aus Furcht vor der Heimwehr". Im Frühjahr 1929 betonte Phipps eine der größten Schwächen der Bewegung die persönlichen Rivalitäten unter ihren Führern, die „so akut wie eh und je" seien. Es gebe wachsende Opposition gegen die Führung von Steidle und dessen Stabschef, den deutschen Major Waldemar Pabst. Sie gehe zum Teil von dem „immer lautstarken" Dr. Pfrimer in der Steiermark aus, zum Teil vom oberösterreichischen Führer Fürst Starhemberg, der „die Unverantwortlichkeit und die Auswüchse der Clique anprangere, die zur Zeit Kontrolle über die Bewegung auszuüben trachte".26 Diese Schwäche konnte die Heimwehrbewegung nie überwinden, und sie wurde die Haupt109
Ursache für ihren Niedergang. Die Treue der Mitglieder galt dem jeweiligen örtlichen Führer, aber es gab keine einheitliche zentrale Führung, und es bestanden starke ideologische Differenzen zwischen den örtlichen Verbänden. Im August 1929 berichtete der britische Gesandte über „bemerkenswerte Fortschritte" der Heimwehren nicht nur in Oberösterreich, Tirol und Steiermark, sondern sogar in Wien. Er habe aus zuverlässiger Quelle gehört, daß kürzlich nicht weniger als 2.500 Wiener Straßenbahn- und Elektrizitätsarbeiter sowie 1.500 Lokomotivführer und Heizer der Eisenbahnen der Bewegung beigetreten seien, und ihre öffentlichen Versammlungen in Wien von 20.000 Menschen besucht würden. Es sei wichtig, daß sie solche Mitglieder aus „Berufen von höchster nationaler Bedeutung, die bisher rein sozialistisch gewesen wären", gewinne. Und es sei keineswegs ausgeschlossen, daß „die Heimwehr bis zum Herbst eine so starke Gefolgschaft im Lande gewinne, daß ihre Stimme bei einer Wahl oder einem Plebiszit nicht überhört werden könne". Nach wie vor werde das Schicksal der Bewegung von Seipel (nach seinem Rücktritt als Kanzler) gelenkt, und es sei daher unwahrscheinlich, daß „die militärischen Abenteurer, Monarchisten, Antisemiten und Alldeutschen, die die Heimwehrränge innehaben," etwas Fanatisches oder Unüberlegtes unternehmen würden. Ein weiteres Indiz für Seipels Einfluß sei die Anti-Parteien -Losung der Bewegung. Dies habe eine Änderung ihrer Ziele bewirkt, mit dem Effekt, „das Land als Ganzes gegen das Parlament und das parlamentarische System zu sammeln, und nicht so sehr gegen den Sozialismus und die Sozialdemokratische Partei". Aber nur vier Wochen später stellte der Gesandte eine Änderung in Seipels Haltung fest. In einem Interview mit einer deutschen Zeitung habe er „seine plötzliche Ergebenheit gegenüber der Sache der Ordnung betont.. . und die Vermutung, daß die vorgesehene Verfassungsreform vom Faschismus beeinflußt sei, lächerlich gemacht". Seipel habe auch den Wunsch nach baldigen Wahlen ausgesprochen: „Anscheinend sei der Exkanzler jetzt darauf bedacht, wieder auf den Zaun zu klettern, von dem er vor einigen Monaten mit solchem Aplomb herabgeklettert ist". Aber das werde „kaum dazu beitragen, seinen Ruf als Staatsmann von Bedeutung und Scharfsinn zu verbessern". Die Heimwehrbewegung verliere ihre Triebkraft; Steidle rede viel, sei ruhelos und voll Argwohn, „aber er bleibe unfähig". Jedes Zögern wäre gefährlich, und ein Kompromiß könne sich katastrophal auswirken. Die Gesandtschaft berichtete auch von einem ernsten Zwischenfall in St. Lorenzen in der Steiermark, wo Heimwehrleute ein Wirtshaus besetzten, in dem sich normalerweise die Sozialisten trafen. Als diese eintrafen, beschlossen sie, ihre Versammlung auf dem Marktplatz abzuhalten, wurden dort aber von ihren Gegnern umzingelt, und die Polizei versuchte, die Versammlung als nichtangemeldet aufzulösen. Als die Sozialisten nicht gleich auseinandergingen, begannen die Heimwehrleute, sie mit Wurfgeschossen zu bombardieren, daraufhin gab ein Schutzbündler einen Schuß ab. In dem nun folgenden Zusammenstoß wurden zwei Menschen getötet und über 30 verwundet.27 Die Sozialdemokraten wurden durch den Aufstieg der Heimwehren und die wachsende Bedrohung Wiens stark beunruhigt. Als Herbert Morrison, Verkehrsminister der Labour-Regierung, im September 1929 Wien besuchte, benutzte Otto Bauer die Gelegenheit, um ihm zur persönlichen Information des britischen Außen110
ministers Arthur Henderson ein Memorandum, mit dem Titel „Die Ziele der österreichischen Faschisten" zu übergeben. Dieses wurde von Morrison aus Prag nach London geschickt, weil er der österreichischen Post oder dem diplomatischen Kurierdienst anscheinend nicht vertraute. Er unterstrich die „Befürchtungen" der österreichischen Genossen. „Es wäre eine schreckliche Tragödie für den Sozialismus, wenn die Dinge schief gingen, denn in Wien wird Gutes geleistet." Die Genossen würden es für sehr nützlich halten, wenn Henderson „dem österreichischen Kanzler in Genf ein Wort zuflüstern und . . . informell mit den Ministern Frankreichs (Briand) und der Tschechoslowakei reden könnte." Bauer schreibe auch an Leon Blum, den französischen Sozialistenführer, und an andere, um deren Hilfe zu erbitten. Morrison fügte hinzu, er persönlich habe nichts versprechen können, da sein Ressort das Verkehrswesen sei. Henderson hielt die Sache für so wichtig, daß er dem neuen österreichischen Kanzler, Ernst von Streeruwitz, über die Gerüchte schrieb, „daß in Österreich ein Staatsstreich bevorstünde und die Heimwehrformationen für die Zeit zwischen Oktober und Dezember einen Marsch auf Wien planten". Die Führer der Labour Party, fuhr der Brief fort, seien „stark interessiert an dem Schicksal ihrer Freunde in Wien, und ich hege kaum Zweifel, daß eine sehr unangenehme Situation entstehen könnte, wenn die Gerüchte, die ich erwähnt habe, sich bewahrheiten sollten." Das würde die guten Beziehungen zwischen Großbritannien und Östereich negativ beeinflussen.28 Obgleich in vorsichtiger diplomatischer Sprache ausgedrückt, enthielt der Brief doch eine klare Warnung - gerichtet an einen Kanzler, der selbst enge Beziehungen zur Heimwehr hatte. Bauers Memorandum unterschied zwei Gruppen, die in der Heimwehr tonangebend seien: österreichische Aristokraten und Offiziere der ehemaligen kaiserlichen Armee, die die Monarchie wieder herstellen wollten, und deutsche Nationalisten, die sich von einem erfolgreichen Staatsstreich in Österreich Auftrieb für einen nationalistischen und monarchistischen Putsch in Deutschland erhofften. Die beiden Heimwehrführer Dr. Steidle und Dr. Pfrimer, und vor allem der deutsche Major Pabst, der Stabschef der Bewegung, gehörten zur zweiten Gruppe. Im Augenblick würden beide Gruppen zusammenarbeiten, um „mit Gewalt die Unterdrückung der österreichischen Arbeiter, den Umsturz der demokratischen Verfassung und die Errichtung einer faschistischen Diktatur" zu erreichen. Eine sehr einflußreiche Gruppe der Christlichsozialen Partei, angeführt von Seipel, suche die Heimwehren zu benutzen, um das österreichische Parlament zu zwingen, „einer reaktionären Revision der Verfassung zuzustimmen". Die großen Summen, über die die Heimwehren verfügten, würden zum Kauf von Waffen benutzt, und vor allem in Tirol und der Steiermark hätten sie Waffendepots in allen Dörfern. Als sie aber für eine definitiv faschistische und putschistische Politik eingetreten seien, hätten die österreichischen Banken und Industriellen ihre Subsidien eingestellt. Nur die steirische Stahl- und Eisenindustrie, die von den deutschen Vereinigten Stahlwerken kontrolliert werde, habe mit der Subsidienzahlung in großem Stil fortgefahren, ebenso wie deutsche nationalistische Kreise und wahrscheinlich auch ungarische. Die Masse der ausgebildeten Mitglieder seien Bauernsöhne und Kleinbürger, die von ehemaligen Offizieren kommandiert würden. Nur in den steirischen Industriebezirken sei auch eine größere Anzahl von 111
Arbeitern beigetreten, gezwungen durch „schärfsten Druck und Einschüchterung" seitens der Unternehmer. Das Memorandum warnte, die Arbeiter seien erregt und würden der bewaffneten Gewalt der Heimwehr Widerstand leisten. „Sollten an einem Ort Kämpfe ausbrechen, könnten sich diese über das ganze Land ausdehnen und zum offenen Bürgerkrieg führen." Unter dem Druck der Alliierten würde die österreichische Regierung gegen den Republikanischen Schutzbund vorgehen, aber keine wirksamen Maßnahmen gegen die Heimwehren ergreifen. „Eine echte Entwaffnung beider Seiten könnte nur unter einer Koalitionsregierung erfolgen, gestützt auf alle demokratischen Kräfte des Landes." Großbritannien, Frankreich und die Tschechoslowakei sollten vertraulich warnen, daß sie die Auflösung aller Wehrverbände verlangten, und zwar „unter echten Garantien für die Unparteilichkeit und beiderseitige Verbindlichkeit der Maßnahme". Es würde auch helfen, wenn die Mächte andeuteten, „daß Österreich kaum die gewünschte ausländische Anleihe erhalten wird, so lange die friedliche demokratische Entwicklung des Landes nicht gesichert ist."29 Das Memorandum zeigte, wie besorgt die sozialdemokratischen Führer waren und wie sehr sie auf auswärtige Unterstützung hofften. Die deutschen und ungarischen Beziehungen der Heimwehren wurden erwähnt, aber merkwürdigerweise nicht die italienischen, obgleich zu dieser Zeit italienische Hilfe für die Heimwehr bereits wichtiger geworden war. Als der deutsche Finanzminister Rudolf Hilferding im Oktober 1929 Wien besuchte, schlug er ein Gespräch mit dem österreichischen Kanzler vor: „Um die Heimwehrführer von ihrer extremen Haltung abzubringen", sollten die britischen und deutschen Gesandten eine Art von Démarche unternehmen. Doch der deutsche Gesandte in Wien opponierte, weil ein solcher Schritt „nicht nur nutzlos, sondern positiv schädlich sein würde"; er würde eine Einmischung in interne österreichische Angelegenheiten darstellen und daher seinen Zweck verfehlen. Als Phipps von seinem deutschen Kollegen über den Plan orientiert wurde, meinte er, es sei überflüssig, dem Kanzler oder den sozialistischen Führern Mäßigung zu predigen, da sie alle „einen friedlichen Ausgang wünschen und die Gefahr von aufreizenden Reden auf beiden Seiten klar erkennen"; es sei für sie jedoch sicherlich schwierig, die einfachen Mitglieder im Zaum zu halten. Als Phipps den Wiener Finanzstadtrat Breitner sah, äußerte dieser, die große Gefahr bestehe darin, daß die Heimwehr „gar kein Übereinkommen" wolle. Sie werde von deutschen rechten Industriellen wie Alfred Hugenberg finanziert und geleitet, die kein Interesse an Österreich hätten und die österreichischen Gewerkschaften vernichten wollten, um Erfahrungen für ihre deutschen Pläne zu sammeln. Die Offiziere der alten Armee, die ohne Heimwehr brotlos wären, und deren arbeitslose Mitglieder hätten ein fundiertes Interesse an der Bewegung. Sie seien entschlossen, sich öffentlicher Stellen zu bemächtigen, wie das die italienischen Faschisten gemacht hätten. Breitners Meinung wurde im November durch ein Kommuniqué der Heimwehrführer in Sachen Entwaffnung bestätigt: .Jeder Versuch, unsere Organisation entweder im ganzen oder teilweise zu entwaffnen, wird auf unseren entschlossenen bewaffneten Widerstand stoßen, denn die zukünftigen Interessen von Nation und Staat schließen es unter allen Umständen aus, einen solchen Eingriff in unsere Organisation zu tolerieren, gleichgültig, von welcher Seite er kommt." 112
Den Schluß bildete eine Warnung vor einem Mißverständnis betreffend die wahren Ziele der Sozialdemokraten - nämlich die Annahme, daß diese den inneren Frieden ernsthaft herbeiwünschten. Im Foreign Office notierte Hugh Dalton, der damalige Unterstaatssekretär: „Die Unruhe der Heimwehr mag nur ein Deckmantel für ihre Nervosität sein." Was angesichts der verworrenen Lage und der Stärke der Heimwehr keine sehr intelligente Bemerkung war.30 Im Jahresbericht der britischen Gesandtschaft für 1929 wurde die Stärke der Heimwehren auf 350.000 Mitglieder (120.000 Bewaffnete) und die des Republikanischen Schutzbundes auf 300.000 (90.000 Bewaffnete) geschätzt. Die Heimwehren wären nunmehr ausgerüstet „nicht nur mit Gewehren und Maschinengewehren, sondern auch mit den nötigen Tansportmitteln, einigen Kanonen, Hilfsdiensten und allem, was für die Durchführung eines wirklichen Feldzuges nötig sei" und die Mitglieder wären in drei Gruppen eingeteilt: voll bewaffnet, nur mit Sportgewehren bewaffnet, Transport- und Hilfsdienste. Für eine Bewegung von solcher Größe und Anmaßung wäre die Führung „auffallend schwach". Steidle und Pabst wären „das Zentrum einer kleinen Clique, die sich zum Stab der Bewegung gemacht hat, aber beide wären vergnügungssüchtige Männer, und sie besäßen nicht den persönlichen Respekt, den eine solche Stellung verlange". Der Steirer Führer Pfrimer sei aus härterem Holz geschnitzt, ein Fanatiker, dessen heftiger Antisemitismus für die zentrale Führung „eine Quelle der Verlegenheit" sei, aufgrund „der Beziehungen zur Finanzwelt, von deren Subsidien sie abhinge". Doch alle „wären wie Wachs in den Händen von Mgr. Seipel, welcher . . . der einzige sei, der bisher erstklassigen Verstand oder reife politische Erfahrung zu ihren Plänen beigesteuert habe." Es wäre bekannt, daß die Rothschilds und andere Finanzleute ihre Untertsützung der Heimwehren davon abhängig gemacht hätten, daß Seipel deren Programm gutheiße. „Man kann kaum bezweifeln, daß er nach der Schaffung eines österreichischen faschistischen Staates trachtet, und vielleicht am Ende nach einer Restauration, die den zurückgehenden Einfluß der katholischen Kirche im Lande verstärken würde." Im allgemeinen hätten sich Finanz und Industrie „hinter die Bewegung gestellt", und deren Stärke sei außerordentlich rasch gewachsen. Eine funktionierende Zentralorganisation sei vor allem durch Major Pabsts Bemühungen entstanden - die Heimwehr sei „eine politische Kraft" geworden.31 Um die gleiche Zeit stellte der militärische Nachrichtendienst fest, daß die Heimwehr von den „Großindustriellen und Banken" ebenso unterstützt werde wie vom deutschen „Stahlhelm". Die britische Regierung wäre beunruhigt über eine mögliche Umwälzung, aber darüber wäre schon monatelang geredet worden, und die neue Regierung Schober „sei wesentlich stärker und erfreue sich größeren Respekts als ihre Vorgänger".32 Skepsis war bestimmt am Platze, denn die Heimwehrführer redeten zwar sehr laut und arrogant, schienen gleichzeitig eher zu zögern, obwohl aus Ungarn und Italien starker Druck ausgeübt wurde, um sie zu energischem Handeln zu bewegen. Nach wie vor trat die britische Regierung für Entwaffnung ein und hoffte nun, daß der neue Kanzler Schober das Wunder bewerkstelligen würde. Im Oktober 1929 versicherte dieser Phipps, daß die Wehrverbände in Wien, Ober- und Niederösterreich nicht bewaffnet seien, wie es in Kärnten, der Steiermark, Tirol und Vorarlberg 113
der Fall wäre, aber in Tirol hätten die Männer seit grauer Vorzeit Waffen getragen. Er hoffe, die Entwaffnung beider Seiten „in nicht all zu ferner Zukunft" erreichen zu können; die sozialistischen Führer würden Bereitschaft zeigen, „vernünftig und kompromißbereit zu sein". Schober habe ihm wörtlich erklärt: „Ich will, daß beide Seiten bewaffnet auf eine Brücke marschieren und ihre Waffen dort in der Mitte niederlegen, dann einander militärisch grüßen und sich zurückziehen." Otto Bauer andererseits sagte dem Gesandten, er „würde eine sofortige Intervention Großbritanniens, Frankreichs und Deutschlands willkommen heißen, um die Auflösung der gesetzwidrigen Organisationen zu erreichen. Ihre Entwaffnung könne auf ein Verbot ihrer Versammlungen und Märsche folgen." Im November telegraphierte Phipps nach London, es gäbe „eine großartige Gelegenheit für die Entwaffnung der österreichischen illegalen Organisationen": Der Chef von J. P. Morgan & Co. in New York habe den österreichischen Gesandten in Washington informiert, daß eine österreichische Anleihe aufgelegt werden könne, „wenn sich die politische Lage in Österreich stabilisiert habe". Wall Street und die Londoner City sollten klarmachen, „daß keine Anleihe gezeichnet werden würde, ehe die Verbände nicht aufgelöst und entwaffnet seien." Doch nur drei Tage später folgte ein weiteres Telegramm: Anscheinend sei Schober „den Schmeicheleien Mussolinis erlegen", und habe eine Einladung nach Rom für Dezember akzeptiert". Er habe einem Freund (von Phipps) mitgeteilt, sein Besuch sei notwendig, um die italienische Zustimmung zu der Anleihe zu erhalten. Aber der französische Gesandte habe im österreichischen Außenministerium gehört, „die italienische Zustimmung würde wahrscheinlich nur erteilt werden, wenn der Kanzler verspreche, die Heimwehr nicht zu entwaffnen." 33 Arthur Henderson in London hielt das für einen „verheerenden Ratschlag" und wollte Schober ein Argument liefern, ihn auszuschlagen. Er gab daher Phipps Vollmacht, „sofort bei Schober Vorstellungen zu erheben", wenn er glaube, dadurch einen nützlichen Zweck zu erfüllen. Schober beabsichtige, eine größere Zahl von Heimwehrleuten ins Heer zu überführen; würde er sich dadurch „nicht dem Vorwurf aussetzen, dieses in parteiischem Sinne aufzustocken?", und könnten nicht Mitglieder des Republikanischen Schutzbundes gleichzeitig aufgenommen werden? Phipps konnte nur antworten, er und der französische Gesandte würden die gewünschten Vorstellungen erheben, wenn Schober den nächsten Empfang für das diplomatische Korps gäbe. Es sei durchaus möglich, „daß Mussolini die Heimwehr sowohl öffentlich als auch im geheimen unterstützte". Einige Tage darauf wurde im Foreign Office notiert, Schober habe die Vorstellungen „gut aufgenommen", und es bestünde „im Augenblick keine Gefahr, daß Mussolini die Heimwehr öffentlich verteidige".34 Anscheinend wurde nicht mehr bezweifelt, daß er sie im geheimen unterstützte. Einige Wochen zuvor hatte Phipps berichtet, er habe aus „zuverlässiger Quelle" gehört, daß aus Italien Maschinengewehre durch die Schweiz nach Österreich geschickt würden.35 Gegen die entschlossene Opposition der Heimwehrführer, unterstützt von Mussolini und versehen mit italienischen Waffen und Subsidien, war die Politik der allgemeinen Entwaffnung so gut wie aussichtslos, aber anscheinend gab es keine Alternative. Die Innenpolitik wurde nach wie vor beherrscht von schweren Konflikten zwi114
sehen den Sozialdemokraten und den Christlichsozialen, deren Führer und Inspirator Seipel war. 1929 erklärte Breitner beim Mittagessen mit Phipps, Seipel sei „zu groß für dieses kleine Land". In Deutschland würde er „einen ausgezeichnten Führer des Zentrums" abgeben, in Österreich aber, „wo jetzt Kompromißbereitschaft so wichtig sei, könne er nur Schaden stiften", denn Kompromiß „wäre nicht seine Sache", und er sei ein Mann von maßlosem Ehrgeiz. 1928 berichtete Phipps über eine Rede Seipels in Graz, in der dieser den Heimwehren Tribut zollte und behauptete, daß die Bewegung „hauptsächlich durch Sehnsucht nach wahrer Demokratie" angetrieben werde - aus diesem Grunde vertraue er ihr. Ihre Ziele wären, erklärte er, die Sozialdemokraten daran zu hindern, „ein Monopol auf organisierte Aufmärsche und Demonstrationen auf der Straße zu besitzen, denn ein solches würde schließlich mißbraucht und zu einer Art Waffe einer terroristischen Organisation werden". Nach Phipps' Meinung deutet diese Rede an, daß sich Seipel „seiner eigenen Stärke so sicher sei, daß er beabsichtige, seine sozialistischen Gegner auf die Knie zu zwingen".36 Der Geist der Versöhnung war diesem Prälaten der katholischen Kirche sicherlich fremd. Im gleichen Jahr bemerkte Phipps, daß „die Furcht und das Mißtrauen" der Sozialisten gegenüber Seipel „manchmal hysterisch" sei. Das war anläßlich der Wahl eines neuen Präsidenten der Republik, als die Sozialdemokraten befürchteten, daß Seipel zur Kandidatur bereit sei, um dann „in dieser Position mit größerer Freiheit und geringerer Verantwortung die Fäden eines von ihm ausgewählten Marionettenkanzlers zu ziehen". Daher waren die Sozialdemokraten bereit, die Amtszeit des Präsident Hainisch zum zweiten Mal zu verlängern und so „die Wahl eines klerikalen Kandidaten zu verhindern". Das aber ärgerte die Abgeordneten der Christlichsozialen Partei so sehr, daß sie für einen Kandidaten aus ihren Reihen - Wilhelm Miklas - stimmten, der auch mit 94 Stimmen gewählt wurde. Die kleinen bürgerlichen Parteien stimmten für Schober, und die Sozialdemokraten enthielten sich der Stimme, um die Wahl von Seipel oder Schober zu verhindern, weil sie ihn für das „Blutbad" vom 15. Juli für verantwortlich hielten.37 Als Schober im September 1929 zum zweiten Mal Bundeskanzler wurde, hielt man das im Foreign Office für die „beste Lösung"; angesichts der Demonstrationen der feindlichen Wehrverbände „schiene seine Ernennung die weitaus günstigste". Nach der Meinung von Phipps war Schober ehrlich und aufrecht, doch seine „größte Sünde" sei „Eitelkeit, und er neige viel zu sehr dazu, sich als Retter seines Landes anzusehen". Er sei „der letzte Trumpf im österreichischen Verfassungsspiel". Sollte er erfolglos sein, würde er wahrscheinlich von Vaugoin ersetzt werden, „einem Mann von beschränkter Intelligenz, riesiger Arroganz und Monseigneur Seipel völlig ergeben". Seipel sei jetzt gegen den Anschluß, trete damit aber nicht vor die Öffentlichkeit, weil die Sozialisten seine „stärksten Anhänger" seien. Davon abgesehen habe er „gleich den Stieren einen blinden Haß auf alles, was nach rot aussähe", und seine „Anstrengungen, im Trüben zu fischen", seien interessant zu beobachten. In einem späteren Bericht beschrieb Phipps „Schobers überraschende Fähigkeit, allgemeines Vertrauen zu erwecken", wofür er vor allem zwei Gründe anführte: den Kontrast zu seinem „überspitzfindigen Vorgänger" Seipel und seine „Charakterstärke", die mehr zähle „als hervorragende intellektuelle Fähigkeit". Schober sei 115
„ehrlich, schlicht und freimütig", „sein Kopf ist vierschrötig und sein Körper rund", und „er sagt, was er meint und meint, was er sagt". Alle in Wien akkreditierten Diplomaten hätten Vertrauen zu ihm; - „vom Repräsentanten des faschistischen Italien bis zu dem der sozialistischen Tschechoslowakei". Großbritannien solle ihm „jede Unterstützung gewähren, da jeder Kanzlerwechsel nur Schlechtes bringen könne".38 Diese hohe Meinung von Schober wurde in London geteilt. Ein Memorandum vom Oktober 1929 erklärte: „Er hat einzigartige Qualifikationen, um in der Krise als Schiedsrichter zu handeln - die wichtigste davon ist, daß er keiner Partei angehört und als ehemaliger Chef der österreichischen Polizei nur an der Aufrechterhaltung von Ruhe und Ordnung interessiert ist. Sollte er gestürzt werden, ist man allgemein der Ansicht, daß Herr Vaugoin sein Nachfolger werden würde, ein reaktionärer Heißsporn, der zu jeder Torheit fähig wäre." Schobers Hauptziel sei die gleichzeitige Entwaffnung der Wehrverbände, aber er glaube, daß die einzige Methode zur Erreichung dessen zunächst die Lösung der Verfassungsfrage sei. Seine Position dürfe nicht geschwächt werden, und jede Intervention aus dem Ausland zu diesem Zeitpunkt könne sie nur unterminieren. Schober trat für eine Reform der österreichischen Verfassung ein, die nach langen Verhandlungen mit den politischen Parteien schließlich angenommen wurde. Die Rechte des Bundespräsidenten sollten verstärkt, und er sollte in Zukunft (wie der deutsche Präsident) direkt vom Volk gewählt werden. Im November teilte Schober Phipps mit, seine Besprechungen mit den sozialdemokratischen Parteiführern seien „sehr zufriedenstellend und würden in einem äußerst vernünftigen Geist" geführt. Als sich einige Heimwehrführer über den langsamen Gang der Verhandlungen beschwerten, erkundigte sich Schober, ob sie wünschten, er möge gewaltsame Maßnahmen gegen sie ergreifen, „woraufhin sie klein beigegeben hätten".39 Aus Berlin berichtete der britische Botschafter, auch der Reichskanzler Hermann Müller habe erklärt, daß er „keine Befürchtungen" hege, solange Schober Bundeskanzler sei. Sollte er aber zurücktreten und Vaugoin ihm folgen, bestehe Gefahr, daß dieser das Parlament nach Innsbruck oder in eine andere Stadt außerhalb Wiens einberufen und eine neue Verfassung proklamieren würde. Dann könnte „eine Art Bürgerkrieg" ausbrechen, in dem möglicherweise Ungarn, die Tschechoslowakei und sogar Italien intervenieren würden. Als Phipps Anfang 1930 Schober beim Essen traf, war er noch immer optimistisch und nahm an, er würde mit seinen Entwaffnungsplänen durchkommen. Phipps fragte ihn, ob er die Sozialisten besonders schwierig fände, doch Schober verneinte und deutete an, „daß ihm die Sozialisten privat noch immer aus der Hand essen, was auch immer sie öffentlich für die Tribüne täten". Am Tag zuvor seien sie aus dem Parlament ausgezogen, aber danach hätten sie einen Vertrauensmann zu ihm geschickt, um mit ihm zu reden. Da es ihm gelungen sei, eine große ausländische Anleihe zu erhalten, wäre sein Prestige im Lande „allgemein außerordentlich hoch", und es gäbe bisher „keine Anzeichen für einen ernsthaften Versuch von Seipel & Co., ihn zu stürzen". Phipps war der Meinung, Schober drohten Gefahren von rechts, und nicht von links; „in ihrem innersten Herzen" wären die Sozialdemokraten für ihn, könnten das aber nicht zugeben, weil es einen „verheerenden Effekt" auf die bürgerlichen Parteien haben würde.40 116
Berichte über die Politik und Haltung der Sozialdemokraten wurden häufig nach London geschickt. In seinem Kommentar zur Parteikonferenz von 1927 schrieb Lord Chilston: Die Sozialdemokraten „schienen erfreut, daß für den Augenblick jede Gefahr einer Parteispaltung gebannt sei. Der rechte wie der linke Flügel waren sich offensichtlich darüber im Klaren, daß eine Spaltung beide machtlos machen würde. Die internen Differenzen seien daher überbrückt worden." Man habe eine vorwärtsorientierte Politik abgelehnt, und die Partei habe „eine Haltung der stillstehenden Verteidigung und Abwehr gegen befürchtete faschistische Angriffe bezogen". Seiner Ansicht nach war das zufriedenstellend: „Es ist zu begrüßen, daß die Sozialdemokraten wirklich Angst vor einem möglichen Bürgerkrieg haben . . . Was das Land bitter nötig hat, ist Ruhe und Rückkehr zu konstitutionellen Methoden." Die gemäßigten Sozialdemokraten unter der Führung Renners seien für eine Koalition mit den Christlichsozialen, dieser Vorschlag sei aber von Mitgliedern der Regierung scharf abgelehnt worden und „im Augenblick unausführbar". Auch die linken Sozialisten, „deren fähigster Repräsentant Otto Bauer sei", seien dagegen. 1928 beschrieb der britische Gesandte Bauer als einen „redegewandten und ehrgeizigen Juden mit dem Temperament zur Aufrüttelung der Massen, doch klug und taktvoll genug, um mit allen Teilen der Partei gut auszukommen; hat einen scharfen Verstand und überragt alle österreichischen Politiker an Intelligenz." Weiter fügte der Gesandte hinzu, Bauer sei Antibolschewist und lehne „das Sowjetregime im allgemeinen ab, ebenso wie Versuche zu einer bewaffneten Revolution, die er für undurchführbar hält". Im September 1928 berichtete Phipps, es sei „eine allgemein unbekannte Tatsache", daß verantwortungsbewußte sozialdemokratische Führer zum ersten Male insgeheim mit den Kommunisten über die Bildung einer Einheitsfront gegen den Faschismus verhandelten würden, und daß die linken Flügel der deutschen und der österreichischen Sozialdemokratie zum gleichen Zweck miteinander Kontakt aufgenommen hätten.41 Doch angesichts der Kleinheit der Kommunistischen Partei war eine Einheitsfront mit ihr praktisch kaum durchführbar. Im Jahre 1929 unterschied Phipps deutlich zwischen den Ansichten Bauers, der dazu neige, die Zukunft „durch die schwarze Brille des Pessimismus zu sehen", was den Aufstieg des Faschismus beträfe, und denen des Stadtrats Breitner, der erwarte, „daß die Ordnung in Österreich aufrechterhalten würde". Breitner sei „sogar in den kritischsten Tagen der gegenwärtigen Krise hoffnungsvoll gewesen". „Ein so klarer und ordentlicher Verstand schrecke zweifellos davor zurück, sich etwas so Seltsames wie ein Chaos vorzustellen". Für ihn präsentiere sich die Zukunft „eindeutig und ohne Überbetonung der Schatten", und bis jetzt habe er sich „als der bessere Prophet erwiesen". Im Foreign Office wurde um die gleiche Zeit notiert, die österreichischen Sozialdemokraten hofften, mit Unterstützung der britischen Regierung konstitutionelle Vorteile in den parlamentarischen Verhandlungen über eine Verfassungsreform zu gewinnen. Hilfe aus dem Ausland in einem internen Streit würde jedoch nur „die Bitterkeit zwischen den politischen Parteien verschärfen, die der Fluch Österreichs" sei. Wenn sich die Sozialisten um Hilfe an demokratische Regierungen wendeten, könnten ihre Gegner das faschistische Italien um Unterstützung bitten; diese aber „würde wirkungsvoller sein als alles, was die britische und französische Regierung offerieren 117
könnten", und „internationale Gefahren sehr realer Natur" hervorrufen.42 Die Gefahr wurde in London erkannt, und 1934 sollten die österreichischen Sozialisten ihren Kampf ohne jede Unterstützung westlicher Demokratien ausfechten. Eine ganz andere „Gefahr" wurde Phipps durch den päpstlichen Nuntius Sibilia angezeigt - die „Abtrünnigkeit" von der Kirche. Während in den Jahren 1924-27 nur etwa 7.500 Menschen aus der Kirche ausgetreten seien, sei deren Zahl im Laufe der ersten neun Monate des Jahres 1928 auf 28.000 gestiegen. Dies sei, so meinte der Nuntius, auf die „heftige sozialistische Propaganda" zurückzuführen, und vor allem auf die Tatsache, daß die Stadt Wien (im Gegensatz zum österreichischen Staat) Scheidungen und Wiederverheiratungen erlaube. Der Nuntius, schrieb Phipps, „mache kein Hehl aus seinen reaktionären Ansichten", und „schon das Wort .Republik' sei .Anathema' für ihn". Als er anläßlich des zehnten Jahrestages der Republik eine Rede vor dem Präsidenten gehalten habe, sei das Wort Republik darin nur einmal vorgekommen, und als der neue Präsident Miklas das diplomatische Korps empfing, sei in der Gratulationsrede des Nuntius „jede Erwähnung der verhaßten Institution" vermieden worden.43 Offensichtlich hatte Phipps diese Reden sorgfältig verfolgt; er war überzeugt, daß der Nuntius für die Restauration der Habsburger war - eine Möglichkeit, die in den Berichten aus Wien sonst kaum erwähnt wurde. Über die österreichischen Kommunisten wurde nur gelegentlich berichtet. Nach ihrem zehnten Parteitag 1929 schrieb Phipps: „Die österreichische Kommunistische Partei ist so geschwächt, und die internen Konflikte unter ihren Führern sind so scharf", daß die Partei 18 Monate lang keine Konferenz habe abhalten können. Anfang 1927 habe es in Wien 60 Parteizellen mit 1.044 Mitgliedern gegeben und jetzt gebe es nur noch 34 Zellen mit 454 Mitgliedern. 1923 seien 6.000 Exemplare der Roten Fahne gedruckt worden, 1926 nur noch 3.000, und 1929 sei deren Auflage auf 1.200 gefallen. Der Vizepräsident der Polizeidirektion Wien sandte der Gesandtschaft einen sehr eingehenden Bericht über den zehnten Parteitag der Kommunistischen Partei vom Februar 1929. Ihm zufolge übte das Exekutivkomitee der Kommunistischen Internationale starken Druck auf die Partei aus, einen „bolschewistischen Kurs" zu verfolgen - eine Linie, die sich voll durchgesetzt habe. Daher hätten „die Führer der sogenannten rechten, .versöhnlerischen' Opposition" ihre Plätze im Zentralkomitee verloren, und der Journalist Richard Schüller sei „als Vertrauensmann Moskaus" in dieses aufgenommen worden. Dieser sei längere Zeit Mitglied des Exekutivkomitees der Kommunistischen Jugendinternationale und danach als Agitator in Frankreich tätig gewesen. Verbündet mit ihm wären mehrere „Vertreter des Moskauer Kurses", u. a. der Parteisekretär Johann Koplenig, ein „stets treuer Diener der jeweiligen Herren des Zentralkomitees". Durch ihre aggressiven Parolen, „die niemand, auch nicht die eigene Parteimitgliedschaft, mehr ernst nimmt", verliere die Partei „jeden Rückhalt in der Arbeiterbevölkerung". Eine weitere Folge des neuen Kurses sei, daß die öffentlichen Kundgebungen der Partei meist verboten würden. „Die niedergedrückte Stimmung, d i e . . . in weiten Kreisen der Anhängerschaft" der KPÖ herrsche, gebe ein Flugblatt früherer Parteiführer wieder, das „von einem vollständigen organisatorischen Zusammenbruch der Partei" spreche, herbeigeführt „durch den ultralinken Kurs der Parteiführung".44 Der Kampf gegen „rechte" und „versöhnlerische" 118
Elemente innerhalb der Partei entsprach der ultralinken Linie der Komintern nach ihrem sechsten Weltkongreß im Sommer 1928. Am anderen Ende des politischen Spektrums kam es zu neuen antisemitischen Unruhen an der Wiener Universität und den anderen Hochschulen der Stadt. Im Juni 1929 gab es Unruhen und Zusammenstöße an der Universität. Als die Universitätsbehörden Maßnahmen gegen randalierende antisemitische Studenten ergriffen, bildeten die nationalsozialistischen Studenten ein „Deutsches Komitee". Sie forderten eine genaue Untersuchung der Vorgänge durch die „deutschen" Mitglieder des Senats, die Aufhebung aller Verbote und disziplinären Maßnahmen, die der Rektor verhängt hatte, den Rücktritt des Universitätssekretärs, der ihr Vertrauen verloren habe, und die Aufrechterhaltung von Ruhe und Ordnung innerhalb der Universität durch ihr eigenes Komitee. Als der Rektor versuchte, in der Aula zu den Studenten zu sprechen, wurde er ausgezischt und niedergeschrien. Einige Monate später fielen rechte Studenten neuerlich über jüdische Studenten her und unterbrachen die Vorlesungen. Es kam zu Gegendemonstrationen und zur Verteilung sozialistischer Flugblätter, was neue Unruhen hervorrief. Da das Randalieren weiterging, wurden alle Wiener akademischen Institute für elf Tage geschlossen, wie der Jahresbericht der Gesandtschaft mitteilte.45 Der Anschluß war zu dieser Zeit kein Gegenstand praktischer Politik. Aber das hinderte den Vizekanzler der Regierung Seipel, Dr. Dinghofer, nicht daran, vor den nationalen Studenten Wiens im Jahre 1926 zu erklären, es sei „die Pflicht aller Alldeutschen, für die Realisierung ihres großen Ideals zu arbeiten". Das Datum stünde nicht fest, aber „keine Macht auf Erden" werde den Anschluß „auf ewig verhindern können". Der französische und der italienische Gesandte drückten ihre Verwunderung über diese Rede aus und fragten an, was der Kanzler von solchen Bemerkungen halte. Doch als der Staatssekretär im Auswärtigen Amt, Carl Schubert, Wien 1927 besuchte, versicherte er dem französischen Gesandten, daß der Anschluß kein aktuelles Ziel der deutschen Außenpolitik sei. Vorrangig für seine Regierung seien die Beendigung der alliierten Rheinlandbesetzung, die Reparationen und Auslandsschulden und die Frage der Ostgrenze (d. h. der polnische Korridor), in dieser Reihenfolge. Der Anschluß, wenn er überhaupt erwogen werde, stehe auf dieser Skala erst weiter unten. Deutschland wünsche Österreichs Wohlstand, und Reden über den Anschluß hätten nichts mit der offiziellen deutschen Politik zu tun. Als die Österreichische Handelskammer im gleichen Jahr ein Mitglied beauftragte, die Möglichkeiten für ein größeres wirtschaftliches Betätigungsfeld für Österreich zu untersuchen, gab es in Deutschland nur ein geringes Echo auf den Vorschlag einer Zollunion, weil eine solche die schwierigen wirtschaftlichen Verhandlungen Deutschlands mit anderen Ländern behindern würde.44 Nur die Leitung der Alpinen Montangesellschaft in der Steiermark betonte eine Vereinigung mit Deutschland als „wirtschaftlich unbedingt notwendig". Aber diese war kaum als österreichische Firma zu bezeichnen. Wie der Handelssekretär der Gesandtschaft 1921 berichtete, sei mit dem Zusammenbruch der Monarchie die Lieferung von Koks aus Böhmen eingestellt worden, vielleicht weil die Tschechen die gegenseitige Abhängigkeit der beiden Länder beenden wollten. Mit 250.000 Aktien erwarben dann die Italiener Kontrolle über die Gesellschaft, um die Lieferung von 119
Eisen und Stahl an die Fiatwerke und andere italienische Unternehmungen zu sichern. Sie hofften, die Tschechen zu neuerlichen Kokslieferungen überreden zu können, aber ohne Erfolg. Ihre Investition erwies sich als Fehlschlag, und daher akzeptierten sie das Angebot des deutschen Schwerindustriellen Hugo Stinnes, ihr Aktienpaket zu übernehmen. Stinnes hoffte, das schwedische durch steirisches Eisenerz zu ersetzen, da Deutschland Lothringen verloren hatte und knapp an Eisenerz war. Damals stand die Mark auf 12 Kronen, das erleichterte Deutschland die wirtschaftliche Durchdringung Österreichs. Auch die tschechische Weigerung, mit Österreich Handel zu treiben, begünstigte diesen Prozeß. Ein Bericht aus dem Jahre 1922 fügte hinzu, daß zur Zeit von Stinnes' Übernahme nur einer der sechs Hochöfen der Alpine Montan in der Steiermark in Betrieb gewesen sei. Nun aber habe sich das geändert, und bis zum Jahresende würden alle sechs Hochöfen wieder arbeiten. Die Kokslieferungen erhalte Stinnes aus seinen deutschen Werken und Braunkohle aus der Tschechoslowakei im Austausch gegen Stahl. Stinnes' Politik, österreichische Arbeiter durch deutsche zu ersetzen, erzeuge große Unzufriedenheit, und der Versuch, den Zwölfstundentag einzuführen sowie ähnliche Maßnahmen schienen geeignet, Streiks zu provozieren und so die Entlassungen österreichischer Arbeiter zu rechtfertigen.47 In der Tat waren auch die Direktoren der Firma Deutsche, und nach dem 15. Juli lehnten diese es ab, freigewerkschaflich organisierte Arbeiter zu beschäftigen, schlossen das Büro der Gewerkschaften und ersetzten deren Mitglieder durch Leute der Heimwehr oder durch Mitglieder der sogenannten „unabhängigen" Gewerkschaft, die von der Fabriksleitung abhing, so daß es keine Streiks mehr gab.48 So hatten die Ereignisse des 15. Juli weitreichende Folgen, und die Schwäche der Freien Gewerkschaften wurde deutlich. Die Sozialdemokraten wurden auch dadurch geschwächt, daß sie ihren noch verbliebenen Einfluß in der Armee verloren. Wie es ein geheimes britisches Memorandum 1929 ausdrückte, die Armee „sei von Vaugoin während seiner langen Amtszeit als Heeresminister systematisch von Sozialdemokraten gereinigt worden", was die Parteiführer sehr beunruhige. Im gleichen Jahr schrieb Phipps: „Die österreichische Armee sei ausgezeichnet", nachdem Vaugoin die „subversiven Elemente" beseitigt habe. Auch die Wiener Polizei sei „bewundernswert und in jeder Beziehung zuverlässig". Man könne sich auf beide „verlassen, daß sie jede Unruhe oder jeden Versuch eines Aufstandes unterdrücken, gleichgültig ob von rechts oder von links" 49 Kurz, die politische Szene hatte sich grundlegend verändert. Die Sozialisten und die Freien Gewerkschaften standen in der Defensive und äußerten deutliche Besorgnis um ihre Zukunft. Der Aufstieg der Heimwehren bedrohte die Existenz der demokratischen Republik. Wenn sie überhaupt überleben sollte, würde sie stark konservativ gefärbt sein. Das „rote" Wien schien wie eine Insel, umgeben von feindlichen Kräften; und all das bereits vor dem Beginn der Weltwirtschaftskrise, die in anderen Ländern die Fundamente der Demokratie untergrub. Die Tragödie Österreichs in den dreißiger Jahren war schon in den zwanziger Jahren klar vorgezeichnet.
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Anmerkungen 1 Leeper an Chamberlain, 16. Juli 1927: FO 371, Bd. 12079, Fo. 211f. Vgl. Carsten, Faschismus in Österreich, S. 103. 2 Leeper an Chamberlain, 15. und 20. Juli 1927: FO 371, Bd. 12079, Fo. 195, 211f., 213, Bd. 12080, Fo. 25. 3 Siehe ζ. B. Elias Canetti, Die Fackel im Ohr, Fischer Paperback 1982, S. 234f., oder Frank Vanry, Der Zaungast, Wien 1983, S. 174f. 4 The Tunes, 16. und 18. Juli 1927. Der zweite Bericht wurde wegen des Streiks aus Pressburg gesandt. 5 Notiz von Sargent, 18. Juli, und Sir Colville Barclay an Chamberlain, Budapest, 19. und 20. Juli 1927: FO 371, Bd. 12079, Fo. 230, Bd. 12080, Fo. 31f., 35. 6 Notiz von Sargent, 18. Juli, und Foreign Office Notiz, 27. September 1927: FO 371, Bd. 12079, Fo. 230, Bd. 12080, Fo. 111. 7 Leeper an Chamberlain, 18. Juli 1927: FO 371, Bd. 12079, Fo. 221f. 8 Das gleiche, 20. Juli 1927: FO 371, Bd. 12080, Fo. 25f.; The Times, 18. und 20. Juli 1927. 9 Leeper an Chamberlain, 18. Juli 1927: FO 371, Bd. 12079, Fo. 219f. 10 Manchester Guardian, 18. Juli 1927. 11 The Times, 18. Juli 1927. 12 The Tunes, 18.-20. Juli 1927. 13 Chilston an Chamberlain, 21. September 1927: FO 371, Bd. 12080, Fo. 112. 14 The Tunes, 21. Juli 1927. 15 Leeper an Chamberlain, 27. Juli, und Chilston an Chamberlain, 5. Oktober 1927: FO 371, Bd. 12080, Fo. 58,116. 16 Chilston an Chamberlain, 5. Oktober, und Memorandum von Phillpotts, 31. Juli 1927: FO 371, Bd. 12080, Fo. 119f., 91f. 17 Tlte Tunes, 3.August 1927. 18 Leitartikel des Manchester Guardian, 18. Juli 1927: „Austria infelix". 19 Chilston an Chamberlain, 21. September und 9. November 1927: FO 371, Bd. 12080, Fo. 112f„ 149f. 20 M. 1.3. b Memorandum „Semi-Military Associations", 18. April 1928: FO 371, Bd. 12849, Fo. 120135. 21 Phipps an Lord Cushendun, 13. und 26. September 1928: FO 371, Bd. 12851, Fo. 24f., 98. 22 The Times, 6. Oktober 1928. 23 Phipps an Cushendun, 8. und 10. Oktober und 22. November 1928: FO 371, Bd. 12851, Fo. 91,10711,144f., ; Manchester Guardian, 8. Oktober 1928. 24 The Tunes, 8.-9. Oktober 1928. 25 Phipps an Cushendun, 22. November 1928: FO 371, Bd. 12851, Fo. 144. 26 Phipps an Cushendun, 17. Oktober 1928, und an Chamberlain, 5. Juni 1929: FO 371, Bd. 12851, Fo. 120ff„ FO 120, Bd. 1029. 27 J. H. Le Rougetel an Henderson, 8. und 21. August und 5. September 1929: FO 371, Bd. 13563, Fo. 199f„ 213, FO 120, Bd. 1029 und 1034. 28 Morrison an Henderson, Wien, 5. September, und Henderson an Streeruwitz, 14. September 1929: FO 800, Bd. 280, Fo. 178, FO 371, Bd. 13564, Fo. 103. 29 „The Aims of the Austrian Fascists", s. d.: FO 800, Bd. 280, Fo. 179-184, auch in Bd. 284, Fo. 5662. Vgl. eine sehr ähnliche Analyse der Heimwehrbewegung in Borkenau, Austria and After, S.234f. 30 Phipps an Henderson, 19. und 30. Oktober und 8. November 1929: FO 371, Bd. 13564, Fo. 75f., 135f„ Bd. 13566, Fo. 79,81. 31 „Austria. Annual Report, 1929", S. llf., 33: FO 371, Bd. 14311, Fo. 136. 32 M. 1.3. b Memorandum, 14. November 1929: WO 190, Bd. 73. 33 Phipps an Henderson, 17. Oktober, 5., 24. und 27. November 1929: DBFP, Serie IA, VII, London 1975, Nr. 51,53,96,97,100, S. 94f., 180f., 191. 34 Henderson an Phipps, 3. Dezember, Phipps an Sargent, 5. Dezember, und Notiz von Crowe, 11. Dezember 1929: FO 371, Bd. 13865, Fo. 98f., lllff.
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Phipps an Henderson, 24. November 1929: DBFP, Serie ΙΑ, VII, Nr. 95, S. 180. Das gleiche, 29. Dezember 1929, und an Chamberlain, 19. Dezember 1928: ebenda, Nr. 155, S. 290; FO 120, Bd. 1023. Phipps an Chamberlain, 6. Dezember 1928: FO 371, Bd. 12850, Fo. 105f. Notiz von Howard Smith, 26. September, und Phipps an Henderson, 17. Oktober und 17. Dezember 1929: FO 371, Bd. 13564, Fo. 16; DBFP, Serie IA, VII, Nr. 25, 144, S. 50f„ 265. Memorandum von Sargent, 31. Oktober; Phipps an Henderson, 29. Oktober und 11. November 1929: DBFP, Serie IA, VII, Nr. 41, 43, 63, S. 77, 83f., 104. Vgl. Zöllner, Geschichte Österreichs, S. 508. Horace Rumbold an Henderson, Berlin, 8. November 1929, und Phipps an Sargent, 13. März 1930: DBFP, Serie IA, VII, Nr. 56, S. 99; FO 371, Bd. 14305, Fo. 242f. Chilston an Chamberlain, 2. November 1927, Leeper an Chamberlain, 1. August, und Phipps an Cushendun, 13. September 1928; FO 371, Bd. 12080, Fo. 144ff„ Bd. 12850, Fo. 253, Bd. 12851, Fo. 76. Phipps an Henderson, 29. Dezember, und Foreign Office Memorandum von Sargent, 31. Oktober 1929: DBFP, Serie IA, VII, Nr. 43,155, S. 83f„ 291. Phipps an Cushendun, 3. Oktober, und an Chamberlain, 13. Dezember 1928: FO 371, Bd. 12851, Fo. 162, 261. Phipps an Chamberlain, 2. April 1929, und Bericht des Polizeivizepräsidenten Dr. Pamer, 14. November 1929: FO 371, Bd. 13563, Fo. 124f., FO 120, Bd. 1031. Phipps an Henderson, 13. und 24. Juni 1929, und „Austria. Annual Report, 1929", S. 15: FO 120, Bd. 1033, FO 371, Bd. 14311, Fo. 136. Chilston an Chamberlain, 14. Dezember 1926, 8. Juni und 24. Februar 1927: FO 371, Bd.11215, Fo. 39f., Bd. 12081, Fo. 21, Bd. 12076, Fo. 233. Chilston an Chamberlain, 8. Juni 1927; Bericht von Phillpotts, 10. März 1921; und Geheimbericht vom 28. April 1922: FO 371, Bd. 12081, Fo. 22, Bd. 5782, Fo. 192ff., FO 120, Bd. 982. Siehe Carsten, Faschismus in Österreich, S. 117. M. I. 3. b. Memorandum „The Situation in Austria", 14. November, und Phipps an Henderson, 17. November 1929: WO 190, Bd. 73; DBFP, Serie IA, VII, Nr, 144, S. 267.
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V. Die letzten Jahre der Demokratie 1930-1932
Von 1930 an traf die Weltwirtschaftskrise, die 1929 begann, Österreich mit voller Stärke. Ein Land, das so sehr vom Handel mit seinen Nachbarn und anderen Ländern abhing, stieß in ganz Europa auf immer größere Einfuhrbeschränkungen und Handelsbarrieren, worunter die österreichische Ausfuhr schwer litt. Anfang 1930 schrieb Sir Eric Phipps nach London, daß die Zahl der unterstützten Arbeitslosen Ende Januar mit 273.000 „den höchsten je in Österreich registrierten Stand" erreicht habe. Es würde angenommen, daß die Gesamtzahl, inklusive derer, die keine Unterstützung erhielten, und derer, die statt Unterstützung Altersrente erhielten, 360.000 betrage. Das waren etwa sechs Prozent der Gesamtbevölkerung; wobei die Arbeitslosigkeit aber ungleichmäßig über das Land verteilt war. In der kleinen Industriestadt Steyr war die Hälfte der männlichen Bevölkerung arbeitslos. Im Verlauf des Jahres 1930 registrierten die Behörden einen schwachen Rückgang der Arbeitslosigkeit auf etwa 230.000.1 Im Januar 1933 stieg die Zahl der unterstützten Arbeitslosen auf 478.000 an, und der monatliche Durchschnitt dieses Jahres lag bei 406.000 Arbeitslosen, von denen 45 Prozent in Wien lebten. Die britische Gesandtschaft stellte auch fest, daß diese Zahlen nicht die wachsende Anzahl derer beinhalteten, „die das Ende der Zeit erreicht haben, während der sie auf Unterstützung hoffen können" - dies seien vielleicht 300.000 Menschen, deren Lage die schlimmste sei.2 Selbstverständlich muß man zu diesen Zahlen noch die sehr vielen Angehörigen zählen. 1933 betrugen die Ausgaben der Regierung für soziale Unterstützung 449 Millionen Schilling, und das Budget wies ein Defizit von 241 Millionen auf, das nur teilweise durch eine Anleihe gedeckt werden konnte und „was man sonst an Reserven zur Hilfe für Österreich zu mustern vermochte". Vor allem die Eisenbahnen waren „in einem furchtbaren Zustand". Der für ihre Erhaltung und Materialerneuerung vorgesehene Betrag lag nach Ansicht zweier ausländischer Sachverständiger weit unter der Summe, die notwendig gewesen wäre, um sie in gutem Zustand zu halten. 3 Die wirtschaftliche Notlage wurde durch den Zusammenbruch der österreichischen Banken, der riesige Ausmaße annahm, außerordentlich verschärft. Im Herbst 1929 brach die Bodencreditanstalt zusammen und mußte in die größte österreichische Bank, die Creditanstalt, eingegliedert werden. Wie Phipps bemerkte, war dieser Zusammenbruch teilweise den „wilden Reden" der Heimwehrführer zuzuschreiben und sollte „die reaktionären Kreise davor warnen, daß ihr eigenes Vermögen durch das ständige überlaute Rühren der Heimwehrtrommel gefährdet würde". 4 Doch 1931 geriet die Creditanstalt selbst - bedroht durch den plötzlichen Abzug von Guthaben und die Kündigung kurzfristiger Kredite durch ausländische Gläubiger - in ernste Schwierigkeiten; die kurzfristigen Kredite betrugen etwa 15,500.000 Pfund. Im Mai 1931 nahm das österreichische Parlament ein Gesetz an, das die Aktionäre und das Publikum beruhigen sollte, aber seine Wirkung verfehlte. Es wurde 123
klar, daß die Bank „innerhalb weniger Tage ihre Schalter schließen müsse", was „nicht nur hier und in den benachbarten Ländern, für den internationalen Kredit unheilvolle Folgen" haben würde. Daher schlug ein Londoner Komitee unter Vorsitz von Lionel Rothschild eine internationale Garantie vor, um den Abzug großer ausländischer Kredite zu verhindern.· Dem Parlament wurde ein Gesetzesvorschlag unterbreitet, der den Finanzminister ermächtigen sollte, von der Creditanstalt erteilte Kredite zu garantieren, damit diese ihre laufenden Geschäfte fortsetzen könne. Während der Debatte betonte der sozialdemokratische Sprecher, daß seine Partei für das Gesetz stimmen würde, weil die österreichische Industrie dadurch Arbeitskapital erhielte. Aber er kritisierte die Regierung, weil sie die Leitung der Creditanstalt im Amt belasse und die Verantwortlichen nicht zur Rechenschaft ziehe. Es sei gefährlich, die Garantie zu erteilen, ohne gleichzeitig radikale Veränderungen durchzuführen, und die Leute seien entrüstet, daß die Direktoren der Bodencreditanstalt, statt zur Verantwortung gezogen zu werden, hohe Pensionen erhielten.5 Doch die Abzüge von der Creditanstalt gingen weiter, und die Kündigung von Auslandskrediten führte zu einer raschen Verminderung der Devisenvorräte der Österreichischen Nationalbank. Die Regierung suchte durch die Ausgabe von Schatzwechseln neue Gelder zu mobilisieren und appellierte an die Bank von England, ihr im Austausch einen Vorschuß zu gewähren. Im Juni 1931 schrieb Philip Snowden, der damalige Chancellor of the Exchequer (Finanzminister), nach einem Besuch des österreichischen Gesandten im britischen Schatzamt an die Bank of England: „Ich halte es für notwendig, Sie wissen zu lassen, daß die Regierung Seiner Majestät schwer beunruhigt ist angesichts der Gefahren der gegenwärtigen Krise in Österreich, die jeden Augenblick die Stabüität Deutschlands und anderer Staaten in Mittel- und Osteuropa gefährden kann, und ich muß Sie wohl kaum darauf hinweisen, wie wichtig es im öffentlichen Interesse ist, Österreich ohne Verzug finanzielle Hilfe zu gewähren."
Da Österreich in der Vergangenheit finanzielle Schwierigkeiten so erfolgreich überwunden habe, könne sich die Bank in bezug auf internationale Verpflichtungen, die die österreichische Regierung übernehme, auf deren guten Glauben verlassen. Die Bank of England schoß der Creditanstalt daher die Summe von 150 Millionen Schilling gegen Ausgabe von Schatzwechseln vor - was eine „sehr willkommene Zunahme" der österreichischen Devisenvorräte bedeutete. Aber die Beamten der Österreichischen Nationalbank blieben hinsichtlich der Zukunft der Creditanstalt pessimistisch.6 Der österreichische Antrag an den Völkerbund um Ermächtigung zur Ausgabe von Schatzwechseln im Wert von 150 Millionen Schilling wurde erst nach langen Diskussionen und Beratungen mit der Bank of International Settlements genehmigt. Die österreichische Regierung mußte die Versicherung abgeben, „in die wirtschaftliche Leitung von industriellen Betrieben, deren Aktionär sie durch ihre Garantie würde, nicht einzugreifen", und der Erlös aus dem Verkauf der Aktien sollte zur Einlösung der neuen Schatzwechsel verwendet werden.7 Doch die Affäre der Creditanstalt hatte noch eine Fortsetzung. Im August 1931 weigerte sich die Bank of England, den Kredit von 150 Millionen Schilling über den 11. August hinaus zu verlängern. Der Brief, in welchem die Bank dem österreichischen Gesandten diesen Beschluß mitteilte, wurde von der Gesandtschaft an 124
Franckenstein, der sich in Evian-les-Bains auf Urlaub befand, nachgeschickt und der österreichischen Regierung nicht übermittelt. Als die Bank innerhalb einer Woche keine Antwort erhielt, setzte sie sich mit dem österreichischen Chargé d'Affaires in Verbindung, der erklärte, er wisse von der ganzen Sache nichts. Die Bank hielt es für das beste, wenn die Österreichische Nationalbank 50 Millionen zurückzahlen und um eine Verlängerung für die restlichen 100 Millionen ersuchen würde. Doch die österreichische Regierung lehnte diesen Rat ab, und Kanzler Schober appellierte persönlich an Außenminister Henderson: „Sollte dieser Beschluß befolgt werden, wäre es eine Katastrophe für die österreichische Regierung, mit der diese nicht fertig werden könnte". Laut Bericht der britischen Gesandtschaft „bat Schober förmlich um die Gnade der Regierung Seiner Majestät". Die Österreichische Nationalbank habe den Kredit als Deckung benutzt, und 100 Millionen Schilling seien der Creditanstalt überwiesen worden. Die Regierung könne den Kredit nicht zurückzahlen, wenn sie die Summe nicht von anderen Banken borgen könne. Die Beamten der Bank of England waren darüber „sehr verärgert", behaupteten aber, ihre Handlungsweise würde dadurch nicht beeinflußt werden, auch nicht durch die österreichische Pressekampagne gegen die britische Hochfinanz. Im Foreign Office notierte Sir Robert Vansittart: „Die Österreicher haben sich mit ihrer üblichen Ungeschicklichkeit und unüblicher Undankbarkeit benommen." Die Geschichte vom Brief der Bank von England an Franckenstein sei „fast unglaublich", und die österreichische Gesandtschaft scheine „einen Frühjahrsputz oder sogar ein richtiges Auskehren nötig zu haben."8 Aus Wien berichtete Phipps, Ende September seien die Reserven der Regierung auf 9 Millionen Schilling zusammengeschmolzen, und das Defizit für Oktober werde auf 10 Millionen Schilling geschätzt, so daß bis zum Monatsende die Barvorräte aufgebraucht sein würden: „Halte die Bargeldlage für ernst und energische Maßnahmen nötig." Nach einem Mittagessen mit dem österreichischen Finanzminister schätzte Phipps diesen als „völlig senil, aber sehr nett" ein. Er habe ihm „endlose Anekdoten" erzählt, was Phipps ermüdend fand, und behauptet, der Schilling sei „so beständig wie ein Fels". Phipps seinerseits hielt den Wert des Schilling für „gänzlich fiktiv". Devisen wären nicht erhältlich, selbst für ganz echte Transaktionen nicht, und eine Flucht weg vom Schilling würde in dem Augenblick einsetzten, in dem es einen freien Devisenmarkt gäbe. Das Finanzministerium gebe zu, daß es keine Geldreserven besitze, erkläre aber, es werde irgendwie durchkommen, und wenn die geplanten Einsparungen nicht ausreichen sollten, werde man eben weitere machen müssen.9 Ende Oktober 1931 deutete der neue Kanzler Dr. Karl Buresch an, die Regierung beabsichtige, gegen einen Direktor der Creditanstalt wegen Veruntreuung vorzugehen. Denn er gelte als einer der Mittelsmänner, „durch deren Hilfe die Rothschilds es irgendwie fertiggebracht haben, einen guten Teil ihrer Gelder aus Österreich abzuziehen". Phipps hielt das meiste für Gerede, das aber „die widerlichen Zutaten zeigt, mit denen die österreichische Suppe gekocht würde". Es bestehe „kaum Hoffnung auf Säuberung des Augiasstalls der Creditanstalt", wenn die Angelegenheit der Regierung nicht entzogen würde; das aber ginge nur durch die Wiedereinführung der ausländischen Kontrolle. Einige Wochen darauf erklärte Buresch öffentlich, nichts könne ihn dazu brin125
gen, die Regierungsgarantie für die Creditanstalt zurückzuziehen, und der Staat könne sich nicht in rein wirtschaftliche Fragen einmischen. „Dieser etwas vage Versuch, das Vertrauen wiederherzustellen", kommentierte Phipps, werde unglücklicherweise durch eine Erklärung der Direktion der Creditanstalt wieder aufgewogen, in der sie zugab, zu Beginn der Krise 300.000 Schilling ausgegeben zu haben, „um eine Erörterung der ernsten Lage der Bank in der Presse zu vermeiden". Die sozialistischen Feinde der Bank und der Familie Rothschild „könnten kaum besseren Zündstoff erhalten" für ihren Feldzug gegen die von der Bank geförderte „Korruption".10 1932 vernahm Phipps „aus guter Quelle", daß die Staatsanwaltschaft die Verhaftung zweier früherer Direktoren der Creditanstalt beantragt habe, die Regierung den Antrag aber noch am gleichen Tag abgelehnt und beschlosssen habe, die beiden nicht verhaften zu lassen. Zwei der Heimwehr angehörige Minister (Rintelen und Jaconcig) seien „besonders dafür eingetreten, nichts zu tun", weil die Verdächtigen der Heimwehr große Summen Geld gezahlt hätten. Die Regierung habe es auch abgelehnt, Portugal um die Auslieferung eines früheren Direktors zu ersuchen.11 Der Geschäftsbericht der Creditanstalt für das erste Halbjahr 1932 zeigte ein weiteres Defizit von 34 Millionen Schilling. Einem Bericht der Gesandtschaft zufolge befand sich die Bank noch immer „unmittelbar vor dem Zusammenbruch, wenn sie nicht Ordnung im eigenen Hause schaffen und auf einer vernünftigen Basis zu einem Übereinkommen mit ihren ausländischen Gläubigern kommen kann". Im Juli 1931 seien ihr gegen eine allgemeine Regierungsgarantie die Reserven der Wiener Sparkassen anvertraut worden, und „nunmehr weigere sie sich entschieden, diese zurückzuzahlen", weil sie „diesen weiteren Verlust" unmöglich verkraften könne - trotz aller Versuche der Wiener Sozialdemokraten, die Rückzahlung zu erreichen. In seiner Ansprache an die Industriellenvereinigung erklärte der neue Bundeskanzler Engelbert Dollfuß im Juli 1932, daß die Regierung bei ihrer Rettungsaktion für die Creditanstalt nicht nur an die Bedürfnisse der Industrie denke, sondern auch an die „Hunderte von Milionen von Sparkassengeldern", die in der Bank deponiert seien. Der Zusammenbruch würde für die österreichischen Sparkassen „ähnliche Folgen haben" und „Privatleuten unendliches Elend bringen". Laut Bericht des Völkerbundsvertreters in Wien, Dr. Rost van Tonningen, waren die drei anderen größeren Banken - der Wiener Bankverein, die Niederösterreichische Escomptegesellschaft und die Merkurbank - mit generellen Ausgaben belastet, die in keinem Verhältnis zu ihren Einnahmen und Gewinnen stünden. Nach Ansicht „mehrerer angesehener und unabhängiger Beobachter" könne keine dieser Banken „den Schock einer zwangsweisen Liquidation der Creditanstalt, von der heute über 40 Prozent der größeren industriellen Unternehmen des Landes abhängen, überleben".12 Ende 1932 betrug das jährliche Defizit der Niederösterreichischen Escomptegesellschaft 60 Millionen und das des Wiener Bankvereins 19 Millionen Schilling. Daher mußte die Regierung beide stützen, „um einen Teil der hiesigen Industrie von der Last der Verschuldung an diese Banken zu befreien... und einige agrarische und kommunale Unternehmungen, die den Anhängern der gegenwärtigen Regierung nahestehen, zu unterstützen." Im März 1933 wurden innerhalb weniger Tage fünf Millionen Schilling von der Wiener Zentralsparkasse abgehoben. Die Regierung sah sich 126
einer neuerlichen Krise gegenüber und rief mitten in der Nacht Rost van Tonningen herbei, mit dem Ersuchen, er müsse zustimmen, daß der Nationalbank die Auszahlung von zusätzlichen 40 Millionen Schilling gestattet werde, sonst müsse die Regierung zurücktreten. „Jeder Minister", schrieb Phipps, „hatte im Nebenzimmer in Gestalt von Bauernvereinen usw. einige seiner Anhänger, die hungrig auf ihre Beute warteten." Rost gab schließlich nach, aber nur unter der Bedingung, „daß diese Millionen ausschließlich mit spezieller Genehmigung von Rost verfügbar sein s o l l t e n . . . und so sind die zusätzlichen 40 Millionen praktisch nicht existent", war Phipps' Kommentar. Der Ankauf der Aktiva der Niederösterreichischen Escomptegesellschaft zum in der Bilanz erscheinenden Wert kostete 90 Millionen Schilling, der der Aktiva des Wiener Bankvereins weitere 49 Millionen Schilling - und dies lediglich, „um die Banken vor dem unmittelbaren Zusammenbruch" zu schützen. Die Rettungsaktion für die Creditanstalt kostete sehr viel mehr: fast 1.000 Millionen Schilling zwischen 1931 und 1933. Ihre Aktiva und Passiva mußten abgeschrieben, Gehälter gekürzt und viele Angestellte entlassen werden. Im Sommer 1933 war die Bank „nominell wieder imstande, die Geschäfte aufzunehmen", schrieb der Gesandte. Es bleibe jedoch abzuwarten, ob die Creditanstalt wieder eine „lebende Bank" werden würde. So würden drei Banken künstlich am Leben erhalten, obwohl eine oder höchstens zwei „für die Bedürfnisse des heutigen Österreichs voll ausreichten". 13 Die Rechnung mußte die Regierung, das heißt der Steuerzahler, begleichen und dies zu einer Zeit, in der die Einnahmen ständig zurückgingen und die Ausgaben für die Sozialversicherung ständig stiegen. Anfang 1933 besuchte ein britischer Diplomat aus Wien Bauernwohnungen in der Nähe eines bekannten Tiroler Ferienortes und fand diese innen „ohne Ausnahme in elendem Zustand", und in einigen Fällen sei „selbst das Brot knapp". Die Bergbauern seien zu weit von Wien entfernt, um Fleisch dorthin zu verkaufen, und sie könnten kein Getreide anbauen; sie seien daher „sehr schlecht daran". Seiner Meinung nach profitierten die ober- und niederösterreichischen Bauern in gewissem Ausmaß von der Regierungspolitik und deren Einfuhrbeschränkungen. Der Besitzer eines großen Waldgutes in Kärnten habe ihm erzählt, daß im laufenden Jahr kein einziges Gewinn erwirtschaften könne, obwohl sein eigenes Gut dicht an der italienischen Grenze und damit eigentlich für Exporte günstig gelegen sei. Mitte der zwanziger Jahre habe die Holzindustrie floriert, aber jetzt sei sie „fast ruiniert", und von ihr hänge „ein nicht geringer Teil der österreichischen Bauern ab". Nach Ansicht des Verfassers des Berichts war es dringend notwendig, „die Profitgier, die einseitige Anwendung von Vorschriften, die Steuerhinterziehung durch Wohlhabende und die Schikanen aller Art in jedem Handels- und Industriezweig und in allen Gesellschaftsschichten abzustellen". Ohne eine solche Säuberung würden alle Reformen wenig nützen - „aber wer in Österreich kann dies erzwingen?"14 Er hatte wenig Hoffnung, daß seine Ideen Anklang finden würden, denn was er anprangerte, war in der österreichischen Gesellschaft zu tief verwurzelt. Was die österreichische Regierung für den Augenblick vermutlich rettete, war eine neue internationale Anleihe, die 1932 durch den Völkerbund vermittelt wurde und 300 Millionen Schilling betrug. Je ein Drittel davon wurden von Großbritannien und Frankreich beigetragen. Dabei stellte Frankreich die Bedingung, daß Österreichs 127
wirtschaftliche Position rektifiziert und die finanzielle Kontrolle des Völkerbundes, die 1926 aufgehoben worden war, wieder hergestellt werden müsse. Vertraulich informierte die französische Regierung die britische, daß sie auch eine Erneuerung des Anschlußverbotes wünsche, aber das stieß auf Widerspruch der deutschen und italienischen Regierung. Das Foreign Office war für „strikte Neutralität"; Großbritannien dürfe „sich nicht daran binden, die Franzosen zu unterstützen, gegen deutsche und italienische Opposition politische Bedingungen aufzuerlegen"; es würde „höchst unangenehm" sein, wenn die Franzosen auf ihrem Willen beharrten. 15 Im gleichen Jahr schrieb Phipps aus Wien: „Die dunklen Wolken haben auch einen Silberstreifen". Seit das neue Österreich existiere, habe das Problem der Einsparungen und der Verwaltungsreform bestanden. Während man unter der Kontrolle des Völkerbundes erhebliche Fortschritte gemacht habe, hätten die dann folgenden „guten Jahre" einen Fortgang der Reform erschwert, und es sei zu einem „Rückfall in relative Verschwendung" gekommen". Jetzt zwinge die Not die Regierung, das Problem wieder aufzunehmen. Er war auch der Ansicht, daß man von der „österreichischen Vorkriegsgeneration kaum erwarten könne, so schwer zu arbeiten wie die Schweizer". Die Jüngeren aber wären besser und wüßten, daß man arbeiten muß; ihr Eintritt ins Wirtschaftsleben sei eine der Ursachen der schweren Arbeitslosigkeit. Seit dem Krieg, bis sich die Auswirkungen der Wirtschaftskrise und der Heimwehrpropaganda bemerkbar gemacht hätten, habe Österreich „sehr bemerkenswerte Fortschritte" gemacht - Fortschritte im Außenhandel, in der Produktion, im Eisenbahnverkehr, im Wachstum der Sparguthaben und in der Deckung der Währung. Die erzielten Fortschritte seien größer als in den meisten anderen Ländern, „vielleicht die größten in Europa", und „der Mythos von Wien als Wasserkopf, der den Körper ruinieren muß", sei geplatzt.16 Es war eine optimistische Ansicht, die Phipps hier äußerte, aber die langsame wirtschaftliche Erholung in den Jahren nach 1933 sollte zeigen, daß sein Optimismus nicht ganz unberechtigt war. Schober war nur zwölf Monate lang Bundeskanzler und wurde dann, wie angenommen, durch Vaugoin ersetzt, der nur wenige Monate lang im Amt blieb. Eines von Schobers Hauptzielen blieb die Entwaffnung der Wehrverbände, und wahrscheinlich erfreute er sich deswegen, mehr als jeder andere Kanzler, des britischen Vertrauens; vielleicht aber auch, weil er mit Recht behaupten konnte, er handle nicht im Interesse einer politischen Partei. Als es ihm gelang, in der heiklen Frage der Verfassungsreform einen Kompromiß zustandezubringen, schrieb Phipps begeistert: „Schober ist wirklich ein großartiger Mann . . . Seit er das Amt übernommen hat, hat er 20 Pfund an Gewicht verloren". Im Frühjahr 1930 teilte Henderson seinem französischem Kollegen Briand mit, „daß Herr Schober auf ihn den Eindruck eines Mannes mache, der sein Land gemäß aufgeklärten und liberalen Ideen zu regieren wünsche und dessen Unabhängigkeit aufrechterhalten wolle". Schober habe ihm versichert, er würde „die Entwaffnung der illegalen Verbände durchführen". Briand bestätigte diese Eindrücke, und die beiden Außenminister kamen überein, daß die Lage „zufriedenstellend" sei. Einem Abgeordneten der Labour Party schrieb Henderson um die gleiche Zeit, er beobachte die Lage in Österreich sorgfältig, und sie habe sich in den letzten Monaten „erheblich gebessert". Schober habe dem Generalsekretär des Völkerbun128
des mitgeteilt, daß er beabsichtige, ein Gesetz einzubringen, welches „nicht nur das Tragen, sondern den Besitz von Waffen durch unberechtigte Personen verbiete". Wenn dieses Gesetz angenommen werde, könne damit sowohl die Entwaffnung der Heimwehr als auch die des Republikanischen Schutzbundes erreicht werden. Doch Phipps gab zu, daß der Gesetzesentwurf „die Wut der Extremisten auf beiden Seiten erregt habe, besonders die der Heimwehren". 17 Ohne ihr Waffenarsenal wäre die Heimwehr machtlos geworden. Trotz seiner Sympathie für Schober war Phipps der Meinung, daß dessen „unbesiegbarer Optimismus manchmal zu weit ginge und ihn mehr versprechen lasse, als er leisten kann". Schober habe den britischen wie den französischen Gesandten informiert, er wolle „die ganze Anleihe sofort" haben, nachdem die neue internationale Anleihe im Prinzip gebilligt worden war. Jede Verzögerung würde seine ganze Position gefährden, denn er habe „unklugerweise öffentlich angekündigt, bis Ende Juni (1930) würde alles erfolgreich abgeschlossen sein." Phipps meinte, Schober sehe die Gefahr nicht, „daß der böse Seipel sich möglicherweise dafür entscheiden könnte, Schober zu stürzen, sobald die Anleihe emittiert ist",18 denn Schober war von den Stimmen der Abgeordneten der Christlichsozialen Partei im Parlament abhängig. Und in der Tat fiel seine Regierung drei Monate später infolge der persönlichen Intrige eines führenden christlichsozialen Politikers. Doch in der Wahl vom November 1930 verlor die Christlichsoziale Partei sieben Mandate und hatte nunmehr sechs weniger als die Sozialdemokraten (66 gegen 72), während die Heimwehren, die zum ersten Mal an einer Wahl teilnahmen, acht Mandate erhielten. Ende 1930 wurde unter dem Landeshauptmann von Vorarlberg, Dr. Otto Ender, eine neue, kurzlebige Regierung gebildet, in der Schober Vizekanzler und Außenminister war. Auch sie fiel nach nur sechs Monaten aufgrund des Zusammenbruchs der Creditanstalt und des Scheiterns einer geplanten Zollunion mit Deutschland. Wie die Gesandtschaft berichtete, wurden vom Projekt der Zollunion „sowohl die Geschäftswelt als' auch die Politiker völlig überrascht", wobei die Politiker noch eher dafür gewesen seien als die Geschäftsleute. Während viele Kaufleute auf mehr Handel mit Deutschland hofften, seien Industrielle und einige Bankiers skeptisch. Einige Wochen darauf berichtete Phipps, daß die Hochfinanz nach wie vor „negativ gestimmt", der politische Einfluß der Bankiers aber „gering und nur indirekt" sei. Die Industriellen seien uneins. Diejenigen, die Massenproduktion betrieben, hätten „meist Angst vor deutscher Konkurrenz", während andere, bei deren Arbeit „individuelle Fertigkeit und Geschmack eine große Rolle spielen", von der Öffnung des deutschen Marktes trotz der deutschen Konkurrenz mehr Gewinn als Verlust erwarteten. Die Landwirtschaft andererseits sei „fast einstimmig für die Zollunion", weil die deutschen Schutzzölle höher als die österreichischen wären, nur die Schweinezüchter fürchteten die deutsche Konkurrenz.19 Der Plan einer Zollunion entfachte in Frankreich und den Staaten der kleinen Entente einen Proteststurm und mußte von Österreich als Vorbedingung für neuerliche finanzielle Hilfe aufgegeben werden. Doch Schober blieb zunächst Außenminister. Im November 1931 schrieb Phipps: „Die österreichische Regierung kann, selbst wenn man die Phantasie spielen läßt, weder als stark bezeichnet werden, noch scheint sie ganz frei von Korruption zu sein. Obwohl die hiesige öffentliche Meinung bekannt 129
für ihren Langmut ist, beginnt man nun, Zeichen von Ungeduld zu zeigen angesichts der Nachlässigkeit der Regierung, die schweren finanziellen und wirtschaftlichen Probleme befriedigend anzupacken". Schober verliere täglich an Prestige, und sein verbleiben im Amt wäre „nicht dazu angetan, die Franzosen günstiger für Österreich zu stimmen". Laut einem Bericht des britischen Geheimdienstes von Anfang 1932 war die interne politische Situation beherrscht von „einem Duell zwischen Schober und Seipel". Obgleich Seipel in der neuen Regierung nicht Außenminister sei, werde er „hinter den Kulissen wahrscheinlich erheblichen Einfluß ausüben". Phipps war der gleichen Meinung; er schrieb, Buresch sei von einer christlichsozialen Parteiversammlung gezwungen worden, Schober zu entlassen und seine Regierung ohne die Großdeutschen zu bilden, so daß er keine parlamentarische Mehrheit habe. Wenn jetzt die Großdeutschen gegen die Regierung stimmten, würde „Mgr. Seipel Gelegenheit haben vorzutreten und zu erklären, daß die Rettung Österreichs unter einem parlamentarischen Regime offensichtlich unmöglich sei." Falls man sich frage, warum Seipel so dringend eine Diktatur wünsche, wenn seine Aufgabe so außerordentlich schwierig sein werde, „so laute die Antwort, daß er nicht länger warten könne. Er müsse fest im Sattel sitzen, bevor in Deutschland ein Hitlerregime etabliert wird, da Österreich sonst von einer nationalsozialistischen Welle hinweggespült werden könnte." Seipel wolle „zum zweiten Mal als Retter Österreichs auftreten". Ihm nahestehende Leute hätten Phipps zwar versichert, daß er keine Eile habe und es vorziehen würde, wenn die gegenwärtige Regierung noch ein paar Monate im Amt bliebe, aber deren Schwäche könnte dies verhindern: „Ein Luftzug könnte sie wegblasen, und Wien ist im Augenblick ein sehr zugiger Platz."20 Im Juni 1931, als die Buresch-Regierung durch die Opposition der Großdeutschen in der sehr heiklen Frage der Besteuerung der Beamtengehälter bedroht war, ging Phipps so weit, daß er sich an den deutschen Gesandten Dr. Rieth wandte. Er betonte ihm gegenüber, wie töricht das Benehmen der Großdeutschen sei, denn eine neuerliche Kabinettskrise würde sich auf die allgemeine Lage Österreichs unglücklich auswirken. Phipps bat Rieth, er möge sobald wie möglich seinen Einfluß auf die großdeutschen Führer benutzen, um diese zu veranlassen, „Vernunft anzunehmen und einem Kompromiß mit der Regierung zuzustimmen". Rieth versprach zu tun, was er könne, und am folgenden Tag verkündeten die Zeitungen, Regierung und Großdeutsche hätten einen befriedigenden Kompromiß geschlossen. Aber auch die Regierung Buresch mußte nach wenigen Monaten, im Mai 1932, zurücktreten. Die folgende Regierung wurde nicht von Seipel, der in diesem Jahr starb, sondern von Engelbert Dollfuß, dem bisherigen Landwirtschaftsminister, gebildet. Da die Großdeutschen in der Opposition verblieben, verfügte die neue Regierung nur über eine Mehrheit von einer Stimme. Sie gewann nur mit größter Schwierigkeit die Zustimmung des Parlaments für die neue Anleihe von 300 Millionen Schilling, weil die an diese geknüpften Bedingungen unter anderem - gegen britische Opposition - ein neues Verbot des Anschlusses und der Zollunion mit Deutschland enthielten. 21 So war Regierung auf Regierung gefolgt, und keine hatte Stabilität gebracht oder einen Weg aus der politischen und wirtschaftlichen Krise zeigen können. Die Frage war, ob sich die Dollfuß-Regierung angesichts einer Zeit, in der Östereich 130
nicht nur durch die Heimwehren, sondern auch durch den Aufstieg des deutschen Nationalsozialismus bedroht war, als stärker erweisen würde. Die österreichischen Nationalsozialisten waren bedeutend schwächer als ihre deutschen Parteigenossen; bei den Wahlen vom November 1930 erhielten sie nur drei Prozent der Stimmen, halb so viel wie die Heimwehren, und kein einziges Mandat. Um die gleiche Zeit gewann die NSDAP in Deutschland 18 Prozent der Stimmen und wurde zur zweitstärksten Partei. Doch unter dem Einfluß der deutschen Erfolge wandelte sich auch das Geschick der österreichischen Nationalsozialisten, vor allem im Jahre 1932. Im Mai berichtet Phipps, im Vorjahre „wäre die Nazibewegung vergleichsweise unbeachtet im Land gewesen", und ihre Führer „dem Publikum fast unbekannt". Aber jetzt habe sich „eine nicht zu übersehende Änderung" vollzogen, und „die Nazipartei gewinne einen stetig wachsenden Einfluß auf Gruppen der Wählerschaft". Ihre Versammlungen seien sogar in Wien gut besucht, „ihre Plakate sind zahlreich, ihre Sprecher voll Leidenschaft und großzügig in ihren Versprechungen an die unzufriedenen, enttäuschten und verbitterten Elemente". Ihr österreichischer Führer Frauenfeld (der Wiener Gauleiter) gelte als ein „mysteriöser und fähiger Organisator", und die Bewegung werde allem Anschein nach ein Faktor bleiben, sie bringe Erregung und beute, genau wie in Deutschland, antijüdische Gefühle aus. Käme es zu einer allgemeinen Wahl, wurde die Partei 25-40 Mandate auf Kosten der bestehenden Parteien gewinnen. Manche würden jedoch behaupten, daß solch eine Begeisterung in Österreich nur eine gewisse Zeit anhalte und daß „der im Grunde ruhige Charakter der hiesigen Bevölkerung den Hitlerismus in Österreich eines guten Teils der Gefahr beraube, die er in Deutschland darstelle."22 Auch ein Bericht des britischen Geheimdienstes vom gleichen Monat erwähnte das rasche Wachstum der nationalsozialistischen Bewegung in Wien. Dort sei „ein Demonstrationszug mit 20.000 Teilnehmern mit großer Begeisterung empfangen worden" - 5.000 seien in militärischer Formation marschiert. Die Nationalsozialisten würden die Finanzkrise, den Zusammenbruch der Creditanstalt und die Schwäche der deutschen und österreichischen Regierung beim Projekt der Zollunion für sich ausnutzen. Außerdem profitiere die Bewegung vom Schwanken der Heimwehrführer zwischen prodeutscher und legitimistischer Politik, und viele Mitglieder der Wehrverbände, vor allem der Heimwehren, träten zu ihr über. In lokalen Wahlen hätten etwa 25 Prozent der Soldaten nationalsozialistisch gewählt, die Soldaten und die jüngeren Offiziere gerieten „mehr und mehr unter den Einfluß der Nazipropaganda": „Geboren aus Enttäuschung und Unzufriedenheit mit den Parteien, appelliert die Nazibewegung in Österreich, geführt von der Generation des Weltkrieges, im wesentlichen an die Jugend. Sie überbrückt die Differenzen zwischen den alten Parteien, und ihre Stärke beruht auf der kommenden Generation, während ihre Gegner, sowohl Christlichsoziale wie Sozialdemokraten, meist Männer mittleren Alters oder darüber hinaus sind. Sie ist wild antisemitisch und antikommunistisch."23 Diese Analyse stimmte im wesentlichen, sagte aber nichts über die soziale Basis der Bewegung aus. Im Jahresbericht der -Gesandtschaft für 1932 wurde diese mit „die große Armee der bürgerlichen Arbeitslosen" umschrieben. Ferner wurde die wachsende Stärke der Nationalsozialisten im Heer, in dem „ein oder zwei vereinzelte Aus131
briiche von militantem Nationalsozialismus" vorgekommen seien, erwähnt. Bei der Wahl von Soldatenräten im August seien jedoch nur neun Nationalsozialisten gewählt worden, verglichen mit 225 Christlichsozialen. Aber das wurde der Tatsache zugeschrieben, daß die Wahl „keineswegs so geheim war wie man annimmt" - bei einer wirklichen geheimen Wahl würden die Nationalsozialisten etwa 25 Prozent der Soldatenstimmen erhalten haben. Bei den Gemeindewahlen in Wien im April 1932 erhielt die Partei 210.000 Stimmen und gewann 15 Sitze.24 Der Erfolg der Nationalsozialisten wurde zum Teil der Propaganda „vor allem unter den Beamten und Mittelschichten" zugeschrieben, zum Teil ihren „Heldentaten" - den Krawallen an der Universität und einem „Angriff mit Tränengasbomben auf ein Warenhaus während der Weihnachtseinkäufe". Eine andere solche „Heldentat" bestand in einer Attacke auf einen Golfklub in Lainz bei Wien, dem sehr viele Juden und Ausländer angehörten. Bei einer Tanzveranstaltung seien zahlreiche junge Menschen, mehrere von ihnen in Naziuniform, „aus der Dunkelheit auf die überraschten Gäste eingedrungen, stürzten die Tische um, warfen Fenster ein, brüllten Nazilosungen und richteten viel Schaden an. Auf ein Signal hin waren sie dann alle verschwunden." Trotzdem sagte der Jahresbericht der Gesandtschaft für 1932 einen Rückgang der Bewegung voraus. Sie könne sich „nicht auf protestantische Abneigung gegen den Katholizismus stützen", wie sie es in Deutschland „anscheinend tue"; ihre Doktrin werde in Österreich auf die Dauer nicht akzeptabel sein". Eine Partei, die antimarxistisch, antisemitisch und antiklerikal sei, werde in einem Land, „in dem jeder, der nicht Jude oder Sozialist ist, Katholik sei", kaum willkommen sein.25 Das traf vielleicht in gewissem Grade auf Wien zu; aber vor allem in Kärnten und der Steiermark gab es weite Gebiete mit einer ganz anderen Tradition, die nationalistisch und nicht katholisch war. Der Jahresbericht der Gesandtschaft für 1933 stellte mit Recht fest, daß „die beiden Nazidoktrinen ,Mehr Arbeit' und .Antisemitismus' in der von der Natur aus antisemitischen und verarmten Jugend Österreichs ein fruchtbares Feld fänden". Er erwähnte „die hoffnungslose wirtschaftliche Zukunft, der sich die Mehrheit der heranwachsenden Jugend gegenübersähe". Die akademischen Berufe seien nicht nur überfüllt, sondern sie litten noch dazu unter der wachsenden Konkurrenz durch Juden und Frauen. Auch „unter den Geschäftsleuten, Kleingewerbetreibenden, Fabrikbesitzern und Hoteliers" gebe es viele aktive Nationalsozialisten, ebenso unter den Beamten, Lehrern, Ärzten, Zahnärzten und Rechtsanwälten, „deren Leben von Jahr zu Jahr immer unsicherer wird und die ihre Schwierigkeiten der jüdischen Konkurrenz zuschreiben". 26 Das war soweit ganz richtig und entsprach zum großen Teil den Analysen, die damals und später von der nationalsozialistischen Bewegung in Deutschland gemacht wurden. In den Kleinstädten und Dörfern Österreichs hatte die örtliche „Intelligenz" - Ärzte, Lehrer, Rechtsanwälte usw. - eine antiklerikale, großdeutsche und nationalistische Tradition, die bisher der Großdeutschen Partei zugute gekommen war. Deren Anhänger liefen in Massen zu den Nationalsozialisten über; in Kärnten, der Steiermark und anderswo brachten die Heimwehren den Nationalsozialisten ihre militanten Gefolgsleute. 27 Mehrere Berichte enthielten Einzelheiten über antisemitische Ausbrüche in Wien, die möglicherweise von Nationalsozialisten ausgingen. Ebenso wie in Deutschland führte der Film „Im Westen nichts Neues" Anfang 1931 zu wilden Demonstra132
tionen. „Das fragliche Kino wurde von einem Polizeikordon umgeben, durch den nur Leute mit Billets für die Vorstellung . . . durchgelassen wurden. Die Ladenbesitzer der Umgegend ließen ihre Rolläden herab, und das ganze Viertel sah aus wie eine belagerte Stadt." Massen von Demonstranten sangen „Deutschland über Alles" oder riefen „Nieder mit den Juden!" Die berittene Polizei versuchte, die Menge zu zerstreuen, etwa dreißig Menschen wurden verhaftet. Der Innenminister ersuchte den Wiener Bürgermeister um Aufrechterhaltung der Ordnung, und als das nicht beachtet wurde, verbot eine Notverordnung Vorführungen des Films in ganz Österreich. 1930 beschloß der Senat der Universität Wien, Vereinigungen von Studenten gleicher Nationalität und Sprache offiziell anzuerkennen, und die „Deutsche Studentenschaft" wurde ausdrücklich als Repräsentantin aller „deutschen" Studenten anerkannt - ein Ziel, das sie schon lange verfolgt hatte. Nur die sozialistischen und jüdischen Studentenvereine protestierten gegen diese parteiische Anerkennung. Die christlichsoziale Reichspost hingegen erklärte, die „Deutsche Studentenschaft" umfasse alle „deutschen" Studenten mit der einzigen Ausnahme der „Marxisten" womit angedeutet wurde, daß dies eine ganz zufriedenstellende Lösung sei. Doch im folgenden Jahr erklärte der Verfassungsgerichtshof die Senatserklärung für illegal. Sobald das bekannt wurde, brachen an der Universität unter der Losung „Nieder mit den Juden" Unruhen aus, und eine antisemitische Demonstration fand „unter Polizeiaufsicht" statt.28 In der Berichterstattung über diese Vorgänge erwähnte die Gesandtschaft nicht, daß die „Deutsche Studentenschaft" seit längerem den „Arierparagraphen" eingeführt hatte, der Juden und andere „Nichtarier" von der Mitgliedschaft ausschloß; der Senatsbeschluß bedeutete also eine indirekte Anerkennung dieses Prinzips. Ende 1930 erklärte die Gesandtschaft kategorisch: „Das Jahr 1929 sah die Heimwehr am Höhepunkt ihrer Macht, und das Jahr 1930 ihren Niedergang." Als Hauptgrund dafür wurde angegeben, daß „die Führer der Bewegung nicht die erforderlichen Führungsqualitäten besessen hätten, als sie wirklich stark wurde"; daher sei sie „zu einer schwachen und uneinigen politischen Partei degeneriert". 29 Das war tatsächlich die deutlichste Schwäche der Heimwehren, abgesehen von den ideologischen Differenzen zwischen den örtlichen Organisationen, die schließlich zu einer Spaltung führten. Diese „zentrifugale Tendenz" wurde in den Berichten aus Wien öfters erwähnt. Anfang 1930 hieß es, daß „die rücksichts- und kompromißlosen Methoden" des deutschen Majors Pabst, der für die technische und militärische Organisation der Heimwehr verantwortlich war, viele andere Führer abgestoßen hätten, vor allem den derzeitigen Innenminister Vincent Schumy. Pabst war kurz nach seiner Ankunft in Österreich im Jahre 1920 unter einem fingierten Namen (er war aus Deutschland geflohen) die österreichische Staatsbürgerschaft verliehen worden. Schumy war entschlossen, die betreffende Urkunde zu finden und ihre Ungültigkeit zu beweisen, aber die Tiroler Behörden verweigerten die Herausgabe. Pabst reagierte, indem er Schumys Ausschluß aus der Kärntner Heimwehr durchsetzte, wobei er vom Tiroler und zentralen Führer Dr. Steidle unterstützt wurde, der Schumys Landbund Verrat an der Bewegung vorwarf. Schumy verlangte daraufhin uneingeschränkte Entschuldigung, aber alle Vermittlungsversuche scheiterten. Die Führer des Landbundes er133
klärten sich mit Schumy solidarisch, verurteilten die Anwendung von Gewalt zur Erreichung politischer Ziele, den Faschismus ebenso wie den Bolschewismus, und gaben bekannt, sie würden die Heimwehr „nur insoweit unterstützen, als ihre Absichten defensiv seien". Einige örtliche Landbundführer forderten die Gründung einer Bauernwehr als Opposition zur Heimwehr. Diese wiederum reagierte wütend: Das sei „klarer Verrat", hieß es, und man erließ eine Kriegserklärung „gegen alle, die versuchen sollten, eine solche Bewegung zu fördern". Die versammelten Heimwehrführer versuchten verzweifelt, ihre persönlichen Differenzen zu überwinden und die Kritik an Steidles Führung zu besänftigen.30 In Opposition zu Steidle und Pabst trat der viel jüngere oberösterreichische Heimwehrführer Fürst Starhemberg, der im April 1930 „schon eine halb unabhängige Stellung für sich selbst auf feudaler Ebene aufgebaut" hatte, wie Phipps notierte. Im Mai versuchte Steidle, die internen Konflikte zu überbrücken, indem er sich „offen als Parteigänger des Faschismus bekannte" und in Korneuburg erklärte: „Wir verwerfen das westliche parlamentarische System." Damit forderte er die anwesenden christlichsozialen Abgeordneten heraus, „zwischen Treue zu ihrer Partei oder zur Heimwehr zu wählen". Die versammelten Heimwehrführer mußten schwören, das parlamentarische System und den Parteienstaat zu bekämpfen. Das führte unter den christlichsozialen Abgeordneten zu langwierigen Diskussionen, die zum Teil mit, zum Teil ohne die Heimwehrführer stattfanden, um eine Form zu finden, die es ihnen gestatten sollte, Mitglied beider Organisationen zu bleiben - Diskussionen, die mit einer „völlig nichtssagenden Resolution" endeten, wie Phipps schrieb. Bald darauf handelte die Regierung Schober. Pabst wurde verhaftet und aus Österreich ausgewiesen. Nach Phipps' Ansicht war er „der wirkliche Organisator der Heimwehr" und daher „ein schwerer Verlust" für diese.31 Er berichtete auch über eine Konferenz der Heimwehrführer in Budapest: Sie hätten dort rtiit zahlreichen Führern des deutschen „Stahlhelms", unter ihnen ein echter Prinz des Hauses Hohenzollern, und einem Mitglied der italienischen Gesandtschaft das Thema Faschismus und eine Zusammenarbeit zwischen den Wehrverbänden Deutschlands, Österreichs und Ungarns erörtert - eine Nachricht, die Phipps recht „beunruhigend" fand.32 Im Mai 1930, am Vorabend der Parlamentsdebatte über das Entwaffnungsgesetz, veröffentlichten die Heimwehrführer ein Manifest, das ihre Bedingungen für eine Unterstützung der Regierung enthielt: Es sollte ihnen gestattet werden, bei der Beschlagnahme sozialistischer Waffenlager mitzuwirken, und ein Heimwehrführer sollte zum Innenminister ernannt werden (um Kontrolle über die Polizei zu erhalten). Die Regierung verwarf diese Bedingungen, und das Parlament nahm den Gesetzesentwurf an. Im September informierte Schober Phipps, er hoffe „auf baldige und günstige Entwicklungen im Heimwehrlager, beginnend mit der Ausschaltung von Dr. Steidle". Am folgenden Tag wählten die versammelten Führer der Heimwehr nach heftiger Diskussion und angeblich mit nur einer Stimme Mehrheit, Starhemberg zu ihrem obersten Führer; Steidle mußte als Bundesführer mit seinen Mitarbeitern zurücktreten. Bald darauf wurde Starhemberg zum Innenminister der Regierung Vaugoin ernannt, und eines der Heimwehrziele schien erreicht zu sein. Es war jetzt 134
Starhembergs Aufgabe, das Entwaffnungsgesetz durchführen zu lassen, und alle diesbezüglichen Maßnahmen waren ausschließlich gegen den Republikanischen Schutzbund gerichtet. Doch laut Kommentar des Foreign Office „waren die Ergebnisse anscheinend recht mager". Im November 1931 stellte es darüber hinaus fest, „daß wahrscheinlich keine gegenwärtige oder zukünftige österreichische Regierung stark genug sein würde, um wirkliche Maßnahmen zur Entwaffnung zu ergreifen".33 Das war das Begräbnis aller früheren Hoffnungen. Öffentlich rief der neue Innenminister vor seinen uniformierten Anhängern aus: „Ich will den Wienern eine gute Losung für die Wahlen geben, sie sollen ihre Wahlkampagne gegen Breitner führen. Erst wenn der Kopf dieses Asiaten auf den Boden rollt, wird der Sieg unser sein." Doch später leugnete Starhemberg die korrekte Wiedergabe seines Ausbruchs gegen den populären Stadtrat. Wie Phipps bemerkte, war die Heimwehr völlig uneinig über die politische Linie bei den Wahlen: Einige Führer wollten sich einen Platz auf der christlichsozialen Liste sichern, andere waren für getrenntes Auftreten, und die Gemäßigten „waren schwer beunruhigt über das Benehmen dieses Regierungsmitgliedes". Phipps versuchte auch, die vom Korrespondenten des Manchester Guardian geäußerte „übertriebene Besorgnis" zu relativieren: „denn das gesamte Wesen der Heimwehr besteht aus ausschweifenden Reden, und man kann ihre Äußerungen nicht wörtlich nehmen." Im November 1930 berichtet er über die triumphale Rückkehr Pabsts aus Italien nach Tirol: „In dem Moment, als er österreichischen Boden betrat, wurden Fahnen gehißt, und eine Kapelle begann zu spielen . . . In Innsbruck versammelten sich mehrere tausend Heimwehrleute auf der Straße und führten Major Pabst mit Fackeln zu seinem Haus. Abends fand im Rathaus ein Empfang statt, bei dem von Dr. Steidle, Major Pabst und anderen die üblichen aufreizenden Reden gehalten wurden."34 Sein Exil hatte nicht lange gedauert. Im gleichen Monat berichtete die Gesandtschaft über neue Uneinigkeiten. Der Führer der Heimwehr in Niederösterreich, der christlichsoziale Abgeordnete Julius Raab, habe sich geweigert, die Autorität Starhembergs anzuerkennen, und eine eigene katholische Bewegung gebildet. In den Ländern verstärke sich eine Tendenz, „die zur Loslösung der Heimwehr eines jeden Landes von der Kontrolle der Bundesführung führen könne", was in Vorarlberg schon geschehen sei. Viele, die vor kurzer Zeit noch begeisterte Anhänger waren, „verspotteten jetzt öffentlich die ganze Organisation und besonders Starhemberg"; sie würden von „Starhembergs kindischem Benehmen als Innenminister und seiner offenen Sympathie für den Nationalsozialismus" abgestoßen. Ein Bericht des militärischen Nachrichtendienstes aus der gleichen Zeit stellte fest, daß Starhemberg „engen Kontakt zu Hitler" habe und „alle, jedenfalls die militanten Elemente der Heimwehr unter seiner Führung vereint" hätte. Sollten sie einen Putsch versuchen, sei die Haltung der Armee unmöglich vorauszusagen. Aber jede Aktion gegen die Heimwehr sei ausgeschlossen, „und die Soldaten würden die Heimwehr auf jeden Fall aktiv gegen die Sozialdemokraten unterstützen"; sie werde bestimmt versuchen, an die Macht zu kommen, „ob auf verfassungsmäßigem oder nicht verfassungsmäßigem Weg", die Lage sei „äußerst ernst".35 Der lang erwartete Putsch erfolgte im September 1931, blieb aber ein auf die 135
Steiermark begrenzter isolierter Versuch, der nur in Oberösterreich schwach unterstützt wurde. Wie die Times berichtete, „begann die Heimwehr ihren Versuch zur Machtergreifung, indem sie in vielen obersteirischen Städten Staats- und Gemeindeämter, Bahnhöfe und Schulen besetzte". Durch Proklamationen wurde der Bevölkerung bekanntgegeben, daß Dr. Pfrimer die Regierung übernommen habe; das Volk „in seiner bitteren Not" habe ihn zum „Beschützer seiner Rechte" gemacht. Ein Manifest verkündete die Aufhebung der Verfassung und kündigte eine neue, provisorische an. Doch schon am Nachmittag räumten die bewaffneten Formationen Pfrimers viele Orte wieder, nur sieben Städte blieben noch besetzt. „Aber die Regierung sei überzeugt, daß sie sich noch am Abend zurückziehen würden". Der Manchester Guardian teilte mit, daß zwei Arbeiter erschossen und zwei andere schwer verwundet wurden. Heer und Gendarmerie hätten die Ordnung wieder hergestellt, aber die Heimwehr sei nicht entwaffnet worden. Als der Korrespondent ihre Hauptquartiere in Bruck und Kapfenberg aufsuchte, sah er dort Gewehre und Maschinengewehre. Am nächsten Tag erwähnte die Zeitung, daß die Führer inklusive Starhemberg verhaftet wurden. Laut der Times fand man in Heimwehrbüros in Judenburg Geheimkorrespondenz, die Starhemberg belastete. Pfrimer habe an seine Leute appelliert, ruhig nach Hause zurückzukehren.36 In den Berichten der britischen Gesandtschaft wurde der Zusammenbruch des Putsches mit der Passivität und Uneinigkeit der Führer begründet: „Die Heimwehrbewegung sei im Niedergang begriffen", hieß es, aber ihre Entwaffnung „würde so gut wie unmöglich sein, solange in den abgelegenen und zurückgebliebenen ländlichen Gegenden Österreichs das Mißtrauen gegen das ,rote Wien' bestehe". Die Ursachen für das Fehlschlagen „der Komischen Oper, die man in den letzten zwei Tagen gespielt habe", seien „Eifersucht und Uneinigkeit unter den Führern", „mangelnde Einmütigkeit zwischen den monarchistischen, christlichsozialen und großdeutschen Anhängern" sowie Schwäche der „Organisation, Ausbildung und Bewaffnung". Diese Charakteristika machten jeden Versuch, „die Zügel der Regierung zu ergreifen, grotesk". Der Fehlschlag habe denen recht gegeben, die alle diese Schwächen betont hätten, „obgleich sie die Fähigkeit zu Selbsttäuschung und Selbsterhöhung unter den Heimwehrführern unterschätzten". Im November erwähnte ein weiterer Bericht, daß die Heimwehr in zwei Hauptlager gespalten sei: die Anhänger einer Vereinigung mit der Hitlerpartei in Deutschland und die schwächeren Legitimisten. Starhemberg versuche, „auf diesen zwei auseinanderstrebenden Rossen zu balancieren. Er nehme Geld von den deutschen Nazis, versichere aber seinen legitimistischen Freunden, im Innersten auf ihrer Seite zu sein"". Seine intelligenteren Freunde würden seine Schwächen kennen, aber auch „seine ungeheure Popularität bei den Bauern usw. - eine Popularität, die durch seine kurze Verhaftung im vergangenen September noch erheblich gewachsen" sei. Man habe aus einer „zuverlässigen Quelle" gehört, daß die deutschen Nationalsozialisten 5.000 Mark monatlich und 100.000 Mark bar zahlten, damit Starhemberg an der Spitze der Bewegung bleibe. Warum sie das tun sollten, sei schwer feststellbar, es sei denn „sie wüßten genau, daß er so schwach und dumm ist, daß sie ihn immer völlig beherrschen könnten".37 Der Jahresbericht der Gesandtschaft für 1931 gab die Maximalstärke der bewaff136
neten Heimwehrformationen mit 40.000 Mann an, wovon 10.000 in der Steiermark „ziemlich gut bewaffnet und organisiert", je 3.500 in Kärnten und Tirol „in guter Form" und 1.000 in Vorarlberg „tüchtig" seien; der Rest habe „wahrscheinlich nur geringen Wert". An Munition herrsche große Knappheit; beim letzten Putsch hätten die Männer nur 50 Runden pro Gewehr oder noch viel weniger zur Verfügung gehabt, und für die Maschinengewehre maximal zwei Gurte. Im Vergleich hätte der Republikanische Schutzbund etwa 25.000 Mann; 15.000 davon seien in Wien in zwölf „Bataillonen" organisiert, und außerhalb Wiens gebe es dreizehn weitere solche „Bataillone". Es komme zu zahlreichen Übertritten zu den Nationalsozialisten und Kommunisten. Der Waffenbesitz beider Verbände bestehe zum großen Teil aus Gewehren aus dem Krieg, die in schlechtem Zustand seien, und einer Anzahl alter und vernachlässigter Maschinengewehre. Viele Armeeoffiziere sympathisierten mit der Heimwehr und „würden jeden »Putsch* von rechts unterstützen, vorausgesetzt, er ginge von einem guten Führer aus". Ein derartiger Führer sei aber nicht in Sicht.38 In den folgenden Monaten gab es weitere Berichte über Uneinigkeit und mangelnde Organisation in der Heimwehr. Deren eigene Führer äußerten Besorgnis über die wachsende Zahl von Übertritten zu den Nationalsozialisten: Im Juli 1932 gab Starhemberg beim Essen mit dem britischen Militârattaché freimütig zu, „daß die Nazibewegung eine erhebliche Anzahl von Heimwehrleuten abtrünnig gemacht habe". Aber er behauptete optimistisch, „daß die Bewegung ihren Höhepunkt wahrscheinlich überschritten h a b e , . . . da sie nichts Österreichisches an sich hätte". Viele ihrer gemäßigteren Anhänger hätten sie wegen der kürzlichen Ausschreitungen wieder verlassen. Doch im Frühling 1933 machten Starhemberg und andere Gäste des Militärattachés „kein Geheimnis aus der Tatsache, daß sie die Stärke der nationalsozialistischen Welle unterschätzt hätten und bis zu einem gewissen Grade davon überrascht worden seien". Sie erwähnten „umfangreiche Desertionen" aus der Tiroler Heimwehr und ein Übereinkommen zwischen den Nationalsozialisten und der Steirischen Heimwehr, „das keinen Zweifel über den Ernst der Lage" zulasse. Der Handelsminister fügte hinzu, in seinem eigenen Tiroler Heimatdorf sei „die ganze Bevölkerung einschließlich seiner Bediensteten . . . zu den Nazis übergelaufen". Eine Rettung der Heimwehr könne, falls überhaupt möglich, nur durch energisches Handeln und eine populäre Losung wie „Rettet Österreich vor der Fremdherrschaft", die „die schwankenden Anhänger sammeln" würde, erfolgen. Wie der Attaché dem War Office mitteilte, „sprachen sie alle in den pessimistischsten Tönen über die Lage".39 Im Mai 1933 berichtete Phipps, daß sich die Steirische Heimwehr, die gänzlich unabhängig von Starhemberg sei und „schon lange zur Vereinigung mit dem Nationalsozialismus geneigt" habe, Hitler untergeordnet hätte. Sie zeige das Hakenkreuz auf ihren Stahlhelmen, behalte aber ihre eigene Organisation und Uniform. Der letzte Anstoß zu dem Übereinkommen sei von der Alpinen Montangesellschaft ausgegangen, die von den deutschen Vereinigten Stahlwerken instruiert worden sei, ihre Zahlungen an die Heimwehr einzustellen, bis diese die Bedingungen akzeptiert habe. Im gleichen Monat feierten die Heimwehren mit einer Parade beim Schloß Schönbrunn den Sieg über die Türken im Jahre 1683. Der britische Militârattaché zählte 25.000 Mann, die vorbeimarschierten und „einen betont guten Eindruck" auf ihn 137
machten. 400 Nationalsozialisten, die den Marsch zu stören versuchten, wurden von der Polizei verhaftet. Im Jahresbericht der Gesandtschaft für 1933 wurden wieder zahlreiche Austritte aus der Heimwehr, vor allen in Kärnten und der Steiermark, erwähnt, aber auch „neue Beitritte". Die Anziehungskraft der Heimwehr beruhe auf deren Uniform, den Gewehren und der Entlohnung im Dienst oder bei der Teilnahme an Demonstrationen, aber „die Zuverlässigkeit vieler Einheiten sei sehr fraglich". Die Hauptstärke liege in Niederösterreich und Tirol, und die Ausbildung genüge, um die Einheiten zur Unterdrückung innerer Unruhen zu befähigen.40 Ursprünglich hatte die Heimwehr enge Beziehungen zu den bayrischen Wehrverbänden unterhalten, später erhielt sie erhebliche Zuschüsse aus anderen Teilen Deutschlands. Aber diese wurden eingestellt, als die Bewegung eine mehr „österreichische" Linie verfolgte und die Regierung Dollfuß unterstützte. Da sie immer knapp an Geld und Waffen war, erhielt sie ab 1928 umfangreiche Hilfe aus Italien, die im allgemeinen auf dem Umweg über die ungarische Rechtsregierung übermittelt wurde. 1932 hörte die britische Gesandtschaft Gerüchte über eine mögliche „Fusion der faschistischen Parteien Italiens, Österreichs und Ungarns". Ein Informant behauptete, die Heimwehr habe kürzlich als Ergebnis eines persönlichen Appells an Mussolini zwei Millionen Schilling erhalten. Außerdem genieße sie die öffentliche Unterstützung der Regierung Dollfuß und habe auch sonst Zugang zu öffentlichen Kassen, so daß „ihre chronische Geldknappheit nicht mehr so akut" sein könne wie zuvor.41 Die italienischen Beziehungen zeigten sich aufs neue Anfang 1933, als die Sozialdemokraten den Schmuggel von 100.000 aus dem Weltkrieg stammenden Gewehren von Italien nach Ungarn denunzierten, die in Hirtenberg, wo sie überholt werden sollten, entdeckt wurden. Wie Phipps berichtete, sollten 30.000 Gewehre mit neuen Bolzen versehen und 15.000 an die Heimwehr geliefert werden. Als er gegen diese klare Verletzung des Vertrags von St. Germain protestierte, erklärte ihm der Generalsekretär des Außenministeriums, daß die Gewehre ja nur Transitware seien. Phipps antwortete, „Österreich erleichtere nicht gerade die Aufgabe derer, die bemüht seien, ihm zu helfen". Als er den früheren Kanzler Renner bei einem gesellschaftlichen Anlaß traf, meinte dieser, der Fehler sei der Jugend und Unerfahrenheit von Dollfuß zuzuschreiben. „Er übe nicht genug Kontrolle über seine Heimwehr-Minister aus, die hauptsächlich für die ganze Geschichte verantwortlich seien". Die Waffen würden streng bewacht, denn sie seien von einem Heimwehr-Kordon umgeben, der wiederum, vom Republikanischen Schutzbund umstellt sei. Doch Phipps äußerte Skepsis: Unter österreichischen Bedingungen könne jeder geübte Waffenschmuggler die Gewehre durch beide Kordons bringen. Nunmehr intervenierten die britische und französische Regierung und forderten die Österreicher auf, die Waffen entweder zurückzuschicken oder zu zerstören. Für den Fall einer Unterlassung wurden allerdings keine Sanktionen angekündigt. Der Beweis für die österreichische Beteiligung wurde erbracht, als der Direktor der Bundesbahnen der Eisenbahner-Gewerkschaft 15.000 Schilling für den Schmuggel der Waffen nach Ungarn versprach, von wo aus die versiegelten Waggons nach Italien zurückgeschickt werden sollten. Die italienische Presse begann eine Kampagne gegen 138
ausländische Intervention in Österreich, das wie eine „Negerkolonie" behandelt würde. Als der französische Gesandte Dollfuß informierte, daß die französische Tranche der neuen Anleihe erst gezeichnet werden könne, wenn die Affäre geregelt sei, sagte auch der Kanzler zu Phipps, Österreich würde wie eine Kolonie behandelt und erniedrigt; „man halte ihm die Anleihe wie eine Karotte vor die Augen, mit immer neuen Bedingungen." Österreich habe sich „ausgezeichnet benommen", und das sei sein Lohn.42 Schließlich schickte man eine Kompanie Soldaten, um die Waffen zu bewachen, bis sie nach Italien zurückgeschickt werden konnten - ein Schritt, der schon viel früher möglich gewesen wäre. Was die politische Einstellung der Armee betraf, so informierte General Jansa den Militârattaché 1932, nur eine Minderheit der Offiziere und Soldaten sympathisiere mit dem Nationalsozialismus, die übergroße Mehrheit sei für die Christlichsoziale Partei. Aber der Attaché bezweifelte das und schätzte, daß in einer freien Wahl etwa 30 Prozent nationalsozialistisch wählen würden und nur 50 Prozent für die regierende Partei und der Rest sozialdemokratisch. Die Mehrheit der höheren Offiziere war seiner Ansicht nach für die Heimwehr. Als der Attaché 1933 eine ähnliche Unterhaltung mit zwei anderen hohen Offizieren hatte, erklärten ihm diese, die Regierungspolitik sei „bei der ganzen Armee unpopulär". Der Durchschnittsoffizier ziehe ein unabhängiges Österreich dem Anschluß vor, aber wenn es zu einer direkten Wahl „zwischen Deutschland einerseits und Italien und den Juden (!) andererseits" käme, würde die Armee politisch für Deutschland (wo Hitler jetzt Reichskanzler war) eintreten. Die beiden Offiziere erwähnten auch, daß die höheren Offiziere für die Heimwehr wenig übrig hätten und deren Einfluß ständig wachse.43 Es ist schwer, sich aus diesen verstreuten Bemerkungen einiger hoher Offiziere ein Urteil zu bilden. Die schöne Bemerkung über Italien und die Juden klingt jedoch sehr echt. Es ist auch bemerkenswert, daß die Armee 1934 ihre Pflicht nicht nur gegenüber den Sozialdemokraten, sondern ebenso gegenüber den Nationalsozialisten erfüllte - anscheinend ohne jedes Zögern. Es stimmt auch, daß bis dahin viele aktive Nationalsozialisten aus dem Heer entlassen worden waren, und daß die Sozialdemokraten ihren Einfluß längst verloren hatten. Die Interalliierte Militärkontrollkommission hatte die Stärke der Polizei und der Gendarmerie auf 9782 Mann begrenzt, aber aufgrund der internen Lage wurde Österreich gestattet, diese Zahl zu überschreiten, da die Armee die erlaubte Truppenstärke von 30.000 Mann nicht erreichte. Im Mai 1933 zählte sie nur 19.837 und Polizei und Gendarmerie 12.778 Mann.44 Wenn die Loyalität der Armee zweifelhaft war, war die der Kirche über jeden Zweifel erhaben. Vor der Wahl vom November 1930 veröffentlichten der Kardinal Erzbischof von Wien und die österreichischen Bischöfe einen Hirtenbrief, der die Trennung von Kirche und Staat, die Ehescheidung, die freie Liebe, die uneingeschränkte Pressefreiheit und die absolute Volkssouveränität ausdrücklich verurteilte, ebenso wie den „heidnischen Nationalismus", den „rücksichtslosen Liberalismus" und den „materialistischen sozialistischen Staat". Es gäbe keinen Kompromiß zwischen dem Christentum und seinen Feinden, hieß es weiter, alle guten Christen müßten für die „Christliche Partei" stimmen, und in den Kirchen müsse für einen
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guten Wahlausgang gebetet werden. Trotzdem verlor die „Christliche Partei" bei der Wahl sieben Mandate. Der Bischof von Linz, Dr. Johannes Gföllner, veröffentlichte einen Hirtenbrief, der den nationalsozialistischen Glauben angriff. Der Nationalismus der Nationalsozialisten, erklärte er, sei unnatürlich und unchristlich, und die Idee einer deutschen „Volkskirche" sei antikatholisch. Es sei unchristlich, „die Juden zu hassen, weil sie Juden sind", aber es gebe einen gewissen jüdischen Typus, der zusammen mit den Freimaurern einen „bösen Einfluß" auf das moderne Leben ausübe, den „mammonistischen Kapitalismus" unterstütze, und der Apostel des Sozialismus und Kommunismus, „der Vorläufer des Bolschewismus", sei. Dieser „böse Einfluß" müsse bekämpft werden. Der Brief schloß mit der Feststellung, man könne nicht gleichzeitig ein guter Katholik und ein echter Nationalsozialist sein.45 In Rom teilte Kardinal Pacelli dem britischen Gesandten mit, er sei „sehr beeindruckt von der Energie und Entschlossenheit von Dr. Dollfuß". Die österreichische Regierung besitze „den Willen und die Macht, um mit ihren Gegnern fertig zu werden", aber viel hänge von der Hilfe Großbritaniens, Frankreichs und Italiens ab.44 Die Wiener Polizeidirektion fuhr fort, der Gesandtschaft detaillierte Informationen über die Kommunistische Partei zuzusenden, die - trotz der Wirtschaftskrise kein Anzeichen wachsender Stärke zeigte, im Gegensatz zur deutschen Kommunistischen Partei. 1930 berichtete die Polizei: „Das charakteristische Merkmal der kommunistischen Bewegung sei, daß sich die Partei völlig auf den Kampf gegen die sozialdemokratische Arbeiterpartei eingeschworen hat, in der Hoffnung, so zu einer »einheitlichen kommunistischen Massenpartei' zu werden". Ihrer Meinung nach hätten die Sozialdemokraten „die Interessen des Proletariats verraten und an der Aufrichtung des ,faszistischen Regimes' hierzulande mitgewirkt". Es sei den Kommunisten gelungen, ein „Komitee revolutionärer Sozialdemokraten" zu bilden, das von Dr. Wilhelm Reich geleitet werde. Durch seine Vorträge über sexuelle Freiheit und seine Ratschläge hierüber habe dieser eine Anhängerschaft junger Sozialisten gewonnen, und die Versammlungen des Komitees, in denen Reich und Mitglieder des Zentralkomitees der Kommunistischen Partei als Redner aufträten, seien meist gut besucht. Doch bei den Wahlen vom November 1930 erhielt die Partei in ganz Österreich nur 20.879 von insgesamt 3,688.566 Stimmen (oder ca. 0,6 Prozent). Das wurde als Beweis für „innere Schwäche und Bedeutungslosigkeit", die von den führenden Parteikreisen offen zugegeben würde, angeführt. Am 1. Mai 1931 nahmen am kommunistischen Aufmarsch in Wien 2.800 Leute teil, in Graz nur 200 und in Linz ganze 50.47 Selbst in Wien hatte die Partei ihren Einfluß fast eingebüßt. Die schwere Wirtschaftskrise der dreißiger Jahre führte in Österreich zu politischer Unstabilität, die sich in den ständig wechselnden Regierungen und den ganz unsicheren parlamentarischen Verhältnissen zeigte. Die Heimwehr stellte keine ernste Gefahr mehr dar; sie wurde von internen Differenzen lahmgelegt, die schließlich in der Steiermark und Kärnten zur Spaltung führten. Dort wandte sich die Bewegung dem aufsteigenden Stern Hitlers zu, und auch in den anderen Ländern und selbst in Wien zeigte sich der nationalsozialistische Sog. Aber die österreichischen Nationalsozialisten waren auf deutsche Hilfe angewiesen und erheblich schwächer als die 140
deutsche Bruderpartei. D i e wirkliche Frage war, ob sich die Regierung Dollfuß an der Macht halten könne und welche Methoden sie zu diesem Zweck anwenden würde. Dollfuß wurde von links durch die Sozialisten und von rechts durch die Nationalsozialisten bedroht und stützte sich auf einige der Wehrverbände. Alle Bemühungen um deren Entwaffnung waren gescheitert, und das mußte schließlich auch vom Foreign Office zugegeben werden. Selbst ein kleines, von ausländischer Hilfe so stark abhängiges Land, war imstande, sich über die Bestimmungen des Friedensvertrages hinwegzusetzen. Das war ein böses Vorzeichen.
Anmerkungen 1 2 3 4 5 6 7 8 9 10 11 12 13 14 15 16 17 18 19 20 21 22 23 24
Phipps an Henderson. 9. Januar, 5. und 12. Februar und 31. August 1930: FO 371, Bd. 14304, Fo. 178, Bd. 14311, Fo. 2, 9 und 42. Selby an Simon, 21. Juli 1934: FO 371, Bd. 18342, Fo. 114. Hadow an Simon, 21. Juli 1934: ebenda, Fo. 227ff. Phipps an Henderson, 19. und 29. Oktober 1929: FO 371, Bd. 13564, Fo. 76; DBFP, Serie la, VII, Nr. 41, S. 77. Phipps an Henderson, 29. Mai 1931: FO 371, Bd. 15150, Fo. 74ff. Snowden an den Governor der Bank of England, 15. Juni; Phipps an Henderson, 18. Juni, und Notiz von Sargent, 2. Juli 1931: FO 371, Bd. 15151, Fo. 9, 25f. Sir Frederick Leith Ross an Foreign Office, 28. Mai 1931: FO 371, Bd. 15165, Fo. 65f. Hadow an Sargent, 9. August, Sargent an Hadow, 11. August und Notiz Vansittarts, 11. August 1931: FO 371, Bd. 15152, Fo. 59, 61, 67ff. Phipps an Sargent, 1. und 13. Oktober, und an Foreign Office, 13. Oktober 1931: FO 371, Bd. 15153, Fo. 168,194, Bd. 15154, Fo. 11. Phipps an Sargent, 27. Oktober, und an Simon, 23. November 1931: FO 371, Bd. 15154, Fo. 109ff., Bd. 15155, Fo. 31ff. Phipps an Vansittart, 27. Juni, und an Simon. 5. Februar 1932: FO 120, Bd. 1058 und 1059. Phipps an Simon, 5. Juli, und Hadow an Simon, 5. September 1932: FO 371, Bd. 15889, Fo. 362, Bd. 15890, Fo. 124. Phipps an Foreign Office, 20. Juli, und an Sargent, 21. März 1933: FO 371, Bd. 16627, Fo. 209f., 218ff. Selby an Simon, 20. Juli 1933, und ungezeichneter Entwurf (vermutlich von Hadow), 8. Februar 1933: FO 120, Bd. 1072. Leith Ross, Treasury, an Foreign Office, 10. Juni 1932: FO 800, Bd. 287, Fo. lOOff. Phipps an Simon, 20. Februar 1932: FO 371, Bd. 15892, Fo. 35ff. Phipps an Sargent, 5. Dezember 1929, Diskussion Henderson-Briand, 9. Mai, Henderson an Ayles, 5. Mai, und Phipps an Sargent, 22. Mai 1930: FO 371, Bd. 13565, Fo. 14, FO 120, Bd. 1041, FO 800, Bd. 281, Fo. 216, FO 120, Bd. 1037. Phipps an Sargent, 12. Juni 1930: FO 120, Bd. 1039. Hadow an Henderson, 25. März, und Phipps an Henderson, 7. Mai 1931: FO 371, Bd. 15159, Fo. 24,29, Bd. 15162, Fo. 28ff. Vgl Zöllner, Geschichte Österreichs, S. 509f. Phipps an Simon, 12. November 1931 und 8. Februar 1932; M. I. 3. b Notiz vom 1. Februar 1932: FO 120. Bd. 1050, FO 371, Bd. 15888, Fo. 94ff., WO 190, Bd. 137. Phipps an Henderson, 27. Juni 1931: FO 371,.Bd. 15151, Fo. 39f. Vgl. Zöllner, Geschichte Österreichs, S. 511. Phipps an Simon, 30. Mai 1932: FO 371, Bd. 15888, Fo. 118-122. M. 1.3. b Bericht, 31. Mai 1932: WO 190, Bd. 148. „Austria. Annual Report, 1932", S. 14,30, und Phipps an Simon, 26. April 1932: FO 371, Bd. 15888, Fo. 99f, Bd. 16640, Fo. 2. 141
25 26 27 28 29 30 31 32 33
34 35 36 37 38 39 40 41 42
43 44 45 46 47
Phipps an Simon, 26. April und 2. Juli 1932, und „Austria. Annual Report, 1932", S. 14: FO 120, Bd. 1065, FO 371, Bd. 15888, Fo. 101, Bd. 16640, Fo. 2. „Austria. Annual Report, 1933", S. If.: FO 371, Bd. 18366, Fo. 48. „Austria. Annual Report, 1933", S. 31, ibid.; Carsten, Faschismus in Österreich, S. 173f., 178ff., 185ff., 192f„ 198Í., 201f. Phipps an Henderson, 10. Januar 1931, 14. April 1930 und 26. Juni 1931: FO 120, Bd. 1048 und 1043, FO 371, Bd. 15166, Fo. 76f. „Austria. Annual Report, 1930", S. 7f.: FO 371, Bd. 15163, Fo. 244. Le Rougetel an Henderson, 6., 9., 16. und 22. Januar 1930: FO 120, Bd. 1037, FO 371, Bd. 14304, Fo. 168f„ 207f. Phipps an Henderson, 2. April, 20. Mai, 5. und 16. Juni 1930: FO 371, Bd. 14305, Fo. 267, Bd. 14306, Fo. 52,122f„ 152. Phipps an Sargent, 22. Mai 1930: FO 120, Bd. 1037. M. I. 3. b Bericht, 22. Juli; Phipps an Henderson, 4. September; Memorandum von D. J. Cowan, 5. November, und Sargent an Phipps, 10. November 1931: WO 190, Bd. 83, FO 371, Bd. 14307, Fo. 246ff., FO 120, Bd.1055. Phipps an Henderson, 6. und 23. Oktober und 14. November 1930: FO 371, Bd. 14307, Fo. 359f., Bd. 14308, Fo. 52,172f. Le Rougetel an Sargent, 11. Dezember, und M. I. 3. b Bericht vom 10. Oktober 1930: FO 120, Bd. 1046, WO 190, Bd. 83. The Times , 14.-15. September; Manchester Guardian, 14.-15. September 1931. Hadow an Henderson, 14. September, an Lord Reading, 22. September, an Sargent, 4. November, und an Simon, 12. November 1931: FO 371, Bd. 15156, Fo. 94f., 115,152,156. „Austria. Annual Report, 1931", S. 35ff.: FO 371, Bd. 15892, Fo. 153. Berichte von Oberstleutnant F. M. Mason-MacFarlane, 12. Juli 1932 und 28. April 1933: FO 120, Bd. 1060 und Bd. 1073. Phipps an Simon, 2. und 15. Mai 1933; „Austria. Annual Report, 1933", S. 31: FO 371, Bd. 16637, Fo. 304f„ 376f., Bd. 18366, Fo. 48. Ungezeichnetes Memorandum, 14. Dezember 1932: FO 120, Bd. 1067. Phipps an Simon, 20. und 24. Januar, an Sargent, 23. Januar, an Simon, 11. Januar, und Notiz von Vansittart, 27. Februar 1933: FO 371, Bd. 16631, Fo. 169f„ 172, 181f., Bd. 16633, Fo. 452f., Bd. 16634, Fo. 200ff. Berichte von Oberstlt. MacFarlane, 9. November 1932 und 30. September 1933: FO 120, Bd. 1062 und Bd. 1071. Kommentare von M. I. 3. b zu Österreich, 23. September 1932 und 30. September 1933: WO 190, Bd. 128,191 und 192. Phipps an Henderson, 30. Oktober 1930, und an Simon, 30. Januar 1933: Fo 120, Bd. 1040 und Bd. 1071. Kirkpatrick an Vansittart, Vatican, 19. August 1933: DBFP, Serie 2, V, London 1956, Nr. 342, S. 524. Information über die Kommunistische Partei, abgeschickt am 28. Juli 1930, 11. April und 22. Oktober 1931: FO 120, Bd. 1045 und Bd. 1053.
142
VI. Österreich unter Dollfuß 1933-1934
Am 4. März 1933 ging die parlamentarische Regierungsform in Österreich zu Ende - nicht aufgrund eines vorgefaßten Planes der Regierung Dollfuß, sondern eher durch einen Zufall. Es war eine Sondersitzung des Parlaments anberaumt, um über Disziplinarmaßnahmen gegen Eisenbahner zu beraten, die in der Woche zuvor an einem Streik teilgenommen hatten. Ein sozialdemokratischer Antrag, der sich gegen jede Bestrafung aussprach, wurde abgelehnt, und dann erklärte der Parlamentspräsident Dr. Renner, daß ein großdeutscher Antrag auf milde Bestrafung der Eisenbahner mit einer Stimme Mehrheit angenommen worden sei. Doch die Regierung, die die Streikenden schwer bestrafen wollte, vertrat den Standpunkt, eine Stimme sei von einem sozialistischen Abgeordneten, der für einen abwesenden Kollegen gestimmt hatte, zu Unrecht abgegeben worden und dürfe daher nicht mitgezählt werden. Als Renner auf seiner Entscheidung beharrte, entstand ein solcher Tumult, daß er als Präsident zurücktrat, und darauf erfolgte der Rücktritt der zwei Vizepräsidenten, die den bürgerlichen Parteien angehörten. Phipps kommentierte: „Dieser einzigartige Fall eines dreifachen Harakiri aller ihrer Präsidenten hat die Kammer in eine höchst mißliche Form von Scheintod versetzt, aus dem die juristischen Leuchten der Republik sie jetzt zu erwecken trachten. Man muß hoffen, daß sie eine elegante und konstitutionelle Lösung finden werden, durch welche diese Reihe von Selbstmorden vielleicht rückgängig gemacht und die parlamentarische Arbeit wieder aufgenommen werden kann."
Möglicherweise lag die Betonung auf dem Wort „vielleicht"; die Befürchtungen des britischen Gesandten waren nur zu berechtigt. Fünf Wochen zuvor war Hitler Reichskanzler geworden, und Dollfuß war nicht für die von Phipps angedeutete Lösung, sondern er wollte den Umstand ausnutzen, daß nach dem Rücktritt aller Präsidenten niemand dazu berechtigt war, das Parlament einzuberufen. Er beabsichtigte, sich von einer Institution freizumachen, in der seine Regierung nur über eine Mehrheit von einer Stimme verfügte und gegenüber der er für seine Maßnahmen verantwortlich war - eine Bestimmung der Verfassung, die ihm widerstrebte. Einige Tage darauf veröffentlichte die Regierung eine Proklamation, die bestimmte Vorschriften der Verfassung suspendierte und das Ende der parlamentarischen Regierungsform andeutete - jedenfalls für eine bestimmte Zeit.1 Darauf folgte eine Notverordnung, die alle politischen Versammlungen verbot, und weitere elf Verordnungen über wirtschaftliche und finanzielle Fragen. „Diese Maßnahmen (der Regierung) zeigen, daß sie keine Eile hat, zu parlamentarischen Formen zurückzukehren", schrieb die Times.2 Die Notverordnungen wurden aufgrund eines Ermächtigungsgesetzes von 1917 erlassen, das nicht aufgehoben worden war und sich eindeutig auf die völlig andersartigen Verhältnisse im Krieg bezog. Am 14. März stellte ein Memorandum des Foreign Office fest: „Dollfuß hat in Wirklichkeit einen Staatsstreich durchgeführt - aber in einer Weise, daß er mit der üblichen Geschicklichkeit österreichischer Politiker zweifellos zu normalen par143
lamentarischen Methoden zurück kehren und einfach behaupten könnte, das österreichsche Parlament habe s.ich durch seine eigene Torheit lächerlich gemacht." Es bestehe jedoch die Möglichkeit, daß Hitlers Machtergreifung (acht Tage darauf trat das Ende der parlamentarischen Regierung in Deutschland ein) „Österreich anstecken wird", und die österreichischen Nationalsozialisten „ihren eigenen Staatsstreich durchführten". Die Folge davon wäre „eine so enge Zusammenarbeit zwischen beiden Ländern, daß sie praktisch nicht von einem legal durchgeführten Anschluß zu unterscheiden wäre, und die Mussolini in seinem augenblicklichen Zustand der Vernarrtheit in Herrn Hitler möglicherweise akzeptieren würde." Dollfuß verlasse sich, abgesehen von der moralischen Unterstützung durch seine eigene Partei auf das Heer und die Heimwehr, und er versuche, ohne Parlament zu regieren. Aber entscheidend sei, daß er hoffe, die versprochene Anleihe zu erhalten. Man frage sich allerdings, ob diese Unterstützung ausreichen würde, „wenn plötzlich eine Forderung nach Anschluß vom Ausland ermutigt würde?" 3 Ende März verbot eine weitere Notverordnung den Republikanischen Schutzbund in ganz Österreich. Die Wiener Garnison sei in voller Stärke durch die Straßen marschiert, berichtete Phipps, „aber es gab keinerlei Unruhen". Hankey notierte im Foreign Office, die Sozialisten seien „natürlich in einer schwachen Position, weil jeder physische Widerstand ihrerseits nur den Nazis geholfen hätte, die sie viel mehr hassen als die Regierung." Im April beraubte eine weitere Notverordnung die Stadt Wien „mit einem Streich der Summe von 22 Millionen Schilling, die, wie sie behauptet, ihr legal gehört". Die Verteilung der gemeinsamen Steuern zwischen der Regierung und den Ländern war gesetzlich geregelt, doch die Notverordnung verringerte den Anteil Wiens von den 85 Millionen, die der Haushalt für 1933 vorsah, auf 63 Millionen Schilling - eine Maßnahme, die vom Wirtschaftsexperten des Völkerbundes, Rost van Tonningen, ausdrücklich gebilligt wurde, da sie für den Ausgleich des Budgets notwendig sei. Wie Phipps hörte, appellierte die Stadt an den Verfassungsgerichtshof gegen die Notverordnung. 4 Neun Monate zuvor hatte die sozialdemokratische Regierung Preußens beim Staatsgerichtshof gegen ihre gewaltsame Entfernung aus dem Amt durch die Regierung Papen geklagt. Es war eine wirkungslose Geste, die zeigte, wie hilflos die Sozialdemokraten gegenüber einer Regierung waren, die vom Gebrauch der Gewalt nicht zurückschreckte. Die österreichischen Sozialdemokraten mobilisierten außerdem britische und französische Unterstützung, um die Wiedereinberufung des Parlaments zu erreichen. Als Walter Citrine, der Generalsekretär der britischen Gewerkschaften, in Wien war, um an einer sozialistischen Konferenz teilzunehmen, informierte er Phipps über die Absicht der französischen Regierung, den Österreichern mitzuteilen, „daß Österreich, soweit es Frankreich angehe, keine Anleihe erhalten würde, es sei denn, das österreichische Parlament würde unverzüglich zu einer Sitzung einberufen". Der französische Außenminister Paul-Boncoui* sei gerade dabei gewesen, ein Telegramm in diesem Sinn zu diktieren, als der französische Gesandte in Wien zufällig in sein Zimmer gekommen sei und ihn „überreden konnte, keine so verheerenden Instruktionen abzuschicken". Citrine erhoffte sich von der britischen Regierung entsprechende Instruktionen, aber Phipps erklärte, das würde „ein fataler Irrtum" sein. 144
Nach seiner Rückkehr nach London schrieb Citrine an Sir John Simon, den Außenminister, und drängte ihn, seinen „großen Einfluß zu benutzen, um die (österreichische) Regierung zu veranlassen, das Parlament einzuberufen und so die Maschinerie der politischen Demokratie wieder zu beleben". Gleichzeitig ersuchte er ihn, eine kleine Delegation des General rates der Gewerkschaften zu empfangen, aber das lehnte Simon ab. Laut einer Foreign Office Notiz, „mißbilligte Phipps jede Intervention in österreichischen Angelegenheiten, weil sie nur den Nazis helfen und die Autorität von Dr. Dollfuß untergraben würde. Es scheint unmöglich, diese Auffassung zu bezweifeln." Im Herbst 1933 schlug der gemeinsame Rat der Labour Party und der Gewerkschaften vor, daß „die Regierungen den österreichischen Kanzler drängen sollten, die Bestimmungen des Friedensvertrages, die den Arbeitern Vereinigungsfreiheit garantiert, genau zu befolgen", und Citrine erneuerte seine Bemühungen um Intervention der britischen Regierung für die österreichischen Sozialdemokraten. Aber das Foreign Office blieb bei seiner Opposition. Im Gespräch mit Citrine betonte Orme Sargent, der Leiter des Central Department, „wie gefährlich es wäre, wenn in der gegenwärtigen Lage britische Sozialisten eine Haltung ermutigten, die sich leicht zu einem Bürgerkrieg in Österreich entwickeln könnte. . . Die österreichischen Sozialisten müßten zwischen einer langsamen Aushöhlung ihrer Rechte und Privilegien durch Dollfuß und der Aussicht auf völlige Vernichtung durch Hitler wählen." Wenn Dollfuß den Sozialisten nachgäbe, „würde er die viel konkretere Hilfe verlier ren, die er im Augenblick von Mussolini erhält", denn dieser bestehe auf einer antisozialistischen Politik. „In seinem Kampf für die Unabhängigkeit Österreichs" dürfe Dollfuß nicht geschwächt werden; wenn die britische Linke helfen wolle, solle sie sich „für den Bau einer Brücke zwischen Dollfuß und den österreichischen Sozialisten einsetzen". Wie Sargent notierte, „zeigte sich Citrine außerordentlich vernünftig und verständnisvoll".5 Angesichts des wachsenden Einflusses Mussolinis in Österreich konnten weder die Labour Party noch das Foreign Office viel tun, um eine Rückkehr zu demokratischen Regierungsformen zu bewerkstelligen. Der Rat des Foreign Office an die Labour Party, „für den Bau einer Brücke zwischen Dollfuß und den österreichischen Sozialisten" zu arbeiten, war recht einseitig. Die wirkliche Frage war, ob Dollfuß für einen solchen Kurs war. Im Juni 1933 schrieb Phipps, daß Dollfuß „den sirenenhaften sozialistischen Appellen" zu einer Koalition oder irgendeiner Zusammenarbiet Widerstand entgegensetzen müsse, selbst wenn Bundespräsident Miklas sie unterstützen sollte: „Jeder Flirt mit den verhaßten Marxisten würde rasch zum Sturz von Dr. Dollfuß führen, denn er würde nicht nur seine eigene Partei spalten, sondern das Ende aller Unterstützung aus Italien herbeiführen. Bemerkenswerterweise hält mein italienischer Kollege immer noch die Sozialisten, und nicht die Nazis, für die Hauptfeinde des Kanzlers, gegen die seine heftigsten Schläge gerichtet werden müßten." Doch dürfe Dollfuß auch nicht den Einflüsterungen der Heimwehr folgen und gewaltsame Maßnahmen gegen das sozialistische Wien ergreifen. Er müsse „die Natio145
nalsozialisten nach wie vor mit Mißtrauen beobachten", selbst wenn sie Konzessionen - „Honig für die österreichische Fliege" - anbieten sollten. „So finden wir Dr. Dollfuß in einer heroischen Rolle in einem unheroischen Land und umgeben von unheroischen Freunden. Der von ihm beschrittene Weg verengt sich, je weiter er geht, die Dornen werden schärfer und die Nesseln stechender, Hinterhalte drohen und Sirenen rufen auf beiden Seiten."
Einige Wochen zuvor fand Phipps den Kanzler besorgt über die schlechten Beziehungen zwischen Deutschland und Österreich, aber „entschlossen, keine Schwäche zu zeigen". Er habe den Erziehungsminister Dr. Rintelen entlassen, weil dieser mit den Nationalsozialisten intrigiert habe. Sein Nachfolger würde gegen alle Studenten, die Unruhe stiften, mit fester Hand vorgehen. Dollfuß sei fest entschlossen, Ruhe und Ordnung aufrecht zu erhalten, und überzeugt, daß ihm das gelingen würde. Die Nationalsozialistische Partei und ihre Unterorganisationen wurden aufgelöst, ihre Büros von der Polizei besetzt und alle deutschen Agitatoren ausgewiesen. Unter ihnen war auch Theo Habicht, ein prominenter deutscher Nationalsozialist, faktisch der Leiter der österreichischen Partei.6 Noch im Mai hatte Dollfuß mit ihm über den Eintritt einiger Nationalsozialisten in die Regierung verhandelt. Die für Österreich gefährlichste Maßnahme Hitlers war die „Tausendmarksperre" - die Kosten eines Visums für jeden Deutschen, der nach Österreich reisen wollte, um so den österreichischen Fremdenverkehr zu ruinieren; auf den erhofften Zusammenbruch der Wirtschaft würde der der Regierung folgen. Geschäfte wurden bombardiert, leitende Politiker physisch angegriffen und endlose Sabotageakte organisiert. Doch im Juli 1933 versicherte Dollfuß dem neuen britischen Gesandten, Sir Walford Selby (Phipps wurde Botschafter in Berlin), „er habe die Nazibewegung in Österreich unter guter Kontrolle und keinerlei Besorgnisse, wenn es nicht die fortwährende Agitation von außerhalb gäbe". Er war davon überzeugt, daß Mussolini intervenieren würde, wenn die Deutschen „soetwas wie einen .Putsch' gegen Österreich unternähmen". Im gleichen Monat reiste Dollfuß nach London und sprach mit Vansittart, dem ständigen Unterstaatssekretär, über „die dauernden deutschen Versuche, die österreichische Unabhängigkeit zu unterminieren". Diese nähmen drei Formen an: „weitverbreiteter Terrorismus, Flugblattverbreitung durch deutsche Flugzeuge über österreichischem Gebiet und ständige aufrührerische Radioreden - vor allem aus München - , die die Österreicher zum Widerstand gegen die Regierung aufrufen". Die österreichische Regierung sei berechtigt, um Hilfe zu bitten: Großbritannien möge offiziell die Aufmerksamkeit der Reichsregierung auf diese Ausschreitungen lenken und um deren Beendigung ersuchen. Ein Bericht des britischen Geheimdienstes stellte fest, daß Dollfuß' Widerstand durch die Maßnahme der Franzosen, die Ausgabe der neuen Anleihe durch den Völkerbund zu verzögern, geschwächt werde: „Wenn Dr. Dollfuß keine sichtbaren Resultate auf wirtschaftlichem Gebiet vorweisen kann, könne er kaum hoffen, sich zu behaupten." Je länger man mit der Abhaltung von Wahlen warte, um so sicherer sei ein nationalsozialistischer Sieg, „falls das Hitlerregime in Deutschland erfolgreich sei" - es sei denn, daß sich „Österreichs von Grund auf ungesunde wirtschaftliche Lage" entscheidend verbessere; Dollfuß kämpfe mit dem Rücken gegen die Wand. 146
Ein anderer Offizier des Geheimdienstes fand diese Einschätzung „zu rosig", weil eine „allgemeine Wahl heute vermutlich die Nazis an die Macht bringen würde". Viele Polizisten, Soldaten und untere Offiziere der Armee sypathisierten mit ihnen; und „wenn Dollfuß erwarte, daß der deutsche Nationalsozialismus bald abwirtschaften würde, so wäre das außerordentlich unrealistisch".7 In einem für die britische Regierung bestimmten Memorandum stellte auch Sir John Simon fest, Dollfuß beabsichtige, „zu regieren, bis die deutschen Nationalsozialisten abgewirtschaftet haben (was, wie er hoffe, bald eintreten würde) und bis dahin keine Wahlen abzuhalten". Die Lage sei kompliziert, weil die französischen Sozialisten ihre Regierung überredet hätten, Dollfuß mitzuteilen, daß die Anleihe nicht emittiert werde, wenn er nicht wieder parlamentarische Regierungsformen einführe. Erst in jüngster Zeit hätten die Franzosen ihre Opposition gegen die Anleihe abgeschwächt und erkannt, daß ein Hinhalten nur den Nationalsozialisten helfe. Am 7. Juni beschloß die französische Regierung, der Emission der französischen Tranche zuzustimmen, aber sie wünschte noch immer, gewissen eigenen Kreditoperationen den Vorrang zu geben und wollte die österreichische Anleihe erst danach ausgeben, möglicherweise erst im Herbst. Wenn Dollfuß die versprochene Anleihe nicht bald erhalte, sei „das Überleben seiner Regierung für längere Zeit zumindest problematisch". Falls seine Regierung falle, würden in dem Durcheinander wahrscheinlich die Nationalsozialisten an die Macht kommen, entweder mittels einer Wahl oder auf andere Weise. Um Dollfuß zu helfen, schlug die britische Regierung einen Dreimächteschritt in Berlin vor und schickte im Juli eine gleichlautende Note nach Paris und Rom, die eine Vermittlung der drei Mächte im deutsch-österreichischen Konflikt vorschlug. Die britische Regierung sei über Deutschlands Haltung gegenüber Österreich ernstlich besorgt, hieß es darin, ihr Ziel sei die Stärkung des Friedens, die Beendigung der gegenwärtigen Unsicherheit und der Aufwiegelung der Österreicher gegen ihre eigene Regierung. Doch Mussolini war gegen jeden gemeinsamen Schritt und instruierte seinen Berliner Botschafter, den Text der britischen Note vertraulich dem Auswärtigen Amt mitzuteilen. Mussolini denke, so erklärte sein Botschafter, an eine deutsche Versicherung, die in der Note erwähnten Aktivitäten zu beenden, möglicherweise durch Übereinkunft zwischen Deutschland und Österreich. Jeder gemeinsame Druck auf Berlin war somit ausgeschlossen, und als die britisch-französische Note im August in Berlin überreicht wurde, wurde sie von der Hitlerregierung zurückgewiesen.8 Im gleichen Monat berichtete der britische Chargé d'Affaires aus Wien, es sei schwierig, „die ständig wechselnden Sympathien der bäuerlichen und kleinstädtischen Bevölkerung zu beurteilen, deren Hauptmerkmal . . . Antagonismus gegen alles ist, was nach,rotem' Wien rieche". Die offizielle Presse bringe Nachrichten über begeisterte Empfänge von Dollfuß und anderen Regierungsmitgliedern, doch selbst in Wien herrsche „eine Atmosphäre nervöser Unruhe", und in Salzburg hätten die Behörden anscheinend zu „immer strengeren Maßnahmen gegen einen sehr beträchtlichen Teil der Bevölkerung" gegriffen. Das würde bestätigt durch die scharfen Gerichtsurteile für ,jede Form von nationalsozialistischer Aktivität" oder „eine die katholische Kirche untergrabende Tätigkeit" - einen neu eingeführten Strafbestand. 147
Die Opposition behaupte, diese Politik der Unterdrückung entfremde der Regierung „die Sympathie immer größerer Teile der Bevölkerung". Dieser Bericht wurde im Foreign Office als „nicht gerade ermutigend" bezeichnet: „Die Lektüre läßt einen fragen, ob der Kampf um Österreich nicht von Anfang verloren ist." Ein anderer Beamter meinte: „Das ist ein fast hoffnungsloses Bild. Ich habe immer gefühlt, daß wir auf einen Verlierer setzen." Eine Woche später fügte der britische Chargé d'Affaires hinzu, man könne nicht sagen, daß Dollfuß „mit Zustimmung der Regierten regiere". Das beste, was man sagen könne, sei, daß ein beträchtlicher Teil apathisch ist, während 60 bis 75 Prozent (Sozialisten und Nationalsozialisten in etwa gleicher Zahl) „insgeheim feindlich eingestellt sind, aber eingeschüchtert werden können, wenn sie keine Hilfe von außen erreicht". Dollfuß müsse „als ein Faschist, der zur Zeit an Italien gebunden ist", angesehen werden, er versuche, die Heimwehr mit Hilfe italienischer Waffen und Schulung zu einer faschistischen Miliz zu machen. Dieser Kurs werde vom Völkerbundvertreter in Österreich, Rost van Tonningen, unterstützt, der jetzt „ein eifriger und überzeugter Faschist" sei und das volle Vertrauen von Dollfuß besitze.9 Der britische Militârattaché in Wien berichtete um die gleiche Zeit, daß es „keine Begeisterung für das Dollfußregime" gebe. Ursprünglich habe sich Dollfuß auf die Unterstützung der österreichischen Bauern verlassen, aber es sei zweifelhaft, ob das noch zutreffe, vor allem in Hinblick auf die jüngeren Bauern und alle diejenigen, die unter den Folgen des Ausbleibens der deutschen Touristen und unter dem deutschen Boykott österreichischen Holzes zu leiden hätten. Doch als Dollfuß Sir John Simon im September in Genf traf, war er voller Optimismus. Er erklärte zu dessen Überraschung, daß er sich jetzt auf die Unterstützung der Jugend des Landes verlassen könne und ihm jetzt ein großer Teil der jüngeren Parteigänger der Christlichsozialen folge. Als Simon erwähnte, ein Teil der britischen Presse berichte, das Regime entwickle sich zu einer Diktatur, was ihm in England schaden würde, antwortete Dollfuß, er sei gezwungen, in seinem Kampf „den vollsten Gebrauch von allen ihm zur Verfügung stehenden Kräften zu machen". Er bat Simon, seinen Einfluß zu benutzen und „den Einzelheiten seiner Politik" keine allzu große Bedeutung beizumessen, „das heißt, ob diese an einem Tag eine etwas mehr rechtsgerichtete Tendenz zeige, oder an einem anderen eine etwas mehr linksgerichtete". Dollfuß' Behauptung wurde von Mussolini wiederholt: Bis jetzt sei die ältere Generation für Dollfuß gewesen, aber nunmehr appelliere er speziell an die jüngere Generation, die Studenten und andere, und er habe seine Position „durch die von ihm eingerichtete neue Regierungsform wesentlich verstärkt". Eine Unterstützung der Mächte für Dollfuß, meinte Mussolini, würde nicht notwendigerweise einen Kampf „auf verlorenem Posten" bedeuten. Aber die neue „korporative" Regierungsform blieb ein Projekt auf dem Papier. Als Mussolini den Zionistenführer Chaim Weizmann empfing, war er „offen und deutlich antideutsch" und sprach sich scharf „gegen Hitlers Judenverfolgung" aus. Laut dem britischen diplomatischen Bericht äußerte Mussolini sogar gegenüber Weizmann, daß Hitler „die Wurzeln des Christentums angreife, indem er die Juden verfolge". 10 In Österreich wuchs Mussolinis Einfluß stetig, und damit auch der Druck auf 148
Dollfuß, gegen Wien und die Sozialdemokraten vorzugehen. Ende August 1933 schrieb Selby: „Dr. Dollfuß ist von seiner Reise nach Riccione [wo er mit Mussolini zusammentraf] in sehr optimistischer Stimmung zurückgekehrt - ein Optimismus, der berechtigt ist, soweit er sich auf Italien bezieht." In Übereinkunft mit Mussolini sei Dr. Rintelen, „ein sehr lauer und unsicherer Parteigänger", nach Rom geschickt worden. Im Inneren wachse die Gefahr, „daß Dr. Dollfuß durch italienischen Einfluß dahingebracht werden könnte, Maßnahmen gegen die Sozialisten zu ergreifen". Die bis jetzt gegen die Gemeinde Wien ergriffenen Schritte könnten mit rein wirtschaftlichen Argumenten gerechtfertigt werden, aber alle Ausnahmemaßnahmen gegen die Sozialdemokratische Partei würden die Jugend in die Arme der Nationalsozialisten treiben. Es wäre ein Fehler, wenn Dollfuß unter Mussolinis Einfluß Deutschland Konzessionen machen müßte, denn alles, was ihn in Österreich unterstütze, beruhe „auf der Tatsache, daß er für Österreichs Unabhängigkeit von .Preußen' eintritt - ein uraltes Streitobjekt zwischen Berlin und Wien". Zwei Wochen später bemerkte Selby, der Empfang von Dollfuß sei bei allen seinen kürzlich erfolgten Auftritten „äußerst eindrucksvoll" gewesen, „die Spontaneität des Willkommens" könne von „Ausländern und Engländern, die sich unter die Menge gemischt haben, bezeugt werden". Selby glaubte, das sei zum Teil Dollfuß' Persönlichkeit zuzuschreiben, zum Teil der Unterstützung durch die Kirche und dem Zusammenfallen mit einem katholischen Feiertag, und auch der Tatsache, daß er an der Macht sei und, wie man sage, mächtige Hilfe erhalte. All das lege die Vermutung nahe, „daß dieselben Massen, die Dr. Dollfuß zujubelten, mit gleicher Begeisterung, ,Heil Hitler' rufen würden, wenn allgemein geglaubt würde, daß Deutschland das Rennen macht." Fünf Jahre später sollte sich diese Prophezeiung als wahr erweisen. Als der Gesandte um die gleiche Zeit Renner traf, bestätigte dieser, „daß im Augenblick Italien die Gefahr bedeute". Es träte „für die Bildung eines faschistisch-hitlerischen Blocks quer durch Europa" ein, was schließlich zum Krieg führen würde. Und auch er war der Meinung, wenn die Regierung ihre antisozialistische Politik fortsetze, müsse das „einen großen Teil der Anhänger der sozialistischen Partei ins Nazilager treiben". Seine Partei wolle nur allein gelassen werden, doch die Regierung ergreife eine Maßnahme nach der anderen gegen Wien; sie scheine entschlossen, „die Sozialisten zur Verzweiflung zu treiben", und die Arbeiter seien äußerst erbittert.11 Doch Dollfuß verfolgte ohne Bedenken seinen antisozialistischen Kurs. Wie die Kirche, sah er den „Marxismus" als seinen Hauptfeind an und übersah dabei, daß seine Politik jede gemeinsame Front gegen die deutsche Bedrohung schwächen mußte. Anfang 1934 hörte Selby „aus verläßlicher Quelle", Dollfuß beabsichtige, Wien unter Regierungsaufsicht zu stellen und die Sozialdemokratische Partei und die Gewerkschaften zu unterdrücken. Er konnte dafür aber keine Bestätigung von der französischen oder tschechoslowakischen Gesandtschaft erhalten. Ein paar Tage darauf suchte er zusammen mit Edgar Granville, Simons parlamentarischem Privatsekretär, Dollfuß auf, und Granville erinnerte diesen an Simons Bemerkungen in Genf über die österreichischen Sozialisten, an denen die Labour Party stark interessiert sei. Dollfuß erwiderte, wenn er jetzt versuche, einen Kompromiß mit den Sozialisten zu schließen, „würden nur die Nazis einen Vorteil davon haben". Die 149
Labour Party sei eine „nationale Partei", sie sehe nicht den Unterschied zwischen ihr selbst und den österreichischen Sozialisten. Diese seien „viel extremer als ihre britischen Sympathisanten", „antireligiös und nur auf Umsturz bedacht" und hätten „faktisch wenig für die Unabhängigkeit ihres Landes übrig". Er dankte Granville für die Erklärung Simons im Unterhaus im Dezember, daß die britische Regierung nicht beabsichtige, sich in interne österreichische Dinge einzumischen, die ihn „sehr befriedigt" habe. Selby versicherte, die britische Regierung wolle ihn so weit als möglich unterstützen und wünsche, diese Hilfe nicht durch einen Zwiespalt in der öffentlichen Meinung geschwächt zu sehen. Er sei „dem Kanzler dankbar . . . für die Mäßigung, die er . . . in seinem Verhalten gegenüber der österreichischen sozialistischen Opposition zu zeigen versucht" habe. Granville fügte hinzu, Dollfuß brauche sich nicht zu sehr über die Haltung der Labour Party zu beunruhigen, denn die Hauptsorge aller britischen Parteien sei, daß nichts passieren dürfe, was den Interessen Österreichs zuwiderlaufe. Obgleich das vielleicht nicht die Absicht seiner Besucher war, bedeuteten diese Erklärungen faktisch grünes Licht für weitere Schritte gegen die Sozialdemokraten, die Dollfuß planen mochte. Selby kannte Dollfuß' „tiefe und persönliche Abneigung gegen das ,rote' Wien, die teilweise auf seiner bäuerlichen Herkunft und seinen ländlichen Beziehungen beruhte". Gleichzeitig schrieb er: „Angesichts der unnachgiebigen Feindschaft der Bauern und der Heimwehr" gegenüber allem, was nach Sozialismus aussehe, würde jede Übereinkunft von Dollfuß mit den Sozialisten „politischen Selbstmord" bedeuten; möglicherweise könne er einige von ihnen für seine „Vaterländische Front" gewinnen, statt sie zu den Nationalsozialisten übertreten zu sehen - wie seine Gegner es behaupteten.12 Was in diesen Erwägungen merkwürdigerweise nie vorkam, war die Wahrscheinlichkeit, daß überzeugte junge Sozialisten der Kommunistischen Partei beitreten könnten. Im Januar 1934 besuchte Fulvio Suvich, Staatssekretär im italienischen Außenministerium, Wien und erklärte Selby, er halte das österreichische politische System für „überholt"; es müsse „erneuert werden und eine neue Basis finden". Die Italiener seien der Ansicht, daß die österreichische Unabhängigkeit verteidigt werden müsse. Denn diese sei gefährdet, gleichgültig, ob Hitler seine Autorität in Wien etabliere oder „einer österreichischen Naziregierung durch Druck zur Macht verhelfe". Einige Tage darauf informierte Suvich einen anderen britischen Diplomaten, eine der Ursachen der Schwäche Österreichs sei die sozialistische Verwaltung Wiens eine Ansicht, die Rost van Tonningen, der Vertreter des Völkerbundes, teilte - sie müsse beseitigt werden. Suvich hielt es „für absolut notwendig, daß Dollfuß weiter nach rechts rücke". Aus anderen Quellen wissen wir, daß Suvich auf Beseitigung der politischen Parteien und des „roten" Wiens sowie auf einer Verfassungsreform nach italienischem Vorbild bestand, während Dollfuß noch zögerte.13 Die Vorbereitungen für die Ereignisse des Februar 1934 waren getroffen. Am 12. Februar 1934 leisteten Einheiten des Republikanischen Schutzbundes in Linz der Polizei Widerstand, als diese nach Waffen suchte. Die Sozialdemokraten riefen den Generalstreik aus, und es kam in Wien, Linz, Steyr und einigen Städten der Obersteiermark zu heftigen Kämpfen zwischen dem Schutzbund und den Regierungstruppen, die von der Heimwehr unterstützt wurden. Aber der Generalstreik 150
wurde nur teilweise eingehalten und die Kämpfe blieben auf wenige Städte beschränkt, in denen Armee und Polizei bald die Oberhand gewannen. Wie der Times Korrespondent am folgenden Tag aus Wien berichtete, „ging die Masse der öffentlichen und privaten Angestellten ruhig zur Arbeit, es sei denn, sie wurden durch Kämpfe in der Nachbarschaft oder ausbleibende Straßenbahnen daran gehindert". Von Mittag an habe die Elektrizität in allen Privatwohnungen wieder funktioniert. Der Manchester Guardian berichtete, auch Eisenbahn und Telefon seien wieder in Betrieb, aber die Straßen lägen im Dunkeln, und die Theater und Kaffeehäuser hätten geschlossen. Bis zum 15. Februar war auch in Wien die Ordnung wieder hergestellt. „Selbst Floridsdorf, wo die Kämpfe am heftigsten waren, ist es jetzt nach außen hin ruhig, die Geschäfte sind offen, die Straßen voll Menschen, und die Straßenbahnen sind wieder da."14 Am 13. Februar informierte Dollfuß den britischen Gesandten, er sei von der Ereignissen völlig überrascht worden. Am Morgen habe er von den Zusammenstößen in Linz gehört, aber erst mittags von der Ausrufung des Generalstreiks. Danach habe es für die Regierung „nur die Möglichkeit gegeben, die Herausforderung anzunehmen." In Berlin sagte Hitler zum französischen Botschafter, Dollfuß habe „mit krimineller Dummheit auf sozialistische Arbeiter, Frauen und Kinder schießen lassen. Seine Hände wären nun mit dem Blut seines eigenen Volkes befleckt, er würde bald fallen und durch eine nationalsozialistische Regierung ersetzt werden."15 Die Regierung proklamierte das Standrecht. Die Sozialdemokratische Partei wurde verboten, der Wiener Gemeinderat und die Bezirksräte wurden aufgelöst, und die gesamte Stadtverwaltung wurde der sozialdemokratischen Kontrolle entzogen. Vom Rathaus wehte die grün-weiße Heimwehrfahne. Es folgten die Auflösung der Freien Gewerkschaften, aller sozialdemokratischen Berufs- und Erziehungsvereine, Konsumgenossenschaften und Banken, Sport- und Gesangsvereine und Fürsorgeeinrichtungen. Ihr Vermögen wurde beschlagnahmt und die Fortsetzung ihrer Tätigkeit für illegal erklärt, wie die Ήmes berichtete. In einem Leitartikel der Zeitung hieß es, Dollfuß' Reise nach Budapest habe seinen faschistischen Helfern „eine günstige Gelegenheit geboten, um Veränderungen durchzudrücken, die einzuführen der Kanzler zögerte". Die Heimwehr habe an verschiedenen Orten „wie auf ein verabredetes Zeichen" eine „autoritäre Regierung" gefordert und in vier Ländern besonders verlangt, daß die Parteien verschwinden müßten; die politische Absicht der Heimwehrführer ziele daraufhin, die Sozialisten zu beseitigen, „genau so wie sie in Italien und Deutschland beseitigt wurden". Ein Leitartikel des Manchester Guardian erklärte, Dollfuß habe „sich an eine kleine und gewalttätige Gruppe verkauft": „Diese Gruppe mag über den Sieg des Austrofaschismus frohlocken; sie mag es nicht wissen, aber sie hat einen großen Streich für den Nazismus ausgeführt... Die Waffensuche in Linz war erfolgreich, und die Heimwehr hat ihr Ziel erreicht. . . Aber wenn diese Putschisten ihren Pyrrhussieg gewonnen haben, wo bleibt Österreich?"16
Im Foreign Office wurde festgestellt, daß Selby „uns die Tatsachen berichtet,... aber nicht, was wir wissen wollen, nämlich: 1. Hat die österreichische Regierung für ihren Feldzug gegen die Sozialisten von Italien die Zusicherung moralischer und materieller Unterstützung erhalten? 2. Hat Dr.'Dollfuß vor der Heimwehr vollkommen kapituliert?" Ε. H. Carr (später ein sehr bekannter Historiker) fügte dem eine weitere Notiz hinzu: 151
„Jetzt ist es möglich, sich eine ungefähre Idee von dem Ursprung des Wiener Putsches zu bilden. Es war seit einiger Zeit bekannt, daß die Heimwehr und vor allem der Vizekanzler Fey auf Aktionen erpicht w a r e n . . . . Es scheint daher klar zu sein, daß die italienische Regierung, die zwei oder drei Monate lang lauwarm bezüglich der Heimwehr war und ihre Subsidien sehr beschnitt, ihre Linie geändert und ihr Geld wieder der Heimwehr zugeleitet hat. Die jüngsten Ereignisse in Wien sind das direkte Ergebnis dieser Entscheidung."
Es scheine somit festzustehen, daß die Italiener für diese Ereignisse verantwortlich seien, die Maßnahmen „seit einigen Tagen oder sogar Wochen vorbereitet wurden und nichts mit der angeblichen Ausrufung des Generalstreiks oder irgendeiner anderen sozialistischen Provokation vom 12. Februar zu tun hatten."17 Das war eine ganz zutreffende Analyse. In bezug auf die Kämpfe selbst hieß es in einem Memorandum des ersten Sekretärs der Gesandtschaft, das auf persönlichen Beobachtungen beruhte, daß nur „kleine Teile der riesigen Flächen jedes einzelnen Wohnblocks" beschossen worden seien und es keinen „Granatregen" gegeben habe, trotz gegenteiliger Behauptungen. Andererseits seien „die Wohnungen in keinerlei Hinsicht Festungen oder imstande, dem geringsten Beschüß durch Gebirgsartillerie zu widerstehen". „Der Widerstand war sporadisch und konnte durch Artilleriebeschuß leicht überwunden werden". Die außergewöhnlich dünnen Mauern des Goethehofes „gewährten so geringen Schutz, daß die Wohnungen unter Beschüß völlig unhaltbar wurden". Ihre Verteidiger hätten offensichtlich „keine Lust zum Kampf und keinerlei Kenntnis von MaschinengewehrStrategie oder Kampfmethoden" gehabt; doch der Goethehof sei Szene des heftigsten Widerstandes gewesen. Auch der britische Militârattaché suchte die Wiener „Front" auf und fand, daß der Schaden „auf die modernen sozialistischen Wohnblocks beschränkt war." Er hielt „das Verhalten von Bundesheer und Polizei für musterhaft", die Heimwehr aber für „erheblich weniger wertvoll". Seiner Ansicht nach waren die Unruhen in den Ländern, in Linz, Graz, Bruck a. d. Mur usw. „von keiner großen Bedeutung" und die dortige Bevölkerung „im allgemeinen über den Ruin der Roten recht froh". Der britische Konsul in Innsbruck bestätigte, „daß die Stellung der Regierung durch ihren drastischen Sturmangriff" auf die Sozialisten gestärkt worden sei. In Tirol habe es nur in Wörgl Kämpfe gegeben, als eine Abteilung des Schutzbundes einer Waffensuche der Gendarmen Widerstand entgegensetzte. In Innsbruck hätten die Sozialdemokraten einen Generalstreik versucht, aber „die große Mehrheit der Arbeiter zeigte keinerlei Sympathie, und die Anführer wurden verhaftet"; das Geschäftsleben sei ganz normal. In Kärnten habe es überhaupt keine Unruhen gegeben, und die Haltung der Sozialdemokraten sei „völlig verfassungstreu" gewesen. Der Bürgermeister von Klagenfurt und ein anderer führender Sozialist seien aus der Partei ausgetreten, weil sie sich nicht „mit einer Politik, die Ruhe und Ordnung stört", solidarisieren können.18 Im Jahresbericht der britischen Gesandtschaft für 1934 hieß es, „der größere Teil der wirklichen Arbeit zur Wiederherstellung der Ordnung sei von der regulären Armee und Polizei geleistet worden." Trotzdem seien die Heimwehreinheiten imstande gewesen, „für sich selbst den größten Ruhm und die meiste Publizität zu beanspruchen", hätten aber „durch ihre scharfen Methoden" den bitteren Haß ihrer Gegner erregt. Arbeiter, deren politische Einstellung verdächtig sei, würden auf der 152
Stelle entlassen, „ohne irgendwie entschädigt zu werden", und die Arbeiterbank sei in einer Weise liquidiert worden, die ihre Gesellschafter „schwer getroffen" habe. Jetzt sei der Boden vorbereitet „für die Errichtung des autoritären Staates nach faschistischen Grundlinien".19 Bevor die Kämpfe in Wien ihr Ende erreicht hatten, beauftragten Premierminister Ramsay MacDonald und Sir John Simon Selby, Dollfuß aufzusuchen und ihm klarzumachen, „was für eine schlechte Wirkung die Exzesse gegen die Sozialisten", zum Beispiel der Artilleriebeschuß von Wohnungen, auf die britische öffentliche Meinung hätten. Dollfuß behauptete, „den deutschen Nazis demonstrieren zu wollen, daß er die Ordnung im Lande aufrechterhalten könne" - aber in den Augen der britischen Regierung sei er in einen Bürgerkrieg verwickelt. Im Unterhaus betonte Simon noch einmal, daß die Regierung nicht beabsichtige, „sich in die internen Angelegenheiten eines anderen Landes einzumischen". Aber in der britischen Presse gab es einen Entrüstungssturm, von dem Dollfuß völlig überrascht wurde. Die Sekretäre der Labour Party und der Gewerkschaften, Henderson und Citrine, sprachen aufgrund der österreichischen Ereignisse bei Simon vor, und dieser teilte ihnen mit, die Regierung habe die ernsthafte Erwartung ausgesprochen, daß Dollfuß eine Politik der Milde und der Befriedung verfolgen würde.20 Die Übermittlung dieser frommen Hoffnung verhinderte nicht, daß gegen die Teilnehmer an den Kämpfen grausame Urteile gefällt und vollstreckt wurden. „Mit der Niederwerfung der Sozialisten befindet sich Österreich jetzt auf faschistischem Kurs", schrieb die Times. Die Zeitung erklärte die jüngsten Ereignisse durch „die gänzliche Unvereinbarkeit eines von fortschrittlichen freidenkerischen Sozialisten regierten Wiens mit ländlichen Gegenden, die von frommen Katholiken und anderen bitteren Feinden des Marxismus beherrscht werden. Beide sind meilenweit voneinander entfernt; sie sind einander nie begegnet und können sich nie begegnen."21 Im Foreign Office verfaßte Ε. H. Carr noch im Februar ein Memorandum mit dem Titel „The Austrian Problem". Darin stellte er fest: „In Österreich ist die Heimwehr die einzige noch effektive Autorität" und „faktisch eine Söldnertruppe in italienischem Sold; es ist schwierig zu sehen, wie ein Regime auf dieser Grundlage stabil oder von langer Dauer sein kann". Er schloß mit den Sätzen: „Das unabhängige Österreich ist tot, und der Erbe des Nachlasses muß entweder Italien oder Deutschland s e i n . . . In Österreich wird die italienische Lösung nur von den Maschinengewehren der Heimwehrsöldner unterstützt und kann daher nicht die gleiche Stabilität haben wie die deutsche Lösung . . . Wenn man die deutsche Lösung für auf die Dauer unvermeidlich hält, je schneller sie kommt, umso besser."
Wirtschaftlich würde „aller Wahrscheinlichkeit nach" weder die eine noch die andere Lösung britische Interessen verletzen, meinte Carr, aber auch auf diesem Gebiet biete „die deutsche Lösung auf lange Sicht größere Aussicht auf Stabilität." Doch mehrere hohe Beamte machten kritische Bemerkungen zu dieser Schlußfolgerung. Sargent glaubte nicht an die Unvermeidlichkleit der deutschen Lösung: Carr habe „die starken Kräfte, die ihr entgegenwirken", nicht in Betracht gezogen. Er erwähnte das Beispiel Belgiens, „das 1830 als völlig künstliches Gebilde gegründet wurde", so daß eine Einverleibung durch Frankreich lange als „unvermeidlich" gegolten habe. Die Einverleibung Österreichs „würde einen absolut neuen Schritt 153
vorwärts in der deutschen Politik der Aggression darstellen". Sie würde „deutscherseits zu einer Politik der Widerborstigkeit führen und seitens der Staaten Mitteleuropas zu einer Politik der Nachgiebigkeit, in die ich Italien einbeziehen würde"; Frankreich und Großbritannien würden die Konsequenzen bald zu spüren bekommen. Vansittart drückte seine Zustimmung aus: „Das Bild einer deutschen Hegemonie ist beunruhigend. Ich bin einer der einfachen Leute, die ein Deutschland mit 80 Kilo einem Deutschland mit 100 Kilo vorziehen - denn es würde sich auf dieser Basis später noch mehrere Dutzend Kilo zulegen." Schließlich schrieb Sir John Simon: „Ich bin nicht so sicher, ob ein Deutschland mit 112 Kilo sich nicht als schwerfälliger und leichter zu handhaben erweisen würde als ein hungriges Deutschland mit 80 Kilo. Aber ich kann an der Aussicht keinen Gefallen finden, daß dann alle Satellitenländer (inklusive Italien) sich beeilen werden, ihm zu helfen, wenn die so gekräftigten Deutschen sich dann bemüßigt fühlen, ihr neues Gewicht zur Geltung zu bringen." 22 Innerhalb weniger Jahre sollten sich alle diese Erwartungen bewahrheiten. Was aber fehlte, war irgendein Vorschlag, was Großbritannien tun könnte, um das Anwachsen deutscher Macht zu verhindern. Als Dollfuß im März 1934 nach Rom fuhr, unternahm die italienische Regierung laut Bericht des britischen Botschafters große Anstrengungen, um den Besuch zu einem Erfolg zu machen. In Interviews mit der Presse bestand Dollfuß darauf, daß die meisten Österreicher das Parlament „mit wachsendem Mißtrauen" betrachteten und „offen für eine radikale Reform des politischen Systems" einträten. Die Sozialdemokraten hätten sich dieser allgemeinen Tendenz entgegengestemmt und versucht, „mit Gewalt an die Macht zu kommen", aber das habe die Arbeit der Regierung nur ein paar Tage lang unterbrochen. Die neue Verfassung kündigte Dollfuß an, werde „korporativ" sein, und es werde nur eine offizielle Gewerkschaft geben. Aus Wien schrieb Selby, die Autonomie der Länder sei durch die Absetzung aller Landesregierungen und deren Ersetzung durch autoritäre Institutionen faktisch zerstört worden. Landeshauptleute, die mit sozialistischer Hilfe gewählt waren, seien zum Rücktritt gezwungen worden. Die neuen Landeshauptmänner von Oberöstefreich und dem Burgenland seien Mitglieder der Vaterländischen Front, ihre Stellvertreter kämen aus der Heimwehr. Auch in Niederösterreich und Salzburg seien solche Stellvertreter aus der Heimwehr ernannt worden. In sozialen Fragen sei die Tendenz zum Faschismus ebenso eindeutig, und die Gewerkschaften sollten gemäß „christlichen, vaterländischen Ideen" gebildet werden. Die neuen Rekruten für die Heimwehren und die „Ostmärkischen Sturmscharen" seien „unreife und unerfahrene Jugendliche oder Arbeitslose". Nur eines sei sicher: „Im Augenblick ist Dr. Dollfuß, ob gewollt oder ungewollt, in den Händen der Heimwehr und ein Werkzeug des Faschismus." Aber er könne sich schrittweise „aus seiner Umarmung befreien, von der er genau wisse, daß sie bei der Bevölkerung unbeliebt w ä r e . . . . Ich kann keinen anderen österreichischen Führer erblicken, der fähig und bereit wäre, den Kampf gegen Deutschland fortzusetzen." Es sei daher zu Großbritanniens Vorteil, „ihm alle nur mögliche praktische und wirtschaftliche Hilfe zu gewähren", denn Deutschland verlasse sich offenbar auf wirtschaftlichen Druck, um ihn zu vernichten, ohne zu den Waffen greifen zu müssen. Er bezweifle, ob italienischer Hilfe oder die Wiederge154
burt Österreichs nach faschistischen Ideen sich auf eine lange Sicht gegen solchen wirtschaftlichen Druck behaupten könnten; aber man habe ihm gesagt, daß Dollfuß in seiner verbitterten Stimmung glaube, mit praktischer Hilfe könne er nur aus Rom rechnen.23 Wirtschaftliche Unterstützung für Österreich war in London vor den Februar-Ereignissen erwogen worden, aber das Ergebnis war mehr als mager. Im Januar 1934 richtete der österreichische Gesandte auf Veranlassung seiner Regierung einen dringenden Appell an Simon: Es sei „äußerst wichtig, daß man die wirtschaftliche Lage seines Landes verbessere und die Arbeitslosigkeit vermindere", denn jedes Anzeichen von Not würde von den Feinden der Regierung benutzt, um das Vertrauen des Volkes zu schwächen. Eine Steigerung seines Handels sei für Österreich „eine Frage von Leben und Tod", weil es mit Ausfuhren für die Einfuhr von Rohstoffen und Nahrungsmitteln zahlen müsse. Franckenstein fragte an, ob es möglich wäre, Österreich Vorzugstarife zu bewilligen - vorausgesetzt, daß die Länder, mit denen England Meistbegünstigungsverträge abgeschlossen habe, keine ernsten Bedenken hätten. Die Österreicher schlugen die Entsendung eines hohen Beamten nach London vor, um darüber zu verhandeln, und Simon schrieb an den Handelsminister Walter Runciman und drang auf wirtschaftliche Konzessionen an Österreich. Die Antwort war völlig negativ. Runciman war davon „überzeugt, daß es faktisch keine Tarifkonzessionen allgemeiner Art gibt, die wir gemäß unserer gegenwärtigen Handelspolitik Österreich anbieten könnten." Noch stärkere Bedenken äußerte er gegen einen Vorzugstarif für Österreich, da ein solcher „uns völlig mit unseren Industriellen entzweien . . . und von allen Kritikern unserer Politik der Hilfe für Österreich angegriffen werden würde, und ebenso zweifellos von den Dominions." Er habe starke Bedenken, „die Österreicher irgendwie zu ermutigen anzunehmen, daß sie ein Übereinkommen mit uns aushandeln könnten". Falls es aus politischen Gründen wünschenswert wäre, den Wiener Abgesandten zu empfangen, würde er nicht widersprechen: „unter der Bedingung, daß er klar versteht wir sähen keine Möglichkeit, daß die Diskussion mit ihm oder spätere Diskussionen zu einem Handelsvertrag mit Österreich führen." Im Foreign Office notierte Sargent: „Mr. Runciman gibt in der Frage der Vorzugstarife auch nicht einen Zoll nach und ignoriert auch unseren Vorschlag, die kanadische Regierung zu bitten, nicht auf dem Buchstaben der Übereinkunft von Ottawa zu bestehen", um die Einfuhr österreichischen Holzes zu ermöglichen. Inzwischen warte der österreichische Abgesandte in Paris auf eine Einladung nach London. „Ich halte es für unmöglich, daß wir Mr. Runciman's Vorschlag annehmen und Baron Franckenstein mitteilen, wir hätten uns entschlossen, nichts für Östereich zu tun - ohne die österreichischen Sachverständigen überhaupt anzuhören"; die Frage müsse dem Kabinett unterbreitet werden. Vansittart fügte hinzu, das müsse sofort geschehen. „Wir können das Risiko nicht akzeptieren, Mitteleuropa in Flammen aufgehen zu lassen, nur weil das Handelsministerium zögere, der kanadischen Regierung einen vernünftigen Vorschlag zu unterbreiten."24 Am 31. Januar 1934 wurde die Frage im Kabinett diskutiert. Simon erklärte: „Es kann sein, daß die Hilfe, die wir anbieten können, auf lange Sicht nur wenig Unterschied mache; aber falls Österreich nazistisch werden sollte, müßten wir zeigen kön155
nen, daß wir alles getan haben, um das zu verhindern." Er habe an die französische und italienische Regierung geschrieben, um sie zu fragen, was sie tun könnten, und sie hätten „die gleiche Frage an uns gerichtet und betont, daß sie bereits das Möglichste getan hätten." Vielleicht würde Kanada in einem neuen Vertrag Zugeständnisse für Holz machen. Doch die Anwesenden wurden informiert, daß keine solche Konzession von praktischem Nutzen wäre, wenn Österreich nicht ein Vorzugstarif zugestanden werde, was eine kanadische Zustimmung voraussetze. Der Vertrag mit Kanada sei mit großen Schwierigkeiten abgeschlossen worden, und jedes Zugeständnis an Österreich würde weitere britische Zugeständnisse erfordern. „Österreichisches Holz würde hier wenig nützen, und die Menge, die wir abnehmen könnten, wäre so gering, daß die Frage dadurch nicht berührt würde." Runciman erklärte, die einzige Hilfe, die er anbieten könne, betreffe Velourhüte - was er nur erwähne, um zu zeigen, wie wenig man tun könne. Die britische Einfuhr aus Österreich sei sehr gering. Das klang wie ein schlechter Witz. Neville Chamberlain, der Chancellor of the Exchequer (Schatzkanzler), gab zu, daß man nur wenig tun könne. Aber er trat dafür ein, wenigstens etwas anzubieten: „Wir sollten unsere Bereitwilligkeit zeigen, in jedem Vertrag, den Österreich mit einem anderen Land, vor allem mit Polen, abschliessen mag, auf unser Meistbegünstigungsrecht zu verzichten." Das „würde etwas moralische Hilfe geben und Frankreich und Italien, die beide wirtschaftlich mehr tun könnten als wir, ein Beispiel zeigen." So konnte die Last auf andere Schultern abgeschoben werden. Das Kabinett entschied dann, den österreichischen Sachverständigen nach London einzuladen und „unter gewissen Umständen und für eine begrenzte Zeit auf unser Meistbegünstigungsrecht zu verzichten." 25 Anfang Februar wurde der österreichische Abgesandte im Londoner Handelsministerium empfangen und machte dort mehrere Vorschläge. Doch die anwesenden Beamten erklärten ihm, diese seien alle „in der Praxis nicht anwendbar". Am Schluß wurde er gefragt, ob er noch weitere Vorschläge zu machen hätte, „die von uns erwogen werden könnten," worauf er negativ antwortete. Aber er gab sich noch nicht geschlagen und erwähnte verschiedene österreichische Exportartikel. Falls Großbritannien bereit sei, Österreich für diese Artikel Vorzugstarife zuzugestehen, würde das den Ländern, mit denen Großbritannien Meistbegünstigungsverträge abgeschlossen habe, mitgeteilt werden; wenn sie Bedenken hätten, würden die Verträge nicht in kraft treten. Vansittart hielt das für „einen fairen Vorschlag", der sorgfältig zu erwägen sei. An Runciman schrieb er, daß der Abgesandte „auf keinen Fall mit leeren Händen fortgeschickt werden sollte. Falls es augenblicklich unmöglich sei, seine Wünsche zu erfüllen, dürfe die Tür jedenfalls für eine spätere Wiederaufnahme der Verhandlungen nicht geschlossen werden." Dem stimmte Runciman schließlich zu.26 Mit diesem Resultat mußte der Abgesandte nach Wien zurückkehren, und die Bemühungen des Foreign Office erreichten ihr Ende. Im gleichen Monat diskutierte das Kabinett auch, was auf politischem Gebiet für Österreich getan werden könnte - mit ebenso negativem Ergebnis. Simon betonte wie gefährlich die nationalsozialistische Propaganda sei: „Es bestünde Aussicht, daß Österreich nationalsozialistisch würde und sich beide Staaten vereinigen". Großbri156
tannien habe an Mussolini appelliert, gemeinsam zu handeln, er zöge es aber vor, es selbst in Berlin zu versuchen - ohne jedes Resultat. „Leider sei es so, daß wir nichts Konkretes tun könnten." J. H. Thomas, Minister für Dominions, meinte, man müsse mehr tun, um Italien zur Mitarbeit zu gewinnen, da seine eigenen Bemühungen in Berlin erfolglos gewesen seien. Könnten die Franzosen nicht bewogen werden, mehr zu tun? Es habe keinen Sinn, „die Deutschen herauszufordern, denn die britische öffentliche Meinung würde einen Krieg mit Deutschland nicht akzeptieren." John Gilmour, der Innenminister, war der Meinung, man könne nichts tun, „wenn wir nicht Frankreich oder Italien zum Mithandeln bringen könnten". Könnte man sie nicht ersuchen, einen Boykott oder so etwas ähnliches zu erwägen? W. Elliot, Minister für Landwirtschaft, erwähnte, daß das „Komitee für Verteidigung des Empire" dabei sei, eine Untersuchung über einen Boykott Deutschlands durch den Völkerbund abzuschließen. Darin käme man zu dem Schluß, daß es sehr zweifelhaft sei, ob ein Boykott wirksam wäre; für Großbritannien würde er bestimmt sehr kostspielig sein, und Sanktionen hätten „ohne kriegerische Operationen keine Wirkung". Simon schlug vor, den Touristenverkehr nach Österreich neu zu beleben, denn es sei „ein sehr angenehmes Land für Ferien." Doch MacDonald erwiderte, daß der Versuch, den Ferienverkehr zu fördern, wegen des Umfangs des normalen deutschen Tourismus, den Hitler blockiert habe, ohne Erfolg geblieben sei. Der Premierminister fragte auch: „Was würde die Affäre Österreich kosten, wenn ernste Konsequenzen daraus entstünden? . . . Falls politischer Einfluß nicht effektiv wäre, was könnte es sein?" Das Ergebnis der Diskussion war der Vorschlag, das Problem im Foreign Office weiter zu untersuchen und den Entwurf einer Note dem ministeriellen „Komitee für Abrüstung" zu unterbreiten.27 In einem um die gleiche Zeit entstandenen Memorandum erklärte Simon, bisher habe Dollfuß „immer behauptet, er könne gegen einen .deutschen Bruder' nicht an den Völkerbund appellieren"; daß er jetzt damit drohe, zeige „wie verzweifelt seine Position plötzlich geworden ist". Falls Österreich die Frage in Genf vortrage, könne sie nicht umgangen werden, „wie schwer auch der Druck sein mag, den sie auf den derzeit geschwächten Völkerbund ausüben würde". Doch Simon trat dafür ein, den Italienern „noch eine Chance" zu geben - „und wenn sie eine Zusammenarbeit ablehnen, muß die Frage auf der Basis der Zusammenarbeit mit Frankreich neu untersucht werden." Diese Urkunden beweisen, wie hilflos sich die britische Regierung gegenüber der deutschen Bedrohung fühlte, wie wenig sie für Österreich tun konnte oder wollte. Im August 1933 hatte Vansittart geschrieben: „Es kann kaum bezweifelt werden, daß Dr. Dollfuß, von dem Österreichs Unabhängigkeit jetzt abhängt, weder die Angriffe seiner Gegner von innen und außen überleben noch die Demoralisierung aufhalten kann, die durch die Drohungen deutscher Agenten in Österreich hervorgerufen wird, wenn er nicht auf eine wirtschaftliche Erholung hinweisen kann, als äußeres und sichtbares Zeichen der Unterstützung durch seine Freunde im Ausland."28 Doch wo waren diese „sichtbaren Zeichen"? Im Juli 1933 wurde dem Foreign Office mitgeteilt, daß der österreichische Außenhandel seit 1931 „im Wert um fast genau SO Prozent abgenommen" hatte.29 Aus wirtschaftlichen wie aus politischen Gründen mußte es in der Tat zweifelhaft erscheinen, ob Österreich überleben könnte. 157
Im Innern ruhte das „autoritäre" Regime auf drei Hauptsäulen: der Kirche und ihren Vereinigungen, der Armee und Polizei und der Heimwehr, insofern ihre Mitglieder nicht zu den Nationalsozialisten übergetreten waren. Der Jahresbericht der britischen Gesandtschaft für 1934 machte deutlich: „Der alles durchdringende Einfluß der katholischen Kirche in den Bereichen des öffentlichen Lebens ist eines der auffallendsten Charakteristika des heutigen Österreichs"; er stoße aber auf Widerstand bei der Heimwehr, „vor allen auf dem Gebiet der Erziehung, wo diese militärischen und faschistischen Ideen den Vorrang gebe." Im Mai 1934 berichtete Selby von einem ,;scharfen .Auskämmen' der Lehrer" infolge des Konkordats, das kürzlich abgeschlossen worden war. Die vorzugsweise Anstellung und Beförderung von Lehrern hänge jetzt von der Billigung durch die Kirche ab. Mediziner klagten darüber, „daß das Glaubensbekenntnis wichtiger sei als berufliche Tüchtigkeit und Verfolgungen überhandnähmen." Ähnliche Klagen kämen von den Juristen und es gebe deutliche Beweise dafür, „daß diese Unzufriedenheit von der Nazipropaganda voll ausgebeutet wird". Einige Zeit darauf schrieb Selby wieder über „Säuberungen" in den akademischen Berufen wegen „politischer Tendenzen, die der Regierung feindlich gegenüber stünden", was - so würde gesagt - „in Wirklichkeit Teil der katholischen Kampagne zur Beseitigung von Nichtorthodoxie und Liberalismus" sei. „In ihrem Katholizismus" sehe die Regierung nicht, wie wichtig es wäre, diese Gruppen zu beschwichtigen. Der britische Konsul in Innsbruck erwähnte eine Unterhaltung mit einem Nationalisten, der die lokale katholische Tätigkeit als einen „Teil des Kampfes der Gegenreformation des 20. Jahrhunderts" beschrieb. Der Konflikt zwischen Kirche und Regierung in Deutschland habe Auswirkungen auf Westösterreich, wo prodeutsche Neigungen oft Hand in Hand mit Freidenkertum gingen.30 Aber man muß auch bedenken, daß der „Katholizismus" der Regierung beträchtliche Unterstützung auf dem Land brachte. Unter den regierungstreuen Wehrverbänden war die Heimwehr noch immer der weitaus wichtigste. Eine Notiz des britischen Geheimdienstes schätzte ihre Stärke im September 1933 auf 40.000 Mann, die „gut bewaffnet, ausgebildet und organisiert" seien. Verglichen damit wurden für den Frontkämpferverband etwa 6.000, für den Freiheitsbund (hervorgegangen aus den offiziellen Gewerkschaften) etwa 1.000 und für die Bauernwehren etwa 15.000 Mann angegeben. Für die Ostmärkischen Sturmscharen der jungen Christlichsozialen wurden keine Zahlen genannt. Die Frage war nur, wie zuverläßig die Heimwehr war. Zwei hohe Offiziere, die der britische Militârattaché darüber befragte, waren überzeugt davon, daß viele Heimwehrleute „sehr unzuverlässig wären, und brachten viele Beispiele aus Wien und Graz, wo . . . Heimwehrleute ganz offen nationalsozialistische Propaganda betrieben hätten." Anfang 1934 wurde das bestätigt, als der Führer der niederösterreichischen Heimwehr, Graf Alberti dessen „Nazi-Intrigen längst bekannt waren", in der Wohnung des nationalsozialistischen Gauleiters von Wien, wo er Geheimverhandlungen mit einem deutschen Diplomaten führte, verhaftet wurde. Starhemberg sah sich gezwungen, Alberti aus seiner Stellung zu entfernen. Da die niederösterreichische Heimwehr „eine der wichtigsten Sektionen" der Bewegung war und Alberti großen Einfluß auf sie besaß, hielt Selby den Zwischenfall für „bedeutsam". 158
Im Februar 1934 war seine eigene Meinung von der Heimwehr: Sie sei „ein zusammengewürfelter, undisziplinierter, eifersüchtiger Haufen sehr gemischter Elemente", die „sehr empfindlich für lokale Gefühle" wären. Sollten die einfachen Mitglieder ihre proitalienische Linie unpopulär finden - und das sei auf lange Sicht unvermeidlich - würden weder sie noch ihre Führer „für Rom gegen München" eintreten; dennoch hätten sie, wie die meisten Österreicher, keine große Sympathie für Berlin. Aus der britischen Botschaft in Rom wurde im Sommer 1933 berichtet, „als Ergebnis von Dr. Dollfuß' Besuch in Rom" seien die italienischen Zahlungen an die Heimwehr wieder aufgenommen worden. Sicher habe Dollfuß Mussolini „die volle Bedeutung der Nazigefahr in Österreich" erklärt, und daher rühre der Beschluß. Im August wurde bemerkt, daß die Italiener der Heimwehr Gewehre und Maschinengewehre lieferten.31 Die Italiener hatten die Heimwehr seit Jahren unterstützt, aber alle Investitionen nützten ihnen nur wenig. Warum sie trotzdem fortgesetzt wurden, ist nie aufgeklärt worden. Eine andere Frage, die die britischen Diplomaten gelegentlich beschäftigte, war, ob das neue östereichische Regime antisemitisch sei. Im August 1933 schrieb Neville Laski („Board of Deputies of British Jews") an Vansittart, er habe von drei prominenten Mitgliedern der Wiener jüdischen Gemeinde gehört, daß Dollfuß eine antisemitische Politik verfolge, obgleich Juden seiner Partei 500.000 Schilling gespendet hätten. Es gebe einen numerus clausus für jüdische Ärzte und Medizinstudenten, und die Reichspost rate Patienten, nicht zu jüdischen Ärzten zu gehen. Aus Wien bestätigte Selby 1934, daß „Privat- und Parteifonds, Wohlfahtseinrichtungen der Heimwehr und unzählige ähnliche Organisationen" von jüdischen Beiträgen abhingen - eine Tatsache, die „dem österreichischen Judentum zusätzliche Kraft" verleihe. Aber er gab zu, daß Dollfuß „starkem antijüdischem Druck durch die rabiateren klerikalen Elemente" ausgesetzt sei, und in den Ländern „übertriebene Gerüchte" umgingen, daß die Regierung sich „dem Judentum verkauft" habe. Diese Gerüchte verbänden sich leider „mit dem irrationalen antijüdischen Haß der Offiziere und anderen Berufsgruppen,... die nur zu geneigt wären, jede phantastische Geschichte zu glauben, die von daran interessierter Seite über die jüdische Vorherrschaft in den ärztlichen, zahnärztlichen und juristischen Berufen verbreitet würde." Zwei Regierungsmitglieder, Major Fey und Fürst Schönburg-Hartenstein, seien „wilde Antisemiten", und ebenso Starhemberg, obgleich er schwer an Juden verschuldet und ein enger Freund des Industriellen Fritz Mandl wäre. Andererseits gäbe es in der Wiener Heimwehr „eine nicht übersehbare geringe Zahl von Juden" und Juden hätten sich kürzlich mit Erfolg um Konzessionen bemüht, zum Beispiel die Versorgung der öffentlichen Krankenhäuser mit Arzneien. Die meisten Juden wüßten, fuhr der Bericht fort, daß „der Mittelpunkt des österreichischen Karusells noch immer der winzige Kanzler ist". Daher hänge die Zukunft der österreichischen Juden großenteils von dessen Fähigkeit ab, „ohne Kompromisse mit den Nazis oder den blinden Elementen im Lande in seinem Amt zu bleiben". In einem weiteren Bericht bestätigte Selby, daß in jüdischen Kreisen wegen des Regierungsplanes, die Zahl der Juden in den akademischen Berufen zu beschränken, „tiefe Besorgnis" herrsche. Schließlich schlug das Foreign Office vor, er solle eine günstige Gelegenheit benutzen, um die österreichischen Behörden auf die starken 159
Sympathien der britischen Juden mit den Juden in anderen Ländern aufmerksam zu machen, und ebenso auf „die unverkennbare Tatsache, daß eine Diskriminierung" die Sympathien für Österreich in England schwächen und die Bereitschaft zur Hilfe verringern würde. Wenn das seinem Einfluß in Wien nicht ernsthaft schade, möge er so etwas äußern. 32 Anscheinend existiert keine Urkunde, die besagt, ob diese Mission so ausgeführt wurde, und wenn ja, welche Ergebnisse sie hatte. Doch im November 1934 bat der erste Sektretär der Gesandtschaft den österreichischen Außenminister Baron Berger· Waldenegg um Information über die Politik der Regierung gegenüber den Juden, die auch jüdische Kreise in England, und vor allem Neville Laski, interessieren würde. Der Minister versicherte, „daß Antisemitismus nicht zum Regierungsprogramm gehöre", und er bat ihn, Laski nach Wien einzuladen, um über „alle sonstigen Schwierigkeiten, die die jüdische Gemeinde beschäftigen mochten", zu diskutieren. Der Sekretär schrieb nach London, Berger-Waldenegg sei „zunächst und vor allem ein betonter Parteigänger der Heimwehr", und er sehe in der Einladung „ein hoffnungsvolles Anzeichen für Konkurrenz" zwischen der Heimwehr und dem christlichsozialen Flügel der Regierung um jüdische Unterstützung. Die Heimwehrführer seien „offen antisemitisch und voreingenommen", ihre „Erziehung und die Abhängigkeit von jüdischen Geldgebern" mache viele von ihnen zu Antisemiten, und die Juden hätten mehr von der christlichsozialen Seite zu erhoffen. Aber der Antisemitismus werde „von den mehr religiös-fanatischen Behörden des Landes angefacht" und biete „eine geeignete Rückzugslinie für skrupellose Politiker, die ihren Frieden mit Deutschland machen wollten". Jüdische Geschäftsleute würden „von geldhungrigen Politikern jeder Form von Abgabe und inoffizieller Erpressung" ausgesetzt und litten schwer, andererseits aber profitierten sie davon, weil sie „die Löhne herabsetzen und die Arbeitszeit verlängern könnten, ohne daß die Arbeiter die Möglichkeit hätten, dagegen effektiv zu protestieren." Manche von ihnen würden sich den Forderungen der Heimwehr nach Ersetzung der Sozialisten durch Gefolgsleute der Regierung beugen und dafür werde die jüdische Gemeinde einen „hohen Preis, nämlich wachsenden Antisemitismus in der Arbeiterklasse, zahlen müssen". Nach Ansicht des Berichterstatters stand der jüdischen Gemeinde daher „eine schwere Zeit" bevor. Das Foreign Office übersandte Laski Berger-Waldeneggs „herzliche Einladung . . . ihn aufzusuchen", um „offen mit ihm über die Schwierigkeiten zu reden", die die österreichischen Juden hätten. 3 ' Aber es gibt keinen Beweis für einen solchen Besuch. Die Regierungsmaßnahmen gegen Juden waren jedenfalls vergleichsweise sehr milde zu einer Zeit, in der die Hitlerregierung immer schärfere antisemitische Maßnahmen ergriff und die österreichischen Nationalsozialisten wilde antisemitische Propaganda betrieben. Im Juni 1933 wurde die österreichischen Nationalsozialistische Partei verboten und setzte seitdem ihre Tätigkeit auf „illegale" Weise fort. Selbst aus deutscher Sicht war die Partei nicht stark genug, um die Macht zu ergreifen. Aber Hitler war überzeugt,daß sie bei einer allgemeinen Wahl die stärkste Partei werden würde und daß die Regierung Dollfuß beabsichtige, „den deutschen Nationalgedanken aus Österreich auszutreiben und an seine Stelle den österreichischen Gedanken zu setzen". Es bestünde die Gefahr, „daß Deutschland dadurch endgültig sechs Millionen Men160
sehen verliert, die einem ,Verschweizerungsprozeß' entgegengehen" - wie Hitler es in einer Ministerbesprechung im Mai 1933 ausdrückte. Daher verhängte Deutschland einschneidende wirtschaftliche Maßnahmen, um den Zusammenbruch der Regierung Dollfuß zu bewirken, und gleichzeitig wurde alles versucht, um Neuwahlen herbeizuführen. Der Münchner Sender sandte heftige Angriffe auf die österreichische Regierung, die - wie der österreichische Gesandte in London berichtete - in der unmöglichsten Weise beschimpft und des Hochverrats beschuldigt wurde. Die österreichischen Nationalsozialisten wurden angespornt, Widerstand zu leisten. Alle Proteste, die Österreich in Berlin gegen diese Aktivitäten erhob, waren vergeblich.34 Im Juli 1933 sprach Franckenstein in Begleitung eines hohen Wiener Beamten im Foreign Office vor. Er informierte Vansittart, daß seine Regierung alles nur mögliche tue, „um mit dem wachsenden Terrorismus, der aus Deutschland geschürt wird, fertig zu werden", für die zahlenmäßig sehr begrenzten österreichischen Kräfte sei aber der Druck zu stark. Daher beabsichtige die Regierung, zusätzlich ein Hilfskorps von 8.000 Mann aufzustellen; sie habe schon die französische und italienische Regierung um Zustimmung gebeten und günstige Antworten erhalten. Vansittarts Reaktion war ebenso positiv: „Die Erhaltung der österreichischen Unabhängigkeit ist eine wichtige europäische Angelegenheit. Wir können nicht fortwährend die Österreicher dazu anspornen, sie zu bewahren, und ihnen dann in keiner Weise helfen." Das Foreign Office telegraphierte daher nach Rom, daß es dem österreichischen Vorschlag unter folgenden Bedingungen zustimme: Die Gesamtstärke der Einheiten einschließlich der Armee dürfe die Zahl von 30.000 Mann, die der Vertrag von St. Germain vorschreibe, nicht überschreiten, die Dienstzeit höchstens 12 Monate dauern, und die französische und italienische Regierung müßten einverstanden sein. Die französische Regierung ihrerseits machte ihre Zustimmung von den Staaten der Kleinen Entente abhängig. Bis 1934 war das aus der Heimwehr und den anderen Wehrverbänden rekrutierte Hilfskorps auf 12.000 Mann angewachsen, während die Armee allmählich auf eine Sträke von 40.000 Mann gebracht wurde.35 Zusammen hatten sie also den im Friedensvertrag vorgesehenen Umfang erheblich überschritten. Der deutsche Gesandte in Wien seinerseits beklagte sich bei Selby laut über die Haltung der Regierung Dollfuß gegenüber den Nationalsozialisten: diese sei nur der Furcht der die Regierung tragenden Parteien, daß jede Konzession an den Nationalsozialismus ihre Zukunft gefährde, zuzuschreiben. „Lediglich aus diesem Grunde, und aus keinem anderen" habe Kanzler Dollfuß „jedes Angebot der österreichischen Naziführer zur Zusammenarbeit abgelehnt"; und sie hätten doch nur die „gemäßigte Forderung" nach zwei Ministerposten gestellt. Es sei „unerträglich", daß eine Gruppe, die in Österreich so stark sei, „von jeder Teilnahme an der Leitung der österreichischen Geschäfte" ausgeschlossen werde.36 Selby hätte gut antworten können, daß es noch eine andere starke Gruppe gab, die gleichfalls von jeder Teilnahme ausgeschlossen war - die Sozialdemokraten; ganz zu schweigen von Deutschland, wo zu dieser Zeit nur eine Partei legal war und alle anderen unterdrückt und verfolgt wurden. Anfang August 1933 schrieb Wickham Steed, der frühere Herausgeber der Times, an Vansittart: Die nationalsozialistische Leitung in München veranlasse Mitglieder 161
der österreichischen SA, nach Lechfeld in Bayern zu kommen und dort eine österreichische Legion für Operationen gegen Österreich zu bilden, „die spätestens Ende August beginnen sollen". Deutsche Propaganda bringe den Österreichern bei, daß „ein wirtschaftlicher und politischer Zusammenbruch" bevorstünde und es eine zweite Inflation geben würde; das habe „eine gewisse Wirkung und versetze die Leute in nervöse Angst". Das Foreign Office erhielt auch Nachricht über den Plan dieser österreichischen Legion, in Tirol einzufallen, „um Innsbruck überraschend einzunehmen, alle öffentlichen Gebäude zu besetzen, die Führer aller gegnerischen Parteien zu erschießen und Wahlen zu erzwingen". Denjenigen, die nicht abstimmen würden, drohe man die Konsequenzen an. Die Kräfte in Tirol, die einem solchen Unterfangen Widerstand leisten könnten, seien „außerordentlich schlecht ausgerüstet", es fehle ihnen an Waffen und sogar an Schuhen. Aus Wien berichtete die Gesandtschaft über einen Polizeiüberfall auf „ein geheimes Nazi-Hauptquartier", in dem mehrere Journalisten und eine Anzahl von „Kurieren" verhaftet worden seien. Man habe die Korrespondenten mehrerer deutscher Zeitungen verhaftet oder ausgewiesen. Auf einer Brücke bei Salzburg seien ein österreichischer Nationalsozialist und nahe der bayrischen Grenze ein österreichischer Gendarm erschossen worden. „Gegen Nazisympathisanten unter den Lehrern" würden scharfe Vorschriften erlassen. Auf beiden Seiten habe sich „die Animosität nicht im geringsten gelockert". Aus München telegraphierte der britische Konsul, dort würde offen davon gesprochen, daß die Krise Anfang September, sobald die Ernte zuende wäre, ihren Höhepunkt erreichen würde. Es sei beabsichtigt, im Lande selbst durch Österreicher Unruhen anzetteln zu lássen - „und wenn die Behörden mit deren Unterdrückung beschäftigt wären, würden die österreichischen Nationalsozialisten die Grenze aus Bayern überschreiten und versuchen, Innsbruck einzunehmen." Der dortige britische Konsul bezweifelte jedoch, ob ein solcher Einfall „mit allgemeiner oder selbst weitverbreiteter Sympathie rechnen könnte"; die Nationalsozialisten hätten Anhänger in Kufstein und den Dörfern des Inntals, aber die Mehrheit der Bauern sei nicht nationalsozialistisch. 37 Im November 1933 meldete der Konsul aus Innsbruck, daß die Anti-Nazi-Stimmung in Tirol inzwischen etwas stärker geworden sei und nur acht Männer (von insgesamt 6.800 Einwohnern) Kufstein verlassen hätten, um der österreichischen Legion beizutreten; aber „die Nazizellen . . . sind noch aktiv und erhalten noch deutsche Hilfe". In Hall bei Innsbruck setzten sie ihre Aktivitäten fort, und in Kitzbühel - nach Ansicht der Behörden „die unruhigste Stadt in Tirol" - seien die Nationalsozialisten stark. In Vorarlberg gelte Dornbirn als Herd des Nationalsozialismus. Ein großer Teil der Einwohner hänge von zwei Textilfabriken ab, deren Eigentümer bekannte Nationalsozialisten und der Meinung seien, ihre Gewinne würden bei freiem Zutritt zum deutschen Markt steigen. Dort und in Kärnten wären die Mitglieder des Bauernbundes zu den Nationalsozialisten übergetreten; in Kärnten setze sich „die Nazitätigkeit unablässig" fort, obgleich die Arbeitslosigkeit seit August um 20 Prozent zurückgegangen sei. Die Mehrheit der Bevölkerung Vorarlbergs war nach Ansicht des Konsuls nationalsozialistisch. Er berichtete auch von einer Unterhaltung mit einem hohen Offizier in Inns162
brück, der gesagt habe: „Da die Briten den gleichen germanischen Ursprung haben wie die Deutschen, sind sie die natürlichen Freunde Deutschlands." Die Franzosen hingegen wären die größte Gefahr für den europäischen Frieden und „verrückt". Der Konsul hielt diese Haltung für unter der Innsbrucker Garnison weiter verbreitet, als man glaube, weil „die Disziplin und Tüchtigkeit des Faschismus" die Militärs ansprechen. Ein britischer Offizier, der Österreich um die gleiche Zeit besuchte, notierte ebenfalls, daß „in ein oder zwei österreichischen Ländern Nazi-Einfluß in die Armee eingedrungen" sei und daß es nach wie vor Desertionen gebe, „doch vermutlich in sehr kleinem Umfang". Seiner Ansicht nach war der „Nationalsozialismus unter den Bauern und unter der Jugend weit verbreitet". Auf dem Lande grüßten sich die Leute offen mit dem faschistischen Gruß, obgleich das ein strafbares Vergehen war. Das Mißtrauen gegen die Dollfuß-Regierung sei weit verbreitet, da sie „Österreichs alten Feinden, Frankreich und Italien, in die Hände spiele, und ebenso in die der Juden, die . . . den Handel des Landes kontrollierten." Die Nationalsozialisten seien überzeugt, daß Hitler „die deutsche Nation zu Erfolg und Wohlstand führen werde, ebenso wie Mussolini" Italien.38 Aus Wien schrieb Selby, das Zentrum der Gefahr sei noch immer die Obersteiermark, wo die Nationalsozialisten über große Waffenvorräte verfügten und von der Alpinen Montangesellschaft unterstützt würden, die unter deutscher Kontrolle stünde. Im Januar 1934 berichtete er, man habe hunderte von Nationalsozialisten verhaftet, darunter den Wiener Gauleiter Frauenfeld. In Klagenfurt seien zwei demonstrierende Nationalsozialisten von Polizisten erschossen worden, und ein armer Landstreicher, der „aus völlig unpolitischen Gründen" einen Heuschober angezündet habe, sei gehängt worden - „als Warnung an die Nationalsozialisten, daß die Regierung nicht zögern würde, die Todesstrafe gegen sie anzuwenden". Eine Notiz des Foreign Office vom gleichen Monat stellte fest, daß die Nationalsozialisten durch Übertritte aus allen Parteien profitierten: „Mit Ausnahme der Sozialdemokraten scheint keine österreichische Partei ausreichend ideologisch gefestigt zu sein, um dem Schicksal der Selbstverbrennung von Brünings katholischer Partei in Deutschland zu entgehen. Falls die Nazis die wirklichen Herren in Österreich werden, lassen sich Christlichsoziale, Großdeutsche, Agrarier und Heimwehr binnen kurzem mit Freuden gleichschalten." Aus Innsbruck berichtete der Konsul über das Wachsen der nationalsozialistischen Bewegung; die Gemäßigten sprächen sich offen für Verständigung mit Deutschland und gegen die offiziellen Unterdrückungsmaßnahmen aus und die Radikaleren würden „immer kühner". Unter den Arbeitslosen, Hoteliers, Kaufleuten und Studenten gelte „die Aufhebung der deutsch-österreichischen Grenze als Eintritt ins Millenium". In Kärnten hätten die Nationalsozialisten die Lager des Freiwilligen Arbeitsdienstes für ihre Propaganda benutzt, und von dort aus seien sie „mit Hakenkreuz, Armbinden und einer Nazifahne" nach Klagenfurt und Villach marschiert. Kurz, „die Aussichten für das Standhalten der österreichischen Regierung in WestÖsterreich wären schlechter als zu irgendeinem Zeitpunkt in den letzten fünf Monaten." 39 In Wien benutzten die Nationalsozialisten die Gelegenheit des Besuchs des ita163
lienischen Staatssekretärs Suvich, um Unruhen anzustiften. Ein britischer Korrespondent, der seine Wohnung aufsuchen wollte, beschrieb das „als einen Versuch, eine belagerte Stadt zu erreichen". Während Dollfuß seinen Gast am Abend im Burgtheater feierte, explodierten „trotz aller Polizeibewachung" Bomben. Im Juni erwähnte Selby, im „regulären Naziblatt" seien 249 Fälle von Bomtyenexplosionen aufgezählt. In den letzten zwei Tagen hätten die österreichischen Zeitungen über sieben Attentate mit Dynamit auf die Eisenbahnen in der Umgebung Wiens sowie Angriffe auf Elektrizitätswerke und öffentliche Gebäude berichtet. Er fügte hinzu, die Nationalsozialisten frohlockten über das erwartete Zusammentreffen von Hitler und Mussolini, da sie dieses als „sicheren Beweis" für eine Verständigung der beiden Diktatoren über Österreich ansähen, so daß Dollfuß eliminiert werden könne. Ein Beamter des Foreign Office, der im gleichen Monat durch Österreich reiste, war beeindruckt von der genauen Planung der Anschläge. Zwischen Linz und Salzburg sei eine Eisenbahnbrücke gesprengt worden, aber in seinem Abteil habe kein einziger Passagier ein Zeichen von Entrüstung gezeigt. Ernster als die Sabotageakte - die bisher nur wenige Menschenleben gefordert hätten - seien „die Apathie und Passivität der Bevölkerung, die nicht glaube, daß der Kampf gegen den Nazismus es wert sei, sich Feinde zu machen". Ebenso ernst sei „das Ausmaß der Unterwanderung aller öffentlichen Dienste durch Nazi-Zellen". Das Regime sei „in Wien und fast überall sonst verhaßt", lediglich in Ober- und Niederösterreich erfreue sich Dollfuß einiger persönlicher Popularität.40 Um die gleiche Zeit hörte Selby, daß das Finanzministerium und die für Straßen und Eisenbahnen Verantwortlichen sich fragten, „wie lange der Haushalt die Zerstörung öffentlichen Eigentums im Ausmaß der vergangenen Woche noch aushalten kann". Im Mai hätten die Eisenbahnen einen Rekordrückgang ihrer Einnahmen ausgewiesen, und der Fremdenverkehr sei völlig unbefriedigend; die Deutschen boykottierten auch die österreichische Apfelernte, und der Handel mit der Tschechoslowakei sei stark zurückgegangen; österreichische Ausfuhren nach Deutschland seien von 18 auf 15 Prozent der Gesamtausfuhr gefallen, der Holzhandel leide besonders stark. Deutsche Agenten äußerten, daß Deutschland die gesamte österreichische Produktion wieder abnehmen würde, sobald der politische Friede zwischen beiden Ländern wiederhergestellt wäre. Das Haushaltsdefizit für 1933 betrug 241 Millionen Schilling, und für die ersten sechs Monate des Jahres 1934 wurde es vertraulich auf 142 Millionen geschätzt. Nur die Arbeitslosenzahl ging leicht zurück: Die Durchschnittszahl derer, die 1933 Unterstützung erhielten, betrug 329.493; 1934 fiel sie auf 288.037 - ein Rückgang um etwa 13 Prozent. Aber die Gesandtschaft war der Ansicht, daß dieser Zahl die zur Zeit im Freiwilligen Arbeitsdienst beschäftigten 14.000 Männer zuzuzählen wären; ferner „die wachsende Zahl derer, die keinen Anspruch mehr auf Arbeitslosenunterstützung h a b e n , . . . sowie die, die aus dem einen oder anderen Grund wegen politischer Tätigkeit gegen die Regierung ihren Arbeitsplatz verloren hätten und auch keine Unterstützung erhielten"; auch die Wehrverbände hätten „eine nicht geringe Zahl von Arbeitslosen absorbiert". Daher dürfe den offiziellen Zahlen keine all zu große Bedeutung beigemessen werden, erklärte Selby im Oktober 1934.41 Das war kein ermutigendes Bild, und die anhaltende Krise vermehrte die polititschen Schwie164
rigkeiten der Regierung. D e r deutsche Boykott war schwer zu überwinden, und alle Versuche, andere Märkte für österreichische Produkte zu finden, hatten während der Weltwirtschaftskrise, die fast alle Länder traf, nur w e n i g Erfolg. Im August 1933 schrieb Vansittart: „Zur Z e i t - laßt uns dabei keine Fehlkalkulation m a c h e n - setzen wir in Österreich auf ein verlierendes Pferd." 4 2 W ä h r e n d der f o l g e n d e n elf M o n a t e geschah nichts, was diese Meinung hätte ändern können. A b e r i m Juli 1934 fand der langerwartete nationalsozialistische Putsch statt. Sein F e h l schlag veränderte die Situation, jedenfalls auf kurze Sicht.
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The Times, 6. März; Phipps an Simon, 6. März 1933: FO 371, Bd. 16636, Fo. 134 f.; G. E. R. Gedye, Fallen Bastions, London 1939, S. 82. The Times, 11. und 13. März 1933: „Decree Rule in Auslria". Foreign Office Memorandum von R. M. A. Hankey, 14. März 1933: FO 371, Bd. 16636, Fo. 14448. Phipps an Simon, 1. und 18. April 1933: FO 371, Bd. 16637, Fo. 234 f., Bd. 16628, Fo. 390 f. Phipps an Simon, 17. April, Notiz von Hankey, 22. April, Citrine an Simon, 27. April, und Sargent an Eden, 13. Oktober 1933: FO 371, Bd. 16637, Fo. 246, 251, 277, FO 120, Bd. 1068. Phipps an Simon, 23. Mai und 30. Juni 1933, und Memorandum von Hankey, 13. Juni: FO 371, Bd. 16638, Fo. 60 f., Bd. 16641, Fo. 194, 272. Memorandum von Hankey, 13. Juni, Sclby an Simon, 10. Juli, Vansittart an Botschaft in Paris und Rom, 25. Juli, M. I. 3. b Notiz vom 27. Mai mit Kommentar vom 26. Juni 1933: FO 371, Bd. 16641, Fo. 272; DBFP, Serie 2, V, Nr. 245, 270, S. 408, 445; WO 190, Bd. 204 und Bd. 206. Memorandum vom Simon, 19. Juni, und Notiz des deutschen Staatssekretärs von Bülow, 31. Juli 1933: PRO, Cab. 24, Bd. 242; Akten zur deutschen auswärtigen Politik 1918-1945, Serie C, I 2, 1971, Nr. 383, S. 696 ff.; G. L. Weinberg, The Foreign Policy of Hitler's Germany, Chicago und London 1970, S. 93. Hadow an Simon, 17. und 24. August 1933, mil Notizen von Pcrowne und Vansittart (?), 22.-24. August: FO 371, Bd. 16643, Fo. 276 ff„ Bd. 16644, Fo. 38 ff. Sargents Notiz über Unterredung mit Oberst Mason-MacFarlane, 2. September; Simon und Dollfuß in Genf am 24. September; Graham an Vansittart, Rom, 28. September 1933; und Drummond an Vansittart, Rom, 29. Februar 1934: FO 371, Bd. 16644, Fo. 179; DBFP, Serie 2, V, Nr. 414, 417, S. 640, 646 f.; FO 371, Bd. 18363, Fo. 248. Sclby an Simon, 31. August, 14. und 21. September 1933: FO 800, Bd. 288, Fo. 298-302, FO 371, Bd. 16645, Fo. 213, 273 fi. Selby an Simon, 9., 11. und 23. Januar 1934: FO 371, Bd. 18344, Fo. 17,117 ff., Bd. 18345, Fo, 259. Selby an Foreign Office, 20. Januar, und Eric Drummond an Simon, 25. Januar 1934: FO 371, Bd. 18344, Fo. 164, Bd. 18345, Fo. 320; W. Goldinger, Geschichte der Republik Österreich, Wien 1962, S. 189. The Times, 13.-15. Februar; Manchester Guardian, 13. Februar 1934. Selby an Foreign Office, 13. Februar, und Phipps an Foreign Office, 17. Februar 1934: FO 371, Bd. 18348, Fo. 144, 237. The Tunes, 15. Februar; Manchester Guardian, 17. Februar 1934. Notizen von R. A. Galby und E. H. Carr, 13.-14. Februar 1934: FO 371, Bd. 18347, Fo. 68, Bd. 18348, Fo. 142 f. Memorandum von Hadow, 3. März, Selby an Foreign Office, 15. Februar und 19. März, Ian Henderson an Sclby, 13. Februar 1934: FO 371, Bd. 18348, Fo. 179, Bd. 18350, Fo. 99, 355, FO 120, Bd. 1083. „Austria. Annual Report, 1934": FO 371, Bd. 19483, Fo. 266. 165
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Conclusions of a Cabinet Meeting, 14. Februar 1934: Cab. 23, Bd. 78, Fo. 135 f.; Walford Selby, Diplomatic Twilight 1930-1940, London 1953, S. 22, 25. The Tunes, 17. Februar, 1934. Memorandum von Ε. H. Carr, 26. Februar 1934, mit Notizen von Sargent, Vansittart und Simon, 12.-20. März: FO 371, Bd. 18351, Fo. 210 ff., 215 ff., 245. Drummond an Simon, 17. März, und Selby an Simon, 5. März 1934: FO 371, Bd. 18363, Fo. 390, 393; DNFP, Serie 2, VI, London 1957, Nr. 232, S. 424-29. Franckenstein an Simon, 17. Januar, Runciman an Simon, 29. Januar, und Notizen von Sargent und Vansittart, 30. Januar 1934: FO 371, Bd. 18360, Fo. 3 f., 9, 82 ff. Conclusions of a Cabinet Meeting, 31. Januar 1934: Cab 23, Bd. 78, S. 62-66. Quintin Hill, Board of Trade, an Carr, 2. Februar, und Vansittart an Runciman, 3. Februar 1934: FO 371, Bd. 18360, Fo. 69 f., 79, 81. Conclusions of a Cabinet Meeting, 24. Januar 1934: Cab. 23, Bd. 78, S. 47-54. Im Protokoll erscheinen die Beiträge der betr. Minister in sehr verkürzter Form. Memorandum von Simon, 22. Januar 1934, und von Vansittart, 28. August 1933: Cab. 24, Bd. 247; DBFP, Serie 2, V, Nr. 371, S. 554. Selby an Vansittart, 20. Juli 1933: DBFP, Serie 2, V, Nr. 260, S. 435. „Austria. Annual Report, 1934", Selby an Simon, 28. Mai und 4. August, und Henderson an Hadow, 18. Juli 1934: FO 371, Bd. 19483, Fo. 268, Bd. 18351, Fo. 374 f., Bd. 18354, Fo. 84, Bd. 18352, Fo. 194. M. I. 3. b Notiz, 22. September, Bericht von Oberst MacFarlane, 30. September 1933, Selby an Simon, 13. Januar und 19. Februar 1934, Philip Nichols an Wigram, Rom, 20. Juli, und Hadow an Foreign Office, 23. August 1933: WO 190, Bd. 213, FO 120, Bd. 1071, FO 371, Bd. 18344, Fo. 141 f., Bd. 18349, Fo. 113 f., Bd. 16638, Fo. 86, Bd. 16646, Fo. 41 f. Neville Laski an Vansittart, 25. August 1933, Selby an Simon, 19. März und 14. Mai, und O'Malley an Selby, 30. Oktober 1934: FO 371, Bd. 16638, Fo. 141 f., Bd. 18350, Fo. 100, Bd. 18367, Fo. 286 ff., Fo 120, Bd. 1089. Die Wiener Gesandtschaft hatte einen besonderen Aktenband für jüdische Fragen. Hadow an Simon, 9. November, und O'Malley an Laski, 6. Dezember 1934: FO 120, Bd. 1089. Akten zur deutschen auswärtigen Politik, Serie C, I 2, Nr. 262, S. 483; DBFP, Serie 2, V, Nr. 215, 237, S. 358, 401. Notiz von Vansittart, 24. Juli, Foreign Office an Botschaft in Rom, 1. August 1933, und Geheimbericht vom 11. Dezember 1934: FO 371, Bd. 16634, Fo. 303, Bd. 16635, Fo. 324 f., WO 190, Bd. 288. Selby an Simon, 21. Juli 1934: DBFP, Serie 2, V, Nr. 264, S. 438 ff. Wickham Steed an Vansittart, 3. August, Foreign Office an Botschaft in Rom, 18. August, Hayter an Simon, 8. August, Memorandum von Pcrownc, 1. September, und Ian Henderson an Gesandtschaft Wien, 11. September 1933: FO 371, Bd. 16643, Fo 127 f., 217, 122 ff., Bd. 16644, Fo. 109, Bd. 16645, Fo. 259. Henderson an Selby, 20. September, 7. und 17. November 1933; Memorandum von Group Captain Christie, s. d.: FO 371, Bd. 16645, Fo. 268, FO 120, Bd. 1077 und 1078, Fo 371, Bd. 16644, Fo. 165 f. Selby an Simon, 16. Oktober 1933 und 13. Januar 1934, Foreign Office Notiz, 18. Januar, und Henderson an Selby, 15. Januar 1934: FO 371,Bd. 16639, Fo. 274, Bd. 18344, Fo. 140 f., 148 f., Bd. 18346, Fo. 162-69. Gedye, Fallen Bastions, S. 96; Selby an Simon, 11. Juni, und Notizen von R. A. Gallop, 19. Juli 1934: DBFP, Serie 2, VI, Nr. 449, S. 743 ff.; FO 371, Bd. 18353, Fo. 172. f, 178. Selby an Simon, 16. April und 11. Juni, Hadow an Simon, 21. Juli, Selby an Simon, 30. Oktober und 22. Dezember 1934, „Austria. Annual Report, 1934": FO 120, Bd. 1081; DBFP, Serie 2, VI, Nr. 449, S. 744; FO 371, Bd. 18342, Fo. 227 ff., Bd. 18343, Fo. 139 f., Bd. 18344, Fo. 11, Bd. 19483, Fo. 277. Memorandum von Vansittart, 28. August 1933: DBFP, Serie 2, V, Nr. 371, S. 549.
VII. Österreich unter Schuschnigg 1934-1937
Am 26. Juli 1934 meldeten die britischen Zeitungen, daß die österreichischen Nationalsozialisten ihren lange erwarteten Putsch ausgeführt und Dollfuß erschossen hatten. Der Wiener Rundfunk habe den Rücktritt der Regierung gemeldet und als neuen Bundeskanzler Dr. Rintelen genannt - das war der Mann, der schon lange mit den Nationalsozialisten intrigiert und den Dollfuß als österreichischen Gesandten nach Rom geschickt hatte. In Wien sei das Standrecht ausgerufen worden, und der bisherige Erziehungsminister, Dr. Kurt von Schuschnigg, bilde eine neue Regierung. Laut der Times verhandelte er mit den Besetzern des Bundeskanzleramtes, welche bereit seien, „die Mitglieder der Regierung, die zu Gefangenen erklärt wurden, freizulassen unter der Bedingung, daß sie selbst freies Geleit nach Deutschland erhielten". Der Manchester Guardian schrieb, es herrsche „vollständiges Chaos", das Bundeskanzleramt, das Polizeipräsidium und die wichtigsten öffentlichen Gebäude seien von Truppen und bewaffneten Heimwehrleuten umstellt; „junge Nationalsozialisten, leicht zu erkennen an ihren Lederhosen und weißen Strümpfen, laufen in Gruppen von fünf bis zehn Mann durch die Straßen." Über die Verhandlungen zwischen den Behörden und den Nationalsozialisten im Bundeskanzleramt wurde detailliert berichtet, ebenso wie über die Rolle Rintelens und Major Feys, des Ministers für öffentliche Sicherheit. In ihrem Nachruf sprach die Times von Dollfuß als „einem von denjenigen, denen Größe aufgedrängt worden ist": „Die Nazi-Propagandamaschine beschimpfte und bedrohte ihn mit allen ihren Kunstgriffen und gleichzeitig hatte er müdere Zusammenstösse mit den Sozialdemokraten. Aber er blieb seiner Sache unentwegt treu und erklärte nach einem Mordversuch, der fast glückte, sein Motto sei nunmehr .Jetzt erst recht'. Unterstützt von fähigen Helfern konnte er nicht nur den Kampf gegen die Gesetzlosigkeit der Nazis . . . mit in Österreich unbekannter Energie aufnehmen, sondern auch eine intensive Kampagne für vaterländische Erneuerung durchführen, die er für nötig hielt, um die Naziflut mit Erfolg brechen zu können . . . Die Unbarmherzigkeit, mit der die Unruhen [vom Februar 1934] unterdrückt und ihre Anführer später hingerichtet wurden, kostete Dollfuß einen guten Teil seiner Sympathie, die er sich im Ausland durch seine feste Haltung gegenüber den deutschen Drohungen erworben hatte, und sie erzeugte unter den Sozialisten solche Bitterkeit, daß einige in der letzten Zeit mit den Nazis zusammenarbeiteten, um die Regierung zu stürzen . . ,"1
Am nächsten Tag stellte der Manchester Guardian fest, daß die Mehrheit der Bevölkerung „über die brutale und kaltblütige Art, mit der die Nazis den Kanzler ermordeten, entrüstet" sei, sie hätten „die brutale Praxis, mit der sie am 30. Juni (1934) ihre früheren Freunde ebenso wie ihre Feinde umbrachten", aus Deutschland mitgebracht. Man sehe schwarze Fahnen aus öffentlichen Gebäuden und vielen Privathäusern wehen, und Kerzen in vielen Fenstern brennen.2 Nach einer Rundreise durch die Länder berichtete der britische Militârattaché, in Niederösterreich und großen Teilen Wiens sei „die Trauer echt und weitverbreitet", anderswo aber nur „lauwarm", und in Kärnten gebe es überhaupt keine. Die 167
Regierung benutze Dollfuß' Tod für ihre Zwecke und könne „definitiv mit mehr Unterstützung in der Bevölkerung rechnen als vor zwei Monaten". Ihre Propaganda profitiere auch von der Ermordung Röhms, der höheren SA-Führer und so vieler anderer am 30. Juni. Aus Rom telegraphierte die britische Botschaft, daß die Zeitungen in ihrer Verurteilung des Mordes einstimmig seien „und offen die Verantwortlichkeit des nationalsozialistischen Deutschlands feststellen". Wenn Radio München das Verbrechen bedauere, so sei das „frech und zynisch". Die italienische Presse sei noch nie „so eindeutig und so heftig antideutsch" gewesen wie gegenwärtig. Die Zeitungen meldeten auch, daß italienische Truppen an die Grenze geschickt worden seien.3 Im März 1934 hatte der britische Militârattaché geschrieben: „Die Gefahr eines bewaffneten Naziputsches gegen die bewaffneten Regierungskräfte kann nunmehr als nicht existent angesehen werden. Hitlers gegenwärtige Haltung und alles vorhandene lokale Beweismaterial scheinen das schlüssig zu beweisen." Er war auch der Ansicht, daß „die Nazis in Hinblick auf Organisation, Ausbildung und Bewaffnung nie auch nur annähernd die militärische Stärke des Schutzbundes erreicht hätten" und trotzdem sei die Februarrevolte von der Regierung mit nur ganz geringer Unterstützung durch die Heimwehr und andere Hilfsverbände unterdrückt worden. Doch als der Juliputsch von Wien auf die Länder übergriff, kam es vor allem in Kärnten und in der Steiermark zu heftigen tagelangen Kämpfen, bei denen die Heimwehr und andere Wehrverbände auf der Seite der Armee standen. Am 28. Juli berichtete der Manchester Guardian, die Aufständischen seien aus dem Ennstal und den obersteirischen Städten Leoben und Donawitz vertrieben worden, aber sie hielten noch einige Pässe und Bergtäler besetzt und die Kämpfe gingen weiter. In der Steiermark seien die Heimwehren mit ihren Waffenlagern zu den Nationalsozialisten übergetreten - und sie wären gut ausgebildet. Die Times meldete schwere Kämpfe und Tote in beiden Ländern, und am 27. Juli telefonierte der erste Sekretär der britischen Gesandtschaft nach London, daß in der Steiermark „hartnäckiger Widerstand" niedergekämpft werden müsse und auf Regierungsseite bereits 24 Mann gefallen seien. Aber bis jetzt „scheine die Regierung Herr der Lage zu sein". Einige Tage darauf erklärte der Militârattaché: „Die Nazis - hautpsächlich radikale Elemente der bäuerlichen Bevölkerung - haben sich gut geschlagen." Eine Wiederholung des Putsches hielt er für ausgeschlossen. Vor allem aber habe die Armee „keine äußerlichen Anzeichen von Unzufriedenheit gezeigt und wieder in beispielhafter Weise alles, was von ihr verlangt wurde, geleistet". Er erwähnte auch, daß die Heimwehrführer „völlig darüber im dunkeln waren, wie die Armee handeln würde". Sie hätten geglaubt, daß die Armee im Falle eines anfänglichen Erfolges des Aufstands auf die andere Seite übertreten würde, und seien „ganz erstaunt über die beispielhafte Art und Weise gewesen, mit der sie die Regierung verteidigte". Der Indutrielle Mandl, der enge Beziehungen zur Heimwehr unterhalte, habe ihm erzählt, der Putsch sei eine ganz offene Angelegenheit gewesen; wenn es den Aufständischen gelungen wäre, am Ballhausplatz die gesamte Regierung zu verhaften (wie sie geplant hatten), „hätten sie verhältnismäßig unblutig gewinnen können". Später wurden die Verluste auf Regierungsseite mit 81 Toten und 172 Verletzten angegeben.4 Am 27. Juli veröffentlichte die Times einen Leitartikel mit dem Titel „Politik durch Mord": 168
„Es scheint, daß in Österreich - ebenso wie an der Saar und in Memel - die Ablehnung wächst, mit einem Staat vereint zu werden, der die Heimat politischer Gangster i s t . . . Die staatsfeindliche Literatur, die in Österreich verteilt wird, stammt aus Deutschland, und in der Nacht des Wiener Putsches berichtete unser Münchner Korrespondent von mysteriösen Bewegungen der österreichischen Legionäre, die in Deutschland untergebracht und ausgebildet werden. Angesichts dieser Tatsache und seiner Lehren und Beispiele kann Deutschland nicht von moralischer Veranwortlichkeit freigesprochen werden."
Die Einschätzung einer „wachsenden Ablehnung" war zu optimistisch, aber die Zeitung ließ über ihre tiefe Verachtung des Nationalsozialismus keinen Zweifel aufkommen: „Die österreichischen Nazis haben ihre deutschen Kollegen übertrumpft, indem sie einen Mann von Dr. Dollfuß' Bedeutung und religiöser Überzeugung zu Tode bluten ließen ohne den Segen der Kirche, der leicht zu erhalten gewesen wäre. Die Einzelheiten, die nur allmählich ans Licht kommen, lassen den Namen Nazi im Geruch der Welt stinken. Ein System, das mit solchen Methoden floriert, erregt überall Verachtung und Ekel."5
Für eine Zeitung, die in ihren Urteilen so vorsichtig war wie die Times, bedeuteten solche eindeutigen Worte eine Ausnahme. Aber in der britischen Politik gegenüber Deutschland wurden daraus keine Konsequenzen gezogen. Ende Juli berichtete der Manchester Guardian in einem Leitartikel, Präsident Miklas habe gutes Urteilsvermögen bewiesen als er Schuschnigg gewählt habe. Er sei der einzige unter Dollfuß' früheren Kollegen, „der Österreich vielleicht geben könne, was es brauche, - .Eintracht und Einigkeit'". Aber in Wirklichkeit herrsche keine „Einigkeit unter den Österreichern, die aus vielen verschiedenen Gründen die Vaterländische Fassade' bildeten, die man fälschlicherweise eine .Front' nenne." Die Heimwehrführer besäßen wachsenden Einfluß und es sei schon viel, „daß sie nicht die ganze Regierung in ihre Hände gebracht haben". Zu viele von ihnen seien zu den Nationalsozialisten übergegangen oder hätten mit ihnen verhandelt. Die wirkliche Stärke der neuen Regierung beruhe daher auf Dr. Schuschnigg, und nicht auf „seinen unbequemen Verbündeten".6 Das war eine richtige Einschätzung, denn die Heimwehr hatte längst ihren Höhepunkt überschritten, und zwei Jahre später konnte Schuschnigg sie ohne große Schwierigkeiten auflösen. Was die Politik der britischen Regierung betraf, so schrieb Außenminister Simon im gleichen Monat an Premierminister MacDonald: „Unsere Politik ist ganz eindeutig. Wir müssen uns auf jeden Fall aus allen Wirren in Mitteleuropa heraushalten." Der Juli 1914 „ist für uns eine furchtbare Warnung . . . Es gibt Umstände, unter denen Italien Truppen nach Österreich schicken könnte. Es gibt keine Umstände, unter denen wir auch nur davon träumen könnten." Großbritannien wünsche gemeinsam mit Frankreich und Italien, daß Österreichs Unabhängigkeit aufrechterhalten bliebe, „aber das schließe alles Militärische aus."7 Die Bemerkung vom Juli 1914 - eine in Wirklichkeit ganz andere Situation - deutete die Richtung der britischen Politik gegenüber Hitlerdeutschland an. Sich „aus allen Wirren in Mitteleuropa herauszuhalten", kann kaum als realistisch bezeichnet werden. Im August berichtete Selby über die harten Urteile gegen die Aufständischen in Kärnten und in der Steiermark, in denen Gefängnis „von zehn Jahren bis lebenslänglich" verhängt wurde. Hunderte, meist Jugendliche, seien noch nicht abgeurteilt, 169
ebenso wie die meisten Gefangenen aus Wien. Die Heimwehr sei besonders dafür eingetreten, die Urteile zu verschärfen, „weil Richter und Geschworene mit dem Nazismus sympathisierten". Von den sozialistischen Gefangenen vom Februar seien etwa tausend abgeurteilt, viele davon zum zweiten oder dritten Mal, weil die Staatsanwaltschaft Berufung gegen das Urteil eingelegt habe - das dann durchschnittlich um ein Jahr erhöht wurde. Die Gesandtschaft stellte auch fest, daß viele Beamte des Bundeskanzleramtes, die die eindringenden Nationalsozialisten mit „Heil Hitler" begrüßt hätten, „ihre Eile", mit der sie den Machtwechsel akzeptiert hätten, „jetzt bereuen". Viele andere „würden wahrscheinlich ohne Zögern das gleiche getan haben, wenn es Anzeichen für einen Erfolg des Aufstands gegeben hätte", und hinter vorgehaltener Hand heiße es, das sei genau die Position Major Feys bei den Verhandlungen in Wien am 25. Juli gewesen. Das Memorandum vermerkte auch, daß sich die Honoratioren und verantwortliche deutschnationale Gruppen von Anfang an von dem Aufstand distanzierten, entweder weil sie ihn für hoffnungslos hielten oder weil sie Gegner der österreichischen Flüchtlinge in München seien, die dafür verantwortlich waren. Andererseits schrieb der britische Konsul aus Innsbruck, daß die gleichen Gruppen - Geschäftsleute, Juristen, Ärzte usw. - die kürzlichen Gewalttaten in Deutschland zwar „bedauernswert" fänden, diese aber ihrer Meinung nach „in keiner Weise die Hauptidee der germanischen rassischen Vaterlandsliebe beeinflußten". Sie seien „sogar befriedigt darüber, daß der radikale Flügel der Bewegung anscheinend unterdrückt worden sei". Laut dem britischen Botschafter aber war Italien noch nie „so stark antideutsch gewesen wie seit dem Massaker vom 30. Juni; der Schock ist riesig gewesen." Dieser Umstand und der Mord an Dollfuß, meinte Vansittart, würden es Großbritannien gestatten, „den Bruch zwischen Deutschland und Italien zu erweitern". „Ich hoffe", schrieb er an Simon, „wir werden uns die Gelegenheit nicht entgehen lassen." Simon erwiderte, „natürlich" würde man die Gelegenheit benutzen, aber es gäbe keinen Grund zur Eile, denn der „Bruch zwischen Deutschland und Italien wird nicht über Nacht heilen." Und es wurde eine persönliche Botschaft an Mussolini geschickt, die seine feste Haltung in jeder Beziehung willkommen hieß. 8 In den Jahren 1934-37 begann sich die wirtschaftliche Lage Österreichs langsam zu bessern, da die Weltwirtschatskrise abflaute und eine Erholung der industriellen Produktion einsetzte. Im Oktober 1935 berichtete Selby von einer „Zunahme der Staatseinnahmen", so daß das Defizit von 1934 um 20 Prozent reduziert werden konnte. Die Industrieproduktion sei „wesentlich höher", und die Arbeitslosigkeit verglichen mit dem Vorjahr bis Ende September um 16 Prozent zurüchgegangen. Im Oktober 1936 gab es „Anzeichen einer stetigen Besserung", so daß beschlossen wurde, die durch einen Finanzexperten des Völkerbundes ausgeübte Kontrolle zugunsten „einer mehr indirekten Form der Überwachung aus Genf" zu beenden. Der Jahresbericht der britischen Gesandtschaft für 1936 stellte fest, daß das Gesamtdefizit des Budgets von 157 Millionen auf 33 Millionen Schilling reduziert worden sei, wozu vor allem der starke Rückgang der außerordentlichen Ausgaben beigetragen habe. Der durch den Zusammenbruch der Phoenix-Lebensversicherungsgesellschaft verursachte Schock (der Verlust hatte 250 Millionen Schilling betragen) sei 170
mit Leichtigkeit und ohne ausländische Hilfe überwunden worden. „Angesichts des Umfangs des Zusammenbruchs und der sehr großen Zahl der Betroffenen" seien die sichtbaren Auswirkungen „relativ klein" und die Reaktion der Börse „verhältnismäßig geringfügig und kurz" gewesen. Der jährliche Wirtschaftsbericht für 1937 fügte hinzu, der Haushalt sei ausgeglichen und viele Industriezweige vollbeschäftigt. Der Außenhandel habe „in beiden Richtungen deutlich zugenommen", die Spareinlagen wüchsen, und die Zahl der registrierten Arbeitslosen nehme ab: „In der Tat, vergleiche man die Situation von heute mit der von vor fünf Jahren, so würde sie von vielen ausländischen Beobachtern ,fast wie ein Wunder' angesehen, und sie erfülle die Österreicher mit Stolz." Im Juli schrieb der Miltiârattaché, die bessere wirtschaftliche Lage sei „ein wichtiger Faktor zugunsten der Regierung", da der Durchschnittsösterreicher nur Arbeit brauche, um „ein zufriedener und loyaler Staatsbürger" zu werden. Der britische Konsul in Innsbruck stellte eine leichte, stetige Erholung in den Alpenländern fest. Die wirtschaftlichen Monatsberichte der Gesandtschaft von 1937 sprachen von weiterem wirtschaftlichen Fortschritt, vor allem in der Eisen- und Stahlindustrie, aber auch in der Papierindustrie und teilweise sogar in der Baumwollindustrie, dem schwächsten Sektor. Der außerordentlich wichtige Fremdenverkehr zeigte gleichfalls Zeichen des Aufschwungs. Im Juni 1937 gab es 195.000 ausländische Touristen im Vergleich zu 184.000 im Vorjahr, und im Juli 1937 waren es 195.000 im Vergleich zu 158.000.9 War der allgemeine Fortschritt auch nicht sehr groß, so war er doch deutlich wahrnehmbar. Die Arbeitslosigkeit war immer noch der schwächste Punkt. Im Februar 1938 erhielten 302.000 Menschen Arbeitslosenunterstützung, das waren 10.000 mehr als im Januar, aber 13.000 weniger als im Februar 1937. Der Handelssekretär der Gesandtschaft stellte jedoch fest, daß man zu diesen Ziffern die sehr vielen Menschen hinzuzählen müße, die keine Unterstützung erhielten - entweder weil sie dazu nicht mehr berechtigt, oder weil sie nach ihrem Schulaustritt nie beschäftigt gewesen waren. Laut einem Memorandum, das London um die gleiche Zeit erreichte, wurde geschätzt, daß nur 15-20 Prozent der Jugendlichen, die in den dreißiger Jahren aus der Schule entlassen wurden, Beschäftigung gefunden hätten. Vielleicht noch ernster sei die Lage der Jugendlichen aus den Mittelschichten; nur eine kleine Zahl der Absolventen der Universitäten und Hochschulen könne darauf hoffen, in ihren Berufen unterzukommen oder Stellungen zu finden, und es gäbe keine Erlaubnis zur Eröffnung neuer Geschäfte oder Firmen. Diese beiden Gruppen seien „hypnotisiert von den begeisterten Erzählungen über den hohen Stand der Beschäftigung in Deutschland, die ihnen aufgedrängt würden". 10 Die hohe Arbeitslosigkeit hatte direkte politische Folgen, die Lage der Regierung blieb daher instabil. Der britische Handel mit Osterreich ging weiter zurück. Anfang 1936 telegraphierte Selby, 1931 habe Österreich Waren im Wert von 81 Millionen Schilling nach Großbritannien ausgeführt, aber in den ersten elf Monaten des Jahres 1935 sei der Wert auf 30 Millionen zurückgegangen, und die Ausfuhr von Hüten und Kapuzen von acht auf drei Millionen Schilling. Diese Artikel seien für Östereich von „größter Bedeutung", und er habe von „Beamten und Geschäftsleuten viele Klagen über die verheerende Wirkung der britischen Zölle, vor allem auf die Hutindustrie, gehört." Im Oktober 1935 schlug das Beratungskomitee für Einfuhrzölle eine bedeutende 171
Erhöhung der Einfuhrzölle für Filzhüte und -formen zum Hutmachen vor. Anthony Eden, der neue Außenminister, protestierte, „daß die politische Wirkung einer solchen Maßnahme Englands in Österreich völlig negativ sei und mit größter Wahrscheinlichkeit jeden kleinen wirtschaftlichen Vorteil für die fragliche Industrie aufwiegen würde". Die Zollerhöhung stünde in „klarem Gegensatz" zur britischen Politik gegenüber Östereich und werde dort „wie eine kalte Dusche" wirken. Aber der Handelsminister Runciman lehnte Edens Vorschlag, die Erhöhung nicht einzuführen, ab. Er wurde von Neville Chamberlain, dem Finanzminister, unterstützt: „Würden die Geschäftsleute unseres Landes hören, daß ihre Anträge, nachdem sie vom Beratungskomitee für Einfuhrzölle genau geprüft worden sind, in letzter Minute abgelehnt w e r d e n , . . . weil wir politische Gründe hätten, ein bestimmtes Land zu begünstigen", könne eine Agitation gegen die Außenpolitik der Regierung diese „so unpopulär machen, daß die Rückendeckung der Regierung gerade in dem Augenblick, wo sie am nötigsten wäre, zusammenbräche". Die von Eden vorhergesehenen Gefahren, fügte Chamberlain hinzu, „seien vielleicht weniger ernst als er vermute". Am 26. Februar 1936 beschloß das Kabinett, die Vorschläge des Beratungskomitees anzunehmen und die Einfuhrzölle auf Filzhüte und -formen zu erhöhen; der Protest des Foreign Office wurde nicht beachtet. 11 Wieder hielt es die britische Regierung für unmöglich, Österreich gegenüber eine Konzession zu machen und die österreichische Industrie zu ermutigen; jegliche politische Hilfe aber war noch schwieriger. Anfang 1935 stellte ein Oberst des Geheimdienstes in einem Vortrag über Österreich vor britischen Offizieren fest, die österreichische Regierung basiere „auf den bewaffneten Kräften des Staates und insbesondere auf den bewaffneten irregulären Einheiten, die die verschiedenen Führer der Diktatur unterstützen". Es gäbe starke Rivalität zwischen den klerikalen Ostmärkischen Sturmscharen, „die Österreich zu einem klerikalen katholischen Staate machen wollten, und den Heimwehren, den österreichischen Faschisten, die einen korporativen Staat nach italienischem Vorbild anstrebten". Aber, so behauptete der Oberst, „mindestens 50 Prozent der österreichischen Bevölkerung sehnen sich wahrscheinlich nach einer Naziregierung", und es sei daher schwer zu sehen, wie man Österreich daran hindern könne, sich mit seinem „großen deutschen Bruder" zu vereinigen. Ein anderer Beamter des Geheimdienstes besprach die Lage Österreich mit O'Malley, dem Leiter der Abteilung Süd des Foreign Office und meinte, er sähe nicht, „wie man die österreichische Unabhängigkeit auf lange Sicht aufrechterhalten könne". Vor allem in der österreichischen Armee wünsche man Zusammenarbeit mit Deutschland und dazu komme die „äußerste Unbeliebtheit Italiens". Es sei schwer, die gegenwärtige nichtrepräsentative Regierung an der Macht zu halten, und schließlich werde es zu Wahlen kommen müssen, die, so glaube er, „eine überwältigende Mehrheit für Zusammenarbeit mit Deutschland ergeben würden". O'Malley stimmte allgemein zu und meinte, in seiner Abteilung habe man keine Illusionen in bezug auf „einen gangbaren Weg zur Sicherung der Unabhängigkeit Österreichs". Aber im Foreign Office sei man der Ansicht, man könne „auch ganz gut Österreich so lange wie möglich auf den Beinen halten", denn die Lage könne sich ja auch bessern.12 Das Foreign Office und der militärische Geheimdienst waren sich einig in ihrer pessimistischen Beurteilung der Überlebensaussichten Österreichs, aber der letztere 172
überschätzte anscheinend das Ausmaß der Sympathie für den Nationalsozialismus und unterschätzte die Stärke der zwei anderen Hauptströmungen - der Sozialisten und des Regierungslagers - , die zusammen vermutlich stärker waren als die Nationalsozialisten. Da es keine Wahlen gab, fehlen für diese Schätzungen zahlenmäßige Belege. Die Informationen stimmten sicherlich hinsichtlich der andauernden Rivalität zwischen den verschiedenen Verbänden, die eine der großen Schwächen des Regimes darstellte, und die gleiche starke Rivalität existierte zwischen den Wehrverbänden und der Armee. Im August 1934 vermerkte Ε. H. Carr: „Die Heimwehr ist eine Söldnertruppe von begrenzter Zuverlässigkeit, ihr militärischer W e r t . . . ist gering, und weil sie bei der Armee äußerst unbeliebt ist und im Lande keine breite Unterstützung finden kaftn, muß sie letzten Endes das Regime eher diskreditieren als zu seiner Unterstützung beitragen." Nach Ansicht des Foreign Office täte die Regierung gut daran, sich auf die Treue der Armee und Rückendeckung durch die Bevölkerung zu verlassen; diese könne jedoch „nur wachsen, wenn sie Maßnahmen zur Versöhnung mit den Sozialisten und Nationalisten ergreift." Als der britische Militârattaché in Wien das Foreign Office aufsuchte, bestätigte er, „daß die Armee die Heimwehr für Gesindel halte und um keinen Preis wünsche, sich große Teile von ihr einzuverleiben". Die Heimwehrführer würden eine solche Einverleibung auf jeden Fall ablehnen, es sei denn, sie erfolge in einer Form, „die es ihnen erlaubte, die Armee einzuvernehmen". Aber eine Auflösung der Heimwehr und der anderen Verbände falle nicht in den Bereich „praktischer Politik", weil sie die Hauptstütze der Regierung seien. Es bestehe Grund zu der Annahme, daß Mussolini die Heimwehr „für das Hauptbollwerk der österreichischen Unabhängigket" halte, und seine Beziehungen zu Starhemberg seien enger als die zu irgendeinem anderen österreichischen Politiker; der Vorschlag, die Heimwehr aufzulösen, sei „daher gleichbedeutend mit dem Anrennen gegen eine Mauer". Was das Foreign Office wünschte, war ein Kurs der „Mäßigung" oder der „Versöhnung", vor allem mit den verhafteten sozialdemokratischen Führern wie dem früheren Wiener Bürgermeister Dr. Seitz. Aus Wien schrieb Selby im August 1934, auch Schuschnigg und Mitglieder seiner Regierung seien für Mäßigung. Aber die Heimwehr - „triumphierend und dazu bereit, der Regierung zu diktieren" - sei dagegen, man habe Zeit verloren, und die gemäßigteren Minister müßten ermutigt werden, die Idee zu unterstützen. 13 Dank der Hilfe Mussolinis und im Triumph nach dem Sieg über ihre verhaßten „roten" und „braunen" Feinde waren die Heimwehrführer nicht zu irgendwelchen Konzessionen bereit, doch sie überschätzten ihre eigene Stärke - und sie waren untereinander so uneins wie je. Der Beweis für Uneinigkeit, „Eifersucht und gegenseitige Beschuldigungen innerhalb der Heimwehr" wurde dem britischen Militârattaché im Herbst 1934 geliefert, als ein enger Mitarbeiter Starhembergs den Wiener Heimwehrführer Fey beschuldigte, von der Alpinen Montangesellschaft bestochen worden zu sein. Er hatte angeblich für die Zusage, die über die Gesellschaft wegen ihrer Unterstützung des Juliputsches verhängte Regierungskontrolle zu beenden, 300.000 Schilling erhalten. Laut der Mitteilung wurden Starhemberg die Beweise für diesen Skandal und andere Fälle „von unglaublicher Bestechung und Korruption in Regie173
rungskreisen" vorenthalten, „um die gespannten Beziehungen zwischen ihm und Fey nicht zu verschlimmern". Selby kommentierte, „Major Fey müsse ebenso wie Starhemberg Geld nehmen, wo er es bekommen kann, um seine Wiener Heimwehr über Wasser zu halten. Von Starhemberg wird er nichts erhalten." Die Heimwehrführer waren auch gegen alle Verhandlungen mit nationalsozialistischen und großdeutschen Gruppen, die nach dem fehlgeschlagenen Putsch vom Juli in versöhnlicher Stimmung waren. Anfang August 1934 telegraphierte das Foreign Office nach Rom, es hoffe, daß die österreichische Regierung einsehen werde, „wie klug es sei, sozialistische wie großdeutsche Elemente zu versöhnen, die jetzt bereit sein könnten, die Linie eines unabhängigen Österreichs zu unterstützen". Aber unglücklicherweise zeige eine Erklärung Starhembergs, daß sich die Regierung nach wie vor „alle diejenigen Elemente beider Flügel zum Feind mache, die nicht bereit seien, das Heimwehrprogramm in toto zu akzeptieren"; dieser Kurs bringe schwerste Gefahren mit sich. Der Botschafter möge versuchen festzustellen, was Mussolini zu diesem Thema zu Schuschnigg gesagt habe; die Zeit sei reif für die britische und französische Regierung, in Wien eine Politik der Versöhnung zu befürworten. 14 Aus Wien berichtete Selby, „verantwortliche großdeutsche Elemente", die den „eventuellen Triumph unverantwortlicher SA- und SS-Gruppen, die von München dirigiert würden", befürchteten, suchten zur Zeit einen Kompromiß mit der Regierung auf gemäßigter Grundlage; aber die Regierung glaube, Hitlers Zusammenbruch stünde bevor, und sie setze „alles daran, noch zwei oder drei Monate auszuhalten, indem sie auf kompromißloser Haltung bestehe"; darin bestärkt werde sie vom italienischen Gesandten, „der jeden Kompromiß für eine Zeichen von Schwäche halte". Selby schlug vor, die britische, französische und italienische Regierung sollten Österreich raten, eine Linie der „Versöhnung mit allen verantwortungsbewußten nationalistischen und sozialistischen Elementen in Österreich" zu verfolgen. Carr notierte, er sei einverstanden, „jedoch nicht überzeugt vom Erfolg eines solchen Schritts, aber die Lage ist so schlecht, daß ich dafür wäre, es zu versuchen." Vansittart stimmte zu, „die vorgeschlagene Aktion sofort durchzuführen . . . Auch ich bin nicht sehr optimistisch, aber wir müssen es wieder und wieder versuchen, ohne Zeit zu verlieren." Der einzige Vorschlag, der während der folgenden Wochen - angeblich von Rintelen - gemacht wurde, bestand darin, daß einige Großdeutsche in die Regierung aufgenommen werden sollten - eine Idee, die möglicherweise auf Gegenliebe in Deutschland stossen würde. Aber sie war inakzeptabel für Mussolini und daher „nicht praktische Politik", wie Carr notierte. Ein anderer Beamter des Foreign Office merkte an, daß der Vorschlag „ein zugängliches Deutschland voraussetze, und das werden wir wahrscheinlich nicht so bald finden." 15 Faktisch war weder Hitler noch Mussolini dieser Idee zugänglich, und ein britischer Vorschlag in dieser Richtung würde auch in Wien kaum Zustimmung gefunden haben. Im Oktober 1934 versuchten einige großdeutsche Führer, auf der Basis der österreichischen Unabhängigkeit zu einem Übereinkommen mit Schuschnigg zu kommen, und Schuschnigg führte Besprechungen mit einem ehemaligen Landbundführer einem „gemäßigten" Nationalsozialisten namens Anton Reinthaller - , die „eine zeitlang überraschend gut zu verlaufen schienen". Auf Schuschniggs Wunsch verfaßte Reinthaller ein Memorandum, das Bereitwilligkeit bekundete, „für ein unabhängiges 174
germanisches Österreich zu arbeiten" und der Vaterländischen Front beizutreten, in der von der Regierung gebilligte Großdeutsche Posten erhalten sollten. Aber die Verhandlungen wurden bekannt, und die Regierung mußte eine Erklärung veröffentlichen, daß Reinthaller niemand hinter sich habe und daß er und seine Anhänger zuerst ihren Glauben aufgeben müßten. Wieder einmal, kommentierte Selby, „war die Heimwehr imstande, dem Kanzler ihren Willen aufzuzwingen", die nationalistischen Kreise seien „verwirrt und verärgert". Andererseits trachteten die klerikalen Kreise „immer noch nach einem katholischen Staat mit Österreich als Zentrum inklusive Siiddeutschland, Kroatien und anderer katholischer Länder". Selby hörte auch „aus allerbester Quelle", daß der Finanzminister „unglücklich über die endlosen Forderungen der Heimwehr und der Ostmärkischen Sturmscharen an das Finanzministerium" und über andere „politische Wohltätigkeitsleistungen" sei und diese jede Zunahme der Staatseinnahmen verhinderten. Ebensowenig hielt Selby von Starhembergs Unterstützung für die vielen Projekte seines Freundes, des Industriellen Mandl, um den miltiärischen und halbmilitärischen Verbänden mehr Waffen zu verschaffen.16 Da die beiden eng miteinander befreundet waren, hatte der eine Vorteile von dem, was dem anderen half. Der Jahresbericht der Gesandtschaft für 1934 kommentierte im einzelnen die Aktivität der Wehrverbände. Die Stärke der Heimwehr wurde auf 35.000 Mann, die der Sturmscharen auf 10.000 und die des Freiheitsñs auf 3.000 Mann geschätzt, die bei den Unruhen vom Februar und Juli Waffen erhalten hätten. Obgleich die Heimwehrführer auf dem Lande, „außerhalb der Bajonette ihrer halbmilitärischen Kräfte", nur wenig Anhänger hätten, könne Schuschnigg nicht gegen sie auftreten. Ihre Finanzlage sei zwar schlecht, und die ausländischen Subsidien flössen nicht mehr so reichlich, aber Werbung sei für sie nicht schwierig, „da die Löhnung und die leichten Dienstbedingungen in der gegenwärtigen Lage einen guten Köder abgäben." Die Ostmärkischen Sturmscharen würden sich zu einem ernsten Rivalen der Heimwehr entwickeln und als katholische Organisation erhebliche· klerikale Zuschüsse erhalten - w a s von der Heimwehr sehr übel aufgenommen werde. Der Freiheitsbund sei größtenteils eine Arbeiterorganisation und werbe frühere Mitglieder des republikansichen Schutzbundes an. Durch die Spannungen zwischen diesen Formationen seien ernste Unruhen entstanden, trotzdem seien sie alle im Schutzkorps vertreten, einer Art faschistischer Miliz, die aus diesen verschiedenen Elementen bestehe.17 Im Oktober 1934 informierte der Herausgeber der Neuen Freien Presse Selby, daß die Heimwehr die Creditanstalt gezwungen habe, ihr einen Kredit über 15 Millionen Schilling einzuräumen. Seiner Ansicht nach werde „Geld für alles Mögliche verschleudert . . . vor allem für Waffen". Die Pressefreiheit werde „im Interesse der Regierung oder eher im Interesse des Heimwehr-Einflußes in der Regierung" zunehmend eingeschränkt, und Österreich drohe vom Gewicht Deutschlands und dem des italienischen Faschismus erdrückt zu werden, wobei gegenwärtig letzterer tonangebend sei. Im November berichtete der britische Konsul aus Innsbruck, die Beziehungen zwischen Heimwehren und Sturmscharen hätten sich so verschlechtert, daß ein General aus Wien kommen mußte, um sie zu inspizieren und die gegenseitige Verärgerung zu beschwichtigen; jetzt seien die Beziehungen besser, aber die Spannung könne 175
jederzeit neu aufflammen. In der Zwischenzeit habe sich neue Feindseligkeit gegen den Freiheitsbund entwickelt, der große Demonstrationen in Tirol und Kärnten organisiert, seine Disziplin und Ausrüstung verbessert und viele Rekruten geworben habe. Im Juli 1935 schrieb der Konsul, es werde „anscheinend mit guten Gründen" allgemein geflüstert, daß die Tiroler Heimwehr kein Geld mehr aus Italien erhalte; die Löhnung sei unregelmäßig und die Mitgliedschaft unzufrieden. Eine Minderheit fürchte, die Bewegung würde durch Beziehungen zu den Legitimisten kompromittiert werden. Die Vaterländische Front in Innsbruck und anderswo sei durch „kleinliche Meinungsverschiedenheiten und persönliche Gegensätze" lahmgelegt, und die Sache der Regierung leide „infolge von Mißtrauen und gegenseitigen Beschuldigungen". 18 Es war ein Bild der Zerrissenheit und Uneinigkeit, das das Regierungslager darbot. Als Ε. H. Carr im Herbst 1934 Österreich bereiste, notierte er, das Grundproblem sei nicht wirtschaftlicher Natur. Es sei unerheblich, ob Österreich eine wirtschaftliche Einheit bilde oder nicht, denn die wirkliche Schwierigkeit bestehe darin, „daß nicht genug Österreicher an Österreich als unabhängiges Land glaubten . . . Zweifellos, wenn Osterreich durch ein Wirtschaftswunder oder durch einen Geldstrom aus dem Ausland zu einer Insel der Prosperität inmitten einer See der Not gemacht würde, könnte seine Unabhängigkeit eine gewisse Zeit bewahrt werden, genau wie ein Sterbender durch künstliche Zufuhr von Oxygen am Leben erhalten werden kann." Aber das Leben unter solchen Bedingungen sei nicht das eines „gesunden oder natürlichen Organismus", meinte Carr abschließend. Sargent fügte hinzu, daß „die Wirtschaft allein keinen österreichischen Lebenswillen erzeugen" könne. Er beginne zu erwägen, ob nicht die Restauration der Habsburger „das einzige wäre, was dabei helfen könnte." Im April 1935 vermerkte Selby wachsende Unzufriedenheit in der Bevölkerung „aufgrund der sinkenden Kaufkraft" des Schillings. Die Behörden seien sich dessen bewußt, und kürzlich habe Starhemberg den Finanzminister angegriffen, weil er sich mehr um die „ausländischen Gläubiger" als um die „Bedürfnisse des Volkes" kümmere. Dieser Druck auf die Regierung würde bestehen, gleichgültig, was für eine Regierung an der Macht sei, und die beste Lösung sei Hilfe für die Wirtschaft durch Steigerung des österreichischen Handels. Das sei die beste Methode, um Österreichs Unabhängigkeit zu sichern.19 Was das Regierungssystem betraf, so fand Selby auffallende Parallelen zwischen Österreich und Deutschland. In beiden Ländern sei das parlamentarische System verschwunden und die Sozialdemokratische Partei unterdrückt, die Presse werde durch scharfe Zensurvorschriften geregelt. In Deutschland würden die Juden verfolgt und in Österreich bestehe eine starke Tendenz zu erklären, daß die Juden „ein Monopol auf zu viele Posten" hätten, die Christen zugänglich gemacht werden müssten. Das Überleben der österreichischen Regierung sei zum großen Teil dem italienischen Bemühen zu verdanken, den Marsch Deutschlands an die italienische Grenze aufzuhalten. Aber faktisch sei es Italien „nur gelungen, das österreichische Regierungssystem in vieler Beziehung dem anzugleichen, das Herr Hitler Deutschland mit Erfolg auferlegt hat." Ε. H. Carr notierte dazu: „Prophezeien ist gefährlich; aber es scheint unvorstell176
bar, daß ein Regime, das im Innern so morsch ist (abgesehen von Angriffen von außen), lange überleben kann." Und Außenminister Simon fügte hinzu: „Ich bin gar nicht überzeugt davon, daß die Aufrechterhaltung dieses wackligen Regimes ein positiver Gewinn ist - es ist [für uns] nur tragbar aufgrund der Angst, daß danach etwas Schlimmeres kommen könne." 20 Im Rückblick erscheinen vermutlich die Unterschiede zwischen dem Nationalsozialismus und dem österreichischen „autoritären" Regime größer als die Übereinstimmung, aber damals schienen die Parallelen unverkennbar zu sein, und überall in Europa wuchsen Diktaturen wie Pilze aus dem Boden. Im April 1935 berichtete der britische Konsul in Innsbruck über die wachsenden Forderungen der Heimwehren. Sie kritisierten „das Fortleben des Parteigeistes" und „den übergroßen Einfluß der katholischen Kirche" und die Tatsache, daß ihre Mitglieder nicht überall bevorzugt angestellt würden. Der stellvertretende Landeshauptmann von Salzburg habe seine Gegnerschaft zum Freiheitsbund scharf betont und diesen beschuldigt, „aus verkappten Kommunisten zu bestehen, die die neue österreichische Verfassung zu sabotieren versuchten". Der Konsul fügte dem die Information hinzu, daß es in den Landesregierungen von Tirol und Salzburg „bittere Opponenten" der Heimwehr gebe. Im Oktober 1935 wurde eine neue österreichische Regierung gebildet. Laut Bericht der Gesandtschaft bestand sie aus vier Heimwehrministern - den Ministern für Auswärtiges, Finanz, Inneres und Sicherheit und Vizekanzler Starhemberg - und sechs Ministern, die nicht zur Heimwehr gehörten. Doch der Einfluß der vier stehe „in keinem Verhältnis zu ihrer Zahl" Sie hätten die Schlüsselstellungen inne, außerdem würden mehrere ihrer Kollegen der Heimwehr nahestehen, und Schuschnigg als Kanzler sei „alles andere als entschlossen" - womit angedeutet wurde, daß er nicht „entschlossen genug " war, um den wachsenden Einfluß der Heimwéhrführer einzuschränken. Einige Tage später antwortete Sargent: „Je mehr ich mir die neue österreichische Regierung ansehe, umso weniger gefällt sie m i r . . . . Die Regierung scheint ganz aus den Kreaturen Starhembergs zu bestehen, und ich finde es schwer, wie wahrscheinlich auch Sie, Vertrauen zu dem Urteil oder der Politik dieses Herrn zu haben." Die neue Regierung stehe seiner Ansicht nach „stärker unter italienischem Einfluß als die vor ihr" und sie werde alle diejenigen in Österreich vor den Kopf stoßen, die „gleichzeitig anti-Nazi und anti-italienisch" wären; besonders unheilvoll sei die Entlassung Bureschs als Finanzminister und seine Ersetzung durch eine Kreatur Starhembergs. Wenn ihn sein Chef darum bäte, würde dieser Mann „bereit sein, das Verschleudern der österreichischen Finanzen zu organisieren". Um die gleiche Zeit beschrieb Carr die Lage in Österreich als „verlogen und unreal". Selby erwähnte den Segen italienischer Orden, der sich über die österreichischen Beamten ergossen habe: „Italien beeinflußt die Lage mit solchen und anderen Methoden nach besten Kräften". Doch in Wirklichkeit werde Italien „von der großen Mehrheit verabscheut und verachtet". Kürzlich hätten mehrere Österreicher ihm gegenüber die Hoffnung ausgedrückt, daß Großbritannien Italien in seine Schranken weisen würde. Selby fügte vorausahnend hinzu, die „wirkliche Gefahr" läge in einer Verständigung Italiens mit Deutschland, die das Schicksal Österreichs direkt beeinflussen würde, und eine solche Entwicklung müsse im Falle des Aiisbruches des ita177
lienisch-abessinischen Krieges befürchtet werden.21 Dieser Krieg sollte die Lage in Mitteleuropa dramatisch verändern. Nach dem italienischen Überfall auf Abessinien im Oktober 1935 beschloß der Völkerbund, gemäß Artikel 16 seiner Satzungen Sanktionen gegen den Angreifer zu verhängen. Aber Österreich, Ungarn und Albanien stellten sich auf die Seite Italiens, ihres „Beschützers". Wenige Tage danach sprach Selby mit Vansittart, der eine Änderung der britischen Haltung gegenüber Österreich ankündigte. Selby protestierte und erklärte, eine solche Schwenkung sei unmöglich. Er wurde dann beauftragt, der österreichischen Regierung mitzuteilen, ihre Haltung in Genf habe in London „einige Verlegenheit" erzeugt. Im November schrieb Sargent nach Wien: „Wir können nicht vorgeben, daß wir sie [die österreichische Regierung] oder ihre Genfer Politik schätzen, und ich bezweifle, ob es auf lange Sicht gut ist, bei ihr den Eindruck zu erwecken, als sei das so." Seiner Ansicht nach sei es nicht schlecht, den österreichischen Außenminister „die Kehrseite der Medaille sehen zu lassen". Großbritannien werde sein Interesse an der österreichischen Unabhängigkeit als „Teil unserer allgemeinen Europa- und Völkerbund-Politik" beibehalten, aber nicht als Gunstbezeugung an eine bestimmte österreichische Regierung. Wenn die neue Regierung englische Sympathien gewinnen wolle, müsse sie durch Taten beweisen, daß sie genauso zuverlässig sei wie die alte; das aber hänge ab von der Art ihrer Zusammenarbeit mit dem Völkerbund in der Sanktionsfrage - zumindest dürfe sie seine Beschlüsse nicht neutralisieren oder vereiteln - und von ihren Beziehungen zu den politischen Parteien, die nicht in der Regierung vertreten seien. Zusammenarbeit mit ihnen würde „die Basis verbreitern, auf der die Regierung beruhe". Auf jeden Fall solle Selby ganz klar „den ungünstigen Eindruck, den die jüngsten Ereignisse in Österreich in England erwecken würden, falls die neue österreichische Regierung nicht sehr vorsichtig verfahre", betonen. 22 Im Foreign Office herrschte offensichtlich Entrüstung über die österreichische Abstimmung in Genf und die Zusammensetzung der neuen Regierung. Aber wir wissen nicht, in welcher Form sich Selby seines unangenehmen Auftrages entledigte. Der Zorn wuchs, als Starhemberg nach den italienischen Siegen in Abessinien im Mai 1936 ein Glückwunschtelegramm an Mussolini schickte, in dem er dem Duce „im Bewußtsein faschistischer Einheit" zu den glorreichen Siegen der faschistischen Waffen „über Barbarei" und „demokratische Doppelzüngigkeit und Heuchelei" gratulierte. In London setzte Vansittart dem österreichischen Gesandten auseinander, daß die Verletzung seiner Pflicht als Mitglied des Völkerbundes durch Österreich zu einer „deutlichen Abkühlung" geführt habe; dazu komme jetzt Starhembergs Glückwunsch an einen Mussolini, „der damit beschäftigt sei, den Völkerbund zu verhöhnen". Es wäre sehr viel besser gewesen, wenn Starhemberg geschwiegen hätte, „und trotz aller Komplimente, die Fürst Starhemberg dem Faschismus zolle, seien die Geldzahlungen Italiens an Starhembergs Heimwehr fast ganz eingestellt worden." Wie Vansittart betonte, sei es „ein Akt höchster Torheit, seine demokratischen Wohltäter zu beleidigen, besonders weil der Vorrat an Bargeld sonstwo in der Welt nicht so reichhaltig sei". Franckenstein antwortete, auch er sei „erschrocken gewesen, als er den Text der Starhemberg'schen Botschaft" gelesen habe; er sei „außerordentlich froh", Vansittarts Meinung zu hören, denn es werde ihm sehr nützlich sein, wenn 178
er seine Regierung informiere. Er fragte, ob etwas getan werden könne, um die Wirkung des Telegramms abzuschwächen. Vansittart erwiderte, das sei natürlich Sache der österreichischen Regierung. Vielleicht war es Franckensteins Telegramm nach Wien oder der Ausbruch von Entrüstung in der westlichen Presse, was Schuschnigg bewog, sich seines redelustigen Vizekanzlers zu entledigen. Jedenfalls wurde Starhemberg einige Tage darauf von seinem Posten als Vizekanzler und Führer der Vaterländischen Front entlassen, und es gab keinerlei Widerstand gegen diese Maßnahme. Wie Selby bemerkte, begann der Verfall von Starhembergs Autorität paradoxerweise mit der Neubildung der Regierung im vergangenen November. Entgegen allen Erwartungen hatte der neue Finanzminister, ein Vertrauter Starhembergs, strikte Sparmaßnahmen durchgeführt, die viele Heimwehrleute zu spüren bekamen, und die Regierung stellte der Heimwehr keine neuen Gelder zur Verfügung. Ein paar Tage darauf erklärte der politische Direktor des österreichischen Außenministeriums Selby, daß „die wirkliche Ursache" für die Entlassung Starhembergs seine „Unfähigkeit, stetige Büroarbeit zu leisten" gewesen sei. Die Führer der Vaterländischen Front und der Heimwehr hätten Starhemberg nie erreichen können, „weil er aus dem einen oder anderen Grund nie in seinem Amt gewesen sei". Der Außenminister Berger-Waldenegg habe das Telegramm an Mussolini nicht gesehen, ehe es abgeschickt worden sei, und hätte nie seine Zustimmung dazu gegeben, aber nach der Veröffentlichung habe er nur die Möglichkeit zum Rücktritt gehabt. Selby wurde ferner informiert, daß „die Wut Schuschniggs", als er den Text las, „ungeheuer" gewesen sei.23 . Im März 1936 schrieb Selby, die Italiener hätten ihre Zahlungen an die Heimwehr eingestellt, und sie besitze keinerlei finanzielle Reserven. Da der Finanzminister sich weigere, solch große Summen auszuzahlen, sei es nötig geworden, das Schutzkorps von etwa 12.500 auf nur 400-500 Mann zu reduzieren. Die Heimwehr selbst habe noch zwischen 70.000 und 80.000 Mitglieder. Wie er aber höre, hielten weder Mussolini noch Starhemberg sie noch für besonders nützlich, weil Armee und Polizei erheblich verstärkt wurden und durchaus fähig seien, mit inneren Unruhen fertig zu werden. In Heimwehr-Kreisen gebe es Enttäuschung über diese bescheidene Rolle, und man übe scharfe Kritik an Starhemberg und seiner Führung. Einem anderen Bericht zufolge werde das ganze Projekt einer Miliz nach faschistischem Vorbild „aufgrund der finanziellen Not, in der sich die gesamte faschistische Bewegung befinde, erhebliche Änderungen erfahren". Die österreichischen Militärbehörden seien nie enthusiastisch gewesen, nun habe sich ihr Enthusiasmus weiter abgekühlt. Als unter den Heimwehrführern, vor allem Starhemberg und Fey, neue bittere Streitigkeiten ausbrachen, erhielt Schuschnigg die Gelegenheit, auf die er gewartet hatte. Im Oktober 1936 löste die regierung alle Wehrverbände auf und erklärte die Miliz der Vaterländischen Front zur einzigen legalen Wehrvereinigung; die aufgelösten Verbände wurden ihr einverleibt. Das bedeutete das Ende der Heimwehr und, wie Selby meinte, auch das Ende des Dualismus, der seit Dollfuß' Tod bestanden hatte: „Dr. von Schuschnigg hat sich jetzt definitiv als einziger Führer etabliert." Ein Mitglied der italienischen Gesandtschaft informierte Selby, daß Mussolini 179
genug von Starhemberg habe und dem Kanzler das ganze Gewicht seiner Autorität leihe. Er empfinde für ihn die größte Hochachtung, nicht nur für seinen Charakter, „sondern auch für seine Arbeitsfähigkeit": 24 eine Fähigkeit, die Starhemberg in keinerlei Hinsicht besaß. Nach Ansicht der Gesandtschaft war Schuschnigg „ungeheuer ernst und f r o m m " sowie ein unermüdlicher Arbeiter. Er genieße den Ruf der Ehrlichkeit, „die in Österreich selten ist"; seit der Auflösung der verschiedenen Wehrverbände sei seine Position stetig stärker geworden. 25 Am 10. Juli 1936 telegraphierte Selby nach London, die seit einiger Zeit zwischen dem deutschen Gesandten von Papen und Schuschnigg geführten Verhandlungen würden sich „einem erfolgreichen Abschluß nähern". Die österreichischen Bedingungen seien die Anerkennung der österreichischen Unabhängigkeit und des Prinzips der Nichteinmischung in innere Angelegenheiten, ferner daß keine Änderung der österreichischen Außenpolitik eintreten würde und daß der Nationalsozialismus weder ein politischer Faktor noch eine Partei, mit der ein Übereinkommen möglich wäre, sei. Die Annahme dieser Bedingungen durch von Papen mache den Abschluß eines „Gentleman-Agreement" (sie) möglich. Eine Änderung der Zusammensetzung der österreichischen Regierung sei nicht beabsichtigt, aber möglicherweise würden ein oder zwei Repräsentanten „nationaler Kreise" als Minister ohne Portfeuille in sie aufgenommen werden. Selby meinte, bei diesem Schritt habe „Österreich kein einziges der Prinzipien aufgegeben, auf denen der gegenwärtige Staat beruhe, und weiche in keiner Beziehung von der Dollfuß-Linie ab". Das Abkommen wurde am 11. Juli veröffentlicht und bestätigte in seinem Text die von Selby erwähnten Prinzipien. Ferner erklärte Österreich, es sei ein „deutscher Staat", und es gab eine Geheimklausel, laut der Schuschnigg „eine weitreichende politische Amnestie" für die verhafteten Nationalsozialisten zusagte und versprach, Vertreter der „nationalen Opposition in Österreich" „an der politischen Verantwortung" mitwirken zu lassen: eine gefährliche Konzession, die in verschiedener Weise interpretiert werden konnte. 26 Einige Tage später erwähnte der erste Sekretär der britischen Gesandtschaft Gerüchte über Konzessionen, die Schuschnigg möglicherweise „Herrn Hitler für das Abkommen gemacht habe"; aber er fügte hinzu, es sei ihm unmöglich gewesen, eine Bestätigung dafür zu erhalten. Er berichtete ferner über die Reaktion der verschiedenen österreichischen Gruppen: Die „illegalen" Sozialisten und Kommunisten hätten erklärt, sie würden „den Kampf gegen die faschistische Diktatur fortsetzen", die Legitimisten seien „erbost über den Verrat, den der Kanzler nach ihrer Ansicht an seinem Land begangen habe", die Juden und die radikalen Nationalsozialisten seien gegen das Abkommen, aber aus verschiedenen Gründen; letztere glaubten, Hitler habe sie „wieder im Stich gelassen wie im Juli 1934", während die „gemäßigten" Nationalsozialisten für das Abkommen seien. Im allgemeinen, Schloß der Bericht, scheine „Dr. von Schuschnigg einen sichtbaren Erfolg errungen zu haben", obgleich die Sozialisten und die radikalen Nationalsozialisten entschlossen seien, ihre Tätigkeit fortzusetzen. Aus Innsbruck fügte der britische Konsul hinzu: „Der erste Schrei der Nazis war, daß sie verraten worden seien." Sie hätten eine ähnliche Flugschrift verteilt wie vor zwei Jahren, als sie Röhm nach seiner Ermordung im Juni 1934 verherrlicht hätten. 180
Dann sei eine andere Flugschrift aus München über die Grenze geschmuggelt worden, die die „Weisheit des Reichskanzlers" gepriesen und die Nationalsozialisten zur Parteitreue ermähnt habe. Bei einem kürzlichen Besuch in Salzburg fand der Konsul „höhere Beamte skeptisch und sogar deprimiert" über das Abkommen, während ihre Kollegen in Innsbruck anfänglich „ein übertriebenes Triumphgefühl" gezeigt hätten. Er schloß mit der Bemerkung, die österreichische Regierung habe „ihre zuverlässigsten Stützen" in der Bürokratie verwirrt oder sogar im Stich gelassen.27 Der erste Eindruck, den man in Foreign Office von dem Abkommen hatte, war, daß es auf den ersten Blick „allen außer Deutschland einen schönen Erfolg" verheiße. Eine genauere Betrachtung zeige aber, daß das nicht der Fall sei: „Die zwei Staaten sind jetzt so dicht aneinander gerückt, daß das Ergebnis eine Art halber Anschluß ist." Die wirkliche Frage sei, ob Deutschland „den Sinn ebenso wie den Buchstaben des Abkommens halten" werde. Vermutlich werde es eine Atempause geben, aber „auf lange Sicht bestehe Grund zu Besorgnis, und daher kann man nur dazu neigen, das Abkommen als einen deutschen Sieg anzusehen."29 Das war völlig richtig, und es betraf ganz besonders die Geheimklausel, von der die britischen Diplomaten nichts wußten. Vielleicht glaubte Schuschnigg, daß er bei der immer deutlicheren Annäherung zwischen Deutschland und Italien Konzessionen machen müsse, vor allem nach Hitlers triumphalem Marsch ins Rheinland, dem die Westmächte keinen Widerstand entgegensetzten. Da von diesen nichts zu erhoffen war, fand sich Österreich isoliert. Die Reaktionen der britischen Zeitungen zu dem Abkommen waren sehr verschieden. Die Times brachte einen Leitartikel „Ein willkommenes Abkommen", der Hitler zu „einem weiteren politischen Schlag" gratulierte; das Abkommen würde „Mitteleuropa stabilisieren und befrieden, die wirtschaftliche Lage bessern und den Weg vorbereiten zu einem permanenten Ausgleich zwischen den zwei Hauptzweigen der deutschen Rasse". Der Vorteil scheine „fast ganz bei Österreich" zu liegen; seine Unabhängigkeit wäre anerkannt, die Österreichische Legion in Deutschland solle aufgelöst, die Propaganda für den Anschluß beendet und die Tausendmarksteuer für deutsche Besuche in Österreich aufgehoben werden; und dagegen habe Österreich nur zugestanden, daß Nationalsozialisten der Vaterländischen Front beitreten könnten und daß ein Minister mit deutschen Sympathien in die Regierung aufgenommen werden solle. Das Abkommen sei offenbar mit Hilfe Mussolinis zustande gekommen, der so Deutschland nähergerückt sei; Österreich, „das so lange ein Hindernis für bessere deutsch-italienische Beziehungen gebildet habe, ist zu einer Brücke zwischen beiden geworden." Der Leitartikel des Manchester Guardian war wesentlich kritischer. Er stellte fèst, Hitler verfolge drei große Ziele: den Anschluß, die Judenverfolgung und den Sturz des Bolschewismus. Er habe keines davon aufgegeben, aber in bezug auf den Anschluß sei er zu einer Aufschiebung bereit, „weil er sicher sei, er käme auf jeden Fall, und glaube, eine Verzögerung von ein paar Jahren würde nichts ausmachen". Die Erklärung der beiden Staaten, daß Österreich „ein deutscher Staat" sei, bedeute die „Anerkennung von Hitlers Rassentheorien"; das sei wichtig, weil die Deutschen die Angewohnheit hätten, abstrakte Prinzipien als Deckmantel für ihre konkreten Forderungen zu benutzen - eine „moralische Einheit" verschaffe Deutschland das „Recht" (wie es Hitler bezeichnen würde), sich speziell für Öster181
reichs innere Angelegenheiten zu interessieren. Der Aufschub des Anschlusses würde Hitler größere Freiheit geben, um seine beiden anderen Ziele zu verfolgen: Die Judenverfolgung ginge ständig weiter „und würde wahrscheinlich verschärft werden", der „Krieg gegen den Bolschewismus" würde über Danzig, Memel und entlang der Ostseeküste fortgesetzt werden - und „würden die Westmächte . . . intervenieren? Das sind die Fragen, die Deutschland stellen - und in einem für sich günstigen Sinn beantworten würde." 30 Hitler sollte von seinen drei großen Zielen, die hier verzeichnet waren, zwei erreichen und dem dritten, dem Sturz des Bolschewismus, mehr oder minder nahekommen; es war eine prophetische Analyse. Daß sich Hitlers Ziel im Hinblick auf Österreich nicht geändert hatte, zeigte sich nur wenige Monate darauf, im Februar 1937, als der deutsche Außenminister von Neurath nach Wien kam. Große Massen säumten den Weg vom Bahnhof zu seiner Unterkunft; sie „gerieten völlig außer Rand und Band" und riefen ständig „Heil Hitler". Um zu zeigen, daß sie noch Herr im eigenen Hause waren, organisierte die österreichische Regierung am Tag von Neuraths Abreise Massendemonstrationen entlang seiner Route, bei denen „Heil Schuschnigg" gerufen wurde. Ein am Bahnhof anwesender Diplomat hörte den deutschen Militârattaché murmeln, Deutschland würde „die Beleidigung nie vergessen". In London suchte der österreichische Gesandte das Foreign Office auf und erklärte, „die deutsche Regierung habe nichts von ihrer unterwühlenden und zersetzenden Taktik aufgegeben, und Dr. Schuschnigg habe genug von den ständigen treulosen Intrigen"; Italien erweise sich als „ebenso unzuverlässig". Laut Vansittart bestand die Substanz der Klage darin, „daß sich Deutschland überhaupt nicht verändert habe, und Italien zu sehr." Im April 1937 trafen sich Hitler und Mussolini in Venedig. Das offizielle Kommuniqué verursachte in Österreich, wie die Times berichtet, Bestürzung, weil es „Italiens vitales Interesse an Österreichs Unabhängigkeit" nicht erwähnte, und weil Gayda, der Herausgeber des Giornale d'Italia, erklärte, daß Nationalsozialisten in die österreichische Regierung aufgenommen werden würden. Der Artikel wurde in Österreich unterdrückt, aber er erzeugte Besorgnis in politischen Kreisen, die sich „kaum von dem Schock des deutsch-österreichischen Waffenstillstands vom letzten Juli erholt hätten". Doch Schuschnigg wies den nationalsozialistischen Anspruch mit der Begründung zurück, daß es „in Österreich keine Koalitionsregierungen gibt". Nach einer Unterredung mit dem Wiener 77mes-Korrespondenten fügte Selby hinzu, der Kanzler „kämpfe noch, um nicht ganz ein Opfer der Berlin-Rom Achse zu werden". Er war davon überzeugt, daß als Folge von Venedig Schuschniggs Schwierigkeiten wachsen würden und „gerade jetzt" müsse alles getan werden, „um den Eindruck zu vermeiden, daß Deutschland und Italien in Mitteleuropa tun könnten, was sie wollten".32 Genau das aber war die damalige Situation. Als der britische Militârattaché im Juli 1937 den österreichischen Generalstabschef General Jansa aufsuchte, wurde ihm mitgeteilt, daß „die Regierung Fortschritte gegen die abtrünnigen Elemente mache", und die Lage „im Innern sich in einem Ausmaß gebessert habe, das er (Jansa) vor zwei Jahren nicht für möglich gehalten hätte"; der wichtigste Faktor zugunsten der Regierung sei die verbesserte wirtschaftliche Situation. Der General erklärte sich davon überzeugt, daß Österreich nichts von 182
Deutschland zu befürchten habe, weil Deutschland, solange die Rom-Berlin-Achse bestehe, „die diesbezügliche Empfindlichkeit Italiens nicht ignorieren könne". Im September fuhr Mussolini nach Berlin, wo ihm Hitler die deutsche Miltiärmacht vorführte und der Pakt zwischen beiden Ländern bestätigt wurde. Doch der italienische Außenminister Graf Ciano versicherte dem österreichischen Gesandten in Rom, als Ergebnis des Besuches „habe es keinen Wechsel irgendwelcher Art in der italienischen Politik gegenüber Österreich gegeben". Der politische Direktor des österreichischen Außenministeriums versicherte Selby sogar, das müsse „als sehr beruhigend angesehen werden". Als Selby bald darauf Österreich verließ, war auch er der Ansicht, daß „die innere Lage" sich verglichen mit der Zeit seiner Ankunft „außerordentlich verbessert habe. „Österreich hat soeben den friedlichsten Sommer erlebt, dessen es sich in den vergangenen vier Jahren erfreuen konnte." Unter dem Einfluß des wirtschaftlichen Fortschritts scheine „die Nazipropaganda in Österreich viel von ihrer Wirkung verloren zu haben", und viele österreichische Behörden glaubten, „sie wäre heute ganz unbedeutend, wenn es nicht den ständigen Druck aus Deutschland gäbe". Schuschnigg erfreue sich fast überall „hoher Achtung" und besitze das volle Vertrauen der bewaffneten Kräfte. Es habe sich eine „österreichische Tradition" entwickelt, die sich auf viele Weise äußere, zum Beispiel im wachsenden Eintreten für die Sache der Habsburger und deren Tradition. Die Bedrohung durch den Nationalsozialismus erwecke in vielen Österreichern ältere Erinnerungen an die Bedrohung durch Preußen. Kurz, „während der letzten vier Jahre hat Österreich gezeigt, . . . daß es eine eigene Seele besitzt".33 General Jansa und der bisherige britische Gesandte waren beide optimistisch, und doch sollte sich ihr Optimismus innerhalb von nur sechs Monaten als völlig unbegründet erweisen. Sie stellten nicht in Rechnung, daß die Rom-Berlin-Achse es Hitler möglich machte, sein Ziel der Vereinigung Österreichs mit Deutschland planmäßig zu verfolgen. Mussolinis wachsende Abhängigkeit von Hitler gefährdete Österreich. Das Wiederaufleben der habsburgischen Tradition und die Möglichkeit einer Restauration wurden aüch im Foreign Office diskutiert. 1934-verfaßte E. H. Carr ein Memorandum zu dieser Frage, in dem er betonte, daß „das Scheitern der Versuche, einen österreichischen Patriotismus zu erwecken,... eine eindeutige Gefahr für das bestehende Gleichgewicht" bedeute. Daher sei „ganz natürlich die Idee entstanden, diesem Mangel dadurch abzuhelfen, daß man die alte persönliche Treue zum Hause Habsburg wiedererweckt . . . als sentimentale Barriere gegen die Vereinigung mit einem nicht habsburgischen Deutschland". Dieses Argument fand Carr nicht überzeugend, da die Habsburger ein Reich von 55 Millionen Einwohnern regiert hätten, und die Österreicher daher damals „immun gegen ein betontes Gravitieren nach Deutschland waren. . . . Nichts kann diesen Zustand wiederherstellen." Ein neues Habsburgerreich, bestehend aus dem kleinen Österreich oder sogar aus Österreich und Ungarn und unter italienischer Vormundschaft, „würde zweifellos an die Reste der alten Aristokratie und einige Überbleibsel der älteren Generation appellieren" Aber eine solche Restauration würde „weder bei der österreichischen Bevölkerung im allgemeinen populär sein, noch könnte sie als befriedigende Alternative zur Ver183
einigung mit dem großen deutschen Staat angesehen werden". Es sei zweifelhaft, ob eine Restauration von Dauer sein würde - sicher könnte sie das nicht ohne Ungarn sein, unter der Voraussetzung, daß „Hoffnung auf weitere territoriale Erwerbungen" bestünde. Laut Vansittart war dies ein „sehr gutes und nützliches Memorandum". 34 Anfang 1935 berichtete Selby, es gäbe kaum Zweifel, „daß die Sympathien der Mehrheit derer, die heute in Österreich an der Macht sind, eindeutig für eine Restauration" seien. Aber die Klügeren unter ihnen seien sich der internationalen Schwierigkeiten, die das verhinderten, bewußt, und die Regierungssprecher würden immer betonen, die Frage sei nicht aktuell. Er erwähnte auch, der zweite Bürgermeister von Wien habe den französischen Gesandten mit der Behauptung „verblüfft", daß große Teile der Arbeiterschaft eine Restauration willkommen heißen würden. Ein ihm bekannter Künstler mit vielen Kontakten in Arbeiterkreisen habe bestätigt, daß dort „die monarchistische Idee nicht so scharf abgelehnt werde wie man glaube, weil die Arbeiterschaft von den Habsburgern sehr gut behandelt worden sei, und man jetzt mit Bedauern an die »großen Freiheiten' zurückdenke, die man im Habsburgerreich besessen habe und unter dem gegenwärtigen Regime nicht mehr besitze." Bald darauf beschrieb Selby die umfangreichen Vorbereitungen für den Ball der Stadt Wien und den „großartigen Empfang" des Erzherzogs Eugen, der kurz vor Präsident Miklas eingetroffen sei - „mit einem besonders arrangierten Festzug, der ihn zu seinem Sitz in der Mitte der Halle neben dem Kanzler, dem Präsidenten und andern Regierungsmitgliedern geleitet habe"; andere Mitglieder der kaiserlichen Familie seien gleichfalls anwesend gewesen und hätten „ein Willkommen von sehr bezeichnender Art" erhalten.35 Im Juli 1935 fragte Vansittart den tschechoslowakischen Gesandten in London, Jan Masaryk, warum seine Regierung gegen eine Restauration sei, und Sargent äußerte, „ob seine Regierung fürchte, daß eine Habsburgermonarchie Anziehungskraft auf die deutsche Minderheit in der Tschechoslowakei ausüben würde". Das wurde von Masaryk bestritten, aber er gab zu, daß die jugoslawische und die rumänische Regierung bezüglich ihrer kroatischen und siebenbürgischen Minderheiten solche Befürchtungen hätten. Sargent hielt es für „ein trauriges Eingeständnis", daß diese Staaten nach sechzehn Jahren Unabhängigkeit so geringen Fortschritt mit der Erweckung eines neuen Patriotismus gemacht hatten, daß sie befürchteten, „der Geist der alten Dynastie der Habsburger in der Hofburg" könnte nicht nur ihre deutschen Minderheiten, sondern auch die unzufriedenen slawischen Gruppen beeinflussen. Er betonte auch, wenn jetzt verantwortliche österreichische Staatsmänner mit der Idee der Restauration liebäugelten, so geschehe das aus dem Gefühl heraus, zu dieser Methode greifen zu müssen, „weil alle anderen Methoden Österreich nicht den Willen, getrennt von Deutschland zu leben, eingeflößt h ä t t e n , . . . einfach weil es nichts anderes gäbe, was man versuchen könnte". Die britische und die französische Regierung müßten mit jedem ernsthaften Versuch, die österreichische Unabhängigkeit zu sichern, sympathisieren, obgleich sie selbst diese Methode wohl nicht gewählt hätten. Vansittart notierte, er sei unbeeindruckt von den Argumenten der Kleinen Entente gegen eine Restauration. Ihre Politik gegenüber Österreich sei „wortreich und nutzlos" gewesen, und eines Tages würden sie „ihren Starrsinn bedauern, denn er 184
wird Österreich und Ungarn in Richtung Deutschland treiben". Einige Monate darauf erklärte Vansittart dem früheren ungarischen Gesandten in London, eine Restauration könne nur „in freundlichem Einvernehmen mit der Kleinen Entente" stattfinden, und Fortschritt in dieser Richtung gebe es nicht. Auf die Frage, ob Erzherzog Otto privat zur Jagd nach England kommen und privat vom König empfangen werden könne, antwortete Vansittart, daß der Besuch „endlose Kommentare und Verdacht in Europa" hervorrufen würde und daher verschoben werden müsse - „jedenfalls bis die Welt in einem weniger unruhigem Zustand als gegenwärtig sei". 36 Im Juni 1936 berichtete Selby, die Legitimisten zeigten Zeichen großer Aktivität, was den französischen Gesandten alarmiere. Sie argumentierten, daß die Stimmung für die Restauration im Lande einen Höhepunkt erreicht habe und sie die Gelegenheit nicht verpassen dürften, und daß die Restauration „das Land gegen Hitlers Ehrgeiz festigen und seine Politik besiegen" würde. Später schrieb Selby, die Legitimisten seien nach dem Juliabkommen ruhig geblieben. Aber als die Nationalsozialisten versuchten, das Abkommen auszunutzen, „um ihre Autorität innerhalb der Regierungskreise zu befestigen", hätten sie ihre Propaganda fortgesetzt und neue Anhänger von ganz unvorhergesehener Seite gewonnen. Der Jahresbericht der Gesandtschaft für 1937 erwähnte erfolgreiche Versammlungen der Legitimisten in Kärnten und eine betont monarchistische Ansprache des Erzbischofs von Salzburg. Die wichtigste Versammlung fand im November in Wien statt zur Feier des 25. Geburtstages des Erzherzogs Otto in Anwesenheit vieler Mitglieder der kaiserlichen Familie. In seiner Rede behauptete der Leiter der Bewegung, von Wiesner, sie habe 1,200.000 Anhänger, da er die Mitgliedschaft der Vereine, die Ottos Patronat akzeptierten, und ein Drittel der Einwohnerschaft der Gemeinden, die ihn zum Ehrenbürger gemacht hatten, dazu zählte 37 - eine zweifelhafte Form der Kalkulation. Aber zweifellos war die legitimistische Bewegung in diesen Jahren gewachsen, wenn sie auch keine Massenbewegung geworden war. Der Jahresbericht für 1937 erwähnte auch den stetig wachsenden Einfluß der katholischen Kirche. Aber viele ihrer überzeugtesten Anhänger würden Besorgnis äußern, daß dies kein Interesse am katholischen Glauben beweise, sondern nur bewirke, daß „die Verantwortung für alle Fehler der Regierung der Kirche angelastet wird". Eine andere Institution, die die Regierung unterstützte, war die Vaterländische Front, der alle in irgendeiner Form von den Behörden Abhängigen beitreten mußten. An einem Sonntag im Oktober 1936 hielt sie außerhalb Wiens eine Massendemonstration ab, an der nach offizieller Schätzung 365.000 Menschen teilnahmen. Wie die Gesandtschaft berichtete, „war anscheinend allen Staatsangestellten klargemacht worden, daß ihre Teilnahme erwünscht sei". Sonderzüge brachten Teilnehmer nach Wien; das habe „eine Organisationsfähigkeit bewiesen, die vorher bezweifelt wurde". Aus Lautsprechern erklang die Stimme von Dollfuß (durch Wiedergabe einer seiner Reden) und Schuschnigg wurde mit „einer Begeisterung empfangen, . . . die weit über dem Durchschnitt einer österreichischen Zuhörerschaft lag". Er sprach mit „Energie und Kraft" und sah „ungewöhnlich froh" aus, - die Reden brachten aber laut dem Bericht wenig Neues. Im Juni 1937 berichtete Selby über die Ernennung eines bekannten Nationalisten 185
aus Tirol zum volkspolitischen Referenten der Vaterländischen Front und über die Ernennung des nationalistischen Rechtsanwalts Dr. Seyß- Inquart; dieser solle die Frage untersuchen, wie man Kreise, die der Vaterländischen Front fernstanden, für sie rekrutieren könne. Diese beiden Ernennungen, telegraphierte Selby, seien gedacht „als Geste gegenüber den ,nationalen' Elementen". Schuschnigg hoffe, dadurch „die vernünftigeren Elemente zu loyaler Zusammenarbeit mit seiner Organisation zu veranlassen" und die Spannung mit Deutschland zu vermindern. Ähnliche Versuche unternehme der Kanzler gegenüber den Arbeitern, die „massiv sozialistisch" geblieben seien, aber hier würde eine Annäherung vermutlich freie Wahlen in den offiziellen Gewerkschaften voraussetzen. 38 Anscheinend erkannte man nicht, wie gefährlich derartige Konzessionen an die „Nationalen" waren; und gab es unter ihnen „vernünftigere Elemente"? „Nationale" Elemente gab es auch in der Armee. Im Juli 1934 sprach der britische Militârattaché mit Generalmajor Wiktorin vom Kriegsministerium über die Lage, der offen erklärte, daß „die Armee nach wie vor in Opposition zur gegenwärtigen Regierung stände". Die höheren Offiziere seien für die Auflösung der Heimwehr und für Beendigung des Konfliktes mit Deutschland; sie seien nicht für den Anschluß, aber scharf antiitalienisch und sie hätten den Wunsch „alle Wehrverbände los zu werden und den Weg für Wahlen und eine Rückkehr zur verfassungsmäßigen Regierung vorzubereiten". Die Armee werde fortfahren, bei bewaffneten Aufständen ihre Pflicht zu erfüllen, aber solange das Regime in seiner intransigenten Haltung gegenüber Deutschland verharre, könne es „nur mit der physischen, nicht aber mit der moralischen und politischen Unterstützung der Armee rechnen". Der Bericht der Gesandtschaft für 1934 fügte hinzu, daß mehrere Einheiten mit „dem Hitlerbazillus" infiziert seien, dieselben Einheiten aber „mit überraschender Einmütigkeit gegen ihre Nazikameraden" gekämpft hätten. Die meisten Offiziere und Soldaten seien „zweifellos großdeutsch eingestellt, aber nicht ganz für Hitler". 1935 bestätigte der militärische Geheimdienst, daß die Armee sehr für Zusammenarbeit mit Deutschland,. aber Italien gegenüber sehr abgeneigt sei. Im folgenden Jahr informierte General Jansa den britischen Militârattaché, er habe die deutsche Ansicht über die Sowjetunion nur zögernd akzeptiert. Aber man brauche „sich das Europa von heute nur anzusehen, um seine Bedrohung durch russische Aktivitäten zu erkennen"; aufgrund seines Bündnisses mit der Tschechoslowakei sei Rußland imstande, Wien, Budapest und Berlin anzugreifen. Er habe aus zuverlässiger Quelle gehört, daß in der ganzen östlichen Slowakei russische Flugplätze gebaut würden, und in Pressburg ein russisches Geheimbüro existiere. Als der Attaché entgegnete, die russischen Arbeiten in der Slowakei würden wohl übertrieben, gab Jansa zu, daß die Russen sich wohl noch nicht so fest etabliert hätten - „aber es wäre nur eine Frage der Zeit, möglicherweise eine Frage von Monaten, bis es soweit sei". Seiner Ansicht nach war die Einführung der allgemeinen Dienstpflicht in Deutschland „allein auf die wachsende Gefahr des russischen Militarismus zurückzuführen". 39 Und das war ein österreichischer General, der als überzeugter Gegner des Nationalsozialismus galt. Der Haß auf Italien war nicht auf die Offiziere beschränkt und war besonders stark in Kärnten und Tirol (die beide Gebiete an Italien verloren hatten), wie der bri186
tische Konsul oft aus Innsbruck berichtete. „Sarkastische und entrüstete Kommentare zum italienischen Nationalcharakter . . . werden in allen sozialen Klassen gemacht." In Kärnten bemerkte ein hoher Beamter ihm gegenüber, Österreich habe keine Zukunft, bis es sich nicht „von den zwei Roms" - dem des Faschismus und dem des Vatikans - getrennt habe. Er registrierte auch „ein allgemeines Gefühl der Unsicherheit", verursacht durch die Überzeugung, „daß die Geduld der Bevölkerung durch die proitalienische Politik der Regierung zu sehr strapaziert wird". 1936 schrieb er über Streitigkeiten zwischen den Slowenen und Deutschnationalen in Kärnten, die aber „durch den Haß auf Italien, der in der ganzen Provinz herrsche", bei weitem überragt würden. Holzexporteure könnten keine Bezahlung von ihren italienischen Schuldnern erhalten, und das verursache laute Proteste, sogar in den lokalen Zeitungen. Als Mussolini im September 1937 über Tirol nach Berlin fuhr, war die Tiroler Bevölkerung entrüstet „über die Anwesenheit des Mannes, den sie für den Verfolger ihrer Südtiroler Brüder hielten". Eine Jugendgruppe aus Salzburg mußte nach Innsbruck gebracht werden, um am Bahnhof vor dem Gast zu paradieren, weil die Behörden fürchteten, „die österreichische Jugendbewegung aus Tirol sei nicht zuverlässig genug, um sich in Gegenwart von Signor Mussolini gebührend zu benehmen". Nach dem Ausbruch des spanischen Bürgerkriegs schien es dem Konsul, als würde die Flut antikommunistischer Propaganda die Feindseligkeit zu Italien in Westösterreich dämpfen, „aber die alte Haltung kehrte bald zurück".40 Offensichtlich erzeugte die proitalienische Politik der Regierung selbst unter ihren eigenen Anhängern Bedenken und erschwerte es ihr, Anhänger in Kreisen zu finden, die gegen den Anschluß an ein Hitlerdeutschland waren. Der Konsul notierte auch, daß in der Innsbrucker Gesellschaft alle Unterhaltungen „sofort und unvermeidlich auf die Gefahren des Kommunismus in Europa" hinausliefen - Gefahren, die durch den spanischen Bürgerkrieg näher gerückt schienen. Er bezweifelte kaum, daß diese Richtung offiziell ermutigt wurde. Offizielle Kreise verträten die Konzeption Österreichs „als einer mitteleuropäischen Säule gegen den Bolschewismus"; das und „spontane Angst" hätten „sich vereint, um aus der lokalen politischen Stimmung eine alles beherrschende Zwangsvorstellung zu machen". Eine britische Geschichtsstudentin an der Universität Wien bemerkte 1937: „Solange ein Regierungswechsel über Nacht passieren kann, würden die Beamten versuchen, in jedem Lager Fuß zu fassen, und das öffne die Tür zu riesiger Bestechung und Korruption". Ein anderes Übel sei die „hoffnungslos unsoziale Politik"; es würde kaum versucht, die Arbeiter aus ihrer „dumpfen Unzufriedenheit oder aktiven Opposition" zu locken.41 Um die gleiche Zeit war Selbys Einschätzung viel optimistischer: „Der Erfolg des österreichischen Widerstandes hat einen tiefen Eindruck auf einen großen und einflußreichen Teil der österreichischen Meinung gemacht". Er habe Erinnerungen wachgerufen an „die große Rolle, die Österreich in seinen Beziehungen zu Deutschland jahrhundertelang gespielt hat", ebenso an die österreichische Verachtung gegenüber Preußen und allem, was mit Preußen zusammenhänge. Die Stärke dieser Gefühle habe viel mit dem zu tun, was sich in den deutsch-österreichischen Beziehungen seit 1934 ereignet habe, und sie zeige sich in fast allen Unterhaltungen mit 187
Österreichern. Kürzlich habe Präsident Miklas zu ihm gesagt: „Unser Einfluß sollte sich bis an den Rhein erstrecken. Österreich repräsentiert deutsche Kultur; Österreich ist das letzte Bollwerk dieser Kultur gegen das Vordringen Preußens." 42 Diese Haltung reflektierte sicherlich die Stimmung in Regierungskreisen und bestimmten Gruppen, die der Regierung nahestanden; aber sie war simplistisch. Die wirkliche Frage war, wie weit sie verbreitet war. Weitverbreitet und wachsend war der Antisemitismus unter den Anhängern wie den Gegnern der Regierung. Im Oktober 1934 wurde ein Befehl erlassen, keine Juden mehr für die Heimwehr zu werben. Der amerikanische Gesandte Messersmith berichtéte Selby, er habe mit Schuschnigg darüber gesprochen und ihn gewarnt, dem deutschen Beispiel zu folgen, aber Schuschnigg habe angedeutet, er könne „die antisemitischen Tendenzen seiner Anhänger nicht so sehr zügeln, wie es wünschenswert wäre", und die Leiter der jüdischen Gemeinde informierten Messersmith, sie seien mit der persönlichen Haltung des Kanzlers völlig zufrieden. Wie die britische Gesandtschaft erwähnte, forderte Leopold Kunschak, ein Führer der christlichen Arbeiter, 1936 eine Lösung des jüdischen Problems auf sozialer Basis und fügte hinzu, es gebe nur zwei Möglichkeiten: „Entweder lösen wir die jüdische Frage unverzüglich . . . oder sie wird sich von selbst lösen im Kampf wilder Instinkte." Gleichzeitig notierte Ε. H. Carr, Mandl und ein paar reiche Juden hätten nichts zu befürchten, aber es gäbe eine scharfe Diskriminierung gewöhnlicher Juden; die Schwierigkeit bestehe darin, daß „eine antisemitische Politik die Popularität des Regimes steigern würde". Im gleichen Jahr schrieb Selby aus Wien, er habe dem österreichischen Außenminister geraten, die Regierung solle ihren Einfluß geltend machen, „um alles, was nach antisemitischen Äußerungen aussieht, zu vermeiden". Der Minister habe geantwortet, sie würden alles tun, um die Presse zurückzuhalten, aber die unglückliche Affäre des Bankrotts der Phoenix-Versicherungsgesellschaft habe den Antisemitismus verstärkt - eine Tatsache, die von Selby bestätigt wurde.43 Ende 1937 berichtete die Gesandtschaft über wachsenden Antisemitismus in Wien. Man kolportiere die Losung „Christen, kauft bei Christen", und die Tatsache, daß ein jüdischer Geschäftsmann mit seinem Fuß durch das Schaufenster des deutschen Reisebüros gestoßen habe, habe „Vergeltungsmaßnahmen" ausgelöst. Die Fenster vieler jüdischer Geschäfte in verschiedenen Wiener Bezirken seien" eingeschlagen worden - vermutlich von Nationalsozialisten. Der Jahresbericht der Gesandtschaft für 1937 erwähnte das Aufkommen „eines deutlicheren wirtschaftlichen Antisemitismus" mit der entsprechenden Losung „Kauft in arischen Geschäften". Ein Vizebürgermeister von Wien habe in einer Versammlung kleiner Geschäftsleute erklärt, die Wiener würden sich mit allen Kräften „gegen die unlautere Konkurrenz von Nachkriegs-Imigranten wehren", und er unterscheide zwischen dem, was er als Wiener Antisemitismus bezeichne, und der nationalsozialistischen Form. Die allgemeine Atmosphäre in Kärnten sei so stark antisemitisch geworden, daß Juden nicht mehr dorthin auf Ferien gingen. Kurz, Österreich würde allmählich „eine weniger angenehme und profitable Heimat für Juden". Aus Innsbruck schrieb der britische Konsul, es gäbe keine offizielle Diskriminierung der Juden, aber ihre Lage verschlechtere sich ständig. Die ganz wenigen jüdischen Rechtsanwälte in Innsbruck seien „von ihren Kollegen aus ihrem Beruf ver188
drängt worden"; einige jüdische Ärzte könnten ihren Unterhalt sichern, „indem sie außerordentlich schwer arbeiten" und vor allem ausländische Touristen behandelten. Es sei „faktisch unmöglich für einen Juden, an einem örtlichen Krankenhaus zu arbeiten", und jüdische Geschäftsleute litten „unter einem stillen, aber effektiven Boykott". In den Schulen würden „nichtjüdische Kinder nicht davon abgehalten, jüdische Kinder mit kleinlichen Maßnahmen zu verfolgen", und im offiziellen Jungvolk habe man eine spezielle Abteilung für jüdische Kinder gebildet. „In der Theorie werden Juden völlig liberal behandelt, in der Praxis gibt es einen starken antisemitischen Druck." Aus diesen Berichten scheint hervorzugehen, daß in Ländern wie Kärnten und Tirol der Antisemitismus wesentlich stärker war als in Wien, obgleich die jüdische Bevölkerung außerhalb Wiens sehr klein war. Wie es der Jahresbericht der Gesandtschaft für 1937 ausdrückte, hatten „viele gewöhnliche österreichische Städter eine instinktive Abneigung gegen Juden". 44 Nur wenige Wochen, nachdem diese Berichte nach London gingen, sollte der österreichische Antisemitismus sein wahres Gesicht zeigen. Wirtschaftlich war das Regime stabiler geworden, und Schuschnigg persönlich hatte an politischem Status gewonnen. Aber die Regierung war politisch nach wie vor sehr schwach und unfähig, neue Anhänger zu gewinnen - weder auf der Rechten noch auf der Linken. Nach dem Entstehen der Berlin-Rom Achse konnte sie nicht mehr mit der Unterstützung des italienischen Diktators rechnen, obgleich das anscheinend damals in Wien nicht erkannt wurde. Die 1937 im Lande herrschende Ruhe war die Ruhe vor dem Sturm.
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The Times und Manchester Guardian, beide 26. Juli 1934. Manchester Guardian, 27. Juli 1934. Oberstleutnant Mason-MacFarlane an Selby, 31. Juli, und Drummond and Foreign Office, Rom, 26. Juli 1934; FO 371, Bd. 18354, Fo. 106 f., Bd. 18352, Fo. 155. Berichte von Oberstleutnant Mason-MacFarlane, 19. Mär/, 31. Juli und 2. August, und Hadow an Foreign Office, 27. Juli 1934; FO 371, Bd. 18366, Fo. 67, Bd. 18354, Fo. 111, 127, Bd. 18352, Fo. 166; The Times, 27. Juli; Manchester Guardian, 28. Juli 1934. Die Verluste laut „Austria. Annual Report, 1934", FO 371, Bd. 19483, Fo. 281. Für die Kämpfe im einzelnen siehe Gerhard Jagschitz, Der Putsch - Die Nationalsozialisten 1934 in Österreich, Graz-Wieil 1976, S. 145-156. The Times, 27. Juli 1934. Manchester Guardian, 31. Juli 1934. Simon an MacDonald, 27. Julia 1934: FO 800, Bd. 291 (Simon Papers). Memorandum von Hadow, s. d., Ian Henderson an Hadow, 18. Juli, Selby an Simon, 4. und 21. August, Notiz Vansittarts, 26. Juli 1934, und undatierte Notiz von Simon: FO 371, Bd. 18354, Fo. 17, Bd. 18352, Fo. 154,193, FO 120, Bd. 1090. Selby an Sir Samuel Hoare, 28. Oktober 1935, Notiz von G. Bramwell, 27. Oktober 1936, "Austria. Annual Report, Economic" 1936 und 1937, Berichte von Oberstleutnant Κ. V. B. Benfield, 30. Juli, und Ian Henderson, 21. Juli 1937, und Monatsberichte über die wirtschaftliche Lage, 13. August, 9. September, 6. November und 4. Dezember 1937: FO 371, Bd. 19379, Fo. 54, Bd. 20362, Fo. 309, Bd. 21114, Fo. 194, 363, Bd. 21119, Fo. 51, Bd. 21115, Fo. 232 f., Bd. 21114, Fo. 276, 283, 359, 376. Monatsbericht über die wirtschaftliche Lage, 11. März 1938, und unsigniertes Memorandum, 9. März 1938: FO 371, Bd. 22309, Fo. 169, Bd. 22320, Fo. 37 f.
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Selby an Foreign Office, 30. Januar, Memoranden von Eden, Runciman und Chamberlain, 24.-2S. Februar, und Conclusion of a Cabinet Meeting, 26. Februar 1936: Cab. 24, Bd. 260, Cab. 23, Bd. 83, S. 184 f. Notizen für Oberst Pagets Vorlrag in Österreich, 25. Januar, und unsignierle Noli/, über Unterredung mil O'Malley, 1. April 1935: W O 190, Bd. 293 und 316. Notizen von Carr, 15. und 27. August, und Sclby an Simon, 4. August 1934: FO 371, Bd. 18354, Fo. 204, Bd. 18355, Fo. 154, Bd. 18354, Fo. 85. Selby an Simon, 26. Oktober, und Foreign Office an Botschaft Rom, 1. August 1934: FO 371, Bd. 18366, Fo. 157 f., Bd. 18367, Fo. 34 ff. Selby an Simon, 3. August, Notizen von Carr, 8. und 16. August, Vansittart, 9. August, und R. A. Gallop, 14. August 1934: FO 371, Bd. 18354, Fo. 14-18, 120 f. Selby an Simon, 9., 16. und 26. Oktober 1934: FO 371, Bd. 18357, Fo. 148, Bd. 18366, Fo. 157 f., FO 120, Bd. 1079. „Austria. Annual Report, 1934": FO 371, Bd. 19483, Fo. 282. Selby an Simon, 27. Oktober, lan Henderson an Selby, 6. November 1934 und 15. Juli 1935: FO 371, Bd. 18358, Fo. 142, Bd. 19482, Fo. 57. Bericht Carrs, 14. Oktober, Notiz von Sargent, 17. Dezember 1934, und Selby an Simon, 27. April. 1935: FO 371, Bd. 18358, Fo. 339, 345, Bd. 19478, Fo. 220. Sclby an Simon, 15. Februar 1935, mit Notizen von Carr und Simon vom 22.-23. Februar: FO 371, Bd. 19481, Fo. 99 f., 103. lan Henderson an Selby, 13. April, Mack an Hoarc, 23. Oktober, Sargent an Selby, 30. Oktober, und Selby an Foreign Office, 13. September 1935: FO 371, Bd. 19481, Fo. 140 f., Bd. 19482, Fo. 121, Bd. 19485, Fo. 231 f., FO 120, Bd. 1093. Selby, Diplomatie Twilight 1930-1940, S. 51 f.; Sargent an Selby, 14. November 1935: FO 120, Bd. 1103. Selby an Eden, 13., 16. und 19. Mai, und Notiz Vansittarts, 13. Mai 1936: FO 120, Bd. 1113, FO 371, Bd. 20361, Fo. 111-114, 144-146. Selby an Sargent, 3. März, Mack an Eden, 14. März, und Selby an Eden, 12. Oktober 1936: FO 120, Bd. 1116, FO 371, Bd. 20360, Fo. 33 f., Bd. 20362, Fo. 277 f. Sclby an Eden, 1. Januar 1937: FO 371, Bd. 21115, Fo. 49, S. 23. Sclby an Foreign Office, 10. Juli 1936: FO 371, Bd. 20363, Fo. 182 f. Der Text des Abkommens in Haus-, Hof- und Staatsarchiv, Liasse Österreich 1/12, Fasz. 466; K. Schuschnigg, Im Kampf gegen Hitler, Wien-München-Zürich 1969, S. 187 fl". Mack an Eden, 18. Juli, und Henderson an Selby, 10. August 1936: FO 371, Bd. 20363, Fo. 269-275, Bd. 20364, Fo. 24 ff. Connor an Gascoigne, Foreign Office, 27. Juli 1936: FO 120, Bd. 1108. The Times, 13. Juli 1936. Manchester Guardian, 13. Juli 1936. Selby, Diplomatie Twilight, S. 70 f.; Notiz Vansittarts, 31. März 1937: FO 371, Bd. 21119, Fo. 362. The Times, 26. April, und Selby an Eden, 4. Mai 1937: FO 120, Bd. 1126. Bericht Oberstleutnant Benfields, 30. Juli, Selby an Eden, 5. und 13. Oktober 1937: FO 371, Bd. 21119, Fo. 51 f., FO 120, Bd. 1136, F 0 371, Bd. 21116, Fo. 321 ff., FO 120, Bd. 1129. Memorandum Carrs, 3. April 1934, mit Notiz Vansittarts vom 16. April: FO 371, Bd. 18364, Fo. 78, 83 f. Selby an Simon, 31. Januar und 14. Februar 1935: FO 371, Bd. 19483, Fo. 9, 24 f., FO 120, Bd. 1096. Notizen von Sargent und Vansittart, 26.-28. Juli und 18. November 1935: FO 371, Bd. 19483, Fo. 115 ff., 203 f. Selby an Foreign Office, 28. Juni 1936 und 13. Februar 1937; „Austria. Annual Report, 1937'": FO 371, Bd. 20365, Fo. 310, Bd. 21119, Fo. 2, Bd. 22320, Fo. 181. „Austria. Annual Report, 1937", Mack an Eden, 21. Oktober 1936, und Selby an Foreign Office, 18. Juni 1937: FO 371, Bd. 22320, Fo. 178, Bd. 20362, Fo. 295 l'I'., Bd. 21118, Fo. 73, 76. Oberstleutnant Mason-MacFarlane an Selby, 31. Juli 1934; „Austria. Annual Report, 1934"; Notiz des Geheimdienstes, 1. April 1935, und Bericht Major Benfields, 26. August 1936: FO 371, Bd. 18354, Fo. 124 f., Bd. 19483, Fo. 281 f., W O 190, Bd. 316, Fo. 371, Bd. 20364, Fo. 16 f.
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Ian Henderson an Selby, 1. Dezember 1935, 29. Januar 1936, 3. Oktober und 12. Dezember 1937: FO 371, Bd. 19482, Fo. 169 f., FO 120, Bd. 1099, 110«) und 1136, Fo. 371, Bd. 21116, Fo. 407 f. Henderson an Selby, 25. August 1936, und Selby an Sargent, 11. Mai 1937: FO 120, Bd. 1120 und 1123. Selby an Eden, 15. Mär/ 1937: FO 371, Bd. 21115, Fo. 111. Selby an Simon, 27. Oktober 1934, Mack an Eden, 31. März, Notiz Carrs, 2. April, und Selby an Eden, 23. April 1936: FO 371, Bd. 18358, Fo. 142 f., FO 120, Bd. 1117, FO 371, Bd. 20367, Fo. 398, 410. Mack an Eden, 21. Dezember 1934, „Austria. Annual Report, 1937", und Henderson an Palairet, 5. Januar 1938: FO 371, Bd. 21116, Fo. 413 f., Bd. 22320, Fo. 178 ff., 107 ff.
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VITI. Die Opposition
Fünf Jahre lang war das autoritäre österreichische Regime imstande, zwischen seinen rechten und linken Gegnern unsicher zu balancieren. Die stärkere Bedrohung seiner Existenz schien von rechts zu kommen, zum Teil weil die Nationalsozialisten gleichmäßiger über das ganze Land verteilt waren, zum anderen weil sie den Rückhalt an Hitlers Deutschland hatten, und weil die gegen sie gerichteten Verfolgungsmaßnahmen abwechselten mit milderen Zeiten - vor allem nach dem Abkommen vom Juli 1936. Im September 1934 berichtete Selby, im niederösterreichischen Ärzteverein sei eine nationalsozialistische Zelle entdeckt worden, so daß er vollkommen reorganisiert werden mußte; 400 Angestellte der Alpinen Montangesellschaft und ein Direktor seien wegen Teilnahme am Juliputsch entlassen worden, und alle Professoren mit nationalsozialistischen oder sozialistischen Sympathien würden zwangsweise pensioniert. In Vorarlberg, so berichtete der britische Konsul aus Innsbruck, sei die Mehrheit der Bevölkerung für den Nationalsozialismus und Dornbirn das Zentrum dieser Aktivitäten; das treffe von allem auf die seit langem antiklerikal eingestellten Geschäftsleute zu und auf die jüngeren Industriellen. Als E. H. Carr im Herbst in einer kleinen Stadt bei Linz einkehrte, verabreichte ihm der Kellner mit dem Essen „eine Dosis intensivster Nazipropaganda". Danach zog er „unter Augenzwinkern die Mitgliedskarte und das Abzeichen der Vaterländischen Front aus der Tasche und meinte, 60 Groschen im Monate wären die billigste Form politischer Versicherung, von der er je gehört habe"; 80 Prozent seiner Bekannten wären Nationalsozialisten und gleichzeitig Mitglieder der Vaterländischen Front. 1 Letztere meldete aus ganz Österreich riesige Mitgliederzahlen. Darunter befanden sich zweifellos sehr viele, die ihr aus solchen oder ähnlichen Gründen beigetreten waren, und ebenso viele, die es unter Druck getan hatten, oder um Arbeit und andere Vorteile zu erhalten. Im Frühjahr 1935 wurde Selby durch einen der Hauptvermittler zwischen der „nationalen Opposition" und der Regierung informiert, alle Verhandlungen seien eingestellt worden, weil „der zur Zeit anerkannte Naziführer, Herr Leopold", in seinem Haus in Krems unter Polizeiaufsicht stünde und es nicht verlassen dürfe. Selby hörte, es bestehe die Gefahr „einer neuen terroristischen Kampagne", da die Nationalsozialisten angeblich bereit seien, die Unabhängigkeit Österreichs anzuerkennen - „vorausgesetzt daß ihnen soviel Einfluß auf die Regierung zugestanden würde, wie er der von ihnen beanspruchten Stärke entspräche". Aber sie würden durch die Haltung der Regierung „zur Verzweiflung getrieben", und das könne zu Attentaten auf deren Mitglieder führen. Es war die alte Geschichte von den „Gemäßigten", die angeblich zu Verhandlungen und zur Anerkennung der österreichischen Unabhängigkeit bereit waren, und den „Radikalen", die gewaltsame Methoden und Terror verzogen und den Juliputsch organisiert hatten. Und wer wußte, wie stark diese Gruppen waren und welche davon von Deutschland unterstützt wurde? 193
Im Herbst 1935 schrieb der britische Konsul aus Innsbruck, daß die Kärntner „nach wie vor überzeugte Alldeutsche wären" und daß „der nationalsozialistische Glaube" in offiziellen Kreisen festen Fuß gefaßt habe. In Vorarlberg seien die Nationalsozialisten genauso aktiv, und unter ihren Führern seien Mitglieder der örtlichen Intelligenz, zum Beispiel die Lehrer der protestantischen Schule in Bregenz. In Wien wurden Plaketten zur Erinnerung an die Wiedervereinigung des Saargebietes mit Deutschland verteilt, mit der Inschrift „Die Saar hat's bewiesen, Österreich wird's beweisen". Doch in Oberösterreich beschlossen im März 1935 einige Führer der illegalen Partei, „ihre politischen Aktivitäten zu beenden und der Vaterländischen Front beizutreten"; sie rieten ihren Unterführern, sich bei den Behörden zu melden. Das wurde teilweise befolgt, und auch viele Waffen wurden abgeliefert. Aber, wie Selby mit Recht bemerkte: „Es wäre sicher verfrüht, daraus zu schließen, daß es den Anfang vom Ende der Nazitätigkeit bedeutet." Der britische Militârattaché schätzte im Herbst 1935, daß die militärischen Einheiten der Nationalsozialisten in Österreich nur etwa 5.000 Mitglieder hätten, abgesehen von den 12.000 Mitgliedern der Österreichischen Legion in Bayern. Deren Lager seien „mehr oder minder liquidiert und ein Teil der Insassen in die Reichswehr überführt worden." 2 Aus anderen Quellen wissen wir, daß andere Legionäre beim Konzentrationslager Dachau von der SS ausgebildet wurden, und die angegebene Zahl von 5.000 österreichischen SA- und SS-Mitgliedern war vermutlich eine Unterschätzung. Im Frühjahr 1936 berichtete der Konsul aus Innsbruck, die Tiroler Behörden seien auf wiederholte Versuche gestoßen, die nationalsozialistischen politischen und paramilitärischen Organisationen neu zu bilden. In Tirol habe man Organisationen der SA und der Hitlerjugend aufgedeckt, in Kärnten eine der SS, und in mehreren Ländern sei die nationalsozialistische Winterhilfe aktiv, die aller Wahrscheinlichkeit nach deutsche Unterstützung erhalte. Die Haupttätigkeit der Nationalsozialisten bestehe in der Verteilung von Flugblättern und Flugschriften und der „Verbreitung von alarmierenden und verleumderischen Gerüchten". Es werde viel Geld an Parteimitglieder verteilt, die ihre Stelle verloren hätten oder aus politischen Gründen Mangel litten. In einem weiteren Bericht erwähnte der Konsul, die Behörden hätten eine große Anzahl von Waffen, die aus Jugoslawien nach Kärnten geschmuggelt wurden, beschlagnahmt. In den Alpenländern nehme der Konflikt zwischen der Regierurig und den Nationalsozialisten an Intensität zu. Als der Konsul im April nach Wien kam, erwähnte er starke nationalsozialistische Tendenzen in der Garnison und der Polizei von Salzburg. Die Stimmung gegen die Regierung und Italien beurteilte er als „stärker als je zuvor". Im Herbst berichtete er, daß die wirtschaftliche Not in Kärnten die Menschen nach wie vor gegen die Regierung „erbittere"; die Nationalsozialisten hielten heimliche Versammlungen ab, sammelten Beiträge und veranstalteten militärische Übungen, Mitglieder der Heimwehren und der Ostmärkischen Sturmscharen seien zu ihnen übergetreten. 3 Als Hitler im März 1936 das Rheinland besetzte, berichtete die britische Gesandtschaft, die Nationalsozialisten seien „natürlich begeistert" und viele andere „im Innersten froh, daß ihre Blutsbrüder ihren Anspruch auf Gleichberechtigung durchgesetzt hätten. Wenn sie Hitlers Methoden auch nicht beschönigten, hofften sie doch 194
auf seinen Erfolg." Im August schrieb Selby über die Ergebnisse des Juliabkommens mit Deutschland. Die durch die Amnestie befreiten Nationalsozialisten seien in Linz „mit Musik empfangen und mit Blumen überschüttet worden, und die Polizei sei zu schwach gewesen, die Einhaltung des offiziellen Verbots zu erzwingen:" Ähnliche Szenen spielten sich in Innsbruck bei einer Versammlung des Deutsch-Österreichischen Alpenvereins ab. Schlimmeres ereignete sich in Wien, als die olympische Fackel auf ihrem Weg nach Berlin durch Wien getragen wurde und die Sportler aufzogen, die zu den Spielen nach Berlin gehen sollten: „Eine dichte Masse von Nazis hatten sich zwischen der B u r g . . . und der Hauptmenge der Sportler placiert." Sie unterbrachen die offiziellen Ansprachen so oft, daß man diese nicht mehr verstehen konnte, und sangen das Horst-Wessel Lied sowie „Deutschland, Deutschland über Alles". Laut Selby betrug die Zahl der seiner Meinung nach gut organisierten Demonstranten zwischen 5.000 und 6.000; es waren „hauptsächlich junge Männer und Frauen der ärmeren Volksschichten". 4 Wie eng die Beziehungen zwischen den Nationalsozialisten und der deutschen Gesandtschaft in Wien waren, zeigte sich, als die Vaterländische Front im Oktober 1936 eine Massendemonstration organisierte. Hitlers Sonderbotschafter in Wien, von Papen, äußerte den Wunsch, Schuschnigg möge bei dieser Gelegenheit „etwas Nettes" über das Juliabkommen sagen, und die Österreicher nahmen an, Papen wünsche teilzunehmen, aber er verließ Wien zu einem seiner häufigen Jagdausflüge. Als sein Gesandtschaftsrat ihn fragte, ob er der Veranstaltung beiwohnen solle, zögerte Papen „und sagte - und das ist der üble Teil der Geschichte - , er solle das besser mit Herrn Leopold besprechen", dem eben aus dem Gefängnis entlassenen Leiter der Nationalsozialisten. Leopold riet dem Mann, nicht teilzunehmen. „Die Tatsache, daß die deutsche Gesandtschaft Ratschläge, wenn nicht sogar Befehle von Herrn Leopold entgegennimmt, ist eine interessante Illustration zum Abkommen vom 11. Juli", bemerkte der erste Sekretär der britischen Gesandtschaft. Die österreichische Regierung sei „besonders verärgert über den Zwischenfall", weil sie in diesem Jahr zum ersten Mal offiziell auf dem Nürnberger Parteitag im September vertreten gewesen sei, „obgleich schon vorher bekannt war, daß Mitglieder der Österreichischen Legion an der Parade teilnehmen würden." Im Mai 1936 hörte Phipps in Berlin „aus erstklassiger Quelle", Hitler habe „seine Münchner Führer instruiert, sich aus Gewalttaten in Osterreich vollkommen herauszuhalten, wenn ihnen ihr Leben lieb sei". Das österreichische Problem müsse ganz anders gelöst werden, ohne Putsch, und „Schritt für Schritt". Und das Abkommen vom 11. Juli bedeutete sicher einen ziemlich großen Schritt in die von Hitler erwünschte Richtung. Im November berichtete die britische Gesandtschaft, seit dem Abkommen maße sich „der prodeutsche Teil der Bevölkerung der Steiermark und anderer Gegenden größere Freiheiten als vorher" an; nationalsozialistische Demonstrationen in Graz, Innsbruck und Salzburg seien „von Polizei und Gendarmerie mit der Nachsicht behandelt worden, die sie früher den Mitgliedern der Heimwehren erwiesen hätten". Der französische Gesandte in Wien sei so besorgt, daß er die Berichte der österreichischen Regierung zur Kenntnis gebracht habe. Der inkompetente Minister für Sicherheit sei entlassen worden, und man müsse abwarten, ob sein Nachfolger besseres leisten würde.5 195
1937 gab es Berichte des Konsuls aus Innsbruck über weitere „illegale" Tätigkeit der Nationalsozialisten. Man bemühe sich, die SA zu reorganisieren, und die Arbeitsämter würden dazu benutzt, Mitglieder zu werben und Geld für die Partei zu sammeln. In Innsbruck, Landeck und Hall hätten die Behörden einen Nationalsozialistischen Soldatenring entdeckt, der die Loyalität der Armee unterminieren und Anhänger unter den Soldaten werben sollte. In Kärnten würden illegale Gruppen der Partei und der Hitlerjugend „gedeihen wie zuvor", sie hätten kürzlich „neuen Auftrieb erhalten" und militärische Übungen veranstaltet. An Hitlers Geburtstag am 20. April seien auf vielen Bergen Hakenkreuzfeuer abgebrannt worden. „Die meisten Westösterreicher" unterstützten die Bemühungen der Hitlerregierung aus Sehnsucht nach einer Wiedervereinigung mit Südtirol, und diese Sehnsucht könne weder durch den Katholizismus noch durch den mancherorts vielleicht vorhandenen Wunsch, die österreichische Unabhängigkeit zu bewahren, aufgewogen werden. Die Nationalsozialisten verglichen ständig „den angeblichen Überfluß in Deutschland mit der Armut in Österreich"; obwohl sich die wirtschaftliche Lage auch in den Alpenländern etwas gebessert habe, sei „ihr pathetischer Glaube, daß in Deutschland alles gut und in Österreich alles schlecht ginge, völlig unverändert geblieben", und die Aussicht, die „Nationalen" von ihrer prodeutschen Haltung abzubringen, sei „äußerst gering". Als der Konsul Ende 1937 Klagenfurt besuchte, „taten die lokalen Nazis alles, um ihm zu beweisen, daß die Gerüchte, denen zufolge die Regierung auf dem Land an Boden gewinnt, nicht stimmten." Der Antisemitismus werde angefacht, und diejenigen, die man in bezug auf ihre Haltung zum Deutschtum für lauwarm halte, würden verleumdet und jüdischer Abstammung verdächtigt. In Kärnten seien alle sozialen Klassen „mit dem österreichischen Regime unzufrieden"; die akademischen Berufe seien voll von „begeisterten Anhängern des deutschen Kanzlers", und die Industriellen würden „mit der gleichen Zuneigung wie der treueste Nationalsozialist in Deutschland" von ihm sprechen. Es gäbe bittere Erinnerungen an die Kämpfe vom Juli 1934, und vertrauliche Beschlüsse der örtlichen Behörden würden „sofort dem deutschen Konsul mitgeteilt". Kurz, in Kärnten gebe es „zweifellos weniger Loyalität zur österreichischen Regierung als in irgendeinem anderen Land", während diese in Tirol wenigstens von der Aristokratie, der Oberschicht, den Bauern.und vielen Beamten unterstützt werde. Aber auch dort habe man neue Abteilungen der SA, der SS und der Hitlerjugend entdeckt und ebenso in Salzburg." Sogar unter den Wiener Arbeitern, so berichtete eine britische Studentin 1937, habe „der Nazismus Fortschritte gemacht", teilweise aus einer Art von Snobismus heraus; die Elektrizitätsarbeiter von Siemens neigten zum Nationalsozialismus, um zu zeigen, daß sie keine „Proletarier" wären. Ihrer Ansicht nach waren ferner Studenten, Landärzte und Zahnärzte, Ladenbesitzer und arbeitslose Intellektuelle „zum großen Teil Nazi". Im Juli fand ein Treffen österreichischer und deutscher Weltkriegs-Teilnehmer in Wels statt, bei dem die Deutschen - im Gegensatz zu den Österreichern - begeistert empfangen wurden. Laut dem Jahresbericht der britischen Gesandtschaft für 1937 „bemächtigten sich die Nazis allgemein der Leitung der Veranstaltung". Das gleiche ereignete sich bei dem winterlichen Skispringen in der Nähe von Klagenfurt, bei dem „die deutschen Teilnehmer laut beklatscht,... während die Österreicher mit 196
Schweigen bedacht oder ausgepfiffen wurden".7 Derartige Veranstaltungen boten eine ideale Möglichkeit für nationalsozialistische Propaganda. Der deutsche Nationalismus blühte in Kärnten zum mindesten seit den Kämpfen mit den Jugoslawen. 1937 wurde der sogenannte Siebener-Ausschuß gebildet, dem drei aktive Nationalsozialisten angehörten, um „die langsame Überführung illegaler nationalsozialistischer Kreise in die Legalität" vorzubereiten, wie es das österreichische Außenministerium in einer nach London übermittelten Nachricht ausdrückte. Dafür sei es „natürlich nötig gewesen, den Mitgliedern des Ausschusses eine gewisse Bewegungsfreiheit zu gewähren und ihnen Kontakte mit Mitgliedern der illegalen Bewegung zu gestatten". Man habe ihnen daher erlaubt, in der Teinfaltstraße ein Büro zu eröffnen. Der Regierung sei klar gewesen, daß das zu vielen Mißdeutungen führen würde, aber sie habe die Nachteile „als Teil des Übereinkommens" akzeptiert, „da sonst jeder Faden zum österreichischen Nationalsozialismus abgerissen wäre, was aus innen- und außenpolitischen Gründen unerwünscht gewesen wäre." Laut Mitteilung des österreichischen Außenministers war die Regierung froh über die Existenz dieses Büros, denn es erlaube der Polizei (die einen Beobachtungsposten gegenüber bezogen hatte), „die Aktivitäten und die Besucher zu überwachen". Ein Mitglied des Ausschusses war Dr. Leopold Tavs, ein Untergebener des nationalsozialistischen Leiters Hauptmann Leopold; beide wurden von der Polizei überwacht, was dadurch erleichtert wurde, daß Leopolds „gelbes Auto, ein Geschenk aus Deutschland, gut erkennbar war." Doch in der „illegalen" nationalsozialistischen Bewegung entwickelte sich Opposition gegen diesen „legalen" Kurs und die Verhandlungen des Ausschusses mit der Regierung. Einige seiner Mitglieder wurden von der Regierung empfangen und „nahmen" die Unabhängigkeit Österreichs „zur Kenntnis", ohne sie anzuerkennen. Leopold begegnete der Opposition, indem er den Gauleiter von Wien und einige seiner Untergebenen von ihren Posten entfernte, worauf zwischen den feindlichen Gruppen ein offener Konflikt ausbrach. Als die Polizei Anfang 1938 das Büro in der Teinfaltstraße durchsuchte, entdeckte sie in Tavs' Schreibtisch, wie die Times berichtete, einen detaillierten „Aktionsplan für 1938", der „die Rollen zwischen der deutschen Armee, der SS und der SA bei einem Angriff auf Österreich verteilte". Der Plan beschuldigte Schuschnigg der Nichterfüllung des Abkommens vom Juli 1936, so daß seine Einhaltung erzwungen werden müsse. Ferner hieß es darin, Deutschland solle „die vollständige Erfüllung" des Abkommens verlangen, dazu den Rücktritt der österreichischen Regierung und die Berufung eines Kanzlers, der „bereit und fähig ist, zwischenstaatliche Verträge zu erfüllen"; falls die Regierung diese Forderungen ablehne, sollten deutsche Truppen an die Grenze geschickt werden und die Nationalsozialisten volle Bewegungsfreiheit erhalten.8 Tavs, der sich als Gauleiter von Wien bezeichnete, wurde wegen Hochverrats verhaftet und erklärte, der Aktionsplan sei seine persönliche Arbeit - eine Behauptung, die die Behörden akzeptierten. Wenn die Regierung jetzt beschuldigt würde, nicht genug für die innere Befriedung zu tun, konnte sie den Plan als Beweis für die illegalen Aktivitäten des „Befriedigungs-Ausschußes" anführen. Die österreichische Regierung betonte, daß ihre Bereitschaft, „die .nationale Opposition' zu positiver Mitarbeit zu gewinnen, unverändert sei", alle Zusammenarbeit mit nationalen' Kreisen 197
aber „nach wie vor nur möglich wäre, wenn sie keine illegale Arbeit betrieben." Der Außenminister, Dr. Guido Schmidt, informierte den britischen Gesandten, sie hofften, „die deutsche Regierung würde zugeben, daß die österreichische Regierung diesen Zustand nicht länger tolerieren könne, und daß ein besserer modus vivendi gefunden werden müsse." Die Affäre Tavs, meinte er, alarmiere die Regierung nicht; „im Gegenteil, sie wäre ihr eher willkommen, weil sie die Atmosphäre reinige und beweise, daß sich die Nationalsozialisten nicht an das Abkommen von 1936 hielten, obwohl sie Österreich beschuldigten, daß es das Abkommen breche." Schmidt glaubte, „daß nur Tavs und Leopold und möglicherweise einige untergeordnete Deutsche für die hochverräterischen Dokumente verantwortlich wären, und die deutsche Regierung nichts von ihnen wußte oder sie nicht billigte", telegraphierte die Gesandtschaft nach London. Außerdem vertrat er die Ansicht, „die gemäßigten Nationalsozialisten" würden den „Radikalen" jetzt ihre Unterstützung entziehen. „Der Zwischenfall würde zu keiner gefährlichen Entwicklung führen, und Deutschland würde ihn nicht als Entschuldigung für gewaltsame Aktionen benutzen." Doch ein Beamter des Foreign Office notierte dazu: „Dr. Schmidt ist, selbst für ihn, auffallend optimistisch angesichts dieses Zwischenfalls." Und Vansittart fügte hinzu: „Ich glaube nicht, daß der Optimismus dieses Telegramms lange gerechtfertigt bleiben wird, es sei denn, wir zeigen deutlich, daß wir an Österreich interessiert sind. Ich hoffe, wir können das nächste Woche tun." 9 Der österreichische Optimismus wurde im Foreign Office nicht geteilt, aber seine Beamten waren seit längerem sehr skeptisch hinsichtlich der Überlebenschancen Österreichs gewesen. Merkwürdigerweise kam gleichzeitig mit diesen Nachrichten die Information in London an, daß Leopold in Tirol „einen englischen Faschisten" namens Spranklin getroffen und diesem von einer bevorstehenden deutschen Invasion in Österreich erzählt habe - eine Meldung, die Dr. Schmidt „als Unsinn" bezeichnete. Bald darauf wurde Spranklin von der Sonderabteilung der Londoner Polizei als häufiger Redner bei Versammlungen der British Union of Fascists identifiziert.10 Aber es wurde nie festgestellt, was seine Rolle war und warum Leopold ihn in Tirol traf, um ihm diese hochvertrauliche Mitteilung zu machen. Es ist natürlich möglich, daß Spranklin ein deutscher oder italienischer Agent war, die British Union of Fascists hatte gute Kontakte nach Italien. Die österreichische Regierung versuchte immer wieder, sich mit der „nationalen Opposition" zu verständigen, mit ihr zu verhandeln oder einen Kompromiß zu finden - Versuche, die wenig Sinn hatten, weil alle ihre Mitglieder, ob „gemäßigt" oder „radikal", den Anschluß ersehnten und treu zu Hitler standen. Um mit der anderen soliden und starken Oppositionspartei, den Sozialisten, ins Gespräch zu kommen, wurden keine solchen Anstrengungen unternommen, obgleich deren Führer bereit waren, den Kampf gegen den Nationalsozialismus zu unterstützen. Die blutige Unterdrückung der Februarrevolte verbitterte die Beziehungen noch mehr, und ein Kompromiß zwischen Regierung und Sozialisten schien so gut wie aussichtslos. Für die Heimwehr waren die „Roten" und nicht die Nationalsozialisten der wirkliche Feind; ihr Ziel war der Faschismus nach italienischem Vorbild, was jede Konzession an die Linke ausschloß - selbst Milde gegenüber den Gefangenen vom Februar. Milde Behandlung aber war das Ziel der Labour Party und der britischen Ge198
werkschaften, und sobald die Kämpfe in Wien beendet waren, sprachen Arthur Henderson und Walter Citrine, die Generalsekretäre der Labour Party bzw. der Gewerkschaften, im Foreign Office vor, um sich dafür einzusetzen. Sir John Simon versicherte ihnen, der britische Gesandte in Wien sei von ihm instruiert, „die ernste Hoffnung auszusprechen, daß man eine Politik der Milde und Befriedung befolgen würde". Aber das machte wenig Eindruck auf die österreichische Regierung. Im Herbst 1934 konzentrierten sich die britischen Bemühungen auf die Person des früheren Wiener Bürgermeisters Seitz, der in Haft gehalten wurde, aber offensichtlich keine strafbare Tat begangen hatte. Im September schickte Henderson einen Brief von Frau Seitz an das Foreign Office, in dem diese um Unterstützung für die Freilassung ihres Mannes bat. Sargent notierte, die österreichische Regierung müsse einsehen, „daß diese Inhaftierung ohne Gerichtsverhandlung in englischen politischen Kreisen eine Menge ungünstiger Kommentare hervorgerufen habe und vermutlich zu unangenehmen Fragen im Parlament und anderswo führen wird." Vensittart meinte, man müsse bei der ersten Gelegenheit „inoffiziell, aber nachdrücklich mit dem österreichischen Gesandten über das Thema reden", und das müsse „nachdrücklich" geschehen, weil Franckenstein „kein sehr aufrechter oder hervorragender Mensch" sei und seine R e gierung sonst „nur wenig von der Sache hören würde"." Am 4. Oktober 1934 sah Simon Franckenstein und teilte ihm mit, daß er „gut daran tun würde, seine Regierung vor der Wirkung der andauernden Inhaftierung von Dr. Seitz auf britische politische Kreise zu warnen". Simon erklärte, keineswegs die Absicht zu haben, sich in interne österreichische Dinge einzumischen, aber er drang in den Gesandten, „seiner Regierung mitzuteilen, daß dies eine breitere und allgemeinere Sympathie für Österreich verhindere". Franckenstein nahm das gelassen entgegen und versprach, einen Bericht darüber abzufassen. Simon schrieb auch privat an Selby; an Henderson schrieb er, er habe sich Franckenstein gegenüber sehr deutlich ausgedrückt und werde fortfahren, allen nur möglichen Druck auszuüben. Einige Tage darauf empfing Simon eine große Delegation der Labour Party und der Gewerkschaften, um die Lage der österreichischen Sozialisten zu besprechen. Der Delegation gehörten der Vorsitzende der Labour-Party, A. Robinson, der Vorsitzende der Gewerkschaften, W. Keen, und so prominente Politiker wie Attlee, Bevin und Morrison an. Simon berichtete den Delegierten, der britische Gesandte in Wien habe gemäß seinen Instruktionen mit Schuschnigg gesprochen, daß es-ratsam wäre, „die Basis seiner Regierung zu verbreitern", und der französische Gesandte habe ähnliche Vorstellungen gemacht. Dem Foreign Office sei bekannt, daß die österreichischen Sozialisten „ihre illegale Organisation neu gebildet und ihre Waffendepots großenteils behalten" hätten. Die Parteiführer seien zu keiner Verständigung mit der Regierung bereit; einige Mitglieder seien zu den Nationalsozialisten übergetreten, und sehr viel mehr zu den Kommunisten, doch die Mehrzahl bleibe der Sozialistischen Partei treu. 1936 schrieb Citrine noch einmal wegen der politischen Gefangenen in Österreich an das Foreign Office: 42 von ihnen säßen seit über einem Jahr im Gefängnis; das Datum ihres Prozesses sei schon viermal angekündigt, aber jedes Mal verschoben worden, und einige seien aus Protest in den Hungerstreik getreten. Sein Brief wurde an die Gesandtschaft in Wien weitergeleitet, aber es ist nichts darüber bekannt, ob 199
sie in der Sache etwas unternahm. Wie Vansittart im Herbst 1934 notierte, war es klar, daß die österreichische Regierung nicht beabsichtigte, eine Politik der Versöhnung gegenüber den Sozialisten zu betreiben. 12 Im Sommer 1934 stellte die Labour Party einen Antrag auf Erteilung eines Besuchervisums für Julius Deutsch, der als Präsident der Arbeitersport-Internationale zu der Hundertjahrfeier zu Ehren der „Tolpuddle Martyrs" eingeladen war und beabsichtigte, nach der Feier einige Vorträge über österreichischen Sozialismus zu halten. (Im Jahre 1834 waren die „Tolpuddle Martyrs" zu sieben Jahren Verbannung verurteilt worden, weil sie als Bedingung für den Beitritt zu einer Arbeiterloge einen Eid abverlangt hatten.) Nun fragte das Home Office beim Foreign Office an, ob das Visum mit der Auflage erteilt werden solle, daß Deutsch sich nicht politisch betätigen dürfe. Ε. H. Carr war der Ansicht, es sei unnötig, sich dem Odium einer solchen Bedingung auszusetzen, denn „die österreichische Frage und das Schicksal der österreichischen Sozialisten erregten nur in sehr kleinem Kreis Interesse", und es werde keinerlei „Begeisterung für Dr. Deutsch und seine Vorträge" geben. Aber Vansittart widersprach: „Deutsch ist anscheinend Kommunist... Ich sehe keinen besonderen Grund, ihn hereinzulassen, abgesehen natürlich davon, daß die Labour Party verärgert würde . . . Wir haben kein Interesse daran, diese alten, weit entfernten Dinge über Österreich aufgerührt zu sehen . . . Wir werden unseren Einfluß in Österreich nicht verstärken, wenn wir Dr. Deutsch hereinlassen, um aufreizende, wenn auch zum Teü erfolglose Reden zu halten." Er schlug vor, das Visum auf wenige Tage zu beschränken und nur ein oder zwei zusätzliche Tage zu bewilligen: „Damit würden wir den wichtigsten Teil des Antrags der Labour Party bewilligt haben, und es wäre unnötig, Bedingungen für die Vorträge zu stellen, da es keine Zeit, oder jedenfalls nur wenig Zeit dafür gäbe." Simon war einverstanden und das Home Office würde entsprechend unterrichtet. Bald darauf sah Vansittart Franckenstein, der gegen die Erteilung des Visums war, und erläuterte ihm, daß durch eine Ablehnung des Antrages der Labour Party „zweifellos beträchtliche Unruhe entstanden wäre und das könnte Veranlassung zu antiösterreichischen Äußerungen in gewissen Kreisen geben." Deutsch würde wahrscheinlich ein oder zwei Reden halten, aber in der ihm zugestandenen sehr kurzen Frist bleibe ihm keine Zeit für viele Reden. Sein Visum sei nur für ein paar Tage gültig, und selbst vom österreichischen Standpunkt aus sei es viel besser, seinen Antrag zu genehmigen. 13 Mit „alten, weit entfernten Dingen" meinte Vansittart anscheinend die Februarrevolte, die sechs Monate zuvor grausam unterdrückt worden war. Seine Behauptung, Deutsch sei Kommunist, war ebenso merkwürdig und zeigte, wie politisch einseitig der höchste Beamte des Foreign Office dachte. Die ganze Geschichte machte dem Foreign Office wenig Ehre. Bald schickte die britische Gesandtschaft Berichte über illegale Tätigkeit der Linken nach London. Schon im April 1934 informierten Leute, die „viel mit Hilfsarbeit unter Sozialisten zu tun hatten", Selby über aktive kommunistische Propaganda in Wien und die Bildung von „terroristischen Gruppen", die aus Männern bestünden, die „aus Verzweiflung und aufgrund der Propaganda gegen die früheren sozialistischen Führer" zu den Kommunisten gegangen seien. 200
Einige Wochen darauf berichtete Selby über „das Anwachsen eines echten Kommunismus - oder eines revolutionären Sozialismus, der kaum davon zu unterscheiden sei - unter den sozialistischen Parteigängern". Mitglieder dieser Gruppen seien junge Menschen, „erfüllt von Haß und Bitterkeit und voller Ungeduld, die sich auf die anerkannten sozialistischen Führer im Exil in der Tschechoslowakei ebenso bezieht wie auf die relativ gemäßigte Haltung, die das sozialistische ,rosa' Wien zum Gegner des,roten' Moskau machte". So habe der Kommunismus, in Österreich Fuß gefaßt "als Ergebnis der Vernichtung des Sozialismus, mit dem ihn Österreicher anderer politischer Überzeugung" fälschlicherweise verwechselt hätten. Im August 1934 stellte ein Memorandum des ersten Sekretärs der Gesandtschaft fest; anstelle der „relativ harmlosen österreichischen Sozialisten von Gestern" sehe sich die Regierung jetzt „einer gefährlichen Mischung aus revolutionärem Marxismus, wie er von Dr. Bauer gepredigt wird", gegenüber, und angeblich stehe „Sowjetgold" hinter ihm. Doch glücklicherweise würden die einfachen Mitglieder „durch Klugheit und Not gezwungen, einen Kompromiß selbst mit der jetzigen Regierung zu suchen", wenn diese nur intelligent genug wäre, die verhafteten gemäßigten Sozialisten aus der Haft zu entlassen und „faschistische Justiz mit österreichischer Milde und gesundem Menschenverstand zu kombinieren". Aber die Zeit dränge, und die gemäßigten Führer würden ihre Anhänger vielleicht nicht mehr lange daran hindern können, zu Dr. Bauer und Dr. Deutsch zu gehen, die auf Seiten der Revolutionären Sozialisten stünden. Aus Moskau telegraphierte der britische Botschafter die unwahrscheinliche Nachricht, daß Bauer dort eingetroffen sei, um mit der Komintern über mögliche Zusammenarbeit zu verhandeln.14 Die Gesandtschaft war anscheinend gut über die Differenzen unter den Sozialisten informiert, vermutlich durch Kontakte mit gemäßigten Führern wie Danneberg, Pollak oder Tandler, deren Namen in dem Memorandum genannt wurden. Im Oktober 1934 berichtete die Gesandtschaft über die „illegale Propaganda" der revolutionären Sozialisten. Laut einem ihrer Führer glaubten sie, sie könnten „die Partei langsam wieder aufbauen". Aber ihre Tätigkeit werde durch die Angst gehemmt, daß „sie den Weg für einen Nazisieg ebnen könnten"", wenn sie die Regierung zu sehr schwächten. Die Gesandtschaft berichtete auch, die Matrizen für á\e Arbeiter-Zeitung würden aus Brünn nach Wien geschmuggelt, wo wöchentlich 20.000 Exemplare der Zeitung gedruckt würden; eine Ausgabe sei von den Behörden beschlagnahmt worden, die nächste würde daher in einer anderen Druckerei hergestellt werden. Nach der Unterzeichnung des deutsch-österreichischen Abkommens vom Juli 1936 erwähnte die Gesandtschaft, die „vereinte Revolutionärsozialistische und Kommunistische Partei" (sie) sei darüber „äußerst entrüstet" - in Wirklichkeit gab es natürlich zwei getrennte Parteien, die gelegentlich zusammenarbeiteten. Der Jahresbericht der Gesandtschaft für 1937 stellte richtiger fest, es gäbe „eine akute Meinungsverschiedenheit" zwischen den beiden Parteien. Während die Kommunisten für Zusammenarbeit mit den offiziellen Gewerkschaften seien, um in ihnen Einfluß zu gewinnen, seien die Revolutionären Sozialisten „dogmatischer oder vorsichtiger" und darauf bedacht „genaue Kontrolle über jede Tendenz auszuüben, die zu einer Versöhnung zwischen der äußersten Linken und der Regierung führen könnte". Auf 201
jeden Fall arbeiteten viele Sozialisten innerhalb der offiziellen Gewerkschaften, um Positionen zu erobern und später freie Wahlen zu erreichen. Die Berichte betrafen im allgemeinen nur Wien und enthielten so gut wie nichts über die anderen Länder; nur für Kärnten wurde starke sozialistische Opposition erwähnt, „vor allem unter Handwerkern" 15 Da es in Graz und Linz keine britischen Konsuln gab, läßt sich das Fehlen von Informationen vermutlich daraus erklären. Im September 1934 bemerkte Vansittart, Schuschnigg habe vor Journalisten erklärt, er sei „bereit, Frieden mit den Sozialisten zu schließen, sobald die Propaganda der emigrierten Sozialisten aufhöre"; aber er habe hinzugefügt, Propagandamaterial und Waffen würden aus der Tschechoslowakei nach Österreich geschmuggelt. Vansittart war der Meinung, daß diese Propaganda fortgesetzt würde, daher könne „Dr. Schuschniggs Politik kaum Erfolg haben". Er befürchtete auch, daß „die sozialistische Reaktion" darauf sein könnte: „Wenn sie sowieso verfolgt würden, könnten sie ebensogut unter dem großen Verfolger, Nazideutschland, leiden wie unter dem kleinen". 16 Aber diese Vermutung war falsch. Die österreichischen Sozialisten waren sich völlig im klaren darüber, daß der Terror in Hitlerdeutschland ein vollkommen anderer war als der unter Schuschnigg, und sie konnten das in den kritischen Wochen des März 1938 beweisen.
Anmerkungen 1 2
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Selby an Simon, 18. September, Ian Henderson an Selby, 17. August, und Bericht. Carrs, 14. Oktober 1934: FO 120, Bd. 1079, FO 371, Bd. 18.355, Fo. 97, Bd. 18358, Fo. 341. Selby an Simon, 4. März und 24. April, Henderson an Selby, 1. Dezember und Memorandum Major Benficlds, 28. Oktober 1935: FO 371, Bd. 19481, Fo. 140 f., 201 f., Bd. 19482, Fo. 171 f., Bd. 19485, Fo. 25 f. Henderson an Selby, 5. April, 1. Mai, 17. Juni und 27. November 1936: FO 371, Bd. 20361, Fo. 66, 94, 199, Bd. 20362, Fo. 335. Mack an Eden, 16. Mär/, Selby an Eden, 13. April und 3. August 1936: FO 371, Bd. 20362, Fo. 81, Bd. 20363, Fo. 304 ff., FO 120, Bd. 1107. Mack an Eden, 23. Oktober, Phipps an Foreign Office, 13. Mai, und Mack an Eden, 6. November 1936: FO 120, Bd. 1108, FO 371, Bd. 20362, Fo. 117, 325 f. Der neue Minister für Sicherheit war Odo Neustädter-Stürmer, ein Anhänger der Heimwehr. Henderson an Selby, 19. November 1936, 8. Mär/., 16. Mai, 21. Juli, 14. September, 13. Oktober, 28. November und 12. Dezember 1937: FO 371, Bd. 20364, Fo. 89, Bd. 21115, Fo. 132 ff., 161 f., 232 f., Bd. 21116, Fo. 275 ff., 406 l'I., Bd. 21118, Fo. 182 f., FO 120, Bd. 1132. Selby an Sargent, 11. Mai 1937, „Austria. Annual Report, 1937", und M. Palairet an Eden, 14. Februar 1938: FO 120, Bd. 1123, FO 371, Bd. 22320, Fo. 176, Bd. 22311, Fo. 162. Österreichisches Außenministerium an Franckenstein, 27. Januar, Palairet an Eden, 29. Januar 1938: FO 371, Bd. 22310, Fo. 200 f., 215; The Times, 14. Februar 1938. Österreichisches Außenministerium an Franckenslein, 27. Januar, und Palairet an Eden, 29. Januar 1938, mit Notizen von J. Nicholls und Vansitlart, 31. Januar und 4. Februar 1938: FO 371, Bd. 22310, Fo. 201 ff., 217,191 ff. Palairet an Eden, 29. Januar, und Special Branch Metropolitan Police an Home Office, 7. März 1938: FO 371, Bd. 22310, Fo. 195, Bd. 22319, Fo. 186. Manchester Guardian, 19. Februar 1934; Henderson an Simon, 27. September, mit Notizen von Sargent und Vansitlart, 29.-30. September 1934: FO 371, Bd. 18368, Fo. 51 ff. Simon an Selby, 4. Oktober, und an Henderson, 5. Oktober, Notiz Vansittarts, 11. September 1934,
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und Cilrinc an Eden, 3. Februar 1936: FO 371, Bd. 18.368, Fo. 37, 77 ff., FO 800, Bd. 291. Fo. 379, 391 f., FO 120, Bd. 1109. E. W. Cooper, Home Office, an Carr, 14. August, mit Notizen von Carr und Vansittart, 14.15. August, Carr an Cooper, 22. August, und Notiz Vansittarts vom 30. August 1934: FO 371, Bd. 18368, Fo. 106 ff., 164,167 f. Selby an Simon, 27. April und 28. Mai, Memorandum Hadows, 18. August, und Lord Chilston an Foreign Office, Moskau, 2. August 1934: DBFP, 2. Serie, VI, Nr. 411, S. 665, FO 371, Bd. 18351, Fo. 373, Bd. 18355, Fo. 76, Bd. 18354, Fo. 11. Memorandum Hadows, 30. Okiober 1934, Mack an Eden, 18. Juli 1936, „Austria. Annual Report for 1937", und Henderson an Mack, 28. November 1937: FO 371, Bd. 18368, Fo. 97, Bd. 20363, Fo. 269, Bd. 22320, Fo. 170 f., Bd. 21118, Fo. 183. Vansittart an Simon, 11. September 1934: FO 800, Bd. 291, Fo. 379 (Simon Papers).
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IX. Das Ende der österreichischen Unabhängigkeit
Am 4. Februar 1938 wurde von Ribbentrop anstelle Neuraths zum deutschen Außenminister ernannt und von Papen, Hitlers Sonderbotschafter, aus Wien zurückgerufen. Gleichzeitig wurden drastische Veränderungen in der Befehlsstruktur der deutschen Streitkräfte eingeführt. Der Oberbefehlshaber des Heeres wurde entlassen, und Hitler selbst übernahm die Ausübung des Oberbefehls über die gesamten Streitkräfte durch das neugeschaffene Oberkommando der Wehrmacht, das mit ihm hörigen Generalen besetzt wurde. Einige Tage darauf telegraphierte der neue britische Gesandte in Wien, Michael Palairet, nach London, die österreichische Regierung sei über die Ernennung Ribbentrops, der „seine" Berliner Karriere mit einem dramatischen Schlag beginnen könnte", beunruhigter als über die militärischen Veränderungen. Denn sie glaube nicht, „daß die Führer der Armee dem Kanzler Widerstand entgegengesetzt hätten, auch vor den Veränderungen nicht, wenn seine Befehle ihnen vielleicht auch zuwider sein möchten." Militärische Kreise in Wien seien angesichts des Verbleibens von General Beck als Generalstabschef „sehr beruhigt", weil dieser ihnen versichert habe, er werde sich „jedem militärischen Abenteuer in Österreich widersetzen". Im Mai 1937 hatte Beck in der Tat ein Memorandum verfaßt, das sich gegen eine militärische Intervention in Österreich aussprach. Aber wie und wann hatte er die Österreicher davon unterrichtet? Am 11. Februar wurde Palairet „streng vertraulich" mitgeteilt, daß Schuschnigg und sein Außenminister Dr. Schmidt am folgenden Tag Hitler in Berchtesgaden treffen würden. Als Palairet Schmidt fragte, ob ihnen dort nicht „unangenehme Überraschungen in Form von unannehmbaren Forderungen bereitet werden könnten", wurde das von Schmidt bestritten. Es sei im voraus vereinbart worden, daß das Treffen unter keinen Umständen die Lage verschlimmern dürfe. Er wisse nicht, welcher Linie die Diskussionen folgen würden, aber er glaube, daß ihr „Resultat eine allgemeine Bekräftigung des Abkommens vom 11. Juli (1936) sein würde, und ein Beschluß, dieses gut funktionieren zu lassen". Österreich werde nichts akzeptieren, was es nicht wolle, und er erwarte, daß die „Nazikreise außerordentlich unzufrieden" sein würden. Palairet war der Meinung, das gleiche würde auf die regierungstreuen Kreise zutreffen. Obgleich er Schmidts „zuversichtlichen Optimismus" nicht teilte, war er überzeugt, daß Schuschnigg die Einladung nicht angenommen hätte, wenn er eine Gefahr für die österreichische Unabhängigkeit befürchtet hätte. Der französische Gesandte in Wien hielt das Treffen für ein „betont riskantes Unternehmen, das aber gut ausgehen könne". Die Österreicher hofften auf eine deutsche Erklärung gegen die illegale Tätigkeit in Österreich und würden dafür die Ernennung eines Nationalsozialisten zum Minister anbieten. Hitler habe „in entscheidender Form" angefragt, ob sie beabsichtigten, das Abkommen vom 11. Juli einzuhalten oder nicht. Für den Fall einer Ablehnung der Einladung habe er angekündigt, vorläufig keinen deutschen Gesandten nach Wien zu entsenden. 1 205
Nach seiner Rückkehr aus Berchtesgaden gab Schmidt gegenüber Palairet zu, daß die Besprechungen „äußerst schwierig" gewesen seien. Die österreichischen Zugeständnisse waren sehr weitreichend: die Ernennung Seyß-Inquarts zum Minister für Inneres und öffentliche Sicherheit, die Aufnahme von Nationalsozialisten in die Vaterländische Front (solange sie die österreichische Verfassung respektierten), Amnestie für verhaftete Nationalsozialisten und die Wiedereinsetzung entlassener nationalsozialistischer Beamter. Als Palairet fragte, ob die beiden ersten Zugeständnisse nicht gefährlich und ein „erster Schritt zur vollständigen Befriedung" wären, wurde das von Schmidt bestritten; Seyß-Inquart sei wirklich für Österreichs Unabhängigkeit und ein gläubiger Katholik. Ursprünglich seien Hitlers Forderungen viel weiter gegangen, und die Befehlshaber der deutschen Streitkräfte seien anwesend gewesen. Hitler habe versprochen, die österreichische Verfassung anzuerkennen und alle illegale Propaganda zu unterdrücken. Doch Palairet schrieb, Schmidts Optimismus sei „schwer erschüttert". Er habe zugegeben, daß die Lage kritisch sei, und gemeint, Großbritannien und Frankreich würden nichts für die Rettung Österreichs tun, und Italien „könne höchstens sein Mißvergnügen an einer deutschen Aktion bekunden"; Österreich könne nicht „durch fremde Bajonette gerettet werden". Palairet hörte auch, die Besprechungen seien „drohender Natur" gewesen. Schuschnigg habe es nicht ablehnen können, nach Berchtesgaden zu gehen, und eine Ablehnung von Hitlers Forderungen hätte einen Zustand herbeigeführt, der „schlimmer gewesen wäre als der vor dem Abkommen" vom 11. Juli. Palairet hielt Schuschniggs Position für „stark geschwächt". Aber als er den Kanzler bei einer Gesellschaft traf, behauptete dieser, „er sei nicht besorgt und habe eine Atempause gewonnen"; er sei mit Drohungen empfangen worden und habe nur das Minimum zugestanden. Hitler habe ihm gegenüber erwähnt, daß Lord Halifax, der Lord President of the Council, Deutschlands Einstellung zu Österreich und der Tschechoslowakei voll billige - was von Palairet sofort bestritten wurde.2 Der Wiener Korrespondent der Times war der Ansicht, das neue Abkommen würde zu Schuschniggs Sturz führen und sei „der Anfang vom Ende". Er warnte: „Jede Erlaubnis für die österreichischen Nazis, in gleicher Weise wie die Monarchisten zu werben und zu demonstrieren,... wäre in den Augen regierungstreuer Kreise und der Antinazis im allgemeinen nur sehr schwer zu beschränken." Doch ein Leitartikel der Times stellte im Unterschied dazu fest, es sei unnötig „mit einem Abkommen zu rechten, mit dem anscheinend der Führer; der Duce und Herr von Schuschnigg alle einverstanden wären . . . Die beiden Hauptunterhändler von Berchtesgaden verdienten die Glückwünsche ihrer Völker zu einer Großtat, von der man annehme, sie garantiere die Bedürfnisse beider Seiten."3
Der Leitartikel des Manchester Guardian war skeptischer: „Die deutsche Einstellung zu Österreich ist immer eindeutig gewesen. Österreich ist geographisch und rassisch ein Teil von Großdeutschland und muß ihm früher oder später einverleibt werden." Deutschland würde höchstens zugestehen, „daß die Vereinigung später erfolgen könne, und daß zu ihrer Beschleunigung keine Methoden angewandt würden, die anderswo unangenehme Resultate erzeugten." Anfang 1938, schrieb die Zeitung, seien die deutsch-österreichischen Beziehungen sehr gespannt gewesen, vor allem als bei der polizeilichen Durchsuchung des nationalsozialistischen Büros in Wien kompro206
mittierende Urkunden gefunden wurden. Italien sei nervös geworden und habe in Bertin freundliche Repräsentationen gemacht: „Die .friedliche Durchdringung' Österreichs durch die Nazis, die zur Zeit so erfolgreich ist, muß Signor Mussolini fast so sehr beunruhigt haben wie Dr. Schuschnigg." Der Wiener Korrespondent der Zeitung schrieb, Hitler habe „nur eine .Kleinigkeit' verlangt.- die Berufung von Dr. Seyß-Inquart in das Kabinett als Minister für öffentliche Sicherheit". Das bedeute, „den Nazis die Polizei auszuliefern, was wiederum gleichbedeutend sei mit Anerkennung der illegalen Naziorganisationen". Hitler habe auch gesagt, daß es „in Österreich Unruhen geben würde", falls seine Forderung abgelehnt werde. Ein Kompromiß sei vielleicht noch möglich, aber „über dem unglücklichen Österreich hänge ein Schwert".4 Auch im Foreign Office hielt man die Kontrolle über die Polizei für „des Pudels Kern". Am 15. Februar fand im Zimmer des Außenministers eine Besprechung statt, an der Eden, Vansittart, Cadogan, Sargent und Ingram teilnahmen. Es wurde ein Telegramm verfaßt, das einen Kompromiß vorschlug, dem zufolge Seyß-Inquart zum Innenminister ohne Kontrolle über die Polizei ernannt werden sollte. Der Wortlaut wurde durch Premierminister Chamberlain gutgeheißen und noch am gleichen Tag nach Wien gesandt. Palairet antwortete sofort, die österreichische Regierung habe beschlossen, den Text des Abkommens zu akzeptieren. Sie habe ihre Antwort bis zum Abend geben müssen und „wirklich keine Alternative gehabt". Der französische Gesandte meinte, es sei unmöglich, sich für die Ablehnung einzusetzen, da Frankreich „Österreich nichts zu bieten" habe; Schuschnigg habe ihm erzählt, „der Tag von Berchtesgaden wäre der schlimmste seines Lebens gewesen; Herr Hitler habe wie ein Verrückter geredet und offen seine Absicht geäußert, Österreich zu absorbieren". Anscheinend habe Schuschnigg „volles Vertrauen zu Seyß-Inquart, aber daß Deutschland auf dessen Ernennung bestünde, deute an, daß er in Wirklichkeit Nazi ist, was wir auch aus anderen Quellen hören." Wie Palairet meinte, war Schuschniggs Position „sehr stark erschüttert, da er sich nicht auf volle Unterstützung durch irgendeine Gruppe von Österreichern verlassen könne". Es sei aber außerordentlich unwahrscheinlich, daß er zurücktreten werde.5 Was die Person des neuen Innenministers betraf, so berichtete die Gesandtschaft, daß Schuschnigg „dem Buchstaben nach recht hat, wenn er sagt, Seyß-Inquart sei kein überzeugter Nazi". Aber das wäre ein Beispiel für ein „Spielen mit Worten", wofür er unter seinen Freunden bekannt sei. Die Österreicher beschrieben Seyß-Inquart als „nationalgesinnt", und er habe „die Unterstützung und Hoffnung der ganzen ernsthaften .nationalistischen' Bewegung" hinter sich, nur mit Ausnahme „der unverantwortlichen, .putschliebenden' radikalen Jugend"; er würde sich für engste Zusammenarbeit mit Deutschland einsetzen, „und es sei daher ganz sicher, daß er ,Hitlers Mann' wäre." In den österreichischen Ländern werde seine Ernennung „eine ungeheure Wirkung" haben. Am 19. Februar teilte der politische Direktor des österreichischen Außenministeriums einem britischen Diplomaten mit, Schuschnigg habe in Berchtesgaden nur das Minimum zugestanden. Hitler habe auch die „Angleichung" der österreichischen Armee an die deutsche gefordert, ebenso die Verbindung der österreichischen und deutschen Finanz- und Wirtschaftssysteme - demnach mehr als nur eine Zollunion. 207
Wenn Schuschnigg keine Konzession gemacht hätte, hätte Hitler möglicherweise Truppen nach Österreich geschickt, „um Ruhe und Ordnung wiederherzustellen". Der Vaterländischen Front beitretende Nationalsozialisten würden dort ebenso behandelt werden wie andere in ihr vertretenen Gruppen, zum Beispiel Legitimisten oder Arbeiter, und das Abhalten von Versammlungen werde für alle sehr beschränkt werden. Als er gefragt wurde, wie die Polizei auf Seyß-Inquarts erste Ansprache, in der er sie als „deutsche Menschen" anredete, reagiert habe, antwortete der Direktor, in der Polizei sei die Stimmung „schlecht, vor allem in den Ländern"; alle 45 nationalsozialisten, die man wegen Demonstrationen beim Skispringen nahe Klagenfurt verhaftet habe, seien entlassen worden und würden nun ihre bisherigen Bewacher verhöhnen. Er fügte hinzu, es sei „nicht im britischen Interesse, daß Deutschland die Einverleibung Österreichs gestattet wird, denn sie würde unvermeidlich zur Einverleibung Böhmens und dann zur Vorherrschaft auf dem Balkan führen und Deutschland im Süden zum Mittelmeer bringen." Am gleichen Tag informierte Schuschnigg den französischen Gesandten, daß die Vaterländische Front in Zukunft drei Gruppen - Nationalisten, Legitimisten und Arbeiter - umfaßen werde und alle verpflichtet sein würden, die „korporative christliche Verfassung" anzuerkennen. Die Haltung der Arbeiter mache ihn sehr zuversichtlich, und er glaube, er würde eine große Mehrheit erhalten, falls ein Plebiszit stattfinde. Doch Palairet hielt ein solches „selbstverständlich" für unmöglich und meinte, die Wiener Bevölkerung sei „sehr entmutigt und alarmiert". 6 Es war zum ersten Mal, daß ein Plebiszit in den Berichten erwähnt wurde. In London suchte inzwischen der österreichische Chargé d'Affaires das Foreign Office auf und teilte Sargent mit, er sei instruiert worden, nichts über den „extremen Druck, dem Schuschnigg von Hitler ausgesetzt wurde", zu sagen. Das sei symptomatisch für den Regimewechsel am Ballhausplatz und er befürchte, es sei „das letzte Mal, daß die österreichische Gesandtschaft in London auf der alten freundschaftlichen und vertraulichen Basis mit dem Foreign Office verhandelte". In Zukunft würden er und Franckenstein „mehr oder minder als Sprachrohr der deutschen Regierung auftreten", und er neige dazu, es der britischen Regierung anzulasten, daß sie Schuschnigg nicht geholfen habe. Sargent antwortete, sie hätten von dem Berchtesgadener Treffen erst einen Tag vorher gehört, obgleich es mindestens eine Woche lang zur Debatte gestanden sei. Am 19. Februar schrieb Sargent: „Ich glaube, wir müssen von der Voraussetzung ausgehen, daß Österreich verloren ist, trotz aller mutigen Reden Schuschniggs". Hitler sei seit dem Besuch von Lord Halifax überzeugt, damit rechnen zu können, daß „wir nichts gegen die friedliche Durchdringung Österreichs unternehmen würden. Das ist, wie ich nicht bezweifle, einer der Faktoren gewesen, die Hitler dazu ermutigt hat vorzustoßen,... um uns so vor vollendete Tatsachen zu stellen." Das einzige, was die Situation teilweise ändern könne, "wäre, daß Italien zusammen mit uns handeln würde, aber davon ist nichts zu spüren." Eine Warnung, wie sie die Franzosen vorgeschlagen hätten, sei sinnlos: „Sie würde höchstens Schuschnigg und seine Freunde grundlos ermutigen, den sinnlosen Kampf fortzusetzen, in der falschen Hoffnung, daß sie wirklich auf uns rechnen könnten." Am gleichen Tag besprach auch das britische Kabinett die Lage in Österreich, 208
und seine Beschlüsse waren ebenso pessimistisch. Chamberlain erklärte: „Herr Hitler hat den österreichischen Kanzler aufs brutalste behandelt, ihn nach Berchtesgaden zitiert und dort mit seinen Generälen konfrontiert, dazu, wie es gerüchtweise hieß, mit Truppenbewegungen und Drohungen, was im Falle einer Ablehnung geschehen würde." Mussolini sei zum Skilaufen gefahren, und als Schuschnigg an ihn appellierte, habe er keine Antwort erhalten; es wurde ihm mitgeteilt, Mussolini habe Hitler angerufen, um ihn zu überreden, „eine gemäßigte Haltung einzunehmen, aber ohne Erfolg": Schuschnigg möge „zu den bestmöglichen Bedingungen abschließen". Europa, fuhr Chamberlain fort, habe „eine weitere Lehre über die Methoden erhalten, mit denen Deutschland seine Ziele verfolge. Man könne kaum glauben, daß das der letzte Vorstoß sei oder daß das Ergebnis nicht die Absorbierung Österreichs und wahrscheinlich eine Aktion in der Tschechoslowakei sein würde."7 Was Chamberlain nicht sagte, war, was seine Regierung für Österreich zu tun beabsichtige. Aus Wien berichtete die Times über Anzeichen von Unruhe unter den Nationalsozialisten. Sie „würden die Fenster jüdischer Geschäfte zerbrechen, Telefonzellen (die von einer jüdischen Firma unterhalten werden) beschädigen, monarchistische Versammlungen stören usw." Durch diese Aktionen solle die Drohung unterstrichen werden, „daß eine neue Zeit wirklichen Terrorismus beginnen" würde, wie 1934, wenn Österreich die letzten deutschen Forderungen nicht annehme. Der frühere Herausgeber der Times, Wickham Steed, wurde aus Wien informiert, daß führende Katholiken versuchten, „der Nazifizierung Österreichs vereinten Widerstand entgegenzusetzen". Sie bestünden auf der Versöhnung der Regierung mit den gemäßigten Sozialisten und Gewerkschaften, aber Schuschnigg sei dagegen und ebenso Bischof Hudal in Rom, der stark mit dem Nationalsozialismus sympathisiere. Im Vatikan sagte man zum britischen Gesandten, Berchtesgaden sei „eine Katastrophe", zu der „deutsche Arroganz, italienische Torheit und englisch-französische Schwäche" beigetragen hätten; jetzt würden die Nationalsozialisten mehr oder minder freie Bahn in Österreich haben. In Wien erfuhr Palairet, es sei unwahrscheinlich, daß die österreichische Regierung die Mächte um Schutz bitten werde. Sie glaube, daß die Mächte die Gefahr erkannt hätten, und hoffe, daß die Verhandlungen zwischen London, Paris und Rom „die österreichische Unabhängigkeit weniger ungewiß machen würden; ohne auswärtige Hilfe könne sie jeden Augenblick zerstört werden." Am 23. Februar telegraphierte Palairet, die Vaterländische Front sei überzeugt davon, daß ein sofortiges Plebiszit die österreichische Position festigen und eine große „Anti-Nazi-Mehrheit" ergeben werde. Doch im Foreign Office notierte ein Beamter, die Idee sei „gänzlich undurchführbar". Ein zweiter Beamter stimmte zu und warnte: „Die Deutschen würden - so sie es verhindern könnten - nie und nimmer ein Plebiszit zulassen, in dem das österreichische Volk seine Meinung frei und objektiv äußern könnte." Vansittart nahm gleichfalls an, „daß Deutschland gegen ein Plebiszit sein und dessen Ergebnis wahrscheinlich nicht beachten würde. Doch ein erfolgreiches Plebiszit ist so ziemlich die einzige Methode, mit der die österreichische Regierung ihre Position stärken könne". Wenn sie ein solches als undurchführbar ablehne, brauche man nichts weiter darüber zu sagen.8 Am 24. Februar sprach Schuschnigg vor dem österreichischen Parlament. Er 209
nannte Zahlen über den wirtschaftlichen Fortschritt des Landes und gab zu, daß man „keine Wunder" vollbracht habe. „Seine ganze Rede", berichtete Palairet, „war faktisch eine Bekräftigung von Österreichs Recht und Entschlossenheit, unabhängig zu bleiben" - wie es von Deutschland in dem Abkommen vom Juli 1936 anerkannt worden war. „Der donnernde Beifall auf seine Worte ,Bis hierher und nicht weiter' zeigte, daß sie als Erklärung aufgefaßt wurden, weitere Konzessionen an Deutschland würden nicht gemacht werden." Vor dem Parlament demonstrierten die Massen für „Österreich". Palairet fügte hinzu: „Ich glaube, niemand konnte die Rede ohne Bewegung anhören und nicht fühlen, daß der Mann, der sie hielt, nicht nur entschlossen war, die Integrität und Unabhängigkeit seines Landes zu bewahren, sondern auch davon überzeugt war, daß er es könne. Ich glaube, seine ruhige Sicherheit wird im Lande und außerhalb eine erhebliche Wirkung ausüben, und es scheint, als würde ihm diese große Rede zu wirklicher Popularität in diesem Land verhelfen." 9
Aber die Stimmung in Wien, berichtete der Manchester Guardian, blieb pessimistisch. Neutrale Beobachter befürchteten, „die Anwesenheit von Dr. Seyß-Inquart in der Regierung würde einen zersetzenden Einfluß auf das Regime ausüben und den Nationalsozialismus heimlich ins Land bringen". Die Führer der Vaterländischen Front seien noch immer davon überzeugt, „daß Österreichs Zukunft trotz der Anwesenheit eines Nazis in der Regierung an einer so wichtigen Stelle sicher sei - oder daß zumindest wertvolle Zeit gewonnen wurde." 10 Doch vom 19. Februar an berichteten die englischen Zeitungen über nationalsozialistische Demonstrationen in vielen Teilen Österreichs. In Linz wurden die aus der Haft entlassenen Nationalsozialisten jubelnd empfangen. Sie kamen „in blumenbedeckten Autos an und wurden mit dem Horst-Wessel-Lied und ,Heil Hitler'-Rufen begrüßt". Die Polizei sei passiv geblieben. An den folgenden Tagen fanden Massendemonstrationen in Graz statt. Laut dem Manchester Guardian „marschierten SA-Leute in voller Uniform durch die Straßen und fuhren in Lastwagen mit riesigen Hakenkreuzfahnen. Sie grüßten mit erhobenem Arm und schrien Nazilosungen. ,Wem verdanken wir unsere Freiheit?' rief die Menge. .Adolf Hitler', war die Antwort, die tausende von Demonstranten vor dem Dom, dem Rathaus und dem bischöflichen Palais gaben." 11
Am 27. Februar berichtete der Korrespondent der Zeitung aus Graz, der Besucher „glaube, in einer deutschen Nazistadt zu sein. Auf der Straße tragen die meisten das Hakenkreuzzeichen, einige nur als Metallabzeichen, andere das offizielle deutsche Parteiabzeichen. Junge Burschen grüßen einander mit dem Hitlergruß, und einige davon singen das Horst-Wessel-Lied." Leute mit Hakenkreuzabzeichen und andere mit dem Abzeichen der Vaterländischen Front „gingen friedlich nebeneinander durch die Straßen und unterhielten sich sogar miteinander. Es ist bestimmt keine revolutionäre Atmosphäre." Auf dem Rathaus wehe mit Zustimmung des Bürgermeisters eine große Hakenkreuzfahne. Ein anderer britischer Korrespondent stellte fest, Graz sei „ein Meer von Hakenkreuzen". Doch als er sich wunderte, wie die örtlichen Nationalsozialisten plötzlich so stark werden konnten, wurde ihm von einem Parteimitglied mitgeteilt, daß die SA große Verstärkungen aus Innsbruck, Klagenfurt und Salzburg erhalten habe und Graz „zur Bresche in der österreichischen Verteidigungs210
Stellung" gemacht werden müsse. Man habe Polizei und Truppen geschickt, um die Ordnung aufrechtzuerhalten.12 Auch in Wien, berichtete die Times, „marschierten Tausende mit Fackeln, schrien nach Hitler und für Einheit mit Deutschland". Ein Redner, rief „Wir haben doch gewonnen", und sprach vom „Ende einer langen Zeit des Leidens und der Unterdrückung".13 Doch der Präsident der Österreichischen Nationalbank schrieb an einen Geschäftsfreund in London, „Schuschnigg halte seine Stellung und werde der deutschen Vorherrschaft nicht weichen". Die Zeitungsberichte über deutsches Vordringen wären „sehr übertrieben", und Seyß- Inquart sei ein „patriotischer Österreicher". Ein britischer Diplomat bemerkte zu diesem Brief, daß die Ereignisse in Graz durch „jugendliche Begeisterung" hervorgerufen und durch sensationelle Nachrichten in den englischen Zeitungen aufgebauscht worden seien.14 Die britische Regierung blieb skeptisch. Am 26. Februar versandte der Minister für die Dominions ein Zirkular, in dem es hieß: „Es könne kaum bezweifelt werden, daß die wirkliche Unabhängigkeit Österreichs durch die Konzessionen, die der österreichische Kanzler Hitler gemacht habe, erheblich beeinträchtigt worden ist, und das Land sich zu einem Vasallenstaat Deutschlands entwickle." Viel hänge davon ab, wie Hitler das Abkommen interpretiere, aber falls Schuschnigg versuche, seine Zugeständnisse einzuschränken, „bestehe das Risiko, daß er sich einem kräftigen Gegenschlag des Führers aussetze." Die französische Regierung trete für eine gemeinsame Demarche in Berlin ein, aber nach sorgfältiger Erwägung habe die britische Regierung beschlossen, daß ein solcher Schritt „mehr schaden als nützen könnte". In der Tat sagte der französische Außenminister Yvon Delbos anläßlich eines Essens zu dem britischen Botschafter: Nachdem er sich Österreichs bemächtigt habe, würde Hitler zweifellos die Tschechoslowakei angreifen, „und in dem Fall würde Frankreich treu und ohne Zögern seine Verpflichtungen gegenüber letzterer erfüllen. Das bedeutet einen Krieg, in dem Frankreich für seine Existenz kämpfen werde, und auch Großbritannien würde nicht imstande sein, abseits zu bleiben." All das, betonte Delbos, könne vermieden werden „durch festes Auftreten in Berlin, ohne irgendwelche Drohungen, und noch sei Zeit dazu."15 Aber sein Rat wurde in London nicht beachtet. Am 23. Februar berichtete die Times aus Wien, die sozialistischen Arbeiter seien über das Berchtesgadener Abkommen „schwer niedergedrückt", ebenso über den Rücktritt Edens (am 20. Februar), den sie als „Zeichen einer allgemeinen Entwicklung weg von der Demokratie und hin zu den Diktaturen" ansähen, so daß sie für ihre eigene Sache keine Hoffnung mehr hätten. Doch Schuschniggs Rede im Parlament, schrieb Palairet, habe „eine Wirkung auf sie ausgeübt, die auch von dem größten Optimisten kaum vorausgesehen werden konnte". Der neu ernannte Staatssekretär für Arbeiterschutz, Adolf Watzek, habe ein Interview gegeben, in dem er betont habe, daß die ganze Arbeiterklasse „entschlossen sei, sich für die Sache eines selbständigen, souveränen und unabhängigen Österreichs einzusetzen . . . Ich kann ehrlich erklären, der Sturm der Zustimmung aus Arbeiterkreisen ist völlig frei und spontan, ohne irgendwelchen Druck erfolgt." Ein Beamter des Foreign Office fügte dem hinzu, das seien „die sogenannten bolschewistischen Arbeiter". Am 3. März empfing Schuschnigg eine Delegation von vierzehn Arbeitern aus 211
Wiener Fabriken, die ihm folgende vier Forderungen überbrachten: das Recht auf Redefreiheit und politische Gleichberechtigung mit den Nationalsozialisten innerhalb der Vaterländischen Front, freie Wahlen innerhalb der offiziellen Gewerkschaften, das Recht auf Herausgabe einer Tageszeitung, und Garantie für einen „sozialen Kurs" in Lohn-, Urlaubs- und Sozialversicherungsfragen. Schuschnigg zeigte sich freundlich, machte aber seine Zustimmung von Verhandlungen abhängig und gestattete den Delegierten, einer größeren Versammlung von Arbeitervertretern Bericht zu erstatten. Einige Tage darauf fand diese Versammlung statt. Laut Bericht der Times waren 200 Arbeiter anwesend, die 4.000 Fabriken und Betriebe vertraten. „Es war die erste unbehinderte Versammlung seit der Unterdrückung der Partei im Februar 1934." Die Diskussion zeigte, daß die Arbeiter und Angestellten „bereit waren, sich an dem Kampf für die Unabhängigkeit Österreichs zu beteiligen". Sie fühlten, daß „die Uhr auf fünf Minuten vor 12 steht" und daß das Regime nicht imstande sein würde, den Nationalsozialisten Widerstand zu leisten, und in seinem Kampf die Hilfe der antinationalsozialistischen Arbeiter benötige. Wie Palairet berichtete, war man „allgemein der A n s i c h t , . . . es sei unmöglich, die Arbeiter für eine bedingungslose Unterstützung des Schuschniggregimes zu gewinnen." „Sklaven können nicht kämpfen, nur freie Männer", sei geäußert worden. Wenn die Regierung behaupte, sie könne aus Angst vor Deutschland keine Konzessionen machen, sei Handeln für die Arbeiter sinnlos, „denn dann gäbe es keine Unabhängigkeit mehr, für die man kämpfen könne". 16 Der britische Gesandte hoffte, Schuschnigg würde keine Zeit verlieren, um zu einer Übereinkunft mit den Arbeitern zu kommen. „Er wird rasch handeln müssen, wenn er das Abschwenken der Arbeiter zu den Nazis aufhalten will." Die Bauern seien zu verstreut, um ihrer Stimme Gehör zu verschaffen, und bis jetzt sei es den Arbeitern nicht erlaubt gewesen, die ihre zu erheben. "Das Ergebnis war, daß die lautesten Stimmen von den Nazis und dem städtischen Bürgertum kamen", vor allem in Graz und Linz. In Wien beobachtete ein britischer Korrespondent, daß das sozialistische Abzeichen der drei Pfeile zum ersten Mal seit fünf Jahren wieder öffentlich auf der Straße getragen wurde, und hier und da wurde der Gruß „Freiheit" gegeben. Zuerst wurde die Polizei instruiert, den Trägern des Drei-Pfeile-Abzeichens zu befehlen, es abzunehmen, aber später tolerierten es die Polizisten, wenn auch widerwillig: „Es war der Beginn der Wiedergeburt der politischen Freiheit." Am 10. März sah der Korrespondent des Manchester Guardian „die Arbeiter durch die Straßen Wiens marschieren, sie riefen .Freiheit, Österreich' und grüßten mit geballter Faust". Er sah auch Fabrikarbeiter mit dem Abzeichen der Vaterländischen Front „ein ungewöhnlicher Anblick". „Die plötzliche Sammlung der Arbeiter als Hilfstruppe der Regierung" sei bemerkenswert, aber die Verhandlungen zwischen ihr und den Arbeitervertretern seien noch nicht abgeschlossen.17 Am 9. März wurde Schuschnigg in Innsbruck begeistert empfangen. Vor einer großen, Beifall spendenden Menge, die vor dem Rathaus versammelt war, kündigte er für den nächsten Sonntag eine Volksbefragung darüber an, ob Österreich frei und deutsch, christlich und sozial, unabhängig und einig sein solle. Nach seiner Rede marschierten tausende von begeisterten Bauern, Arbeitern und Mitgliedern der Jugend212
Organisationen durch die Straßen und drangen auf Aufziehen der österreichischen Fahne. Die Nationalsozialisten marschierten gleichfalls, mit „Heil Hitler"-Rufen und der Losung „Ein Volk, ein Reich", wie die Times berichtete.18 Palairet telefonierte aus Wien, Schuschnigg fühle sich verpflichtet festzustellen, „wo er stehe und ob das Berchtesgadener Abkommen eingehalten würde oder nicht"; denn die Worte und Taten Seyß-Inquarts gingen weit über das Abkommen hinaus. Er sei gegen die Volksbefragung, „und falls Hitler hinter ihm stehe, könne die Lage jeden Augenblick gefährlich werden." Der österreichische Außenminister äußerte zu Palairet, die Befragung gehe Hitler nichts an, aber Palairet antwortete, das sei nicht die deutsche Ansicht. Trotzdem glaubte er, „die Sache sei das Risiko wert. Der Kanzler würde seine Autorität verlieren, wenn die gegenwärtige Atmosphäre des Schreckens und der Unsicherheit anhalte". Im Falle einer großen Mehrheit für ihn beabsichtige er, „alle illegalen Aktivitäten mit fester Hand zu unterdrücken". Doch aus Berlin telefonierte der britische Botschafter, Schuschniggs Aktion sei „voreilig und unklug"; die Stellungnahme Deutschlands sei „kompromißlos feindlich", und es würde schwer für Hitler sein, „dieses Mal nicht auf extreme Ratschläge zu hören".19 Anscheinend glaubte Sir Nevile Henderson, Hitler sei gewohnt, auf Ratschläge - seien sie „extrem" oder weniger extrem - zu hören. Am 6. März kehrte der Wiener Korrespondent der Times, Douglas Reed, aus Linz zurück, wo er eine Rede gehört hatte, die Seyß-Inquart vor nationalsozialisti* sehen Delegierten aus Oberösterreich hielt. Er war sehr beunruhigt über das, was er in Linz gesehen hatte: Die Straßen waren gesäumt von angeblich „illegalen" SA- und SS-Leuten, die Polizei trat kaum in Erscheinung, und Seyß-Inquart erschien in Begleitung eines deutschen Abgesandten. Reed fand die örtlichen Nationalsozialisten „sehr kriegslustig" und die Atmosphäre „äußerst bedrückend". Zwei österreichische Soldaten, die sich weigerten, beim Spielen von Hitlers Lieblingsmarsch aufzustehen, „wurden aus einem Kaffeehaus hinausgeworfen". Die Polizei schätzte die Menge auf 30.000 und die Nationalsozialisten auf 35.000 Personen. Laut dem Manchester Guardian bestand die große Mehrzahl aus Jugendlichen im Alter von 10 bis 18 Jahren; die SA und SS-Leute waren uniformiert, und die Hitlerjugend erschien in weißen Hemden und Strümpfen.2" Am 10. März, dem Tag nach der Ankündigung der Volksbefragung, telegraphierte Palairet, die Nationalsozialisten seien „alles andere als erfreut". Die Regierung nahm an, daß sie sich der Stimme enthalten würden, die Zahl der Jastimmen aber ausreichen werde. Die Hauptgefahr wurde darin gesehen, daß sie am Sonntag Unruhe stiften und versuchen könnten, die Wähler einzuschüchtern. Der Korrespondent der Times meldet „organisierte Nazidemonstrationen" gegen die Volksbefragung, die „Pandämonium" erzeugten. Bei einem Zusammenstoß zwischen Demonstranten und Gegendemonstranten in Graz gab es sieben Verwundete, zwei davon schwer. Später marschierten die Nationalsozialisten wieder durch die Grazer Straßen, sie riefen „Nieder mit Schuschnigg" und verteilten Flugblätter, die ihn beschuldigten, das Berchtesgadener Abkommen gebrochen zu haben - daher müsse er gehen; die Polizei griff nicht ein. Am 11. März berichtete der britische Konsul aus München, in Bayern würde mobilisiert, und Truppen bewegten sich in Richtung auf die österreichische Grenze. In 213
Wien präsentierten Seyß-Inquart und Glaise- Horstenau, ein „nationalistisches" Regierungsmitglied, Schuschnigg ein Ultimatum, das forderte, die Volksbefragung abzusagen. Falls das nicht geschehe, würden die Nationalsozialisten nicht an ihr teilnehmen und „könnten nicht daran gehindert werden, während der Abstimmung ernste Unruhen zu erzeugen"; die Antwort müsse bis ein Uhr des gleichen Tages erteilt werden. Wie Palairet telegraphierte, lehnte es Schuschnigg ab, das Ultimatum zu akzeptieren und die Volksbefragung abzusagen. Er schlug vor, später eine zweite Volksabstimmung auf Grundlage der regulären Wählerlisten abzuhalten. Am Sonntag könnten die Abstimmenden mit „Ja" zu seiner Politik und mit „Nein" zu Schuschnigg stimmen, um klar zu machen, daß die Frage, ob er an der Macht bleibe oder nicht, keine persönliche sei. Zwei Stunden später kam ein weiteres Telegramm in London an: Ein Nachgeben des Kanzlers bedeute, „das Ende der österreichischen Unabhängigkeit; bleibe er standhaft, dann sähe er sich der Androhung bewaffneter deutscher Intervention gegenüber, wenn während der Volksbefragung Unruhen stattfänden (oder vielmehr erzeugt werden)". Glaise-Horstenau habe mit Hitler gesprochen, der „eine Stunde lang wie ein Verrückter getobt" und den Plan der Volksbefragung verworfen habe. Am frühen Nachmittag wurde nach London telefoniert, Schuschnigg habe sich bereit erklärt, die Abstimmung abzusagen, um Blutvergießen zu vermeiden - „angesichts des drohenden Bürgerkrieges und absolut sicherer militärischer Invasion". Er bitte die britische Regierung dringend um Rat, was er tun solle; Hitler bestehe auf seinem Rücktritt und seiner Ersetzung durch Seyß-Inquart, und er habe nur eine Stunde Bedenkzeit. 21 Schuschniggs dringendes Ersuchen um Rat von der britischen Regierung erreichte London am Nachmittag des 11. März, und der neue Außenminister Lord Halifax sprach mit Chamberlain darüber. Dann antwortete er: „Die Regierung Seiner Majestät könne nicht die Verantwortung dafür übernehmen, dem Kanzler zu irgendwelchen Handlungen zu raten, die sein Land möglicherweise Gefahren aussetzen würden, gegen die ihm die Regierung Seiner Majestät keinen Schutz garantieren könne." Mit anderen Worten: Großbritannien könne nichts tun, um die österreichische Unabhängigkeit zu retten. Am folgenden Tag wurde das Vorgehen vom britischen Kabinett gebilligt. Chamberlain erklärte, Schuschnigg habe nicht um Rat gefragt, bevor er die Volksbefragung, „die so viel Schwierigkeiten h e r v o r r i e f , angekündigt habe. Und er fügte hinzu: „Die Art, wie die deutsche Aktion in Österreich durchgeführt wurde, sei für die Welt äußerst beunruhigend und verletzend und ein typisches Beispiel für Großmachtpolitik"; sie werde „die internationale Befriedung sehr erschweren". 22 Was Chamberlain beunruhigte, war die Art, die Methode, mit der Hitler vorging, nicht die Handlung selbst, weil sie mit der allgemeinen Politik des Appeasement, die er trotz Hitlers Politik fortsetzen wollte, nicht in Einklang stand. Als Seyß-Inquart und Glaise-Horstenau am frühen Nachmittag des 11. März zu Schuschnigg zurückkehrten, „bot er jede Garantie an, daß die Volksbefragung als eine echte Meinungsäußerung völlig frei durchgeführt würde". Aber das wurde abgelehnt, und Seyß-Inquart erklärte, er werde zurücktreten und damit die Grundlage des Berchtesgadener Abkommens zerstören, wenn das Plebiszit nicht bis drei Uhr ab214
gesagt sei. Dem folgte ein deutsches Ultimatum, das per Flugzeug aus Berlin gebracht wurde, mit der Forderung nach Schuschniggs Rücktritt und seiner Ersetzung durch Seyß-Inquart. Die Österreichische Legion werde einmarschieren und Ruhe und Ordnung in Wien aufrecht erhalten, und die Nationalssozialistische Partei müsse zugelassen werden. Schuschniggs Antwort müsse bis sieben Uhr abends erteilt werden, und er informiere London, daß „jeder Schein österreichischer Unabhängigkeit verloren sei, wenn er nachgäbe". Doch Präsident Miklas habe das Ultimatum abgelehnt, und die deutsche Armee habe Befehl erhalten, die Grenze zu überschreiten. Seyß-Inquart kündigte das im Radio an und ebenso, daß es keinen Widerstand geben werde. Innerhalb einer Stunde nach seiner Rede marschierten in Wien die nationalsozialistischen Einheiten. Wie der Korrespondent der Times schrieb, „schrien tausende von Stimmen ,Heil Hitler', .Siegheil' und ,Ein Volk, ein Reich!', was die Nazimassen mit Begeisterung erfüllte und Drohung und Nervenqual für die anderen bedeutete, die in ihren Wohnungen saßen und sich fragten, was am Morgen passieren würde." Am Abend wurde offiziell bekanntgegeben, daß Präsident Miklas unter dem Druck der äußeren politischen Umstände und der Androhung militärischer Besetzung durch deutsche Truppen auf Verlangen Deutschlands Seyß-Inquart mit der Führung der Regierungsgeschäfte betraut habe.23 Schuschniggs Rücktritt und SeyßInquarts Ernennung waren eindeutig auf Hitlers Ultimatum zurückzuführen, und die deutsche Armee führte Hitlers Willen aus; er beherrschte jetzt Mitteleuropa. Es blieb dem britischen Botschafter in Berlin, Nevile Henderson, überlassen festzustellen, daß „Dr. Schuschnigg durch seine übereilte Entscheidung - ohne sich mit den Mitgliedern seiner Regierung zu beraten - uns alle schwer im Stich gelassen hat", und das habe es den zwei Ministern ermöglicht, „sich technisch zum Verfasser des Ultimatums zu machen". Als Henderson von Göring hörte, Schuschnigg habe das Berchtesgadener Abkommen gebrochen, gab er „zögernd zu, daß Schuschnigg mit übereilter Torheit gehandelt" habe. Gemäß seiner Instruktion aus London protestierte Henderson scharf, aber Göring behauptete einfach - gegen besseres Wissen die Besetzung Österreichs erfolge „auf direktes Ersuchen Seyß-Inquarts, der kommunistische Unruhen, vor'allem in Wiener Neustadt, befürchte". Die deutschen Truppen würden zurückgezogen werden, sobald die Lage sich stabilisiert habe, und dann könne „eine freie Wahl ohne alle Einschüchterung" stattfinden. Falls Großbritannien keine Gewalt anwenden wolle, schlug Henderson vor, solle seine Regierung darauf bestehen, daß dieses Versprechen erfüllt werde. „Das beste wäre, sich für Unabhängigkeit ähnlich der des Vorkriegs-Bayerns einzusetzen". Doch das tat die britische Regierung nicht. Lord Halifax empfing den neuen deutschen Außenminister von Ribbentrop noch am Nachmittag des 11. März und erklärte ihm, Deutschland habe „eine Tat nackter Gewalt" begangen, und die öffentliche Meinung werde, „wenn die Tatsachen bekannt würden, unvermeidlich fragen, was die deutsche Regierung daran hindern könne, in ähnlicher Weise nackte Gewalt zur Lösung ihrer Probleme in der Tschechoslowakei anzuwenden, oder zur Lösung irgendeines anderen Problems - wo immer sie das für nützlich erachten würde". Die britische Nation habe nie geleugnet, daß es eine österreichische Frage gäbe, „aber sie würde die Methode, mit der man sie gelöst h a b e , . . . aufs schärfste ablehnen."24 Ein Leitartikel der Times erklärte: „Diese jüngste und schlimmste Demonstration 215
der Methoden deutscher Außenpolitik kann in unserem Land nur den Verdacht und die Entrüstung vertiefen, die durch die Art, mit der das Berchtesgadener Abkommen ausgehandelt wurde, entstanden sind." Die Politik des Appeasement habe eine Niederlage erlitten, und es sei „mehr als zweifelhaft, ob Appeasement möglich ist auf einem Kontinent, der der Anwendung willkürlicher Gewalt ausgesetzt sei"; ein britischer Protest in der schärfsten Form sei bereits erhoben worden.25 Der Ton des Manchester Guardian war sehr viel deutlicher. Unter der Überschrift „Die nackte Faust" stellte der Leitartikel fest, daß Hitler „mit der doppelten Androhung von Krieg und Bürgerkrieg, von deutscher Invasion und Nazirebellion" Schuschnigg zum Rücktritt gezwungen habe: „Diese Invasion eines unabhängigen Staates ist genauso brutal wie die japanische Invasion Chinas oder die italienische Abessiniens. Wenn kein Krieg ausgebrochen ist, dann nur, weil Dr. Schuschnigg die Übergabe einem Blutvergießen vorzog. Das also ist Hitlers Politik; das ist die nackte Faust.26 Aus Wien bestritt Palairet ausdrücklich Hendersons Behauptung, Schuschnigg habe mit „übereilter Torheit" gehandelt, denn er habe die Karte der Volksbefragung ausgespielt „in der Hoffnung, die Unabhängigkeit Österreichs zu retten . . . Er glaubte mit Recht oder Unrecht, die Befragung müsse sofort stattfinden, um der Bedrohung der österreichischen Unabhängigkeit zu begegnen, die sein Innenminister unter deutscher Anleitung untergrub. Seine Taktik mag irrig gewesen sein, aber seine Motive waren in jeder Beziehung uneigennützig und patriotisch."
Falls die britische oder die französische Regierung noch auf eine gemeinsame Front mit Italien hoffte (das war einer der Vorschläge, die aus Paris kamen), so war jeder derartige Plan zum Mißerfolg verurteilt. Am 12. März informierte Graf Ciano den britischen Botschafter: „Wir können nichts tun, wir können kein Volk dazu zwingen, unabhängig zu sein, wenn es das nicht will". Die Revolution in Österreich sei eine vollendete Tatsache und sei „mit größter Begeisterung nicht nur in Graz, sondern auch in Wien und sogar in Innsbruck" verlaufen, ohne jedes Blutvergießen; man könne „sie mit dem faschistischen Marsch auf Rom vergleichen". Als der Botschafter einwarf, daß nur 30 Prozent der Österreicher „wirkliche Nazis" seien, und „der Umsturz ohne Hilfe von außen nie erfolgt wäre", antwortete Ciano, die 30 Prozent seien „begeistert, gut organisiert und jung", während die 70 Prozent „viel älter, ohne jegliche starke Überzeugung und unter sich uneins" seien. Im Foreign Office notierte Sargent: „Wenn wir früher hofften, die Rom-Berlin Achse dadurch zu schwächen, daß wir uns mit Italien verständigen, so fürchte ich, daß diese Hoffnung durch das Erscheinen deutscher Truppen auf dem Brenner fast bis auf den Nullpunkt reduziert worden ist. So lange Deutschland in den Augen Italiens die stärkste und gefährlichste Macht Europas bleibt, so lange muß es sich im Interesse der Selbsterhaltung mit Deutschland verbinden."
Sollte Italien je glauben, daß Großbritannien stärker und gefährlicher sei als Deutschland, könnte es seine Politik ändern, aber es gäbe, „soweit man voraussehen könne, keine derartige Möglichkeit".27 Am 13. März berichtete Palairet, in Wien und in den Ländern seien alle öffentlichen Gebäude besetzt worden, ohne daß es seines Wissens einen Zwischenfall 216
gegeben habe. Die militärischen Vorkehrungen zu Lande und in der Luft hätten „die beabsichtigte Wirkung gehabt, und selbst die Wiener Bevölkerung, die gestern morgen apathisch und deprimiert schien, hätte bis zum Abend einen hohen Grad von Begeisterung e r r e i c h t . . . Die Nazifizierung Österreichs schreitet rasch voran." Am folgenden Tag telefonierte er: „Es ist unmöglich, die Begeisterung zu übersehen, mit der das neue Regime und die gestrige Ankündigung der Vereinigung mit dem Reich hier empfangen worden sind." Seiner Ansicht nach sei Hitler „im Recht, wenn er behaupte, daß die österreichische Bevölkerung seine Tat willkommen heiße." Der britische Militârattaché in Berlin, der lange in Österreich amtiert hatte, beschrieb gleichfalls die riesige Menge und die Begeisterung, die er in Wien beobachtet hatte. Sie seien weit größer als bei früheren Demonstrationen der Sozialdemokraten, der Heimwehr, der Vaterländischen Front oder der Kirche, die er gesehen habe. „Österreich als ganzes scheint nicht nur befriedigt, sondern großenteils begeistert zu sein." Menschen mit abweichenden Ansichten würden „es vermeiden aufzufallen", und der Erfolg der unvermeidbaren Gleichschaltung werde garantiert „durch die Zahl derer, die die Vereinigung mit Deutschland herbeiwünschten". Die deutschen Truppen seien überall freundlich empfangen worden, und es gäbe viel Verbrüderung. Die ganze Operation sei „glatt und wirkungsvoll" verlaufen, aber er habe auf dem Wege etwa 50 alte leichte Panzerwagen gesehen, die zusammengebrochen waren; abgesehen davon sei alles gut gegangen, und das Verhalten der Truppen sei „sehr soldatisch".» Diese Berichte wurden durch den T/me.v-Korrespondenten in den Schatten gestellt, der übeT Hitlers Empfang schrieb: „Es gibt kein Adjektiv, um den Jubel zu beschreiben, der ihn in Linz empfing . . . oder der ihn in Wien erwartete . . . Der triumphale Einzug wurde geteilt von der Armee, die er nach Österreich geschickt hatte; Blumen markierten den Pfad der rasselnden Tanks und Panzerwagen. Wenn es am Freitag Österreicher gab, die gegen ihn waren, so verbargen sie sich oder sie wurden gestern und heute vom Gegenteil überzeugt." Die Szene in Wien habe sich gänzlich gewandelt: von der bei Besuchern so beliebten leichtlebigen Atmosphäre zu der „einer militarisierten Nation, wie sie das nationalsozialistische Deutschland anbietet". 29 Aus Innsbruck berichtete der britische Konsul, in der Nacht vom 11. auf den 12. März habe die Nationalsozialistische Partei „die öffentliche Verwaltung in seinem Konsularbezirk rasch, genau und gründlich übernommen". In Salzburg habe sich der rangälteste Offizier dem Befehl des ankommenden deutschen Generals unterstellt, in Innsbruck arbeite der österreichische Stabschef mit den Deutschen zusammen, SS-Totenkopfeinheiten aus Dachau seien „stürmisch gefeiert worden" - zum Teil von Besuchern aus München; alle leitenden Beamten und die monarchistischen Führer seien sofort verhaftet worden, und aus den Ämtern entlasse man alle Angestellten, die keine Nationalsozialisten seien. Die Innsbrucker Polizei aber, die einen bekannten Nationalsozialisten zum Leiter habe, sei „geschlossen zum neuen Regime übergetreten". Die SA und SS hätten Befehl erhalten, nicht zu provozieren, und diesem im großen und ganzen Folge geleistet. SS-Leute hätten jedoch die Kruzifixe in öffentlichen Ämtern heruntergerissen und zerbrochen. 30 Am 15. März berichtete die Times über Hitlers triumphalen Einzug in Wien. „Es 217
gibt keine Anzeichen dafür, daß sich die Menschen widerwillig einem fremden Joch beugen"; Wien „ähnelt einer Stadt, die Nachricht von einem großen Sieg erhalten hat"; alle schienen ein Hakenkreuz zu tragen. Als Hitler in den Außenbezirken eingetroffen sei, habe Kardinal Innitzer das Läuten der Kirchenglocken angeordnet, berichtete der Manchester Guardian. Später sei der Kardinal von Hitler empfangen worden, die Besprechung sei freundlich verlaufen, und Innitzer werde einen Aufruf veröffentlichen. Ende März wurde in der Tat eine Erklärung der österreichischen Bischöfe in allen Kirchen verlesen, in der die große historische Stunde, die das österreichische Volk erlebe, betont wurde und die zugleich hinwies auf die uralte Sehnsucht nach einer Vereinigung mit den Deutschen in einem großen Reich, die jetzt erfüllt worden sei. Die Bischöfe sprachen die Überzeugung aus, daß die nationalsozialistische Bewegung „die Gefahr des Bolschewismus mit seiner alles zerstörenden Gottlosigkeit" gebannt habe und daß die Bewegung in hervorragender Weise für das deutsche Volk und vor allem für dessen ärmste Gruppen sorge. Daher erwarteten sie von allen Gläubigen, daß sie am Tag des offiziellen Plebiszits ihre nationale Pflicht erfüllen und ihre Treue zum Deutschen Reich bekunden würden32 - und das nach Jahren einer bitteren Kampagne der deutschen Nationalsozialisten gegen die katholische Kirche. Schon am 14. März schrieb ein Beamter des Foreign Office: „Da Österreich jetzt eine Provinz Deutschlands geworden und der Präsident zurückgetreten ist, werden wir uns vermutlich bald einer Forderung auf Abberufung unserer Gesandtschaft gegenübersehen, das heißt, auf unsere Anerkennung des Ablebens Österreichs." Er halte es für ratsam, vollendete Tatsachen anzuerkennen, durch Ablehnung sei nichts zu gewinnen, und sie würde „nur unsere Beziehungen zu Deutschland noch schlechter machen, als sie es bereits sind." Wenn die österreichische Frage nicht vor den Völkerbund komme, scheine es diesem gegenüber keine britische Verpflichtung zu geben, „die uns hindern könnte, diese unrühmliche, aber realistische Linie zu befolgen". Nur acht Tage später wurde beschlossen, die Gesandtschaft und ihre Beamten aus Wien abzuberufen und durch ein Konsulat zu ersetzen, und der britische Konsul aus München wurde nach Wien versetzt. Der britische Gesandte war unmittelbar nach der Besetzung zur Berichterstattung nach London gerufen worden, „um eine mögliche deutsche Forderung nach seiner Abberufung zu vermeiden", und er kehrte nicht nach Wien zurück. Als ein Mitglied der deutschen Botschaft in London das Foreign Office aufsuchte und die Hoffnung aussprach, daß die Ereignisse in Österreich „sich nicht negativ auf die Aussichten einer Versöhnung zwischen unseren Ländern auswirken" würden, antwortete Alexander Cadogan, der neue ständige Unterstaatssekretär, er teile diese Hoffnung völlig: Es sei „in der Tat zu bedauern, daß all das sich in dem Augenblick ereignet hat, als die Bedingungen für eine Verbesserung der Beziehungen günstig schienen." Aber die Ereignisse hätten „eine solche Welle der Entrüstung im Lande erzeugt, daß sich die Einstellung zum englisch-deutschen Rapprochement geändert habe, und es wäre sinnlos zu glauben, daß wir noch genau dort stünden wie vor einer Woche." 33 Noch hatte man die Hoffnung auf eine Verbesserung der englisch-deutschen Beziehungen nicht aufgegeben. 218
Nicht nur daß die britische Gesandtschaft und ihr Personal rasch aus Wien abberufen wurden, im gleichen Monat fragte das britische Schatzamt an, was die Bank of England mit dem Gold der Österreichischen Nationalbank tun solle, da sie von dieser beauftragt worden sei, es an die Bank of International Settlement zu überweisen, vermutlich für deutsche Rechnung. Wenn die Bank of England von der Regierung keine Garantie für Schadloshaltung erhalte, müsse sie den Auftrag ausführen, und das Schatzamt könne keine derartige Garantie geben. Im Foreign Office notierte Sargent, das Gold stünde zur freien Disposition der Österreichischen Nationalbank und sei nicht als Sicherheit für eine österreichische Anleihe verpfändet. Die Bank of England müsse sich vergewissern ob der Auftrag wirklich von der Österreichischen Nationalbank komme und nicht von einer deutschen Stelle. Die Tatsache, daß die britische Regierung die Annexion Österreichs noch nicht anerkannt, sondern nur ihre Absicht, das zu tun, ausgesprochen habe, hätte mit der Sache nichts zu tun, und der Auftrag müsse ausgeführt werden, obgleich die Österreichische Nationalbank von Deutschland übernommen worden sei.14 Bald gab es in London zahlreiche und detaillierte Berichte über die Verfolgung von Juden und anderen politischen Feinden des neuen Regimes. Selbst Henderson in Berlin telefonierte, in ganz Österreich seien viele Verhaftungen vorgenommen worden, und man befürchte „eine Politik der Rache gegen Dr. Schuschnigg und seine Anhänger". Radikale deutsche Nationalsozialisten seien an der Macht, und alle „Österreicher, sogar österreichische Nazis", würden „in den Hintergrund gedrängt". Doch „gemäßigte Elemente" hätten die Absicht, bei Hitler auf eine Politik „großzügiger Tolerierung" zu dringen, um Österreichern „Einfluß auf die Regierung ihres eigenen Landes zu erlauben". Die Saga von den „Gemäßigten" und „Radikalen", die Hitler für sich gewinnen wollten, hatte ihre Fortsetzung. Die furchtbare Verfolgung der Juden und sonstiger „Feinde" des Regimes wurde selbst in den beschönigenden Berichten der britischen Gesandtschaft beschrieben. Am 15. März schrieb der Chargé d'Affaires: „Jüdische Autos und Besitztümer sind beschlagnahmt und viele jüdische Wohnungen durchsucht worden. Ich höre, viele Juden seien verhaftet worden." Auch Autos, die Legitimisten oder Anhängern Schuschniggs gehört hätten, seien konfisziert worden und zahlreiche Mitglieder dieser beiden Gruppen und viele Sozialisten habe man verhaftet. Es gäbe Gerüchte über Hinrichtungen, die er aber nicht bestätigen könne. Einige Tage darauf berichtete er, die Juden würden behandelt wie in Deutschland, und es werde viel über „brutale Aktionen gegen sie" geredet; die Verhaftungen unter verschiedenen Gruppen „sollen in die tausende gehen", und zweifellos seien „inoffizielle österreichische Banden" tätig. Daß die Plünderungen von „inoffiziellen Banden" vorgenommen wurden, war die offizielle deutsche Version, aber das erwähnte der Bericht nicht. Der britische Konsul berichtete, zwei SA-Leute hätten einen früheren Hauptmann der Royal Air Force, der jetzt ein Hotel in Wien besitze, verhaftet, aber er wäre nach einigen Stunden entlassen worden, nachdem das Konsulat interveniert habe. Seine Verhaftung sei erfolgt, weil er als Jude kein Recht hätte, auf seinem Hotel die Hakenkreuzfahne zu hissen. In Wahrheit sei er zur fraglichen Zeit nicht im Hotel gewesen und habe nichts mit dem Hissen zu tun gehabt. Dem Mann wurde dann ver219
boten, in sein beschlagnahmtes Hotel zurückzukehren, das nun von der NSDAP verwaltet würde. Da er einen britischen Paß besaß, konnte er Wien mit seiner Familie verlassen. Ein anderer Engländer, der Wien auf dem Luftweg verlassen wollte, wurde angehalten und zu einem der Flughafengebäude geschickt, „wo er nicht nur auf beleidigende Weise durchsucht, sondern bis auf seine Socken ausgezogen wurde".35 Das waren britische Staatsbürger, die durch ihre Pässe geschützt waren; das Schicksal Tausender von Österreichern kann man sich leicht ausmalen. Am 16. März berichtete die Times, was diesen passierte, wenn sie die Schweizer Grenze erreichten. Schon vor der Grenze wurden sie aus dem Zug geholt, ins Polizeipräsidium nach Innsbruck gebracht und dort von Kopf bis Fuß auf Wertsachen durchsucht. An der Grenze „stand ein junger Mann mit einem dicken Buch in der Hand, das Tausende von gedruckten Namen mit Personenbeschreibungen und einen Daumen-Index enthielt". Er verglich dann den Namen jedes Flüchtlings mit seiner Liste, um zu sehen, ob er gesucht würde - „ein lebender Beweis für die außerordentliche Tüchtigkeit des nationalsozialistischen Reiches". Am folgenden Tag meldete die Times, SA-Leute hätten viele jüdische Akademiker aufgesucht und alles Geld und allen Schmuck, den sie finden konnten, fortgenommen. Viele Kaffeehäuser hätten Schilder mit der Aufschrift „Juden nicht erwünscht" angebracht, und die Entlassung von Juden aus ihren Stellungen vollziehe sich „rasch und rücksichtslos". Laut dem Manchester Guardian gab es jetzt in Wien drei Arten von Geschäften: die mit der Inschrift „Dies Geschäft ist arisch", die mit dem Wort „nichtarisch" oder „Jude" am Fenster und die mit der Notiz „Dies Geschäft steht jetzt unter arischer Kontrolle". Am 19. März erklärte die Zeitung, daß „der Terror in Österreich unerträglich geworden ist.". Seit der Rückkehr der Österreichischen Legion aus Deutschland habe sich die Lage weiter zugespitzt, denn die Legionäre seien mit Namenslisten ihrer Feinde gekommen, „und ihre Rache ist fürchterlich". Der Terror habe sich zuerst gegen Aktivisten der Vaterländischen Front gerichtet, sei dann aber gegen Sozialisten, Kommunisten und Monarchisten intensiviert worden, und laut Schätzungen gäbe es über 10.000 Verhaftete. Am nächsten Tag erschienen Berichte, daß Juden aus ihren Wohnungen geholt würden, um die patriotischen Losungen der Kampagne für die Volksbefragung von den Mauern zu entfernen. Andere würden gezwungen, die Straßen oder die Autos von SA-Führern zu waschen. Am 26. März berichtete die Times, SS-Leute „in ihren neuen Uniformen" hätten aus der Synagoge und dem Haus der jüdischen Gemeinde „eine Stelle der Judenhetze" gemacht. Man zwinge Juden, ihre rituellen Gewänder anzulegen und dann die Straße zu reinigen, und Juden, die nichts von der SS-Besetzung wüßten, würden hereingelassen und später hinausgeworfen. „Ihre Behandlung könne nur aus ihren verzerrten Gesichern und ihrem Hinken erraten werden." Der Korrespondenz des Daily Telegraph beobachtete, wie Juden zum Amüsement der Menge aus dem Haus gebracht „und gezwungen wurden, die Straßen von dem Schmutz zu reinigen, den grinsende SS-Leute aus den Fenstern warfen".36 Die Times berichtete auch, die Nationalsozialistische Partei und die Polizei hätten dreimal in vier Tagen die Tätigkeit nichtxautorisierter Plünderer verurteilt. Denen, die diese „Sammlungen" nicht anzeigten - gleichgültig ob Opfer oder „Besucher" - würden schwere Strafen angedroht. Eine offizielle Verlautbarung habe er220
klärt, daß als Nationalsozialisten verkleidete Kommunisten für die Beraubung jüdischer Wohnungen verantwortlich seien, Eingriffe in Privatunternehmungen seien nicht gestattet. Diese Anordnungen, meinte der Korrespondent, bedeuteten, daß die Behörden erkannt hätten, daß „das von den örtlichen Antisemiten eingeleitete rücksichtslose Tempo der ersten Tage in der österreichischen Wirtschaft völliges Chaos verursachte". Es sei Juden unmöglich, Österreich legal zu verlassen, weil die Gestapo damit befaßt sei, „die gesamte jüdische Gemeinde systematisch zu überprüfen", und die Grenze werde so genau überwacht, daß ein illegaler Übertritt außerordentlich schwer sei.37 Die Beute sollte dem Dritten Reich zugeführt werden, und nicht einzelnen Nationalsozialisten, die für den eigenen Vorteil arbeiteten. Lord Cecil erhielt einen Brief aus Wien, der die Ereignisse beschrieb: „Gestèrn morgen fuhren Lastwagen voller Nazis mit aufgepflanzten Bajonetten zu allen jüdischen Lebensmittelgeschäften. Die Inhaber der Geschäfte wurden gezwungen, alle ihre Waren ohne Bezahlung auszuhändigen und das Geschäft einem Arier zu übergeben; dann wurden sie weggeschickt." Juden würden auf der Straße angehalten und ihres Geldes beraubt. In der Leopoldstadt „stürmten betrunkene Nationalsozialisten die Tempel und trieben die Juden auf die Straße, wo sie von anderen Gruppen blutig geschlagen wurden. Die heiligsten Gesetzbücher wurden zerrissen und zertreten und alle goldenen und silbernen Gefäße geraubt." Die Nationalsozialisten würden Tag und Nacht durch die Straßen ziehen und „Deutschland erwache, Juda verrecke!" brüllen. Doch ein Beamter des Foreign Office war der Meinung, daß dieses Bild von den Zuständen in Wien „ziemlich übertrieben" sei, obgleich „die nüchternen Tatsachen peinlich genug" seien, wie aus den Zeitungsberichten hervorgehe.38 Der gleiche Beamte schrieb: „Wenn die Grenze wieder geöffnet wird, werden viele Juden bemüht sein, Österreich zu verlassen . . . Das Flüchtlingsproblem könnte dann dringender werden." Am 19. März notierte ein anderer Beamter des Foreign Office, P. Nichols, er hoffe, das Foreign Office werde seinen „Einfluß beim Home Office dazu benutzen, um zu erreichen, daß die bestehenden Vorschriften über die Zulassung von Ausländern so weit wie es möglich und mit dem allgemeinen Interesse vereinbar ist, ausgelegt werden. Wir mögen am Ende Gewinn daraus ziehen, daß wir in diesem Augenblick die Bestimmungen zu Gunsten der unglücklichen Juden, die vor dem Terrorismus fliehen, etwas weiter auslegen" - was er „aus Gründen der Menschlichkeit und des nationalen Interesses" betone. Im Home Office fand dann eine Besprechung über die Zulassung von Flüchtlingen statt, bei der seine Beamten erklärten, sie könnten „eine Fortsetzung der unkontrollierten Einwanderung" aus Österreich und Deutschland nicht zulassen; sie wären für die Einführung eines Visums, um zu vermeiden, „daß Flüchtlinge am Ende ihrer Reise in den Häfen zurückgewiesen würden". Die Absicht sei nicht, „keine Flüchtlinge mehr zuzulassen, sondern nur, sie sorgfältiger zu überprüfen, um sicherzustellen, daß sie zu keiner Belastung werden." Man betonte auch, daß der Flüchtlingsstrom „zur Einschleusung feindlicher Agenten benutzt werden könnte" - eine Behauptung, die noch öfter auftauchen sollte, für die aber nie Beweise geliefert wurden. Die Beamten des Home Office waren sich bewußt, daß „sie wegen der Begrenzung der Zulassung österreichischer - und deutscher - Flüchtlinge angegriffen werden würden", aber das „nationale Interesse" habe Vorrang. Es war umsonst, daß Nichols 221
noch einmal schrieb: „Es wäre in unserem eigenen besten Interesse (ganz abgesehen von humanitären Erwägungen), unsere Vorschriften so großzügig wie möglich zu interpretieren." Er war der einzige Beamte, der das tat.39 Am 15. März flog Dr. Ernest Jones nach Wien, um Sigmund Freud zu retten, und auf Veranlassung des Lord Privy Seals, des Earls de la Warr, wurde die britische Gesandtschaft angewiesen, Jones behilflich zu sein.·10 Daß in England „erhebliche Besorgnis" über das Schicksal österreichischer Juden und Sozialisten bestand, zeigte sich bei einer Debatte im Unterhaus am 22. März. Für die Labour Party fragte Arthur Henderson den Innenminister Sir Samuel Hoare, warum einigen österreichischen Flüchtlingen vor einer Woche keine Einreiseerlaubnis erteilt worden sei. Hoare antwortete, es handle sich um sechs Österreicher, von denen vier zugelassen worden seien, einer kein Flüchtling sei und der sechste schon früher keine Erlaubnis erhalten habe, sich im Land niederzulassen. Später erklärte •Hoare, er sei auf die Aufrechterhaltung der traditionellen Politik bedacht, Flüchtlingen, die ihr Land aus politischen, religiösen oder sozialen Gründen verlassen müßten, Asyl zu gewähren. Aber es bestünden Bedenken gegen „eine Politik unbegrenzter Zulassung", da eine solche nicht nur Schwierigkeiten für die Polizei bewirke, „sondern schwerwiegende wirtschaftliche Folgen haben und Arbeitslosigkeit, Wohnungsknappheit und andere soziale Probleme verschlimmern würde." Menschen, „deren Tätigkeit in der Welt der Wissenschaft oder in Industrie und Geschäftsleben vorteilhaft für das Land wäre", würden die Erlaubnis zur Niederlassung erhalten, aber er müsse daran erinnern, daß selbst in den akademischen Berufen die „Gefahr der Überfüllung" bestehe, und es sei „wichtig, nicht den Eindruck zu erwecken, daß die Tür Immigranten aller Art offenstehe". Als Aneurin Bevan dafür eintrat, daß auch arme Menschen, die Österreich oder Deutschland wegen Verfolgungen verlassen müßten, zugelassen werden sollten, fügte Hoare nur hinzu: „Ich werde jeden einzelnen Fall mit größtmöglicher Sympathie prüfen." Am gleichen Tag stellte ein anderer Abgeordneter der Labour Party, Sir Josiah Wedgwood, den Antrag, die Bedingungen, die die Zulassung von Flüchtlingen regelten, sechs Monate lang zu erleichtern und auch mittellose zuzulassen. Als Argument führte er viele Einzelheiten über den in Wien herrschenden Terror und die „öffentliche Erniedrigung" unschuldiger Menschen an. Aber seinem Antrag wurde von einem konservativen Abgeordneten, Sir George Davies, widersprochen, der erklärte, daß dann „Drogenhändler, weiße Sklavenhändler und Leute mit verbrecherischer Vergangenheit" kommen könnten. Und der Antrag wurde mit 210 zu 142 Stimmen abgelehnt. Die Politik des Home Office gegenüber den europäischen Flüchtlingen blieb restriktiv, und zwischen dem 1. und 29. März 1938 wurde es nur 1317 Österreichern gestattet, ins Land zu kommen. 41 Eine liberalere Politik setzte sich erst nach den schrecklichen deutschen Programen vom November 1938 durch, und zweifellos hat Großbritannien von dieser Politik erheblichen Nutzen gehabt, wie das Nichols mit Recht erwartete.
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Anmerkungen 1
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Telegramme Palairets an Foreign Office vom 7., 11. und 12. Februar 1938: FO 371, Bd. 22310, Fo. 227,235,249. Für Becks Memorandum vom Mai 1937 siehe K. J. Müller, General Ludwig Beck, Boppard am Rhein 1980, S. 493 ff. Palairet an Foreign Office, 14.-15. Februar 1938: FO 371, Bd. 22310, Fo. 255 f., Bd. 22311, Fo. 4. The Times, 14. Februar 1938. Manchester Guardian, 13.-15. Februar 1938. Notiz vom E. M. B. Ingram und Palairet an Foreign Office, beide 15. Februar 1938: FO 371, Bd. 22311, Fo. 1 ff., 20. Notiz von P. H. Hadow, 16. Februar (Unterstreichung im Original), Palairet an Eden, 19. Februar und Telegramm an Foreign Office, 19. Februar 1938: FO 371, Bd. 22311, Fo. 142, Bd. 22312, Fo. 231 f., Bd. 22311, Fo. 192. Notizen von Sargent, 16. und 19. Februar (Unterstreichung im Original), und Conclusions of a Cabinet Meeting, 19. Februar 1938: FO 371, Bd. 22311, Fo. 64, Bd. 22312, Fa. 6, Cab. 23, Bd. 92, S. 178,183. 77ie Times, 15. Februar; Notiz Vansittarts, 19. Februar, W. G. Osborne an Eden, 18. Februar, Palairet an Foreign Office, 23. Februar, mit Notizen vom 23.-24. Februar und 4. März 1938: FO 371, Bd. 22312, Fo. 85,109,111 ff., 115. Palairet an Secretary of State, 25. Februar 1938: FO 371, Bd. 22313, Fo. 24 ff. Manchester Guardian, 19. Februar 1938. Manchester Guardian, 21. Februar; The Times, 19. und 26. Februar 1938; Gordon Brook-Shepherd, Anschluß - The Rape of Austria, London 1963, S. 105. G. E. R. Gcdyc, Fallen Bastions, S. 251; Manchester Guardian, 21. und 28. Februar 1938. The Times, 21. Februar 1938. Notiz Hadows, 3. März 1938, zu Brief Kienböcks, s. d.: FO 371, Bd. 22313, Fo. 170. Rundbrief an Regierungen der Dominions, 26. Februar, und Phipps an Foreign Office, Paris, 4. März 1938: FO 371, Bd. 22313, Fo. 80 f., 157. The Times und Manchester Guardian vom 9. März berichteten kurz über die Versammlung; detaillierter Palairet an Halifax, 9. März 1938: FO 371, Bd. 22318, Fo. 39-42. Die vier Forderungen nach Schuschnigg, Im Kampf gegen Hitler, S. 175, und Joseph Buttinger, Am Beispiel Österreichs, Köln 1953, S. 510, mit kleinen Unterschieden. Das Interview Watzeks nach Palairet an Halifax, 7. März, mit Notiz vom 15. März 1938: FO 371, Bd. 22316, Fo. 13 ff. Palairet an Halifax, 9. März 1938: FO 371, Bd. 22318, Fo. 42 f.; Manchester Guardian, 11. März; Gedye, Fallen Bastions, S. 284. The Times, 10. März 1938. Palairet an Halifax, 9. März, und Ian Henderson an Halifax, 11. März 1938: DBFP, 3. Serie, 1,1949, Nr. 2 und 14, S. 1 f., 8; Gedye, Fallen Bastions, S. 275 f. Palairet an Foreign Office, 7. März: FO 371, Bd. 22313, Fo. 168; The Times, und Manchester Guardian, beide 7. März 1938. The Times, 11. März; Palairet an Foreign Office, 10.-11. März 1938: DBFP, 3. Serie, I, Nr. 7, 13, 17,19 und 20, S. 4, 7, 9 f.; Gedye, Fallen Bastions, S. 289 f. Conclusions of a Cabinet Meeting, 12. März 1938: Cab. 23, Bd. 92, S. 346-^9. Palairet an Foreign Office, 11. März: DBFP, 3. Serie, 1, Nr. 21, 30,35 und 38, S. 14-18; The Times, 12. März 1938. Henderson an Foreign Office, Berlin, 12. März, und Halifax an Henderson, 11. März 1938: DBFP, 3. Serie, I, Nr. 44, 46 und 48, S. 22-25. The Times, 12. März 1938. Manchester Guardian, 12. März 1938. Palairet an Halifax, 13. März, Earl of Perth an Halifax, 12. März, Rundbrief Chamberlains an Regierungen der Dominions, 12. März, und Notiz Sargents, 14. März 1938: DBFP, 3. Serie, I, Nr. 53 und 65, S. 27, 38; FO 371, Bd. 22318, Fo. 25 f., Bd. 22315, Fo. 25. Palairet an Foreign Office, 13.-14. März, und Oberst Mason-MacFarlane an Nevile Henderson, 16. März 1938: DBFP, 3. Serie, I, Nr. 66 und 76, S. 38, 43; FO 371, Bd. 22318, Fo. 9-12.
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The Tunes, 14. März 1938. Ian Henderson an Palairet, 13. März 1938: FO 371, Bd. 21318, Fo. 139-^3. The Times, 15. März; Manchester Guardian, 16. März. Mack an Halifax, 28. März 1938: FO 371, Bd. 2Z319, Fo. 283 f. Notiz von A. M. Noble, 14. März, Foreign Office an Palairet, 13. März, und an Mack, 22. März, und Notiz Cadogans, 15. März 1938: FO 371, Bd. 22317, Fo. 29, Bd. 22315, Fo. 197, Bd. 22319, Fo. 85, Bd. 22318, Fo. 123. Notiz von S. D. Waley, Treasury, s. d., mit Notiz Sargents, 21. März 1938: FO 371, Bd. 22309, Fo. 202 f. Nevile Henderson an Halifax, Berlin, 16. März, Mack an Foreign Office, 15. und 19. März, J. W. Taylor an Halifax, 14. März, und Commander O. Locker Lampson an Halifax, 16. März 1938: DBFP, .3. Serie, I, Nr. 88, S. 59 f; FO 371, Bd. 22316, Fo. 133, Bd. 22318, Fo. 50, Bd. 22321, Fo. 273 f., 319. Für eine Anfrage im Unterhaus siehe Parliamentary Debates, 5. Serie, 1938, Bd. 333, Sp. 382. Ute Times, 16., 17. und 26. März; Manchester Guardian, 18., 19., 21. und 26. März 1938; Gedye, Fallen Bastions, S. 310. The Times, 17. und 21. März 1938. Brief aus Wien ohne Unterschrift, 15. März 1938, von Lord Cecil dem Foreign Office übersandt, mit Notiz von A. M. Noble, 25. März: FO 371, Bd. 22319, Fo. 42 ff. Notizen von P. Nichols und Α. M. Noble, 19.-21. März 1938 (Unterstreichung im Original): FO 371, Bd. 22317, Fo. 214 ff. Vgl. A. J. Sherman, Island Refuge - Britain and Refugees from the Third Reich, London 1973, S. 73, 88,179 ff. Foreign Office an Mack, 15. März 1938: FO 371, Bd. 22321, Fo. 290. Parliamentary Debates, 5. Serie, 1938, Bd. 333, Sp. 990 ff., 1003-10, 2157.
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Zusammenfassung
Die Akten des Foreign Office und anderer britischer Behörden ebenso wie die der britischen Gesandtschaft in Wien enthalten einen laufenden Kommentar zur Geschichte der Ersten Österreichischen Republik. Sie sind außerordentlich detailliert, nicht nur in Fragen der Außenpolitik, sondern auch· hinsichtlich der Innenpolitik und finanzieller und wirtschaftlicher Fragen, und sie enthalten viel Neues, oder werfen neues Licht auf bekannte Vorgänge. Die Berichte der ersten Jahre nach dem Zusammenbruch des Habsburgerreiches handeln vor allem von der schrecklichen sozialen und wirtschaftlichen Lage und der angeblichen bolschewistischen Gefahr, die nach der Ausrufung der ungarischen Sowjetrepublik im Frühjahr 1919 zu drohen schien. Aber es wurde bald erkannt, daß nach deren Zusammenbruch im August 1919 die Gefahr nicht mehr akut war, und die starke Sozialdemokratische Partei eine effektive Barriere gegen die Ausbreitung des Bolschewismus bildete. Was blieb, war die gefährliche Spaltung zwischen Stadt und Land, zwischen dem „roten" Wien und den Ländern. Das führte zur Bildung der Heimwehren, die von den konservativen Landesregierungen Kärntens, der Steiermark, Tirols und Vorarlbergs unterstützt wurden. Jahrelang konzentrierten sich die Bemühungen der britischen Diplomaten auf die Entwaffnung der Heimwehren und anderer Wehrverbände, die laut den Bestimmungen des Vertrages von St. Germain illegal waren und den inneren Frieden bedrohten. Einige Zeit lang hofften die britischen Diplomaten, daß Schober, der „starke" Mann der Regierung, die Entwaffnung der Wehrverbände erreichen würde, aber die Hoffnungen wurden immer wieder enttäuscht. Nach dem Brand des Justizpalastes im Juni 1927 wurden die Heimwehren für die demokratische Republik zu einer echten Bedrohung, vor allem auch, weil sie mehr und mehr unter den Einfluß des italienischen Faschismus gerieten. Was die Republik zunächst rettete, war die Tatsache, daß die Heimwehren nie imstande waren, eine wirkliche zentrale Leitung zu organisieren, daß ihre örtlichen Führer ständig miteinander stritten und daß keiner von ihnen das Format besaß, um einen erfolgreichen Staatsstreich auszuführen. Im Rückblick scheint es erstaunlich, daß eine Bewegung, die in sich so gespalten war und weder tragende Ideen noch fähige Führer besaß, jahrelang eine so wichtige politische Rolle spielen konnte. Daß die österreichische Regierung allen Forderungen der Alliierten auf Entwaffnung erfolgreich Widerstand leisten konnte, zeigt beispielhaft, wie ein kleines Land, das ganz von auswärtiger Hilfe abhängig war, viel stärkeren Mächten Trotz bieten konnte - selbst wenn deren Forderungen völlig berechtigt waren. Wenn die Wehrverbände aufgelöst oder auch nur effektiv entwaffnet worden wären, könnte die gesamte Geschichte der Ersten Republik anders verlaufen sein, und möglicherweise würde sich ein besseres Einvernehmen zwischen der Regierung und der sozialistischen Opposition entwickelt haben. Es ist natürlich bekannt, daß Österreich in den Jahren nach 1918 gänzlich von Lebensmitteleinfuhren und ausländischen Krediten abhängig war. Weniger bekannt ist, 225
wie viel die britischen Diplomaten, vor allem Sir Thomas Cuninghamé, der Militärattaché, und private britische Organisationen zu dieser Hilfe beigetragen haben. Die bekannte Geschichte Österreichs von Erich Zöllner verzeichnet die Länder, die zur Unterstützung beisteuerten, aber ohne Großbritannien zu erwähnen. Die Akten der Society of Friends (Quäker) geben ein lebendiges Bild davon, was für Österreich geleistet wurde, und wieviele junge Ausländer in Wien und anderswo jahrelang selbstlos arbeiteten, vor allem um den Kindern zu helfen. Ihr Schicksal erweckte starke Sympathie in Großbritannien, und die britischen Hilfeleistungen waren denjenigen der Vereinigten Staaten und der skandinavischen Länder durchaus ebenbürtig, was von den österreichischen Behörden voll anerkannt wurde. Die Hilfe hätte sicherlich schon früher einsetzen können, und vor allem hätte viel mehr in den dreißiger Jahren geschehen können, als der Boykott des nationalsozialistischen Deutschlands Österreich an der Wurzel traf. Die Akten der britischen Regierung zeigen, wie dürftig die britische Hilfe für Österreich in der großen Wirtschaftskrise war, als das Handelsministerium nur „Velourhüte" vorschlug, um die österreichischen Exporte zu steigern, und bald darauf ein höherer Zoll auf eben diese Hüte gelegt wurde, um die heimische Industrie zu schützen. Alle Bemühungen des Foreign Office um mehr Konzessionen für österreichische Waren blieben erfolglos. Nachdem Hitler Reichskanzler geworden war und völlig rücksichtslos gegen Österreich vorging, um es zur Übergabe zu zwingen, war die herrschende Meinung im Foreign Office und in der britischen Regierung, daß Österreich „verloren" sei, daß die britische Diplomatie mit ihrer Unterstützung Österreichs auf „das falsche Pferd" setze - eine Meinung, die durch Dollfuß' Vorgehen gegen die Sozialisten und das „rote" Wien neue Nahrung erhielt. Die Basis des neuen „autoritären" Regimes blieb sehr schmal, und es stand unter ständiger Bedrohung von innen und außen. Immer wieder versuchte es, mit den „gemäßigten" Nationalisten und Nationalsozialisten zu verhandeln oder Vereinbarungen mit ihnen zu treffen; aber ein Versuch zu Verhandlungen mit links wurde erst unternommen, als die Uhr auf „fünf Minuten vor zwölf stand. Vielleicht hätte ein solcher, erfolgreicher Versuch, nicht erst im Jahre 1938, sondern sehr viel früher unternommen, eine stabile Basis für das Regime ergeben. Er wäre bestimmt auf die Opposition Mussolinis gestoßen, aber nach 1935 tat dieser außerordentlich wenig für Osterreich. Seine kolonialen Träume von Afrika brachten ihn in Konflikt mit den Westmächten und in Abhängigkeit zu dem anderen Diktator, der entschlossen war, die Unabhängigkeit Österreichs zu zerstören. Ob eine Versöhnung mit der Linken damals praktische Politik war und was für ein Resultat sie gehabt hätte, kann der Historiker nicht beantworten. Alles was er sagen kann, ist, sie wäre den Versuch wert gewesen. Die Bemühungen, die sogenannte „gemäßigte" Rechte zu einer Anerkennung der Unabhängigkeit Österreichs zu bringen, waren zur Erfolglosigkeit verurteilt, solange der deutsche Diktator sie verwarf. Die Ereignisse des Februars und März 1938 erschütterten die für die britische Politik Verantwortlichen sehr, reichten aber nicht aus, um sie zur Aufgabe ihrer Politik des „Appeasement" zu veranlassen. Diese wurde von Hitler für ein Zeichen britischer Schwäche und Senilität gehalten und sie hinderte ihn nicht daran, seine Ziele mit um so größerer Entschlossenheit zu verfolgen. Hitlers Ziele wurden im 226
Foreign Office klar erkannt, aber das führte nicht zu einer Änderung der Politik. Vorläufig blieb sie auf „Befriedung" ausgerichtet. Auch eine andere wichtige Frage kann aus den Akten nicht beantwortet werden: Wie stark war die Sehnsucht nach Vereinigung mit Deutschland, die in den diplomatischen Berichten so oft erwähnt wurde, und inwieweit wurde sie durch die allgemeine Not verursacht? Es war nur natürlich, daß die bedrängten sozialistischen Führer auf Unterstützung durch die stärkeren sozialistischen Parteien Deutschlands hofften, die zunächst die Regierung der Volksbeauftragten gebildet hatten. Otto Bauer und andere Parteiführer blieben der Idee des Anschlusses ihr ganzes Leben lang treu, sie folgten damit zum guten Teil der großdeutschen Tradition des Frankfurter Parlaments von 1848. Aber anscheinend war die Idee unter den Arbeitermassen weniger populär. Die Hauptvertreter des Anschlusses waren die Großdeutschen oder deutschen Nationalisten, die vor allem eine Partei der städtischen Intelligenz und der Angestellten waren. Im Jahre 1919 erreichten sie 18 Prozent der Gesamtstimmen, 1923 aber nur noch knapp 13 Prozent - und das in einem Jahr schwerer wirtschaftlicher Krise und Inflation, wovon sie eigentlich hätten profitieren müssen. Gleichzeitig wuchs die Christlichsoziale Partei, die dem Anschluß kühl gegenüberstand, von 36 auf 45 Prozent der Stimmen. Wenn diese Zahlen irgendwelche Bedeutung für die Anschlußfrage haben, deuten sie an, daß der Anschluß keine Frage war, die große Wirkung auf die Massen hatte. In den späteren zwanziger Jahren schien der deutsche Nationalismus in Österreich keine große Anziehungskraft mehr zu besitzen. Die Berichte erwähnten öfter, daß es auch eine Tendenz gab, die in der entgegengesetzten Richtung wirkte: die weitverbreitete Abneigung gegen Preußen und den norddeutschen Protestantismus - und wer könnte bestreiten, daß in „Großdeutschland" der Norden und der Protestantismus die führenden Kräfte sein würden? Nach 1933 veränderte sich das Bild. Die Verfechter des Anschlusses waren jetzt die Nationalsozialisten, während ihre Gegner auch gegen den Anschluß an Hitlerdeutschland waren. Die Frage wurde eine reine Parteifrage, und die Anhänger der Großdeutschen gingen zu den Nationalsozialisten über. Andererseits begann sich unter den Anhängern des autoritären Regimes langsam ein österreichischer Patriotismus zu entwickeln, der konservativ und katholisch, eher rückwärts als vorwärts gerichtet war, schließlich aber auch die sozialistischen Arbeiter beeinflußte - und das war wichtig für die Zukunft. Die britischen Berichte geben ein anschauliches Bild vom politischen Leben in Österreich, von den Parteien und ihren Führern, von denen Otto Bauer und Karl Renner, und ebenso Ignaz Seipel und Johann Schober an erster Stelle standen. Von wenigen Ausnahmen abgesehen sind die Berichte wohlwollend und objektiv, und das gleiche gilt für die späteren Nachrichten über Dollfuß und Schuschnigg. Sie zeigen auch, wie eng die Kontakte zwischen den britischen Gesandten und den Mitgliedern der österreichischen Regierung und hohen Beamten waren, die den Diplomaten vertraulich berichteten. Unglücklicherweise waren die Gesandten im Höchstfall für wenige Jahre in Wien - mehrere von ihnen für noch viel kürzere Zeit. Sie wechselten fast so häufig wie die österreichischen Regierungen. Wenn eine ernste Krise ausbrach - wie 1927 oder 1938 - , war der britische Gesandte in der Regel neu auf seinem Posten, was seine Aufgabe kaum erleichtern konnte. 227
Die Berichte gehen auch sehr eingehend auf die wirtschaftlichen Schwierigkeiten Österreichs ein: die Hungerjahre nach dem Krieg, die Inflation, den Zusammenbruch fast aller Banken am Ende der zwanziger und Anfang der dreißiger Jahre, der auf schlechte Verwaltung und Korruption hinwies. Während der Weltwirtschaftskrise litt Österreich wieder unter einem Niedergang des Handels und schwerer Arbeitslosigkeit, die besonders die Jugend traf; ein großer Teil der Jugend lauschte daher den Sirenengesängen von jenseits der Grenze. Unter ihr und anderen sozialen Gruppen verbreitete sich die antisemitische Propaganda, die eine lange Tradition in Österreich hatte - vor allem unter den Studenten und der städtischen Intelligenz. Die Berichte demonstrieren, wie zerbrechlich die Struktur der Ersten Republik war: Regierung und Opposition waren durch einen weiten Graben voneinander getrennt; es gab starke Wehrverbände, die einander in erbitterter Feindschaft gegenüberstanden, drohenden Bürgerkrieg und die blutigen Unruhen vom Juli 1927, allgegenwärtige politische Konfrontation und nur sehr geringe Neigung zum politischen Kompromiß. Nach 1920 gingen die Sozialdemokraten - im Gegensatz zu Deutschland - in ständige Opposition, und die tiefe Spaltung zwischen Stadt und Land machte den Ausbruch eines Bürgerkrieges wahrscheinlich. Als dieser 1934 ausbrach, dauerte er nur wenige Tage, im Februar wie im Juli. Aber das Regime wurde durch den Sieg über seine Feinde nicht wirklich gefestigt und sah sich nach wie vor starken oppositionellen Kräften von links und rechts gegenüber. Selbst die sich langsam bessernde Wirtschaftslage half nicht viel, und die poltischen Gegensätze blieben so bitter wie je. Hier findet sich eine der Hauptursachen des Untergangs der Ersten Republik ganz abgesehen von allen wirtschaftlichen Schwierigkeiten. Im März 1938 brach die Erste Republik, im Stich gelassen von den Westmächten und vom faschistischen Italien, unter deutschem Druck zusammen, und Jubel begrüßte die einmarschierenden Eroberer. Doch aus der Asche des Zweiten Weltkrieges sollte sich eine neue Österreiche Republik erheben: viel stabiler und wohlhabender als es die Erste Republik je gewesen war, und nicht mehr abhängig von den milden Gaben der Großmächte. Niemand, der die Geschichte der Ersten Republik betrachtete, konnte dieses „Wunder" erwarten. Die Anschlußidee scheint tot und begraben zu sein, wohl für immer - eine der Leistungen, die der Österreicher Adolf Hitler vollbracht hat.
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Register A Acton, Lord, britischer Diplomat 12, 27 Adler, Friedrich 26, 49 Adler, Victor 13-14 Ahrer, Dr. Jakob, Politiker 87 Akers-Douglas, britischer Diplomat 47, 4S -50, 53, 55, 83 - 84, 88 - 90, 97 Alberti, Graf Albrecht, Heimwehrführer 158 Attlee, Clement, britischer Arbeiterführer 199 Β Balfour, Lord Arthur James, britischer Außenminister 14, 17, 47 Bauer, Otto 14, 16, 29 - 30, 37, 48 - 49, 51, 56, 58 - 60, 64, 91, 105-106, 110-111, 114, 117,201,227 Beck, Ludwig, deutscher Generalstabschef 205 Berger-Waldenegg, Egon, österreichischer Minister 160, 179 Bethell, E. V., britischer Offizier 23 Bevan, Aneurin, Abgeordneter der Labour Party 222 Beviti, Ernest, britischer Arbeiterführer 199 Blum, Leon, französischer Sozialist 111 Borghese, Fürst, italienischer Beamter 18 Breitner, Hugo, Wiener Finanzsachverständiger 90, 112, 115, 117, 135 Briand, Aristide, französischer Außenminister 111, 128 C Cadogan, Alexander, Beamter im Foreign Office 73, 76, 207, 218 Cambon, Jules, französischer Diplomat 72 Carr, Edward Halle«, Beamter im Foreign Office 151, 153, 173-174, 176-177, 183, 188, 193, 200 Cecil, Lord Robert, britischer Politiker 221 Chamberlain, Austen, britischer Außenminister 207, 209, 214 Chamberlain, Neville, britischer Finanzminister 156, 172 Chilston, Lord, britischer Diplomat 87 - 88, 93 - 94, 105-106 Ciano, Graf Galeazzo, italienischer Außenminister 183, 216 Citrine, Walter, britischer Gewerkschaftsführer 144 -145, 153, 199 Clark, Dr. Hilda, Quäker 21, 42 Clemenceau, Georges, französischer Ministerpräsident 17 Crowe, Eyre, Beamter im Foreign Office 54 Cuninghame, Sir Thomas, britischer Offizier 17, 20, 22 - 23, 25, 28 - 31, 37, 41 - 42, 53, 56, 58, 60 - 61. 64, 66 - 68, 71-75, 226 Curzon, Lord George Nathaniel, britischer Außenminister
16, 22-23, 28, 41, 53, 57, 70
D Dalton, Hugh, Abgeordneter der Labour Party 113 Davies, Sir George, Abgeordneter der Konservativen Partei 222 Delbos, Yvon, französischer Außenminister 211 Derby, Lord Edward Stanley, britischer Diplomat 72 Deutsch, Julius 14, 28 - 29, 51, 67 - 69, 71-73, 103, 200 - 201 231
Dinghofer, Dr. Franz, österreichischer Politiker 54, 119 Dollfuß, Engelbert 9, 126, 130, 138-141, 143-151, 153-155, 157, 159-161, 163-164, 167-170, 179-180, 185, 226-227
ε Eden, Anthony, britischer Außenminister 172, 207, 211 Edward VII., König 25 Elliot, W„ britischer Agrarminister 157 Ender, Dr. Otto, österreichischer Politiker 129
F Fey, Emil, Heimwehrführer 152, 159, 167, 170, 173-174, 179 Franckenstein, Georg, österreichischer Diplomat 41, 102, 125, 155, 161, 178-179, 199-200, 208 Frauenfeld, Eduard, Wiener Gauleiter 163 Freud, Sigmund 222
G Gayda, Virginio, italienischer Journalist 182 George V., König 14, 22 Gföllner, Dr. Johannes, Bischof 140 Gilmour, John, britischer Außenminister Glaise-Horstenau, Edmund, österreichischer General 214 Goode, Sir William, britischer Beamter 56 Göring, Hermann 215 Gösset, F. W„ britischer Offizier 66, 68 - 69, 71 - 73. Granville, Edgar, Abgeordneter der Konservativen Partei 149- 150 Grünberger, Dr. Alfred, österreichischer Minister 47, 49, 97
H Habicht, Theo, deutscher Nationalsozialist 146 Hainisch, Dr. Michael, Präsident der Republik 50, 52, 115 Halifax, Lord Edward Frederick Lindley, britischer Außenminister 206, 208, 214-215 Hauser, Johann, Prälat 38 Henderson, Gewerkschaftssekretär 153 Henderson, Arthur, britischer Außenminister 111,114, 125, 128, 199, 222 Henderson, Sir Nevile, britischer Diplomat 213, 215 - 216, 219 Hilferding, Dr. Rudolf, deutscher Finanzminister 112 Hindenburg, Paul, Reichspräsident 85 Hitler, Adolf 135, 137, 139-140, 143-146, 148, 150-151, 157, 160-161, 163-164, 168, 174, 176, 180-183, 185-186, 193-196, 198, 205 - 209,211,213 - 219,226, 228 Hoare, Sir Samuel, britischer Innenminister 222 Horthy, Miklos, Admiral 61 Hudal, Alois, Bischof 209 Hugenberg, Alfred, deutschnationaler Politiker 112 232
I Innitzer, Theodor, Kardinal 218 J J ansa, Alfred, österreichischer General 139, 182-183, 186 Jones, Dr. Ernest, britischer Psychoanalytiker 222 Κ Karl I., Kaiser von Österreich-Ungarn 31 Koplenig, Johann, österreichischer Politiker 118 Kontschoner, Franz, österreichischer Politiker 63 Kömer, Theodor, österreichischer General 97 KoroSec, Anton, jugoslawischer Politiker 12 Krauss, Alfred, österreichischer General 66 Kun, Béla, ungarischer Politiker 25 L Lammasch, Heinrich, österreichischer Ministerpräsident 28 Lampson, Miles, Beamter im Foreign Office 96 Laski, Neville, Vertreter der britischen Juden 159-160 Law, Andrew Bonar, britischer Minister 14 Leeper, Allen W. Α., britischer Diplomat 102 -103 Leopold, Josef, österreichischer Nationalsozialist 193,195,197-198 Levi, Dr. Paul, deutscher Politiker 62 Lindley, Francis Oswald, britischer Diplomat 17, 19 - 20, 22 - 25, 29 - 31, 41 - 44, 46, 51-54, 56 - 60, 63 - 64, 66 - 68, 72 - 73, 75 Ludendorff, Erich, Deutscher General 66, 91 M MacDonald, Ramsay, britischer Ministerpräsident 96-97, 157, 169 Majster, Rudolf, jugoslawischer General 18 Manchester, Herzog von 43 Mandl, Fritz, österreichischer Industrieller 159, 168, 175, 188 Masaryk, Jan, tschechoslowakischer Diplomat 184 Masaryk, Thomas G., tschechoslowakischer Präsident 19 Mayr, Dr. Michael, österreichischer Bundeskanzler 70 Messersmith, amerikanischer Gesandter in Wien 188 Mihlas, Wilhelm, Präsident der Republik 115, 118, 145, 169, 184, 188, 215 Morrison, Herbert, Abgeordneter der Labour Party 110-111, 199 Müller, Hermann, Reichskanzler 116 Mussolini, Benito 114, 138, 144-149, 157, 159, 163-164, 170, 173-174, 178-179, 181-183, 187, 207,209,226 Ν Namier, Lewis, Beamter im Foreign Office 14, 16, 32 Neurath, Freiherr Konstantin von, deutscher Außenminister Nichols, P., Beamter im Foreign Office 221-222 Nicolson, Harold, Beamter im Foreign Office 76 Niemeyer, Sir Otto, britischer Beamter 86
182, 205
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o O'Malley, Owen St Clair, Beamter im Foreign Office 172 Ρ Pabst, Waldemar, Major und Heimwehrführer 109, 111, 113, 133-135 Pacelli, Eugenio, Kardinal 140 Palairet, Michael, britischer Diplomat 205 - 214, 216 Papen, Franz von, deutscher Botschafter in Wien 180, 195, 205 Parmoore, Lord, britischer Politiker 41 Paul-Boncour, J„ französischer Außenminister 144 Peck, S. Capel, britischer Offizier 17 - 1 8 Pfrimer, Dr. Walter, Heimwehrführer 109, 111, 113, 136 Phipps, Sir Eric, britischer Diplomat 107-109, 112-118, 120, 123, 125-131, 134-135, 137-139, 143-146, 195 R Raab, Julius, Heimwehrführer 135 Ramek, Dr. Rudolph, österreichischer Bundeskanzler 84, 89 - 90, 93 Redlich, Joseph, österreichischer Historiker 52 Reinthaller, Anton, österreichischer Nationalsozialist 174-175 Renner, Karl 16, 23, 25, 27, 30-31, 38, 48, 56, 59, 63, 75, 117, 138, 143, 149, 227 Ribbentrop, Joachim von, deutscher Außenminister 205, 215 Riehl, Dr. Walter, österreichischer Nationalsozialist 91 Rieth, Dr. Kurt, deutscher Diplomat 130 Rintelen, Anton, österreichischer Politiker 61, 66, 69, 72, 86-87, 126, 146, 149, 167, 174 Robinson, W. Α., Abgeordneter der Labour Party 199 Röhm, Emst, SA-Führer 168, 180 Rost van Tonningen, M. M., holländischer Sachverständiger 87, 126 -127, 144, 148, 150 Rumbold, Sir Horace, britischer Diplomat 15, 27 Runciman, Walter, britischer Handelsminister 155-156, 172 S Sargent, Sir Orme, Beamter im Foreign Office 103, 145, 153, 155, 176-178, 184, 199, 207-208, 216, 223 Schmidt, Dr. Guido, österreichischer Außenminister 198, 205-206 Schober, Johann, österreichischer Bundeskanzler 25, 44, 46, 53-55, 66, 69, 73, 108, 113-116, 125, 128-130, 134, 225,227 Schönburg-Hartenstein, Fürst, österreichischer Minister 159 Schönerer, Georg von, österreichischer Politiker 54 Schubert, Carl, deutscher Diplomat 119 Schüller, Richard, österreichischer Politiker 118 Schumy, Vincent, österreichischer Politiker 133 -134 Schuschnigg, Kurt von 167, 169, 173- 175, 177, 179-183, 185-186, 188-190, 195, 197, 199, 202, 205-209, 211-216, 219, 223, 227 Seipel, Dr. Ignaz 46 - 51, 55, 83 - 84, 88 - 91, 97, 103 -104, 108 -111, 113, 115 -116, 119, 129-130, 227 Seite, Karl, Wiener Bürgermeister 49, 90, 102-103, 173, 199 Selby, Sir Walford, britischer Diplomat 146, 149-151, 153-154, 158- 159, 161, 163-164, 169-171, 173-180, 182-188, 193-195, 199 - 201 234
Seyß-Inquart, Dr. Arthur, österreichischer Nationalsozialist 186, 206-208, 210-211, 213-215 Sibilla, Mgr., Nuntius in Wien 118 Simon, Sir John, britischer Außenminister 145, 147- 149, 153-157, 170, 177, 199-200 Smuts, Jan Christian, südafrikanischer General 21 Snowden, Philip, britischer Finanzminister 124 Spranklin, Philip John, britischer Faschist 198 Starhemberg, Ernst Rüdiger von, Heimwehrführer 109, 134-137, 158-159, 173-180 Steed, Wickham, britischer Journalist 161, 209 Steidle, Dr. Richard, Heimwehrführer 67, 107, 109-111, 113, 133-135 Stinnes, Hugo, deutscher Industrieller 120 Strasser, Joseph, österreichischer Politiker 62 Streeruwitz, Ernst von, österreichischer Bundeskanzler 111 Stumpf, Dr. Franz, Tiroler Landeshauptmann 107 Suvich, Fulvio, italienischer Diplomat 150, 164 Τ Tavs, Dr. Leopold, österreichischer Nationalsozialist 197-198 Temperley, Harold, britischer Historiker 61 Thomas, J. H., Minister für die britischen Dominions 157 Tittoni, Tommaso, italienischer Außenminister 17 Tyrrell, Sir Williams, Beamter im Foreign Office 15 V Vansittart, Sir Robert, Beamter im Foreign Office 125, 146, 154-157, 159, 161, 165, 170, 174, 178-179, 182, 184-185, 198, 200, 202, 207, 209 Vaugoin, Carl, österreichischer Heeresminister 75, 96 - 98, 115-116, 120, 128 W Walkó, Lajos, ungarischer Außenminister 102 Watzek, Adolf, österreichischer Minister 211 Wedgwood, Josiah, Abgeordneter der Labour Party 14, 222 Weizmann, Chaim, Zionistenführer 148 Wiktorin, österreichischer Generalmajor 186 Wilhelm II., deutscher Kaiser 12 Wilson, Woodrow, amerikanischer Präsident 11, 17 Ζ Zimmerman, Dr., holländischer Sachverständiger Zöllner, Erich, österreichischer Historiker 226 Zuccari, italienischer General 66
84, 90, 97
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