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German Pages [457] Year 2018
Schriftenreihe des Forschungsinstitutes für politisch-historische Studien der Dr.-Wilfried-Haslauer-Bibliothek, Salzburg
Herausgegeben von Robert Kriechbaumer · Franz Schausberger · Hubert Weinberger Band 64
Lothar Höbelt
Die Erste Republik Österreich (1918–1938) Das Provisorium
2018 Böhlau Verlag Wien · Köln · Weimar
Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek : Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.
Coverabbildung : Rudolf Konopa, Die Ausrufung der Republik vor dem Parlament am 12. November 1918, Gemälde ; © WienMuseum, Inv.-Nr. 48845
© 2018 by Böhlau Verlag Ges.m.b.H & Co. KG, Wien Kölblgasse 8 –10, A–1030 Wien, www.boehlau-verlag.com Alle Rechte vorbehalten. Dieses Werk ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist unzulässig. Korrektorat : Philipp Rissel, Wien Einbandgestaltung : Hawemann&Mosch, Berlin Satz : Michael Rauscher, Wien
ISBN 978-3-205-20811-1
Inhaltsverzeichnis
Vorwort . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 11 I. Die Voraussetzungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Geografie : Der Rest ist Österreich . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Ökonomie : »Produktion ohne Markt, Markt ohne Produktion«.. . Das liebe Geld : Kapital und Inflation . . . . . . . . . . . . . . . . . Die Lücke in der Zahlungsbilanz : Industrie und Landwirtschaft . . Armut = Krise ?.. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Vorsprung durch Technik ? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3. Der Anschluss : Die überstrapazierte Selbstverständlichkeit . . . . .
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II. Zu groß für Österreich : Die Parteien . . . . . . . . . . . . . . 1. Die Sozialdemokratie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Die Einheit der Arbeiterklasse . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Partei und Gewerkschaft . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Links oder rechts ? Wien und die Länder . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Die Christlichsozialen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Pro und contra Lueger : Populisten und Konservative . . . . . . . . . Pro und contra Seipel : Bürgerblock oder Weltanschauungspartei ? . . Das Ende des Kulturkampfs ? Literarische Indizien . . . . . . . . . . 3. Das dreigeteilte »dritte Lager« . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Das Bürgertum : Beamte und Industrie . . . . . . . . . . . . . . . . . Bauern und Arbeiter : Landbund und NSDAP . . . . . . . . . . . . .
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Exkurs I : Der Kummer mit dem Antisemitismus . . . . . . . . . . . . . . . . . 104 Exkurs II : Der Adel und die Legitimisten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 113 Exkurs III : Das Phänomen der Wehrverbände.. . . . . . . . . . . . . . . . . . 116 III. Die politischen Konjunkturen . . . . . . . . 1. Die »Österreichische Revolution« 1918–1920.. . . Der Sprung in die Republik. . . . . . . . . . . . . . Große Koalition mit gebundener Marschroute . . . Das Pflichtpensum : Friede und Verfassung . . . . . 2. Die Österreichische Gegenrevolution 1920–1923. . Auf Umwegen zum Bürgerblock . . . . . . . . . . . Genf : Die Revanche für den 12. November ? . . . .
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Inhaltsverzeichnis
3. Die Mühen der Ebene 1923–1927 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Das Leiden der Beamten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Das Dilemma der Föderalisten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Die Einheitsliste . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4. Schubumkehr 1927–1929 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Der Justizpalastbrand . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Die Renaissance der Heimwehren . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Seipels taktischer Rückzug . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5. Der »Unabhängige mit der Kornblume« : Die Ära Schober 1929–1931. . Das Verständigungskabinett Streeruwitz . . . . . . . . . . . . . . . . . . Die Verfassungsreform . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Der Schoberblock . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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IV. Die großen Krisen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Der Zusammenbruch der Creditanstalt 1931/32 . . . . . . . . . . Der »schwarze Freitag« . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Die versäumte Chance ? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Das Verlöschen des Bürgerblocks.. . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Minderheitsregierungen 1932/33. . . . . . . . . . . . . . . . . . . Der agrarische Kurs . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Übergangslösung Dollfuß ? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Lausanne oder Hirtenberg ?.. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3. Der unvorhergesehene »Staatsstreich auf Raten« 1933. . . . . . . »Ein Wink der Vorsehung« : Die Geschäftsordnungspanne vom 4. März 1933 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Die Opposition : »Roter und brauner Sozialismus«. . . . . . . . . Vaterländische Front und Ständestaat . . . . . . . . . . . . . . . . 4. Das »Bürgerkriegsjahr« 1934 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Vom Jänner-Krach zum Februar-Aufstand . . . . . . . . . . . . . Vom Februar-Aufstand zur Mai-Verfassung. . . . . . . . . . . . . Der Juliputsch . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5. Die Ära Schuschnigg 1934–1936 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Illegale und Befriedungsaktionen.. . . . . . . . . . . . . . . . . . Das Ende der Heimwehren und das Veto gegen die Monarchie . . Das Juli-Abkommen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 6. Die Endphase des Regimes 1937/38 . . . . . . . . . . . . . . . . . Austerity und Pluralismus ? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Die Nazis spalten : Seyß-Inquart und Göring . . . . . . . . . . . . Der Dammbruch. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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Inhaltsverzeichnis
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V. Schlussbetrachtung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 363 Anhang : Wahlergebnisse. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 367 Anmerkungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 385 Abkürzungsverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 413 Quellen- und Literaturverzeichnis.. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 415 Bildnachweis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 449 Personenregister . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 450
Meinem Bruder Georg (1961–2016), der mir hoffentlich die eine oder andere spitze Bemerkung über die Beamten verzeihen würde.
Vorwort »The past is a foreign country. They do things differently there.« Leslie P. Hartley, The Go-Between (1953)
Die Erste Republik wird meist als missratene Vorgängerin der Zweiten betrachtet. Diese Erzählung von Verblendung und Einkehr, vom »Staat, den keiner wollte« zur »Insel der Seligen«, wie es Hellmuth Andics in seiner Chronik beschreibt, hat sich als Selbstbewusstsein stiftender Prolog der Zweiten Republik bewährt, aber er trägt wenig bei zum Verständnis der Zwischenkriegszeit. Die Erste Republik war nicht die Vorläuferin der neutralen Alpenrepublik nach 1945/55, sondern sie bestand aus den Waisen und Abtrünnigen der Habsburgermonarchie, in einem seltsamen Mischungsverhältnis übrigens, denn es gab nach 1918 kaum politisch aktive Monarchisten, aber relativ bald eine weitverbreitete Nostalgie nach der guten alten Zeit, oder zumindest einzelnen Aspekten davon. Selbst geeichte Republikaner sehnten sich bei Gelegenheit nach Zuständen wie in der Monarchie, von der Wirtschaft einmal ganz abgesehen, die sich über Jahrzehnte vergeblich bemühte, wiederum »Vorkriegsqualität« zu erreichen, sprich : das Niveau von 1913 – einmal kam ihr da die Weltwirtschaftskrise dazwischen, dann der Zweite Weltkrieg ; erst in den heute gern als »restaurativ« verteufelten Fünfzigerjahren war es dann so weit. Die Erste Republik war geprägt davon, was sie von der Monarchie geerbt hatte, vielleicht mehr noch, was sie durch ihren Zerfall verloren hatte. Doderer sprach einmal von den selbstständig weiterschwimmenden Teilen eines Wracks,1 aber strenggenommen im Zusammenhang mit Ungarn, das immer noch um einiges kompakter und selbstbewusster war. Sie war ein Provisorium, das den Charakter des unfertigbehelfsmäßigen nie ganz hinter sich ließ : Selbst als man nach zehn Jahren daranging, die Verfassung zu reformieren, blieben mehr Baustellen als Fundamente zurück. Dafür ragten ein paar erratische Blöcke wie das berühmt-berüchtigte Kriegswirtschaftliche Ermächtigungsgesetz in die neue Ära hinein. Freilich : Gerade in Österreich weiß man, dass Provisorien mitunter recht langlebig sein können. Der längstdienende österreichische Regierungschef, Graf Eduard Taaffe, der sich nicht zufällig gerne auf das Fortwursteln oder »Durchg’fretten« berief, formulierte einmal kasuistisch, da alles veränderlich sei, sei eigentlich alles natürlich auch bloß provisorisch. Dennoch : Die gewisse Selbstzufriedenheit der beati possidentes, der Konservativen mit einem kleinen k, die sich in der subkutanen Überzeugung niederschlug, im Prinzip ja doch in der besten aller möglichen Welten zu leben, fehlte den Österreichern vor bald hundert Jahren – vielleicht weil es so wenig beati possidentes gab – und selbst wer insgeheim so dachte, getraute es sich nicht laut zu sagen : Gefordert war
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ein Bekenntnis zur Alternative, zumindest ein Lippenbekenntnis. Ob Anschluss oder Restauration, Vergesellschaftung der Produktionsmittel oder ständische Gliederung der Gesellschaft, im Extremfall dann vielleicht Faschismus oder Kommunismus, all diesen Entwürfen gemeinsam war ein latentes Misstrauensvotum gegen die bestehende Ordnung, die eben nicht als Ordnung empfunden wurde. Die Ideologien, die hinter diesen Entwürfen standen, sind seither nach Strich und Faden zerzaust worden, von den besserwissenden Nachgeborenen, schlimmer und überzeugender noch : von der Geschichte selbst, die sie alle nacheinander ad absurdum geführt hat. Vom Linzer Parteitag bis zum Trabrennplatz, vom Korneuburger Eid bis zur einen oder anderen »Führerrede« (und gerade an Führern herrschte kein Mangel !), sind sie bis zur Erschöpfung zitiert und analysiert worden. Diese Exegese in allen Ehren, aber stellt sich für den Historiker die eigentliche »ideologiekritische« Frage nicht ganz anders ? Nämlich : Waren all diese ideologischen Versatzstücke auch tatsächlich geschichtsmächtige Ideen, maßgebend für die Taten und Untaten, gegebenenfalls auch die Unterlassungssünden, unserer handelnden Personen ? All diese Zukunftsentwürfe waren nämlich die längste Zeit vor allem einmal durch ihre Unerreichbarkeit gekennzeichnet. Man hielt an den Visionen fest, zweifellos ; aber man musste sich inzwischen doch auch irgendwie über die Gegenwart hinweghelfen. Gerade wenn einem an der gegenwärtigen Ordnung prinzipiell wenig lag, konnte man in dieser Hinsicht ziemlich voraussetzungslos und ganz pragmatisch handeln. Ernst von Salomons »Fragebogen« ist ein literarisches Meisterwerk und gerade deshalb als Geschichtsquelle besonders kritisch zu hinterfragen, aber die Episode, wie der deutsche Freikorpsführer mit seinen österreichischen Kameraden zusammentrifft, die alles noch viel radikaler sehen, verdient an dieser Stelle dennoch zitiert zu werden. Der Preuße will die vermeintlichen »Fundis« verwundert gefragt haben, wie sie all das denn umsetzen oder verwirklichen wollten, und erhielt zur Antwort ein entwaffnendes Schulterzucken : Wir packeln halt. Sprich : Man dachte weiter in Großmachtkategorien und weltbewegenden Konzepten ; war sich dabei aber der Grenzen der Politik in einem Kleinstaat sehr wohl bewusst. Auf Sicht galt es weiterhin zu »packeln« – und das galt auch für diejenigen (wie Salomons Gesprächpartner, die Söhne des Paradeideologen Othmar Spann), die jegliches »Packeln« im stolzen Bewusstsein der eigenen Rechtgläubigkeit nach außen hin weit von sich wiesen. Wenn man die Geschichte der Ersten Republik nicht als klassische Tragödie schreiben will, als Moritat der Sünden wider die Demokratie (die bürgerliche oder die soziale, die mechanische oder die wahre, welche auch immer), oder als Geschichte der »versäumten Gelegenheiten«, sondern so »wie es eigentlich gewesen ist«, sprich : als möglichst realitäts- und quellennahe Rekonstruktion des Kontexts, in dem unsere Vorfahren agierten, so ist dieses »Wir packeln halt« kein schlechtes Leitmotiv. Zwar gab es in jedem der drei politischen Lager immer wieder Stimmen, die sich diesem Vorwurf nicht aussetzen, sondern abwarten wollten, bis ihre Zeit gekommen war,
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warten auf die nationale oder soziale Revolution, auf das neue Jahr 1813 oder ein zweites Jahr 1917. Allenfalls gute Katholiken mochten sich erinnern, dass das Reich Gottes bekanntlich nicht von dieser Welt ist. Doch letztendlich spielt sich Politik – aller Rhetorik, oder auch echter Überzeugung zum Trotz – nicht ganz unbeeinflusst von konkreten Interessen ab, denen mit politisch korrekter Abstinenz nicht gedient ist. Selbst berüchtigte Katastrophenpolitiker ließen sich da gerne ein Hintertürchen offen. So stichelte eine Zeitung wohl nicht zu Unrecht, warum der Bannfluch Adolf Hitlers gegen jegliche Teilnahme an Wahlen im Jahre 1923 ausgerechnet in Kärnten nicht befolgt zu werden brauchte ? Die Erste Republik hatte ihr gerüttelt Maß an zeitbedingten Verbohrtheiten, so wie jede Epoche ; sie war nicht frei von political correctness, die sich bloß in andere Richtungen bewegte als die heutige. Um nur zwei hervorragende Beispiele zu nennen : Die ständige Berufung auf den Anschluss als Quelle allen Heils, als unablässiges »ceterum censeo«2, muss zuweilen wohl auch braven Deutschnationalen ebenso auf die Nerven gegangen sein wie das heutige »O mani padme hum« in Bezug auf die EU den Befürwortern des Beitritts 1994. Ein gewisses Maß an Antisemitismus gehörte fast überall genauso zum Standardrepertoire der Politik wie heute die eilfertige Distanzierung davon. Aber es wäre m. E. ein Irrtum, daraus die Schlussfolgerung abzuleiten, die Politiker der Zwischenkriegszeit wären so sehr im Wolkenkuckucksheim ihrer Vorurteile befangen gewesen, um zugunsten der Taube auf dem Dach den Spatz in der Hand geringzuschätzen. Unverständlich erscheint so manches vielleicht nur dann, wenn man sich nicht bemüht, die näheren Umstände zu erforschen und zu erklären. Die Politiker der Zwischenkriegszeit standen schließlich nicht vor der Herausforderung, ihren Nachfahren zu gefallen, sondern ihren Zeitgenossen. Man sollte sich in diesem Zusammenhang an ein Marx-Zitat erinnern, allerdings nicht von Karl, sondern von Groucho Marx : »What has posterity ever done for me ?« Ich hingegen habe bei den Recherchen für dieses Buch die Unterstützung vieler Freunde und Kollegen genossen, bei denen ich mich an dieser Stelle ganz herzlich bedanken möchte : Mein alter Freund Rudolf Jerabek hat mir seine Transkriptionen der christlichsozialen Klubvorstandsprotokolle 1931/32 zur Verfügung gestellt ; Annemarie Hartleb (†), Baron Johann-Christoph Allmayer-Beck (†), Graf Ernst Hoyos (†), Graf Dominik Revertera und Fürst Georg Starhemberg haben mir den Zugang zur Hinterlassenschaft ihrer Vorfahren eröffnet ; für ihre Begleitung nach Horn, Helfenberg und Eferding danke ich Baronin Gertraud Buttlar und HR Georg Heilingsetzer ; in den staatlichen Archiven haben mir insbesondere Pia Wallnig und Roman Gröger vom Österreichischen Staatsarchiv ; Cornelia Sulzbacher und Josef Goldberger vom Oberösterreichischen Landesarchiv ; Gerhard Pferschy und Gernot Obersteiner vom Steiermärkischen Landesarchiv, Alois Niederstätter vom Vorarlberger Landesarchiv und Robert Kaller vom Institut für Zeitgeschichte die Arbeit sehr erleichtert. Vielfältige Anregungen verdanke ich meinen Studenten, die sich
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mit einschlägigen Themen beschäftigt haben : Susanne Bauda, Ute Bauer, Gerald Brettner-Meßler, Roman Eccher, Harald Fiedler, Robert Lukan, Andreas Pauschenwein, Hannes Rosenkranz, Dietmar Schimanko, Lucas Stecher, Norbert Zand und Wolfgang Zaunbauer ; von den Seminaristen des SS 2016 insbesondere Egor Lykov und Benedikt Stimmer ; für diverse zweckdienliche Hinweise zu danken habe ich Elisabeth Lehner, Eva Reinhold-Weisz, Klaudia Tanner, Johann Girschik, Sepp Koller, Reinhold Lopatka, Wolfgang Maderthaner, Max Obauer, Martin Pfundner (†), Klaus Reisch, Alois Steinhauser, Helmut Wohnout, Alois Wurzinger und Michael Pammer, der außerdem so freundlich war, einige Grafiken zur Verfügung zu stellen. Für die Bereitstellung von Bildmaterial aus seiner reichhaltigen Sammlung bin ich ein weiteres Mal auch Mario Strigl zu Dank verpflichtet. Bei der Erstellung von Grafiken und der Herbeischaffung von Bildmaterial waren mir mein Bruder Thomas, mein Sohn Daniel und Johannes Kalwoda eine große Hilfe. Des Manuskripts mit professioneller Expertise angenommen haben sich schließlich Ursula Huber und Stefanie Kovacic vom Böhlau Verlag. Herrn Kollegen Robert Kriechbaumer danke ich sehr herzlich für die Aufnahme des Buches in die Serie der Studien der Wilfried-Haslauer-Stiftung. Lothar Höbelt, Wien/Pardubitz im Herbst 2017
I. Die Voraussetzungen »Der Staat der unmöglichen Begrenztheit«3 Felix Frank zur 10-Jahr-Feier der Republik 1928 »Uns alle beherrscht das Gefühl, daß die jetzigen Zustände des Staatssystems keine dauerhaften sind. Wir sind in einem vorübergehenden Zustand, von dem wir alle fühlen, daß er so nicht bleiben kann.«4 Viktor Kienböck, 15. Februar 1920
1. Geografie : Der Rest ist Österreich Der französische Premierminister Georges Clemenceau soll im Zuge der Friedensverhandlungen nach dem Ersten Weltkrieg einmal gesagt haben : »Der Rest ist Österreich.« Leider ist das Zitat »apokryph«, sprich : vermutlich bloß gut erfunden. Im Französischen klingt der Satz weit weniger prägnant ; einschlägige Originalquellen finden sich nirgendwo zitiert.5 Als Ausgangspunkt für eine Geschichte der Ersten Republik eignet sich das angebliche Zitat dennoch ganz gut. Denn das Österreich des Jahres 1919 war tatsächlich der Rest, und zwar in mehr als einer Beziehung. Die Republik war ein Zerfallsprodukt der Monarchie. Später schrieb ein italienischer Gesandter unter Bezug auf das Völkermanifest Kaiser Karls vom 17. Oktober 1918 sogar, in Österreich, der Heimat der Operette, sei sogar die Republik auf kaiserlichen Befehl ins Leben getreten.6 Das war selbstverständlich eine Übertreibung, aber nicht ohne einen wahren Kern. Das Deutsch-Österreich, das sich aufgrund dieses kaiserlichen Manifests am 30. Oktober konstituierte, sollte alle deutschen Wahlkreise der Habsburgermonarchie umfassen. Was davon nach Saint Germain übrig blieb – der Rest eben – waren nicht einmal zwei Drittel davon. Diese territorialen Verluste gilt es im Detail zu analysieren : Ein paar Wahlkreise mussten wohl von vornherein abgeschrieben werden, z. B. die verstreuten Siedlungsgebiete in der Bukowina, die schwerlich irgendeinen Zugang zum »Rest« herstellen konnten. Dasselbe galt, bei Licht betrachtet, für die deutschen Sprachinseln in Mähren oder in Ostschlesien, um die sich Tschechen und Polen stritten, zum Schluss auch noch für die Gottschee, eingekeilt zwischen Slowenen und Kroaten, oder für die untersteirischen Städte mit deutscher Mehrheit wie Cilli oder Pettau. Überhaupt nicht berücksichtigt waren im Rahmen des Völkermanifests die zwei Millionen Ungarndeutschen geblieben, von den Siebenbürger Sachsen bis zu den
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Die Voraussetzungen
Banater Schwaben. Doch boshaft wie die Siegermächte nun einmal waren (Kanzler Streeruwitz sprach sogar von einer »teuflischen List«), kam ihnen gerade hier der Gedanke, dem selektiv gehandhabten Prinzip des Selbstbestimmungsrechts ihre Reverenz zu erweisen und einen möglichen Zankapfel zwischen Österreich und Ungarn zu werfen. Die deutsch besiedelten Gebiete Westungarns, zusammengesetzt aus Teilen der Komitate Pressburg, Altenburg, Ödenburg und Eisenburg, daher »(Vier-) Burgenland«, sollten nach diversen Wechselfällen – Revolution und Gegenrevolution in Ungarn – in etwas verkürzter Form 1921/22 den Weg zu Österreich finden.7 Mit der Viertelmillion Deutsch-Westungarn kamen 40.000 Kroaten, die mit Deutsch-Österreich keine Schwierigkeiten hatten ; als gute Katholiken auch nicht mit den Christlichsozialen – ihr Vertreter Lorenz Karall, der ursprünglich noch in der Horthy-Armee gedient hatte, brachte es schließlich sogar zum Landeshauptmann, wenn auch erst nach 1945. Außerdem gab es eine kleine, aber einflussreiche ungarische Minderheit, von anfangs ca. 15.000 Personen, darunter Großgrundbesitzer wie die Esterhazys oder im Süden die Almassys, Batthyanys und Draskovichs. Misstrauisch beäugt wurde lange Zeit eine Klientel von sogenannten »Magyaronen«, Konservative mit deutscher Muttersprache, vor allem im Nordburgenland, die vielleicht doch lieber beim Reich der Stephanskrone verblieben wären, von den geadelten Ackerbürgern in Rust – wie dem späteren christlichsozialen Landesrat Ratz – bis zu den Pfarrern im Seewinkel. Auch der spätere Landeshauptmann Anton Schreiner (1928/29, 1930/31) galt als der politische Ziehsohn des Ödenburgers Johann Huber mit seiner »Partei der christlichen Deutschen zum Schutz der Interessen Ungarns«.8 Ödenburg fiel nicht zuletzt deshalb, weil Konservative im Zweifelsfall den Verbleib bei Ungarn vorzogen, nach einer umstrittenen Volksabstimmung bekanntlich doch noch an Ungarn. Die Gendarmerie, die nach der Ratifikation des Friedens von Trianon im September 1921 das Burgenland in Besitz nehmen wollte, kehrte nach einem Zusammenstoß mit ungarischen Freischärlern bei Agendorf/Agfalva kurz vor Ödenburg wieder um. Die Wiener Neustädter Sozialdemokraten unter der Führung des streitbaren Lokführers Josef Püchler wollten mit zwei improvisierten Panzerzügen kurz darauf schon einen Handstreich auf Ödenburg durchführen, nach dem Muster Gabriele d’Annunzios in Fiume. Doch Friedrich Adler als Sendbote der Partei redete ihnen derlei Husarenstücke aus. Österreich vertraue doch besser der Diplomatie. Die Italiener vermittelten zwischen Österreich und Ungarn. Das Ödenburger Plebiszit war kein offenes Rennen, sondern ganz offensichtlich dazu ausersehen, Ungarn zumindest einen Trostpreis zu garantieren.9 Dramatischer noch waren die Vorgänge an der Südgrenze. Mit den untersteirischen Städten gingen gut 70.000 Deutschösterreicher verloren, Cilli und Pettau, schließlich auch Marburg. In Kärnten blieben, nach Abwehrkampf und Volksabstimmung, dafür ca. 40.000 Slowenen letztendlich doch bei Österreich. Nur das Kanaltal (Tarvis) und das Mießtal (Prävali) wurden von Kärnten abgetrennt. Dafür ging an Italien
Geografie : Der Rest ist Österreich
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verloren, was ab jetzt unter dem Namen Südtirol bekannt wurde (vor 1918 war damit Welschtirol gemeint gewesen, das Trentino). Betroffen waren gut 250.000 Deutsche, in einem nahezu geschlossenen Siedlungsgebiet. Im nunmehrigen ›Alto Adige‹ lebten vor 1914 kaum mehr Italiener als in Vorarlberg. Aus dieser Grenzziehung von 1919/20, Südkärnten und Südtirol, ergaben sich die zwei klassischen Minderheitenprobleme, die – mit verkehrten Vorzeichen – die österreichische Außenpolitik der Zweiten mehr noch als der Ersten Republik beschäftigen sollten. Die Brennergrenze war Italien schon 1915 im Londoner Vertrag zugesichert worden, nicht zuletzt, um es darüber hinwegzutrösten, dass es doch nicht ganz Dalmatien bekommen sollte. Damit war ein Dreiecksverhältnis angesprochen, das uns noch öfter beschäftigen wird, zwischen Österreich, Italien und »Jugoslawien«. An der Brennergrenze war nicht zu rütteln, auch wenn sich an dieser Frage – wie an fast allem, was mit Südtirol zusammenhängt – viele Debatten entzündet haben. Die österreichische Außenpolitik machte gute Miene zum bösen Spiel, um im Gegenzug die Siegermacht Italien als klammheimlichen Verbündeten gegen Jugoslawien zu gewinnen. Der Verdacht, Otto Bauer habe das freisinnige Kärnten bewusst dem katholischen Tirol vorgezogen, ist mehr ins Reich der Verschwörungstheorien zu verweisen. Jugoslawien konnte den Österreichern in Tirol nicht helfen ; Italien in Kärnten schon. Allenfalls die Krise im April 1919, als der italienische Ministerpräsident Orlando empört die Friedenskonferenz verließ, mochte die Illusion nähren, hier wäre noch etwas zu retten gewesen, wenn man nur rechtzeitig und unzweideutig genug auf die französische Karte gesetzt hätte.10 Der Kärntner Abwehrkampf war immer noch eine riskante Sache, weil jeder Widerstand gegen Entente-Truppen als Bruch des Waffenstillstands ausgelegt werden konnte. In Wien war man deshalb anfangs vorsichtig. Waren die slowenischen Verbände, die schließlich genauso aus Mannschaften alter österreichisch-ungarischer Einheiten bestanden wie ihre Gegner, wirklich Entente-Truppen ? Man behalf sich mit der Sprachregelung, dazu müssten sie erst einmal offizielle Aufträge alliierter Kommanden vorweisen. Zwar gab den Anstoß zur Volksabstimmung vom 10. Oktober 1920 nach der ersten Runde des Abwehrkampfes eine amerikanische fact-finding mission im Februar 1919, ursprünglich in einem »Akt des Ungehorsams« durchgeführt, seit Jörg Haiders Zeiten durch ein Denkmal vor der Landesregierung gewürdigt, aber die italienischen Besatzer, die bis dahin die Stellung hielten, ließen über ihre Sympathien von vornherein keinen Zweifel aufkommen. Italien und Wilsons USA entwickelten sich im Laufe der Friedenskonferenz zu Antipoden. Doch zum Glück für Kärnten fiel die Entscheidung über Kärnten in den Wochen davor, noch im März 1919, in einem der raren Momente italienischamerikanischer Übereinstimmung. Beide wollten das Klagenfurter Becken ungeteilt bei Kärnten lassen. Die Engländer setzten als Kompromiss eine Volksabstimmung durch. Die Österreicher hätten sich allenfalls auch mit dem Gebiet nördlich der Drau
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Die Voraussetzungen
zufriedengegeben ; diesmal kam ihnen die Hybris der Gegenseite zugute, die sich auch in einer größeren Abstimmungszone gute Chancen ausrechneten, wegen der laut Volkszählung von 1910 dort bestehenden slowenischen Mehrheit. Doch auch damals hatten zwar 21 % der Kärntner Slowenisch als Umgangssprache angegeben, aber nur die Hälfte von ihnen slowenische Parteien gewählt. Diese Differenz machte sich auch am 10. Oktober 1920 bemerkbar. Fast die Hälfte der Slowenen, ca. 42 %, optierte für Österreich – oder zumindest gegen das Königreich der Serben, Kroaten und Slowenen.11 Doch die Dramatik – und die Debatten – über Südkärnten und Südtirol sollen nicht ablenken von dem eigentlichen Trauma, der Amputation, die an DeutschÖsterreich 1919 durchgeführt wurde, nämlich dem Verlust der Sudetengebiete. Dort hatten sich noch Ende 1918 zwei neue Kronländer gebildet, Kronländer schon ohne Krone : Deutschböhmen mit seiner Hauptstadt in Reichenberg wäre mit einer Bevölkerung von über 2 Mio. das größte Bundesland gewesen ; das eigentliche Sude tenland, eine Kombination aus Nordmähren und dem westlichen Teil Schlesiens um Troppau, zählte immerhin fast 700.000 Einwohner.12 Kleinere Grenzgebiete in Südmähren und Südböhmen, von Znaim bis Krumau, wollten sich an Nieder- und Oberösterreich anschließen. Das wäre bei gutem Willen allenfalls noch machbar gewesen. Aber die Gegenden im Norden Böhmens und Mährens waren von Österreich durch das kompakte tschechische Siedlungsgebiet getrennt. Ein Blick auf die Karte zeigt : Wenn man nicht mit einer Reihe von barocken Enklaven sein Auslangen finden wollte, dann ließen sich die Sudetengebiete mit Österreich nur vereinigen, wenn es entweder zum Anschluss kam oder zur Donaukonföderation, zur Wiedererrichtung der Monarchie unter anderem Namen oder Vorzeichen. Mit der erzwungenen Unabhängigkeit des Staates waren automatisch auch alle Ansprüche auf die Deutschen der böhmischen Länder hinfällig. Die Sudetendeutschen sind über das Münchner Abkommen und die Vertreibung, den fünften Stamm Bayerns und die Ostverträge als deutsches, sprich : reichs- oder bundesdeutsches Problem wahrgenommen worden. Diese Perspektive wird der Zwischenkriegszeit nur zum Teil gerecht. »Heim ins Reich« war eine doppelbödige Parole, denn zum (zweiten) Deutschen Reich hatten die Sudetengebiete nie gehört. Berlin hatte die längste Zeit andere Sorgen : Polen, den Korridor, die Reparationen. Wien hingegen konnte für die Deutschböhmen wenig tun. Im Gegenteil : Österreich war von der Tschechoslowakei abhängig, weit mehr als umgekehrt. Aber Wien und die Wiener hatten allen Grund die neuen Grenzen im Norden als Amputation zu empfinden, weit mehr als den Verlust Ödenburgs oder Bozens. Das neue Österreich orientierte sich im Laufe der Zeit zwangsläufig entlang der Ost-West-Achse, von Wien in Richtung goldener Westen ; das alte Österreich hingegen kreiste um eine Nord-Süd-Achse, zwischen seinen beiden größten Häfen, Aussig und Triest, zwischen den Kohlengruben um Ostrau und dem steirischen Erzberg, zwischen
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Teschen und Marburg, den Hauptquartieren des AOK und der Südwestfront im Weltkrieg. In Wien lebten vor 1914 fast 200.000 Tschechen ; die Hälfte von ihnen kehrte 1918 in die Heimat zurück, die andere bildete nach wie vor die größte nationale Minderheit auf dem Boden der Republik. Doch in Wien lebte fast eine halbe Million Sudetendeutsche, vor allem aus Mähren und Schlesien. Eduard Herbst, der Prager Professor, der die Liberalen in ihrer Glanzzeit anführte, hatte es einmal auf die Formel gebracht : »Wir alle gravitieren doch nach Wien.« Die böhmischen Länder waren berühmt für ihren Nationalitätenkonflikt ; gerade deshalb verfügten sie über das beste Schulsystem der Monarchie, denn nationale Schul- und Schutzvereine bauten in den Grenzgebieten eifrig Schulen, die im dichten Netz von Klein- und Mittelstädten florierten. Ihre Absolventen zählten zu den internen Exportgütern und besetzten Stellen im ganzen Reich. Nun fand nach 1918 in Deutschböhmen kein großer Exodus statt. Die wirtschaftlichen Möglichkeiten waren – allen politischen Querelen zum Trotz – in der Tschechoslowakei in der Regel weit attraktiver. Aber unter den politisch-administrativen Eliten, von der »Entösterreicherung« in der ČSR betroffen und zum Teil schon vor dem Krieg mit einem Bein – oder einem Koffer – in Wien, machte sich ein solcher Trend sehr wohl bemerkbar. Um nur mehr oder weniger wahllos ein paar Beispiele herauszugreifen. Der Oberste Gerichtshof (mit dem Reichenberger Deutschnationalen Julius Roller, der wegen seiner freisinnigen Haltung den Sozialdemokraten genehm war) und der Schulbuchverlag (mit Raphael Pacher, dem Ministerkandidaten der böhmischen Deutschradikalen) wurden von ehemaligen deutschböhmischen Abgeordneten geleitet ; die Bundesbahn mit Georg Günther und die Bodencreditanstalt mit Rudolf Sieghart von Managern aus dem Schwerindustrierevier um Ostrau und Witkowitz ; unter den Diplomaten kam der langjährige Generalsekretär Franz v. Peter aus Eger, der unermüdliche Tagebuchschreiber Heinrich Wildner verbrachte seinen Weihnachtsurlaub weiterhin im heimatlichen Reichenberg. Bei den Sozialdemokraten der Frühzeit gab es von den Staatssekretären Ferdinand Hanusch und Matthias Eldersch bis zu den Landeshauptmann-Stellvertretern Reinhard Machold (Steiermark) und Robert Preussler (Salzburg) eine ganze Riege von gebürtigen Sudetendeutschen ; Viktor Adler kam aus Prag, Renner aus Südmähren, Otto Bauer ging in Reichenberg ins Gymnasium (die Fabriken seines Vaters standen in Warnsdorf). Selbst bei den Christlichsozialen, die als Partei in den böhmischen Ländern nur schütter vertreten waren, stammte ein erstaunlich großer Anteil ihrer Spitzenpolitiker von dort : Der »Wasserpolak« Bundeskanzler Rudolf Ramek und der oberösterreichische Landeshauptmann Josef Schlegel ; ihr letzter Parteiobmann Emmerich Czermak (der als »Klerikaler« in Mähren angeblich keine Anstellung als Lehrer fand) und ihr letzter Wiener Bürgermeister Richard Schmitz ; last not least ihre beiden, von Seipel zugekauften Industriekandidaten : Bundeskanzler
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Ernst v. Streeruwitz und Finanzminister Emanuel Weidenhoffer, nicht zu vergessen Kardinal Theodor Innitzer, der aus dem Erzgebirge stammte.13 Der LandbundVizekanzler Franz Winkler und der Heimwehr-Vizekanzler Baar-Baarenfels waren beide Deutschböhmen. Kurioserweise war vielleicht gerade bei den prominenten Großdeutschen ein geringerer Anteil von Sudetendeutschen zu verzeichnen. Nun war 1918/19 an der Thaya und an der March selbstverständlich noch kein Eiserner Vorhang niedergegangen. Die Tschechoslowakei war neben dem Deutschen Reich der wichtigste Handelspartner. Der Personenverkehr litt nicht allzu stark unter den neuen Grenzen. Man kurte weiterhin in Karlsbad und las im Ständestaat mit Vorliebe in Prager Zeitungen, was man in Wien nicht mehr so leicht schreiben konnte. Umgekehrt ließen sich österreichische Politiker aller Couleurs mit Vorliebe zu Vorträgen vor deutschsprachigem Prager Publikum einladen. Die Kontakte zu den Schwesterparteien waren eng. Die Sozialdemokraten z. B. spendeten für den Wahlkampf der sudetendeutschen Genossen, die ihrerseits 1934 Otto Bauer bei sich in Brünn aufnahmen. Die Straßenbahn nach Pressburg fuhr noch.14 Überhaupt der Verkehr : Da lohnt sich ein Blick auf die Fahrpläne der Eisenbah nen. Brünn – das österreichische Manchester – war die erste größere Stadt, die mit Wien per Bahn verbunden worden war, schon 1839. Dann kam Wiener Neustadt und später die berühmte Semmeringstrecke, erst lange danach die »Kaiserin Elisabeth«Westbahn und die »Kronprinz Rudolf«-Bahn durch die Alpen. Heute braucht man nach Salzburg mit dem ›Rail-Jet‹ nur wenig über zwei Stunden, nach Prag das Doppelte, damals fuhr man ungefähr gleich lang : fünfeinhalb bis sechs Stunden. Nach Villach war es so weit wie nach Reichenberg ; Marienbad lag für die Reisenden näher als Bad Gastein. Man war vor 1914 schneller in siebenbürgischen Klausenburg (13 Stunden) oder im galizischen Lemberg (14 Stunden) als im – laut Luftlinie – näher gelegenen Bregenz (fast 15 Stunden). Unmittelbar nach 1918 machte der Kohlenmangel das Bahnfahren in Österreich eine Zeit lang überhaupt zum Glücksspiel. Das Kursbuch erschien mit dem Vermerk : »Die Führung durchlaufender Wagen ist von den derzeit stets wechselnden Verkehrsverhältnissen abhängig und wird fallweise verlautbart.« Unter diesen Umständen konnte der Heimweg in den Bregenzer Wald für den Vizekanzler Fink ganze 58 Stunden in Anspruch nehmen. Kein Wunder, dass die Vorarlberger es sich zweimal überlegten, Sitzungen in Wien zu besuchen, wenn man sich nicht sicher war, ob dabei wirklich etwas herauskommen würde.15 Der langen Rede kurzer Sinn : Die böhmischen Länder, nunmehr die »Tschechei«, waren für Wien und den österreichischen Zentralraum 1918 um vieles näher, als wir es selbst nach dem Fall der Mauer empfinden und gewohnt sind, aber man war politisch von ihnen jetzt getrennt. Die Alpenländer waren vergleichsweise viel weiter entfernt, verkehrsgeografisch – und wohl auch politisch und mental. Dem Österreicher von heute sind die Umrisse des Landes vertraut, wie der italienische Stiefel, das französische Hexagon oder die
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britischen Inseln. Jegliche Abweichung von diesem Muster erscheint aus dieser Perspektive leicht als Hochverrat, ja als Absurdität. Nur mit einem gewissen Amusement erinnert man sich z. B. der Bemühungen der Vorarlberger um den Anschluss an die Schweiz. Genau diese Selbstverständlichkeit war 1918/19 nicht gegeben. Loyalität schuldete man entweder dem alten Österreich, der Monarchie, oder – sobald man sie auf den Müllhaufen der Geschichte befördert sehen wollte – der ethnischen Komponente, dem deutschen Charakter des neuen Staates. Das Staatswesen, so wie es sich 1919/22 als Resultat des Vertrages von St. Germain herauskristallisierte, war gänzlich unvertraut – und vielfach auch gänzlich unlogisch zusammengesetzt. Seine Grenzen waren willkürlich gezogen : Warum blieb in Osttirol Sillian bei Österreich und der letzte Zipfel des Drautales bei Innichen nicht ? Radkersburg (das erst im Sommer 1920 von den Jugoslawen geräumt wurde) schließlich doch und Marburg nicht ? Der Seewinkel ja und Ödenburg nicht ? Ein Vorarlberger Industrieller schrieb noch Mitte der Zwanzigerjahre, als sich die Aufregung und die Unsicherheit der Umbruchsphase längst gelegt hatte : »Kein gerecht und vernünftig Denkender wird von Bürgern neugebackener, von fremden Menschen willkürlich geformter Staaten verlangen, daß sie von Patriotismus bis zum Untergang erfüllt seien, wie Bürger von alten Staatswesen, an deren Bestand schon Generationen von Vorfahren ihr bestes gegeben haben.«16 Schließlich : Wenn Deutsch-Österreich, so wie es im Oktober 1918 konzipiert und konstituiert wurde, schon auf diverse Staaten aufgeteilt wurde, kam es dann auf ein oder zwei Teilungsgebiete mehr wirklich an, auf ein unabhängiges Tirol oder einen Kanton Übrig im äußersten Westen ? Diese Behauptung hat nichts zu tun mit der alten Streitfrage, ob an der Wiege der Republik jetzt die Länder gestanden haben oder die Zentrale. Natürlich war es in den Kronländern nahezu Gemeingut, dass mit der Krone auch der bisherige Staatsverband aufgehört, die »Länder durch die Ereignisse des Jahres 1918 ihre volle Selbständigkeit wieder erhalten hatten« (der Oberösterreicher Schlegel). Die Länder seien frei geworden, als Österreich zusammenbrach (so der Salzburger Rehrl).17 Doch alle Beteiligten waren klug genug, diesen rechtsphilosophischen Streit um des Kaisers Bart nicht allzu ernst zu nehmen : Wie auch immer man die Rechtsfragen beurteilen mochte, die Wiener Zentrale war 1918/19 garantiert nicht in der Lage, irgendwelchen Sezessionsbewegungen mit Waffengewalt zu begegnen, oder auch mit ökonomischen Sanktionen, pfiff sie doch in dieser Beziehung selber aus dem letzten Loch. Der Staatsrat in Wien übertrug den Landesversammlungen am 14. November 1918 die ausführende Macht, die sie längst für sich in Anspruch genommen hatten. In Wien amtierten alte kaiserliche Ministerien und deutschösterreichische Staatssekretariate zwei Wochen lang friedlich nebeneinander. In der Provinz wurde der Bruch früher vollzogen : Die Zentrale, das waren die kaiserlichen Statthalter an der Spitze der sogenannten »landesfürstlichen« Verwaltung gewesen (im Gegensatz zur
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»autonomen« der Stände). Die Statthalter dankten ab und übergaben die Geschäfte nicht bloß dem Landeshauptmann, sondern den Parteien, die – wiederum ziemlich willkürlich, wenn auch nicht ohne politische Logik – die alten, noch aus dem Kurienwahlrecht hervorgegangenen Landtage durch Kooptation neuer Mitglieder in Landesversammlungen verwandelten, die auch den Massenparteien ihren Anteil an der Macht einräumten. Freilich : (Kron-)Land war nicht gleich (Kron-)Land. Mehr als die Hälfte der Bevölkerung des Rumpfstaates Österreich lebte in Österreich unter der Enns. Dieses »Niederösterreich« umfasste damals selbstverständlich auch noch Wien. Im Rahmen der alten Monarchie war Niederösterreich damit immer noch weit hinter Galizien, Böhmen oder Mähren zurückgeblieben. Nach 1918 galt für Niederösterreich, um es mit der Formel Viktor Reimanns zu sagen, die auf alle möglichen Konstellationen anwendbar ist : Es war »zu groß für Österreich«, hätte von der Bevölkerungszahl her eine Stellung eingenommen wie Preußen im Deutschen Reich. Die Teilung des Landes in Wien und Niederösterreich (die Sozialdemokraten hätten gerne auch noch das Industrieviertel zu Wien geschlagen) war eine der Grundforderungen der Länder bei den Beratungen über die Verfassung, ganz abgesehen von den Interessen der Massenparteien, die sich damit jede ein Revier sicherten, in dem sie ziemlich unangefochten schalten und walten konnten. Die vollständige Trennung der beiden Länder, in der Verfassung 1920 zunächst noch in Form von »Halb-Kantonen« mit einem gemeinsamen Dach, kam dann erst in einer zweiten Verhandlungsrunde Ende 1921 zustande.18 Steiermark und Kärnten, das alte Innerösterreich, nahm im Rahmen der Föderalismusdebatten eine besondere Stellung ein. Die Kärntner sind berühmt geworden durch ihren Frust über das Unverständnis, das Wien ihren Problemen entgegenbrachte ; die Steirer haben damals und später immer wieder Piccolominis Wort von den »wilden Gebirgsvölker[n] jenseits des Semmering« aufleben lassen, als die Rebellen und Reformer vom Dienst, die jedem Kanzler und jedem Parteiobmann das Leben schwer mach(t)en. Graz war und ist die zweitgrößte Stadt Österreichs, aber sie war es 1918 in einem viel deutlicherem Maße als heute, als – neben Wien – einzige »Großstadt« mit fast 200.000 Einwohnern. (Linz erreichte die 100.000erGrenze erst in den Zwanzigerjahren, durch Eingemeindungen, Innsbruck lag mit 70.000–80.000 damals noch weit vor Salzburg.) Graz war ehemalige Residenz, beliebte Universitätsstadt und »Pensionopolis« Altösterreichs, aus dem Grunde, weil es die Annehmlichkeiten einer Großstadt bot – aber ohne das Wiener Preisniveau. Graz sah sich als Rivalin Wiens, auch ökonomisch, wie das für keine andere Landeshauptstadt galt. Aber die Steirer und Kärntner hegten keine sezessionistischen Ambitionen. Dazu war ihre geopolitische Lage zu prekär : Gegen Jugoslawien wollte man den Rückhalt an der Zentrale nicht missen. Dazu war auch ihr Selbstbewusstsein zu groß : Die Steiermark war das größte Land jenseits von Niederösterreich.
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Der Semmering war keine politische Wasserscheide. Zwischen Wien und Judenburg erstreckte sich das industrielle Herzland Österreichs, jetzt, wo das böhmischmährische Revier weggefallen war. Die tonangebenden nationalliberalen Schichten in den beiden innerösterreichischen Ländern waren zwar keine so enthusiastischen Verfechter des Wiener Zentralismus gewesen wie die Sudetendeutschen, aber sie waren auch keine so erklärten Föderalisten wie ihre konservativen Konkurrenten. Um es auf den Punkt zu bringen : Wenn steirische Politiker mit der Zentrale unzufrieden waren, dann wollten sie nicht los von Wien, sondern sie liebäugelten damit, demnächst einmal selbst die Macht in Wien zu übernehmen. Der Westen hingegen war Peripherie, schon einmal von der Größenordnung her : Das Burgenland, vor der Haustür Wiens, heute das kleinste aller Bundesländer, hatte 1922 fast so viele Bewohner wie Vorarlberg und Salzburg zusammengenommen. Tirol war stolz auf seine eigenständigen Traditionen, vom Waffenlibell bis zum Land der Glaubenseinheit. In der alten Monarchie kursierte das Wort von der »Hoftyrolerei«, der demonstrativen Anhänglichkeit an das Herrscherhaus, gepaart mit pflichtschuldigster Abscheu vor dem Irredentismus der Italianissimi und der »Preußenseuchlerei« der Deutschnationalen. Aber diese Loyalität war auch mit einer Personalunion zu befriedigen. Die Tiroler hatten 1915 die Standschützen aufgeboten. Doch die Kriegsereignisse hatten in Tirol mehr als anderswo Anlass geboten für Friktionen mit dem Militär, das in weiten Teilen des Landes in einer Weise fuhrwerkte, die althergebrachte Loyalitäten in Misskredit brachte. Ein Mann wie Richard Steidle, der spätere Heimwehrführer, ein Mann, dem Antimilitarismus wohl kein spezielles Anliegen war, erklärte 1919 auf der Generalversammlung des Tiroler Bauernbundes : Ein siegreicher Ausgang des Krieges hätte möglicherweise »zu einer Säbelherrschaft, zu Übermut und Überhebung der bisher Herrschenden und zu wahnwitziger Überspannung der Militärlasten geführt«, bis am Ende noch »bei jeder Dachluke ein Offizier herausblinzeln würde«.19 Die Verbindung mit Wien war nahezu abgerissen. Das Pustertal war italienisch ; eine Korridorstrecke existierte nicht ; mit der Bahn über Salzburg brauchte man nach Wien fast einen Tag. Wien war suspekt nicht bloß als Hochburg der Sozialdemokratie, als »rotes Wien«, sondern schon lange vorher als Hochburg der liberalen Beamten, die brave katholische Habsburger auf Abwege geführt hatten, denn »90 % der Hochbürokratie sei parteigegnerisch«. Steidle gab deshalb die Devise aus : Weder Wien noch Berlin, sondern München oder Zürich. »Es gibt überhaupt kein Österreich mehr, Gott sei Dank ! […] Nur nackte Gewalt könnte uns zum Verbleiben im alten Staatsverbande zwingen, sei es in der Form des alten Österreich, sei es in der Form des jetzigen, auf die Dauer unmöglichen Deutschösterreich«, das nichts anderes darstelle als »eine Konkursmasse« und »mit einem derart abgelegenen Zipfel ohnehin nichts anzufangen« wisse. Es gibt kein Österreich mehr – das war eine Zustandsbeschreibung ; markant war die Zusatzbemerkung : Gott sei Dank.20
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Abbildung 1: Die Bevölkerungsanteile der Bundesländer 1920–1990
Dazu kam natürlich die außenpolitische Spekulation, mit der Tiroler Unabhängigkeit vielleicht auch die Landeseinheit retten zu können. Diese Möglichkeit auszuloten, war zweifellos eine Überlegung wert ; sie erwies sich freilich bald als illusorisch. Dabei ging es nicht um die Wünsche der Betroffenen, sondern um die Entscheidungen der »Großen Vier«, bald nur mehr Drei, dann vielleicht gar nur mehr Zwei : Clemenceaus und Lloyd Georges (denn Wilson erlitt einen Schlaganfall, Orlando wurde abgewählt). Einer Erklärung bedarf vielleicht weniger, warum die Tiroler diese Perspektive verfolgten, sondern warum die Entente kein Interesse daran zeigte. Das Konzept, die Besiegten mit einem Kranz von Pufferstaaten zu umgeben, vom Saarland bis nach Danzig, war den Großen Vier ja prinzipiell keineswegs fremd. Doch bei Tirol waren die Fronten festgefahren : Italien bestand auf seinem Schein. Frankreich aber fürchtete, ein solcher Pufferstaat könne Gegenstand eines deutschitalienischen Tauschgeschäftes werden. Mehr noch stellt sich die Frage im Falle Vorarlbergs : Für alle, die in kontinentalen Großmachttraditionen aufgewachsen waren, galt die »Verschweizerung« als abschreckendes Beispiel eines Rückzugs aus der Geschichte. Die Großdeutschen und die Sozialdemokraten hielten den Anschluss Vorarlbergs an die konservative und multinationale Eidgenossenschaft für schnöden Materialismus und nationalen Verrat. Hätte die Entente nicht gerade deshalb ihr Faible für diese Option entdecken müssen ? Auch in der Schweiz selbst forcierten die Aufnahme Vorarlbergs jene
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Kräfte, die eine Einkreisung durch Deutschland fürchteten, wie z. B. Felix Calonder, der rätoromanische Bundesrat, der mit der Führung der Außenpolitik betraut war. Den Militärs wäre der Arlberg als Ostgrenze allemal lieber gewesen als der Rhein. Doch die »Romandie«, die Franko-Schweizer, fürchteten um die prekäre ethnische Balance der Eidgenossenschaft ; auch bei den Deutschschweizern hielt sich das Interesse am Erwerb eines »23. Kantons«, der zunächst einmal als Hungerleiderbezirk gelten musste, in überschaubaren Grenzen. Anfangs kamen aus Paris gewisse aufmunternde Signale. Doch schließlich erschien es Clemenceau ganz offensichtlich zu riskant, mit dem Einverständnis zur Loslösung Vorarlbergs die Büchse der Pandora zu öffnen und vielleicht das Signal zur Auflösung des »Rests« zu geben. Die Vorarlberger erklärten sich in einer Volksabstimmung am 11. Mai 1919 mit 80 % für die Aufnahme von Beitrittsverhandlungen mit der Schweiz. Das »Vorarlberger Volksblatt«, die Zeitung der Christlichsozialen, prangerte die Doppelzüngigkeit der Wiener Politik an, die urbi et orbi lauthals das Selbstbestimmungsrecht einforderte, es den Vorarlbergern aber stillschweigend vorenthalten wolle.21 Doch die politischen Eliten zögerten und ließen sich nicht in die Karten schauen. Das galt auch für die »Schwarzen« : Immerhin war Jodok Fink unter Renner in Wien Vizekanzler ; dem Vorarlberger Landeshauptmann Otto Ender wurde sein »republikanischer Legitimismus« vorgeworfen, der keinerlei Kompetenzüberschreitungen zuließ. Eine Schweizer Zeitung schrieb abfällig, mit Bezug auf Schiller und Wilhelm Tell : In dem Land gebe es keinen Walter Fürst.22 Die Revolution fand nicht einmal im Saale statt, die Alemannen beiderseits des Rhein spielten : »Brüderlein, geh Du voran !« Die Schweiz wartete auf eine offizielle Erlaubnis der Wiener Regierung, bevor sie irgendwelche Schritte setzte ; die Vorarlberger auf eine offizielle Einladung der Schweiz, bevor sie aktiv wurden. Renner aber zögerte die Antwort so lange hinaus, bis die Friedensverträge unter Dach und Fach waren – und verwies die Vorarlberger dann auf den Weg über den Völkerbund, ganz so wie es die Entente mit Österreich und dem Anschluss an Deutschland tat.23 Ender, dem schon bald ein Offert unterbreitet wurde, selbst als Bundeskanzler nach Wien zu gehen, schickte sich mit alemannischer Nüchternheit in das Provisorium : Man müsse »mit der gegebenen Tatsache rechnen, daß wir vorläufig zu Österreich gehören.«24 Salzburg war das kleinste Kronland der Monarchie gewesen, das – zum Unterschied von Vorarlberg – noch über einen eigenen Statthalter (hier genannt : Landespräsident) verfügte. Das ehemalige Fürsterzbistum, das erst so spät zu Österreich gekommen war, hütete eifersüchtig seine Autonomie. Der junge Salzburger Landeshauptmann Franz Rehrl profilierte sich als der Föderalist par excellence. Salzburg, so ließ er sich auf den Länderkonferenzen vernehmen, sei seinerzeit ja nur durch »einen Gewaltakt« an Österreich gekommen. Er legte Wert auf ein besonders enges Verhältnis zu Bayern und ließ keinen Zweifel darüber aufkommen, dass im Falle
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Abbildung 2: Der »Parade-Föderalist«: Landeshauptmann Rehrl, mit Bundespräsident Miklas
des Anschlusses der »bundesstaatliche Überbau Österreichs zu verschwinden hätte«. Solange das nicht der Fall war, lautete sein pessimistisches Credo : Der »schönste Föderalismus« helfe nichts, solange er von »der alle Freiheitsregungen und Entwicklungsbestrebungen ertötenden, nach alleiniger Macht im Staate strebenden Bürokratie seines Rückgrats beraubt« werde.25 Der Westen blieb also bei Österreich. Er blieb relativ fern. Die Zweite Republik mit ihrer Abschottung nach Osten und ihrer Öffnung nach Westen hat hier andere Maßstäbe gesetzt. Der Wintersport – mit dem Skifahren anstelle des Eislaufens – ließ entlegene Gebirgstäler zu beliebten Urlaubsdestinationen werden. Vor 1918 war in Tirol wohl nur Meran, in Salzburg das Gasteiner Tal (wo Bismarck und Wilhelm I. urlaubten) als fashionable Kurorte berühmt. Die Sommerfrische fand vielfach noch in der näheren Umgebung Wiens statt, zwischen Semmering und Kamptal. In der Fremdenverkehrsstatistik rangierten – außer Salzburg – bloß der Wallfahrtsort Mariazell und Baden vor dem Semmering.26 Zwischen dem übergewichtigen Niederösterreich, dem eigenwilligen Innerösterreich und dem fernen Westen verkörperte Oberösterreich einen Normalfall, eine Form des juste milieu, der schon wieder abnormal war. Aus der Wiener Perspektive war es keine so entlegene Region, bekannt durch Ischl und das Salzkammergut, ein Agrar-, aber nur mehr zum Teil Bergbauernland. Die Oberösterreicher waren Föderalisten (dort sogar die Großdeutschen !), aber lange nicht so insistent wie Rehrl,
Ökonomie : »Produktion ohne Markt, Markt ohne Produktion«
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nicht so auftrumpfend wie Rintelen und die Steirer, mit Landeshauptleuten, die keine so überdimensionierten Ambitionen plagten. Der 12. Februar 1934 mit seinen Linzer Ursprüngen soll nicht darüber hinwegtäuschen, dass Oberösterreich die längste Zeit ein friedliches Biotop darstellte, ohne Grenzlandkämpfe und ohne Kommunistenkrawalle in der Frühzeit (mit einer Ausnahme im Mai 1920).27 Oberösterreich war die Heimat Hitlers, Bernascheks und Starhembergs ; aber es kam die längste Zeit ohne irgendwelche Schießereien oder sonstige blutige Zwischenfälle aus.
2. Ökonomie : »Produktion ohne Markt, Markt ohne Produktion« Das liebe Geld : Kapital und Inflation Diesmal ist das Zitat auch tatsächlich belegt. Es stammt von Karl Renner, der präg nant, wenn auch ein wenig überspitzt die wirtschaftlichen Schwierigkeiten der Republik beschrieb, der er 1918–20 vorstand. Produktion ohne Markt, damit war die Industrie gemeint, die gelernt hatte, für einen Markt von fünfzig Millionen zu produzieren und jetzt von ihren Absatzgebieten abgeschnitten war. Markt ohne Produktion : Das war ein Seitenhieb auf die Landwirtschaft, die nicht imstande war, die eigene Bevölkerung zu ernähren.28 Die ökonomische Misere zählt nicht von ungefähr zum Standardrepertoire aller Erörterungen über die Erste Republik. Zu unterscheiden ist dabei freilich zwischen allgemeinen und spezifischen, konjunktur- oder österreich-spezifischen Ursachen der Misere. Es konnte schließlich niemand verwundern, dass nach Jahren eines beinahe schon totalen Krieges, mit Investitionen, die vornehmlich destruktiven Zwecken dienten, die wirtschaftliche Lage nicht allzu rosig war ; die Landwirtschaft – hier kam bereits ein Spezifikum ins Spiel – war einem Ablieferungszwang unterworfen worden, der jegliche Form von Anreizen vermissen ließ. Graf Ottokar Czernin, Kaiser Karls kontroverser Außenminister, nie um einen flotten Spruch verlegen, sprach deshalb kurz nach Kriegsende davon, die eigene Regierung habe über ihre Völker eine noch schlimmere Hungerblockade verhängt als die Entente.29 Das Konsumniveau der Bevölkerung hatte seit 1913 drastisch abgenommen. Die Misere hatte sich in dieser Beziehung nach dem Waffenstillstand ein halbes Jahr lang noch verschärft : Die britische Blockade blieb weiterhin aufrecht ; aber jetzt fielen auch die letzten Lieferungen aus dem Gebiet der Monarchie aus (es sei denn, als Kompensationsgeschäfte) ; die Räterevolution in Ungarn ab März 1919 zog den größten potenziellen Lebensmittellieferanten in Mitleidenschaft. Die Hunderttausenden demobilisierten Soldaten vergrößerten inzwischen das Heer der Arbeitslosen. Ihre Zahl erreichte im ersten Halbjahr 1919 kurzfristig schon einmal die Ausmaße der Weltwirtschaftskrise. Österreich wurde nur durch Hilfslieferungen vor einer Katastrophe bewahrt. Denn die Räterevolution in Ungarn hatte zumindest den Vorteil :
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Sie steigerte den strategischen Wert Österreichs, das nicht auch noch dem Bolschewismus zum Opfer fallen sollte, der »Krankheit der Besiegten«, wie Marschall Foch es ausdrückte. Im Herbst klärten sich die politischen Fronten. Die Revolution in Ungarn wurde niedergeworfen ; die Österreicher bekamen in St. Germain ihren Friedensvertrag. Ökonomisch waren die nächsten zwei, drei Jahre von der Inflation geprägt. Die Inflation war keine Erfindung der Republik. Sie war ein Erbe des Krieges, der mit der Notenpresse finanziert worden war. Das galt für so ziemlich alle kriegführenden Staaten, aber für Österreich-Ungarn ganz besonders. Man schätzt, dass die Kaufkraft der Krone bis Kriegsende bereits auf ein Sechzehntel gefallen war. Sprich : Von einem Geldvermögen des Jahres 1914 blieben dem stolzen Inhaber 1918 noch ganze 6 %. Verglichen damit war die galoppierende Inflation der Nachkriegszeit nicht einmal mehr allzu tragisch : Helmut Heiber hat sie für Deutschland einmal verglichen mit dem Verlust eines 20-Mark-Scheins nach dem Verlust eines Vermögens.30 Das eigentliche Malheur hatte sich schon vor 1918 abgespielt. Im Gegenteil : Man konnte sich auf die Weisheit berufen : Ist der Ruf einmal ruiniert, lebt sich’s gänzlich ungeniert. Der Staat druckte also weiterhin Geld ; er kaufte im Ausland Lebensmittel ein und gab sie verbilligt an die Bevölkerung ab. Diese Lebensmittelsubventionen machten 1921 dann schon mehr als die Hälfte des Budgets aus. Auf die Dauer war diese Situation natürlich nicht haltbar, aber in der Zwischenzeit führte sie zu einer kuriosen wirtschaftlichen Blüte, einer Scheinkonjunktur. Wer Kronen in die Hand bekam, die schon morgen sehr viel weniger wert sein würden, gab sie so schnell wie möglich wieder aus. Die Flucht in die Sachwerte fiel mit dem Aufholbedarf zusammen, der nach fünf Jahren kriegsbedingter Entbehrungen entstanden war. Der Verfall der Krone wirkte als Exportprämie, oder : anders ausgedrückt, es begann der Ausverkauf Österreichs. Erbstücke der glorreichen Vergangenheit wurden auf den Markt geworfen, z. B. von Klöstern, die ihre Reserven in unvorsichtig-patriotischer Weise in Kriegsanleihen gesteckt hatten, die jetzt nichts mehr wert waren. Irgendwann freilich waren auch die letzten Gemälde und Gobelins verkauft (Gott sei dank doch nicht alle !). Man konnte keine Exporterlöse mehr lukrieren, weil man keine Rohmateralien mehr importieren konnte. Man wollte im Ausland ganz einfach keine Kronen mehr akzeptieren. Außerdem war die weltweite Nachkriegskonjunktur ganz allgemein im Juli 1921 zusammengebrochen (ein Einschnitt, der z. B. für die britische Wirtschaft viel dramatischer war als der Börsenkrach 1929). Der Zeitpunkt für die Sanierung der österreichischen Wirtschaft war gekommen. Um den inflationären Kreislauf zu stoppen, musste die Regierung aufhören, ständig neue Kronen zu drucken. Um ohne die Druckerpresse auszukommen, musste sie die Lebensmittelsubventionen zurückfahren und sich langsam wieder in der Richtung eines ausgeglichenen Budgets bewegen. Nicht bloß der Staat musste sparen, auch der Bürger.
Ökonomie : »Produktion ohne Markt, Markt ohne Produktion«
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Selbstverständlich lebten die Österreicher auch während der Scheinkonjunktur der Jahre 1919–21 nicht wirklich gut, aber immer noch über ihre Verhältnisse. In der Zahlungsbilanz klaffte eine Riesenlücke, die man für eine Übergangsperiode vielleicht noch mit einem Kredit überbrücken konnte, die auf lange Sicht aber geschlossen werden musste – entweder durch vermehrte Exporte oder geringere Importe, durch gesteigerte Produktivität oder Konsumverzicht. Mit der Sanierung war eine hintergründige politische Debatte verbunden über die Verteilung der Kosten. Die Sanierung war das politische Meisterstück Ignaz Seipels, ein zentraler Wendepunkt in der Geschichte der Ersten Republik. Mit den Genfer Protokollen, die Österreich einen großen, aber nicht allzu großzügigen Kredit einräumten, wurde Österreich zugleich unter finanzielle Kuratel des Völkerbundes gestellt. Seipel ließ in England zuvor schon durchblicken, dass Österreich diese Kontrolle eigentlich noch viel notwendiger brauche als den Kredit selbst. Denn nur so konnten die Österreicher tatsächlich zur Haushaltsdisziplin gezwungen werden (was freilich nicht ausschloss, dass auch Seipels Regierung hin und wieder diverse Transaktionen hinter dem Rücken des Kontrollors in Szene setzte oder geheime Reserven anlegte).31 Die Kontrolle würde aufgehoben oder zumindest erleichtert werden, sobald Österreich seine diesbezüglichen Hausaufgaben erledigt hatte, vom Beamtenabbau bis zur Einführung der Umsatzsteuer. Damit war ein Anreizsystem geschaffen, die notwendigen, unpopulären Reformen durchzuziehen, um sobald wie möglich wieder in den Genuss der vollen Souveränität zu gelangen. Auf die Sanierung folgte eine Sanierungskrise. Es war unvermeidlich, dass die Sanierung des Budgets die heimische Kaufkraft in Mitleidenschaft zog, ja, in gewisser Weise war dieser Effekt sogar der Zweck der Übung. Dazu kam im Frühjahr 1924 ein Börsenkrach, der bis zu einem gewissen Grad ebenfalls unvermeidlich erscheint. Die Erklärung, wie sie Landeshauptmann Buresch bei Gelegenheit einem Untersuchungsausschuß vorlegte, klingt hier recht plausibel. Die Inflation hatte die Flucht in die Sachwerte begünstigt : Wo sollte man sein Geld anlegen, wenn die Inflationsrate weit höher war als die Zinsen. Die heutige Alternative, »Betongold« und Immobilienspekulation, fiel aufgrund der Mieterschutzverordnungen mehr oder weniger aus. Also blieben die Aktien, die Anteil an realen Werten verbürgten oder zumindest suggerierten. Sobald die Währung stabilisiert war und im Gegenzug die Bankzinsen in astronomische Höhen schnellten, stieß man die Aktien in der Regel wieder ab, die Kurse fielen.32 Bemerkenswert war bloß die Verzögerung, mit der sich diese Entwicklung vollzog : In der Inflation hatte man in erster Linie Devisen gehortet, der eigentliche Aktien-Boom, die »Aufwertungshausse«, begann erst nachher.33 Freilich, die Politik hatte das Ihre dazu beigetragen, die Krise zu verschärfen. Zum einen durch eine Welle von Bankgründungen mit politischem Hintergrund, die sich vielfach als wenig solide Unternehmungen entpuppten, im Ernstfall aber dann an ihre Parteifreunde appellierten und mit großen Kosten saniert oder fusio
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niert werden mussten. Das Tüpfelchen auf dem I stellte die Beteiligung mancher dieser Institute an der internationalen Spekulation gegen den Franc dar, der infolge der Ruhrkrise 1923/24 in Turbulenzen geriet, dann aber durch eine Anleihe des Hauses J.P. Morgan gerettet wurde. Die Intervention der Wall Street war Teil eines Sanierungskonzepts, in Verbindung mit dem sogenannten Dawes-Plan : Frankreich war ja ins Ruhrgebiet einmarschiert, um Deutschland endlich zur Zahlung der vereinbarten Reparationen zu zwingen. Die amerikanischen Investoren sahen derlei Unfrieden stiftende Kraftakte mit Missvergnügen.34 Das Kompromissangebot der Amerikaner – wohlgemerkt der amerikanischen Privatwirtschaft, nicht der Coolidge-Administration, die sich mit dem berühmten Spruch : »The business of America is business« aus derlei Querelen sorgsam heraushielt – lautete : Die Franzosen zogen das Militär zurück ; die Deutschen versprachen zu zahlen, wenn auch in etwas kleineren Raten als bisher ausgemacht. Hinter der Entspannung in Westeuropa, der Ära des Locarno-Pakts, stand ein finanzielles Karussell : Die amerikanischen Banken schossen den Deutschen das Geld vor für die Reparationszahlungen an die Westmächte, die damit ihre Kriegsschulden in den USA beglichen. Theoretisch brauchte kein Dollar deshalb die New Yorker Tresore zu verlassen. Oder vielleicht doch. Denn die Deutschen nutzten die Gelegenheit – wiederum, frei nach der Devise : Ist der Ruf einmal ruiniert … –, um gleich noch ein bisschen mehr Kredite aufzunehmen und in die heimische Wirtschaft zu pumpen. Deutschland kam so zu seiner Version der »roaring twenties«, Österreich nicht. Auf den ersten Blick könnte man zu dem paradoxen Schluss kommen, Österreich wurde dafür bestraft, dass es keine Reparationen zahlen musste, weil sich deshalb auch niemand fand, der ihm diese lästige Pflicht durch Zusatzkredite versüßen wollte. Dabei hätte Österreich theoretisch sehr wohl Reparationen zahlen sollen. Nur hatte man die Aussichtslosigkeit dieses Projekts bald stillschweigend eingesehen. 1930 wurde die Forderung dann endgültig gestrichen. Österreich hatte seinen großen Kredit eben schon vor Deutschland erhalten, aber unter härteren Bedingungen, denn Österreich war kein so attraktiver »Standort« wie das Deutsche Reich. Die österreichische Regierung und die Nationalbank aber räumten dem Kampf gegen die Inflation den Vorrang ein vor der Ankurbelung der Wirtschaft, zumindest solange bis die Völkerbundkontrolle zu Ende war. Erst dann schien der Zeitpunkt gekommen, eine Investitionsanleihe aufzulegen (zu der es schließlich erst 1930 kam, als es dafür schon wieder zu spät war). Die Finanzpolitik der Zwanzigerjahre ist unter keynesianischen Vorzeichen heftig kritisiert, unter klassischen Vorgaben jüngst dann zumindest zwischen den Zeilen auch wieder etwas differenzierter beurteilt worden. Tatsache ist, dass auch 1923/24 noch ein ziemlich starker Preisauftrieb zu bemerken war. Da mochte es verständlich erscheinen, wenn die Österreicher als gebrannte Kinder nicht auch noch Öl ins Feuer gießen wollten. Die Bank of England und ihr Gouverneur Montagu Norman
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warfen der Nationalbank und ihrem Präsidenten Reisch im Gegenteil sogar vor, eine immer noch viel zu lockere Politik zu betreiben. Der Diskontsatz stieg im Sommer 1924 auf britischen Druck deshalb auf nicht weniger als 15 % und sank erst ein Jahr später – nach Rücktrittsdrohungen Reisch’, dem man inzwischen »eine geradezu unbeschreibliche Anglophobie« nachsagte – wieder auf 10 % ; erst im Juli 1927 fiel er unter 6 %. Selbst für erstklassige Schuldner waren Kredite kaum unter 8 bis 9 % zu haben. Derlei »prohibitive« Zinssätze boten wenig Anreize für Investitionen.35 Schließlich : Wer war in der Lage, für Kredite auch entsprechende Sicherheiten zu bieten ? Der städtische Hausbesitz warf nichts mehr ab und fiel deshalb aus. Eine Reform des Mieterschutzes sei notwendig, so argumentierten bürgerliche Interessenvertreter, nicht um einzelnen Hausherren höhere Profite zu verschaffen, sondern um der Volkswirtschaft wieder eine Kapitalbasis zu sichern. Österreich war damit ab 1924 in einer Normalität angelangt, die sich nachteilig von seinen Nachbarn, von reichsdeutschen oder tschechoslowakischen Vorbildern unterschied. Dafür allein Genf und seine Vorgaben verantwortlich zu machen, als Mühlstein um den Hals der österreichischen Wirtschaft, dürfte zu kurz gegriffen sein. Es mangelte allerdings auch innerhalb der Regierung keineswegs an Stimmen, die warnten, man dürfe über der finanziellen Orthodoxie nicht die »reale Wirtschaft« vergessen. Das sogenannte »Steirische Wirtschaftsprogramm« der Jahre 1924/25 mit seinen Spitzen gegen die Wiener Finanzwelt war ein solches Manifest. Unabhängig von seinen Meriten – und seinem Protagonisten, dem umstrittenen Finanzminister Ahrer – bieten die Kontroversen um dieses Programm einen guten Einstieg in die Probleme der österreichischen Wirtschaft, selbst in der Phase der zögerlichen Prosperität, den ruhigen und »guten Jahren« der Zwischenkriegszeit zwischen 1924 und 1929. Krieg, Hunger und Inflation waren überstanden. Jetzt ging es um die Mühen der Ebene.36 Beginnen wir mit dem Schicksal des »Wasserkopfes« Wien, das 1914 zu den fünf oder sechs größten Städten Europas zählte, als Hauptstadt einer der fünf (oder mit Italien : sechs) Großmächte. Jetzt war das Imperium von 55 Millionen Einwohner auf sechs Millionen geschrumpft. »Nun sind wir so klein und wissen mit dem Wien nichts anzufangen«, ließ sich ein Provinzpolitiker 1920 auf einer der Länderkonferenzen vernehmen. Aber es war nicht allein die politische Funktion, der Anspruch : »Es gibt nur eine Kaiserstadt, es gibt nur ein Wien«, die für die besondere Stellung Wiens verantwortlich gewesen war. Wien war das gesellschaftliche Zentrum Altösterreichs in einem Maße, wie es kaum anderswo eine Entsprechung fand, allenfalls im doch viel zentralistischeren Frankreich, umso erstaunlicher in einem Vielvölkerstaat. Roman Sandgruber hat die Ausnahmesituation Wiens in einer Studie ausgeleuchtet, die sich mit den 1000 (genau : 929) reichsten Wienern des Jahres 1910 befasst. Zwei Ergebnisse stechen dabei hervor : In Wien lebten fast zwei Drittel der österreichischen Millionäre (und mehr als die Hälfte davon kam aus jüdischen Familien). Die daraus
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abgeleitete Warnung vor extremen Einkommensverteilung geht freilich ins Leere : Nicht die Wiener hatten Ursache, sich über die Zahl der Millionäre zu beklagen, die ihr Geld mit Fabriken oder Landgütern irgendwo im Rahmen der Monarchie verdienten und es in Wien ausgaben. Die produktive »Peripherie« war es, die sich über diesen Abfluss von Reichtum, über die Entfremdung ihrer Eliten beschweren konnte.37 Wir verfügen leider über keine entsprechende Statistik aus der Nachkriegszeit. Viele der 929 waren inzwischen vermutlich keine Millionäre mehr. Darüber hinaus ist es sehr wahrscheinlich, dass von den Millionären der Nachfolgestaaten nur ein sehr viel geringerer Prozentsatz sich dauerhaft in Wien aufhielt. Es gab keinen Hof mehr ; keinen Reichsrat ; kein Herrenhaus. Die »Entösterreicherung« z. B. in der Tschechoslowakei war darauf gerichtet, nicht bloß politische Strukturen zu repatriieren, sondern auch Firmensitze etc. Bojaren aus der Bukowina oder polnische Magnaten betrieben kein Lobbying mehr in Wien. Die Nicht-mehr-Residenzstadt Wien wurde nach 1918 zweifellos egalitärer, aber auch sehr viel ärmer. Der Notizkalender des Polizeipräsidenten Schober ist zwar voll mit den Namen der großen Welt aus ganz Mitteleuropa, die weiterhin in Wien abstiegen, aber eben nur zu Stippvisiten oder auf der Durchreise. Wirtschaftlich wollten die Wiener Großbanken die Partie nicht so einfach verlorengeben. Die großen Industriekonzerne der Monarchie waren vor 1914 fast alle in Aktiengesellschaften umgewandelt worden ; große Aktienpakete waren im Besitz der Banken verblieben, die sich zunehmend auf das Management – oder zumindest die Fernsteuerung – ihrer »Konzernbetriebe« verlegten. Diese Positionen wollte man in den Wiener Zentralen weiter verteidigen, auch wenn gewisse Gustostücke wie z. B. die Pilsener Skoda-Werke oder die Prager Eisen (Wittgensteins Gründung) von französischen Interessen inhaliert wurden, in strategischer Kooperation mit der Tschechoslowakei und ihrer dominanten Zivnostenka Banka. Zuweilen machten die Wiener Banken auch umgekehrt mit dem westlichen Kapital gemeinsame Sache, um sich der nationalen Übernahmegelüste in den Nachfolgestaaten zu erwehren.38 Es blieb genügend übrig, vielleicht nicht immer die Filetstücke der Vorkriegslandschaft. Von den drei Mühlsteinen um den Hals, die 1929 die Bodencreditanstalt unter Rudolf Sieghart in den Abgrund zerrten, waren nur die Steyr-Werke in Österreich beheimatet, der Textilkonzern Mautner mehrheitlich in Böhmen, die Fanto – mit Hauptquartier in Pardubitz – auf den galizischen Ölfeldern. Das Problem der österreichischen Großbanken war die »schlechte Risikoverteilung«. Bei einigen wenigen Schuldnern waren Riesensummen »immobilisiert«. Die Banken, die zugleich Großaktionäre und Gläubiger der Industrie waren, standen vor dem Dilemma, entweder den Betrieben das Leben zu erleichtern und auf die Zinsen zu verzichten oder hohe Zinsen zu verrechnen und die Aktien in ihrem Besitz zu entwerten. Als Aktionäre wollten sie Dividenden kassieren, die sie als Gläubiger nicht hätten bewilligen dür-
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fen. Finanzminister Mittelberger klagte nach dem Zusammenbruch der Bodencreditanstalt : »Der Grundsatz, daß die Banken von der Industrie und die Industrie von den Banken leben, hat zwar die BCA umgebracht, eine ganze Reihe innerösterreichischer Unternehmen lahmgelegt, aber eine Änderung der Meinung im Ministerium noch kaum herbeigeführt.«39 Auch Bundeskanzler Streeruwitz, im Zivilberuf Manager eines mittleren Unternehmens, konnte da nur den Kopf schütteln : »Niemals hätte ein tüchtiger Chef einer Privatfirma […] solche Kredite in Anspruch genommen, wie sie von den Banken nachher, in weiß Gott welcher Verblendung, verlangt und gegeben worden sind. Die Banken waren kurze Zeit Herren, dann Bürgen und Zahler und schließlich Opfer dieses Systems.« Von einer wirklichen Kontrolle der Geschäftsgebarung der Konzernbetriebe konnte keine Rede sein. Sieghart redete sich nach dem Krach der BCA dann wenig glaubwürdig darauf aus, bei den beiden größten österreichischen Schuldnern hätte es bloß deshalb nicht geklappt, weil der Aufsichtsratsvorsitzende Günther erkrankt sei.40 Als Achillesferse sollte sich nach 1929 die Praxis erweisen, mit im Westen kurzfristig aufgenommenen Geldern langfristige Engagements im Osten aufrechterhalten zu wollen. Die Creditanstalt, mit Siegharts Rivalen Rothschild im Hintergrund, hatte noch kurz vor 1929 zig Millionen in die rumänische Zuckerindustrie investiert. Als das »bestgeführte« Institut erwies sich der Bankverein, damals noch ein selbstständiges Institut, mit dem Hauptgebäude am Schottenring. Eine gewisse Ausnahmestellung genoss die Niederösterreichische Escomptegesellschaft, beheimatet im späteren Länderbank-Gebäude Am Hof, gegenüber der Creditanstalt. Sie war spezialisiert auf die Schwerindustrie und verband pikanterweise eine Minderheitsbeteiligung an der Alpine-Montan, dem Betrieb, der wie kein anderer die Heimwehren förderte, mit der Stellung als Hausbank des »roten Wien«. (Metallarbeiter-Chef Domes sollte sich deshalb auch einmal beim Escompte-Direktor Kux über die Alpine beschweren.)41 Der gängige Vorwurf lautete : Die Wiener Banken, die weiter ihre Rolle als Drehscheibe Mitteleuropas spielen wollten, vernachlässigten dabei sträflich die heimische Wirtschaft. Um sich vom »jüdischen Kapital« der Wiener Banken zu emanzipieren, waren in den Anfangsjahren der Republik all die christlich-deutschen Banken gegründet worden, die Mitte der Zwanzigerjahre dann so große Schwierigkeiten bereiteten. Denn auch diese Institute widmeten sich nicht dem Mittelstand in der Provinz, wie es ihrem Programm entsprochen hätte, sondern der Währungsspekulation oder – wie die Gründungen des Grazer Tycoons Viktor Wutte, des »steirischen Stinnes« – erst recht wiederum dem Empire-Building in den Gebieten der ehemaligen Monarchie, in seinem Fall eines Montankonzerns, der von der Graz-Köflacher bis zu Trifail in der Untersteiermark reichen sollte.42 Die anrüchigen Verbindungen zu privaten Unternehmungen diverser christlich sozialer Landespolitiker setzten diesem Trend bloß noch die Krone auf. Die Sozial-
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demokraten zogen 1927 in den Wahlkampf mit dem Reim : »Es riecht zum Himmel der Gestanken / von den christlich-deutschen Banken.« Der Emanzipationsfeldzug gegen das Monopol der »jüdischen« Wiener Großbanken endete mit einem Fiasko auf der ganzen Linie. Das zugrundeliegende Problem harrte weiterhin einer Lösung : Die mittelständische Wirtschaft war für die Großbanken nicht interessant. Selbst Finanzminister Kienböck als Verbündeter der Hochfinanz gab zu, es sei für den Normalverbraucher schwierig, Kredit zu bekommen, weil die mittleren und kleineren Institute zusammengebrochen seien, für die großen Institute sich das Geschäft mit den kleinen Leuten aber nicht lohne. Über den Krach der Provinzbanken urteilte er im Kreise seiner Parteifreunde freilich schulterzuckend : »Wenn wirtschaftliche Dinge nicht wirtschaftlich behandelt würden, müsse man eben zu den jüdischen Banken gehen.«43 Ein gutes Beispiel für den Mangel an »wirtschaftlicher Behandlung« war die Zentralbank der deutschen Sparkassen, die 1926/27 vom Steuerzahler saniert und von der Bodencreditanstalt aufgefangen werden musste. Sie hätte alle Kunden akzeptiert, die bei anderen »keine Unterkunft mehr gefunden« hätten, so wurde geklagt. Allerdings umfasste diese Liste eben nicht bloß Mittelständler, sondern von Wutte über Zwetzbacher bis zu Rintelen die gesamte chronique scandaleuse dieser Jahre.44 Den Agrariern gelang es doch noch, sich 1927 mit der Giro-Zentrale einen Ersatz für die Zentralbank zu schaffen, mit einer starken Beteiligung des reichsdeutschen Bundes der Landwirte. Ihre Gründung war einer der ersten Erfolge des Landbundes als Regierungspartei. Aber auch da kam man um die Großbanken nicht herum, was für diverse Irritationen sorgte.45 Zu guter Letzt bestanden dann just die Reichsdeutschen zum Ärger der Landbündler auf der Ernennung des christlichsozialen ExLandwirtschaftsministers Buchinger zum Präsidenten.46 Die Lücke in der Zahlungsbilanz : Industrie und Landwirtschaft Die Kapitalknappheit war nur eines der Probleme der österreichischen Industrie, die nach 1918 fast neun Zehntel ihres Absatzmarktes verloren hatte : Produktion ohne Markt. Die österreichische Industrie war traditionell immer schon schutzzöllnerisch orientiert gewesen ; denn in einem Land mit so ungünstigen Produktions- und Verkehrsbedingungen, so hieß es, sei man der englischen Textilindustrie oder den Ruhrgiganten sonst nicht gewachsen. Die Industrie entdeckte nach 1918 plötzlich die Meriten des Freihandels, gegen die Abschottungstendenzen all der Nachfolgestaaten, die im Zuge der »Entösterreicherung« eigene Industrien aufbauen und am Leben erhalten wollten. Darunter litt vor allem die Textilindustrie : Die Weber s aßen im Sudetenland, die Spinner im Wiener Becken (und in Vorarlberg), oder auch die Maschinenindustrie, wie z. B. die Lokomotivfabriken, die 1930 alle bis auf die eine in Floridsdorf aufgelassen wurden. Die Sensengewerken, die immer schon nach Russ-
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land exportiert hatten, belieferten jetzt eben als treue Anhänger der antimarxistischen Heimwehr – auch hier ein weltanschauliches Paradoxon – die Sowjetunion, die nur leider 1930 alle Aufträge stornierte.47 »Die Industrie« hatte 1918 noch rechtzeitig vor Kriegsende den Reichs-, später dann Hauptverband der Industrie gegründet, eine Zusammenfassung der regional strukturierten Arbeitgeberverbände (wie z. B. des Neunkirchner oder St. Pöltener Verbandes) und des Zentralverbandes der Industrie, der sich aus den diversen Branchenverbänden zusammensetzte und sich in erster Linie um die Handelspolitik gekümmert hatte. Der nunmehrige Hauptverband war als Arbeitgeber-Lobby in seinem Element, in handelspolitischen Fragen meist peinlich berührt, wenn es sich um die Frage handelte, ob jetzt dem Schutz des heimischen Markts oder der Erleichterung des Exports der Vorrang gebühre : »Wir können zwischen den divergierenden Interessen unserer Mitglieder nicht entscheiden.« Präsident des Hauptverbandes war zunächst Fritz Hamburger, ein deutschnationaler Papierfabrikant, dann Ludwig Urban, Teilhaber der Neunkirchner Schraubenfabrik Brevillier & Urban (die erst später in die Bleistifterzeugung expandierte), ein weltläufiger Polospieler von »stärkstem Temperament und beschwingter Entschlusskraft« ; als Vizepräsident und wohl auch eigentlicher Geschäftsführer des Hauptverbandes fungierte Baron Robert Ehrhart, als ehemaliger Sektionschef im altösterreichischen Ministerratspräsidium ein Pendant und Nachfolger von Bodencredit-Chef Sieghart.48 Die Großindustriellen im Osten Österreichs – was immer auch ihre privaten Vorlieben sein mochten – hielten sich politisch an die »starken Bataillone« der Christlichsozialen. Die Großdeutschen als klassische Beamtenpartei übten auf sie keine besondere Anziehungskraft aus. Ebenfalls in Neunkirchen tätig – wie Urban – war Ernst v. Streeruwitz als Direktor einer Textilfärberei, das Vorstandsmitglied des Hauptverbandes, das 1923 von Seipel als einer von drei Industriekandidaten auf die christlichsoziale Liste kooptiert wurde. Sein Kompagnon dabei war Emanuel Weidenhoffer, der Sekretär des steirischen Industriellenverbandes, vor dem Kriege noch deutschnationaler Reichsratskandidat, gegen den sein späterer Parteifreund Czermak damals noch die Parole ausgab, »lieber für die ›Roten‹ zu stimmen«. Nur der dritte Kandidat des Hauptverbandes, der Wiener Fritz Reiner, starb vorzeitig (und wurde später durch Alexander Hryntschak ersetzt, einen Publizisten, der als Monarchist galt, weil er eine Nichte von Katharina Schratt geheiratet hatte).49 Das eigentliche Herz der steirischen Industrie war im Verband der Obersteirischen Eisen- und Stahlindustrie zusammengefasst, der neben der Alpine-Montan die großen Namen wie Schoeller (Ternitz), Böhler und Bleckmann (Kapfenberg) umfasste, daneben Gewerken wie Pengg-Auheim. Die Alpine war als größter Konzern des Landes »heißumfehdet, wildumstritten«, mit einer starken Verankerung im Kohlenbergbau. Handelspolitisch war ihre Stellung zwiespältig : Die Alpine litt unter dem kleinen Markt, beutete ihn aber auch nach Strich und Faden aus, denn sie verfügte
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in gewissen Erzeugungssparten über ein Monopol. Die Alpine zählte vor dem Krieg zum Einzugsbereich von Wittgensteins »Prager Eisen« ; seit 1922/26 war sie bei den Vereinigten Stahlwerken als Mehrheitseigentümern gelandet, dem Giganten an der Ruhr ; sie galt den meisten Historikern deshalb als deutschnationales Bollwerk, doch ihre Anschlussbegeisterung war gedämpft ; ihr legendärer Generaldirektor Anton Apold wollte den kleinen österreichischen Markt keineswegs taxfrei mit der reichsdeutschen Konkurrenz teilen.50 Von den »alten Industrien« war die Schwerindustrie für Konjunkturschwankungen naturgemäß besonders anfällig ; die mehr oder weniger über das ganze Bundesgebiet verstreute Textilindustrie litt in der Krise verhältnismäßig weniger, dem Zusammenbruch des Mauthner-Konzerns im Osten 1929/30 stand das Erfolgsmodell der Vorarlberger (F.M. Hämmerle und Rhomberg) gegenüber, die durch Rationali sierung und vertikale Integration sogar Terrain gutzumachen verstanden. Wachstumssparten der Zwischenkriegszeit waren – wenig überraschend, wie überall – die »neuen Industrien«, Chemie (wie z. B. die Treibacher) und Elektroindustrie (Letztere meist in Wien beheimatet, aber mit den Elin-Werken in Weiz als besonders krisenresistentem Unternehmen, das auch in der Weltwirtschaftskrise einen Exportanteil von 60–80 % aufrechterhielt) ; der Automobilerzeugung war da schon ein viel wechselvolleres Schicksal beschieden. Allenfalls ließ sich von einem Konzentrations prozess sprechen : Die Erzeugung der vereinigten »Steyr-Daimler-Puch«-Werke wurde 1934 komplett nach Oberösterreich verlegt. Ihr gelang in den Jahren danach zumindest die Eroberung des heimischen Marktes. 1937 führte Österreich erstmals weniger Kraftfahrzeuge ein als aus.51 Die österreich-spezifische Erfolgsstory aber war die Papierindustrie, die 1929 das Vorkriegsniveau schon um mehr als ein Drittel übertraf, angesiedelt in den Alpentälern, mit einer besonders starken Konzentration in Oberösterreich und im steirischkärntnerischen Grenzgebiet. Eine gewisse Konkurrenzsituation ergab sich auf diesem Sektor mit den Holzhändlern und Sägewerksbesitzern, die anfangs sogar noch mehr als Devisenbringer in Betracht kamen, vor allem in Kärnten, das 13 % der Waldfläche stellte, aber anfangs 40 % der Holzexporte auf sich vereinigte. Holz war lange Zeit sogar mit Exportzöllen belastet ; die Industrie wollte die Holzpreise im Inland auch weiterhin drücken, die Waldbesitzer sahen sich benachteiligt. Die mittelständische Industrie im Süden und Westen des Landes stand politisch in der Regel im Lager der Großdeutschen, von den Ahnherrn der oberösterreichischen BrauAG bis zu den Dornbirner Patriarchen ; die Kärntner Holzbranche – mit Namen wie Funder oder Hasslacher – hielt sich deshalb lieber an den Landbund.52 »Markt ohne Produktion« – so hatte Renner den Rückstand der österreichischen Landwirtschaft charakterisiert. Anders formuliert : Hier lag ein Wachstumspotenzial brach – das freilich nur zu befruchten war, wenn man die heimischen Bauern gegen die ausländische Konkurrenz schützte. Anfangs war das freilich gar nicht notwen-
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Abbildung 3: Industrieproduktion 1913–1929–1933–1937
dig : Die Absperrung der unmittelbaren Nachkriegszeit und die Inflation hatten den Markt isoliert (und die Höfe von ihren Schulden befreit). Die Landwirtschaft zählte in den ersten fünf Jahren nach 1918 zu den enthusiastischen Verfechtern des freien Markts : Jegliche Bewirtschaftung, staatlicher Dirigismus und »Zentralen«, Maximalpreise und Ablieferungsquoten, sollten der Vergangenheit angehören. Durch die »Volksernährung« werde die »Produktion erschlagen«, auch wenn der Schaden nicht sofort sichtbar sei. In diesem Sinne erwies sich die Landwirtschaft als verlässliche Befürworterin des Seipel’schen Sanierungskurses, der mit den verhassten Relikten der Kriegswirtschaft endlich aufzuräumen versprach.53 Doch kaum war man endlich am freien Markt angekommen und der Schilling stabil, begann die auswärtige Konkurrenz, sprich : die bis vor Kurzem einheimische »alt österreichische«, vom ungarischen Getreide bis zu den polnischen Schweinen, wieder auf den Wiener Markt zu drängen. Die österreichische Landwirtschaft strebte ab jetzt, wie die Industrie in den Nachbarländern, eine »Entösterreicherung« an, weg von den alten Versorgungsgebieten. Denn die Alpenregionen waren nicht konkurrenzfähig, schon einmal, weil sie alpin waren (am ehesten noch bei Zuchtvieh und Milch). Dann wegen der exzentrischen Lage Wiens, das schon rein verkehrsmäßig für die ausländische Konkurrenz vielfach leichter zu erreichen war. Der natürliche Absatzmarkt für die alpine Wirtschaft war dagegen Bayern, das sich leider zunehmend abschloss.
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Eine Region Österreichs war nicht oder jedenfalls nur zum kleineren Teil alpin : Niederösterreich, daneben das Burgenland und ein Streifen Oberösterreichs. Der italienische Presseattaché Morreale umschrieb das Problem der österreichischen Landwirtschaftspolitik deshalb einmal so : Es gebe in Österreich 450.000 Bauern, aber die Politik werde von den 50.000 gemacht, die vom Getreide lebten. Staatssekretär Franz Bachinger – als Landbündler allerdings voreingenommen – schlug in dieselbe Kerbe, wenn er wegwerfend schrieb, »die Getreidepreise seien für die in Österreich überwiegende Zahl der kleinen Bauern nicht von überragender Bedeutung«. Zum »Getreide« mochte man dann auch noch die Zuckerrüben rechnen, eine weitere Spezialität des Flachlandes an der Ostgrenze, die sich im Sinne der Emanzipation Österreichs von den Importen aus der Tschechoslowakei besonderer Förderung erfreuten. Von sieben Zuckerfabriken standen Mitte der Zwanzigerjahre vier in Niederösterreich, zwei im Burgenland – die einzige oberösterreichische, eine Landbundgründung (Suben), machte kurz darauf Bankrott.54 Zielscheibe dieser mehr oder weniger verhüllten Angriffe war der niederösterreichische Bauernbund, die zweifellos schlagkräftigste Organisation der Agrarier. Dieser Bauernbund aber wurde – spätestens nach dem Ausscheiden seines Gründers Stöckler – von einem Netzwerk geführt, das fast ausschließlich aus dem Umkreis des Tullnerfeldes stammte : Karl List, der letzte Präsident des Landeskulturrates, aus Groß-Weikersdorf ; der erste Präsident der Nachfolgeorganisation – der Landwirtschaftskammer – Josef Zwetzbacher stammte aus Oberwagram, Landwirtschaftsminister Rudolf Buchinger aus Staasdorf, einem Vorort von Tulln, Bauernbundobmann Josef Reither aus Langenrohr, später dann Bauernbundsekretär Leopold Figl aus Rust. (Eine der Errungenschaften Reithers war die Trockenlegung von 1400 Hektar Teich- und Sumpfland im Überschwemmungsgebiet der Donau zwischen Langenrohr und Rust.) Selbst die Dissidenten, die sich mit ihnen früher oder später überwarfen, kamen aus den angrenzenden Regionen des Weinviertels, wie Johann Mayer (Landeshauptmann 1920–22) und Ludwig Strobl (Landwirtschaftsminister 1935/36) ; nur Priester wie Matthäus Bauchinger und Josef Sturm waren lokal nicht ganz so präzise zu verorten.55 Der Reichsbauernbund litt unter dieser Bruchlinie : Niederösterreich, ja ein spezifisches Segment von Niederösterreich, gegen den Rest der Welt (mit Oberösterreich ein weiteres Mal in der Position des juste milieu). Die Viehzüchter im Gebirge konnten der Getreidepolitik des Tullnerfeldes, die ihre Futtermittel verteuerte, wenig abgewinnen. Zugunsten der »Präriebarone« – wie man heute vielleicht sagen würde – sprach freilich ein unwiderlegliches Argument. Sobald der Pflanzenbau selbst im Flachland nicht mehr rentabel war, müssten sich die Mischbetriebe der Niederösterreicher eben auch verstärkt der Viehzucht widmen ; damit würden sie die Bergbauern erst recht vom Markt verdrängen. Der Landbund als nationale Bauernpartei versuchte sich dieses Dilemma zunutze zu machen ; er stellte in Steiermark (ab 1929) und
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Abbildung 4: Josef Reithers Musterhof in Langenrohr
Kärnten (ab 1932) die Präsidenten der neu geschaffenen Landwirtschaftskammern. Damit stand er mehr oder weniger eindeutig aufseiten der »Hörndlbauern« und versuchte den christlichsozialen Reichsbauernbund – mit seinen Salzburger und Tiroler Viehzüchtern – von dieser Flanke her aufzurollen. In der Präsidentenkonferenz der Landwirtschaftskammern ergaben sich da oft Mehrheiten für den Standpunkt des Landbundes, selbst wenn er dort formal bloß über zwei von acht Stimmen verfügte. Auf den ersten Blick schien die unbedingte Notwendigkeit einer Verbesserung der Zahlungsbilanz für den Agrarprotektionismus zu sprechen, die Erfahrung der Kriegsjahre für einen möglichst hohen Grad an Selbstversorgung. Doch diese Selbstversorgung hatte ihren Preis. Sie bedeutete erhöhte Lebenshaltungskosten. Damit vergraulte man nicht bloß die städtischen Konsumenten, dahinter verbarg sich auch ein handelspolitisches Dilemma. Der Außenhandel war keine Einbahnstraße. Wenn man die alten Märkte im »Neu-Ausland« für die Industrie öffnen wollte, dann bestanden dafür nur Chancen, wenn man den Handelspartnern im Osten und Südosten im Gegenzug auch Zugang zum eigenen Agrarmarkt gewährte. Freilich, bevor man überhaupt in Verhandlungen eintrat, empfahl es sich, die Zölle in einem ersten Schritt einmal hinaufzusetzen – um sich jegliche Senkung möglichst teuer bezahlen
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zu lassen. In diesem Sinne setzte das niederösterreichische Duo Buchinger – Stree ruwitz, Landwirtschaftsminister und Industrievertreter, 1924/25 einvernehmlich eine erste Novellierung des Zolltarifs durch. Das tägliche Brot, der Weizen und der Schweinespeck, waren der eine große Passivposten in der österreichischen Handelsbilanz der Anfangsjahre ; Energieträger, nämlich Kohle, insbesondere Steinkohle, aus Schlesien oder von der Ruhr, der andere. Auch da gab es Alternativen, die nur in der Praxis nicht immer so leicht operationalisierbar waren. Es gab in Österreich natürlich Holz in Hülle und Fülle, mit dem man heizen konnte ; daneben etliche Braunkohlenlager, z. B. im Revier der Alpine-Montan. Nur war der Heizwert von Braunkohle pro Tonne eben geringer. Da musste der Staat regulierend – oder verzerrend ? – eingreifen, wenn er die Umstellung auf heimische Brennstoffe vorantreiben wollte (und selbst dann konnte man mit Braunkohle immer noch keine Hochöfen betreiben). Damit bewegte man sich im Rahmen des »zweiten« Kondratieff-Zyklus, der industrielle Entwicklung weltweit an Kohlenlagerstätten band. Als Energiequellen kamen inzwischen natürlich auch die Leitsektoren des »dritten« Zyklus in Betracht, elektrische Energie und Erdöl. Österreich-Ungarn hatte im europäischen Ölgeschäft lange Zeit sogar eine führende Stellung eingenommen. Doch diese »NaphtaGruben« lagen in Galizien (und gingen langsam zur Neige). 1930 entdeckte man dann auch im neuen Österreich Erdöl, in Zistersdorf ; 1934 war die Produktion so weit angelaufen, dass die Förderung rentabel erschien ; auch einige internationale Firmen begannen ihr Interesse anzumelden ; Österreich konnte bis 1938 dann immerhin schon ein Drittel seines Bedarfes an Öl decken. Vor allem aber boten die Wasserkräfte ein für den Ausbau der Elektrizitätswirtschaft nahezu unerschöpfliches Reservoir. Der Ausbau der Wasserkräfte war in der Verfassung weiterhin zur Landessache erklärt worden, eine Reminiszenz an Wildbachverbauung und landwirtschaftliche Meliorationen. Die Länder nahmen sich der Sache auch pflichtschuldigst an : Rintelen gründete mit italienischer Hilfe die Steweag und baute in der Weststeiermark die Taigisch-Sperre ; Tirol kaufte dem Kloster Fiecht seine Gewässer ab und errichtete das Achenseekraftwerk ; Vorarlberg die Ill-Werke ; mit Abstand der größte Stromproduzent der Zwischenkriegszeit blieb freilich die oberösterreichische OKA, die 1929 mit der Privatgesellschaft Stern & Hafferl fusionierte – und zwar dank eines Kraftwerks, das schon während des Krieges geplant worden war und ohne hochalpine Kulisse auskam : Partenstein an der Großen Mühl, mit einem Gefälle von immerhin 175 Metern, fertiggestellt 1924.56 Doch die wirklich beeindruckenden Großprojekte gerieten über das Planungsstadium nicht hinaus : Schon Seipel wurde von Bürgerinitiativen bedrängt, die gegen das Donaukraftwerk Ybbs-Persenbeug Sturm liefen, das ganz ohne ihr Zutun dann ohnehin der Weltwirtschaftskrise zum Opfer fiel ; die geschätzten Kosten von 150
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Mio. S seien nicht aufzubringen.57 Das Großprojekt eines Tauernkraftwerks (»Kaprun«) wurde zur selben Zeit von Bundeskanzler Schober und Rehrl propagiert, dem erzföderalistischen Salzburger Landeshauptmann, der eine überaus rege Standortpolitik betrieb, von den Festspielen bis zur Großglocknerstraße, deshalb aber erst recht immer wieder vom Bund aus dem finanziellen Sumpf gezogen werden musste.58 Kaprun – aber auch die Illwerke – waren als Devisenbringer gedacht, zur Versorgung nicht der heimischen Kunden, sondern in erster Linie der reichsdeutschen Industrie. Aber der Ausbau der Wasserkräfte scheiterte an der Kapitalnot. Auch die lang erwartete Investitionsanleihe 1930 ging zum großen Teil für die Bezahlung alter Schulden drauf. Die Dreißigerjahre gelten als das »verlorene Jahrzehnt« der E-Wirtschaft. Der Anteil der Kohle als Energieträger ging in der Zwischenkriegszeit zwar zurück, aber nur von 90 auf 74 % (Strom holte auf von 8 auf 18 %). Doch auch bei den heimischen Kunden war noch einiges an Überzeugungsarbeit zu leisten. Größter Kohlenverbraucher – und größter Defizitposten im Staatshaushalt – waren die Bundesbahnen. Die Elektrifizierung schien – zumal für Bergbahnen – der ideale Lösungsansatz. Damit wurde in den Zwanzigerjahren auch begonnen, z. B. auf der Arlberg- oder der Salzkammergutstrecke.59 Die Westbahn, vielleicht auch der Semmering, sollten folgen. Doch 1927 wurden die Arbeiten plötzlich eingestellt : Der Ausbau – in den Zwanzigerjahren wurden immerhin 325 Mio. verbaut – käme infolge des hohen Zinsniveaus zu teuer ; mit einer neuen Generation verbesserter Dampfloks seien auch ohne große Investitionen bessere Ergebnisse zu erzielen. Es gäbe kein Land, so wurde argumentiert, dass »so hohe Zinssätze und ähnlich günstige Kohlenpreise« aufzuweisen hätte. Da wollte man doch besser die Experten zu Wort kommen zu lassen. Das Ergebnis konnte sich sehen lassen : Das Team der Bundesbahn berechnete für die Strecke Wien–Salzburg eine Erhöhung des Defizits um 9 Mio. S jährlich, das Team der Elektroindustrie ein Plus von 5 Mio. S jährlich.60 Die Autoren des steirischen Wirtschaftsprogramms – mit Rintelens Steweag im Rücken – witterten da sofort perfide Intrigen und Korruption. War ÖBB-Präsident Günther – Seipels Kandidat – nicht vor dem Krieg Manager der Hüttenwerke der Bodencreditanstalt im Ostrauer Revier gewesen : Dürfe man das Schicksal der Elektrifizierung der Willkür von Söldlingen der Kohlenbarone überlassen ? Tatsächlich fand sich ein Schwarzkonto der ÖBB, das unter anderem auch Propaganda gegen die Elektrifizierung in Auftrag gab. Auch die Sozialdemokratie war in der Frage ganz offensichtlich gespalten : Die mächtige Eisenbahnergewerkschaft war mit dem herkömmlichen Kohlenbetrieb (und mit Günther) einverstanden ; Josef Gruber als Linzer Bürgermeister war führend beteiligt an überparteilichen Initiativen für die forcierte Elektrifizierung der Westbahnstrecke, die allerdings erst 1937 wieder in Angriff genommen wurde. Die Elektrifizierung stagnierte bei rd. 15 % der Streckenlänge. Neben 200 E-Loks standen immer noch 2000 Dampfloks im Einsatz. Daran
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änderte nicht einmal der Umstand etwas, dass mit dem ehemaligen AEG-Direktor Seefehlner 1931–33 nunmehr ein »Söldling« der Elektroindustrie an der Spitze der Bundesbahnen stand.61 Armut = Krise ? Fazit : Die Österreicher vermochten ihr ökonomisches Potenzial nicht auszuschöpfen. Die Industrie litt unter Überkapazitäten, die Landwirtschaft unter dem Dilemma : Wachstum nur bei erhöhten Preisen, die volkswirtschaftlich schwer zu vertreten waren. Auch der Dienstleistungssektor bot wenig erfreuliche Perspektiven. Wien war als Verwaltungszentrum eines Großreiches nicht mehr »nachgefragt« ; der Tourismus aber florierte noch nicht so wie später. Die Österreicher der Zwischenkriegszeit waren damit bis zu einem gewissen Grad in der schlechtesten beider Welten gelandet. Die Statistik untermauert den Befund : Zwischen 1913 und 1953 fand per Saldo statistisch kaum Wirtschaftswachstum statt. Mit einem Wort : Die Österreicher waren arm. Dieser Umstand wurde vielfach als Erklärung für alle nur möglichen politischen Schwierigkeiten herangezogen. Dieser Zusammenhang erscheint auf den ersten Blick plausibel und nachvollziehbar. Sonntagsreden jeglicher Provenienz beschwören die politische Radikalisierung als Folge ökonomischer Schwierigkeiten. Auf den zweiten Blick freilich ist dieser Kausalzusammenhang – für sich genommen – keineswegs so überzeugend, Armut als Kriterium für politische Turbulenzen nicht hinreichend. Im Gegenteil : Arme, »rückständige« Gesellschaften erweisen sich oft als politisch besonders stabil. Wo es kein Wachstum gibt, geraten die herkömmlichen Hierarchien nicht in Gefahr. Marx hatte – im Gegensatz zu vielen sentimentalen Linken – nicht so unrecht, wenn er Revolutionen aus dem Aufstieg neuer Schichten ableitete, die ihren Anteil an der Macht einfordern. Mit diesem Muster kommen wir der Problematik der Zwischenkriegszeit schon näher. Die Zeit von 1914 bis 1924, die Epoche von Krieg, Umsturz, und Inflation, hatte zwar wenig echte »Gewinner« geschaffen, aber sie hatte die Einkommenshierarchien mehrmals und nachhaltig durcheinandergewürfelt. Die Armut, der ökonomische Abstieg, galt nicht als Ergebnis einer gottgewollten Ordnung, sondern als Resultat einer politischen Niederlage, des Reiches im Großen, des eigenen Standes, der Berufsgruppe oder der Partei im Kleinen. Heimito von Doderer legt seinem Amtsrat Zihal im zünftigen Beamtendeutsch die Worte in den Mund : Glücklich ist »derjenige, dessen Bemessung seiner eigenen Ansprüche hinter einem diesfalls herabgelangten höheren Entscheid so weit zurückbleibt, daß dann naturgemäß ein erheblicher Übergenuß eintritt.« Genau diese philosophische Haltung war nach 1918 nicht gegeben – und auch bei Doderer wird dem Passus, genau genommen, besondere Relevanz nur für schlichte Gemüter unterstellt. Der Staat litt vielmehr unter der Unzufriedenheit der »Deklassierten aller Klassen«, wie es Renner einmal ausdrückte.62
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Zentraler Ansatzpunkt war in dieser Beziehung die Misere des Mittelstandes, des Bürgertums als der klassischen Schicht von Besitz und Bildung. Der Besitz war dahingeschmolzen, wenn er in Geldvermögen oder Kriegsanleihe angelegt worden war ; entwertet, wenn er aus Hausbesitz bestand ; Gewerbe- oder Handelsbetriebe hatten unter der Bewirtschaftung – und den Einschränkungen des Konsums – gelitten. Die Kriegsanleihegeschädigten geisterten unter dem bezeichnenden Titel »Klein rentner« durch die Debatten der Zwischenkriegszeit ; die Mieterschutzdebatten wiederum ließen fundamentale Interessenskonflikte innerhalb des Bürgertums hervortreten : Denn auch die Industrie – und natürlich die Beamten – profitierten vom Mieterschutz : Jede Anhebung der Mieten musste automatisch zu Lohnforderungen führen. Nur die Bauern nahmen sich der Hausbesitzer an, die deshalb schließlich mit ihren engagiertesten Vertretern beim Landbund landeten. Die Staatsdiener wurden vom Beamtenabbau erfasst. Darüber kursieren vielleicht manchmal übertriebene Vorstellungen : Es strömten ja bei Weitem nicht alle »altösterreichischen« Beamten nach Wien zurück oder optierten für Deutsch-Österreich. Die Monarchie mit ihrer Konzentration auf die Hoheitsverwaltung war ein relativ schlanker Staat. Sozialpolitik war Länder- oder Privatsache. Von den 100.000 Beamten, die Österreich aufgrund der Genfer Protokolle abbauen sollte (tatsächlich belief sich die Ziffer dann per Saldo auf 93.000), zählten mehr als die Hälfte zu den Bediensteten von Bahn und Post. Gerade auf diesem Sektor waren anfangs vielleicht besonders viele Beamte übernommen worden, weil die Tschechen auf Zweisprachigkeit beharrten und rigorose Entlassungen vornahmen. Dort, wo abgebaut wurde, waren die Ersparnisse nicht immer überzeugend. Dennoch : Zigtausende von Frühund Neupensionisten fühlten sich deklassiert, nicht bloß, aber auch finanziell. Doch auch innerhalb der Beamtenschaft, die bleiben durfte, waren allerlei wider sprüchliche Interessen am Werk : Die Inflation hatte die Gehaltspyramiden unterspült ; denn sie war mit Pauschalzahlungen und Lebensmittelsubventionen abgegolten worden. Ein Anliegen der Beamtengewerkschafter, das aus verständlichen Gründen nicht an die große Glocke gehängt wurde, war die Wiederherstellung der »Spannung«, sprich : die finanzielle Aufwertung der mittleren und höheren Beamten, der Akademiker und Maturanten, im Vergleich zu Amtsdienern und Schreibfräuleins.63 Den Beamten in den Wiener Zentralstellen wurden um ihre besseren Aufstiegschancen beneidet, die Landesbeamten in der Provinz wegen ihrer höheren Anfangsgehälter. Die Mittelschullehrer, ein politisch sehr aktives Segment, vor allem im Rahmen der Großdeutschen Partei, führten Klage, sie seien vor dem Krieg vor ihren gleichaltrigen Kollegen in der Verwaltung gereiht gewesen, jetzt aber weit zurückgefallen. Wirklich gut war es der Masse der Arbeiter und Bauern während des Krieges natürlich auch nicht gegangen. Aber sie hatten relativ weniger verloren. Zumindest die Arbeiter in kriegswichtigen Betrieben vermochten ihren Interessen immer wieder Gehör
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zu verschaffen. Der Umsturz und die Scheinkonjunktur der Inflationsjahre verbesserte ihre Verhandlungsposition ein weiteres Mal. Die Mitgliederzahlen der Gewerkschaften hatten sich zwischen 1917 und 1922 vervielfacht. Diese Erfolge setzten eine Revolution der steigenden Erwartungen in Gang, die ihr abruptes Ende fand, sobald Seipel mithilfe der internationalen Finanz als außerparlamentarischem Faktor den außerparlamentarischen Druck der Straße paralysierte. Im September 1924 errangen die Metaller in einem Arbeitskampf, den selbst ihr Gegner Streeruwitz als den »einzigen echten Streik« des Jahres würdigte, einen letzten Sieg. Die Arbeitgeber wollten nach dem Ende der Exportkonjunktur alle weiteren Lohnerhöhungen, ja selbst die Teuerungsabgeltung, von einer »Intensivierung der Arbeitsleistung«, sprich : vom Abgehen vom Acht-Stunden-Tag, abhängig machen – und scheiterten damit. Die AZ jubelte über die »Niederlage der Scharfmachermethoden« und versprach sich davon einen »realen Machtzuwachs« der Arbeiterbewegung – zu Unrecht, wie sich herausstellte. Bereits im nächsten Jahr endete der mit neun Wochen bisher längste Streik, bei den Steyr-Werken, mit eher enttäuschenden Resultaten für die »Metaller«.64 Die Bauern waren einem Wechselbad ausgesetzt : Der Krieg mit seiner Inflation führte zu einer Entschuldung der Landwirtschaft ; der Krieg bedeutete aber auch »Bewirtschaftung«, sprich : Konfiskation der Ernte, oder schlimmer noch des Viehs, zu lächerlich geringen Preisen, mithin schleichende Enteignung. Wer auf den Schwarzmarkt auswich, konnte diese Gefahr umgehen und doch noch Gewinne machen, aber diese Chance war nur für eine Minderheit gegeben. Schließlich : Was sollte man mit den wertlosen Kronen anfangen in einer Mangelwirtschaft, wo es nichts zu kaufen gab. Der Friede bedeutete noch lange kein Ende der Bewirtschaftung. Requisitionen wurden jetzt nicht mehr von kaiserlichem Militär vorgenommen, sondern auch von Arbeiterwehren und sonstigen »behördlich berechtigten Räubern«. Im Frühjahr 1919 lieferten einander im steirischen Gleichenberg angeblich Volkswehr und Bauern ein vierstündiges Feuergefecht.65 Erst mit dem schrittweisen Abbau der Zwangswirtschaft 1920/22 öffnete sich für die Landwirtschaft ein »window of opportunity« – und schlug mit der weltweiten Agrarkrise ab 1926 wiederum zu. Abhilfe zu verschaffen vermochte jetzt vielleicht wirklich nur mehr die Politik : Zwar hieß es später einmal, die Bauern würden immer mächtiger, je weniger sie würden. Diesem Bonmot zufolge wurden sie die längste Zeit wohl tatsächlich unter ihrem Wert geschlagen. Die Landwirtschaft stellte immerhin noch ein gutes Drittel der Bevölkerung, wenn man die mithelfenden Familienangehörigen mitzählte (städtische Hausfrauen und Schüler aber nicht), kam eine Berechnung sogar auf 40 % der Berufstätigen.66 Mit diesem Pfund ließ sich schon wuchern, nach dem Krieg mehr als vor dem Krieg, wo alle handelspolitischen Forderungen von den Ungarn abgesegnet werden mussten. Die Bauern waren seit der Einführung des allgemeinen Wahlrechts nicht mehr die sprichwörtliche »schweigende Mehrheit« – vielleicht keine Mehrheit mehr, aber auch nicht länger schweigend.
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Dennoch : Unter der ländlichen Bevölkerung befanden sich die – zumindest vom Geldeinkommen her – Ärmsten der Armen, die zwar nicht arbeitslos oder ausgesteuert gemeldet waren, aber trotz harter Arbeit ein kärgliches Auskommen hatten ; selbst die »Besitzer« sahen sich immer wieder mit der Schreckensvision des Verlusts von Haus und Hof bedroht. Doch eine wirkliche Radikalisierung machte sich, wenn überhaupt, erst sehr spät bemerkbar. Um die Jahreswende 1932/33 kam es bei Versteigerungen in der Oststeiermark (Vorau) oder in Kärnten vereinzelt zu Unruhen, allerdings auch dann nur, weil es sich bei der Ursache der Pfändungen um Beiträge der umstrittenen Krankenkassen handelte. Später gab es gewisse Anzeichen, dass die NS-Propaganda bei Bergbauern – und Landarbeitern – auf fruchtbaren Boden fiel, allerdings erst spät in den Dreißigerjahren, als keine Wahlen mehr stattfanden. Traditionelle Armut allein macht nicht notwendigerweise radikal (vielleicht sogar im Gegenteil, weil sie Abhängigkeiten von den Mächtigen schafft, die ein Aufbegehren erschweren) ; Unsicherheit und Statusverlust schon. Niall Ferguson schildert ein erhellendes Experiment : Die Testpersonen wurden gefragt, wie viel Risiko sie eingehen würden, um einen bestimmten Gewinn zu erzielen – oder aber, um Verluste in der gleichen Höhe abzuwehren. Im zweiten Fall war die Risikobereitschaft signifikant höher. Als 1931 die steirischen Heimwehren unter Berufung auf die allgemeine Notlage ihren erfolglosen, schon nahezu operettenhaften Putsch in Szene setzten, holte Innenminister Winkler zu einer Philippika aus, gegen all die Aristokraten und »schwarzen Grafen« (Sensengewerken), die sich diesem Unternehmen angeschlossen hätten, obwohl sie doch auf ihren Ansitzen recht feudal und behaglich lebten. Er übersah dabei, dass die entscheidende Frage mit Blick auf die Konjunktur – im weitesten Sinn des Wortes – auch für viele von ihnen lautete : »Wie lange noch ?«67 Vorsprung durch Technik ? Die Zwischenkriegszeit war zweifellos ein tristes Kapitel der Wirtschaftsgeschichte, in den Dreißigerjahren erst recht. Dennoch wäre das Bild nicht komplett, ohne gewisse Innovationen zu erwähnen, die möglicherweise dazu beitrugen, die Lebensqualität zu erhöhen, ohne dass dieses Plus in den gängigen Statistiken einen entsprechenden Niederschlag findet. Die Rede ist von den Segnungen des technischen Fortschritts, die man nicht unbedingt euphorisch begrüßen muss, die aber zweifelsohne dazu beigetragen haben, das Lebensgefühl der Dreißigerjahre näher an die Nachkriegszeit zu rücken als an die »Welt von gestern«. Dabei handelte es sich in der Regel zwar um Erfindungen, die in die Vorkriegszeit zurückreichen, aber erst jetzt in größerem Maßstab auch tatsächlich im Alltag Verwendung fanden. Die Elektrifizierung, von der Beleuchtung über das Telefon, geht in ihren Ursprüngen noch auf die Achtzigerjahre zurück. Die Motorisierung war ein Kind der Jahrhundertwende : Das erste »Auto« der Monarchie, das auf den republikanischen
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Namen »Präsident« hörte, wurde 1899 im mährischen Nesselsdorf erzeugt, von den späteren »Tatra-Werken«. Freilich : Automobile waren ein Spielzeug der oberen Zehntausend, und blieben es im Wesentlichen auch während der Zwischenkriegszeit. Die Zahl der Pkws stieg bis 1937 von 4500 auf 32.000. Anfangs stand ein Viertel der Pkws als Taxis in Verwendung ; noch um 1930 wurde die Hälfte der Pkws immer noch von Chauffeuren gelenkt, nicht von den Eigentümern. So war es auch zu verstehen, wenn der Handelsminister dozierte : Die Österreicher wollten keine billigen Wagen. Die populären »Steyr-Baby«-Modelle der Dreißigerjahre – mit dem Werbespruch : »Ich möchte von Dir ein Baby, ein Steyr-Baby« – kosteten immer noch 4500 S, das entsprach anderthalb Jahreseinkommen eines Durchschnittsverdieners – ein Verhältnis, wie es nach 1989 lange Zeit auch in den Reformländern gegeben war. 68 Trotzdem wurde die Assanierung der Wiener Innenstadt in den Dreißigerjahren bereits mit der Beseitigung von verkehrsbehindernden Nadelöhren begründet. Schon Mitte der Zwanzigerjahre tauchten in Wien die ersten Ampeln, Zebrastreifen und Kreisverkehre auf. Das Gros der Motorisierung in der Zwischenkriegszeit entfiel allerdings auf Lkws (14.000) für den Lasten- und Motorräder für den Personenverkehr (1919 erst 1500, 1938 schon 59.000). Beide begegnen uns bei all den militärischen Auseinandersetzungen der frühen Dreißigerjahre. Putschisten waren keine klassischen Infanteristen mehr, sondern mechanisierte Einheiten. Ohne Melder auf Motorräder hätten sie ihre Leute nicht mobilisieren, ohne Lastwagen nicht transportieren können. Es mag als Zeichen einer uns vertrauten »Modernität« gelten : Die letzten ausführlichen Debatten im Ministerrat der Ersten Republik drehten sich um den Benzinpreis (und die Einführung der Rechtsfahrordnung, die bisher nur im Westen des Bundesgebietes gegolten hatte). Der Automobilklub hatte sich kurz vorher beschwert, nirgendwo in Europa – mit Ausnahme Dänemarks – sei das Autofahren so hoch besteuert wie in Österreich.69 Traktoren waren noch Mangelware : 1932 gab es im ganzen Bundesgebiet davon erst 226, im Burgenland z. B. erst drei, in Kärnten sieben. In landwirtschaftlichen Zeitschriften finden sich regelmäßig Anzeigen für Elektromotoren, die auf dem Hof vielseitig Verwendung fanden. Davon waren immerhin bereits 50.000 in Verwendung. Autobuslinien trugen zur Erschließung abgelegener Regionen bei – und galten bereits in den Dreißigerjahren als ernstzunehmende Konkurrenz für die Bahn. Die Einführung einer Benzinsteuer wurde 1933 ausdrücklich mit dem Motivenbericht versehen, der defizitären Bahn wieder zu besseren Geschäften zu verhelfen. Bloß bei Entfernungen bis zu 40 km sei der Lkw auf jeden Fall im Vorteil, resümierte der Handelsminister.70 Die Kehrseite der Medaille in den Zeiten der frühen Motorisierung war eine enorme Unfallhäufigkeit : Kaum ein prominenter Politiker, der nicht in einen gröberen Unfall verwickelt war, bis zum tragischen Tod von Schuschniggs Frau (die sich den Hals brach, als der Chauffeur auf der Fahrt in den Urlaub einen Baum rammte, weil es noch keine Sicherheitsgurte gab).71
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Flugzeuge werden erstaunlich häufig als Verkehrsmittel auf kurze Distanzen genannt, vielleicht weil die Bahnen langsamer, das »Einchecken« schneller waren als heute. Während des Eisenbahnerstreiks 1927 ließen sich Politiker von Aspern nach Linz oder Salzburg fliegen ; Rintelen benützte das Flugzeug auch ohne aktuelle Krise für seine häufigen Reisen zwischen Wien und Graz. In Linz hatte man schon Angst um den Vertrieb der Regionalausgaben, falls die Wiener dazu übergingen, ihre Zeitungen per Flugzeug in der Provinz auszuliefern. Als Hitler 1932 den Präsidentschaftswahlkampf im Deutschen Reich mit dem Flugzeug bestritt, ließen auch die Heimwehren prompt Propagandaflugzeuge ankaufen. Die Österreichische Luftverkehrs AG (ÖLAG) baute ein Netz von Mittelstreckenflügen aus, das auch die Nachbarstaaten erfasste. Die Flugpreise orientierten sich dabei an einem Schlafwagenticket 1. Klasse als alternative Reisemöglichkeit. Die ÖLAG hatte einmal eine Notlandung auf der verschneiten Saualpe zu verzeichnen, aber keine Totalverluste. Als spektakulärer Unfall ging 1936 vielmehr der Absturz zweier prominenter Privatflieger in die Geschichte ein, von CA-Generaldirektor van Hengel und dem österreichisch-ungarischen Flieger-Ass Godwin v. Brumowski.72 Neben dem Verkehrssektor war es vor allem der Unterhaltungssektor, der revolutionäre Umwälzungen erfuhr. Der Film feierte sein Debut zwar schon lange vor dem Weltkrieg : Der erste österreichische Film wurde schon kurz nach 1900 hergestellt, im Krieg reüssierte die »Sascha-Film« des Grafen Alexander Kolowrat mit Propagandastreifen. Doch die Filmproduktion brach nach der Inflationsperiode ein. Tonangebend waren ohne Ton, in der Stummfilmzeit, mit Buster Keaton, Stan Laurel und Oliver Hardy noch die Amerikaner. Ein paar Tage nach dem Zusammenstoß von St. Lorenzen lief 1929 der erste österreichische Tonfilm an – »G’schichten aus der Steiermark«. Die Heimwehren hatten 1928 noch einen Stummfilm in die Kinos gebracht ; auch die Verfilmung von Erich Maria Remarques »Im Westen nichts Neues«, die Ende 1930 große Aufregung verursachte und gezielte Tumulte, die schließlich zum Verbot führten, kam noch als Stummfilm in die Kinos ; für die Landtagswahlen 1932 gab die Sozialdemokratie dann bereits einen abendfüllenden Tonfilm in Auftrag. Der Tonfilm brachte ab 1930 einen Umschwung. Der deutsche Film zog mit Hollywood gleich. Nach einer Schrecksekunde infolge der Kostenexplosion begann ab 1933 die Blütezeit des österreichischen Films, dem selbst die politischen Turbu lenzen der Zeit wenig anhaben konnten. Stars wie Willy Forst und Hans Moser bezogen Gagen von 40.000–80.000 S pro Film. Kostenintensive Großproduktionen konnten nur reüssieren, wenn ihnen auch der reichsdeutsche Markt offenstand. Diese Rücksichtnahme bedeutete ab 1933/34 den – penibel kontrollierten – Verzicht auf die Mitwirkung jüdischer Schauspieler und Mitarbeiter ; jüdische (Mit-)Eigentümer von Filmfirmen und Studios waren von dem NS-Boykott weniger betroffen. Inhaltliche Kriterien gaben erstaunlich selten Anlass zur Kritik. Auch Kritiker dieses
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»Anschlusses im ¾-Takt« halten fest, dass es sich bei den Streifen dieser goldenen Ära praktisch nie um Tendenzfilme handelte.73 Die Kinodichte im Österreich der Zwischenkriegszeit war beachtlich. Das Kino prägte in den Dreißigerjahren zunehmend das Freizeitverhalten. Für die Daheimgebliebenen sorgte das Radio, das 1924 seinen Betrieb aufnahm, damals schon unter einer Regelung, die politischem Proporz verdächtig nahekam. Besonders engagiert zeigten sich die Steirer um Landeshauptmann Rintelen. (Sein Adlatus Huber brachte es dann noch bis zum »Erfinder« des Neujahrskonzerts.) Die Hörerzahlen explodierten. Bis zum Ende der Ersten Republik waren 650.000 Geräte im Betrieb. Das Programm lief zunächst nur einige Stunden pro Tag. Flächendeckende Berieselung ließ noch einige Zeit auf sich warten. Wieder ist ein Blick auf die Rolle der Technik in den politischen Krisen der Zeit instruktiv. Beim Justizpalastbrand 1927 oder beim »Pfrimer-Putsch« 1931 spielte der Rundfunk noch keine Rolle, 1934 war die RAVAG-Zentrale bereits Zielscheibe Nr. 2 der Putschisten. 1938 waren die Übertragungen von Reden Hitlers oder Schuschniggs bereits öffentliche Großereignisse. Die Zwischenkriegszeit war auch von einer wachsenden Sportbegeisterung geprägt. Die »Jugend von heute« reimte sich auf Sport, ja bei Doderer gleich auf das »sportsgirl« (das mit seinen »dicken Damen« so wenig Ähnlichkeit hatte). Sport und Freizeit standen in einem gewissen Zusammenhang : Die Sozialgesetzgebung der Frühzeit, Achtstundentag und bezahlter Urlaub, kann ihren Anteil daran geltend machen. Dazu zählte der unaufhaltsame Aufstieg des Fußballs, der ursprünglich als elitäre englische Mode angesehen worden war, zum Massensport. Jetzt übernahmen auch im Verbandsleben die Arbeitermassen das Kommando. Legendär sind die Erfolge des österreichischen »Wunderteams«, die just in die Phase der Weltwirtschaftskrise fielen, mit einer ununterbrochenen Serie von Siegen in den Jahren 1931–33. Als Höhepunkt gefeiert wurde übrigens eine – knappe Niederlage, gegen die Engländer, mit 3 : 4 am 7. Dezember 1932, ein Ereignis, das mit einer öffentlichen Übertragung am Heldenplatz als Massenspektakel inszeniert wurde. Neben dem Fußball war es vor allem das Wandern und Bergsteigen, das Massen anlockte, im Winter erst langsam ergänzt vom Skifahren, in den Städten weit mehr noch vom Eislaufen : Die Engelmann-Arena in Wien war im Sommer ein beliebter Ort für politische Versammlungen. Seilbahnen hatten im Krieg an der Alpenfront ihre militärische Bewährungsprobe abgelegt. (Auf ihren Bau war z. B. der Betrieb des oberösterreichischen Kammerpräsidenten Hinterschweiger in Wels spezialisiert.) In den Zwanzigerjahren wurden die kriegerischen Erfahrungen dann zur zivilen Erschließung der Bergwelt eingesetzt, von der ersten Seilbahn auf die Rax 1926 bis zur Hahnenkammbahn in Kitzbühel 1929. Sogar über einen Golfplatz am Hahnenkamm wurde damals schon diskutiert. Die Weltwirtschaftskrise setzte auch hier dem weiteren Ausbau vorerst eine Grenze. Erst kurz vor Weihnachten 1937 eröffnete dann Guido Schmidt – damals Staatssekretär für Äußeres – zusammen mit dem Chef
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des Tiroler Industriellenbunds, Ezio Foradori, einem gebürtigen Welschtiroler, die Galzigbahn am Arlberg.74 Um die Spitzenposition im Skitouris mus rangen Kitzbühel – wo 1907 die ersten Skimeisterschaften stattgefunden hatten – und der Arlberg. Auf den Kitzbüheler Bürgermeister Franz Reisch als Skipionier folgte in den Zwanzigerjahren als Aushängeschild Hannes Schneider mit seiner »Arlberg-Technik«. Bei der Vermarktung des Skifahrens kam es zu einer Symbiose mit dem Medium Film. »Der weiße Rausch« wurde mit zehn Jahren Abstand sowohl als Stummwie auch als Tonfilm herausgebracht. Die Jahre der Weltwirtschaftskrise brachten den Durchbruch des Skilaufs als Spitzensport. 1930 wurde der alpine Abbildung 5 : »Der Weiße Rausch« Skilauf ins Programm der internationalen Bewerbe übernommen, die sich bisher auf die nordischen Disziplinen beschränkt hatten. Seit 1928 wurde am Arlberg – abwechselnd mit Mürren in der Schweiz – das Kandahar-Rennen ausgetragen, seit 1931 das Hahnenkamm-Rennen in Kitzbühel. Zur Teilnahme an der FIS einigten sich die beiden österreichischen Skiverbände – mit und ohne Arierparagraf – sogar auf eine gemeinsame Delegation. Die politischen Turbulenzen der Dreißigerjahre hinterließen auch so ihre Spuren : Nicht die Weltwirtschaftskrise, aber die Tausend-Mark-Sperre brachten einen Einbruch der Nächtigungsziffern ; Siegerehrungen bei Skirennen waren oft vom deutschen Gruß begleitet ; die Lantschner-Brüder als erfolgreichste österreichische Rennläufer – aus einer alteingesessenen Familie von Innsbrucker Schönerianern – wechselten vom »Weißen Rausch« zu Leni Riefenstahl und starteten nach 1934 peinlicherweise für Deutschland ; Schneider wiederum wurde 1938 verhaftet und ging in die USA.75 Technik und Sport, Motorräder und Kinos, sie alle vermögen das Bild der Zwischenkriegszeit wohl nicht grundlegend zu ändern. Aber vielleicht sorgten sie in den Dreißigerjahren zumindest für eine unterhaltsamere und mobilere Tristesse ?
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3. Der Anschluss : Die überstrapazierte Selbstverständlichkeit Die Frage des Anschlusses Österreichs an das Deutsche Reich ist selten einer unvoreingenommenen Erörterung unterzogen worden, oder vielleicht besser : Nüchterne Stimmen wurden von emotionalen Haltungen in der Regel übertönt, nach 1918 in einem euphorische Zustimmung, nach 1945 in einem absolute Ablehnung erheischenden Sinne. Ein Gutteil der einschlägigen Etüden der Sechziger- und Siebzigerjahre war dem Thema gewidmet, wie es denn habe kommen können, dass eine Nation sich selber aufgäbe. Noch 2008 ließ sich ein durchaus geschätzter Kollege in diesem Zusammenhang zu dem Kommentar verleiten, es könne sich dabei nur um »eine Sinnstörung der politischen Eliten« gehandelt haben.76 Diese Perspektive erscheint irreführend : Das Österreich von 1914 wollte sich nicht anschließen, das Österreich von 1919 besaß in dieser Form keine Identität, die es hätte aufgeben können. Der Anschluss war eine Selbstverständlichkeit, sobald eine Weiterführung der bisherigen Gemeinsamkeiten im Rahmen der alten Monarchie nicht mehr möglich erschien. Seine Gegner rekrutierten sich fast alle aus der Gruppe, die diese Hoffnung noch nicht endgültig begraben wollte. Robert Musil als fortschrittlicher Anschluss-Befürworter schrieb in diesem Sinne im Februar 1919 eine Glosse mit dem Titel : »Buridans Österreicher« (und verwahrte sich dagegen, »Österreich unter dem Namen Donauföderation als europäisches Naturschutzprojekt für vornehmen Verfall weiter zu hegen«). Im Staatsrat entwickelte sich im November 1918 ein aufschlussreicher Disput zwischen dem christlichsozialen Tiroler Monarchisten Aemilian Schöpfer und dem Deutschradikalen Oskar Teufel, der für den Anschluss schwärmte, nicht der Not gehorchend, sondern dem eigenen Triebe. Schöpfer hielt Teufels 100%igen Anschlusswillen für voreilig, eben weil er weiterhin an die Zusammengehörigkeit der Völker der Monarchie glaubte. Erst wenn diese Aussicht sich endgültig zerschlagen habe, wäre auch er für eine Vereinigung mit dem Deutschen Reich. An der Unabhängigkeit des Rumpfstaates festzuhalten kam keinem von beiden in den Sinn.77 Die Vereinigung mit dem Deutschen Reich – Otto Bauer sprach mit Blick auf die »erste deutsche Teilung« 1866 von einer Wiedervereinigung – war eine Selbstverständlichkeit, gerade mit Blick auf die Nachfolgestaaten : Die Italiener gingen nach Italien, die Polen zu Polen, die Rumänen zu Rumänien, die Südslawen zum Königreich der Serben, Kroaten und Slowenen ; die Ukrainer wären gerne zu einer unabhängigen Ukraine gegangen, die sich nur leider nicht zu halten vermochte. In diesem Sinne formulierte es z. B. Josef Schlegel in einer Rede 1920 : »Auch für uns Deutsche in Österreich ist es das naheliegendste und selbstverständlichste, daß wir uns mit den übrigen Deutschen zusammenschließen.«78 Selbstverständlichkeit, das hieß auch : Nicht immer und überall handelte es sich dabei um eine Liebesheirat,
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machten sich Mentalitätsunterschiede noch nachhaltig bemerkbar : Die Siebenbürger hatten mit den Rumänen des ›Regat‹, die Serben der Vojvodina mit den Militärcliquen des Vorkriegskönigreiches, die Galizier mit den »Preußen« unter den Polen so ihre Schwierigkeiten. Aber es handelte sich in all diesen Fällen dennoch um eine Selbstverständlichkeit, um die unter den gegebenen Umständen einzig realistische Option. Das Problem mit der Selbstverständlichkeit war, dass es sich im Falle der deutschen Österreicher – wie sich bald herausstellte – eben um keine realistische Option handelte. Frankreich setzte im März 1919 endgültig das sogenannte »Anschlußverbot« als Teil der Friedensverträge von Versailles und Saint Germain durch, aus einem auf den ersten Blick leicht verständlichen Grund : Man habe Deutschland nicht besiegt, um es gleich danach mit einem »Trostpreis« von sechseinhalb Millionen neuen Einwohnern zu belohnen. Die Italiener tauschten für ihre Zustimmung zum Anschlussverbot die französische Zustimmung zur Brennergrenze ein ; den Briten mit ihren weltweiten Interessen war die Frage keinen Zwist mit Frankreich wert. Ihr Premier David Lloyd George ließ die betrübten Österreicher zwar in Hinkunft des Öfteren wissen, dass er den Anschluss für eine natürliche Sache halte, die früher oder später zweifellos auch zustande kommen werde. Sein guter Rat lautete : Man müsse bloß ein wenig Geduld aufzubringen – bis dahin aber den Mund halten.79 Dieses Verbot, als eklatanter Verstoß gegen das Selbstbestimmungsrecht, wie es Wilson proklamiert hatte, oder wie es zumindest in Mitteleuropa verstanden wurde,80 geriet zum Ausgangspunkt einer nachhaltigen Polemik. Der Anschluss war keine unvernünftige Idee, für ihn sprachen schon einmal ökonomisch all die Argumente von economies of scale, die heute für ein vereinigtes Europa ins Treffen geführt werden, aber er war auch nicht jenes Allheilmittel, als das er gerne ausgeschildert wurde. Es drängt sich der Befund auf : Der Streitwert wurde – wie oft in vergleichbaren Fällen – maßlos überschätzt. Schließlich konnte man die Politik der beiden Staaten – den guten Willen vorausgesetzt – auch ohne staatsrechtliche Bindungen koordinieren, sich in einem Spiel mit verteilten Rollen vielleicht sogar gegenseitig die Bälle zuspielen (nur in der Handelspolitik ergaben sich da aufgrund der Meistbegünstigungsklausel immer wieder Schwierigkeiten). Für Frankreich ergab sich aus dem Anschlussverbot nur dann wirklich ein Vorteil, falls es gelang, Deutschösterreich mittel- oder langfristig in eine »Donauföderation« einzugliedern, die auf seinen Verbündeten aufbaute, der Tschechoslowakei und Jugoslawien. Der Friedensvertrag ließ ausdrücklich die Möglichkeit eines Präferenzzollsystems zwischen den Nachfolgestaaten der Monarchie offen. Die Chancen dafür waren nie sehr hoch : Allein schon den wirtschaftlichen Austausch zwischen den Nachfolgestaaten wieder in Gang zu bringen, war schwer genug, von politischen Bündnissen, die an eine Renaissance der Monarchie gemahnten, gar nicht erst zu reden. Otto Bauer stellte sich 1918/19 auf den Standpunkt, man könne mit Prag
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selbstverständlich über jede Form der Gemeinsamkeiten reden, vorausgesetzt die Tschechen anerkannten das Selbstbestimmungsrecht der Sudetendeutschen. Damit war das Thema aus Wiener Sicht gestorben, mehr als das – die Donauföderation wurde zum Schreckgespenst. Gegen die »Donau(kon)föderation« sprachen wechselseitige Ressentiments, nicht bloß aufseiten der Deutschösterreicher, sondern gerade auch der slawischen Völker, die froh waren, Wien als Vormund und vermeintliche Drehscheibe Mitteleuropas endlich los zu sein. Ein Habsburgerreich, selbst ohne Habsburger und mit Spitze gegen Berlin, wie es dem einen oder anderen französischen Strategen vorschwebte, war nicht nach ihrem Geschmack. Erst sehr spät begann man in Prag doch noch schüchterne Sympathien für gewisse Aspekte dieser Idee zu entwickeln. Seipel nahm es Beneš übel, dass er noch 1925 den halbherzigen Versuchen des österreichischen Außenministers Mataja, die Präferenzzollklausel der Friedensverträge zu aktivieren, eine Absage erteilte. Die »Wirtschaft« war da pragmatischer : Man fand – ohne sich lange um politische Blockaden zu kümmern – auf dem Gebiet der alten Monarchie vielfach relativ rasch zu »zentraleuropäischen« Kartellabsprachen.81 Umgekehrt hatte es aber auch die reichsdeutsche Diplomatie mit dem Anschluss keineswegs allzu eilig. Sie wollte die Instrumentalisierung Österreichs durch feindliche Kräfte verhindern, sich die Option des Anschlusses für die Zukunft offenhalten, doch ihre außenpolitischen Prioritäten lagen anderswo, bei den Reparationen, dem Rheinland, dem polnischen Korridor. Nur allzu sehr war man sich in Berlin der Pariser Stimmen bewusst, die darauf hinausliefen, ein fait accompli gegen das andere zu tauschen, sprich : den Anschluss der österreichischen Hungerleider an das Reich doch um Gottes Willen zu gestatten – und dafür das Rheinland einzubehalten. Schon 1918/19 waren es die reichsdeutschen Diplomaten, die vor allen vollmundigen Anschlussdeklarationen warnten. Als Seipel 1922 zu seiner Rundreise durch Europa aufbrach, erklärte ihm deshalb sein Parteifreund, der deutsche Reichskanzler Wirth : »Es müssen alle Mittel und Wege benützt werden, um die Anschlussfrage tatsächlich hinausschieben zu können.« Als Stresemann fünf Jahre später in Wien zu Gast war, stieß er in dasselbe Horn : »Er könne nur wiederholen, daß er jedwede Demonstrationen oder Agitationen für den Anschlussgedanken als schädlich ansehe.«82 Sehr viel diskreter waren da schon die Militärs : In einem Büro des Wiener Heeresministeriums saß jahrelang ein preußischer Offizier, Major Kundt. Die Diplomaten hegten den begründeten Verdacht, das Heeresministerium sei viel »stärker mit dem deutschen Generalstab verbandelt als wir gewöhnlich annehmen« ; die befragten Generäle leugneten das auch gar nicht.83 Bundeskanzler Ramek sinnierte einmal : »Es sei bedauerlich, daß Deutschland und Österreich nicht mit verteilten Rollen ein gemeinsames, die anderen täuschendes Spiel spielen könnten. Darüber müsse man doch einmal reden.« In der Regel waren es die Österreicher, die nach 1919 nicht locker ließen, das Anschluss-Thema gebets-
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mühlenartig in den Vordergrund zu schieben. Diese Haltung entsprach nun gerade nicht einer hinterhältigen revisionistischen Strategie : Frankreich hatte nach 1871 ebenfalls ein Trauma zu bewältigen, den Verlust Elsaß-Lothringens. Damals hatte Gambetta die Devise ausgegeben : Immer daran denken, nie davon reden. Die Österreicher, so hat Klemens von Klemperer scharfsichtig und scharfzüngig kommentiert, neigten dazu, den Slogan in sein Gegenteil zu verkehren. Schon damals gab ihnen der italienische Außenminister den guten Rat : »Machen Sie den Anschluß, wenn Sie wollen, aber reden Sie nicht davon.«84 Damit begann die kuriose, zugleich hintergründige und naive Debatte um die »Lebensfähigkeit« des neuen kleinen Österreich. Naiv, weil »lebensfähig« ein dehnbarer Begriff war, der verschiedenen Auslegungen zugänglich war. Es fragte sich nur, lebensfähig auf welchem Niveau ? Auch der Großdeutsche Dinghofer räumte ein, auf dem Niveau Albaniens wäre Österreich zweifellos lebensfähig. Renner plädierte deshalb für die Formel, das kleine Österreich sei zwar lebens-, aber nicht »entwicklungsfähig«. Der Gesandte und ehemalige Vizekanzler Frank sagte dazu bei der 10-Jahres-Feier der Republik in Berlin : Das vergangene Jahrzehnt habe zweifellos bewiesen, dass Österreich lebensfähig sei, sprach aber vom einem »Staat der unmöglichen Begrenztheit«.85 Hintergründig, weil es nicht zuletzt darum ging, auf wessen Kosten Österreich leben und sich entwickeln sollte. Die Debatte um die Lebensfähigkeit des vielgescholtenen Reststaates richtete sich nämlich keineswegs, wie zuweilen vermutet, in erster Linie an das heimische Publikum, das nicht mehr überzeugt zu werden brauchte, sondern an das Ausland. Im Kern ging es dabei um die chronische Zahlungsbilanzlücke Österreichs. »Wir können nicht zeitlebens vom Bettel leben.« Wäre Österreich der Anschluss erlaubt worden, so hätte Deutschland für diese Lücke aufkommen müssen, oder rührseliger formuliert, am Tisch der über 60 Millionen Volksgenossen wären die sechs Millionen Hungerleider nicht weiter aufgefallen. Der Kernsatz lautete : Sobald die Entente diesen Ausweg mutwillig versperrte, habe sie auch die verdammte Pflicht und Schuldigkeit übernommen, selbst für die Versorgung der Österreicher aufzukommen. Der Abg. Schönbauer erklärte : »Man hat uns diese Notlage aufgezwungen, also sollen sie uns auch helfen.« Die Rede war von einer »moralischen Verpflichtung der Entente, für uns zu sorgen«, ja, Renner stellte sogar einmal die gewagte Behauptung auf, diese Verpflichtung sei »ein Stück des Friedensvertrages selbst und nicht eine bloße Gnade«.86 Dieses Thema ließ sich in verschiedenen Tonarten variieren. Man konnte daraus die Hoffnung ableiten, der Entente würden die Scherereien bald zu dumm werden. Otto Bauer folgerte : »Vielleicht sieht die Entente sehr bald ein, daß es für sie billiger ist, uns den Anschluß zu erlauben als uns auf ihre Kosten zu erhalten.« Vielfach richtete sich die Hoffnung insbesondere auf die Angelsachsen, die französischer Machinationen schon überdrüssig seien. Wutte schlug da völlig in die Kerbe Otto Bauers : »Wir müssen der Entente klar machen, daß wir nicht allein stehen können.
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Wenn unsere Selbständigkeit sie nur Geld kostet, werden Amerikaner und Briten nichts dagegen [= gegen den Anschluß] haben.«87 Immerhin war das Europa der Jahre unmittelbar nach 1919 noch keineswegs zur Ruhe gekommen. Die Umsetzung der Friedensverträge stieß da und dort auf gewisse Schwierigkeiten. Im Osten drohte 1919 die ungarische Räterepublik, 1920 der sowjetische Vormarsch bis an die Weichsel. Die Hoffnung auf eine baldige Revision von Saint Germain war unter diesen Umständen nicht völlig aus der Luft gegriffen, entsprang aber doch wohl eher dem Wunschdenken. Die zweite Variante, wie sie die österreichische Diplomatie gerne ins Treffen führte, lautete : Die Entente erwarte von den Österreichern die pünktliche Erfüllung des Friedensvertrages ; dazu zählte auch das Anschlussverbot. Die Regierung sei sich dieser Verpflichtung selbstverständlich bewusst. Pacta sunt servanda. Aber gleichzeitig gelte doch auch : Ultra posse nemo obligatur. Man dürfe nichts Unmögliches von ihr verlangen. Um die Österreicher mit ihrem Schicksal zu versöhnen und eine Stabilisierung der Lage herbeizuführen, bedürfe es zumindest eine Zeit lang auswärtiger Hilfslieferungen, in der einen oder anderen Form. Der Ökonom Ludwig v. Mises schrieb in seinen Erinnerungen : »Die Theorie von der Lebensunfähigkeit galt als das wichtigste Aktivum der Außenpolitik ; mit ihrer Hilfe dachte man, werde man von den Westmächten Begünstigungen aller Art erhalten können.« Der LangzeitGesandte Baron Georg Franckenstein ließ in London in diesem Sinne wissen : Falls »eine rasche und tatkräftige Hilfeleistung« ausbleibe, »müsse die Anschlussbewegung naturgemäß lawinenartig anwachsen«. In einem solchen Fall könne die österreichische Regierung dann freilich für nichts mehr garantieren. Der Gesandte Baron Eichhoff in Paris, einer der früheren Mitarbeiter Franz Ferdinands, umschrieb diese Taktik noch unverblümter : Österreich genieße den Vorteil, dass ihm die Stellung eines »Desperado« zukomme, weil es nicht wesentlich mehr zu verlieren haben, als »die Mächte selbst in politischer wie auch in wirtschaftlicher Hinsicht durch unseren Untergang verlieren würden«. Selbst der Vatikan hielt diese Koketterie mit dem Anschluss als Rute im Fenster für eine kluge Strategie.88 Überzeugten Anschlussbefürworten wie Otto Bauer war dieses Lizit der wechselseitigen Erpressungen selbstverständlich ein Greuel, zumindest in der Öffentlichkeit : Für ihn lief die Strategie darauf hinaus, den Anschluss oder zumindest den zeitweiligen Verzicht darauf meistbietend »zu verkaufen«, »für irgendwelche wirtschaftliche Zugeständnisse zu verschachern«, vielleicht nicht gerade für ein Linsengericht, aber immerhin z. B. für 50.000 Tonnen Getreide im Monat.89 In der Praxis kam es dabei auf die richtige Dosierung an. Das beste Beispiel dafür waren die Anschlussabstimmungen in den westlichen Bundesländern im Frühjahr 1921, als die Verhandlungen über einen großen Kredit gerade in Gang gekommen waren. Die Abstimmungen waren ohne jede staatsrechtliche Konsequenz anberaumt, bloß um das Stimmungsbild zu erheben. Die – christlichsozial regierten – Länder
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wurden deshalb aktiv, weil der Bund auf Anraten der Entente und der Reparations kommission die Abstimmung hinausschob, die beim Zusammentritt des neugewählten Nationalrats im Oktober 1920 einstimmig beschlossen worden war. Den Anfang machten die Tiroler. In Salzburg wurde die Abstimmung aus diplomatischen Rücksichten bloß als Privatveranstaltung der Parteien ausgeschildert. Dann waren die Steirer an der Reihe. Die Franzosen reagierten barsch. Sie drohten, wenn die Regierung »diesen Umtrieben« nicht rasch ein Ende setze, würden sie die Verhandlungen über die Kredithilfe abbrechen, noch bevor sie so recht begonnen hatten. Wenn sich die Österreicher schon an Deutschland anschließen wollten, bekämen sie statt den benötigten Krediten eben eine Beteiligung an den Reparationszahlungen aufgebrummt, über die mit Berlin gerade verhandelt wurde. Aus genau diesem Grund – wegen der anstehenden Reparationsverhandlungen – bat auch die Berliner Regierung damals händeringend, die Franzosen doch um Gottes willen nicht unnötig zu reizen – und die Italiener schon gar nicht, die auf nationale Kundgebungen in Tirol allergisch reagierten.90 Das Tauziehen endete mit einem Bauernopfer : Bundeskanzler Mayr, der seine Parteigenossen nicht von ihrem Abstimmungsvorhaben abzuhalten vermochte, trat im Juni 1921 zurück. In der Woche darauf bequemten sich auch die Steirer zu einer Revision ihrer unabänderlichen Beschlüsse. Die Österreicher hatten ihr Blatt überreizt. Die Drohung mit einem Anschluss, hic et nunc, die selbst Deutschland peinlich war, hatte sich überlebt und war unglaubwürdig geworden.91 Mayrs Nachfolger zogen daraus ihre Schlüsse. Schober sprang über den Schatten seiner Anhänger und pilgerte in die Tschechoslowakei. Als Seipel im Jahr darauf wiederum eine Drohkulisse benötigte, sprach er nicht mehr vom Anschluss, sondern von der drohenden Aufteilung des Staates, eine Drohung, die Anschlussbefürworter ebenso mobilisierte wie Anschlussgegner. Vor allem aber galt es, nicht bloß Politiker, sondern auch Finanzleute zu überzeugen. Ein großdeutscher Handelsminister schrieb seinen Parteifreunden ins Stammbuch : Man dürfe den Topos von der Lebensunfähigkeit Österreichs nicht übertreiben. Anleger gelte es nicht mit Katastrophenmeldungen zu füttern, sondern mit der Aussicht auf Rendite.92 Das Jahr 1922 läutete das Ende der Hoffnungen auf eine unmittelbar bevorstehende Revision der Friedensverträge ein. Die Genfer Protokolle, die Seipel aushan delte, beinhalteten eine Bekräftigung des Anschlussverbots, für die Laufzeit des Kredits, zunächst einmal zwanzig Jahre. Jetzt kam es darauf an, Politik auf mittlere Distanz zu betreiben. Dinghofer, Seipels Partner im Rahmen der Sanierungskoalition, sprach es schon vorher offen aus : Die Verwirklichung des Anschlusses sei »nur möglich, wenn Deutschland wieder eine aktive Politik betreiben kann und England von der französischen Politik sich loslöst. Das muß abgewartet werden.«93 Damit hatte der Anschluss (und die Debatte um die »Lebensfähigkeit«) seine große Zeit als außenpolitisches Druckmittel, Schacherobjekt und Irritans hinter sich ; was blieb,
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war sein Einsatz im innenpolitischen Alltagsgeschäft, als Anlass und Instrument für Nadelstiche und Verdächtigungen der »Mitbewerber«. Das offensichtliche Problem dabei war : Offene Anschlussgegner, an denen man sich reiben konnte, gab es (fast) nicht, oder sie wagten sich zumindest nicht aus der Deckung, vom politischen Narrensaum einmal abgesehen, wie dem Obersten Gustav Wolff von der »Partei aller schwarz-gelben Legitimisten«, der sich mit Gott und der Welt anlegte. Die Donaukonföderation unter französischem Kuratel, mit den Habsburgern als Geschäftsführer der Entente, wurde als Schreckensvision an die Wand gemalt. Doch seit dem Tode Kaiser Karls im April 1922 musste sogar der grassierende Habsburg-Kannibalismus eine Zeit lang ohne Feindbild auskommen. In dieser misslichen Lage blieb nur mehr die Zuflucht zu Unterstellungen : Jeder, der nicht enthusiastisch genug die Trommel für den Anschluss rührte, geriet als potenzieller Abweichler von der allein seligmachenden Linie ins Visier der 150%igen Befürworter. So sprach Seitz nach Genf von den Sozialdemokraten als einer deutschen Partei, die nach den Erfahrungen der letzten Woche leider wenig Aussicht habe, für ihre deutsche Politik im Wiener Parlament Verständnis zu finden. Otto Bauer ließ als »wirkliche Anhänger des Anschlusses« nur jene gelten, »die keine innere Abneigung gegen den deutschen Norden haben«, nicht die Reichsromantiker oder die süddeutschen Partikularisten.94 Kunschak wehrte sich vergeblich gegen diese Taktik : »Den Sozialdemokraten kommt das Privileg der Anschlussfreundlichkeit, das sie für sich in Anspruch nehmen, absolut nicht zu.«95 Großdeutsche und Sozialdemokraten versuchten einander in dem Punkt gegenseitig die Rechtgläubigkeit streitig zu machen. Dinghofer erklärte, nur die Großdeutschen wollten, zum Unterschied von den Sozialdemokraten, »heim ins Reich, unter allen Umständen, ob es Republik oder Monarchie ist, ob es links oder rechts regiert wird.« Die Sozialdemokraten brachten die Großdeutschen als Regierungspartei dafür mit Anträgen in Verlegenheit, die sie aus außenpolitischen Rücksichten ablehnen mussten, wie z. B. mit der Forderung nach einer »Ruhrspende«, sobald die Franzosen 1923 dort einmarschiert waren. Als 1925 der »Österreichisch-deutsche Volksbund« unter Hermann Neubacher aus der Taufe gehoben wurde, sprachen ihm die Großdeutschen prompt den überparteilichen Charakter ab : Dabei handle es sich um eine »rein sozialdemokratische Aufmachung«. Die Sozialdemokraten wiederum waren verärgert, wenn ihre Provinzorganisationen sich für großdeutsche Anschlusskundgebungen einspannen ließen.96 Die fein säuberliche Unterscheidung zwischen Anschlussbefürwortern und -gegnern spiegelte eine Präzision vor, die in der Form nicht existierte. Die Christlichsozialen waren gar nicht so sehr dagegen, wie ihnen damals vorgeworfen wurde, auch wenn es sich dabei um einen Verdacht handelte, der ihren Nachfolgern später einmal sehr gelegen kam. Ihre anfängliche Skepsis speiste sich nicht zuletzt aus einem untadelig nationalen Motiv : »Anschluß an Deutschland für uns nur dann, wenn alle deutschen Siedlungsgebiete« (also z. B. auch Südtirol) erhalten blieben. Bei den Beratun-
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gen der Jahre 1919/20 drehten sich die Debatten dann schon nur mehr um die Frage, ob Österreich sich als einheitlicher Block an das Reich anschließen sollte – oder jedes Land für sich, eine Variante, wie sie von den Salzburgern und Vorarlbergern eingefordert wurde. (Hauser hingegen hielt das für eine bloße Frage der Taktik.) Die Partei gab zu, dass sie auch eine Minderheit von Gegnern oder zumindest Skeptiker in ihren Reihen zählte. Doch die offizielle Linie der Partei, wie sie 1926 auf Antrag Kunschaks beschlossen worden war, schien unangreifbar : Gefordert wurde die »Ausgestaltung des Verhältnisses zum Deutschen Reich auf der Grundlage des Selbstbestimmungsrechts«.97 Auch die alldeutsche Formel von den feindlichen internationalistisch-ultramontanen Strömungen war ein irreführendes Klischee : Das Haupt des »Ultramontanismus«, Papst Pius XI., war nämlich sehr wohl für den Anschluss Österreichs – weil er die Stellung der Katholiken im Deutschen Reich gestärkt hätte.98 Seipel, der »Autrichelieu«, der einen weiten Horizont mit einem »Hic Rhodos, hic salta«-Standpunkt verband, sah keinen Gewinn darin, stets aufs Neue mit dem Kopf gegen die Wand zu laufen. Er war nicht unbedingt gegen den Anschluss, aber gegen die eintönige Anschlusspropaganda. Ein Diplomat des Ballhausplatzes kam zu dem offenkundigen Schluss, Seipels A und O sei auch nicht das »Österreich, wie es faktisch jetzt ist«. Aber : »Welche Stellung Seipel in der Anschlussfrage einnimmt, ist für den Außenstehenden eigentlich schleierhaft.«99 Auch der Zentrumsmann Pfeiffer als deutscher Gesandter stieß in dieses Horn : Seipel äußere sich immer »dunkel und vieldeutig«, erwecke dabei aber stets den Eindruck, dass »dieses kleine, schmerzgebeugte Österreich gleichwohl berufen erscheint, für die Umgestaltung der ganzen Welt den Anstoß zu geben.« Er wollte dem Land den Weg sowohl nach Großdeutschland als auch nach Großösterreich offenhalten, die Zeit bis dahin aber nicht in untätigem Abwarten verharren, sondern praktische Politik treiben. Praktische Politik bedeutete für ihn auch Abstinenz von Schlagworten : »Die Worte Donaukonföderation und Anschluß sind gleich mit Nebenstimmen und Gefühlswerten belastet, daher für die praktische Politik unbrauchbar.«100 Seipel, oft zu Vortragstourneen im Reich unterwegs, war stolz darauf, in Berlin eine Rede gehalten zu haben, in der er die »Anschlusstreibereien in der Wurzel angriff« – und dafür noch Applaus von rechts erhielt, weil er sie als »Ausdruck eines undeutschen ›westlerischen‹ Staatsbegriffes« bezeichnete : Die Volksdeutschen – wie z. B. die Österreicher – wüssten viel besser, dass Volkstum und Staatsbürgerschaft nicht notwendigerweise übereinstimmen müssten. Er brachte seine Haltung 1928 dann auf die berühmte Formel : »irgendeine Kombination, die Deutschland ausschlösse, kommt für uns in alle Zukunft nicht infrage. Aus wirtschaftlichen und gefühlsmäßigen und tausend anderen Gründen.« Doch dann kam der für die aktuelle Politik entscheidende Nachsatz : »Der Kreis der Möglichkeiten, die dann noch bleiben, ist allerdings ein viel größerer, als es auf den ersten Blick den Anschein haben mag.«101
II. Zu groß für Österreich : Die Parteien »Die Parteien müssen alle paar Jahrzehnte wieder einmal beiseite geschoben werden, damit die Kirche frei werde, die Völker und die Staaten leben können.«102 Ignaz Seipel, April 1928 »Bei einem ehrlichen Mann kann man christliches, nationales und soziales Empfinden als selbstverständlich voraussetzen, wir pfeifen daher auf die Weltanschauungsparteien.«103 Fürst Ernst Rüdiger Starhemberg, Juni 1932
Viktor Reimann hat vor einem halben Jahrhundert über die beiden herausragenden Figuren der Linken und der Rechten, Otto Bauer und Ignaz Seipel, ein Buch verfasst, mit dem Titel : »Zu groß für Österreich.« Ohne den Status der Herren deshalb infrage zu stellen, die Formel trifft sehr viel mehr noch auf die Gebilde zu, denen beide vorstanden, auf die Parteien. Die Parteien waren Kinder einer konstitutionellen Monarchie und eines multinationalen Staates. Über Nacht agierten sie im Rahmen einer ethnisch homogenen Republik, die fast ohne jeden Ansatz von Gewaltenteilung auskam. Daraus ergab sich der seltsam hypertrophe Charakter der politischen »Lager«, ein Maß an gesellschaftlicher Überorganisation, das in Europa seinesgleichen suchte. Die Parteien der Vorkriegszeit lebten in der Vorstellung, Front machen zu müssen nach zwei Seiten, gegen den Staat, der nie so ganz der Ihre war, weil man ihn mit einem halben Dutzend anderer Nationen teilen musste ; und gegen die Mitbewerber, die man von den eigenen Anhängern fernhalten wollte. Daher der Ausdruck Lager, wie Adam Wandruszka ihn geprägt hat – ein Begriff, der mehr umfasste als einen bloßen politischen Zweckverband, einen »Wahlverein«, ja auch mehr als eine »Gesinnungsgemeinschaft«, sondern ein geschlossenes gesellschaftliches Milieu, das Betreuung versprach, von der Wiege bis zur Bahre, von den Kinderfreunden und der Jungschar bis zum Feuerbestattungsverein, ein Lager schließlich auch im Sinne des befestigten Lagers, das Schutz bot gegen eine Welt von Feinden.
1. Die Sozialdemokratie Die Einheit der Arbeiterklasse Otto Bauer hat in einer berühmten Sentenz das Schicksal seiner Partei in einem alpinen Kleinstaat wie Österreich beklagt, in einer Republik von hinterwäldlerischen Bauern und servilen Kellnern. Die Arbeiterbewegung benötige zu ihrer Entfaltung den Anschluss an das Deutsche Reich nicht bloß als nationale Heimstatt, sondern als
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Herzland der industriellen Entwicklung in Europa. Unabhängig von den Meriten des Anschlusses wurde Bauers Lamento binnen Kurzem Lügen gestraft : Die österreichische Sozialdemokratie entwickelte sich im Rahmen der Zweiten Internationale nicht etwa zum alpinen Aschenbrödel, sondern trotz des auf den ersten Blick so wenig vielversprechenden Umfelds – gemessen an ihrem Stimmenanteil – zur mit Abstand stärksten sozialdemokratischen Partei Europas. »Vollständiger als irgendwo sonst auf der Welt decken sich hier Partei und Klasse«, hieß es stolz auf dem Parteitag 1929.104 Der französische Marschall Foch hatte 1919 mit dem Selbstbewusstsein des Siegers gehöhnt, der Bolschewismus sei eine Krankheit der Besiegten. Bei den Siegermächten produzierten die Wahlen 1919 einen Ruck nach rechts, bei den Verlierern profitierte die Linke vom Bankrott des ancien regime. Österreich war dafür ein gutes Beispiel : Auf dem Gebiet der späteren Republik – sprich : ohne das viel stärker industrialisierte Sudetenland – hatten die deutschösterreichischen Sozialdemokraten 1911 ziemlich genau ein Viertel der Stimmen eingefahren, im Februar 1919 schrammten sie haarscharf an der absoluten Mehrheit vorbei, zumindest bei den männlichen Wahlberechtigten. Erst das Votum der Frauen drückte ihren Anteil auf 41 %. Im bisher christlichsozial regierten Wien errang die Partei kurz darauf fast zwei Drittel der Gemeinderatssitze. Das waren Erfolge von historischen Dimensionen, die an den Spruch erinnerten, Revolutionen seien die Lokomotiven der Weltgeschichte. 1918/19 verspürte die Sozialdemokratie zweifelsohne Rückenwind. Man sprach von den »Novembersozialisten«, den »Wendehälsen« der österreichischen Revolution. Zwei prominente Beispiele dafür waren z. B. die späteren sozialdemokratischen Bürgermeister von St. Pölten und Stockerau, Stefan Buger und Eduard Roesch, bisher deutschnationaler Gewerkschafter der eine, Mitglied des katholischen Gesellenvereins der andere.105 Schon 1920 verlor die Partei wiederum einige Prozentpunkte. Doch sie verteidigte souverän ihre Spitzenposition im Rahmen ihrer europäischen Schwesterparteien. Dieser Vorsprung, ja diese Ausnahmeposition, hat einen Grund, der im Rahmen österreichischer Befindlichkeiten gerne übersehen oder als selbstverständlich angesehen wird. Es kam in Österreich nach 1917/18 nicht zur Entstehung einer nennenswerten Kommunistischen Partei.106 Die Einheit der Arbeiterklasse war seit dem Hainburger Parteitag von 1889 zur obersten Maxime der Sozialdemokratie geworden. Sie verteidigte dieses Vermächtnis auch nach 1918 mit Erfolg. Überall anderswo in Europa hatte sich die marxistische Arbeiterbewegung gespalten, in Kommunisten und Sozialdemokraten ; zuweilen bildete sich dazwischen noch eine dritte Gruppe, die USPD im Reich oder die Maximalisten in Italien. Auch in »Altösterreich«, in der Tschechoslowakei ließ diese Spaltung nicht lange auf sich warten. Die KPČ avancierte – nicht zuletzt wegen ihres multinationalen Charakters – 1925 sogar zur stärksten Fraktion im Prager Parlament.
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Worauf war diese Ausnahme zurückzuführen ? In einer scharfen Kritik der KPGründer hat Hans Hautmann darauf hingewiesen, die KPÖ sei von Intellektuellen ins Leben gerufen worden, denen jeglicher Kontakt zu den »Massen« abging, Leuten wie dem »rasenden Reporter« Egon Erwin Kisch, der bald zu seinem Brotberuf zurückkehrte. Die Parteiführung habe aus »einem Sammelsurium minderbegabter Nebenberufsrevolutionäre« bestanden.107 Ihre Parolen stießen Anfang 1919 allenfalls bei Arbeitslosen, Heimkehrern und Invaliden auf Resonanz, die eigentliche Industriearbeiterschaft blieb auf Distanz. Die Räterepublik im benachbarten Ungarn weckte gewisse Hoffnungen, machte die Partei aber auch abhängig von einer Führung, die andere Prioritäten hatte als die meisten österreichischen Genossen. Die Sozialdemokratie entledigte sich der lästigen, aber noch nicht gefährlichen Konkurrenz, als mit ihrer halbherzigen Zustimmung im Juni 1919 ein großer Teil der kommunistischen Führungskader verhaftet wurden. Sechs Wochen später gehörte auch die ungarische Räterepublik der Geschichte an. Ausgerechnet die verachteten Rumänen zogen in Budapest ein, mit einem gewissen Respektsabstand gefolgt von Admiral Horthy, dem letzten österreichisch-ungarischen Flottenkommandanten, mit seiner blauen Uniform auf seinem weißen Pferd. Das Schicksal der ungarischen (und der bayerischen) Räterepublik gab Otto Bauer recht : 1918/19 war nicht der richtige Zeitpunkt, um in Mitteleuropa Revolution zu machen. Im Gegenteil : Die Machtergreifung der Bolschewiken in Budapest bot der Gegenrevolution eine offene Flanke. Mit derlei fatalistischen Analysen allein war es nicht getan. Die Sozialdemokratie trat den Kommunisten auf ihrem ureigensten Terrain erfolgreich entgegen, bei den Arbeiter- und Soldatenräten, die sich nach sowjetischem Muster 1918 gebildet hatten. Soldatenräte mochten als revolutionäre Errungenschaft durchgehen, zur Kontrolle des reaktionären Offizierskorps, auf einem Sektor, wo bisher das drakonische Disziplinarrecht unumschränkt geherrscht hatte. Doch »Arbeiterräte« stellten in gewisser Weise einen Fremdkörper dar : Im Betrieb gab es die Gewerkschaft, außerhalb die Partei. Allenfalls konnte man durch das spontane Wachstum der Arbeiterräte bisher Außen- und Abseitsstehende für die Bewegung gewinnen. Es mangelte seitens altgedienter Genossen nicht an spöttischen Bemerkungen über besonders radikale Jünger der Revolution, deren Bekehrung zum Marxismus erst jüngeren Datums war. Bei einer offenherzigen Aussprache noch im Kriege, als 1917 die ersten wilden Streiks ausbrachen, wetterte der spätere Metaller-Chef Franz Domes über »Jugendliche, Frauen, der Partei völlig fernstehende Elemente, die sich als Arbeiter deklarieren« ; Parteisekretär Ferdinand Skaret sprach von einem »charakterlosen Gesindel, das unter den Fittichen der Partei sein dunkles Handwerk treibe«.108 Im Prinzip war bei den Arbeiterräten das »passive Wahlrecht an das sozialistische Bekenntnis geknüpft« ; unter diese Definition fielen anfangs auch noch die Kommunisten, der Übergang war in den ersten Monaten fließend. Bei den Wahlen zu
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den Arbeiterräten erhielten die Kommunisten 1919 noch ca. 10 % der Stimmen, bei den Wahlen in die Arbeiterkammern 1921/26 dann schon nur mehr 3 %. Langfristig wurden die Arbeiterräte in die Betriebsräte überführt, die Soldatenräte in ein System der Vertrauensmänner. Soziale Beziehungen sollten verrechtlicht, eine »konstitutionelle Fabrik« entstehen, die Gesellschaft konsequent durchorganisiert werden.109 Kurzfristig waren überforderte und/oder verängstigte Landesregierungen oder städtische Behörden bereit, den Arbeiterräten sogar hoheitliche Aufgaben zu übertragen, gerade auf dem Gebiet der Lebensmittelaufbringung, der Requisitionen, wie sie bisher das Militär durchgeführt hatte. In Kapfenberg waren die Arbeiterwehren 1920 nicht bloß in Gruppen von fünfzig Mann ausgerückt, um Vieh zu requirieren ; eines der führenden Mitglieder des lokalen Arbeiterrates, Ludwig Tösch, wurde 1923 wegen Erpressung verurteilt, weil er den Kaufleuten mit der Geschäftssperre gedroht hatte.110 Die Aktivitäten, ja selbst die Übergriffe der Arbeiterräte stellten zweifellos ein Ventil dar, das politische Fundamentalopposition in Aktivitäten auf unterer Ebene versickern ließ. Die Sozialdemokratie war gut darauf eingestellt, diesen anfangs jenseits der Partei sich organisierenden linken Flügel zu integrieren. Viktor Adler hatte schon während des Krieges den linken Flügel seiner Partei zwar regelmäßig überstimmt, ihn aber nicht ausgegrenzt. Im Laufe des Jahrs 1918 kam der linke Flügel zu neuen Ehren : Otto Bauer und Robert Danneberg waren es, die damals das große Wort führten. Die Partei lehnte im Sommer den Eintritt in ein kaiserliches Kabinett ab.111 Es war das erklärte Ziel Viktor Adlers, eine Spaltung nach reichsdeutschem Vorbild, in eine Mehrheitssozialdemokratie und (linke) Unabhängige, zu vermeiden. In der österreichischen Partei mussten beide Strömungen Platz haben. Die Bluttat seines Sohnes Friedrich, das spektakuläre Attentat auf den Ministerpräsidenten Graf Stürkgh im Oktober 1916, erwies sich in dieser Beziehung nachgerade als Glücksfall, auch wenn der besorgte Vater den Sohn anfangs für verrückt erklären lassen wollte, um sein Leben zu retten und Unheil von der Partei abzuwenden. Friedrich Adler war mit seinem Nimbus der gegebene Mann, der 1918 glaubhaft vor der Revolution warnen konnte. Eine These lautete, allein sein Festhalten an der Sozialdemokratie habe das Aufkommen der KPÖ verhindert. Zugleich bildeten die Linksradikalen jedoch auch eine willkommene Drohkulisse, die es der Sozialdemokratie ermöglichte, den verschreckten Bürgerlichen mit einer Revolution zu drohen, die sie selbst zwar ablehnten, die sich aber dennoch spontan entwickeln könnte, wenn man die Zeichen der Zeit ignorierte. Die Sozialdemokratie musste, im Interesse der bürgerlichen Ordnung, zweifellos, aber auch um diese Bürgerlichen besser erpressen, ihnen zuweilen einen heilsamen Schrecken einjagen zu können, einen linken Flügel bei Laune halten, der überall anderswo in Europa den Nährboden der Kommunisten bildete. Eine Folgerung daraus ließ sich mit dem Schlagwort von der »Politik der radikalen Phrase« umschreiben : Die Sozialdemo-
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kratie, im Kern durchaus gemäßigt und keineswegs von revolutionärem Elan erfüllt, sah sich durch die Macht der Umstände gezwungen, immer wieder radikale Töne anzuschlagen, sich als Schaf im Wolfspelz zu gerieren. Norbert Leser hat diese Tendenz kritisiert : »Die Sozialdemokratie ließ sich die seltene historische Gelegenheit nicht ganz entgehen, eine Revolution für sich zu reklamieren, ohne sie eigentlich machen zu müssen.«112 Diese Version schmeichelte ihrem Selbstgefühl und ihrem Machtbewusstsein – auch wenn Otto Bauer in seinem Rückblick auf die »Österreichische Revolution« dieser Lesart eine Absage erteilte. Derlei Koketterien wiederum riefen entsprechende Reaktionen auf der Gegenseite hervor : Es entwickelte sich eine Spirale von Verbalexzessen, die als Vorspiel zum Bürgerkrieg diente. Ahrer zitierte mit Abscheu die Aussage auf dem sozialdemokratischen Parteitag 1921 : »Das Proletariat verfügt über außerparlamentarische Machtmittel, die hinreichen, jede bürgerliche Regierung zu stürzen.« Zartbesaitete Journalisten gegenrevolutionärer Observanz wie z. B. Edmund Wengraf vom »Neuen Wiener Journal«, besonders glaubwürdig, weil ursprünglich Linksliberaler, wurden nicht müde, zumal dem Ausland vor Augen zu führen, bei den österreichischen Sozialdemokraten handle es sich rein statistisch mindestens zur Hälfte um verkappte Bolschewiken, nicht zu vergleichen z. B. mit den reichsdeutschen Genossen der SPD, die seit Jahr und Tag einen tragenden Bestandteil der Weimarer schwarz-rot-goldenen Koalition bildeten.113 Man wird sich freilich einer gewissen Skepsis nicht erwehren dürfen, ob es tatsächlich in erster Linie rhetorische Exzesse waren, die hartgesottene Politiker zu panischen Reaktionen verleiteten. Das Ideal von der Einheit der Arbeiterklasse, das in Österreich seiner Verwirklichung weit näher kam als anderswo, machte sich auch auf anderen Gebieten bemerkbar, z. B. in der Frage des »closed shop«, des Bestehens auf der Einheit der Arbeiterklasse en miniature. In Deutschland oder in der Tschechoslowakei, wo es neben Sozialdemokraten und Kommunisten auch noch starke nationalsozialistische oder katholische Gewerkschaften gab, war es in den meisten Fällen von vornherein illusorisch, darauf zu bestehen, dass alle Beschäftigten eines Betriebes unbedingt derselben Richtungsgewerkschaft angehörten, in Österreich nicht. Als die »bürgerlichen« Arbeitnehmer im Parlament das erste Mal gegen diese Praxis Einspruch erhoben, bestand ihr Antrag bezeichnenderweise aus einer Übersetzung der entsprechenden Paragrafen des einschlägigen Gesetzes aus der Tschechoslowakei.114 Die Folge war der »Betriebsterror« der roten Gewerkschaften, die keinerlei Abweichler dulden wollten ; der geringe Rückhalt katholischer oder nationaler Gewerkschafter wiederum verlieh dem Argument einen Anschein von Plausibilität, es handle sich bei ihnen ja doch nur um »gelbe« Gewerkschafter, um potenzielle Verräter im Solde der Unternehmer – ganz zu schweigen von den »Unabhängigen Gewerkschaften« der Heimwehren. Auch der Import von billigeren oder gefügigeren Arbeits-
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kräften aus dem Ausland stieß auf den entschlossenen Widerstand der Sozialdemokratie. Gegen den Widerstand der christlichsozialen Agrarier – die nicht auf ihre Wanderarbeiter aus der Slowakei verzichten wollten – boxten sie 1925 ein entsprechendes »Inlandsarbeiterschutzgesetz« im Parlament durch. 1929 wollte die Partei die Zahl der in Österreich beschäftigten Ausländer mit 14.000 begrenzt wissen. (In einem Geheimabkommen wurde bloß Vorsorge getroffen, dass diese Paragrafen auf Arbeitskräfte aus dem Deutschen Reich keine Anwendung finden sollten.)115 Die Sozialdemokratie wies auch als parlamentarische Fraktion eine kritische Größe auf. Wenn Otto Bauer davon sprach, es bedürfe bloß noch 300.000 Stimmen mehr – und man verfüge über die berühmten 51 %, um endlich das Werk der Umgestaltung der Gesellschaft in Angriff nehmen zu können, dann handelte es sich nicht um weithergeholte Zukunftsvisionen, sondern um Ziele, die morgen schon zur Wahrheit werden konnten, insbesondere angesichts der Reibungsverluste, welche die bürgerliche Politik der Zwanzigerjahre – mit oder ohne eigene Schuld – am laufenden Band produzierte. Der Sozialdemokratie war 1919/20 eine »halbhegemoniale« Stellung zugefallen, so wie man es vom Bismarckreich der Vorkriegszeit behauptet hat : Alle zitterten vor ihm, doch zur wahren Hegemonie reichte es immer noch nicht ganz. Im Gegenteil : Die Angst vor der deutschen Übermacht führte über kurz oder lang zu einem Bündnis aller anderen Großmächte gegen den Aufsteiger, der allzu rasant die Spitzenposition erklommen hatte. Judit Garamvölgyi hat in diesem Zusammenhang zu Recht geschrieben, man könne der österreichischen Sozialdemokratie doch nicht ihre eigene Stärke zum Vorwurf machen, als Resultat einer klugen Politik.116 Von einem »Vorwurf« kann selbstverständlich keine Rede sein, aber von einem Zusammenhang im Sinne von Ursache und Wirkung. Denn die überdurchschnittliche Stärke der österreichischen Sozialdemokratie führte zu entsprechenden Reaktionen. Eine Linkspartei in der Größenordnung von 20 %, so wie die SPD in Deutschland, wäre als gelegentlicher Koalitionspartner, vielleicht auch bloß Mehrheitsbeschaffer in Bereichskoalitionen, vielfach als attraktiver Ausweg erschienen. Jegliche überflüssige Konzession an den roten Giganten, der nach der Mehrheit griff, galt hingegen als verpönt. Die Sozial demokratie wiederum reagierte auf diese »Ausgrenzung«, indem sie sich durch Obstruktion ins parlamentarische Spiel hineinreklamierte. Diese üble Gewohnheit der nationalen Parteien aller Seiten hatte sie in der Monarchie stets weit von sich gewiesen, um dem Absolutismus kein Stichwort zu liefern. Inzwischen griff sie selbst völlig ungeniert zu dieser Taktik. Es bleibt der Vollständigkeit halber nur noch zu sagen, dass dieser Befund »zu groß für Österreich« – mutatis mutandis – natürlich auch auf die bürgerlichen Parteien zutraf. Auch die Christlichsozialen, die 1923 die absolute Mehrheit bloß um ein Mandat verfehlten, waren zu dominant, um wirklich wechselnde Koalitionen zu ermöglichen. Sie befanden sich in der Position, wie im Italien der Jahre nach
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1945/48 die Democrazia Cristiana, der »weiße Wal«, die einmal mit der einen, dann mit der anderen Mittelpartei regierte, aber immer und ewig regierte, und sich nie eine Auszeit oder Regenerationsphase in der Opposition genehmigte, weil man das Land doch nicht dem Gott-sei-bei-uns anvertrauen könne, den Kommunisten. Ja, selbst das national-freisinnige »dritte Lager« war zwar für seine Zerstrittenheit und Uneinigkeit berüchtigt, aber die Fronten verliefen auch hier zwischen Parteien mit unterschiedlichen ständischem Hintergrund und ökonomischen Interessen, zwischen Bauern, Beamten und Arbeitern, nicht zwischen einem linken und und einem rechten Flügel, wie im Deutschen Reich oder in Frankreich. Partei und Gewerkschaft Wer waren nun die radikalen »Austromarxisten«, vor denen sich die Bürgerlichen so fürchteten ? Über das Innenleben der beiden großen Parteien fehlen immer noch systematische Studien (nicht zuletzt, weil ein großer Teil der relevanten Quellen in Gabelsberger-Kurzschrift vorliegt). Norbert Leser hat schon vor einem halben Jahrhundert die Parteitagsdebatten analysiert, bloß stichprobenartig auch die Beratungen in den Gremien. Zumal die disziplinierte SDAPÖ ließ sich nicht so leicht in die Karten schauen ; die Protokolle der Zwischenkriegszeit fassen in der Regel die Diskussionen bloß zusammen, geben sie nicht im Detail wieder. In die Geschichte, oder doch zumindest in die Geschichtsschreibung eingegangen ist der Gegensatz zwischen Otto Bauer und Karl Renner. Bauer und Renner waren tatsächlich ein Kontrastpaar, schon einmal aufgrund ihrer ganz unterschiedlichen Wege zum Sozialismus : Renner der Bauernsohn, dessen Vater in der Agrarkrise der 1880er-Jahre den Hof verloren hatte ; Bauer der jüdische Industriellensprössling, der aus Überzeugung der Bourgeoisie bewusst den Rücken kehrte ; Renner als Parlamentsbibliothekar einer der Hofräte der Revolution, der als führender Kopf des »rechten Flügels« 1918 vielleicht nicht ungern kaiserlicher Minister geworden wäre ; Leutnant Bauer als sein Gegenspieler auf der »Linken«, der 1918 aus der Kriegsgefangenschaft zurückkehrte, zwar nicht als Bolschewik, aber immerhin beeindruckt von der Dynamik der Russischen Revolution. Renner wurde von seinem christlichsozialen Pendant Johann Nepomuk Hauser als »Experimentator« charakterisiert, nicht als »Mann, der auf seiner Meinung beharrt« ; Bauer von seinem Pendant Seipel als »im tiefsten Grunde unpolitischer, aufrichtiger Doktrinär.« Renner der Pragmatiker, Bauer der Dogmatiker – soweit stimmt das Klischee ; aber zur Erhellung der Konstellationen der Zwischenkriegszeit trägt es wenig bei. Die Parteiführung der Sozialdemokratie war von einer beeindruckenden Stabilität : Parteivorsitzender (und ab 1923 auch Wiener Bürgermeister) war Karl Seitz, auch von Gegnern wegen seiner »Neigung zu Eleganz und vornehmer Kleidung« neidlos als »Grandseigneur« beschrieben.117
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Otto Bauer war sein Stellvertreter, zusammen mit Friedrich Adler (der ausschied, als er zur Internationale übersiedelte) und dem Eisenbahner Josef Tomschik (der erst 1932 aus Altersgründen durch Albert Sever ersetzt wurde, den Obmann des Bezirkes Ottakring – und Landeshauptmann von Niederösterreich vor der Trennung von Wien). Renner – von Friedrich Adler in einem zweischneidigen Kompliment einmal als der »Lueger der Sozialdemokratie« apostrophiert – war Staatskanzler und dann Präsident des Nationalrats, aber er gehörte der Führungsspitze der Partei nicht an. Unter den vier Parteisekretären, Robert Danneberg, dem Militär-Spezialisten Julius Deutsch, dem alten Schlachtross Ferdinand Skaret und dem Wiener Stadtrat Paul Speiser, entwickelte sich Danneberg unbestritten zum primus inter pares, zum »ruhenden Pol« der Organisation. Er war »de facto Zentralsekretär, obgleich es dieses Amt damals noch nicht gab«.118 Bauer und sein Mitstreiter Danneberg mochten 1918 als die Wortführer der Linken gegolten haben, als es um den Grad der Kollaboration mit dem halbabsolutistischen Regime der Kriegszeit ging, den sich eine selbstbewusste Arbeiterbewegung erlauben durfte ; zehn Jahre später hätten nur mehr sehr weltfremde Beobachter dieser Einschätzung zugestimmt. Im Gegenteil : Danneberg entwickelte sich in diesen Jahren zum Chefunterhändler vom Dienst, wann immer es über die Fronten des Klassenkampfes hinweg etwas zu verhandeln gab. Bauer war ein Polemiker von Format, zu einer Zeit, wo man parlamentarische Duelle dieser Art noch schätzte. Aber er hatte sich mit dem »Gleichgewicht der Klassenkräfte« abgefunden und war Kompromissen nicht abgeneigt : Nur hatte er zunehmend Schwierigkeiten, derlei abgeklärte Standpunkte bei seinen Genossen durchzusetzen, wie Seipel schon 1927 richtig erkannte (und das noch vor dem Justizpalastbrand !). Wer also waren die »neuen Linken«, die Radikalen ? Auf diese Frage hätte man in den Zwanzigerjahren vermutlich Namen wie Koloman Wallisch oder Richard Strasser zur Antwort bekommen (von Strassers Mitarbeiter Richard Bernaschek war damals noch nicht die Rede). Auf der Rechten hat man oft die Männer der »Kriegsgeneration« für die »schärfere Tonart« verantwortlich gemacht, die in den Dreißigerjahren in der Politik ihren Einzug hielt. Auf der Linken ist es vielleicht passender, in diesem Zusammenhang von der unmittelbaren Nachkriegsgeneration zu sprechen, von den Leuten, die mit der Aufbruchsstimmung der Umbruchszeit groß geworden waren und es nicht verwinden konnten, dass dieser Aufbruch versickert und in Routine versandet war, in bloße Geländegewinne mündete, die es zu verteidigen galt. Wallisch war durch seine Tätigkeit in der ungarischen Räterepublik ein besonderes Feindbild ; Strasser hatte als Vorsitzender des Linzer Arbeiterrates die Zusammenarbeit mit den Kommunisten gesucht. (Wegen seiner Kontakte zu den Sowjets wäre 1932 beinahe ein Ausschlussverfahren gegen ihn eingeleitet worden.)119 Beide konnten als Exponenten der Strömung gelten, die sich in anderen Ländern, unter anderen
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Abbildung 6 und 7 : »Grandseigneur« Bürgermeister Karl Seitz
Umständen vielleicht den Kommunisten angeschlossen hätten, wie Wallisch es in Ungarn ja tatsächlich getan hatte. Beide, Strasser und Wallisch, waren in der Parteihierarchie nicht allzu weit oben angesiedelt, bestenfalls Männer der zweiten Reihe, doch von einigem Gewicht im lokalen Rahmen. Gerade dieser lokale Rahmen war bezeichnend : Wallisch und Strasser wirkten nicht in der Wiener Zentrale der Partei, sondern an der Front, in der Provinz, besser gesagt : in den proletarischen Hochburgen in der Provinz, nicht dort, wo vereinzelte Eisenbahner in der Diaspora die rote Fahne hoch hielten, sondern in Städten wie Bruck oder Steyr, wo die SDAPÖ über solide Mehrheiten verfügte, die dabei aber doch bloße Inseln darstellten in einem feindseligen bäuerlich-konservativen Meer. Dieser Antagonismus vor Ort verleitete zu Machtdemonstrationen, die in Wien längst durch obrigkeitliche Maßregeln und bürokratische Schikanen ersetzt worden waren, von Lebensmittelkonfiskationen bis zu den tätlichen Übergriffen gegen Unternehmer und Manager, die bis Mitte der Zwanzigerjahre immer wieder vorkamen. In Donawitz wurden 1919 die Manager der Alpine hinausgeworfen, in Neunkirchen 1920 ein Fabriksdirektor mit dem Aufhängen bedroht. Es war nicht die Partei, die radikal war, es war die Arbeiterbewegung, die in die Partei integriert werden sollte, die ihrem Unmut über die ausgebliebene Fortsetzung der Österreichischen Revo-
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lution, ja deren schleichenden Krebsgang, immer wieder mit brachialen Methoden beredten Ausdruck verlieh.120 Das organisatorische Rückgrat dieser Arbeiterbewegung in den ersten Jahren der Republik aber waren in erster Linie die Gewerkschaften, nicht die Partei. Die Zahlen sprechen hier eine deutliche Sprache. 1921/22, am Höhepunkt der Pseudokonjunktur der Inflationsjahre, zählte die SDAPÖ eine halbe Million Mitglieder, die Freien Gewerkschaften dagegen weit über eine Million. Gerade auf dem Höhepunkt der »österreichischen Revolution«, im Sommer 1919, beschwerte sich die Parteiorganisation, sie werde »zurückgedrängt«.121 Die Gewerkschaften, das waren die außerparlamentarischen Kampftruppen der Partei, die vielfach ihren Willen durchzusetzen vermochten, ohne auf Mehrheiten in irgendwelchen gesetzgebenden Körperschaften angewiesen zu sein. Das Wachstum der Gewerkschaften kam nicht von ungefähr : In den Inflationsjahren mussten Löhne in immer kürzeren Abständen ausverhandelt werden. Selten wurde die Bedeutung von Kollektivverträgen besser demonstriert. Zum Unterschied von der Zweiten Republik gab es in der Ersten keinen »überpar teilichen« Gewerkschaftsbund ; es gab auch innerhalb der freien Gewerkschaften zwar eine Zentralkommission, aber keine allzu straffe, zentralistische Führung. Erst 1928 wurde die Gewerkschaftskommission als Clearingstelle zum Bund der freien Gewerkschaften aufgewertet. Sekretär der Kommission, dann Vorsitzender des Bundes war schon seit den Neunzigerjahren Anton Hueber, dem ab 1931 als geschäftsführender Stellvertreter Johann Schorsch folgte, der sich in der Krise dann mehr zur Linken bewegte. Vor allem aber gab es eine verwirrende Fülle von zum Teil sehr kleinen Gewerkschaften, anfangs über fünfzig, die einander zum Teil gegenseitig die Mitglieder streitig machten. Die Arbeiterschaft erwies sich als »eine r eichgegliederte Klasse, mit ihrer eigenen Hierarchie und ihren eigenen Stufungen«.122 Zum Quälgeist des sozialdemokratischen Parteivorstands entwickelte sich z. B. die » Technische Union« Zelenkas, die einmal die Kraftfahrer von der Postgewerkschaft, dann die Bediensteten der Tabakregie von den Lebensmittelarbeitern oder die Forstleute von den Landarbeitern abwerben wollte, um eine Gewerkschaft der »Staatsarbeiter« zu bilden. Vergeblich versuchte ihm die Gewerkschaftskommission klarzumachen, dass ein solches »Eindringen in andere Gewerkschaften unstatthaft ist«.123 Von oben her favorisierte man zwar ebenfalls den Übergang zum »Industriegruppenprinzip«, um den Arbeitgebern eine geschlossene Front gegenüberstellen zu können. Doch so sehr die Freien Gewerkschaften auch Konkurrenz aus anderen politischen Lagern verabscheuten, die Interessen diverser Facharbeitergruppen ließen sich nicht so schnell unter einen Hut bringen. Die Zusammenlegung schritt nur äußerst langsam voran. Innerhalb der Gewerkschaften gab es eine gewisse Hie rarchie, nach Größe und Durchsetzungsvermögen : Schon während der Kriegszeit hatten die Arbeiter der Rüstungsindustrie gewisse Privilegien genossen ; ihre Reviere wurden beliefert, auch wenn alle anderen hungerten. Rüstungsindustrie, das hieß :
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Metall- und Bergbau. Diese Konjunktur hielt eine gewisse Zeit auch noch über das Kriegsende hinaus an. Kohle war Mangelware ; Maschinen eine Zeit lang noch ein Exportschlager. Wohl organisierte Gruppen genossen in den Verteilungskämpfen unbestreitbar über Wettbewerbsvorteile. Die »Metaller«, darunter auch die Bergarbeiter, waren die bewunderten Pioniere dieser Jahre, nicht zimperlich im Umgang mit »Klassenfeinden«. Die Metaller waren es auch, die für ihre Leute im Dezember 1919 als Erste den Indexlohn durchsetzten, die automatische Abgeltung der Teuerung, 1921 als Erste geschlossene Betriebsorganisationen bildeten. Selbst am Höhepunkt der Weltwirtschaftskrise umfasste ihre Gewerkschaft immer noch über 80.000 Mitglieder. An der Spitze der Metaller stand ein Duo, das ein wenig nach dem Muster »good cop, bad cop« agierte : Ihr Obmann Franz Domes war schon im Krieg ein Verächter, sein Stellvertreter Paul Richter ein Sympathisant der Linken gewesen. Es war Domes, der 1919/20 ohne Namensnennung auch von der Industrie gelobt wurde. Er seinerseits gab sich leutselig : Er sei ja schließlich auch ein alter »Urbanist«, sprich habe einmal im Werk des Industriellenpräsidenten Urban gearbeitet.124 Es waren aber auch gerade die Bergbauzentren, Paradebeispiele für isolierte Arbeiterhochburgen in der Provinz, die in der Tschechoslowakei oder im Deutschen Reich Hochburgen der Kommunisten darstellten. Im Bergbau, wo die Personalkosten alle anderen Kostenfaktoren in den Schatten stellten, waren die Lohnkämpfe am bittersten, der Spielraum für Konzessionen am geringsten. Auch in Österreich absolvierte der spätere KP-Chef Johann Koplenig seine Lehrjahre beim Steinkohlenbergbau in Grünbach am Schneeberg, zählten Eisenerz oder Mühlbach am Hochkönig zu den letzten Hochburgen der KPÖ.125 Als der steirische Landeshauptmann Rintelen 1921 in St. Lorenzen zum Opfer eines »Fenstersturzes« wurde, machte der Bericht der Bezirkshauptmannschaft nicht die Sozialdemokraten dafür verantwortlich, sondern erblickte darin vielmehr »eine wilde Sonderaktion der mehr oder weniger kommunistisch ausgerichteten Arbeiterschaft hauptsächlich des Kohlenbergbaues Perschling und Aumühl«.126 Die größte Gewerkschaft neben und nach den Metallern aber waren die Eisenbahner (mit 1932 noch 55.000 Mitgliedern), die in einem noch äußerst schwach motorisierten Land eine beherrschende Position innehatten, wie sie heute kaum noch vorstellbar ist. Die Eisenbahnergewerkschaft habe nicht einmal einen Streikfond nötig, so hieß es, weil es als ausgemachte Sache galt, dass ihr keine Regierung lang genug widerstehen könne. Als die Partei im Vorfeld der Sanierungsdebatten 1922 Zurückhaltung predigte, stieß sie auf den hinhaltenden Widerstand der Eisenbahner, der Genossen Tomschik und König. Der Vergleich mit der drittgereihten Gewerkschaft der Bauarbeiter (1932 : 37.000), die über keine solche Fähigkeit verfügte, das Land von heute auf morgen zum Stillstand zu zwingen und deshalb schon viel vorsichtiger agieren musste, ist instruktiv : Ihre Obleute galten, von der Ersten bis zur Zweiten
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Republik, von Johann Böhm bis Franz Olah, immer als Gemäßigte. (Raab, der damals durchaus noch als »Falke« galt, nannte Böhm schon im Jahre 1931 als einen Partner, mit dem sich gut arbeiten ließe.) Die Bauarbeiter galten als gut bezahlt, aber mit der Hypothek saisonaler Arbeitslosigkeit belastet.127 Dabei hatte sich gerade die Eisenbahner mit ihrem Arbeitgeber bestens arrangiert, so gut, dass in bürgerlichen Kreisen gegen Ende der Zwanzigerjahre die Reform der Bundesbahnen zunehmend zur Chefsache avancierte. Die Personalvertretung allein koste im Jahr über eine halbe Million Schilling und verfügte über unzählige Patronagemöglichkeiten. Die Bürgerlichen klagten : »Unsere Elemente werden nach und nach verdrängt.«128 Die Eisenbahner waren über das gesamte Land verstreut, Sendboten der Partei, aber zu geballten Machtdemonstrationen nach außen kaum in der Lage. Schon 1927 mussten sie sich auf den Bahnhöfen in der Obersteiermark, die weit vom Schuß waren, dem Druck der lokalen Heimwehren beugen. Vor diesem Hintergrund ist es verständlich, wenn im Februar 1934, als die Generalstreikparole ausgegeben werden sollte, der Eisenbahnerchef König sich zum Offenbarungseid gezwungen sah, seine Leute würden da nicht mitgehen. Die Hochkonjunktur der Gewerkschaften brach in den Zwanzigerjahren ein, zusammen mit der Scheinkonjunktur der Inflationsjahre. Die Mitgliederzahlen gingen zurück : 1924 errangen die Metaller noch einmal Erfolge ; dann begann bei der Alpine die Drohung mit den »Unabhängigen Gewerkschaften« der Heimwehren, in Steyr, dem »deutschösterreichischen Detroit«, ging es in der zweiten Hälfte der Zwanzigerjahre noch einmal bergauf, bis 1930 dann das Ende drohte, weil man vor einer Halde unverkäuflicher Wagen stand. Schon nach dem leichten Konjunktureinbruch von 1926 betrug die Mitgliedschaft der Freien Gewerkschaften nur mehr eine Dreiviertelmillion. Das waren immer noch 85 % aller organisierten Arbeitnehmer, aber immerhin ein Rückgang von fast einem Drittel in den vergangenen vier Jahren. Zu den Stars der Arbeiterbewegung entwickelten sich jetzt Gewerkschaften neuen Typs, keine Vertreter der Massen, sondern Plänkler, die über wenige, dafür aber unentbehrliche Spezialisten verfügten, die nicht von heute auf morgen ersetzt werden konnten, wie die Bankbeamten unter dem Abg. Heinrich Allina oder eben die »Technische Union« Zelenkas, die sich in den Zwanzigerjahren mit ihren Streikdrohungen zum Gott-sei-bei-uns der Regierung entwickelte.129 In diesen Jahren begann sich auch das Verhältnis von Partei und Gewerkschaft zu verschieben : Anfangs waren die Gewerkschaften die Vorhut und das erste Treffen der Arbeiterbewegung gewesen ; die Partei bloß der harte Kern, die Reserve. 1929 waren beide Säulen der Arbeiterbewegung dann schon gleich groß, mit 718.000 bzw. 737.000 Mitgliedern. Bereits im nächsten Jahr hatte die Partei die Freien Gewerkschaften überholt. Mit dem statistischen Vorsprung der Partei allein war es nicht getan. Dahinter steckte auch eine massive innerparteiliche Gewichtsverlagerung : Im Sommer 1922 gab es in Wien 200.000 Parteimitglieder, im restlichen Österreich
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Abbildung 8 : Hochburgen der Sozialdemokraten 1930
350.000 ; zehn Jahre später zählte Wien 400.000 Parteimitglieder, das restliche Öster reich 1929 nur noch 300.000, 1932 dann keine 250.000 mehr. Bei den Frauen war das Ungleichgewicht sogar noch größer : Ein Drittel der Mitglieder waren Frauen, davon zwei Drittel Wienerinnen.130 In Wien regierte die Sozialdemokratie seit 1922 das Bundesland und die Stadt in Personalunion. Daraus ergaben sich Patronagemöglichkeiten sonder Zahl. Ein Parteibuch öffnete so manche Türe, auch für Leute, die weder proletarische Abkunft noch gläubiger Marxismus adelte. »Machine politics« nannten die Amerikaner diesen Mechanismus. Mehr als jeder zweite Wähler der Sozialdemokratie in Wien war 1932 auch Parteimitglied (bei den Christlichsozialen nur jeder zehnte131), daneben vielleicht auch Mitglied in einem der vielen Vereine, die als »Vorfeldorganisationen« galten, wie z. B. die Kinderfreunde (die mit der Freien Schule fusionierten), der Arbeiter-Zitherklub oder auch der Arbeiter-Flugsport-Verein. Dabei konnte es durchaus vorkommen, dass die diversen Vorfeldorganisationen einander in die Haare gerieten, wie z. B. die Kleinbauern und die Abstinenzler, die Tierfreunde und die Arbeiterfischer, oder – ideologisch noch viel brisanter – die Freidenker und die Religiösen Sozialisten.132 Die Freidenker – die 1927 immerhin über 40.000 Mitglieder zählten – standen dem Herzen der Partei vermutlich näher, gingen ihr mit ihren apodiktischen Forderungen aber gehörig auf die Nerven und mussten in Wahlzeiten sorgsam versteckt
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werden. Adolf Schärf soll viel später einmal geseufzt haben, zum »nichts glauben braucht man doch keinen Verein«. Die katholische Kirche verzeichnete – nicht zuletzt aus politischen Gründen – in der Zwischenkriegszeit 170.000 Austritte. Doch der erst 1926/27 gegründete Bund der Religiösen Sozialisten – sein Obmann hieß verwirrenderweise ebenfalls Otto Bauer, auch der »kleine Otto Bauer« genannt – stieg in der Achtung der Genossen (»sehr nützlich«), sobald es darum ging, mit den Christgewerkschaftern gegen die Heimwehren zu klüngeln. Ab und zu musste die Partei dann zwischen Freidenkern und Religiösen Sozialisten einen Waffenstillstand vermitteln.133 Links oder rechts ? Wien und die Länder In Wien waren 1930 fast 60 % der sozialdemokratischen Wähler auch Mitglieder der Partei, im restlichen Österreich nur jeder Dritte, in Vorarlberg 1932 nur mehr jeder fünfte. In den Statuten der Partei war 1926 festgelegt worden, dass kein Land im Vorstand über eine Mehrheit verfügen dürfe, damit »der Vorstand eher als heute nicht als eine reine Wiener Körperschaft angesehen werde«.134 Doch der Trend ging ganz eindeutig in die Gegenrichtung. Die Bundesländerparteien atrophierten, schrumpften ohne die günstigen Rahmenbedingungen, wie sie in Wien gegeben waren. Diese Situation förderte politisch schizophrene Auswirkungen zutage : In Wien regierte die Sozialdemokratie alleine, den Bürgerlichen wurden und werden bloß »nichtamtsführende« Stadträte zugestanden. In den Ländern herrschte der »Proporz«, sprich : Man hatte das alte System der Monarchie, das jede Wahlkurie auch in der Landesregierung (»Landesausschuß«) vertreten sein sollte, 1918 ganz einfach auf die Fraktionen umgelegt. Die Sozialdemokraten hatten daher in allen Landesregierungen Sitz und Stimme : Selbst in Vorarlberg, wo es von der Verfassung her keinen solchen »Proporz« gab, überließ Landeshauptmann Ender ihnen aus Kulanz einen Regierungssitz. Erst 1932 verzichteten die Sozialdemokraten dann dankend auf derlei Brosamen, während sie in Tirol schon 1927/28 durch eine Verfassungsänderung aus der Landesregierung hinauskomplimentiert wurden. In Kärnten stellten die Sozialdemokraten eine Legislaturperiode (1921–23) lang mit Florian Gröger sogar den Landeshauptmann, im Burgenland 1925 mit Ludwig Leser ein paar Monate den geschäftsführenden Landeshauptmann. Danneberg behauptete auf dem Linzer Parteitag 1926, die Beteiligung an den Proporzregierungen (die man im Zuge der Verfassungsnovelle 1925 allerdings noch mit Zähnen und Klauen verteidigt hatte) schwäche die Kampfkraft der Partei. Mit ihren »Landesfürsten«, den sozialdemokratischen Landeshauptmannstellvertretern, war die Partei immer wieder in Querelen verstrickt. Wegen diverser Grundstücksgeschäfte war es vor Kurzem erst zu einem Krach gekommen, sowohl mit dem Ober-
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österreicher Josef Gruber als auch dem Tiroler Franz Gruener, dem als »Schloss besitzer« ein allzu luxuriöser Lebenswandel vorgehalten wurde – und der darauf die Disziplinlosigkeit beging, sich in bürgerlichen Blättern gegen die Angriffe zu wehren. In der Steiermark legte man dem Landesrat Regner später nahe, doch bitte kein Haus zu bauen, sondern es über einen Strohmann zu besorgen und dann zu mieten ; auch Ludwig Leser im Burgenland wurde kritisiert, »seine Gewohnheiten im privaten Leben [bedeuten] eine Schädigung der Partei«, weil er sich nach einem Unfall in ein luxuriöses Sanatorium zurückgezogen hatte.135 Stein des Anstoßes waren nicht bloß die privaten Finanzen der Bundesländerpoten taten, sondern die Finanzen der Partei, schlimmer noch : der Wildwuchs der Parteiunternehmungen. In der Euphorie der Nachkriegszeit hatte man sich in den meisten Ländern auf den Betrieb von Druckereien, Parteiheimen und sonstigen Betrieben eingelassen, die auf lange Sicht nicht kostendeckend geführt werden konnten. In Klagenfurt gab der Kauf des Hotels ›Traube‹ Anlass zu allerlei Verdächtigungen, in Linz mussten die Spatenbrotwerke 1925 durch einen Kredit der »Reichspartei« gestützt werden, um den Bankrott zumindest bis nach den Landtagswahlen aufzuschieben.136 Im Burgenland hatte es 1924/25 großer Anstrengungen bedurft, den umstrittenen Ämterkumulierer Hans Morawitz (Nationalrat, Landeshauptmannstellvertreter, Obmann der Landarbeiter und der Krankenkassa) wegen seiner »skandalösen Geldgebarung« zum Rücktritt zu bewegen.137 Kritikern konnte es im Zuge dieser Konflikte schon passieren, dass sie als Spitzel denunziert wurden : »Es wird als ein Verrat dargestellt, wenn jemand nach Wien an den Parteivorstand etwas mitteilt.«138 Die Konstruktion der Parteigremien erwies sich als wenig geeignet, diesen Entwicklungen einen Riegel vorzuschieben. Der Parteivorstand, der allwöchentlich tagte, setzte sich schon einmal aus praktischen Gründen aus Wienern zusammen bzw. aus Genossen, die in Wien lebten. In der Parteikontrolle hingegen, die in erster Linie mit der Aufsicht über die Finanzen betraut war, waren alle Bundesländer mit je einem Delegierten vertreten. Gegen Ende der Zwanzigerjahre wurde deshalb erwogen, die Gremien umzubesetzen, die Länder stärker an der politischen Willensbildung zu beteiligen, sie dafür aber finanziell stärker an die Kandare zu nehmen. Doch diese Überlegungen wurden damals schon von drängenderen Problemen überrollt.139 Es war nicht der nervus rerum allein, der für Unstimmigkeiten sorgte. Das kollegiale Klima der Landesregierungen, die selten allzu politisch brisante Themen wälzten, sich dafür aber redlich abmühten, aus knappen Mitteln das Beste herauszuholen, machte aus den Landesräten der »roten Reichshälfte« professionelle Rechtsausleger. Das galt nicht bloß für Niederösterreich, wo Renners Freunde die Geschäfte führten (mehr noch als die Helmers und Popps galt Landeshauptmannstellvertreter Franz Christoph, ein Eisenbahner, der seine Ausbildung dem Ortspfarrer verdankte, als Verächter der Wiener »jüdischen Clique«140). In Kärnten war Landesrat Zeinitzer
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als »Novembersozialist« verrufen, in Salzburg galt Landeshauptmannstellvertreter Robert Preußler als kongenialer Kompagnon für Rehrl (»hat in der Landesregierung zwei Sozialisten, die tun, was er will«,141 so lautete der neidische Kommentar seiner Kollegen) ; in Oberösterreich, so das Urteil der Zentrale, sei das »Linzer Tagblatt« nicht bloß schlecht geführt und ganz unaktuell ; es führe auch den Kampf gegen die Christlichsozialen fast überhaupt nicht.142 In der Steiermark residierte mit Landeshauptmannstellvertreter Machold der »Reinseidensozialist« par excellence (als modischer Vorläufer des »Nadelstreifsozia listen«), flankiert von Vinzenz Muchitsch, der sich als »roter« Bürgermeister der Stadt Graz auch ohne absolute Mehrheit zu behaupten wusste. Sein Bruder, der Arbeiterkammerpräsident Hans Muchitsch, verfocht als gebürtiger Marburger eine äußerst kämpferische Linie gegen die Jugoslawen. Als die Bundespartei 1926 eine Kampagne gegen den steirischen Landeshauptmann Rintelen entfachte (die erste von vielen, diesmal wegen seiner Unterstützung für die ungarischen Gegenrevolutionäre Jahre zuvor), konnte sie sich des Eindrucks nicht erwehren, dass »unsere Genossen die ganze Sache nicht bis zum letzten Ende führen wollen«. Machold wurde daraufhin nach Wien zitiert – und bestätigte diesen Eindruck prompt : Erstens werde man Rintelen voraussichtlich nichts nachweisen können, und zweitens : »Wenn Rintelen fällt, so werden die Agrarier obenauf kommen, mit denen man nicht zusammenarbeiten kann.«143 Dafür waren in der Obersteiermark die berüchtigten Kampfhähne beheimatet, die Anhänger Koloman Wallisch’ oder des Fohnsdorfer Bürgermeisters Norbert Horvatek ; in Renners Niederösterreich galt die Belegschaft von Ternitz als besonders rabiat, in den Dreißigerjahren machte sich auch der »Metaller« Felix Stika von der Hirtenberger Patronenfabrik einen Namen als Wortführer des linken Flügels, der im Klub gegen jede »Wassersuppenpolitik« auftrat. Wiener Neustadt hingegen, als heimliche Hauptstadt Niederösterreichs, galt mit Bürgermeister Anton Ofenböck bereits als Hochburg der »saturierten« Funktionäre ; bloß Ofenböcks Stellvertreter Josef Püchler markierte zuweilen den wilden Mann, freilich mehr im Sinne von Wirtshausraufereien als von revolutionärer Dynamik.144 In Oberösterreich erwarb sich Bürgermeister Dametz von Linz (der allerdings schon 1927 starb) einen Ruf als Verächter austromarxistischer Dialektik, die Belegschaften in Steyr und im WolfseggTrauntaler Revier hingegen als Revoluzzer.145 Fazit : Innerhalb der Länderparteien war eine schleichende Polarisierung im Gange, zwischen den biederen Landesräten, die im Verein mit ihren schwarzen Kollegen auf Wien schimpften, auf den Finanzminister zumindest, und den umkämpften proletarischen Inseln im »Schwarzen Meer«, die sich von Wien, auch vom »roten Wien«, zunehmend im Stich gelassen fühlten. Nicht Simmering gegen Kapfenberg hieß das Match, das Härte versprach, sondern Graz gegen Kapfenberg (oder Linz gegen Steyr). Als Wallisch nach den Juli-Ereignissen 1927 in einen Pro-
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zess verwickelt war, hätten es die Grazer Genossen gerne gesehen, wenn er sich der möglichen Verurteilung durch eine Übersiedlung ins Ausland entzogen hätte. Dem Brucker Vizebürgermeister Pichler, der allzu selbstherrlich geschaltet hatte, stellte man einen Versorgungsposten in Aussicht, wenn er bloß die Stätte seines Wirkens aufgab.146 Stalin zog sich nach dem Scheitern der Weltrevolution, die Lenin vorhergesagt hatte, auf »Socialism in one country« zurück ; ohne jede Ähnlichkeit mit Stalin, dasselbe galt für die Wiener Partei, die in einer Vorwegnahme der Zukunft am Prototyp des neun Menschen bastelte, am »Sozialismus in einem Bundesland«. Viktor Adler hatte 1918, achtundvierzig Stunden vor seinem Tod, gesagt : »Ich bin überzeugt, daß wir Deutsche der Welt auch dafür das Vorbild geben werden, wie man am glattesten, klassischesten, einfachsten Revolution macht und durchführt.«147 Das rote Wien folgte seiner Devise : Man betrieb nicht die Mistgabel-Variante des gewaltsamen Umsturzes, aber die Umkrempelung aller Lebensumstände, ein revolutionäres Beginnen, aber mit konventionellen Methoden, im Sinne der »positiven revolutionären Tat der Verwaltung«. Zentrales Anliegen waren die Gemeindebauten, die man ab 1923 zu errichten begann, mit einem ehrgeizigen Programm von 5000–6000 Wohnungen pro Jahr, das erst 1931 eingestellt werden musste, weil der Bund der Stadt Wien die Mittel kürzte und die Partei im Zweifelsfall lieber bei den Wohnungen als bei den Gehältern der Gemeindebediensteten – insbesondere der Straßenbahner – sparen wollte.148 Stadtrat Hugo Breitner entwickelte sich als »Steuersadist« zum Feindbild aller betuchten Wiener, aber gerade Breitner war zwar schon lange Gewerkschafter, aber kein eingefleischter Sozialist. Sein Verwaltungsexperte, der auch noch allen Regimen danach mit derselben Fertigkeit zur Hand ging, war ein Burschenschafter, Rudolf Neumayer ; sein bevorzugter Geschäftspartner die Niederösterreichische EscompteBank. Der Erfolg seiner Steuerpolitik beruhte zum kleineren Teil darauf, dass die vergnügungssüchtigen Bourgeois jammerten, aber kauften, sprich : ihren Champagner weiterhin in Wiener Bars konsumierten – und nicht, wie heute vielleicht, im Sportwagen über die Landesgrenze nach Vösendorf ausweichen. Seine Wohnbausteuer belastete ein paar Hundert Top-Mieter (vor allem von Geschäftslokalen), in den Gemeindebauten zahlten die Genossen in der Regel immer noch mehr als in den mietergeschützten Altbauten.149 Auch die Wiener Partei hatte ihr Janusgesicht. Natürlich, in ihrem Schoße spielten sich all die Debatten über den Austro-Marxismus ab, Debatten, die zuweilen blutrünstig klangen, wie z. B. der Streit um den richtigen Zeitpunkt für die »Diktatur des Proletariats«, den Otto Bauer vergeblich zu besänftigen versuchte, mit der herablassenden Bemerkung, man hätte sich dabei um die korrekte Exegese von Marx und Engels bemüht, nicht um so läppische Angelegenheiten wie den Sturz der Bundesregierung. Die intellektuelle Linke, die Gift und Galle spuckte über den reakti-
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onären Provinzler, war in Wien beheimatet. Die Freidenker schwärmten von Wien aus, um die Provinz mit ihrem Glauben an das Nicht-Glauben zu beglücken (und auf diesem Sektor verstanden zur Abwechslung einmal die kulanten Vorarlberger keinen Spaß). Der pflichtgemäße Klassenkampf wurde in Wien um eine Portion Kulturkampf angereichert. Das »rote Wien«, die Stadt der Ringstraßenbarone und Luegers in den Fängen der »Austromarxisten«, das war die ultimative Provokation für das Bürgertum ; die Wiener Partei war dabei aber strukturell doch, horribile dictu : konservativ. Denn sie hatte etwas zu verlieren : Ein Jahrzehnt Aufbauleistung, mit 60.000 Gemeindewohnungen, einer Unmenge kommunaler Betriebe etc., wollte man nicht so leicht aufs Spiel setzen. Da stand die Wiener Partei den Genossenschaften, dem Konsum und der Arbeiterbank, die Renner ins Leben gerufen hatte, in ihrer administrativen Eigendynamik in nichts nach. Das Gleichgewicht der Klassenkräfte ließ sich leichter ertragen, wenn man in ein Geflecht von befreundeten Institutionen eingebunden war, während rund um die isolierten Außenposten der Provinz die Wölfe heulten, Wirtschaftskrise und Gegenrevolution. Dort war »der neue Mensch« vielleicht nicht so populär, die künstlerische Avantgarde nicht vertreten, die dialektische Schulung ließ zu wünschen übrig, aber der Klassenkampf war auf seine eigene Art viel lebendiger. Die Sozialdemokratie war von einer doppelten Polarisierung geprägt : Unter den Eliten der Partei stand der Avantgarde der alten Linken in Wien, von Bauer und Danneberg, der rechte Flügel in der Provinz gegenüber, die Landesräte Marke Machold und Helmer, Christoph und Gruber. Doch an der Basis war die eigentliche Linke in den kämpferischen Hochburgen der Provinz angesiedelt, nicht im Schoße der Wiener Partei mit ihren vielfältigen Betreuungs- und Klientelangeboten.
2. Die Christlichsozialen Pro und contra Lueger : Populisten und Konservative Ein Feldherr des Zweiten Weltkrieges, Ernst v. Manstein, hat seine Erinnerungen veröffentlicht unter dem Titel : »Verlorene Siege« ; das Gegenteil galt für die Christlichsozialen nach dem Ersten Weltkrieg, die aus ihren Niederlagen stets politische Erfolge abzuleiten wussten. Die Sozialdemokratie war der Gewinner des Umbruchs von 1918/19. Die Christlichsozialen erlitten 1919 eine vernichtende Wahlniederlage. Ihr Wähleranteil auf dem Gebiet des heutigen Österreich hatte sich von fast 60 % 1907 auf wenig mehr als 30 % der Männerstimmen reduziert. Freilich : 1907 war die »Christlichsoziale Reichspartei« eben erst gegründet worden – und zwar nach den Wahlen. Die Christlichsozialen in der Form, wie sie die Erste Republik dominierten, waren damit die jüngste der drei klassischen Lagerparteien : Die Sozialdemokraten konnten auf den Vereinigungsparteitag von 1889
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Abbildung 9 : Der Niedergang der Christlichsozialen 1907–1919
zurückblicken ; die Großdeutsche Volkspartei der Ersten Republik entsprach von ihrem Einzugsbereich her ziemlich genau der Deutschen Volkspartei von 1891/95 ; die Christlichsoziale Reichspartei von 1907 entsprang einer Vereinigung der alpenländischen »Konservativen«, der Katholischen Volkspartei, mit den eigentlichen Christlichsozialen, Luegers Partei in Wien und Umgebung. Auf den ersten Blick ließ sich diese Fusion auf den einfachen Nenner bringen : Das Lager des politischen Katholizismus hatte seine Kräfte gebündelt. Diese Christlichsoziale Reichspartei stellte nach der Wahl von 1907 die stärkste Fraktion des Reichsrates. Auf den zweiten Blick stellte sich hingegen die ketzerische Frage : Waren die Christlichsozialen wirklich »Schwarze« ? Für ihre Gegner zweifellos : Lueger und die Seinen betrieben die Geschäfte der Klerikalen, so lautete seit jeher der V orwurf. Doch selbst diese Formulierung ließ immer noch durchblicken, dass Lueger selbst – so wie die meisten seiner Wähler – ursprünglich eben keinesfalls ein Klerikaler gewesen war. Seine Wiener Partei galt den Ideologen aller Lager vielmehr als »Wurstkesselpartei«, als Vorform moderner »catch-all parties«, wenn man so will : als Populisten, die gegen eine abgehobene liberale Elite ankämpften. Klerikale hatte es bis dahin in Wien nicht gegeben – und auch am Lande waren sie in Niederösterreich bis in die 1890er-Jahre hinein nicht mehrheitsfähig. Lueger näherte sich dem politischen Katholizismus erst schrittweise an : John Boyer hat treffend formuliert, er
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konnte sich im stark laizistisch geprägten Wiener Umfeld den Katholizismus nur in Verbindung mit dem Antisemitismus leisten.150 Luegers Partei firmierte in ihren Anfangsjahren unter dem Titel : »Antisemiten«, nicht weil sie die einzigen Antisemiten waren, sondern weil alle anderen Antisemiten, von Schönerers Alldeutschen bis zu den konventionellen Klerikalen, weltanschaulich irgendwo einzuordnen waren, die Christlichsozialen jedoch nicht. Die deutschnatio nale Bewegung, die in der Provinz – schon in St. Pölten oder Krems – nahezu unmerklich die Liberalen ablöste, wurde in Wien von dem Vorstadtdemokraten Lueger ins Boot geholt, ebenso wie eine Interessensgruppe nach der anderen, die ursprünglich auf die Liberalen gesetzt hatte. Eine Partei, in der weltanschaulich gebundene Katholiken den Ton angaben, wurden die Wiener Christlichsozialen erst in den frühen Zwanzigerjahren. Die heterogene Koalition, die vom Nimbus des »schönen Karl« gelebt hatte, begann nach seinem Tode 1910 zu zerfallen. Diadochenkämpfe setzten ein, an den Flügeln der Partei begann es zu rumoren. Luegers vielleicht begabtester Stratege, Albert Geßmann, der die Brücken zu den Agrariern am Lande hergestellt hatte, galt als zu klerikal, um ihm als Bürgermeister nachzufolgen ; seine Gefolgsleute drängten dafür den betont deutschnationalen Flügel um den Zeitungsherausgeber Ernst Vergani aus der Partei. Die Wahlen des Jahres 1911 endeten mit einer schallenden Ohrfeige : Sozialdemokraten, Liberale und Deutschnationale verabredeten bei den Stichwahlen ein Bündnis und nahmen den Christlichsozialen alle ihrer Wiener Mandate bis auf zwei ab. Arthur Schnitzler z. B. wählte damals in der Stichwahl in Währing den rabiaten »deutschsozialen« Antisemiten Pollauf, nur um pflichtschuldigst gegen die Christlichsozialen zu votieren. Mit dem Desaster der Wiener begannen sich die Mehrheitsverhältnisse innerhalb der »Reichspartei« zu verschieben : 1907 hatte sie 30 Konservative gezählt und 66 Christlichsoziale, davon 20 Wiener. 1911 waren es nur mehr zwei Wiener. Die Partei war führerlos. Als Galionsfigur fungierte der einst so charismatische Prinz Aloys Liechtenstein, der sich von den Niederungen der Alltagspolitik weitgehend fernhielt ; Albert Geßmann verfasste in der inneren Emigration subversive Denkschriften ; sein Rivale Richard Weiskirchner übernahm 1912 schließlich doch noch das Amt des Wiener Bürgermeisters – und kam damit gerade zurecht, um in den Kriegsjahren die Verantwortung für die schlechte Versorgungslage aufgebürdet zu bekommen. Die Partei stützte die Regierung, stellte aber seit 1911 keine Minister mehr. Der Reichsratsklub wurde im Turnus abwechselnd von den Vertretern der Länder geleitet, meist Bauern (wie der Niederösterreicher Stöckler, der Steirer Hagenhofer, der Tiroler Schraffl oder der Vorarlberger Fink), dazu der Oberösterreicher Prälat Hauser.151 Der Absturz der Wiener war dramatisch, aber nahezu vorprogrammiert. Die Partei Luegers war von einer stolzen Stadtpartei, die europaweit kaum ein Gegenstück
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Abbildung 10 : Der »gender-gap« bei der Nationalratswahl 1920
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kannte, zum urbanen Anhängsel des Bauernbundes mutiert. Das konnte auf die Dauer nicht gut gehen, im Zeichen von Bewirtschaftung und Schwarzmarkt schon gar nicht. Gefährlicher noch für die Reichspartei war, dass sie am Lande umgekehrt für die fatale Agrarpolitik der Regierung den Kopf hinhalten musste. Ihre Verluste in den Ländern fielen 1919 ebenfalls dramatisch aus, wenn auch im Westen etwas geringer als in Niederösterreich. Freilich : Die Vorherrschaft des politischen Katholizismus am Lande war – bis auf Kärnten – so ausgeprägt, dass die Christlichsozialen auch 1919 überall die Mehrheit behielten, ja in der Steiermark – wo sie am relativ besten abschnitten – sogar erstmals den Landeshauptmann stellten. Die Demokratisierung des Landtagswahlrechts kam ihnen dabei – zum Unterschied von Wien – zustatten ; das neue eingeführte Frauenwahlrecht sowieso. Ihre Stärke, so hieß es, verdanke die Partei »der Gefolgschaft der beiden größten Gruppen, das sind die Bauern und die Frauen«.152 Wichtig für das Verständnis der Befindlichkeiten der Christlichsozialen in der Zwischenkriegszeit ist freilich der nachdrückliche Hinweis : Länder ist nicht gleich Länder. In den westlichen Ländern – mit Ausnahme Tirols – hatte es Christlichsoziale Marke Lueger eigentlich nie gegeben ; allenfalls waren punktuell schüchterne Versuche zur Gründung einer katholischen Arbeiterbewegung zu verzeichnen. Was ab 1907 als Christlichsoziale firmierte, waren die alten Konservativen, die schon seit Jahrzehnten die Landespolitik dominierten, organisiert in den Katholischen Volksvereinen, den »Casinoten«, wie es im Ländle hieß. Das Paradebeispiel dafür war Oberösterreich, dicht gefolgt von Salzburg ; ähnlich lagen – mit gewissen alemannischen Eigenheiten – auch die Verhältnisse in Vorarlberg, wo sich der Übergang von Konservativen zu Christlichsozialen Mitte der Neunzigerjahre ohne irgendwelche lokalen Streitigkeiten vollzogen hatte : Welchem »innerösterreichischen« Dachverband man sich unterstellte, spielte jenseits des Arlbergs offenbar keine so große Rolle.153 In Niederösterreich hatten sich Konservative bis in die Achtzigerjahre bestenfalls in Teilen des Mostviertels durchzusetzen vermocht. Der Rest des Landes wurde erst in der Ära Luegers erobert. Mit einer gewissen zeitlichen Verzögerung erfolgte interessanterweise erst 1906 dann auch die Gründung des Niederösterreichischen Bauernbundes, der in der Zwischenkriegszeit mit seinen 100.000 Mitgliedern die starken Bataillone der Partei verkörperte. In Tirol hatte der Bauernbund sich frühzeitig auf die Seite der Christlichsozialen geschlagen und war bis 1918 in einen erbitterten Kampf mit den alten Konservativen verwickelt, die insbesondere in Südtirol ihre Positionen mit Zähnen und Klauen verteidigten. Erst 1914 wurde ein Waffenstillstand, erst im Herbst 1918 eine Verschmelzung beider Organisationen vereinbart. Die Partei nannte sich deshalb auch die gesamte Zwischenkriegszeit nicht »Christlichsoziale«, sondern Tiroler Volkspartei. Nur in Tirol verfügte der politische Katholizismus, angereichert mit einer kräftigen Portion von Landespatriotismus, auch von Anfang an über einen Rückhalt im
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klassischen Bürgertum, ja selbst im Bildungsbürgertum ; gab es schon seit den Siebzigerjahren – und nicht erst seit der Jahrhundertwende – florierende CV-Verbindun gen und ausgewiesene katholisch-konservative Universitätsprofessoren, wie z. B. den späteren Bundeskanzler Michael Mayr, nicht bloß an der theologischen Fakultät.154 Tirol blieb fast die gesamte Zwischenkriegszeit über ein Land, das innerhalb der Partei am rechten Flügel positioniert war – in einer kuriosen Partnerschaft mit den Wienern, Seipels Wienern. Diese Partnerschaft machte den Wandel deutlich, der nach 1918 stattgefunden hatte : Die Christlichsozialen galten vor 1914 als der linke, der demokratische Flügel der Konservativen ; sie waren jetzt am rechten, am bürgerlichantimarxistischen Flügel zu finden. Die Steiermark bot ein widersprüchliches Bild. Zwischen den christlichsozialen Vororten in Niederösterreich und Tirol und den konservativen Domänen dazwischen, in Oberösterreich und Salzburg. In der Steiermark waren beide Varianten vertreten : Der Bauernverein unter Franz Hagenhofer zählte hier zum Einzugsbereich der alten Konservativen ; die städtischen Christlichsozialen hatten sich vor 1914 von ihnen wiederum getrennt und zum Teil den Deutschnationalen angeschlossen.155 Nach dem Krieg war auf diesem Sektor freilich eine Schubumkehr zu beobachten. Dass die klassischen Lagergrenzen in der grünen Mark so durchlässig geworden waren, kam nunmehr den Christlichsozialen als neuer Mehrheitspartei zugute. In der Steiermark fanden sich in der Zwischenkriegszeit mehr als anderswo prominente Konvertiten, »Unter- und Überläufer«, auf den Listen der Christlichsozialen, wie z. B. der Burschenschafter und »Los-von-Rom«-Kämpe Alfred Gürtler, der schon sehr bald im christlichsozalen Klub das große Wort führte, oder der Sekretär des Industriellenverbandes, Emanuel Weidenhoffer, der 1911 noch für die Deutschnationalen kandidiert hatte. Beide waren gebürtige »Sudetendeutsche« ; beide sollten es als Christlichsoziale zum Finanzminister bringen : Weidenhoffer verblüffte noch 1931 irklich nicht seine Beamten, als er seinen Kabinettschef ins Gebet nahm, ob er auch w beim CV sei.156 Einer untadelig katholischen, aus Westfalen emigrierten Familie entstammte hingegen Anton Rintelen als Landeshauptmann, den Hagenhofer 1918 aus dem Talon gezogen hatte. Doch gerade Rintelen – vor 1914 eine Zeit lang Professor an der deutschen Karlsuniversität in Prag – sollte es sich zur Aufgabe machen, das nationale Lager in einer Weise an die Brust zu nehmen, dass von der Großdeutschen Volkspartei in der Steiermark bald nichts mehr übrig war. Blieb schließlich Wien : Die einstige Hochburg der Christlichsozialen bot ein jämmerliches, aber auch ein schizophrenes Bild. Schon vor dem Krieg hatte Geßmann, der Architekt des Zusammenschlusses mit den konservativen Länderparteien, über die »durch das Lueger’sche System verdorbene alte Garde« gelästert. Die Partei sei nur durch »einen Neuaufbau« zu halten. Ihre Bezirksvereine waren nach den Diadochenkämpfen und der langen Phase der »Privatisierung der Politik« zwischen 1914 und 1917 nicht mehr kampffähig : Der Burgfriede der Kriegsjahre habe alle
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»kopfscheu« gemacht, lautete ein Lamento. In diese Lücke drang jetzt erst der echte politische Katholizismus ein, z. B. der Katholische Volksbund unter Richard Schmitz. Seipel selbst war zwar gebürtiger Wiener, lehrte aber lange Zeit in Salzburg und hatte kaum Verbindung zu den alten Gefolgsleuten Luegers. Er zog durch seine publizistische Tätigkeit die Aufmerksamkeit der Politiker auf sich, die noch bis fünf Minuten nach Zwölf an einer Reform der Monarchie bastelten ; auf diesem Umweg geriet er auch in Kontakt mit der Gruppe von Wienern, die in Opposition standen zu Bürgermeister Weiskirchner und seinem Kurs der »deutschen Gemeinbürgschaft« – ironischerweise genau die Politik, wie sie Seipel dann fünf Jahre später selbst propagieren sollte.157 Die Christlichsoziale Partei hatte seit dem Mai 1919 die Stadt und damit auch den Rückhalt am Magistrat verloren. Die Personalpolitik Luegers in Wien war berüchtigt gewesen ; politische Dissidenten wurden nicht beschäftigt : Alldeutsche – von der »schwarzen« Presse zuweilen auch als »Stalldeutsche« bezeichnet – und Sozial demokraten wichen in andere Kronländer aus. Dennoch – oder vielleicht gerade deshalb – machte sich im Kreis seiner Beamten das Phänomen der »Novembersozia listen« bemerkbar, die mit fliegenden Fahnen in das Lager der neuen Mehrheitspartei übergingen. Die Wiener Partei hatte darüber hinaus spätestens 1922 auch den Rückhalt im Land Niederösterreich verloren. Ihr Wähleranteil bewegte sich zwischen 22 % (1919) und 17 % (1932). Ihre führenden Köpfe, Leute wie Richard Schmitz, Heinrich Mataja und Viktor Kienböck, die Clique, die schon während des Krieges gegen Bürgermeister Weiskirchners farblose Politik vehement Stellung bezogen hatte, ließ die Wiener Politik nach 1918 links liegen und widmete sich fast ausschließlich der Bundespolitik. Die Wiener Partei führte unterdessen Leopold Kunschak, 1920/21 kurz auch Obmann der Gesamtpartei. Kunschak als Grand Old Man der christlichen Arbeiterbewegung entwickelte sich immer mehr zur Galionsfigur des linken Flügels der Partei. Seine letzte Rede im Wiener Gemeinderat kurz vor dem Februar 1934 hat diesen Nimbus bloß bekräftigt. Umso mehr ist zu betonen, dass ein Sattlergehilfe wie Kunschak oder sein Mitstreiter Franz Spalowsky, der Vorsitzender der Zentralkommission der christlichen Gewerkschaften, ein Tischler, dann sein Nachfolger Johann Staud als Schuster oder der Glasergeselle Josef Resch als langjähriger Sozialminister Ausnahmeerscheinungen waren, die aus dem kleingewerblichen Bereich kamen, innerhalb der Industrie-Arbeiterschaft aber kaum über nennenswerte Gefolgschaft verfügten. Die katholischen Arbeiter waren im christlichsozialen Klub mit rund einem halben Dutzend Abgeordneter eine Splittergruppe, die mit einer Mischung aus Mitleid und Respekt betrachtet wurde. Sicher, es gab die christlichen Gewerkschaften, doch sie umfassten – bis auf Vorarlberg – kaum klassische Industriearbeiter. Nur im Ländle überholten die christlichen Gewerkschaften Mitte der Zwanzigerjahre die
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Abbildung 11 : Hochburgen der Christlichsozialen 1930
Abbildung 12 : Das Ost-West-Gefälle : Mitgliedschaft der Richtungsgewerkschaften (1931)
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sozialdemokratischen Freien Gewerkschaften und verfügten mit Karl Drexel über eine Galionsfigur, die als Kaplan der Kriegsgefangenen in Sibirien überregional bekannt war. Bis auf den äußersten Westen des Bundesgebietes fanden sich bei den Christgewerkschaftern in erster Linie Randgruppen wie Hausangestellte, Hausmeister und Landarbeiter, die aber wiederum – wie z. B. in Oberösterreich – im Kleinhäuslerbund organisiert waren.158 Zwar erwies sich die Zwischenkriegszeit für die Christgewerkschafter als eine Wachstumsphase : Ihre Zahl stieg auf über 100.000 und nahm auch während der Welt wirtschaftskrise noch zu. Doch dieses Wachstum war in erster Linie auf den Zustrom an Staatsbediensteten zurückzuführen, z. B. in der Tabakregie (wo die Christgewerkschafter auf ein Drittel der Stimmen kamen), vor allem aber auf die Lehrer, die 1928 korporativ den Christlichen Gewerkschaften beitraten, und auf den »Wehrbund«, die antimarxistische Liste bei den Vertrauensmännerwahlen der Berufssoldaten, die 1927 erstmals die Mehrheit im Bundesheer errang und mit 18.000 Mitgliedern zum stärksten Verband innerhalb der Christgewerkschafter aufstieg. Doch gerade der »Wehrbund« und sein mächtiger Protektor, der langjährige Heeresminister Carl Vaugoin, mit seiner rigorosen Personalpolitik, konnten kaum als Anhänger des vielgerühmten Kunschak’schen Verständigungskurses mit der Sozialdemokratie vereinnahmt werden. Kunschak selbst hatte sich um die Gründung katholischer Arbeitervereine verdient gemacht ; doch zu den christlichen Gewerkschaften wurde ihm intern eine ablehnende, fast feindselige Haltung bescheinigt.159 Pro und contra Seipel : Bürgerblock oder Weltanschauungspartei ? Damit kommen wir zum eigentlichen Kuriosum der Christlichsozialen Partei in der Zwischenkriegszeit. Eine zentralistisch organisierte Partei, wie bei den Sozialdemokraten und Großdeutschen, gab es nur in der Theorie. Erst 1920 wurde ein Statut verabschiedet, das Wahlen für einen Parteitag vorsah : Der Parteitag wählte einen Obmann, dazu einen Parteirat, der wiederum eine zehnköpfige Parteileitung, die in der Praxis aber kaum wesentliche Entscheidungen fällte. Über den politischen Kurs wurde weiterhin im Parlamentsklub verhandelt. Die Generalsekretäre der Partei waren Männer der zweiten oder dritten Reihe – Sekretäre, Administratoren, die Routinegeschäfte erledigten. Die eigentlichen Machtfaktoren im Hintergrund blieben die Landesparteiorganisationen, die wiederum ganz unterschiedlich zusammengesetzt waren : In Niederösterreich z. B. traten Bauernbund und Städteorganisation 1919 noch getrennt zur Wahl an.160 Als Obmann der Gesamtpartei fungierte nach dem Rücktritt des Prinzen Liechtenstein zunächst interimistisch Prälat Hauser, nach dem ersten Parteitag im März 1920 dann Kunschak, vielleicht mehr als Trostpreis für die Wiener. Beide hielten sich an das Rollenbild des »primus inter pares« ; strenggenommen handelte es sich auch
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gar nicht um einen »Parteiobmann«, sondern um einen Vorsitzenden der Reichsparteileitung, die sich in der Praxis im Wesentlichen aus den Vertretern der Landesorganisationen zusammensetzte. Zu Stellvertretern des Obmanns wurden routinemäßig ein Bauer und eine Frau gewählt (1920 der Salzburger Johann Lackner und die später selig gesprochene Gründerin der ›Caritas Socialis‹, Hildegard Burjan, 1921 dann als politische Schwergewichte der Niederösterreicher Josef Stöckler und die Fürstin Fanny Starhemberg). Als eigentlicher Kopf der Partei in den Anfangsjahren der Republik galt der Bregenzer Wälder Bauer Jodok Fink als Vizekanzler im Kabinett Renner und Klubobmann im Parlament. Doch ab dem Juni 1921 wurde die Partei dann fast ein Jahrzehnt lang, bis 1930, von Ignaz Seipel geführt, und zwar wirklich geführt, einem Monsignore und Professor für Moraltheologie, der auf keinerlei »Ochsentour« und keinerlei Vordienstzeiten im Rahmen der Partei verweisen konnte, allenfalls auf eine Berufung als Sozialminister in das letzte kaiserliche Kabinett Lammasch, ein Punkt seines Curriculum Vitae, der nach 1918 auch nicht unbedingt eine Empfehlung darstellte. Er hatte im November 1918 die Verzichterklärung Karls stilisiert und in einer Artikelserie in der »Reichspost« von einem aussichtslosen Kampf um die monarchische Staatsform abgeraten, dabei jedoch – vive la petite difference – sich strikt gegen jegliche »Mitwirkung zur Abdankung des Kaisers« verwahrt, eine differenzierte Haltung, die ihm letztlich von keiner Seite honoriert wurde.161 Die AZ bezeichnete ihn einmal recht treffend als »einen Monarchisten aus Überzeugung und Republikaner aus Resignation«.162 Seipel hatte um die Erhaltung der Monarchie gekämpft und antwortete auf die Frage nach den Chancen einer Restauration einmal doch schnippisch : Er glaube selbstverständlich an die Auferstehung der Toten, doch erst am jüngsten Tage. Renner bemerkte einmal frustriert, er sei zwar überzeugt, Seipel wolle die alte Monarchie wiederherstellen, aber man könne ihm leider nichts nachweisen, weil er niemanden ins Vertrauen ziehe. In öffentlichen Äußerungen war der Monsignore von einer für einen Priester schon wieder erstaunlichen Koketterie. Vor allem aber : Seipel dachte immer in Alternativen. Der Heimwehr-Major Pabst wurde mit dem Vergleich berühmt : Man wisse nie, auf welches Pferd er setze. Einem Kollegen, mit dem er zusammen bei einer Versammlung sprechen sollte, schrieb Seipel, sie bräuchten sich deswegen nicht lange abzusprechen, ihr Auftritt werde entweder als Beweis für die Geschlossenheit der Partei dienen oder aber, sie könnten sich beide im Ruf besonderer Originalität sonnen.163 Seipel war ein spartanisch lebender Intellektueller von hohen Graden, weltmännisch, aber keinen weltlichen Genüssen zugetan, der auch als Kanzler bloß eine Klosterzelle bei den Dienerinnen zum Heiligsten Herzen Jesu in der Keinergasse 37 im 3. Bezirk bewohnte. Seipel war zuckerkrank, litt zudem unter Insulinintoleranz und lebte seit einem Attentat 1924 mit einer Pistolenkugel in der Lunge, war dabei aber
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von einem grenzenlosen Fleiß. Er sprach oft mehrfach am Tag in Versammlungen (im Wahlkampf 1923 z. B. gezählte elf Mal in Wien, bevor er in den Nachtzug nach Vorarlberg stieg), schrieb unzählige Artikel und lancierte viele seiner kontroversen Thesen auf Vortragsreisen im Deutschen Reich oder bei Interviews mit ausländischen Zeitungen. Auf dem Weg zu einem Vortrag bei einer katholischen Verbindung im Burgenland, mit seinen damals noch recht elenden Verkehrsverbindungen, bat sich der Kanzler bloß aus, für ihn bei der nächsten Bahnstation ein Fahrrad bereitzuhalten.164 Seipel war ein Priester, der jeden Tag um 6 Uhr morgens Messe las und während seiner alljährlichen Exerzitien im Sommer streng mit sich selbst ins Gericht ging, aber kein religiöser Eiferer, schon recht kein »Klerikaler« im landläufigen Sinn. Im Gegenteil : Er vertrat die Interessen der Kirche, wie er sie verstand ; aber er bemühte sich nach Kräften, die traditionell antiklerikalen Bürgerlichen unschädlich zu machen, nicht mit Feuer und Schwert, sondern durch eine Umarmungstaktik, die sie auf Gedeih und Verderb an die Christlichsoziale Partei ketten sollte, mehr noch : Er wollte die Christlichsoziale Partei selbst mit jüdischen Bankiers, nationalen Industriellen und einflussreichen »Nullgrupplern« anreichern und mehrheitsfähig machen, mit den »peripheren Gruppen der Antimarxisten«. Der Generalsekretär des Hauptverbandes der Industrie schrieb in seinem Nachruf : »So wurde er, der Wirtschaftsferne, der Wirtschaftsentrückte, zum treuesten Anwalt der österreichischen Wirtschaft.«165 Dabei kannte der Prälat keine konventionellen ideologischen Berührungsängste : Legendär war sein Vertrauensverhältnis zu seinem invaliden jüdischen Finanzberater Gottfried Kunwald ; aber auch zu den Haudegen der Heimwehr, bis hin zu den nationalen Bahngewerkschaftern, die ihn 1924 beinahe gestürzt hätten ; zum letzten österreichischen Außenminister Grafen Ottokar Czernin und zum Prinzen Karl Anton Rohan mit seiner »Europäischen Revue«, der später dann als das aristokratischintellektuelle Aushängeschild der österreichischen Nazis galt. Im Außenamt zog er den gewandten jüdischen Sektionschef Richard Schüller dem biederen Generalsekretär Franz v. Peter vor, der seinen Kombinationen nicht so recht zu folgen vermochte. Gegen die Untugenden des Landbund-Vizekanzlers Winkler hielt er 1931 eine schriftliche Philippika, fügte aber hinzu, um nur ja nicht missverstanden zu werden : »Solange er existiert, bin ich durchaus dafür, mit ihm zu reden und zu rechnen.« Wenn einer seiner entfernten Nachfolger im Amte, Josef Klaus, schrieb : »An dieser politischen Erzengelgestalt hatte auch Mephisto seinen Anteil«, so war das vielleicht nicht für den Priester, aber für den Politiker Seipel ein Kompliment.166 Dabei stand Seipel mit vielen der Priester, die in der Christlichsozialen Partei wichtige Funktionen bekleideten, wie z. B. dem volkstümlichen Vorarlberger Pater Karl Drexel oder dem oberösterreichischen Landeshauptmann Hauser, auf einem eher gespannten Fuß.167 Auch seine »Vorgesetzten« in den Reihen des österreichi-
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schen Episkopats behandelte er vielleicht nicht immer mit der schuldigen Verehrung. Intellektueller Hochmut war ihm nicht fremd. Doch vor allfälligen Querschüssen aus der Hierarchie bewahrte ihn die Verehrung von Papst Pius XI. (1922–39), der in ihm »einen Mann der Vorsehung« sah. Gegen Ende seines Lebens tauchte die Frage auf, ob Seipel nicht selbst als Krönung seiner Karriere Erzbischof von Wien werden solle ; doch dafür war er damals schon zu krank. Ein paar Jahre früher hatte er über die Kardinalswürde wegwerfend geäußert, der rote Hut würde ihn nur reizen, wenn er Kardinal-Staatssekretär werden könne – aber für diese Stelle würden bekanntlich nur Italiener in die engere Auswahl genommen.168 Vor allem aber : Seipel besaß seit den Tagen der Genfer Sanierung 1922 einen Abbildung 13 : Seipls klösterliche Unterkunft in Nimbus, aber er hatte keine Hausmacht, Wien nur eine eingeschworene Schar Wiener Trabanten, die Kienböck, Schmitz und Mataja, die genauso wenig über eine verfügten. Die Christlichsozialen waren in erster – und in zweiter Linie – eine Partei der Bauern ; von den 400.000–500.000 österreichischen Landwirten (je nachdem, ob man die Kleinhäusler unter 2 ha jetzt mitrechnete oder nicht) standen wohl an die drei Viertel in ihrem Lager, von den Bauersfrauen noch mehr. Bestenfalls an dritter Stelle kam ihr städtisch-bürgerlicher Anhang. Bezeichnend war das Glücksgefühl im Klub, den »Studierten« der anderen Lager gerade auf dem weltanschaulich heiklen Sektor Schule mit Miklas einen echten (weltlichen) Akademiker entgegenstellen zu können.169 Denn die Beamten und die Wirtschaft, ja auch die sprichwörtlichen »Greißler« außerhalb Wiens, standen mehrheitlich im großdeutschen Lager, das in der Zwischenkriegszeit – mit wenigen Ausnahmen – immer noch die Handelskammerpräsidenten stellte. Als agrarischer Interessenvertreter aber machte der Prälat keine überzeugende Figur, von seiner ethischen Bindung an das Eigentum einmal abgesehen. Sein abgeklärter Weitblick, der über viele der hitzig diskutierten Fragen der Tagespolitik erhaben war, machte ihn in dieser Beziehung vielfach zum unsicheren Kantonisten. Ganz zum Unterschied von einem Verbandsfunktionär wie Dollfuß, der kurz vor
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Seipels Tod sein Amt antrat, war das Netzwerk der ländlichen Genossenschaften, der Raiffeisenkassen und der Viehmärkte nicht seine Welt. Den oberösterreichischen Bauernkaplänen schrieb er bei Gelegenheit ins Stammbuch : Die Bauern wollten eben nicht durch ihresgleichen, sondern durch Herren vertreten sein (was die Adressaten nicht freute). Der niederösterreichische »Bauernbündler« formulierte zu seinem Abschied als Parteiobmann 1930 holprig und zwiespältig : »Alle, die meinen, daß wir uns von der Führung dieses überragenden Staatsmannes und integren Charakters lossagen würden, täuschen sich. Eine sich ihm unschön aufdringliche [sic !] Umgebung haben wir allerdings ernst bekriegt.«170 Von den Landesparteien und Landesfürsten teilten die Steirer, am entgegengesetzten Ende der »roten Republik« angesiedelt, die von Wien bis Judenburg reichte, am ehesten seine Einschätzung von der Notwendigkeit einer antimarxistischen Front, von einem Bürgerblock, der über die Fronten des Kulturkampfes großzügig hinwegsah, auch wenn die Christlichsozialen inzwischen – zum Unterschied von der Monarchie – die stärkeren Bataillone stellten. Doch leider zählte gerade Rintelen, König Anton oder Anatol, wie er genannt wurde, zu den Rivalen Seipels, weil er nur zu gerne selbst Kanzler geworden wäre. Von den friedfertigen Konservativen in Oberösterreich und Salzburg, die auf Konsens setzten und für riskante Experimente nichts übrig hatten, war keine Unterstützung zu erwarten. Beobachter sprachen schon bald von einem »Hauser-« und einem »Seipel-Kurs«. Bereits 1929 lehnte Aigner als Obmann des Katholischen Volksvereins in Oberösterreich jede Verantwortung für den Seipel-Kurs ab, »der sich auf das schwerste gegen unsere Weltanschauung auswirken wird«.171 Der Hinweis auf die »Weltanschauung« ist wichtig : Die altkonservativen Klerikalen am Lande waren nicht gerade prädestiniert, den linken Flügel der Kanzlerpartei abzugeben. Aber sie waren konsequent in ihren Rundumschlägen : Die freisinnigen Beamten und Fabrikanten, die Seipel umwarb, waren für sie ein mindestens so großes Feindbild wie die gottlosen Sozialdemokraten. Als Seipel 1930 die Obmannschaft niederlegte, widmete ihm das »Linzer Volksblatt« einen Nachruf, der – zum Unterschied von den Niederösterreichern – Respekt mit offener Gegnerschaft begleitete. Die Haltung der Niederösterreicher war ambivalent und schwer zu entschlüsseln. Ihre Haltung erinnerte vielfach an den Spruch Franz Josef Straußʼ, es sei ihm gleichgültig, wer unter ihm Kanzler sei. Niederösterreich war das größte Land, und doch in vielen Belangen immer noch an Wien gekettet wie ein siamesischer Zwilling. Der niederösterreichische Bauernbund mit seinen 100.000 Mitgliedern rangierte weit vor den Steirern mit ihren 50.000 oder den Oberösterreichern mit ihren 30.000 Gefolgsleuten.172 Als Rammbock für Länderinteressen eigneten sich die Niederösterreicher dennoch nicht. In den komplexen Schlingen des Finanzausgleichs stand Niederösterreich vielmehr zwischen Wien und den Ländern, erlag immer wieder der Versuchung, seine Interessen durch einen Pakt mit dem roten Wien abzusichern.
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Renner zitierte 1929 den Bauernbund-Obmann Reither, es sei die Schuld der Wiener, dass Niederösterreich »in die Front der Länder abgedrängt worden sei« ; am besten wäre eine Wiedervereinigung.173 Der erste Landeshauptmann nach der Trennung von Wien, der Weinbauer Johann Mayer, wurde bald aufs Altenteil gedrängt ; seine Nachfolge übernahm für fast ein Jahrzehnt Karl Buresch. Als eigentlicher starker Mann galt eine Zeit lang der Kammerpräsident, Landeshauptmannstellvertreter und Klubobmann Josef Zwetzbacher, ein wohlhabender Mühlenbesitzer, mit einer »Napoleonfigur, klein, untersetzt und heiter bis zum Übermut«, von dem es hieß, er habe den Landtagsklub wie ein »Diktator« beherrscht. 1922/23 schloss Josef Zwetzbacher mit dem Sozialdemokraten Helmer einen Kompromiss über den Aufbau der Landwirtschaftskammern – und erklärte ihn über die Köpfe der anderen Länder hinweg für ganz Österreich verbindlich. Im Jänner 1925 wurde Zwetzbacher dann von Seipel wegen finanzieller Verfehlungen im Zusammenhang mit der Bauernbank angeblich in einer untypischen Blitzaktion binnen zwei Stunden zum Rücktritt gezwungen. (Der »Bauernbündler« dementierte diese Meldung umgehend, doch Czermak bestätigt das Gerücht in seinen Memoirenfragmenten.)174 Auch bei den bäuerlichen Anliegen machten sich die Niederösterreicher durch ihre Sonderinteressen unbeliebt : Das Engagement der Niederösterreicher für Weizen, Wein und Zucker stieß nur im Burgenland auf Resonanz, während die Alpenländer mehr an billigen Futtermitteln für ihr Vieh interessiert waren. Auf den Landwirtschaftsminister mussten die Niederösterreicher deshalb 1926 verzichten, auch in der Präsidentenkonferenz der Landwirtschaftskammern wehte ihnen so mancher rauhe Gegenwind entgegen. 1930 führten die Niederösterreicher einen Kleinkrieg gegen ihren oberösterreichischen Parteifreund Födermayr als Landwirtschaftsminister und blockierten die Pläne der alpinen Futtermittelverwerter für ein Getreidemonopol, das bei ihnen bloß Erinnerungen an »die ärgsten Kriegszentralen« weckte. Bauernbundchef Josef Reither, so einer seiner Mitarbeiter, sei einfach ein »Subventionsmensch« gewesen ; erst Dollfuß, sein Kammerdirektor, angeblich der einzige Akademiker, den er je tolerierte, vermochte mit neuen Ideen zu punkten.175 Prinzipielle Übereinstimmung mit Seipels Kurs kam aus Tirol, meist auch aus Kärnten – nicht zufällig aus den Ländern, wo die Christlichsozialen schon vor 1907 Fuß gefasst hatten ; in Wien harmonierte Seipel im Laufe der Zeit immer weniger mit Kunschak, den er Ende der 1920er-Jahre völlig abschrieb. Er und sein Vorgänger betrachteten einander gegenseitig als Totengräber der Partei. Seipels Jünger Kienböck und Schmitz waren zwar ebenfalls in Wien beheimatet, auch Vaugoin, der schon einmal wegen seiner Eigenschaft als Heeresminister als »Falke« galt, lebte in Hietzing. Doch aus den paar »Döblinger Regimentern«, die sich um sie scharten, um es in der anachronistischen Ausdrucksweise der Zweiten Republik zu sagen, ließ sich kein Massenheer formen, das als Hausmacht dienen konnte. Was Seipel in Wien
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und Umgebung, im niederösterreichischen Industrieviertel, im Wiener Bankviertel gelang, war etwas, was Ökonomen vielleicht mit »leverage« bezeichnet hätten. Der Prälat stellte die Verbindung her zwischen dem alten Establishment, das politisch nicht die Zehe eines Abgeordneten wert war und sich in der neuen Zeit ziemlich verlassen vorkam, und den bäuerlichen Massen, die zwar Macht verkörperten, aber bisher ohne Rückhalt im Establishment gewesen waren. Er punktete bei den einen mit dem Rückhalt bei den anderen, ohne sich des einen oder des anderen wirklich jemals völlig sicher sein zu können. Dieses Spiel mit mehreren Bällen war ein gelungener politischer Drahtseilakt. Ein Beobachter notierte das Paradoxon : »Der Kanzler hat keine rechte Unterstützung bei seiner Partei, aber manchmal kommt mir vor, daß vielleicht gerade darin seine Stärke liegt.«176 Der Erfolg wurde ihm erleichtert durch das Misstrauen, das zwischen den Ländern bzw. zwischen den Landesfürsten herrschte. Zumal der Steirer Rintelen erwies sich als die Kraft, die stets das Böse will und doch das Gute schafft. Der deutsche Konsul in Graz formulierte es einmal folgendermaßen : »Seine unleugbare hohe Begabung« werde leider »durch starke Nervosität und Unstetigkeit« wettgemacht.177 Kaum jemand wollte Seipel stürzen, um »Anatol« den Weg auf den Ballhausplatz freizuschießen. Die gemeinsame Länderfronde gegen Seipel kam niemals zustande, allenfalls die Länderfronde gegen seinen getreuen Eckart, den Finanzminister Viktor Kienböck, sobald dessen rigoroser Sparkurs die Interessen seiner Parteifreunde über Gebühr in Mitleidenschaft zu ziehen drohte. Zweimal zog Seipel in solchen Fällen die Notbremse, überließ die Geschäfte einer Länderregierung und sah zu, wie ihr föderalistischer Schwung an den Sachzwängen scheiterte. Doch kluges Divide et Impera allein vermag die Dominanz des Prälaten über seine störrischen Bauerngeneräle und Länderfürsten nicht komplett zu erklären. Es spricht für Seipel, dass er dieses Spiel über Jahre hinweg virtuos durchhielt : Es spricht aber auch für die Christlichsoziale Partei, vielleicht sogar für eine spezielle Note christlicher Gottergebenheit, dass sie sich der Führung des Prälaten weiterhin anvertraute, auch wenn sie seinen Wegen nicht immer zu folgen vermochte. So machte der Vorarlberger Finanzminister Mittelberger vor seinem Rücktritt 1929 aus seinem Herzen keine Mördergrube und schrieb Brandbriefe an Parteifreunde, die Seipels Strategie der Kooperation mit den Heimwehren in einer Art von HurraPatriotismus befürworteten, gab aber in einem nachdenklichen Schreiben an Ender zugleich zu Protokoll : »Ich habe aber den Glauben, daß man Seipel die Macht geben soll.« Nachsatz : Eine Weltanschauungspartei kann nicht ganz zugrunde gehen. Selbst im Falle einer Katastrophe würde »aus den Trümmern vielleicht eine viel kleinere, aber auch reine Partei herauswachsen«.178 Fazit : Die innerparteiliche Auseinandersetzung zwischen der alt-christlichsozialen Anhängerschaft Seipels einerseits, den föderalistischen katholischen Volksparteien in
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Oberösterreich, Salzburg und – mit gewissen Einschränkungen – Vorarlberg andererseits, gewann gegen Ende der Zwanzigerjahre immer schärfere Konturen. Diese Polarisierung wurde jedoch relativiert und bis zu einem gewissen Grad entschärft, weil sich die beiden – was die christlichsoziale Partei betrifft – Länder mit dem größten Stimmenreservoir, Niederösterreich und die Steiermark, in diese Polarisierung nur schwer einordnen lassen. In den Vordergrund schoben sich dabei zwar immer wieder Rintelen und die Steirer, die prinzipiell mit Seipels Strategie übereinstimmten, aber zerstritten waren und erratisch agierten ; die Niederösterreicher standen vielfach der Länderfronde näher, waren aber durch diverse Interessensgegensätze von ihnen getrennt und konnten es sich leisten, im Bewusstsein der eigenen Stärke im Hintergrund zu agieren. Das Ende des Kulturkampfs ? Literarische Indizien Als »Weltanschauungspartei«, so hatte selbst Mittelberger angedeutet, hätten die Christlichsozialen schlechte Karten, wären sie »reiner, aber klein«. Vielleicht nicht in Vorarlberg, wo die Arbeiter ihr Gärtchen besaßen und »schwarz« wählten, aber in »Innerösterreich«. Die Partei stand von Anfang an einer potenziellen antiklerikalen Mehrheit gegenüber, die bloß neutralisiert wurde, solange der Klassenkampf den Kulturkampf in den Hintergrund drängte, auch das ein Motiv, das für die bürgerliche Sammlungspolitik Seipels sprach. Freilich, der Kulturkampf wurde nicht bloß politisch auf Eis gelegt, es scheint, er wurde im Hintergrund auch auf dem Gebiet bis zu einem gewissen Grad relativiert, das ihm seinen Namen gegeben hat – der Kultur. Wilhelm Ellenbogen hat in seinen Memoiren – nicht zuletzt mit Bezug auf Wagner – den beherzigenswerten Satz geschrieben : Die »Bewertung von Kunstwerken vom politischen Gesichtspunkt ist ein Widersinn«. Um eine Bewertung, weder eine künstlerische noch eine moralische, soll es auch gar nicht gehen, auch nicht um den Versuch einer feinsäuberlichen Aufteilung der Szene auf die politischen Lager. Paula Grogger hat später einmal kopfschüttelnd gesagt, die »Kunstbeflissenen lebten damals auf einer anderen Ebene«, wenn sie nicht gerade spekuliert hätten oder von der Umwelt angerempelt wurden.179 Nun gab es zweifellos auch zwischen 1918 und 1938 Schriftsteller, die hinreichend »punziert« waren : So hinterließ – um nur die von Literaturgeschichte besonders geschätzten Autoren zu nennen – Jura Soyfer, der 1934 von den Sozialdemokraten zu den Kommunisten wechselte, ein höchst aktuelles Romanfragment mit dem Titel : »So starb eine Partei.« Josef Weinheber, dessen Lyrik von Claudio Magris als »eine der höchsten sprachlichen Errungenschaften des 20. Jahrhunderts« gerühmt wird, trat 1931 der NSDAP bei und bekleidete sogar eine Zeit lang irgendwelche Funktionen im Apparat. Auch unter den Kleinmeistern und den Kommerzschriftstellern, die in ihrer Zeit große Auflagen erzielten, gab es genügend Exemplare von »Arbeiterdichtern« und »nationalen Barden«. Vielleicht
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mehr aufgrund seiner Ehe mit der Enkelin Franz Josephs als durch seine Werke bekannt war der Sozialdemokrat Alfons Petzold ; Mirko Jelusich will seinen CromwellRoman 1933 als »kaum verhüllte Biographie des Führers« angelegt haben. (Wenn es schon ein Schlüsselroman war, so mochte man sich fragen, wem dann die Frauenrollen zuzuordnen waren ?)180 Schon dieser kursorische erste Blick lässt eine Frage offen : Wo blieben die Pflichtverteidiger der Regierungspartei Nr. 1 auf dem literarischen Parkett, die Bannerträger der Christlichsozialen ? Die Antwort müsste schlicht lauten : Es gab sie nicht. Die »Reichspost« oder das »Linzer Volksblatt« druckten zwar auch Fortsetzungsromane ab, aber die »Schwarzen« verfügten über keine Paladine mit vergleichbarer Ausstrahlung. Der Zeitgeist stand rechts, zweifelsohne. Aber es gab kaum prominente Schriftsteller, die sich politisch so eindeutig dem Lager des politischen Katholizismus zuordnen ließen, wie das »jenseits der Barrikaden« für Soyfer oder Weinheber, Petzold und Jelusich galt. Das Bürgertum, insbesondere das Bildungsbürgertum, war in antiklerikalen Traditionen aufgewachsen. Eine Ausnahme machten als pronociert katholische Schriftsteller bloß Konvertiten, wie Hermann Bahr und Hugo v. Hofmannsthal, ein Schönerianer der Frühzeit der eine, aus einer jüdischen Bankiersfamilie stammend der andere. Was es hingegen gab, war eine katholisch-nationale Konvergenz. Janek Wasser mann hat in seinem Buch »Black Vienna«, das viele Fehler im Detail mit einer plausiblen These verbindet, auf dieses Phänomen hingewiesen, früher schon Albert Berger mit Bezug auf die kulturelle Szenerie des Ständestaates von »der osmotischen Durchdringung der verschiedenen konservativen Lager« gesprochen. Die politischen Lager – mit ihrer Vereinskultur und ihren Studentenverbindungen – stellten ein großes Beharrungsvermögen unter Beweis, all den Wendehälsen zum Trotz, die nach 1918, 1933 oder 1938 den Anschluss an die neuen Machthaber nicht versäumen wollten. Doch auf der literarischen Ebene spielte sich ein Prozess ab, der über gängigen politischen Opportunismus wohl weit hinausreicht. Der Kultur kampf wurde in der Zwischenkriegszeit von einem großen Teil des bürgerlichen Publikums nicht bloß deshalb ad acta gelegt, weil die Sozialdemokratie ihn für sich beanspruchte. Schon der Weltkrieg hatte eine gewisse Synthese gefördert : »Die Erfahrung von Verlusten als Ursprung der Offenheit für das Religiöse.« Heinrich Drimmel hat die Szene überliefert, wie auf dem »Bummel« der Fronturlauber im Frühjahr 1918 ein Mitglied der schlagenden Burschenschaft »Teutonia« auf die CV-er von der »Norica« zukam und versprach, mit den alten Ausgrenzungsversuchen der Vorkriegszeit aufzuhören, jetzt, wo man einander in den Schützengräben kennen- und schätzen gelernt habe. Dieser Aussöhnung war keine allzu lange Dauer beschieden – die Dreißigerjahre bewiesen es. Aber die Kirche scheint in einem seltsamen dialektischen Prozess an Anwert gewonnen zu haben, in dem Maße, wie sie an Macht,
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Sicherheit, ja selbst Mitgliedern verlor. Das Thema Glaube und Kirche nahm einen großen Stellenwert ein, auch und gerade bei Autoren, die sich nicht als katholische Schriftsteller verstanden.181 Um nur einige Beispiele zu nennen : Max Mell unterschrieb 1930 für den Schoberblock und war 1936 Präsident des Bundes deutscher Schriftsteller, aber sein bekanntestes Werk war das »Apostelspiel«. Im Dritten Reich zeigte man prompt Unverständnis, »daß einer religiöse Spiele schreibt«. Paula Grogger war wohl wirklich keine Person, die sich viel mit der Tagespolitik beschäftigte. Ihr Bekenntnis sei »unpolitisch, aber anständig zur Staatsautorität trotz allem !«. Diese Haltung, so vermerkte sie dankbar, habe ihr »den Schutz und die nobelste Haltung von BK Dr. v. Schuschnigg sowie im Nat.Soz. die ebensolche Protektion von Hess eingetragen« – eine Tatsache, die »ich auch zu meinem Schaden niemals verschweige«. Aber als Enkelin eines »Achtundvierzigers« und Tochter eines »Illegalen« war sie im System der politischen Lager doch recht gut zu verorten. Doch ihre Religiosität war suspekt, genauso wie die »Mohrenlegende« von Gertrud Fussenegger, die als Studentin in Innsbruck wegen Teilnahme an einer NS-Demonstrationen perlustriert worden war, als »katholisches Machwerk« galt. Othmar Spann, seine Schüler und seine Söhne verfügten über diverse Querverbindungen zur NS-Bewegung, vor allem unter der Studentenschaft, aber 1938 warnte er vor den »heidnischen Narren« Hitler und Rosenberg. Schuschnigg erwähnte ihn ausdrücklich als einen der Nationalen, die es ehrlich meinten mit der Aussöhnung mit dem Ständestaat.182 Üblicherweise wird mit Aufdeckermiene die zeitweilige Nähe all dieser Geistesgrößen zum Nationalsozialismus als das Bemerkenswert-Skandalöse ausgeschildert. Doch gerade dieser Aspekt erscheint nahezu überdeterminiert : Die meisten Bürgerlichen, die weder den Vorwurf der jüdischen Abstammung zu fürchten hatten noch durch eine feste Verwurzelung im katholischen Myzel bis zu einem gewissen Grad immunisiert waren, liebäugelten zumindest zu dem einen oder anderen Zeitpunkt mit dieser Alternative. Viel auffälliger noch als die oft zitierten »Brückenbauer« aus dem katholischen Bereich waren all diese Intellektuellen aus einem ursprünglich freisinnigen Milieu, die in politischer Beziehung mit dem mainstream drifteten, aber ein tätiges Interesse an der katholischen Welt bekundeten, das eine Generation früher noch höchst absonderlich gewirkt hätte. Man mag da persönliche Prägungen anführen (z. B. Fusseneggers Schulzeit in Vorarlberg, die mit dem ganz anders gearteten Milieu Pilsens kontrastierte183), aber die Offenheit so vieler der aus dem national-freisinnigen Lager stammenden Autoren für das Katholische scheint über individuelle Marotten bei Weitem hinauszugehen. Die Deutschnationalen der Zwischenkriegszeit waren bekannt für ihre Paranoia in puncto Legitimismus, von Hitler ganz zu schweigen. Doch die Geschichtsschreibung war davon – bis auf Viktor Bibl – weitgehend frei. Die überragende Gestalt unter den Historikern der Zwischenkriegszeit, was Opus und Nimbus betrifft, Hein-
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rich v. Srbik, war selbst Burschenschafter gewesen, aber sein Hauptwerk in den Zwanzigerjahren bestand aus einer fulminanten Verteidigung Metternichs, dem immer wieder das Verbot der Burschenschaft vorgehalten worden war. Für ihn waren »die deutsche und die christliche Kultur untrennbar verbunden«. Er polemisierte daher – wie Spann – in den Dreißigerjahren mit Vorliebe gegen Rosenberg. Bruno Brehm – aus einer Familie schönerianischer Lokalpolitiker in Böhmen – reüssierte Anfang der Dreißigerjahre mit seiner Trilogie über den Verfall des Habsburgerreiches, die kein so unsympathisches Bild von Kaiser Karl zeichnet. Egon Cesar Conte Corti, dessen Name sich in den Dreißigerjahren ebenfalls auf allen einschlägigen Listen findet, z. B. im Proponentenkomitee des Deutsch-Sozialen Volksbundes 1937, war nicht bloß der mit Abstand emsigste Quellenforscher, was die jüngere habsburgische Vergangenheit betrifft, sein Bild von Franz Joseph und seinem Umfeld hätte jedem Höfling zur Ehre gereicht. Die katholisch-nationale Konvergenz war das eine, die jüdisch-legitimistische Konversion das andere politisch-literarische Phänomen der Zwischenkriegszeit, gegenläufig und doch komplementär. Die Dreißigerjahre lösten eine Gegenbewegung aus bei den Autoren, die eine Revolution früher ihr Herz für die Linke entdeckt hatten. Franz Werfel und Joseph Roth waren die bekanntesten Beispiele für jüdische Autoren, die sich 1918/19 im Sinne des Zeitgeistes zumindest am Rande in linksradikalen Zirkeln engagiert hatten, ab 1933 dann ins entgegengesetzte Extrem verfielen und dem »habsburgischen Mythos« huldigten, denn als rechtsextrem galten zuallererst die Legitimisten. (Werfels Frau Alma Mahler war daneben noch ein bekennender Rintelen-Fan.)184 Dieser Eifer der jüdischen Konvertiten hob sich von der kühlen Distanz ab, mit der Vertreter der beati possidentes auf die Monarchie zurückblickten, wie Heimito v. Doderer oder der späte Arthur Schnitzler, denen nachgesagt wurde, sie hätten in ihren Werken den Weltkrieg nicht wirklich zur Kenntnis genommen, sondern implizit das Element der Kontinuität betont.185 Bis zu einem gewissen Grad ließe sich auch Karl Kraus hier einordnen, der freilich in gewisser Weise in den Dreißigerjahren nur an seinen Ausgangspunkt zurückkehrte. Der Dauerpolemiker hatte sich vor 1914 – im Zuge seiner Fehde gegen das bürgerliche Mittelmaß – selbst als Rechtsradikaler bezeichnet ; er hielt 1934 dann auch Dollfuß und Starhemberg die Daumen, aus Aversion gegen Hitler, zweifelsohne, aber wohl auch aus Ressentiment gegen die Sozialdemokratie, die sich von dem »intellektuellen Despoten« nichts sagen ließ. Viktor Adler hatte schon vor dem Krieg geschworen, er werde sich »nicht von diesem politischen Analphabeten meine Kreise stören lassen«.186 Kraus erinnert mit seinen Rundumschlägen, die sich gegen alle richteten und damit kaum jemand trafen, an Thomas Bernhard. Aber er hatte seine renitente Fangemeinde innerhalb der Sozialdemokratie, auch als der Organisation bereits Mitte der Zwanzigerjahre »unter der Hand« mitgeteilt wurde, dass sie Vorlesungen von Karl Kraus besser nicht mehr veranstalten solle.187
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Die Christlichsozialen standen für das katholische, das bewusst katholische Öster reich. Es soll hier nicht die Debatte über die Vor- und Nachteile wieder aufgenommen werden, die ein solches Naheverhältnis zwischen der Kirche mit ihrem universalen Anspruch und einem bestimmten politischen Lager zwangsläufig mit sich brachte. Der Wegfall der kaiserlichen Autorität ließ die Kirche nach 1918 eine Zeit lang viel mehr auf die Partei und den »Verbandskatholizismus« angewiesen sein als zuvor. Doch dieser Schulterschluss war ein Österreich-spezifisches Phänomen. Die Politik des Vatikan bewegte sich schon in den Zwanzigerjahren in eine ganz andere Richtung, weg von den katholischen Parteien und hin zur Katholischen Aktion, weg von den »Klerikalen« und hin zum Klerus. Das geistige Klima der Zwischenkriegszeit – mit seinen kuriosen Annäherungen an die Kirche, aus verschiedenen Richtungen – kam dieser Entwicklung entgegen, nicht immer die politische Praxis. Doch gerade Seipel war jemand, der – mit seiner Skepsis gegen Parteien und Verbände, mit seinen Netzwerken auch in ganz anderen Milieus – diese Entwicklung vorwegnahm und vorantrieb, nicht zur Freude der Katholischen Volksparteien, aber in prästabilierter Harmonie mit der Kurie.
3. Das dreigeteilte »dritte Lager« Das Bürgertum : Beamte und Industrie Der Zerfall Österreich-Ungarns machte aus den deutschnationalen Parteien, die im alten Reichsrat als »Nationalverband der deutschfreiheitlichen Abgeordneten« noch die stärkste Fraktion gestellt hatten, das »dritte Lager«, das von der Größenordnung her weit hinter Sozialdemokraten und Christlichsozialen rangierte. Hier machte sich – weit stärker noch als bei den Sozialdemokraten – der Verlust der Sudetengebiete bemerkbar : 1911 hatte der Nationalverband in Deutschböhmen 40 %, in Mähren sogar 55 % der Stimmen erzielt, im späteren Deutsch-Österreich nur 18 %. Dieser Prozentsatz hatte sich 1919/20 sogar noch leicht erhöht, auf knapp über 20 %. Diese vorübergehenden Gewinne konnten freilich nur ein geringes Trostpflaster darstellen angesichts des massiven Bedeutungsverlust des bisherigen »ersten Lagers«. Ab den Achtziger- und Neunzigerjahren war den katholischen Konservativen mit der »schärferen Tonart« der Christlichsozialen ein Konkurrent und Verbündeter entstanden ; ähnlich verhielt es sich mit den »Altliberalen« und den Deutschnationalen, mit dem einen Unterschied vielleicht, dass sich diese Entwicklung infolge der größeren Spannbreite zwischen Alpen- und Sudetendeutschen, dort wieder zwischen dem »geschlossenen Sprachgebiet« und den »Sprachinsulanern« noch viel komplizierter darstellte, mit einer großen Zahl von regionalen Besonderheiten und Mischformen. Spätestens mit der Einführung des allgemeinen und gleichen Wahlrechtes
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1906/07 machte sich dann auf beiden Seiten das Bedürfnis nach einer Bündelung der Kräfte geltend, nach einem parlamentarischen Dachverband : So entstand auf der einen Seite 1907 die »Christlichsoziale Reichspartei«, auf der anderen Seite 1908/10 der »Nationalverband der deutschfreiheitlichen Abgeordneten«. Der Name allein schon enthüllt eine Besonderheit des »dritten Lagers«, das keine so klaren weltanschaulichen Konturen aufwies wie seine Konkurrenten. Das dritte Lager verwies gerne auf den »internationalen« Charakter von Sozialisten und »ultra montenen« Katholiken. Man leitete daraus die Berechtigung ab, sich als die einzig berufene Vertreterin nationaler Interessen aufzuspielen. Aber ihren deutschen Charakter wollten sich Christlichsoziale und Sozialdemokraten nicht absprechen lassen. Erst nach 1945 entwickelte sich diese Bruchlinie eine Zeit lang zu einem konstitutiven Merkmal des dritten Lagers. Das Adjektiv »freiheitlich« war an die Stelle des verpönten Vokabels »liberal« getreten, das von allen drei Lagern ebenso abgelehnt wurde, wie man sich heute wiederum angelegentlich darum bemüht. Das alte Österreich bestand aus Parteien, die sich vom Liberalismus distanzierten, in einer unübersichtlichen Gemengelage dafür dennoch jedes Versatzstücke seines Erbes tradierten : So waren die Schönerianer zwar Antisemiten, aber als Fundamentalopposition sehr an Versammlungs- und Pressefreiheit interessiert ; die Altliberalen hielten am ehesten am Vokabel »liberal« fest, waren dafür aber – zum Unterschied von ihren preußischen oder britischen Gesinnungsgenossen – zumeist überzeugte Protektionisten und Anhänger des Schutzzolls. Was alle »Freiheitlichen« jedoch ohne Unterschied ihrer Affinität zum Liberalismus einte, war ein negativer Befund : ihr Antiklerikalismus, ihre Ablehnung des politischen Katholizismus, der »Kulturkampf«, der sich weit über die aktuellen Streitfragen von konfessioneller Schule oder Eherecht hinaus zu einem für ihre Nachfahren nicht immer nachvollziehbaren parteibildenden Element entwickelt hatte. Doch mit dem Jahre 1918 waren beide Fronten, an denen der Nationalverband bisher gekämpft hatte, bis zu einem gewissen Grade gegenstandslos geworden : Bedurfte es in einem Staate, der zu 97 % deutsch war, noch einer deutschnationalen Partei, die sich der Verteidigung des »deutschen Besitzstandes« verschrieben hatte ? Johanna Kraft, die Tochter des Handelsministers, eine Historikerin, die mit ihren offenen Worten öfters Unmut auslöste, brachte es auf den Punkt : »Für nationale Innenpolitik ist in einem rein deutschen Staate wenig Gelegenheit vorhanden.«188 Allenfalls konnte man Zuflucht nehmen zur Außenpolitik, der – nicht sehr stichhaltigen – Behauptung, dass nur die Deutschnationalen wirklich den Anschluss wollten, den Anschluss ohne Wenn und Aber, um daraus eine Existenzberechtigung für eine nationale Partei abzuleiten. Doch auch die zweite tragende Säule ihres Selbstverständnisses, der »Kulturkampf«, war weitgehend auf Eis gelegt worden : Die Solidarität der Kriegsjahre, dann die gemeinsame Abwehrstellung gegen den »Austromarxismus«, der Bürgerblock unter der umsichtigen Leitung Ignaz Seipels, ließen – über den Postenschacher zwi-
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schen »Schlagenden« und CV-ern hinaus – zumindest vorerst keine publikumswirksamen freiheitlichen Aktivitäten in dieser Richtung gedeihen. Ein Antrag auf Reform des Eherechts war Anfang 1919 noch in der provisorischen Nationalversammlung knapp abgelehnt worden, weil die deutschnationalen Agrarier mit den Christlichsozialen stimmten – und fast die Hälfte der Sozialdemokraten daheim geblieben waren. Danach herrschte auf diesem Sektor fast ein Jahrzehnt lang Waffenstillstand.189 Was blieb für das »nationale Lager« und seinen politischen Arm, die Großdeutsche Volkspartei, demnach noch zu tun ? Die Antwort war offenkundig, wurde aber in den Tagen der »österreichischen Revolution« lange Zeit nur hinter vorgehaltener Hand kolportiert. Die Partei musste sich besinnen auf die Verteidigung des Besitzstandes – nicht mehr des »deutschen Volkes« in Österreich, sondern des freiheitlichen Bürgertums. Der Terminus freiheitliches Bürgertum galt vielerorts ohnehin als Pleonasmus. Bürgerliche waren bis auf kleine, scheel beäugte Minderheiten, per definitionem freiheitlich. Das Kurienwahlrecht der Vorkriegszeit liefert da recht eindeutige Ergebnisse. Vor 1918 wurden alle Landeshauptstädte unterschiedslos von Bürgermeistern regiert, die sich der Deutschen Volkspartei angeschlossen hatten. Nur in Wien hatten Christlichsoziale und »Judenliberale« für die Deutschnationalen schon seit der Jahrhundertwende kaum mehr Platz gelassen. Das Bürgertum tritt herkömmlichweise in zwei Varianten auf : Bildungsbürgertum und Bourgeoisie, oder wie es in Österreich gern pauschal heißt : die »Wirtschaft«.190 Beide Kategorien mussten einander selbstverständlich nicht ausschließen : Österreich hatte seine Schriftsteller und Gelehrten aus Unternehmerdynastien und Kapitalistenclans, von Wittgenstein bis Doderer ; selbst ein Studium war – allen Kontraindikationen zum Trotz – prinzipiell kein Hindernis für wirtschaftlichen Erfolg. Freiberufler, Ärzte und Anwälte, die Selbstständigenstatus mit akademischen Würden kombinierten, stellten noch lange eine Kernschicht des Lagers dar. In der Praxis freilich waren es zwei große Blöcke von Interessensvertretungen, welche die Großdeutsche Volkspartei der Zwischenkriegszeit dominierten : Beamte und Industrie. In Wien waren die Großdeutschen fast ausschließlich eine Partei der Beamten ; aus deren Reihen rekrutierten sich meist auch die Vertreter des nationalen Vereinsspektrums. Je weiter man nach Westen kam, desto mehr wurden die pragmatisierten »Wotansjünger« von industriellen Interessensvertretern abgelöst. So mutierte z. B. der spätere 3. Nationalratspräsdent Sepp Straffner vom schönerianischen Eisenbahner zum Syndikus des Tiroler Industriellenverbandes ; sein Kollege in Kärnten, Oberst Thomas Klimann, einst Hülgerths Stellvertreter im Abwehrkampf, war ebenfalls großdeutscher Abgeordneter ; der Präsident des oberösterreichischen Industriellenverbandes, Ludwig Hinterschweiger, verfehlte mehrmals nur knapp ein Mandat ; mit dem Grazer Viktor Wutte saß ein leibhaftiger Tycoon der Übergangszeit 1919/20 höchstpersönlich in der Nationalversammlung, bis er aufgrund von kontroversen Geschäftsverbindungen im März 1920 von der Partei zum Austritt genötigt wurde.191
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Die Gründung der Großdeutschen Volkspartei erfolgte erst knapp vor den Wahlen im Oktober 1920. In der Literatur ist oft zu lesen, nicht weniger als siebzehn Gruppen und Gruppierungen hätten sich damals vereinigt. Im Hintergrund stand die Vorstellung von der sprichwörtlichen Uneinigkeit des Lagers, wie sie schon in der Monarchie karikiert worden war : »Der eine saß, der andere stand, / der stimmte für, der andere wider, / das war der Nationalverband, / stimmt an das Lied der Lieder.« So schlimm war es um die Großdeutschen der Republik nicht bestellt. Die verschiedenen Gruppen, die sich in Salzburg vereinigten, waren fast alle Landesparteien, die schon vor dem Krieg in der »Deutschen Volkspartei« zusammengearbeitet hatten. Der letzte Obmann dieses Klubs, der fast alle deutschnationalen Abgeordneten der Alpenländer umfasste, war der Linzer Bürgermeister Franz Dinghofer, der daher auch als Präsident der provisorischen Nationalversammlung dazu ausersehen war, am 12. November von der Rampe des Parlaments aus zwar nicht »die Republik auszurufen«, wie es manchmal heißt, sondern den Beschluss über die republikanische Staatsform zu verlesen. Schwierigkeiten gab es im Vorfeld der Parteigründung fast ausschließlich in Wien und seiner Umgebung. In der Reichshaupt- und Residenzstadt hatte Lueger wenig Platz für eine deutschnationale Partei gelassen. Außerhalb seines Einzugsbereichs blieben da nur die Extreme übrig : Die unentwegten Schönerianer auf der einen Seite ; die Reste des jüdisch-liberalen Bürgertums auf der anderen Seite. Die Schönerianer hatten nach dem Ende der Monarchie eine Zeit lang Oberwasser. Zwar nahm sich ihr Heros (der 1921 starb) den Sturz des Hohenzollernreichs zu Herzen und zog sich in die innere Emigration zurück. Doch seine Anhänger beriefen sich darauf, recht behalten zu haben (so formulierte es für sie im November 1918 auch noch der spätere Christlichsoziale Gürtler) : Mit den Habsburgern sei einfach kein Staat zu machen. Der großdeutsche Nationalratsklub umfasste 1920 noch drei bis vier Schönerianer. Der Bohemien Friedrich Waneck verstarb frühzeitig ; die anderen wurden 1923 nicht mehr wiedergewählt. Straffner aber ließ die alldeutschen Eierschalen hinter sich und avancierte zum Elder Statesman. Nachhaltiger erwies sich der Einfluss der sogenannten Nationaldemokraten, einer Gruppe, die erst im Oktober 1918 gegründet worden war, 1919 auch noch den Einzug in die konstituierende Nationalversammlung knapp verfehlte, es aber durch emsige Arbeit schaffte, sich in Wien an die Spitze der Einigungsbestrebungen zu setzen. Die Nationaldemokraten fanden als erste den Draht zu den Länderparteien im Westen. Man überließ ihnen weitgehend die Ausarbeitung des Parteiprogramms, wenn sich im Gegenzug nur die mühsamen Wiener endlich in eine Gesamtpartei eingliederten. Viele der etablierten Abgeordneten in Wien und Umgebung waren durch eine allzu enge Bindungen an das ancien regime kompromittiert. Raphael Pacher als BeinaheMinister klagte : »Die Ereignisse haben den deutschradikalen Abgeordneten recht gegeben, nur der Ausgang des Weltkrieges hat den endlichen Erfolg verhindert.«192
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Abbildung 14 : Der »steirische Stinnes« : Der großdeutsche Großindustrielle Viktor Wutte
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Abbildung 15 : Franz Dinghofer, ein Jahrzehnt lang der eigentliche Chef der Großdeutschen
Die AZ veröffentlichte nach dem Umsturz mit Wonne die Subventionsverträge der kaiserlichen Regierung mit diversen deutschradikalen Herausgebern.193 Die Nationaldemokraten hingegen segelten scharf am Zeitgeist und legten stark nach links aus. Ihr Obmann Hermann Kandl gab zu, von den Sozialdemokraten trenne sie vielfach nur deren internationaler Charakter. Auch in der Organisatonsstruktur galten die Sozialdemokraten als Vorbild. An die Stelle der Honoratiorenparteien mit ihren lockeren Vereinsstrukturen sollte eine straff organisierte Mitgliederpartei treten : Tatsächlich waren gut ein Viertel der großdeutschen Wähler auch eingeschriebene Mitglieder, die bloß über die Beiträge seufzten, weil sie daneben meist auch noch einer Menge anderer Vereine angehörten. Der Nationalverband war ein Verband von Parlamentariern gewesen, die nach bestem Wissen und Gewissen, oder nach Lust und Laune abstimmten. Die Abgeordneten der neuen Partei sollten dagegen in Zukunft außerparlamentarischen Gremien gehorchen. Ähnliche Regeln finden sich häufig, fallen aber nicht weiter auf, weil Parteivorstand und Klubvorstand vielfach deckungsgleich sind. Das Spezifikum des großdeutschen Statuts war : Um die Kontrolle über den Klub zu gewährleisten, durfte maximal ein Drittel des Parteivorstands auch ein Mandat ausüben. Diese Form der Gewaltenteilung mochte auf dem Papier schlüssig aussehen, erwies sich in der Praxis aber als ein Quell endloser Reibereien. Im Laufe der Jahre wurde die Dominanz der Par-
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teigremien stillschweigend durch eine ganz andere Form der Arbeitsteilung ergänzt. Wer die entsprechenden Protokolle liest, gewinnt unweigerlich den Eindruck : Der Klubobmann, und das war bis 1926 Dinghofer, leitete die Politik ; die Parteiobmänner (Hermann Kandl, dann 1924–30 August v. Wotawa, auch er ein Exponent der Wiener Nationaldemokaten) nahmen die Funktion wahr, die heute Generalsekretäre ausüben, und beschäftigten sich mit der administrativen Routine des Parteiapparates. Bei aller zeitgeistigen Annäherung an diverse sozialdemokratische Programmpunkte, distanzierten sich die Nationaldemokraten dabei doch vehement vom Konzept des Klassenkampfes und setzten ihm das Ideal der Volksgemeinschaft entgegen, das souverän über alle Standesinteressen triumphieren sollte. Freilich, konnte eine Partei von lauter Idealisten leben, wenn sie auf jegliche Interessenspolitik verzichtete – oder verbarg sich dahinter nur die Lebenslüge einer Beamtenpartei, die sich schmeichelte, von einer höheren Warte aus unparteisch über den widerstreitenden Interessen der Tarifpartner zu schweben ? Die politisch relevante – und kontraproduktive – Ableitung aus dem Primat der Volksgemeinschaft war, dass die Nationaldemokraten eisern am Konzept einer nationalen Einheitspartei festhielten und keinerlei ständische Untergruppen und Sondervereinigungen dulden wollten, wie sie in der Zeit des Nationalverbands gang und gäbe gewesen waren. Mit dieser Unduldsamkeit vertrieben sie große Gruppen, wie z. B. die Agrarier : Wer sich nicht innerhalb der Partei organisieren durfte, tat es außerhalb. Bauern und Arbeiter : Landbund und NSDAP Nun mag die Kombination von Beamten und Wirtschaft an die Bündestruktur der ÖVP erinnern, als Nachfolgerin zwar nicht im ideologischen Sinne, aber als bürgerliche Sammelpartei. Freilich : Die ÖVP besteht daneben auch noch aus dem Bauernbund, der nach 1945 in seinem Einzugsbereich – bis auf Kärnten – nahezu eine Monopolstellung errungen hat. In der Zwischenkriegszeit gab es auf diesem Sektor noch eine nennenswerte Konkurrenz : Zwar beherrschten in Tirol und Niederösterreich die »Schwarzen« das bäuerliche Milieu damals schon nahezu unumschränkt ; doch in Kärnten und der Steiermark katapultierten die Wahlen »Landbündler« an die Spitze der Landwirtschaftskammern. Im Burgenland, in Oberösterreich und Salzburg stellten sie einflussreiche Minderheiten, mit einer starken Verankerung gerade im Bereich des Genossenschaftswesens : So wurde z. B. die Schärdinger Teebutterzentrale bis in die späten Dreißigerjahre von einem Landbündler geleitet ; im Ennstal leitete Franz Thoma, auf den kein Regime verzichten konnte, diverse Rinderzucht- und Molkereiverbände. Er wurde in den Fünfzigerjahren von Raab und der ÖVP dann als Landwirtschaftsminister kooptiert. Die ländlichen Abgeordneten waren vor dem Krieg im Rahmen des Nationalverbandes in der »Deutschen Agrarpartei« organisiert gewesen, die sich in wirtschaft-
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Abbildung 16 : Hochburgen des Landbund 1927
lichen Fragen freie Hand ausbedungen hatte. Die Agrarpartei umfasste auch die meisten Kärntner und den einen oder anderen steirischen Abgeordneten. Doch als nach dem Krieg die Großdeutsche Volkspartei gegründet wurde, scherten gerade die Steirer aus und gründeten unter der Führung des Grazer Verlegers Leopold Stocker ihre eigene Partei, exklusiv für das Landvolk, zunächst »Deutschösterreichische Bauernpartei« genannt, dann »Landbund für Österreich«. Die Kontroversen über Bewirtschaftung und Markt, Freihandel oder Schutzzoll, bedeuteten für eine national-freiheitliche Einheitspartei mit ihrem städtischen Hintergrund eine Hypothek. Der Landbund versprach sich da von einem Alleingang mehr Erfolg. Er konnte auf diese Weise selbst gegenüber den Christlichsozialen mit dem Argument auffahren, er sei als einzige Partei nicht den Konsumenteninteressen verpflichtet. Das Verhältniswahlrecht ließ die freiheitlichen Bauernvereine jetzt auch in der Diaspora zur Geltung kommen : Im Innviertel oder im protestantischen Südburgenland entwickelten sich neue Hochburgen des Landbundes. Der Landbund war nicht »klerikal«, aber auch nicht »kulturkämpferisch« ; viele seiner Vertreter betrachteten die Verbindung mit dem städtischen »Freisinn« als schädlich. Der Landbund sah sich natürlich als nationale Partei, aber, wie sein Vizekanzler Hartleb bei Gelegenheit einmal den Großdeutschen erklärte : Man hätte »seit 1919 die Überzeugung gewonnen, daß wir der nationalen Sache mehr dienen, wenn wir allein gehen.« Denn : »Unser Arbeitsgebiet liegt nicht in den Märkten, sondern viel mehr in jenen Gebie-
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ten, die fernab von den Verbindungsmitteln liegen, wo es keine Turnvereine gibt, wo die Bevölkerung abseits von der nationalen Bewegung steht.«194 Der Landbund begann als verlorener Sohn der Großdeutschen, als Spaltpilz, der bald wieder zur Räson gebracht werden sollte ; doch binnen weniger Jahre hatte auch der oberösterreichische Bauernverein, der ursprünglich bei den Großdeutschen verblieben war, sich dem Landbund unterstellt. Obmann des Landbundes war bis 1932 der Kärntner Vinzenz Schumy, 1924–27 auch Landeshauptmann ; das Kärntner Grundmandat garantierte langfristig das Überleben der Partei, während die Großdeutschen zunehmend um den Einzug in den Nationalrat zittern mussten. Die Bauern bildeten im Rahmen des nationalen Lagers nach landläufiger Ansicht den rechten Flügel, auch wenn das Unterscheidungsmerkmal in erster Linie ein ständisches, kein ideologisches war. Sein Klubobmann Ernst Schönbauer – die Gegner höhnten : ein »schöner Bauer«, weil er im Zivilberuf nicht Landwirt, sondern Professor für Römisches Recht war – bezeichnete die Partei deshalb einmal als »national-konservativ« (was allerdings nicht unwidersprochen blieb). Den linken Flügel des Lagers bildeten die nationalen Gewerkschaften. Als ihr politischer Arm fungierte seit 1903/04 die »Deutsche Arbeiterpartei« (DAP), die sich im Frühjahr 1918 dann in »Nationalsozialisten« umbenannte. Die DAP nahm zwischen den Sozialdemokraten und den bürgerlichen Parteien eine Mittelstellung ein. Ihr Wirtschaftsprogramm war ein weitgehend sozialistisches : Gefordert wurden unter anderem die Verstaatlichung von Banken, Bahnen und Bergwerken. Im Reichsrat war die DAP bloß deshalb mit drei Abgeordneten vertreten gewesen, weil die bürgerlichen Parteien ihr großzügigerweise ein paar Kampfmandate überlassen hatten. Dem Nationalverband trat die DAP einmal bei, dann wieder aus.195 Die nationalen Gewerkschaften waren unter den Industriearbeitern genauso wenig konkurrenzfähig wie ihre christlichen Mitbewerber. Sie verdankten ihre Anhängerschaft den Bereichen, wo im Vielvölkerstaat deutsche Arbeitnehmer der Konkurrenz von tschechischen Kollegen ausgesetzt waren. Die Sozialdemokraten wurden nicht müde zu betonen, dass es doch in der Regel die deutschnationalen Fabrikanten waren, die slawische (oder in Vorarlberg : italienische) Arbeiter anwarben, um die Löhne zu drücken. Doch, wie gesagt, um Fabriken handelte es sich dabei in der Regel nicht, sondern um den Dienstleistungssektor (hier war der Deutschnationale Handlungsgehilfenverband tätig), zumal den öffentlichen Dienst, die Postverwaltung und die verstaatlichten Eisenbahnen. Auf dem Territorium DeutschÖsterreichs umfasste der Deutsche Gewerkschaftsbund ca. 50.000 Mitglieder. Fast die Hälfte davon zählten zur Deutschen Verkehrsgewerkschaft, die insbesondere unter den höheren Rängen der Bahnbeamten fest verankert war. Sie bereitete von Seipel bis Dollfuß auch bürgerlichen Regierungen laufend Schwierigkeiten und es kam nicht selten vor, dass sie die Sozialdemokraten mit ihren Forderungen überlizitierte.196
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Die Nationalsozialisten waren in der Tschechoslowakei eine Kleinpartei mit bis zu 10 % der deutschen Stimmen ; in Bayern entwickelte sie sich in einer Sonderentwicklung unter Hitler Anfang der Zwanzigerjahre zu einer Münchner Stadtpartei sui generis ; in Deutschösterreich blieb sie lange Zeit eine Partei in Latenz, die nur punktuell zu Wahlen antrat. 1920 war das ursprüngliche System der Listenkoppelung abgeschafft worden, das Kleinparteien davor bewahrt hatte, als Empfänger von verlorenen Stimmen abqualifiziert zu werden. Die Partei oder die Gewerkschaften versuchten seither ihre Kandidaten auf großdeutschen Listen unterzubringen oder auch auf bürgerlichen Einheitslisten. Der Eisenbahner Alfred Proksch, der spätere Landesleiter der Hitlerbewegung in Österreich, zog 1925 auf einer solchen Einheitsliste in den Linzer Gemeinderat ein. Bei anderen Gelegenheiten wiederum profilierten sich die Nationalsozialisten als einzige standfeste freisinnig-nationale Partei, sobald Großdeutsche und Christlichsoziale ein Wahlbündnis eingingen. 1923 boykottierte die NSDAP die Wahlen – erstmals machte sich damals der Einfluss Hitlers in Österreich bemerkbar. Dinghofer hatte schon im Vorfeld g edroht, wenn es zu keiner Einigung mit der NSDAP komme, »gibt es für uns nur eines, den Kampf mit den allerschärfsten Mitten gegen diese Störer der deutschen Einheit«. Die nationalen Gewerkschaften standen vor einem Dilemma. Sie waren in ihren politischen Loyalitäten gespalten, vor allem die Beamtenorganisationen, die oft nicht einmal als Gewerkschaften ausgeschildert waren, sondern als Vereine, die sich überparteilich gaben. Die Großdeutsche Volkspartei begann jetzt an der NSDAP vorbei prominente Gewerkschafter zu rekrutieren (wie z. B. Iring Grailer von der Deutschen Verkehrsgewerkschaft). Auch der Obmann des »Deutschen Gewerkschaftsbundes«, der Eisenbahner Ferdinand Ertl, erließ einen Aufruf zugunsten der Großdeutschen – und rückte 1925 auf einem ihrer Mandate in den Nationalrat nach.197 Die österreichische NSDAP hatte 1925 Zulauf erhalten durch Karl Hermann Wolfs sektiererische Deutschnationale Partei, sich aber im Mai 1926 erneut gespalten. Maßgeblich dafür waren in erster Linie persönliche Vorwürfe und Streitigkeiten.198 Der Historiker Richard Suchenwirth gründete einen »Nationalsozialistischen Verein« mit der Zusatzbezeichnung »Hitlerbewegung« ; die restliche NSDAP (SchulzGruppe) hielt Ende Oktober ihren eigenen Parteitag ab. Die Länder verteilten sich mehr oder weniger zufällig auf beide Richtungen : Wien, Niederösterreich und der Westen hielten zu Schulz ; die Steiermark, Kärnten und Oberösterreich (unter Alfred Proksch) zur Hitlerbewegung. Ein strukturelles Moment zeichnete sich nur insofern ab : Das »Vaterländische Schutzkorps«, die spätere SA, unter Hermann Reschny und Hauptmann Josef Leopold, wollte sich von der politischen Führung emanzipieren und schloss sich der Hitlerbewegung an ; die nationalen Gewerkschaften hingegen verblieben vorerst im Dunstkreis der Schulz-Gruppe mit ihren Verbindungen zu den Großdeutschen, zur Regierung und zur Einheitsliste. Um sich von den Rivalen
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abzusetzen, trug die Schulz-Gruppe bei öffentlichen Auftritten in Hinkunft graue statt braune Hemden.199 Hitler wurde mit dem österreichischen Ableger seiner Partei nicht so recht glücklich : Während sich die Schulz-Gruppe 1927 durch die Beteiligung an Seipels Einheitsliste wiederum einen Mandatar (Hans Prodinger vom Handlungsgehilfenverband) im großdeutschen Klub sicherte, trat die Hitlerbewegung als »Völkischsozialer Block« an und blieb mit 0,7 % unter ferner liefen, in der Größenordnung der Kommunisten. Die österreichische Hitlerbewegung wurde eine Zeit lang d irekt von München geführt, dann provisorisch von Gregor Strasser, im September 1928 schließlich der Obhut des Führers der sudetendeutschen DNSAP, Hans Krebs, anheimgestellt – in gewissem Sinn eine Rückkehr zu den Anfängen der Partei. Es war Krebs, der Linz zur Zentrale der österreichischen NSDAP machte und Alfred Proksch als Geschäftsführer heranzog.200 Nach Krebsʼ Rückzug zu Beginn des Jahres 1930 blieb Proksch als Landesleiter zurück – und profitierte ohne viel eigenes Zutun vom Aufwind der Bewegung im Sog der Wahlerfolge Hitlers im Reich. Das dritte Lager war dreigeteilt, oder, wenn schon nicht dreigeteilt, dann zumindest in zwei Parteien gespalten, und eine halbe, später berüchtigte und daher überschätzte, die in den Zwanzigerjahren nur eine irrlichternde Existenz führte. Sein Stimmenanteil ging in den Zwanzigerjahren zurück. Die Partei führte ein Rückzugsgefecht nach dem anderen für die Interessen ihrer Beamtenklientel und vermochte den Auswirkungen der Sanierungspolitik doch nicht ausreichend Paroli zu bieten. Die Konflikte zwischen »Steuerträgern« und »Steuerzehrern« wurden immer härter. Es dürfte vor allem der »alte Mittelstand« gewesen sein, der sich von den Großdeutschen bald nicht mehr vertreten fühlte. Die Hausbesitzerverbände in der Steiermark oder der »Handels- und Gewerbebund« (Ha-Ge-Bund) in Kärnten begannen deshalb ab Mitte der Zwanzigerjahre mit einem Anschluss an den Landbund zu liebäugeln. 1930 entstand den Großdeutschen dann mit dem Heimatblock ein weiterer Konkurrent, der in denselben Revieren wilderte. Exkurs I : Der Kummer mit dem Antisemitismus Antisemiten waren sie alle, die bürgerlichen Parteien zumindest, ganz offiziell, laut Parteiprogramm. In fast gleichlautenden Formulierungen sprachen sich Christlich soziale, Großdeutsche und Landbund von Anfang an gegen den schädlichen Einfluss des Judentums aus, den es einzudämmen gelte. Das Salzburger Programm der Großdeutschen holte unter Federführung der Wiener Nationaldemokraten 1920 dann weit aus, um sich vom »Hepp-hepp-Antisemitismus« der Schönerianer zu distanzieren : Nicht der einzelne Jude sei zu bekämpfen, sondern der jüdische Geist, der überwunden werden müsse durch die Solidarität der »Volksgemeinschaft«.
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Freilich : Eine präzise Definition, wer denn jetzt als Jude galt, wurde keine mit geliefert : Aus dem Kontext geht allerdings hervor, dass es sich nicht in erster Linie um konfessionelle – oder auch »rassische« – Kriterien handelte. Denn die öster reichischen Antisemiten waren zweifellos inkonsequente Rassisten : Zog man nämlich die Abstammung – und nicht die Muttersprache – als Kriterium ethnischer Zugehörigkeit heran, hätten sehr viele Verfechter des Deutschtums aufgrund ihrer slawischen Vorfahren gehörige Schwierigkeiten mit dem eigenen Stammbaum bekommen. Ein stehender Topos gegnerischer Häme – von links und rechts – waren die slawischen Familiennamen deutschnationaler Recken. Die AZ spottete, die Liste der Wahlwerber der Deutschen Studentenschaft erwecke den Eindruck, es ginge hier um Vorstandswahlen in einem Sokolverein, Starhemberg sprach wegwerfend über die »Nazisozi« als »eine Handvoll Tschechenstämmige«.201 Immer noch fühlte man sich zuweilen an das bekannte Lueger-Zitat erinnert : »Wer a Jud is, bestimm ich.« Der Wiener Stadtrat Glöckel hielt nationalen Studenten einmal vor, warum ihr Rassenantisemitismus ausgerechnet vor dem »Judenstämmling« Kienböck haltmache. Er hätte in einem Atemzug genauso gut den Reichsratsabgeordneten Philipp v. Langenhan erwähnen können, der von den Großdeutschen immer wieder für diverse Posten in Vorschlag gebracht wurde.202 Wie immer man die Juden auch ab- und eingrenzen wollte, es war unschwer zu erkennen, dass ein soziologischer Faktor im Vordergrund stand, das Ressentiment gegenüber einer in manchen Bereichen überdurchschnittlich erfolgreichen Gruppe, die als fremd angesehen wurde. Die Nationalitätenkämpfe der Monarchie lieferten dazu die perfekte Argumentationslinie : Die Deutschen brachten gegen den angeblich »überwiegenden« Einfluss der Juden genau die gleichen Argumente in Stellung, die alle übrigen Nationalitäten gegen die Vorrangstellung der Deutschen ins Treffen führten. Dieses Argument wurde in dem Moment schlagend, wo man die Juden als eigene Nation definierte – eine Definition, wie sie das alte österreichische Reichsgericht vor 1918 zurückwies, weil es sich dabei nicht um eine separate Sprachgruppe handelte, wie sie nach 1918 aber in allen Nachfolgestaaten zunehmend auf fruchtbaren Boden fiel. In diesem Punkt ließe sich allenfalls sogar eine subkutane Übereinstimmung zu den Thesen der Zionisten bzw. der Jüdisch-Nationalen konstatieren, die in der Konstituierenden Nationalversammlung noch mit einem Abgeordneten (Robert Stricker) vertreten waren.203 Freilich, von der Theorie bis zur Praxis war es ein weiter Weg. Einmal mehr erwies sich, dass Konsequenz keine politische Tugend ist. So fand z. B. im Sommer 1925 in Wien ein zionistischer Kongress statt, mit fast 1000 Delegierten und einem Heer von Begleitpersonen, die zur Belebung des Fremdenverkehrs beitrugen. Die damals noch recht kleine Nationalsozialistische Partei nützte die Gelegenheit zur Profilierung. Hitler – der gerade erst seine Festungshaft verbüßt hatte – war als Redner angesagt, kam aber schließlich doch nicht. Polizeipräsident Schober
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grollte : »Es werden Leute, mit denen man im Deutschen Reich schon längst fertig ist, in Wien auf den Schild gehoben.« Die Großdeutschen saßen propagandistisch in der Klemme : Vergebens argumentierte Vizekanzler Waber damals : Wer sich den Überblick bewahrt habe, müsse doch »deutlich sehen, daß der Standpunkt der Zionisten uns erwünscht sein muß. […] Die Kolonisation müsste gefördert werden.« Sein Kollege Grailer fand diese Auffassung durchaus einleuchtend, »nur kann man sie in den Versammlungen nicht gut wiedergeben, weil man niedergeschrieen wird.« Am Vorabend des Kongresses fand eine große Demonstration statt : Waber klagte über die »lichtscheuen Elemente«, die bei diesen Gelegenheiten zum Vorschein kämen. Es herrsche eine Stimmung »wie in den Zeiten des Hepp-Hepp-Antisemitismus«. Doch zugleich ging die Furcht um : Wenn es zu Ausschreitungen käme, die Polizei zur Waffe greifen müsse und »Christen« dabei getötet würden, werde sich die Regierung nicht halten können.204 Wenn die bürgerlichen Politiker von ihrem Parteiprogramm her schon allesamt zum Antisemitismus verpflichtet waren, so war doch der Stellenwert, den diese Frage in ihrem Prioritätenkatalog einnahm, unübersehbar ein unterschiedlicher. Am einen Ende der Skala stand der überparteiliche Antisemitenbund, den Anton Jerzabek von den Christlichsozialen und der Schönerianer Josef Ursin im Frühjahr 1920 aus der Taufe hoben – und selbst der war Außenseitern wie ihren Kollegen Anton Orel und Friedrich Wichtl immer noch viel zu opportunistisch und moderat ;205 am anderen Ende rangierten pragmatische Politiker, vor allem aus Wiener Wirtschaftskreisen, wie die beiden Handelsminister Eduard Heinl und Hans Schürff, die im Kreise ihrer Kollegen immer wieder um Verständnis warben für die Notwendigkeit einer Zusammenarbeit mit jüdischen Persönlichkeiten oder Gruppen, die in Sachfragen ähnliche Ziele verfochten oder zur Unterstützung bereit waren. Prinzipielle Zustimmung zu gewissen antisemitischen Thesen ging vielfach mit einer Ablehnung der Folgerungen einher, die von den radikalen Antisemiten daraus abgeleitet wurden. So notierte z. B. der ehemalige CA-Direktor Spitzmüller nach dem Amtsantritt Hitlers : »Ich habe die Schädlichkeit jüdischen Einflusses in meiner Laufbahn sattsam kennengelernt. […] Aber es ist nicht nur unchristlich, sondern auch politisch infantil, diesen Einfluß zum Ausgangspunkt für ein antisemitisches Regierungssystem zu nehmen.«206 Welche praktischen Folgerungen waren aus den antisemitischen Programmpunkten nun tatsächlich abzuleiten ? Eine erste war alles andere als kontrovers : Die Einwanderung von Juden sollte begrenzt, gestoppt werden. Dabei ging es in erster Linie um »Ostjuden« aus Galizien, die schon während des Krieges vor den Russen geflohen waren und/oder nach der Auflösung des alten Reiches prinzipiell die Möglichkeit hatten, sich für die Staatsbürgerschaft Deutsch-Österreichs zu entscheiden. An den Deutschkenntnissen mangelte es vielfach ja nicht. Freilich : In der Versorgungskrise der Jahre zwischen 1916 und 1921 bestand kein Bedarf an zusätzlichen Essern (vielfach wurden sogar Touristen mit scheelen Augen betrachtet). Auch die
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Sozialdemokratie war mit einer restriktiven Politik deshalb in der Praxis, wenn schon nicht immer im Prinzip einverstanden.207 Ähnlich gelagerte Kontroversen erfassten ganz besonders die Universität Wien. Das akademische Milieu war für die Pendelausschläge des Zeitgeists immer schon besonders anfällig. Noch vor Kriegsende hatten die dominanten nationalen Studentenverbindungen und ihre bis dahin wüst bekämpften katholischen Rivalen einen Waffenstillstand ausgerufen – der immerhin bis 1932 hielt. Die Kehrseite der Medaille war : Man wandte sich gegen die gemeinsamen Feindbilder : Juden und Sozial demokraten, die vielfach gleichgesetzt wurden. In den Anfangsjahren der Republik wurde die Universität – zum denkbar ungünstigsten Zeitpunkt, was ihre materielle Ausstattung betrifft – von mehreren Jahrgängen von Heimkehrern und Flüchtlingen überlaufen, die einander die Plätze streitig machten. Der Anteil der Juden an der Hörerschaft soll damals bis zu einem Drittel betragen haben. Präzise Statistiken über die konfessionelle Zugehörigkeit sind erst aus späteren Jahren überliefert. So betrug der Prozentsatz der »Israeliten« z. B. im WS 1932/33 an der Wiener Universität 19 % – bei einem Anteil an der Wohnbevölkerung Wiens von 10 %. Auffallend waren die Unterschiede nach Fakultäten : Bei den Medizinern lag der Wert über 30 %, bei den anderen Fakultäten (bis auf die Theologen) zwischen 10 und 20 %. Aus diesem Befund ergab sich die Forderung nach einem Numerus Clausus, wie er z. B. in Ungarn oder Polen in Geltung stand : Juden sollten unter den künftigen Eliten nicht stärker repräsentiert seien als es ihrem Anteil an der Gesamtbevölkerung entsprach – eine Formel, die eine gewisse Verwandtschaft mit den »Quoten« aufweist, wie sie heutzutage hie und da zur Förderung bestimmter Minoritäten eingefordert werden.208 Die »arische« Mehrheit versuchte ihre Version von »closed shop« durchzusetzen und verlangte Hausherrenrechte für ihre »Deutsche Studentenschaft«. Da Wien eine deutsche Universität sei, hätten fremdnationale Hörer – wozu man die Juden zählte – bloß »Gastrecht«. Formal ging es bei dem Streit um die Studentenvertretung – was heute die Hochschülerschaft ist, doch mit damals viel geringeren Mitspracherechten. Die Studentenschaft sollte nach Nationen gegliedert werden. Ein einschlägiger Entwurf wurde einmal verabschiedet, dann vom Verfassungsgerichtshof wieder aufgehoben, just in den Tagen der CA-Krise 1931, weil ein solcher Beschluss die Kompetenz der akademischen Behörden überschritt. Unterrichtsminister Czermak brachte die Studentenordnung deshalb als Gesetzentwurf ein. Sein Kollege, Finanzminister Weidenhoffer, sprach sich dagegen aus ; angeblich weil ihm die westlichen Geldgeber ein diesbezügliches Telegramm gesandt hatten. Czermak verzichtete bei der nächsten Regierungsumbildung prompt auf sein Amt – oder suchte sich damit zumindest ein Märtyrerkrönchen zu verschaffen und seiner Ausbootung höhere Weihen zu verleihen. Denn er musste sein Ressort räumen, um Platz zu machen für ein politisches Schwergewicht wie Anton Rintelen, der Czermaks Entwurf prompt in der Versenkung verschwinden ließ.209
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Schlägereien an der Universität waren an der Tagesordnung, Krawalle nahezu ein allherbstliches Ritual. Dabei machte sich ein gewisses Missverhältnis bemerkbar zwischen der Zahl der Beteiligten und dem Grad der öffentlichen Aufmerksamkeit, die sie erregten. Die Studentenschaft der Zwischenkriegszeit war v ielleicht nicht mehr allzu elitär, aber klein. Alle Hochschulen gemeinsam brachten es – nach dem Ende des Nachkriegsbooms – auf vielleicht 25.000 Hörer. Die Studenten waren über die Alten Herren ihrer Verbindungen gut vernetzt. Eine Folge davon war : In der Monarchie hatten die Behörden ganz anders und schärfer auf einschlägige Tumulte reagiert, Franz Joseph bei Gelegenheit den Unterrichtsminister ange herrscht : »Ihre Rektoren sind ja eine schöne Gesellschaft.« Die bürgerlichen Polit iker der Republik hingegen zeigten eine merkliche Scheu, die Farbenbrüder ihrer Kollegen und die Söhne ihrer Wähler entsprechend hart anzufassen. Es war typischerweise der Landbündler Winkler, dessen bäuerliche Klientel wenig Überschneidungen mit den Randalierern aufwies, der als Innenminister 1931 erstmals drohte, endlich einmal hart durchzugreifen. Wenn es in der Aula weiter zu Prügeleien käme, werde die Polizei sehr wohl ungefragt akademischen Boden betreten und Ordnung machen.210 Der handgreifliche Antisemitismus auf den Universitäten, die Anpöbelungen und Schikanen, gingen zulasten der jüdischen Studenten. Die antisemitischen Geßlerhüte im öffentlichen Leben wurden hingegen zu einem Problem vielfach auch für diejenigen, die glaubten, ihnen ihre Reverenz erweisen zu müssen, obwohl es ihren Interessen augenblicklich gar nicht entsprach. Ein paar Beispiele sollen diese Konstellation deutlich machen. Als klassische Betätigungsfelder jüdischer Eliten galten die Wiener Banken und die Wiener Presse. Wie konnte man sich dieses »überwiegenden Einflusses« erwehren ? Am besten dadurch, dass man keine Kredite in Anspruch nahm und die missliebigen Blätter boykottierte. Diesen Rat zu befolgen erwies sich für praktische Politiker und Geschäftsleute freilich alles andere als leicht. Noch 1936 klagte z. B. der Generalsekretär der Vaterländischen Front, es sei schwer, »in Wien einen geschickten Journalisten zu finden, der nicht Jude ist«.211 Die Wiener Großbanken wurden fast ausschließlich von jüdischen Spitzenmanagern geleitet. (Spitzmüller als ehemaliger Chef der CA kam sich da schon als Ausnahme vor, als »weißer Rabe«.) Die wilden Jahre der Inflation ließen ehrgeizige Politiker auf die Idee verfallen, doch einfach selbst Banken zu gründen, um sich von Wien unabhängig zu machen. Als Teilhaber und Manager waren die »christlichdeutschen« Banken der Provinz aber offenbar erst recht wieder auf jüdisches Personal angewiesen, bloß auf weniger vertrauenswürdiges. Wann immer die Sozialdemokraten die Christlichsozialen in Niederösterreich zur Weißglut treiben wollten – was im konsensualen Klima der Herrengasse nicht allzu oft der Fall war –, skandierten sie die Namen »Aberbach und Margulies«, die beim Krach der Bauernbank ihre Hand im Spiel gehabt hatten.212
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Bei den Großdeutschen erfreute sich der Präsident der Anglobank, Wilhelm Rosenberg, einer großen Wertschätzung. Mit den Gralshütern des Antisemitismus wollte man deshalb aber noch lange keinen Konflikt vom Zaun brechen. »Wasch mir den Pelz und mach mich nicht naß !« Als Rosenberg 1921 zum Finanzminister vorgeschlagen wurde, machte sich großes Bedauern breit, dass man mit dem Vorschlag nicht an die Öffentlichkeit treten könne. Als salomonische Lösung verfiel man auf die Idee, einen Strohmann zum Minister zu wählen, Rosenberg aber mit der eigentlichen Führung im Hintergrund zu betrauen.213 Als Strohmann nominierten die Christlichsozialen dann ausgerechnet den alldeutschen Renegaten Alfred Gürtler, der sich als Inflationsminister besonders unbeliebt machte. Man mochte das Eigentor als gerechte Strafe für politische Feigheit betrachten. Josef Redlich, aus einer jüdischen Industriellenfamilie in Mähren, galt 1920 noch dazu als Anschlussgegner und war deshalb für die Großdeutschen doppelt untragbar ; zehn Jahre später gab man es dann billiger. Als Redlich in der CA-Krise zum Finanzminister ernannt wurde, wurden plötzlich Jubelhymnen im großdeutschen Klub auf ihn angestimmt – weil er zugesagt habe, sich für die Interessen der Beamten einzusetzen. Ein Sonderfall war Sigmund Bosel, ein Inflationsgewinnler, der in seiner Glanzzeit von allen Parteien umworben wurde. Vizegouverneur Klimesch von der Postsparkasse (PSK), ein Vertrauensmann der Großdeutschen, sei von Bosel geradezu »finanzpolitisch hypnotisiert« gewesen, resümierte Nationalbankpräsident Reisch. Selbst Seipel soll bei Gelegenheit zugestanden haben, »im Unterschied zu Sieghart habe Bosel immerhin noch Format«.214 Auch der großdeutsche Handelsminister Schürff warf sich in die Schlacht, um seine Parteifreunde von den Meriten des wendigen Aufsteigers zu überzeugen. Sobald die Börsenhausse im Juni 1924 einbrach, entstand dann ein munterer Prozessreigen, wer an den Verlusten der PSK schuld sei und ob Bosel der PSK noch ein paar Millionen schuldig war. Ein parlamentarischer Untersuchungsausschuß wurde eingesetzt, der erheblichen Erklärungsbedarf zutage förderte ; gegen Schürff wurden aus den eigenen Reihen umgehend Rücktrittsforderungen laut. (Er stand die Krise allerdings durch und wurde 1930 sogar noch zum Parteiobmann gewählt.) Mit der Presse verhielt es sich nicht viel anders : Die Parteien hatten ihre Parteizeitungen, die meist finanziell notleidend waren und politisch nicht allzu werbewirksam : Sie versorgten die Vertrauensmänner mit aktuellen Slogans, erreichten aber niemand über den harten Kern der Anhänger hinaus. In den Landeshauptstädten gab es alteingeführte Traditionsblätter, die in der Regel im Bereich des nationalen Lagers angesiedelt waren, aber auf ihre Unabhängigkeit pochten und ihre Spalten immer wieder auch Dissidenten öffneten. 1928 wurden die meisten von ihnen in der Bergland-Presse zusammengeschlossen, die in den turbulenten Jahren der Krise zwischen Großdeutschen, Heimwehr und NSDAP lavierte. In Wien verfügten die Christlichsozialen über die »Reichspost«, die mit den christlichsozialen Volksblättern in der Provinz so manchen Strauß ausfocht. Das nationale Lager konnte bes-
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ten-, oder wie sich herausstellte : schlimmstenfalls auf die »Deutsch-Österreichische Tageszeitung« (»Dötz«) zurückgreifen, die von alten Schönerianern geleitet wurde, 1923 mit der Partei brach, ein offenes Ohr für die Nationalsozialisten hatte und stets für Quertreibereien aller Art gut war. Wenn man mit der bürgerlichen Öffentlichkeit in Kontakt treten wollte, blieb letztlich doch nur der Weg über die jüdische Großpresse, insbesondere die drei alt etablierten »Neuen« : Die »Neue Freie Presse« (die trotz ihres Nimbus bald in große finanzielle Schwierigkeiten geriet), das »Neue Wiener Tagblatt« (im Besitz von Siegharts »Steyrermühl«) und das »Neue Wiener Journal«, das in den späten Zwanzigerjahren dann sein Herz für die Heimwehren entdeckte. Die Wiener Presse hatte im Krieg einen Kurs verfochten, der aus der Sicht des Nationalverbandes kaum Anlass zu Beschwerden gab. Nach dem Zusammenbruch wurde dann zumeist die mangelnde Begeisterung für den Anschluss auf ihr Sündenkonto gebucht. Doch spätestens als Schober sich 1930 an die Spitze des »Nationalen Wirtschaftsblocks« stellte, kannte die Begeisterung der »Neuen Freien Presse« für ihn kaum noch Grenzen. Im großdeutschen Parlamentsklub der Anfangsjahre waren die Beziehungen zur jüdischen Presse öfters Gegenstand von Auseinandersetzungen. Die alten Schönerianer setzen 1921 z. B. den Beschluss durch, die Mitarbeit an jüdischen Zeitungen sei nicht erlaubt. Als sie Dinghofer deshalb vor ein Scherbengericht zerren wollten, entgegnete der Klubobmann souverän : Er habe doch nur einige Artikel verfasst, das könne man doch wirklich nicht Mitarbeit nennen. Die Debatte wurde abgebrochen, sobald ein boshafter Kollege darauf aufmerksam machte, der Beschwerdeführer Ursin habe sich doch selbst vor einiger Zeit von Chefredakteur Singer höchstpersönlich durchs Gebäude des »Neuen Wiener Tagblattes« führen lassen.215 Für praktische Politiker ergab sich darüber hinaus ein weiteres Dilemma : Wenn man den antimarxistischen Schulterschluss für nötig hielt, war es dann nicht kontraproduktiv, das jüdische Bürgertum, das zumindest in Wien eine gewisse Macht darstellte, durch beständige Anfeindungen in die politische Isolation oder gar in die Arme der Sozialdemokratie zu treiben ? Das Problem ließ sich auch schlecht auslagern, denn für das Überleben einer eigenen Partei des jüdischen, oder zumindest des dezidiert nicht antisemitischen Wiener Bürgertums waren die Rahmenbedingungen nach 1918 nicht mehr wirklich gegeben. Vor dem Krieg hatte diese Spezies von Kandidaten in einem halben Dutzend innerstädtischer Wahlkreise noch reelle Chancen gehabt, spätestens in der Stichwahl durchzudringen. Denn es herrschte zwar seit 1907 das allgemeine und gleiche (Männer-)Wahlrecht, aber auf Bezirke mit höherem Steueraufkommen entfielen immer noch mehr Mandate als auf andere. Für die Mehrheit in einem der vier Sitze in der Wiener Innenstadt benötigte man deshalb 1911 nur rund 1000 Stimmen ; nach 1918 für ein Mandat schon an die 20.000. Die Gründung einer dezidiert bürgerlich-freisinnigen Partei ohne antisemitischen Einschlag wurde anfangs auch tatsächlich in Angriff genommen, von einem der in-
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teressantesten Unikate dieser Jahre, dem Maschinenindustriellen Max Friedmann, einem »Halbjuden«. Friedmann war 1911 als Unabhängiger gewählt worden, während des Krieges eine Zeit lang Mitglied beim Nationalverband ; er beteiligte sich sehr engagiert an allen Mitteleuropa-Plänen und galt als Wortführer des freihändlerischen Flügels der Industrie. 1911 waren die unabhängigen bürgerlichen Kandidaten alle mit Unterstützung der Sozialdemokraten gewählt worden ; jetzt mussten sie auf eigenen Beinen stehen. Friedmann versuchte das Spektrum in der BürgerlichDemokratischen Partei zu sammeln. Vom Deutschem Reich her erfreute sich die Gruppe der Unterstützung durch die DDP als Teil der schwarz-rot-goldenen Weimarer Koalition. Theodor Heuss und Hjalmar Schacht absolvierten als Wahlhelfer eine Stippvisite in Wien. Der Erfolg war mäßig : In Wien kam die Partei 1919 noch auf 5 % (in der Innenstadt immerhin auf 28 %), doch nur Friedmann selbst schaffte den Sprung in die Konstituierende Nationalversammlung, der ehemalige Justizminister Franz Klein verfehlte haarscharf das zweite Mandat. 1920 schickte die Partei als charismatisches Zugpferd dann den umstrittenen ehemaligen Außenminister Grafen Ottokar Czernin ins Rennen, der zwar weder ein Bürgerlicher war noch ein Demokrat, aber prompt gewählt wurde. Dabei hatte sich die Partei schon im Sommer 1919 gespalten : Ein Teil – mit dem späteren großdeutschen Abgeordneten Ernst Hampel – bewegte sich in Richtung der Großdeutschen. Einer der Dissidenten klagte : »Wir wollten die Juden nicht ausschließen, ihnen aber nicht in leitenden Stellungen einen Rang einräumen. Leider kam dies anders.«216 Bundespräsident Hainisch stand dem Kreis um die Bürgerlichen Demokraten nahe, für die seine Mutter kandidierte ; einer seiner Bekannten »jüdischer Abstammung« umschrieb das Dilemma einmal so : »Die Schwäche der bürgerlichen Politik in Wien sei darin zu suchen, daß man nichts ohne die Juden und nichts mit ihnen machen könne.«217 Alle kommenden Wahlen gerieten zur Minderheitenfeststellung. 1923 entfielen auf die »Bürgerlich-demokratische Arbeitspartei«, diesmal mit dem Vizepräsidenten der Handelskammer, Josef Vinzl, als Spitzenkandidat, in ganz Wien gerade noch 19.000 Stimmen. Die Jüdisch-Nationale Liste bekam 1923 immerhin noch 25.000 Stimmen. Friedmann selbst zog sich vorerst zurück, war dabei aber weiterhin in industriellen Interessensvertretungen aktiv. Dort stieß er auf einen kongenialen Partner im Alpine-Montan Generaldirektor Anton Apold. Gemeinsam bemühten sich beide um die Aufrüstung der Heimwehren. Auf diesem Weg ergab sich auch das Einvernehmen mit Seipel. Friedmann gründete 1926 – zusammen mit dem umstrittenen »Ersparungskommissär« Fritz Hornik – auch wieder eine Partei, die Mittelständische Volkspartei, die kurz darauf prompt der Seipel’schen Einheitsliste ihre guten Dienste anbot. Im Jänner 1929 vereinigten sich die »Mittelständler« dann mit dem Rest der Bürgerlichen Demokraten zur Demokratischen Mittelpartei unter der Leitung des bekannten Zivilrechtlers Heinrich Klang, die 1930 prompt vor dem Dilemma stand,
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ob sie im Kielwasser des »Schoberblocks« segeln wollte, ohne dort offiziell an Bord begrüßt zu werden. Auf den ersten Blick mag das Engagement des Freihändlers Friedmann im Indus triellen Klub, der als Keimzelle der Schutzzollbewegung entstanden war, ebenso paradox anmuten wie das Engagement des liberalen Wieners für die militanten Reaktionäre der Heimwehren. Was beide einte, war nicht zuletzt das Unbehagen an den bestehenden politischen Parteien. Die Heimwehr zählte zweifelsohne jede Menge Antisemiten in ihren Reihen. Aber sie war durch keinerlei programmatische Festlegungen gebunden. Als der Herausgeber des »Neuen Wiener Journals«, Jakob Lippowitz, dem Heimwehr-Capo Steidle 1928 die Gretchenfrage vorlegte, wie es die Heimwehren denn mit dem Antisemitismus hielten, folgte der findige Tiroler – einst selbst Mitbegründer des Tiroler Antisemitenbundes – der Logik einer antimarxistischen Einheitsfront und schwor prompt allen einschlägigen Irrlehren ab. Die Wiener Heimwehren und ihre eigens zu diesem Zweck eingerichtete »KommandoKompanie« zierte auch noch in der Ära Fey eine Reihe prominenter Namen aus dem jüdischen Großbürgertum, zumal des geadelten. Der Antisemitismus der bürgerlichen Parteien konzentrierte sich nach dem Ende der Inflationsjahre zunehmend auf die Polemik gegen die »jüdischen Führer der Sozialdemokratie«, die brave deutsche Arbeiter zum Klassenkampf aufhetzten. Einer der vielen Wahlkampfverse der Zeit brachte diesen Topos auf den Punkt : »Wo der Deutsch und wo der Bauer / die Gesellschaft wühlen um / Etabliert sich auf die Dauer / obenan das Judentum.« In der Tat kannte die Sozialdemokratische Partei ein ungeschriebenes Gesetz, das im Rückblick gern ironisch als ihr »Arierparagraph« bezeichnet wurde : Im Parteivorstand dürften die Mitglieder jüdischer Abstammung nie über die Mehrheit verfügen. Die jüdischen Mitglieder des Vorstandes kamen naturgemäß fast alle aus Wien, wo nun einmal über 90 % der österreichischen Juden beheimatet waren. Vorbehalte gegen die jüdischen Wiener Intellektuellen waren in den Ländern verbreitet – und zwar sowohl am rechten Flügel der Partei als auch beim rebellischen linken Flügel und den späteren Revolutionären Sozialisten nach 1934.218 Die Sozialdemokratie revanchierte sich für die gegnerischen Unterstellungen mit einer Propaganda, die heutzutage fraglos ebenfalls als antisemitisch angesehen würde, primär jedoch den Zweck verfolgte, die bürgerlichen Antisemiten als Heuchler bloßzustellen, die nationale oder konfessionelle Slogans bloß benützten, um den Klassencharakter ihrer Politik zu kaschieren. So veröffentlichte die AZ 1925 z. B. eine Namensliste der Hausbesitzer in bestimmten Straßen der Leopoldstadt, mit dem Hinweis : »Die Christlichsozialen kämpfen also dafür, daß die Moses Blazer, Rubin und Chaje Taubmann, Samuel und Israel Diamant, Abraham Moses Rath und wie sie sonst alle heißen mögen, zu phantastischen Gewinnen gelangen.« Journalisten, die für Seipel oder für die Heimwehren Propaganda machten, wurden als Haus-
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juden bezeichnet, deren Wiege am Dnjestr stand und die man noch vor Kurzem aus jedem Tiroler Dorf hinausgeworfen hätte.219 Exkurs II : Der Adel und die Legitimisten Das jüdische Bürgertum war eine wirtschaftlich potente Gruppe, von allen Seiten heimlich umworben und offiziell angefeindet, nach dem Muster : »Grüß mich nicht Unter den Linden !« Ähnliche Berührungsängste mit einer kleinen, aber potenziell einflussreichen Gruppe gab es auch in Richtung der Monarchisten und des Hochadels. Es zählt zu den historischen Kuriositäten, dass es im Nachkriegsösterreich keine wirklich monarchistische Partei gab, anders als im doch traditionell viel Habsburg-skeptischeren Ungarn, oder auch im Deutschen Reich, wo die konservative DNVP mit ihrem Rückhalt bei den preußischen Junkern weithin als monarchistisch galt, ganz zu schweigen von der französischen Dritten Republik, die in ihren Anfangsjahren durchwegs monarchistische Mehrheiten aufwies, die sich zwischen Bourbonen, Orleanisten oder Bonapartisten bloß nicht über den Thronkandidaten einigen konnten. Für dieses Manko waren verschiedene Faktoren verantwortlich. Zuallererst : Es ging bei der versunkenen Monarchie, der man nachtrauerte oder die man ablehnte, primär nicht um die Staatsform, sondern um das Reich. Eine Restauration auf dem Boden des kleinen Rest-Österreich wäre manchen noch viel absurder erschienen als der Staat selbst. »Wie könnten die Habsburger als Duodezfürsten nach Wien zurückkehren, wo sie einst als Imperatoren geherrscht hatten ?«, lautete die rhetorische Frage eines Aristokraten, des Grafen Adolf Dubsky.220 Dieser Einwand war zwar von den Frontstellungen der Dreißigerjahre geprägt, hatte seine Berechtigung aber auch vorher schon. Ein einschlägiger österreichischer »Revisionismus« war von vornherein chancenlos : Das Deutsche Reich mochte damit liebäugeln, den polnischen Korridor zurückzuerobern und Ungarn die Slowakei ; aber dass Deutsch-Österreich den Großraum von Triest bis Tarnopol aus eigener Kraft wiederum »heim ins Reich« holte, überstieg die Vorstellungskraft wohl selbst der fantasiebegabtesten Legitimisten. Schließlich war da auch noch das Erbe Kaiser Karls. Karl ist wegen seiner Friedens bemühungen unter dem Pontifikat Johannes Pauls II., immerhin Sohn eines seiner Unteroffiziere, 2004 seliggesprochen worden. Doch der Prophet gilt nichts in seinem Vaterlande : Unmittelbar nach 1918 verschafften ihm diese Bemühungen weit weniger Sympathien, im Gegenteil : Karl – und mehr noch Kaiserin Zita – galten wegen ihrer Kontakte über die Fronten hinweg vielfach als »Verräter«. Selbst der aristokratische Jockey-Club solidarisierte sich im Zweifelsfall lieber mit dem Außenminister Czernin, der im Streit von Karl geschieden war, als mit den Paladinen des Kaisers im Exil. Vollends vermochte sich die Sozialdemokratie dieser Stimmung nicht zu ent-
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ziehen, ganz zu schweigen von den Deutschnationalen. Als Karl Ende Oktober 1918 um einen Waffenstillstand mit der Entente ansuchte, ohne auf das Deutsche Reich zu warten, bezeichnete Ellenbogen diese sogenannte Andrassy-Note namens der Sozialdemokratie als einen »kalten, schmählichen Treubruch«, nicht ohne Hinweis auf das alte Schiller-Wort über den »Dank vom Hause Österreich«.221 Der »Habsburgkannibalismus« trieb mitunter seltsame Blüten : Als Karl im Herbst 1921 seinen Restaurationsversuch in Ungarn absolvierte, überschlugen sich im großdeutschen Klub die Stimmen, die einem Bündnis mit der Tschechoslowakei gegen die »karlistische Gefahr« das Wort redeten – wohlgemerkt dieselben Leute, die kurz davor und danach jeden Kanzler einen krummen Hund hießen, der auch nur über Kohlelieferungen mit den Tschechen verhandelte.222 Zugegeben : Bei dieser plötzlichen Schubumkehr spielte damals wohl auch die Überlegung eine Rolle, auf diesem Weg eine Maximalvariante des Burgenlandes in Besitz nehmen zu können, dessen Übergabe die Ungarn hinauszögerten. Doch von allen Augenblickskonjunkturen abgesehen, für die Großdeutschen galt als unverrückbare Maxime die ganze Zwischenkriegszeit über : Habsburg bedeute Donaukonföderation ; Donaukonföderation aber bedeute »französisches Kuratel«. Auch die Christlichsoziale Partei, oder besser gesagt : die alte Katholische Volkspartei, nahm von der Dynastie viel leichter Abschied, als man annehmen mochte. Friedrich Funder und seine Wiener »Reichspost« bewahrten der Monarchie stets ein ehrendes Angedenken ; aber das war die Ausnahme von der Regel. Nur die Wiener Christlichsozialen enthielten sich bei der Abstimmung über die Habsburgergesetze im März 1919 der Stimme. Die »Bauerngeneräle« in der Provinz waren froh, die kaiserlichen Statthalter losgeworden zu sein. Der Oberösterreicher Schlegel – auch er bezeichnete sich bald als »überzeugter Republikaner seit jeher« – war noch bemüht, eine verbindliche Sprachregelung zu finden, wenn er seiner Partei empfahl : Mit einem Eintreten für die Monarchie würde man auch dem »ehemaligen Kaiser« keinen Gefallen tun, er würde ja doch entweder verjagt oder umgebracht. Als die »Reichspost« 1925 über einen Hinterbänkler herzog, der sich respektlos über Kaiserin Zita geäußert hatte, verteidigte ihn Bauernbund-Chef Stöckler mit den Worten : »Wir Bauern sind seit jeher Republikaner gewesen.« Für die Wiener bedeutete das Jahr 1918/19 den Verlust ihrer Herrschaft über ein Großreich ; für die Länder den Beginn ihrer Emanzipation von Wien. Die Gegner auf der Linken (inklusive der Schönerianer) mochten als traditionelles Feindbild das sprichwörtliche Bündnis von Thron und Altar beschwören. Die neuen schwarzen »Landesfürsten« sahen das anders : »Haben wir eine besondere Veranlassung, ohne triftigen Grund einen Kaiser zu feiern, der uns die ganze liberale Gesetzgebung eingebrockt hat«, fragte der Vorarlberger Landeshauptmann Ender anlässlich des 100. Geburtstag Franz Josephs seine Kollegen. Sein niederösterreichischer Kollege Buresch und auch der Tiroler Stumpf pflichteten ihm umgehend bei.223
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Der Episkopat sah die Sache da schon anders. Hier waren die Meinungen geteilt : Als der Wiener Erzbischof Piffl sich 1931 über die Putschpläne der Wehrverbände beschwerte, hielt ihm der Tiroler Waitz, der später auf den Sitz des Primas Germa niae in Salzburg übersiedelte – einst Erzieher Karls – entgegen : »Ist ein Heimwehrputsch Hochverrat, so […] noch vielmehr der Umsturz im Jahre 1918.« Man müsse unterscheiden zwischen einer obligatio obedientiae und einer obligatio fidelitatis gegenüber den Behörden, zwischen Gehorsam und Treue. »Der Hl. Stuhl muß mit jeder Regierung, die tatsächlich am Werk ist, verhandeln, mag sie wie immer ent standen sein.« Daraus ließen sich noch keine Rückschlüsse auf die Legitimität der Republik ableiten, schließlich unterhalte der Vatikan auch Kontakte zur Sowjet union.224 In Oberösterreich galt der streitbare konservative Bischof Gföllner als Monarchist – und lag im Krieg mit dem christlichsozialen Landeshauptmann Hauser, den er wegen persönlicher Fehltritte angeblich sogar beim Vatikan verklagte.225 Das Fazit lautete : Für praktizierende Monarchisten waren in den traditionellen Lagerparteien kaum Nischen frei. Schlimmer noch : Der Vorwurf des Legitimismus war das politische Totschlagargument schlechthin, die »Faschismuskeule« der Ersten Republik. In Wels spielte sich in den Zwanzigerjahren die köstliche Szene ab : Städtische Angestellte wurden in den Zwanzigerjahren vor den Gemeinderat zitiert, weil sie an »hakenkreuzlerischen« Veranstaltungen teilgenommen hatten – ein Terminus, der damals wohlgemerkt keineswegs auf NS-Aktivitäten beschränkt war. Die Stadtväter zeigten sich erleichtert, sobald die Verdächtigen glaubhaft versicherten, keine Monarchisten zu sein. Als Industriellenpräsident Urban sich 1932 wegwerfend über das Kabinett Buresch II äußerte, legte sein Stellvertreter Ehrhart ein gutes Wort für eine der Neuerwerbungen ein : »An Schuschnigg könnte etwas daran sein. […] Wenn ein Nationalrat es wagt, sich offen als prinzipieller Monarchist zu erklären, so zeugt das von einer gewissen Courage.«226 Die Monarchisten als Antithese zur Republik, als theoretische Fundamentalopposition, wagten sich deshalb lange Zeit nicht aus der Deckung. Unmittelbarer Handlungsbedarf war vorerst ja auch keiner gegeben : Karl war 1922 in Madeira gestorben, sein ältester Sohn Otto damals erst zehn Jahre alt. Man sammelte sich in unpolitischen Traditionsverbänden, an der Spitze der »Reichsbund der Österreicher«, der Adel in der »Vereinigung der katholischen Edelleute«. Wenn man alle Mitglieder dieses weitgefächerten Vereinsspektrums addierte, so rechnete jemand einmal stolz vor, käme man schon auf mehrere Hunderttausend Anhänger. Davon musste man freilich die Mehrfachmitgliedschaften wiederum abziehen. Es war auch sehr die Frage, ob all diese Karteileichen im Ernstfall politisch zu mobilisieren waren. Eine »Minderheitenfeststellung« im Rahmen einer Kandidatur als Kleinpartei war auch gar nicht das Ziel. Der Reichsbund legte sich als politischen Arm zwar vorsichtshalber eine »Partei der österreichischen Monarchisten« (PöM) zu, doch die PöM trat nie zu einer Wahl an. Sie verhandelte 1923 mit Seipel, der einen der ihren
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auf die christlichsoziale Liste setzte, den Baron Ernst Wense, wie viele der exponierten Monarchisten (z. B. Prinz Karl Emil Fürstenberg, Graf Ferdinand Colloredo, Friedrich v. Wiesner etc.) nicht bloß Adeliger, sondern auch ehemaliger Diplomat. Als spiritus rector im Hintergrund wirkte Karls ehemaliger Ministerpräsident Graf Heinrich Clam-Martinic, der sich nach 1918 aus Böhmen auf sein Stammschloss in Oberösterreich zurückgezogen hatte. Doch schon 1924 kam es innerhalb der PöM zum großen Krach : Baron Albin Schager v. Eckartsau, der ehemalige Vermögensverwalter Kaiser Karls, spaltete die Partei ; Wense legte sein Mandat nieder. Das ohnehin bloß halbherzig verfolgte Experiment einer monarchistischen Partei war damit Geschichte. Als eigene Partei zuweilen angetreten ist nur die Kaisertreue Volkspartei des Obersten Gustav Wolff, als Buffo-Partie des schwarz-gelben Spektrums, gewaltfreie Radaubrüder und Prozesshansln, die sich mit Gott und der Welt anlegten. Typischerweise erklärte sich Wolff 1927 – zum Unterschied vom Reichsverband oder von Friedmann – nicht für Seipels bürgerliche Einheitsliste, sondern setzte auf die Antikorruptionsliste des Priesters Johannes Ude, eines weiteren Don Quijote, die kein Mandat errang.227 Das alte Establishment der Monarchie war politisch heimatlos, ähnlich wie das jüdische Wiener Großbürgertum, dessen Entfremdung von den Parteien schon älteren Datums war. Die »erste« und die »zweite« Gesellschaft der dahingegangenen Monarchie saßen da bis zu einem gewissen Grad im selben Boot. Der Hochadel sammelte sich jenseits der (un)politischen Traditionsverbände in einer Interessensorganisation des Großgrundbesitzes, den Waldbesitzerverbänden, die schon vor Kriegsende entstanden waren (und 1918/19 kurze Zeit übrigens von einer Frau geführt wurden, der Gräfin Althan). Die Waldbesitzer wiederum bemühten sich um eine Verbindung zu den Landwirtschaftsgesellschaften, den Dachverbänden, die als Keimzellen der Landwirtschaftskammern fungierten. Graf Rudolf Colloredo-Mannsfeld leitete lange Zeit die niederösterreichische Landwirtschaftsgesellschaft, mit Büro in der Wiener Schauflergasse. Neben spezifischer Interessenpolitik – immerhin war der mit einer Ausfuhrabgabe belastete Holzexport einer der wesentlichen Devisenbringer – galt die Priorität der Abwehr aller Sozialisierungs- und Bodenreformansätze. In diesem Sinne traten Waldbesitzer und Landwirtschaftsgesellschaft als Förderer des Bürgerblocks in Erscheinung, oder besser : Sie traten nach außen hin eben nicht in Erscheinung. Exkurs III : Das Phänomen der Wehrverbände Kaum ein Faktor unterscheidet die Erste Republik so deutlich von der Zweiten wie die allgegenwärtigen Marschierer der Zwischenkriegszeit, die paramilitärischen Wehrverbände. Der Erste Weltkrieg hatte als Erbe eine Militarisierung von Politik und Gesellschaft hinterlassen (und als Kehrseite der Medaille eine Politisierung des
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Militärs). Dafür war zunächst einmal der Verlust des staatlichen Gewaltmonopols im Zuge des Zusammenbruchs verantwortlich. Die alte Armee löste sich auf, Polizei und Gendarmerie waren verunsichert. Dieses Vakuum wurde von anderen gesellschaftlichen Kräften gefüllt. Dabei handelte es sich ursprünglich fast ausschließlich um spontane, lokale Initiativen. Die sich ausbreitende Rätebewegung schuf sich Arbeiterwehren, mit Kristallisationskernen um die Großbetriebe. Die Bauernschaft reagierte mit Flurwachen gegen Plünderungen und Konfiskationen. Zum Teil richteten sich diese »Selbstschutzverbände« auch gegen äußere Feinde. Darunter waren in erster Linie ehemalige Kameraden zu verstehen, wie z. B. die Reste der altösterreichischen Armee, die sich nach dem Waffenstillstand über das ohnehin schon kahlgefressene Hinterland ergossen. Vor allem um die Bahnlinien und Bahnhöfe ergaben sich da oft Konfrontationen, die mit Schusswechseln und Toten endeten, wie z. B. am 5. November 1918 in Innsbruck. Um ehemalige Kameraden handelte es sich auch bei den Milizverbänden, die im Grenzgebiet zum entstehenden Jugoslawien zum Ringen um die gemischtsprachigen Gebiete antraten. Die tschechoslowakische Legion oder die königlich italienische Armee galten als Entente-Truppen, deren Anordnungen kein Widerstand geleistet werden durfte. Für die slowenischen Freiwilligenverbände, die ebenso wie ihre nunmehrigen deutsch-österreichischen Gegner in der Regel aus alten k.(u.)k. Einheiten hervorgegangen waren, galt das nicht. Hier war – im Kärntner Abwehrkampf oder beim Steirischen Bauernkommando Brodmann – schon ein höherer Organisationsgrad der frühen Wehrverbände gegeben.228 Freilich : Die Grenzkämpfe erwiesen sich als eine ephemere, vorübergehende Phase. Sie waren 1919, spätestens mit der Kärntner Volksabstimmung am 10. Okto ber 1920 beendet. Im Burgenland operierten 1921 noch ungarische Freischärler, um die Abtretung an Österreich zu verhindern. Davon ging interessanterweise kein Impuls zu einer bewaffneten Reaktion aus ; Österreich setzte im Burgenland bloß reguläre Gendarmerie ein. Es waren vielmehr die innenpolitischen Spannungen, die zu einer Verstetigung der Wehrverbände führten, von Arbeiterwehren und Heimatwehren, letztere unter einer verwirrenden Vielzahl von Bezeichnungen. Beide Formationen wurden von lokalen Behörden zuweilen in Dienst genommen, mit dem Charakter einer Not- oder Hilfspolizei ausgestattet. Die Arbeiterwehren, wo es um Lebensmittelrazzien ging, die Heimwehr unter dem christlichsozialen Landesrat Steidle ganz offiziell vom Land Tirol anerkannt. Die Bundespolitik spielte dabei keine große Rolle, weder als Katalysator noch als Bremser. Dafür entwickelten sich gute Beziehungen über die Grenzen hinweg : Hatte im Frühjahr 1919 die ungarische Räterepublik die Militanz der Linken gefördert, so erhielt die Rechte nach dem Sturz der Münchner Räterepublik vielfach Unterstützung aus Bayern.229 Die Wiener Politik erweckte nur in einer Beziehung den Anschein einer Parteinahme : Das offizielle »Bundesheer«, die Volkswehr, sollte, wenn es schon ein Söldnerheer sein musste, dann wenigstens »ausschließlich aus verlässlichen Sozialdemo-
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kraten« bestehen. Otto Bauer schrieb dazu frohgemut : »Man hat gesagt, wir hätten uns auf diese Weise eine Parteitruppe geschaffen. Das will ich gar nicht leugnen.«230 Das war keine x-beliebige Behauptung, sondern ließ sich anhand der Vertrauensmännerwahlen dokumentieren, wie sie als Ersatz für die Soldatenräte eingeführt worden waren. Verantwortlich dafür galt zunächst einmal der Staatssekretär Julius Deutsch, dem – als Vertrauensmann der Arbeiterschaft zum Kriegsministerium schon in der Kriegszeit – bis 1920 das Ressort unterstellt war. Es war auch kein Zufall, dass der – längst fällige – Bruch der Notgemeinschaft von Sozialdemokraten und Christlich sozialen über eine Wehrfrage erfolgte, über einen umstrittenen Erlass von Deutsch über die Kompetenzen der Soldatenräte. Freilich : Es war nicht bloß gezielte Perso nalpolitik von oben, sondern vermutlich auch eine Basisbewegung von unten, die zu diesem Resultat geführt hatte. Bauernsöhne kehrten nach Kriegsende auf ihre Höfe zurück ; sie wollten ja schon »in der alten Zeit nicht in ein Söldnerheer«, wie Deutsch den Landeshauptleuten erklärte ; für Arbeiter war das Weiterdienen in der Volkswehr zumindest 1919 im Zeichen der Arbeitslosigkeit wesentlich attraktiver.231 Ein eigenes Problem stellten die Offiziere dar. Davon gab es vor allem einmal zu viele. Die Masse der Beamten teilte sich mehr oder weniger gleichmäßig auf die Nachfolgestaaten auf. Doch von den aktiven Offizieren waren 1914 fast drei Viertel Deutsch-Österreicher gewesen, die in den Nachfolgestaaten mit ihrem Programm der »Entösterreicherung« nicht wohlgelitten waren. Inzwischen hatten sich – nach Jahren kriegsbedingter Beförderungen – wohl auch so manche Reserveoffiziere gewisse Hoffnungen auf einen Verbleib in der Armee gemacht. Österreich war in St. Germain eine Berufsarmee von 30.000 Mann zugestanden worden, davon maximal 1500 Offiziere. Das Reservoir betrug nahezu das Zehnfache. Ein Teil verzichtete freiwillig auf den Eid auf die Republik : Aristokraten waren im Bundesheer der Ersten Republik lange Zeit Mangelware. Es blieben auch so genug Bewerber, die zum Teil hochnotpeinliche Untersuchungen über sich ergehen lassen mussten. Von 16.000 in Deutschösterreich gemeldeten Offizieren der alten Armee meldeten sich 8000–10.000 wieder zum Dienst. An der Spitze der Hierarchie mussten 600 Generäle und 2000 Obristen sofort pensioniert werden. Von unten drängten verdiente Unteroffiziere nach, von den Sozialdemokraten gefördert, wie z. B. der Soldatenrat Josef Leopold, der es in der Volkswehr zum Hauptmann brachte, in der illegalen NSDAP dann zum Landesleiter.232 Abgebauten Offizieren standen nicht allzu viele Möglichkeiten für ein standesgemäßes Fortkommen offen. Manche konnten ihre Führungs- und Managementqualitäten in der Wirtschaft verwerten, wie z. B. der spätere Bundeskanzler Streeruwitz oder die Obristen Thomas Klimann und Ludwig Stepski-Doliwa als Geschäftsführer des Kärntner bzw. Salzburger Industriellenverbandes ; andere vermochten wie Oberst Alexander Götz sen. als Bankbeamte oder wie Doderers Major Melzer in der Tabakregie unterzukommen ; der eine oder andere – wie z. B. der spätere Vizekanzler
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Baar-Baarenfels – galt nach wie vor als standesgemäße Partie. Materiell waren Offiziere schon in der Monarchie keineswegs auf Rosen gebettet gewesen. Nicht von ungefähr kursierte der Spruch »Schulden wie ein Stabsoffizier« (denn gerade in diesen Rängen zahlte Österreich-Ungarn bedeutend schlechter als z. B. das Deutsche Reich). Der soziale Status, der mit des Kaisers Rock einherging, mochte dafür eine gewisse Kompensation bieten. Die Republik bot da – unabhängig von allen weltanschaulichen Prägungen – nur das triste Bild sozialen Abstiegs. Die zehntausend ehemaligen Offiziere bildeten ein offenkundiges Reservoir, auf das Wehrverbände aller Schattierungen zurückgreifen konnten. Das galt selbst für die Sozialdemokraten, die in ihren Reihen immerhin einen Stabschef der Isonzo-Armee willkommen heißen konnten, den späteren Bundespräsidenten Theodor Körner v. Siegringen, dazu Conrads Chef der Italienabteilung im Operationsbureau, Oberst Karl Schneller, der auch als Poet hervortrat und sich wunderte, wie sehr sich seine Kameraden wunderten, warum er bei den »Roten« gelandet sei, wo er doch gar nicht »von unten« käme. Körner und Schneller standen zweifellos für eine Minderheit. Das Gros der altösterreichischen Offiziere war den Sozialdemokraten suspekt. Otto Bauer entfuhr einmal die Bemerkung, man solle sie am besten in den (ehemaligen) deutschen Kolonien ansiedeln.233 Die Speerspitze der Gegenseite bildete der Frontkämpferbund unter der Führung von Oberst Hermann Hiltl, der sich als Traditionsverband gegen alle Diffamierungen der alten Armee durch die neuen Machthaber wandte und bald eine radikale antimarxistische und demokratieskeptische Haltung an den Tag legte. Gängigen Klischees zufolge wurden die Frontkämpfer gern als Monarchisten abgetan ; ihre politischen Überzeugungen waren komplexer, ihr Einzugsbereich überwiegend städtisch. Umso paradoxer war es, dass die Frontkämpfer gegen Ende der Ersten Republik unter Major Kopschitz dann als Saalschutz des betont republikanischen Landbundes endeten, der Partei, die von allen vielleicht am wenigsten militärisches Gepräge aufwies.234 Die Frontkämpfer schrieben sich in die Geschichte der Ersten Republik ein, weil sie 1927 an dem Zwischenfall in Schattendorf beteiligt waren. Doch im Rahmen der bürgerlichen bzw. bürgerlich-bäuerlichen Wehrverbände, die in der Heimwehrbewegung mündeten, stellten sie einen Fremdkörper dar, der stets seine eigenen Wege ging. Eine spektakuläre Karriere machte bei den Heimwehren bloß eines ihrer frühen Mitglieder, der Theresienritter Major Emil Fey, der sich eine Stellung geschaffen hatte als Interessenvertreter seiner Kameraden, wenn man so will : als Lobbyist, nämlich als Geschäftsführer des Verbandes der Militärgagisten. Doch gerade unter den politischen Heimwehrführern war Fey als der einzige Berufsoffizier schon wieder eine Ausnahmeerscheinung. Die meisten seiner Kameraden begnügten sich mit den rein militärischen Aspekten der Wehrverbände und beriefen sich in heiklen politischen Situationen auf Befehle von oben.235
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Der Weltkrieg war zweifelsohne eine prägende Erfahrung. Doch nicht einmal unter den Offizieren ließen sich diese Erfahrungen über einen Leisten scheren : Es gab Frontoffiziere der Reserve wie Dollfuß, Raab und Schuschnigg, Etappenhengste wie Steidle oder Pfrimer, junge Fähnriche wie Starhemberg, die erst 1918 ins Feld rückten, als die Oberleutnants Otto Bauer und Anton Reinthaller nach Jahren der Kriegsgefangenschaft wieder aus Russland zurückkehrten. Noch schwieriger fällt die Einordnung der Millionen an Mannschaftsdienstgraden. Dem heroischen Gestus und dem Horror der Schützengräben stand die Tristesse der Etappe mit ihren Hungerrationen gegenüber. Der Erste Weltkrieg war der erste Krieg, bei dem sich nach den ersten Wochen zu jedem gegebenen Zeitpunkt das Gros der Soldaten in der Etappe aufhielt. Gerade im Hinterland war es 1918 zu Meutereien gekommen. Es ist kein Zufall, dass der populäre Antikriegsroman der Habsburgermonarchie, der »brave Soldat Schwejk« des zeitweiligen Rote Armee-Kommissars Jaroslav Hašek, sich zum Unterschied von Erich Maria Remarques »Im Westen nichts Neues«, dessen Verfilmung 1930 für solche Empörung sorgte, zur Gänze in der Etappe abspielt. Die »Kriegsgeneration« des Ersten Weltkriegs, die »ewigen Knaben, deren S ache das Reifen nicht sein konnte«, wie es bei Doderers »Dämonen« heißt, bildete vielleicht keine solche Einheit, wie zuweilen suggeriert. Es hatte eine gewisse Militarisierung stattgefunden. Aber vor allem hatten sich die Rahmenbedingungen geändert. Paramilitärische Verbände waren vor 1914 bloß in Galizien geduldet worden ; nach 1918 existierten und florierten sie in einer verfassungsrechtlichen Grauzone. Waffen waren nach dem Zerfall der alten Armee im Einvernehmen aller Parteien in großer Menge versteckt worden, um sie nicht der Entente abliefern zu müssen. Helmer sprach einmal im niederösterreichischen Landtag ganz offen davon, man hätte eine Menge vergraben, um sie dem Zugriff der Interalliierten Militärkommission zu entziehen. In dieser Beziehung war noch lange Solidarität angesagt. 1926 ging ein – rechtlich vielleicht nicht ganz einwandfreies – Waffengeschäft mit Jugoslawien im Einvernehmen aller Parteien über die Bühne : Vaugoin verkündete im Ministerrat frohgemut, Schutzbund-Kapo Deutsch habe zugesagt, dass »auf den Bahnen alles glatt geht und nichts verraten wird«. Noch 1928 wurde überlegt, die Waffen, die »unter gemeinsamer Sperre« im verwaisten Simmeringer »Neugebäude« Kaiser Maximilians II. lagerten, vielleicht in ein anderes Quartier zu verlagern.236 Zumindest in den Anfangsjahren wusste jede Seite daher auch recht gut d arüber Bescheid, wo die anderen ihre Gewehre versteckt hatten. Es war eine politische Entscheidung, ob man es darauf ankommen lassen wollte, sie auch tatsächlich zu »entdecken«. Seipel hielt Schober z. B. 1926 zurück, schon vor Weihnachten mit der Suche nach den Waffenlagern des Schutzbundes im Arsenal zu beginnen ; ihm war ein Termin unmittelbar vor den Wahlen offenbar genehmer. Der »Fund« wurde – nach einem fingierten Einbruch – sechs Wochen vor den Frühjahrswahlen mit großem Trara in Szene gesetzt. Die Beute bestand aus 6000 Gewehrläufen. Aus der
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Intrige entstand übrigens auch noch ein kurioser Prozess, weil sich der Beamte, der über die Verstecke genau Bescheid wusste und Vaugoin informiert hatte, um seinen »Judaslohn« geprellt fühlte und das Heeresministerium auf die Zahlung einer Bergeprämie verklagte.237 Außenminister Berger-Waldenegg unterhielt seine Beamten in den Dreißi gerjahren gern mit Reminiszenzen, wie er und seine Heimwehrkameraden Haubitzen und Panzerautos aus Heeres kasernen entführt hätten. Der Tiroler Heimwehrführer Steidle gestand Bundeskanzler – und Polizeipräsident – Schober schon 1921 treuherzig, seine Leute hätten aus Bundesheerbeständen »eine Anzahl von Geschützen sichergestellt« ; das könne man doch nicht als Diebstahl bezeichnen, schließlich sei dabei doch kein »gewinnsüchtiges MoAbbildung 17 : Emil Frey, artistisch verbrämt tiv« im Spiel gewesen.238 Da war es kein Wunder, wenn derselbe Schober einige Jahre später den empörten Heimwehrführern erklärte, sie sollten sich das von ihm eingebrachte »Entwaffnungsgesetz« nicht allzu sehr zu Herzen nehmen. Denn wenn er die Wehrverbände tatsächlich einmotten wolle, seien die längst bestehenden Vorschriften vollkommen hinreichend : Nach dem Kriegsgerätegesetz »sei es verboten, auch nur ein Bajonett oder einen Stahlhelm zu besitzen. Die Bestimmungen seien vorhanden, nur nicht angewendet worden.«239 Nicht »die Kriegsgeneration« an sich, aber ein hinreichender Teil davon war offenbar nur zu gerne bereit, den Wehrverbänden ihre Freizeit und ihre Wochenenden zu opfern. Es waren die Sozialdemokraten, die gegen Ende der Zwanzigerjahre gern darauf hinwiesen, bei den meisten Heimwehrleuten handle es sich um Jugendliche, die den Krieg bestenfalls noch in den Windeln miterlebt hatten. Bundeskanzler Streeruwitz, der mit den Wehrverbänden schlechte Erfahrungen gemacht hatte, ätzte als alter Offizier über das »Doppelreihenhormon im Pubertätsalter«, das »in allen Klassen eine Art inoffizieller knieweicher Exerzierfreude« ausgelöst habe.240 Welche Altersgruppe da auch immer besondere Lust am Marschieren empfand, diese Bereitschaft traf sich mit der Haltung des Publikums, das militärisches Gepränge und Massendemonstrationen durchaus als werbewirksam empfand, nicht immer – auch
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damals wirkte es zuweilen geschäftsschädigend –, aber in dem meisten Fällen. Auch Wehrsportübungen hatten nichts Anrüchiges an sich. Der Wiener Bürgermeister, so behauptete zumindest Heeresminister Vaugoin, lud bei Gelegenheit zum Handgranatenwerfen in den Prater ein. Es fehlte nicht an Hinweisen, so manche der eifrigen Marschierer seien von Gewerkschaften oder Arbeitgebern zum Mitmachen gezwungen und in die Wehrverbände hineingepresst worden. Kunschak sprach in dem Zusammenhang von »zwangsweisen Assentierungen in den Fabriken bei sonstigem Verlust des P ostens«.241 Sozialer Druck war zweifellos im Spiel, wie bei allen Massenphänomenen. Dennoch handelte es sich bei den meisten Teilnehmern wohl tatsächlich um Freiwillige, die von der Notwendigkeit ihres Tuns und von der guten Sache überzeugt waren, ohne ihnen deshalb immer gleich ausgefeilte ideologische Konzepte unterstellen zu müssen. Ihrem Idealismus tut es auch keinen Abbruch, wenn man abschließend auf eine Kombination hinweist, die geeignet war, die Attraktivität der Wehrverbände als Freizeitvergnügen zu steigern. Das Unterhaltungsangebot war nicht so reichhaltig – und die meisten hatten viel weniger Geld, um sich seiner zu bedienen. Gemeinschaftsfahrten in Uniform waren da keine so schlechte Alternative. Freilich : Allein mit anthropologischen oder auch generationsspezifischen Faktoren lässt sich das Phänomen der Wehrverbände nicht erklären. Ihr Entstehen und ihr Wildwuchs in den ersten Jahren der Republik, als Antwort auf diverse Herausforderungen, vermag dabei weniger Wunder zu nehmen als der Aspekt ihrer Verstetigung, ja ihrer zweiten Blüte, zu einer Zeit, als viele der ursprünglichen Anreize schon nicht mehr gegeben waren. Dabei handelte es sich um eine Zentralisierung, die aus lokalen und regionalen Verbänden erst die wohlorganisierten Bürgerkriegsarmeen machten, die wir kennen oder zu kennen glauben. Doch hinter dem gemeinsamen Nenner der Zentralisierung und der Inanspruchnahme für weitreichende politische Konzepte verbargen sich auf der Linken und auf der Rechten ganz unterschiedliche Entwicklungen. Auf der Linken handelte es sich um die Durchsetzung des Primats der Politik und des Primats der Partei. Denn die Arbeiterwehren der Frühzeit, offiziell auch Ordner genannt, unterstanden den Arbeiterräten, die zwar überwiegend ebenfalls aus Sozialdemokraten bestanden, aber erst nach und nach im Sinne des Betriebsrätegesetzes in die Gewerkschaften integriert wurden. 1923 war es dann so weit : Die Ordner sollten in eine zentrale Organisation überführt werden ; ihre bisherigen Auftraggeber, die Arbeiterräte, wurden Ende 1924 offiziell aufgelöst und zu Grabe getragen. Die Sozialdemokratie wollte zwei Fliegen mit einem Schlag treffen, wenn sie am 9. Februar 1923 – ordnungsgemäß als Verein – den Republikanischen Schutzbund anmeldete. (Als Muster dienten übrigens die Statuten der Konkurrenz, der Tiroler Heimwehr.) Es ging darum, einerseits die bestehenden Arbeiterwehren, die an ihrem linken Flügel – oder darüber hinaus – angesiedelt waren, dem Kommando der Partei zu unter-
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stellen, andererseits mit dem Schutzbund der Herausforderung von rechts, durch die »Heeresreform« der Bürgerblock-Regierung, ein Gegengewicht entgegenstellen. Denn inzwischen hatte die Partei die Kontrolle über die Volkswehr verloren, die seit 1922 einem christlichsozialen Hardliner als Heeresminister unterstand, Carl Vaugoin, der prompt an eine »Entpolitisierung«, sprich : Umpolitisierung des Bundesheeres schritt. Sobald die Verträge der 1919 angeworbenen »Soldaten auf Zeit« nach sechs Jahren ausliefen, begann er die sozialdemokratischen Parteigänger durch Christlichsoziale zu ersetzen, ein Prozess, der anfangs noch durch allerlei kuriose Pro porzbestimmungen verlangsamt wurde : In einem personalpolitischen Ping-Pong- Spiel durfte die Opposition einen gewissen Prozentsatz seiner Kandidaten ablehnen, der Minister wiederum auf einem Teil von ihnen beharren. 1925 feierte der sozialdemokratische ›Militärverband‹ seinen Sieg bei den Vertrauensmännerwahlen noch so ausgelassen, dass für die Partei ein paar Monatsgehälter an Spesen anfielen. Doch bereits 1927 hatte Vaugoins »Wehrbund« den »Militärverband« überholt und bis 1932/33 mit 18.000 Mitgliedern im Bundesheer nahezu eine Monopolstellung errungen. Deutsch empfahl dem Militärverband in den letzten Jahren deshalb, schon gar nicht mehr zu den Wahlen anzutreten.242 Die Gründung des Schutzbundes trug daher von Anbeginn an ein Janusgesicht : Die Disziplinierung und Indienstnahme der Arbeiterwehren, die mit ihrem spontanen Aktionismus viel böses Blut gemacht hatten, war ganz im Sinne der bürgerlichen Ordnung ; die Aufstellung einer Partei-Armee als trotzige Reaktion auf Vaugoins Personalpolitik hingegen eine kalkulierte – und dabei vielleicht doch zu wenig durchdachte – Kampfansage an das Gewaltmonopol des Staates. Denn einer Berufsarmee vermochten die Wochenend-Soldaten im Ernstfall doch nicht standzuhalten, selbst wenn der Stand des Schutzbundes mit 50.000–80.000 Mann in seinen Glanzzeiten das Zwei- oder Dreifache des Bundesheeres betrug. Auch mit Geldmitteln war der Schutzbund reichlich ausgestattet : Die Haupteinnahmequelle war eine Umlage von 5 g pro Monat auf jedes Mitglied der Freien Gewerkschaften, die sich zusammen mit den Zuschüssen durch den ASKÖ, den Arbeitersportklub, der pro Mitglied sogar 10 g abführte, auf fast eine halbe Million S pro Jahr belief.243 Die diversen Selbstschutzverbände der Rechten, die wir der Einfachheit halber gleich jetzt Heimwehren nennen wollen, stellten in der Anfangsphase des Schutzbundes 1923/24 hingegen bloß einen »Jausengegner« dar. Oder besser gesagt : nicht einmal das, denn die Hochburgen beider Seiten lagen damals – mit ganz wenigen Ausnahme, die wichtigste davon in der Obersteiermark – in der Regel noch meilenweit voneinander entfernt, selbst wenn sich relativ bald die Praxis einbürgerte, Aufmärsche mit Vorliebe in gegnerischen Wohnvierteln oder Hochburgen abzuhalten, wie z. B. am 6. September 1925 der »Ordnertag« des Schutzbundes mit 10.000 Mann im bürgerlichen Krems, am 7. Oktober 1928 dann der Aufmarsch der Heimwehren mit 15.000 »Hahnenschwanzlern« im proletarischen Wiener Neustadt.
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»Wie sich die Bilder gleichen« Abbildung 18 : Motorisierte Gruppe Schutzbund Abbildung 19 : Motorisierte Gruppe Heimwehr Abbildung 20 : Angehöriger des Schutzbundes Abbildung 21 : Plakat Heimatblock 1930
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Die Heimwehren befanden sich nach allerlei turbulenten Allianzen und Planungen der unmittelbaren Nachkriegsjahre in einer Abschwungphase. Die bayerischen Ansprechpartner waren von der Entente, die gegen jeglichen Versuch einer Remilitarisierung Deutschlands allergisch war, aus dem Geschäft geworfen worden. Vermutlich war auch zuvor schon bei manchen der Zahlen, die bei ihren Treffen kolportiert wurden, ein wenig Jägerlatein mit im Spiel. Seipel hatte als Kanzler 1922/23 zwar anfangs damit geliebäugelt, die Heimwehren für seinen Sanierungskurs als Ordnungstruppe in Dienst zu nehmen, dann aber davon Abstand genommen. Die chronische Uneinigkeit der diversen, allesamt gegeneinander intrigierenden C liquen und Machthaber flößte ihm offenbar kein Vertrauen ein.244 Über eine verlässliche Basis verfügten die Heimwehren nur in den Grenzländern Tirol und Kärnten. Hier war im Fall eines Konflikts mit den südlichen Nachbarn zuweilen sogar über eine Zusammenarbeit mit dem Schutzbund gegen den äußeren Feind nachgedacht worden. In Kärnten zerbrachen sich alte Offiziere den Kopf über ihre Rolle in einem zukünftigen Krieg zwischen Italien und dem SHS-Königreich (Jugoslawien).245 In Tirol und Vorarlberg waren die Heimwehren von der Landesregierung offiziell als Hilfspolizei in Aussicht genommen worden. In den meisten anderen Ländern wurden ihre Restbestände einem paritätisch zusammengesetzten Komitee der bürgerlichen Parteien unterstellt. In Oberösterreich erklärte sich Landeshauptmann Prälat Hauser erst 1925 widerwillig zu diesem Schritt bereit ; in der Steiermark gewann der »Aufsichtsrat« eine immer eindeutigere Schlagseite : Rintelen hatte die Chance erkannt, sich mit den Heimwehren ein eigenes Machtinstrument zu verschaffen : Die Führungsgremien seiner steirischen Heimwehr bestanden fast ausschließlich aus seinen Gefolgsleuten, mit einem einsamen Landbündler als Alibi.246 Freilich : Rintelens Machtbereich endete an den Fischbacher Alpen, fünfzig Kilometer nördlich von Graz. Die Obersteiermark, die Mur-Mürz-Furche war das Revier einer regionalen Sonderentwicklung, nämlich des Steirischen Heimatschutzes unter der Führung des Judenburger Rechtsanwalts Walter Pfrimer, einer denkbar uncharismatisch-korpulenten Gestalt, überdies erst seit Kurzem hier ansässig, schwerhörig, ohne Kriegserfahrung und militärische Talente, dem es dennoch gelang, eine rasch einsatzfertige Truppe aufzustellen und zu einem Machtfaktor zu machen. Mittel- und langfristig spielte dabei die Verbindung zum Verband der obersteirischen Eisen- und Stahlwerke eine entscheidende Rolle, der ein Gegengewicht gegen die übermächtigen und radikalen Sozialdemokraten in Bruck und Umgebung suchte. Gerade das Management der Alpine, des größten Industrie- und Bergbaukonzerns der Republik, war in der Frühzeit immer wieder Gegenstand von Übergriffen gewesen.247 Insofern lagen die Synergie-Effekte sozusagen in der Luft. Ein Rest von Verwunderung bleibt dennoch zurück, dass in einem Umfeld von Theresienrittern und Gardeoffizieren, alten Adeligen und Neureichen, gerade dem biederen Provinzad-
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vokaten Pfrimer diese Rolle in den Schoß fiel. Pfrimer hatte 1921 sein Gesellenstück absolviert, als er vor der Haustür, in Judenburg, einer Gendarmerie-Abteilung zu Hilfe kam, die angesichts einer aufgebrachten Menge von Arbeitern in Bedrängnis geraten war. Ihr Kommandant, Major August v. Meyszner, wurde zu einem seiner engsten Verbündeten im Sicherheitsapparat, brachte es über die Heimwehren zum Landesrat (und später in der Waffen-SS auch noch zum General).248 Die Konfrontation in Judenburg hatte übrigens unblutig geendet, genauso wie später Pfrimers Einschreiten gegen den Verkehrsstreik im Juli 1927. Damit gerät ein selten gewürdigter Aspekt des Phänomens Wehrverbände in den Blickwinkel. Die »Bürgerkriegsarmeen« der Ersten Republik werden oft für das »Scheitern« der Ersten Republik verantwortlich gemacht. Gerhard Botz hat schon vor langen Jahren ein dickes Buch über »Gewalt in der Politik« vorgelegt, das minutiös eine lange Liste von Mord und Totschlag dokumentiert, wie sie aus den häufigen Zusammenstößen politischer Gegner resultieren. Er kam dabei allein bis 1933 – vom Justizpalastbrand mit seinen fast 100 Opfern einmal abgesehen – auf ca. 125 Tote als Opfer politischer Gewaltanwendung.249 Die Liste ist es wert, ein wenig genauer unter die Lupe genommen zu werden : Die Mehrzahl der Opfer war keineswegs im Kampf paramilitärischer Gruppen gegeneinander zu beklagen, sondern beim Einsatz der staatlichen Exekutive gegen außer Rand und Band geratene Demonstrationen, meist kommunistischer oder linksradikaler Provenienz in der Frühzeit der Republik, den Jahren 1919/20. Sobald in den Zwanzigerjahren Angehörige von »Wehrverbänden« involviert waren, handelte es sich bei den Bluttaten fast immer um Zusammenstöße kleiner und kleinster Gruppen, fast nie – mit Ausnahme der Schlacht von St. Lorenzen im August 1929, auf die wir noch zurückkommen werden – um geschlossene Formationen von Schutzbund oder Heimwehren. Das Standardszenarium drehte sich um die »Sprengung« gegnerischer Versammlungen : Von Schusswaffen wurde in der Regel dann Gebrauch gemacht, wenn unterlegene Gruppen ihren Rückzug oder ihre Flucht sichern wollten, 1923 in Wien z. B. sogar von einer fahrenden Straßenbahn aus. Auf Bundeskanzler Seipel 1924 und Bürgermeister Seitz 1927 wurden Attentate verübt : Die Täter waren politisch einschlägig zu verorten, doch in beiden Fällen psychisch labil und gerieten über kurz oder lang mit der eigenen Seite in Konflikt. Zu Gewalttaten kam es bei Wirtshausraufereien, auf dem Heimweg, mitunter auch als Racheakt, nicht bei den großen Aufmärschen. Ein Polizist resümierte : »Solange die Leute beisammen sind, ist es gut. Aber wenn sie auseinandergehen, besteht die Gefahr von Zusammenstößen.«250 So war z. B. zwischen dem Justizpalastbrand im Juli 1927 und der Schlacht von St. Lorenzen, im August 1929, ein Zeitraum, geprägt von fieberhafter Agitation und Aufrüstung, kein einziges Todesopfer zu beklagen.251 Auffällig ist eine räumliche und eine zeitliche Konzentration : Spitzenreiter der Statistik war zweifellos die Obersteiermark, im Umkreis des Dreiecks Leoben-Bruck-
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Kapfenberg. Zeitlich wiederum war ein deutlicher Anstieg 1932/33 zu beobachten, in den Monaten vor der Errichtung des autoritären Regimes, als insbesondere die Anhänger der beiden Oppositionsparteien, Sozialdemokraten und Nationalsozialisten, mit großer Erbitterung aufeinander losgingen.252 Zweifellos : Paramilitärische Formationen, die damit drohten, das Recht in die eigene Hand zu nehmen, »russisch zu reden« oder den »Marsch auf Wien« anzutreten, waren ein destabilisierendes Element, etwas, was wir in der Demokratie auf die Dauer nicht brauchen können, wie es ein Innenminister einmal klassisch formulierte, der übrigens selbst Mitglied der Heimwehren war (aber bald darauf prompt ausgeschlossen wurde). Die ketzerische Frage muss dennoch lauten : Wenn es aber nun einmal starke soziale Spannungen, eine aufgeladene Stimmung und jede Menge Waffen im Umlauf gab, kam den Wehrverbänden dann nicht auch die Funktion zu, diese Energien zu kanalisieren und zu disziplinieren ? Bei zivilen Demonstrationen weiß man nie, wer sich dem Zug anschließt, Radikalinskis oder agents p rovocateurs. Bei den Wehrverbänden war es anders : Die alten Offiziere, die auf mittlerer Ebene derlei Einsätze planten und überwachten, waren auf Disziplin bedacht. Einen schlechten Ruf erwarb sich die Heimwehr in dieser Hinsicht erst ab 1933/34, sobald sie als staatliches Schutzkorps fungierte, wahllos Arbeitslose rekrutierte und das Gefühl hatte, sich gegenüber »Rebellen« etwas herausnehmen zu dürfen. Davon waren die Heimwehren in der Mitte der Zwanzigerjahre noch weit entfernt. Wenn sie überhaupt noch eine gewichtige Rolle in der österreichischen Politik spielen wollten, war auch bei ihnen ein Prozess der schrittweisen Zentralisierung angesagt. Steidle mit seinem Rückhalt an der Tiroler Landesregierung hatte einen lockeren Verband der westlichen Länder um sich geschart. 1926/27 tat er den entscheidenden Schritt und begann auch die Steirer einzubinden, und zwar die Steirer in beiderlei Gestalten, Rintelens Satrapen und Pfrimers Truppe in der Obersteiermark. Das Ziel war die Schaffung einer »Bundesführung«. Der entscheidende Unterschied zur linken Seite, zur Organisation des Schutzbundes, bestand darin : Beim Schutzbund bedeutete Zentralisierung automatisch Unterstellung unter die Parteiführung, die ab 1927 all die Funktionäre und Befehlshaber von oben ernannte, die bisher gewählt worden waren. »Strengste proletarische Disziplin sei jetzt notwendiger denn je.«253 Bei den Heimwehren hingegen bedeutete Zentralisierung die Emanzipation von der Kuratel der Parteien, denen man auf Landesebene bis zu einem gewissen Grad ausgeliefert war. Die Bundesführung bestand aus Steidle und Pfrimer, politische Kontrollgremien waren nicht vorgesehen. Politische Kontakte natürlich schon, aber man wollte mit der Politik auf Augenhöhe verhandeln, als eigenständiger Faktor betrachtet werden. Steidle hatte als christlichsozialer Bundesrat da einen Fuß in der Tür, Pfrimer galt als unabhängiger Nationaler, ja als »Alldeutscher« ; ihren taktischen Bewegungsspielraum engten diese weltanschaulichen Eierschalen nicht ein.
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Eine gewisse Doppelgleisigkeit blieb bestehen, denn die militärischen Fachleute bildeten als Wehrführer eine eigene Hierarchie, die sich auf technische Aufgaben beschränkten. Sie sollten erst im Ernstfall das Kommando übernehmen, bis dahin bloß beratend tätig sein. Im Rahmen der Bundesführung wälzte man ehrgeizige Ziele, vielleicht auch ein wenig fantastische, vor allem aber wenig konkrete Pläne. Tragfähige Kontakte zum faschistischen Italien gab es damals noch keine. Doch der »Marsch auf Rom«, Mussolinis Betrauung mit der Ministerpräsidentschaft im Zuge einer paramilitärischen Großdemonstration seiner »Schwarzhemden« im Oktober 1922, ging so manchen nicht aus dem Kopf. Anfang 1927 liebäugelte die Bundesführung der Heimwehren selbst mit einer Großaktion, bloß um zum Schluss zu kommen : Dafür sei kein Geld vorhanden – und niemand wolle Geld geben, solange nicht Bundeskanzler Seipel höchstpersönlich dafür grünes Licht gebe. Seipel aber zeige sich nicht interessiert.254 Wenige Monate später war alles anders.
III. Die politischen Konjunkturen »Wir kommen vor lauter Räten in die vollendete Ratlosigkeit. Es kann ein berechtigter Gedanke auch überspannt werden und in diesen Zustand drohen wir zu geraten.«255 Karl Renner, 15. September 1919 »Ein Gespenst entsteigt der Gruft. Die Obstruktion ist wieder in das Parlament eingezogen und trübe Erinnerungen an die bösesten Zeiten der Politik im alten Österreich werden wach.« Neue Freie Presse, 6. April 1923
1. Die »Österreichische Revolution« 1918–1920 Der Sprung in die Republik War die Erste Republik das Ergebnis einer Revolution oder bloß die Republik, die allergehorsamst auf kaiserlichen Befehl entstanden war ? Die Sozialdemokratie ließ sich das Kompliment gern gefallen, im Herbst 1918 tatsächlich einen welthistorischen Umbruch bewerkstelligt zu haben. Freilich, schon Otto Bauer hatte in seinem Rückblick auf diese Jahre klargestellt : »Die Revolution, die das Habsburgerreich zerstört hat, war nicht unsere Revolution.« Ja, es habe 1918 in Österreich tatsächlich eine Revolution stattgefunden, aber eine bürgerliche, nämlich eine Revolution des nichtdeutschen Bürgertums der Habsburgermonarchie, und auch diese Revolution war ein Resultat des Sieges der Entente-Armeen. Nicht die Revolution habe die Auflösung des Reiches bewirkt, sondern die Auflösung des Reiches die Revolution ermöglicht.256 Die österreichische Revolution im Kleinen, mit oder ohne Anführungszeichen, nicht die Auflösung der Monarchie, sondern die Umwälzungen in dem Rest, der von Deutsch-Österreich geblieben war, setzte sich fast ausschließlich aus Schritten und Maßnahmen zusammen, die dazu gedacht waren, die eigentliche, die große Revolution, das Pendant zu Paris 1789 und Petersburg 1917, zu verhindern, zu verwässern und zu kanalisieren. Die exzessive Revolutionsfurcht dieser Tage erscheint aus dem Abstand eines Jahrhunderts übertrieben. Die Ereignisse gaben vielmehr Kaiser Karl recht, der all den Versuchen ängstlicher Bürgerlicher, die potenziellen Revolutionäre zu zähmen und zu integrieren, mit dem Argument begegnete, was immer auch geschehe, der Bolschewismus vermöge sich in Mitteleuropa ja doch nicht zu halten. Nachher wissen wir es eben immer besser. Doch in der Hitze des Gefechts wollte keiner so wirklich die Probe aufs Exempel wagen. Das Bürgertum gab lieber nach.
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Viktor Adler soll wenige Tage vor seinem Tod gesagt haben : »Mich beunruhigt nur, daß wir auf keinen Widerstand stoßen. Wo ist die Reaktion ? Wir stoßen mit der Stange in den Nebel.«257 Die Revolutionsfurcht begründete die zentrale Rolle der Sozialdemokratie. In Ungarn, wo es tatsächlich zur Revolution kam, wurde die Partei zwischen Kommu nisten und Konterrevolutionären zerrieben. In Österreich verwandelte sie die Koketterie mit der Revolution in ein überaus erfolgreiches Geschäftsmodell, in einem Maße, das es äußerst schwer macht, objektive Notwendigkeiten und geschickte Inszenierungen voneinander zu trennen. Das verängstigte Bürgertum, das auf einer formellen politisch-parlamentarischen Ebene ja nie seine Mehrheit einbüßte, sah keine andere Möglichkeit als ein »Appeasement« der revolutionären Kräfte. Doch wer waren die revolutionären Kräfte ? Die unberechenbaren »Massen«, die aus dem geringsten Anlass auf die Straßen gingen, sobald der Autoritätsverlust der alten Exekutive offenbar geworden war ; die »Arbeiter«, die damals gerade in Massen in die Gewerkschaften strömten ; oder die sozialdemokratische Partei, die versprach oder zumindest durchblicken ließ, beide bändigen zu können, wenn man ihren Forderungen nachgab. Andernfalls, so lautete die unterschwellige Drohung, würde sie ihre Hände in Unschuld waschen – und die uneinsichtige Bourgeoisie hätte sich alle Folgen selbst zuzuschreiben. Dieses Pokern und Tauziehen um das »Appeasement« der Linken, des linken Flügels der Sozialdemokratie und der ausgewiesenen Linksradikalen, war der eine »rote Faden« des Jahres 1918/19. Der andere war der außengesteuerte Aspekt der »österreichischen Revolution«, wie Otto Bauer ihn zu Recht betont hat. Mit dem Kollaps des alten Obrigkeitsstaates hatte die Stunde des Selbstbestimmungsrechts geschlagen, zumindest in der Theorie. Aber dieses Selbstbestimmungsrecht musste nach allen Seiten hin verteidigt werden, gegen innere und äußere Bedrohungen, vor allem aber gegen Bedrohungen, die im Zerfallsprozess der Monarchie zwischen beiden Kategorien irrlichternd wechselten. Die Impulse für die Bildung des Staates Deutsch-Österreich, zumindest für das Timing, gingen mindestens so sehr von Washington, von Prag und Berlin aus wie von Wien. Den Ausgangspunkt bildete das Völkermanifest Kaiser Karls vom 16. Oktober 1918, das als Antwort auf die Noten des amerikanischen Präsidenten Wilson gedacht war. Man wollte Wilson, der in seinen 14 Punkten das Selbstbestimmungsrecht angesprochen hatte, beim Wort nehmen und eine Auffangposition beziehen, die alle Rechte der Deutschen wahrte : Selbstbestimmungsrecht für Tschechen und Südslawen, aber natürlich auch für die Sudetendeutschen. Dahinter stand bei manchen der Staatsmänner in den letzten Tagen der Monarchie ein dialektisches Kalkül : Die Unmöglichkeit der fein säuberlichen Trennung der Siedlungsgebiete werde notwendigerweise zu einer Anerkennung der Gemeinsamkeiten führen, um der Monarchie in der einen oder anderen Weise ein Überleben zu ermöglichen. Doch dieser Appell
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an Wilsons Worte von vorgestern kam zu spät. Wilson verwies die österreichische Regierung an die Tschechen und Südslawen, die selbst über ihr Schicksal bestimmen würden, eine Entscheidung, der er nicht vorgreifen könne und wolle. Was blieb, waren die »Nationalräte« als Gründerväter der Nachfolgestaaten. Die Nationalräte setzten sich nach dem Wortlaut des Völkermanifests aus den Mitgliedern des Abgeordnetenhauses zusammen, die 1911 in deutschen, tschechischen etc. Wahlkreisen gewählt worden waren. Ihre Kompetenzen waren bewusst vage formuliert worden ; ihr ursprünglicher Beruf, als legitimiertes Gesprächsforum für einen »runden Tisch« unter Vorsitz des Kaisers zu dienen, war durch die Absage der Tschechen und Südslawen, aus unterschiedlichen Gründen auch der Polen, nicht mehr aktuell. Die Nationalräte entwickelten stattdessen eine gewisse Eigendynamik, die von der kaiserlichen Regierung zwar nicht »anbefohlen« wurde, der sie aber auch nichts in den Weg legte. Ministerpräsident Lammasch wollte den übernationalen Charakter seines Kabinetts wahren und im Streit der Nationalitäten nicht Stellung beziehen. Dass die Krone nicht »Farbe bekennen« wolle, war einer der Vorwürfe, wie sie z. B. vom Abg. Teufel gegen Karl erhoben wurden. Man wolle ja gern mit der Krone gehen, doch nur, wenn die Krone mit den Deutschen ginge.258 Die Deutsch-Österreicher sahen sich in Zugzwang versetzt, sobald die anderen Nationalitäten mit dem Aufbau einer eigenen Exekutive begannen. Am 28. Oktober übernahmen der tschechische narodni vybor die Macht in Prag. Die neue Regierung wurde nicht bloß von der Entente anerkannt, sondern prompt auch von Berlin. Die Deutsch-Österreicher wollten da nicht ins Hintertreffen geraten. Karl Renner wurde noch am selben Abend beauftragt, »den Entwurf eines Organisationsstatutes für Deutschösterreich vorzulegen«.259 Auf diese Weise wurde im Handumdrehen eine de-facto-Verfassung aus dem Hut gezaubert. Das Resultat war eine Proporzregierung, oder besser gesagt : der Einfachheit halber vorerst einmal eine Proporzregierung, die von einer Proporzregierung bestellt wurde. Der Nationalrat der Deutschen in Österreich hatte am 21. Oktober einen zwanzigköpfigen Vollzugsausschuß gewählt. Dieser Vollzugsausschuß war – den parlamentarischen Usancen folgend – nach dem Proporz zusammengesetzt : Von den 1911 gewählten 232 deutschen Abgeordneten hatten 208 die verlängerte Legislatur periode überlebt : 86 davon gehörten dem Verband der deutschnationalen Parteien an, 66 waren Christlichsoziale, 38 Sozialdemokraten, sieben hatten sich zu den Wiener Deutschfreiheitlichen zusammengeschlossen, fünf unter Oskar Teufel von den Deutschnationalen im Sommer als Unabhängigkeitspartei abgespalten ; dazu kamen drei Alldeutsche und drei »wilde« Abgeordnete.260 Das ergab für den Vollzugsausschuß ein Verhältnis von acht Deutschnationalen (fünf Sudetendeutsche, zwei Kärntner Agrarier und der Salzburger Sylvester)261, sechs Christlichsozialen (je einer für die größeren Alpenländer, nur für Niederösterreich zwei), vier Sozialdemokraten (Adler, Renner, der Tiroler Abram und der Deutschböhme Josef Seliger), den (jüdi-
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schen) Wiener »Sozialpolitiker« Julius Ofner (der in manchen Aufstellungen schon zu den Sozialdemokraten gerechnet wurde) und Oskar Teufel für die Unabhängigkeitspartei.262 Jedes der drei Lager stellte einen der Vorsitzenden des Nationalrates : Der Zufall wollte, dass sich darunter zwei Oberösterreicher befanden : An der Spitze der Christ lichsozialen wechselten einander die Länder ab ; Landeshauptmann Johann Nepo muk Hauser war turnusmäßig an der Spitze der Christlichsozialen ; der Linzer Bürgermeister Franz Dinghofer war Obmann der stärksten Fraktion innerhalb des Verbandes der Deutschnationalen Parteien ; für die Sozialdemokraten wurde Seitz gewählt, infolge der Erkrankung des Übervaters der Partei, Viktor Adler. Mit dem Renner’schen Provisorium, das am 30. Oktober vom Plenum des Nationalrates abgesegnet wurde, verwandelte sich der Nationalrat in die provisorische Nationalversammlung, der Vollzugsausschuß in den Staatsrat. Doch der Staatsrat übernahm eben nicht die vollziehende Gewalt, sondern übertrug sie einem Kabinett, bestehend aus einem »Staatskanzler« und einer Reihe von Staatssekretären. Der Staatsrat war nach dem Proporz zusammengesetzt. Es war nur logisch, wenn dasselbe auch für die neue Regierung galt. Logisch, aber nicht mehr ganz selbstverständlich, denn die Sozialdemokraten waren – am Vorabend ihres Parteitages am 1. November – nur dann zur Mitarbeit in der neuen Exekutive bereit, wenn gewisse Bedingungen erfüllt würden. Unter ihren elf Punkten stachen zwei hervor : Sie verbaten sich jede Mitsprache des Kaisers bei der Ernennung der Staatssekretäre – und sie forderten vorausschauend eine staatliche Arbeitslosenunterstützung, um für die Übergangszeit gerüstet zu sein, sobald nach der Demobilisierung, dem Abbau der Armee und der Rüstungsindustrie, Hunderttausende buchstäblich auf der Straße stehen würden. Oder wie einer der Beteiligten versicherte : »Für versicherungsmathematische Überlegungen war im Drang der Ereignisse keine Zeit.«263 Die Wunschliste wurde ohne weitere Debatte akzeptiert, kurz darauf sogar noch durch den Acht-Stunden-Tag ergänzt, die Regierung einstimmig gewählt. Die Sozialdemokraten stellten unter den Staatssekretären nur eine Minderheit. Dafür aber den Chef. Karl Renner wurde »Staatskanzler«, bald als Republikgründer apostrophiert, anfangs verschämt bloß als »Leiter der Kanzlei« des Staatsrates ausgeschildert. Für Renner sprachen seine staatsrechtlichen Vorstudien ; sein Renommee als prominenter Vertreter des rechten Flügels der Sozialdemokratie, der schon in der Monarchie beinahe zu Ministerehren gekommen wäre, zumindest aber im Ernährungsamt zusammen mit dem Christlichsozialen Fink gedient hatte. Renner war als Kandidat für den Posten konkurrenzlos ; aber dieses Alleinstellungsmerkmal ergab sich aus der Konstellation. Er war ein Kompromisskandidat, der in seiner Partei damals keine Position bekleidete. Sein Parteichef, der todkranke Viktor Adler, übernahm für die letzten Tage seines Lebens den Posten des »Außenministers« (und erbat sich Otto Bauer als Unterstaatssekretär). Die Prioritäten der Partei gingen aus
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den zwei weiteren Ressorts hervor, die sie übernahm : Ferdinand Hanusch übernahm das Staatsamt für soziale Fürsorge, Julius Deutsch wurde Unterstaatssekretär (und der eigentliche »starke Mann«) im Heeresressort. Die Sozialdemokraten hatten ihre erste Garnitur in die »Regierung« entsandt. Von den Bürgerlichen ließ sich das nur mit Einschränkungen sagen : Für die Christlichsozialen beklagte sich Hauser über das mangelnde Interesse : »So schauen wir aus, wir haben niemanden.«264 Das einzige politische Schwergewicht unter ihren Kandidaten war Josef Stöckler, der Obmann des niederösterreichischen Bauernbundes, im Staatsamt für Landwirtschaft. Die deutschnationalen Parteien waren prominent vertreten, mit einer Prominenz freilich, die keinerlei Bodenhaftung mehr verbürgte : Karl Urban war vor nicht allzu langer Zeit noch kaiserlicher Handelsminister gewesen und kehrte jetzt in sein altes Ressort zurück ; Raphael Pacher (Unterricht) stand als verbindliches Aushängeschild der Deutschradikalen immer schon auf dem Sprung ins Ministerium ; zwei weitere Deutschböhmen (Julius Roller, später lange Zeit Präsident des Obersten Gerichtshofes, und der Egerländer Agrarier Josef Mayer) komplettierten die Liste. Wenn man bedenkt, dass auch die Sozialdemokraten fast durchgehend in Böhmen und Mähren geboren waren, gewann das Kabinett rasch den Eindruck einer sudetendeutschen Regierung im Exil, oder doch : am Wege ins Exil ; ihr Engagement erfolgte nicht zuletzt, um diesen Weg vielleicht doch noch überflüssig zu machen. Die Alpenländer fehlten fast vollkommen, bis auf den Kärntner Steinwender. Die vier »schwarzen« Staatssekretäre waren – mit Ausnahme Stöcklers – allesamt gebürtige Wiener, darunter allerdings einige, die inzwischen in Niederösterreicher zweitrangige Posten bekleideten, vom Bürgermeister von Schönau (Carl Jukel) bis zum Stadtrat von Amstetten (Johann Zerdik), aber bald wieder in der Versenkung verschwanden. Die Christlichsozialen im Westen und im Süden blieben lieber daheim. Das eigentliche Geschehen spielte sich in den Ländern ab. Bei dieser passiven Resistenz des Gros der Partei mochten prosaische Ursachen, wie z. B. die chaotischen bis inexistenten Bahnverbindungen, eine Rolle spielen. Dennoch war die Situation bezeichnend. An Wien hielten sich im November 1918 in erster Linie die Wiener – und die Länder, die Wien – wie sich bald herausstellte – nicht mehr halten konnte. Auch die nächste Entscheidung wurde Deutschösterreich binnen einer Woche von außen nahezu aufgezwungen. Den Waffenstillstand von Villa Giusti mit Italien am 3. November hatte der Staatsrat noch kluger- und perfiderweise mit einer völlig unrevolutionären Erklärung der negativen Kompetenz quittiert. Während sich in Deutschland die Männer, die am 11. November den Waffenstillstand mit der Entente unterzeichneten, ein Leben lang als »Novemberverbrecher« beschimpfen lassen musste, erklärten sich ihre österreichischen Kollegen dafür nicht kompetent. Derlei Dinge zählten zum Bereich der gemeinsamen Angelegenheiten der Monarchie, sie hätten damit nichts zu tun. Hinter dieser Fassade mochte man diskutie-
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ren, ob das neue Deutsch-Österreich jetzt neutral sei, weiter ein Bundesgenosse des Deutschen Reiches oder bloß ein Freund, auf alle Fälle wies man jeglichen Handlungsbedarf weit von sich. Selbst die Frage, ob man zum Schutz vor einem italienischen Einmarsch oder Plünderungen reichsdeutsche Truppen einladen solle, wurde salomonisch dahingehend entschieden, wenn sie es für richtig hielten, würden die Deutschen es schon von selbst tun, man könne sich da nur die Finger verbrennen.265 Doch um den 8./9. November kam Bewegung in die Sache : Die Verhandlungen mit den Tschechen, die Deutsch-Österreich von einem Drittel seines Staatsgebiets trennten, hatten sich festgefahren. Die Wiener benötigten ganz dringend Kohle ; Prag forderte dafür die Anerkennung des böhmischen Staatsrechts, den Verzicht auf die Sudetengebiete. Im Staatsrat prallten die Gegensätze hart aufeinander. Wie oft in außenpolitischen Fragen gingen die Differenzen quer durch die Parteien. Sollte man sich jetzt schon, zu einem Zeitpunkt, wo man denkbar schlechte Karten hatte, in Konflikte mit den Tschechen einlassen ? War es da nicht vernünftiger, auf die Friedenskonferenz zu vertrauen, auf Wilson, den Weltgeist oder auf die sozialistische Weltrevolution und inzwischen gute Miene zum bösen Spiel zu machen ? Die Gegenseite leitete daraus den Vorwurf ab, drei Millionen Sudetendeutsche um ein Linsengericht zu verschachern, genauer : um ein paar Waggons Zucker oder Kohle. Ein Schluss freilich ließ sich aus der Talfahrt der deutsch-tschechischen Beziehungen ziehen. Die Vorstellung einer Zusammenarbeit der Völker der Monarchie über das Ende der Monarchie hinaus war damit obsolet geworden und endgültig diskreditiert. Renner, bislang nach beiden Richtungen offen, traf jetzt seine Entscheidung : Die Unabhängigkeit eines deutsch-österreichischen Rumpfstaates wischte er mit den berühmten Worten vom Tisch, es könne wohl nicht »der höchste Traum unserer nationalen Entwicklung« sein, dass wir »Hotelportiers für englische Lords abgeben oder für solche, die in Gewänder englischer Lords gekleidet erscheinen«. Damit stieß er auf keinen Widerspruch. Entscheidend war die Schlussfolgerung aus diesem Befund. »Man möchte uns zwingen in einem Verband mit Österreich zu bleiben.« Allein die Wortwahl war bezeichnend. Österreich, das war die alte Monarchie, nicht der neue Staat. Bis vor Kurzem hätte Renner selbst dieser Perspektive durchaus etwas abgewinnen können. Der Konflikt mit den Tschechen ließ ihn umdenken – und nicht nur ihn. Jetzt blieb nur mehr der Anschluss an Deutschland ; nur so konnte auch der Anspruch auf die Sudetengebiete einigermaßen plausibel gemacht werden. Otto Bauer erklärte den Anschluss »gewissermaßen für eine Kriegserklärung an die Czechen«, versprach sich dafür aber wenigstens Hilfe aus Deutschland. Freilich : In Deutschland wurde am 9. November die Republik ausgerufen. Die Entscheidung über die Staatsform Deutsch-Österreichs hätte ursprünglich der erst noch zu wählenden Konstituante vorbehalten bleiben sollen. Darauf wollte man jetzt nicht mehr warten. Die Berliner Entscheidung erschien maßgebend. Der sozial demokratische Parteitag hatte sich schon eine Woche zuvor prinzipiell für die Re-
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publik ausgesprochen. Die Linksradikalen benützten das Thema für ihre Agitation. Die bürgerliche Welt war damals in ihren Sympathien wohl noch gespalten ; die Deutschnationalen noch keineswegs so hysterisch antilegitimistisch wie ein paar Jahre später. Präsident Dinghofer, der den Beschluss über die Republik am nächsten Tag von der Rampe des Parlaments aus urbi et orbi zu verlesen hatte, hielt den Antrag am 11. November selbst noch für verfrüht.266 In Dinghofers heimatlichem Linz begrüßte die nationalliberale »Tagespost« die Republik noch äußerst verhalten : Man gab zu, das Wort Republik klinge vielen noch wie ein Aufruf zu unerhörtem Umsturz in den Ohren. Viele würden wohl lieber »die Tradition des Reiches und seiner Dynastie fortführen«. Da sei es ein Trost, »nicht kaiserlicher sein zu müssen als der Kaiser«, der seine Untertanen mit seiner Verzichtserklärung »aus einem keimenden Gewissenszwang befreit« habe. Aber im Zweifelsfalle wollte man lieber die politische Ordnung opfern als die gesellschaftliche Ordnung einem Umsturz aussetzen. Stöckler formulierte es im christlichsozia len Klub ganz unverblümt : »Wenn wir nicht radikal wirken können, werden wir einmal ohne Volk dastehen.«267 Das Votum gegen die Monarchie wurde bewusst nicht als politische Grundsatzentscheidung ausgeschildert, als Abrechnung oder Bruch mit sechs Jahrhunderten deutscher und österreichischer Vergangenheit, sondern als pragmatische Forderung der Tagespolitik. Den Skeptikern sollten nach Möglichkeit goldene Brücken gebaut werden. Renner formulierte es ohne jedes Pathos, man folge einfach dem Zug der Zeit, wenn man auf eine Staatsform verzichte, »die von ihren Trägern selbst zur Zeit als unhaltbar empfunden wird«. Alexander Lernet-Holenia hat in seiner Novelle »Die Standarte« die Enttäuschung seines Fähnrichs Menis beschrieben, der nach Schönbrunn pilgert, um sich dem Kaiser zur Verfügung zu stellen, dort aber bloß auf Abreisevorbereitungen stößt. Freilich, die Resignation des Monarchen basierte auf der Erkenntnis, dass im Augenblick jeder Widerstand tatsächlich vergebens wäre ; worauf es ankam, war sich ein Hintertürchen für die Zukunft offen zu halten. Sein Minister Seipel lehnte es in den ersten Novembertagen dezidiert ab, auf Wunsch seines Parteiobmannes Hauser den Kaiser zur Abdankung zu überreden. Der Kompromiss lautete, der Kaiser verzichte auf jeden Anteil an den Regierungsgeschäften, sprich : auf Rechte, die ihm in Deutsch-Österreich laut Koalitionspakt vom 30. Oktober ohnehin längst verwehrt waren.268 Wenn außerdem davon die Rede war, Karl werde im Sinne der demokratischen Monarchie die Entscheidung Deutsch-Österreichs über seine Staats- und Regierungsform anerkennen, so war damit jedenfalls nicht die Abstimmung gemeint, die im Staatsrat einige Stunden zuvor stattgefunden hatte. Das Protokoll verzeichnet dazu lakonisch, der Passus »Republik« sei mit allen gegen drei Stimmen angenommen worden. Drei von zwanzig Stimmen, das klang nach einer verschwindenden Minderheit. Drei Gegenstimmen waren kurz darauf freilich auch bei einem anderen
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Thema zu verzeichnen. In diesem zweiten Fall wurde das Abstimmungsergebnis präziser festgehalten, nämlich mit 6 zu 3. Damit erhebt sich die Frage, wie viele Staatsratsmitglieder zum fraglichen Zeitpunkt tatsächlich anwesend waren. Im Protokoll waren maximal siebzehn eingetragen ; in der Reichspost hieß es am nächsten Tag, drei Christlichsoziale hätten gegen die Republik gestimmt, die anderen drei fehlten. (Nur Jerzabek stimmte als Einziger gegen den Anschluss, doch offenbar nicht gegen die Republik ?) Von den Deutschnationalen galt Mayer als Anhänger der M onarchie ; Teufel unterstützte den Antrag Renners am 11. November zwar »auf das Herzlichste«, doch gerade er sollte schon bald darauf als berüchtigter »Karlist« gelten. Robert Freissler als Landeshauptmann des Sudetenlandes – im Zivilberuf Sekretär der Troppauer Handelskammer – fasste zusammen : »Das Tragische der Situation liegt für uns darin, da wir unter dem dringenden Gebot der Stunde über Prinzipien fragen, in denen unsere Meinungen doch geteilt sind, Beschluß fassen müssen. Wir müssen das Wort Republik aussprechen und müssen den Anschluß an das Deutsche Reich aussprechen, insbesondere als Vertreter der Randbevölkerung.« Das klang nicht nach rückhaltloser Begeisterung. Bei den Wienern zählte die Revolutionsfurcht, oder wie Dinghofer es formulierte, die Gefahr, »russische Zustände bei uns einreißen zu lassen«. Für die »Randbevölkerung«, die immerhin drei Millionen Sudetendeutschen, zählte das Argument, ohne den Rückhalt an Deutschland völlig verloren zu sein. Bauer redete ihnen ins Gewissen, »wir können den Anschluß an Deutschland, das eine Republik ist, nicht proklamieren, ohne selbst zu sagen, daß wir eine Republik sind.«269 Die Beschlüsse des Staatsrates wurden am nächsten Tag von der Nationalversamm lung klaglos verabschiedet, weil man sich kontroverse Debatten ersparen wollte. Miklas wies darauf hin, eine Volksabstimmung wäre den Christlichsozialen lieber gewesen ; aber man wolle die Einigkeit bei Gott nicht stören. Präsident Dinghofer schloss die Szene mit dem Hinweis auf die Adressaten : »Unsere Volksgenossen harren draußen vor dem Haus der frohen Botschaft.« Bei der Verlesung der Proklamation kam es dann zum berühmten Eklat. Linksradikale Demonstranten verstümmelten das Rot-Weiß-Rot, die alten Babenbergischen Farben, für die man sich entschieden hatte, zu einem einfärbigen Banner. Es kam zu Schießereien vor dem Parlament. Die Begleitumstände der Zeremonie wurden unfehlbar als schlechtes Omen gedeutet.270 Weit schlimmer : Die Hoffnungen, die sich an die Proklamation vom 12. November knüpften, die Rettung des Sudetenlandes durch reichsdeutsche Hilfe, erwiesen sich als illusorisch. Berlin hatte im Vorfeld der Friedenskonferenz mit genügend eigenen Problemen zu kämpfen, um sich mutwillig an einer weiteren Front zu engagieren. Die Proklamation wurde als Absichtserklärung gewürdigt, auf die man später gerne zurückkommen werde. Praktische Folgerungen wurden daraus vorerst keine gezogen. Auch die Revolutionsfurcht, die als Treibsatz für den überstürzten Schritt herhalten musste, wurde binnen Jahresfrist als Popanz entlarvt. Die unmittelbaren
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Beweggründe für den »kühnen Griff« nach der Republik waren somit hinfällig. Dennoch wurde der Beschluss selbst nicht mehr in Zweifel gezogen. Die normative Kraft des Faktischen begann ihre Wirkung zu entfalten, gegen die Monarchie, so wie sie es vor 1918 für die Monarchie getan hatte. Wer psychologische Erklärungsmuster liebt, mag zum Schluss kommen, das schlechte Gewissen drängte die frischgebackenen Republikaner dazu, die Monarchie, den Legitimismus und »Karlismus«, jetzt erst recht zu verteufeln, um die eigene Entscheidung nachträglich zu rechtfertigen. Große Koalition mit gebundener Marschroute Das Vierteljahr nach der Staatsgründung war ausgefüllt mit der Sorge ums tägliche Überleben. Noch war bis Anfang März 1919 die Blockade der Entente in Kraft, man behalf sich mit dem Tauschhandel über die neu entstehenden Grenzen hinweg ; die Länder, ja manche Stadtgemeinden (wie z. B. Bregenz) gingen dabei vielfach selbstständig vor, ohne Rücksprache mit der Wiener Regierung. Politisch hieß es abwarten, auf vox Dei und vox populi, auf die Friedensbedingungen der Entente und auf das Votum des Volkes, die Wahlen zur Konstituierenden Nationalversammlung, die für den 16. Februar 1919 anberaumt waren. Gewählt werde sollte auf dem Staatsgebiet Deutsch-Österreichs ; die Entscheidung darüber, was zum Staatsgebiet zählte, sollte aber erst auf der Friedenskonferenz fallen. In diese Zeit fielen dann auch die Sirenenklänge von Entente-Vertretern wie z. B. Allize, dem Chef der französischen »mission d’information et d’enquete economique« in Wien, Deutsch-Österreich könne mit viel günstigeren Bedingungen rechnen, wenn es sich vom Anschluss an Deutschland lossage. Man hatte den Anschluss proklamiert, um die deutschen Gebiete im Norden zu retten. Inzwischen hieß es, man werde nur daran festhalten, wenn deshalb wenigstens keine Gebiete im Süden verloren gingen.271 Die Tiroler setzten auf die italienisch-französische Rivalität und hofften ohne Deutschland – und vielleicht auch ohne Wien – vielleicht doch noch Südtirol behalten zu können. Man hätte sich den Kopf nicht weiter zerbrechen müssen. Anfang März einigten sich Franzosen und Italiener, das wechselseitige Werben um die Sympathien der Österreicher einzustellen. Sobald der Beschluss bekannt wurde, fiel »die Phalanx der Anschlussgegner, die Allize mit großer Mühe aufgebaut hatte, wie ein Kartenhaus zusammen«. Letzter Anstoß war möglicherweise die Abstempelung der Kronen, die Währungstrennung, die in diesen Tagen von tschechoslowakischer Seite einsetzte. Damit war jegliche Donaukonföderation hinfällig, zu der man Österreich vielleicht hätte überreden wollen. Ob die Österreicher jetzt ihren Sanktus dazu gaben oder nicht : Der Anschluss wurde verboten – und Südtirol fiel an Italien.272
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Inzwischen, bevor die Beratungen in Paris noch so wirklich begonnen hatten, waren alle Betroffenen bemüht, vor Ort vollzogene Tatsachen zu schaffen. Für die Österreicher ergab sich daraus ein militärischer Prestigeerfolg, der Kärntner Ab wehrkampf, als freiwillige Milizen die eingedrungenen slowenischen Verbände noch vor Jahresende wieder über die Karawanken zurückwarfen – und ein unvermeidlicher Rückschlag größten Ausmaßes, als die Tschechen binnen weniger Wochen das gesamte Sudetenland okkupierten. Militärisch konnte man den Tschechen nicht entgegentreten, weil zumindest die »tschechoslowakische Legion« als reguläre Entente-Truppe galt. Schlimmstenfalls genügte schon ein einsamer französischer Offizier, den sie im Gepäck mitführte, um jeglichen Gedanken an Widerstand in die Nähe eines Vergehens wider die Bestimmungen des Waffenstillstandes zu rücken.273 Für den Fall, dass größere Teile des Staatsgebiets bis zu den Wahlen von fremden Truppen besetzt wurden, hatte man auch bereits entsprechende Vorsorge getroffen. Die Abgeordneten dieser Wahlkreise wären im Einvernehmen der Parteien bis auf Weiteres vom Staatsrat zu ernennen. Das war eine schöne Geste, die beweisen sollte, dass man die bedrängten Volksgenossen in der Stunde der Not nicht im Stich ließ und zäh an allen Gebietsansprüchen festhielt. Freilich, mit dem Vorrücken der Tschechen ergab sich ein bedenkliches Missverhältnis : Am 16. Februar konnten nur mehr in weniger als zwei Dritteln der 255 Wahlkreise auch tatsächlich Wahlen abgehalten werden. Konnte sich eine Versammlung, die zu über einem Drittel aus kooptierten Mitgliedern bestand, noch auf ihre demokratische Legitimation berufen ? Das Problem war schon lange vor dem Wahltag absehbar ; doch typischerweise beschloss man, bis zum 16. Februar darüber nicht weiter zu reden und zu rechten. Der 16. Februar endete bekanntlich mit einer »roten Springflut, die uns wie eine Naturgewalt ereilte«.274 Freilich : Für eine absolute Mehrheit der Sozialdemokraten reichte es auch wieder nicht. Nach den ersten Ergebnissen erzielte die Partei mit 41 % der Stimmen 69 von 159 Mandaten. Ohne die Frauenstimmen wäre es sich vielleicht ganz knapp ausgegangen. Vor allem aber, wie die AZ festhielt : Die Mehrheit wäre wohl ziemlich sicher erzielt worden, wenn in den Sudetengebieten gewählt worden wäre. Dort lag die Partei schon in der Vorkriegszeit bei 40 % der Stimmen. Wenn man auch dort – wie in Wien und den Alpenländern – ein Plus von 12–15 % oder mehr einkalkulierte, war diese Überlegung nicht von der Hand zu weisen. Doch »die tschechische Okkupation hat das verhindert.«275 Erwies sich der argböse slawische Feind somit als Retter des deutsch-österreichischen Bürgertums vor dem roten Würger ? Nun waren für genau diesen Fall ja die Bestimmungen des § 40 der Wahlordnung geschaffen worden. Der Haken war nur, die Ernennungen sollten im Einvernehmen der Parteien stattfinden. Die knappen Mehrheitsverhältnisse machten eine solche Einigung nicht einfacher. Ursprünglich hatte man an das Stimmenverhältnis der Wahlen von 1911 als Ausgangspunkt gedacht. Damit würden sich die Sozialdemo-
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kraten inzwischen naturgemäß nicht mehr zufriedengeben. Die bürgerliche Seite erhöhte ihr Angebot deshalb bis auf die Hälfte oder doch fast die Hälfte der sudeten deutschen Mandate. Das Offert war fair, aber nicht überzeugend. Denn damit war eine Mehrheit in der Konstituante immer noch nicht zu erreichen, die prinzipiellen Bedenken aber nicht ausgeräumt. Josef Seliger, der Obmann der deutschböhmischen Sozialdemokratie, erteilte daher allen weiteren Verhandlungen über das Thema am 22./23. Februar eine deutliche Absage. Seligers Njet hatte schwerwiegende Folgen, in zweierlei Hinsicht. Sein Verzicht auf die »Exilabgeordneten« in Wien war keineswegs als taktischer Rückzug zu werten, im Gegenteil : Die politischen Eliten sollten sich seiner Meinung nach nicht in ihre Wiener Büros zurückziehen, sondern den Kampf im Lande selbst aufnehmen. Dieser Kampf sei »unvermeidlich«, denn »wie sollen uns die Ententevölker glauben, daß wir es wirklich ernst meinen mit unserer Sache, da wir uns der Gewalt willig fügen.« Auch wenn Seliger ergänzte, dabei sei selbstverständlich nicht an einen Aufstand gedacht, endete sein Plädoyer doch in dem Satz : »Wir können die sittlichen Ansprüche auf unser Recht nur rechtfertigen, wenn wir uns ihm selbst zum Opfer bringen.« Diese Opfer gab es dann auch : Als am 4. März in Wien die konstituie rende Nationalversammlung zusammentrat, fanden im Sudetenland allenthalben Massendemonstrationen für das Selbstbestimmungsrecht statt. In mehreren Städten, z. B. im böhmischen Kaaden und in Mährisch-Sternberg, verlor das tschechoslowa kische Militär die Nerven und eröffnete das Feuer. Die Bilanz betrug mehr als fünfzig Todesopfer.276 Für Deutsch-Österreich hatte Seligers Veto ebenfalls Folgen, wenn auch keine so blutigen. Ohne sozialdemokratischen Wahlvorschlag konnte der Staatsrat keine der vorgesehenen Ernennungen vornehmen. Man gab deshalb die Devise aus : Die Nationalversammlung möge sich selbst darum kümmern. Nur für Südtirol und die Untersteiermark wurden, vielleicht nicht ganz konsequent, ein paar zusätzliche Abgeordnete nominiert (acht für Südtirol, drei für die Steiermark). Man klammerte sich dabei an die Fiktion, das Votum der unbesetzten Landesteile liefere einen Schlüssel über die Mandatsverteilung. Nutznießer der Südtiroler Regelung waren die Christlichsozialen, die jetzt wieder bis auf drei Mandate an die Sozialdemokraten herankamen. Leidtragende der ausbleibenden Regelung für das Sudetenland waren die freiheitlichen Bürgerlichen, die – bis auf Dinghofer – praktisch ihrer gesamten Führungsmannschaft verlustig gingen. Der Znaimer Teufel, bisher oft im Schlepptau seines südmährischen Landsmannes Renner zu finden, beendete sein Gastspiel im Staatsrat deshalb auch mit einem Misstrauensantrag gegen den Staatskanzler.277 Die »Großdeutsche Vereinigung«, die noch kurz nach den Wahlen mit einer Aufstockung auf 50 oder 60 Abgeordnete gerechnet hatte, umfasste jetzt nur noch 26 Mitglieder. Diese 26 hätten zwischen den 72 Sozialdemokraten und 69 Christlich sozialen theoretisch immer noch als Zünglein an der Waage fungieren können, doch
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danach stand ihnen nicht der Sinn. Die Großdeutschen optierten für eine Politik der freien Hand und nominierten – zum Leidwesen der Christlichsozialen – keine Vertreter mehr für das Kabinett Renner II. Das Angebot der Gegenseite, wie man es in der AZ vom 5. März 1919 nachlesen konnte, war auch keineswegs dazu angetan, eine Regierungsbeteiligung als besonders wünschenswert erscheinen zu lassen. Mit mildem Spott machte sich das Blatt über diejenigen lustig, die »sich noch einbilden, die Stimmenzahlen wären das, was zum Schluß den Ausschlag gibt«. Die Weltgeschichte sei nun einmal über parlamentarische Mehrheiten erhaben. »Die Welt ist nun auf dem Weg zum Sozialismus und keine Macht kann es zuwege bringen, daß sich der Weg der Menschheit wendet.« Diese gebundene Marschroute, dass »heute nur eine sozialistische Politik denkbar und möglich« sei, stand am Anfang der später so betrauerten Großen Koalition, die nach Ansicht ihrer Gründerväter überhaupt keine Koalition sein sollte, jedenfalls nicht »in dem vulgären Sinn, daß heterogene Parteien sich zusammensetzen und eine Allianz schließen, die nur auf den Werktagsbetrieb gerichtet ist«. Gesucht wurden ausschließlich Mitarbeiter im Weinberg des Herren, am Aufbau des Sozialismus. Es kann nicht verwundern, wenn diese Erwartungshaltung von der anderen Seite mit diversen Hintergedanken beantwortet wurde. Auf der formalen Ebene wurde der Staatsrat aufgelöst, die Regierung direkt von der Nationalversammlung gewählt. Um den Staatsrat brauche es niemand leid zu tun, urteilte Hauser. Doch ganz im Gegensatz zur Situation in den Zwanziger- und Dreißigerjahren war damals noch den Bürgerlichen äußerst unbehaglich zumute bei der Vorstellung erweiterter Kompetenzen für die Exekutive. Es sei eine »große Gefahr, wenn nicht irgendein Hemmschuh für diese Regierung geschaffen« werde, warnte der spätere Bundespräsident Miklas. Die Christlichsozialen engagierten sich deshalb besonders für die Schaffung eines »Hauptausschusses« der Nationalversammlung, der eine gewisse Kontrollfunktion übernehmen sollte. Dem Staatskanzler sollte nicht bloß ein Stellvertreter, sondern ein »Vizekanzler« zur Seite gestellt werden. Renner wünschte sich als Vizekanzler den Vorarlberger Jodok Fink, der ihm schon im Ernährungsamt der Kriegszeit Gesellschaft geleistet hatte. Fink selbst war mit der Aufgabe nicht glücklich und gab unumwunden zu, »parteipolitisch sei es das beste, wenn wir uns an der ganzen Kabinettsbildung nicht beteiligen«. Besondere Abscheu erregte die Vorstellung, das Ressort Kultus und Unterricht an Otto Glöckel zu übergeben, der er als langjähriger Obmann des ursprünglich überparteilich-antiklerikalen Vereins »Freie Schule« als Gott-sei-bei-uns galt. (Um den Finanzminister riss man sich in einer Zeit des »finanziellen Ruins« schon viel weniger. Großdeutsche Blätter beschwerten sich später, die »kirchlichen Zugeständnisse der Sozialdemokraten seien auf Kosten des produzierenden Bürgertums erkauft«.) Just der spätere Linksverbinder Alfred Gürtler, erst seit wenigen Wochen bei den Christlichsozialen, richtete damals die Aufforderung an seine Parteifreunde : »Wir
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Die Republikgründer und ihre Heimat Abbildung 22 : Karikatur Karl Renner Abbildung 23 : Karikatur Jodok Fink Abbildung 24 : Renner-Villa in Gloggnitz Abbildung 25 : Finks Hof im Bregenzer Wald
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müssen es einfach auf den Kampf ankommen lassen, auch wenn wir alle dabei persönlich zugrunde gehen.« Doch diese heroische Perspektive fand wenig Anklang. In einer Umkehrung späterer Frontstellungen waren es damals die Wiener, und zwar alle Wiener, Weiskirchner, Mataja und Kunschak, ohne Unterschied auf ihre sonstigen Eifersüchteleien, die auf ein Nachgeben drängten. Es handle sich darum, angesichts des Siegeszuges der Soldatenräte die Ruhe und Ordnung aufrecht zu erhalten. »Wenn wir in Opposition gehen, ist die Nationalversammlung gewesen«, warnte der »gerade-noch« Wiener Bürgermeister Weiskirchner. Man müsse einfach alles »fressen, wie es ist« (im Zweifelsfall als Außenminister übrigens kurioserweise lieber einen »ausgesprochenen Sozialisten«, nämlich Otto Bauer, als den Bürgerlichen Demokraten – und kaiserlichen Justizminister – Franz Klein, der von Bauer schließlich doch noch zum Delegierten für St. Germain nominiert wurde). Im Klub wurde ausdrücklich festgehalten : »Die Partei ist nicht gebunden, nur die Regierung ist gebunden.« Fink formulierte die Strategie der Christlichsozialen im Rückblick so : Ja, man sei auf den Revolutionswagen aufgesprungen, aber doch nur, um ihn zu bremsen.278 Der Revolutionswagen nahm in den Wochen nach der Wahl der Regierung Renner tatsächlich noch einmal Fahrt auf : In Ungarn entstand Ende März, in Bayern Anfang April eine »Räterepublik«, im Mai folgte der fulminante Wahlsieg der Sozialdemokraten bei den Wiener Gemeinderatswahlen, der das »Ventennio« Luegers und seiner Diadochen beendete. Vor allem die Ungarn ließen nichts unversucht, Österreich oder doch zumindest Wien in ihren Bannkreis zu ziehen. Ob es sich dabei jetzt um propagandistischen Überschwang oder echte revolutionäre Euphorie handelte, Bela Kun soll tatsächlich daran geglaubt haben, wenn bloß Wien sich seiner Räterepublik anschließe, sei der Weg der Revolution bis hin nach Paris nicht mehr aufzuhalten. Der organisierte Anhang der KPÖ nahm binnen weniger Monate von 3000 auf 40.000 Mitglieder zu. Nicht bloß für Renner, auch für Otto Bauer im Außenamt bedeutete die Räterepublik in unmittelbarer Nachbarschaft eine Herausforderung, aber auch eine Chance. Die revolutionären Zuckungen erhöhten den Marktwert Deutsch-Österreichs nach außen, der Sozialdemokratie nach innen. Die Monate von April bis Juli 1919 stellten den Höhepunkt der Österreichischen Revolution dar, die eben nicht als HeugabelVariante gedacht war, sondern sich die Heugabel-Variante der Nachbarn – und gelegentlicher Nachahmer daheim – zunutze machen wollte, um die Ergebnisse der Revolution auch ohne Revolution zu lukrieren, oder wie es Friedrich Adler schon in seiner berühmten Rede vor dem Ausnahmegericht karikiert hatte, man betrachte »die Revolution als eine Phase der Tagespolitik«.279 Die Aktivitäten der Roten Garde und ihrer geistesverwandten Emissäre aus Ungarn ließen als Gegengewicht zuallererst einmal den Ausbau der Volkswehr als vordringlich erscheinen, die ab März auch formell direkt Julius Deutsch unterstand und intern auf einer Einbindung der Soldatenräte in die Befehlsgebung fußte. Die ku-
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riose Situation, dass Befehle von der Personalvertretung gegengezeichnet werden mussten, auch die Übergriffe, die sich Volkswehrleute im Wahlkampf zuschulden kommen ließen, wurden toleriert, solange sie imstande war, nach der anderen Seite hin auch den Kommunisten effektiv entgegenzutreten. Die gesellschaftliche Nutzanwendung aus der Reform des Militärs – damals immer noch als Miliz konzipiert – zog die AZ schon wenige Tage nach der Wahl : »Sobald der Offizier als feudaler Herr der Soldaten seine Rolle ausgespielt hat, muß auch der Fabrikant als Herr in seinem Betrieb von der Bühne abtreten.«280 Die Industrie geriet erst relativ spät, in dieser zweiten Phase, ins Visier der Öster reichischen Revolution. Die unbefristete Arbeitslosenunterstützung erfolgte anfangs noch zur Gänze auf Staatskosten ; im Zuge von bis 1932 nicht weniger als 28 Novellen wurden die Kosten dann Schritt für Schritt auf die Tarifpartner überwälzt ; aus Arbeitgebern und Arbeitnehmern paritätisch zusammengesetzte Industrielle Bezirkskommissionen übernahmen die Auszahlung und die Aufgabe der späteren Arbeitsämter – wenn man so will, eine Vorstufe der Sozialpartnerschaft, oder auch ein Relikt der Kriegszeit, als die überforderte Verwaltung oft Agenden ausgelagert hatte. Der Sozialminister seufzte freilich auch nach noch so vielen Reformen : Die Arbeitslosenversicherung sei keine Versicherung, sondern eine »verschleierte Armenversorgung aus Bundesmitteln«.281 Der Staat musste die Leistungen der Versicherung zwar nicht bezahlen, aber das Defizit bevorschussen, was letzten Endes auf dasselbe hinauslief. Der kurz vor Weihnachten 1918 verkündete Acht-Stunden-Tag war anfangs ebenfalls kein solcher Stein des Anstosses. Otto Bauer behauptete, er habe angesichts der Entkräftung und Unterernährung der Arbeiterschaft eine »physiologische Notwendigkeit« dargestellt ; für die volle Auslastung der Betriebe fehlten anno 1919 ohnehin zumeist Kohle und Rohstoffe. Erst mit der Normalisierung der Verhältnisse wurde in diversen Nachbarländern (z. B. Italien oder der Schweiz) der Arbeitstag wieder hinaufgesetzt. Erbittert gegen den Acht-Stunden-Tag polemisierten 1918/19 nur die Landwirte. Mehrarbeit gesetzlich zu verbieten hielt z. B. Leopold Stocker als Gründer der deutschösterreichischen Bauernpartei für verbrecherisch. Die Zeche zahlten die Dienstleister, nicht zuletzt die ärarischen Betriebe, die es viel weniger leicht hatten, auf Arbeitszeitverkürzungen mit Rationalisierungen zu reagieren. Die Bundesbahn stockte ihr Personal angeblich um gut 20 % auf, von 75.000 auf 88.000 Bedienstete.282 Das Kernstück des »konstitutionellen Betriebs«, der »funktionellen D emokratie«283, die sich der beherrschenden Höhen der Privatwirtschaft bemächtigen sollte, waren – ineinander verschränkt – das Sozialisierungskonzept Otto Bauers und das Betriebsrätegesetz. Bauer setzte nämlich keineswegs auf simple Verstaatlichung. Der Staat als Unternehmer schien auch ihm keineswegs vertrauenerweckend. Der Staat sollte über Kapitalerhöhungen nur gewisse Anteile an Aktiengesellschaften erwerben, die Lei-
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tung – oder zumindest die Aufsicht – aber sowohl mit der Belegschaft als auch den Konsumenten teilen. Die Idee war bestechend, aber schwer umzusetzen. Zwar wurde eine Liste von Großbetrieben erstellt, die für dieses Konzept der »Vergesellschaftung« in erster Linie in Betracht kamen. Über alle konkreten Schritte sollte sich eine von der Nationalversammlung eingesetzte Sozialisierungskommission den Kopf zerbrechen, die nun allerdings parlamentarische Mehrheitsverhältnisse widerspiegelte, nicht den Weltgeist. Otto Bauer und Ignaz Seipel waren mit je einem Adlatus vertreten ; das Zünglein an der Waage, über dessen Sympathien nie auch nur der geringste Zweifel bestehen konnte, stellte der deutschnationale Großindustrielle Viktor Wutte dar. Die Sozialdemokraten hätten der Kommission am liebsten nur beratende Funktion zugebilligt und Bauer einfach mit der Durchführung beauftragt. Doch in diesem Punkt setzten sich die Bürgerlichen überraschenderweise schon im März durch. In Wuttes heimatlicher Steiermark wurde dem Sozialisierungsgedanken auch gleich ein berühmt-berüchtigter Streich gespielt : Die Alpine-Montan war Österreichs größter Industriekonzern, seit Wittgensteins Zeiten von der »Prager Eisen« dominiert. Anfang April hatten die Arbeiterräte dort ein Exempel statuiert, die Direktoren vor Ort handgreiflich hinausgeworfen und die Herrschaft im Betrieb übernommen. Die Episode endete mithilfe der Metallarbeitergewerkschaft in einem Vergleich, doch die Eigentümer waren gewarnt. Die Mehrheit des Unternehmens wurde – unter wohlwollendem Kopfnicken des Landes, von Rintelen, vielleicht auch von Wutte – flugs an ein italienisches Konsortium verschachert, denn im Umgang mit alliierten Eigentümern war Vorsicht geboten, selbst für Revolutionäre. Eine erregte Debatte entspann sich darüber, ob der Verkauf vom Staatssekretär für Finanzen absichtlich gefördert worden war oder nicht. Staatssekretär war als unabhängiger Fachmann nämlich die schillernde Figur des Nationalökonomen Joseph Schumpeter, der im Krieg mit den böhmischen Feudalen geklüngelt hatte, jetzt mit den Sozialdemokraten flirtete und später mit einem bahnbrechenden Werk über Konjunkturzyklen aufhorchen ließ, das die »kreative Zerstörung« der kapitalistischen Wirtschaft pries. Er sei so geistreich, schrieb sein Kollege Julius Deutsch, »alle Dinge von allen Seiten sehen zu können, bis er schließlich keine mehr sah«. Ähnlich lautete das Urteil Seipels : Ein »Theoretiker in Reinkultur«. Gerade die Christlichsozialen hatten sich im März sehr gegen Schumpeters Bestellung gewehrt und damals schon seinen Nachfolger Reisch in Aussicht genommen, doch Renner verfiel damals noch auf die Ausrede, er habe Reisch so schnell »nicht ausfindig« machen können …284 Das Bauer’sche Sozialisierungskonzept kam nie wirklich zur Anwendung, es wurde allenfalls am ungeeigneten Objekt erprobt, nämlich an den überdimensionierten Betrieben der ärarischen Rüstungsindustrie, die der Krieg zurückgelassen hatte, von den Werkstätten im Arsenal bis zur Wöllersdorfer Munitionsfabrik. Was immer man hier auch versuchte, ob genossenschaftliche Experimente oder public-private-part-
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nership, der Erfolg ließ zu wünschen übrig. Galt anfangs die Sicherung der Arbeitsplätze als unbedingte Priorität, so wurde diese verunglückte Form der »Verstaatlichten« nach diversen Skandalen in den Zwanzigerjahren fast durchwegs geschlossen. Zur Bekämpfung der Arbeitslosigkeit wurde 1919 auch ein Paragraf verabschiedet, der Betriebe verpflichtete, ihre Belegschaft um 5 % zu erhöhen und ab einer gewissen Größe auch Invalide einzustellen. Die Maßnahme rechtfertigt vielleicht Otto Bauers Behauptung, man habe der Industrie »weitestgehende Zugeständnisse abgepresst, die innerhalb des kapitalistischen Systems gerade noch möglich waren«. Experten ließen dagegen durchblicken, die Maßnahme sei ohnehin »von beiden Seiten sabotiert« worden.285 Das Betriebsrätegesetz hatte da schon ein gewisses Janusgesicht. Gewiss, Bauer jubelte, Österreich sei nach der Sowjetunion der erste Staat, der ein solches Gesetz verabschiedet habe. Doch zwischen den Zeilen handelte es sich beim Betriebsrätegesetz mindestens ebenso sehr um die Domestizierung der freischwebenden bisherigen Arbeiterräte. Seipel hatte das Sozialisierungskonzept noch im März 1919 im christlichsozialen Klub mit dem Argument verteidigt : »So bringen wir die Arbeiterräte aus der Welt.« Doch gerade dieser Beruf der Betriebsräte, ihr Hineinwachsen in die Eigentümerrechte, in der Weise, wie im politischen Leben das Parlament schrittweise die Prärogative des Monarchen ausgehöhlt und sich angeeignet hatte, endete in einer Sackgasse. Nur bei den (inzwischen ausgelagerten) Bundesbahnen konnte man in den Zwanzigerjahren von einer solchen Rolle sprechen – freilich auf Kosten des Steuerzahlers, der für die Ergebnisse dieser Kollaboration aufzukommen hatte. Die Landwirtschaft war – als Zugeständnis an die christlichsoziale Kernklientel – von den Bestimmungen des Gesetzes bezeichnenderweise von vornherein ausgenommen worden. Ende Juli 1919 wurde den Arbeitern noch ein bis zwei Wochen bezahlter Urlaub jährlich zugesichert. Dieses Zugeständnis hielt, genauso wie die Errichtung der Arbeiterkammern, die erst 1920 beschlossen wurde – und bei der Sozialdemokratie keinen besonderen Jubel auslöste. Hanusch meinte wegwerfend : »Wir hätten sie nicht gebraucht, wenn es gelungen wäre, die Handels- und Gewerbekammer zu beseitigen.« Die übrigen Anläufe dieser Phase der revolutionären Hochkonjunktur trugen einen erstaunlich ephemeren Charakter. Die bürgerliche Mehrheit nahm die Anregungen der Gegenseite freundlich auf und schob ihre Verwirklichung auf die lange Bank. Die ganz unspezifische Furcht der Novembertage, die Angst, es könnte wie in Russland plötzlich, unerwartet und mit elementarer Gewalt »die Revolution« ausbrechen, hatte vielfach bleibendere Resultate gezeitigt, von der Republik bis zum Acht-Stunden-Tag. Zugegeben : Das republikanische Prinzip wurde im Frühjahr noch einmal bestätigt und durch die Landesverweisung des Erzhauses »nachgebessert«. Aber sobald die Revolution einmal konkrete Gestalt angenommen hatte, sah man die Herausforderung auf ihre tatsächlichen Dimensionen reduziert, begannen
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auch die Gegenkräfte wirksam zu werden. Wutte brachte es auf den Punkt : »Sich vor dem Chaos zu ängstigen, hat keinen Sinn, denn größer kann es nicht werden.«286 In Österreich erhob »die Revolution« zweimal ihr Haupt. Am 17. April, dem Gründonnerstag, mündete – kurz nach der Ausrufung der Räterepublik in Bayern – eine Demonstration der Invaliden und Heimkehrer in Attacken auf das Parlament. Die Polizei wurde aus der Menge heraus beschossen und verzeichnete fünf Todesopfer.287 Kurioserweise war die Reaktion der bürgerlichen Presse damals noch eine sehr zurückhaltende. Als Wendepunkt anzusehen war hingegen der Krawall am 15. Juni. Die österreichischen Sozial demokraten waren stolz darauf, die Ausbrüche der Linksabweichler in EiAbbildung 26 : Johannes Schober genregie bewältigt zu haben, ohne sich dafür – wie in Deutschland – der Reste der alten Armee bedienen zu müssen, die es in Österreich tatsächlich nicht mehr gab. Was überlebt hatte, war die Wiener Polizei unter ihrem später legendären Präsidenten Johannes Schober. Mit Schober wollte und musste die Sozialdemokratie sehr wohl kooperieren (und auch Schober kooperierte gern nach allen Seiten). Sobald die ungarischen Umtriebe überhandnahmen – und zwei Soldatenräte Julius Deutsch explizit vor einem Putsch gewarnt hatten – ermächtigten die Sozialdemokraten am 14. Juni Schober zunächst zur Verhaftung eines Großteils der kommunistischen Führungsgarnitur, nahmen den Befehl dann allerdings wieder zurück. Die Entscheidung war offenbar keine eindeutige : Jedenfalls glaubte Staatssekretär Eldersch als »Innenminister« weiterhin, freie Hand zu haben. Schober hob wie ursprünglich geplant die KP-Führung aus, die in der Pulverturmgasse – nomen est omen – gerade heftig darüber diskutierte, ob man nun putschen solle oder nicht. Vielleicht, so hieß es später, hätte die besonnenere Fraktion dabei ohnehin die Oberhand behalten. Die Probe aufs Exempel blieb aus. Dafür taten tags darauf mehrere Tausend Demonstranten ihren Unmut kund, als die kommunistischen Redner am Rathausplatz ausblieben und die Nachricht die Runde machte, es seien alle verhaftet worden. Die Menge forderte die Freilassung der Inhaftierten (die inzwischen übri-
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gens schon im Gang war) und zog weiter in Richtung Polizeipräsidium. Dabei kam es in der Hörlgasse, die von der Votivkirche Richtung Donaukanal führt, zu einer Schießerei, die bis zu zwanzig Todesopfer forderte. Undank ist der Welten Lohn. Die Sozialdemokraten hatten die kommunistische Beule zum richtigen Zeitpunkt aufgestochen. Sechs Wochen später brach auch die ungarische Räterepublik zusammen. Dennoch lösten die Unruhen des 15. Juni in bürgerlichen Kreisen eine viel vehementere Reaktion aus als die GründonnerstagsKrawalle. Mit ein Grund war der Anlass der Eskalation, die von der Entente geforderte Reduktion der Volkswehr, von ihren über 50.000 Mann auf nur mehr 12.000. Es kostete Friedrich Adler ziemliche Mühe, die aufgeregten Gemüter zu beruhigen ; die Abbaumaßnahmen wurden achtundvierzig Stunden vor dem 15. Juni noch einmal zurückgenommen ; dafür bewahrte sogar das berüchtigte Volkswehr-Bataillon 41, die Reste der »Roten Garde«, am 15. Juni Ruhe (bzw. wurde von seinen Kameraden am Ausrücken gehindert). Die Volkswehr hatte sich bewährt und war doch ins Zwielicht geraten. Die Bauern waren von der Art und Weise, wie Friedrich Adler das revolutionäre Potenzial zu managen wusste, wenig beeindruckt. Für sie war die Volkswehr »ein Volksübel«, das nur »dem Stehlen und dem Raub« diene. Die andere Seite sprach in dem Zusammenhang von der Bekämpfung des Schleichhandels, gab aber zu : »Diese Hausdurchsuchungen wurden zum Schrecken des Bürgertums.«288 Die bürgerliche Politik, so ließ sich zum ersten Mal beobachten, noch während die Empörung über die Friedensbedingungen ihren Höhepunkt erreichte, versteckte sich nicht ungern hinter der Entente. Nicht die Christlichsozialen forderten den Abbau der Volkswehr, sondern General Segre als Vorsitzender der italienischen Waffenstillstandskommission in Wien. Die bürgerliche Politik begann auch koordinierter zu agieren : Christlichsoziale aus Wien und der Steiermark nahmen Kontakte zu den oppositionellen Großdeutschen auf, z. B. zu Wutte, um Überlegungen anzustellen, wie man ein Gegengewicht zur Volkswehr schaffen könne. Der spätere Handelsminister Schürff regte die Schaffung eines Exekutivkomitee gemeinsam mit den Christlichsozialen an ; für jedes Bundesland wurden vorsorglich Spitzenpolitiker nominiert, um diese Kontakte zu pflegen und aufrechtzuerhalten. Es war die Rede davon, mit den militärischen Befehlshabern in den Ländern gewisse Pläne auszuarbeiten und notfalls den Regierungssitz nach Innsbruck zu verlegen.289 Das Pflichtpensum : Friede und Verfassung Die Regierung Renner hatte ein Ablaufdatum, das von außen diktiert wurde. Die Aufgabe, um die sie niemand beneidete – und die zeitweise all ihre Energie, aber auch die Aufmerksamkeit der Öffentlichkeit in erster Linie beanspruchte –, waren die Friedensverhandlungen. Nicht dass es dabei noch viel zu verhandeln gab ; Renner und seine Delegation wurden in St. Germain wie in einem Internierungslager
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behandelt ; die Umstände sind oft, liebevoll und mit Ingrimm beschrieben worden. Allenfalls im Bereich des Kleingedruckten ließen sich da noch einige Retuschen anbringen. Auch der Name »Deutsch-Österreich« wurde untersagt, nicht etwa, weil man Österreich das Adjektiv »deutsch« ausreden wollte, sondern wegen des Bindestrichs, der unweigerlich den Verdacht nährte, dass es daneben irgendwo noch ein weiteres Österreich geben müsse, z. B. ein tschechisches etc.290 Schließlich mussten die Regierungsparteien in den sauren Apfel beißen und den Vertrag ratifizieren. Renner ließ der Opposition vorher noch mitteilen, er erwarte sich von ihr ein besonders kräftiges Nein, um dem Ausland so recht die Empörung vor Augen zu führen, mit der Österreich dieses Diktat entgegennehme – und auf dem »moralischen Recht« zum Anschluss bestehe.291 Österreich hatte sich – ohne noch eine Verfassung zu haben – eine Konventsverfassung zurechtgelegt. Im Rahmen eines solchen Systems waren häufige Kabinettswechsel – bei vielfach kaum wechselnden parlamentarischen Mehrheiten – kein Zeichen der Krise, sondern Routine. Die Kammer wählte eine Regierung wie einen Ausschuß, als eine für eine bestimmte Aufgabe besonders passende Konstellation von Persönlichkeiten. Es war deshalb auch Routine, wenn das Kabinett nach Erledigung der unmittelbar anstehenden Aufgaben zurücktrat. Für Renner, ja für die Sozialdemokratie lag darin bloß insofern eine Gefahr. In der Außenpolitik bewährte sich auch weiterhin die alte Allianz von Sozialdemokraten und Deutschnationalen, die schon im November den Umschwung zur Republik und den Abbruch der Verhandlungen mit der Tschechoslowakei gemeinsam in die Wege geleitet hatte. Als Otto Bauer als Staatssekretär für Äußeres im Juli 1919 zurücktrat, bescheinigte ihm Dinghofer ausdrücklich, dass sich »die Grundlinien seiner Außenpolitik mit den Anschauungen der Großdeutschen Vereinigung gedeckt haben«.292 Doch sobald die Außenpolitik nicht mehr im Zentrum des Interesses stand, wurde auch diese Achse der 100%igen Anschlussbefürworter nachrangig. Apropos : Außenpolitik. Die Drohkulisse des Frühjahrs hatte ausgedient. In München regierten die Freikorps, in Budapest Admiral Horthy. Selbst in Wien hatten die niederösterreichischen Bauern zwei Wochen nach dem 15. Juni mit einem Aufmarsch gezeigt, dass die Macht der Straße keine Einbahnstraße war. Als Gegengewicht zu den Arbeiterräten bildeten sich in Wien und Umgebung »Bürger- und Ständeräte« : Die Christlichsozialen empfahlen ihren Mitgliedern den Beitritt, schon einmal, damit aus der Organisation nicht ausschließlich ein Instrument des umtriebigen Bürgerlichen Demokraten Friedmann und seiner Leute werde.293 Die neue Koalition Renner III stand unter ganz anderen Vorzeichen als Renner II. Bezeichnenderweise bezeichneten die Sozialdemokraten sie diesmal auch als Koalition. Wer noch Ausgaben der AZ vom März zur Hand hatte, konnte sich über den nüchternen Tonfall nur wundern. Otto Bauer sprach in Zukunft vom Gleichgewicht der Klassenkräfte, die »Reichspost« dafür nur mehr vom »zeitweiligen freien Zusammenwirken der Parteien«.
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Über die neue Regierung hieß es dort : »Wir müssten ihr unverdient schmeicheln, wollten wir behaupten, daß sie uns gefällt.« Die »Reichspost« betonte ausdrücklich : »Es gibt keine Versöhnung mit der Weltanschauung [der Sozialdemokraten], aber es muß getrachtet werden, zwischen den Fronten ein neutrales Gebiet zu schaffen.« Auf dem Parteitag der Wiener Christlichsozialen im November 1919 schlug ein Vertrauensmann Seipels, Heinrich Mataja, in dieselbe Kerbe : In Fragen der Weltanschauung gebe es keinen Kompromiss und keine mittlere Linie ; es handle sich nur um eine Arbeitsgemeinschaft für dringende Bedürfnisse. Das abfällige Urteil ihres Alt-Obmannes Liechtenstein, die Koalition sei ein Blendwerk, hinter dem sich die Ohnmacht der bürgerlichen Klassen verbirgt, zusammen mit seiner Kritik an der »liebenswürdigen Gleichgültigkeit« seiner Partei gegenüber dem Begriff des Eigentums, war ein eingefrorener Posthornton ; er hätte auf das Frühjahr 1919 gepasst, nicht mehr auf den Herbst.294 Die Großdeutschen hatten lange mit sich gerungen, ob sie wieder in die Regierung eintreten sollten. Auf ihrem rechten Flügel argumentierte Wutte : »Mit bloßem Schimpfen – oder [als Anspielung auf eine alldeutsche Kundgebung] mit Trinken und ›Heil Hohenzollern‹-Rufen – wird nichts erreicht.« Doch diesmal überwog noch die Meinung, ohne die Sozialdemokraten gehe es derzeit (noch) nicht ; als fünftes Rad am Wagen in einem Konzentrationskabinett zu bloßen Mitläufern degradiert zu werden, habe erst recht keinen Sinn. Die Großdeutschen verfügten dennoch über einen direkten Draht ins Kabinett : Über den Eisenbahner Ludwig Paul, ein alter kaiserlicher Minister, der sein Verbleiben vom Wunsch der Großdeutschen abhängig machte, ergab sich eine »vertrauliche Verbindung« zum Kabinett ; Schumpeter, der sich überall unbeliebt gemacht hatte, wurde in die Wüste geschickt ; dafür wurde der neue Staatssekretär für Finanzen, Richard Reisch, ein Direktor von Siegharts Bodencreditanstalt, später dann langjähriger Präsident der Nationalbank, mit Vorschußlorbeeren überhäuft : Die AZ lobte ihn schon einmal deshalb, weil er angeblich von der Hochfinanz angefeindet werde, im großdeutschen Klub hieß es, er gelte als nahestehend ; de facto hielt er sich in seiner Amtszeit an die starken Bataillone der Christlichsozialen – und bewies unter der Hand immer wieder tätige Sympathien für seinen alten Arbeitgeber, die BCA.295 Die Christlichsozialen bestanden als Zeichen ihres Misstrauens diesmal auf einem Koalitionspakt. Der Kurs dürfe nicht mehr in den bisherigen Geleisen fortgesetzt werden. Ausdrücklich waren darin auch die Beschwerden über den Betriebsterror der roten Gewerkschaften aufgelistet und Renners Versprechen, sich für den Respekt vor der Koalitionsfreiheit einzusetzen. In Wien war gerade ein Krach entstanden, weil die Sozialdemokraten Arbeiterräte offiziell zu Mitgliedern der Kommissionen ernennen wollten, die über Wohnungsanforderungen entschieden, sprich : Mieter in leer stehende Behausungen einwiesen. Derlei Eskapaden sollten im Bereich der Bundesverwaltung ausgeschlossen sein. Die Umrisse eines gemeinsamen Projekts
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zeichneten sich bloß bei der »Demokratisierung der Behörden erster Instanz« ab, sprich : die aus der Monarchie übernommenen freisinnig-adeligen Bezirkshauptleute sollten durch Vertreter der Mehrheitsparteien ihres Bezirkes ersetzt werden. Auch dazu kam es schließlich nicht, genauso wenig wie zur Vermögensabgabe, die von der Inflation entschärft wurde. Der Koalition wurde von vornherein keine lange Dauer vorhergesagt. Nun können gerade in Österreich, wie man weiß, Provisorien mitunter ein zähes Leben entfalten. Aber für das Ideal einer auf Dauer angelegten Partnerschaft, die tragischerweise in die Brüche ging, eignet sich das Kabinett Renner III nun wirklich nicht. Die »Reichspost« bemühte vielmehr – einer Formulierung Renners folgend – das Gleichnis zweier einander fremder Wanderer, die sich – von einem Schneesturm überrascht – in dieselbe Decke hüllen. Die beiden Parteien hätten vereinbart, in den nächsten Monaten die Regierung zu tragen. »Wenn dieser Winter vorüber ist, wird man weiter sehen.«296 Bis zum Koalitionskrach im Juni 1920 hatte das Kabinett Renner III diese nicht allzu hoch gespannten Erwartungen beinahe schon übertroffen. Ein Koalitions-Ausschuß wachte über die Einhaltung des Paktes : Wiederum war auf christlichsozialer Seite ein kurioses Übergewicht der Wiener zu konstatieren : Neben Stöckler waren mit dem Wiener Kleeblatt Kunschak, Alt-Bürgermeister Weiskirchner und Seipel drei ganz unterschiedliche Strömungen vertreten. Hauser war als Klubobmann bereits zurückgetreten. Auf dem ersten christlichsozialen Parteitag Ende Februar 1920 regnete es Angriffe auf die Koalition (und auf die Nachgiebigkeit der Oberösterreicher gegen die Sozialdemokraten). Selbst Vizekanzler Fink gab zu, die Koalition stelle selbstverständlich ein Übel dar. Weiskirchner wandte sich gegen die eingängige Formel von der Vernunftehe ; die Koalition sei in Wirklichkeit nichts anderes als eine pure Zwangsgemeinschaft ; vielleicht hielt ihn bloß sein Zartgefühl zurück, von Konkubinat zu sprechen. Liechtenstein schrieb : Die Christlichsozialen hätten über die Arbeit des Parlamentsklubs im vergangenen Jahr zu Gericht gesessen und »in aller Milde und Schonung« über ihn den Stab gebrochen.297 Zu den »unüberwindlichen Notwendigkeiten«, die zur Zusammenarbeit zwangen, zählte in erste Linie die Verabschiedung einer Verfassung. Fink versprach dem Parteitag ausdrücklich : Sei dieses Werk vollbracht, dann habe die Koalition ausgedient. In dieser Frage kam den Sozialdemokraten das Trägheitsmoment zugute : Auch die Konstituante, die eigens zu diesem Zweck berufen worden war, hielt sich in Verfassungsfragen an die Zwei-Drittel-Mehrheit gebunden. Schließlich war sich auch die bürgerliche Mehrheit alles andere als einig. Die Großdeutschen mit ihrem Beamtenklüngel waren Zentralisten, die schwarzen Bauern Föderalisten. Im Winter wurden mehrfach Länderkonferenzen abgehalten. Ihre Aufgabe wurde allerdings erleichtert durch die allgemeine Einschätzung, dass der »von St. Germain geschaffenen Zwangsgemeinschaft« vermutlich ohnehin kein langes Leben beschieden sein werde. »Es handelt sich nicht darum, einen dauernden Rechtszustand zu schaffen,
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sondern nur während der Übergangszeit ein erträgliches Zusammenwirken der Länder zu ermöglichen.« Als Nebenprodukt wurde zumindest prinzipiell die Trennung Wiens von Niederösterreich abgesegnet, formell aber erst Ende 1921 beschlossen. Wenn man sich auf nichts anderes einigen konnte, blieb es beim status quo. Dementsprechend sah auch das Ergebnis aus. Der status quo, als Ergebnis der für die Sozialdemokraten besonders günstigen Konstellation vom März 1919, wurde weitgehend beibehalten bzw. allenfalls kosmetischen Veränderungen unterworfen.298 Von einer funktionierenden Gewaltenteilung konnte auch in der neuen Verfassung keine Rede sein. Der Bundespräsident als Staatsoberhaupt übernahm die Stelle, die im November 1918 für den sogenannten »Staatsnotar« vorgesehen war, der bloß das ordnungsgemäße Zustandekommen von Gesetzesbeschlüssen beurkundete. Poli ti sches Gewicht kam ihm – zum Unterschied von der Weimarer Verfassung oder von Masaryk in der ČSR – keines zu. Karl Seitz als möglicher Kandidat für die Stelle lehnte mit der Begründung ab, diese Tätigkeit reize ihn nicht, sie »eigne sich für einen senilen Trottel«. Dennoch trieb die Sozialdemokraten die Sorge um, die Volkswahl des Präsidenten könnte in »unserem wenig konsolidierten Staatswesen zu monarchistischen Experimenten« führen ; doch selbst Seipel fand, derlei geringe Kompetenzen lohnten den Aufwand einer Volkswahl nicht.299 Der erste Inhaber der Funktion, Michael Hainisch, war ein wohlhabender Privatgelehrter aus der Mitte des politischen Spektrums. Berühmt wurde die Milchleistung der Wunderkuh Bella, die auf seinen Gütern am Semmering graste. Bekannter vielleicht noch war seine Mutter, die Frauenrechtlerin Marianne Hainisch, die sich für die Bürgerlichen Demokraten einsetzte, 1929 dann als Neunzigjährige eine »Österreichische Frauenpartei« gründete. Der Bundespräsident wurde vom Parlament gewählt, genauso wie die Regierung. Der Unterschied war bloß : Die Regierung wurde vom Nationalrat gewählt, der Präsident von der Bundesversammlung, sprich : vom Nationalrat gemeinsam mit dem Bundesrat, dem Feigenblatt, das schamhaft das Fehlen eines wirklichen Zweikammersystems verdeckte. Denn die Ländervertreter im Bundesrat konnten einen Beschluss des Nationalrates bestenfalls sechs Wochen verzögern. Die ursprüngliche Vorstellung der Länder, dass bei einem Konflikt beider Kammern die Entscheidung in einer Volksabstimmung fallen müsse, hatte von vornherein kaum Realisierungschancen. Für einen Beharrungsbeschluss des Nationalrates bedurfte es auch keiner qualifizierten Mehrheit. Allein schon die Existenz des Bundesrates hatte sich Otto Bauer nur mit der Aussicht auf eine Demokratisierung der Verwaltungsebene darunter abkaufen lassen, auf Kreis- oder Bezirksvertretungen, die in die weisungsgebundene »politische Verwaltung« eine Bresche schlugen.300 Weite Bereiche blieben auch weiterhin unbeackert : Die Christlichsozialen hatten sich schon im Koalitionspakt ausbedungen, die heiklen Kulturkampffragen – wo sie in der Minderheit waren – könnten nicht durch einfache Gesetze geregelt werden, sondern nur im Rahmen der Verfassung. Es kam infolgedessen zu keiner Regelung :
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In Ehe- und Schulfragen wurden anstehende Probleme in Form komplizierter Umgehungsmanöver auslizitiert : Ein gutes Beispiel dafür war die Wiederverheiratung geschiedener Ehepartner, sogenannte »Sever-Ehen«, für die – unter Rückgriff auf das kaiserliche Gnadenrecht, wie es in einer Handvoll von Fällen vor 1918 zur Anwendung gekommen war – in Zukunft ein Dispens des Landeshauptmannes, später dann des Bundeskanzlers benötigt wurde. Ein Christlichsozialer konnte sein Gewissen selbstverständlich nicht mit derlei Gnadenakten belasten. Da traf es sich gut, wenn der Vizekanzler ein freisinniger Großdeutscher war ; man musste mit dem Ehedispens dann nur solange warten, bis der Kanzler Urlaub nahm. Bis 1930 waren immerhin schon 50.000 solcher Sever-Ehen geschlossen worden, als ein Urteil des Verwaltungsgerichtshofes die Praxis wiederum infrage stellte.301 Die Arbeiten an der Verfassung waren bereits ziemlich weit gediehen, als im Mai 1920 die Sollbruchstelle dieser Koalition zum Vorschein kam : Die Volkswehr, wie konnte es auch anders sein. Julius Deutsch wurde zum Vorwurf gemacht, er wolle im Bundesheer vollendete Tatsachen schaffen, solange die Sozialdemokraten noch das Sagen hatten. Ein Kritiker spottete, das Heer könne nur durch das sozialdemokratische Parteisekretariat alarmiert werden. Die Christlichsozialen hatten sich für ein möglichst großes Kontingent an alten Offizieren im Bundesheer eingesetzt. Auch wenn das Bundesheer nur 1500 Offiziere zählen durfte, sollten doch bis zu 5000 aufgenommen werden, vorausgesetzt der überqualifizierte Überschuß war bereit, als einfache Soldaten zu dienen.302 Die Sozialdemokraten trauten den alten Offizieren weder mit oder ohne Kragenspiegel. Julius Deutsch ließ den Soldatenräten deshalb am 25. Mai per Verordnung weitgehende Kompetenzen einräumen, die in die Befehlsgewalt der Kommandanten eingriffen. Die funktionale Demokratie sollte den parlamentarischen Mehrheitsverhältnissen und den überkommenen Hierarchien in die Parade fahren. Um die Verordnung, die vom Kabinett nicht abgesegnet worden war, entwickelte sich am 10. Juni 1920 in der Nationalversammlung ein Wortwechsel. Als Kunschak drohte, wenn die Gegenseite nicht aufhöre, über den Kopf des Koalitionspartners hinweg ihre Interessen durchzusetzen, habe die Koalition eben zu bestehen aufgehört, wurde er von beiden Seiten mit Beifall bedacht.303 Die Episode wurde später gerne zu einem entscheidenden Wendepunkt aufgebauscht, von 1920 eine direkte Linie zum Februar 1934 gezogen. Auch Historiker, die es besser wissen mussten und wussten, sind der Versuchung nicht immer entgangen, diesem für Sonntagsreden nachgerade maßgeschneiderten Topos ihre Reverenz zu erweisen.304 Dabei fällt es schwer, in das von beiden Seiten begrüßte, und in diesem Sinne schon wieder einvernehmliche Auseinandergehen einer von vornherein nur für einen knappen Zeitraum bemessenen Arbeitsgemeinschaft, eine besondere Tragik hineinzuinterpretieren. Die Arbeit der Konstituante war beendet, wenn auch mit gewissen Schönheitsfehlern und Unterlassungssünden. Nun konnten die Karten
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neu gemischt werden, die Normalität beginnen. Die Sozialdemokraten hatten schon zwei Wochen vor Kunschaks Auftritt intern Oktoberwahlen in Aussicht genommen. Wenn Hauser behauptete, es sei unmöglich, heute ein bürgerliches Regime zu errichten, weil sonst binnen vierzehn Tagen der Bürgerkrieg ausbrechen würde, so erwies sich diese Prophezeihung als ungerechtfertigt pessimistisch.305 Es dauerte nicht vierzehn Tage, sondern vierzehn Jahre – ein unmittelbarer Kausalzusammenhang lässt sich da schwerlich herstellen. Allenfalls darf man vielleicht jetzt schon die Frage aufwerfen, warum es nicht hin und wieder zu einer gelegentlichen Neuauflage der rot-schwarzen Zusammenarbeit gekommen ist (oder auch zu einer rot-blauen ?), die über gelegentliche Absprachen oder über die Junktimierung diverser Vorlagen hinausging ? Hier war vielleicht tatsächlich eine gewisse Blockade zu konstatieren. Im klassischen Kanon der Schuldzuweisungen wird an dieser Stelle gern auf Otto Bauer verwiesen, der von der reaktionären Masse sprach. 1920 war sich die Sozialdemokratie ziemlich einig, in keine Regierung mehr einzutreten, die ihren Forderungen nicht in vollem Maß Rechnung trug. Doch auch diese Haltung war im Laufe der politischen Konjunkturen diversen Anfechtungen und Modifikationen ausgesetzt. Die Bürgerlichen waren in einem viel offenkundigeren Maße als die Arbeiterschaft nicht bloß in unterschiedliche weltanschauliche Lager gespalten, sondern darüber hinaus in Gruppen mit durchaus gegensätzlichen ökonomischen Interessen. Wieso haben es die Sozialdemokraten nicht verstanden, die eine oder andere Interessensgruppe für eine Kooperation zu gewinnen ? Anknüpfungspunkte waren zweifellos gegeben. Doch immer wieder kamen einander dabei politische, kulturelle und ökonomische Frontstellungen in die Quere. Dem revolutionären Duktus der Anfangsjahre entsprach die Formel, die Ellenbo gen in der Nationalversammlung gebrauchte : Es handle sich bei der Koalition des Jahres 1919 nicht um ein banales Bündnis von Parteien, sondern von Klassen, nämlich der Arbeiter und der Bauern, wie es z. B. auch an der Wiege der Tschechoslowakei stand.306 Dahinter stand nicht bloß das sowjetische Schlagwort, sondern eine politische Realität. Arbeiter und Bauern waren nicht bloß die überwältigende Mehrheit, sie waren beide auch tatsächlich an einer weitgehenden politischen Umwälzung interessiert, weg vom Obrigkeits- und Beamtenstaat der Monarchie, hin zur lokalen Selbstverwaltung. Renners Partner Jodok Fink, der sich schon in der Monarchie gerne auf das Vorbild der frühneuzeitlichen »Bregenzer Wälder-Republik« berufen hatte, war dafür ein gutes Beispiel. Sogar das Rätesystem fand im bäuerlichen Bereich hin und wieder Nachahmer. Da waren gewisse Voraussetzungen gegeben für ein »Kartell der schaffenden Stände«, diesmal von links, gerichtet gegen »die Faulenzer in den Städten, Bürokraten, Kouponschneider, Militärs und Pensionisten«, wie es eine Bauern-Zeitung im Wahlkampf 1919 plakativ formulierte.307 Doch ach, dafür waren die Sozialdemokraten zu sozialistisch. Die Bauern hielten zäh am Eigentum fest, weit mehr als die bürgerliche Welt, die von Krieg und Inflation
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schon ziemlich demoralisiert war. In Fragen des Mieterschutzes waren die Bauern der konsequenteste Befürworter des Hausherrn-Standpunktes (weit mehr als die Industrie, die höhere Mieten mit höheren Lohnforderungen assoziierte). Die Sozialisten führten einen beständigen Kleinkrieg für die Arbeitslosenunterstützung. Für die Bauern hingegen, die unter Arbeitskräftemangel litten, »ist der Arbeitslose ein rotes Tuch«, wie es ein Landwirtschaftsminiter einmal plastisch ausdrückte. Die Bauern verlangten höhere Preise für Nahrungsmittel (das hieß bis Mitte der Zwanzigerjahre Freihandel, danach Schutzzoll) ; die Arbeiter, die im Schnitt immer noch über die Hälfte ihres Lohnes für Lebensmittel ausgaben, waren an billigen Importen interes siert. Diese Verteilungskonflikte wogen schwerer als die punktuellen politischen Berührungspunkte. Allenfalls das Getreidemonopol nach Schweizer Vorbild hätte es beiden zumindest teilweise recht machen können. Die (wenigen) inländischen Bauern bekommen hohe Preise ; der (größere) Rest wird im Ausland billig zugekauft ; der Konsument zahlt einen Mischpreis. Dollfuß als Kammerfunktionär zeigte für das Modell später zumindest Interesse ; wirklich mehrheitsfähig war es deshalb immer noch nicht, weil Österreich dazu wiederum zu viel Getreide produzierte.308 Blieb zu guter Letzt noch die Gretchenfrage : Wie hältst du es mit der Religion ? Diesen Test vermochte die Sozialdemokratie noch weniger zu bestehen : Gerade ihr rechter, prinzipiell koalitionsbereiter Flügel, Marke Leuthner, bestand aus linksbürgerlichen, kämpferischen Antiklerikalen, bis hin zum Freidenkerbund. Da war mit den katholischen Bauern erst recht kein Bund zu flechten. Doch auch eine eventuelle antiklerikale Schiene bewegte sich in Richtung Abstellgleis. Der Kulturkampf wurde von den Bürgerlichen bis auf Weiteres auf Eis gelegt. Ein paar alte Schönerianer – »Kulturkampfindianer, die ihr Kriegsbeil ausgraben« – leisteten der Sozialdemokratie zwar bei den Großdeutschen indirekt Schützenhilfe, doch schon die Wiener Liberalen hatten nach dem Sturz der Lueger’schen Rathausmehrheit bei Gott andere Sorgen. Die politischen Eliten waren da vielleicht experimentierfreudiger, die Basis nicht. Dinghofer schloss deshalb schon 1921 bedauernd, aber kategorisch aus : »Mit den Sozialdemokraten allein können wir wegen unserer Anhänger keine Regierung bilden.«309 Erst 1929 entwickelte sich bei den Großdeutschen erstmals eine Debatte über die Möglichkeiten von Rot-Blau : Doch selbst die Befürworter dieser Option gaben zu, dafür sei es wohl noch zu früh. Die Sozialdemokratie konnte sich beim Werben um die städtischen Zwischenschichten, die keine Bourgeois waren und doch die bürgerliche Mehrheit trugen, natürlich auch ganz einfach auf den Klassenstandpunkt stellen. Dabei handle es sich um Lohnabhängige, die man behutsam zur Erkenntnis ihrer wahren Lage führen müsse. Selbst der Stadt-Land-Konflikt ließe sich in dieser Richtung ausschlachten. Hatte nicht selbst ein dezidiert bürgerliches Organ wie die »Linzer Tagespost« eingeräumt : »In der Betreibung der Lebensmittel verdient sich die Volkswehr gewiß den Dank der Bevölkerung.«310 Doch dazu war das Vorgehen der Sozialdemokratie
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zu machtbewusst und zu egalitär. Die Mittelschichten waren statusbewusst. Sie wollten aus ihrer Not keine Tugend machen und als Proletarier willkommen geheißen werden.311 Diese Einstellung mochte klassisches »falsches Bewußtsein« widerspiegeln, aber sie war eine politische Realität. Selbst unter Sozialdemokraten waren die Angestellten allergisch gegen »Gleichmacherei«. Die subtilen sozialen Gegensätze, um die es sich hier handelte, waren einer geschlossenen Front der Werktätigen nicht zuträglich. Die Inflationszeit hatte zu einer Differenzierung nach Branchen geführt, doch zu einer Nivellierung innerhalb der Belegschaften. Die bürgerlichen Zwischenschichten hatten bei den rabiaten Verteilungskämpfen der Ersten Republik von den Sozialdemokraten wenig zu erwarten. Das Fazit all dieser Überlegungen war : Wann immer es der Sozialdemokratie vielleicht doch einfiel, mit Teilen der reaktionären Masse zu packeln, es gab dort keine fünfte Kolonne, die Gewehr bei Fuß stand, auf derlei Avancen einzugehen. Im Gegenteil : Das Bürgertum stand im Bann des »Austro-Marxismus«, der revolutionären Masse, die man erst von ihren vorgeschobenen Positionen verjagen und zurückdrängen müsse – oder die sich erst spalten müsse, bevor man mit ihr ernsthaft verhandeln könne.
2. Die Österreichische Gegenrevolution 1920–1923 Auf Umwegen zum Bürgerblock Die Auflösung der Koalition wurde kaum als fundamentale Kampfansage betrachtet. Im Gegenteil : Bis zu den Neuwahlen führte den Sommer über eine Übergangsregierung die Geschäfte, die sich ganz nach dem Muster der Novembertage 1918 aus Vertretern aller Parteien zusammensetzte : Drei Sozialdemokraten, drei Christlichsoziale, ein Großdeutscher (und drei Beamte). Allerdings übernahmen die Parteien keinerlei Verantwortung für das Gesamtkabinett, nur für ihre eigenen Staatssekretäre, wenn man so will : eine ad hoc-Änderung der provisorischen Verfassung, die ohnehin bis Ende Oktober von der (mehr oder weniger) definitiven abgelöst werden sollte.312 Renner in seiner Eigenschaft als Staatssekretär des Äußeren, Hanusch und selbst Deutsch als Stein des Anstoßes behielten bis auf Weiteres ihre Ressorts ; nur die Christlichsozialen wechselten ihre Mannschaft komplett aus. Sie stellten mit dem Tiroler Archivdirektor und Rechtshistoriker Michael Mayr – schließlich ging es um die Beendigung der Verfassungsberatungen – jetzt auch bereits den Kanzler. Das Ergebnis der ersten regulären Nationalratswahlen am 17. Oktober 1920 lässt sich einfach zusammenfassen : Sozialdemokraten (36 % statt 41 %) und Christlich soziale (42 % statt 36 %) hatten Plätze getauscht ; die Großdeutschen – die erst zwei Monate zuvor ihre Parteigründung vollzogen hatten – mussten Federn lassen. Der Landbund (»deutschösterreichische Bauernpartei«) war gerade erst im Begriff, sich
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als eigene Partei zu konstituieren. In diese Lücke stießen die Christlichsozialen. Insbesondere die Hochburgen der nationalen Bauernschaft im Waldviertel, zum Teil auch im Innviertel wurden eingeebnet. (Kärnten und das Burgenland, die umstrittenen Grenzregionen, wählten dafür erst ein, zwei Jahre später.) Diesmal wurde auch offiziell fein säuberlich getrennt nach Männer- und Frauenstimmen ausgezählt : Beim ersten Mal waren nur die Kuverts markiert worden, jetzt gab es verschiedenfarbige Stimmzettel. Der Befund, der sich schon 1919 angedeutet hatte, ließ sich nun statistisch erhärten. Das gender-gap betrug fast 10 %. Bei den Frauen erzielten die Christlichsozialen beinahe die absolute Mehrheit. Das Ergebnis schien auf den ersten Blick eindeutig genug. Die Sozialdemokraten zogen auch umgehend ihre Folgerungen daraus. Auf einem Parteitag unmittelbar nach der Wahl wurde der Beschluss abgesegnet, den Gang in die Opposition anzutreten. Doch die bürgerlichen Parteien waren keineswegs entschlossen zur Machtübernahme. Diese Haltung war nicht frei von Koketterie. Darin spiegelten sich zum einen die Traditionen der ausgehenden Monarchie : In einem Vielvölkerstaat, wo auch die stärkste Fraktion im besten Fall 20 % der Sitze ergatterte und der Kaiser sich seine Minister nicht vom Parlament vorschreiben ließ, konnte es sich nicht darum handeln, die Regierung zu »übernehmen« und sein Programm umzusetzen. Man schloss sich bestenfalls der Regierungsmehrheit an, entsandte einen Aufpasser ins Kabinett und betrieb »Postulatenpolitik«. Wenn es um die »Staatsnotwendigkeiten« ging, die vielfach unpopuläre Entscheidungen erforderten, erwartete man sich im Gegenzug die Erfüllung bestimmter Wünsche der eigenen Anhängerschaft. Zumal die Großdeutschen waren nach ihrer Wahlschlappe bemüht, den Eindruck zu vermeiden, sie segelten im Schlepptau der Christlichsozialen. Die alten Schönerianer in der Fraktion (Ursin, Waneck, Zeidler) fungierten vorerst noch als Sperrminorität gegen jede Bindung an eine »internationalistische Partei« (»loyal kommt nicht von Loyola«, ließ sich einer von ihnen vernehmen).313 Selbst Dinghofer gab zu, die Parole des Antimarxismus sei »für die Zukunft äußerst gefährlich«, weil sie in erster Linie den Christlichsozialen zugutekäme. Die Partei optierte daher schon einmal aus Gründen der inneren Balance für eine »Politik der freien Hand«, sprach sich aber auch gegen eine Opposition um jeden Preis aus. Dem Usus der Monarchie entsprechend, wollten sie keine Parlamentarier in die Regierung entsenden, ein Vorhaben, das von dem charakteristischen Zusatz begleitet wurde : »Etwas anderes ist es, wenn Beamte unserer Richtung in die Regierung kommen …«314 Erst im Laufe der Zeit stellte sich heraus, dass dieses althergebrachte Modell des »Wasch mir den Pelz und mach mich nicht nass« unter den veränderten Bedingungen einer republikanischen Konventsverfassung nicht mehr so leicht zu praktizieren war. Es gab keine monarchische Exekutive mehr, die sich um die »Staatsnotwendigkeiten« annahm, gleichgültig, was das Parlament dazu sagte. Die »Politik der freien Hand« verlor ihre Unschuld, sobald die Fraktion eine Regierung einmal ins Amt gewählt hatte.
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Im November 1920 machte es Seipel den Großdeutschen noch leicht. Man einigte sich auf ein Kabinett der Fachmänner. Die Sozialdemokraten gaben ihren Segen dazu, auch sie mit einem bezeichnenden Zusatz. Sie ließen Seipel wissen, sie würden großzügigerweise weder eine Sabotage der Regierung noch des Hauses (sprich : des Parlaments) anstreben, solange keines der Gesetze rückgängig gemacht würde, die in den letzten zwei Jahren beschlossen worden waren.315 Auch diese versteckte Drohung, zur Obstruktion zu greifen, sobald es um die heiligsten Güter der Nation ging (oder : in diesem Fall eben der Arbeiterklasse), war Teil des politischen Instrumentariums der Monarchie. Nur hatte die Sozialdemokratie sich in der Monarchie von Abbildung 27 : Bundeskanzler Michael Mayr derlei frivolen Spielchen stets ferngehalten, um nicht einem kaiserlichen Regime mit dem Notverordnungsparagrafen das – möglicherweise gar nicht einmal so unwillkommene – Stichwort zu liefern. Diese Gefahr drohte inzwischen nicht mehr ; der Kaiser weilte im Exil. Die Regierung stand der Drohung mit der Obstruktion ziemlich hilflos gegenüber. Eine Regierung der Fachmänner also. Welcher Fachmann sollte sie leiten ? Auch in dem Punkt waren sich Seipel und Dinghofer rasch einig : Als idealer Kandidat erschien beiden der Polizeipräsident Schober. Freilich : Schober bestand darauf, sich auch tatsächlich Fachleute nach seinem Geschmack auszusuchen. Er holte sich dem Vernehmen nach bei einigen seiner Kandidaten einen Korb, weil sie als kaiserliche Würdenträger kein solches Amt annehmen wollten ; den Prinzen Karl Emil Fürstenberg im Außenamt lehnte die Reparationskommission der Entente ab, vermutlich, weil sie ihn mit seinem Bruder verwechselte ; den als Tagebuchschreiber bekannt gewordenen letzten kaiserlichen Finanzminister Redlich wiederum lehnten die Großdeutschen ab, letztendlich wegen seiner jüdischen Abstammung, auch wenn Dinghofer bemüht war, alle möglichen sonstigen Verdachtsmomente beiseitezuräumen.316 Schon diese erste Krise ließ das Muster erkennen, das die Strategie der Großdeutschen in den nächsten anderthalb Jahren Schritt für Schritt unterhöhlte. Sobald die Großdeutschen eine Regierung aus dem Sattel hoben, kam Seipel lächelnd zu ihnen und bat um ihre Vorschläge, wie man es besser machen könne. Beim nächsten Mal
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traute sich die Partei schon keinen Ministerkandidaten mehr abzulehnen, weil sie sonst jemand anderen nominieren und damit Bindungen eingehen müsse. Sobald sie aus Angst vor derartigen Bindungen, und der damit verbundenen innerparteilichen Zerreißprobe, aber Entscheidungen hinnahm, die ihr zuwiderliefen, hatte sich der vermeintliche Vorteil einer Politik der freien Hand in sein Gegenteil verkehrt. Die Großdeutschen wurden de facto zu einer Regierungspartei, ohne die Privilegien einer solchen zu genießen. Eine solche »Gratiskoalition« bedeutete das schlechteste beider Welten. Der spätere Vizekanzler Leopold Waber, der auf eine offizielle Regierungsbeteilung drängte, versuchte seinen Kameraden die verquere Logik ihrer Strategie zu verdeutlichen : »Wir wollen eine Politik der freien Hand betreiben und nehmen sie der Regierung übel.«317 Die Koketterie der Parteien, die sich so sehr dagegen sträubten, es sich in den Ministerfauteuils bequem zu machen, hatte freilich noch einen anderen Grund als die eingefahrenen Gewohnheiten der Vorkriegszeit. Österreich hatte – bis auf das Burgenland – inzwischen einigermaßen feste Grenzen : Eine Woche vor der Natio nalratswahl hatte die Volksabstimmung in Südkärnten stattgefunden. Es verfügte inzwischen auch über eine Verfassung, die zehn Tage vor der Volksabstimmung verabschiedet worden war. Die Staatsrechtler konnten sich zurücklehnen. Gefordert waren jetzt die Ökonomen. Österreich lebte nach wie vor über seine Verhältnisse. Das Loch in der Zahlungsbilanz wurde immer größer. Der Fall der Krone wirkte als Exportprämie (oder auch als Prämie für den »Ausverkauf« Österreichs) ; die Kehrseite war, er verteuerte zugleich auch die Lebensmittelimporte, die Österreich so dringend benötigte. Um die Preise nicht in unerschwingliche Höhen zu treiben, wurden die Nahrungsmittel verbilligt an die Bevölkerung abgegeben. Diese Lebensmittelsubventionen machten bald die Hälfte des Budgets aus. Bezahlt wurden sie in einem circulus vitiosus durch die vermehrte Ausgabe von Papiergeld. Die Inflationsspirale begann sich immer schneller zu drehen. Früher oder später, besser früher als später, musste diesem unheilvollen Kreislauf auf die eine oder andere Art Einhalt geboten werden. Das Loch im Budget und das Loch in der Zahlungsbilanz, die wie kommunizierende Gefäße wirkten, mussten beide gestopft werden. Um die Versorgung Österreichs für eine Übergangszeit sicherzustellen, so die allgemeine Auffassung, sei ein größerer Auslandskredit erforderlich. Um diese Hilfestellung nicht wirkungslos verpuffen zu lassen, musste sich Österreich zu einer Radikalkur bereit erklären, die Praxis der Lebensmittelsubventionen beenden, neue Steuern einführen und Beamte entlassen. Selbst die Sozialdemokraten vermochten sich dieser Logik bis zu einem gewissen Grad nicht zu verschließen. Allerdings hielten sie eine Auslandsanleihe nicht unbedingt für notwendig. Schließlich hatten die Österreicher seit Jahr und Tag, wann immer sie konnten, legal oder illegal, Devisen gehortet ; wenn man all diese Guthaben über eine Zwangsanleihe abschöpfte, konnte man sich dem Diktat der Finanzmärkte vielleicht doch noch
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entziehen. Freilich, wie sollte man diese Guthaben dingfest machen, ohne in eine neue Ära der staatlichen Bewirtschaftung einzutreten ? Die Verhandlungen über mögliche Auslandskredite waren selbstverständlich nicht unabhängig von den innenpolitischen Konjunkturen. Potenzielle Investoren schätzten Stabilität ; insofern war der Sturz Renners 1920 möglicherweise kontraproduktiv. Sie waren empfindlich gegen antikapitalistische Tiraden ; insofern war die Bildung einer Regierung ohne Sozialdemokraten vielleicht kein so schlechter Schachzug. Die »Neue Freie Presse« spann den Gedanken weiter : »Die Hoffnung auf auswärtige Hilfe wird vielleicht das beste Mittel sein, die Tendenz [einer bürgerlichen Politik] zu festigen.«318 Freilich nur dann, wenn auch die Bürgerlichen sich von ihren liebgewordenen Illusionen trennten, insbesondere von ihrem Leib- und Magenthema, die wirtschaftliche Misere beweise doch nur aufs Neue, dass sie recht gehabt hatten mit ihrer Behauptung, ohne den Anschluss ginge es einfach nicht. Hinter diesem Kalkül verbarg sich der Denkfehler, die argbösen Feinde, die Österreich in ihrem imperialistischen Wahn auf der einen Seite das Selbstbestimmungsrecht verweigerten, würden sich auf der anderen Seite vom Elend ihrer ungeliebten Schützlinge zu Tränen rühren lassen und den Anschluss schließlich doch noch bewilligen. Als ehrlicher Makler zwischen den Österreichern und den Geldgebern betätigte sich die Reparationskommission unter der Leitung des Engländers Sir William Goode. Ihrem Etikett zum Trotz beschäftigte sich die Reparationskommission nicht mit Reparationen, sondern mit der Verteilung sogenannter Relief-Kredite, um einen unmittelbaren Zusammenbruch zu vermeiden. An tatsächliche Reparationszahlungen vonseiten Österreichs wagte nun wirklich niemand zu denken ; doch auch der theoretische Anspruch der Siegermächte auf Reparationen entfaltete seine Wirkungen. Denn Geldgeber würden auf alle Fälle gewisse Sicherheiten verlangen, z. B. die Zolleinnahmen oder die Tabakgefälle. All diese Sicherheiten aber waren längst mit dem Generalpfandrecht der Reparationsgläubiger belastet.319 Bevor Kreditoperatio nen in Gang kommen konnten, mussten die Ententestaaten – jeder für sich – auf dieses Generalpfandrecht verzichten. Die Großmächte waren dazu im Rahmen eines Großreinemachens prinzipiell auch bereit. Doch ihre Trabanten, selbst nicht auf Rosen gebettet, wie z. B. die Jugoslawen oder die Rumänen, waren dazu bestenfalls gegen Konzessionen bereit. Die Sache schleppte sich ein Jahr lang hin, unter wechselseitigen Vorwürfen und Schuldzuweisungen : Die Entente vermisste bei den Österreichern den ehrlichen Reformwillen, die Österreicher bei der Entente die Bereitschaft zur Aufhebung des Generalpfandrechtes. Für eine Radikalkur war ein Beamtenkabinett, das über keinen politischen Rückhalt verfügte, keine Idealbesetzung. Diese These ist in jüngster Zeit mehrfach falsifiziert worden : Gerade weil keine Partei dafür direkt verantwortlich gemacht werden kann, tun sich »technische Kabinette« mitunter leichter, unpopuläre Maßnahmen umzusetzen, ja gewinnen dabei mitunter sogar an Popularität. Doch diese Erfah-
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rung lässt sich auf das Österreich der Zwanzigerjahre nicht umlegen. Dafür lagen die ordnungspolitischen Vorstellungen über die erforderlichen Maßnahmen zu weit auseinander. Denn es ging nicht bloß um fiskalische Maßnahmen, um Steuern oder Ausgabenkürzungen, sondern um das Wirtschaftssystem an sich : Die Sozialdemokraten verteidigten die Errungenschaften der österreichischen Revolution, die ihr durch die Hintertür entrissen werden sollten. Die Agrarier forderten das Ende der Bewirtschaftung und die Rückkehr zum (mehr oder weniger) freien Markt. Sie hatten 1920 bereits erste Fortschritte erzielt (die Getreideaufbringung wurde damals den landwirtschaftlichen Genossenschaften in Eigenregie übertragen), wollten die Sache aber endlich zum Abschluss bringen.320 Dazwischen stand die Fraktion des städtischen Bürgertums, die sich in der Großdeutschen Volkspartei notdürftig gesammelt hatte. Otto Bauer hat den Kampf gegen die Sanierung, wie Seipel sie geplant und durchgezogen hatte, rückblickend auf die Formel gebracht : Es habe sich dabei gehandelt um »einen Kampf um die Seelen der deutschnationalen Intellektuellen, Angestellten, Beamten und Lehrer«, um schließlich zum vernichtenden Schluss zu kommen : »Das nationale Bürgertum fühlte und dachte nicht mehr national ; es fühlte und dachte nur mehr bürgerlich.«321 Nicht mehr national, weil es sich lieber dem Diktat des Auslands anvertraute als dem Selbsthilfeprogramm der Sozialdemokraten. Der bittere Befund musste ihn endgültig in seiner Vorstellung von der reaktionären Masse bestätigen : Was ändere sich schon dadurch, wenn sich ein Teil der Christlichsozialen als großdeutsch bezeichne ? Allerdings handelte es sich bei der Genesis des Bürgerblocks um einen längeren Prozess, der nicht ohne Rückschläge verlief. Doch mit jeder Krise rückten die Großdeutschen zwischen Frühjahr 1921 und Frühjahr 1922 einer Koalition immer näher, ob sie nun wollten oder nicht. Sobald eine Kombination mit den Sozialdemokraten prinzipiell ausgeschlossen war, brach sich die Anziehungskraft der Christlichsozialen Schritt für Schritt Bahn. Für das Scheitern des Experiments Schober sahen sich die Großdeutschen zunächst mit einem Kabinett bestraft, das ihren Vorstellungen weit weniger entgegenkam. Michael Mayr führte erneut eine Übergangs-, vielleicht auch Verlegenheitsregierung an, die allerdings nicht mehr bloß aus Fachmännern bestand, sondern bereits einige Christlichsoziale umfasste, im April 1921 noch einmal verstärkt durch Carl Vaugoin im Heeres- und Rudolf Ramek im Innenressort, zwei Politiker mit Stehvermögen.322 Die Christlichsozialen boten den Großdeutschen damals schon ein offenes Bündnis an – und erneuerten das Offert bald darauf sogar noch einmal, sobald das Kabinett Mayr im Mai wegen der Anschlussabstimmungen in den Ländern in Turbulenzen geriet. Dinghofer hatte Verständnis für die Schwierigkeiten der Regierung, doch seine Partei beharrte auf ihrem Schein : Man habe ihr die Abstimmung nun einmal zugesagt, Mayr sei wortbrüchig geworden. Nichts leichter als das, entgegnete Seipel. Man sei gerne bereit, Mayr zu opfern und im Gegenzug eine feste Vereinbarung
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abzuschließen. Innerhalb der Großdeutschen Volkspartei prallten die Gegensätze schon damals scharf aufeinander : Der Wirtschaftsflügel jubilierte, die Christlichsozialen hätten ein Wirtschaftsprogramm vorgelegt, »zu dem wir nur ja sagen können«. Freilich : Das Sanierungskonzept bedingte ein Eingehen auf die Wünsche der Entente. Doch selbst die deutsche Reichsregierung, als Orakel befragt, gab zur Antwort : »Holt aus der Entente heraus, was möglich ist.« Zwischen der Fraktion und den Parteigremien entwickelten sich im Laufe des Jahres mehrfach gravierende Auffassungsunterschiede. Klubobmann Dinghofer und Parteiobmann Kandl drohten beide mehrmals mit dem Rücktritt. Kandl wollte weiterhin jeden Anschein einer Koalition vermeiden bzw. nur in die Regierung eintreten, wenn die Sozialdemokraten auch mitmachten (die freilich jedes Mal postwendend ablehnten). Die Reichsparteileitung versteifte sich auf das Schlagwort von der Politik der freien Hand, das ein Oberösterreicher verächtlich als »Tingel-TangelPolitik« abtat. Emil Kraft, der als Besitzer eines großen Kaufhauses in Graz Wuttes Linie fortsetzte, sprach von einer »Studentenpolitik« (was wahrlich nicht als Kompliment gemeint war !) ; auf diese Weise werde die bürgerliche Richtung verdrängt, man müsse endlich einmal auch Rücksicht nehmen »auf jene Anhänger, die real denken«.323 Seipel war inzwischen Anfang Juni 1921 zum Parteiobmann gewählt worden, Mayr – der über keinen innerparteilichen Rückhalt verfügte, auch nicht in Tirol – war von selbst zurückgetreten, sobald die Steirer aller Couleurs ihm die Gefolgschaft aufgekündigt hatten. Seipel zog erneut eine Kandidatur Schobers aus dem Hut, diesmal in Kombination mit einem Finanzminister, Ferdinand Grimm, der auch bei den Großdeutschen auf Gegenliebe stieß. Von einer Koalition war nach außen hin selbstverständlich überhaupt keine Rede : Schober umgab sich mit kongenialen Gestalten der Hochbürokratie. Bloß als Vertrauensmänner der Parteien traten Vaugoin und seitens der Großdeutschen der Überzeugungstäter Waber in das Kabinett ein. Das Feigenblatt hielt, bis im Oktober Grimm das Handtuch warf, weil niemand auf seinen Finanzplan einging. Die Christlichsozialen tauschten jetzt Vaugoin als ihren Repräsentanten im Kabinett gegen Alfred Gürtler als Finanzminister. Damit war eine subtile Drohung verbunden : Vaugoin war auf dem besten Wege, sich zum Buhmann der Sozialdemokratie zu entwickeln ; der »Renegat« Gürtler hingegen (Renegat, weil einst selbst nicht bloß Groß-, sondern Alldeutscher) galt als profiliertester »Großkoalitionär« unter den Politgranden der Christlichsozialen. Kurz darauf fiel Schober selbst bei den Großdeutschen in Ungnade. Als Stolperstein erwies sich die Außenpolitik, die nun einmal ein Eingehen auf die Befindlichkeiten der Nachbarn erforderte. Der Friedensvertrag von Trianon mit Ungarn war im Sommer 1921 endlich ratifiziert worden. Das Burgenland war damit rechtlich österreichisch geworden, aber noch lange nicht faktisch. Schober ließ sich im Oktober deshalb – auf Drängen der Italiener – auf das Venediger Abkommen ein, das zwi-
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schen den Zeilen von Anfang an vorsah, das Burgenland zwar endlich an Österreich zu übertragen, aber Ödenburg im Rahmen einer Volksabstimmung bei Ungarn zu belassen. Unter die ungarischen Einheiten, die unter dem Kommando des Obersten Lehar, des Bruders des Operettenkomponisten, aus dem Grenzgebiet abzogen, mischte sich dann – per Flugzeug – auch Kaiser Karl, doch auch dieser letzte Restaurationsversuch scheiterte. Kurz darauf hatte Schober im Vertrag von Lana auch die tschechoslowakische Annexion der Sudetengebiete offiziell anerkannt und im Gegenzug einen 500 Millionen Kronen-Kredit eingeräumt bekommen (wohlgemerkt tschechoslowakische Kronen, die noch etwas wert waren). Masaryk hat Österreich in diesen Tagen den Beitritt zur Kleinen Entente vorgeschlagen und suggeriert, gemeinsam wäre es ein leichtes, das ganze Burgenland für Österreich zu erobern. Doch Schober ging auf diese Sirenenklänge nicht ein, auch wenn Renner ihm diese Neutralitätspolitik später zum Vorwurf machte. Er wollte – wie später Seipel – zwischen Prag und Rom balancieren und die Nachbarn gegeneinander ausspielen ; aber – ebenfalls wie Seipel – mit einer leichten Präferenz für Rom. Was er sich von der Tschechoslowakei erhoffte, war die Fürsprache der Kleinen Entente bei der Großen Entente, ein »Türöffner«, um Österreich endlich die schon so lange in Aussicht gestellten Kredite zu gewähren. Schober sonnte sich im Erfolg : Wir haben »jemanden gefunden, der für uns eintritt, ohne daß wir gebunden sind.«324 Nicht alle teilten diese optimistische Einschätzung. Die Anhänger der symbolischen Gesten in der Politik forderten Schobers Skalp. Die heimischen Gralshüter der nationalen Sache (die bekanntlich wenige Wochen zuvor selbst ein Bündnis mit den Tschechoslowaken gegen Kaiser Karl erwogen hatten) verziehen Schober seine Pilgerfahrt nach Prag nicht. Wieder einmal raste die See und wollte ihr Opfer haben. Damit erreichten die Auseinandersetzungen innerhalb der Großdeutschen ihren Kulminationspunkt. Dinghofer warnte seine Kollegen vergeblich, man werde sich bloß lächerlich machen, wenn man in einer Trotzreaktion die Wiederwahl Schobers zum Kanzler zu verhindern suche. Denn der Landbund, der sich inzwischen von den Großdeutschen losgesagt hatte, werde mit den Christlichsozialen stimmen ; die Sozialdemokraten im Einvernehmen mit Gürtler aber genügend Leute »abkommandieren«, um eine Mehrheit im Hause zustande kommen zu lassen.325 Genauso geschah es am 27. Jänner 1922 dann auch : In der Nacht vor der Abstimmung versicherte Seitz den Polizeipräsidenten seines persönlichen Vertrauens. Die Sozialdemokraten sicherten Schober durch »freiwillige Absenzen« im Nationalrat eine komfortable Mehrheit.326 Der Aufstand gegen Schober war ein letzter Pyrrhus-Sieg der Koalitionsgegner bei den Großdeutschen. In Wien und Umgebung war die Schicht, die in den Ländern die Großdeutsche Volkspartei trug, entweder von den Christlichsozialen aufgesogen worden oder bei den »Judenliberalen« verblieben. Die Wiener Partei war ein Beam
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tenklüngel ohne Verankerung im alten Mittelstand, dominiert von Funktionären des nationalen Vereinswesens. Die Länder mit ihrem bürgerlichen, ja bourgeoisen Substrat probten den Aufstand gegen den »unfruchtbaren Standpunkt« der Wiener. Insbesondere die Oberösterreicher, Dinghofer und sein Landesparteiobmann Franz Langoth, warfen sich diesmal in die Schlacht. In Oberösterreich hielten die Landbündler bis auf Weiteres den Großdeutschen die Treue ; dieses Zusatzgewicht erwies sich als das Schwungrad, das Bewegung in die Sache brachte. Dinghofer warnte, wenn »wir jetzt die Regierung sprengen, käme es auch zu einer Sprengung der Partei«. Die Entscheidung lasse sich nicht länger hinausschieben. Es »sei notwendig, in irgendeiner anständigen Form baldigst zu einer Koalition mit den Christlichsozialen zu kommen«, gleichgültig, ob jetzt mit oder ohne Schober.327 Seipel brachte vielleicht nicht ungern das Bauernopfer, und ließ die G roßdeutschen vorher tatsächlich noch ihr Mütchen an Schober kühlen, oder besser an Gürtler, der am 10. Mai durch einen routinemäßigen Misstrauensantrag im Hauptausschuß gestürzt wurde, dem sich die Großdeutschen überraschend anschlossen.328 Schober befand sich zu dem Zeitpunkt gerade auf der Weltwirtschaftskonferenz in Rapallo und gab sich den Anschein, er sei hundert Meter vor dem Ziel gestürzt worden. Ganz so hundertprozentig war sein Erfolg allerdings nicht : Rumänien und Jugoslawien hatten ihre »prinzipielle Zustimmung« zur Aufhebung des Generalpfandrechts gegeben, dieses Entgegenkommen jedoch kurz darauf für »unverbindlich« erklärt.329 Doch inzwischen hatte die ökonomische Lage eine dramatische Zuspitzung erfahren. Gürtler hatte zwar die Einstellung der Lebensmittelsubventionen auf seine Fahnen geschrieben ; doch er wollte sie – gewitzigt durch den sogenannten »Schaufenstersturm« in der Wiener Innenstadt am 1. Dezember 1921 – nur im Einvernehmen mit den Sozialdemokraten durchziehen. Die sozial verträgliche Lösung lautete : Ausnahmslos alle Löhne und Gehälter – nicht bloß die einiger privilegierter Gruppen wie z. B. der Metaller – sollten in Zukunft an den Index gebunden werden. Damit war das Stadium der galoppierenden Inflation erreicht. Die Eisenbahner verhandelten im Juni bereits über die Frage, ob sie als Teuerungsentgelt jetzt das 23-fache oder das 26-fache der Märzlöhne erhalten sollten. Das Publikum ließ sich nach den gemachten schlechten Erfahrungen von der Inflation nicht mehr überraschen, sondern war bemüht, ihr vorausschauend ein Schnippchen zu schlagen.330 Es bestand die akute »Gefahr, daß wir unsere österreichische Krone im Ausland nicht mehr anbringen«.331 Der Zeitpunkt war gekommen oder doch zumindest nahe, wo die Krone auf den internationalen Märkten überhaupt nicht mehr gehandelt wurde, Importe daher nicht mehr finanziert werden konnten. Die Sozialdemokraten hatten Schober Mitte März mit einem Angebot zu k ödern versucht, ihn zu unterstützen, solange er ihren Willen tat, in wirtschaftlichen Fragen zumindest. Tatsächlich erbrachte die Regierung einige Vorleistungen : Sie legte prompt kein Veto gegen die umstrittene Wiener Wohnbausteuer ein und gestand
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eine Erhöhung der Arbeitslosenunterstützung zu. Doch zu einem wirklichen Seiten wechsel war Schober nicht bereit, zu echten Parteienverhandlungen wiederum die Sozialdemokraten nicht. Sie forderten vielmehr, Seipel als Obmann der Christlichsozialen solle nicht bloß im Hintergrund die Fäden ziehen, sondern selbst die Verantwortung unternehmen. Mehr noch als die eigene Partei arbeitete die AZ am Nimbus des Prälaten und seiner Allgewalt : »Wenn Herr Dr. Seipel das Regieren in der Republik so auffasst, daß ohne seinen Willen kein Blatt vom Baum fallen darf, so trete er vor und regiere selbst. Was er ist, das wage er auch zu scheinen !«332 Genf : Die Revanche für den 12. November ? Hic Rhodus, hic salta : Am 28. Mai entschied sich der großdeutsche Parteitag in Graz mit überraschend deutlicher Mehrheit (307 zu 58 Stimmen) für den Eintritt in eine bürgerliche Koalition, ohne Wenn und Aber. Am 31. Mai trat Seipel mit einer charakteristischen Koketterie vor den Nationalrat : Die Opposition, die ihn nicht gewählt habe, sei für sein Erscheinen mitverantwortlich, denn sie hätte »so lange – ich will, da es sich um meine Person handelt, nicht gerade sagen : den Teufel – an die Wand gemalt, und so dazu beigetragen, daß er nun wirklich kam«.333 Bis auf Alfred Grünberger, der für Seipel das Außenamt führte, setzte sich das neue Kabinett erstmals ausschließlich aus Politikern zusammen, sieben Christlichsozialen (davon nicht weniger als fünf Wiener !)334 und drei Großdeutschen. Der Wiener Staatsanwalt Felix Frank, ursprünglich Teil des linken Flügels der Nationaldemokraten, doch in Sachen Bürgerblock vom Saulus zum Paulus geworden, übernahm die Stelle des Vizekanzlers. Seipel war keineswegs ein augenblicklicher Erfolg beschieden. Sein erster Sanierungsplan scheiterte an der Weigerung der beiden in ausländisches Eigentum übertragenen Großbanken, Anglo- und Länderbank, sich an der Gründung der Nationalbank finanziell zu beteiligen. Das Generalpfandrecht war Ende Juli zwar nicht generell aufgehoben, aber für einige spezielle Aktiva (wie z. B. Zölle oder Salinen) für neunzig Jahre suspendiert worden ;335 doch inzwischen reichten derlei kommerzielle Sicherheiten nicht mehr aus, um Anleger anzulocken. Gefragt war eine politische Garantie der Großmächte. Die angelsächsische Finanzwelt, auf die man immer solche Hoffnungen gesetzt hatte, dass sie Österreich einen auskömmlichen Ausweg bieten und ihm Kredite ohne irgendwelche unangenehmen politischen Nebenwirkungen verschaffen würde, war an Österreich nicht hinreichend interessiert. Gerade weil die britische Diplomatie das Problem in einem größeren Kontext betrachtete und davon ausging, erst müsse der deutsch-französische Gegensatz beseitigt werden, bevor eine durchgreifende Sanierung erfolgen könne, reichte sie das Teilproblem Österreich Anfang August an den Völkerbund weiter.336 Gerade diese erste Schlappe ließ Seipel zu großer Form auflaufen. Denn damit verschob sich das Problem, weg von den Zahlen- und der Zinsenarithmetik, auf die
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Ebene der politischen Geometrie. Der Kanzler verstand das Schreckensszenarium weidlich auszunützen, das sich aus der drohenden Zahlungsunfähigkeit Österreichs ergab. Eine Bevölkerung, die vor dem Verhungern stand, würde sich einfach an das nächstbeste Wirtschaftsgebiet anschließen ; wenn der Anschluss an Deutschland unmöglich war, dann eben an Italien. Um der Drohung den entsprechenden Nachdruck zu verleihen, reiste er selbst nach Italien und verhandelte über eine Währungsunion. Der Plan stieß in Italien übrigens auf geteilte Meinungen ; aber der Schachzug tat seine Wirkung. Seipels Tournee mobilisierte den Verbund Paris-Prag, Frankreich und seinen Anhang in der Kleinen Entente, die gegen jegliche Änderung des status quo in Mitteleuropa allergisch waren. Es sollte sich immer wieder als Seipels Trumpfkarte erweisen, dass er keine politischen Berührungsängste kannte. Seine großdeutschen Koalitionspartner hatten von Berlin den Wink erhalten, die Entente auszunehmen, so gut es ging – und vermochten ihre Skrupel doch nicht zu überwinden. Wann immer es um Auslandskapital ging, musste Dinghofer seine Kameraden mit der Fata Morgana einer Achse Amerika-England-Deutschland bei Laune halten.337 Seipel blickte den Realitäten ins Auge : Mit unverbindlichem Wohlwollen war es nicht getan. Warum sollte das Haus Morgan – oder auch die deutsch-amerikanischen Sparer, an die man zu diesem Zweck appellieren wollte – den Österreichern zuliebe ein Risiko eingehen ? Frankreich unter Poincaré überwies gerade in diesen Tagen eine kleine Anzahlung. Ohne Frankreich – oder an Frankreich vorbei – ließ sich die Sache nicht bewerkstelligen. Gerade weil Frankreich politische Interessen zu verteidigen hatte, musste es auch Geld riskieren (auch wenn sich zu guter Letzt herausstellte, dass das Risiko keineswegs allzu groß war). Frankreich, Italien, Großbritannien und die Tschechoslowakei garantierten schließlich jeder ein Fünftel der Anleihe (den Rest teilten sich eine Reihe anderer Völkerbundmitglieder), der Großteil des Geldes wurde in London (40 %) und den USA (17 %) gezeichnet ; Frankreich brachte nur 7 % auf, aber der politische Impuls kam aus Paris. Am 4. Oktober 1922 wurde das sogenannte Genfer Protokoll unterzeichnet, das die Modalitäten regelte. Die Anleihe selbst wurde schließlich erst im Juni 1923 begeben. Entgegen allen düsteren Prognosen rissen sich die Anleger bei fast 10 % Zinsertrag um die Papiere.338 Österreich nahm dafür die Verpflichtung auf sich, zwanzig Jahre lang auf den Anschluss zu verzichten, der ihm seit St. Germain ohnehin untersagt war. Wie wir wissen, wurde der Anschluss vor Ablauf dieser zwanzig Jahre trotzdem vollzogen – weil sich inzwischen die politischen Kräfteverhältnisse geändert hatten. Die Unterschrift unter dem sogenannten Genfer Protokoll stand dabei nicht zur Debatte. Bei d iesem »nationalen Verrat der bürgerlichen Parteien«, wie Otto Bauer es bezeichnete, handelte es sich – mit dem Wissen der Nachgeborenen betrachtet – also ganz offensichtlich um eine lässliche Sünde. Den Großdeutschen leuchtete 1922/23 zumindest das Argument ein, wenn man am Anschluss als Fernziel festhalte, müsse man dafür
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Sorge tragen, dass bis dahin auch noch etwas übrig geblieben sei, was man anschließen könne. Oder wie Kunschak es auf dem christlichsozialen Parteitag im Vorjahr verkündet hatte : Man habe »die Pflicht, dieses Österreich zu retten – um es der deutschen Volksgemeinschaft zu erhalten.«339 Freilich, Otto Bauers Vorwurf bezog sich nicht bloß auf die Wiederholung des Anschlussverbots, sondern gipfelte in der Anklage, Seipel habe sein Heimatland bewusst der »Fremdherrschaft« ausgeliefert. Darin steckt vermutlich ein wahrer Kern, nämlich eine Überlegung, die von den Bewunderern Seipels zwar stets empört zurückgewiesen wurde, seiner politischen Raffinesse aber ein gutes Zeugnis ausstellt. Das Dilemma hatte immer schon gelautet : Ohne Auslandskredit keine innere Ordnung ; aber ohne innere Ordnung kein Auslandskredit.340 Doch wer sollte für die »innere Ordnung« garantieren ? Eine Zeit lang war dabei tatsächlich sogar an Ordnungskräfte von auswärts gedacht worden. Renner malte da schon das Gespenst einer »farbigen Gendarmerie« an die Wand.341 Soweit kam es schließlich doch nicht. Doch mit dem Kredit war naturgemäß eine Kontrolle durch die Gläubiger verbunden ; strittig war eine Zeit lang nur noch, ob es einen Kontrollor aus einem »neutralen« Land geben sollte oder ein Komitee, in dem Italien den Vorsitz für sich reklamierte. Schließlich einigte man sich auf einen Holländer als Völkerbundskommissar, den ehemaligen Bürgermeister von Rotterdam, Alfred Zimmermann, der sich einen Ruf als »Ziffernfanatiker« erwarb, mehr als standesgemäß im Augartenpalais residierte – und seinem Rollenbild gemäß gegen die Breitner-Steuern in Wien polemisierte.342 Einer der Emissäre Seipels hatte beiläufig schon im Vorjahr fallen gelassen, im Zweifelsfall sei diese Kontrolle sogar noch wichtiger als der Kredit.343 Tatsächlich wurde die Anleihe als Überbrückungshilfe nur zum Teil gebraucht, das Gleichgewicht im Staatshaushalt kam früher zustande als erhofft. Der Verdacht ist nicht von der Hand zu weisen : Seipel hielt eine grundlegende Sanierung allerdings für nötig. Aber er traute seinen Landsleuten nicht, sich am eigenen Schopf aus dem Sumpf zu ziehen. Dieses Misstrauen musste sich keineswegs nur gegen die »austromarxistische« Opposition richten. Seipel war sich bewusst, welche Mühe es gekostet hatte, die bürgerliche Koalition zustande zu bringen und wie schwierig es sein würde, ihre widerstreitenden Interessen auf Dauer unter einen Hut zu bringen. Ein diplomatischer Beobachter schrieb, die Sozialdemokraten in der Opposition bereiteten »längst nicht die Schwierigkeiten, wie sie der Kanzler von seinen Christlichsozialen erfährt«. Als man ihm im auswärtigen Ausschuß des Parlaments vorwarf, die Idee der auswärtigen Kontrolle stamme ja eigentlich von ihm, antwortete er mit einer seiner typischen Koketterien, das stimme zwar nicht, aber er würde sich dessen nicht schämen.344 Ohne deshalb in anachronistische Analogieschlüsse zu verfallen : Unsere Erfahrungen mit diversen Rettungspaketen der Gegenwart lassen diese Überlegung durchaus
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plausibel erscheinen. War es nicht politisch viel bekömmlicher, die Verantwortung für all die unpopulären Maßnahmen auf eine auswärtige Instanz abschieben zu können ? Leuthner als Oppositionsredner donnerte noch kurz vor dem Abgang des Völkerbundskommissärs an die Adresse der Regierung : »Dieser Zimmermann war für Sie unersetzlich. […] Sein Aufstieg zum Vizekaiser Österreichs ist Ihr Werk.«345 Seipels Kalkül wurde von vielen Beobachtern und »Mitbewerbern« geteilt. Der großdeutsche Parteiobmann Kandl, lange Zeit ein Skeptiker einer Regierungsbeteiligung, aber 1922/23 dann ehrlich von ihrer Notwendigkeit überzeugt (»keine Halbheiten !«), brachte es auf den Punkt : »Wir verfügen über keine Gewalt. Wir brauchen darum den auswärtigen Druck.«346 Otto Bauer skizzierte denselben Sachverhalt, wenn er in seinem großangelegten Rückblick klagte : »Das Gleichgewicht der Klassenkräfte war in dem Moment aufgehoben, als sich die Staatsgewalt unter den Schutz des Auslands flüchtete.« Die Anklage war mit einem Kompliment an seinen Gegenspieler verbunden : »So waghalsig Seipels Spiel gewesen war, sein Ziel war erreicht. […] Der 4. Oktober 1922 [als die Genfer Protokolle unterzeichnet wurden] war Seipels Revanche für den 12. November 1918.«347 Vielleicht überschätzte Bauer das Geschick des Prälaten ein wenig. Vielleicht war nicht immer alles so perfekt vorausgeplant »wie eine Billardpartie«. Seipels handelpolitischer Experte Schüller erklärte rückblickend treuherzig : »In Wahrheit hatten wir keine Ahnung.« Aber Schüller wurde eben immer nur in letzter Minute aus dem Urlaub herbeizitiert. Schüllers Kollege, der Gesandte Heinrich Wildner, gestand : »Ich bin mir darüber nicht im klaren, was er [Seipel] eigentlich vorhat […] Die sogenannte gerade feste Linie wird, wie mir vorkommt, immer erst nachher gezogen.« Seipel widersprach dieser Einschätzung keineswegs. Sein Motto sei, so schrieb er einmal : »Das Maultier sucht im Nebel seinen Weg.«348 Raffinesse war kein Privileg der einen Seite. Um derlei weitreichende Befugnisse auf den Völkerbundskommissar zu übertragen, bedurfte es einer Verfassungsänderung – die Sozialdemokraten hätten es daher in der Hand gehabt, das Herzstück des Seipel’schen Sanierungsplanes jederzeit zu torpedieren. Die Partei sollte in den Jahren danach aus viel weniger wichtigen Gründen immer wieder zur Obstruktion greifen. Aber im November 1922, als »Genf« dem Nationalrat vorgelegt wurde, zog sie zwar alle Register der Rhetorik, stimmte aber für die Delegation des Budgetrechts an einen außerordentlichen Kabinettsrat, der dann seinerseits mit einfacher Mehrheit entschied. Noch lieber wäre es den Sozialdemokraten gewesen, wenn dazu überhaupt keine Zwei-Drittel-Mehrheit erforderlich gewesen wäre.349 Die Partei wollte keineswegs mit der Verantwortung dafür belastet werden, wenn auch dieser Anlauf zur Währungsstabilisierung kurz vor dem Ziel scheiterte. Im Gegenteil : Sie war bereit, der Regierung genügend Leine zu geben, um sich daran zu erhängen.
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3. Die Mühen der Ebene 1923–1927 Das Leiden der Beamten Der Bürgerblock sollte die politische Physiognomie Österreichs für das nächste Jahrzehnt prägen. Er verbürgte eine gewisse Stabilität : Als er Anfang 1932 auseinanderbrach, nahmen bald auch die außerparlamentarischen Lösungsansätze überhand. Umso mehr muss darauf hingewiesen werden, dass auch die Seipel’sche Koalition nicht als unauflösliche Ehe gedacht war, sondern als Lebensabschnittspartnerschaft. Dinghofer, einer ihrer Architekten und Befürworter, resümierte nach den Wahlen vom Herbst 1923, man werde wohl kaum die gesamte Legislaturperiode in dieser Kombination verharren. Ihre eigentliche Aufgabe, als Sanierungspartnerschaft, so wurde selbst im Schoße der Regierung laut, sei mit dem Ende der internationalen Kontrolle eigentlich erfüllt.350 Es bedurfte eines neuen Anlasses, um 1926/27 eine Neuauflage des Bürgerblocks herbeizuführen, in einer Form, die zunächst viel mehr mit Wahlarithmetik und den Überlebenssorgen des großdeutschen Juniorpartners zu tun hatte – und erst mit den Juli-Ereignissen 1927 eine nachträgliche Rechtfertigung erfuhr. Seipel war ein Politiker mit weitem Horizont. Doch der Alltag, der mit der Genfer Sanierung am Ballhausplatz seinen Einzug hielt, ließ sich besser mit dem amerikanischen Sprachgebrauch umschreiben, der von der Administration eines Präsidenten spricht, nicht von »der Regierung«. Bisher wurden weltpolitische Kombinationen und gesellschaftspolitische Alternativen beschworen, jetzt ging es um das sprichwörtliche Bohren harter Bretter, die Umsetzung der großen Konzepte in den prosaischen Alltag, um die Mühen der Ebene. Der »Klassenkampf«, der laut Otto Bauer aus dem Gleichgewicht geraten war, wurde internalisiert : Ein erstaunlich hoher Prozentsatz aller Debatten und Krisen drehte sich in den nächsten Jahren um Tarifverhandlungen mit der einen oder anderen Kategorie von »Staatsdienern«. Seipels interimistischer Nachfolger Ramek klagte einmal : Es herrsche »die reinste Prätorianerwirtschaft. Wir lassen uns von den Beamten treiben.«351 Die Hausaufgaben, die Österreich laut Genfer Protokoll zu erledigen hatte, bestanden in erster Linie aus der Sanierung des Staatshaushaltes. Wie bei solchen Übungen üblich, musste ein Gutteil des bisherigen Defizits durch »einnahmenseitige« Maßnahmen hereingebracht werden : Neben diversen Tariferhöhungen im Bereich der ärarischen Betriebe (Post, Bahn, Tabakregie) handelte es sich dabei vor allem um die Einführung der flächendeckenden Warenumsatzsteuer (in der Monarchie waren indirekte Steuern zwar ebenfalls sehr beliebt gewesen, aber lasteten doch fast ausschließlich auf den Konsumenten von Bier und Branntwein). Die Umsatzsteuer des Jahres 1924 betrug zwar nur 2 %, wurde aber – zum Unterschied von der Mehrwertsteuer – kumulativ eingehoben. Das »Null-Defizit« wurde früher erreicht als erwartet, freilich auf einem höheren Ausgabenniveau. Zimmermann hatte ein
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»Normalbudget« von 350 Mio. angepeilt, tatsächlich bewegten sich die Zahlen um 500 Mio. – gerechnet in Schilling, der neuen, ab Jänner 1925 eingeführten Währung, zum Umrechnungskurs von 10.000 Kronen je Schilling. Der Anteil der Bundesausgaben am Bruttonationalprodukt betrug ca. 15 % – und stieg in den Zwanzigerjahren noch leicht an. Denn als weit schwieriger erwies sich die »ausgabenseitige« Variante der Sanierung, die Entlassung der 100.000 Beamten, die viel böses Blut machte und doch keine so brillanten Ergebnisse zutage förderte. Denn die Beamten wurden in der Regel frühpensioniert ; da die Beamtengehälter unter der Inflation ohnehin bereits über Gebühr gelitten hatten, konnten auch die Pensionen nicht allzu weit hinter den Aktivgehältern zurückbleiben. Nach langem Tauziehen einigte man sich 1924 auf eine Bemessungsgrundlage von 78 % des früheren Gehalts : Nach einer Milchmädchenrechnung, die im Einzelnen zweifelsohne noch vielen Modifikationen zu unterwerfen wäre, betrug die Ersparnis also bloß so viel wie die Aktivbezüge von 22.000 Beamten. Allerdings : Sobald der Abbau einmal durchgeführt war, hatten diese Pensionisten keine nennenswerte Lobby mehr hinter sich, noch weniger die »Alt-Pensionisten«, die schon vor 1918 in den Ruhestand getreten waren.352 Die »Beamten« zählten zur berühmten Ausnahme von der Regel, nämlich zur Kategorie von »Lohnabhängigen«, wo sich der sozialistische Standpunkt der »geschlossenen Werkstätte« tatsächlich nicht durchgesetzt hatte. Für die bürgerliche Regierung erwies sich dieser Umstand als ein zweischneidiges Schwert. Denn sie sahen sich gezwungen, im Rahmen der Genfer Sanierung (und aller weiteren Sanierungsrunden, die ihr noch bevorstanden), in erster Linie Härte und Konsequenz zu beweisen gegenüber eigenen Anhängern oder zumindest potenziellen eigenen Anhängern. Seipel hatte im Februar 1924 angeregt, die Vertreter der diversen, weltanschaulich und sozial ganz heterogenen Gewerkschaften und Interessensverbände, die im Beamtenapparat etwas zu sagen hatten, in einem »25er-Ausschuß« zusammenzufassen, um die Verhandlungen zu erleichtern. Dort saß der spätere Generalsekretär der Christlichsozialen, Viktor Kolassa, als Obmann der Akademikersektion der christlichen Angestellten in öffentlichen Diensten, neben dem Sekretär des sozialdemokratischen Bundes der öffentlichen Angestellten, Oskar Janicki, dem Obmann des Deutschen Beamtenverbandes, Otto Lutz, und diversen Hofräten wie Adolf Leth oder Julius Hold vom Beamtenbund, die stolz auf ihre Unabhängigkeit waren, aber zweifellos ebenfalls den nationalen Parteien nahestanden. Ob sich diese Zwangsgenossenschaft im Sinne der Regierung bewährte, ob die bürgerliche Mehrheit im »25er-Ausschuß« einen mäßigenden Einfluss ausübte oder nicht, ist umstritten.353 Der größte Brocken, die Bundesbahnen, wurde 1923 als Unternehmen ausgelagert. Seipel hielt sich viel auf diese Konstruktion zugute, die sich freilich als das Schlimmste beider Welten erwies : Der Staat war »mit dem Defizit belastet, hatte aber keinen Einfluß auf den Betrieb« – mit einer Ausnahme : Tariferhöhungen muss-
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ten vom Hauptausschuß des Nationalrates bewilligt werden. Bei einem Betrieb, der seit zehn Jahren unter Raubbau litt, war die Grenze zwischen notwendigen Investitionen und verschwenderischer Betriebsführung schwer zu ziehen. Die anfängliche Euphorie der Regierungsparteien über Präsident Günther wandelte sich bald zu einem latenten Misstrauen gegenüber der Unternehmensführung, die den Anschein erweckte, sich auf Staatskosten ein bequemes Leben zu machen. Günther, so die Kritik, habe »sich Ruhe verschafft, indem er alle Wünsche [des Gewerkschafters] Königs erfüllte«. Der »Generaldirektor ist der Gefangene der Personalvertretung«, grollte Dinghofer ; die Bahnverwaltung nur das »ausführende Organ der sozialdemokratischen Gewerkschaft«. Die Personalvertretung allein verschlang eine halbe Million S pro Jahr ; dafür erhielt auf der anderen Seite, unter dem Deckmantel einer Förderung des Fremdenverkehrs, auch der aristokratische Jockey-Club beträchtliche Subventionen für die Aufrechterhaltung der Rennen in der Freudenau.354 Halb so viele Bedienstete wie die Bahn, anfangs an die 40.000, zählte die Post- und Telegrafenverwaltung, die direkt dem Handelsministerium unterstellt blieb. Mehr noch als das berühmte »Alle Räder stehen still/wenn unser starker Arm es will« scheint die Angst vor einem Streik der biederen Post damals Wirtschaft und Politik in Angst und Schrecken versetzt zu haben. Franz Zelenka mit seiner »Technischen Union« erwarb sich in diesem Zusammenhang seinen legendären Ruf als Störenfried vom Dienst. Der christlichsoziale Finanzminister Kollmann und der großdeutsche Handelsminister Schürff waren sich 1926, bei allen sonstigen Differenzen, jedenfalls zumindest darüber vollkommen einig, die Regierung sei nicht in der Lage, einen solchen Streik durchzuhalten.355 Bei Post und Bahn ging es wenigstens um eine Konfrontation mit dem »Klassenfeind«, selbst wenn sich Vorsicht in diesen Belangen als der bessere Teil der Tapferkeit erwies : ihre Personalvertretung wurde von den Sozialdemokraten dominiert. Schlimmer war es um die eigentlichen Beamten bestellt, von den Lehrern und den Richtern bis zur Hoheitsverwaltung. Hier lag das gutorganisierte Wählerreservoir von Seipels Juniorpartner, der Großdeutschen Volkspartei, die vor einem Dilemma stand. Sie konnte und wollte aus der Regierung nicht gleich wieder aussteigen, bloß wegen irgendwelcher Detailforderungen der Beamten, die in der Öffentlichkeit schwer plausibel zu machen wären. Sie beschwor die Beamten deshalb, sie müssten sich doch darüber im Klaren sein, dass sie ohne die Großdeutschen in der Regierung völlig schutzlos wären ; es läge doch schließlich im ureigensten Interesse der Beamtenschaft, dass Österreich die internationale Finanzkontrolle so schnell wie möglich wiederum loswerde ; also möge man die bittere Pille um Gottes Willen schlucken. Ein großer Krach wurde beim Abgehen von der Indexregelung im Sommer 1923 noch einmal knapp vermieden. Doch die Partei bekam die Rechnung bei den Wahlen im Herbst präsentiert. Leider zählt die Nationalratswahl vom 21. Oktober 1923 zu den am wenigsten gut erforschten. Auf die Publikation der Einzelergebnisse in
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den Statistischen Nachrichten wurde nämlich aus Ersparungsgründen diesmal verzichtet. Der Wahlkampf stand im Zeichen der Genfer Sanierung : Der Zeitpunkt war gut gewählt. Die galoppierende Inflation war besiegt ; die unliebsamen Nebenwirkungen der Medizin lagen noch in der Zukunft. Der Wahlkampf war ganz auf die Person Seipels als Retter Österreichs zugeschnitten ; der Kanzler fuhr einen fulminanten Erfolg ein. Erste Ergebnisse schienen den Christlichsozialen sogar eine absolute Mehrheit der Mandate zu versprechen. Schließlich wurden es doch nur 82 von 165 (bei einem Stimmenanteil von rd. 45 % – genauer ließ sich der Prozentsatz nicht beziffern, weil die bürgerlichen Parteien im rot regierten Kärnten als Einheitsliste gemeinsam antraten). Doch auch die Sozialdemokraten hatten mindestens ebenso viel Terrain gutgemacht. Sie kamen wiederum auf fast 40 % der Stimmen. Die Resultante aus dieser beispiellosen Polarisierung war klar, sie ging zulasten der Großdeutschen, die auf nur mehr rd. 8 % der Stimmen (und zehn Mandate) kamen. Die Niederlage, so lautet ein Sprichwort, ist ein Waisenkind ; diese hingegen hatte viele Väter. Da war einmal die politische Großwetterlage. Die unerfüllte Sehnsucht nach dem Anschluss fiel als Wahlschlager im Zeichen von Ruhrkrise, Hyperinflation, kommunistischen Aufständen und separatistischen Bewegungen im Rheinland aus, von Hitlers »Marsch zur Feldherrnhalle« (der erst zwei Wochen später stattfand) einmal ganz abgesehen. Die Sozialdemokraten streuten Salz in die Wunden, wenn sie im Nationalrat einen Antrag auf eine »Ruhrspende« einbrachten, wohlwissend, dass die Regierungsparteien dagegen stimmen mussten, weil der Völkerbundskommissar kein Verständnis dafür aufbrachte, wenn Österreich, dass ständig um Unterstützung bettle, selbst Almosen verteile.356 Die Unzufriedenheit – Parteiobmann Kandl sprach von »Undankbarkeit« – ihrer Beamtenklientel galt als die offenkundige Ursache dieser Wahlschlappe. Doch neben den Sanierungsopfern gab es zweifelsohne auch viele Sanierungsanhänger, die Seipel ihre Stimme gegeben hatten, »die sonst sicher nicht den Christlichsozialen zugefallen wären«, wie die »Neue Freie Presse« versicherte. Der Prälat hatte Einladungen ergehen lassen an alle, die ein Stück des Weges mit ihm gehen wollten, an die drei Industrie-Kandidaten ebenso wie an den Monarchisten Wense. Die »Neue Freie Presse« tröstete sich über das Scheitern der von ihr favorisierten Bürgerlichen Demokraten in Wien, »daß wenigstens im Rahmen der Majoritätsparteien einige Männer vorhanden sind, die geistig die Mentalität des Bürgertums besitzen«.357 Schließlich hatten sich die Großdeutschen mit ihrem Umfeld zerstritten : Das dritte Lager war jetzt tatsächlich dreigeteilt. Die Nationalsozialisten boykottierten bekanntlich die Wahlen (erstmals machte sich damals der Einfluss Hitlers bemerkbar). Dieser Anteil war damals statistisch vielleicht noch nicht allzu signifikant. Anders stand es um die Bauern. Nur in Oberösterreich (und in Kärnten) trat die Partei noch zusammen mit dem Landbund an. Nur in Oberösterreich erzielte sie deshalb
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auch noch leichte Zugewinne. Der Landbund und sein Gründer Leopold Stocker erklärten sich zwar ohne Wenn und Aber für die Sanierung, wollten aber ihre Unabhängigkeit von allen städtischen Allerweltsparteien demonstrieren. Das Kalkül ging im Prinzip auf, das Pech war nur : Das burgenländische Grundmandat wurde infolge eines Formalfehlers nicht der Gesamtpartei zugerechnet ; der Fehler kostete den Landbund drei Mandate. Die eigentliche Rendite der Wahlen wurde in Kärnten lukriert : Dem Landbund, der dort die starken Bataillone der Einheitsliste stellte, fiel der Landeshauptmann zu, mit Vinzenz Schumy, von 1924 bis 1932 dann auch Bundesparteiobmann des Landbundes. Apropos Grundmandatshürde : Das Wahlrecht war im Vorfeld der Wahlen wieder einmal reformiert worden (und blieb dann bis zur Ära Kreisky unverändert). Die Zahl der Mandate wurde mit 165 fixiert. Innerhalb dieser Summe waren mehr Restmandate vorgesehen als zuvor. Dieses Argument überzeugte die Großdeutschen, die übersahen, dass die Restmandate aber auch »teurer« geworden waren. Schlimmer noch : Der Landbund mit seinen regionalen Hochburgen, wie z. B. in Kärnten, brauchte sich um sein Grundmandat in Zukunft nicht zu sorgen ; die Großdeutschen mit ihrer über alle Kleinstädte verstreuten Wählerschaft schon. Nur im niederösterreichischen Industrieviertel – als dem größten Wahlkreis der Republik – verfügten sie bis auf Weiteres noch über ein sicheres Grundmandat. Das Überleben der Partei hing an einem seidenen Faden. Otto Bauer zog daraus die Schlussfolgerung, nach dem »Schock der letzten Wahlen« könnten sich die Großdeutschen eine Emanzipation von den Christlichsozialen doch eigentlich gar nicht mehr leisten.358 Die Niederlage ließ auch die innerparteilichen Spannungen wiederaufleben. Parteiobmann Kandl trat zurück. Als seinen Nachfolger nominierten die Landesobleute zunächst einstimmig Dinghofer. Klub und Partei sollten – anders als ursprünglich geplant – endlich in einer Hand zusammengefasst werden. Doch auf der einen Seite zierte sich Dinghofer ; auf der anderen Seite sprachen sich die Parteigremien keineswegs so rückhaltlos für ihn aus. Als Kompromisslösung wurde im Mai 1924 deshalb August v. Wotawa gewählt, als Mittelschullehrer, einst Obmann des Deutschen Schulvereins, jetzt Präsident des Bundesverlages, kein Repräsentant der Wirtschaft, sondern der Beamten- und Vereinskultur mit all ihren Vorbehalten gegenüber der Koalition.359 Von den Steuern über die Zollpolitik bis zum brisanten Thema Mieterschutz prallten die Meinungen zwischen dem Konsumenten- und dem Wirtschaftsflügel im großdeutschen Klub hart aufeinander. Wie konnte man die umstrittene Austerity-Politik der Wählerschaft am besten verkaufen ? Durch verstandesmäßige Überzeugungsarbeit oder durch demonstratives Mitgefühl und Verständnis für ihre Schmerzen ? Während Wotawa betonte, man brauche doch nicht am »Buchstaben des Genfer Paktes zu hängen«, sah Vizekanzler Frank den Fehler darin, dass man sich nicht mit ganzem Herzen zur Sanierungspolitik bekannt habe. »Die Halbheit war unser Unglück.«360
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Seipel verhielt sich äußerst loyal. Die Verschiebung der Kräfteverhältnisse zwischen den Koalitionsparteien hatte keinen Einfluss auf die Zusammensetzung der Regierung. Bloß aufgrund des Sparappells war das Kabinett schon im Frühjahr verkleinert worden auf nur mehr acht Minister (sechs Christlichsoziale, zwei Großdeutsche). Die Großdeutschen konnten sich in ihrer prekären Situation keine Experimente leisten. Die Polarisierung zwischen den Großparteien hatte ihnen geschadet ; das Gegenteil, eine Zusammenarbeit zwischen »rot« und »schwarz«, wäre erst recht gefährlich, würde sie völlig marginalisieren, allenfalls durch eine weitere Drehung an der Schraube des Wahlrechts völlig aus dem Geschäft werfen. Sie waren sich da nicht so sicher, ob die »Schwarzen« nicht doch jederzeit wieder zu einem Arrangement mit den Sozialdemokraten finden könnten. Die Verhältnisse in den Ländern mit ihren Proporzregierungen schienen dafür ein gewisses Indiz zu bieten. Bloß im Bund war diese Gefahr ausgeschaltet, solange Seipel die Zügel in der Hand behielt. Doch Seipel war nicht unsterblich : Das Attentat auf ihn am 1. Juni 1924 machte eine längere Rekonvaleszenz notwendig. Im Herbst erfolgte dann die Demission des Kabinetts. Freilich : Die Demission war als Zeichen der Stärke gedacht, als ein Zeichen, dass die Regierung nicht gewillt sei, einem Streik der Bundesbahner nachzugeben – einem Streik, der in erster Linie von der Deutschen Verkehrsgewerkschaft ausging. Im großdeutschen Klub war man peinlich berührt : Die radikalen Elemente hätten gesiegt, so wurde kolportiert, junge Leute, die vielleicht vor zwei Jahren noch Kommunisten waren. Wenn die nichtmarxistischen Elemente auf diese Weise marxistische Politik machen, verstand ein Kärntner Abgeordneter die Welt nicht mehr. Seipel besprach sich mit Georg Günther, dem Präsidenten der Bundesbahn. Beide beschlossen unter diesen Bedingungen ihre Stellen zurückzulegen. Die Forderungen der Gewerkschaft gefährdeten das Sanierungswerk. Als Zeichen der Solidarität mit Seipel schloss sich am 7. November das gesamte Kabinett diesem Schritt an – mit einer bezeichnenden Ausnahme : Der niederösterreichische Bauernbündler Rudolf Buchinger als Landwirtschaftsminister sah dazu angeblich keinen Grund.361 Die Wiederwahl der Regierung sollte ihr den notwendigen Rückhalt verschaffen. Diese Taktik ging zunächst auch auf. Am 11. November betraute der Hauptausschuß Seipel erneut mit der Regierungsbildung ; der Streik wurde um Mitternacht eingestellt. Doch plötzlich erscholl nach dem Wochenende die Hiobsbotschaft : Seipel habe die Mission zurückgelegt. Der Prälat hatte schon unmittelbar nach seinem Rücktritt zu einer »Gewissenserforschung« aufgerufen. Alle müssten ihren Beitrag zur Sanierung leisten, auch die Länder und Gemeinden, denn noch sei »beim Wiederaufbau nicht Feierabend«. Eine Konferenz der Landeshauptleute zerbrach sich inzwischen den Kopf über die »Vereinheitlichung der Finanzpolitik«. Das Ergebnis scheint Seipel nicht befriedigt zu haben. Die »Reichspost« ließ wissen, er – und sein Finanzminister Kienböck – stünden für keine Politik »der Verschlaffung und der Verwässerung« zur Verfügung.
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Im Kabinett hatte Seipel seine Wiederwahl vorerst abgelehnt, weil es sich darum handle, »die Regierung sowohl den politischen Parteien als auch den Ländern gegenüber aus der Krise gestärkt hervorgehen zu lassen«. Otto Ender, als Landeshauptmann von Vorarlberg stolz auf die sparsame Verwaltung des Ländle, konzipierte daraufhin ein Schreiben an Seipel : »Daß der Abstieg vom Thron über den Rücken der Landeshauptleute gehen mußte, war unangenehm« – und strich den Passus dann doch wieder. Die Tiroler hingegen machten aus ihrem Herzen keine Mördergrube. Die bestehende Verfassung sei für Vertreter des Föderalismus »ein sehr ungünstiger, glitschiger Fechtboden«. Zeitlose Kritik vorwegnehmend, argumentierten sie : »Der Föderalismus, wie er heute gehandhabt wird, ist kostspielig ; dafür ist das aber auch kein echter Föderalismus. Wollte man mit dem Föderalismus ernst machen, so würden ganz bedeutende Ersparnisse gemacht werden.«362 Die Großdeutschen grollten : Seipel sei von »seinen Etappenhelden gestürzt worden«. Oder vielleicht war er seinen Etappenhelden auch bloß zuvorgekommen und hatte ihnen die undankbare Aufgabe zugeschanzt, selbst die Quadratur des Kreises in die Hand zu nehmen. Bloß Stunden vor seinem Rücktritt hatte der »Tiroler Anzeiger« über die Wortführer der Länder, insbesondere die »zwei Steirer«, Rintelen und seinen Stellvertreter Ahrer, geschrieben : »Ihre Zeit ist noch nicht gekommen«, aber man werde mit ihnen »jedenfalls rechnen müssen und das gerade deshalb, weil sie sich jetzt klug und besonnen gezeigt und bewiesen haben, daß sie die große Kunst verstehen : zu warten«. Seipel hielt sich immer viel darauf zugute, den Zeitpunkt seines Rücktritts selbst zu bestimmen (nur bei seinen Krankheiten sei ihm das leider nicht gelungen, bedauerte er später).363 Er wollte nicht warten, bis sich seine Rivalen stark genug fühlten. Denn die Sollbruchstelle seines Kabinetts war deutlich genug : Warum sollte sich das Gros der Partei auf Dauer von einem kleinen Zirkel Wiener Akademiker führen lassen ? Mit der letzten Stufe der Sanierung war auch der entsprechende Anlass gegeben : Die Doppelgleisigkeit der Verwaltung sollte endlich beseitigt, »landesfürstliche« und »autonome« Verwaltung zusammengelegt und verschmolzen werden. Danach hätte sich dann auch die Regelung des Finanzausgleichs zu richten, der bisher immer nur provisorisch von Jahr zu Jahr verlängert worden war. Bei der Abgabenteilung gingen die Finanzreferenten der Länder vielfach Hand in Hand mit den Sozialdemokraten in Wien. Dafür drohte der Konflikt mit dem Koalitionspartner zu eskalieren : Der designierte Bundeskanzler, der Salzburger Rechtsanwalt Rudolf Ramek, galt als Exponent einer »Verländerung« der Beamtenschaft und der umstrittenen »Demokratisierung der Verwaltung«. Bei den Großdeutschen wurden schon Horrorszenarien kolportiert : Wenn die Beamten den Ländern »ausgeliefert« würden, höre sich jede Verwaltung überhaupt auf, es würde eine regelrechte »Paschawirtschaft« Platz greifen. Seipel gab ihnen da sotto voce recht : Die Bevölkerung würde es begrüßen, meinte er, wenn man die Länder nicht so wirtschaften ließe, wie es ihnen beliebt. Die Län-
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der wiederum beklagten sich über die Allüren der Wiener Mandarine, die sich aufführten, als ob sie weiterhin von Kaisers Gnaden regierten. »Mir macht die Ministerialbürokratie schwere Sorgen. Sie kann unsere Verfassung nicht brauchen und ist ihr Feind«, beschwerte sich Ender. Das neue Besoldungsschema sorgte nach beiden Seiten hin für Unzufriedenheit : Die Wiener beschwerten sich, die Beamten in den Ländern würden besser bezahlt ; die Länder klagten, die Beamten in den Ministerien hätten »ein viel rascheres Fortkommen als bei den Landesregierungen« ; der Salzburger Rehrl sprach von einer »ganz und gar ungerechtfertigten Deklassierung« seiner Leute.364 Es war ausgerechnet Seipels getreuer Partner Dinghofer, der sich angesichts der Machtübernahme der Länderfronde gar nicht mehr an der Regierung beteiligen wolle. Die drohende Krise wurde im Dialog zweier Salzburger beigelegt : Der großdeutsche Salzburger Landesobmann Heinrich Clessin ließ sich von Ramek zusichern, die »Verländerung« der Beamten würde nicht über den Kopf der Großdeutschen hinweg beschlossen werden (»Clessin’sche Formel«). Clessin resümierte : »Wir sind festgelegt und dürfen die Beamten nicht verlassen.« Auch ihm wurde daraufhin nahegelegt, er solle als Vizekanzler doch am besten selbst für die Einhaltung des Abkommens sorgen. Doch Clessin erklärte, er wolle aus familiären Gründen nicht nach Wien übersiedeln. Für ihn sprang liebend gerne Leopold Waber in die Bresche, der »Beamtenkandidat« der Frühzeit ; sein Vorgänger Felix Frank, der beteuerte, er habe sich politisch verausgabt, wurde als Gesandter nach Berlin geschickt, wo sein Vorgänger Riedl allzu sehr Politik auf eigene Faust betrieben hatte. Frank blieb bis 1933 auf seinem Posten, heiratete 1929 in zweiter Ehe eine getaufte Jüdin und entfernte sich langsam von seiner Partei.365 Das Dilemma der Föderalisten Die Regierung Ramek ist als »Länder-Regierung« in die Geschichte eingegangen. Dieses Etikett entsprach vielleicht der ursprünglichen Zielsetzung, nicht seiner tatsächlichen Zusammensetzung. Tatsächlich hatte – neben dem Kanzleramt – nur ein Ressort gewechselt, allerdings ein zentrales, das Finanzministerium. Kienböck wurde durch den steirischen Landeshauptmannstellvertreter Jakob Ahrer, 1926 dann den Badener Bürgermeister Josef Kollmann ersetzt. Das Außenamt, das Seipel durch Grünberger hatte verwalten lassen, übernahm nun sein Gefolgsmann Heinrich Mataja, der zum Einstand pflichtschuldigst ein Gelöbnis ablegte, um Gottes willen keine Donaukonföderation und keine süddeutsche katholische Monarchie anzupeilen. Dabei war gerade Mataja von Pech verfolgt. Im Deutschen Reich fiel er in Ungnade, weil die Bundesbahn für die Durchfuhr polnischer Kohle Vorzugstarife gewährte ; Berlin aber befand sich mit Polen im Handelskrieg und drohte mit Repressalien.366 Selbst der großdeutsche Handelsminister verteidigte die Bahnverwaltung :
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Man dürfe sich dieses Geschäft nicht entgehen lassen. Mataja freilich zog Kontroversen geradezu magisch an. Unvorsichtige Interviews in ausländischen Zeitungen hingen ihm lange nach. Offenbar trugen auch die beiderseitigen Gesandten ihren Teil zu all den Missverständnissen bei. In solchen Situationen war es nicht allzu hilfreich, dass beide Posten nicht mit Berufsdiplomaten besetzt, sondern in »politischer Erbpacht« vergeben wurden : Die Großdeutschen wachten eifersüchtig über ihrem Vorschlagsrecht für den Gesandten in Berlin ; die deutsche Gesandtschaft in der Metternichgasse war stets mit einem hochrangigen Vertreter des katholischen Zentrums (oder der Bayerischen Volkspartei) besetzt. Der Sozialdemokrat Leuthner erklärte Mataja im Herbst dann taxfrei zum »ärgsten Wühler gegen den Anschluß« und zum »schlimmsten Feind, den Deutschland in diesem Land hat«. Als Mataja sich gegen diese »unappetitliche und unsaubere« Tonart verwahrte, wurde er als »frecher Lausbub« tituliert. Die Sitzung musste unterbrochen werden, die Sozialdemokraten bestanden auf einer förmlichen Entschuldigung. Ohne befriedigende Antwort würden sie keine Debatten im Hause mehr zulassen. Dazu kam zu allem Unglück noch, dass Mataja von der inzwischen verkrachten, von Kienböck und Reisch aber lange unterstützten Biedermann-Bank zu Sonderkonditionen Aktien bezogen hatte. Die AZ münzte die Formel »unsauber und unappetitlich« prompt auf die Geschäfte des Ministers um. Sogar Seipel hielt ihn nach einem Jahr bedauernd (»um Mataja ist mir an sich sehr leid«) für rücktrittsreif.367 Die »Länder-Regierung« erledigte ihre Aufgaben im Großen und Ganzen zur Zufriedenheit Seipels (den Ahrer übrigens gern auf den Bischofssitz von Graz-Seckau weggelobt hätte).368 Sie brachte im Juli 1925 die Verfassungsnovelle unter Dach und Fach, die als Ei des Columbus anstelle der »Verländerung der Beamtenschaft« die »mittelbare Bundesverwaltung« schuf. Der Landeshauptmann – wohlgemerkt : nicht die Landesregierung, wo auch den Sozialdemokraten ein Mitspracherecht zukam – wurde mit der Vollziehung gewisser Agenden der Bundesverwaltung betraut. Die »Verländerung« der Beamten war bei den Landeshauptleuten im ersten Anlauf zwar auf große Zustimmung gestoßen, bei näherer Betrachtung aber nicht zuletzt an den Bedenken der Finanzreferenten gescheitert (ausgehend von Schlegel in Oberösterreich, der zum Rückzug blies, weil er von einer solchen Regelung »katastrophale Folgen« befürchtete). Man hätte den Ländern zur Bedeckung der Kosten natürlich einzelne direkte Steuern überlassen können, doch spätestens da kam der Pferdefuß all dieser Debatten zum Vorschein. Inzwischen hatte ja auch Wien den Status eines Bundeslandes. Kanzler und Finanzminister trieb die Sorge um, man würde es den Sozialdemokraten mit einer solchen Regelung ermöglichen, »einen bestimmten Stand« zu ruinieren. Ramek warnte : »Ich weiß nicht, ob die Volkswirtschaft, in Wien Industrie und Gewerbe eine Änderung des Systems verträgt.« Der Finanzminister erkannte klar :
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Die Abgabenteilung führe immer wieder zu Ungerechtigkeiten, weil sie auf die konkreten Bedürfnisse der Länder keine Rücksicht nehme. »Es ist besser, wir geben die Abgabenteilung auf, denn sie ist die Quelle des Hasses der Länder. […] Es ist nicht Sache des Bundes, die Steuern zu beschließen und zu verteilen.« Jede Ebene solle ihre eigenen Abgaben einheben und dafür auch die politische Verantwortung tragen. »Das war früher gut und wird jetzt gut sein.« Doch der große Wurf einer solchen Reform scheiterte – nachhaltig – am Misstrauen der bürgerlichen Länder gegen das »rote Wien«.369 Es blieb eine Mini-Reform : Für die zusätzlichen Aufgaben wurde den Ländern eine Pauschale von 20 Mio. S gewährt. Manche argwöhnten gar, die Überweisungen wären der eigentliche Zweck der Übung. Ramek habe den Ländern mehr Geld versprochen und benötige einen entsprechenden Vorwand, um diese Überweisungen vor dem Völkerbundskommissar zu rechtfertigen. Ursprünglich war als Alternative vielleicht ein »Raubzug auf die Gemeindefinanzen« geplant, eine Sanierung der Länder auf Kosten Wiens, dem man als Gemeinde die Gelder wieder abnehmen könne, die es als Land einnahm. Doch »das Ergebnis war Null«. Wie immer dem auch sei, Zimmermann war’s zufrieden. Am 30. Juni 1926 erfolgte das offizielle Ende seiner Vormundschaft. Österreich war frei, mehr oder weniger. Zurück blieb ein Damoklesschwert : Im Falle gravierender Versäumnisse könne der Völkerbund Zimmermann erneut in Marsch setzen und ein neuerliches Mandat beantragen. Uneinigkeit herrschte bloß darüber, ob dieser Gummiparagraf tatsächlich eine gefährliche Drohung darstelle – oder bloß ein Feigenblatt.370 Als Regierung hatte das Kabinett Ramek seine Pflicht und Schuldigkeit getan. Als Vollzugsausschuß der christlichsozialen Länderfronde war ihm weit weniger Erfolg beschieden. Ein Beobachter notierte über die Verabschiedung der Verfassungsnovelle im Bundesrat : »Alle Majoritätsredner sprachen gegen die neuen Verfassungsgesetze und stimmten schließlich mit gewissen Ausnahmen doch dafür.«371 Schlimmer noch : Schon über die Aufteilung der famosen 20 Mio. vermochten sich die Länder lange Zeit nicht zu einigen. Zwar stellte der Schulaufwand fast überall den größten Ausgabeposten dar, aber dazu kamen unterschiedlich hohe Zusatzposten, in Niederösterreich z. B. defizitäre Landesbahnen. Rehrl merkte an, kurioserweise beschäftige die Steiermark – bei annähernd gleich viel Einwohnern – doppelt so viele Beamte wie Oberösterreich. Die Steirer replizierten, in großen Länder verursachten die schlechten Verkehrsverhältnisse eben disproportionale Mehrkosten ; das Burgenland wiederum benötigte Sonderförderungen, hatte man sich doch eben erst auf Eisenstadt als Hauptstadt geeinigt : das monumentale Gebäude der Landesregierung wurde erst 1930 fertig.372 Auch auf der wirtschaftspolitischen Ebene war keinerlei prästabilierte Harmonie innerhalb der »Länderfronde« zu beobachten. Die Agrarier hatten sich gegenüber dem städtischen Klüngel endlich durchgesetzt – und begannen prompt untereinan-
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der zu streiten. Landwirtschaftsminister Buchinger als Niederösterreicher versuchte den ungarischen Handelsvertrag zu kippen und wurde von den westlichen Ländern prompt im Stich gelassen. Da ging es von altersher um die Überschüsse der ungarischen Weizenernte, die nach Österreich drängten. Als Tropfen, der das Fass zum Überlaufen brachte, erwies sich diesmal dann auch noch der umstrittene Weinzoll. Bei der Regierungsumbildung im Jänner 1926 musste auch Buchinger den Hut nehmen (avancierte freilich im Jahr darauf im Rahmen des ländlichen Genossenschaftswesens zum Chef der neugeschaffenen Giro-Zentale). Sein Nachfolger Thaler (1926–29, 1930/31) war ein Tiroler mit Andreas-HoferBart, der sein Augenmerk mehr der Viehwirtschaft zuwandte und sich deshalb auch beim Landbund einer guten Presse erfreute. Einigkeit herrschte darüber, dass sich Österreich wegen des Mangels an Futtermitteln weniger für die Fleischmast eigne als für die Milchwirtschaft. Thalers erste Initiative als Minister war eine Kreditaktion zum Ausbau des Molkereiwesens, die aus den Resten der Völkerbundanleihe finanziert wurde – und wiederum in erster Linie den Niederösterreichern zugute kam, insbesondere den Genossenschaften im Weinviertel. (Buchinger errichtete zur Weiterverwertung in Tulln darüber hinaus eine genossenschaftliche Quargelfabrik.) Die Viehhaltung war eben kein Privileg der Bergbauern : Ein gewisser Bestand an Rindern wurde schon einmal als Zugtiere und Düngerproduzenten gehalten ; in der Zwischenkriegszeit stieg nicht einmal so sehr der Viehbestand, sondern die Milchleistung : Milch und Milchprodukte ergaben ein willkommenes Zusatzeinkommen, das bald viele andere landwirtschaftliche Erwerbszweige in den Schatten stellte.373 »Die neue Regierung wird es mit der Opposition leichter haben«, hatte Dinghofer prophezeiht. Allein schon die Notwendigkeit, die Verfassungsnovelle ordnungsgemäß über die Bühne zu bringen, sprach gegen einen Konfrontationskurs. Sozialminister Resch gab gleich in der ersten Kabinettsitzung die Parole aus : »Wenn die Bahn für eine geregelte Tätigkeit des Nationalrates frei gemacht werden solle, sei es notwendig, zuerst eine Verständigung mit der Opposition über die Erhöhung der Arbeitslosenversicherung herbeizuführen.« Die schüchternen Versuche der Christlichsozialen, eine Debatte über die Lockerung des Mieterschutzes in Gang zu setzen, wurden im Unterausschuß von den Sozialdemokraten mit rücksichtsloser Obstruktion beantwortet. Der Abgeordnete Witternigg ging als Rekordhalter mit einer Rede von 42 Stunden in die Parlamentsgeschichte ein. Die Mehrheitsparteien ergaben sich in ihr Schicksal – und waren in diesem Fall vielleicht gar nicht so unfroh, der Notwendigkeit enthoben zu sein, tatsächlich einen konkreten Entwurf vorlegen zu müssen.374 Otto Bauer hatte 1923 noch verschämt von der Obstruktion gesprochen, »wenn Sie sie so nennen wollen«. Damals war es noch um die prinzipielle Frage gegangen, wie die Geschäftsordnung im ominösen Kabinettsrat zu handhaben war. Inzwischen hatte sich der sozialdemokratische Parlamentsklub daran gewöhnt, souverän über
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das Schicksal der Regierungsvorlagen zu disponieren. Man hatte »das Instrument der parlamentarischen Obstruktion zu einer ausgefeilten Technik entwickelt«. Die Regieanweisungen reichten von »ist mit Obstruktion einzusetzen«, »alle geschäftsordnungsmäßig zulässigen Reden ausnützen« über »nicht obstruieren« oder »zuzulassen« bis zu einem gnädigen : »der Regierung nach außen hin einen Erfolg geben.« Eldersch war Vorsitzender des Zoll-Ausschusses. Er wurde 1926 angewiesen, den Ausschuß vorerst einmal gar nicht erst einzuberufen.375 Zweck der Übung war es in erster Linie, die Regierung zu zwingen, einige der Gesetze der Frühzeit zu verlängern, die damals eben nur als krisenbedingtes Provisorium beschlossen worden waren, wie z. B. das Wohnungsanforderungsgesetz oder die Arbeitslosenfürsorge für die Ausgesteuerten. Selbst wenn man diese Anliegen meritorisch für gerechtfertigt hielt, die Brechstangentaktik mit der Obstruktion war mit demokratischen Prinzipien schwer in Einklang zu bringen ; ob legitim oder nicht, sie war freilich unbestritten legal. Schönbauer vom Landbund kommentierte wegwerfend : »Die Sozialdemokraten sind jetzt so einflussreich, daß sie es gar nicht notwendig haben, eine Koalition einzugehen.« Als Beispiel führte er an, jede Abstimmung werde von Ahrer »mit Zuschüssen für das Arsenal bezahlt«, den kümmerlichen Rest der »Verstaatlichten«, der inzwischen unter der Verwaltung der »Gemeinnützigen Siedlungs- und Baustoffanstalt« (Gesiba) stand, einer der Säulen des Wiener Wohnbauprogramms, unter ihrem vielseitigen Generaldirektor Hermann Neubacher.376 Die latente Obstruktion wurde stillschweigend hingenommen. Sogar Seipel sah darin vorerst keinen casus belli : »An sich braucht die Regierung auf längere Zeit vom Parlament nichts. Eine Obstruktion schadet ihr daher nicht, wenn sie nicht aus einem falschen Schamgefühl darunter leidet.«377 Die Opposition bestand auf ihrem Vetorecht, erwies sich auf der anderen Seite aber wiederum als kulant : Bei der Regierungsumbildung im Jänner 1926 sprach die AZ zwar von einer »Revanche des Wiener Klüngels« und kündigte eine »Verschärfung des Kampfes« an. Doch als die steirischen Christlichsozialen sich bei der Wahl der Regierung demonstrativ der Stimme enthielten, vergaßen prompt auch mehr als ein Dutzend Sozialdemokraten, gegen das Kabinett Ramek II zu stimmen. Die »Geheimdiplomatie« der Innenpolitik hatte wieder einmal funktioniert. Riskanter erwies sich die punktuelle Zusammenarbeit mit den Sozialdemokraten. Der Vorarlberger Unterrichtsminister Schneider hatte sich mit dem Wiener Stadtrat Otto Glöckel auf ein System geeinigt, das auf eine fein säuberliche Scheidung zwischen Wien und den Ländern hinauslief. Jeder sollte für die Volksschulen den Lehrplan aufstellen, der ihm richtig erschien – das war Föderalismus in Reinkultur, bloß die Wiener Christlichsozialen fühlten sich im Stich gelassen. »Die Religion verträgt keine Länderautonomie«, hatte Schöpfer schon auf dem christlichsozialen Parteitag im Februar erklärt. Die »Reichspost« schoss im Juni eine Breitseite gegen den Minister ab : »Die Einheit des österreichischen Volksschulwesens gesprengt.«
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Vergeblich argumentierte Gürtler als Linksverbinder, die bürgerlichen Blätter seien bloß auf das »Jubelgeheul Glöckners« hereingefallen. Immerhin sei im Rahmen gesetz die »sittlich-religiöse Erziehung« nicht komplett eliminiert worden. Schneider hatte die umstrittenen Vereinbarungen zusammen mit Kunschak und dem niederösterreichischen Bauernbundsekretär Wollek ausgehandelt, die man nicht desavouieren wollte ; doch Ramek war sich bewusst : In kulturellen Fragen sei die Partei »tödlich verwundbar«. Die Sozialdemokraten machten sich gern über das Kabinett Ramek als die »Telephonregierung« lustig, weil sie in allen kritischen Momenten Seipel um Rat bat. Doch Seipel – und der Wiener Kardinal Piffl – befanden sich beide gerade auf der Fahrt zum Eucharistischen Kongress in Chicago. Ramek wollte der Partei keine Zerreißprobe zumuten : Schneider trat zurück.378 Niemand war allzu begierig, das Amt zu übernehmen. Miklas und andere »Schulmänner« lehnten ab. Als Schneiders Nachfolger bemühte sich schließlich Landeshauptmann Rintelen höchstpersönlich nach Wien. Der reichsdeutsche Konsul in Graz bemerkte kopfschüttelnd : »Solange Rintelen Landeshauptmann war, brachte er jede Woche vier Tage in Wien zu, als er aber Bundesminister wurde, weilte er jede Woche vier Tage in Graz.«379 Rintelens Gastspiel sollte nicht allzu lang dauern ; es wurde von manchen als Flucht nach vorne angesehen. Denn Finanzminister Ahrer und die Steirer hatten sich in der Regierung Ramek als Fürsprecher der Industrie profiliert, der protektionistischen Grundstoffindustrie zumal, mit ihren Vorbehalten gegenüber den Wiener Großbanken und deren nostalgischen Großraumfantasien. Ihr »Steirisches Wirtschaftsprogramm« erlitt Anfang 1926 genauso Schiffbruch wie Buchinger mit seinen Forderungen nach Wein- und Zuckerzoll, der als Tüpfelchen auf dem I dann auch noch zum Schutz der einzigen heimischen Kunstdüngererzeugung in Moosbierbaum ausrückte. Die Länder fanden wirtschaftspolitisch zu keiner einheitlichen Linie. Im Westen wollte man den Dünger lieber billig aus dem Ausland beziehen als teuer aus Niederösterreich. Beim Sturz des verheirateten CV-ers Ahrer spielten dazu auch noch private Affären eine Rolle : Er war mit der Frau eines Bekannten durchgebrannt, dem er dafür einen Posten als Presseattaché in Berlin verschafft hatte ; seine Kartellbrüder verstanden da keinen Spaß.380 Erst nachträglich stellte sich heraus, dass Ahrer auch noch in andere Affären verwickelt war. Der »Länder-Regierung« fielen, ohne viel eigenes Zutun, die Banken zusammenbrüche auf den Kopf, die im Mai 1924 begonnen hatten – sobald die groß angelegte, europaweite Spekulation gegen den Franc zusammengebrochen war. Kaum eine der christlich-deutschen Provinzbanken hatte dieser Versuchung widerstanden ; allenfalls hatten sich einige schon lange davor in riskante Geschäfte eingelassen. Leuthner ließ deshalb sogar ein gewisses Mitleid mit Ramek durchblicken : »Der Karren der Regierung steckt im Dreck ihrer Vorgänger.«381 Die ersten Pleiten – z. B. der Bodenbank oder der Steirerbank – fielen noch in das Jahr 1924.
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Im Jahr 1925 musste der niederösterreichische Landesrat Zwetzbacher wegen des Krachs der Bauernbank den Hut nehmen. 1926 begann die Krise auch die Flaggschiffe des mittelständischen Kreditsektors zu erfassen, die Zentralbank der deutschen Sparkassen und die staatliche Postsparkasse. Am 30. Juni ließ ein Artikel im »Abend«, einer den Sozialdemokraten nahestehenden Boulevardzeitung, die Affäre um die Zentralbank platzen. Noch am selben Tag – pikanterweise just der Tag, an dem Österreich endlich die Finanzkontrolle des Völkerbundes losgeworden war – verkündete Ramek als Vorbote vieler ähnlicher Panikreaktionen eine Garantie der Einlagen bei der Zentralbank ; erst nachträglich holte er die Genehmigung seines Kabinetts dafür ein. Sechs Wochen später seufzte er, wie so manche überrumpelte Regierungschefs nach ihm : Man hätte die Zentralbank ruhig zugrunde gehen lassen sollen.382 In der Steiermark ging es darüber hinaus noch um Aktien der Steweag, der landeseigenen Elektrizitätsgesellschaft, die das Land diversen Politikern zu überhöhten Preisen abgekauft hatte. Im Hintergrund tobte ein Reigen wechselseitiger Beschuldigungen zwischen den drei industriellen Platzhirschen in der Steiermark, die allesamt dem nationalen Lager zugerechnet wurden : Viktor Wutte, der Konzernchef, der als Souffleur des Ahrer’schen Wirtschaftsprogramms galt, im Mai 1926 aber die Segel strecken musste ; Rudolf Steiner, der von ihm gefeuerte Generaldirektor der Graz-Köflacher Bahn- und Bergbaugesellschaft – und Anton Apold von der AlpineMontan als lachender Dritter.383 Bei den Christlichsozialen belauerten einander Rintelen und Alfred Gürtler, der im Herbst 1926 zum Landeshauptmann gewählt wurde, sobald die Finanzskandale fast alle Konkurrenten in den Abgrund gerissen hatten, mit dem Bauernbund in der Hinterhand. Rintelen galt wegen seiner vielfältigen Verbindungen zwar als »Großmeister der Korruption«, doch kaum jemand warf ihm persönliche Bereicherung vor. Bei Dechant Prisching, der ihn 1926 kurze Zeit als Landeshauptmann vertrat, war eine solche Unschuldsvermutung schon viel weniger am Platz. Die »Reichspost« wollte derlei schmutzige Wäsche nicht in aller Öffentlichkeit waschen. Man würde die Schuldigen durch Angriffe von außen bloß zu Märtyrern machen. Die puritanischen Vorarlberger kannten keine solchen Hemmungen. Ender schrieb seinem Kollegen, der sich über die offene Sprache der Ländle-Blätter beschwert hatte, ohne Umschweife : »Der Umstand, daß Sie als Landeshauptmann in Wertpapieren spekulierten, dabei eine sehr große Summe verloren und die Deckung durch eine unverdiente Provisionsgutschrift gefunden haben, die Ihnen die Steirerbank gewährte, ist sicher nicht gut, nicht klug, nicht gerechtfertigt gewesen.«384 Zu dem Zeitpunkt war das Urteil über das unglückliche Kabinett Ramek II längst gesprochen. Seit der Sommerpause waren in beiden Regierungsparteien Absetzbewegungen zu beobachten : Wer nicht direkt betroffen war, wollte demonstrieren, dass er mit all den Skandalen nichts zu tun habe. Im großdeutschen Klub forder-
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ten die ewigen Oppositionellen schon kategorisch : »Ramek und Kollmann [Ahrers Nachfolger als Finanzminister] müssen gehen.« Aber was sollte man mit Handelsminister Schürff tun, der von den Problemen der PSK, ihrem leichtgläubigen Vizegouverneur Klimesch und seinen dubiosen Geschäften mit Bosel erst nachträglich erfahren haben wollte ? Nur knapp – mit vier zu zwei, eine Mehrheit hatte sich der Stimme ganz offenbar enthalten – wurde im September 1926 ein Antrag abgelehnt, ihn ebenfalls fallen zu lassen.385 Bei den Christlichsozialen sprachen Steidle und der revanchelustige Ex-Außenminister Mataja – als Achse der Scharfmacher von Wien und Tirol – schon von einer »Hauptaktion« im Oktober, die sich ganz offensichtlich gegen Ramek richten sollte.386 Die Verwirrung in den eigenen Reihen, der Unmut des Koalitionspartners, die Schadenfreude der Opposition – alles sprach für die Rückkehr des Deus ex machina. Vielleicht hatte sich auch Rintelen Chancen ausgerechnet, die Nachfolge Rameks anzutreten, doch das »Länder-Kabinett« erwies sich als Auslaufmodell. Ein Jahr zuvor hatte Seipel seinem Vertrauten Grünberger noch gönnerhaft geschrieben : »Ich hoffe, die Regierung halten zu können. Das Schreckgespenst : ›Seipel könnte wiederkommen‹ wirkt noch.« Jetzt wartete der Alt-Kanzler noch die Rückkehr Dinghofers von einer frühherbstlichen Orientreise ab und deckte dann seine Karten auf. Gern kolportiert wurde diesmal sein Sager : »Österreich geht es nicht so schlecht, daß ich das Kanzleramt übernehmen müsste, aber auch nicht so gut, daß ich es ablehnen dürfte.«387 Die alljährliche Drohung mit dem Streik der Bundesbediensteten diente als beinahe schon willkommener Vorwand für den Rücktritt Rameks und seiner Mannschaft am 15. Oktober 1926. Zumindest hatten die Sozialdemokraten diesen Eindruck. Ihnen war die ganze Entwicklung unrecht – und der Anlass peinlich : Denn die Postgewerkschafter beschwerten sich über die Technische Union und Zelenka, der ständig ihre Forderungen überbiete. Im 25er-Ausschuß geriet Zelenka auch noch mit den sozialdemokratischen Gemeindeangestellten und dem Militärverband über Kreuz, die sein Ultimatum nicht mittragen wollten. Die Postler wandten sich an die Partei : Sie würden streiken, aber nur, wenn die Partei es ausdrücklich von ihnen verlange. Doch die Partei war weit von einem solchen Verlangen entfernt : Sie wollte die schwache und willfährige Regierung Ramek nicht stürzen. Der Vorstand beschloss hintergründig, Otto Bauer solle zwischen den Organisationen vermitteln, die hier gegeneinander intrigierten, aber wohlgemerkt : »auf eigene Verantwortung«.388 Das Kabinett Seipel IV kehrte zum status quo des Jahres 1924 zurück, nein : genau genommen, es war noch Wien-lastiger. Seipel betonte bei der Vorstellung seines Kabinetts : »Wir sind keine Neulinge« (und verkniff sich auch nicht die Bemerkung, »der Föderalismus sei nicht Selbstzweck !«) Schmitz als Obmann des »Katholischen Volksbundes« wechselte – zum Ingrimm der Sozialdemokraten – vom Sozial- ins Unterrichtsministerium. Rintelen wurde zurück in die Steiermark expediert ; nur
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der Tiroler Andreas Thaler wurde als Landwirtschaftsminister übernommen und erfüllte als einziger Ländervertreter unter den Christlichsozialen die Aufgabe, die Niederösterreicher in Schach zu halten. Auf der Bühne tummelten sich keine Statisten mehr : Als Vizekanzler und Kompagnon wünschte sich Seipel diesmal Dinghofer, mit dem er einen gemeinsamen Auftritt vor dem christlichsozialen Parlamentsklub absolvierte : »Seipel will dokumentieren, daß die Spitzen der beiden Parteien die Zügel der Regierung ergreifen wollen.«389 Die Einheitsliste Seipels Comeback stahl der Opposition, die für die Tage danach bereits ihre Großveranstaltungen geplant hatte, bis zu einem gewissen Grad die Schau. Das Jahr 1926 war von einer leichten Rezession geprägt gewesen ; gefährlicher noch für die Christlichsozialen war der säkulare Preisverfall für Agrarprodukte, der sich schon lange vor der Weltwirtschaftskrise bemerkbar machte. Mit dem »Alpendollar«, dem Schilling als Hartwährung, waren die einst so unerschwinglichen Lebensmittelimporte wieder zu einer massiven Konkurrenz geworden. Die Bauern riefen nach dem Schutzzoll. Buchinger hatte sich der Beschwerden der niederösterreichischen Agrarier angenommen – und war gescheitert ; die Interessen der alpinen Viehzüchter schrieb der Landbund auf seine Fahnen, der als »reine« Agrarpartei die Christlichsozialen überholen, vielleicht auch den schwarzen Bauernbund für eine »grüne Front« gewinnen wollte. Im Oktober, während Ramek in Wien gerade sein Demissionsgesuch aufsetzte, hatte der Landbund in Kärnten als Generalprobe schon vollmundige Protestkundgebungen in Szene gesetzt. Unter den »maßlosen Beschimpfungen« war auch schon die Drohung mit einem Steuerstreik herauszuhören. Doch Seipels Berufung ließ die Landbündler noch einmal innehalten. Man beließ es bei einer Aussprache mit dem alten und neuen Kanzler.390 Nicht abgesagt wurde selbstverständlich der sozialdemokratische ProgrammParteitag in Linz Anfang November. Im Gegenteil : Das Timing verlieh ihm den Charakter einer unmittelbaren Kampfansage, auch wenn Otto Bauer einem on dit zufolge abwinkte, es sei dabei um die Weltprobleme des Sozialismus gegangen ; bloß die Regierung dachte, »wir hätten darüber gesprochen, um ihnen zu drohen«. Der Linzer Parteitag verdankt seine Berühmtheit nicht zuletzt dem Umstand, dass er in eine Debatte mündete über die Bedingungen, die eine Diktatur des Proletariats rechtfertigen würden – dann nämlich, wenn die Bourgeoisie nach dem Wahlsieg der Arbeiterklasse mit auswärtigen Mächten konspiriere oder wirtschaftliche Sabotage betreibe.391 Die Formulierung Otto Bauers war eine Reaktion auf die viel weitergehenden Anträge Max Adlers, eines einzelgängerischen Außenseiters der Partei, der eine Position auf der äußersten Linken einnahm und fein säuberlich zwischen politischer und sozialer Demokratie unterschied.392
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Opportun waren derlei hypothetische Erörterungen wohl kaum – Karl Renner tat die Beiträge Adlers als »Professorensorgen« ab, den Autor als »Feldrabbiner« der Partei. Die Passagen waren aber auch nicht die rhetorischen Sprengsätze, als die sie in Apologien von bürgerlicher Seite später gern dargestellt wurden. Allenfalls ließen sie den Glauben durchblicken, die Entwicklung verliefe linear und unumkehrbar. Hätte die SDAPÖ einmal 51 % erreicht, wäre ihr diese Mehrheit mit demokratischen Mitteln nicht mehr zu nehmen. Doch damals sprach die »Reichspost« bloß abschätzig von »Theorien, die schon vor einem Menschenalter nicht mehr originell waren. […] Der Rest ist Langeweile.« Denn : »Ob sich außerhalb des engeren Führungsklüngels der sozialdemokratischen Partei irgendjemand für diese theoretische Spielerei mit Worten ernstlich interessiert, ist zu bezweifeln.«393 Mit Spannung verfolgte die bürgerliche Konkurrenz dafür die offensichtlichen Flügelkämpfe unter den Sozialdemokraten, die selten so deutlich zum Vorschein gekommen waren. In der Sache war es viel weniger die Formel von der »Diktatur des Proletariats«, die Aufregung hervorrief, sondern die Gretchenfrage nach der Religion. Im alten Programm war zu lesen gewesen : »Religion ist Privatsache« ; sie werde von der Partei daher auch nicht bekämpft. Zwei Jahre zuvor hatte Otto Bauer davon gesprochen, die fehlenden 320.000 Stimmen zur absoluten Mehrheit seien am einfachsten wohl bei den Kleinbauern zu holen.394 Der Weg dahin erwies sich als steinig : Die sozialdemokratische Kleinbauernorganisation zählte auch nach angeblich nicht weniger als Tausend Versammlungen nicht mehr als 4000 Mitglieder und wurde im Juni 1925 liquidiert. Unter dem Sooßer Weinbauern Alois Mentasti wurde daraufhin eine neue Organisation aufgezogen. Das Burgenland mit seinen Minifundien war das ideale Missionsgebiet für eine Kleinbauernorganisation, doch gerade deshalb wehrte sich die burgenländische Partei gegen eine solche Konkurrenz.395 Bei dieser sprichwörtlichen »Eroberung des Dorfes« empfahl es sich selbstverständlich, die »kulturkämpferischen Fahnen sorgsam eingerollt« zu verwahren, wie die »Reichspost« höhnisch kommentierte. In der »kirchenpolitischen Kommission« der Sozialdemokratie waren deshalb auch ausdrücklich Vertreter der Burgenländer und der Landarbeiter zugezogen worden.396 Dieser weltanschauliche Opportunismus war nicht nach jedermanns Geschmack. Die Freidenker, die der Partei schon seit Jahr und Tag mit ihren Forderungen auf die Nerven gingen (zuletzt beanspruchten sie nicht weniger als fünf Mandate im neuen Nationalrat !), traten deshalb in Linz mit einem Antrag auf, die Religion – frei nach Marx – zum »Opium für das Volk« zu erklären.397 Auch dieser Antrag wurde letztendlich niedergestimmt, führte aber zu Kontroversen, die sich von den Gegnern trefflich ausschlachten ließen. Da konnte die Partei es vorhersehbarerweise niemand recht machen. Die »Neue Freie Presse« kritisierte das Ergebnis, die Partei habe im Sinne des Primats des Klassenkampfes, der keine kulturkämpferischen Ablenkungen gestatte, »sogar den Freisinn machiavellistisch zurückgestellt«, während die »Reichspost« nicht anstand, ausdrücklich
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den »sittlichen Ernst« Ellenbogens zu loben, der offen erklärt hatte, die Religion verdiene »nahezu Ehrfurcht« ; ja, sie fand ein paar Worte widerwilligen Respekts selbst für »die Geradlinigkeit Otto Bauers, welche die mechanische Auffassung dieses Mannes immer auszeichnet«.398 Seipel hatte die Zügel am Beginn des vierten Jahres der Legislaturperiode übernommen. Der Kanzler ließ auch sofort anklingen, wenn es im Parlament zur Obs truktion komme, werde er sofort über Neuwahlen abstimmen lassen – eine Ankündigung, die ihm den seltenen Beifall beider Seiten einbrachte. Damit hatte er zumindest einem Bluff der Opposition die Zähne gezogen. Die Sozialdemokraten gingen nämlich davon aus, dass der Regierung Neuwahlen zum gegenwärtigen Zeitpunkt wegen der Bankenskandale höchst unangenehm wären. Sie monierten, seit März habe der Ausschuß nicht mehr getagt, der sich mit der Altersversicherung der Arbeiter beschäftige. Ein solches pflichtvergessenes Parlament habe »sein Recht zu leben verwirkt«. Entweder nehme man diese Beratungen schleunigst wieder auf – oder man werde die Arbeit im Parlament vollends unmöglich machen.399 Der Hinweis : Wenn die verkrachte Zentralbank der Regierung 90 Mio. wert sei, müsse auch Geld für die Pensionen da sein, war wahltaktisch plausibel, nicht unbedingt budgettechnisch. Das Ergebnis war ein typisches Resultat der wechselseitigen Junktimierungspolitik. Das Gesetz wurde tatsächlich noch bis zum Frühjahr abgeschlossen – aber es sollte erst in Kraft treten, wenn der »Wohlstandsindex« es erlaube, die entsprechenden Lasten zu tragen, wenn also z. B. die Zahl der Arbeitslosen auf unter 100.000 gesunken sei. Zwischenzeitig wurde an die Senioren (schon ab 60) eine provisorische Altersfürsorge ausbezahlt, die allerdings um ein Drittel niedriger war als das Arbeitslosengeld. Die Sozialdemokraten standen als die betrogenen Erpresser da : Sie stimmten dem Gesetz zähneknirschend zu, um wenigstens das Prinzip der Altersversicherung zu retten. Die AZ gab zu, die Regierung hätte Wort gehalten, das Gesetz sei verabschiedet worden. Die Bezeichnung »Ehrenmänner« hatte in diesem Zusammenhang dennoch einen besonderen Beigeschmack.400 Die christlichsozialen Bauern wollten die Wahlen, die 1927 fällig waren, am liebsten erst nach der Ernte schlagen, doch Seipel hatte es eiliger. Er wollte weiteren Erpressungsversuchen entkommen und »alles vermeiden, was eine Abhängigkeit von der Opposition« nach sich zöge.401 Es entsprach der Logik seiner bürgerlichen Sammlungspolitik – und der Wahlarithmetik – wenn im Zusammenhang damit bald auch das Schlagwort von der bürgerlichen »Einheitsliste« auftauchte. In den Ländern (z. B. in Kärnten, 1925 auch in Oberösterreich) hatte man mit Einheitslisten bisher gute Erfahrungen gemacht. Es lag im Prinzip nahe, das Experiment jetzt auch auf Bundesebene zu wiederholen. Eine Berechnung ergab, das einheitliche Auftreten brächte den Bürgerlichen allein schon vier zusätzliche Mandate ein.402 Wenn es nach Seipel ging, sollten dazu nicht bloß die Großdeutschen (und die Splitter der Bürgerlichen Demokraten in Wien) eingeladen werden, sondern auch der Landbund, der
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sich als »christlich-nationale Standespartei« zwischen die beiden klassischen Lagerparteien geschoben hatte. Der Landbund hatte die Regierung Seipel-Dinghofer zwar mitgewählt, sich aber schon im Oktober intern auf eine selbstständige Kandidatur festgelegt. Das Alleinstellungsmerkmal des Landbundes sei nun einmal, dass er keine »Volkspartei«, keine Integrationspartei und auch keine Partei der Volksgemeinschaft, mit einem Wort : keine »Mischmaschpartei« sei, die es allen recht machen wollte, sondern eine reine Bauernpartei, allenfalls noch eine Partei des Landvolkes. Von der Einheitsliste erwartete man sich da keine Synergie-Effekte, im Gegenteil : »Der lokale Vertrauensmann will für die reine Sache kämpfen, wenn er das nicht kann, verliert er die Lust.« In den abgeschiedenen Tälern, wo es ohnehin keine Sozialisten gäbe, oder in »Ostafrika« (wie das »schwarze« Herzland in der Ost-Steiermark gern genannt wurde), steche die antimarxistische Karte nicht.403 Die Großdeutschen veranstalteten zur Beruhigung weltanschaulich motivierter Funktionäre zwar schon geraume Zeit immer wieder Besprechungen über eine gemeinsame Liste aller nationalen Gruppierungen, aber – wie intern offen eingestanden – vor allem aus taktischen Gründen, um die Christlichsozialen »gefügiger« zu machen.404 Als Seipel am 24. Februar 1927 offiziell mit seinem Antrag herausrückte, bei den Wahlen eine bürgerliche Einheitsliste zu bilden, erhielt er umgehend ihr Ja-Wort. Die Mitgift war nicht zu verachten : Die Großdeutschen hatten zehn Mandate besessen, Seipel garantierte ihnen zwölf, ohne jedes Risiko. Bei seinen eigenen Leuten war da schon mehr Überzeugungsarbeit erforderlich. Die Oberösterreicher und sogar die Tiroler maulten, politische Schwergewichte wie Gürtler und Stöckler erhoben kritische Einwände. Wer stehe denn tatsächlich noch hinter den Großdeutschen ? Ausgerechnet Kunschak brach in dieser Situation eine Lanze für Seipel und die Einheitsliste, die in Wien populär sei. Allerdings müssten sich die Großdeutschen bemühen, auch die Nationalsozialisten »mitzubringen«.405 Die Nationalsozialisten, oder besser : die sogenannte Schulz-Richtung der NSDAP erwies sich als willig. Seitdem Hitlers Anhänger die Partei Anfang 1926 gespalten hatten, waren Schulz und sein Vorgänger Riehl um ein auskömmliches Verhältnis mit den Großdeutschen bemüht.406 Probleme ergaben sich bloß im Verhältnis der antagonistischen Splitterparteien, die hier an einem Strang ziehen sollten. Das Wiener Bürgertum gab Anlass zu Kopfzerbrechen : Über die Demokratische Liste war man geteilter Meinung, weil sie vermutlich doch einen jüdischen Kandidaten aufstellen würde ; doch Friedmanns Neugründung, die Mittelständische Volkspartei, wurde offiziell in der Einheitsliste willkommen geheißen und nominierte den Fabrikanten Martin Kink als Sohn eines Handelskammerpräsidenten der Jahrhundertwende, der allerdings an nahezu unwählbarer Stelle platziert wurde (die Opposition sprach höhnisch von »Kink-erlitzchen«). Mit Friedmanns Hilfe sollte zumindest indirekt eine Sonde auch in das jüdische Bürgertum vorangetrieben werden.407
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Diese löbliche Absicht war freilich nicht ganz kompatibel mit einer Kandidatur des überzeugten Antisemiten Riehl in der Leopoldstadt (wenn auch ebenfalls erst auf den hinteren Plätzen). Die Zionisten machten Seitz deshalb prompt das Angebot, diesmal nur in zwei Bezirken zu kandidieren, überall anderswo aber offiziell für die Sozialdemokraten einzutreten. Riehl galt dabei – zumindest der AZ zufolge – auch als Vertrauensanwalt der Wiener Hausbesitzer. Ein sozialdemokratisches Blatt entwarf ein fiktives Wahlplakat : »Mit Davidstern und Hakenkreuz : Hausherrn für Seipel – und Steirerbank.« Seipel selbst musste intervenieren, um Riehl einen anderen Wahlkreis schmackhaft zu machen. In einer Rede unterschied der Kanzler fein säuberlich zwischen seiner Stellung als Parteiobmann, das ihn zum Festhalten am christlichsozialen Programm – mit seinen antisemitischen Passagen – verpflichte, und seiner Aufgabe als Kanzler und »Führer der Einheitsfront«, der unverbrüchlich an der Gleichheit aller Staatsbürger festhalte und für den »es eine Judenfrage nicht gibt«.408 Die »Neue Freie Presse« seufzte elegisch, damit sei der »Gewissenskonflikt des freisinnigen Bürgertums erleichtert«, aber nicht aufgehoben. Sie hätte sich mehr Großzügigkeit gewünscht, die nicht mit Mandaten schachert – und nach dem Muster von 1923 mehr unabhängigen Experten den Weg ins Parlament öffne, denn für Quereinsteiger war wenig Platz angesichts der vielen Bewerber, die auf Kosten der Christlichsozialen bedient werden wollten. Ihr Leitartikel zur Wahl : »Schach dem Terror«, mit seiner Warnung vor dem »Absolutismus von unten«, ließ freilich im Sinne der Einheitsliste an Deutlichkeit nichts zu wünschen übrig. Die Sozialdemokraten spotteten über den »christlichsozial-großdeutsch-börsenliberal-hakenkreuzlerischen Herrbann«, diesen »Pallawatsch«, vor dem jedem Wähler grausen müsse. Selbst der großdeutsche Alt-Obmann Kandl schüttelte den Kopf über das Paradoxon : »Die jüdischen Banken geben Geld, damit antisemitische Abgeordnete gewählt werden, die arischen Arbeiter ihre Groschen, damit jüdische Führer gewählt werden.«409 Dennoch gelang es Seipel nicht, alle Mann ins Boot zu holen, die im Prinzip auf antimarxistischem Kurs segelten. Zwar gab der monarchistische Reichsbund der Österreicher der Einheitsliste diesmal auch ohne Wahlkapitulation seinen Sanktus, die niederösterreichischen Großgrundbesitzer spendeten angeblich 1 S pro ha für den Wahlfond.410 Aber die zentrifugalen Tendenzen waren im Zunehmen begriffen. Ein Teil der Hausbesitzer und der Ha-Ge-Bünde gab eine Wahlempfehlung für den Landbund ab. Die Demokratische Liste in Wien, die sich von Friedmann nicht ins Schlepptau nehmen lassen wollte, riss 15.000 Stimmen in den Orkus. Die Hitlerbewegung landete als »Völkisch-Sozialer Block« mit ihren 27.000 Stimmen noch hinter der Antikorruptionsliste des Ude-Verbandes (35.000 Stimmen). Dem umtriebigen Theologen DDDr. Johannes Ude als »Savonarola von Graz« war von seinem Bischof zwar die Kandidatur verboten worden, aber seine Anhänger im »Wirtschaftsverein
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für Österreich«, die frühzeitig ständische Ideen propagierten, erzielten in dem seit Jahren von immer neuen Bankskandalen mitgenommenen Graz immerhin 10 %.411 Die bäuerlichen Kärntner Slowenen, die beim nächsten Mal auf der Christlichsozialen Liste kandidierten, traten diesmal noch selbstständig zur Wahl an : Doch ihre 9000 Stimmen reichten nicht für ein Mandat. Der Wahlkampf war nach Ansicht der Zeitgenossen unverhältnismäßig teuer. Der sozialdemokratische Parteivorstand belegte zwei Monate vor der Wahl alle Mitglieder der Freien Gewerkschaften mit einer Sondersteuer von 10 Groschen pro Woche. Nur bei der Belegschaft der AZ verfing der Solidaritätsappell nicht : Die Drucker übten sich am Höhepunkt des Wahlkampfs in passiver Resistenz. Dafür wurde eine neue Zeitung, das »Kleine Blatt«, eigens für den Wahlkampf ins Leben gerufen und überholte mit seiner Auflage bald die AZ. Die »Neue Freie Presse« rümpfte die Nase über die »Plakatseuche« der Sozialdemokraten. Die Korruptionsfälle der letzten Jahre waren ein aufgelegtes Thema ; als vielleicht noch wichtiger erwiesen sich die Debatten um den Mieterschutz. Die Vorstöße des Bürgerblocks waren zwar allesamt der sozialdemokratischen Obstruktion zum Opfer gefallen, wurden aber für den Wahlkampf mit Wonne ausgegraben. Interessanterweise gab es in Wien ein »Fairness-Abkommen«, das besagte, es seien »Angelegenheiten des Familienlebens nicht zu besprechen« ; es wurde bald auf Bundesebene ausgedehnt.412 Am Wahlabend stellte sich heraus : Die Einheitsliste war wahltaktisch gescheitert ; sie hatte mit Müh und Not die absolute Mehrheit an Mandaten behauptet, doch nur 48 % der Stimmen erreicht. Die oppositionellen Sozialdemokraten (42,3 %) und der Landbund (6,3 %) erreichten beide ihr bestes Ergebnis in der Zwischenkriegszeit. Die Sozialdemokraten hatten in Wien über 100.000 Stimmen zugelegt, der Landbund in Kärnten die Einheitsliste knapp überholt. Der Parteivorstand der SDAPÖ frohlockte : »Der Wahlausgang zeigt, daß wir auf dem Weg zur Macht sind.« Mit 85 von 165 Sitzen hatte die Einheitsliste ihre regierungsfähige Mehrheit zwar nicht eingebüßt, doch Seipel holte – wie schon lange geplant – den Landbund ins Boot, der zwar nur neun Sitze erobert hatte, aber auf dem Vizekanzler bestand, den mit Karl Hartleb ein obersteirischer Großbauer übernahm. Noch lieber wäre dem Landbund selbstverständlich das Landwirtschaftsministerium gewesen, aber dieses Ressort zählte zum ehernen Besitzstand der Christlichsozialen. Für die Großdeutschen musste ein Ausgleich geschaffen werden durch die Schaffung eines eigenen Justizministeriums, das bisher aus Ersparnisgründen dem Bundeskanzleramt unterstanden hatte und für Dinghofer vorgesehen war. An diesem Punkt setzten die Sozialdemokraten ein. Sie bekämpften die Übergangs lösung mit Dinghofer als »Minister ohne Portefeuille«, der doch per definitionem kein Ressort verwalten könne, mehr noch : Sie brachten die schärfste Waffe in Stellung, die ihr zur Verfügung stand. Sie drohten mit der Obstruktion, nicht mehr bloß im Ausschuß, sondern auch im Plenum des Nationalrates, das deshalb wochenlang
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nicht mehr zusammentrat.413 Die Obstruktion war bisher nur in Sachfragen zur Anwendung gekommen, die für die Sozialdemokratie zentrale Bedeutung besaßen, wie z. B. dem Mieterschutz. Schon 1922 wurden die Bürgerlichen gewarnt, man solle sich »keiner Täuschung hingeben, daß diese Frage durch Mehrheitsbeschlüsse geklärt werden könnte. Eine solche Methode der Regierung würde das Haus in schwerste, krisenhafte Zustände stürzen.«414 Selbst ein Verständigungspolitiker wie Alfred Gürtler, einer der wenigen deklarierten Fans von Schwarz-Rot, warf der Sozial demokratie deshalb schon zum Jahreswechsel 1925/26 vor, »eine Opposition, die im erhabenen Gefühl schwelgt, das Parlament jederzeit lahm legen zu können, wenn sich die Mehrheit nicht ihrem Diktat fügt, verkennt das Wesen der Demokratie«.415 Diesmal hatte die »Neue Freie Presse« schon am Wahlabend prophezeiht : »Das Problem der Arbeitsfähigkeit des Parlaments wird sehr dornig sein. […] Es wird noch schwerer sein, irgendetwas parlamentarisch zu unternehmen ohne den Segen der Minorität.«416 Die Sozialdemokratie wollte für ihren »Sieg« in einem Maße belohnt werden, der für einen Gewinn von drei Mandaten doch etwas überdimensioniert erscheint. Die AZ forderte : »Die Veränderung der Kräfteverhältnisse muß sich doch auch irgendwie in der Praxis der Gesetzgebung und der Verwaltung ausdrücken.« Seipel könne nicht weiterregieren, als ob es den 24. April nicht gegeben hätte. Hätte er die Wahlen »gewonnen«, dann ja ; doch so zwinge er die Sozialdemokraten, ihm die Unmöglichkeit zu beweisen, über uns hinwegzugehen, »immer wieder, bei jedem Anlaß, in jeder einzelnen Frage«.417 Allenfalls gegen substanzielle Zugeständnisse in Heeresfragen (oder gegen eine Inkraftsetzung der Altersversicherung schon im kommenden Jahr) wäre die Partei zu einem Einlenken bereit. Seipel berichtete über ein Gespräch mit Otto Bauer, der zugab : »Die Frage des neuen Justizministeriums sei überhaupt nicht zweifelhaft«, aber : »Die Sozi seien in Schwierigkeiten […] Deutsch braucht irgend etwas.«418 In der Monarchie hatte sich für diese Taktik der Begriff der »Trinkgeld-Obstruktion« eingebürgert, unternommen nicht mehr zur Verteidigung der heiligsten Güter der Nation, sondern um politisches Kleingeld zu lukrieren. Die Wochen vor dem Justizpalastbrand waren mit Verhandlungen darüber ausgefüllt, wie man die Sozialdemokraten von der Geltung des Mehrheitsprinzips überzeugen könne. Der Landbund forderte, die Session schlimmstenfalls den ganzen Sommer über zu verlängern. Als Alternative standen Neuwahlen im Raum. Am Tag vor dem 15. Juli hieß es im großdeutschen Klub bereits : »Wenn die Sozialdemokraten das Haus weiterhin lahm legen, dann kann man vor die Bevölkerung treten.« Nachträglich zog Renner aus den Ereignissen die Lehre : Wenn man die Bürgerlichen nicht den Faschisten in die Arme treiben wolle »müssen wir einer bürgerlichen Mehrheit zu regieren ermöglichen«. Otto Bauer verhandelte mit Seipel weiterhin über einen Kompromiss – und musste gestehen, dass er damit bei seinen Genossen nicht durchkomme : Seipel gab an, Bauer »ist sehr betroffen zu mir gekommen, weil er sich in seinem Vorstand nicht durchgesetzt hat«.419
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4. Schubumkehr 1927–1929 Der Justizpalastbrand Dieses Patt auf allen Linien, die totale politische Blockade, bildete den Hintergrund für die Juli-Ereignisse des Jahres 1927 : Der Hergang der Geschichte ist bekannt. Am 30. Jänner 1927 war es im burgenländischen Schattendorf, unmittelbar an der ungarischen Grenze, zu einer Schießerei gekommen, der zwei Unbeteiligte – ein Greis und ein Kind – zum Opfer fielen. Angehörige des Frontkämpferbundes, von einer nicht genehmigten Gegendemonstration des Schutzbundes in die Defensive gedrängt, hatten aus einem Gasthaus heraus das Feuer eröffnet.420 Die Todesschützen waren zunächst nach Ungarn geflohen, hatten sich dann aber gestellt. Am 14. Juli 1927 wurden sie von einem Wiener Geschworenengericht freigesprochen. Selbst die Anklage in puncto »Vergehen gegen die körperliche Sicherheit« bejahten nur sieben von zwölf Laienrichtern ; nötig gewesen wäre eine Zwei-Drittel-Mehrheit, also acht. Das Urteil bestätigte die Erfahrungstatsache, dass die Geschworenen der 1. Republik bei politischen Gewaltakten – es sei denn, bei den Opfern handelte es sich um Angehörige der Exekutive – fast immer für Freispruch entschieden, sobald den Tätern kein persönliches Motiv unterstellt werden konnte. Ein »re-enactment« des Prozesses unter Spitzenjuristen ließ unlängst auch die Variante plausibel erscheinen : Vielleicht waren die Geschworenen einfach überfordert, welchem der drei Angeklagten sie welches Maß an Schuld zuordnen sollten.421 Die Sozialdemokratie befand sich in einem Dilemma. Sie konnte schlecht gegen die Institution der Geschworenengerichte polemisieren, lange Zeit eine ihrer zentra len Forderungen, um der »Klassenjustiz« der bürgerlich-akademischen Berufsrichter zu entgehen. Sie wollte aber auch der Empörung ihrer Anhänger über das »Schandurteil« gerecht werden. Sie beließ es deshalb bei einem berüchtigten feurigen »Brand artikel« der »AZ«, der nach Ausfällen gegen die namentlich genannten Geschworenen und die »infame Hetze« der Regierungsblätter darin ausklang, ein solcher Zustand der Rechtlosigkeit käme an sich schon einem Bürgerkrieg gleich. Die Partei rief aber nicht selbst zu einer neuerlichen Kundgebung auf – ein Protestmarsch hatte schon unmittelbar nach Schattendorf stattgefunden – und bot deshalb auch nicht den Schutzbund auf, der als »Ordnertruppe« dafür prädestiniert gewesen wäre, eine solche Kundgebung in die rechten Bahnen zu lenken und Ausschreitungen zu vermeiden. Allerdings gab es Indizien dafür, dass Bedienstete der Gemeindebetriebe, als sie am Morgen zur Arbeit erschienen, von ihren Betriebsräten auf die Straße geschickt wurden. Doch die Parteispitze war nicht involviert. Otto Bauer empfing eine Delegation angeblich nicht einmal, Seitz als Parteiobmann und Bürgermeister soll sich gewundert haben : »Was sagen Sie dazu, jetzt laufen mir meine Leute fort.«422 Ernst Hanisch hat resümiert : »Da die Parteileitung offiziell schwieg, kam die Stunde der mittleren Funktionärsschicht, die nun aktiv wurde.«423 Das Ergebnis war :
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Die Kundgebung geriet in der Gegend um das Parlament außer Rand und Band ; die Teilnehmer steckten den Justizpalast in Brand (ein herber Verlust für die Geschichtswissenschaft, lagerten dort doch die Akten des Innenressorts und der Hofkanzlei seit den Zeiten Maria Theresias). Geheimnisumwittert blieb – neben Schlachtenbummlern mit kriminellem Hintergrund, dem »Ruass aus dem Prater«, wie es in den »Dämonen« heißt – die Rolle der winzigen Kommunistischen Partei als Katalysator der Unruhen ; angeblich soll Gottlieb Fiala, ihr Präsidentschaftskandidat ein Vierteljahrhundert später, als erster einen Schuß abgegeben haben. Der spätere KP-Chef Johann Koplenig lieferte der gegnerischen Propaganda jedenfalls bereitwillig Munition, wenn er davon sprach, es habe sich um eine Revolution gehandelt, wenn auch um eine Revolution, niedergeschlagen durch den Verrat der sozialdemokratischen Führer.424 Sobald die Demonstranten allen Beschwörungen Seitz’ zum Trotz den Feuerweh ren die Durchfahrt verweigerten, gab die Exekutive den Schießbefehl. (Erst im Ministerrat danach erkundigte man sich nach den Möglichkeiten des Einsatzes von Tränengas oder Panzerautos.) Es wurde argumentiert, die Polizei habe exzessiv von der Waffe Gebrauch gemacht und auch noch Salven abgegeben, als sich die Demons tranten längst auf der Flucht befanden ; selbst Vizekanzler Hartleb gab Jahrzehnte später im Gespräch mit Ludwig Jedlicka leutselig zu : »Fallweise hat’s ausgeschaut wie eine Hasenjagd.«425 Dafür erfolgten in der Nacht weitere Überfälle auf Wachlokale in Arbeiterbezirken. Das Ergebnis der Auseinandersetzungen waren 89 Tote, darunter fünf Polizisten. Die politische Verantwortung für das rigorose Vorgehen der Polizei teilten sich Schober als Polizeipräsident, Hartleb als Innenminister und Seipel als Regierungschef. Bürgermeister Seitz wurde zum Vorwurf gemacht, nicht rechtzeitig um Mili tärassistenz angesucht zu haben. Deutsch behauptete, er wäre mit dem Löschzug doch noch durchgekommen. Der Kanzler resümierte vermutlich zutreffend, die Sozialdemokraten hätten wohl einen »Wirbel« inszenieren wollen, aber einen relativ kleinen. Sie hätten dabei vielleicht noch mit der Demolierung der Redaktionen von »Reichspost« und »Wiener Neuesten Nachrichten« gerechnet, der Parteizeitungen der Regierungsparteien, doch : »An die Erstürmung des Parlaments, Anzünden von Sicherheitswachstuben und des Justizpalastes hat niemand gedacht.« Übel nahm der Kanzler der Opposition allerdings die Forderung nach dem Rücktritt der Regierung, sobald die Eskalation eingesetzt hatte : »Bei dem Lichte des brennenden Justizpalasts eine Regierung zu beseitigen, ist eben Revolution.« Otto Bauer soll versucht haben, ihm das Ansinnen mit der Analogie der Badeni-Krawalle dreißig Jahre früher schmackhaft zu machen. Auch damals habe Franz Joseph den Premier entlassen, um die Leidenschaften zu bändigen. Seipel griff das Argument nur zum Teil auf : »Sehen Sie, wie nützlich monarchische Einrichtungen sind. Uns Parteiführer kann niemand wegschicken.«426 Seinem Parteivorstand schilderte Bauer
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die Konfrontation in einem viel milderen Lichte : Er habe keineswegs ultimative Forderungen erhoben, sondern wollte nur die Richtung kennzeichnen, die man den Gesprächen geben wolle ; der Wahl einer neutralen Beamtenregierung sei Seipel im ersten Moment gar nicht einmal so ablehnend gegenübergestanden. Ob hier ein Missverständnis vorlag oder nicht, achtundvierzig Stunden später gestand jedenfalls auch Bauer ein, es sei unmöglich, »von Seipel eine Erklärung zu bekommen, mit der man vor die Massen treten könne«.427 Die Exzesse der Demonstranten wurden propagandistisch vielfach zu einem »roten« Putschversuch aufgebauscht. Die Sozialdemokratie konnte dieser wenig plausiblen Interpretation, die sich dennoch großer Beliebtheit erfreute, unverdiente Glaubwürdigkeit verleihen, wenn sie sich mit den Demonstranten solidarisierte – oder die Massen gegen sich aufbringen, wenn sie sich von den Opfern distanzierte. Seipel erkannte dieses Dilemma : »Während dieser Tage haben wir den Eindruck gehabt, daß die Sozialdemokraten schwach und in sich zerfallen sind, in einem Zustand, wie er in den vergangenen Jahren nie zu beobachten war.« Den Vorschlag von Bürgermeister Seitz, nachträglich eine eigene Gemeindeschutzwache zu installieren, interpretierte Seipel so, man wolle die verlässlichen Elemente des Schutzbundes zum Einsatz gegen die unverlässlichen sammeln. Die Reaktion der Sozialdemokraten in den Tagen nach dem 15. Juli ließ kein durchdachtes Konzept erkennen : »Um die Leute wegzubringen, hat man einen 24 Stunden-Streik verkündet, um diesen zu beendigen, hat man einen unbefristeten Verkehrsstreik ausgerufen. Man hat aber nicht daran gedacht, wie man diesen Verkehrsstreik wieder wegbringen wird.« Die resultierende Nachrichtensperre sorgte im Lande erst recht für Unruhe. Seipel wählte den Vergleich : wie bei einer Wirtshausrauferei, wenn einer noch dazu das Licht abdreht. Die Steirer entsandten am 16. Juli extra einen Flieger nach Wien, um sich über die Geschehnisse in der Bundeshauptstadt auf dem Laufenden zu halten.428 Der Verkehrsstreik war ein Rückzugsmanöver, um sich nicht dem Vorwurf auszusetzen, die Partei hätte die Ereignisse tatenlos hingenommen. Der Streik war nicht mit bestimmten Forderungen gekoppelt, zwar formell »unbefristet«, doch wohl von vornherein nur auf kurze Zeit anberaumt gewesen. Seipel analysierte die Lage richtig : »Die Sozialdemokraten sind in Verlegenheit, was sie eigentlich verlangen sollten. […] Es ist ein sichtliches Bestreben, alles als möglichst harmlos darzustellen. […] Die ganze Frage ist, wie wir ihnen heraushelfen wollen.«429 Bei den Sozialdemo kraten plädierte in diesen Tagen gerade der Flügel um Friedrich Adler und Julius Deutsch, der als militant verschrien war, für einen Eintritt in die Regierung. Doch der Verkehrsstreik rief die Heimwehren auf den Plan, die sich seit Jahr und Tag auf eben diesen Fall vorbereitet und dafür als Unterabteilung die sogenannte »Technische Nothilfe« (Teno) gegründet hatten. Deshalb mussten 1927 immer noch keine »Hahnenschwanzler« als Lokführer einspringen ; denn ein Teil der christlichen und nationalen Gewerkschafter versah
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weiterhin Dienst. Die Heimwehren besetzen in Tirol und der Obersteiermark diverse Bahnhöfe, die AZ sprach abschätzig von einigen Stationen auf offener Strecke. Im Tiroler Jenbach musste die Heimwehr von Gendarmerie und Bundesheer gar aus einer kritischen Situation befreit werden. Doch gerade die Tiroler, wie z. B. der junge NR Kurt v. Schuschnigg, waren von den Leistungen der »Teno« eingenommen. In Oberösterreich verhinderte einvernehmliches Krisenmanagement drohende Konfrontationen : Landeshauptmann Schlegel hielt die Heimwehren vom Sturm auf den Bahnhof von Neumarkt ab, sein Stellvertreter Gruber die Schutzbündler des Kohlenreviers vom Marsch auf Ried im Innkreis. In Vorarlberg resümierte Landeshauptmann Ender gönnerhaft, die Gendarmerie hätte völlig ausgereicht, aber die Heimwehren seien als »nette Dekoration dabei gewesen«. Auch in der Steiermark beschränkte sich das aktive Engagement der Heimwehren auf den Bahnhof von Scheifling, um einem Fahrdienstleiter beizustehen, der sich dem Streik widersetzte. Doch Pfrimer verkündete am 18. Juli um 18 Uhr lauthals ein Ultimatum : Er werde 6000 Mann in Marsch setzen, wenn der Streik nicht umgehend eingestellt würde – und tatsächlich : Um Mitternacht wurde die Arbeit wieder aufgenommen. Nun bedeutet post hoc freilich nicht unbedingt propter hoc. Otto Bauer hatte im Parteivorstand schon einige Stunden früher für den Abbruch des Streiks plädiert, weil man sonst nur den Scharfmachern auf der Gegenseite in die Hände arbeite. Die Einstellung des Streiks sei eine Niederlage, aber »diese Niederlage müsse man eingestehen«.430 Interne Kritiker Pfrimers mokierten sich nachträglich, er hätte bestenfalls 600 Mann auf die Beine gebracht. Dafür verrechnete er der Landesregierung für seinen Einsatz immerhin 4 S pro Mann und Tag. »Seine Leute würden nicht früher heimgehen, bevor sie nicht ihr Geld bekommen hätten.« Doch bei den Verhandlungen mit den Sozialdemokraten in Graz – die übrigens Rintelen führte, der augenblicklich gar keine offizielle Funktion bekleidete – hatte Pfrimers Drohung zweifellos eine Rolle gespielt.431 Gewerkschaftsboss Hueber fasste im Parteivorstand zusammen, ein rechtzeitiger Rückzug sei besser als eine vollständige Niederlage. Trotzig verkündete die AZ am Tag danach, es gelte selbstverständlich weiterhin : »Ein Zirkulartelegramm mit der Unterschrift des Genossen Tomschik – und die Eisenbahnen stehen still, von Buchs bis Wien.« Doch die Heimwehren machten sich ihren eigenen Reim auf die Geschehnisse : »Alle Räder müssen rollen / Wenn die Heimwehren es wollen.«432 Nach außen hin zumindest galten die Heimwehren als Sieger. Der sozialdemokratische Landesrat Oskar Helmer resümierte nur wenige Tage später : »Wir können nicht mehr auftrumpfen. Wir können nicht mehr sagen, wir werden marschieren. Die Leute haben Blut geleckt und sind daher die Stärkeren.« Nur Renner wehrte sich gegen die »übertriebene Stimmung der Niedergeschlagenheit«.433 Der Justizpalastbrand war nicht das vorhersehbare Ergebnis der inneren Aufrüstung, als erster Schritt zum Bürgerkrieg. Der Zusammenstoß von Schattendorf war
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nicht zufällig im Burgenland erfolgt – nicht weil dort ein besonders radikales Klima herrschte, sondern ganz im Gegenteil, weil das Burgenland auf der Karte der Wehrverbände einen »weißen Fleck« darstellte und in die bestehenden paramilitärischen Organisationen noch kaum integriert war. Schattendorf war das Ergebnis von Disziplinlosigkeiten beider Seiten, begangen von Mitläufern, Plänklern am Rande der paramilitärischen Verbände, die sich gut gedrillte Einheiten – wie Deutsch’ Eliteformationen oder auch die Legionen Steidles – wohl nicht hätten zuschulden kommen lassen. Deutsch selbst war das unkontrollierte Wachstum des Schutzbundes im Burgenland suspekt, das ursprünglich gar nicht beabsichtigt gewesen sei.434 Auch am 15. Juli selbst waren weder Heimwehr noch Schutzbund beteiligt, die sich – mit einer Ausnahme – bis zum Februar 1934 in der Regel sehr gut darauf verstanden, mit der Gewalt zu kokettieren und zu drohen, sie in der Praxis aber zu kanalisieren und in geregelte Bahnen zu lenken. Die Zahl der Opfer des 15. Juli 1927 übertraf knapp die Summe aller bisherigen Toten bei politischen Zusammenstöße. Qualitativ unterschied sich das Geschehen nicht von früheren Einsätzen. Im Gegenteil : Brandstiftung in der unmittelbaren Nähe des Parlaments rechtfertigte die allfällige Überreaktion vermutlich weit mehr als die Salven beim Grazer »Kirschenrummel« im Juni 1920. Freilich : Damals war noch die Regierung Renner im Amt, oder besser : gerade am Weg aus dem Amt, Sündenböcke daher schwer zu finden. Das Spezifikum lag darin, damals hatte es sich um »unpolitische« (oder im Zweifelsfall um kommunistische) Demonstranten gehandelt, diesmal war die Sozialdemokratie selbst in einer schwer aufzulösenden Weise betroffen – und auch wieder nicht. Die Ohnmacht der vor Kurzem noch so siegesgewissen und anspruchsvollen Partei war urbi et orbi demonstriert worden. Daraus ergab sich die eigentliche Bedeutung des 15. Juli. Sie lag in einer Schubumkehr der österreichischen Politik : Das »Gleichgewicht der Klassenkräfte« war ein weiteres Mal ins Rutschen geraten. Die »österreichische Gegenrevolution« formierte sich nach Genf zu einer zweiten Kraftanstrengung. Die Renaissance der Heimwehren »Wie wir ihnen heraushelfen ?«, hatte Seipel im Ministerrat gefragt. Oder vielleicht hatte er doch gesagt : »Ob wir ihnen heraushelfen ?« Nach den Erfahrungen des vergangenen halben Jahres war Seipel nicht mehr bereit, den Sozialdemokraten goldene Brücken zu bauen. Die Nationalratssitzungen, die auf den 15. Juli folgten, waren zwar gefüllt mit Anklagen gegen den »Prälaten ohne Milde«, doch von Obstruktion war keine Rede mehr. Wiederum verbarg sich hinter dem Getöse ein strategischer Rückzug. Otto Bauer antichambrierte bei den schwarzen Agrariern wie Fink oder Buchinger. »Von allen Seiten kommt jetzt die Bitte der Sozialdemokraten auf Umwegen, mit ihnen gut zu sein.«435 Die Sozialdemokraten schwenkten jetzt plötzlich
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um 180 Grad um und zogen eine Neuauflage der großen Koalition in Erwägung – allerdings keineswegs unter der Führung Seipels. Im Streit um das Jahrhundertthema »gemeinsame Schule der 10- bis 14-Jährigen« waren die Verhandlungen im Juni ergebnislos abgebrochen worden ; jetzt wurde das Hauptschulgesetz im August klaglos verabschiedet. Plötzlich waren auch höhere Agrarzölle kein Tabu mehr. Seipel frohlockte in einem Schreiben an seinen alten kaiserlichen Ministerkollegen Redlich : »Die volle Nachgiebigkeit der Sozialdemokraten« sei »ein Beweis, daß die Herren auch anders können.«436 Für Seipel ging es jetzt um »die Einstellung der Obstruktion auf der ganzen Linie, nicht nur in einzelnen, den Sozialdemokraten angenehmen Punkten«. Die »alten Zustände, wo sie für jedes Entgegenkommen bezahlt werden mussten«, sollten der Vergangenheit angehören. Die Mehrheitsparteien würden »sich nicht mehr so sehr auf das Zugeständnisse-Machen verlegen«, verkündete er unter dem Beifall des christlichsozialen Klubs. Im September ließ Seipel wissen, er wolle gerade noch die Zolltarifnovelle unter Dach und Fach bringen (»um die Agrarier nicht zu vergraulen«), bevor er eine schärfere Gangart einschlug, die vielleicht »eine lebhaftere Bewegung« hervorrufen werde. Gedacht war dabei an ein Streikverbot für die öffentlichen Bediensteten (das sang- und klanglos wieder fallen gelassen wurde), an ein Anti-Terrorgesetz gegen das Prinzip des »closed shop« (womit Seipel auch den christlichen Gewerkschaftern wie Spalowsky entgegenkam, die in der Regel nicht zu seinen Fans zählten) und – als besonders heißes Eisen – ein »modernes Mietrecht«. Es könne jetzt keine andere Politik geben als »jene des rücksichtslosen Kampfes gegen die Sozialdemokratie«. Seine Aufgabe sei es, »diese Regierung und Mehrheit in diesem Kampf zusammen zu halten«.437 Zwei Entwicklungen kamen bei dieser neuerlichen Polarisierung zusammen : Die Einheitsliste, die nicht so reüssiert hatte, wie geplant, bedurfte dringend einer überragenden Aufgabe und eines Feindbildes, die ihre Existenz rechtfertigten. Wollte man bloß Routinepolitik treiben, so lief man Gefahr, dass alle die kleinlichen Gegensätze wieder ihr Haupt erhoben, die schon der »Länder-Regierung« das Leben so sauer gemacht hatten. Nach der Erledigung der großen Aufgaben (oder : ohne große Aufgaben !) käme es immer zu einem »gewissen Maß von Richtungslosigkeit, das berüchtigte ›Auseinanderregieren‹«, analysierte Seipel einmal.438 Insofern kam jede sozialdemokratische Herausforderung gelegen. Freilich : Es handelte sich bei der parlamentarischen Obstruktion der Linken, bei ihren ständigen Drohungen mit dem »Zorn der Massen«, auch nicht um Phantom-Schmerzen, die nur der Fantasie von Scharfmachern auf der Rechten entsprungen waren. Die Heimwehren, die sich nach dem 15. Juli so wirkungsvoll in Szene gesetzt hatten, kamen Seipel dabei gerade recht, um den Druck auf die Sozialdemokratie zu erhöhen und deren Rückzug in eine Flucht ausarten zu lassen. Am Ende mochte eine Parteispaltung stehen oder zumindest eine beträchtliche Reduktion der Stellung, wie
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sie die Sozialdemokratie seit den Umsturztagen in der Realverfassung Österreichs einnahm. Es »war gut, diese [die Heimwehren] zu haben und zu fördern. Denn die Sozialdemokraten fürchten diese Bewegung«, resümierte Seipel nach dem Parteitag im Herbst. Eine innere Abrüstung in diesem Augenblick sei er deshalb momentan selbst »als alter Pazifist« bereit abzulehnen.439 Die Rationale dafür lautete : Wenn »die Straße« in der Politik schon Argument sei, dann dürfe sie kein Monopol der Sozialdemokratie sein. Gerade in diesem Punkt lässt sich ein deutliches Umdenken Seipels im Laufe des Jahres 1927 dokumentieren. Die Heimwehren waren ja schon des Längeren begierig, aus ihrer Rolle als »freiwillige Feuerwehren« herauszutreten und politisch eine Rolle zu spielen. Sie hätten auf ein Stichwort des Kanzlers liebend gern schon früher reagiert. Doch bislang warteten sie vergeblich. Steidle als 1. Bundesführer der Heimwehren hatte schon im Herbst 1926 auf Seipel gesetzt – und Mataja gebeten, dafür den Boden vorzubereiten ; doch offenbar ohne Erfolg. In einer großangelegten Rede in den Innsbrucker Stadtsälen, eine Woche nach Seipels Amtsantritt, hatte er offenbar über das Ziel hinausgeschossen. Seine Philippika gegen »die muffige Atmosphäre der Nachgiebigkeit und Feigheit«, die im Schiller-Zitat ausklang : »Freunde, jetzt ist es Zeit zu lärmen !«, stieß nicht auf die gewünschte Resonanz. Noch im Februar 1927 hatte Steidle deshalb lamentiert : »Wir haben weder Geld, noch auch die Presse zur Verfügung, […] da sowohl die Industriellen, als auch die Presse nur einer Weisung Seipels gehorcht.«440 Ein halbes Jahr später hatte Seipel seine Meinung offenbar revidiert. Am 22. September vergatterte er seine Landeshauptleute darauf, »die Heimwehren noch viel mehr zu fördern als bisher, auch dort, wo man bisher abseits gestanden ist«, vier Tage später verzeichnet sein Tagebuch eine Besprechung mit den Bankdirektoren über Heimwehren und »Technische Nothilfe«. Seinen reichsdeutschen Kollegen Marx und Stresemann erklärte er bereits im November, er könne für die Heimwehren bürgen, denn »er selbst habe die Fäden dieser Bewegung nach und nach in die Hände bekommen«.441 Voraussetzung für jede Unterstützung war freilich, dass sich die Heimwehren ins Konzepts des Kanzlers einbauen ließen – und dass sie bundesweit zu einem einheitlichen Auftreten fanden, denn mit den Tirolern und Kärntnern allein war in der »Ostzone« wenig Staat zu machen. Anders als es die politische Farbenlehre nahelegte, setzte Seipel den Hebel nicht bei seinem Parteifreund Steidle an, sondern bei den Steirern. In einer Aussprache mit dem Hauptverband der Industrie und dem Obersteirischen Stahlwerksverband deponierte Seipel im Oktober 1927 seine Wünsche und Bedingungen. Alpine-Chef Apold notierte : »S.[eipel] teilte uns mit, daß nach seinen Informationen zwischen S.S. [sprich Steidles Verband] und HW [den Steirern] noch immer eine Spaltung bestehe. S. bemerkt, daß die H.W.-Führer sich bei ihren agitatorischen Reden auf das politische Gebiet begeben. Wir sagten zu, in beiden Punkten eine Untersuchung anzustellen und die Übelstände aus der Welt
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zu schaffen.«442 Die Industrie sagte den Heimwehren eine Förderung von 20.000 S pro Monat zu, außerdem als Einmalerlag für Ausrüstungszwecke bzw. als »eiserne Reserve« weitere Beträge von nicht ganz einer halben Million S. Im Gegenzug versprachen die Heimwehr-Capos ihre lästigen Eifersüchteleien zu begraben : Steidle und Pfrimer hoben ein Doppelkönigtum der Heimwehren aus der Taufe, mit einem leichten Ehrenvorrang Steidles.443 Die Heimwehren waren »christlich-national«, vereinten Anhänger beider Lager in ihren Reihen und wollten sich doch von beiden Parteien emanzipieren. Gegenüber den heiligen Kühen der Weltanschauungsparteien legten sie eine seltsame Unvoreingenommenheit an den Tag : Ob Anschluss oder Restauration, Antisemitismus oder nicht – all diese Fahnenfragen sollten zurückgestellt, bis man im eigenen Land endlich Ordnung geschaffen habe. Die Distanz zu den Parteien spiegelte sich auch in den Personen, die als Bindeglied zwischen dem Kanzler, der Industrie und den Heimwehr-Capos in der Provinz fungierten. Die geschäftlichen Details regelten zwei Persönlichkeiten des ancien regime : Sektionschef Robert Ehrhart als geschäftsführender Vizepräsident des Hauptverbandes der Industrie, ein alter kaiserlicher Beamter, und Major Waldemar Pabst als Stabschef Steidles, ein königlich preußischer Gardeoffizier von sanguinischem Temperament, der sich in den Freikorps und beim Kapp-Putsch seine Sporen verdient hatte, aber nach Innsbruck ausgewichen war, seit ihm der Boden im Reich zu heiß geworden war. (Ihm wurde immer wieder eine Verwicklung in den Mord an Rosa Luxemburg nachgesagt.)444 Als wichtigste Relaisstation zwischen den Wiener Herren und der Basis in der neuralgischen Region Obersteiermark aber fungierte zweifellos Generaldirektor Anton Apold, als Chef des größten österreichischen Konzerns der Privatindustrie. Apolds engster Mitstreiter im Stahlwerksverband war vermutlich Philipp v. Schoeller ; unter den politischen Eliten der Obersteiermark der großdeutsche Abgeordnete Iring Grailer (der 1930 dann zum Heimatblock wechselte). Das mittlere Management des Konzerns, Felix Busson oder Josef Oberegger (der Apold dann in den Dreißigerjahren als Generaldirektor verdrängen sollte), half ab Mai 1928 im Namen der Heimwehren auch die »Unabhängige Gewerkschaft« (UG) ins Leben zu rufen, die von den Hochöfen in Donawitz aus den freigewerkschaftlichen Metallern den Kampf ansagte. Diesmal waren es die Sozialdemokraten, die von »Betriebsterror« sprachen. Das Ergebnis war zwiespältig : Die UG errang in vielen Betrieben der Branche bald ein Drittel bis die Hälfte der Stimmen (so z. B. auch bei Industriellenpräsident Urban in Neunkirchen), doch selten mehr. Fazit : Was immer auch für Überredungskünste der einen oder anderen Seite im Spiel waren, Widerstand war ganz offensichtlich möglich. Selbst im Bereich der Alpine waren da ganz unterschiedliche Resultate zu verzeichnen : Im Bergbau (z. B. am Erzberg oder in Köflach) waren 1930 meist noch rote Mehrheiten zu verzeichnen, in den Hüttenwerken (Donawitz oder Zeltweg) hatte die UG die Nase vorne.445
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Apold hatte schon länger eine energischere Politik der Industrie gefordert und Urban vorgeworfen, seine Stellung gegenüber der Regierung zu wenig zur Geltung zu bringen.446 Als politische Berater Apolds und als häufige Teilnehmer an gemeinsamen Gesprächsrunden verzeichnet sein Tagebuch zwei wohlwollende Begleiter (die Italiener hätten gesagt : »fianchegiattori«) der Einheitsliste, die nicht so recht zu dem strikt nationalen Kurs passen, wie er üblicherweise mit dem Steirischen Heimatschutz assoziiert wird, nämlich Max Friedmann als politischen Kopf des liberalen Wiener Großbürgertums und den Gesandten Friedrich v. Wiesner als politischen Referenten des »Reichsbundes der Österreicher«, des nach außen hin unpolitischen Vereins der österreichischen Legitimisten.447 Beide Herren waren gut vernetzt, aber keine großen Anhänger der bestehenden Parteien. Man wird nicht fehlgehen, in diesem Zirkel auch einen der Ursprünge des Heimatblocks zu erblicken, der Vorstellung von der Heimwehr als eigener Partei. Anregungen, die Heimwehr und ihre Anhänger doch einfach in die großdeutsche Partei zu überführen, lehnte Apold jedenfalls strikt ab.448 Otto Bauer hatte 1922 geschrieben, die österreichische Bürgertum habe sich unter den Schutz des Auslandes geflüchtet, am Linzer Parteitag dann das Szenarium von möglichen Konspirationen mit auswärtigen Faktoren angesprochen. Damit war er seiner Zeit nur ein klein wenig voraus. Die Heimwehren knüpften tatsächlich zarte Bande zu bestimmten Nachbarn. 1922 war Österreich für »das Ausland«, für Beneš und Poincaré, interessant als »missing link« zwischen der Tschechoslowakei und Jugoslawien, das zumindest nicht in die Hände irgendwelcher Gegner der Kleinen Entente fallen sollte. 1927/28 wurde Österreich in dem Moment interessant als »missing link« zwischen Italien und Ungarn, Mussolini und Bethlen, sobald sich die Beziehungen Roms zu Belgrad dramatisch verschlechterten. Jugoslawien war den Italienern zu Lande kaum unterlegen, Verbündete im Rücken des Gegners daher besonders willkommen. Die österreichische Linke war weder dem Faschismus noch dem Horthy-Regime gewogen. Mussolini traute nach einschlägigen Kontroversen über Südtirol aber auch Seipel nicht. Diese Konstellation bot Anlass genug, sich in Österreich eine eigene Lobby zu züchten. Nun hatte auch der gebürtige Südtiroler Steidle noch wenige Jahre zuvor angelegentlich den Kontakt zu Jugoslawien gesucht : »Warum gerade wir Tiroler mit den Jugoslawen Beziehungen anknüpfen möchten«, werde doch jedem wohl klar sein.449 Inzwischen hatte er sich zu einer distanzierteren Haltung durchgerungen. Südtirol, die Monarchie und der Antisemitismus seien drei Themen, über die man besser nicht rede. Während die italienische Diplomatie noch gewisse Vorbehalte hegte und gegenüber den Heimwehren auf Distanz ging, räumten die Ungarn als ehrliche Makler die Stolpersteine aus dem Weg. Im August 1928 erhielt Steidle den ersten Scheck über 600.000 S.450 Wozu benötigte Steidle das viele Geld ? Die Heimwehren waren bisher in erster Linie ein inneralpines Phänomen. Sie traten jetzt den »Marsch auf Wien« an, in
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organisatorischer Beziehung zumindest. Es ging um den Aufbau und den Ausbau der Heimwehren im dichter besiedelten Flachland. In Oberösterreich fand sich dafür mit dem jungen Fürsten Ernst Rüdiger Starhemberg ein Mäzen, der gut eine Million S eigenen Geldes in seine »Jägerbataillone« investierte. In Niederösterreich hatte Landeshauptmann Buresch nach dem 15. Juli noch wegwerfend geurteilt : Die Heimwehren seien bunt zusammengewürfelt ; auf so etwas sei kein Verlass. Seipel allerdings witterte auch hier einen Umschwung : In Niederösterreich gäbe es »seit den Juliereignissen eine Neigung, die Heimwehr zu unterstützen, die früher nicht vorhanden war«.451 Die Südbahnstrecke entlang arbeitete sich Pfrimer gegen Wien vor, von Westen her der neue Landesführer, der frischgebackene St. Pöltener NR Julius Raab. Die neu aufgestellten Einheiten benötigten Uniformen und Ausrüstung ; die häufigen Aufmärsche kosteten viel Geld, weil man den Großteil der Strecke ja doch nicht per pedes zurücklegte, sondern per Bahn. Auch die spektakulärste Aktion des Jahres 1928 war in Niederösterreich angesiedelt, der Heimwehr-Aufmarsch in der damals noch größten Stadt des Landes, der »roten« Hochburg Wiener Neustadt am 7. Oktober. Die Heimwehren (und ihre auswärtigen Förderer) erhofften sich von dem Aufmarsch einen Zusammenstoß, der zu einem politischen Umschwung führen könnte. Otto Bauer durchschaute diese Strategie : Denn »nur auf diesem Wege können sie fortwährend vom Bolschewismus reden und die Heimwehrbewegung lebendig erhalten. Demgegenüber müssen wir die Politik machen, es auf keinen Fall zu derlei kommen zu lassen.«452 Auch Landeshauptmann Buresch und die Bauernbündler fürchteten einen solchen Zusammenstoß und hätte den Aufmarsch am liebsten abgesagt oder verboten. Selbst der Industrie war zum Schluss nicht ganz wohl bei der Sache. Doch Seipel war zu keinem Rückzieher bereit. Die Sozialdemokraten hätten »die Straße« früher als ihr Privileg betrachtet, argumentierte er ; jetzt wollten sie das Bundesgebiet in verschiedenfärbige Rayons aufteilen. Die Heimwehren dürften in Innsbruck paradieren, aber nicht in Wiener Neustadt. Diese Form von »no go areas« sei für die Regierung nicht akzeptabel. Man dürfe das Vaterland nicht in »einander fremde Gebiete zerlegen«. Daher hätten die Heimwehren »nicht ganz unrecht, wenn sie in einem friedlichen Aufmarsch auch einmal in die Industriegegend kommen wollen, um zu zeigen, daß sie da sind.«453 Der Zeitpunkt für eine Abrüstung sei noch nicht gekommen. Die Heimwehren müssten »sich noch geraume Zeit weiter betätigen, um die Sozialdemokraten in Schach zu halten«. Der Aufmarsch fand statt, die sozialdemokratische Gegendemonstration ebenfalls : Schwerbewaffnete Bundesheereinheiten trennten die Marschierer beider Seiten. Der angesagte Bürgerkrieg brach nicht aus, Seipel sah die Autorität des Staates als klaren Sieger.454
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Seipels taktischer Rückzug Im Herbst, nach Wiener Neustadt, erweiterte sich die Themenpalette aus aktuellem Anlass. Der Bundespräsident musste neu gewählt werden. An die Stelle von Hainisch, der sich bei den Christlichsozialen angeblich missliebig gemacht hatte, weil er nicht an der Fronleichnamsprozession teilnahm, trat mit Miklas ein »Klerikaler«, der 1918 im Staatsrat gegen die Republik gestimmt hatte. Den Sozialdemokraten war es in erster Linie darum zu tun, eine Wahl Seipels verhindern. Danneberg hätten am liebsten Hainisch verlängert, doch nur für eine ganze Periode, nicht als bloßen Platzhalter auf Abruf ; schließlich ermöglichte man die Wahl Miklasʼ als kleineres Übel, den man als »persönlich achtbaren Klerikalen« der »provokanten Kandidatur Schobers« durch die Großdeutschen vorzog.455 Seipel schlug vor, die Wahl mit einer Verfassungsnovelle zu kombinieren : Der Präsident sollte direkt vom Volk gewählt werden und das Recht erhalten, die Regierung zu ernennen und gegebenenfalls Neuwahlen auszuschreiben. Allenfalls konnte man dabei auch die Rechte der zweiten Kammer ausbauen und das Institut der Volksabstimmung in der Verfassung verankern, das 1921 liegen geblieben war.456 Derlei Ideen wurden seit Jahr und Tag immer wieder diskutiert. Seipel trug sie kurz darauf auch dem christlichsozialen Parteitag vor. Seine Rede war nicht auf die Wohlfühlstimmung berechnet, die Regierungschefs oft so am Herzen liegt, sondern sollte das Krisenbewusstsein schärfen : »Der Zustand schaut schöner aus als er gut ist.«457 Mit einer Verfassungsnovelle dieser Art würde Österreich seinen Charakter als konstitutioneller Sonderfall einbüßen und zum europäischen Standard a ufschließen. Freilich : Zum Unterschied vom Mieterschutz oder vom Monopolanspruch der freien Gewerkschaften waren damit keine konkreten gesellschaftlichen Probleme oder Missstände angesprochen. An der Realverfassung des Landes änderte sich wenig, selbst wenn die Österreicher tatsächlich einen alten kaiserlichen General als Staatsoberhaupt auf den Schild hoben (was sie 1951 dann auch taten, bloß war es der sozialistische Kandidat Theodor Körner, der Wert darauf legte, er habe es in der Monarchie nur bis zum Oberst gebracht). Seipel schrieb im Jahr darauf einmal, er halte eine Verfassungsnovelle »für durchaus notwendig, ohne daß ich allzu viel auf die Einzelheiten und Formulierungen hielte, da ich überhaupt auf den Buchstaben des Gesetzes nichts gebe«. Was er an der österreichischen Realverfassung tatsächlich ändern wollte, hatte er auf dem Parteitag so verklausuliert : Man müsse dem »Überwuchern von halboffiziellen Körperschaften und Zwangsorganisationen aller Art« entgegentreten.458 Dahinter stand die Kritik an der Parteiendemokratie, an der Lagerstruktur, dem Listenwahlrecht etc., wie Seipel sie 1929/30 dann in mehreren großen Reden immer deutlicher ausformulieren sollte. Kritik an der Parteiendemokratie – vonseiten des Obmanns der immer noch stärksten Partei des Landes ? Einen Einblick in seine Überlegungen hatte Seipel schon
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im Frühjahr gewährt, als Mataja ihm von der perfekten Organisation der Sozial demokraten in Wien vorschwärmte, der die bürgerliche Seite gegenüberstehe wie »ein Kind einem Athleten«. Die Sozialdemokratische Partei »schleicht sich an das Individuum heran als Produzent, als Konsument, als Vater, als Tourist, als Radfahrer, sie nähert sich ihm als Gewerkschaft, als Rechtsschutz, als Berufsberatungsstelle, Turnverein« etc. Seipel entgegnete – und darin lag mehr als nur die sprichwörtlichen sauren Trauben : »Ist eine solche Erfassung des Individuums durch eine Partei vom Standpunkt des Staates und der Gesellschaft überhaupt erträglich ? […] Selbst wenn wir das Geld und die organisatorischen Genies hätten, stünden wir doch bald vor inneren Hemmnissen. […] Wir können nicht den ganzen Menschen parteimäßig erfassen, weil wir es nicht dürfen.«459 Die Unzufriedenheit des Kanzlers mit den Parteien kam nicht von ungefähr. Denn das Schicksal des »Auseinanderregierens« hatte unzweifelhaft auch die Regierung Seipel erfasst. Bei allem Respekt, ihre konkreten Erfolge waren überschaubar. Gut, die Konjunktur entwickelte sich in diesen beiden Jahren von 1927 bis 1929 besser als je zuvor. Doch Seipel wäre wohl der letzte gewesen, sich an derlei flüchtigen Kriterien messen zu lassen. Der Wähler, so schrieb er später einmal, honoriere nur »sogenannte reine Politik«, keine noch so schöne Abgabenteilung, allenfalls noch – wie pikanterweise gerade der Architekt der Genfer Sanierung abfällig zugab – Anleihen. Denn leider sei das Schuldenmachen »die einzige dem Volk imponierende wirtschaftliche Leistung«.460 Die Vorhaben hingegen, mit denen er angetreten war, waren allesamt noch nicht ausgereift. Die sozialistische Abkehr von der Obstruktion war nicht über jeden Zweifel erhaben. Ein gewisser Schatten lag weiterhin über der Gesetzgebungsmaschinerie. Moritz Benedikt (jun.), der Herausgeber der »Neuen Freien Presse«, lästerte abfällig, auch Seipel »packelt fest mit den Roten« ; den Landeshauptleuten erklärte der Kanzler im Februar, es sei keineswegs so, »dass die Opposition gezwungen werden könne, eine Vorlage der Regierung rasch zu erledigen«.461 Vonseiten der Sozialdemokratie hörte sich das so an : Zur Obstruktion werde man wohl wieder einmal greifen müssen, sie ließe sich aber »unter den heutigen Verhältnissen« nur mehr rechtfertigen mit der Forderung nach Neuwahlen, gestützt auf ein populäres Programm.462 Über den Mieterschutz begann sich erst langsam im Rahmen der Regierungsparteien ein Konsens abzuzeichnen. Sicherlich, die Großdeutschen waren eine, was heißt : Sie waren die bürgerliche Partei, die selbstverständlich auf das Eigentum schwor ; aber höhere Mieten konnte man ihren Beamten auch nicht so mir nichts dir nichts zumuten. Bezeichnend war auch die Haltung der Industrie, die sonst gerne die Zaghaftigkeit der bürgerlichen Regierungen beklagte. Baron Ehrhart sprach sich – bei allem Sympathie, selbstverständlich – gegen eine Reform aus, die »sofort auf der ganzen Linie« ihre Wirkungen zeitigte ; man solle bloß Wohnungen, die nach einem gewissen Stichtag frei würden, davon ausnehmen. So werde sich das Problem früher
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oder später von alleine lösen, der Mieterschutz »sukzessive abgebaut« werden, jetzt aber keine großen Probleme verursachen.463 Im Herbst 1928 war es zumindest zur ersten Lesung des Entwurfes gekommen ; das zweite Sorgenkind, das Antiterrorgesetz, war noch nicht einmal so weit. Schließlich, der Lohn all der Mühen, der Aufbruch ins gelobte Land der Prosperität, die Investitionsanleihe : Zwar war Seipel, wie wir gesehen haben, gar kein so unbedingter Befürworter von Anleihen. Aber Österreich hatte 1927 die Reste der Genfer Anleihe verbraucht. Jetzt war zur Fortsetzung der Arbeiten – z. B. bei der Bundesbahn, oder besser : vor allem bei der Bundesbahn, ob sie jetzt als selbstständiger Wirtschaftskörper galt oder nicht – eine »normale« Anleihe wünschenswert, normal, sprich : ohne Garantie besorgter Großmächte und Nachbarn, ohne Vormund. Der Haken war bloß : Wie bei der Genfer Anleihe ging es auch diesmal wieder um die Hürde des Generalpfandrechts. Da machte auch niemand Schwierigkeiten, bis auf Italien, das in und mit Österreich gewisse politische Absichten verfolgte. Im Frühjahr 1928 war es zu einer Kontroverse über Südtirol gekommen, die Mussolini den gegebenen Anlass lieferte, mit seiner Zustimmung zu zögern. Die Tiroler riskierten so manche vorlaute Bemerkung, im Sommer wurde in Innsbruck öffentlich eine italienische Fahne zerrissen. Fazit : »Mussolini lässt uns weiter dunsten.« Ein halbes Jahr später erklärte er fröhlich, die Österreicher sollten froh sein, dass er ihnen diese Bürde erspart habe, denn augenblicklich sei das Zinsniveau ohnehin zu hoch. Diese italienische Blockade ergab im Lichte der Tatsache, dass der Duce und der Monsignore in der Heimwehr über ein gemeinsames Patenkind verfügten, eine durchaus pikante Situation.464 Die Kehrseite der ausbleibenden Erfolge waren die Reibungsverluste, die sich in der Koalition zunehmend bemerkbar machten : Man konnte nicht jahrelang vom Nimbus der überstandenen Gefahren im Juli 1927 leben. Die ersten Spannungen entluden sich im Frühjahr 1928 über die nächste Runde im Dauerbrenner Föderalismusstreit : Die Länder verlangten eine Revision des Finanzausgleichs, Kienböck eine gesetzliche Kontrolle des Bundes über die Länderfinanzen. Für ihn war es »unerträglich, daß wirtschaftlich in den einzelnen Ländern ganz unterschiedlich gearbeitet werde«. Doch nur die Burgenländer erklärten sich mit seinen Vorschlägen einverstanden ; die Vorarlberger klagten, dass in Österreich die Länderautonomie immer mehr zu einer Fiktion verkomme. Besondere Empörung löste das Eingeständnis Kienböcks aus, dass es »dermalen nicht möglich sei, eine solche Kontrolle auch auf Wien auszudehnen«.465 Es wurde in der Presse schon spekuliert, die Sozial demokraten wollten die Länderfronde nach bewährtem Muster als »Sturmbock« gegen Seipel benutzen. In dem Zusammenhang fiel auf, dass sich die steirischen Sozialdemokraten im April 1928 nach monatelanger Obstruktion plötzlich mit der Wiederwahl Rintelens zum Landeshauptmann einverstanden erklärten (gegen den Wunsch der Wiener Parteileitung übrigens, was gegen allzu ausufernde Verschwö-
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rungstheorien spricht). Im Herbst kam dann schließlich ein Kompromiss zustande : Die Länder erhielten auf Kosten Wiens ein paar Millionen mehr und ergaben sich in ihr Schicksal. Die Sozialdemokraten reagierten verächtlich mit der Schlagzeile : »Für 5 Millionen die Länderautonomie verkauft.«466 Derlei Spannungen innerhalb der »Schwarzen« beobachtete der Koalitionspartner voller Schadenfreude erste Reihe fußfrei : Klammheimlich kam da zuweilen sogar Sympathie für Kienböck auf. Doch gegen das Schicksal, auf Dauer als »Wurmfortsatz« der Christlichsozialen ihr Leben zu fristen, bäumten sich bei den Großdeutschen keineswegs nur die üblichen Verdächtigen unter den Beamtengewerkschaftern auf. Offenkundig wurde diese Stimmung, als der großdeutsche Parlamentsklub im Juni 1928 Vizekanzler Dinghofer das Misstrauen aussprach. Der Anlass war eine juristische Quisquilie : Dinghofer deckte als Justizminister die Entscheidung seiner Beamten, den Revolutionsführer Bela Kun, der in Österreich aufgegriffen worden war, nicht nach Ungarn auszuliefern, sondern in die Sowjetunion abzuschieben. Doch dahinter stand das Unbehagen mit der Koalition. Gerade weil die Sozialdemokraten am Rückzug begriffen waren, schien bürgerliche Solidarität nicht mehr so notwendig. Im Jänner 1929 stimmten die Großdeutschen in einer Resolution zum Eherecht erstmals seit Langem sogar wiederum mit den Sozialdemokraten. All diesen Emanzipationsbestrebungen stand nur eine Hürde im Wege. Wie stand es – ohne Einheitsliste – um die Grundmandatshürde ? Dinghofer hatte recht, wenn er eine Wahlreform als »politische Existenzfrage« für die Partei bezeichnete.467 Der Landbund schließlich blieb seinem Ruf als Standespartei treu und erhob Forderungen, die bei vielen Christlichsozialen auf Resonanz stießen, bei den Wählern zumindest, weniger bei den Funktionären, die empört fragten, warum man sich denn von einer 6-%-Partei vorführen lassen musste. Die Agitation des Landbundes sei »unerträglich«, war auf dem christlichsozialen Parteitag zu hören. Auf alle Fälle verschärfte sie die Konflikte innerhalb der Weltanschauungs-, Sammel- und Integrationspartei, wie sie die Christlichsozialen nun einmal waren. Landwirtschaftsminister Thaler konnte sich im Kabinett Seipel gegen die Phalanx seiner – mit Ausnahme Hartlebs – allesamt städtischen Kollegen nicht durchsetzen. Das Thema des Jahres wurde unter dem Schlagwort bekannt, »das polnische Schwein reiten«. Es ging um die Einschränkung der Einfuhr auf dem Wiener Markt. Wien war verkehrsmäßig so exzentrisch gelegen, dass es seinen Bedarf fast nur aus dem Ausland deckte. Langsam erreichten die Forderungen des Landbundes ultimativen Charakter. Die AZ goss Öl in die Flammen, als sie im Jänner 1929 eine Karikatur veröffentlichte : »Der Sieger.« Vizekanzler Hartleb, das polnische Schwein reitend, im Stile eines altrömischen Triumphzuges Seipel (in Soutane) und den großdeutschen Parteiobmann Wotawa (mit Germanenhelm) als Geschlagene nach sich ziehend. Der Landbund war offiziell empört – und dabei doch sehr stolz auf seinen Erfolg : Seine Blätter druckten die Zeichnung prompt nach.468
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Um den Reigen voll zu machen : Um Hartlebs Nimbus als Anwalt der Bauernschaft zu untergraben, hatten »schwarze« Bauernbündler dem Vizekanzler vorgeworfen, er wolle Österreich in ein »zweites Mexiko« verwandeln, wo Moral und Sitte verkämen – weil er als Vizekanzler bekanntlich dazu bestimmt war, die Ehedispense für die Geschiedenen zu unterzeichnen. Hartleb reagierte unwirsch, er lasse sich da nicht zum Buhmann machen und verweigerte in Zukunft seine Unterschrift. Die Großdeutschen warfen ihm daraufhin Wortbruch vor : Sie hätten Hartleb den Posten des Vizekanzlers nur überlassen, unter der Bedingung, dass er diese Dispense unterschreibe. Landbund-Klubobmann Schönbauer holte zu einer Replik aus, der Landbund sei eben nicht freisinnig, sondern national-konservativ, eine Retourkutsche, die wiederum manchen Steirern zu weit ging. All diese Sticheleien waren keine allzu explosiven Sprengsätze, sondern Reibungsverluste gewöhnlicher Natur, aber in ihrer kumulativen Wirkung vielleicht doch mehr als nur lästig, ein Symptom des »Auseinanderregierens« eben.469 Wiederum wartete Seipel, wie schon 1924, nicht ab, bis sich die Gewitterwolken allzu sehr verdichteten. Zweieinhalb Jahre, so lässt sich konstatieren, betrug die Halbwärtszeit seiner Ministerien. Das war immer noch weit mehr als jeder andere geschafft hatte, wenn auch kurz nach dem Maßstab der 2. Republik, die in einer sprichwörtlich schnelllebigen Zeit viel mehr Geduld mit ihren Kanzlern aufbringt. Seipels Stellung in Partei und Regierung war im Frühjahr 1929 noch keineswegs gefährdet. Seine Kritiker bildeten keine einheitliche Fronde. Aber seine Erfolgsaussichten standen unter dem Gesetz der abnehmenden Erträge. Es klang plausibel, wenn man seinem Rücktritt das Kalkül unterlegte, seine Gegner sollten sich verbrauchen und diskreditieren, bevor sie ihm tatsächlich gefährlich werden konnten. Aus mehr oder weniger heiterem Himmel kündigte Seipel deshalb zu Ostern 1929 seinen Rücktritt an. Dafür war ein äußerer Anlass gegeben, der mit der geplanten Reform des Mieterschutzes zusammenhing. Seipel hatte die Heimwehren aufgerüstet, aber den Gesprächsfaden zur Opposition nicht abreißen lassen. Über die prinzipielle Notwendigkeit einer Reform waren sich unter vier Augen schließlich auch Seitz und Bauer im Klaren.470 Die Sozialdemokratie wollte dafür allerdings eine Aufstockung der Wohnbauförderung und die Beibehaltung des Anforderungsgesetzes eintauschen. Darüber hinaus bestanden die Sozialdemokraten darauf, die Reform des Mieterschutzes dürfe nicht in Kraft treten, bevor sie nicht in einer Nationalratswahl oder durch eine Volksabstimmung bestätigt worden war, sprich : Man wollte das Thema noch einmal für sich arbeiten lassen. Interessanterweise hatte Seipel – gegen so manche Bedenken aus den eigenen Reihen – dem Handel zugestimmt ; auf der Gegenseite war beschlossen worden, Otto Bauer solle den Entwurf eines solchen Paktes vorläufig bloß als »persönliche Meinung« kundtun.471 Der Kompromiss in der Mietenfrage war für die bürgerliche Seite ein zweischneidiges Schwert : Die Chancen des Entwurfes bei einer Volksabstimmung wurden zu
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Abbildung 28 : Karikatur »Der Sieger« : Hartlebs handelspolitischer Triumphzug 1929
Recht pessimistisch beurteilt, als Wahlschlager eignete er sich erst recht nicht. Doch die Sozialdemokraten befreiten ihre Gegner bald von diesen Sorgen. In ihrem Klub kam es damals tatsächlich zu einer der klassischen Konfrontationen zwischen Renner und Bauer, der schon mit dem Rücktritt drohte, wenn die Partei die Verhandlungen unbedingt weiterführen wolle. Interne Meinungsäußerungen und äußerer Schein mussten da nicht immer übereinstimmen : Leuthner, der selbst gerade eine 29-stündige Obstruktionsrede im Wohnbauausschuss absolviert hatte, setzte sich besonders vehement für einen Kompromiss ein. Dahinter standen offenbar auch sachliche Differenzen über das Ausmaß der Reform. (In Zahlen : Sollten die Mieten jetzt auf das maximal 2700-fache, 3000-fache oder 4000-fache des »Friedenszinses« erhöht werden ? – Die volle Aufwertung hätte gelautet : das 14.400-fache ?) Als Vorwand für die Kündigung der Abmachungen musste schließlich eine Waffensuche im Keller des sozialdemokratischen »Vorwärts«-Verlages herhalten – die aber schon einige Wochen zurücklag.472 Die Nachricht von Seipels Rücktritt schlug ein wie eine Bombe. Die »Heimatschutz- Zeitung« grollte : »Wenn die Katze aus dem Haus ist, haben die Ratten Kirchtag.« In seinem Kommuniqué nahm der Kanzler auf die »inneren Spannungen« Bezug, die
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er jedoch als »Ausdruck der starken lebendigen Kräfte« würdigte, »die in unserem Volke wirksam sind«. Die »politische Lethargie« sei überwunden. Die »Einschüch terung und Gleichgültigkeit eines großen Teils der Bevölkerung besteht nicht mehr.« Man sei vielmehr an einem Punkt angekommen, von dem aus »ein bedeutsamer Ruck nach vorwärts getan werden kann, aber auch getan werden muß«.473 Begleitet wurde das Kommuniqué von einem ambivalenten on-dit. Wenn er für ein Arrangement mit den Sozialdemokraten ein Hindernis darstelle, sollten doch andere versuchen, ob sie mehr Erfolg hätten. Wenn auch auf diesem Wege kein Fortschritt zu erzielen wäre, dann müsse man freilich zu schärferen Maßnahmen greifen, für die er sich aber nicht eigne, wie er mit kokettem Understatement hinzufügte, weil man ihm als Priester keinen Staatsstreich zutraue. Die Marschroute schien vorgegeben : Entweder Kompromiss oder Kampf – ein Verständigungskabinett, im Falle des Scheiterns gefolgt von einem Kabinett der harten Hand.474
5. Der »Unabhängige mit der Kornblume« : Die Ära Schober 1929–1931 Das Verständigungskabinett Streeruwitz Die Regierungskrise dauerte mehrere Wochen. Nicht eine Koalition mit den Sozialdemokraten stand 1929 zur Debatte, aber ein informelles Abkommen über eine Arbeitsmehrheit. Die Christlichsozialen nominierten als Verhandlungsteam eine Fünfer-Riege, die allesamt als Seipel- oder zumindest als Kienböck-Kritiker galten, von Gürtler bis Fink. Schließlich kristallisierte sich eine Kombination mit einem Vorarlberger als Kanzlerkandidaten heraus, entweder dem Landeshauptmann Ender oder seinem Finanzreferenten Mittelberger, ein Vorschlag, der schließlich am Veto des Landbundes scheiterte. Interessant war, dass auf der Länderachse jetzt auch eine Kombination Rintelen-Ramek kolportiert wurde. Rintelen galt als Vertrauensmann der Heimwehren, die verlauten ließen, dass er ihnen als Kanzler sehr genehm wäre.475 Aber auch bei »Anatol«, wie Rintelen in Heimwehrkreisen genannt wurde, war nicht immer klar, auf welches Pferd er setzte. Für die Sozialdemokraten hingegen bestand der Lackmus-Test in der Ablöse Vaugoins als Heeresminister. Eine Zeit lang schien es, als ob die Christlichsozialen bereit wären, ihn fallen zu lassen, wenn die Sozialdemokraten dafür zu größeren Abstrichen beim Mieterschutz bereit waren. Der Handel passierte am 3. Mai relativ knapp, mit neun zu sechs Stimmen, den sozialdemokratischen Parteivorstand – und platzte schließlich doch noch. Denn Vaugoin blieb auf seinem Posten. Zurück blieb Donnergrollen : Man werde den Bürgerlichen schon zeigen, dass dieses Beharren auf Vaugoin »schwer bezahlt werden muß«.476 Vaugoin blieb also ; doch wer kam neu ? Kanzler wurde Ernst v. Streeruwitz, auf den ersten Blick ein nachgerade idealer Kandidat, weil er so viele Vorzüge in seiner
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Person vereinte, als politisches Pendant zur »eierlegenden Wollmilchsau« : Der gewandte Stilist mit seinem »geradezu französischen Esprit« war Direktor einer Textilfärberei in Neunkirchen und Vorstandsmitglied des Hauptverbandes der Industrie ; aber auch Abgeordneter »mit dem Revers des niederösterreichischen Bauernbundes«. 1923 war er als einer von drei Kandidaten der Industrie als Christlichsozialer ins Parlament gewählt worden, obwohl selbst Sohn und Schwager von deutschfreiheitlichen Abgeordneten aus dem Sudetenland. Im A und O der political correctness, dem Bekenntnis zum Anschluss, galt er als absolut verlässlich. Dazu war Streeruwitz außerdem noch alter Kavallerie-Offizier, von der Heimwehr eben erst ins Herz geschlossen, weil er im Nationalrat erstmals seit 1918 explizit Franz Joseph in Schutz genommen hatte.477 Herz, was willst du mehr ? Die Wiener Paladine Seipels verschwanden in der Versenkung : für Kienböck rückte der Alemanne Mittelberger nach ; für Schmitz der gebürtige Mährer Emme rich Czermak, Vizebürgermeister von Stockerau und seit 1927 Schuldirektor in Hollabrunn, wo eine ganze Reihe von »schwarzen« Spitzenpolitikern das Gymnasium absolviert hatte. Die Koalitionspartner, die im Banne Seipels standen, aber seiner »klerikalen« Umgebung misstrauten, konnten zufrieden sein. Das neue Kabinett verfügte über einen Koalitionsausschuß, der die Juniorpartner davor schützen sollte, durch einsame Entscheidungen des Kanzlers vor ein fait accompli gestellt zu werden. Man sagte den Großdeutschen sogar eine Wahlreform zu, die sie rechtzeitig der Sorge um das Grundmandat entheben sollte. Auch mit der »Lieblosigkeit gegenüber den Beamten« sollte gebrochen werden. Beim Landbund wurde Hartleb als Vizekanzler und Innenminister vom Bundesobmann abgelöst, dem ehemaligen Kärntner Landeshauptmann Vinzenz Schumy. Seipel widmete Hartleb den Nachruf, er sei durch seinen Bildungseifer »sehr bald zu überraschend selbständigen Urteilen auch seiner Partei gegenüber« gekommen ; Schumy bestätigte das Kompliment indirekt, wenn er schrieb, Hartleb habe sich mit dem gesamten Nationalratsklub verkracht.478 Die Regierung Streeruwitz erfüllte ihre Aufgabe : Der Stein des Anstoßes, die Reform des Mieterschutzes, ging klaglos über die Bühne, trotz Vaugoin und ohne irgendwelche komplizierten Formeln über den Zeitpunkt ihres Inkrafttretens. Dafür wurde auch die zweite solche Formel entschärft, die bei den Sozialdemokraten für solchen Widerwillen gesorgt hatte, nämlich der »Wohlstandsindex« bei der Altersversicherung der Arbeiter. Zum Missvergnügen von Streeruwitz’ Kollegen im Hauptverband der Industrie sollte der Termin ohne Bindung an irgendwelche ökonomischen Kriterien durch einfache Verordnung festgelegt werden, sprich : Die Sozialdemokratie konnte hoffen, bei nächstbester Gelegenheit diesen Erfolg nach Hause tragen, im Abtausch gegen irgendwelche Gefälligkeiten, die sie der Regierung erwies. Die Regierung Streeruwitz beging keine groben Fehler ; in ihrer Amtszeit platzten keine großen Skandale ; auch die Konjunktur brach (noch) nicht ein. Bloß im Hintergrund machte sich fernes Donnergrollen auf dem Bankensektor bemerkbar.
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Die Krise der Bodencreditanstalt warf ihre Schatten voraus. Die »Bankgewaltigen«, die – wie Streeruwitz schrieb – »während sie einerseits die Heimwehr unterstützten, andererseits deren Kundgebungen und Kampfansagen fürchteten«, nahmen es dem Kanzler übel, dass er ihnen keineswegs bereitwillig irgendwelche »Rettungsschirme« offerierte.479 Trotz dieser Erfolgsbilanz setzte bald ein Kesseltreiben gegen das »Verständigungskabinett« ein. Dahinter standen, wie Streeruwitz andeutet, zunächst einmal alle, die bei der Regierungsumbildung zu kurz gekommen waren, wie z. B. »die Meister im Abräumen«, das schwarz-grüne steirische Duo Rintelen und sein Landesrat Winkler vom Landbund, der sich Hoffnungen auf den Finanzminister gemacht hatte. Doch der Verweis auf derlei Hintertreppeneinflüsse allein greift zu kurz. Dahinter standen natürlich auch die Heimwehren, die Seipel nachtrauerten und beleidigt waren über ein Aufmarschverbot, für das Innenminister Schumy und Polizeipräsident Schober einander gegenseitig die Verantwortung zuschoben. Die Heimwehren nützten das Sommerloch zu einem »Marsch auf Wien«, der ohne jede Aufmärsche auskam : Mit einer Reihe von Massenveranstaltungen versuchten sie endlich auch in der Bundeshauptstadt Fuß zu fassen. Ihre Anhänger reimten nach der Melodie eines alten Kinderliedes : »Seitz, Du hast uns Wien gestohlen / Gib es wieder her / Sonst wird dich der Steidle holen / Mit der Heimatwehr.« Freilich : Neu daran war nicht die Polemik gegen das »rote Wien«, sondern die häufigen Seitenhiebe auf die bürgerliche Politik, auf Leute, die empfindlich seien wie höhere Töchter und immerzu Angst hätten. Die »Hauptaufgabe dieses Sommers«, so schärfte Steidle seinen Leuten ein, »ist die Loslösung von den bürgerlichen Parteien«.480 Die bürgerlichen Parteien standen vor einem Dilemma. Bei ihnen gab es seit jeher gewisse Vorbehalte gegen die Heimwehren : Im Osten mochten sie als Retter vor dem »Austro-Bolschewismus« über ein gewisses Renommee verfügen ; im Westen sah jede bürgerliche Partei in den Heimwehren ein trojanisches Pferd : Die Christlichsozialen wollten ihre Bauern nicht den freisinnigen Städtern ausliefern, die sich in der Heimwehr tummelten ; die Großdeutschen misstrauten dem monarchistischen Hintergrund des Adels, der im Rahmen der Heimwehren zunehmend eine größere Rolle spielte. Seipels Heilmittel war die Parole, das beste Mittel gegen alle feindlichen Unterwanderungsversuche sei immer noch, selbst mit möglichst starken Kräften in die Heimwehren hineinzugehen. Er empfahl eine gegenseitige Umarmungsstrategie. Seipel wollte die Heimwehren im Spiel halten, er wollte ihre Funktion nützen als Drohkulisse nicht bloß für die Sozialdemokraten, sondern als Antreiber und Klammer des Bürgerblocks. Er ließ bei Gelegenheit fallen, er brauche die Heimwehren auch »gegenüber meiner eigenen Majorität, um die Lust zur Koalition [mit den Sozialdemokraten] gegebenenfalls zurück zu dämmen.«481 Ein Einschwenken gegen die Heimwehren hätte für jede der bürgerlichen Parteien eine Zerreißprobe bedeutet. Sie hätte sie außerdem der Drohkulisse gegen
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die Sozialdemokraten beraubt, die sich in den letzten zwei Jahren so bewährt hatte. Innenminister Schumy formulierte es in einer der letzten Sitzungen des Kabinetts Streeruwitz ohne alle Umschweife : »Die Bewegung kann nicht so weitergehen, weil sie zu einem Eklat führt. Man zwingt uns, unseren Leuten gegenüberzutreten und Bundesgenossen der Sozialdemokraten zu werden. Oder wir müssen an die Seite der Heimwehrführer treten.« Den Ausweg aus diesem Dilemma sahen Vaugoin und Schumy in einer Doppelstrategie. Die Heimwehren müssten selbstverständlich nach einiger Zeit »in die normalen Schranken zurückgewiesen« werden, denn in einem »demokratischen Staat können wir das auf die Dauer nicht brauchen«. Vor der Hand aber seien sie eine Notwendigkeit, »um den Bürgerlichen überhaupt noch ein Ansehen zu geben«. Dabei ließen sich mit einigem Geschick vielleicht sogar zwei Fliegen auf einen Schlag treffen : Man konnte die Sozialdemokratie ins Bockshorn jagen und den Heimwehren den Wind aus den Segeln nehmen. Darum müsse man die Konjunktur ausnützen : »Hier heißt es herausholen, was überhaupt nur möglich ist. […] Wir haben nie mehr die Möglichkeit auf friedlichem Wege ein solches Maximum an grundlegenden Reformen durchzuführen wie jetzt, daher die allergrößte Beschleunigung.« Nach getaner Arbeit werde man dann, unter Einsatz der gestärkten Autorität des Staates, eine allgemeine Abrüstung durchführen können.482 Die Rechte nahm sich ein Beispiel an der Taktik der Linken zehn Jahre zuvor. Die bürgerliche Seite war 1929 genauso wenig begierig auf einen Putsch der Heimwehren wie die Sozialdemokraten 1919 auf einen bolschewistischen. Aber beide Seiten machten sich die latente Drohung zunutze : Das Gespenst des gewaltsamen Umsturzes, den sie für inopportun hielten, war immer noch gut genug, um ihre Gegner zu erpressen. Die Verfassung, die 1919/20 mit nur kosmetischen Retuschen nach sozialdemokratischen Vorstellungen übernommen worden war, sei zu reformieren. »Jetzt soll im Sturm genommen werden, was die bürgerlichen Parteien unter der Wucht des Umsturzes kopflos preisgegeben haben«, formulierte es ein Kritiker.483 In diesem Punkt waren sich die maßgeblichen Männer aller drei Regierungsparteien einig : Vizekanzler Schumy und Vaugoin genauso wie Franz Slama, der großdeutsche Justizminister aus Wels, der als Verbindungsmann zur Heimwehr galt. Natürlich : Um die beiden Alt-Kanzler, Seipel und Schober, kam man dabei nicht herum. Schober als Polizeipräsident profilierte sich bei jeder Gelegenheit als der Mann, der (allein) Ruhe und Ordnung verbürgen könne, durch »ungefragterweise abgegebene öffentliche Beruhigungsversuche, die ihm zu verbieten ich nicht für angemessen hielt«, wie Streeruwitz säuerlich kommentierte.484 Seipel lieferte das Stichwort aus der Ferne, als er in seiner Tübinger Rede vom 16. Juli, mit seiner »Kritik der Pseudodemokratie«, die Heimwehren pries als eine »starke Volksbewegung, welche die Demokratie von der Parteienherrschaft befreien will«. Das Manuskript hatte der Altkanzler schon ein paar Tage vorher an Steidle geschickt, versehen mit dem Zusatz, er erwarte sich »ein vernünftiges Echo«. Steidle griff das Stichwort
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sofort auf : »Das Fremdwort Demokratie wird je nach der Gegend, in der von ihm gesprochen wird, sehr verschieden übersetzt.« Es gehe um die »Wiederherstellung der wahren, unverfälschten und bodenständigen Demokratie« gegen die »Diktatur der unverantwortlichen Parteiinstanzen«.485 Als Auslöser, vielleicht besser : als Katalysator für den Kurswechsel musste der Zusammenstoß von St. Lorenzen herhalten. St. Lorenzen, eine bäuerliche Gemeinde unmittelbar neben den »roten« Hochburgen Bruck und Kapfenberg, hatte schon einmal für Schlagzeilen gesorgt, als Schauplatz von Rintelens »Fenstersturz« 1921. Diesmal war für den 18. August eine sozialdemokratische Veranstaltung ordnungsgemäß angemeldet worden ; die Heimwehr hatte ihre Gegenkundgebung abgesagt, war daraufhin höhnisch der Feigheit bezichtigt worden und beschloss, sich mit Masse bei der gegnerischen Versammlung einzufinden, als Ruhestörer, die ungeladen erschienen und den Platz mit in Beschlag nahmen. Der sozialdemokratische Hauptredner Koloman Wallisch wich daraufhin auf den Hauptplatz aus. Dort war die Kundgebung nicht angemeldet und wurde deshalb behördlich aufgelöst. Die Heimwehren drängten aus einer Seitengasse auf den Platz, als plötzlich die ersten Schüsse fielen. Julius Deutsch berichtete im Parteivorstand, Pfrimers Stabschef Rauter hätte den Schutzbündlern zehn Minuten Zeit zum Abzug eingeräumt, seine Leute dann aber doch schon früher angegriffen. Es kam zu einem längeren Feuerwechsel. An Opfern waren zwei tote Schutzbündler zu beklagen, doch von den über fünfzig Schwerverletzten waren die meisten Heimwehrmitglieder.486 Die Schlacht von St. Lorenzen stellt eine Ausnahme dar. Es gab vor dem Februar 1934 kein anderes Beispiel, dass mehrere Hundert bewaffnete Angehörige von Wehrverbänden, in Anwesenheit von hochrangigen Persönlichkeiten beider Lager, spontan aufeinander losgegangen wären. Man mag das aufgeladene Klima der Obersteiermark dafür verantwortlich machen oder Hitzköpfe wie Wallisch und Rauter. Es stellt sich freilich auch die Frage, ob hier bloß ein Vorwand gesucht wurde, um viel weiterreichende politische Pläne in Gang zu setzen. Der Verdacht richtete sich sofort auf Rintelen als den zuständigen Landeshauptmann, der es an den schuldigen Vorsichtsmaßregeln hatte fehlen lassen. Tatsächlich hatte sich Rintelen eine Woche zuvor bei den Italienern über den Kanzler beschwert, weil er zu sehr auf die Sozialisten höre ; das müsse früher oder später unweigerlich zu einem Konflikt zwischen Regierung und Heimwehr führen. Am 19. August tagte die Bundesführung der Heimwehren in Graz und erließ prompt einen Aufruf, der sehr nach einem Ultimatum klang : Man erwarte von der Staatsgewalt, dass sie unverzüglich alle nur denkbaren Schritte unternehme.487 Bereits am nächsten Tag, dem 20. August, erschien Rintelen frühmorgens in Wien bei Polizeipräsident Schober mit der Mitteilung, die Heimwehren planten eine bewaffnete Aktion, um in einem Aufwaschen Verfassungsänderung, Auflösung des Schutzbunds etc. zu erzwingen. Sie glaubten dabei, fest mit der Unterstützung von
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Polizei und Bundesheer rechnen zu können. Rintelen selbst teilte diese Annahme freilich nicht und suchte nach einem Ausweg, damit »der guten Sache nicht durch unüberlegte Schritte geschadet werde«. Schober beschied daraufhin am Nachmittag die Heimwehrführer zu sich und machte ihnen unmissverständlich klar, dass jede der von ihnen »in Aussicht genommenen Aktionen die Polizei zum sofortigen Eingreifen gegen die Heimwehren zwingen würde«, die mit dieser Methode »unfehlbar ein Fiasko« heraufbeschwören würden. Er habe die Möchtegern-Putschisten ordentlich ins Gebet genommen. Das Verhör endete mit dem Urteil : »Ich hätte die Pflicht, meine Herren, Sie sofort verhaften zu lassen. Ihr Plan ist jedoch so dumm, daß ich Sie von dem Vorwurf des Hochverrats freispreche.« So erzählte es Schober zumindest später gerne seinen Besuchern.488 Ganz so herablassend-schroff dürfte die Aussprache freilich nicht verlaufen sein. Denn Schober gelang es offenbar, seinen Gesprächspartnern einen Weg aufzuzeigen, wie sie ihren Forderungen zum Durchbruch verhelfen könnten, ohne derlei Risken einzugehen. Pfrimer zufolge habe Schober vielmehr versprochen, er betrachte sich als »Schrittmacher« (Steidle sprach vom »Treuhänder«) der Heimatschutzbewegung, die im Ausland durch die Marxisten verleumdet werde. »Es wird meine Aufgabe sein, diese Bewegung im Ausland zu akkreditieren und zu legalisieren.«489 Schober war bereit, selbst in den Ring zu steigen und wiederum das Kanzleramt zu übernehmen. Die Schilderhebung Schobers als Ergebnis der Unterredung wiederum spricht nicht unbedingt für Rintelen als macchiavellistischen Drahtzieher der St. Lorenzener Geschichte. Warum sollte er einen Eklat provozieren, bloß um Schober die tragende Rolle zuzuspielen ? Streeruwitz wurde von allen Seiten ganz offensichtlich bereits als abgetan betrach tet. Pfrimers Leib- und Magenblatt apostrophierte seine Regierung als das öster reichische Kabinett Facta (der italienische Premier, der 1922 Mussolini w eichen musste). Im sozialdemokratischen Parteivorstand hieß es bereits am Tag nach St. Lorenzen, eine Vorsprache bei Streeruwitz hätte keinen Sinn.490 Der Kanzler wollte von seinen Leuten nicht missverstanden werden : Er gab zu Protokoll, er sei »ein sehr schwerer Pessimist der Demokratie und ein sehr schwerer Reaktionär«. Aber er wollte seine Politik nicht auf dem Bluff mit einem möglichen Putsch aufbauen. »Geschwindigkeit und Ausdehnung« der geforderten Verfassungsreform gingen »nicht zusammen«. Auch »eine Erklärung über eine Zusammenarbeit mit den Heimwehren könne er nicht abgeben.« Der harte Kern seines Kabinetts war jedoch entschlossen, das Eisen zu schmieden, solange es heiß war und die Sozialdemokratie sich nicht sicher sein konnte, ob sich hinter all den vollmundigen Ankündigungen der Heimwehren nicht doch ein Zusammenspiel mit der Exekutive verbarg. Vaugoin gab zu bedenken : »Wenn wir jetzt gegen die Heimwehren vorgehen, helfen wir den Sozi aus ihrer prekären Lage.« Schober als »Unparteiischer« aber war das richtige Aushängeschild, um dem Manöver einen überparteilichen Anstrich zu verleihen.491
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Das Resultat war ein generelles Abrücken der bürgerlichen Parteien von »ihrer Regierung«, mehr noch : Eine gezielte Umarmungsstrategie gegenüber den Heimwehren. Der Landbund berief sich bereits am Wochenende nach St. Lorenzen im Deutsch-Feistritzer Programm auf das Schlagwort von der ständischen Verfassung und sprach von der Heimwehr als einem Bundesgenossen, der »mit dem Einsatz seiner moralischen Kraft unsere parlamentarischen Schritte wirksam unterstützen möge«. Die Großdeutschen begrüßten die Forderungen ebenfalls. Für die Christlich sozialen bezeichnete Vaugoin die Vorschläge Steidles zur Verfassungsreform zwar als »humoristische Schriften«, aber derlei despektierliche Äußerungen waren nur für den internen Gebrauch gedacht. Der niederösterreichische Bauernbund unter Reither – demselben Reither, der im Vorjahr den Wiener Neustädter Aufmarsch am liebsten verboten hätte – trat mit seinen 100.000 Mitgliedern Ende August korporativ den Heimwehren bei. Die Heimwehren sonnten sich im Ruhme, tatsächlich eine »unwiderstehliche Volksbewegung« zu werden – und fragten sich intern, ob all diese Unterstützung nicht als Unterwanderung gedacht war, als Verwässerung, frei nach Buresch, der zu dem landesüblichen Vergleich griff, ein Viertel Wein sei bei dieser Hitze ein zu starkes Getränk, mit ebensoviel Sodawasser aufgegossen aber sehr bekömmlich.492 Streeruwitz, vor ihm noch Finanzminister Mittelberger wichen dem Druck aus den eigenen Reihen. Es war aus diesem Anlass, dass Mittelberger an Ender schrieb : Es sei die Frage der Gegenwart : Wird die Partei mit Seipel die Richtung der Heimwehr bestimmen oder wird umgekehrt die Heimwehr die Richtung der Partei bestimmen ? Seine Schlussfolgerung lautete, bei aller Skepsis : »Kanzler muß einer sein, der nur ein getreuer Diener Seipels ist und ganz seinen Intentionen lebt. Das ist Streeruwitz nicht, Du bist es nicht und ich erst recht nicht. Es wird sich schon einer finden.« Seipel selbst kehrte erst am 18. September von einer Vortragsreise aus dem Deutschen Reich zurück. Seine Sorge galt bloß noch der Methode, die Ablöse Streeruwitz technisch perfekt abzuwickeln : »Auch einem Menschen, der an so vielen Regierungswechseln mitgewirkt hat, geht die Sorge nahe, den richtigen Moment zu erwischen und Tempo in die Sache zu bringen.«493 Die Heimwehren setzten sich gehörig in Szene, als Pabst im Parlament auftauchte und mit Ultimaten um sich warf. Schober – der sich nun allerdings nicht als allzu getreuer Diener Seipels entpuppte – wurde am 25. September 1929 zum Bundeskanzler gewählt und machte eine artige Verbeugung vor den Heimwehren : »Gerade in einem demokratischen Staatswesen kann und darf eine solche Bewegung als der Ausdruck der Stimmung weiter Kreise nicht übersehen werden.« Schober wird von den Heimwehren »ganz in Beschlag genommen«, war der vorherrschende Eindruck. Doch entgegen manchen Erwartungen wurde kein Exponent der Heimwehren ins Kabinett berufen (die Rede war von Baron Karl Arbesser gewesen). Es hieß, Schober wolle »keinen prominenten Heimwehrführer aufnehmen, doch sucht er jemanden,
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der bei den Heimwehren akkreditiert ist.« Die Troika Vaugoin-Schumy-Slama vertrat die Parteien (die Christlichsozialen behielten außerdem das Landwirtschaftsressort). Darüber hinaus umgab sich Schober mit zugkräftigen Namen, die sich innerhalb des Kabinetts nicht zufällig allesamt als getreue Claque entpuppten : Alt-Bundespräsident Hainisch wurde Handelsminister, der spätere Kardinal Theodor Innitzer Sozialminister. Als Unterrichtsminister schwankte Schober zwischen verschiedenen Größen der Wissenschaft, dem Arzt Baron Eiselsberg und den Historikern Dopsch oder Heinrich v. Srbik, der schließlich auch das Rennen machte. Die Finanzen übernahm mit Sektionschef Juch ein Beamter. Das Kabinett Schober wurde mit Vorschußlorbeeren empfangen wie kaum ein zweites. Die bürgerlichen Zeitungen, von der »Neuen Freien Presse« abwärts, jubelten. »Endlich eine Regierung, die wirklich eine Regierung ist«, hieß es im »Salzburger Volksblatt«.494 Seipel schrieb an Funder, er wolle Schober und den Seinen »freie Hand lassen«. Denn »wenn ich aktiv dabei bin, kann ich nicht eine untergeordnete Rolle spielen, schon einmal, weil es mir niemand glaubt. Daher würde ich stören, ob ich will oder nicht.« Er wählte den Vergleich mit der antiken Schlachtordnung : »Die principii, die Jungmannschaft der politisch unverbrauchten Wirtschaftspolitiker, hat versagt. Jetzt sind die bastati dran, die die langen Lanzen der Exekutive in Händen haben. Vielleicht braucht man aber doch auch noch die triarii.« Zu den Gegnern, die einer wirklichen Reform im Wege stünden, rechnete er jedenfalls von vornherein nicht bloß Sozialdemokraten und Heimwehr, sondern auch die »parlamentarischen Leitfossilien« der bürgerlichen Parteien.495 Schober wurde schließlich auch noch aus einer ganz anderen Richtung gebeten, das Kanzleramt zu übernehmen. Die Krise der Bodencreditanstalt (BCA) trat in ihr akutes Stadium. Später wurde oft behauptet, ihre Liquiditätskrise sei nicht zuletzt auf die Putschgerüchte zurückzuführen, die in Österreich seit Wochen umliefen. Hilfreich war die Strategie der Spannung zweifelsohne nicht ; allerdings : Von einer politisch motivierten Kapitalflucht hätten alle Banken gleichmäßig betroffen sein müssen. In erster Linie waren sehr wohl hausgemachte Faktoren für den Run auf die BCA verantwortlich. Bei ihr waren all die Fehler und Schwächen der Wiener Großbanken in geradezu klassischem Ausmaß zu diagnostizieren, von der altösterreichischen Großmannsucht bis zu den maroden Industriekonzernen. In der Tschecho slowakei waren der Bank gerade einige der besseren Kunden verloren gegangen ; Beneš und die Prager Zivnostenska Banka gerieten da umgehend in die Rolle des Bösewichts. Noch dazu wies die BCA von allen Instituten die engste Verbindung zur heimischen Politik auf (und hatte sich aus Gefälligkeit oder Hybris an der »Sanierung« unzähliger verkrachter Provinzbanken beteiligt). Doch selbst diese Verbindungen vermochten sie 1929 nicht mehr zu retten. Ihr umstrittener Präsident Rudolf Sieghart lamentierte : Er habe sich für die Christlichsozialen verblutet.496
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Eine der ersten Aktionen Schobers als Kanzler war deshalb die »Rettung« der BCA, sprich : ihre Fusion mit der Creditanstalt am Wochenende vom 6./7. Oktober 1929. Otto Bauer skizzierte im Parlament das melodramatische Szenarium : Das Schicksal der österreichischen Wirtschaft habe davon abgehangen, ob man Baron Louis Rothschild, der sich auf der Jagd befand, rechtzeitig irgendwo in seinen Wäldern aufspüren werde (denn die Direktoren der CA weigerten sich, allein die Verantwortung für den Deal zu übernehmen). Berühmt wurde das Wort, man habe Rothschild nicht bloß eine Pistole auf die Brust gesetzt, um ihn zur Übernahme der BCA zu überreden, sondern gleich ein Maschinengewehr. Nach außen hin stellte sich das Geschäft auf den ersten Blick als ein vorteilhaftes dar : Als vor Jahresfrist schon einmal über eine Übernahme verhandelt worden war, hatte die CA für jede BCA-Aktie noch siebenmal so viel geboten wie jetzt. Damals war die Fusion noch daran gescheitert, dass Rothschild um keinen Preis in der Welt seinen Rivalen Sieghart übernehmen wollte. Diese Notwendigkeit entfiel jetzt. An schwer verdaulichen Brocken übernahm die CA immer noch genug.497 Wichtig für den Nimbus und die Möglichkeiten Schobers war die Reaktion der Sozialdemokraten. Natürlich : Schober galt für sie seit dem Schießbefehl vom 15. Juli 1927 als »Arbeitermörder«. Doch just Austerlitz und die AZ plädierten inzwischen dafür, nicht kleinlich zu sein. Als im Zuge der anschwellenden Rufe nach Schober im Parteivorstand die Frage erörtert wurde, wie man sich denn dazu stellen solle, »wenn so etwas wirklich käme«, sprach Otto Bauer zwar noch von einer »psychologischen Unmöglichkeit«. Bauer entwickelte 1929/30 eine gewisse Allergie gegen die Verhandlungsbereitschaft des rechten Flügels, von Renner, vor allem aber von Leuthner und Ellenbogen. Er wollte klargestellt wissen, dass die Sozialdemokratie keiner Drohung mit dem Staatsstreich weiche. Aber auch er war der Meinung, man müsse »Schober die Möglichkeit geben, mit jemandem zu reden, mit dem er reden will«. Dieser Jemand war Danneberg, der immer mehr in die Rolle eines geschäftsführenden Parteiobmannes hineinwuchs und zu Schober ein äußerst vertrautes Gesprächsklima aufbaute. Als Schober im Frühjahr von einer Auslandsreise zurückkehrte, ließ sich Danneberg dann bereits im Stile der vernachlässigten Geliebten vernehmen : Schober sei jetzt schon acht Tage zurück und habe sich immer noch nicht gemeldet.498 Die Verfassungsreform Ein gutes Gesprächsklima nach links wie nach rechts war notwendig, wenn Schober die Verfassungsnovelle ohne großen Krach über die Bühne bringen wollte. Als allerletzter Ausweg – falls die Sozialdemokraten auf dem »Shylock-Schein der ZweiDrittel-Mehrheit« beharren und die Reform blockieren sollten – wurde angepeilt, die Verfassung einfach mittels Volksabstimmung in Kraft zu setzen. Eine derartige
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Bestimmung gab es freilich noch nicht, man wollte sie erst in die neue Verfassung aufnehmen. Es hätte sich dabei also bestenfalls um ein demokratisches Feigenblatt für einen kalten Staatsstreich gehandelt. So heiß wurden die Dinge dann allerdings nicht gegessen. Schober »manipuliert meisterhaft«, wie es einer seiner Freunde seinem Tagebuch anvertraute. Er berichtete schon im Oktober nach einem nächtlichen tete-a-tete mit Danneberg von der »großen Geneigtheit« der Opposition, »hinunterzuwürgen was geht«.499 Tatsächlich hatte sich die Sozialdemokratie schon im Sommer auf eine akzeptable Rückzugslinie geeinigt. Das Kernstück der Reform, die Ernennung der Regierung durch den Bundespräsidenten (als »Rückkehr zum Gedanken der Gewaltenteilung«, wie Hugelmann es im Bundesrat feierte), sollte demnach keinen casus belli darstellen. Auch die Volkswahl des Präsidenten war man bereit zu akzeptieren. Es waren die Christlichsozialen, und insbesondere ihre Landeshauptleute, die bald Angst vor der eigenen Courage bekamen und den zweiten Wahlgang am liebsten doch wieder in die Bundesversammlung zurückverlegen wollten. Die Sozialdemokratie rettete die von ihr ursprünglich so skeptisch beäugte Bestimmung mit ihrer Forderung nach einem Entweder-Oder. Ursprünglich sollte die erste Volkswahl schon ein halbes Jahr später stattfinden – tatsächlich kam es erst 1951 dazu. Das Provisorium Miklas erwies sich als zählebig …500 Mit der Forderung nach einer Verankerung von Volksabstimmungen in der Verfassung rannte Seipel überhaupt offene Türen ein. Die Sozialdemokratie schlug vor, ein Drittel der Abgeordneten könnte jederzeit eine Volksabstimmung beantragen (es sei denn, in Verfassungsfragen). Auch Volksbegehren, die vom Nationalrat zurückgewiesen wurden, könnten einem solchen Verfahren unterzogen werden. Charakteristischerweise schreckte die bürgerliche Mehrheit vor dieser Möglichkeit zurück. Die Umsetzung des ursprünglich von allen Seiten geforderten Anliegens nach direkter Demokratie wurde auf die lange Bank geschoben : Als deshalb die Sozialdemokraten 1930 eine Unterschriftensammlung für die Inkraftsetzung der Altersversicherung einleiteten (oder die Heimwehren 1931 für die Strafverfolgung der Schuldigen an der CA-Pleite), wusste niemand zu sagen, was mit den eingereichten langen Listen eigentlich geschehen sollte.501 Ein heikleres Thema war da schon das Notverordnungsrecht des Bundespräsidenten, bei dem jeder an den berüchtigten § 14 der Kaiserzeit dachte. Der § 14 war damals nicht nur, aber auf alle Fälle immer dann zur Anwendung gekommen, wenn das Abgeordnetenhaus wegen Obstruktion nicht beschlussfähig war. Diese Sorge trieb Otto Bauer auch jetzt um : Das Notverordnungsrecht solle nicht »zur Brechung einer gerechtfertigten [sic !] Obstruktion verwendet werden« dürfen. Die einvernehmliche Lösung bestand darin, das Notverordnungsrecht zwar in die Verfassung zu schreiben, es dabei aber völlig zu entschärfen und an die Zustimmung eines Unterausschusses des Hauptausschusses des Nationalrats zu binden. »Die Minderheit diktiert und das
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ist das Übel, das uns auch um das Ansehen des Parlaments gebracht hat«, fasste ein Landbündler die Gravamina der Bürgerlichen zusammen. Doch gegen dieses »anarchistische Widerstandsrecht der Minderheit« wusste auch die Bundesverfassung von 1929 kein Mittel, denn die Geschäftsordnung des Nationalrats wurde von der Verfassungsnovelle natürlich überhaupt nicht tangiert.502 Der zweite Auftrag, der Danneberg mit auf den Weg gegeben worden war, lautete entlarvend : »Keine wirkliche zweite Kammer.« Hier kamen der Sozialdemokratie gerade die wolkigen Forderungen der Heimwehren nach ständischer Mitbestimmung gelegen, unter der sich jeder etwas anderes vorstellen konnte. (Der Großdeutsche Straffner als Syndikus der Tiroler Industriellen kommentierte boshaft : »Für die Ständevertretung sind diejenigen, die noch keine Kammer haben.«) Otto Bauer konnte sich da ganz konziliant geben : Der Gedanke, den »Berufsständen« die Möglichkeit einer Vertretung in der Gesetzgebung zu geben, sei der Sozialdemokratie sogar sehr sympathisch – um dann den offensichtlichen Einwand vorzubringen : »In der Verfassung aber einen Länder- und Ständerat vorzusehen, bevor man weiß, wie er aussehen wird, das ist unmöglich.« Das Unmögliche geschah dennoch, freilich nur als »programmatische Bestimmung«, als »in sehr groben Umrissen gezeichnete Rahmenvorschrift«. Provisorisch tagt deshalb bis zum heutigen Tag der Bundesrat von 1920 weiter. Um die »Idee der Ständevertretung« voranzubringen, wurde einstweilen eine Kommission eingesetzt, die auch Heimwehrvertreter als »Vorkämpfer der Idee« zur Mitarbeit einladen sollte. Vaugoin gab ironisch zu Protokoll, sie wären gewiss »dankbar, wenn man ihnen eine Beschäftigung gibt in einer Materie, die sie sich selbst gewünscht haben«.503 Aus der Sicht der Heimwehren blieb das so ziemlich der einzige Gewinn, den sie aus dem Herbstprogramm ziehen sollten. Der einzige Punkt, der noch zu einer Konfrontation mit der Sozialdemokratie hätte führen können, war die Beeinträchtigung der Stellung Wiens als eigenes Land. Doch die Beispielwirkung, dass der Bund sich über Landesverfassungen hinwegsetzte, verursachte auch den christlichsozialen Ländern ein gewisses unangenehmes Gefühl in der Magengrube. Über gewisse Schönheitsfehler (Stichwort : »Instanzenverlust«) half man sich mit ein paar juristischen Kunstkniffen hinweg. Bloß die Reform des Finanzausgleichs war den Ländern ein Anliegen : Nach langen Verhandlungen wurden die Anteile Wiens dann 1931 kräftig gekürzt, dafür aber – sehr zum Missfallen Kienböcks – auf die Verschärfung der Kontrollrechte des Bundes über die Landesfinanzen verzichtet.504 Den Wienern wäre es zwischenzeitlich allerdings beinahe gelungen, über ein Sonderabkommen mit den Niederösterreichern die Länderfront aufzubrechen.505 Das Gesamtpaket ließ noch einige Wünsche offen. Vor allem die Redner der Großdeutschen und Landbündler bezeichneten das Ergebnis daher bloß als eine »erste Etappe«. Bei den Sozialdemokraten nahm der Parteivorstand den Bericht Dannebergs über seine Verhandlungen mit Schober am 19. November mit allen gegen
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die eine Stimme des Salzburger Parteisekretärs Witternigg zur Kenntnis. Am 7./10. Dezember wurde die Verfassungsnovelle vom Parlament einstimmig verabschiedet. Otto Bauer verteidigte vor den Wiener Vertrauensmännern die defensive Strategie der Partei mit militärischen Metaphern : Jeden einzelnen Schützengraben halten zu wollen, »so dumm waren nicht einmal österreichische Generäle«. Der Kampf um die Verfassung war »die Marneschlacht des österreichischen Fascismus«, dem kein Durchbruch gelungen sei. »Das war sein Höhepunkt, so weit ist er gekommen und nicht weiter als – bis zum Vertreter des Handelsministeriums in der Wiener Baubehörde [eine der spitzfindigen Klauseln, um den »Instanzenverlust« in Wien zu kompensieren].«506 Auch Julius Raab stimmte im Nationalrat für die Verfassung, resümierte aber intern : »Für die Regierung waren die Heimwehren nur der Knallfrosch für die Roten.« Der konsensuale Modus der Verfassungsnovelle mehr als der konkrete Inhalt stellte für die Heimwehren eine Enttäuschung dar – und für Mussolini, der ihnen eben erst wieder einen größeren Geldbetrag überwiesen hatte. Der gevifte Major Pabst hatte den Italienern auch vorsorglich einen Tipp gegeben, wie sie Druck auf Schober ausüben könnten. Österreich wartete ja immer noch auf die italienische Zustimmung zur Investitionsanleihe. Die Italiener sollten ihr Einverständnis einfach von einem Bruch Schobers mit den Sozialdemokraten abhängig machen. Der italienische Gesandte Auriti erhielt Anweisung, den geeigneten Zeitpunkt für eine solche Demarche mit den Heimwehrführern zu akkordieren. Doch seltsamerweise schreckten die Herren im entscheidenden Moment selbst vor dem Einsatz solch schwerer diplomatischer Geschütze zurück. Mit einer Kampagne gegen das »rote Wien« versuchten die Heimwehren das Blatt noch einmal zu wenden. Gerüchte besagten, für den 18. November seien irgend welche (para-)militärischen Drohgebärden geplant. Doch Schober setzte sich direkt mit ihren Geldgebern in Verbindung, zunächst mit den heimischen. Im Ministerrat verkündete er vollmundig : »Es sei aus zwischen Heimwehr und Industrie, wenn ich mich noch einmal über sie zu beklagen habe.« Tatsächlich gab Apold seinen Leuten in der Obersteiermark umgehend Anweisung, sich unter keinen Umständen an einer Aktion der Heimwehren zu beteiligen. Schlimmer noch, auch die ausländischen Geldgeber waren der Ausflüchte ihrer österreichischen Klienten überdrüssig und schwenkten auf Schober-Kurs ein. Am 29. November gab Auriti dem Kanzler die Ermächtigung, mit der italienischen Zustimmung für die Anleihe an die Öffentlichkeit zu gehen. Im Februar stattete Schober dann dem Duce einen Besuch ab, der ihn zwar – das Urteil diverser Achtundsechziger vorwegnehmend – als »Mann des ancien Regime« bezeichnete, aber Gefallen an ihm fand. Wieder ließ Schober danach verlauten – vielleicht mit dem ihm eigenen Moment einer gewissen Übertreibung : Mussolini sei bereit, die Heimwehren fallen zu lassen, wenn sie sich dem Kanzler widersetzten.507
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Die Heimwehren hatten ihre Schuldigkeit getan ; sie konnten gehen (nur ja nicht marschieren !). Diesen Eindruck hatte zumindest Steidle, der offen eingestand : »Wir haben eine saubere Ohrfeige bekommen.« Schober hatte sich nach allen Seiten hin durchgesetzt. Drohte ihm nicht vielleicht gerade deshalb ein ähnliches Schicksal, zumindest nach der Logik der alten Verfassung ? Schober war gewählt worden, die Verfassungsreform ordnungsgemäß über die Bühne zu bringen. Neue Aufgaben erforderten auch wieder ein neues Kabinett. Allenfalls die Investitionsanleihe, der Österreich seit Jahren nachlief, mochte noch eine Existenzberechtigung für seine Kanzlerschaft liefern. Auch in diesem Punkt war Schober Erfolg beschieden : Auf der Konferenz im Haag wurde alle Reparationsforderungen an Österreich ein- für allemal gestrichen ; die erste Tranche der Anleihe – immerhin 395 Mio. – wurde im Sommer 1930 endlich aufgelegt.508 Seine Auslandsaktivitäten verwickelten Schober im Frühjahr 1930 ein weiteres Mal in einen Konflikt mit den Heimwehren, der bei allem Getöse etwas von einem Sturm im Wasserglas an sich hatte. Für die Verhandlungen in Haag benötigte Schober die Unterstützung Englands, das gerade von der Labour-Party regiert wurde. Die Aktivitäten der Heimwehren waren der Labour Party naturgemäß ein Dorn im Auge. Schober versprach den Engländern ein Entwaffnungsgesetz im Nationalrat durchzubringen. Wieder war Schober nach allen Seiten hin äußerst freigiebig mit vertraulichen Andeutungen und Indiskretionen. Danneberg erzählte er, er habe seine Anregung bewusst sofort dem Völkerbund übermittelt, damit die Regierung nicht mehr zurückkönne ; dem Kabinett erzählte er, er sei überrascht, dass sich die Engländer »merkwürdigerweise« mit einer so fadenscheinigen Vorlage abspeisen ließen. Wenn er die Wehrverbände wirklich abrüsten wolle, so benötige er dafür doch gar kein neues Gesetz ; die bestehenden Bestimmungen reichten da vollkommen.509 Doch die Betroffenen erwiesen sich als stur : Auf der Linken goutierte Otto Bauer das Schober’sche Entwaffnungsgesetz gar nicht, erstens, weil es drohte, schon den efürchtete, bloßen Besitz von Waffen unter Strafe zu stellen, zweitens, weil er b Schober werde die Wehrverbände in eine Miliz überführen wollen, mit dem Ergeb nis, dass der Schutzbund auseinanderlaufen, die Heimwehren aber beisammen bleiben und ihre Krise überwinden würden. Auf der Rechten empfand Steidle die Schober’sche Entwaffnungsvorlage als eine Kampfansage, die Salz in die Wunden der Heimwehren streue. Er gab nachträglich zu, das »Waffenpatent« sei wirklich nichts Besonderes ; aber die Art und Weise, wie es gemacht wurde, habe die Heimwehren vor den Kopf gestoßen.510 Die Undankbarkeit der Regierung reizte ihn zu einem neuen Vorstoß in der Richtung, sich von den Parteien zu emanzipieren. Das Ergebnis war das berühmt-berüchtigte »Korneuburger Gelöbnis« vom 18. Mai 1930. Das Gelöbnis bestand aus einem – vom Spann-Schüler Walter Heinrich entwor fenen – Bekenntnis zur »Selbstverwaltung der Wirtschaft auf berufsständischer Grundlage«, mit der Einschränkung, der Staat habe selbstverständlich darüber zu
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wachen, dass »die Stände den Notwendigkeiten der Volksgemeinschaft eingeordnet bleiben«. Diese Quadratur des Kreises war allen geläufig, die sich mit Spanns Thesen beschäftigt hatten. Kontrovers war nicht das ständische Manifest, sondern das Rahmenprogramm Steidles. Das Gelöbnis endete in der markigen Formel : »Jeder Kamerad […] kenne die drei Gewalten : den Gottesglauben, seinen eigenen harten Willen, das Wort seiner Führer !« Weniger pathetisch formulierte es Steidle in seiner Entrada : »Wollen Sie sich wie bisher auf den Standpunkt stellen, daß die Heimwehrbewegung nichts ist als der Eintreiber der Parteien oder wollen Sie sich, um ein Schlagwort zu gebrauchen, für das faschistische System erklären ?«511 Freilich, der Marsch auf Rom war schon etliche Male beschworen worden. Die Ereignisse vom Herbst 1929 hatten zur Genüge bewiesen, dass eine Machtergreifung nach diesem Muster in Österreich nicht möglich war. Die eigentliche Kampfansage an die Adresse der Parteien zielte nicht auf einen Putsch, sondern – auf die Gründung einer eigenen Partei, so wie es Mussolini vorexerziert hatte, als er seine Schwarzhemden – gegen alle möglichen Widerstände – zwang, ganz zivil als Partito Nazional Fascista (PNF) an- und aufzutreten. Spätestens im Frühjahr 1931, in weni ger als einem Jahr, waren Neuwahlen fällig. Steidle hatte ganz offenbar vor, mit einer eigenen Liste anzutreten oder die Parteien zumindest mit dieser Drohung einzuschüchtern. Alle seine Aussagen im Laufe des Sommers waren auf diese Koketterie ausgerichtet. Die Verächter der Parteien waren drauf und dran, aus Bosheit selbst zu einer zu mutieren. Nun war Steidle selbst nach wie vor Bundesrat der Christlichsozialen (oder doch zumindest der Tiroler Volkspartei). Das Korneuburger Treffen war als Generalversammlung der niederösterreichischen Heimwehren ausgeschildert worden. Deren Landesleiter war Julius Raab als christlichsozialer Nationalrat, sein Stellvertreter Anton Zippe als großdeutscher Landtagsabgeordneter. Diese Konstellation verweist auf einen oft übersehenen Aspekt des Korneuburger »Eids«, nämlich seine Ablenkungsfunktion von internen Querelen. Die Heimwehren verstanden sich als christlich-nationale Bewegung, die über den Kulturkampffronten stand. Dieses hehre Ziel schloss Rivalitäten zwischen den Vertretern unterschiedlicher weltanschaulicher Lager keineswegs aus. Im Vorfeld der Korneuburger Tagung hatte der nationale Flügel eifrig am Stuhl von Landesleiter Raab gesägt. Zippe musste in der großdeutschen Reichsparteileitung eingestehen, es sei »unser Konzept gründlich verdorben« worden. Aber nicht infolge rhetorischer Exzesse, sondern weil Steidle »durch eine Überrumpelung die Bestätigung Raabs« herbeigeführt habe.512 Das Korneuburger Gelöbnis war keineswegs der vielzitierte Frontalangriff gegen die parlamentarische Demokratie. So wollte Steidle es bloß betrachtet wissen – und seine Gegner taten ihm den Gefallen. In Wirklichkeit war »Korneuburg« die Resultante diverser Intrigen niederer Ordnung. Dennoch verursachte es eine gewisse Aufregung bei den bürgerlichen Parteien : Der Landbund hatte sich schon seit dem
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Jahreswechsel mit der Schaffung eigener »Bauernwehren« – zunächst in der Südsteiermark, dann auch in Oberösterreich – von den Heimwehren distanziert. Schumy als Innenminister schlug vor, gegen Beamte vorzugehen, die sich dem Gelöbnis angeschlossen – und damit das »Wort ihrer Führer« über den Gehorsam gegenüber ihren Vorgesetzten gestellt hätten. Doch bei den Großdeutschen beruhigte Justizminister Slama, man solle sich wegen der Allüren Steidles keine großen Sorgen machen. Demnächst werde Fürst Starhemberg die Bundesführung übernehmen und die Heimwehren auf ihren ursprünglichen Charakter als militärische Abwehrorganisation zurückführen. »Die Führung wird in kurzer Zeit ganz anders aussehen.« Inzwischen laufe jede Maßnahme gegen die Heimwehren bloß Gefahr, die »auseinanderstrebenden Kräfte« enger zusammenzuschließen. Als »böser Geist« Steidles wurde zunächst nur Major Pabst ins Visier genommen, den Schober im Juni als preußischen Staatsbürger aus Österreich ausweisen ließ – und zwar wegen Landesverrats, weil seine Intrigen gegen die Investitionsanleihe ruchbar geworden waren. Die Italiener fragten sich daraufhin beunruhigt, ob Schobers Polizei ihre Depeschen entziffere oder ob er bloß einen Spion in der Heimwehrführung sitzen habe ?513 Kontrovers war das Thema Korneuburg in erster Linie bei den Christlichsozia len : Seipel hatte ein Monat davor die Bundesführung zurückgelegt. In einem Akt respektvoller Abrechnung hatten die Oberösterreicher diesen Schritt als Bruch mit der Partei interpretiert. Es spräche für den Alt-Kanzler, wenn er die Wege in Zukunft alleine beschreite, auf denen die Partei ihm nicht mehr zu folgen vermöge. Doch Seipels Rücktritt bedeutete noch lange keinen Kurswechsel. Die Partei kürte anstandslos seinen Wunschkandidaten Vaugoin zum Nachfolger, der zweifelsohne nicht über die dialektische Begabung Seipels verfügte, aber alles andere als ein LinksAbweichler war. Doch auch Vaugoin sah in Steidles Vorgehen zumindest ein disziplinäres Problem. »Wer in die Partei eintritt, hat Disziplin zu halten, sonst geben Sie die Partei auf.« Kunschak und die christlichen Gewerkschaften bemühten sich, nach Kräften Öl ins Feuer zu gießen. Doch Seipel verstand es, in dem Punkt endlich einmal eines Sinnes mit Rintelen, die Debatte in ein anderes Fahrwasser zu lenken, in Richtung eines Scherbengerichts über den ruhmredigen Plauderer Schober, der einen überflüssigen Konflikt vom Zaun gebrochen habe, als er zu Unrecht einen Zusammenhang zwischen der Anleihe und dem Entwaffnungsgesetz konstruierte. Auch Ender kam Schobers Argumentation unglaubwürdig vor. Wenn sie ihr Verhalten von einer solchen Vorlage abhängig machten, müssten »die Geldgeber außerordentlich naiv sein und ich kann mir die internationale Hochfinanz nicht naiv vorstellen«. Folglich sekundierte er Seipel mit einem Vermittlungsantrag.514 Sobald es um das Verhältnis Seipels zu Schober ging, gewann das Drama klassische Dimensionen. Schobers Biograf Rainer Hubert hat die beiden, den Priester und den Polizisten, als den größten Strategen und den größten Taktiker der Ersten Republik charakterisiert ; ein Gegensatzpaar, das sich doch immer wieder die Bälle zuwarf ;
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Seipel hatte Schober 1920/21 wie 1929 vor den Vorhang gebeten. Seipel warf sich in stillen Stunden selbst zu Recht intellektuellen Hochmut vor ; Schobers Laster, so gaben selbst seine Bewunderer bedauernd zu, sei die Eitelkeit. Seipel hielt unzählige Reden und scheute persönliche Kontakte ; Schober hielt Hof und absolvierte unzählige Termine. Seipel verschanzte sich hinter Sphinx-artigen Aussprüchen, die einer raffinierten Exegese bedurften ; Schober unterhielt seine Umgebung mit Vertraulichkeiten, die selten eines gewissen Elements der Übertreibung entbehrten. Schober drohte stets mit dem Rücktritt – und war beleidigt, wenn man ihn beim Wort nahm ; Seipel bestand darauf, den Zeitpunkt seiner Demissionen selbst zu bestimmen – und ließ sich dann auch nicht mehr umstimmen. Überzeugte Demokraten waren sie beide nicht. Seipel ließ da zumindest das Hintertürchen offen, die Zeit für die wahre Demokratie sei eben noch nicht gekommen. Seipel war politisch scheinbar leicht zu verorten ; der Sängerschafter Schober nicht. Seipel dominierte seine Partei ein Jahrzehnt lang und entfremdete sich zusehends von ihr ; Schober – den Seipel gerne »den Unabhängigen mit der Kornblume« nannte – wurde von den Großdeutschen 1922 gestürzt und 1929/30 enthusiastisch auf den Schild gehoben. Beide wirkten bewusst über die klassischen Lagergrenzen hinaus : Seipel – auch wenn er von sich sagte, er sei in Wahrheit in keiner Weise liberal – übte eine unbestreitbare Anziehungskraft auf die »peripheren Schichten« aus, die nur mit zugehaltener Nase »schwarz« wählten ; Schober wiederum, so unterstellte ihm Seipel vermutlich nicht zu Unrecht, sah sich nicht als Anführer eines freisinnigen Blocks, sondern als ein Meister der Diagonale, der mit allen konnte : »Er hält sich für geeignet, auch die Klerikalen um sich zu scharen.[…] Deswegen biedert er sich ungeheuer an den Herrn Kardinal an und hat sich Innitzer genommen.«515 Derlei Kommentare lassen eine Spur Verachtung durchblicken, vielleicht sogar eine Spur Eifersucht, Hass wäre schon wieder zu viel gesagt. Der Schluss lag nahe : Seipel und die Christlichsozialen arbeiteten auf den Sturz Schobers hin. Warum auch nicht ? Es war nicht abwegig, wenn die Christlichsozialen, die mehr als drei Viertel der bürgerlichen Mehrheit stellten, auch wieder den Kanzler für sich reklamierten. Derlei Tendenzen gab es ganz offensichtlich : Seipel besprach diese Variante schon im Frühjahr 1930 mit dem italienischen Botschafter. Schober nahm Witterung auf. Er habe auf Seipel »eine Mordswut« und lanciere Zeitungsangriffe auf ihn, berichteten Gewährsleute.516 Aber gerade Seipel bemühte sich, den Zeitpunkt der Ablöse Schobers zumindest vorerst noch hinauszuschieben. Seinen Vertrauten hätte er ohne Weiteres reinen Wein einschenken können – er tat es später auch unverhohlen, wann immer es darum ging, Schober zu verhindern. 1930 hingegen gab er sich den Anschein, weiter seine schützende Hand über das Kabinett Schober zu halten. Er fuhr im August stundenlang zu Vaugoin in die Sommerfrische, um ihn davon abzuhalten, eine Kabinettskrise auszulösen. »Alles, was wir brauchen, ist jetzt mehr als je ruhig abwarten und bereit sein.«517
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Schober liebte das internationale Parkett, die großen Gesten, die weitausholenden Pläne. Er war in dieser Beziehung viel mehr Politiker als es seine gegenteiligen Beteuerungen ahnen ließen. Gewisse Erfolge waren ihm da nicht abzusprechen : Er realisierte die Investitionsanleihe (zumindest ihre erste Tranche), er vereinbarte in Berlin locker schon einmal einen Vorstoß in Richtung Zollunion ; er besprach en passant, während er mit dem reichsdeutschen Außenminister Curtius beisammensaß, den Ausbau der Tauernkraftwerke.518 Schober parlierte freundlich mit dem LabourAußenminister Henderson und mit Mussolini ; er sah darin keine Gegensätze und war überzeugt, alle überzeugt zu haben. Seipel unterstellte ihm, auf dieselbe jovialtreuherzige Art wolle er auch noch die leidige Eherechtsfrage vom Tisch schaffen : »Er flunkerte mit seiner Freundschaft zum Herrn Kardinal und kündigte an, daß die Christlichsozialen die Ehereform mitmachen müssten.« Zum Schluss würden ihm dann alle Beifall zollen : »Die Sozialdemokraten und die Liberalen für die freiheitliche Tat, die Kirche und die Christlichsozialen für seine Frömmigkeit und Bravheit.« Dabei täusche er sich freilich, so Seipel, denn der Weg nach Rom führe nur über ein Konkordat – und dazu fehle Schober der Mut.519 Die Details der Innenpolitik, die Pflege seiner Arbeitsmehrheit, die Rücksichtnahme auf die prekäre Balance zwischen den bürgerlichen Parteien faszinierten Schober weniger. Er gab sich verärgert, wenn er von seinen Reisen zurückkam und feststellte, dass seine Kabinettsmitglieder irgendwelche eigenwilligen Initiativen gestartet hatten oder einander wegen Kleinigkeiten in die Haare geraten waren. Zugegeben, das einschlägige Lamento Seipels war mit einer Prise von Schadenfreude gepaart : »Eldersch [damals 2. Nationalratspräsident] klagte mir, daß es im Zollausschuß so darunter und darüber gehe, daß die Sozialdemokraten immer wieder in der Mehrheit sind, was sie unglücklich macht, da sie in Wahrheit ja nichts verhindern und ja nicht die Regierung stürzen wollen« (Letzteres war in den Augen Seipels wohl nicht als Kompliment für Schober gemeint).520 Nun waren für den Schlingerkurs der Regierung in der Handelspolitik nicht zuletzt Seipels eigene Leute verantwortlich : In diesen Monaten ritten die Niederösterreicher ihre Attacken gegen Födermayr, der in einem Interview klagte, man gönne den Oberösterreichern keinen Erfolg ;521 sie blockierten das Getreidemonopol, auf das sich Hainisch versteift hatte, und forderten ein landwirtschaftliches »Notopfer« von immerhin fast 100 Mio. S. Zuerst sollten die Kosten durch eine Mehlauflage auf die Verbraucher überwälzt werden, dann musste ein ganzes Bukett von Steuererhöhungen dafür herhalten.522 Auch eine Sollbruchstelle war vorhanden, um bei Bedarf jederzeit eine Regierungskrise auszulösen. Daran war Schober nicht ganz unschuldig. Es ging – »als Krönung der Herstellung der inneren Ordnung« (Vaugoin) – um die Reform der Bundesbahnen, mit über 70.000 Beschäftigten nun tatsächlich ein Betrieb, wohl wert, dass man sich seiner unterwindet. Zur ökonomisch-technischen Debatte pro und contra Elektrifizierung – und die Parteien sahen sich da alle als Modernisie-
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rer – kamen die parteipolitischen Vorwürfe : Präsident Günther und sein Team hätten es zugelassen, dass aus »Bundeseigentum ein Parteimonopol« geworden sei, wie es Vaugoin formulierte (dem seine Gegner im Falle des Bundesheeres freilich den gleichen Vorwurf machten). Die »Arbeiter-Zeitung« wiederum warf den ÖBB-Kritikern vor, es ginge ihnen bloß darum, rechtzeitig vor den Wahlen das sagenumwitterte »conto separato« der ÖBB in die Hände zu bekommen, das aus Schwarzgeldzahlungen von Lieferanten gespeist werde. Dieser Schuß ging freilich nach hinten los : Denn aufgrund des Prozesses, der sich um die Existenz dieses Geheimfonds entspann, war die bisherige ÖBB-Führung erst recht mit dem Vorwurf der Korruption konfrontiert. Die Bundesbahnen, so Pfrimers »Panther«, stellten ein »Riesenpanama« dar.523 Wer sollte Ordnung in die ÖBB bringen ? Günthers Vertrag lief im Herbst 1929 aus. Als neuen Präsidenten dachte man anfangs an Alpine-Generaldirektor Apold, der seine Erfahrungen als Manager des größten österreichischen Industriebetriebs einbringen sollte. Die Lösung war billig, warf dafür aber gewisse Probleme auf : Apold – der sein Einkommen in erster Linie aus Tantiemen für seine Patente bezog, angeblich über 100.000 S pro Jahr – verlangte kein Gehalt, wollte die Alpine aber nicht aus der Hand geben. Am Silvestertag 1929 fragte Handelsminister Hainisch bei Apold an. Der Vorschlag war von Vaugoin ausgegangen und auch von den Großdeutschen beifällig aufgenommen worden. (Für die Heimwehren schlug Steidle hingegen ursprünglich den Tiroler Industriellenchef Reitlinger vor.)524 Der Landbund knüpfte seine Zustimmung an diverse Personalwünsche, bald begannen auch die anderen Parteien ihre Wahlkapitulationen vorzulegen. Doch Apold blieb hart : Er habe sich auf seinen Kandidaten als Generaldirektor festgelegt und wollte nicht auf einen Dreiervorschlag eingehen. Schober lavierte und wollte sich ganz offenbar nicht festlegen, bis Apold nach einer Konferenz am 21. Februar entnervt das Handtuch warf : Er wolle diese Komödie nicht länger mitspielen. In seinem Tagebuch notierte er : »Schober benahm sich hilflos wie immer.« Wenig später beschrieb er seine Erfahrungen mit der Politik in einer Pressekonferenz mit dem Sager, der ihm ein Leben lang nachhängen sollte : »Österreich ist ein Drecksstaat.«525 Sobald sich die »Ideallösung« mit Apold zerschlagen hatte, überschlugen sich in der Bundesbahnfrage die abenteuerlichsten personellen Kombinationen. Schober behauptete zwar, er habe keine eigenen Wünsche, arbeitete aber sichtlich auf die Ernennung von Karl v. Banhans zum Präsidenten hin, dem k. k. Eisenbahnminister der letzten Kriegsjahre, inzwischen schon über siebzig, ein Mann des ancien regime, wie er im Buche stand. Vaugoin war von Banhans nicht begeistert, aber zu einer »Paketlösung« bereit : Banhans als Präsident, Generaldirektor dafür der Grazer Vizebürgermeister Georg Strafella, der sein Gesellenstück abgelegt hatte, als er im Herbst 1928 einen Streik der Tramwaybediensteten niederschlug, die just zur 800-Jahr-Feier der Stadt in den Ausstand getreten waren. Strafella war Christlichsozialer, stammte
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aber aus nationalen Kreisen in der Untersteiermark und galt – wie Apold – ebenfalls als Freund der Heimwehren.526 Die Art und Weise, wie Vaugoin um seinen Preis geprellt wurde, war ein politisches Kabinettsstück erster Ordnung, freilich eines, das letztendlich zum vorzeitigen Ende des Kabinetts Schober führte. Es machte sich hier bemerkbar, was ein Zeitgenosse Schobers als seine »unverbindlichen Verbindlichkeiten« bezeichnete, die »alles in Schwebe lassenden Bürokratenformalismen«, während ein anderer – Baron Ehrhart – damals schon warnte : »Das System, sich keiner Richtung völlig anzuschlie ßen und die eine gelegentlich gegen die andere auszuspielen, hat sich bisher insofern bewährt, als damit nach außen ein relativ harmonisches Gesamtbild erzeugt und auf diese Weise eine brauchbare Grundlage für außenpolitisches Agieren geschaffen wurde. […] Aber die Verhältnisse innerhalb der Mehrheit kommen dadurch immer sichtbarer in Verwirrung, was vom Standpunkt der Wahlen [die ja im Laufe des kommenden Jahres zu schlagen waren] bedenklich ist.«527 Quod erat demonstrandum : Am 15. März wurde Banhans vom Ministerrat zum Präsidenten bestellt ; die Entlassung des bisherigen Generaldirektors Foest und die Ernennung Strafellas wurde ihm als »Wunsch der Regierung« mit auf den Weg gegeben. Banhans nahm den Auftrag an, entließ auch pflichtschuldigst sofort Foest – und wurde tags darauf von Zweifeln heimgesucht, was Strafella betraf. Einen Mann, der keinerlei Erfahrung in der Leitung von Großbetrieben mitbrächte, könne er unmöglich zum Generaldirektor ernennen. Welche rechtliche Qualität hatte letztendlich ein »Wunsch der Regierung« ? Vaugoin argumentierte, »der Ministerrat kleidete die förmliche Bedingung höflich in die Form eines Wunsches«.528 Von einer bindenden Verpflichtung wollte der neue Präsident jedoch nichts wissen ; lieber würde er selbst zurücktreten. Fazit : »Die Christlichsozialen bestehen auf ihrem Schein, während die anderen das Junktim nicht anerkennen oder sabotieren.« Doch Banhans bereits nach wenigen Tagen wieder fallenzulassen, konnte erst wieder nur als »Blamage« gelten. Vaugoin war deshalb vorerst gezwungen, gute Miene zum bösen Spiel zu machen.529 Inzwischen mischte sich die Opposition ein : Die »Arbeiter-Zeitung« schoss am 13. Mai eine Breitseite gegen Strafella ab. Er könne als Lokalbahnaktionär unmöglich an die Spitze eines Konkurrenzunternehmens treten. Außerdem wurden ihm unlautere Geschäfte in der Inflationszeit vorgeworfen. Damit war die Bestellung Strafellas endgültig zum Prestigeobjekt geworden : Vor den Sozialdemokraten wollte Vaugoin freilich zuallerletzt den Rückzug antreten. Strafella klagte die Zeitung ; Banhans ergriff prompt den Vorwand beim Schopf, die Bestellung Strafellas bis zum Ende des Prozesses aufzuschieben. Schober selbst hatte inzwischen eine persönliche Auseinandersetzung mit Strafella gehabt. Er versprach seinem Vizekanzler aber offenbar, Strafella zu Beginn der parlamentarischen Herbstsaison um des lieben Friedens willen doch noch zu ernennen ; nachträglich ergänzte er, ein »günstiger Ausgang« des Prozesses sei dafür selbstverständlich Voraussetzung.
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Der Schoberblock Der Zeitpunkt der Regierungskrise war damit bis zu einem gewissen Grad in die Hand des heiteren Bezirksgerichts gelegt, das am 20. September zu einem olympi schen Urteil gelangte : Die AZ wurde in einigen Punkten verurteilt, gleichzeitig aber auch die geschäftliche Vergangenheit Strafellas als »unkorrekt« gerügt. Konnte ein solches Orakel noch als ein »günstiger Ausgang« des Verfahrens durchgehen ? Die »Neue Freie Presse« kam mit der Schlagzeile heraus, Strafella sei »moralisch verurteilt« worden. Es nützte nichts, wenn die »Reichspost« resümierte, Strafella habe durch Häuserspekulationen bloß versucht, sein Vermögen unbeschadet über die Inflationszeit zu retten ; das könne man einem Geschäftsmann doch kaum zum Vorwurf machen. Doch nicht bloß Banhans sah sich in seinem Vorurteil bestätigt. Auch der neue Handelsminister Friedrich Schuster, obwohl als Vertrauensmann der Heimwehren ins Kabinett berufen, sprach sich gegen Strafella aus. Schober schloss sich dem Urteil Schusters an, unterstützt vom Landbund und den Großdeutschen, die dazu übergingen, Strafella als Symbolfigur für »schwarze« Personalpolitik zu dämonisieren. »Der sozialdemokratische Terror soll durch die christlichsoziale Unsachlichkeit abgelöst werden«, lautete ein typischer Kommentar. Vaugoin holte sich daraufhin von seinem Klub eine »Blankovollmacht« und gab seine Demission als Vizekanzler bekannt. Für Vaugoin lief die unendliche Geschichte um die Bestellung Strafellas auf eine Vertrauenskrise hinaus. Eigentlich hätte er schon im Juli alles hinwerfen wollen, sich dann aber noch einmal überreden lassen, den Ausgang des Prozesses abzuwarten – und den Ablauf der Amtsperiode Banhans’ Ende September. Jetzt sei seine Geduld erschöpft ; der Kanzler beantworte nicht einmal mehr seine Briefe. Seine Kollegen reagierten entsetzt : Der Fehler sei, man habe einfach nicht genug miteinander gesprochen ; wegen solcher »Zufälligkeiten« könne man die Regierung doch nicht platzen lassen. Doch für ein weiteres Hinausschieben war Vaugoin nicht zu haben : Am 25. September, auf den Tag genau ein Jahr nach dem Sturz Streeruwitz’, erfolgte die Gesamtdemission des Kabinetts.530 Seipel befand sich zu dem Zeitpunkt auf Vortragsreise in Skandinavien. Der misstrauische italienische Gesandte argwöhnte sofort, Seipel als »Deus ex machina all der jüngsten Wandlungen« habe sich nur ein Alibi verschaffen wollen. Vermutlich tat er dem Alt-Kanzler damit unrecht. Denn die Art und Weise, wie sich die Krise entwickelte, sprach nicht für einen Masterplan, der systematisch umgesetzt wurde. Der erste Akt barg auf den ersten Blick noch keine großen Überraschungen : Vaugoin wurde als Obmann der stärksten Partei zum Kanzler designiert. Bevor er das Amt auch tatsächlich antreten konnte, hatte er sich nach herkömmlichem Muster um eine Mehrheit zu bemühen, die ihn auch tatsächlich wählte. Doch inzwischen war die Verfassung novelliert worden. Der Kanzler wurde vom Bundespräsidenten ernannt. Was nach außen hin als »schwarze« Intrige wirkte, bedurfte in Wirklichkeit
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eines schönen Stücks Arbeit : Denn Miklas war mit der Rolle, die ihm von Vaugoin und der Verfassung auf den Leib geschrieben wurde, keineswegs glücklich. »Nur mit schwerstem Herzen und nur der Partei zuliebe« habe er zugestimmt, auch gleich zwei Heimwehrminister anzugeloben und Neuwahlen auszuschreiben. Es seien »dies die unangenehmsten Stunden seines Lebens gewesen«.531 Diese völlig legale, aber natürlich ungewohnte Vorgangsweise ließ die b isherigen Koalitionspartner im Brustton der Empörung klagen, man habe ihnen wegen irgend welcher dubioser Gestalten den Stuhl vor die Türe gestellt. Selbst das christlichsoziale »Linzer Volksblatt« stimmte in den Chor mit ein : »Wegen eines Strafella opfert man doch keinen Schober !« Bei näherem Hinsehen war es hingegen gar nicht so klar, wer da wem den Stuhl vor die Türe gestellt und alle Brücken zur Wiederherstellung der bürgerlichen Einheit abgebrochen hatte. Denn kaum hatte das Kabinett demissioniert, empfing Schober seinen Landsmann Franz Langoth, den Obmann der oberösterreichischen Großdeutschen. Langoth wiederum schwor die Konferenz der Landesobmänner seiner Partei bereits am nächsten Tag auf die Opposition g egen Vaugoin ein : »An ein Mitgehen ist nicht zu denken. […] Jetzt ist die Stunde gekommen, die uns den Weg ins Freie öffnet !« Die Oberösterreicher, Langoth und Dinghofer, waren es gewesen, die ihre Partei 1922 zur Koalition mit Seipel nahezu gezwungen hatten ; sie waren es aber auch, die im Herbst 1930 Vaugoins – und Seipels ? – Pläne konterkarierten, wiederum gegen so manche Bedenken ihrer Parteifreunde, diesmal insbesondere der steirischen, die sich lieber nicht mit den Heimwehren anlegen wollten.532 Gegen einen lange gehegten Plan spricht schließlich die Reaktion der vermeintlichen Nutznießer von Vaugoins Coup, der Heimwehren. Bei den Heimwehren hatte erst vor Kurzem der lang angesagte Führungswechsel stattgefunden. Steidle sah sich auf einer Bundesführertagung der Heimwehren in Schladming Anfang September zum Rücktritt veranlasst ; über die Vorstellungen seines Kompagnons Pfrimer vermochte sich niemand so recht Klarheit zu verschaffen. Als neuer Bundesführer gewählt wurde schließlich der junge, erst 32-jährige Fürst Ernst Rüdiger Starhemberg. Nun war Starhembergs Mutter, die ihn kurz zuvor auch brieflich bei Mussolini eingeführt hatte, zwar Stellvertreterin Seipels ; der Sohn war jedoch Corps-Student und renommierte gern mit seiner Teilnahme an Hitlers »Marsch zur Feldherrnhalle« 1923. Für die Einschätzung der aktuellen Situation wichtiger als die weltanschauliche Verortung des Fürsten war seine latente Opposition gegen Steidles Allüren der letzten Monate. Er hatte sich abschätzig über das Korneuburger Gelöbnis geäußert und gegen die Koketterie mit einer eigenen Heimwehrliste bei den Wahlen. Er galt innerhalb der Heimwehren als Kandidat Schobers und der Großdeutschen. Auch die »Neue Freie Presse« hielt Starhembergs Wahl für einen »Sieg der Vernunft«.533 Freilich, die Regierungskrise 1930 begründete auch den Ruf Starhembergs in einer anderen Beziehung : Immer, wenn etwas passierte, war er gerade »auf einen Hirschen«. Starhemberg befand sich zur Jagd in Ungarn. Zwar nahm er am nächsten
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Tag aus Stuhlweißenburg ein Flugzeug. Doch inzwischen waren die Würfel schon gefallen : Die Landesführer von Wien und Niederösterreich, Fey und Raab, hatten bereits öffentlich ihre Unterstützung für Vaugoin erklärt. Starhemberg wurde bei seiner Rückkehr vor vollendete Tatsachen gestellt und geradezu für das Kabinett gekidnappt. Auch ihm wurde ein Maschinengewehr auf die Brust gesetzt : Als Führer müsse er seiner Bewegung folgen. Lehne er den Eintritt in die Regierung ab, so bedeute seine Weigerung die Spaltung der Bewegung. Auch der zweite Heimwehrminister, Franz Hueber, erfuhr von seinem Glück, als er gerade darauf und daran war, auf einer Versammlung in Salzburg gegen Strafella vom Leder zu ziehen. Mit der Ministerschaft allein war es noch nicht getan. Es sollten ja auch Wahlen geschlagen werden. Raab und Fey kandidierten auf der Liste Vaugoins und der Christlichsozialen. Die steirischen Heimwehren erklärten, sie könnten da nicht mitmachen, sondern reichten eine eigene Liste ein, den Heimatblock, der schließlich in ganz Österreich kandidierte (bis auf Vorarlberg, wo die Heimwehren an ihrem unpolitischen Charakter festhielten). Starhemberg stellte sich schließlich selbst an die Spitze des Heimatblocks, doch er machte in dieser Rolle nicht gerade den Eindruck eines Überzeugungstäters. Seine Wahlaufrufe waren zwar geprägt von den gewohnten Invektiven in Richtung der Gegner (berühmt wurde die Formel vom »Kopf des Asiaten Breitner, der in den Sand rollen müsse«), aber auch von einem ganz uncharakteristischen Understatement, was die eigene Partei betraf, die als als bloßes Auffangbecken ausgeschildert wurde : »Wählt, wen Ihr wollt und wenn Euch gar keine der antimarxistischen Listen passt, wählt Heimatblock.« Ihm war sichtlich nicht wohl bei der ganzen Sache. Die Existenz zweier, zumindest nach außen hin konkurrierender Heimwehrlisten musste zwangsläufig für Verwirrung sorgen.534 Damit war die Verwirrung noch keineswegs komplett. Denn einen Fuß in der Tür des Kabinetts hatten die Heimwehren ja auch bisher schon gehabt. Schober hatte als Vertrauensmann der Heimwehren – und der Industrie – im Juni 1930 Friedrich Schuster zum neuen Handelsminister bestellt, den ehemaligen Generaldirektor der Rothschild-Werke, Vizepräsidenten der Grazer Handelskammer – und Chef des Finanzkomitees der Wiener Heimwehren. Doch Schuster wandelte Ende September keineswegs in den Spuren Feys oder des Baron Ehrhart, sondern begann in Wirtschaftskreisen für einen »Schoberblock« die Trommel zu rühren. Seipel hatte sich verkalkuliert, als er im Frühjahr wegwerfend gemeint hatte, zu einer solchen Blockbildung werde es nicht kommen, diese Pläne seien alles bloß »kaleidoskopartig wechselnde Träume«. Schober zierte sich zwar – seinem Naturell gemäß – anfangs noch, aber hatte er nicht selbst in kleinem Kreis verlauten lassen, er betrachte das Parteiensystem, bei dem sich Rot und Schwarz »gegenseitig Konzessionen auf Kosten der Allgemeinheit abkaufen, als Unglück für Österreich« ? Sein Wunsch wäre »die Stärkung und Zusammenfassung der bürgerlich-freiheitlichen Mittelparteien (Umkrempelung der Großdeutschen Volkspartei)«.535
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Abbildung 29 : Hochburgen des Heimatblocks 1930
Jetzt bot sich ihm die Gelegenheit dazu : Hic Rhodus, hic salta. Langoth stellte ihm die Partei zur Verfügung ; die Industrie die Mittel, immerhin 800.000 Schilling. Federführend war dabei nicht der Hauptverband, der sich zwar auch beteiligte, es unter Urban und Ehrhart aber mehr mit Vaugoin hielt, sondern die Banken und die Brauer (bei Letzteren verfügten Langoths Freunde in Oberösterreich über einen gewissen Einfluss). Auch der Landbund, sonst immer naserümpfend gegenüber städtischen Politgewächsen, nahm Witterung auf : Der steirische Landesrat Winkler als kommender Mann des Landbundes handelte mit Schober ein sehr vorteilhaftes Arrangement aus. Zwar gelang es Winkler nicht, den gesamten Landbund ins Boot zu holen : Die Oberösterreicher und Salzburger fielen prompt mit einer eigenen Liste durch ; auch in Kärnten ging die Stimmenzahl deutlich zurück. Aber der Landbund konnte auf der Liste des Schoberblocks, wie sich herausstellte, auch ohne große eigene Anstrengungen seinen Besitzstand von neun Mandaten verteidigen (eines davon – noch dazu besetzt mit einem abgesprungenen Christlichsozialen – kurioserweise diesmal sogar in Wien). Was darüber hinaus den Nimbus des Schoberblocks ausmachte, war der Schneeball effekt : Lange Listen von Prominenten warfen sich für den Polizeipräsidenten in die Schlacht (darunter gleich ein halbes Dutzend Historiker) ; von den Bürgerlichen Demokraten seligen Angedenkens wurde mit dem Handelskammer- Vizepräsidenten
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Vinzl diesmal auch tatsächlich einer gewählt ; einen zweiten Kandidaten, Erich Seutter v. Lötzen, wollte die Industrie wenigstens auf einem Restmandat noch »hineinbringen«.536 Die Demokratische Mittelpartei war zwar beleidigt, weil man ihre jüdische Klientel wiederum nicht Unter den Linden grüßen wollte, doch eine gewisse Sogwirkung auf ihre Wähler war Schober nicht abzusprechen ; der einstige jüdische Abgeordnete der Nationalversammlung, Robert Stricker, empfahl jedenfalls Schober. Der Ude-Verband ging diesmal mit Schober ; auch die Österreichische Frauenpartei, in der Gestalt von Marianne Hainisch, der Mutter des Alt-Bundespräsidenten, war von ihm begeistert. Delegationen pilgerten zu Schober nach Perg, seinem Geburtsort, wo er ein Haus hatte, um ihn zur Kandidatur zu überreden. Die »Neue Freie Presse« begrüßte sein Ja-Wort mit Aufatmen : »Nun haben die Heimatlosen unserer Politik die Zuflucht gefunden, die sie brauchen.« Bei der Manöverkritik der »umgekrempelten« Großdeutschen hieß es dann nachträglich auch : »Die ganze Sache sei der Partei entglitten. Führend war die Wirtschaft.« Doch Langoth würgte jegliche Kritik mit dem Hinweis ab, im Alleingang hätte man vermutlich überhaupt kein Mandat mehr erreicht. So sei es zu einer wesentlichen »Verbreiterung« der Partei gekommen.537 Sicherlich, seit Königgrätz und Moltke war allen das schöne Schlagwort bekannt : Getrennt marschieren und vereint schlagen. Dennoch : Der Aufmarsch zu den Wahlen mit seinen vielen, einander überkreuzenden Linien sah nicht danach aus, als ob er ausgerechnet den Vorstellungen des Architekten der Einheitsliste entsprochen hätte. Leider hatte Seipel im Wahlkampf keine Zeit zu ausführlichen Briefen. Gut, die Einheitsliste hatte sich 1927 nicht gerade blendend bewährt. Die Großdeutschen hatten schon auf ihrem Parteitag im Frühjahr 1930 von Richtungswahlen geschwärmt, die möglich geworden seien, seit die Sozialdemokraten nicht mehr ganz so drohend auftraten. Aber wenn man schon getrennt marschieren musste, hätte es vermutlich besser zur Strategie Seipels gepasst, den Großdeutschen durch die Heimwehren eine Blutauffrischung zu verpassen – und sie damit noch fester an den Karren der antimarxistischen Solidarität zu binden. Ein solches Angebot erreichte die Großdeutschen auf Umwegen auch noch – aber da zählte der Schoberblock bereits zu den vollzogenen Tatsachen. Starhemberg wollte wenigstens die NSDAP als nationalrevolutionären Juniorpartner hinter dem Heimatblock vergattern, holte sich bei Hitlers durch seine Erfolge im Reich größenwahnsinnig gewordenen österreichischen Trabanten allerdings eine Abfuhr.538 Wenn Seipel auch nicht wirklich der Spiritus rector all dieser Turbulenzen war, so war er doch der Mentor dieser Regierung. Vaugoin war Kanzler ; Starhemberg Vizekanzler ; Seipel übernahm das Außenamt – und verbat sich, dass irgendjemand außer ihm »Äußerungen außenpolitischer Natur« von sich gäbe. Das diplomatische Korps nahm mit Erstaunen zur Kenntnis, mit welcher Ehrerbietung Vaugoin den Altmeister behandelte. Seipel führte ein strenges Regiment : Er cajolierte die beiden Heimwehrminister und behielt sie in guter Erinnerung, aber er nahm sie auch an
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Abbildung 30 : Hochburgen der NSDAP
die Kandare.539 In der Causa Prima, die zum Sturz Schobers geführt hatte, ernannte Vaugoin den jungen Dollfuß als Nachfolger Banhans zum ÖBB-Präsidenten, der wiederum Strafella endlich zum Generaldirektor. Allerdings ließ sich der Grazer bis zur Entscheidung seines Prozesses in zweiter Instanz beurlauben – man fragte sich, warum niemand diese Lösung früher eingefallen war. Starhemberg als Vizekanzler und Innenminister schloss von seinem eigenen mulmigen Gefühl auf die Stimmung der Wähler – und war pessimistisch. Er rechnete bei den Wahlen mit einer »rot-grünen« Mehrheit (Sozialdemokraten und Landbund). Mussolini hatte ihm immer eingeschärft, man müsse die Roten zum Losschlagen bewegen, um mit der Gegenbewegung dann das ganze System hinwegfegen zu können. Doch die Sozialdemokratie warnte ihre Genossen vor »Unbesonnenheiten« selbst im Falle von Hausdurchsuchungen und nahm sich Renners Devise zu Herzen : Man dürfe den Herren von der Heimwehr nicht den Gefallen tun, sich dorthin zu stellen, wohin sie schießen.540 Um die Sozialdemokraten doch noch aus der Reserve zu locken, liebäugelte Starhemberg deshalb mit der Auflösung des Schutzbundes – und war enttäuscht, als ausgerechnet Seipel sich dagegen querlegte und ihm einen Strich durch die Rechnung machte. Ein Teil der Heimwehren wollte die Sache selbst in die Hand nehmen und auf Wien marschieren. In der Steiermark munkelte man von allerlei abenteuerlichen
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Plänen. Ein Emissär der wilden Völker jenseits des Semmering erregte in Ungarn Aufsehen, als er bieder anfragte, ob die Heimwehren nicht über Ödenburg marschieren – und sich bei der Gelegenheit auch gleich mit Waffen eindecken könnten. Der Möchtegern-Putschist, Pfrimers zeitweiliger »Wehrführer« Otto Ellison v. Nidlef, ließ verlauten, nur ein Befehl seines Kaisers könne ihn davon abhalten. Ein monarchistischer Putsch, der möglicherweise internationale Verwicklungen heraufbeschwören könnte, ließ die Alarmglocken schrillen und rief die Geldgeber auf den Plan. In Ungarn fand deswegen bei Reichsverweser Horthy höchstpersönlich eine Konferenz statt. Ministerpräsident Bethlen schickte einen seiner Vertrauensleute nach Wien, um den Heimwehren eine Standpauke zu halten. In der Steiermark aber erklärte Apold vor Ort, eine Beteiligung seiner Leute an einer Sonderaktion Pfrimers sei »mit allen Mitteln zu verhindern«.541 Das Wahlergebnis war die Aufregung nicht wert : Die Berge kreisten – und gebaren eine Maus. Die Sozialdemokraten hatten einen Prozentpunkt verloren – von 42,3 % auf 41,1 % – aber ein Mandat gewonnen (von 71 auf 72) ; der Landbund seine neun Sitze unbeschadet verteidigt ; die beim letzten Mal von Seipel gut dotierten Großdeutschen hatten genau genommen vier Mandate verloren – aber mit Schober und Vinzl zwei Hospitanten gewonnen. Die Regierung Vaugoin hatte ihr Saldo von 73 auf 74 erhöht und ließ sich deshalb als Sieger feiern. Bei den 74 waren die acht Mandate des Heimatblocks freilich schon mitgezählt ; die Christlichsozialen als Partei hatten sieben Mandate verloren, nachdem sie schon das letzte Mal zugunsten der Großdeutschen hatten Federn lassen müssen : Von den 82 Sitzen des Jahres 1923 waren ihr nur mehr 66 geblieben. Die Sozialdemokratie war nach einem Jahrzehnt wiederum stärkste Fraktion im Nationalrat. Rein statistisch hatten die »Antimarxisten« verloren, weil über 110.000 NSDAP-Stimmen (3 %) und über 40.000 oberösterreichische Landbündler mangels Grundmandat im Nationalrat nicht vertreten waren. Die Wählerbewegungen ergaben einen kunterbunten Reigen : Schober hatte in Wien – und bei den Frauen in den Städten – überdurchschnittlich gepunktet ; Großdeutsche und Landbund dafür an den Heimatblock verloren ; die Sozialdemokraten am Lande verloren, gerade auch an den Heimatblock, z. B. in der Steiermark – aber in Wien noch einmal ein wenig zugelegt. Der Heimatblock war mit 6 % unter seinem Wert geschlagen worden, aber er hatte den Sprung in das ungeliebte Parlament geschafft, auch wenn er sein Grundmandat in erster Linie der Alpine verdankte. Nur die Christlichsozialen konnten sich mit keiner einschlägigen Statistik trösten. Kunschak verkündete auf ihrem nächsten Parteitag das Dogma : Der Starke ist am mächtigsten allein – all diese windigen Bundesgenossen hätten der Partei nie Segen gebracht.542 Die Wahlen vom 9. November 1930 waren das erste und einzige Mal, dass ein Bundespräsident – wenn auch der Not gehorchend (sprich : seinem Parteiobmann), nicht dem eigenen Triebe – von den vieldiskutierten Kompetenzen Gebrauch ge-
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macht hatte, die ihm vor Jahr und Tag verliehen worden waren. Das Resultat dieses Experiments war nicht ermutigend ; niemand ist Miklas auf diesem Wege seither gefolgt. Vaugoin hatte darauf spekuliert, zusammen mit der »unwiderstehlichen Volksbewegung« die Mehrheit erringen zu können – und war gescheitert. Die Opposition – Schober mehr noch als die Sozialdemokraten – forderte seinen Rücktritt. Die Sozialdemokraten hofften auf eine Beamtenregierung, die sich auf eine MitteLinks-Mehrheit stützen würde. Als Eröffnungsgambit schlugen sie Miklas eine Konzentrationsregierung vor ; als kleineres Übel galt für sie eine »vernünftige bürgerliche Koalition«, ohne Heimatblock und ohne Vaugoin, die »nicht gegen uns« ist. Starhemberg – und offenbar auch einige der Generäle aus Vaugoins Ministerium – versuchten den Kanzler zu überreden, das Experiment doch einfach noch einmal zu wiederholen und das Parlament ein zweites Mal aufzulösen usw. Damit bewegte man sich auf dünnem Eis : Die Verfassung sprach ausdrücklich davon, der Präsident dürfe den Nationalrat nur einmal aus demselben Grund auflösen. Vaugoin wehrte jovial ab, derlei Experimente würde seine Konstitution nicht vertragen, von der Verfassung einmal ganz abgesehen.543 Seipel wollte den Zerfall des Bürgerblocks aufgrund der Causa Strafella als Betriebsunfall abtun und eine »große Koalition« bilden, wohlgemerkt : eine »große bürgerliche Koalition«, eine Vier-Parteien-Koalition inklusive des Heimatblocks, die sich durch ein »Koalitionsstatut« zum gemeinsamen Handeln verpflichten sollte. Damit biss er bei Schober auf Granit : Das Verhältnis von Schober und Starhemberg hatte sich dramatisch verschlechtert, nicht zuletzt weil Starhemberg als Innenminister bei der Polizei Veränderungen vorgenommen hatte, die Schober gegen den Strich gingen. Schober legte gegen eine Beteiligung des Heimatblocks sein Veto ein.544 Beim Hauptverband der Industrie überlegte man, ob es nicht an der Zeit wäre, zusammen mit den Banken einen gemeinsamen Appell an die bürgerlichen Parteien zu richten, im Klartext : Druck auf Schober auszuüben. Doch die Bankiers (Hammerschlag und Neurath) waren zu keinen einseitigen Aktionen bereit. Die Initiative verlief im Sande.545 Die Christlichsozialen waren loyal zu Vaugoin, doch nur bis zu einem gewissen Grad : Die Bewegung gegen den Kurs Vaugoins war längst im Gange ; er sollte Heeresminister bleiben, aber als Kanzler zurücktreten ; Miklas drohte angeblich, ihn sonst einfach zu entlassen und einen Sozialdemokraten mit der Regierungsbildung zu betrauen ; das lange Register ähnlicher Klagen des Bundespräsidenten in Zukunft lässt vermuten, dass es sich dabei um leere Drohungen handelte. Aber jedenfalls dürfte ein beträchtlicher Teil der Christlichsozialen ganz froh gewesen sein, Schober mit seinem Ingrimm den Vortritt zu lassen – und sich aufatmend ins Unvermeidliche zu fügen. Die »größte Schwierigkeit«, so berichtete ein Insider, liegt »in dem fast unüberbrückbaren Gegensatz zwischen den beiden Flügeln der Christlichsozialen Partei«.546 Als salomonische Lösung übernahm der Vorarlberger Landeshauptmann
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Ender – einer der wenigen Länderpolitiker, die auch Seipel respektierte – diesmal tatsächlich das Kanzleramt. Ender war für die Rolle als Mediator in innerparteilichen Krisen wie geschaffen : Ihn verband mit den oberösterreichischen Heimwehrgegnern – als Alternative zu Ender wurde damals auch Schlegel genannt – eine ebenso gute Gesprächsbasis wie mit Steidle, über seinen Leibburschen Richard Wollek von den Innsbrucker »Austern« – der ältesten CV-Verbindung des Landes – hatte er einen direkten Draht zu den Niederösterreichern. Ender entzog sich noch deutlicher als andere der beliebten Einordnung in »Vulgärdemokraten« (Copyright Otto Bauer) und Demokratieskeptiker. Er präferierte mit seiner sprichwörtlichen alemannischen Nüchternheit eindeutig Lösungen, die nicht nur gut klangen, sondern auch tatsächlich funktionierten. Die Christlichsozialen vollzogen ohne überflüssigen Theaterdonner einen Kulissenwechsel. Vaugoin blieb Parteiobmann, war aber offenbar nie wieder als Kanzler im Gespräch. Seipel war gesundheitlich angeschlagen und verbrachte die nächsten Monaten auf Kur in Meran und Davos.547 Ex-Vizekanzler Starhemberg markierte inzwischen Fundamentalopposition, wurde der parlamentarischen Manöver aber bald überdrüssig und legte sein Mandat zurück. Sein Vorgänger Steidle setzte zur Vendetta gegen Starhemberg und dessen glückloses Agieren an : Man könne über seine Führung sagen, was man wolle, zumindest habe es damals eine Führung gegeben. Starhemberg hingegen habe sich treiben lassen. Bereits im Februar 1931 spalteten sich die Heimwehren in einen Starhemberg- und einen Steidle-Flügel ; Raab und seine Niederösterreicher hatten den Verband noch im Dezember 1930 verlassen (was sich vielleicht als taktischer Fehler erwies, sobald es darum ging, Starhemberg auszuhebeln). Von der »unwiderstehlichen Volksbewegung« blieb nach all den Querelen vorerst nicht viel übrig. Baron Ehrhart formulierte es so : Bei den Heimwehren »müssen alle möglichen Geschwüre erst von innen herauseitern«. Bis dahin seien auch nur »wesentlich gekürzte Beiträge« zu überweisen. Starhemberg selbst ließ sich am 2. Mai 1931 von der Bundesführung »beurlauben«.548 Schober war der Mann der Stunde und wusste mit seinem Pfunde zu wuchern. Solange der Schoberblock zusammenhielt, verfügte er mit drei Ministern über eine beachtliche Machtbasis. Dazu kam Juch als Finanzminister, der aus dem SchoberKabinett übernommen wurde. Schober als Vizekanzler wollte am liebsten das Außenund das Innenministerium in Personalunion führen. Ender müsse ihm zusichern, dass »ich im Inneren Ordnung machen kann«. Dieser Tobak war selbst dem konzilianten Ender zu stark. Am 2. Dezember 1930 schien ein toter Punkt erreicht. Ender erklärte : »Zum Schattenkanzler gebe ich mich nicht her.« Schon war die Rede von einem Beamtenministerium als letzter Zuflucht – und Eingeständnis des Scheiterns. Schließlich einigte man sich auf den Kompromiss : Innenminister wurde Winkler (wie zuvor schon die Landbündler Schumy und Hartleb), der aber versprach, in den heiklen sicherheitspolitischen Agenden nichts ohne das Einvernehmen Schobers zu
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tun. Der großdeutsche Obmann Schürff musste diesmal mit dem Justizministerium vorliebnehmen.549 Die Großdeutschen begannen auch umgehend mit einer Wahl Schobers zum Bundespräsidenten zu spekulieren : Schober wies diese Versuchung weit von sich, doch zumindest Seipel nahm ihm das nicht ab – und war alarmiert : Selbst »Renner schreckt mich nicht so sehr«. Dessen Wahl »wäre formal eine arge Niederlage, aber in die christlichsoziale Partei würde er nicht eindringen.« »Jener« aber würde »auch als beatus possidens alles ruinieren.«550 Innerhalb der Christlichsozialen gewannen die Niederösterreicher an Boden. Landeshauptmann Buresch und die Niederösterreicher hatten sich schon nach der verlorenen Wahl gegen eine Beteiligung des Heimatblocks an der Regierung und gegen einen Wiener Kanzler ausgesprochen.551 Das Unterrichtsressort erhielt statt Schmitz wiederum Emmerich Czermak, den schon Streeruwitz ins Kabinett geholt hatte. Eine Neuerwerbung war Czermaks Freund Dollfuß, der im März Seipels langjährigen Landwirtschaftsminister Thaler ablöste (der sich damals schon mit dem Gedanken trug, eine Tiroler Kolonie in Südamerika zu gründen und zu einer ersten Erkundungsmission aufbrach). Seine niederösterreichischen Gönner hatten Dollfuß schon unter Schober zum Sozialminister befördern wollen. Damals musste er noch hinter Innitzer zurückstehen. Seipels Urteil über den Neuling ließ wenig Sympathie erkennen. Dazu passt die Reminiszenz des Seipel-Verehrers Schuschnigg, Dollfuß habe sich im Klub einen Namen gemacht, weil er gegen Seipel aufgestanden sei. Vielleicht mehr noch als die persönliche Reserve erstaunt die Distanz zur agrarischen Klientel seiner Partei, die aus Seipels Bemerkungen spricht : Dollfuß habe zweifellos »eine bewundernswerte Energie, er weiß auch viel Agrarisches, aber ich fürchte, er versteht nichts. […] Er sollte nicht in Krisenzeiten Minister werden, in denen man Ideen haben muss, die auch verwirklicht werden können. In normalen Zeiten wäre er gut. […] Wenn er sich als Minister blamiert, ist er ganz fertig. Von den Bauern kriegt er dann den kräftigen Fußtritt, denn eigentlich gönnen sie doch alle miteinander dem noch so bäuerlichen und bauerndevoten Studierten das Ministerium nicht.«552 Schobers Tatendrang – und sein Geltungsbedürfnis – waren ungebremst. Er kam sofort auf das Projekt der Zollunion mit Deutschland zurück, das er schon im Vorjahr angeschnitten hatte. Aufgrund einer Indiskretion – oder auch bloß von Unstimmigkeiten über den Terminkalender – wurde die Sache vorzeitig bekannt ; Schober und Curtius mussten bereits am 21. März 1931 mit ihren »Richtlinien zur Angleichung der zoll- und handelspolitischen Verhältnisse« an die Öffentlichkeit gehen. Im Vorjahr hatte Curtius gemeint, man werde auf einen günstigen Zeitpunkt warten : »Wenn die gesamteuropäische Konstellation eine Lücke bietet, müssen wir sofort hineinstoßen können.« Seine Beamten waren da schon viel weniger enthusiastisch. Sie formulierten verklausuliert : Die Lösung der Frage würde sich »wohl nur auf dem Wege einer die außenpolitischen Momente berücksichtigenden behutsam vorberei-
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teten Verständigung erreichen lassen. Diese anzubahnen wäre gegebenenfalls Sache Österreichs.«553 War im Frühjahr 1931 wirklich »die Lücke«, das »window of opportunity« gekom men ? Für wirklich günstig hielt den Zeitpunkt auch jetzt keiner. Seipel und Bauer befanden sich in dieser Hinsicht in prästabilierter Harmonie. Seipel schrieb : »In meinem Inneren bin ich nicht ganz von Schadenfreude frei. Diese Aktion wurde den Weststaaten gerade von dem österreichischen Außenminister angetan, der im Inneren davon lebt, daß er der Mann des großen Vertrauens des Auslandes ist.« Doch auch er war der Meinung : »Wenn unsere Regierung ein so starkes Spiel angesagt hat, müssen wir alle es mitspielen.« Ob Fehler begangen wurden, werde man später untersuchen. Otto Bauer kam in seinem Parteivorstand zu demselben Schluss : Er halte den Plan für gefährlich und im unrichtigen Zeitpunkt unternommen. »Aber wir müssen vorbehaltlos dafür eintreten.«554 Wirtschaftspolitisch handelte es sich bei dem Zollunionsprojekt um eine Flucht nach vorne. Ohne Kurskorrektur drohten sich die Handelsbeziehungen zum Reich nämlich immer mehr zu verschlechtern. Vor 1914 hatte Bayern das österreichische Vieh hereingelassen, dafür stand der deutschen Industrie der Markt bis an die Tore Belgrads offen. Dieses Atout hatte Österreich inzwischen verloren. In Wien häuften sich die Klagen, man werde schlecht behandelt. Aufgrund der Meistbegünstigungsklausel mussten alle Konzessionen an Österreich auch allen anderen Drittstaaten eingeräumt werden : »Verhältnismäßig kleine Erleichterungen für Österreich bedeuteten für Deutschland daher eine große Belastung.« Ein Handelsvertrag – wie er im April 1930 endlich vorlag – bot wenig Abhilfe, denn die Meistbegünstigungsklausel erlaubte keine Sonderkonditionen für Österreich. Der Vertrag sei schlecht, gab Schürff zu, aber er müsse im nationalen Interesse dennoch abgeschlossen werden. Dollfuß als Agrarier warnte, er gönne den deutschen Brüdern die beschlossenen Zollerhöhungen aus vollem Herzen, aber sie dürften nicht zu einer Katastrophe für die österreichische Landwirtschaft führen. Aufgrund der enttäuschten Erwartungen der Landwirtschaft wurde der Vertrag zunächst einmal liegengelassen und erst ein halbes Jahr später, nach den Wahlen, zur Ratifikation vorgelegt.555 Daher erschien der Rückgriff auf die Zollunion dringend und drängend, die auch nicht einseitig als Vorwegnahme des Anschlusses ausgeschildert wurde, sondern ganz politisch korrekt als erster Schritt auf dem Weg zu einem vereinten Europa, wie der französische Außenminister Briand es erst unlängst visionär in den Raum gestellt habe. Auch Dollfuß sprach auf dem christlichsozialen Parteitag im April von der Zollunion als Ausgangspunkt für den Zusammenschluss Europas gegen die überseeische Konkurrenz. Das gesamte Mitteleuropa war aufgerufen, sich an der Zollunion zu beteiligen. Das wäre eventuell auch für die tschechischen Agrarier ein attraktives Angebot gewesen (für die sudetendeutsche Industrie vermutlich schon weniger !), doch Beneš lehnte ab. Rein technisch gab es nur ein Problem : Wollte man
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der Meistbegünstigungsklausel entkommen, so musste man die Zollunion ganz oder gar nicht machen. Erst wieder Zwischenzolllinien einzuführen – um diese oder jene Branche zu schützen – war dann nicht möglich.556 In Österreich waren die Agrarier – und der Handel – selbstverständlich in freudiger Erwartung. Bloß die Industrie hatte das Projekt am falschen Fuß erwischt. Hauptverbands-Präsident Urban wollte das neugewählte Parlament mit einem »radikalen Vorstoß« für eine Hochschutzzollpolitik begrüßen. Die protektionistische Tendenz gewann in der beginnenden Weltwirtschaftskrise denn doch die Oberhand. Exportförderung sei ja sehr hübsch, »nur wo ist der Exportmarkt, den man erobern will ? Den heimischen Markt sich zu erhalten ist mir lieber.«557 Das Zollunionsprojekt mit seinem freihändlerischen Motivenbericht kam ihm da keineswegs gelegen. Die sachliche Divergenz wurde durch einen protokollarischen faux pas verschlimmert : Schober lud die Herren der Industrie vorab zu einer Besprechung ein – und ließ sie dann im Vorzimmer so lange warten, bis sie nach einer Dreiviertelstunde auf die Ehre verzichteten.558 War das jetzt ein unglücklicher Zufall oder wollte Schober der Unterredung bewusst ausweichen ? Ehrhart schlug vor, die prinzipielle Debatte in Einzelgefechte (»Branchenfragen«) aufzulösen. Auch da war es nicht immer leicht, zu eindeutigen Stellungnahmen zu kommen. So sprach sich z. B. die Automobilindustrie gegen die Zollunion aus, doch gerade Paul Götzl, der Generaldirektor der krisengeschüttelten Steyrwerke (die als einzige mit Fließbandfertigung arbeiteten, aber nicht genügend Absatz hatten), war dafür. Die metallverarbeitende Industrie (Blech- und Drahtwerke) fürchtete die reichsdeutsche Konkurrenz, die Edelstahlwerke nicht.559 Die internationalen Reaktionen folgten einem vorhersehbaren Muster. Paris und Prag waren wütend, die Briten vermittelten. Sie hatten prinzipiell nichts gegen die Idee, aber sie fürchteten »the capacity of France to make mischief«. Man hätte die Sache besser vorher mit Briand abklären sollen. Ihr Vorschlag lautete, die Frage, ob die Zollunion mit den Bestimmungen der Friedensverträge in Einklang zu bringen sei oder nicht, dem Völkerbundrat vorzulegen (der die heiße Kartoffel dann prompt an das Internationale Schiedsgericht in Den Haag weiterreichte). Bis dahin hatte Schober einen Verhandlungsstopp zugesagt. Vor dem Hauptausschuß schränkte Schober diese Zusage unter der Hand mit einer seiner Schlaumeiereien ein, in der Zwischenzeit könnten ja die Wirtschaftsverbände ihre Vorarbeiten beenden und sich über ihre Stellungnahmen einig werden.560 Der Völkerbundsrat sollte am 18. Mai zusammentreten. Inzwischen herrschte im Schoberblock Euphorie. Es ging wieder aufwärts. Die Zweifel der Großdeutschen am Schoberblock waren ausgeräumt. Gerade der »Unabhängige mit der Kornblume«, so schien es, hatte die Deutschnationalen zu einem ersten Etappensieg auf dem Weg zum Anschluss geführt.
IV. Die großen Krisen »Schuldenmachen ist offenbar nicht gegen die nationale Würde. Wenn das Geld zurückverlangt wird, das ist gegen die nationale Würde.«561 Ignaz Seipel, Oktober 1931 »Das Hauptbuch der Welt stimmt nicht mehr. Alle Gläubiger zusammen haben viel mehr zu fordern als alle Schuldner zahlen können.«562 Robert Ehrhart, Vizepäsident des Hauptverbandes der Industrie, 10. Februar 1932
1. Der Zusammenbruch der Creditanstalt 1931/32 Der »schwarze Freitag« Der »schwarze Freitag« – der diesmal eigentlich ein Donnerstag war – machte sich in Österreich erst mit landesüblicher Verspätung so richtig bemerkbar. Der Krach an der Wall Street im Oktober 1929 war ursprünglich sogar nahezu als Wohltat, als »blessing in disguise« empfunden worden. Denn in Österreich war nach einem Ansturm auf die Schalter eben erst die Elefantenhochzeit zwischen der CA und der Bodencreditanstalt über die Bühne gegangen. Schober war nicht allein, wenn er aufatmete, der Kurssturz im Amerika würde die Österreicher jetzt wenigstens davon abhalten, weiter Dollar zu kaufen. Vielleicht käme Europa nach dem Ende des Booms in den USA endlich in den Genuss niedrigerer Zinssätze. Die Weltwirtschaftskrise zog zuallererst die führenden Industrienationen in Mitleidenschaft, die USA und das Deutsche Reich, die umgekehrt auch von den »roaring twenties« am meisten profitiert hatten. In Österreich hatte die Misere bereits Tradition, man nahm den neuerlichen Konjunktureinbruch 1930 noch nicht allzu tragisch. Zum Teil wurde seine Wirkung auch tatsächlich durch die Investitionsanleihe aufgefangen, die 1930 zu einem unerreicht hohen Niveau öffentlicher Investitionen führte ; zum Teil wurden die Schwierigkeiten auf das Konto der BCA-Pleite gebucht, die zur Abwicklung diverser Betriebe führte, vor allem in Niederösterreich. Die berühmte Studie über die Arbeitslosen von Marienthal bei Gramatneusiedl beschäftigte sich mit den Folgen der Schließung eines Betriebes des Mautner-Konzerns schon im Februar 1930. Das Produktionsniveau und die Arbeitslosenziffern entsprachen dem Jahre 1926. Politisch standen 1930 noch eindeutig die Schmerzen der Landwirtschaft im Vordergrund, die schon seit Jahr und Tag unter Preisverfall litt : Es ging um Getreidemonopol oder Anbauprämien, Mehlauflage und Schweinezoll. Erst um die Jahreswende 1930/31 begann die Industrie im Nachziehverfahren
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über ein eigenes Krisenbekämpfungsprogramm nachzudenken, das über die klassischen Rufe nach Verminderung der sozialen Lasten hinausging.563 Der »schwarze Freitag« für Österreich, der Auslöser für eine Kette von Krisen, war der 8. Mai 1931, als nach der Bodenkredit jetzt auch die Direktoren der Creditanstalt (CA) die Politik mit dem Eingeständnis überraschten, in der Bilanz der Bank klaffe eine Lücke, die ihr Kapital bei Weitem übersteige. Die Rede war anfangs von Verlusten in der Höhe von 140 Mio. S – das war viel, aber noch immer nicht zu viel. Halb so viel hatte auch schon die biedere Zentralbank der deutschen Sparkassen gekostet. Die CA konnte zudem an das »schlechte Gewissen« der Politik appellieren : Die 140 Mio. entsprachen den Verlusten, die ihr im Zuge der Übernahme des BCA-Konzerns aufgehalst worden waren (allein Steyr schlug da mit fast 100 Mio. zu Buche). Seit der Fusion mit der Bodenkredit, so ließ sich das Schreckensszenarium weiterspinnen, hingen drei Viertel der österreichischen Industrie von der CA ab. Fazit : Wenn es eine Bank gab, die als »too big to fail« galt, dann die CA.564 Die Regierung reagierte prompt. Sie stellte der CA 100 Mio. S als Kapitalerhöhung zur Verfügung, das Haus Rothschild 30 Mio. – eine großzügige Geste, denn die Rothschilds waren zwar nach wie vor der größte Aktionär der Bank, doch auch ihr Anteil betrug nur zwischen 6 und 14 %.565 Nach rein privatkapitalistischen Grundsätzen wäre der Staat damit zum Mehrheitseigentümer der CA avanciert. Doch genau diesem Danaergeschenk wollte die Regierung um jeden Preis ausweichen, weil die CA sonst, wie Ender es formulierte, »den unheilvollen Einflüssen unseres Parteiengetriebes unterworfen gewesen wäre«. Einer Staatsbank würde man im Ausland nicht mehr vertrauen. Eine indirekte Verstaatlichung eines Großteils der Industrie wollte man noch viel weniger riskieren. Man begnügte sich deshalb absichtlich mit einer Minderheitsbeteiligung (43 %). Diese vornehme Zurückhaltung war nicht unumstritten. Es hagelte Kritik von allen Seiten : Von den Sozialdemokraten, die vorrechneten, man habe den alten Aktionären auf diese Weise nicht weniger als 41 Mio. geschenkt, aber auch vom Heimatblock – und intern auch von vielen Christlichsozialen. Parteiobmann Vaugoin meldete sich im Klub zu Wort : »Daß die Aktionäre weniger verlieren, ist nicht verständlich.«566 Als Sündenbock gerieten die verantwortlichen Manager ins Visier, die auch tatsächlich zur Verantwortung gezogen werden müssten. Freilich, auch die öffentliche Hinrichtung diverser Spesenritter hätte die Bilanz nicht mehr verbessert. Die Rücksicht auf die Auslandsgläubiger war das eine ; die Reaktion der inländi schen Sparer das andere. Während sich die Auslandsgläubiger – verteilt auf über hundert Banken – in einem Komitee unter der Führung eines Cousins der österreichischen Rothschilds, Sir Lionel, zusammenfanden, waren die Inländer längst zur Tat geschritten und hoben ihre Guthaben bei der CA ab. Bis Ende Mai hatte die CA schon fast eine halbe Milliarde ausgezahlt ; für das Geld hinterlegte sie Wechsel bei der Nationalbank, die diesem Ansturm auf die Dauer nicht standhalten konnte.
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Wenn dieser Trend anhielt, müsste die Nationalbank ein Moratorium verhängen, der Geldverkehr überhaupt zum Stillstand kommen. Ein zweites »CA-Gesetz« war gefragt, ein zweiter »Rettungsschirm«, diesmal nach oben hin offen. Die Regierung erklärte sich zu einer Garantie der Guthaben bei der CA bereit. Ursprünglich sollte es sich dabei nur um eine Garantie für neue Einlagen handeln, die zur Stützung der Bank flüssiggemacht werden konnten. Diese Einschränkung ging im Eifer des Gefechts verloren, ja, sie beruhte letzten Endes auf einer Augenauswischerei, wie Ender wohl mit Recht argumentierte : Denn es hätte schließlich niemand die Anleger davon abhalten können, ihre alten Guthaben abzuziehen und – versehen mit der Garantie – neu einzuzahlen.567 Dieter Stiefel hat das harte Urteil gefällt : »Diese Staatshaftung kann als der größte wirtschaftspolitische Fehler der an wirtschaftspolitischen Dummheiten ohnehin nicht armen Zwischenkriegszeit angesehen werden.«568 Denn unter die Garantie fielen neuerlich einige hundert Mio. S. Die Kosten der CA-Sanierung summierten sich damit, inklusive der offenen Wechsel bei der Nationalbank, auf fast eine Milliarde S – bei einem jährlichen Budgetrahmen von inzwischen knapp über zwei Milliarden. Mit der Zeit kristallisierte sich auch immer deutlicher heraus, dass man bei den ersten Reaktionen auf die Krise – ohne die Möglichkeiten, hier erst lange Erkundigungen einzuholen – von falschen Voraussetzungen ausgegangen war. Zwar erwies sich die Summe von 140 Mio. als eine viel zu optimistische Schätzung der Verluste der Bank ; doch auf der anderen Seite beruhte die oft zitierte Horrorvision von drei Vierteln der österreichischen Industrie, die mit der CA stehen oder fielen, auf einer allzu pessimistischen Annahme. Schon zwei Wochen später war nur mehr von 28 bis 30 % die Rede, die Hälfte davon Betriebe, die ohnehin nicht mehr lebensfähig seien (und endlich »einmal zum Verschwinden gebracht werden« müssten, wie es ein Minister formulierte, den Satz im endgültigen Protokoll dann aber doch strich). Untersuchungen, die im Laufe des kommenden Jahres angestellt wurden, nannten einen Prozentsatz von rund einem Drittel (das Gutachten sprach von einem Mittelwert zwischen 14 und 68 %). Ender selbst zog daraus den Schluss, wäre man rechtzeitig im Besitz aller Informationen gewesen, hätte man die CA fahren lassen und das Geld lieber direkt zur Unterstützung der Industrie verwendet.569 War die Politik getäuscht worden – oder »konnte die Täuschung nur gelingen, weil die Abgeordneten sich täuschen lassen wollten ?«570 Bezeichnend war schon einmal die Art und Weise, wie diese Entscheidung über die Staatshaftung zustande kam : Das Haftungsgesetz vom 27./28. Mai sprach nämlich noch gar keine Garantie aus, sondern erteilte der Regierung bloß die Ermächtigung, dem Finanzminister die Ermächtigung dazu zu erteilen. Inzwischen wurde mit dem Komitee der Auslandsgläubiger verhandelt, das vor allem britische und amerikanische Banken umfasste. Ender war dem Holländer Adrian van Hengel dankbar (»den hat uns die Vorsehung geschickt«), dass er die 160 Gläubigerbanken »unter einen Hut« gebracht habe. Die Auslandsgläubiger
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boten ein Stillhalteabkommen an : Sie würden ihre Guthaben zwei Jahre lang nicht abziehen, wenn die Garantie erfolgte ; für die Auslandsgläubiger verhandelte in Wien Sir Robert Kindersley, ein Vertrauensmann von Montagu Norman, dem Gouverneur der Bank of England. Deren Wohlwollen wollte man nicht leichtfertig aufs Spiel setzen. Ender resümierte : »Die Herren reisen ab, wenn wir nein gesagt hätten. Und es wird uns das Geld gekündigt.« Im Kabinett weitete er das Horrorszenarium sogar bis zu einer Besetzung Österreichs aus. Deshalb habe er seine Meinung geändert : Die Garantie sei immer noch das »himmelweitaus geringere Übel«.571 Dieses Szenarium wurde damals und später oft als Erpressung bezeichnet. Otto Bauer sprach davon, so ließen sich vielleicht »afrikanische Negerstämme« behandeln. Finanzminister Juch stieß am 15. Juni im Ministerrat auch prompt auf den Widerstand des Landbündlers Winkler, der vor einem »Sprung ins Dunkle« warnte. Freilich : Winkler hatte zwar so seine Bedenken, die sich vielfach als durchaus begründet erwiesen, aber er wollte auch wiederum nicht die Verantwortung auf sich nehmen für all die Folgen, die ein ablehnender Bescheid möglicherweise nach sich ziehen könnte. Man zog sich also auf die Formel zurück : Die Einwände seien »irrelevant«, denn die Ermächtigung zu dem fatalen Schritt sei Juch ja bereits zwei Wochen vorher erteilt worden, es handle sich bei seinem Bericht also nur mehr um eine (unverbindliche ?) Information seiner Kabinettskollegen. Juch unterschrieb die Garantie am nächsten Tag um 13 Uhr ; erst als alles vorbei war, folgte das Kabinett der Anregung Winklers und reichte um 15 Uhr seinen Rücktritt ein. Winkler hatte sich einen guten Abgang verschafft – ohne der Hochfinanz wirklich den Fehdehandschuh hinzuwerfen.572 Ganz so ohne Tücken war freilich auch die Reaktion seiner Kollegen nicht : Winkler hatte von einer »Belastung auf Generationen« gesprochen. Doch Schober und Juch nahmen diese Perspektive auf die leichte Schulter. Man gab der Erpressung nach – Juch selbst verwendete übrigens das Wort –, weil man ganz offensichtlich ohnehin nicht daran dachte, das geforderte Versprechen einzuhalten. Im Hintergrund lauerte das Ultra posse nemo obligatur. In gewissem Sinne lässt sich sagen, man übernahm die Garantie, nicht trotz der astronomischen Summe, um die es sich dabei handelte, sondern weil es sich um eine in Wahrheit unbezahlbare Schuld handelte. Um Keynes zu paraphrasieren : Wenn Sie 100 Mio. Schulden haben, haben Sie ein Problem ; wenn Sie 1000 Mio. Schulden haben, haben Ihre Gläubiger ein Problem. Schober erklärte mit weltmännischer Geste : Eine faktische Zahlung käme ja nicht in Betracht, denn »kein Mensch könne vom Bund wirklich die 80 Mio. $ verlangen«. Juch ging in diesem Sinne sogar noch einen Schritt weiter : Man könne jetzt nicht mehr zurück. Doch selbst die Engländer hätten durchblicken lassen, dass es sich bei ihrem Tilgungsplan bloß um eine Fiktion handle, die es ihnen ermögliche, das Gesicht zu wahren. Selbstverständlich würden die Österreicher auch in zwei Jahren nicht zahlen können. Man werde sich vielmehr um eine »Konsolidierung der Ver-
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bindlichkeiten« bemühen müssen, um eine Umschuldung auf lange Sicht. Inzwischen aber gelte : Zeit gewonnen, alles gewonnen. Auf diese Variante hätte sich sogar Winkler eingelassen – bloß wollte er die Aussicht auf die »langfristige Veranlagung« schriftlich haben, nicht bloß als unverbindlichen Gedankenaustausch.573 Die versäumte Chance ? Das Kabinett Ender war schon seit einigen Wochen von Turbulenzen heimgesucht worden. Nicht die Haftung war für diese Turbulenzen verantwortlich, sondern die Folgen, die sich unweigerlich schon aus den ersten 100 Mio. ergaben, die ja irgendwo wieder hereingebracht werden mussten. Sparen konnte man – hic et nunc – nur bei den Beamtengehältern. Die letzten sechs, sieben Jahre hatten die Beamten versucht, die Einbußen wettzumachen, die sie im Gefolge von Inflation und Sanierung erlitten hatten. So waren ihnen schon unter Ramek anfangs als Sonderzulage, dann zur Routine gewordene Weihnachtsgelder zugebilligt worden, als Keimzelle des »13. Monatsgehalts«. Mit der CA-Krise – genau genommen sogar schon ein paar Wochen vorher – setzte der Krebsgang ein : Die Beamtenschaft geriet in die Defensive und wurde gedrängt, Monat für Monat da oder dort ein paar Prozent nachzugeben. Die ersten Kürzungen waren bei einem Ministerrat beschlossen worden, bei dem Schürff – als Obmann der Großdeutschen in gewisser Weise der Pflichtverteidiger der Beamtenschaft – fehlte. Schürff war deshalb schon Ende Mai zurückgetreten, seine Partei unterstützte die Regierung aber weiterhin. Ender wollte die Regierung nur weiterführen, wenn man ihm ausreichende Vollmachten einräume. Dazu waren die Koalitionspartner nicht bereit. Wenn der Schoberblock zu den unsicheren Kantonisten zählte – einmal die Großdeutschen, dann der Landbund sich von der Regierungspolitik distanzierten –, wenn eine finan zielle Krise von unvorhersehbaren Dimensionen drohte, lag es dann nicht nahe, die Möglichkeit auszuloten, zur Abwechslung wieder einmal eine Zusammenarbeit mit den Sozialdemokraten zu suchen ? Die Sozialdemokratie hatte sich seit dem »schwarzen Freitag« – bei aller Kritik im Detail – im Prinzip sehr konstruktiv verhalten. Sie hatte – gegen Zugeständnisse bei der Notstandshilfe – Ende Mai für das 2. Haftungsgesetz gestimmt. Ender resümierte am 16. Juni : »Wir haben keinen Plan durchgeführt, den Breitner nicht unter vier Augen gebilligt hat.« Er fügte allerdings wenige Stunden vor seinem Rücktritt auch hinzu : »Wenn ich die Zeichen richtig lese, ist es vorüber mit der Duldung.« Die Protokolle des sozialdemokratischen Parteivorstands bestätigen diesen Eindruck. Denn auch ihre Klientel litt unter den beabsichtigten Kürzungen. So beschloss man am 8. Juni : »Obstruktion gegen das Arbeitslosenversicherungsgesetz, ohne sie jetzt schon zu deklarieren.«574 Das Verhältnis bedurfte zweifelsohne einer Klärung. Es war Dollfuß, der am 15. Juni vorgeschlagen hatte, die Sozialdemokraten einzubeziehen und die Verant-
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wortung für die Garantie doch auf den Hauptausschuß des Nationalrats abzuwälzen. Damit stieß er bei seinen Kollegen allerdings nicht auf Gegenliebe – bis auf Winkler. Es war allem Anschein nach Bundespräsident Miklas, der auf die Idee verfiel, diesen Sondierungen den Charakter eines formellen Koalitionsangebots zu verleihen – und damit just Seipel zu betrauen. Die Episode zählt in der vielzitierten »Erinnerungskultur« zu den berühmten versäumten Gelegenheiten, die keine waren – auch wenn die gegenseitigen Schuldzuweisungen seither nicht aufhören. Die Fantasie entzündete sich an der Vorstellung, wenn Ignaz Seipel und Otto Bauer mitsammen eine Koalition bildeten, könne den beiden Dogmatikern doch wirklich niemand »Packelei« vorwerfen. Otto Bauer sprach in seinem berühmten Nachruf auf Seipel ein Jahr später davon, Seipel habe es »schwer getragen, daß die Sozialdemokratie damals sein Angebot ablehnte«.575 Bauer hatte in dem einen Punkt recht : Seipel war vom Scheitern seiner Mission im Juni 1931 tief getroffen. Aber die Sozialdemokratie traf daran keine Schuld. Seipel sprach im christlichsozialen Klubvorstand am 19. Juni sehr distanziert von der Vorstellung »in einer solchen Lage soll man die Sozi nicht allein draußen lassen, sondern zur Mitverantwortung heranziehen. Auch den Bundespräsidenten hat diese weitverbreitete Meinung beeinflusst. […] Ich weiß nicht, mit wem er sich beraten hat.« (Die Großdeutschen wollten wissen, Miklas habe sich mit dem Linksverbinder Gürtler getroffen – und Seipel ihm deswegen Vorwürfe gemacht ! ?) Gedacht war wohlgemerkt nicht an eine »Große Koalition«, sondern an eine Konzentrationsregierung : »also alle Parteien und eine befristete [Regierung], etwa bis Neujahr !« Dieses Angebot war nicht allzu attraktiv. Die Sozialdemokraten sollten unpopuläre Maßnahmen mittragen, den Christlichsozialen helfen, ihre widerspenstigen Koalitionspartner zur Raison zu bringen – und nach einem halben Jahr aller Voraussicht nach wieder ausgebootet werden. Zweifellos : Provisorien können sich als langlebig erweisen. Intendiert war ein »Systemwechsel« in Richtung »Proporzdemokratie« oder Elitenkonvergenz 1931 jedoch keinesfalls. Die Sozialdemokratie tat sich dementsprechend leicht, das Offert abzulehnen. Bauer befürwortete den Regierungseintritt auch keineswegs : Er argumentierte, man dürfe die Mitverantwortung nicht zu früh übernehmen, zumal sich in der gegebenen Situation nichts Besonderes machen ließe. Auffallen mochte nur, wie sehr er – der im vergangenen Jahr immer wieder den verdrossenen Unnachgiebigen markiert hatte – diesmal bereit war, des Langen und Breiten das Für und Wider abzuwägen. Zuerst schlug er vor, auf die Einladung mit einem Programm zu antworten, das für die Gegenseite nicht annehmbar sei ; dann machte er sich wieder Sorgen, man dürfe nicht den Anschein erwecken, dass die Sache an einer Lappalie scheitere. Das Nein solle nicht an die große Glocke gehängt werden, um sich »vernünftige Möglichkeiten nicht zu verschütten«. Oft wurde hervorgehoben, wiederum mit allen möglichen Hinweisen auf tragische Verirrungen, dass gerade der rechte Flügel der Partei um
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Renner und Leuthner zu den Skeptikern zählte, vielleicht gar mit der Unterstellung, weil Renner seinem Rivalen Bauer den Vizekanzler nicht gönnte. Dabei kam Renner keineswegs ein entscheidendes Votum zu ; der Klub lehnte »in seltener Einmütigkeit« ab. Nur sieben Abgeordnete votierten dafür, wenigstens Bauers ursprünglicher Idee zu folgen und konkrete Forderungen aufzustellen. Selbst Danneberg warnte, »Seipel wolle die Partei nur in eine Falle locken«. Von der Parteiprominenz wurden nur Ellenbogen gewisse Präferenzen für eine Koalition nachgesagt, schüchterne Sympathien ließen interessanterweise die Gewerkschafter Böhm und Richter durchblicken.576 Die Debatte im christlichsozialen Klubvorstand hätte Renner jedenfalls in seinem Glauben bestärkt : Es waren die »Renners« auf »schwarzer« Seite, die Verstän digungspolitiker wie Streeruwitz, der oberösterreichische Parteiobmann Aigner oder Kollmann, die jegliche Konzessionen an die Sozialdemokratie ablehnten, bevor sie überhaupt noch verlangt worden waren : »Zusammenfassend : Die Bedingungen, welche möglicherweise gestellt werden können : Mietzins, Breitner, Vaugoin – sind ganz unmöglich ! Sind absolut unannehmbar !« Im Klartext : Die Christlichsozialen wollten um jeden Preis Vaugoin als Heeresminister behalten und im Finanzministerium wiederum Kienböck installieren. Ackerbau und Unterricht waren ebenfalls tabu. Was blieb da noch für die Sozialdemokraten als formell stärkste Partei ? Nicht viel größer war der Spielraum bei inhaltlichen Fragen : Eine Verschiebung der letzten Etappe der 1929 beschlossenen Mietzinserhöhungen galt als »Preisgeben von Errungenschaften«. Allenfalls in Zoll- und Getreidefragen signalisierte ausgerechnet Dollfuß, dass er mit Bauer eine Einigung erzielt habe.577 Die Frage der Regierung Seipel–Bauer war binnen weniger als vierundzwanzig Stunden erledigt. Man einigte sich einvernehmlich darauf, sich nicht zu einigen. Seitz, Danneberg und Renner kamen um 22 Uhr zu Seipel und übergaben ihm ein Kommuniqué. Sie versicherten ihm ausdrücklich, dass es nicht an ihm gelegen wäre, wenn sie das Angebot abgelehnt hätten. Seipel vergaß auch nicht zu erwähnen, die Sozialdemokraten seien nicht der Meinung, »daß meine Mission gescheitert sei«. Sie wollten »absolut die Bildung der Regierung nicht verschleppen. […] Sie wollen nur draußengelassen werden.«578 Damit kommen wir zu des Pudels Kern. Seipel hatte die Pflichtübung erledigt (»ich will nicht, daß mir der Vorwurf gemacht wird, den Versuch nicht gemacht zu haben«), jetzt ging es an die Kür – und zwar noch in derselben Nacht. Das Stenogramm vermerkt : »Ich glaube, daß man gleich beide Parteien (r)einladet und unsererseits gleich alle mitgehen.« Da war es kurz vor 23 Uhr. Kurz vor 2 Uhr früh wurde das Protokoll dann geschlossen : »Vaugoin teilt um 1.45 mit, daß die Großdeutschen auf einmal erklärten, nicht einzutreten. Kienböck : […] Schober ist geholt worden – war schon im Bett – und hat sich beschwert, daß er nicht beigezogen wurde. […] Buresch : Bis 12h schien es, daß alles glatt ginge. Schober ist
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schwer beleidigt.« Es war diese unwillkommene Mitternachtsüberraschung – und nicht die höfliche Absage der Sozialdemokraten –, die Seipel tatsächlich schwer im Magen lag, wie aus diversen seiner Äußerungen hervorgeht. Der Konflikt zwischen Seipel und Schober hatte seinen Höhepunkt erreicht. Und hinter dem MenschlichAllzumenschlichen, das dabei mitschwingt, standen gewisse außenpolitischen Kombinationen und Interventionen – so zumindest wollten es die Betroffenen interpretiert wissen. Kleinliche Intrigen wurden mit dem Hauch der großen weiten Welt geadelt. Denn während die Regierung Ender am Nachmittag des 16. Juni zurücktrat, begann die Finanzdiplomatie gerade erst zu großer Form aufzulaufen. Die umstrittene Haftung war ja nicht bloß erlassen worden, um den Abzug der Auslandsguthaben zu verhindern, sondern um neue Kredite flüssig zu machen. Just am 16. Juni trafen zwei Angebote ein : Zuerst ein französisches, das umgehend zu einem »Ultimatum« hochstilisiert wurde. Man würde die österreichischen Schatzscheine mit Empfehlung der Regierung an der Pariser Börse zulassen, wenn Österreich sich nicht bloß erneut der Finanzkontrolle des Völkerbundes unterstelle, sondern auch auf die geplante Zollunion mit dem Deutschen Reich verzichte. Das Angebot war mit 16. Juni, 20 Uhr, befristet – daher die Vorstellung eines Ultimatums ; wegen der Kürze der Zeit wurde es vom österreichischen Gesandten in Paris, Seipels Vertrautem Grünberger, zunächst auch bloß telefonisch übermittelt. Der französische Gesandte in Wien hingegen leugnete, einen solchen Auftrag erhalten zu haben. Offenbar hatte Grünberger im Eifer des Gefechts bloße Entwürfe weitergeleitet. In Wien lief Schober zu großer Form auf und wies das unmoralische Angebot mit mehr oder weniger Entrüstung zurück (was ihm umso leichter fiel, weil es inzwischen ja ohnehin keine Regierung mehr gab, die es hätte akzeptieren können).579 Diese standhafte Tugendhaftigkeit angesichts walscher Tücke wurde prompt belohnt. Während Schober sich in die Pose der verletzten Unschuld warf, nahte auch schon die Rettung. Wie die US Cavalry im klassischen Western galoppierte die Bank of England über den Horizont. Noch am selben Abend traf die Zusage ein, Öster reich einen Überbrückungskredit von 150 Mio. S zur Verfügung zu stellen. Die Chronologie lässt allerdings – wie Siegfried Beer demonstriert hat – mit ziemlicher Sicherheit vermuten, dass Montagu Norman, als er die Zusage unterfertigte, von dem französischen Offert noch nichts wusste ; auch die britische Regierung war in die Entscheidung nicht eingebunden (was erst nachträglich durch einen fingierten Briefwechsel kaschiert wurde). Die Hauptsorge Normans war vermutlich, die bedrängten Österreicher von dem Moratorium abzuhalten, das Juch in der Vorwoche schon einmal in den Raum gestellt hatte – und das leicht unabsehbare Beispielswirkungen haben konnte. Selbst wenn die Beweggründe der Engländer prosaisch waren, der moralische Eindruck war enorm. Ender reagierte noch nüchtern, wenn er schrieb : »So verließ ich
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die Stätte meiner Wirksamkeit mit dem Eindruck, daß Österreich von England vornehm und edel behandelt wurde.« Die Großdeutschen versüßten sich damit die bittere Pille der Staatshaftung : »Man hat sich augenscheinlich auf die Bahn der Garantiepolitik begeben, um politische Bindungen [Frankreich gegenüber] zu vermeiden.« Seipel wunderte sich : »Im Augenblick steht alles unter dem Eindruck, daß Frankreich von England eine schallende Ohrfeige erhalten hat.« Mehr noch : Die englische Rettungsaktion wurde in einer Verschwörungstheorie mit positivem Unterton zu einer Maßnahme umgedeutet, die nicht zuletzt auf die Fürsprache Deutschlands zurückzuführen sei. Schon bei dem Treffen in Chequers Anfang des Monats hätten die Engländer dem deutschen Reichskanzler Brüning »in die Hand versprochen, immer Deutschland zu helfen, wenn es französischen Erpressungen ausgesetzt sei.« Am 19. Juni hätte dann Kurt v. Rieth, der deutsche Gesandte in Wien, der sich zufällig gerade in Berlin befand, »wirksamst« eingegriffen. »Sofort setzten sich Luther und Schacht [der gegenwärtige und der frühere Reichsbankpräsident] mit London in Verbindung und wenige Stunden später hatten die Engländer die 150 Mio. S auf den Tisch gelegt.« Seipel gestand : »Ich hätte nie daran geglaubt, daß diese [deutschenglische] Freundschaft ernst zu nehmen sei. Jetzt weiß ich es besser.«580 Der innenpolitische Umkehrschluss aus dieser Lesart der Ereignisse war : Die Episode wurde als Triumph Schobers betrachtet, der souverän seine internationalen Kontakte hatte spielen lassen. Seipel bekam diese Stimmung umgehend zu spüren. Er war überzeugt, aus seiner Betrauung sei nichts geworden »unter ungeheurem Druck von Berlin her«. Ihm sei schon ein paar Tage vorher mitgeteilt worden, es sei der Wunsch Brünings, dass Schober Außenminister bleibe. Als Seipel jetzt nach der Mitternachtsüberraschung versuchte, doch noch ein Kabinett ohne Schober zu bilden, machten es die Landbündler am nächsten Morgen zur Bedingung, »daß weder ich noch ein anderer Christlichsozialer« Außenminister werden dürfe. Seipel reagierte darauf : »Mit dieser Episode war mein Interesse an der Regierungsbildung zu Ende. […] Die Beleidigung war zu groß.« Mit Schober hätte er sich gerade noch abgefunden, aber er könne keinen »bloß von Berlin dirigierten« Minister akzeptieren, der immer erst bei irgendjemandem um »Approbation« nachfragen müsse. Er erklärte, es sei »ebenso sehr ein Axiom der österreichischen Politik, daß ein Deutschnationaler alles, aber nicht Außenminister sein kann, wie ein Sozialdemokrat nicht Finanzminister sein kann, nämlich in einer bürgerlich geführten Regierung.«581 Freilich : War es tatsächlich der »ungeheure Druck« Berlins, der Seipels Comeback verhinderte ? Hinter diesem Verdacht stand wohl auch Seipels Verachtung für Winkler, den er immer nur als Marionette der einen oder anderen Partie von Hintermännern einstufte. Als »smoking gun« blieben da nur ein paar möglicherweise vorlaute Gespräche eines untergeordneten Beamten, des Legationsrates Carl Clodius, der sich in Abwesenheit des Gesandten Rieth für Schober ausgesprochen hatte – und deshalb im nächsten Jahr prompt nach Sofia versetzt wurde. Wer da wen vorge-
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schickt oder beeinflusst hatte, bleibt unklar : Vielleicht redeten sich die Politiker des Schoberblocks, die Seipel die bittere Pille überbrachten, auch ganz gern auf höhere Aufträge aus. Vielleicht war es, wie Mataja befürchtete, vielmehr umgekehrt : Die deutsche Gesandtschaft wird von einer Clique dirigiert, »in der Schober, Riedl, Tilgner, Neubacher [der Präsident des Österreichisch-Deutschen Volksbundes] u.a.m. die führende Rolle spielen«. Schober hatte »während der Mine« jedenfalls des Öfteren mit Berlin telefoniert.582 Sowohl der Gesandte Rieth als auch Reichskanzler Brüning waren Parteifreunde Seipels, nämlich Mitglieder der katholischen Zentrumspartei. Brüning stand einer bürgerlichen Minderheitsregierung vor, die immer wieder ihre Zuflucht zu Notver ordnungen des Reichspräsidenten nahm – ein Modell, das Seipeljüngern nicht prinzipiell unsympathisch war. Allerdings wurde die Regierung Brüning im Reichstag von der SPD toleriert (weil die Alternativen lauteten : NSDAP, KPD oder Monar chisten). Brüning ließ sich ein paar Wochen später auch prompt vernehmen : Er hätte gedacht, daß eine Konzentrationsregierung in Wien »die Sache sehr erleichtert hätte«.583 Ein gewisses Indiz für mangelnde Koordination zwischen Brüning und Seipel – beide bekannt als Meister der Schweigsamkeit – lässt sich da wohl ablesen ; eine massive Intervention Berlins weniger. Wenn Seipel klagte, die Franzosen hätten »mich unmöglich gemacht […] durch allzu starke Offenbarung ihrer Freundschaft zu mir«, dann stand dabei im Hintergrund natürlich die Vorstellung, dass die Zollunion mit Schober stehe oder falle. Nun war Schober natürlich bestrebt, diesen Eindruck zu erwecken, zumindest in der Innenpolitik. Man könne Schober doch in diesem historischen Augenblick nicht im Stich lassen, beschwor z. B. Handelskammerpräsident Tilgner die Großdeutschen. Die Diplomaten wussten es besser : Schobers »Neigung zur Doppelbödigkeit«, die Taktik, seine Gesprächspartner durch augenzwinkerndes Einverständnis bei Laune zu halten, die ihm zwischen Heimwehren und Sozialdemokraten so zustattengekommen war, trug auf diesem Parkett keine so reichen Früchte. Im Gegenteil : Schober hatte sich bei den Engländern den Ruf erworben, nicht bloß »eitel wie ein Pfau« zu sein, sondern auch ein »Lügner«, schlimmer noch : kein besonders geschickter Lügner. Auf alle Fälle hatte er selbst schon mehrfach signalisiert, dass man von der Zollunion werde abrücken müssen. Noch am Morgen des 16. Juni wurde er zitiert, unter den gegebenen Umständen könne davon keine Rede mehr sein.584 Damit zumindest hatte er recht. Denn im Juli kam es zum Zusammenbruch der »Danat« (Darmstädter & Nationalbank) im Reich, im August gerieten auch die Engländer unter Druck. Nicht bloß in Österreich trat jetzt die »unbedingte Rücksichtnahme auf Frankreich in den Vordergrund«. Auch Curtius machte sich schon nur mehr Sorgen, wie man die »Nichtvollziehung« der Zollunion begründen könne, ohne sich für die Zukunft etwas zu vergeben. Ein bezeichnendes Detail am Rande verdient erwähnt zu werden : Während man offiziell noch an dem Projekt der Grenz
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öffnung festhielt, sah sich das Deutsche Reich nach dem Krach der »Danat« am 18. Juli gezwungen, um Devisen zu sparen, für Auslandsreisen eine Gebühr von 100 RM einzuheben. Die Verordnung wurde nach einem Monat wieder aufgehoben, nahm aber Österreich nicht aus.585 Der in Wien so bejubelte Überbrückungskredit der Bank of England musste wöchentlich verlängert werden. Im der ersten Augustwoche gestanden die Engländer dann, sie seien dazu nicht mehr in der Lage. (Es folgten Anfang September eine Regierungskrise in London und die Abwertung des Pfund.) Österreich musste also doch noch mit dem Hut in der Hand zum Völkerbund pilgern – und alle waren sich im Klaren, dass in Genf nichts lief ohne die Zustimmung Frankreichs. Wildner resümierte : Es scheint, wir »haben den Augenblick verpasst, um für die Aufgabe des Zollunionsplanes etwas Wirkliches einzutauschen«. Vor der CA-Krise hatten die Franzosen da als Alternative andeutungsweise diverse verlockende Angebote in den Raum gestellt ; man gewann den Eindruck, man könne nach bewährtem Muster die deutsche Karte zücken, um dafür aus den Gegnern etwas »herauszuholen« ; doch inzwischen hatten die Österreicher keine Wahl mehr.586 Schließlich ging es nur mehr um die Formel, mit der Schober und Curtius den Plan auf Eis legen sollten. Sollten sie gezwungen sein, ihrem Fehler öffentlich abzuschwören oder einfach nur um des lieben Friedens willen die Absicht kundtun, das Projekt nicht weiter zu verfolgen ? Wieder waren von den Österreichern widersprüchliche Signale zu vernehmen, mit Müh und Not vermochte man am 3. September dann doch noch die mildere Variante durchzusetzen. Erst zwei Tage später entschied dann der Internationale Gerichtshof in Den Haag, freilich nur mit acht zu sieben Stimmen, dass die Zollunion sehr wohl gegen das Genfer Protokoll verstoßen hätte. Man tröstete sich in Österreich, dass die Stimmen nicht bloß gezählt, sondern gewogen werden müssten : Denn unter den Kontrastimmen fand sich z. B. El Salvador, unter den Pro-Stimmen die Richter aus Großbritannien und den USA.587 Das Verlöschen des Bürgerblocks Die innenpolitische Krise hatte sich inzwischen in Wohlgefallen aufgelöst, mit der Betonung : vorläufig zumindest. Nach der unter so dramatischen Umständen gescheiterten Kombination mit Seipel wollte Miklas am 20. Juni schon eine Beamtenregierung ernennen, als die Niederösterreicher plötzlich ihren Landeshauptmann Buresch als Kanzlerkandidaten nominierten. Buresch zählt zu den unterbelichteten Gestalten der Ersten Republik. Sein Ruf litt unter seinem Abgang 1936, vermutlich Selbstmord, inmitten von Korruptions- und Verratsvorwürfen, die nie so recht geklärt wurden. Doch zu Beginn der Dreißigerjahre konnte er nach dem Abgang Seipels – und der Blamage Vaugoins – in seiner Position als Landeshauptmann und Klubobmann als der eigentliche starke Mann der Christlichsozialen gelten. Er galt
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als gescheit und witzig, von »sanguinisch-phlegmatischem« Wesen ; doch verfolgten den »Winkeladvokaten aus Großenzersdorf« zeitlebens wenig schmeichelhafte Kommentare : »ohne Format und wirkliche Substanz« ; ein »geschickter Intrigant«, doch »keine Persönlichkeit«.588 Die Minister des Kabinetts Ender blieben weiter im Amt, mit Czermak und Dollfuß zwei weitere Niederösterreicher, mit Resch und Vaugoin zwei langjährige Ressortchefs, dann natürlich Schober, aber auch Winkler, der mit seinem Rücktritt die Krise ausgelöst hatte. Von seiner Opposition gegen die Staatshaftung für die CAGläubiger war keine Rede mehr. Hatte man Winklers verwirrenden Schachzügen früher oft unterstellt, damit einer Kanzlerschaft Rintelens Vorschub leisten zu wollen, so wurde seinem eigenwilligen Kurs jetzt vielfach das Motiv zugrundegelegt, eine Mitte-Links-Regierung zu befördern. Seipel tröstete sich mit der Versicherung, dass Schumy – damals immer noch Obmann des Landbundes – die Partei eher in Trümmer gehen lassen wolle, »als daß Winkler seine Idee, mit den Sozialdemokraten in der Regierung zu sein, durchsetzen werde«.589 Wobei freilich nicht ganz übersehen werden darf, dass »Rot-Grün« über keine parlamentarische Mehrheit verfügte … Nur ein Minister wurde nicht in das Kabinett Buresch I übernommen : Finanzminister Juch wurde abgelöst – und zwar nicht von Kienböck, sondern von einem weiteren Parteilosen, dem letzten Finanzminister Kaiser Karls, Josef Redlich. Seipel, sein damaliger Kollege im Kabinett Lammasch, hielt die Wahl Redlichs für eine »Bezeugung des außenpolitischen Kampfes«. Denn seine »anglo-amerikanischen Beziehungen sind ja bekannt«. Nun hatte Redlich als Historiker zwar ein Jahr in Harvard verbracht und war einmal Präsident Harding vorgestellt worden. Ob sich die Wall Street davon beeindrucken ließ, war fraglich. Seipel hatte Redlich bekanntlich 1920 schon einmal in Vorschlag gebracht – und war damals an den Großdeutschen gescheitert. Wie stand es diesmal um die Vorbehalte wegen Redlichs jüdischer Abstammung und seinen vermeintlichen Sympathien für eine Donaukonföderation ? Welch eine Wendung durch Gottes Fügung : Die Großdeutschen begrüßten Redlich auf das Herzlichste. Der Grund dafür war : Redlich versprach, keine Kürzung der Beamtengehälter mitzumachen.590 Damit war auch schon das Leitmotiv der nächsten Monate gegeben : Die Sozialdemokraten begrüßten die Regierung Buresch als »Kabinett der schwachen Hand«. Optimistisch betrachtet, war damit zumindest keine Kampfansage verbunden. Hinter der abschätzigen Formulierung stand nicht zuletzt der Umstand : Der rechte Flügel der Christlichsozialen, Seipel und Kienböck, gehörten dem Kabinett nicht an, auch kein Steirer oder Tiroler. Vor allem aber : Um seine »Lebensfähigkeit« war es nicht allzu rosig bestellt. Die CA-Krise läutete langsam, aber sicher das Ende des Bürgerblocks ein, der über fast zehn Jahre für parlamentarische Mehrheiten gesorgt hatte. Hatten die Christlichsozialen anfangs unter der Bildung des Schoberblocks gelitten, so war es nunmehr sein Zerfall, der ihre Regierungsfähigkeit bedrohte : Der
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Landbund bestand auf Kürzungen, die für Großdeutschen inakzeptabel waren. Redlich hatte im ersten Überschwang mehr versprochen, als er halten konnte. Bereits ein paar Tage später musste er zugeben, die Sache sei doch nicht so einfach, wie er ursprünglich angenommen habe. Um Kürzungen bei den Beamten werde man nicht herumkommen. Der neue Beamtensprecher der Großdeutschen, der Linzer Mittelschulprofessor Hermann Foppa, im Dezember dann auch zum Parteiobmann gewählt, lamentierte : Wenn man das gleich gewusst hätte, wäre die Regierung Buresch gar nicht erst zustande gekommen, aber : »Wir konnten die neue Regierung nicht schon am ersten Tage wieder werfen.«591 Am ersten Tage nicht, aber … Die zweite Hälfte des Jahres 1931 bestand für die Großdeutschen aus einer Reihe von Rückzugsgefechten. Es war nicht bloß die geballte Macht der Agrarier, es war einmal mehr »Genf«, das Finanzkomitee des Völkerbundes, das auf radikalen Kürzungen im Staatshaushalt bestand. Die Absage an die Zollunion war bloß eine erste Vorleistung gewesen. Als Buresch ab 15. September seinen Auftritt vor dem Völkerbund absolvierte, bekam er Kürzungen um 200 Mio. vorgeschrieben, sprich : rd. 10 % der Ausgaben, als Voraussetzung für den längerfristigen Kredit, der all die kurzfristigen Aushilfen ablösen sollte. Die Idee der neuerlichen Ernennung eines Generalkommissärs sei »wie eine Fledermaus herumgeflogen« ; man beließ es vorläufig bei der Entsendung von »Beratern« für Nationalbank und Bundesbahnen. Die Bedingungen stellten »eine harte Nuß und ein hartes Muß« dar.592 Für die Beamten blieb da nur noch die Qual der Wahl, wie sie zur Kassa gebeten werden wollten : Konnte man das Gesicht wahren, wenn die Abstriche als einmaliges »Notopfer« ausgeschildert wurden, nicht als (permanente) Gehaltskürzung ? Sollte es lineare oder progressive Kürzungen geben, eine Besoldungssteuer oder eine Erhöhung der Pensionsbeiträge, einen Stopp der Vorrückungen oder eine Streichung der Sonderzulagen ? Schon bald wurde klar, dass es sich bei diesen Alternativen nicht um ein Entweder-Oder, sondern um ein Sowohl-als-auch handelte. Weitgehend ausgeblendet blieb bei diesen Debatten übrigens, dass 1931 ja auch die Lebenshaltungskosten um fast 5 % sanken.593 Innerhalb der Großdeutschen, zumal der Parlamentsfraktion des »Nationalen Wirtschaftsblocks«, kristallisierte sich ein Patt heraus : Wenn man Schober und den Bürgerlichen Demokraten Vinzl mitzählte, stand es innerhalb des Klubs fifty-fifty : Fünf Vertreter der »Steuerträger« (von Industrie und Handel) standen fünf Vertretern der »Steuerzehrer« (vier Lehrer und der Gewerkschafter Prodinger) gegenüber. Die Parteileitung als Stimme der »Basis« forderte schon im September den Ausstieg aus der Regierung ; man könne diese Politik den Anhängern nicht länger zumuten. Schober, Minister Schürff und Klubobmann Straffner bremsten. Doch mindestens zwei Abgeordnete (Zarboch und die junge – erst 33-jährige – Maria Schneider) drohten mit dem Übergang zur Opposition, ohne Rücksicht auf die Klubbeschlüsse.594
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Sobald sich ihnen ein dritter anschloss, hatte Buresch seine Mehrheit verloren. Die »Regierung der schwachen Hand«, stets an der Kippe zur Minderheitsregierung, schleppte sich im Herbst von Abstimmung zu Abstimmung, mit nächtlichen Kompromissen in letzter Minute. Immer wieder wurden – wohlgemerkt : im konstruktiven Sinne – außenpolitische Verschwörungstheorien bemüht : Die Großdeutschen müssten in der Regierung bleiben, um einem Kurswechsel ins französische Fahrwasser zu verhindern und »die Linie zu erhalten, die zum Anschluß hinweist«.595 Diese schleichende Dekomposition des Bürgerblocks wurde durch zwei dramatische Episoden unterbrochen : Den Pfrimer-Putsch und die Präsidentenwahlen. Pfrimer und der steirische Heimatschutz begannen wiederum vom »Marsch auf Wien« zu schwärmen. Dieses inneralpine Halali gehörte inzwischen nahezu schon zum herbstlichen Ritual. 1929 und 1930 hatten die Geldgeber in solchen Fällen ein Machtwort gesprochen ; die Bundesführung der Heimwehren rechtzeitig genügend Druck auf die »Losgeher« ausgeübt. Inzwischen hatten die Geldgeber ihren Einfluss eingebüßt, aus dem einfachen Grund, weil sie kein Geld mehr gaben ; kein Bethlen und kein Apold riefen da noch ihr Halt. Bundesführer aber war seit Starhembergs Beurlaubung im Mai Walter Pfrimer höchstpersönlich. Pfrimer war um sein Erbe nicht zu beneiden. Er hatte von Starhemberg – der sich kokett die jederzeitige Rückkehr vorbehielt – nur die halben Heimwehren übernommen, vor allem aber Schulden geerbt. Die Verbindung mit den bürgerlichen Parteien hatte Pfrimer endgültig gekappt, indem er dekretierte, was Steidle immer nur angedeutet hatte, nämlich Doppelmitgliedschaften für unzulässig zu erklären. Doch auch mit der eigenen »Partei«, dem Parlamentsklub des Heimatblocks unter Hueber, waren die Beziehungen gespannt. Die CA-Krise und die »Schuldknechtschaft«, die Österreich in ihrem Gefolge drohte, mochten Pfrimer das Gefühl geben, die richtige Stunde für eine Machtergreifung sei gekommen. In der Nacht zum 13. September ließ er – unter Verweis auf fiktive Zusammenstöße zwischen Schutzbund und Gendarmerie – plakatieren, der Heimatschutz habe die Macht ergriffen. Rechnete er wirklich damit, dass er auf spontane Unterstützung stoßen würde ? Pfrimers Motivation gibt ebenso diverse Rätsel auf wie sein Verhalten in der fraglichen Nacht : Er stellte sich nicht an die Spitze seiner Legionen, sondern fuhr zu Bekannten in der Nähe von Graz, schickte seinen Adjutanten, einen Grafen Lamberg, zu Landeshauptmann Rintelen – und begab sich zur Ruhe, mit oder ohne Schlaftrunk. Als Lamberg frühmorgens mit der Meldung zurückkam, Rintelen rate dringend, das Unternehmen abzubrechen, warf Pfrimer die Flinte ins Korn und schlug sich zur jugoslawischen Grenze durch. Die verwaisten Putschisten probten inzwischen die lokale Machtergreifung. Vom Marsch auf Wien war keine Spur : Bloß eine oberösterreichische Kolonne fuhr auf Umwegen bis Amstetten – und stellte dann verwundert fest, dass sie allein auf weiter Flur war. Der Pfrimer-Putsch war im Wesentlichen auf die steirischen Heimwehren (und den ihr unterstellten Bezirk Kirchdorf in Oberösterreich) beschränkt. In Kärnten
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setzte sich Hülgerth – formell der oberste »Wehrführer« der Heimwehren – in den Zug, um an Ort und Stelle zu erkunden, was in der Steiermark tatsächlich los sei. In Oberösterreich wurde der beurlaubte Bundesführer Starhemberg um Mitternacht geweckt, soll gesagt haben : »Hat der Kerl also wirklich eine Dummheit gemacht« und befahl Bereitschaft. In Wien versammelten sich ein paar Hundert Anhänger Pfrimers am Abhang des Kahlenberges, bis sie von der Polizei unmissverständlich zum Heimgehen aufgefordert wurden. Im Zentrum des Aufstandes, in der Obersteiermark, stellten die Bezirkshauptleute mehrfach ihre Fähigkeiten als Mediatoren unter Beweis : Sie überzeugten die Befehlshaber der Wehrverbände beider Seiten, doch besser auf verlässliche Nachrichten zu warten, bevor sie aufeinander losgingen. In Bad Aussee wurde deshalb sogar ein von Zeugen unterfertigter, förmlicher Waffenstillstand abgeschlossen. Zu ernsteren Zusammenstößen kam es nur in Kapfenberg, wo die Heimwehren angesichts einer feindlichen Menge – wohlgemerkt : keine organisierten Schutzbündler – das Feuer eröffneten und zwei Tote zu verzeichnen waren. Im Laufe des Nachmittags sprach sich herum, dass die Machtergreifung ganz offensichtlich gescheitert war. Die Putschisten gingen bzw. fuhren heim. Zu Auseinandersetzungen mit den in Marsch gesetzten Bundesheereinheiten kam es nirgendwo. Die Gendarmerieposten am Lande schwankten ganz offensichtlich zwischen lauthals proklamiertem Fatalismus und klammheimlicher Sympathie. Ihre Berichte enthalten verdächtig oft den stereotypen Passus, man habe die Putschisten auf das Ungesetzliche ihrer Handlungsweise aufmerksam gemacht, angesichts ihrer zahlenmäßigen Überlegenheit aber auf Widerstand verzichtet. Die Sozialdemokraten waren über diese Behandlung von Rebellen auf dem Kulanzweg empört. Eine Zeit lang waren auch die Christlichsozialen und Landbündler von Ingrimm erfüllt. Vor allem die aristokratische Führungsschicht der Heimwehren – die sich in den Putschtagen freilich meist vornehmer Zurückhaltung befleißigt, allenfalls als Fluchthelfer betätigt hatte – war ihnen ein Dorn im Auge. In Niederösterreich sprach Reither – inzwischen auch Landeshauptmann, seitdem Buresch Kanzler war – von Enteignungen, auch Dollfuß vertrat im Ministerrat eine ähnlich harte Linie. Immerhin wurde gegen 4600 Personen Anzeige erstattet, 900 Vorerhebungen eingeleitet.596 Freilich : Die politischen Konjunkturen um die Jahreswende 1931/32 waren wandelbar. In der Herbstsession des Parlaments war aufgrund der Genfer Vorgaben ein Nachtragsbudget fällig. Die Zustimmung der Großdeutschen dazu war bekanntlich fraglich. Dem Heimatblock war von seinen industriellen Gönnern immer schon die Rolle zugedacht worden, als Lückenbüßer für die Großdeutschen zu dienen. Seit dem Desaster mit Pfrimer hatte Starhemberg wiederum die Führung der Heimwehren übernommen. Er selbst war kurz inhaftiert, bald darauf wieder freigelassen worden. Mit dem Putsch hatte er nun tatsächlich nichts zu tun. Die Episode half ihm, eine Politik der Diagonale zu verfolgen : Er nahm einerseits die Putschisten in Schutz als verirrte Idealisten, die einfach die Nerven verloren hätten, andererseits
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aber schwor er seine Leute auf einen Kurs der Legalität ein : Gegen die Staatsgewalt dürften sich die Heimwehren nicht exponieren (außer im Fall einer »roten« Regierung). Im Dezember gelang ihm dann – unter Vermittlung Seipels – auch eine Einigung mit den abtrünnigen Legionen Steidles und Feys. Pfrimer war nach seiner Blamage politisch tot, wurde in seinem Hochverratsprozess Mitte Dezember aber von den Geschworenen freigesprochen. Damit waren auch die Verfahren gegen seine Mitläufer hinfällig : Weitere Prozesse, so befürchtete die Justiz, würden bloß Kosten verursachen und »neuerliche Reklame für die Haupttäter« machen.597 Vorher schon waren diverse lockende Angebote an Starhemberg herangetragen worden. Denn am 29. September hatte die großdeutsche Parteileitung zunächst einmal die Regierungsvorlagen über die Budgetkürzungen abgelehnt. Ein Mehrheitsbeschaffer tat not, schon einmal, um den Großdeutschen vor Augen zu führen, dass man nicht auf sie angewiesen war. Kanzler Buresch stand vor dem Dilemma : »Soll ich die Verhandlungen nach rechts oder nach links führen ?« Die salomonische Antwort lautete selbstverständlich : Nach beiden Seiten. Allerdings gab er zu bedenken : »Wenn die Heimatblöckler dafür stimmen, wäre es doch gut. Je mehr ich mit den Sozi reden muß, desto teurer kommt es !« Im Gegenzug wurden den Heimwehren die »sang- und klanglose Erledigung der Putschgeschichte« in Aussicht gestellt, samt finanziellen Zubußen (kolportiert wurden 400.000 S). Die Debatte im christlichsozialen Klub bewegte sich in vorhersehbaren Bahnen : Kunschak und die Oberösterreicher empfahlen ein Arrangement mit den Sozialdemokraten, die Seipel-Jünger, Kärntner und Tiroler mit den Heimwehren. Schuschnigg sah im Falle einer LinksWendung die Einheit der Partei bedroht. Auf der anderen Seite befand sich auch Starhemberg in einem Dilemma. Er könne seinen Anhängern einen »Umfaller« jetzt noch nicht zumuten. Buresch fasste die Reaktion des Fürsten zusammen : Er »sähe ein, daß vaterländische Politik gemacht werden muß. Aber befehlen könne er doch auch nicht.«598 (So viel zum Wort der Führer als Gesetz der Heimwehren !) Vor der Budgetdebatte pokerten alle Seiten bis fünf Minuten vor zwölf : Bis kurz vor Mitternacht am 2./3. Oktober – nach dem Offenbarungseid Starhembergs – bluffte die Regierung, sie werde es am kommenden Tag einfach auf eine Abstimmungsniederlage ankommen lassen, mit all ihren Folgen. Buresch hatte sich in seiner Not zuvor schon an Langoth gewandt, der seinem Parlamentsklub gut zureden sollte. Doch die Abstimmung über das letzte Angebot Buresch’ ergab bei den Großdeutschen wiederum ein Patt ; erst nach einem Telefonat mit einem erkrankten Abgeordneten ließ sich eine Mehrheit für weitere Verhandlungen konstatieren. Klubobmann Straffner setzte sich daraufhin mit den Sozialdemokraten in Verbindung, die an einer Eskalation der Krise ebenfalls nicht interessiert waren. Kurz nach 1 Uhr früh war die Drei-Parteien-Einigung perfekt : Großdeutsche und Sozialdemokraten erklärten sich beide zur Unterstützung der Regierung bereit, unter der Voraussetzung, dass auch der andere mitstimmte, sprich : sie sich vor ihren Anhängern darauf ausreden
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konnten, die Vorlage hätte das Haus ja auch ohne sie passiert. So aber hätte man wenigstens kleine Korrekturen anbringen können : Den Beamten wurde wenigstens die Erhöhung der Pensionsbeiträge erspart, die Sozialdemokraten konnten zusätzliche 15 Mio. für die Notstandshilfe auf ihr Konto buchen. Intern lautete ihre Marschroute für die Herbstsaison : Zwar nicht grundsätzlich ablehnen, aber einer Teilnahme an der Regierung so lange wie möglich ausweichen.599 Die Einigung in der Budgetfrage hatte ihre Rückwirkungen auch auf die Präsidentenwahlen, die für den 18. Oktober angesetzt waren. Ender hatte immer schon einer Rückverlegung der Wahlen in die Bundesversammlung das Wort geredet. Seipel bestand darauf, die Verfassungsnovelle nicht sofort wieder zur Makulatur werden zu lassen. Intern schrieb er noch im Sommer : »Was meine eigene Person anbelangt, geniere ich mich gar nicht zu sagen, daß ich diese Wahl für richtig hielte. […] Ich habe eine sehr große und ganz bestimmte Vorstellung von dem, was ich und zwar nur ich als Bundespräsident zu tun hätte. […] Es ist jetzt so eine einzigartige Gelegenheit, über die Parteien hinaus zu gelangen und ihnen nichts zu verdanken.« Seiner Partei freilich war dieses Risiko zu groß, vielleicht weniger, weil sie Seipel misstraute, sondern den Wählern. Seipels Kandidatur, so fürchteten auch seine Anhänger, würde seitens seiner Gegner eine beispiellose Agitation auslösen (vor der sich z. B. auch die Bischöfe fürchteten). Die Parteileitung entschied sich am 9. September zwar, an der Volkswahl festzuhalten, aber auch – mit 30 über 20 Stimmen – am Amtsinhaber Miklas als Kandidaten.600 Die Bestätigung des Amtsinhabers war keine allzu aufregende Perspektive. Doch hatte Österreich nicht schon Aufregungen genug ? Die Sozialdemokraten waren immer schon gegen die Volkswahl gewesen. (Kienböck interpretierte diese Haltung boshaft : Selbst die Aussicht auf einen Überraschungssieg Renners könne sie nicht locken, weil Renner eben kein wirklicher Sozialist sei.) Den Großdeutschen war die Lust darauf ebenfalls vergangen. »Einen eigenen Kandidaten können wir ohne Geldmittel nicht aufstellen.« Schober wolle keine Niederlage riskieren. Straffner stellte daher schon am 1. Oktober den Antrag auf Rückverlegung der Wahl in die Bundesversammlung. Nach der Einigung über das Budget setzte sich diese Stimmung auch bei den Christlichsozialen durch. Man revidierte den Beschluss vom Vormonat. Bis zu einem gewissen Grad war damit freilich auch die Kandidatenfrage wieder offen. Kanzler Buresch – so mutmaßte Seipel – werde von seinen Niederösterreichern zu einer Kandidatur gedrängt. Dollfuß habe dafür auch schon den Landbund und die Großdeutschen gewonnen. Seipel kamen derlei Kontakte zwischen dem Schoberblock und den niederösterreichischen Bauern höchst verdächtig vor. Eine andere Theorie lautete, die Sozialdemokraten würden in einer Überraschungsaktion den Zählkandidaten der Landbündler, Franz Thoma, auf den Schild heben. Doch schließlich stand niemandem der Sinn nach Experimenten : Miklas wurde am 18. Oktober auf weitere sechs Jahre gewählt.601 Als Resultat des vermuteten Ein-
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verständnisses zwischen rot und grün blieb nur die Wahl des Landbündlers Alfred Walheim zum Landeshauptmann im Burgenland.602 Schon ein paar Tage später kam es zu einer weiteren heimlichen Regierungskrise. Schober hatte sich durch sein Veto im Juni vollends den Ingrimm Seipels zugezogen. Aber er hatte sich in den letzten Monaten äußerst loyal verhalten. Dieses Zeugnis stellte ihm Buresch taxfrei aus. Persönlich habe er da keinerlei Einwände. Doch zugleich plagte ihn die Sorge : »Es geht nicht vorwärts mit den Anleiheverhandlungen draußen ! Tatsache, daß eine Person noch immer im Kabinett sitzt !« Von allen Seiten mehrten sich die Indizien, dass Frankreich sein Entgegenkommen bei der Gewährung der Gelder an die Entlassung Schobers knüpfe – ohne diese Bedingung freilich je offen auszusprechen. Zumindest haben sich einschlägige Akten bis heute nicht gefunden. Schober hegte damals schon den Verdacht, diese Forderung gehe »weniger vom Ausland aus, sondern von gewissen Stellen im Inland, die das dann auch dem Ausland suggerieren«. Schober war für Eingeweihte ja keineswegs der nationale Überzeugungstäter, sondern hatte sich auf die Zollunion mehr aus Aktivitätsdrang und Popularitätshascherei eingelassen. Einem seiner Diplomaten hatte er 1930 vor seinem Berlin-Besuch erklärt, es falle ihm nicht ein, Anschlusspolitik zu betreiben, aber »nach außen hin müsse er für die Leute natürlich national begeistert sein«. Doch vielleicht war sein Verbleib im Amt inzwischen zur Prestigefrage geworden. Den Wechsel in ein anderes Ressort, wie ihn Buresch am 21. Oktober vorschlug, lehnte der Vizekanzler jedenfalls ab. Buresch ließ die Sache noch einmal auf sich beruhen, weil sonst »ist die Mehrheit ganz beim Teufel !«.603 Damit war bloß ein Aufschub gewonnen. Seipel avisierte bereits Mitte November dem Gesandten in Paris, der Bundeskanzler sei fest entschlossen, in etwa vierzehn Tagen die Änderung im Außenamt herbeizuführen. Damit hatte er sich bloß im Termin geirrt. Erst nach den Weihnachtsferien gab der neue christlichsoziale Finanzminister Weidenhoffer – seiner politischen Vergangenheit nach viel mehr ein Deutschnationaler als Schober – im christlichsozialen Klub erneut seiner Überzeugung Ausdruck : »Nur ein Land kann Geld geben. Solange der Außenminister Schober heißt : Nicht ein Sous.« Schober schied aus dem Kabinett aus, Buresch selbst übernahm das Außenamt. Für Schürff als Justizminister rückte mit Schuschnigg ein Tiroler nach, der sein Amt erst auf Zuraten Seipels antrat. Die Großdeutschen fanden bei den Christlichsozialen plötzlich ungewohnte Verteidiger : Klubobmann Kunschak und sein Freund Spalowsky beschwerten sich, noch keine Regierung habe sie so vernachlässigt. Die Umbildung des Kabinetts war »eine Ohrfeige für uns«. Über das Ausscheiden der Großdeutschen sei mit dem Klub nicht geredet worden, kritisierte auch Aigner.604 Wiederum stellt sich die Frage : Waren die außenpolitischen Vorgaben tatsächlich so erdrückend ? 50 von den 150 Mio., die Österreich der Bank of England schuldete, waren inzwischen zurückgezahlt, der Rest wurde immer weiter verlängert. Im Juni 1932 hieß es dann beiläufig, man hätte eigentlich
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pro Monat 8 Mio. überweisen sollen, aber man habe das Geld einfach »immer wieder gebraucht …«.605 Kurios erscheint in diesem Zusammenhang, dass ausgerechnet Seipel keine Gefahr im Verzug sah, und auch keine Chance. Der Alt-Kanzler stellte zwar ironisch fest : »Die Herren des Außenamtes trauen sich wieder mit mir zu reden«, und »Clauzel« (der französische Gesandte) »ist glücklich, daß alle Versuche vereitelt wurden, die deutsche Fahne neuerdings aufzuziehen.« (Die Landbündler hatten nämlich als Ersatz für Schober ursprünglich einen Staatssekretär im Außenamt gefordert.) Aber er hielt es für ein »wahres Unglück«, wie sich die Österreicher jetzt aufführten. Wäre er Außenminister, hätte er Clauzel, so gern er ihn habe, schon ein paar Mal hinausgeworfen. In Frankreich stünden bekanntlich Wahlen vor der Tür (die im Frühjahr 1932 dann wiederum zu einer Links-Mehrheit führen sollten). Vorher seien die Franzosen zur Hilfe »weder fähig noch bereit« […] selbst wenn »Du [Grünberger], Juch [der Anfang Februar nach Paris pilgerte], Buresch und Kienböck aufwarten wie vier Pudel. Was nicht geht, geht nicht.« Die Österreicher sollten sich vor Augen halten : »Man geht nur betteln, wenn man Aussicht hat, etwas zu kriegen.« Schärfer hätte es auch ein missgünstiger Großdeutscher nicht ausdrücken können ! Allerdings : Clauzel hatte noch zum Jahreswechsel berichtet, Seipel selbst habe ihm geraten, dieser Regierung vorerst kein Geld zu geben.606 Die Großdeutsche Volkspartei kehrte mit Schober der Regierung den Rücken, auch wenn ihr Obmann Foppa eingestand : »Opposition um jeden Preis ist für uns nicht möglich.« Auch diese Trennung war nicht als Abschied für immer konzipiert. Doch der Bürgerblock war an sein Ende gekommen. Die tieferliegende Ursache, die Sollbruchstelle aller Zerwürfnisse hatte von allem Anfang an die enge Bindung der Großdeutschen an ihre Beamtenklientel dargestellt, die ihren politischen Spielraum einschränkte. Schober hatte dem Bürgerblock zu einem Höhepunkt verholfen. Noch nachträglich schwärmten die Großdeutschen von seiner Regierung als »einer über den Parteien stehenden Regierung mit starkem nationalen Einschlag, wie sie der Auffassung der Partei am besten entspricht«.607 Aber der »Unabhängige mit der Kornblume« hatte auch als destabilisierendes Element gewirkt. Den Bruch mit Vaugoin Ende 1930 hatte er fahrlässig herbeigeführt ; den Bruch mit Buresch Ende 1931 dafür nach Kräften zu vermeiden gesucht – um schließlich wider Willen zum Auslöser dieses Bruches zu werden. Zehn Jahre lang hatten die Bürgerlichen über eine klare Mehrheit verfügt – die infolge der Obstruktionsdrohungen der Sozialdemokratie nicht so recht operationalisierbar war. Die Krise hatte das sozialdemokratische Blockadepotenzial in Mitleidenschaft gezogen, aber auch die Solidarität des Bürgerblocks. Die Regierung hatte jetzt freie Bahn – aber keine Mehrheit mehr.
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2. Minderheitsregierungen 1932/33 Der agrarische Kurs Das Kabinett Buresch II war eingestandenermaßen eine Minderheitsregierung, gebildet von Christlichsozialen und Landbund, mit bloß 75 von 165 Mandaten. Doch sie hatte sich keiner Kampfabstimmung zu stellen, weil zwischen Ende Jänner und Ende April 1932 das Parlament nicht zusammentrat. Das Budget war unter Dach und Fach, man kam gut ein paar Monate ohne neue Gesetze aus. Zum Vizekanzler avancierte nach Schobers Ausscheiden Winkler, der seine Beförderung auch gleich mit einem innerparteilichen Manöver komplettierte. Er brachte den Oberösterreicher Bachinger als Staatssekretär unter und sicherte sich damit die Mehrheit, um Schumy im Mai als Bundesobmann des Landbundes abzulösen. Darüber hinaus verfolgte er ehrgeizige Pläne, in Wien ein Parteisekretariat zu errichten, und spann Fäden zu Zeitungen, die bisher wenig Sympathien hatten erkennen lassen. Die verstärkte bundespolitische Präsenz kostete freilich Geld : Es war kein Zufall, dass Winkler auf Schritt und Tritt von Gerüchten über dubiose Geschäfte verfolgt wurde. Die wichtigsten Weichenstellungen traf das Kabinett gleich in der ersten Woche seines Bestandes. Viktor Kienböck wurde am 4. Februar zum Präsidenten der Nationalbank ernannt, der Holländer Adrian van Hengel zum Generaldirektor der Creditanstalt. Damit war Vorsorge getroffen für eine orthodoxe Finanzpolitik, mit all ihren bekannten Vor- und Nachteilen. (Rost van Tonningen hatte in diesem Sinne sogar für den führenden Theoretiker der österreichischen Schule als Nationalbankchef plädiert, für Ludwig von Mises.) Damit war, wie sich herausstellte, auch schon eine Vorentscheidung darüber gefallen, die CA weiterzuführen – auch wenn diese Weichenstellung der Politik damals vielleicht noch nicht bewusst war. Denn noch im März versicherte Buresch seinem Kabinett : »Heute glaubt niemand mehr an den Wiederaufbau der CA. Es handelt sich jetzt nur darum, eine möglichst reibungslose Liquidation des Instituts herbeizuführen«, im Sommer fasste Vaugoin dann eine Diskussion im Ministerrat zusammen : »Mir kommt vor, daß wir selbst alle miteinander keine Ahnung haben, was mit der CA geschehen soll.«608 Ein halbes Jahr lang war der angeschlagene Gigant CA nahezu führerlos gewesen : Als Generaldirektor hatte Buresch – als Parallele zu Redlich – einen weiteren ehemaligen kaiserlichen Finanzminister reaktiviert, den fast 70-jährigen Alexander v. Spitzmüller, der zwanzig Jahre früher schon einmal die CA geführt hatte. Spitzmüller war ein »weißer Rabe«, ein Bankier mit antikapitalistischen Instinkten, ein frommer Katholik mit starken Ressentiments gegen die Christlichsozialen. Beim letzten Mal hatte er für den Schoberblock gestimmt ; seine Wahl wurde von den Sozialdemokraten, Breitner (und der Nö. Escomptebank) ausdrücklich gutgeheißen. Allerdings verdankte er sein Comeback nicht zuletzt der Tatsache, dass sich unter den gegebenen Umständen kaum halbwegs qualifizierte Bewerber der jüngeren Generation
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fanden. Seine zweite Garnitur von Direktoren sollte wahlweise ihre Expertise zur Verfügung stellen – oder als Sündenböcke für die Verluste zur Verfügung stehen, ein Wechselbad der Gefühle, das nicht unbedingt für eine optimale Arbeitsatmosphäre sorgte. Die Kürzung der Gehälter der CA-Mitarbeiter, die pro Jahr immerhin gut 20 Mio. ausmachten, sorgte für enormen politischen Wirbel, weil es dabei um die Aufhebung von Kollektivverträgen ging.609 Der Staat als Beinahe-Mehrheitseigentümer der Bank setzte ein Rekonstruktions komitee ein, gegen das Seipel und Kienböck sich vergeblich zur Wehr gesetzt hatten. Im Kabinett wurde in dem Zusammenhang von einem »Kollegium von der Art eines Hofkriegsrates« gesprochen, mit all den Assoziationen eines Gremiums, das seine Entscheidungen ohne Kontakt mit der Front traf. Tatsächlich trugen die Untersuchungen des Komitees mehr zur Verunsicherung der Anleger bei als zur Rekon struktion der Bank. Nicht bloß der sozialdemokratische Experte, Hofrat Stern, auch der Vorsitzende des Ausschusses, der christlichsoziale Linksverbinder Gürtler, und Kanzler Buresch erwiesen sich – nach dem Zeugnis Spitzmüllers – als »hypnotisiert von der Schuldfrage«. Freilich : Zielbewusste Aktivität war auch nicht wirklich erwünscht. Gerade diese Scheu vor jeglicher Verantwortung habe die Regierung immer tiefer in den Sumpf hineingezogen, hat Fritz Weber argumentiert. Denn Buresch stimmte mit den Gläubigern im Westen völlig überein : »Die Regierung soll sich nicht einmischen in die Verwaltung der Bank. Das ist unser aller Wunsch.« Derlei Versicherungen waren freilich nicht immer für bare Münze zu nehmen. Spitzmüller klagte jedenfalls über »die gerade grotesken Eingriffe der Regierung«, vor allem des Handelsministers Heinl, z. B. bei der Abwicklung des Mautner-Konzerns, der »aller Vorstellung spottende Hindernisse« in den Weg gelegt wurden. 610 Anfang 1932 erfolgte dann die Wachablöse : Spitzmüller wurde ebenso verabschiedet wie das Rekonstruktionskomitee und Nationalbankpräsident Reisch. Buresch war zwar – zum Unterschied von Ender – kein Fan Van Hengels. Er habe von ihm »keine übertrieben hohe Meinung«, aber er sei nun einmal der Wunschkandidat des Gläubigerkomitees. Nach den Vorstellungen Spitzmüllers hätte Van Hengel schon ein halbes Jahr früher im Rekonstruktionskomitee die erste Geige spielen sollen. Der Holländer hielt das österreichische System der omnipotenten – und immobilen – Großbanken mit ihren Konzernbetrieben für grundfalsch. Die CA hätte seiner Meinung nach vor 1931 schon nicht mehr »das Wesen« einer Bank besessen, bloß noch »das Etikett«.611 Konsequenterweise verhängte er über die Industrie nahezu eine Kreditsperre. Langfristige Investitionen sollten besser über den Kapitalmarkt abgewickelt werden, durch Ausgabe von Aktien – was am Höhepunkt der Weltwirtschaftskrise vielleicht keine besonders realistische Alternative darstellte. Doch van Hengel sollte auf alle Fälle die nötige Unabhängigkeit an den Tag legen – mehr vielleicht, als es den Gläubigern letztendlich lieb war, denn er verhängte zumindest ein Zinsenmoratorium.612
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Die Regierung Buresch II verkörperte freilich auch einen Konsens, der dieser tugendhaft-altliberalen Orthodoxie des »laisser faire« auf einem anderen Sektor völlig widersprach. Während die Debatte um den »deutschen« oder »französischen« Kurs tobte, hatte die Regierung längst »den agrarischen Kurs« eingeschlagen. Und seine Propheten hießen Dollfuß und Winkler. Spitzmüller hatte schon im Herbst den Eindruck gewonnen : »Winkler, schlau und rücksichtslos, beherrscht den Ministerrat. […] Der gescheiteste scheint Dollfuß zu sein. Aber er ist fanatischer Agrarier.« Schober musste gehen, weil er angeblich dem »französischen« Kurs im Wege stand. Dollfuß und Winkler hatten die Zollunion nicht weniger engagiert verfochten. Die Getreidepreise, die im Deutschen Reich fast doppelt so hoch waren wie in Österreich, waren da ein schlagendes Argument. Der »agrarische Kurs« vertrug sich schlecht mit den französischen Vorstellungen (»Tardieu-Plan«), Österreich in ein System von Präferenzzöllen mit den Nachfolgestaaten zu bugsieren : Winkler warnte vor der »Donaukonföderation«, Dollfuß erklärte eine solche Lösung ohne die Teilnahme Deutschlands und Italiens als »Aufnahmeländer« für die agrarischen Überschüsse als undurchführbar. Beide waren auch bekannt für ihre Skepsis gegenüber den Bankiers, die zu hohe Zinssätze verlangten und einander zu hohe Gehälter bewilligten. Die Spanne zwischen Soll- und Habenzinsen sei unerträglich. Winkler verweigerte (erfolglos) seine Zustimmung zur Ernennung Van Hengels und sprach sich auch – weit mehr als es Schober je eingefallen wäre – gegen die geplante Anleihe aus : »Für 100 Mio. dürfe man sich nicht an Frankreich verkaufen.«613 Doch um Außenpolitik ging es dabei erst in zweiter Linie. Die Agrarier wollten den heimischen Markt endlich fest in ihre Hände bekommen. Der Selbstversor gungsgrad war inzwischen höher, nur das Preisniveau war dramatisch gefallen. Christlichsoziale und Landbund arbeiteten in der Krise ausnahmsweise einvernehmlich zusammen Hand in Hand. Die wichtigsten Maßnahmen waren schon im Herbst 1931 getroffen worden, im Windschatten der Debatten um die Beamtengehälter. Am 9. Oktober hatte Österreich Devisenkontrollen eingeführt : Banken und Industrie waren über die Meriten der Verordnung geteilter Meinung (man ist versucht zu sagen : wie üblich). Die Bewirtschaftung ließ einen Schwarzmarkt entstehen : Der Schilling wurde de facto abgewertet, aber nicht de iure. Die Wirtschaft behalf sich einstweilen mit einem – mehr oder weniger legalen – »Privatclearing«. Die Ablieferungsvorschriften für Exporterlöse wurden nicht immer eingehalten. Kienböck als neuer Nationalbankpräsident freilich setzte auf Hartwährungspolitik, zum Missvergnügen der Industrie. Jede Abwertung vergrößerte die Auslandsschulden, die wie ein Damoklesschwert über der Republik hingen. Den gordischen Knoten mit einem Moratorium zu durchschlagen war doppelt riskant für Länder, die über keine aktive Zahlungsbilanz verfügten. Doch die Landwirtschaft konnte zufrieden sein, vorläufig zumindest : Alles, was die Importe einschränkte oder verteuerte, war ihr recht.614
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Die massiven Zollerhöhungen, die inzwischen in Kraft getreten seien, so hieß es im Rahmen der Budgetdebatten, hätten ein »landwirtschaftliches Notopfer« wie im Vorjahr überflüssig gemacht. Dabei kam es gar nicht mehr so sehr auf die Zölle an : Schon mit dem ungarischen Handelsvertrag im Frühjahr 1931 hatte man sich darauf geeinigt, die »engherzige Berufung« auf die Meistbegünstigungsklausel mit Kontingenten und Zollrückvergütungen zu umgehen, die »nirgendwo verboten sind«. Der Deal lief darauf hinaus, die Ungarn könnten zwar vielleicht weniger exportieren, dafür aber höhere Preise erzielen. (Peinlich war nur, dass über alle diese Geheimklauseln schon achtundvierzig Stunden später in der ›Neuen Freien Presse‹ zu lesen war.)615 Dollfuß war Niederösterreicher ; aber er nahm sich auch der Schmerzen der »Hörndlbauern« – und des Koalitionspartners – an. Im November 1931 wurde die Viehverkehrsstelle eingerichtet : Der wöchentliche Auftrieb an Schlachtvieh wurde erfasst – und nur genau so viel Rinder von einer zentralen Stelle im Ausland zugekauft, wie nötig waren, um den Bedarf zu decken. Im christlichsozialen Klub hätten die »Bauernvertreter wie die Berserker auf den Tisch geschlagen«, sekundiert von Winkler. Das Gesetz müsse gemacht werden, sonst gehe »das Parlament in Fransen« und in sechs Wochen würden sie alle gehängt werden. Stolz wies der Bauernbund später darauf hin, dass im Jahre 1932 erstmals mehr als die Hälfte der am St. Marxer Schlachthof zugelieferten Rinder und Fleischschweine aus dem Inland stammten. Gerade das billigere Schweinefleisch erfreute sich in der Krise zunehmender Beliebtheit. Auch die Getreideproduktion habe sich zwischen 1931 und 1933 um mehr als die Hälfte gesteigert.616 Der Milchausgleichsfond hob von allen Produzenten 2 g pro Liter ein, um damit den Vertrieb von Butter und Käse zu subventionieren. Am Milchausgleichsfond nahm der Westen nicht teil : Es war in erster Linie ein Projekt von Dollfuß’ Niederösterreichern und Winklers Steirern. (Die Oberösterreicher machten mit, klagten jedoch, sie würden benachteiligt.)617 Im Mai 1933 gelang es den Landbündlern dann sogar, die Übersiedlung von Staatssekretär Bachinger ins Landwirtschaftsministerium durchzusetzen, wo er sich speziell der Holzwirtschaft widmete. Bachinger musste sein Büro zwar schon im Herbst wieder räumen ; doch der Kärntner Franz Hasslacher als Präsident des »Holzwirtschaftsrates« blieb auch im Ständestaat auf seinem Posten. Der freie Markt wurde – weit mehr als es bei der klassischen Hochschutzzollpolitik der Fall gewesen war – durch Kontingentierung und Subventionierung weitgehend außer Kraft gesetzt. Die Forderung nach »planmäßiger Bewirtschaftung« bei »möglichst wenig Beschränkung des Inlandsverkehrs« kam der Quadratur des Kreises gleich. Schumy schrieb, man müsse den »bäuerlichen Standpunkt genau umschreiben, ohne einerseits kapitalistische Mißstände zu decken und andererseits in kommunistische Anwandlungen zu verfallen«.618 Das Instrumentarium der »Marktordnung«, das über alle Regimewechsel hinweg eine ungeahnte Nachhaltigkeit entwickelte, war geboren.619
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Die Industrie beschwerte sich über die Zurücksetzung durch den »agrarischen Kurs«. Bei der Bildung der Regierung Buresch II hatte sie einen Augenblick lang sogar gefürchtet, das Handelsministerium werde an den Landbund »verschachert«. Hasslacher zählte zwar selbst zu den Mitgliedern des Hauptverbandes, wäre ihm als Staatssekretär aber kaum willkommen gewesen.620 Als die Umsatzsteuer dann 1932 durch einen Krisenzuschlag verdoppelt wurde, um die explodierenden Kosten der Arbeitslosenunterstützung hereinzubekommen, war im Gesetz eine Sonderbestimmung für die Landwirte inbegriffen : Für sie wurde die Steuer »pauschaliert«, zu ermäßigten Sätzen. Alle Beschwerden über diese Bevorzugung wies Dollfuß mit dem Hinweis zurück, die Ausgaben für die Arbeitslosen kämen schließlich fast ausschließlich dem städtischen Sektor zugute.621 Doch auch in industriellen Kreisen ventilierte man 1932 ähnliche Projekte der »Marktlenkung« wie die Landwirtschaft, z. B. ein Kohlenmonopol : Der Erlös aus dem Import von Steinkohle sollte den Export der heimischen Braunkohle subventionieren. Findige Köpfe spannen den Gedanken weiter : Warum sollte das Monopol nicht gleich von den Bundesbahnen organisiert werden, die als Abnehmer und Transporteur einschlägige Erfahrungen aufzuweisen hatten ? Generaldirektor Seefehlner war als Mann der E-Wirtschaft berufen worden, aber er fand Gefallen an dem Projekt. Auf diese Weise könnten die ÖBB vielleicht ihr chronisches Defizit eindämmen ?622 Die Industriepolitik löste sich in pointillistische Einzelaktionen auf. Großartige Arbeitsbeschaffungsprogramme konnte sich die Regierung nicht leisten, aber für ein corriger la fortune am Rande reichte es allemal : Die Großglocknerhochalpenstraße galt Resch – mit seiner Skepsis gegenüber der vermeintlichen Umwegrentabilität von Projekten der »produktiven Arbeitslosenfürsorge« – als ein CA-Skandal en miniature ; in den Hohen Tauern seien entweder Kindsköpfe oder Hochstapler am Werk. Dollfuß teilte diese Ansicht – bis ihn Landeshauptmann Rehrl eines schönen Tages zu einer Besichtigungstour einlud. Dollfuß war offenkundig begeistert. Von nun an war alles anders ! Dem Projekt des Freiwilligen Arbeitsdienstes, das mit den Heimwehren dann im September 1932 seinen Einzug hielt, vermochte Resch ebenfalls wenig abzugewinnen.623 Die Wiener Neustädter Gewerkschafter hatten sich lange Zeit vergeblich für staatliche Aufträge an die Daimler-Werke eingesetzt ; ausgerechnet die Heimwehren erfüllten ihnen schließlich den Wunsch. Unter Handelsminister Jakoncig zwang man den unwilligen Vaugoin zu einer Mobilitätsoffensive : Das Bundesheer wurde angehalten, die überschüssige Produktion der Daimler-Werke aufzukaufen. Das Glück war freilich nicht von langer Dauer. Dankbarkeit ist keine wirtschaftspolitische Kategorie : 1930 war die österreichische Lokomotivenproduktion in Floridsdorf konzentriert, das Neustädter Werk geschlossen worden ; es hieß, Seitz habe seinen Einfluss geltend gemacht. Nach dem Februar 1934, als es in Neustadt ruhig geblie-
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ben war, wurde dann auch die Autofabrikation von Daimler vollkommen ins aufrührerische Steyr verlegt (der Beschluss war allerdings schon im Oktober 1933 gefallen). Die Industrie hatte seit Anfang 1932 wieder begonnen, die Heimwehren regelmäßig zu unterstützen, weil sie ja doch »den einzigen Rückhalt gegen das sonst unüberwindliche Übergewicht der Gegenseite« darstelle. Sie war mit dem Resultat auch durchaus zufrieden. Jakoncig als Handelsminister sei »gutwillig und entgegenkommend wie immer«, berichtete Ehrhart. Aber da war Dollfuß schon Kanzler.624 Übergangslösung Dollfuß ? Die österreichische Wirtschaft befand sich seit der CA-Krise im freien Fall : Das Kalenderjahr 1930 hatte mit einem »Minuswachstum« von 2 oder 3 % abgeschlossen, 1931/32 waren es jeweils fast 10 %. Der Außenhandel ging noch stärker zurück als die Produktion. Die Exporte, die Investitionsgüter waren am meisten betroffen ; die Alpine bließ alle ihre Hochöfen aus ; die Arbeitslosigkeit stieg auf über eine halbe Million. Die herrschende Orthodoxie setzte auf die Selbstheilungskräfte der Wirtschaft. Nicht einmal die Sozialdemokratie begeisterte sich für deficit spending. Wo sie mehr Ausgaben forderte, schlug sie auch höhere Steuern vor.625 Außerdem war der Spielraum beschränkt : Österreich hatte dem Völkerbund ein ausgeglichenes Budget versprochen. Unter diesen Voraussetzungen drehte sich die Abwärtsspirale weiter : Die Steuereinnahmen gingen zurück, die Kosten für die Arbeitslosen stiegen. Die Gewerkschaften klagten, die Bestimmungen würden immer restriktiver ausgelegt, der Sozialminister, Länder und Gemeinden alimentierten widerrechtlich Zigtausende »Ausgesteuerte«. Zwar wurde die Versicherung seit der letzten Reform allein von den Tarifpartnern getragen, aber der Finanzminister musste das Defizit bevorschussen. Schon im Frühjahr 1932 wurde deshalb ein neues Sparpaket geschnürt. Die Ressortminister machten mehr oder weniger gute Miene zum bösen Spiel – sie setzten bloß einen kleinen Aufschub durch. Denn am 24. April 1932 fanden in Wien, Niederösterreich und Salzburg Landtagswahlen statt, in Steiermark und Kärnten Gemeinderatswahlen. Solange möge sich Weidenhoffer mit seinen Hiobsbotschaften noch gedulden. Eine Zeit lang war im Herbst 1931 – im Zuge von Nachtragsbudget und Präsidentenwahlen – zwischen »rot« und »schwarz« offenbar auch darüber verhandelt worden, die Wahlen einfach um ein Jahr zu verschieben (wie man es in Niederösterreich 1926/27 schon einmal vereinbart hatte). Mataja – der zur Bosheit neigte, seit er 1930 nicht mehr wiedergewählt worden war – kommentierte spitz : »Demokratie ohne Wahlen, das ist das Ideal.« An Seipel schrieb er ironisch : »Wäre es nicht möglich, das Mandat erblich zu gestalten ?« Der Altkanzler antwortete in derselben Tonart : »Nur der Zensusadel fällt aus, weil niemand mehr Geld hat.« Doch die einschlägigen Sondierungen zeitigten kein Ergebnis, die Wahlen fanden – bis auf die AK-Wahlen – programmgemäß statt.626
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Das Ergebnis der Wahlen war eindeutig : Der Gewinner war die NSDAP, die zwischen 14 und 20 % der Stimmen auf sich vereinigte – mehr als die Großdeutschen oder der Schoberblock in diesen Ländern je erzielt hatten. Bei den Gemeinderatswahlen in Villach, kurz darauf in Krems, kam die NSDAP sogar schon auf über 30 %. Dabei waren es nicht einmal so sehr die Arbeitslosen, die NSDAP wählten, sondern die Krisengefährdeten, die noch etwas zu verlieren hatten. Mehr als die Hälfte ihrer Wähler von 1932 rekrutierten sich in Österreich – zum Unterschied vom Deutschen Reich – nach wie vor aus dem Milieu der Angestellten und Beamten (einmal ganz abgesehen von der kleinen Gruppe der Studenten, wo der NSDStB 1931 schon an erster Stelle gelandet war, knapp, aber doch). Arbeiter und Bauern stießen erst nach 1932 vermehrt zur NSDAP. Verloren hatten alle anderen Parteien – oder doch nicht ganz : Denn in ihren Hochburgen, die Sozialdemokraten in Wien (und auch noch in Wiener Neustadt), die Christlichsozialen in Niederösterreich, vermochten »Rot« und »Schwarz« ihren Besitzstand fast ohne Einbußen zu verteidigen. Der Wähler hielt sich in der Krise an die starken Bataillone, an gefestigte Autoritäten. Nur in der Diaspora mussten die beiden Großparteien massive Verluste hinnehmen : Die NSDAP holte sich ein Drittel ihrer Wähler in Wien von den Christlichsozialen, ein Viertel ihrer Wähler am Land von den Sozialdemokraten. Vernichtend geschlagen wurden alle »Mittelparteien« : Der Heimatblock trat – bis auf Salzburg – gar nicht erst an ; die Großdeutschen hielten bei 2 % ; zwischen einem Drittel und der Hälfte ihrer Wähler hatte sich für die NSDAP entschieden, der Rest sich in alle Windrichtungen zerstreut. Für die Überlebenschancen der Landbündler waren die Wahlen nicht allzu aussagekräftig, denn sie waren in allen drei Ländern traditionell nur schwach vertreten. Aber auch für sie ließen sich aus dem Ergebnis kaum optimistische Prognosen ableiten.627 Die Wahlforschung war damals noch kein so intensiv beackertes Feld wie heute. Doch irgendwelcher Spitzfindigkeiten bedurfte es gar nicht. Die NSDAP sollte im Deutschen Reich im Juli 1932 mit 37 % zur mit Abstand stärksten Partei aufsteigen. In Österreich war sie mit einer gehörigen Verzögerung unterwegs : Sie hielt jetzt ungefähr dort, wo Hitler im Reich schon im September 1930 gelandet war. Vielleicht setzte das dichte Milieu der österreichischen Lagerparteien, der sogenannte »Zentrumseffekt« des katholischen Umfelds, ihrem Wachstum in Österreich etwas engere Grenzen. Doch all diese Spekulationen vermochten an dem grundlegenden Faktum nichts zu ändern. Im nächsten Parlament würde die NSDAP – und nur sie – das Zünglein an der Waage sein ; ob jetzt mit 15, 20 oder 30 %, war sekundär. Selbst wenn der Landbund in Kärnten sein Grundmandat behielt – oder man ihn durch eine 3-%-Klausel vor dieser Sorge rettete –, eine bürgerliche Mehrheitsbildung war unwahrscheinlich geworden. Nun war bis zu den nächsten Nationalratswahlen noch gut zweieinhalb Jahre Zeit. Aber die Uhr tickte.
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Die political correctness der Nachgeborenen hatte für das Problem natürlich die optimale Lösung parat. Spätestens jetzt hätten sich Schwarz und Rot zu einer Großen Koalition finden müssen. Diese Hoffnung bewegte damals schon – und zwar Eduard Frauenfeld, den einzigen der regionalen NS-Führer, der über ein eigenständiges Profil verfügte. Er rechnete sich maximale Gewinnchancen für die NSDAP aus, wenn beide Konkurrenten ihren jahrelangen Beteuerungen untreu wurden und eine Koalition eingingen. Für die Christlichsozialen war die heraufdämmernde Mehrheit der beiden kollektivistisch-antiklerikalen Oppositionsparteien ein Alptraum : Wie immer die Partei sich auch entschied – und prinzipiell lag ihr die antimarxistische Schiene natürlich immer noch näher – ein beträchtlicher Teil ihrer Anhänger würde es ihr nicht verzeihen. Im Deutschen Reich hatte die SPD die Minderheitsregierung Brüning gegen die NSDAP (und die KPD) gestützt. Eine solche Variante war auch für die Sozialdemokraten in Österreich zumindest vorstellbar. Aber zuerst sollten den Christlichsozialen alle anderen Möglichkeiten genommen werden. Die eigentliche Grundsatzdebatte war bei den Sozialdemokraten schon im Februar ausgetragen worden. Der rechte Flügel plädierte damals dafür, der Regierung goldene Brücken zu bauen. Leuthner wollte einen Misstrauensantrag von vornherein ausgeschlossen wissen, Renner warb um Verständnis für Buresch. Aus Selbsterhaltungstrieb könnten die Christlichsozialen niemals für ein Zusammengehen mit den Sozialdemokraten eintreten ; aber – so warnte er eine Woche vor dem gesundheitlichen Kollaps Seipels – die Pläne des Altkanzlers seien »ganz klar und offen sichtbar : Die Minderheitsregierung muß versagen, dann kommt ER«. Dieses Kalkül müsse man durchkreuzen. Bei dieser Debatte verliefen die Fronten innerhalb der Sozialdemokratie wieder in den gewohnten Bahnen. Otto Bauer sagte die Katastrophe binnen eines halben Jahres voraus. Da gelte es im Augenblick der »Agonie des bürgerlichen Regierungsystems« zuerst einmal die Verantwortlichkeiten festzuhalten. »Jede sichtbare Tolerierung macht uns mitverantwortlich.«628 Die Debatte wurde nach dem endgültigen Rücktritt Buresch’ gar nicht erst wiederaufgenommen. Die Sozialdemokratie verlangte Neuwahlen noch vor dem Sommer, mit dem plausiblen Argument, das Parlament entspreche wohl kaum mehr der Wählerstimmung. Im Parteivorstand stimmte nur Ellenbogen als Außenseiter gegen diesen Beschluss.629 Für die Regierung kam es nicht bloß darauf an, diese Drohung abzuwehren ; sondern auch für die nächste Zeit eine Mehrheit ausfindig zu machen, schließlich handelte es sich um eine Minderheitsregierung. Ansprechpartner waren in beiden Fällen zuerst einmal die Großdeutschen, die von den Wählern zwar auf den Aussterbe-Etat gesetzt worden waren (nur in Vorarlberg erzielten sie im November noch einmal 7 %), aber noch zwei Jahre lang mit ihren zehn Mandaten wuchern konnten. Nun hatten natürlich gerade die Großdeutschen allen Grund, Neuwahlen zu fürchten wie der Teufel das Weihwasser. Doch zumindest nach außen hin erweckte die Partei den Eindruck, vom Todestrieb befallen zu sein. Sie sprach sich ebenfalls für Neuwahlen
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aus ; freilich : sie brachte keinen Neuwahlantrag ein, sondern forderte bloß die Regierung auf, dem Hause eine solchen vorzulegen. Zusammen mit den Regierungsparteien stimmten die Großdeutschen am 11./12. Mai einen von der Sozialdemokratie vorgeschlagenen Wahltermin noch vor dem Sommer nieder. So weit das Eröffnungsgambit für die Regierungsverhandlungen.630 Die Großdeutschen pokerten hoch. Ihre zweite Ansage war ein Anathema gegen Buresch – als Revanche für die Entlassung Schobers, als Prestigeerfolg, der es ihnen erlaubte, vor der eigenen Anhängerschaft das Gesicht zu wahren. Vaugoin seufzte : »Es ist schwer, mit Leuten zu verhandeln, welche schon in Todesstarre sind.« Die Christlichsozialen beschlossen daraufhin, Dollfuß mit den Verhandlungen zu betrauen – und nach Alternativen zu den Großdeutschen Ausschau zu halten. Mit den Alternativen war weniger an einen »Systemwechsel« gedacht, sprich : an eine Elefantenhochzeit mit der Sozialdemokratie, sondern an einen Mehrheitsbeschaffer in Gestalt des Heimatblocks. Zumindest ließe sich auf diese Weise auf die Großdeutschen ein gewisser Druck ausüben. Der Heimatblock war zu einem Flirt bereit, wünschte sich jedoch Rintelen als Kanzler. Unglücklicherweise war Rintelen am Abend zuvor im vertrauten Gespräch mit den Heimwehrführern im Griechenbeisl gesehen worden. Sein Klub beauftragte ihn zur Strafe damit, den Heimatschützern diese Idee auch wieder auszureden. Inzwischen ließen die Großdeutschen eine gewisse Bereitschaft erkennen, in ein Ministerium Dollfuß einzutreten. Klimann beschrieb die zwiespältige Stimmung innerhalb seiner Partei : »Innerlich will man mittun, äußerlich ist scheinbar eine Mehrheit gegen den Eintritt.« Erst in letzter Minute scheiterte die Koalition, diesmal nicht an den Parteigremien, sondern am Nationalratsklub – und an der mangelnden Bereitschaft der Christlichsozialen, als Einstandsgeschenk die langversprochene Wahlreform vorzuziehen. Doch noch beim ersten Misstrauensantrag der Sozialdemokraten Ende Mai enthielten sich die Großdeutschen bezeichnenderweise der Stimme.631 Dollfuß nahm nach der vorläufigen Absage der Großdeutschen mit dem Heimatblock vorlieb. Winkler – jetzt auch zum Bundesobmann des Landbundes gewählt – blieb Vizekanzler, Starhemberg schickte den Innsbrucker Rechtsanwalt Guido Jakoncig als Handelsminister in die Regierung. (Auch Staatssekretär Ach im Innenministerium galt als den Heimwehren nahestehend.) Man soll den Roman nicht von hinten lesen : Diese Dreierallianz war keine Liebesheirat. Winkler hatte bei früheren Gelegenheiten schon einmal eine Zusammenarbeit mit dem Heimatblock abgelehnt. Auch Dollfuß war – wie es Schuschnigg ausdrückte – ja »nicht von vornherein der Mann, den die Heimwehren so ohne weiteres geschluckt hätten«. Seipel als väterlicher Freund der Heimwehren hatte im Februar einen gesundheitlichen Zusammenbruch erlitten. Der todkranke Alt-Kanzler hatte danach noch eine Pilgerfahrt ins Heilige Land unternommen ; er verbrachte die Zeit seither auf Kur am Semmering – und starb im August.632 Seine Rolle als heimlicher Regent im Hin-
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tergrund, als Klammer der Koalition, übernahm bis zu einem gewissen Grad Rintelen, der als Freund Winklers und Wunschkandidat der Heimwehren diverse Gräben leichter zu überbrücken vermochte. Rintelen war zwar weder Kanzler noch Außenminister, sondern wiederum – wie schon einmal 1926 – nur Unterrichtsminister. (Für ihn musste Czermak das Terrain räumen, der sich viel darauf zugutehielt, freiwillig gegangen zu sein, als die internationalen Geldgeber gegen seinen Studentenrechtsentwurf protestierten.) Etwaige Meinungsverschiedenheiten entsorgte das Kabinett nach dem Muster : agree to differ. Minister wurden immer wieder ermächtigt, kontro verse Maßnahmen einfach durchzuführen, ohne ihre Kollegen damit in peinliche Gewissenskonflikte zu stürzen. Rintelen selbst gab dafür bei Gelegenheit das beste Beispiel, als er zu Protokoll gab : »Ich erhebe keinen Widerspruch, aber wenn ich gefragt werde, ob ich dafür bin, muß ich verneinen.«633 Wer wollte da schon nachfragen ? Dollfuß wurde als Übergangslösung betrachtet. Einer seiner Kollegen sprach das unumwunden aus. Sein Kabinett war auf den baldigen Wiedereintritt der Großdeutschen zugeschnitten. Die reichsdeutsche Gesandtschaft – der Dollfuß immer wieder Informationen zukommen ließ – begrüßte den Wechsel ausdrücklich, denn : »Herr Dollfuß hat von jeher zu den Vertretern der nationalen Richtung in der christlich sozialen Partei gehört.«634 Als charismatische Führungsgestalt des katholischen Lagers war Dollfuß ein Kontrastprogramm zu Seipel, in fast jeder Beziehung, nicht bloß wegen ihrer gelegentlichen Meinungsverschiedenheiten : Otto Bauer rühmte in seinem Nachruf auf Seipel dessen eiserne Selbstbeherrschung. Seipel verstand Versammlungen souverän zu dirigieren ; aber er wich dem persönlichen Dialog und der geselligen Kameraderie aus. Dollfuß bezauberte durch seine liebenswürdige Spontaneität. Der Agrarbürokrat war kein Schreibtischtäter, sondern kam viel herum und ließ sich durch persönliche Anschauung beeindrucken. Seine Energie beeindruckte selbst blasierte Beamte : »In dem kleinen Stöpsel steckt viel Behendigkeit und Schlauheit. […] Der Mann ist ganz Dynamik. Immer ist etwas los.« Dem disziplinierten Asketen Seipel folgte ein Mensch, der nächtelang zechte (»ein großer ›Drahrer‹, der bis 7 Uhr früh tarockierte«), kein Verächter der holden Weiblichkeit war – und von legendärer Unpünktlichkeit. Man muss aus den sprichwörtlichen kleinen Verhältnissen und der unehelichen Geburt Dollfußʼ kein so großes Aufheben machen. Der Kirnberger Pfarrer sorgte dafür, dass der begabte Bub im Hollabrunner Gymnasium eine exzellente Ausbildung erhielt, selbstverständlich, um Priester zu werden. Dollfuß begann im Herbst 1913 sein Studium in Wien, trat im November dem CV (»Franco-Bavaria«) bei – und zwei Monate später aus dem erzbischöflichen Seminar aus. Der Jurist war als Kammersekretär ein einflussreicher Mann, aber er war kein »Besitzer«. Den Kaiserschützenoffizier (Oberleutnant und Kommandant eines MG-Zugs) verband – zum Unterschied von den adeligen Offizierssöhnen Schuschnigg und Starhemberg – auch
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Dollfuß, umgeben von Freund oder Feind Abbildung 31 : In der Mitte die »Golemfigur« Reither, rechts von ihm Buresch, rechts außen Dollfuß Abbildung 32 : Eine Fotomontage der beiden Attentatsopfer Seipel und Dollfuß Abbildung 33 : Dollfuß neben seinem steirischen Rivalen Rintelen Abbildung 34 : Treue um Treue : Dollfuß und Starhemberg im Mai 1933
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keine sentimentale Ader mit der Monarchie. Er studierte nach dem Krieg ein Jahr lang in Berlin und lernte dort auch seine Frau kennen.635 Mit der Position eines Übergangskanzlers mit Ablaufdatum war Dollfuß nicht zufrieden. Seipel hatte korrekt diagnostiziert, Dollfuß verfüge über kein Fangnetz. Buresch kehrte nach seinem Kanzlerjahr als Landeshauptmann nach Niederösterreich zurück und wurde im Parlament anstandslos wieder zum Klubobmann gewählt. Der ehrgeizige junge Dollfuß musste seine Chance nützen : jetzt oder nie. Daraus ließ sich ein gewisses Sendungsbewusstsein ableiten : Buresch hatte die Genfer Zumutungen fatalistisch über sich ergehen lassen. Dollfuß hingegen wollte sogar die Frage neu aufrollen, ob die umstrittene Haftung, die wie ein Mühlstein um den Hals der Regierung hing, überhaupt zu Recht bestehe. Schuschnigg spielte als Justizminister mit dem Gedanken, den damaligen Finanzminister Juch als Verantwortlichen verhaften zu lassen oder ihm zumindest den Prozess zu machen. Rintelen, der gegenüber den Gläubigern die unnachgiebigste Position vertrat, wurde nach London geschickt, um selbst mit ihnen zu verhandeln – und erzielte um den Jahreswechsel 1932/33 tatsächlich ein passables Ergebnis. Die Regierung Dollfuß brachte die Drohungen in Stellung, die ein Jahr zuvor bloß in camera caritatis ausgesprochen worden waren, nämlich im Ernstfall ganz einfach gar nicht zu zahlen. Die Industrie formulierte es folgendermaßen : »Man müsse das Ausland zu jener Vernunft bringen, wie sie jeder raisonable Gläubiger anwendet, daß er auch dem Schuldner das Weiterleben ermöglicht.«636 Selbst ein Verfechter der Orthodoxie wie Nationalbankpräsident Kienböck räumte im kleinen Kreis ein : Wenn man keine Anleihe erhalte, werde man eben ein Zahlungsmoratorium verkünden.637 Das Resultat war : Die Auslandsgläubiger wurden mit den Auslandsbeteiligungen der CA abgespeist, die in eine Holding-Gesellschaft eingebracht wurden, die ihren Sitz passenderweise in Monaco aufschlug. Den 80 Mio. $ garantierter Einlagen standen auf dem Papier 70 Mio. $ Auslandsforderungen gegenüber. Doch was waren diese Forderungen nach drei Jahren Krise noch wert ? Auch ein größeres Aktienpaket an der CA wurde den Gläubigern offeriert : Also sollte die Bank inzwischen doch weitergeführt werden ? Darüber hinaus mussten die Österreicher eine mäßige Annuität berappen. Ursprünglich wollte Rintelen dafür bestenfalls 5 Mio. pro Jahr veranschlagen, man einigte sich auf ein Limit bis 12 Mio., schließlich wurden es doch 16 Mio., die aber erst ab 1935 fällig wurden. Mit der Nationalbank wurde ein spezielles Übereinkommen getroffen : Der Staat zahlte für die halbe Milliarde an faulen Wechseln, die er garantiert hatte, nur minimale bis gar keine Zinsen. Das CA-Debakel wurde auf diese Weise in handliche Portionen zerlegt. Die horrenden Verluste von 700 bis 800 Mio. wurden in langfristige Schulden umgewandelt, die im Schnitt nicht viel mehr als 2 % pro Jahr kosteten.638 Landbündler und Heimwehren konnten da nur applaudieren. Ohne allzu viel Übertreibung : Die Regierung Dollfuß gab sich
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im Prinzip mindestens so kämpferisch in Bezug auf das Auslandskapital wie die Opposition. Lausanne oder Hirtenberg ? Nur in einem wesentlichen Punkt wich Dollfuß von dieser Linie ab. Er bestand auf der Anleihe, die Österreich in Aussicht gestellt worden war, schon einmal als Zeichen des Vertrauens in seine Regierung. Inzwischen waren die Wahlen in Frankreich vorüber ; die Verhandlungen konnten relativ rasch im Juni abgeschlossen werden. Im Juli landete diese sogenannte »Lausanner Anleihe« vor dem Nationalrat. Damit begann eine Scheidung der Geister, die zum ursprünglichen Ansatz der Regierung in einem gewissen Widerspruch stand. Das Deutsche Reich – inzwischen vertreten durch die Regierung Papen – hatte gegen »Lausanne« zwar keine Bedenken geltend gemacht. Aber Papen wollte dieses Einverständnis nicht an die große Glocke hängen.639 In der Öffentlichkeit entstand damit ein weiteres Mal der Eindruck, es handle sich weniger um eine Umschuldungsaktion, die unter den gegebenen Umständen nicht anders zu bewältigen war, sondern um eine Grundsatz- und Richtungsentscheidung zwischen »deutschem« und »französischen« Kurs. Für diese Art von Gegenpropaganda waren beide Koalitionspartner nur allzu empfänglich. Der Landbund wurde von seinen reichsdeutschen Partnern bearbeitet, die in Verbindung zur DNVP standen ; auch Starhemberg war sich seiner Sache nicht allzu sicher, am liebsten wäre ihm eine Vertagung der ganzen Angelegenheit gewesen. Das Kapitel »Lausanne« erwies sich als das mit Abstand spannendste in der Geschichte des österreichischen Parlamentarismus. Meist findet sich in der Literatur der Hinweis, die Regierung Dollfuß habe im Parlament ja nur über eine Mehrheit von einer Stimme verfügt, 83 von 165 Abgeordneten. Doch diese Rechnung war immer noch viel zu optimistisch : Das Kabinett Dollfuß ging in den Kampf um Lausanne als eindeutige Minderheitsregierung. Denn der Steirische Heimatschutz hatte Starhemberg schon beim Regierungseintritt im Mai die Gefolgschaft aufgekündigt. Damit waren zwei Stimmen verloren gegangen (Hainzl und der Kärntner Ebner) ; zwei weitere (Hueber und der Tiroler Werner) drohten abzuspringen, sobald die Diskussion um Lausanne losging. Nach Adam Riese verfügte die Regierung damit bloß noch über 79 sichere Stimmen. Besser gesagt : mehr oder weniger sichere Stimmen : Denn auch unter den Kärntner Landbündlern rumorte es, wackelten ein bis zwei Stimmen. Das Schicksal der Regierung Dollfuß hing im Sommer 1932 an dem berühmten seidenen Faden. Sie wurde gerettet durch eine kuriose Kombination von providenziellen Zufällen und persönlichen Launen. Eine unabdingbare Voraussetzung, die in den meisten Darstellungen etwas ins Hintertreffen gerät, ging noch auf die Zeit des Kabinett Buresch zurück – und hatte weder mit Dollfuß noch mit Lausanne zu tun : Eine Revision bei der Technischen Union, der umstrittenen Gewerkschaft Zelen-
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kas, hatte im Februar 1932 gröbere finanzielle Unregelmäßigkeiten zutage gefördert. Die Partei forderte daraufhin Zelenka zum Verzicht auf seine Ämter auf – und auf sein Mandat. Zelenka verteidigte sich, schließlich seien alle Beschlüsse vom Vorstand seiner Gewerkschaft abgesegnet worden. Die Partei ließ ihm dennoch ausrichten, er sei nicht würdig »Vertrauensstellungen in der Arbeiterbewegung zu bekleiden« ; er solle »rasch verschwinden, widrigenfalls er vor Gericht gestellt würde«. Doch für den Rücktritt vom Mandat forderte Zelenka einen Versorgungsposten (denn er »wisse nicht, wovon er leben solle«). Inzwischen meldete er sich krank bzw. nahm Urlaub. Ende Juli wurde Zelenka schließlich aus der Partei ausgeschlossen. Seine Stimme fiel während der gesamten Debatte über Lausanne aus.640 Damit stand es immer noch 79 zu 85 gegen die Regierung. Zwei Stimmen vermochte Starhemberg doch noch »umzudrehen«. Sein ehemaliger Ministerkollege Hueber war zwar gegen Lausanne, aber er verhielt sich loyal zur Bundesführung. Er legte sein Mandat nieder ; sein Nachfolger auf der Liste (Franz Elshuber, ein Salzburger Postbeamter, der angeblich eigens Italienisch gelernt hatte, um Mussolini im Original lesen zu können) stimmte mit der Regierung. Pikant daran war nicht zuletzt der Umstand, dass es sich bei Hueber um den Schwager Hermann Görings handelte. Mit dem Kitzbüheler Kaufmann Max Werner fand sich in letzter Minute dann auch noch ein Konvertit aus Überzeugung. Werner war kein »Mann der Doppelreihe«, sondern von Steidle als Vertreter eines »Bürgerlichen Ständebundes« auf die Liste des Heimatblocks gesetzt worden. Er trat jetzt aus dem Heimatblock aus – und genoss sichtlich seine Position als Zünglein an der Waage. Werner las dem Kanzler in einer großen Rede die Leviten, zeigte sich aber von seiner kulanten Seite und gewährte ihm einen Vertrauensvorschuß. Aufgrund seines Sinneswandels wurde der Misstrauensantrag der Opposition am 2. August mit 81 :81 abgeschmettert. 81 zu 81 auch nur deshalb, weil Renner als Präsident des Hauses nicht mitstimmen durfte – und Schober erkrankt war. Einen makabren letzten Dienst erwies seiner Partei in dieser Stunde Ignaz Seipel : Er starb rechtzeitig – drei Stunden später und sein Nachfolger hätte nicht mehr rechtzeitig angelobt werden können, wie die AZ vorrechnete, die ihrem großen Gegner »die Achtung nicht versagte« und ihm – im militärischen Jargon Otto Bauers – »drei Salven über die Bahre« nachschickte.641 Bloße Stimmengleichheit hätte für die Lausanner Anleihe immer noch nicht gereicht. Die »Wirtschaft« war an der Anleihe interessiert. Wenn man schon alle möglichen Schikanen auf sich genommen habe, warum dann nicht wenigstens auch die Vorteile lukrieren ? Josef Vinzl, der Hospitant des Nationalen Wirtschaftsblocks, war Präsident des Hauptverbandes der Österreichischen Kaufmannschaft und Vize präsident der Wiener Handelskammer. Seine Stimme gegen die Regierung trug ihm geschäftlichen Ärger ein. Um allen möglichen Anfechtungen und Anfeindungen zu entgehen, wollte deshalb auch er sein Mandat zurücklegen. Freilich wäre in seinem Fall dann ein waschechter, oppositioneller Großdeutscher nachgerückt. Damit hätte
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Dollfuß’ »Retter« beim Kampf um Lausanne Abbildung 35 : Franz Zelenka 1927 : Bürgerschreck mit Stecktuch Abbildung 36 : Franz Hueber : Görings Schwager, der weder für noch gegen Dollfuß stimmen wollte Abbildung 37 : Josef Vinzl : Der Wirtschaftsvertreter im Zwiespalt erklärte den Rücktritt vom Rücktritt Abbildung 38 : Max Werner : Der Vertreter des bürgerlichen Ständebundes als Zünglein an der Waage
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die Regierung nichts gewonnen. Also überredete man Vinzl zum Rücktritt vom Rücktritt (und »man« war in dem Fall offenbar Generaldirektor Wilhelm Berliner von der Phoenix-Versicherung, die für ihre Großzügigkeit gegenüber Politikern bekannt war). Am 19. August erhielt Renner um 11 Uhr den ursprünglichen Brief Vinzls. Doch die Behörden verzögerten in Kenntnis der Sachlage die Einberufung seines Nachfolgers – Winkler erteilte Bachinger im Innenministerium eine entsprechende Weisung – und siehe da, um 16.15 Uhr langte Vinzls Telegramm aus der Sommerfrische ein, man möge den Brief als gegenstandslos ansehen, er suche bloß um Urlaub an. Mangels an Präzedenzfällen wusste niemand so recht zu sagen, wie es um die rechtliche Qualität des Rücktritts vom Rücktritt bestellt war. Vorerst jedoch hatte die Anleihe den Nationalrat aufgrund der Abwesenheit Vinzls schon am 17. August mit der berühmten einen Stimme Mehrheit absolviert.642 Es folgte noch ein kleines Nachspiel. Denn im Bundesrat verfügten Sozialdemo kraten und Nationalsozialisten seit den Landtagswahlen im Frühjahr über die Mehrheit. Die Lausanner Anleihe wurde deshalb prompt an den Nationalrat zurückverwiesen. Inzwischen war auch Schober verstorben. Das Haus fasste unmittelbar nach seiner Leichenfeier am 23. August den Beharrungsbeschluss. Die Mehrheit betrug diesmal sogar ganze zwei Stimmen, denn für Schober rückte im Rahmen des »Schoberblocks« kein Großdeutscher nach, sondern ein burgenländischer Landbündler, Gottlieb Grabenhofer, als Vizepräsident der Landwirtschaftskammer ein verlässlicher Anhänger des »agrarischen Kurses«, der in Windeseile angelobt wurde. Jetzt verfügte Dollfuß über 82 Stimmen ; das reichte aus – allerdings nur, solange Vinzl und Zelenka ihren Urlaub genossen und Renner den Vorsitz führte. Im Lichte der berühmten Geschäftsordnungspanne ein halbes Jahr später, als alle drei Präsidenten aus einem nichtigen Anlass zurücktraten, um mit ihrer Fraktion stimmen zu können, ist es vielleicht nicht ganz unangebracht, eigens darauf hinzuweisen, was im Sommer 1932, als es um sehr viel mehr ging – eben nicht geschah : Kam damals denn niemand auf die Idee, Renner den Rücktritt nahezulegen ? Doch, die Großdeutschen machten den Sozialdemokraten vor dem Beharrungsbeschluss am 23. August genau diesen Vorschlag – und erhielten prompt eine ablehnende Antwort. Wenn die Partei zur selben Zeit ihr Disziplinarverfahren gegen Zelenka ohne Rücksicht auf Verluste durchzog, ja, die geplante Obstruktion wegen der Einführung des freiwilligen Arbeitsdienstes abblies und einen Kompromiss anpeilte, so drängt sich der Verdacht auf, der Sozialdemokratie sei der Sieg über Lausanne – allem Theaterdonner zum Trotz – kein so besonderes Anliegen gewesen. Prompt erzählte Dollfuß im kleinen Kreis später, die »Roten« hätten ihm sogar angeboten, die Anleihe durch ein paar gezielte Stimmenthaltungen passieren zu lassen – wenn er bloß Jakoncig und die Heimwehren in die Wüste geschickt hätte.643 Mit einer Stimme Minderheit – bei ein paar Enthaltungen – regierte es sich freilich immer noch nicht allzu gemütlich. Dollfuß lotete im Herbst 1932 daher wei-
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terhin alle Möglichkeiten aus. Wiederum waren die Großdeutschen die erste Adresse : Er habe »die Großdeutschen nie als Opposition betrachtet, sondern immer uns näherstehend«, erklärte er vor dem Klub. Als klassische Parteienverhandlungen kein Ergebnis zeitigten, versuchte er es mit dem Umweg über Berlin. Im Oktober schickte er einen Vertrauensmann – den Prinzen Karl Anton Rohan – zu Papen, er möge doch seinen Einfluss geltend machen, um die Großdeutschen zur Rückkehr in die Regierungsmehrheit zu bewegen. Auf wiederholtes Drängen gab Papen schließlich eine entsprechende Anweisung, die Wiener Gesandtschaft solle zumindest einmal informelle Erkundigungen einholen. Die Großdeutschen sonnten sich in der Aufmerksamkeit : »Die Christlichsozialen haben um unsere Partei noch nie so gebuhlt wie in den letzten Monaten.«644 Solange sich keine Alternative anbot, hielt es Dollfuß für geboten, wenigstens die Heimwehren enger an sich zu binden. Im Sommer hatte er Starhemberg ein zweites Ressort in Aussicht gestellt, sobald die Lausanner Anleihe klaglos über die Bühne gegangen war. Das Staatssekretariat im Innenministerium sollte zu einem »Polizeiministerium« ausgebaut werden. Freilich ließ Dollfuß nach Achsʼ Rücktritt noch drei Wochen verstreichen ; er scheint das Ressort zuerst Langoth angeboten zu haben, dem großdeutschen Landesobmann und Sicherheitsreferenten in Oberösterreich, dann erst dem Wiener Heimwehr-Boss und Maria-Theresienritter Emil Fey. Am Wochenende davor nahmen Dollfuß – und der italienische Gesandte Auriti – erstmals demonstrativ an einer Heimwehrkundgebung teil.645 Neben den Versuchen, die parlamentarische Basis der Regierung zu festigen oder zu verbreitern, wurde nach Lausanne immer wieder darüber spekuliert, ob man nicht zu einer Phase des autoritären Regimes greifen müsse. Dabei waren zwei unterschiedliche Konzepte zu unterscheiden. Die Christlichsozialen suchten nach einem Ausweg aus den prekären Mehrheitsverhältnissen (Schuschnigg sprach schon im Juni davon, »bei einem solchen Notstand sei ein Regieren mit dem Parlament nicht möglich«), nach dem Muster des § 14-Regimes der Monarchie oder des Notverordnungsregimes, das Brüning und dann – mit weit weniger Erfolg – Papen im Reich praktizierten – als »außerparlamentarisches Kabinett zur Abwehr der antiparlamentarischen Parlamentarier«. Unter Anspielung auf Dollfußʼ Statur firmierte diese Variante unter der Formel, aus Dollfuß könne vielleicht doch noch ein Papen im Westentaschenformat (»formato mignon«) werden. Sogar der allen Experimenten abgeneigte Miklas wurde zitiert, wenn auch erst aus zweiter Hand, eine Diktatur auf Zeit sei durchaus mit den Prinzipien einer gesunden Demokratie vereinbar.646 Daneben und dahinter lief ein Projekt, das von Mussolini und dem neuen ungarischen Ministerpräsidenten Gömbös in Zusammenarbeit mit den Heimwehren entriert wurde : Österreich solle innen- wie außenpolitisch in einen italienischungarischen Block integriert werden. Auslöser war einmal mehr eine akute Verschlechterung der Beziehungen zwischen Rom und Belgrad, die Mussolinis Inter-
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esse an Österreich sprunghaft steigen ließ. Er machte jetzt auch wieder Gelder für die Heimwehren flüssig, die zum Ankauf von Tageszeitungen, ja sogar von ein paar Propagandaflugzeugen bestimmt waren. Ursprünglich hatten die Italiener wie die Heimwehren bei allen einschlägigen Plänen mehr an Rintelen als Partner gedacht. Doch Rintelens Sterns war im Sinken. Der vielseitige Steirer, der nach allen Seiten hin seine Verbindungen spielen ließ, war am besten Weg, sich zwischen alle Stühle zu setzen. Im Kabinett hatte er z. B. mehrfach der Mitarbeit der Sozialdemokraten das Wort geredet. Im Mai hatten die Heimwehren noch auf Rintelen als Kanzler bestanden ; im Herbst warnten sie ihre italienischen Freunde bereits vor ihm.647 Mussolini ließ deshalb im Dezember 1932 sein Bündnisangebot ganz offiziell dem amtierenden Bundeskanzler vortragen : Dollfuß reagierte freudig, aber unverbindlich. Er schwärmte von Handelsabkommen und hatte auch keine Berührungsängste vor Waffenlieferungen. Auch mit Gömbös – dessen erste Frau eine Wienerin gewesen war – stand er bald auf dem Duz-Fuß (ohne ihm freilich wirklich zu vertrauen).648 Doch als Italien eine große publikumswirksame Geste verlangte (»es sei notwendig, daß Dollfuß sich öffentlich mit uns einlasse«), winkten die Österreicher mit Bedauern ab. Ob es sich jetzt um den wahren Grund handelte oder bloß um einen Vorwand, das unwiderlegliche Argument lautete : Wer A sagt, muss auch B sagen. Zuerst müsse die Garantie für die so heiß umkämpfte Lausanner Anleihe auch noch das französische Parlament mit seiner Linksmehrheit passieren. Bis dahin müsse man auf die Franzosen zwangsläufig Rücksicht nehmen, das werde Mussolini doch verstehen.649 Dollfuß hatte offensichtlich die Lektion gelernt, sich möglichst viele Optionen offenzuhalten. Wie offen die Situation bis zu einem gewissen Grad damals noch war, bewies die sogenannte Hirtenberger Waffenaffäre im Jänner 1933. Zwar führten ihre Folgen indirekt zu der Situation, die am 4. März in die berühmt-berüchtigte »Selbstausschaltung« des Parlaments mündete, zum Weg in das autoritäre Regime, zum Konflikt mit dem Dritten Reich etc. Doch in den Wochen davor zeichnete sich eine ganz andere Perspektive ab – ob es sich dabei um eine bessere oder eine schlechtere handelt, ist Ansichtssache – aber jedenfalls eine andere. Am 8. Jänner 1933 begann die AZ mit Enthüllungen über geheime Waffentransporte über österreichisches Gebiet – immerhin vierzig Waggons mit 84.000 oder sogar 120.000 Gewehren. Dabei handelte es sich nicht um milde Gaben für die Heimwehren oder das Bundesheer, sondern um italienische Lieferungen für die Ungarn. Adressiert war die Ladung an die Patronenfabrik Hirtenberg, die Starhembergs Freund Fritz Mandl gehörte ; von dort sollten die Lieferungen per Lkw über die nahe ungarische Grenze gebracht werden. Die Nachricht war brisant, insbesondere vor dem Hintergrund des italienisch-jugoslawischen Säbelrasselns. Die Unruhe bei der Kleinen Entente rief umgehend Frankreich auf den Plan. Österreich war im Vertrag von St. Germain der Import von Kriegswaffen untersagt worden. Galt das auch für den Transit ? Am
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11. Februar erhielt der Ballhausplatz eine scharf formulierte Note der Westmächte, die – einmal mehr – stark übertreibend als Ultimatum im Sarajevo-Stil interpretiert wurde. Aber war die Krise nicht auch eine Chance für einen nationalen Schulterschluss ? Dollfuß wies jegliche Kritik aus dem Ausland zurück. »So kotzengrob kann man nicht kommen.« Immerhin sei jetzt auch hinlänglich bewiesen, dass Österreich – trotz Lausanne – kein Vasall Frankreichs sei. In Berlin war am 30. Jänner Hitler zum Reichskanzler ernannt worden. Dollfuß notierte : »Die Haltung des Deutschen Reiches und seiner Presse ist ganz durchaus die unsere.« Vielleicht war es Zeit für einen Kurswechsel, mit oder ohne die Lausanner Anleihe, die ja im Wesentlichen nur der Umschuldung diente ? Das französische Parlament ratifizierte die Anleihe zwar kurz vor der Jahreswende, zeigte aber nicht übel Lust, alle Auslandsverpflichtungen von einem Schuldenschnitt durch die USA abhängig zu machen.650 Vielleicht konnte Deutschland bis zu einem gewissen Grad da eine Ausfallshaftung übernehmen. Hitler und Göring bemühten sich als Neulinge auf dem internationalen Parkett angelegentlich um ein gutes Einvernehmen mit Mussolini. Göring schärfte dem Wiener Gauleiter Frauenfeld ein, er solle Mussolini ja nicht ärgern. In dieser Richtung gab es damals (noch) keine Probleme.651 Auch innenpolitisch konnte ein solcher Kurswechsel seine Rendite abwerfen : Für den Februar war ein neuerlicher Anlauf geplant, die Großdeutschen zum Eintritt in die Regierungsmehrheit zu bewegen. In einer bezeichnenden Notiz wies Dollfuß darauf hin, man solle die anstehenden Konkordatsverhandlungen schnell zu Ende bringen, bevor die Großdeutschen in die Regierung zurückkehrten. Bereits am 17. Februar wurde ein Budgetposten im Nationalrat nur deshalb mit einer Stimme Mehrheit verabschiedet, weil der Großdeutsche Schürff bei der Abstimmung fehlte. Vorerst war da noch ein Streit zwischen Landbund und Großdeutschen über die Besetzung des Gesandtenpostens in Berlin entstanden. Vizekanzler Winkler wollte unbedingt seinen Klubobmann Stephan Tauschitz in die Diplomatie abschieben.652 Aber am Postenkarussell allein sollte die Sache nicht scheitern. Alt-Kanzler Streeruwitz wurde eines schönen Tages – dem 20. Februar 1933 – zu Dollfuß gerufen, der »mir einen Diplomatenpaß übergab und mich ersuchte, noch am Abend nach Berlin zu Hitler zu fahren, er möge uns statt Lausanne die Anleihe geben. Ich lehnte ab.« Auch Richard Schmitz notierte in seinen Aufzeichnungen entsetzt : »Dollfuß dachte in diesen Tagen allen Ernstes daran, Streeruwitz nach Berlin zu Papen [inzwischen Hitlers Vizekanzler] zu schicken. Ich habe Vaugoin und durch ihn Dollfuß überzeugt, daß dies ein ganz großer Fehler wäre.« Selbst der politische Direktor des Außenamts, Theodor v. Hornbostel, fühlte sich bemüßigt, in einem längeren Memorandum vor einem solchen Kurswechsel zu warnen.653 Aber gerade die Vehemenz der Gegenstimmen beweist, dass damals ein solche Weichenstellung sehr wohl ernsthaft erwogen wurde.
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llerdings : Was wäre wenn ? Derlei Fragen lassen sich nicht schlüssig beantworten. A Mit den Großdeutschen an Bord hätte sich am 4. März eine ganz andere Situation ergeben, wäre auch für die Regierung kein so großer Anreiz gegeben gewesen, die erste Chance beim Schopf zu ergreifen, das Parlament loszuwerden. Die österreichische NSDAP hätte ihr zweifellos dennoch Kopfzerbrechen bereitet. Ihr Sprachrohr spuckte Gift und Galle, sobald die Überlegungen über eine »Reichshilfe für Österreich« durchsickerten : Man habe »kein Vertrauen zur Echtheit der nationalen Empörung« der Regierung Dollfuß, dieser »sattsam bekannten Pharisäer«. Ob Hitler auf seine österreichischen Anhänger gehört hätte ? Er ließ Habicht nach Berlin kommen, der ein paar Tage später bloß seine Forderung nach Neuwahlen wiederholte. Aber da war die Krise und/oder die Chance schon wieder vorbei, handelte es sich möglicherweise bereits um saure Trauben.654 Sicher : Selbst ein anfänglicher Schulterschluss mit Hitler war noch keine Überlebensgarantie. Aber hic et nunc zumindest bestand die Spur einer Chance : Österreich konnte auf diese Weise zum Scharnier, nicht zum Opfer der Achse Berlin-Rom werden, mehr ins Fahrwasser der Ungarn – und nicht der ČSR geraten. Zugegeben : Aus der Sicht politisch korrekter Nachgeborener möglicherweise alles höchst verstörende Perspektiven, aus der Sicht der Zeitgenossen vielleicht weniger.
3. Der unvorhergesehene »Staatsstreich auf Raten« 1933 Ein »Wink der Vorsehung« : Die Geschäftsordnungspanne vom 4. März 1933 Wie auch immer, der Kurswechsel fand nicht statt. Die internationale Aufgeregtheit erwies sich als Sturm im Wasserglas. Die Engländer rückten nach einer ersten Schrecksekunde von den Franzosen ab und setzten sich direkt mit den Italienern in Verbindung. Sie seien dankbar für jede Möglichkeit, über die Sache nicht mehr reden zu müssen. Am 21. Februar, dem Tag nach Dollfuß’ Aufforderung an Streeruwitz, langte die Entwarnung ein. Die salomonische Lösung lautete : Die Österreicher würden die Note der Westmächte einfach unbeantwortet lassen. Man gab deshalb vor, der offiziellen Version Glauben zu schenken, die Waffen seien nur zur Reparatur nach Hirtenberg geschickt worden, um dann sofort wieder nach Italien zurückzugehen. (Ein halbes Jahr später war in einem Bericht davon die Rede, 25.000 Gewehre befänden sich weiterhin in Hirtenberg.) Wichtig war den Österreichern, die Ungarn aus dem Spiel zu lassen, die zwar um ihre Lieferungen umfielen, aber gute Miene zum bösen Spiel machen mussten. (Hier war wohl auch der Grund für das Zerwürfnis zwischen Dollfuß und Gömbös zu suchen.) Peinlich war bloß, dass ÖBB-Generaldirektor Seefehlner – der 1931 Strafella abgelöst hatte – dem Eisenbahner-Gewerkschaftsboss König am nächsten Tag prompt 150.000 S anbot, wenn er die heiße Fracht »versehentlich« über Ödenburg umleite,
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wo die Waggons dann ausgeladen und plombiert würden. König marschierte mit dem unmoralischen Angebot stante pede zu seinem Parteivorstand. Bei der Industrie machte sich blankes Entsetzen breit : »Das Tollste was je vorgekommen ist !« Seefehlner sei entweder nicht normal – oder von Mandl zu derlei Verrücktheiten überredet worden. Er wurde von Dollfuß sofort suspendiert. Doch die Gewerkschaft empfand das unziemliche Offert als Angriff auf ihre Ehre und kündigte für den 1. März einen Warnstreik an. Aus dieser Ecke zogen Gewitterwolken am innenpolitischen Horizont herauf.655 Die ÖBB war das Sorgenkind der Regierung. Sie beschäftigte inzwischen nur mehr 64.000 Mitarbeiter (bis 1938 sank die Zahl sogar auf 55.000), hatte 1932 aber dennoch ein Defizit von über 100 Mio. eingefahren. Es ging bei dem Warnstreik nicht bloß um den Anschlag auf die Ehre des Genossen König, sondern schlicht und einfach darum, dass die Bahn nicht imstande war, ihren Bediensteten am Monatsersten den vollen Gehalt auszuzahlen. Die Frage wurde im Kabinett kontrovers diskutiert, übrigens mit verkehrten Fronten, was das gängige Schema betrifft. Es waren die politischen »Scharfmacher« vom Dienst, die Heimwehrminister – der zuständige Ressortchef Jakoncig, aber auch Fey –, die »goldene Brücken« bauen wollten zu den Streikenden, die ja im Prinzip recht hätten. Es waren Dollfuß – 1930/31 selbst ein paar Monate lang ÖBB-Präsident – und Winkler, das Duo der Agrarier, die in wirtschaftlichen Belangen eine harte Linie verfochten : Man könne den Eisenbahnern nicht »das Geld geben, das wir nicht haben«. Irgendwann einmal müsse Schluss sein mit lustig.656 Politisch war der Streik ein Kuriosum. Er wurde von den Gewerkschaftern a ller drei Lager getragen. Doch alle waren sich im Klaren darüber, dass König und Genossen nicht oder zumindest nicht mehr die treibenden Kräfte dabei waren. Es war die Deutsche Verkehrsgewerkschaft, inzwischen längst von den »Nazi-Sozi« dominiert, die auf dem Streik bestand. Seefehlners Nachfolger als Generaldirektor, Anton Schöpfer, obwohl selbst aus dem Milieu der nationalen Bahnbeamten kommend, sprach deshalb ausdrücklich von einem »politischen Streik« und ließ – unter Berufung auf eine Verordnung aus dem Jahre 1914 – im Einvernehmen mit Dollfuß 42 Rädelsführer vom Dienst suspendieren. Die Sozialdemokraten hingegen konzentrierten sich auf die verzögerten Gehaltszahlungen und beriefen sich auf das bürgerliche Gesetzbuch : Mit der Bestrafung der unbezahlten Eisenbahner hätte die Regierung originellerweise einen »Schuldturm für Gläubiger« eingeführt. Peinlich für die Regierung war zudem, dass sich auch die Christgewerkschafter an dem Streik beteiligt hatten. Von ihren sechs Abgeordneten im Nationalrat waren vier oder fünf Eisenbahner. Würden sie im Zweifelsfall mit der Regierung – und gegen ihre gemaßregelten Kollegen – stimmen ? Dieses verlockende Szenarium stellte für die Opposition wohl einen Zusatzreiz dar, für Samstag, den 4. März eine außerordentliche Parlamentssitzung zu beantragen.657
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Angesagte Revolutionen finden nicht statt. Der 4. März endete turbulent genug, aber die Sollbruchstelle hielt. Die Christgewerkschafter folgten der Parteilinie. Die Abstimmung verlief in gewohnten Bahnen – nur dass Vinzl zur Abwechslung wieder einmal mit der Opposition stimmte und zwei Regierungsabgeordnete nicht anwesend sein konnten. Außerdem begab es sich, dass ein sozialdemokratischer Abgeord neter versehentlich zwei Stimmen abgab, sein Nachbar dafür keine. Renner als Vorsitzender entschied, die Abstimmung sei dennoch gültig, weil sich am Endergebnis ja nichts geändert habe. Die oppositionelle Resolution der Großdeutschen war mit einer Stimme Mehrheit – 81 zu 80 – angenommen worden. Diese Entscheidung wurde von den Regierungsbänken nicht akzeptiert. Seitz erklärte danach in der Sitzung des sozialdemokratischen Klubs, Dollfuß habe sich um nichts gekümmert, Schmitz hätte »die Sache angezündet«. Doch sein Stellvertreter Sever gab zu : »Im gegenteiligen Fall hätten wir den gleichen Wirbel gemacht. […] Es ist traurig, daß wir im Unrecht sind.«658 Angesichts des »Wirbels« unterbrach Renner die Sitzung und erklärte danach seinen Rücktritt als Präsident, dazu angeblich von Bauer und Seitz aufgefordert. Zweiter Präsident war Alt-Kanzler Ramek : Er wollte die Abstimmung wiederholen lassen. Diese Entscheidung akzeptierte wiederum die Opposition nicht. Sie stellte sich auf den prinzipiellen Standpunkt, Entscheidungen des Präsidenten könnten nicht einfach wieder umgestoßen werden. Dabei hätte sie die Abstimmung jetzt erst recht gewinnen müssen. Zwar fürchtete man, Vinzl würde doch wieder umfallen. Aber dieser Ausfall wäre durch den Wechsel im Präsidentenamt mehr als wettgemacht worden. Kunschak riet seinem Parteifreund deshalb auch, die Abstimmung nicht zu wiederholen, sondern den Antrag einfach als mit Stimmengleichstand abgelehnt zu erklären. Angesichts dieser Widerstände auf allen Seiten trat jetzt auch Ramek zurück. Den Vorsitz übernahm Straffner als 3. Präsident. Zugegeben : Ihm blieben nicht mehr viele Varianten, das Haus zufriedenzustellen. Aber er hätte die Sitzung ordnungsgemäß schließen können, wie Renner ihm nachträglich vorwarf. Stattdessen legte kurz vor 22 Uhr auch er sein Amt zurück. Die Sitzung löste sich auf, die Sozialdemokraten skandierten : »Neuwahlen, sofortige Neuwahlen !« Die Regierung berief sich in Hinkunft auf den Slogan von der »Selbstauflösung des Parlaments«.659 Es ist schwer, aus so vielen Pannen und Kurzschlussreaktionen eine Verschwörungs theorie zu konstruieren. Der Anlass erinnert an Henry Kissingers berühmtes Paradoxon : »Academic conflicts are so bitter because stakes are so low. « Denn es ging am 4. März um fast nichts, allenfalls um eine milde Blamage für die Regierung, eine Scharte, die leicht auszuwetzen war, keinen Misstrauensantrag, kein Budget, keine Anleihe, bloß eine Meinungsäußerung, die formell wenig bewirken konnte, weil der Nationalrat der Leitung eines ausgelagerten Unternehmens ohnehin keine Weisungen erteilen konnte. (Eben daran war ja aus der Sicht der bürgerlichen Gegenseite die Reform der Bundesbahnen bislang immer wieder gescheitert.) Der großdeutsche
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Antrag, der im ersten Anlauf eine Mehrheit gefunden hatte, hieß den Streik nicht einmal gut, sondern beinhaltete angesichts der Gewissensqualen einer bürgerlichen Partei bloß das hintergründig formulierte Amnestiebegehren, die Streikenden vom 1. März 1933 sollten nicht schlechter behandelt werden als die streikenden Eisenbahner vom Juli 1927. Die Rede Schürffs zum Thema höre sich an wie eine Kandidatenrede für ein Ministeramt, höhnten deshalb auch die Sozialdemokraten, während Raab den Zwischenruf lancierte : »Die Großdeutschen sollten sich schämen, immer mit den Bolschewiken zu gehen.«660 Es war kein Wunder, dass die Regierung, die ja seit Langem immer wieder seufzte, ohne Parlament ließe sich alles viel leichter bewerkstelligen, ihr Glück zunächst gar nicht fassen konnte. Beigetragen hatte sie zur »Selbstausschaltung des Parlaments« denkbar wenig, noch weniger übrigens die Heimwehren, die einen Putschplan nach dem anderen durchexerziert und verworfen hatten, diesmal aber auf der Seite der »Packler« und Zauderer zu finden gewesen waren. Um mit Schiller zu sprechen : Dieser Mortimer starb ihnen sehr gelegen ; aber nichts sprach für foul play, nichts dafür, dass sie dabei nachgeholfen hätten. Im christlichsozialen Klub bemühte Schmitz die Theologie : »Gott hat uns noch einmal eine Gelegenheit gegeben, das Land und die Partei zu retten.« Buresch verwandelte den göttlichen Beistand bodenständig in ein Modalwunder : »Vom Standpunkt der Sozi hat Renner das dümmste Stück seines Lebens gemacht.« Man gab ein Kommuniqué heraus : Es gebe eine Parlaments-, aber keine Staatskrise, die Regierung arbeite weiter. Dollfuß sei ein Glückskind, weil ihm immer jemand den gewünschten Anlass liefere, schrieb der italienische Gesandte. Dollfuß hatte in den Monaten vor dem 4. März nicht auf die Ausschaltung des Parlaments gesetzt, sondern auf die Rückkehr der Großdeutschen. Das Schicksal hatte anders entschieden. Er resümierte : »Die Dinge habe ich nicht vom Zaun gebrochen«, aber : »Wir dürfen uns der zwangsläufi gen Entwicklung nicht entziehen.« Es gab keinen Zweifel : Seine Partei war in dieser Frage ziemlich geschlossen. Es ging 1933 nicht um Flügelkämpfe, wie sie 1929 oder 1931 tobten, um Seipel gegen Kunschak, oder Wien gegen Oberösterreich. Die starken Bataillone seiner Niederösterreicher trugen Dollfuß durch das nächste halbe Jahr. Selbst für die Oberösterreicher mit ihrer kritischen Distanz zu den Manövern der Wiener deponierte Landeshauptmann Schlegel : Er wolle dem Kanzler zwar keine Blankovollmacht erteilen, aber er sehe ein, die Regierung könne nicht zurück.661 Die Entlassung Schobers oder die Ernennung Feys hatten alle viel wildere Debatten ausgelöst als der Beschluss, die Chance zu nützen und zunächst einmal eine Zeit lang ohne Parlament zu regieren. Nur die Koalitionspartner stritten sich : Der Landbund wollte bremsen, der Heimatblock das Tempo verschärfen. Die Regierung stand bloß vor gewissen rechtlich-technischen Probleme, um sich das Gesetz des Handelns nicht aus der Hand nehmen zu lassen. Sie machte sich vielleicht sogar zu viel Sorgen um Straffner, der ankündigte, die Sitzung am 15. März
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fortsetzen zu wollen. Die Regierung schickte Polizei, um die Abgeordneten am Betreten des Hauses zu verhindern ; die Opposition schlug ihr ein Schnippchen und kam eine halbe Stunde früher – weil Polizeipräsident Brandl sich nach beiden Seiten absicherte und rechtzeitig auch Seitz informiert hatte. (Als Dollfuß Brandl daraufhin zur Rede stellte und feuerte, trat er am nächsten Tag der NSDAP bei.) Doch nichts Weltbewegendes geschah. Straffner rief keine Revolution aus, sondern deponierte seine Rechtsauffassung und schloss die Sitzung dann, wie er meinte, ordnungsgemäß. Das Regieren mit Notverordnungen war praktisch schwierig, weil man dabei an den Bundespräsidenten und den Hauptausschuß des Nationalrates gebunden war, sich aber weder auf Miklas oder gar auf den guten Willen Renners als Obmann des Hauptausschusses verlassen wollte. So griff man auf das Kriegswirtschaftliche Ermächtigungsgesetz zurück, das 1917 auf Wunsch der Sozialdemokraten verabschiedet worden war, eben um eine Alternative zum berüchtigten Notverordnungsparagrafen § 14 der Monarchie zu schaffen. Es war inzwischen immer wieder aus der Mottenkiste geholt worden, in den Zwanzigerjahren routinemäßig in den Sommermonaten, zuletzt als eine Art von Probegalopp im Herbst 1932, damals allerdings schon gegen den schärfsten Protest der Sozialdemokraten. Ihr Bundesratssekretär Adolf Schärf soll gesagt haben : »Jetzt ist die Büchse nach rückwärts losgegangen.«662 Das Kriegswirtschaftliche Ermächtigungsgesetz war selbstverständlich ein Feigenblatt, das die Blößen der Regierungspraxis nur notdürftig verdeckte. Über die allfälligen Grenzen der Schicklichkeit hatte der Verfassungsgerichtshof zu urteilen. Seitz als Wiener Bürgermeister verlor keine Zeit, ihm entsprechende Fälle vorzulegen. Doch der Verfassungsgerichtshof wird eben von den Parteien bestellt : Den Christlichsozialen gelang es ohne große Schwierigkeiten und Überredungskünste, hinreichend viele ihrer Kreaturen zum Rücktritt zu bewegen. Damit war der Gerichtshof nicht mehr beschlussfähig. Neue Mitglieder aber konnten nur vom Parlament zugewählt werden – das eben nicht mehr tagte. Von dieser Seite drohte keine Gefahr mehr. Der Bundespräsident hätte den gordischen Knoten natürlich ganz einfach durchschlagen können. Die 1929er-Verfassung gab ihm die Möglichkeit, nicht bloß die Regierung zu entlassen, sondern auch das Parlament aufzulösen und Neuwahlen auszuschreiben. Deren Ergebnis wäre wohl freilich kaum in seinem Sinne ausgefallen. Miklas machte aus seiner Unzufriedenheit mit der Entwicklung in den kommenden Jahren kaum einen Hehl. Er plädierte 1933 dafür, den Hauptausschuß einzuberufen und den Verfassungsgerichtshof zu komplettieren. Aber er zog aus seinen Überzeugungen nie irgendwelche Konsequenzen. Angeblich befürchtete er, Dollfuß werde ihn sonst einsperren lassen. Alle gewöhnten sich an die larmoyanten, aber harmlosen Kommentare aus der Hofburg, an »das ewige furchtbare Raunzen und Poltern des Bundespräsidenten, der es mit fabelhafter Konsequenz unterließ, von der ihm gegebenen Macht Gebrauch zu machen«.663
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Der »Staatsstreich auf Raten« ging fast ohne alle Zwischenfälle vonstatten. Dollfuß hatte, wie es sein in dieser Beziehung weit weniger vom Glück begünstigter Nachfolger Schuschnigg ausdrückte, ganz einfach »die Gelegenheit beim Schopf ergriffen«. Historiker hätten hier liebend gern sinnstiftend große gesellschaftliche Kräfte am Werk gesehen. Zweifellos : Eine gewisse Prädisposition für ein Abrücken von der Demokratie, eine Orientierung an Vorbildern für ein autoritäres Regime aus der Umgebung, war seit Jahr und Tag festzustellen. Solange die Konjunktur nicht wieder ansprang – und sie hatte rückblickend betrachtet im Frühjahr 1933 ihre Talsohle erreicht, wurden die Verteilungskonflikte mit negativen Vorzeichen immer härter. Aber irgendein konkreter Anstoß, eine Krise, die hic et nunc Entscheidungen erforderte, war nicht gegeben. Die Regierung tat sich nach dem 4. März mit diversen Kürzungen vielleicht eine Spur leichter. Aber ihr diesbezügliches Sündenregister, die Aufhebung der Kollektivverträge beim Freiwilligen Arbeitsdienst, die Kürzung der Arbeitslosenunterstützung von 30 auf 20 Wochen oder die schärfere Spruchpraxis bei der Notstandshilfe, waren schon vom Umfang her keine Staatskrise wert. An die großen Brocken, wie z. B. den Mieterschutz, wagte sich auch Dollfuß nicht heran : Als die Landbündler einen entsprechende Initiative forderten, erhielten sie die Antwort : »Ich verbrenne mir damit nicht die Finger.«664 Wiederum ergab sich der Befund : Die ökonomischen Hardliner waren nicht die politischen Scharfmacher. Als Motor der antimarxistischen Sammlungspolitik hatte zu Recht immer der Hauptverband der Industrie gegolten. Doch gerade zwischen der Industrie und der Regierung Dollfuß hing der Haussegen momentan schief, wie die Korrespondenz zwischen ihrem Führungsduo Urban und Ehrhart belegt. Der Tenor war : »Die Regierung ist uns sozusagen wieder einmal alles schuldig geblieben.« Besondere Irritation rief Anfang 1933 das Feiertagsgesetz hervor, das in gewisser Weise als Vorleistung für das Konkordat gedacht war und als mutwillige Erhöhung der »sozialen Lasten« angesehen wurde. Elf zusätzliche Ruhetage bedeuteten eine Erhöhung der Unkosten um 2½ %, rechnete die Industrie vor. Selbst die Sozialdemokratie begrüßte das Gesetz zwar halbherzig, wollte aber wenigstens die Landespatrone aus der Liste wieder herausreklamieren (denn Taglöhner und Akkordarbeiter hatten kein Interesse an Feiertagen !).665 Just am fraglichen 4. März schrieb Ehrhart : »Die Verhältnisse in Deutschland und in Österreich sind eigentlich gleich unerträglich, dort allerdings in einer grandiosen, bei uns in einer mehr schäbigen Weise.« Als die Regierung im Zusammenhang mit dem Eisenbahnerstreik auf eine Solidaritätserklärung drängte, ließ Ehrhart kühl antworten, man sehe sich gezwungen, eine offizielle Stellungnahme des Hauptverbandes wegen der allgemeinen industriepolitischen Haltung der Regierung zu unterlassen. Eine Woche später schrieb er mit Blick auf die Situation im Reich : »Gegen das 100%-ige Einlenken Österreichs in solche Bahnen bestehen große Bedenken. Schlägt es sich auf die andere Seite, so würde die Sache noch gefährlicher. […] Der
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kleine Mann [Dollfuß] sucht sichtlich einen Mittelweg, es wird aber gewiß keine leichte Aufgabe sein, sich auf dieser Linie zu halten.«666 Auch bei den Agrariern gab es Stimmen, die erst einmal auf Vorleistungen und Bewährungsproben warteten, bevor sie der Regierung den Zuschlag erteilten : Schumy und die Kärntner Landbündler verfochten diese Linie. Man habe »grundsätzlich nichts gegen das autoritäre Regime einzuwenden«, doch fordern wir »von dieser Regierung, daß sie in kürzester Zeit alle jene wirtschaftspolitischen Maßnahmen trifft, die im Hinblick auf die heutige Notlage notwendig sind«. Die Agrarier hatten schon in den letzten zwei Jahren viele ihrer Anliegen durchgesetzt. Doch die Krise forderte ihren Tribut : Im Winter 1932/33 kam es in der Steiermark und in Kärnten mehrmals zu Zwischenfällen, als Bauern gepfändet werden sollten, vor allem wenn es dabei um die umstrittenen Krankenkassenbeiträge ging.667 Die Hochkonjunktur des agrarischen Kurses war 1933 vorbei. Schon im Krieg hatte sich die städtische Schlagseite des Notverordnungsregimes gezeigt. Mit ihren Familienangehörigen stellten die Landwirte 40 % der arbeitenden Bevölkerung, hatte der Landbund einmal berechnet. Mit diesem Ass im Ärmel war eine komplette Abkehr von der Demokratie nicht vonnöten. Der autoritäre Kurs, mit seinem bürokratischen Gepräge, sparte jetzt auch auf Kosten der Landwirtschaft. Ihr Anteil am Budget war rückläufig. Der Konflikt mit dem Dritten Reich belastete in erster Linie die ländlichen Regionen im Westen. Reithers Bauernbund blieb achtungsgebietend, aber als Kanzler hatte sich Dollfuß zwangsläufig von ihm zu emanzipieren begonnen ; schon im Dezember 1932 hatte der Bauernbund einmal »Lärm geschlagen« wegen des ungarischen Handelsvertrages ; Dollfuß’ Verhältnis zu Winkler aber litt unter dem Beschuß der Heimwehren. Die Bauernschaft blieb die Hauptstütze des Regimes, aber sie spielte nicht (mehr) die erste Geige.668 Nur auf einem Sektor schlug die wirtschaftliche Misere unmittelbar und dramatisch auf die Regierungspolitik durch. Zwei Wochen nach dem 4. März erschien eines schönen Morgens Viktor Kienböck im Ministerrat – und legte eine Rechnung auf den Tisch des Hauses, in der Höhe von 100 Mio. S, die nötig wären, um die beiden letzten großen Privatbanken des Landes zu sanieren, den Bankverein und die Niederösterreichische Escomptegesellschaft. Auf die empörte Frage, warum derlei Hiobsbotschaften immer überfallsartig an die Regierung herangetragen würden, antwortete Kienböck beleidigend ehrlich : ganz einfach deshalb, weil die Minister ja sonst alles ausplaudern würden. Landbund und Heimwehr, wegen der Zukunftspläne der Regierung miteinander im Clinch, wehrten sich zusammen mit Rintelen zwei Nächte lang gegen die »Finanzdiktatur«. Soeben habe man den Eisenbahnern erklärt, die fünf Mio. für pünktliche Gehaltszahlungen ließen sich einfach nicht auftreiben, und jetzt solle die Regierung das x-fache wiederum den Auslandsgläubigern in den Rachen werfen ? Der Kabinettsmarathon zog sich über zwei Nächte, bis die Dissidenten zähneknirschend nachgaben. Rintelen war schon vorher abgereist, der
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Heimatblock ließ sich mit Müh und Not gerade noch besänftigen. (Unter anderem wurde ihm die Auflösung des Schutzbundes als Trostpreis zugesichert.)669 Man könnte daraus die Lehre ziehen : Das Kapital ist immer dann am mächtigsten, wenn man es nicht hat. Der Zeitpunkt war zufällig ; aber er war gut gewählt. Die Angst vor den Panikreaktionen der Finanzmärkte hatte schon seit 1929 immer als Standardargument gegen jeglichen Putsch herhalten müssen. Nun war der »Staatsstreich von oben«, auf Raten und auf leisen Sohlen – wie er Dollfuß in den Schoß fiel – natürlich nicht mit dem Marsch auf Wien zu vergleichen, von dem Pfrimers Leute geschwärmt hatten. Aber irgendwelche Turbulenzen wollte man auch wiederum nicht riskieren. Mehr noch als Industrie oder Agrarier vermochte »die Hochfinanz« die Regierung unter Druck zu setzen, zumindest im Anfangsstadium des autoritären Kurses, solange sie ihrer Sache noch nicht sicher war. Notabene : Die eifrigsten Verfechter der Wende profilierten sich als die schärfsten Widersacher der »Finanzdiktatur«, zumindest als sehr widerwillige Erfüllungsgehilfen. Erst drei Jahre später sollte Kienböck dann in Starhembergs Anwalt Draxler einen Finanzminister nach seinem Herzen finden. Die Heimwehrriege, die 1933 auf einen endgültigen Bruch mit den Sozialdemokraten drängte, war weniger nach Kienböcks Geschmack. Im Gegenteil : Eine hypothetische »Querachse« der politischen Extreme, Polizeiminister Major Fey, Gewerkschaftssekretär Johann Schorsch und Gauleiter Frauenfeld, hätten einander zwar jederzeit politisch in Acht und Bann getan. Aber vor die Frage gestellt, ob die Kredite, die Österreich 1933 endlich doch zur Verfügung gestellt wurden, zur Rückzahlung von Schulden oder für Arbeitsbeschaffungsprogramme verwendet werden sollten, wäre diese – ich betone : rein hypothetische – »Querfront« leicht zu gleichlautenden Beschlüssen zu bewegen gewesen. Der langen Rede kurzer Sinn : Es zählt zu den Binsenweisheiten, dass die Weltwirtschaftskrise die politischen und sozialen Gegensätze verschärft hat. Bei aller gut christlichen Polemik gegen die Gier als Triebfeder des Kapitalismus : Drohende Verluste lassen Menschen noch viel eher Risken eingehen als lockende Gewinne. Aber die Diktatur wurde in Österreich nicht installiert als »Magd des Monopolkapitalismus«. Die »Wirtschaft«, Handelskammern und Industrie, war hin- und hergerissen zwischen Anhängern des Regierungskurses – vornehmlich in Wien und Umgebung – und Sympathisanten der »nationalen Opposition« – in der Provinz, vor allem in der Steiermark. Urbans Führung der Industrie geriet erstmals ins Kreuzfeuer der Kritik. Die Oberösterreicher und Steirer erwogen schon ihren Austritt aus dem Hauptverband. Freilich : Wenn man die Konstellation ein wenig genauer unter die Lupe nimmt, ging es auch dabei weniger um Ideologie, sondern um Kohle. Es waren die Generaldirektoren Apold (Alpine) und Heyssler von den (landeseigenen) WolfseggTraunthaler Bergwerken, die hier den Aufstand probten, weil sich der Hauptverband gegen die Importsperre für Auslandskohle ausgesprochen hatte.
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Später kam innerhalb der Christlichsozialen noch die Rivalität zwischen Stree ruwitz’ überparteilicher Wiener Handels kammer und Raabs Gewerbebund dazu (der sich im März 1933 offen als christlichsoziale Organisation deklarierte).670 Gefährlicher waren da schon Reither und Kienböck, Bauernbund und Nationalbank als die zwei Gewalten, die sich nicht so leicht neutralisieren oder ausmanövrieren ließen. Reither sei »eine Golemfigur« gewesen, vor der selbst Kienböck Respekt gehabt habe, berichtet ein Augenzeuge. Als Indiz dafür ließe sich anführen : Als Kienböck die 100 Mio. für die Fusion der letzten beiden Banken durchpeitschte, musste die Opposition im Kabinett schließlich klein Abbildung 39 : Viktor Kienböck, das freundlich l ächelnde Gesicht der »Finanzdiktatur« beigeben, doch Reither verlangte seinen Anteil an der Beute : 40 Mio. zur Entlastung der bäuerlichen Schuldner – und bekam sie auch.671 Die Opposition : »Roter und brauner Sozialismus« Wie stand es um die eigentliche Opposition ? Über die Haltung der Sozialdemokratie 1933 wurde damals und später viel lamentiert. Wer ihr zuvor Verbalradikalismus vorgeworfen hatte, kritisierte jetzt in der Regel ihre Nachgiebigkeit. Jura Soyfer ließ in seinem Fragment »So starb eine Partei« einen seiner Funktionäre über Otto Bauer sagen : »Immer macht er die Regierung nervös mit seinem Radikalismus. Und wenn’s zu den Konsequenzen kommt, steht er da und kriegt das Problematische.«672 Dahinter stand im Rückblick meist die Frage : Warum hatte die Partei nicht gleich im März 1933 den Aufstand geprobt ? Ellenbogen, bisher in fast allen Kontroversen am rechten Flügel zu finden, verdiente sich die ironische Bezeichnung »Barrikaden-Willi«, weil er damals den Generalstreik einforderte – und sich damit bei den Gewerkschaften eine Abfuhr holte.673 Für einen Generalstreik war der Höhepunkt der Weltwirtschaftskrise kein besonders geeigneter Zeitpunkt, ganz abgesehen davon, dass jeder derartige Versuch zu einer reflexartigen Solidarisierung der Bürgerlichen führen musste. Der Schutzbund ließ sich im Gefolge des 15. März zu ein paar unüberlegten Aktionen hinreißen, die als Vorwand für das behördliche Verbot herhalten mussten : In Bruck/Mur nahm er die Gendarmeriekaserne unter Feuer, in
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der Umgebung von Waidhofen/Ybbs fanden bewaffnete Manöver statt. Doch wer auf einen Aufstand setzte, bekam Viktor Adlers klassische Antwort zu hören : »Dem Kiebitz ist kein Spiel hoch genug.« Die Partei müsse ihre Politik vor den Müttern des Landes rechtfertigen können.674 Nun lässt sich für ein Losschlagen im März 1933 natürlich das Argument ins Treffen führen : Bis zum Februar 1934 war die Sozialdemokratie bereits demoralisiert und zermürbt. Sie verlor bis dahin ein Drittel ihrer Mitglieder. Der Schutzbund war offiziell längst verboten ; ein Teil des Führungskaders verhaftet worden. Der FebruarAufstand war keine zentral geplante Operation, sondern eine Verzweiflungsaktion ohne jede strategische Perspektive, der ein großer Teil der Partei die Gefolgschaft verweigerte. Jede besser vorbereitete und geplante Aktion hätte da – rein militärisch – natürlich beeindruckendere Resultate geliefert (und damit wohl auch mehr Opfer), unabhängig vom Zeitpunkt. Man hätte vermutlich die Ministerien in der Wiener Innenstadt nehmen und sich eine Zeit lang in Wien halten können. Doch Siegeschancen ergaben sich für den Schutzbund realistischerweise weder im einen noch im anderen Fall. Ein Match gegen die Heimwehren hätte tatsächlich spannend verlaufen können. Doch gegen die Profis der Exekutive waren die Wochend-Armeen der einen wie der anderen Seite chancenlos. Der sozialdemokratische Parteitag im Herbst 1933 zog sich auf die berühmten vier Forderungen zurück : Die Partei, die freien Gewerkschaften, der Status von Wien und die Verfassung wären sakrosankt. Der Umkehrschluss lautete zwangsläufig : Das Regime als solches wurde bis auf Weiteres stillschweigend toleriert. Schlimmer noch : Taktisch überließ eine solche Liste das Gesetz des Handelns erst recht der Regierung, die es in der Hand hatte, den Zeitpunkt der Auseinandersetzung mit Bedacht zu wählen. Über die Art und Weise, wie die Verfassung zu reformieren wäre – und was der Sozialdemokratie dabei gerade noch zugemutet werden könne – gab es Sondierungen. Der Parteitag hatte den Niederösterreichern am rechten Flügel (Renner, Helmer, Schneidmadl, Popp) dafür gewisse Vollmachten erteilt. Doch der eigentliche Knackpunkt lag anderswo : Dollfuß reagierte mit einer Salami- und Aushungerungstaktik gegen das Rote Wien. Er erklärte den Scharfmachern in den eigenen Reihen, den Italienern auch : Er werde sich an die Konkursordnung halten und den Regierungskommissär erst ins Rathaus schicken, wenn Wien tatsächlich bankrott sei.675 Der Gesandte Wildner notierte im Frühjahr 1933 : »Die inländische Politik ist bei uns wirklich eine ausländische geworden.« Doch gerade jetzt regte sich von außen wenig tatsächlicher Widerstand : Beneš riet der Wiener Regierung zwar zu einem Arrangement mit der Linken ; betonte aber selbst immer wieder, die österreichischen Sozialdemokraten seien nicht koalitionsfähig und hätten sich ihr Unglück selbst zuzuschreiben. Auch die französische Mitte-Links-Regierung lag Dollfuß in den Ohren, doch z. B. nachträglich die Zustimmung der Sozialdemokraten zur Lausanner
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Anleihe einzuholen. Doch Paris ging es bloß darum, vor den Sozialisten im eigenen Land das Gesicht zu wahren. Sobald Dollfuß in Konflikt mit Berlin geriet, wollte man ihm keine weiteren Schwierigkeiten bereiten : Sein Auftritt bei der Weltwirtschaftskonferenz in London im Juni 1933 war ein Erfolg ; die vielumstrittene – und inzwischen beinahe schon totgesagte – Lausanner Anleihe wurde im Sommer 1933 doch noch aufgelegt. Im britischen Foreign Office hatten die Sozialdemokraten schon gar »keinen einzigen Freund oder Sympathisanten«. Die »graue Eminenz« des Amtes, Sir Robert Vansittart, schrieb im Herbst : »We all have applauded Dollfuß from the start« (und fügte bloß selbstkritisch hinzu : »But we have done mighty little to help him.«)676 Als eigentliche Opposition kristallisierte sich bald die NSDAP und ihr Umfeld heraus. Hitlers Ernennung zum Reichskanzler, die »Machtergreifung« vom 30. Jänner 1933, hatte in Regierungskreisen noch erstaunlich wenig Unruhe ausgelöst ; es scheint, dass erst sein – von den österreichischen Nazis enthusiastisch gefeierter – »Wahlsieg« vom 5. März als Dammbruch empfunden wurde. Die normative Kraft des Faktischen verlieh der nunmehrigen Regierungspartei in den nächsten Wochen den Nimbus des unaufhaltsamen Siegers. Die NSDAP verzeichnete im Frühjahr 1933 regen Zulauf, die Zahl ihrer Mitglieder stieg zwischen dem 30. Jänner und dem 19. Juni um mehr als die Hälfte, auf fast 70.000 an ; bisher waren die Hochburgen in Kärnten und Niederösterreich gelegen ; jetzt holten die Bundesländer auf, die an Deutschland grenzten. Bei den letzten Gemeinderatswahlen des Jahres 1933 in Innsbruck kam die NSDAP auf 42 % ; die Mobilisierung erfasste insbesondere auch bisherige Nichtwähler.677 Der NSDAP gelang es, sich auf der einen Seite als die gegebene Repräsentantin des nationalen Lagers darzustellen, das ja auch bisher alle zehn bis zwanzig Jahre in neuen Parteien auskristallisiert war, auf der anderen Seite als eine überparteiliche Bewegung gänzlich neuen Typs, die tatsächlich die bürgerlichen Eierschalen hinter sich lassen und die Volksgemeinschaft verwirklichen könne. Diese potenzielle Herausforderung bestärkte die Regierung in ihrem Beschluss, zur Abschreckung einmal eine Zeit lang autoritär zu regieren und kein Risiko mehr einzugehen, demnächst vielleicht von einer Zufallsmehrheit gestürzt zu werden. Der Konflikt mit der NSDAP eskalierte binnen Kurzem ; doch Anfang März war dieser Faktor allenfalls ein Zusatzreiz im Hintergrund, kein Hauptmotiv. Die Signale waren gemischt. Die österreichische NSDAP galt als Rabaukentruppe ; ihr Salzburger Klubobmann, der im Dezember 1932 die Partei verließ, wurde zitiert, sein Auftrag habe gelautet, nicht Politik zu machen, sondern Krawall. Der NS-Studentenbund (NSDStB) hatte im Herbst die »völkisch-klerikale« Koalition, den Bürgerblock auf Hochschulboden mutwillig zerschlagen. Die Deutsche Studentenschaft löste sich auf.678 Die SA war in laufende Gefechte mit den Sozialdemokraten verwickelt : Einer dieser Zusammenstöße, in Simmering im Oktober 1932, war ein Schattendorf mit ver-
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kehrten Vorzeichen : Diesmal hatten sich die Sozialdemokraten in ihrem Parteiheim verschanzt und feuerten blindlings nach außen. Unter den vier Toten waren ein Polizist (noch dazu ein Genosse !) und eine Zivilistin. Theodor Körner wies im Klub darauf hin, die Genossen hätten den Slogan »Schlagt die Nazi« wohl falsch verstanden. Man solle beim Ausgeben der Waffen doch mehr Vorsicht walten lassen. Doch auch diesmal wurden alle Verdächtigen von den Geschworenen freigesprochen.679 Die Serie der Gewalttaten riss nicht ab : Just am 4. März 1933 war ein SA-Mann in Graz erstochen worden. Doch vielleicht wirkte der Aufstieg Hitlers zum Reichskanzler als Element der Mäßigung ? Das deutsche Zentrum hatte sich vor der Reichstagswahl auf eine Koalition vorbereitet. Noch in einer Rede am 23. März äußerte sich Hitler positiv über die Kirchen, die er als »Faktor zur Erhaltung des Volkstums« würdigte. Die Kommentare des »Bauernbündlers«, des Organs von Dollfuß’ ehemaligem Chef Reither, eignen sich vielleicht besser als manche spitzfindigeren intellektuellen Analysen, den Wandel deutlich zu machen, der sich im Frühjahr 1933 in dieser Beziehung vollzog, aber auch die anfängliche zögernd-defensive Unsicherheit. Am 19. März hieß es : »Feind ist das Hakenkreuz, wenn es, wie jetzt, die Marxisten unterstützt.« Am 1. April, nach Hitlers Rede, die als »eine Wende um 180 Grad« interpretiert wurde, fand sich der Satz : »Kein Vernünftiger kann leugnen, daß sicherlich ein gesunder, frischer Zug im Nationalsozialismus zu finden ist.« Sein Kampf gegen den Marxismus sei begrüßenswert, vom Ziel her, wenn auch nicht von den Methoden. Doch Ende des Monats hieß es bereits, das Hakenkreuz sei der Wegbereiter des Bolschewismus. Wieder diente eine Rede als Aufhänger, diesmal ein Zitat Görings : »Daß wir national sind, haben wir bewiesen ; jetzt werden wir zeigen, daß wir Sozia listen sind.« Wenn der Passus ernst gemeint sei, müsse man ihn ablehnen ; wenn er nicht ernst gemeint, sondern ein Schwindel sei, ebenfalls. In der Woche nach dem Verbot der NSDAP war dann das Fazit unter der Schlagzeile zu lesen : »Ein neuer Kulturkampf« : »Wir Katholiken wissen nunmehr endgültig, woran wir sind.«680 Wohlgemerkt – ein neuer Kulturkampf, kein nationaler Befreiungskrieg. Das Regime strapazierte den österreichischen Patriotismus – und die altösterreichischen Traditionen – in einem Ausmaß, wie es bisher nicht üblich gewesen war. Doch der Ständestaat widerstand der Versuchung, die Abkehr vom Anschluss im Zeichen des NS-Regimes zum Ausgangspunkt einer österreichisch-nationalen Erweckungsbewegung zu machen und der NS-Propaganda damit ins Messer zu laufen. Schuschnigg brachte es auf die Formel : »Wir sind immer deutsch gewesen und lassen uns nicht gefallen, als Deutsche zweiten Grades hingestellt zu werden.« Dollfuß warnte, man dürfe den Nazis »nicht das Monopol lassen, als ob sie die einzigen Deutschen wären«. Selbst Erzherzog Eugen wurde zitiert, eine »antideutsche Politik« sei unmöglich ; sie würde die Zahl der Nazis womöglich noch vermehren. Bei Starhemberg verdichtete sich dieses Postulat zu der These von den Österreichern als »den besseren Deutschen«, die sich die Verbindung zur wahren Reichsidee
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bewahrt hätten. Mataja ergänzte in einer Radiorede im Sinne Seipels : »Der gesamtdeutsche Kern der nationalsozialistischen Idee ist also zweifellos österreichischen Ursprungs. […] Der deutsche Mensch weiß die politischen Aufgaben des Staates von den kulturellen Aufgaben der Nation zu trennen.« Die Vorstellung einer »österreichischen Nation« fand bloß bei den äußersten Rändern des politischen Spektrums Anklang. Ernst Karl Winters schizophrene »volksmonarchistische Aktion« ab 1936 – für die »Kaiser Karl-Familie«, aber gegen »das sogenannte Erzhaus« – tendierte in diese Richtung. Als die Kommunisten 1937 mit einer ähnlichen These hervortraten, lautete die vernichtende Kritik der Revolutionären Sozialisten, es handle sich dabei um eine »schwer zu übertreffende Zusammenstellung theoretischen Unsinns«.681 Reichsdeutsche NS-Funktionäre – darunter auch schon diverse neu ernannte Minister – verfielen im Frühjahr 1933 in einen immer rüderen Ton gegenüber Öster reich. Ungarn und Italiener erkundigten sich verwundert und irritiert in Berlin, warum man denn gegen Dollfuß vorgehe, gerade jetzt, wo er endgültig auf einen antimarxistischen Kurs einschwenke ? Bei den Diplomaten alter Schule stießen diese Einwände auf ein verständnisvolles Echo, aber auch auf ein resigniertes Schulterzucken. Die Führung liege in dieser Frage leider bei der Partei, die sich im Siegesrausch befinde. Für die reichsdeutsche Diplomatie war ein autonomes, kooperationswilliges Österreich ideal ; für die österreichische NSDAP nicht. Ob man Hitler jetzt sentimentale Bindungen an seine alte Heimat unterstellt oder nicht, seine österreichischen Parteigenossen fallen zu lassen, war er nicht bereit – zum Unterschied von den ungarischen Pfeilkreuzlern oder der rumänischen Eisernen Garde, die er später ohne viel Zögern einem Arrangement mit Horthy oder Antonescu opferte.682 Im Gegenteil : Hitler und Göring gaben sich im Sog der Machtergreifung überzeugt, Österreich werde dem reichsdeutschen Beispiel binnen Kurzem folgen. Von Dollfuß werde in ein paar Monaten schon keine Rede mehr sein.683 Hinter dieser wegwerfend-aggressiven Fassade wurden Dollfuß und den Christlichsozialen allerdings sehr wohl gewisse Angebote unterbreitet : Der von Hitler bevollmächtigte Landesinspektor Habicht schlug Dollfuß Ende April 1933 eine Koalitionsregierung vor – und Neuwahlen. Aus taktischem Kalkül bestand paradoxerweise gerade die NSDAP auf einer punktuellen Rückkehr zum Parlamentarismus. Man wolle sich die Macht teilen : Als Lockvogel versprach Habicht : Dollfuß dürfe Kanzler bleiben, auch wenn seine Partei bei den Wahlen hinter die NSDAP zurückfalle ; die bisherigen Koalitionspartner – Landbund und Heimatblock – sollten hingegen auf alle Fälle ausgeschaltet werden. Das abschließende Ergebnis dieser Sondierungen hat Dollfuß am 3. Mai dem Klub vorstand seiner Partei unterbreitet, in einem vorsichtigen, nachdenklichen Tonfall, ohne jegliche Polemik : Er habe von Habicht einen »besseren Eindruck als erhofft« und halte ihn für einen »klugen, nüchternen Menschen«. Dennoch sei er der Meinung, man solle ein schwarz-braunes Wahlkabinett unter Preisgabe der klei-
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neren Partner ausschlagen, »so freundlich das Angebot aussehen möchte« ; diskutieren könnte man unter Umständen die Aufnahme von ein oder zwei Ministern, »wenn die NS bereit sind, zur Stärkung des antimarxistischen Kurses einzutreten« (sprich : ohne Neuwahlen zu verlangen). Aber auch diese Variante diente mehr dazu, einer allzu schroffen Ablehnung auszuweichen. Prinzipiell hielt Dollfuß eine Regierungsbeteiligung der Nationalsozialisten im gegenwärtigen Moment für ungünstig. Er resümierte : »Keine Gefahr, daß man darauf eingeht.« In dieser Haltung wurde er von seiner Partei mehr als nur bestärkt. Diese Einhelligkeit war aus verschiedenen Motiven zusammengesetzt. Ein Teil, aber vermutlich eine Minderheit, der linke Flügel, signalisierte Fundamentalopposition gegen die Nationalsozialisten und wollte von Verhandlungen mit ihnen grundsätzlich nichts wissen : »Im Kampf gegen die NS würde er sich selbst mit dem Teufel in Verbindung setzen«, gab Kunschak zu Protokoll. Das Gros der Wortmeldungen ließ hingegen vor allem zwei Beweggründe für die Ablehnung erkennen. Zum einen die Furcht, bei einer Regierungsbeteiligung »das Eindringen der NS in die Exekutive« nicht mehr stoppen zu können. Von allen Seiten wurden Beispiele zitiert, dass gerade in der Beamtenschaft der Trend zur NSDAP überdurchschnittlich stark sei, nicht bloß bei nationalen Akademikern, sondern auch beim Fußvolk, von der Zollwache bis zur Mariazeller Gemeindeverwaltung. »Gegen die Sozi sind unsere Leute schon abgehärtet. Anders bei den NS. Diese sind überall in unseren Kreisen drin.« Vaugoin, der in dieser Beziehung nun zweifellos über Erfahrung verfügte, brachte es auf den Punkt : »Wenn ein Minister in der Regierung sitzt, kann man das Eindringen nicht mehr verhindern, kann keine Offiziere mehr hinauswerfen.« Nun hoffte man selbstverständlich, den Konflikt lokalisieren zu können : Kampf gegen die österreichischen Nationalsozialisten mit guten, oder zumindest erträglichen Beziehungen zum Deutschen Reich zu verbinden. So sah es damals auch Mussolini. Zweifel waren angebracht, ob sich diese Linie auch wirklich durchhalten ließe. Habicht hatte deutlich formuliert : »Zwischen uns und den Christlichsozialen gibt es nur Krieg oder Frieden, ein Drittes gibt es nicht. Verhältnis des Deutschen Reiches zu Österreich wird wesentlich davon abhängen.« Das neue, kleine Österreich stand damit unvermutet vor einer ähnlichen Situation wie das alte, große Österreich : Von jenseits der Grenzen drohte ein militanter Irredentismus, diesmal kein nationaler, sondern ein ideologischer, mit der aus geflohenen Nationalsozialisten zusammengesetzten »Österreichischen Legion« anstelle der »Mlada Bosna« oder ähnlicher Erscheinungen vor 1914. Insgesamt 42.000 Österreicher sollen den Weg ins reichsdeutsche Exil angetreten haben. Ein solcher Konflikt war nicht auf die leichte Schulter zu nehmen. In vielen Wortmeldungen klang deutlich die Abscheu vor den Methoden der Nazis heraus. Altkanzler Streeruwitz holte zum ideologisch vielleicht vernichtendsten Schlag aus : »Ursprüngliches Aussehen der NS. Und jetzt. Der Vergleich, daß das System mit dem russischen übereinstimmt. Bis ins Kleinste.«
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Wenn die Christlichsoziale Partei das Risiko einer Eskalation damals mit solcher Entschlossenheit einging, spielte dabei – als zweiter Beweggrund für die Ablehnung von Habichts Vorschlägen – die Erwartung eine große Rolle, dass der Spuk bald vorübergehen, die Regierung Hitler binnen Jahresfrist bereits Geschichte sein würde : Dollfuß und Starhemberg seien überzeugt, dass Hitler keine sechs Monate aushalten würde, wurde aus Budapest berichtet ; allgemein herrschte der Eindruck, der kommende Winter sei die große Belastungsprobe für den Nationalsozialismus : Schmitz zitierte dazu Zentrumskreise, Streeruwitz die Industrie und den Großgrundbesitz ; auch die Möglichkeit eines franko-polnischen Präventivkrieges (»Hiebe von Pollaken«) wurde nicht ausgeschlossen.684 Noch rückblickend resümierte Schuschnigg diese Hoffnungen : »Eine rechtzeitige Militärrevolte in Deutschland – und wir wären über den Berg gewesen.« Niemand konnte vorhersagen, ob sich nicht früher oder später doch noch die Notwendigkeit eines Arrangements mit den Nazis ergeben würde. Aber nicht jetzt, nicht in einem Zeitpunkt, da sich die Gegenseite als Folge der Euphorie über die Machtergreifung im Reich in einer »Aufwärtsbewegung« befand. Da war es viel besser, den frechen Eindringlingen die Zähne zu zeigen und zu warten, bis sich auch die NSDAP mit den Mühen der Ebene konfrontiert sah. Offenbar fand bereits am nächsten Tag die neuerliche Aussprache mit Habicht statt, der auf seinem Entweder-Oder bestand : Krieg oder Frieden.685 Tertium non datur. Das Vokabel »Krieg« war wörtlich zu nehmen : Auf die mehr oder weniger harmlosen Papierböller folgten Sprengstoffanschläge, die bereits im Juni mehrere Todesopfer forderten. Es war vielleicht sogar weniger die Zahl der Opfer, die eine neue Qualität der politischen Gewalt suggerierte : Politisch motivierter Gewalt fielen zwischen 1933 und 1938 – die beiden »Bürgerkriege« des Jahres 1934 einmal ausgenommen – ungefähr so viele Menschen zum Opfer, wie beim Justizpalastbrand den Tod fanden. Schockierend war für die Zeitgenossen vielmehr der Aspekt des wahllosen »Terrors«, der sich von den bisherigen Gepflogenheiten aller militanten Formationen unterschied : Überfälle auf jüdische Kaufhäuser oder den Lainzer Country Club, später dann Attentate, die riesige Sachschäden zur Folge hatten, wie z. B. auf das Spullerseekraftwerk oder die Trisannabrücke. Das Verbot der NSDAP – und der KPÖ – stand schon längere Zeit im Raum. Man wartete nur noch auf einen geeigneten Anlass (und auf die Rückkehr Dollfußʼ von der Weltwirtschaftskonferenz). Der Wiener Gauleiter Frauenfeld versuchte im letzten Moment noch einmal einzulenken und sich von den Attentaten zu distanzieren. Man wolle jetzt doch zwei Vertrauensleute in die Regierung entsenden, ohne auf Neuwahlen zu bestehen. Was auch immer hinter dem Angebot stehen mochte, es kam zu spät. Noch vor dem Sommer, am 19. Juni 1933, wurde jegliche Betätigung für die NSDAP verboten, ihre Mandate in den Landtagen für erloschen erklärt.686 Unter der außerparlamentarischen Polarisierung litten all die Kleinparteien, die sich bisher in der Rolle als parlamentarisches Zünglein an der Waage gesonnt hat-
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ten. Es scheiterten auch alle Versuche, aus den Bruchstücken von Großdeutschen, nationalen Heimatschützern à la Hueber oder Jakoncig und dem einen oder anderen Landbündler eine national-konservative Gruppe zusammenzuleimen, die als »dritte Kraft« zwischen »schwarz« und »braun« überleben könnte. Bei Licht besehen, handelte es sich bei ihren Exponenten meist ja doch nur mehr um Generäle ohne Armee. Die Kombination Hueber-Jakoncig konnte immerhin mit guten Verbindungen nach Berlin und Rom aufwarten. Dollfuß war beunruhigt genug, um sich noch im April kurzfristig bei Mussolini anzusagen, der ihm auch prompt seinen Segen erteilte. Der Kanzler sei ein »Mann mit Talent«. Die Heimwehren sollten mit ihm kooperieren. Jakoncig aber wurde bei der nächsten Regierungsumbildung prompt ausgebootet.687 Über eine gewisse Bodenhaftung verfügte der Steirische Heimatschutz mit seinen wohlbewaffneten Formationen, der schon seit Jahr und Tag zu Starhemberg auf Distanz gegangen war. Pfrimer war seit seinem Operettenputsch in Misskredit geraten. Doch gerade die Steirer unter Konstantin Kammerhofer schlossen am 22. April den Pakt von Liezen : Sie wurden korporativ in die NSDAP übernommen. Das hatte für sie den Vorteil : Ihre »Vordienstzeiten« wurden angerechnet, sie mussten vor Ort nicht hinter den »alten Kämpfern« der Partei zurückstehen. Dafür kehrten in der Steiermark jetzt der Adel und diverse Bürgermeister dem Heimatschutz den Rücken und gründeten eine eigene »Österreichische Heimwehr« unter der Führung des späteren Außenministers Egon v. Berger-Waldenegg.688 Die Großdeutsche Volkspartei – die ihre Funktion als parlamentarisches Zünglein an der Waage eingebüßt hatte – zog drei Wochen später nach. Noch vor einem halben Jahr hatte sie die NSDAP auf dem absteigenden Ast, sich selbst als umworbenen Bündnispartner gesehen. Jetzt waren diese Illusionen verflogen : Sie schloss am 15. Mai ein Kampfbündnis mit der NSDAP, keine Fusion, sondern eine Allianz der »nationalen Opposition«. Die Großdeutschen versuchten mit dem Umstand zu punkten, dass sie bis auf Weiteres immer noch gewisse Positionen besetzten, z. B. in den Landesregierungen, die NSDAP trotz ihrer viel größeren Anhängerschaft noch nicht. Daraus ließ sich mit viel Optimismus zwar kein Führungsanspruch ableiten, aber gewisse Einflussmöglichkeiten. Nicht alle folgten dem Führungstrio FoppaLangoth-Schürff auf diesem Kurs. Einige der führenden Köpfe der Partei – wie z. B. der junge Wiener Obmann Emil van Tongel – hatten sich schon früher der NSDAP angeschlossen, manche – wie z. B. der niederösterreichische Landesrat Viktor Mittermann – drifteten in Richtung Regierungslager. Großdeutsche Bürgermeister wie Max Ott in Salzburg amtierten auch noch im Zeichen der Vaterländischen Front. Dinghofer als »Elder Statesman« blieb Präsident des OGH und widersetzte sich jeder Vereinnahmung. Der Landbund schloss, vorerst zumindest, die Reihen dicht – und zwar hinter Dollfuß. 1932 war Vizekanzler Winkler die Galionsfigur des Regierungskurses gewesen, während der Kärntner Schumy das oppositionelle Element verkörperte ; 1934
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hatten beide die Fronten gewechselt : Winkler traf sich mit Habicht in der Schweiz und konspirierte mit der nationalen Opposition, Schumy beteiligte sich am Aufbau des Ständestaates. 1933 setzten zwischenzeitig beide auf den Regierungskurs. Schumy lotete sorgsam alle Optionen aus – traf am 9. Mai noch einmal den Kärntner Gauleiter der NSDAP zu einem Plausch und trat am 10. Mai in die Regierung Dollfuß ein. Der Landbund rechnete sich Chancen aus, als Regierungsfraktion über seinen bisherigen bäuerlichen Anhang hinaus zur Anlaufstelle für die nationale Beamtenschaft zu werden. Vielleicht ließ sich die Partei unter einem neuen Etikett als »Nationalständische Front« auch in einer Ära fortschreiben, die offiziell dem Parteiwesen abgeschworen hatte ?689 Die Fronten waren soweit klar, die Plänkler beider Seiten hatten sich zurückgezogen. Innerhalb der Christlichsozialen vollzog sich ein Szenenwechsel, ein »back to the roots«, das sich auf eine einfache Formel bringen lässt : Die Steirer im Kabinett wurden gegen Niederösterreicher ausgetauscht. Fast hatte es den Anschein, als ob für den Abfall des Steirischen Heimatschutzes eine Art Sippenhaftung verhängt werde. Rintelen, der noch vor kurzer Zeit im Kabinett das große Wort geführt hatte, wurde in die Wüste geschickt – wenn auch in eine besonders bekömmliche Variante davon, nämlich als Gesandter nach Rom, auf alle Fälle nicht zurück als Landesfürst in die grüne Mark. Auch der Steirer Weidenhoffer musste seinen Posten räumen. Als Finanzminister feierte Buresch sein Comeback, als Landeshauptmann in Niederösterreich abgelöst von Reither, dem eigentlichen starken Mann. Auch dieser Schulterschluss der Niederösterreicher mit ihrem Wunderkind war nicht von langer Dauer, aber er trug Dollfuß durch die nächsten Monate. Für Jakoncig holte Dollfuß noch einen getreuen Gefolgsmann ins Kabinett, den Obmann des Verbandes der Wiener Lebensmittelgroßhändler, Fritz Stockinger, einen Bundesbruder von der »FrancoBavaria«. Der eigentliche »Kriegsgewinnler« dieser ersten Runde im Kampf gegen den Ansturm der Nationalsozialisten aber waren die Heimwehren – und zwar die Heimwehren mit ihren Kernkompetenzen, als bewaffneter Verband. Die Dynamik mochte auf den ersten Blick erstaunen, weil die Heimwehren ein Bündnis mit den Nazis nie völlig ausgeschlossen hatten, sich bloß nicht mit der Rolle des Juniorpartners zufriedengeben wollten. Dabei waren weniger ideologische Faktoren maßgebend, auch wenn ein Heimwehrführer damals das geflügelte Wort in Umlauf brachte, man müsse die Nazis »überhitlern«. Die Heimwehren mochten als rechter Flankenschutz des Regierungslagers dienen, als Aushängeschild, das für Antimarxismus und autoritäre Führung stand und damit bewies, dass die NSDAP in Österreich überflüssig sei. Ihren sichtbaren Ausdruck fand die bekräftigte Partnerschaft mit einem Aufmarsch von 40.000 Heimatschützern in Wien am 14. Mai, der mit einer Feldmesse in Schönbrunn begann. Dollfuß – in Kaiserschützenuniform – und Starhemberg – mit Stahlhelm – gelobten einander »Treue um Treue«.690
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Starhemberg war die Galionsfigur der Heimwehren, aber nicht Mitglied der Regierung. Die Beschäftigung mit administrativem Kleinkram zählte nicht zu seinen Stärken. Vor allem aber ging es um die Aufstockung der Sicherheitskräfte unter der Ägide des Polizeiministers Emil Fey. Im Zuge des NSDAP-Verbots wurden im Sommer in den Ländern Sicherheitsdirektionen eingerichtet, die zumindest formell Fey unterstanden. Die Heimwehren waren über den Heimatblock in die Regierung gekommen. Der Heimatblock als Fraktion hatte bis auf Weiteres ebenso ausgespielt wie die Großdeutschen oder die Landbündler. Aber als Wehrverband, als Hilfspolizei, erlebten die Heimwehren eine Renaissance, waren plötzlich wieder gefragt. Während der Schutzbund in die Illegalität gedrängt wurde, kamen Tausende Heimatschützer im Rahmen des sogenannten »Freiwilligen Schutzkorps« zu einem gewissen Zubrot, wenn schon nicht zu Amt und Würden. Im Zuge ihrer »Verstaatlichung« veränderten die »Männer der Doppelreihe« ihren Charakter. Die marschierfreudigen Honoratioren und abenteuerlustigen Bauernburschen wurden von den sprichwörtlichen »Fünf-Schilling-Manderln« in den Hintergrund gedrängt. Die Heimwehren waren in den alten Eliten immer schon gut verankert gewesen ; jetzt gesellte sich als zweiter Arm – am entgegengesetzten Ende der gesellschaftlichen Pyramide – eine Söldnertruppe dazu, die gut zur Hälfte aus angeheuerten Arbeitslosen bestand. Fey war – vielleicht nicht zu Unrecht – der Meinung, den Nationalsozialisten imponiere nur Stärke. Die ordentlichen Gerichte waren mit der Aburteilung von politischen Übeltätern überfordert. Die Regierung griff daher ab Herbst 1933 zur Internierung von mehr oder weniger willkürlich herausgegriffenen Verdächtigen in Anhaltelagern (das berühmteste davon in Wöllersdorf, aber auch in Kaisersteinbruch oder Messendorf bei Graz). In der Illegalität schickte die NSDAP mit Vorliebe Arbeitslose und Studenten an die Front, die Haftstrafen nicht weiter schreckten. Dollfuß wünschte sich, dass »unsere Leute nur ein Zehntel von dieser Kampfbereitschaft aufbringen« wie die NS. »Märtyrertum, Räuberromantik, die große nationale Linie wirken hinreißend auf weite Kreise der Jugend«, klagte Czermak. In den Anhaltelagern waren die Häftlinge der Nazis (und der Kommunisten) im Schnitt tatsächlich beträchtlich jünger als die Sozialdemokraten.691 Deshalb verfiel man als zweites Standbein des Kampfes auf die finanzielle Geisel nahme, um auch die Hintermänner der »nationalen Opposition« zu treffen oder abzuschrecken. »Man müsse die geistigen Führer der Bewegung rücksichtslos zu Grunde richten.«692 Die Kosten von Sachschäden oder Einsätzen sollten ihren notorischen Sympathisanten verrechnet werden. Generaldirektor Apold oder der Gewerke Pichler in Weiz wurden so um sechsstellige Summen erleichtert. 1934 wurde Fey dann zum Generalkommissär für die Privatwirtschaft ernannt, mit der Aufgabe, die Wirtschaft von regimekritischen Managern zu säubern. Damit machte er sich bei der Industrie nicht beliebt – vor allem in der Steiermark und Oberösterreich hagelte
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es Proteste – und setzte sich darüber hinaus noch diversen Korruptionsvorwürfen aus.693 Rechtsstaatlich bewegte man sich mit all diesen Maßnahmen auf schwankendem Boden. Die Natur des Gegners mochte derlei Übergriffe rechtfertigen. Allerdings blieb das Maß der Gewaltanwendung hinter den Praktiken totalitärer Regimes zweifellos weit zurück. Ein gutes Beispiel dafür war die Praxis der »Putzscharen«, wie sie 1938 dann berüchtigterweise zur Demütigung der Juden herhalten musste. »Putzscharen« gab es sehr wohl schon im Ständestaat, doch begleitet von den rührenden Bedenken des Sicherheitsstaatssekretärs Baron Karwinsky, ob man Akademikern derlei überhaupt zumuten könne. Es kursierte die Anekdote, ein NS-Sympathisant, der zum »Aufwischen« von Hakenkreuzschmierereien befohlen wurde, sei in seiner alten kaiserlichen Offiziersuniform angetreten – und prompt dispensiert und zurückgeschickt worden, um unliebsames Aufsehen zu vermeiden. Doch gerade in dieser Mäßigung lag auf lange Sicht vielleicht das Problem, im Sinne der Volksweisheit : »Greife nie ins Wespennest, doch wenn Du greifst, dann greife fest !« In Zeiten der Weltwirtschaftskrise waren allein schon ökonomische Sanktionen (Arbeitsplatzverlust) nicht auf die leichte Schulter zu nehmen. Das Regime wurde als schikanös wahrgenommen, aber nicht als letal. In Wöllersdorf kam niemand zu Tode. Das Regime übte auf Schritt und Tritt politischen Druck aus, es verbreitete keinen wirklichen »Terror« (= Schrecken !). Die Wiedereinführung der Todesstrafe im November 1933 – schließlich auch schon auf den bloßen Besitz von Sprengstoff – war eine Reaktion auf die mangelnde Abschreckungskraft von Haftstrafen. Denn selbst eine Verurteilung zu lebenslänglich provozierte bei Rebellen, die an den Erfolg ihrer Sache glaubten, mitunter die frohgemute Reaktion : »Lebenslänglich ? Nein : Regierungslänglich !« Neustädter-Stürmer als Scharfmacher der Heimwehren wurde nicht müde, auf diese Stimmung hinzuweisen : Häftlinge fühlten sich als »Märtyrer, denen besonderer Ruhm bevorstehe«. Denn : »In sechs Monaten ist schon der Hitler da.«694 Vaterländische Front und Ständestaat Die Regierung Dollfuß befand sich in einer Ausnahmesituation, wegen ihrer ungeklärten verfassungsrechtlichen Stellung – und wegen des Konflikts mit der »irredentistischen« NSDAP, der all die Grenzen von konventioneller Innen- und Außenpolitik sprengte. Man konnte dieses Bedrohungsszenarium auch als Entschuldigung, Grund oder Vorwand für das Notstandsregiment auffassen : Sobald Habicht der Regierung Dollfuß den Krieg erklärte, kam das »Kriegswirtschaftliche Ermächtigungsgesetz« zu seinem Recht. Für die Regierung sprach die normative Kraft des Faktischen. Ob jetzt eine Mehrheit in der Bevölkerung hinter ihr stand oder nicht, sie hatte den Apparat in der Hand und war so leicht nicht auszuhebeln, auch nicht
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durch bewaffnete Aufstände, wie das Jahr 1934 zeigen sollte. Sie konnte sich – so sollte man meinen – auf den Spruch eines altösterreichischen Ministerpräsidenten zurückziehen : »Wir können warten …« Aus dieser Perspektive war es ein Kuriosum, dass vom ersten Augenblick des autoritären Regimes an emsig Projekte für eine neue Verfassung gewälzt wurden. Hitler, Stalin, Mussolini, auch die Königsdiktaturen z. B. in Rumänien und Jugoslawien waren alle jahrelang ohne derlei Pflichtübungen ausgekommen. Sie beriefen sich auf einmal erteilte Vollmachten – und ließen es damit genug sein. Ist der Ruf einmal ruiniert, lebt sich’s gänzlich ungeniert. Die Regierung Dollfuß sah das anders. Sie verteidigte ihre Bemühungen : »Auch Lenin, Mussolini und Hitler haben auf einen solchen Parlamentsersatz nicht verzichten können.« Juristisch einwandfrei ließ sich der Übergang zu einer neuen Verfassung ohnehin kaum gestalten. Wozu also all diese Mühen und Debatten auf sich nehmen ? Selbst Stammvater Lueger war – in sehr viel weniger »interessanten« Zeiten – von seinen Gegnern immer wieder der klassische Satz vorgehalten worden : »Wozu braucht man ein Programm ?« »Seine« Niederösterreicher, die bald nicht mehr die Seinen waren, hatten Dollfuß deshalb noch im September 1933 gut zugeredet : »Wir brauchen nichts von Faschismus und autoritär zu reden, sondern es nur machen.«695 Man wird kaum darum herumkommen, das Drängen nach einer neuen Verfassung als Zeichen der Unsicherheit zu interpretieren – und als Symptom der Uneinigkeit, sprich : der divergierenden Interessen im Regierungslager. Die Heimwehren verlangten nach einer neuen Verfassung, um den Bruch mit dem bestehenden System irreversibel zu machen ; die Christlichsozialen – oder zumindest ein großer Teil von ihnen – nach einer Revision der Verfassung, um möglicht bald wieder festen Boden unter den Füßen zu haben, die Fiktion der Legalität aufrechtzuerhalten und den uferlosen Ambitionen der Heimwehren einen Damm entgegenzustellen. Aus den Augenwinkeln mochten manche von ihnen mit dem Angebot der Sozialdemokraten liebäugeln, eine revidierte Verfassung – oder auch bloß Vollmachten für Dollfuß – in einem wiedereinberufenen Parlament abzusegnen. Dollfuß berief schon im Juni AltKanzler Ender als Sonderbeauftragten ins Kabinett, um entsprechende Entwürfe auszuarbeiten oder zu begutachten, verpasste ihm aber zugleich einen »Maulkorb«. Als Generallinie war anfangs nur eine Formel vorgegeben : Schon wenige Tage nach der Selbstausschaltung des Parlaments hatte Dollfuß von den ständischen Ideen gesprochen, die der Verwirklichung harrten. Dieselbe Formel vom »christlich-deutschen Ständestaat mit autoritärer Führung« wiederholte der Kanzler auch in seiner berühmten »Trabrennplatzrede« nach der Sommerpause, am 11. September (gefolgt von einem Fackelzug mit Dollfuß hoch zu Ross). Die Rede war Aufsehen erregend wegen des Kontexts : Sie fand zwar nicht im Rahmen, aber im engen Zusammenhang mit dem gesamtdeutschen Katholikentag statt, zu dem Czermak und Dollfuß schon 1931/32 eingeladen hatten, lange vor der Machtergreifung Hitlers. Äußerer Anlass
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war die 250-Jahr-Feier der Schlacht am Kahlenberg, des Endes der Türkenbelagerung – es traf sich gut, dass auch damals einem Ernst Rüdiger Starhemberg eine führende Rolle zugefallen war. Inzwischen hinderte freilich die »1000-Mark-Sperre« die Anreise reichsdeutscher Gäste : Was nach dem Bankenkrach 1931 schon einmal kurz angedacht worden war, die Gebühr für Auslandsreisen, ließ Hitler – mit dem zehnfachen Tarif – ab Anfang Juni als gezielte Sabotagemaßnahme gegen den österreichischen Fremdenverkehr wiederaufleben.696 Diverse Passagen der Dollfuß-Rede sind endlos wiedergekäut worden, wie z. B. sein Hinweis auf die agrarische Idylle, wo Bauer und Knecht aus derselben Schüssel essen, als eklatantes Beispiel für Sozialromantik und Realitätsverweigerung. Ob Dollfuß tatsächlich glaubte, das Modell ließe sich so einfach auf die industrielle Gesellschaft umlegen, sei dahingestellt ; die AZ rieb ihm umgehend unter die Nase, wie er sich wohl vorstelle, dass Generaldirektor Apold mit der Alpine-Belegschaft diniere, mehr noch : Sie hielt gerade die gemeinsame Schüssel für ein Symptom der Armut, weil sie voraussetze, dass der Dienstbote über kein eigenes Heim und keine eigene Familie verfüge. Mit Stillschweigen übergingen die Sozialdemokraten die Eingangsformel, der sie vermutlich aus ganzem Herzen zustimmten : »Die Zeit der kapitalistisch-liberalistischen Wirtschaftsordnung ist vorüber.« (Die Reaktionen Viktor Kienböcks sind leider nicht überliefert.) Im Übrigen, so die AZ, »hielt sich die Rede in dem Rahmen, der aus den früheren programmatischen Reden des Bundeskanzlers längst bekannt ist«.697 Tatsächlich : Spätestens seit der letzten Verfassungsreform 1929 war das Thema der »berufsständischen Ordnung« ein Dauerbrenner der politischen Diskussionen. Bloß war sich kaum jemand im Klaren darüber, was man sich darunter vorzustellen habe. Man konnte natürlich – wie es Historikern ziemt – zunächst einmal ad fontes gehen. Schlag nach bei Spann, Othmar Spann, der mit seinen Vorlesungen über den »wahren Staat« schon 1920 den Anfang gemacht hatte. Spann war zur Kultfigur geworden, seine Vorlesungen an der Wiener Universität waren ein Publikumsmagnet für Hörer aller Fakultäten. Seine Suche nach einem »dritten Weg« zwischen Kapitalismus und Sozialismus traf einen Nerv, ein dringendes Bedürfnis von Antimarxisten ohne Kapital. Seine Lehre von der Solidarität der Berufsstände versprach ein Rezept zur Überwindung des Klassenkampfes. Der Staat sollte – bis auf die Hoheitsverwaltung – »absterben« und seine Kompetenzen an die Selbstverwaltung der Stände delegieren. Doch wer waren die Stände, die sich noch dazu »organisch« entwickeln sollten, in einer »spontanen Ordnung«, möglichst ohne obrigkeitliche Vorgaben ? Eine spätere Zeit mochte da an die »Nebenregierung« der Sozialpartner denken, die eben freilich nur gewisse Gruppen der Bevölkerung vertrat, z. B. keine Freiberufler oder Pensionisten. Beneš kommentierte das Bemühen, die Bevölkerung fein säuberlich in Stände zu gliedern, einmal ironisch, »man wolle den Klassenkampf abschaffen, indem man eine große Anzahl neuer Klassen schaffe«.698
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Selbstverwaltung war ein Slogan, der einen guten Klang hatte. Konservative, die gegen den »omnipotenten Staat« polemisierten, hatten schon im neunzehnten Jahrhundert mit Vorliebe auf entsprechende englische Vorbilder verwiesen. Wo waren die Grenzen der Selbstverwaltung, die von Spann ja nicht bloß als Gegenentwurf zum Staatssozialismus gedacht war, sondern auch zum liberal-kapitalistischen Individualismus ? Odo Neustädter-Stürmer, einer der ganz wenigen Heimwehrleute, der sich schon seit Langem intensiv mit dem Thema auseinandersetzte, hatte schon Mitte der Zwanzigerjahre in diesem korporativen Modell den Übergang zu einer Wirtschaftsform erblickt, die – unter dem Motto »z’sammstreiten statt auseinanderstreiten« – zu einer »Verbands- und Planwirtschaft« führen würde, anders als es sich die Marxisten vorstellten, aber doch in einem gewissen Gleichklang mit ihren Ideen. Walter Heinrich, der Schüler Spanns, der sich am meisten um politische Verbindungen bemühte, darunter auch um Kontakte mit den italienischen Verfechtern des Korporativismus, hatte 1930 für Aufregung gesorgt, als er vom »Obereigentum der Gemeinschaft« sprach, eine These, wie sie auch die sogenannte »Sinistra fascista« in Italien auf ihre Fahnen schrieb. Die »Wirtschaft« reagierte auf derlei Floskeln allergisch. Auch Apold hatte, als ihm sein Schwiegersohn in spe vom Ständestaat vorschwärmte, seine Bedenken über die Eingriffe in die Freiheit des Unternehmers nicht unterdrücken können. Die letzte Entscheidung in Lohnfragen wolle er keinesfalls einem Schiedsgericht überantworten. Der Hauptverband der Industrie 1930 ließ den Heimwehren nach dem Korneuburger Gelöbnis ausrichten : »Wir raten ab, theoretische Ergüsse des Dr. Heinrich, die ja wissenschaftlich ganz interessant sein mögen, offiziell als Programm zu proklamieren.«699 Freilich : Wie immer auch die Wirtschaftsverfassung innerhalb der berufsständischen Ordnung aussehen würde, Spanns Oeuvre bot wenig Anhaltspunkte dafür, wie sein »wahrer Staat« tatsächlich beschaffen sein sollte. Den Staat als »obersten Stand« sollte ein »Gremium der erlesensten Männer« bilden, die – wiederum ganz organisch – aus den Selbstverwaltungsgremien herauswachsen sollten. Die Idee mochte sich allenfalls mit Reminiszenzen an die Monarchie vertragen, als eine abgehobene Bürokratie ein Reich verwaltet hatte, ohne sich viel um die Kümmernisse der Krämerseelen zu kümmern. Doch die Kombination von unbedingter Autorität und weiser Selbstbeschränkung war zu schön, um wahr zu sein. Schließlich war schon das ursprüngliche Ständewesen durch die Anforderungen der Außen- und Militärpolitik unterminiert worden. Fazit : Bei allen Meriten informeller Regelungen im kleinen Rahmen, die natürliche Autoritäten zur Geltung kommen ließen, als Muster für eine Verfassung waren derlei Theorien unbrauchbar. Man konnte den Ständestaat auch ganz banal reduzieren auf eine Umgestaltung der zweiten Kammer, des zahnlosen Bundesrates, in ein »Wirtschaftsparlament«, wie es z. B. der Landbund mit seinem Deutschfeistritzer Programm 1929 vorgeschlagen hatte. Ein solcher »Ständerat« ließe sich ganz demokratisch – nach der Kopfzahl –
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gewichten, oder nach irgendeinem versteckten Zensus, den man sich offen nicht zu propagieren traute. Die Attraktivität der sozialpartnerschaftlichen Theorien für das bürgerliche Publikum lag ja nicht zuletzt darin, dass Arbeitgeber und Arbeitnehmer – anders als bei allgemeinen Wahlen – hier paritätisch vertreten waren. Vielleicht sollten nach den Handelskammern in der Monarchie jetzt auch alle übrigen Kammern zu parlamentarischen Ehren kommen. Straffner hatte den Gedanken weitergesponnen : »Für die Stände sind alle, die noch keine Kammer haben.« Eben weil es noch keine organisierten »Stände« gab, hatte man in der Verfassung von 1929 zwar den »Länder- und Ständerat« verankert, sich bis auf Weiteres aber mit dem Bundesrat als Provisorium begnügt. Seipel war dann wenige Monate später auf den Punkt zurückgekommen, um die Bewegung im Schwung zu halten, nicht aus Liebe zu den ständischen Theorien, wie er selbst offen eingestand. Tatsächlich hatte er sich schon im Vorjahr bei seiner berühmten Tübinger Rede den Seitenhieb nicht verkneifen können : »Es müßte schon zu denken geben, daß gerade ganz individualistisch eingestellte, altliberale Parteien heute am eifrigsten mit dem Ständenamen werben gehen.« 1931 war dann die päpstliche Enzyklika »Quadragesimo Anno« erschienen, unglückseligerweise gerade in der Woche der CA-Krise. »Universalisten« und »Solidaristen« gerieten sich über ihre Exegese in die Haare. Päpstliche Mitarbeiter wie Nell-Breuning verwehrten sich späterhin angelegentlich, dass sich aus der Enzyklika eine positive Stellungnahme zum faschistischen Korporativismus herauslesen lasse. Das war ganz offensichtlich richtig, nicht etwa weil die Enzyklika hier besonders klare Worte gefunden hätte, sondern weil es faschistische Korporationen damals noch gar nicht gab. Allerdings : Wo Pius XI. und die Spann-Schule ganz offensichtlich übereinstimmten, war – bei aller sonstigen Wertschätzung – in der Warnung vor den etatistischen Elementen des italienischen Modells, das Mussolini gegenüber Heinrich angeblich mit dem Charakter der Italiener entschuldigte, die erst an (Selbst-)Disziplin gewöhnt werden müssten.700 Den Heimwehren hatte Steidle im Korneuburger Gelöbnis schon 1930 ein von Heinrich formuliertes Bekenntnis zur berufsständischen Ordnung ins Stammbuch geschrieben. Schon aus Prestigegründen sahen sich Heimwehrführer veranlasst, von einem Sieg ihrer Ideen zu sprechen, wann immer jetzt vom »Ständestaat« die Rede war. Intern waren das Interesse – und das Verständnis – für die Gedankenwelt Spanns endenwollend. Neustädter-Stürmer, der als ehemaliger Obmannstellvertreter der Ude-Bewegung erst relativ spät, 1930 als Nationalratskandidat zu dem Heimatblock gestoßen war, blieb da ziemlich allein auf weiter Flur. Starhemberg hatte Spann und Heinrich immer schon als Störenfriede und Quertreiber betrachtet. Selbst sein oberösterreichischer Intimfeind Aigner, der Obmann des Katholischen Volksvereins, stellte ihm das Zeugnis aus : »Wenn ich und Starhemberg zusammenkommen und jemand über ständische Verfassung sprechen hören, lachen wir uns verständnisvoll zu.«701
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Vielleicht liefert gerade diese ambivalent-skeptische, aber nicht offen ablehnende Haltung auch den Schlüssel für die Popularität des »ständischen Gedankens« in dieser Phase. »Die Macht suchte nach einer Idee«, formulierte Peter Huemer einst in seiner Studie über den juristischen Ratgeber der Regierung, den Sektionschef Robert Hecht, »irgendeiner Idee«. Gerade Dollfuß war bisher nie als besonderer Anhänger »ständischer« Theorien aufgefallen. Wenn er sie 1933 – unter Berufung auf Quadragesimo Anno, die zu ihrer Zeit übrigens im niederösterreichischen Bauernbündler vollkommen unkommentiert geblieben war – in den Vordergrund schob, dann vermutlich nicht deshalb, weil sie die Verwirklichung eines lange angestrebten, politischen Ideals dargestellt hätten, sondern weil sie als kleinster gemeinsamer Nenner dienten, unter dem sich gerade wegen seiner »oszillierenden Vielgestaltigkeit« jeder etwas anderes vorstellen konnte.702 Die »Reichspost« kommentierte die Kommentare auf Dollfußʼ Rede : »Mag es dem einen als Faschismus, dem anderen als Ständedemokratie, dem dritten wieder als etwas anderes erscheinen, an welchem Kindbett wurde nicht um den Namen gezankt ? Was immer es sei, wenn das österreichische Volk Ja und Amen dazu sagt, ist es zweifellos Demokratie. Und wer es, weil es so gar keine Ähnlichkeit mit dem Marxismus haben wird, durchaus als Faschismus erkennen will, soll daran nicht behindert werden.«703 Der »Ständestaat« blieb das Aushängeschild des autoritären Regimes. Als vermeintliches Standbein des Regimes, wenn es denn ein solches gab, fungierte die »Vaterländische Front« (VF), die ab 1934 als »Einheitspartei« nach außen hin die Rolle einnahm, die anderswo NSDAP, Mussolinis Partito Nazional Fascista (PNF) oder KPdSU spielten. Der gravierende Unterschied war schon auf den ersten Blick augenfällig. Die VF war keine (konter-)revolutionäre Bewegung, die sich nach langen Kämpfen durchgesetzt hatte, mit Schlagstock oder Stimmzettel, um nach der Machtübernahme dann schrittweise all ihre Konkurrenten auszuschalten, sie war nicht einmal eine Partei, sondern sie war eine Kopfgeburt, die nach erfolgter Machtergreifung den Anhängern des Regimes übergestülpt wurde – und darüber hinaus früher oder später auch all denen, die sich dafür ausgeben wollten. Die Kaderparteien der totalitären Regimes verhängten über kurz oder lang eine Aufnahmesperre. So sollten z. B. maximal 10 % der Bevölkerung in die NSDAP aufgenommen werden. Die VF verfiel dem Rausch der großen Zahlen. Irgendwann einmal zählte fast die Hälfte der erwachsenen Österreicher zu ihren Mitgliedern, gerade im oppositionellen Wien sogar zwei Drittel. (Erst im Herbst 1937 trat – aus Gründen, auf die wir noch kommen werden – auch bei der VF eine Aufnahmesperre in Kraft.) Diese Massen an Karteileichen verbürgten keinen politischen Rückhalt. Es kursierte die bezeichnende Anekdote : Schuschnigg fragt den Polizeichef einer Provinzstadt unter vier Augen, wie es denn um die Stimmung in seiner Gemeinde bestellt sei. Der brave Mann gesteht, gut die Hälfte der Leute halte weiterhin zu den Sozialdemokraten. »Wenn wir schon bei den schlechten Nachrichten sind, was ist
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mit den Nazi ?« »Das ist die andere Hälfte.« Schuschnigg, entsetzt : »Und wo bleibt die VF ?« »Keine Sorge, Herr Bundeskanzler, alle dabei !« Die VF mochte ihre Rolle vielleicht auch deshalb so schlecht auszufüllen, weil sie ihr keineswegs von vornherein auf den Leib geschrieben war. Czermak – als letzter Obmann der Christlichsozialen ein Betroffener – schrieb noch Jahrzehnte später : »Die Entstehung der VF liegt irgendwie noch im Dunkeln.« Die Geburtsstunde der VF schlug nämlich zu einer Zeit, als über den Fortbestand der Parteien noch lange keine Entscheidung gefallen war, schon im Mai 1933. Sie sollte ganz offensichtlich als Sammelbecken dienen für Leute, »welche hinter der Regierung stehen, aber keiner Partei angehören«. Dieser Motivenbericht hörte sich verdächtig nach der Gründungssage des Heimatblocks an, der 1930 auch ausgeschildert worden war als Alternative für Wähler, die es nicht über sich bringen konnten, irgendeiner der anderen bürgerlichen Listen ihre Stimme zu geben. Die Christlichsozialen witterten auch sofort die Gefahr eines Konkurrenzunternehmens. Der Kanzler ruderte zurück. Im Stenogramm des Klubvorstandes klang das so : »Vaterländische Front. Ist mir zu früh herausgeschossen.« Er wolle doch um Gottes Willen keine neue Partei gründen, sondern nur eine »lose Plattform« schaffen. Im September, wenige Tage vor der Trabrennplatzrede, beschwor er seine Partei : »Als Partei allein können wir der Situation nicht gerecht werden. […] Alles, was nicht roter oder brauner Sozialismus ist, müssen wir zusammenfassen.« Vaugoin mochte an den Zuwachs nicht so recht zu glauben : Am Ende hätte die christlichsoziale Partei dann bloß ihren Namen geändert, mit einem »Zuwachs von Juden«. Die »Nullgruppler«, die »keiner Partei angehören«, waren den geeichten »Schwarzen« natürlich erst recht suspekt. Ein niederösterreichischer Landesrat aus der St. Pöltener Gegend zählte als abschreckende Beispiele auf, beim einen handle es sich um einen alten Landbundsekretär, beim anderen um einen Monarchisten, der in wilder Ehe lebe. Dabei handle es sich nicht bloß um »die unmöglichsten Menschen«, sondern – wer hätte das gedacht ? – um Leute, »die sich Posten schaffen wollen«. Selbst der erste Generalsekretär der VF, Pankraz Kruckenhauser, ein ehemaliger Redakteur der »Reichspost«, wurde bald ideologischer Abweichlerei bezichtigt und abgelöst. Sein Nachfolger Kemptner klagte, dass er keine fixe Linie vom Kanzler bekommen könne. Dollfußʼ Parteifreunde wollten prophylaktisch das strittige Terrain besetzen. Diverse christlichsoziale Vorfeld- oder Teilorganisationen, wie z. B. Vaugoins Wehrbund oder Raabs Gewerbebund, traten der VF kollektiv bei, die es auf diese Weise schon im Sommer auf fast eine Million Mitglieder brachte. Vaugoin verpflichtete alle Bundesbahner zur Teilnahme, urteilte aber zur selben Zeit wegwerfend, in Wirklichkeit bestehe die VF auf dem Lande nur auf dem Papier. Die Heimwehren warfen im Herbst dann allerdings boshafterweise die Frage auf, ob derlei korporative Beitritte überhaupt zulässig wären ? Die spitzfindige Lösung lautete, »durch körperschaftlichen Beitritt von Vereinigungen werden deren Mitglieder nur
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Angehörige« der VF, die zum Unterschied von den »echten« VF-Mitgliedern nur zum Tragen des Bändchens berechtigt waren – ohne Kruckenkreuz.704 Auch der Landbund fasste im Juli die Gründung einer »Nationalständischen Front« ins Auge, die ebenfalls ihren Anteil an der VF einforderte, als »Kampfgemeinschaft aller nationalen Republikaner«, oder – wie es die »Reichspost« u mschrieb – »unter Angliederung der parteipolitisch unterstandslos gewordenen und ihm irgendwie geistesverwandten Kreise«. Bloß die Heimwehren zierten sich. Sie fürchteten, die VF werde bloß die »Konjunkturritter des verflossenen demokratischen Parteiensystems« um sich sammeln. Um frontal gegen die Christlichsozialen vom Leder zu ziehen, fühlte sich Starhemberg freilich nicht stark genug ; als Stein des Anstoßes ins Visier genommen wurden stattdessen die »nationalständischen« Landbündler. Man werde der VF nur beitreten, wenn Leute wie Winkler darin keine Rolle mehr spielten. Dollfuß war gegen derlei ultimativ vorgebrachte Forderungen in der Regel allergisch. Er ließ auch diesmal die Italiener wissen, »Druck von anderer Seite wirke immer retardierend«. Doch offenbar hatte sich in die alte agrarische Achse ein Missverständnis eingeschlichen. Dollfuß versicherte den Italienern, die »Nationalständische Front« werde binnen achtundvierzig Stunden ihren Beitritt zur VF erklären. Am 17. September hielt die »Nationalständische Front« ihre erste Großkundgebung ab, im Beisein zweier Minister und zweier Landeshauptleute, ebenfalls am Trabrennplatz, in diesem Fall dem Grazer. Winkler appellierte an den goldenen Mittelweg zwischen allen Extremen. Doch entgegen den Erwartungen erklärte er, die »Nationalständische Front« wolle eine »selbständige, unabhängige Bewegung« bleiben. Seine Rede litt unter Störaktionen der Nazis und klang aus mit dem Lied »Der Gott, der Eisen wachsen ließ, der wollte keine Knechte«. In der Sache kam Winkler mit seiner »Unabhängigkeitserklärung« zwar eigentlich sogar den Forderungen der Heimwehr entgegen, die er im Übrigen heftig angriff ; doch Dollfuß fühlte sich düpiert und reagierte umgehend mit der Entlassung Winklers.705 Die VF hatte eine gewisse Eigendynamik entwickelt. Die Doppelgleisigkeit zwischen der VF – was immer auch ihr ursprünglicher Zweck gewesen sein mochte – und den Regierungsparteien verlangte nach einer Klärung. Einen Hinweis auf seine Prioritäten hatte Dollfuß schon durchblicken lassen, als er die Trabrennplatzrede zum ersten Generalappell der VF erklärte. Im Beitritt zur VF erblicke er »ein Bekenntnis zur Abkehr vom Parteienstaat«. Er nahm die Betreffenden beim Wort, beim Kanzlerwort. Zunächst einmal sollten Staat und Parteien (oder doch zumindest Parteiob leute) entflochten werden. Dollfuß warf in einem Rundumschlag nach jeder Richtung hin Ballast ab. Bei der Regierungsumbildung am 20. September wurden nicht bloß Winkler und die Landbündler, sondern auch Vaugoin als Obmann der eigenen Partei ausgeschifft. Major Fey wurde zum Vizekanzler befördert, musste aber die Sicherheitsagenden an Dollfuß’ Vertrauensmann Baron Karwinsky abgeben, einen
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Beamten mit monarchistischen Neigungen, der später noch als Verbindungsmann zu Otto v. Habsburg fungierte. Neustädter-Stürmer – der Heimwehr-Spezialist für den berufsständischen Aufbau – wurde Sozialminister. Eine Lesart besagt, Dollfuß sei enttäuscht gewesen, weil er nicht selbst auf dem letzten Parteitag der Christlichsozialen zum Obmann vorgeschlagen worden sei. Doch es war ganz offensichtlich nicht Vaugoin, den Dollfuß als Konkurrenten fürchtete. Vaugoin selbst gab zu Protokoll, er möchte nicht an der Spitze eines Kadavers stehen. Er würde sich ausbitten, dass jemand anderer als Wasenmeister auftritt. Die Position des christlichsozialen Parteiobmannes verbürgte allein noch keine Macht. Es kam auf das Zusatzgewicht an, das der Amtsinhaber einbrachte. Dollfuß suchte nach einem Bewerber, der in dieser Hinsicht tatsächlich unverdächtig war, weil man ihn ohne Weiteres wieder beiseiteschieben könne – und überredete im November seinen früheren Weggefährten Czermak, die undankbare Aufgabe zu übernehmen. Das Offert war mit einer Drohung verknüpft, die zwar nicht gegen Czermak gerichtet war, sondern gegen die Partei. »Er wisse, daß seitens seiner Gegner Reither als Parteiobmann in den Vordergrund geschoben werde.« Tatsächlich hatten die Niederösterreicher zumindest heftig dafür agitiert, dass Reither mit der Führung der VF im Kernland betraut werde. Reither als Landeshauptmann und Reichsbauernchef war ein Schwergewicht, in jeder nur erdenklichen Bedeutung des Wortes. Dollfuß war im Bauernbund politisch groß geworden ; die Niederösterreicher hatten sich im Frühjahr um ihn geschart ; doch jetzt erklärte der Kanzler, er habe zu Reither kein Vertrauen. Die Wahl Reithers würde ihn deshalb »zur sofortigen raschen Liquidierung der Partei veranlassen.«706 Personalrochaden im engeren Kreis der Niederösterreicher sind oft schwer durchschaubar. Welche Rolle spielte z. B. der Bauernbunddirektor und Landeshauptmann stellvertreter Pater Sturm, der Czermak als Erster die Frohbotschaft überbrachte ? Czermak selbst war kein Liebling Reithers. Ob er Dollfuß’ Bedenken teilte oder bloß einen Eklat verhindern wollte, er ergab sich in sein Schicksal und nahm an. Über die ollfuß hatte Zukunft der Partei machte er sich wohl keine allzu großen Illusionen. D angedeutet, »er wolle die christlichsoziale Partei nur für alle Fälle noch am Leben lassen«. Sprich : Die Partei sollte als Drohkulisse und Lockvogel dienen, als Unterpfand, um auch die Heimwehren zum Aufgehen in der VF zu veranlassen. Wenn man schon mit dem Parteienstaat Schluss machen wolle, dann ganz oder gar nicht. Man konnte die VF als Emanzipation Dollfußʼ von seiner Partei betrachten – oder als Konversion zur Ansicht Seipels, der Parteien bekanntlich für ephemere Geschöpfe hielt. Ende des Monats November 1933 traf die Partei ein weiterer Schlag. Die Bischofs konferenz forderte alle Geistlichen zum Rückzug aus ihren politischen Ämtern auf. Die Lesart, die Kirche wolle damit eine gewisse Distanz zum autoritären Kurs andeuten, ist längst widerlegt. Die Kurie unterstützte den Kurs Dollfußʼ aus vollem
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Herzen. Seit Juni lag auch schon das ausgehandelte Konkordat vor. Der Beschluss lag vielmehr auf einer Linie, die Pius XI. seit Langem vertreten hatte : Man solle keine Bindungen mehr eingehen an exklusiv katholische Parteien, die zuweilen ein schwer kontrollierbares Eigenleben entwickelten, sondern die Anliegen der Kirche über die »Katholische Aktion« vorantreiben, unter der Obhut der Bischöfe. Bischof Gföllner von Linz erläuterte auch umgehend, der Beschluss bedeute keineswegs, dass sich die Kirche nicht mehr um die öffentlichen Angelegenheiten kümmere. Aufgabe der Katholischen Aktion werde es sein, »die richtigen Männer an die richtigen Stellen« gelangen zu lassen. Das kam den Funktionen einer Partei nun allerdings sehr nahe, aber es war VF-kompatibel. Die Gremien des Ständestaates wurden von der Kirche sehr wohl wiederum beschickt.707 Die mehr oder weniger erwünschte Nebenwirkung war, es wurden einige prominente Kritiker Dollfußʼ zum Rückzug genötigt, vor allem in Oberösterreich, der Hochburg der Seipel- und jetzt auch Dollfußkritiker, setzte ein ziemlicher Kahlschlag ein : Parteiobmann Aigner, Sekretär Hirsch und Landesrat Pfeneberger. Auch Pater Sturm in Niederösterreich – auf den es Dollfuß angeblich besonders abgesehen hatte – und der Kärntner Obmann Michael Paulitsch mussten ihren Hut – oder ihr Birett – nehmen. Die Weisung kam Dollfuß zweifellos gelegen, wenn er seine Partei demnächst zum Aufgehen in der VF überreden wollte. In den italienischen Berichten war zu lesen, der Beschluss der Bischöfe sei zwar nach einer Rücksprache Dollfuß’ mit dem Nuntius erfolgt, aber nicht unbedingt deshalb. Es sei für den Vatikan auf die Dauer ohnedies unmöglich, dem österreichischen Klerus eine politische Aktivität zu gestatten, die ihm in allen anderen Ländern bereits untersagt worden sei.708
4. Das »Bürgerkriegsjahr« 1934 Vom Jänner-Krach zum Februar-Aufstand Innenpolitisch balancierte Dollfuß im Herbst 1933 zwischen seinen alten Freunden und seinen neuen Verbündeten, zwischen Christlichsozialen und Heimwehren, mit gewissen Vorbehalten nach beiden Seiten. Die eigene Partei nahm ihm seine Lieblosigkeit übel ; der Kanzler entwickelte eine Phobie vor den Parteigremien und dem, was einer seiner Nachfolger im Amt die »übliche Suderei« nannte : »Das Trostloseste ist der Klub.« Oder wie Kunschak lamentierte : Dollfuß »fehlt die parlamentarische Kinderstube«. Auf der anderen Seite traute Dollfuß auch den Heimwehren nicht ganz. Er hätte liebend gern die Kontrolle über ihre Finanzen in die eigene Hand genommen.709 Die »Nationalständische Front« verschwand überhaupt in der Versenkung. Schon ihre nächste Versammlung wurde abgesagt. Termine zwischen Dollfuß und Winkler wurden verabredet und dann auf die lange Bank geschoben. Zur Berufung von
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Vertrauensleuten des Landbundes in die Regierung, wie Hasslacher oder Thoma, kam es nicht mehr.710 Zwischen den aufs Abstellgleis geschobenen politischen mori turi aller Seiten entspann sich ein reger Verkehr : Sozialdemokraten und Landbündler fanden bei den Christlichsozialen, die an der Partei festhalten wollten, wie z. B. Klubobmann Kollmann, offene Ohren. Man klagte einander sein Leid. Doch über effektive Machtpositionen verfügte kaum einer von ihnen. Zum Schluss traf Renner sogar Czermak, der einen zwiespältigen Eindruck von ihm gewann : »Immer lächelnd und selbstgefällig.«711 Außenpolitisch hatte Dollfuß das gesamte Jahr 1933 konsequent an der Sprachregelung festgehalten, zwar die österreichischen Nazis zu bekämpfen, aber jeglichen Konflikt mit dem Deutschen Reich zu vermeiden. Österreich und Deutschland müssten sich ohne Intervention Dritter verständigen, hatte er in demselben Ministerrat vom 9. Juni zu Protokoll gegeben, der im Prinzip bereits das Verbot der NSDAP beschlossen hatte.712 Österreich habe den Konflikt nicht vom Zaun gebrochen und sei jederzeit zu einer Verständigung bereit. Er vermied es bewusst, auf der Genfer Abrüstungskonferenz im September gegen Deutschland Stellung zu beziehen. Aller dings scheiterte ein Treffen mit Reichsaußenminister Neurath, der immer wieder eine Aufhebung der 1000-Mark-Sperre in Aussicht gestellt hatte, an diversen Formfragen. Hitler selbst versprach Mussolini zumindest ein Ende der Propagandaflüge über österreichischem Boden. Als im November bei einem Grenzzwischenfall in Tirol ein Reichswehrangehöriger getötet wurde, entschuldigten sich die Österreicher in aller Form beim deutschen Gesandten.713 Dollfuß vermutete, auch den Reichsdeutschen sei »die Lage reichlich unangenehm. Wenn sie einen Weg wüssten, würden sie einen suchen.«714 Dollfuß seinerseits ließ es an Versuchen nicht fehlen, einen Dialog in Gang zu bringen. Auf die arglose Frage, ob Dollfuß nicht versucht habe, in dieser Richtung irgendwelche Kontakte zu knüpfen, antwortete sein politischer Direktor im Außenamt, Theodor v. Hornbostel, noch Jahrzehnte später : »Mit wem wollte er nicht, kann ich da nur sagen.« (Hornbostel galt als Skeptiker, sein Vorgesetzter Franz v. Peter, der Generalsekretär des Außenamtes, als Befürworter dieser Ausgleichsversuche.) Diverse Vermittler halfen die in solchen Fällen immer heikle Frage zu umschiffen, wer denn nun eigentlich den ersten Schritt getan habe, der als Zeichen der Schwäche interpretiert werden konnte. An derlei Mittelsmännern herrschte kein Mangel : Dazu waren die Milieus doch zu eng verbunden. »Als erste Schwalbe aus dem Reich« besuchte Dollfuß z. B. ein pfälzischer Beamter im Reichsnährstand, Dr. Kanzler, der von alters her mit ihm befreundet war. Ein Tiroler Landesrat, Andreas Gebhardt, nahm von sich aus Kontakt zu Habicht auf. Von einem anderen Vermittler, dem Prinzen Max (»Mappel«) Hohenlohe aus dem Sudetenland, schwärmte sogar der skeptische Hornbostel : »Ein sehr gescheiter, gewandter, seriöser, loyaler Mensch, sehr präzise in seinen Äußerungen, in Nazi-
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kreisen sehr angesehen, trotzdem durchaus österreichisch fühlend.« Der Vater eines in Österreich verurteilten NS-Attentäters – und Bekannter des SA-Führers Ernst Röhm –, Werner v. Alvensleben, pilgerte, um seinen Sohn freizubekommen, nach Wien zu Fey, der seinerseits wieder einen ehemaligen Adjutanten hatte, der eine Schwester Himmlers geheiratet hatte. Schließlich schickte Dollfuß im Herbst auch einmal Schuschnigg nach München zu Rudolf Heß.715 Doch Hitler blieb stur : Den Ausgleich mit Österreich mache Habicht – oder niemand. Den Kontakt zu Habicht wollten z. B. die oberösterreichischen Großdeutschen vermitteln. Doch in diesem Punkt blieb Dollfuß stur. Über innenpolitische Fragen wolle er nur mit Österreichern verhandeln.716 Zu guter Letzt wurde Habicht dann doch zu einer Unterredung nach Wien eingeladen, zwar nicht als ausländischer Capo einer illegalen Partei, sondern – vive la petite difference – offiziell als Beauftragter des Reichskanzlers, um die Besprechungen von der privaten auf die diplomatische Ebene umzuleiten. Diesmal hatte den Kontakt der Sohn des neuen Heeresministers, Prinz Schönburg-Hartenstein, eingefädelt, der in Sachsen aufgewachsen und erst vor Kurzem nach Österreich übersiedelt war ; Staatssekretär Karwinsky telefonierte im Vorfeld eine Viertelstunde mit Himmler. Dollfuß dachte zwar nicht an eine »weithin sichtbare Schwenkung« der österreichischen Politik, aber stellte im Falle des Gelingens eine »sukzessive Evolution« in Aussicht. Das Treffen sollte am 8. Jänner 1934 bei Buresch in Großenzersdorf stattfinden, gleich um die Ecke vom Flughafen Aspern.717 In der Nacht davor wurde Hornbostel von Alwine Dollfuß angerufen, er möge doch bitte schnell zu ihnen hinüber in die Stallburggasse kommen : Starhemberg sei bei ihrem Mann erschienen, Schreiduelle seien in Gang. Hornbostel kam, sah – und vermittelte. Dollfuß hatte Starhemberg zwar vor Weihnachten einmal unverbindlich gefragt, ob er etwas gegen Kontakte mit Habicht einzuwenden habe, sich aber nicht in Details eingelassen. Erst jetzt wollte er ihn bei einem Abendessen einweihen. Starhemberg legte sich prompt quer. Mit Habicht dürfe man nicht verhandeln ; Hitler müsse jemanden anderen schicken. Habicht hatte schließlich stets auf der Ausbootung der Heimwehren bestanden. Auf der Gerüchtebörse wurde kolportiert, Starhemberg habe mit einem Putsch gedroht, wenn Habicht lande. Das Ergebnis war : Habicht wurde im letzten Moment wieder ausgeladen, unter einem Vorwand, der im internen Protokoll (»Amtserinnerung«) selbst ein wenig verschämt als fadenscheinig erklärt wurde : Eine neue Welle nationalsozialistischer Anschläge habe die Aufnahme von Verhandlungen unmöglich gemacht. (Anschläge gab es zwar nach wie vor, doch daran hatte sich seit dem 5. Jänner, als Habicht freies Geleit zugesichert worden war, nichts geändert). Habicht erwies sich einmal mehr als stur. Er startete dennoch. Sein Flugzeug – angeblich Hitlers Privatmaschine – musste von Berlin zurückgepfiffen werden, als es sich bereits über Melk befand.718 Damit nicht genug : Nicht bloß Dollfuß suchte nach Verbindungen ins Reich bzw. zur nationalen Opposition. In der Nacht vom 11. auf den 12. Januar, wenige Stunden
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nach einer Führertagung der Heimwehren in Wien, die sich gegen jedes »Packeln mit den Nazi« aussprach, wurde der niederösterreichische Landesleiter Graf Alberti in der Wohnung des Wiener NS-Gauleiters Frauenfeld im Gespräch mit Habichts Stellvertreter, dem langjährigem Redakteur der »Dötz«, Franz Schattenfroh, überrascht und verhaftet. Den Kontakt hatte Albertis Mitarbeiter Fritz Flor eingefädelt, der Alberti schon im Herbst einschärfte : »Politisch wird letztendlich der gewinnen, der ein gesichertes Bündnis mit der nationalen Opposition zustande bringt.« Alberti berief sich in diesem Sinne auf das Einverständnis Starhembergs, der prompt dementierte. Alberti wurde abgesetzt und wanderte für einige Monate ins Anhaltelager Wöllersdorf. Dollfuß konstatierte zufrieden, dass jetzt auch die Starhemberg-Leute kompromittiert waren – und er sich auf Fey offensichtlich verlassen könne, der seine Heimwehr-Kameraden hatte hochgehen lassen.719 So weit, so gut, oder auch : so schlecht. Was immer auch im Einzelnen hinter diesen Friedensfühlern steckte, die Vertrauensbasis innerhalb der Regierung war ganz offensichtlich erschüttert. Man hätte jetzt einfach alles ableugnen und zur Tagesordnung übergehen können oder auch die Gespräche besser koordiniert – ohne wechselseitiges Tarnen und Täuschen – fortsetzen können. Stattdessen beschloss die Regierung, die Flucht nach vorne anzutreten. Alle Beteiligten vollzogen eine Kehrtwendung um 180 Grad. Die Kontakte zu den Nationalsozialisten wurden nicht bloß abgebrochen, Dollfuß ging – im Gegensatz zu seiner bisherigen Politik – zum ersten Mal auch auf internationaler Ebene in die Offensive und erwog sogar, den Völkerbund einzuschalten, ohne damit bei den Nachbarn allerdings auf viel Resonanz zu stoßen. Selbst Beneš gestand dem österreichischen Gesandten in Prag, der ihn um seine Unterstützung bat : »Haben wir nicht alle Grund, das Dritte Reich nicht zu reizen ? Man wird sich ja doch einmal mit Deutschland verständigen müssen.«720 Die Italiener hingegen goutierten weder den Flirt mit Habicht noch die Anrufung des Völkerbundes. Innenpolitisch kam die verschärfte Kampfansage an die Nationalsozialisten in erster Linie den Heimwehren zugute. Fey erhielt das Sicherheitsressort zurück, mit erweiterten Vollmachten. Jetzt kamen die »Ersatzleistungen« der Sympathisanten zum Tragen, auch dort, wo keine »strafbaren Handlungen nachzuweisen« waren. Die Offensive der Heimwehren richtete sich keineswegs nur gegen den Feind von rechts ; auf den Kampf gegen den Marxismus dürfe man deshalb keineswegs vergessen. Mit der endgültigen Ausschaltung der Sozialdemokratie könne man den Nationalsozialisten den Wind aus den Segeln nehmen : »Machen wir Ordnung, und der ganze Nazirummel hört auf !« Das war eine These, die auch Mussolini immer wieder vertreten hatte. Wo gab es noch Sozialdemokraten, die man ausschalten konnte ? Vom ewigen Zankapfel »rotes Wien« einmal abgesehen, natürlich auch in fast allen Landesregierungen, die ohne Rücksicht auf den autoritären Kurs der Bundesregierung aufgrund ihrer Proporzverfassungen weiteramtierten, so als ob nichts geschehen wäre.
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Die Heimwehren forderten daher – ultimativ, wie immer – eine Umbildung der Landesregierungen, nach dem Muster : Entfernung der Sozialdemokraten, Ernennung von Heimwehr-Landesräten. Diese Forderung richtete sich gegen die Sozialdemokraten, sie war aber mindestens ebenso sehr eine Herausforderung an die Adresse der Landeshauptleute : Nun gut, zwei davon – in Kärnten und im Burgenland – waren Landbündler ; blieb das halbe Dutzend Christlichsoziale. Steidle setzte bei den Tirolern an : Dort gab es zwar ohnehin keine Sozialdemokraten in der Landesregierung, weil der Proporz 1927 abgeschafft worden war, aber auch keine Heimwehrler. Die Heimwehren setzten einen zusätzlichen »Landesausschuß« durch, der ihnen ein gewisses Mitspracherecht einräumte. Als Nächstes waren die Oberösterreicher an der Reihe, seit jeher Skeptiker des Regierungskurses. Dort saß mit Langoth sogar noch ein Großdeutscher in der Regierung. Alle Landtagsparteien solidarisierten sich mit Landeshauptmann Schlegel in der Abwehr der Zumutungen. Im Revier Reithers, in Niederösterreich, hatten die Heimwehren bezeichnenderweise erst gar keine Forderungen angemeldet, obwohl hier die stärkste Präsenz der Sozialdemokratie gegeben war. Reither nahm dennoch Witterung auf : Am 2. Februar ließ er über 100.000 Bauern in Wien aufmarschieren. Dollfuß sprach zu ihnen und wurde mit der Würde eines Obmannstellvertreters des Bauernbundes ausgezeichnet. Reither zog daraus den Schluss, der Kanzler habe sich »zu uns« bekannt. Genau das Gleiche behauptete für die Heimwehren eine Woche später Fey, bei seiner oft missverstandenen Rede in Großenzersdorf : »Die Aussprachen von vorgestern und gestern haben uns die Gewissheit gegeben, daß Kanzler Dollfuß der Unsrige ist.«721 Für Dollfuß ergab sich in den Tagen vor dem 12. Februar damit tatsächlich eine Zerreißprobe, allerdings nicht zwischen dem Ex-Genossen Mussolini und der Sozialdemokratie, wie oft suggeriert, sondern zwischen seinen alten und seinen neuen Freunden, zwischen Bauernbund und Adelsfronde, Reither und Starhemberg. Die christlichsozialen Landeshauptleute wurden damit bis zu einem gewissen Grad in eine Front mit den Sozialdemokraten gedrängt. Renner hatte seinen Gesprächspartnern das Angebot unterbreitet, die Sozialdemokraten wären bereit, Dollfuß sehr weitgehende Vollmachten einzuräumen, die bloß der Kontrolle durch einen Staatsrat unterlägen, nach dem Muster der Regelung von 1922. Das Offert war ursprünglich mit 15. Jänner befristet, wurde dann noch einmal verlängert. Seine Gesprächspartner waren allerdings kaum Leute, auf die Dollfuß hörte. Zwei von ihnen – beides alte Kameraden, Czermak und Ernst Karl Winter – drangen zwar bis zu ihm vor und wurden mit der jovialen Antwort abgefertigt : »Schön, aber wenn ich das tue, steckt mich der Duce dem Hitler in den Rachen.«722 Es wäre voreilig, daraus den Schluss abzuleiten, es sei tatsächlich Italien gewesen, dass eine solche Einigung torpediert habe. Dollfuß hatte sich wohl schon im Herbst auf »eine Abkehr vom Parteienstaat« festgelegt. Er war zu Absprachen im Hintergrund bereit, nicht zu einem Schulterschluss nach außen : Man könne den Nazis keinen besseren Dienst
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Propaganda vor und nach dem Februar 1934 Abbildung 40 : Vor dem 12. Februar : Karikatur der Opposition : »Heilloses Durcheinander« Abbildung 41 : Nach dem 12. Februar : Flugblatt der Regierung, die aus der Flucht Otto Bauers Kapital schlagen wollte
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erweisen, als offen den Eindruck zu erwecken, dass »wir packeln«.723 Der Hinweis auf außenpolitische Sachzwänge war vermutlich nur ein unwiderlegliches Argument, die lästigen Bittsteller loszuwerden. Reither – bei dem sich jetzt auch Hartleb und die Landbündler im Sinne einer »gemeinsamen Bauernfront« meldeten – zählte da schon zu einer anderen Kategorie.724 Die Sozialdemokratie brachte im Vorwärts-Verlag 1934 ein neues Blatt heraus, die »Landpost«, die es nur auf drei Ausgaben bringen sollte. Die Nummer, die just am 12. Februar 1934 erschien, brachte auf Seite 1 eine Einladung zu einer Einheitsfront der alten Parteien, im Sinne einer Rede, die Schneidmadl unlängst im niederösterreichischen Landtag gehalten hatte : »Schluß mit dem Streit der Weltanschauungen !« Der Aufmarsch der Bauern in der Vorwoche wurde ausdrücklich begrüßt, man habe sie »eher als Verbündete denn als Feinde betrachtet«, denn : »Diese Kundgebung hat gezeigt, daß Bauern und Arbeiter in der Stunde der Gefahr nicht gegeneinander stehen werden.« Abgerundet wurde das Bild mit einer köstlichen Karikatur über das »heillose Durcheinander« im Regierungslager, in Form von Praterbuden : Die Hakenkreuz-Filiale war bereits geschlossen (dort prangte nur das Schild : Bomben direkt beim Erzeuger) ; die Heimwehr rief drohend nach der Auflösung der Christlichsozialen ; die Christlichsozialen hielten mit Kollmann dagegen, der gesagt hatte, man müsse die Partei jetzt erst recht schaffen, wenn es sie nicht schon gäbe ; den Ostmärkischen Sturmscharen wurde der Werbeslogan unterlegt : »Bei uns vereinigt sich monarchistische Legalität mit faschistischer Totalität«, während ein Herr im Zylinder versprach : »Den einzig wahren Ständestaat sehen Sie nur hier.« Der Kommentar des Zuschauers lautete : »Und die haben s’ Parlament a Quatschbude g’hassen. Neugierig bin i, wer als Nächster dem Andern die Bude zuaspirrt ?«725 Vom Februar-Aufstand zur Mai-Verfassung In diese wahrhaft interessante Konstellation, die allerlei Möglichkeiten in sich barg, platzte am Morgen des 12. Februar die Nachricht vom Aufstand des Schutzbundes, oder : wie man gleich korrigieren muss : von Teilen des Schutzbundes, der seit seinem Verbot vor fast einem Jahr wieder – wie vor 1923 – unter der Bezeichnung »Ordner« weiterlebte. Mussolini hatte seinen österreichischen Schützlingen immer wieder ans Herz gelegt, ihre beste Chance bestünde darin, die Sozialdemokraten zu provozieren, bis sie sich zu einer bewaffneten Aktion hinreißen ließen ; im Gegenschlag könnten die Heimwehren dann gleich das gesamte bisherige politische System mit in den Abgrund reißen. Die Sozialdemokratie hatte der Versuchung stets widerstanden, beim Kampf um die Verfassung 1929, unter der Regierung Vaugoin 1930, während des Pfrimer-Putsches 1931. Warum lief sie den Heimwehren gerade jetzt ins offene Messer, zum denkbar ungünstigsten Zeitpunkt ?
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Beneš hatte eine der Ursachen kurz zuvor im Gespräch mit dem österreichischen Gesandten umrissen : Die Sozialdemokratie befände sich »in einer solchen psychologischen Situation, daß sie zu den äußersten Mitteln greifen würde, selbst auf die Gefahr und im Bewusstsein, daß sie sich dadurch umbringt«. Ein Verzweiflungsausbruch also – wenn auch, wie Norbert Leser ergänzt, gerichtet »im selben Umfang gegen das Untätigbleiben der Führung wie gegen das Tätigwerden der Regierung«. Gewisse Indizien dafür waren zweifellos gegeben. Renner hatte seinen Gesprächspartnern eingeschärft, alle Kompromissangebote seien mit 15. Jänner befristet. Fey und Starhemberg, die noch vor einem Jahr zugeben hatten zugeben müssen, die Sozialdemokraten seien wirklich lammfromm, nahmen jetzt wiederum Zeichen verstärkter Aktivität wahr. Waffentransporte aus der Tschechoslowakei waren an der Tagesordnung. Ende Jänner gelang der Polizei wieder einmal ein größerer Fund. Schließlich gab es die berühmten Erklärungen des oberösterreichischen Parteisekretärs Richard Bernaschek, man werde sich in Hinkunft nichts mehr gefallen lassen, sondern lieber losschlagen. Gerade in Oberösterreich war die Lage der Partei besonders kritisch ; nirgendwo sonst war der Mitgliederschwund so bedrohlich ; viele Genossen liefen zu den Kommunisten oder zu den Nationalsozialisten über. Die Regierung schritt im Zuge der Offensive der Heimwehren zu Verhaftungen diverser Schutzbundführer, angefangen mit dem militärischen Kommandanten, Major Eifler. Eine kuriose Legendenbildung hat sich im Nachhinein um einzelne Funktionäre entwickelt, denen vorgeworfen wurde, sie hätten sich angeblich absichtlich arretieren lassen, um den kommenden Kämpfen auszuweichen, wie z. B. ausgerechnet der Wiener Neustädter Schutzbundkommandant Josef Püchler, der berüchtigte Held so mancher Saalschlacht. Püchler hatte sich am 9. Februar auf seinem nächtlichen Heimweg in ein Wortgefecht mit einem Heimwehrmann eingelassen, der noch wenige Wochen zuvor im Schutzbund gedient hatte. Als man ihn verhaften wollte, leistete er unter Berufung auf seine Immunität als Landtagsabgeordneter »Widerstand gegen die S taatsgewalt«. Doch woher hätte Püchler wissen sollen, dass Bernaschek achtundvierzig Stunden später losschlagen würde. Er kam von einer Sitzung der niederösterreichischen Partei, bei der Helmer über seine Gespräche mit Reither nur Beruhigendes zu berichten wusste : »So etwas wie in Tirol« werde hier nicht stattfinden, habe ihm der Landes hauptmann versichert. Da war es schon eher der Umweg über den Heurigen, der Püchler möglicherweise zur Renitenz verleitete. Püchler verteidigte sich nach 1945 hartnäckig gegen die Vorwürfe, er sei ein Verräter – und erhielt von Helmer die klassische Antwort : »Ein Herumstochern in diesen Wunden ist doch zwecklos und erhöht höchstens die Schmerzen. Darum ist es besser, einen Strich unter die Vergangenheit zu ziehen.«726 Hellmuth Andics hat den Stoff in den Siebzigerjahren dann – leicht verfremdet – in einer Fernsehserie verarbeitet.
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War die Auseinandersetzung tatsächlich so absehbar und unausweichlich ? Als Auslöser des Aufstandes musste eine Lappalie herhalten. Eine Waffensuche im Hotel Schiff, dem Parteiheim der Linzer Sozialdemokratie, war eine Routineangelegenheit, bar jeder Originalität. Es ist nicht einmal sicher, ob Fey selbst den Befehl dazu gegeben hatte, oder ob der oberösterreichische Sicherheitsdirektor Baron Hammerstein in Eigenregie handelte. Die Heimwehren waren am 12. Februar jedenfalls keineswegs auf eine unmittelbar bevorstehende Bewährungsprobe gefasst ; ein Großteil ihres Führungskorps befand sich gerade fern von ihren Einheiten, auf dem Weg nach Wien zu einer Besprechung. Gerhard Botz hat wohl zu Recht gewarnt, »in Auslösung und Ablauf der Ereignisse allzu viel Konsequenz hinein zu interpretieren«. Selbst der zu allem entschlossene Bernaschek scheint am Morgen des 12. Februar, als die Polizei im Hotel Schiff auftauchte, noch einmal geschwankt zu haben. Jedenfalls rief er, während seine Leute gerade dabei waren, das Feuer zu eröffnen, noch einmal den Landeshauptmann Schlegel an, um ihn zu beschwören, die Aktion abzublasen, »weil sonst schreckliches passieren könnte«. Angeblich will er seine Leute nur aufgeboten haben, um für den Fall eines Heimwehrputsches gerüstet zu sein.727 Vielleicht kamen die Aufständischen einer Aktion der Regierung zuvor, die sie vor ein Entweder-Oder gestellt hätte, wie z. B. eine Auflösung der Wiener Stadtund Landesverwaltung, über die sei Jahr und Tag diskutiert wurde. Die Regierung hatte Seitz am 10. Februar zwar die Sicherheitsagenden entzogen, doch die standen bloß auf dem Papier : Wien unterstand seit jeher der Bundespolizei, deshalb bedurfte es da auch nicht einmal eines eigenen Sicherheitsdirektors. Aller Legendenbildung zum Trotz : Es war nicht etwa Dollfuß, der an diesem 12. Februar mit einer Absetzung von Seitz, auf Zuruf Mussolinis oder auch Starhembergs, den Startschuß zum Bürgerkrieg gegeben hätte. Mussolinis Staatsekretär Fulvio Suvich hatte das Thema angeschnitten, als er ein paar Wochen vorher Wien besuchte – und war mit den üblichen Vertröstungen abgespeist worden. Ein neuerlicher Wink Mussolinis, der Zeitpunkt für ein Vorgehen gegen die Sozialdemokraten sei wegen der französischen Regierungskrise besonders günstig, erreichte Dollfuß überhaupt erst am Nachmittag des 12. Februar. Es war allerdings fraglich, ob Österreich in der Prioritätenliste des Duce in diesen Tagen wirklich obenauf rangierte : Eben erst hatte am 8. Februar die entscheidende Sitzung stattgefunden, bei der sich Mussolini auf den Abessinienfeldzug festlegte. Die Unterzeichnung der sogenannten »Römischen Protokolle« ein paar Wochen später ging auf das Drängen Dollfußʼ zurück, für die österreichischen Exporte einen privilegierten Zugang zum italienischen Markt zu erhalten. Mussolini ging darauf allerdings nur ein, wenn auch Ungarn mit von der Partie war. Der Eindruck, Italien habe sich mit den handelspolitischen Brosamen zwei willfährige Satelliten gezüchtet, täuscht : Es blieb bei den milden Gaben der Italiener ; eine Ergänzung durch einen
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Beistandspakt oder eine Militärkonvention, die Italien verlässliche Unterstützung gegen seinen Angstgegner Jugoslawien versprochen hätte, fand nie statt.728 Die Reaktion der sozialdemokratischen Parteiführung auf den Ausbruch der Kämpfe in Linz war stockend. Man entschloss sich – gegen den Einspruch der Eisen bahner – mit offenbar nur ganz knapper Mehrheit für den Generalstreik, zog sich aber militärisch weiterhin auf eine strikte Defensive zurück. Der Schutzbund solle sich verteidigen, wenn er angegriffen werde. Ein Offensiv-Plan, z. B. zur Einnahme der Ministerien in der Wiener Innenstadt, unter Einsatz der »berühmten, sagenhaften Kanalbrigaden«, wurde nicht einmal in Ansätzen verwirklicht. Helmer gab die Parole aus : Bei den Nachrichten aus Linz handle es sich um unbestätigte Gerüchte. Die Riege der Niederösterreicher pilgerte ins Landhaus, um mit Reither zu verhandeln, während die Regierung bereits das Standrecht proklamiert hatte. Der Appell gipfelte angeblich im Angebot, Reither zum Kanzler auszurufen. Landeshauptleute wie Schlegel und Reither waren in Friedenszeiten mächtige Männer, doch in Zeiten der Sicherheitsdirektionen und des Standrechts ohne jeden unmittelbaren Einfluss auf die Ereignisse. Von einem generellen »Arbeiteraufstand«, von einem »sozialen Elementarereignis« konnte keine Rede sein. Selbst in Wien verweigerte ein Teil des Schutzbundes die Teilnahme an den Kämpfen. »Die Generalstreikparolen wurden fast ausnahmslos nicht befolgt, und auch der Schutzbund konnte in vielen Fällen nicht mobil gemacht werden.«729 Der Parteivorstand schlug sein Hauptquartier zunächst im Ahornhof in Favoriten auf, konnte aber keine Anweisungen mehr erteilen. Bauer und Deutsch setzten sich, vernünftigerweise, binnen vierundzwanzig Stunden in die Tschechoslowakei ab. Der Schutzbund hielt zwei bis drei Tage durch, bevor er in seinen Hochburgen niedergekämpft wurde. In Bruck oder Steyr gerieten abgeschnittene Exekutiveinheiten in brenzlige Situationen. Dafür stellte sich in Kärnten die sozialdemokratische Führung (Landesrat Zeinitzer und der Klagenfurter Bürgermeister Pichler) offen auf die Seite der Regierung. Auch in Niederösterreich kam es nur an ganz wenigen Orten zu Kämpfen. In der Arbeiterhochburg Wiener Neustadt blieb es ruhig. Furore machte in Wien der Einsatz von Artillerie gegen den Karl-Marx-Hof – der jedoch keine Todesopfer forderte, weil man aus den Granaten vorsorglich die Zünder entfernt hatte. Wie es scheint, hatten die Regierungsverbände im unmittelbaren Kampfgeschehen sogar mehr Opfer zu beklagen als der Schutzbund. Selbst Starhemberg zollte dem Mut der Februarkämpfer seinen Tribut, genauso wie die Sozialdemokraten ihrerseits wenige Monate später der aufständischen SA.730 Die politischen Folgen des Februaraufstandes für die Sozialdemokratie waren desaströs : Die Partei und die Freien Gewerkschaften wurden sofort verboten, in Wien Richard Schmitz als Regierungskommissär, dann als neuer Bürgermeister eingesetzt. Der schwelende Konflikt zwischen Dollfuß und seiner Partei war bereinigt. Für das
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Gros der Christlichsozialen hatte sich die Lage wie durch ein Gottesurteil geklärt. Man wusste endlich wieder, woran man war. Die Partei stellte einmal mehr ihre bewährte Anpassungsfähigkeit unter Beweis. Die Kritiker vom Dienst – von Aigner bis Reither – schlossen die Reihen hinter Dollfuß. Nur Kunschak verharrte im Schmollwinkel. Die Heimwehren hatten Oberwasser, oder glaubten es zumindest. Starhembergs Cousin Hoyos schrieb vollmundig, dass »heute eigentlich im Wesen nur mehr der Heimatschutz etwas zu sagen hat und daß Dollfuß und Konsorten wohl oder übel sich accomodieren müssen«.731 Die Landesregierungen wurden umgebildet, so wie die Heimwehren es gefordert hatten. Die Sozialdemokraten und Landbündler, auch Langoth in Oberösterreich, schieden aus. Die Heimwehren bekamen als Nummer 2 in den Ländern einen »Landesstatthalter« zugebilligt, selbst in Reithers Niederösterreich. In Kärnten stellten sie mit dem Abwehrkämpfer Hülgerth sogar den Landeshauptmann. Dort spielten hinter den Kulissen freilich auch die Landbündler Schumy und Hasslacher weiterhin eine gewichtige Rolle. Ein Relikt der parteiübergreifenden Kontakte vor dem Februar 1934 war bloß in Form genossenschaftlicher Solidarität über die Barrikaden hinweg zu verzeichnen. Die niederösterreichischen Agrarier verteidigten ihre größten Abnehmer, Renners sozialdemokratische Konsumgenossenschaften, gegen die Angriffe der christlichsozialen »Greißler«. Der »Konsum« wurde nicht zerschlagen, sondern im Ständestaat einfach dem Bauernbündler Ludwig Strobl zur Verwaltung übergeben.732 Der Februar-Aufstand wirkte auch als Katalysator in den beiden Fragen, die bis dahin offen geblieben waren. Er beschleunigte eine Entscheidung, die vermutlich schon vorher gefallen war. Die VF wurde jetzt endgültig als Einheitspartei etabliert, als »monopolistische Staatsbewegung«. Bisher hatten die Heimwehren den Beitritt abgelehnt ; Dollfuß deshalb auch die Christlichsoziale Partei als Reserve in der Hinterhand behalten. »Die Partei kann erst in dem Augenblick in der VF aufgehen, wenn dies auch die Heimwehr tut und sich dem Kanzler unterstellt«, notiert ihr »Masseverwalter« Czermak. Jetzt erklärte sich Starhemberg dazu bereit (übrigens gegen den Willen Feys). Die Auflösung der Christlichsozialen Partei war damit beschlossene Sache. Czermak führte seine Aufgabe wiederwillig, aber pflichtgetreu zu Ende. Am 14. Mai wurde im Parlamentsklub schon nur mehr über die Verwendung des restlichen Klubvermögens beraten. Auch Landbund und Großdeutsche, die bloß ildeten Tradi noch eine Schattenexistenz geführt hatten, folgten auf dem Fuße. Sie b tions vereine (»Deutscher Volksbund«, »Landbündlerische Gesinnungsgemein schaft«), die jeden Anschein politischer Betätigung zumindest nach außen hin vermeiden sollten. Die Konkurrenten hatten das Feld geräumt. Dennoch blieb die VF ein Problem kind für alle Beteiligten. »Die VF ist immer noch in einem völlig zerfahrenen Zustand«, resümierte Czermak im Juni 1934, vielleicht nicht ganz ohne Schadenfreude.
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Ihr fehlten die authentischen Führungspersönlichkeiten, die Landesfürsten oder »Ras«, wie man in Italien gesagt hätte. Das Patt von Christlichsozialen und Heimwehren hing ihr auch weiterhin nach. Allzu profilierte Persönlichkeiten der einen oder der anderen Seite schieden als Anwärter von vornherein aus. Als Generalsekretär nominierte Dollfuß im dritten Anlauf den Steirer Karl Maria Stepan vom Katholischen Preßverein, angeblich auf Anraten und Vermittlung seines Staatssekretärs Heinrich Gleissner. Stepan war in den Zwanzigerjahren einmal Generalsekretär der steirischen Christlichsozialen gewesen, aber 1932 aus der Partei ausgetreten. Stepan war ein Mann von Format, wie ihm auch Czermak bescheinigte ; vielleicht zu sehr, denn er überwarf sich prompt mit Schuschnigg, der ihn nach einem halben Jahr ablöste und zurück in die Steiermark schickte. Sein Nachfolger Walter Adam kam wiederum aus dem Stall der »Reichspost«.733 Der einzige Charismatiker unter den Landesleitern der VF war vermutlich Gleissner selbst, der in Oberösterreich bald darauf auch Schlegel als Landeshauptmann ablöste (eine ähnliche Personalunion gab es sonst nur im Burgenland mit Sylvester). In Niederösterreich ernannte Reither einfach den Hollabrunner Bezirksbauernsekretär zum Landesleiter, einen »elend besoldeten, ziemlich einflusslosen armen Teufel« ; in Wien machte ein obskurer Oberstleutnant Seifert von Schuschniggs Ostmärkischen Sturmscharen das Rennen ; in der Steiermark der junge Alfons Gorbach, bis dahin als einfacher Gemeinderat in Graz ein weitgehend unbeschriebenes Blatt ; in Kärnten ein Anwalt mit katholischen Stallgeruch, der politisch bisher nicht hervorgetreten war, Arnold Sucher, laut Hülgerth »der einzige Schwarze, mit dem man reden kann« ; in Salzburg bestellte Dollfuß – offenbar Landeshauptmann Rehrl zufleiß – einen »betont nationalen« Frontoffizier, Bernhard Aicher, zum Landesleiter. In Tirol verbürgte Ernst Fischer als Bruder des Innsbrucker Bürgermeisters und Schatzmeister der Heimwehren wenigstens gute Kontakte nach beiden Seiten.734 Fazit : Die VF-Gewaltigen waren rechtschaffene Männer der zweiten oder dritten Garnitur, die niemanden allzu sehr weh taten, keine politischen Bosse, sondern Administratoren – eben alles andere als »Gewaltige«. Das schloss nicht aus, dass die VF oft bei den Behörden intervenierte und bei ihr oft interveniert wurde, dass ihre Zigtausende von »Amtswaltern« auf unterer Ebene sich hie und da zu »Dorftyrannen« entwickelten. Die VF wurde im Lauf der Zeit mit diversen Vorfeldorganisationen angereichert, wie z. B. dem Mutterschutzwerk (das als Ausgedinge Starhembergs herhalten musste) oder dem »Neuen Leben« – als Pendant zu »Kraft durch Freude«, doch mit gehobeneren Ansprüchen, das unter dem Präsidium von Rudolf Henz, einem der wenigen prononciert katholischen Schriftstellern von Rang, mit Theateraufführungen den Kinos in der Provinz Konkurrenz machte und Literaturpreise verlieh ; nach besonders langem Tauziehen mit Heimwehren und Kirche kam es verhältnismäßig spät dann auch zur Gründung einer »Jungfront«. Stepans Anspruch vom März 1934, um »der Hochkonjunktur politischer Spekulation« vorzubeugen,
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den Aufbau der »berufsständischen Ordnung« von Anfang an im Rahmen der VF zu vollziehen, wurde jedenfalls »nicht einmal ignoriert«.735 Denn die Arbeiten an der versprochenen neuen Verfassung gingen jetzt in die Zielgerade. Noch im Jänner 1934 hatte Kollmann, als Obmann eines christlichsozialen Parlamentsklubs ohne Parlament, vergeblich nachgefragt : »Ist es möglich, daß der Vorstand erfährt, wie zukünftig Österreich aussehen wird ?« Das Geheimnis wurde jetzt gelüftet. Ender hatte seit dem Sommer 1933 an einem Entwurf gearbeitet ; unabhängig davon auch Schmitz, der jetzt ins Rathaus übersiedelte ; mit dem Feinschliff wurde ein Beamtenkomitee unter dem Vorsitz Neustädter-Stürmers betraut. Es spricht für das Pflichtbewusstsein des Kabinetts, dass es das vorläufige Endergebnis, den sogenannten »Osterentwurf«, im April 1934 schließlich Paragraf für Paragraf im Ministerrat durchdiskutierte. Der Historiker verdankt ihrer Mühewaltung unvergessliche Einblicke in die Art und Weise, wie das hehre Konzept des Ständestaates von den politischen »Profis« der Ersten Republik aufgefasst und instrumentalisiert wurde. Eine Vorentscheidung war schon spätestens um die Jahreswende gefallen : Es würde kein Beratungsgremium mehr geben, das aus dem allgemeinen Wahlrecht hervorging. Anfangs hatte da noch eine gewisse Chance bestanden : Ender ging von der Verfassung des Jahres 1929 aus, die ja einen Länder- und Ständerat als zweite Kammer vorsah. Wenn man alle wirtschaftlichen Belange dem Ständerat vorlegte, blieb für den bisherigen Nationalrat wenigstens ein kümmerlicher Rest von kulturel len, weltanschaulichen Vorlagen. Doch als Spielwiese für das allgemeine Wahlrecht schien auch dieses Rudiment immer noch zu riskant : Welches Gremium auch immer zur Volkswahl anstand, und sei es noch so peripher, die Opposition würde ein »Kampfziel« daraus machen, es würden unweigerlich die perhorreszierten »Parteiungen« entstehen, die man gerade vermeiden wollte. So wurde der nunmehrige »Kulturrat« als »Professorenparlament« ganz eigener Art schließlich mit einer absoluten Mehrheit von Lehrern ausgestattet, garniert mit einigen Priestern (die auf diese Weise also doch in die Politik zurückkehrten), zum Schluss dann noch zwei adeligen Legitimisten, die kooptiert wurden in ihrer Eigenschaft als – Elternvertreter.736 Neustädter-Stürmer war entsetzt : »Eine ständische Verwaltung auf kulturellem Gebiet gibt es nicht«, fiel er dem Kanzler ins Wort. Auch der öffentliche Dienst als Stand schien ihm vollkommen systemfremd, eine »Anomalie«. Doch er ergab sich in sein Schicksal, als einzig Sehender unter die Blinden geraten zu sein. Dollfuß wiederum stellte bohrende Fragen, die seinen politischen Instinkt bewiesen, aber auch seine Unbekümmertheit ob der Vorgaben durch Spann’sche Kategorien, die italienischen Korporationen oder sonstige Modelle : So fragte er, völlig zu Recht, aber auch völlig systemfremd, ob angesichts der ganzen Pyramide von Produzentenkartellen nicht auch ein »Stand der Konsumenten« vonnöten sei ?737 Das große Problem, das
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allen Gegnern unter den Nägeln brannte, der geheiligte Gegensatz von Arbeit und Kapital, machte am allerwenigsten Probleme : Den Klassenkampf zu entsorgen war schließlich der Zweck der Übung. Das Problem war vielmehr, wo man all die Zwischenschichten unterbringen wollte, die vielen Nischenexistenzen, die schließlich den Kitt der bürgerlichen Gesellschaft ausmachten. Die Angestellten – das Fußvolk der bürgerlichen Parteien – befürchteten, zwischen den großen Blöcken der Arbeiter und Industriellen zerrieben zu werden. Dazu kamen Abgrenzungsstreitigkeiten : Zählten die Lagerhäuser jetzt zur Landwirtschaft oder zum Handel ? Letztendlich fühlte sich dann auch die schwere Reiterei der Heimwehren, die Waldbesitzer, übergangen und überstimmt.738 Die Debatten um den ständischen Aufbau verkörperten bei alledem doch weitgehend Zukunftsmusik. Starhemberg, gab einem Journalisten frohgemut zur Antwort, bis die geistigen Voraussetzungen für einen Ständestaat geschaffen würden, werde es wohl noch so seine zehn, fünfzehn Jahre dauern.739 Die Königsidee zur Überwindung des Klassenkampfes war die Zusammenfassung von Arbeitgeber- und Arbeitnehmerorganisationen unter einem Dach. Dazu kam es in Österreich nie. Selbst NeustädterStürmer hielt da eine Pause für angebracht. Man müsse die Organisation »als notwendige Vorstufe« zuerst einmal auf einer »syndikalistischen« Grundlage aufbauen, bevor man die »korporatistische« Endstufe in Angriff nehmen könne. Das höchste der Gefühle waren paritätisch zusammengesetzte »Gemeinsame Ausschüsse«, die 1937 dann erstmals im Gewerbe zusammentraten.740 Die Hoheitsverwaltung hingegen blieb von Kopf bis Fuß dem »Staatsstand« vorbehalten, also der Zentralregierung, der allenfalls ein Staatsrat an die Seite gestellt wurde, zusammengesetzt aus verdienten Beamten und Alt-Politikern, im Sinne des alten Herrenhauses. All die diversen Räte zusammen bildeten dann den Bundestag, der über das Budget abstimmte. Es wäre als Experiment nicht uninteressant gewesen, wie sich all diese Gremien verhalten hätten – wenn sie wirklich »organisch« aus der Selbstverwaltung hervorgegangen wären. Eine derartige Probe aufs Exempel blieb freilich aus. Wahlen sollten erst stattfinden, wenn »völlige Gewissheit« bestand, »daß diese im Sinne des Regierungskurses ausfallen«.741 Nur im Rahmen der Landwirtschaft wurden 1936 tatsächlich Wahlen abgeführt, auch sie mit einer paktierten Einheitsliste. Inzwischen wurden die Mitglieder all der Ersatz-Parlamente im Herbst 1934 zunächst einmal einfach von der Regierung ernannt. War bei der Auswahl der VF-Landesleiter der Eindruck entstanden, es gehe um eine gewisse Äquidistanz zwischen Christlichsozialen und Heimwehren, so erfolgte die Berufung in die »Parlamente« des Ständestaates ganz offensichtlich nach dem Proporz. Czermak notierte boshaft : »Früher nannte man das ›Packeln‹.« Selbst Starhembergs Vetter Graf Rudolf Hoyos, der auf diese Weise zum Präsidenten des Bundestages avancierte, notierte einmal selbstkritisch : »Ehrlich gesagt, ist der Heimatschutz heute etwas Überlebtes, eine
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steckengebliebene politische Partei, eigentlich die einzige übriggebliebene politische Partei.«742 Die Verfassung wurde in Kraft gesetzt mit einer kuriosen Inkonsequenz, nämlich gleich zweimal, durch eine Verordnung aufgrund des Kriegswirtschaftlichen Ermächtigungsgesetz und durch eine Abstimmung des Rumpfparlaments (wie Miklas es sich gewünscht hatte). Keine der beiden Varianten war überzeugend : Mit einem Notverordnungsparagrafen ließ sich die Verfassung aushebeln, doch wohl kaum ersetzen ; die Wiedereinberufung des Nationalrates aber hatte die Regierung vor Jahr und Tag für unmöglich erklärt. Jetzt war sie plötzlich legal. Den Sozialdemokraten waren ja inzwischen die Mandate aberkannt worden. Zwei einsame Großdeutsche (Foppa und Hampel) waren erschienen und protestierten gegen das Verfahren. Aus dem nationalen Lager stimmten nur zwei Kärntner, der Gesandte Tauschitz und der für den verstorbenen großdeutschen Obmann Wotawa als Ersatzmann einberufene Ministerialrat Schauer-Schoberlechner, für die Regierung, die anderen absentierten sich, wie der Kreis um die Landbund-Führer Winkler und Bachinger, die in Richtung nationale Opposition drifteten. Insgesamt waren nur 76 Abgeordnete erschienen, also weniger als die Hälfte des einst 1930 gewählten Parlaments. Es wurde kolportiert, um dieses Ergebnis herbeizuführen, habe Habicht den Landbündlern für ihr Fernbleiben 400.000 S gezahlt. Die Summe stand vermutlich im Zusammenhang mit der Übernahme von Winklers Zeitungsimperium en miniature ; für die Farce am 30. April schien der Preis zu hoch.743 Böses Blut machte die Entrada der Verfassung, die »im Namen Gottes« erlassen wurde, was nicht als naturrechtliche Verankerung angesehen wurde, sondern als Provokation des antiklerikalen Zeitgeistes, der links wie rechts seine Anhänger hatte. Vaugoin hatte einen Vorgeschmack darauf gegeben, als er schon im Vorjahr die Formel »Alles Recht geht vom Volke aus« auf dem letzten Parteitag der Christlichsozialen als »Überheblichkeit sondergleichen« bezeichnet hatte. Der Eindruck eines klerikalen Zwing-Uri wurde verstärkt, sobald als erster Regierungsakt unter der neuen Verfassung symbolischerweise die Ratifikation des schon im Vorjahr unterzeichneten Konkordats vorgenommen wurde. Dabei waren die Konkordatsverhandlungen ursprünglich ausgerechnet von Schober ins Auge gefasst worden, um auf dem Umweg über den Vatikan endlich die Debatte und die Unsicherheiten über die leidigen »Sever-Ehen« aus der Welt zu schaffen.744 Als Datum für die Verkündigung der Verfassung wählte man bewusst den 1. Mai, der als Staatsfeiertag damit seine patriotische Weihe erhalten sollte. Begangen wurde das Fest mit einer »Huldigung der Stände«, einem Spektakel, das Othmar Spann – der damals noch hoffte, über Thyssen und sein Düsseldorfer »Institut für Ständewesen« die rheinisch-westfälische Industrie für seine Ideen zu begeistern – zu seiner berühmten Distanzierung reizte : »Man machte aus dem Ständetum einen unheimlichen Fastnachtscherz. Gegen die geistigen Anleihen an meiner Lehre, die in der
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Abbildung 42 : Dollfuß’ Kinder am Strand mit Donna Rachele, Mussolinis Frau, am Tag, als ihr Vater erschossen wurde
sterreichischen Verfassung gemacht wurden, erhebe ich feierlich Einspruch. Man geö dachte nicht, daß man Gedanken verstehen müsse, um sie erfolgreich zu entlehnen.« Spann sollte freilich auch im Dritten Reich wenig Glück mit seinen Ideen haben. SS und Deutsche Arbeitsfront (DAF) verleideten ihm das Wirken. 1938 beschwor er kurz vor dem Anschluss dann Hoyos, man müsse der »undeutschen religionsfeindlichen Haltung« der »zwei Narren Hitler und Rosenberg« entgegenwirken.745 Der Juliputsch Österreich erlebte anno 1934 noch einen zweiten »Bürgerkrieg«, einen Aufstand der illegalen Nationalsozialisten, einbegleitet vom sogenannten »Juliputsch«. Auch die Verluste bewegten sich in einem vergleichbaren Rahmen : Zwei- bis dreihundert Tote. Zum Unterschied vom Februar-Aufstand stand hinter dem Juli-Putsch eine gewisse Planung, wenn auch eine äußerst dilletantische : Die Putschisten – in der Mehrzahl entlassene Heeresangehörige, inzwischen auch schon verstärkt um ein
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oder zwei ehemalige Schutzbündler – »stürmten« um die Mittagszeit des 25. Juli das Bundeskanzleramt und die RAVAG-Zentrale. Sie hatten Fortune, weil man ihre Lkws am Ballhausplatz für die fällige Wachablöse hielt und ihnen die Einfahrt deshalb nicht verwehrte. Sie hatten Pech, weil im Rahmen der undichten Stellen auf allen Seiten auch ihre Aktion verraten worden war (wenn auch nicht die genauen Details), sie also nicht mehr die gesamte Regierung gefangen nehmen konnten, sondern nur mehr Dollfuß und drei seiner Staatssekretäre (Fey, Karwinsky und Tauschitz). Mehr als Pech, sondern schon gröbliche Fahrlässigkeit war, dass der Anführer der Putschisten – Fridolin Glass – bei der Abfahrt der Lkws zurückgeblieben war. Im Bundeskanzleramt gab es nur mehr überforderte Unteroffiziere – und einen sterbenden Kanzler, denn Dollfuß hatte sich zur Wehr gesetzt und war ganz offensichtlich im Handgemenge von zwei Kugeln – aus unterschiedlichen Waffen – tödlich verletzt worden. Das eigentliche Kuriosum war, dass der »ersten Welle« der Putschisten niemand nachfolgte, in Wien zumindest. Die Putschisten hatten offensichtlich damit gerechnet, auf die Nachricht vom Rücktritt der Regierung – wie sie kurz im Rundfunk verlautbart wurde, bevor das Gebäude von der Polizei zurückerobert wurde – würden ihnen ihre Sympathisanten in Scharen zu Hilfe eilen. Insbesondere scheinen sie mit gewissen Kontaktleuten im Bundesheer gerechnet zu haben, die sich jedoch nicht aus der Deckung wagten. Im Auge des Sturms ist es stets am stillsten. Nach dem Überfall auf das Kanzleramt geschah daher für einige Stunden zunächst – gar nichts. Dann traf die Ministerriege, die sich unter Schuschniggs Führung im Kriegsministerium versammelt hatte, gegen 15 Uhr langsam ihre Gegenmaßnahmen. Das Bundeskanzleramt wurde umstellt, die Putschisten zur Übergabe aufgefordert. Sozialminister (!) Neustädter-Stürmer, der mehr oder weniger zufällig die Verhandlungen leitete, sicherte ihnen freies Geleit zu und nahm das Versprechen dann mit dem Argument zurück : Man habe zu dem Zeitpunkt noch nichts vom Tode Dollfußʼ gewusst. So weit der Putsch. Mit gehöriger Verspätung – ein, ja in manchen Fällen sogar zwei Tage – folgte darauf ein Aufstand in der Provinz. Der deutsche Konsul in Klagenfurt schüttelte den Kopf : »Es war ein völlig kopfloses und deshalb so tragisches Unternehmen.«746 Für zwei, drei Tage waren ganze Täler in Kärnten und in der Obersteiermark in der Hand der Aufständischen. Vor Wolfsberg geriet eine Kompanie des Bundesheeres beinahe in Gefangenschaft. Dann machte sich auch diesmal das Übergewicht der besser organisierten und besser koordinierten »Profis« der staatlichen Exekutive bemerkbar. Tausende Putschisten überquerten die Grenze nach Jugoslawien, wo sie im Lager von Varazdin gastfreundliche Aufnahme fanden. In Oberösterreich und Salzburg beschränkte sich der Aufstand auf lokale Zwischenfälle, wie z. B. in Lamprechtshausen.747 Über die Dynamik dieser Aufstände besteht bis heute keine vollkommene Klarheit. Im Deutschen Reich war es drei Wochen zuvor, am 30. Juni, bekanntlich zum
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sogenannten »Röhm-Putsch« gekommen, zur Liquidierung der SA-Führung. Die Wiener Putschisten hatten sich der SS unterstellt. Wie reagierte die österreichische SA auf die Aktion ihrer innerparteilichen Rivalen ? In der Steiermark war der Aufstand in erster Linie vom ehemaligen Steirischen Heimatschutz unter Kammerhofer getragen worden. War der Aufstand als eine, wenn auch verspätete Teilnahme am Putsch zu verstehen – oder als Konkurrenzunternehmen ? Klar ist, dass die Planung des Putsches in Wien vom Kreis um Habicht ausging, dem Landesinspektor im Exil. Hitler hatte noch im Herbst 1933 voll auf Habicht gesetzt. Inzwischen hatte sein Vertrauen gewisse Einbußen erlitten. Er wurde zitiert, Habicht verspreche ihm alle vierzehn Tage den Zusammenbruch des Regimes in Österreich – und nichts passiere. Habicht stand zunehmend unter Zugzwang – und gab sich vielleicht deshalb dem Wunschdenken hin, die Handvoll Putschisten würden ihm doch noch zu dem ersehnten Erfolg verhelfen. Seine unmittelbaren Vertrauensleute dabei waren ein unwahrscheinliches Duo, ein bayerischer Bankier, Rudolf Weydenhammer, und Baron Otto Gustav Wächter, Sohn eines kurzzeitigen österreichischen Heeresministers (und »Herrlichkeit« der alles andere als antisemitischen Schlaraffia).748 Hitler selbst hat von einer bevorstehenden Aktion in Österreich zweifellos gewusst. Er hatte nichts dagegen, wenn man ihm Österreich auf dem Präsentierteller servierte – aber er war selbstverständlich auch nicht an einer Blamage interessiert. Die entscheidende Frage ist, wie Habicht ihm den Plan schmackhaft gemacht hat. Zweifellos war dabei nicht davon die Rede, dass man mit bloß 150 Mann einen Staatsstreich inszenieren und zu einem guten Ende bringen könne. Auch hier stand vermutlich die Vorstellung Pate, zumindest Teile des Bundesheeres würden sich der Aktion anschließen. Was dieser Vorstellung über eine breite Anhängerschaft eine gewisse Plausibilität verlieh, war nicht zuletzt die Person des Kanzlerkandidaten, der von den Putschisten auf den Schild gehoben werden sollte – bekanntlich niemand anderer als Anton Rintelen, der entthronte König der Steiermark, der sich nicht zufällig als Botschafter in Rom gerade auf Heimaturlaub befand. (Mussolini hatte Dollfuß inzwischen schon geraten, Rintelen zur Sicherheit doch lieber nach Washington zu versetzen.749) Rintelen hatte gute Kontakte nach allen Richtungen – aber auch für ihn exponierte sich niemand, ja er auch er selbst exponierte sich nicht, sondern wartete im Hotel Imperial so lange ab, bis er verhaftet wurde. Ein hochrangiger Christlichsozialer (und CV-er) als Komplize der Putschisten war eine Peinlichkeit. Peinlich für das Regime war darüber hinaus die schiefe Optik, in die Emil Fey geraten war. Fey war von Dollfuß – im Einvernehmen mit Starhemberg – als Vizekanzler, zwei Wochen vor dem Juliputsch dann auch als Sicherheitsminister abgelöst worden. Man unterstellte ihm, er habe den Putsch für eine persönliche Revanchepartie nützen wollen. Ins Zwielicht geriet er, weil er als Gefangener von den Putschisten aufgefordert wurde, für sie vom Balkon des Kanzleramtes aus die Verhandlungen mit seinen Ministerkollegen zu führen.
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Natürlich hatte auch Fey seine Kontakte zur »Illegalen«-Szene, die ihn gerne auf ihre Seite gezogen hätte. Eine Verwicklung Feys in den Putsch erscheint dennoch höchst unwahrscheinlich. Freilich : Die Optik war keine für ihn sehr günstige. Die Sozialdemokraten setzten den Gerüchten die Krone auf, als sie in ihren Exilzeitungen die These lancierten, Fey persönlich habe den zweiten, tödlichen Schuß auf Dollfuß abgefeuert. Fey und Starhemberg waren nie besondere Freunde gewesen. Fey hatte in allen Kontroversen innerhalb der Heimwehren 1930/31 stets gegen Starhemberg Stellung bezogen. Fey 1932 zum Minister zu machen, konnte als geschickter Schachzug Dollfußʼ gelten, im Sinne des divide et impera. Freilich : Starhemberg wäre von seinem Temperament her als Chef eines Beamtenapparats auch nicht zu gebrauchen gewesen. 1933/34 war die latente Rivalität zwischen den beiden Heimwehrgranden immer mehr in offene Feindschaft umgeschlagen. Der Juli 1934 bedeutete in dieser Beziehung den point of no return. Der Papierform nach hätte als Vizekanzler nach dem Tode Dollfußʼ eigentlich Starhemberg die Führung übernehmen sollen. Doch Starhemberg befand sich am 25. Juli gerade in Italien. Er kam erst am nächsten Morgen in die Heimat zurück und antwortete ausweichend auf den Gruß seiner Getreuen, die ihn bereits am Flughafen als Kanzler ansprachen. Schuschnigg war nur provisorisch mit der Leitung des Kabinetts beauftragt worden, als trotz seiner 34 Jahre inzwischen bereits dienstältester Minister. Gegen eine Betrauung Starhembergs legte sich – erwartungsgemäß – Bundespräsident Miklas quer, der am 25. Juli mehrfach telefonisch Schuschnigg mit der Führung der Geschäfte beauftragt hatte. Das war ein schlagendes verfassungsrechtliches Argument – doch wie oft hatte man derlei in den letzten Monaten umgangen oder beiseite gewischt ? Starhemberg ließ sich erstaunlich leicht ausbremsen. Dabei mögen private Probleme eine Rolle gespielt haben (die anstehende Trennung von seiner Frau Marilies Salm), aber wohl auch ein gewisser Hamlet-artiger Charakter, der sich bei ihm in Krisensituationen schon des Öfteren gezeigt hatte.750 So wurde aus dem Provisorium Schuschnigg vom 25. Juli ein Definitivum. Im Rückblick erschien die Wahl des Tirolers als Bruch oder zumindest als Vorbote eines Bruchs mit dem System : Dem offenherzig-liebenswürdigen Charismatiker Dollfuß folgte der scheu-zurückhaltende Adelige Schuschnigg, ein professoraler Typ, der nach dem Krieg tatsächlich an die Universität wechselte (wenn auch an eine amerikanische Jesuitenfakultät). Der bald einsetzende Dollfuß-Kult verschärfte den Kontrast nur noch. Dollfuß hatte den Weg zum Christlichen Ständestaat und zur VF als Einheitspartei gewiesen ; Schuschnigg zog sich auf die »Regierungsdiktatur« zurück und begann ab 1936 in der VF einem schüchternen Pluralismus Eingang zu verschaffen. Dollfuß und Starhemberg hatten einander wiederholt »Treue um Treue« geschworen ; Schuschnigg servierte Starhemberg 1936 dann kalt lächelnd ab. Freilich : Aus der Perspektive des Juli 1934 und der Jahre davor sahen die Dinge anders aus. Es war Dollfuß, der als Kritiker Seipels begonnen und stets zwischen den ver-
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schiedenen Strömungen innerhalb der Christlichsozialen Partei laviert hatte. Schuschnigg hingegen galt im Kabinett Dollfuß stets als Repräsentant des rechten Flügels, von Anfang an auch als Freund der Heimwehren (bloß gegen seinen Landsmann Steidle hatte er so seine Vorbehalte) ; als Reichsführer der Ostmärkischen Sturmscharen hatte er 1933 für Starhemberg und Fey Position bezogen (und gegen die niederösterreichi schen OSS unter Figl). Er hielt es für »schlecht, unerträglich und katastrophal«, sich von den Heimwehren zu trennen. Schuschnigg war – zum Unterschied von Dollfuß – im Prinzip Monarchist. Auch diese Einstellung galt bei den Heimwehrführern als Empfehlung. Sprich : Wenn es schon nicht Starhemberg selbst sein durfte, dann war Schuschnigg aus der Perspektive der Heimwehren bei Weitem das kleinere Übel, der alle anderen mit dem haut gout ihrer demokratischen Vergangenheit behafteten »Schwarzen« um Längen schlug, oder wie er es selbst formulierte : Er war »weniger schwarz angeschrieben« als z. B. Schmitz. Schuschnigg selbst betrachtete sich denn auch gar nicht in erster Linie als Exponent der alten Christlichsozialen, sondern definierte die »undankbare Aufgabe« der vermeintlich autoritären Führung als »schiedsrichterliche Vermittlung« in einer Koalitionsregierung.751 Die Regierung Schuschnigg-Starhemberg basierte auf einem Kompromiss : Schuschnigg wurde Bundeskanzler, Starhemberg übernahm die Führung der VF. Die Posten im Kabinett wurden strikt im Verhältnis fifty-fifty geteilt, genauso wie im Herbst dann die Pfründe in den diversen Beratungsgremien des Ständestaates. Nie zuvor hatten die Heimwehren einen so großen Anteil am Kuchen erhalten. Es war ihre eigene Schuld, wenn sie nichts daraus zu machen verstanden. Zu ihrer Achillesferse entwickelte sich der Konflikt Starhemberg-Fey. Der alte Beamte NeustädterStürmer als Aktivelement der Heimwehren im Kabinett sah sich von Starhemberg im Stich gelassen und hielt sich mehr an Fey. Der neue Außenminister Baron Egon Berger-Waldenegg war loyal zu Starhemberg, hatte in der Innenpolitik aber nichts zu reden. Schuschnigg vermochte auf dem Klavier dieser Rivalitäten souverän zu spielen. Vielmehr Sorgen, so erzählte er später, bereiteten ihm die eigenen Leute, Dollfuß’ Niederösterreicher, die er 1934 ins Kabinett hatte nehmen müssen : Buresch und Reither, der sich diesmal selbst in die Niederungen der Bundespolitik begab. Reither wiederum loszuwerden, hätte ihn sehr viel mehr Mühe gekostet, als Starhemberg zu entsorgen.752 In der Außenpolitik ergab sich nach dem »Röhm-Putsch« und dem Juli-Putsch ein Patt. Dollfuß hatte den Röhm-Putsch Ende Juni 1934 noch als hoffnungsfrohes Signal interpretiert, das NS-Regime sei am Zerfallen. Er hatte immer schon prophezeiht, nach Hitler werde entweder die Monarchie kommen – oder der Bolschewismus.753 Damit lag er langfristig gar nicht so falsch ; doch kurzfristig ergab sich daraus kein Hoffnungsschimmer. Die Reichswehr hatte die SA mit ihrem Gerede von einer »zweiten Welle« der NS-Revolution besiegt, aber das Regime erschien gekräftigt. Umgekehrt musste auch Hitler einsehen, dass Österreich nicht so einfach von innen
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her zu überrennen war. Die Großmachtposition des Reiches in Stellung zu bringen, war er 1934 noch nicht in der Lage. Das Konkordat und der Nichtangriffspakt mit Polen mochten erste Erfolge darstellen. Doch die Aufrüstung hatte kaum noch begonnen. Italien hatte auf den Juliputsch noch mit der Entsendung von Truppen an den Brenner reagiert (auch wenn dahinter militärisch nicht viel steckte). Hitler entsandte seinen ehemaligen Vizekanzler – und ehemaligen Abgeordneten des katholischen Zentrums – Franz v. Papen als neuen Gesandten nach Wien, um gutes Wetter zu machen. Im Jänner 1935 stand das Plebiszit über die Rückkehr des Saargebietes zu Deutschland an. Hitler wollte diese Chance nicht durch irgendeine außenpolitische Krise gefährden.
5. Die Ära Schuschnigg 1934–1936 Illegale und Befriedungsaktionen Für Schuschnigg ergab sich aus dieser Konstellation zunächst einmal eine Atempause. Auch in der Innenpolitik zeichnete sich ein Patt ab. Die Opposition von links und von rechts hatte sich die Zähne ausgebissen. Militärisch war das Regime nicht zu kippen. Das Regime wiederum konnte sich kaum Illusionen darüber hingeben, dass es aus einer Minderheitsregierung hervorgegangen war – und über keinen festen Rückhalt in der Bevölkerung verfügte. Schuschnigg unternahm fast vom ersten Tage an Versuche, zumindest Teile der Opposition zu sich herüberzuziehen. Dollfuß musste da – zumindest in der Öffentlichkeit – noch viel vorsichtiger agieren, um nur ja nicht den Eindruck des »Packelns« oder der »Schwäche« zu erwecken. Inzwischen war das Regime nach außen hin konsolidiert. Die ständische Verfassung war verabschiedet ; die militärischen Herausforderungen überstanden. Das Jahr nach dem Herbst 1934 stellte deshalb nicht zufällig den ersten Höhepunkt der »Befriedungspolitik« dar. Ihre Rationale wurde selbst von einem Skeptiker wie Hornbostel anerkannt, der in einem Rundschreiben die Devise ausgab : »Sowohl auf der Rechten wie auf der Linken gibt es eine Gruppe von Intransigenten und Unbelehrbaren, mit denen nicht zu reden ist. Damit ist zu rechnen. Zwischen den beiden Flügelgruppen und dem staatserhaltenden, positiv eingestellten Zentrum befinden sich auf beiden Seiten Bevölkerungsschichten, deren Haltung zur Regierung alle Abstufungen von wohlwollender bis zu ablehnender Neutralität aufweist. Mit diesen Leuten muß die Regierung sprechen, wenn an sie herangetreten wird.«754 Ein Irrläufer war die »Aktion Winter«, die noch auf Dollfuß zurückging. Ernst Karl Winter – mit seiner Devise : »rechts stehen und links denken« – war ein origineller Kopf, aber auch ein »Geist, der stets verneint«, der mit niemandem auskam.755 Er versuchte als dritter Vizebürgermeister von Wien nach dem Februar 1934 Brücken zur Linken zu schlagen. Doch seine »Sprechabende« entwickelten sich bloß zu
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lautstarken Foren der Opposition – jedenfalls »nicht das, was Dollfuß sich vorgestellt hat«. Auch für die Sozialisten blieb Winter bloß der »Hofnarr des Faschismus«. Im Frühjahr 1935 blies Schuschnigg die Aktion ab und übertrug die Aufgabe im Rahmen einer »Sozialen Arbeitsgemeinschaft« dem Staatssekretär Hans Grossauer, einem Vertreter der Kärntner Landarbeiter. Dahinter stand das Werben um die ehemaligen Freien Gewerkschafter. Der Ständestaat hatte nach dem Februar 1934 in Windeseile eine Einheitsgewerkschaft ins Leben gerufen, die zwar keine Zwangsmitgliedschaft kannte, aber als einzige Vertretung der Arbeiterschaft anerkannt war. Im Rahmen dieser Einheitsgewerkschaft warben Christgewerkschafter und Heimwehren (»Unabhängige«) beide um Mitglieder. Die Einheitsgewerkschaft kam bis Jahresende immerhin auf über 250.000 Mitglieder, bis 1938 dann auf 400.000, nicht so viele wie einst die Freien Gewerkschaften, aber weit mehr als ihre Konkurrenten je zuvor besessen hatten.756 In Richtung der nationalen Opposition war die »Aktion Reinthaller« unterwegs. Anton Reinthaller war vor 1933 Führer der NS-Bauernschaft ; seine Gegnerschaft zu Habicht war legendär ; er hatte schon vor dem 25. Juli Kontakte zur Regierung geknüpft ; nach dem Scheitern des Putsches schien er der gegebene Ansprechpartner, um den gemäßigten Teil der »nationalen Opposition« für eine Kooperation mit der Regierung zu gewinnen. Es fanden einige vorbereitende Sitzungen statt, schließlich bildete sich ein Zehner-Ausschuß, gemischt aus Honoratioren der älteren Generation (wie Bardolff oder dem Journalisten Hans Mauthe), Politikern der traditionellen nationalen Parteien (z. B. Hasslacher, Foppa und Langoth) und ansprechbaren NS-Funktionären (wie Reinthaller oder Riehl, der sich jetzt wiederum vehement von Hitler distanzierte). Als Schuschnigg die Herren Ende Oktober 1934 zu sich bat, platzte plötzlich Starhemberg in die Sitzung und brüskierte die Teilnehmer mit seinem Auftreten. Ob die Szene jetzt abgesprochen war oder nicht, sie war typisch für die Widerstände, der all diese Initiativen begegneten.757 All die Befriedungsaktionen nach beiden Seiten konnten auf ein Motiv rechnen : Das Streben nach einer Amnestie. Nach den Aufständen waren Tausende in die Anhaltelager gewandert ; eine Trumpfkarte aller »Befriedungsagenten« war die Aussicht, gegen die Zusage politischen Wohlverhaltens die Inhaftierten wieder frei zu bekommen. Selbst Starhemberg plädierte nach dem Juliputsch für eine großzügige Amnestie für die »Februarverbrecher« (schon einmal, um die Anhaltelager für die Neuankömmlinge freizubekommen).758 Auf diese Weise ließ sich vielleicht zumindest ein Waffenstillstand zwischen der Regierung und den Untergrundbewegungen erreichen, nach der Devise : Gebrannte Kinder scheuen das Feuer. Gegebenenfalls konnte das Argument nachhelfen, man müsse – je nachdem – im Sinne der antimarxistischen oder antinazistischen Solidarität das kleinere Übel wählen. Doch sobald man über den Bereich von individuellen Gnadenerweisen hinauskam, begannen die eigentlichen Schwierigkeiten.
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Es fanden sich nach beiden Seiten genügend »Gemäßigte«, die aus Überzeugung oder Kalkül dem Weg der Gewalt abschworen und sich auf einen Dialog mit dem Regime einlassen wollten. Dabei musste es sich um authentische Repräsentanten ihrer jeweiligen Lager handeln. Es genügte nicht, wie Schuschnigg es später selbst ausdrückte : »Man kann nicht jemandem die Funktionäre köpfen und einen neuen so quasi sich selbst aussuchen, mit dem man verhandelt.«759 Vor allem aber : Um ihnen die Möglichkeit zu geben, sich in ihrem eigenen Lager durchzusetzen, musste man diesen Gesprächspartnern zumindest eine rudimentäre Organisation bewilligen, sie Besprechungen und Versammlungen abhalten lassen, ihnen Geld- und Machtmittel in die Hand geben. Wie immer man diese Strukturen auch benannte, letztendlich liefen diese »Vertrauensmännergemeinschaften« auf die Zulassung von Parteien unter einem anderen Namen hinaus, zumindest auf eine »Fraktionierung« der VF. In diesem Punkt wiederum war das Regime nicht in der Lage, oder nicht willens, über seinen Schatten zu springen. Schuschnigg hat im Rückblick geurteilt, die Christgewerkschafter wollten die Sozialdemokraten zwar integrieren, aber ihre eigene neugewonnene Führungsposition nicht infrage stellen. Ganz ähnlich stand es mit der Integration der »Nationalen«, die vom Apparat der VF mit Argusaugen verfolgt wurden. Auch die Heimwehren waren der Meinung, sie seien selbst national genug, man brauche sich da gar nicht erst auf die Suche nach »staatstreuen betont Nationalen« zu begeben. Ein Durchbruch war weder in der einen noch in der anderen Richtung zu erzielen. Ein Minimalertrag bestand allenfalls im regelmäßigen Kontakt, der mithalf, eine neuerliche Eskalation hintanzuhalten. Die »Illegalen« beschränkten sich nach dem Herbst 1934 im Wesentlichen auf die propaganda fidei, Streu- und Schmieraktionen von Flugblättern und Slogans ; man verzichtete auf öffentliche Herausforderungen als »Sinnlosigkeiten, die oft nur eine Gefährdung der Anhänger« bedeuteten ; beliebt waren Hakenkreuze, angebracht auf schwer zugänglichen Berghängen oder Schornsteinen (oder die drei Pfeile der Sozialdemokratie, die 1932 als neues »Kampfabzeichen« adoptiert worden waren, als Symbol für den Kampf gegen die drei Feinde : Kapitalismus, Faschismus und Reaktion). Sprengstoffattentate gehörten in Hinkunft zu den Seltenheiten.760 Auf der Linken bildete sich das Netzwerk der Revolutionären Sozialisten, setzten sich anfangs auch die Kommunisten in Szene, die über mehr Erfahrung im »Untergrundkampf« verfügten und eine radikale Langzeitperspektive mit einer erstaunlich flexiblen Taktik verbanden, die jeglichen »revolutionären Stolz« hintanstellte, insbesondere, seit sie auf dem VII. Kongress der Komintern 1935 die »Volksfront« auf ihr Banner geschrieben hatten, das Bündnis mit »antifaschistischen« Bürgerlichen.761 Die Opposition von links und rechts nahm zu den Bürgerkriegen des Jahres 1934 anfangs offiziell eine paradoxe Haltung ein. Otto Bauer und das Brünner »Auslandsbüro der österreichischen Sozialdemokraten« schmückte sich, wie Norbert Leser es
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Propaganda-Abzeichen Abbildung 43 : Ein schwer zugängliches Hakenkreuz wird eingeholt Abbildung 44 : Verfeindete Nachbarn
bezeichnete, mit »fremden Federn«. Sie vereinnahmten den Februar-Aufstand, der gegen ihren Willen begonnen worden war. Hitler und die honorigen Aushängeschilder, die sich der Regierung als Vermittler zur »nationalen Opposition« anbiederten, wiesen hingegen jegliche Verbindung mit Habicht und seinen Putschisten weit von sich. Neben Reinthaller war in dieser Beziehung vor allem Hermann Neubacher zu nennen, ein Mann mit guten Kontakten nach allen Seiten, vor 1933 Geschäftsführer einer Wohnbaugenossenschaft im Umfeld der Sozialdemokratie, über verwandtschaftliche Kontakte auch seit Langem mit Dollfuß bekannt, darüber hinaus lange Zeit Obmann des überparteilichen »Österreichisch-Deutschen Volksbundes«, der Anschluss-Organisation par excellence. Doch weder Reinthaller noch Neubacher vermochten sich unter den österreichischen »Illegalen« durchzusetzen. Hitler billigte ihre Bemühungen zur Schadensab wicklung nach dem Juli 1934, erteilte ihnen aber nicht die höheren Weihen als Landesleiter. Auch auf der Linken war der Versuch nicht von Erfolg gekrönt, die Untergrundbewegung unter die Führung von Vertrauensmännern Otto Bauers zu
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stellen. Seine »AZ-Clique« mit Oskar Pollak und Otto Leichter war nicht populär ; das »Fünfer-Komitee« der »Revolutionären Sozialisten« emanzipierte sich nach der Verhaftung des ersten Vorsitzenden Karl Hans Sailer von den Gängelungsversuchen des Exils. Ursprünglich war nur einer der fünf, Franz Rauscher, als Verbindungsmann zur Provinz ausersehen gewesen. Nach der Brünner Konferenz zu Sylvester 1934/35 übernahm den Vorsitz der Autodidakt Josef Buttinger, ein Kärntner Bezirkssekretär und gebürtiger Oberösterreicher, aus den sprichwörtlichen kleinen Verhältnissen am Land kommend, aber mit einer reichen amerikanischen Freundin im Hintergrund. Die offiziöse Geschichte der RS vermerkt säuerlich, Buttinger – der unter dem Pseudonym Gustav Richter verkehrte – sei bloß für eine Spitzenposition ausersehen worden, weil er »unauffällig und in der Politik unbekannt« war. Jedenfalls : Die RS wurden auch tatsächlich von Arbeitern geführt. Die alte Führung und die Wiener Intellektuellen genossen kein großes Renommee mehr.762 Leider gibt es für die andere Seite der »Illegalen« kein solches Werk wie die ironische, zum Teil auch selbstironische Darstellung Buttingers, die in den Fünfzigerjahren in der SPÖ für Aufregung sorgte. Die unveröffentlichten Erinnerungen Alfred Persches und Kurt Knolls, die für die verschiedenen Flügel der Nationalsozialisten stehen, bieten keinen so umfassenden Überblick. Dennoch lassen sich gewisse Parallelen erkennen. Die österreichische NSDAP hatte die Entwicklung im Reich nicht mitgemacht. Die SA als Kampftruppe – mit Persche als langjährigem Stabschef – war hier nicht entmachtet worden, sondern hatte in der Illegalität innerparteilich eine Aufwertung erfahren. Auch die Jugendverbände, HJ und BdM, konnten einem Aktivismus frönen, der sich sehr vom disziplinierten Alltag einer »Staatsjugend« unterschied. Bei den illegalen Nationalsozialisten setzte sich mit Hauptmann Leopold als Landesleiter (ab Jänner 1935) der Typ des hemdsärmeligen Aktivisten »duro e puro« durch. Schuschnigg soll einmal entsetzt ausgerufen haben : Leopold sei »doch nicht einmal Akademiker«. Selbst Goebbels, der mehr Verständnis für revolutionäre Allüren aufbrachte, notierte : Die Wiener Nazis seien »sehr opferbereit, aber zur praktischen Politik kaum zu gebrauchen«. Auch Leopolds Gauleiter wie Eigruber in Oberösterreich oder Hofer in Tirol entsprachen diesem Muster. Bloß Hugo Jury in Niederösterreich – der Hausarzt der Familie Raab – ragte über das Haudegen-Niveau hinaus und war auch für Reinthaller akzeptabel, der Leopold für eine Niete hielt. Beim Fünfer-Komitee der RS war es Manfred Ackermann, der als Überbleibsel der ursprünglichen Führungsgarnitur ein Verbindungsglied zur alten Partei darstellte. Beide gerieten deshalb auch früher oder später zwischen die innerparteilichen Fronten. Unterschiedlich war die zeitliche Perspektive der beiden illegalen Bewegungen : Buttinger und seine RS setzten auf die lange Perspektive : Revolutionäre Erhebung sei in absehbarer Zeit keine zu erwarten. Leopold setzte auf die baldige Machtergreifung, zumindest auf einen weiteren Aufstand, der Hitler zum Eingreifen nötigen würde. Als Leopold Mitte 1935
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verhaftet wurde, ging der Vorsitz eine Zeit lang auf seine Kärntner Rivalen Klausner und Rainer über ; doch er amtierte auch nach seiner Entlassung weiter.763 Konzessionen machen mussten die Illegalen beiderlei Gestalt beim Boykott des Regimes und seiner Organisationen, den sie ursprünglich auf ihre Fahnen geschrieben hatten : Einheitsgewerkschaft und VF sollten mit Verachtung gestraft werden. Doch über kurz oder lang setzte sich die Einsicht durch : We are their leaders, we must follow them. Die Devise lautete, die RS müssten dort sein, wo die Massen sind. An die Stelle des riskanten Massenprotests trat die konspirative Zellenbildung in feindlichen Organisationen. Die Rendite dafür stellte sich im Herbst 1936 ein, als bei den Wahlen zu den Betriebsvertrauensmännern in den Großbetrieben selbst nach regierungsinternen Einschätzungen Sozialisten und Kommunisten gut abschnitten. Die Kommunisten hatten anfangs bei Metallern und Privatangestellten sogar führende Positionen errungen, weniger bei Eisenbahnern oder Bauarbeitern. Die RS bekannten sich zur Diktatur des Proletariats, wehrten sich jedoch vehement gegen die kommunistische Parole von der »Einigkeit von unten« und eroberten die verlorenen Positionen wieder zurück.764 Bei der mittelständischen Beamtenklientel der NSDAP verstand sich der Beitritt zur VF nahezu von selbst. Eine gewisse Spannung blieb auf beiden Seiten zurück, zwischen den Anhängern, die den Weg des geringsten Widerstandes gehen wollten, und den illegalen Kadern, die zur Intransigenz neigten. Es war vielleicht kein Zufall, dass die Unterwanderung des Regimes, und nicht die Konfrontation, in Kärnten mit seinem dominanten nationalen Lager besonders erfolgversprechend erschien. Dahinter spielte sich das Räuber-und-Gendarm-Spiel zwischen der Polizei und den »Illegalen« ab. Immer neue Wellen von Verdächtigen wurden in die G efängnisse eingeliefert, im Zuge der diversen Amnestien entlassen – und von neuen ersetzt. Große Erfolge meldeten die Sicherheitsbehörden z. B. Anfang 1935 (weil es gelungen war, einen Polizeispitzel in die Brünner Konferenz einzuschleusen oder in Oberösterreich die illegale Gauleitung der NSDAP zur Aufgabe zu überreden), dann noch einmal um die Jahreswende 1937/38.765 Freilich : Bei den hinausposaunten Fahndungserfolgen der Polizei sind zuweilen wohl genauso quellenkritische Zweifel angebracht wie bei den Heldentaten der Illegalen aller Seiten, wie sie nach 1938 oder nach 1945 kolportiert wurden. Eine Untergrundbewegung ist kein eingetragener Verein. Offizielle Hierarchien entpuppten sich vielfach als Fiktion. »Nicht der ranghöhere, sondern der energischere ist der Bestimmende.« So war der reichsdeutsche Konsul in Graz mit der Frage schier überfordert, wer sich denn aller gerade als der wahre Gauleiter der Steiermark ausgebe. Reinthaller notierte in seinem »Gauakt« nach 1938 auf die Frage : »Sind Sie aus der Partei ausgeschlossen worden ?« – »Laut Gerüchten zweimal.« Hitler und die Parteistellen im Reich hielten sich da vielfach bedeckt, nicht aus Rücksicht auf das diplomatische Nichteinmischungsgebot, sondern aus einem »so zialdarwinistischen« Kalkül, wie es für Hitlers Strategie des d ivide et impera vielfach
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typisch war. In einem einschlägigen Bericht war der hübsche Zirkelschluss zu lesen. »Unumstritten ist nur der Führer, der vom Reich her legitimiert wird ; die Legitimation kann aber nur derjenige erhalten, der sich als Führer durchgesetzt hat.«766 Entlassungen altgedienter Funktionäre, die – aller »konspirativen Karenz« zum Trotz – auf ihre alten Positionen zurückkehren wollten, mochten gelegentlich fast ebenso destabilisierend wirken wie Verhaftungen. Sympathisanten, die nach 1938 vermeinten, sich unsterbliche Verdienste um die Bewegung erworben zu haben, wurden von Bürckel mit der nüchternen Frage abgefertigt : »Haben Sie Beiträge bezahlt ?« Wenig glücklich war man auch mit dem bekannten Industriellen, der zwar bezahlt hatte, die Spenden aber durch sein Dienstmädchen abliefern ließ. Manche verbrachten Jahre damit, ihren Status als verwegene »Illegale« zu dokumentieren – und ebenso viele, ihn nach 1945 wieder zu tilgen. Als Spitze des Eisbergs ist die SABrigade 6 unter dem Kommando eines Majors Jäger bekannt geworden, die es vor 1938 nie gegeben hatte, sondern die erst nach dem Anschluss erfunden wurde, als karrierefördernde Münchhauseniade.767 Klar war, dass im Wettbewerb der Illegalen die NS-Seite die besseren Karten hatte. Die Sozialdemokraten waren durch die Niederlage im Februar härter getroffen worden als die Nazis durch den gescheiterten Putsch. Die Übertritte zu den radikaleren Oppositionellen, Nationalsozialisten und Kommunisten, hatten schon vor dem Februar für Nervosität gesorgt. Sie erfassten jetzt auch prominente Genossen. Bekannt ist der Fall Richard Bernascheks, der aus dem Gefängnis floh und zuerst nach München, dann nach Moskau ging. In der Arbeiterhochburg Steyr, einem der Zentren der Kämpfe im Februar 1934, schloss sich der Zentralbetriebsratsobmann August Moser den Kommunisten an, Bürgermeister Franz Sichelrader den Nationalsozialisten. Gerhard Botz schätzt, in der Provinz dürfte ein Drittel der Schutzbündler den Weg zu den Nazis gefunden haben, in Wien weniger. Die Nazis waren zwar in diverse einander heftig befehdende Cliquen zerfallen, die Statistik verzeichnet in diesem Zusammenhang auch den einen oder anderen Todesfall, der als »Fememord« eingestuft wurde. Ihre betuchteren Anhänger hielten sich nach dem Parteiverbot und erst recht nach dem Juli 1934 zurück ; die Mitgliedschaft war immer schon durch beträchtliche Fluktuationen charakterisiert gewesen ; ein Drittel der »Alten Kämpfer« aus der Zeit vor 1933 dürfte der Partei wieder verloren gegangen sein ; doch eine dauerhafte Abwendung war per Saldo nicht zu konstatieren.768 Dieser Vorsprung der NSDAP lag an den Rahmenbedingungen. Glaise-Horstenau formulierte es einmal so : Dass die Kreise der Linken in ihrer Betätigung weit vorsichtiger seien als die nationalen Kreise, sei darauf zurückzuführen, »daß Russland von Österreich viel weiter entfernt sei als das Deutsche Reich«. Der Hinweis war bloß insofern unfair, weil die RS mitnichten an Russland orientiert waren. Brünn lag zwar näher, verfügte aber nicht über die Möglichkeiten der beiden totalitären Großmächte. Die Sozialdemokraten erhielten ein klein wenig Unterstützung von
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den sudetendeutschen Genossen ; die illegale, jetzt wöchentlich erscheinende »AZ« konnte nach Österreich geschmuggelt werden. Aber Beneš hielt im Großen und Ganzen das Versprechen, das er dem österreichischen Gesandten nach dem Februar-Aufstand gegeben hatte : Einen »zweiten Habicht« werde er in der ČSR nicht dulden. Ministerpräsident Hodža verbot dann Ende 1937 sogar den Druck der AZ in der Tschechoslowakei.769 Das Deutsche Reich hingegen organisierte ein Hilfswerk für die Illegalen, die in Wöllersdorf saßen oder sonst wie gemaßregelt worden waren. Für die NSDAP sprach – jenseits aller propagandistischen Coups, zum Teil auch der einflussreicheren gesellschaftlichen Position ihrer Sympathisanten – in erster Linie der Erwartungs horizont, dass sie früher oder später ja doch an die Macht kommen würde. Die vielzitierte Zivilgesellschaft reagierte darauf vielfach mit privaten Rückversicherungsabkommen. Jeder »Vaterländische«, so hieß es, habe seinen »Leibnazi« – und umgekehrt.770 Zum Unterschied von der sozialdemokratischen Arbeiterbewegung trennten die beiden antimarxistischen Lager keine so tiefen sozialen Gräben. Ideologische Gralshüter haben diese opportunistischen Begleiterscheinungen ihres hehren Kampfes schon damals nicht goutiert. Todesmutige Idealisten in allen Ehren, aber : Aus der Perspektive von Bürgern, die – zu Recht – der Meinung waren, dass sie in diesem Ringen keine entscheidende Rolle spielen könnten, das Ringen aber sehr wohl entscheidende Folgen für sie haben könnte, war es eine sehr rationale Überlebensstrategie. Die Kehrseite dieser privaten Strategien im Schatten der großen Politik war in allen Umbruchssituationen freilich der ebenfalls allgegenwärtige Dienst am Altar der Santa Denunziata … Das Ende der Heimwehren und das Veto gegen die Monarchie Schuschnigg war zwar nicht der längstdienende Bundeskanzler der Ersten Republik. Diese Statistik führt nach wie vor Seipel an, der immer wieder taktische Rückzüge antrat, um aus dem Hintergrund zu wirken. Aber er war derjenige, der von 1934 bis 1938 die längste Zeit an einem Stück absolvierte. Seine Regierungszeit lässt sich in drei fast gleich lange Abschnitte gliedern : Das ruhige Jahr bis zum Oktober 1935 ; die diversen Weichenstellungen zwischen Oktober 1935 und Oktober 1936 ; den Abgesang bis zum Anschluss im März 1938. Im Rückblick betrachtet war 1935 für den »Ständestaat« das Jahr, wo die Welt noch in Ordnung war. Dennoch begannen sich auf beiden Seiten des R egierungslagers im Laufe des Jahres kritische Stimmen bemerkbar zu machen. Bei den alten Christlich sozialen waren es Reither, Kunschak oder Kollmann, die offen frondierten ; auch der Wiener Bürgermeister Schmitz wurde immer wieder in diesem Zusammenhang genannt, als regimekonforme Personalreserve hingegen der oberösterreichische Landeshauptmann Gleissner. Es war bezeichnend, dass man all den Dissidenten gute
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Kontakte nach allen Seiten nachsagte, nicht bloß – wie in der Nachkriegszeit gerne betont – zu den Sozialdemokraten, sondern auch und besonders zu Legitimisten und Nationalen. Die Heimwehren hatten einen 50%igen – oder doch 49%igen – Anteil an der Firma »Ständestaat« übernommen, aber sie spürten nur zu gut, dass diese Aktien einer rapiden Entwertung ausgesetzt waren. An der Basis verfügten die »Schwarzen« einfach über die stärkeren Bataillone, über den besseren Zusammenhalt und die größere Routine, während die Heimwehren sich als Regierungspartei zur bevorzugten Anlaufstelle aller Konjunkturritter entwickelten. Sie verkörperten immer noch ein gehobenes gesellschaftliches Milieu, aber kaum mehr politische Stoßkraft. Bei den »alten Kämpfern« der Heimwehren begann sich der Unmut zu regen, nicht zuletzt über die Untätigkeit Starhembergs, der sich bemüßigt sah, deshalb gegen »die Schildträger eines blöden, ungesunden Radikalismus« vom Leder zu ziehen. Als Reaktion holten Schuschnigg und Starhemberg nach der Sommerpause zum gemeinsamen Befreiungsschlag aus. Schuschnigg entledigte sich bei der Regierungsumbildung am 17. Oktober 1935 der niederösterreichischen Clique (Reithers und Buresch’, der bloß noch als Minister ohne Portefeuille im Kabinett zurückblieb). Starhemberg wiederum schiffte die beiden unsicheren Kantonisten Fey und Neustädter-Stürmer aus. Fey wurde – wie oft vermerkt, mit erhöhten Bezügen – auf den Posten des DDSG-Präsidenten abgeschoben und musste auch die Führung der Wiener Heimwehren abgeben.771 Als Ersatzleute wurden auf der einen Seite junge Experten herangezogen, die keine politischen Schwergewichte mehr waren : Ludwig Strobl (Landwirtschaft), ein Widersacher Reithers, der zwar auch aus Niederösterreich kam, die Agrarpolitik aber wieder mehr im Interesse der westlichen Länder anging,772 und Josef Dobretsberger (Soziales), ein klassischer »Linkskatholik« von der Grazer Universität, der nach 1945 als Mitläufer der KPÖ endete ; zwei Vertrauensmänner Starhembergs auf der anderen Seite : Edi Baar (Inneres) und Starhembergs alter Freikorps-Begleiter und Anwalt Ludwig Draxler (Finanzen).773 Damit hatte freilich erst die erste Runde des Köpferollens begonnen. Die Chefs hatten sich der lästigen Kritiker in den eigenen Reihen entledigt. Jetzt stand einer direkten Konfrontation nichts mehr im Wege. Dabei handelte es sich weniger um einen persönlichen oder einen ideologischen Konflikt, sondern um eine strukturelle Unverträglichkeit. Die Heimwehren stellten im Rahmen des autoritären Regimes einen Fremdkörper dar. Ihr Anteil an der Macht beruhte auf einem Abkommen zwischen Parteien, wie es sie eigentlich nicht mehr geben sollte. Die Christlichsoziale Partei hatte sich aufgelöst, der Heimatblock war mit dem Nationalrat in der Versenkung verschwunden. Doch die Heimwehren beriefen sich auf ihre Identität als paramilitärischer Verband, der in zwei Bürgerkriegen gefochten hatte. Das im Wesentlichen von ihnen getragene Schutzkorps war im Zuge dieser Auseinandersetzungen 1934 auf über 40.000 Mann angeschwollen.
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Das Nebeneinander von staatlicher Exekutive und Wehrverbänden sorgte für Friktionen. Zwischen Bundesheer und Heimwehren kam es 1934/35 genauso zu Reibereien und Zusammenstößen wie zwischen den verschiedenen Wehrverbänden. Das reguläre Offizierskorps empfand die Heimwehren zunehmend als Konkurrenz, nicht mehr als Brüder im Geiste. Soldaten beschwerten sich über die bessere Entlohnung der Schutzkorpsleute oder über die Zumutung, »Offizieren« dieser »Wochenendsoldaten« die Ehrenbezeugung leisten zu müssen. Der Logik einer Bewegung, die sich gerne auf Mussolinis »stato totalitario« berief, entsprach die Vereinheitlichung und Verstaatlichung der bewaffneten Macht. Als erster Schritt wurden die diversen Wehrverbände einem einheitlichen Kommando der »Freiwilligen Miliz – Österreichischer Heimatschutz« unterstellt. Starhemberg übernahm damit auch das Kommando über die kleineren Rivalen : Freiheitsbund, Frontkämpfer und Ostmärkische Sturmscharen (die als Kanzlertruppe stark expandiert hatten). Der nächste Schritt in der Dialektik der »Totalität« freilich behagte dem Fürsten weit weniger : Die gesamte Miliz sollte dem Bundesheer unterstellt werden, als eine Ersatzreserve, ohne politisches Eigenleben. Bevor es so weit war und dieser Konflikt eskalierte, klammerten sich Starhemberg und Schuschnigg im Winter 1935/36 noch einmal an ein Projekt, das einen gemeinsamen ideologischen Fluchtpunkt darstellte, nämlich die Weichenstellung in Richtung Monarchie. Der »Christliche Ständestaat« hatte sich in der Frage der Staatsform, ganz wie bisher auch die Heimwehren, nicht eindeutig festgelegt. Öster reich wurde in der Mai-Verfassung 1934 neutral als »Bundesstaat«, nicht länger als Republik bezeichnet. Nach dem Tode Dollfußʼ bekleideten mit Präsident Miklas, Schuschnigg als Kanzler und Starhemberg als Führer der »Vaterländischen Front« drei Männer die führenden Stellen des Staates, die bei allen sonstigen Differenzen im Grunde ihres Herzens allesamt Legitimisten waren. Schuschnigg betrachtete die »Neubegründung« der Monarchie (wohlgemerkt : nicht die Restauration !) als »Krönung« der ständischen Verfassung : Diese Perspektive entsprach seiner persönlichen Überzeugung774, aber auch der Logik des Ständestaates, wie ihn Othmar Spann konzipiert hatte. Die politische Führung als eigener »staatstragender« Stand, der nicht aus Wahlen »von unten« hervorgehen sollte, sondern »von sich selber herkommt«775, ließ sich gut mit der Krone als Spitze der Exekutive vereinbaren. Dazu kam die außenpolitische Komponente. Die Restauration war ein Gegenentwurf zum Anschluss, der sich weit über die Niederungen der Alltagspolitik und den bloßen Machterhalt des herrschenden Regimes erhob. Schuschnigg gab im Gespräch mit Otto von Habsburg auch offen zu, dass »das heutige System entweder in eine Restauration münden oder zusammenbrechen muß«.776 Freilich : Nicht bloß das Dritte Reich, sondern auch seine Gegner, die Kleine Entente, reagierten allergisch auf jedes Anzeichen restaurativer Bestrebungen in Österreich. Über das Endziel einer Rückkehr der Habsburger waren sich Otto und Schuschnigg einig ; doch nicht
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über das Tempo und den Zeitplan.777 Schuschnigg hatte in erster Linie die realpolitischen Schwierigkeiten im Auge und wollte den geeigneten Moment abwarten ; Otto hingegen sprach im Hinblick auf die Aufrüstung Deutschlands von versäumten Gelegenheiten : Die Zeit arbeite nicht für, sondern gegen Österreich. Daraus ergab sich in der Praxis eine schwierige Gratwanderung. Schuschnigg seufzte deshalb rückblickend : »Otto hat es uns nicht immer leicht gemacht, weil er ununterbrochen gepusht hat und erklärt, jetzt sei der Moment, jetzt oder nie.«778 Ein erster, in diesem Fall sogar schon von Dollfuß – und seinem Heeresminister Schönburg-Hartenstein – angedachter Schritt erfolgte im Juli 1935 mit der Aufhebung der Habsburger-Gesetze von 1919. Die Details handelte Staatssekretär Karwinsky mit Otto aus. Die Habsburger hatten seither wiederum das Recht, jederzeit nach Österreich zurückzukehren, ohne deshalb auf irgendwelche Rechte verzichten zu müssen. Im Hintergrund stand eine stillschweigende Abmachung : Otto würde als Entschädigung für den Vermögensverlust eine Apanage ausbezahlt bekommen – allerdings nur unter der Bedingung, im Ausland zu bleiben. Knapp vor dem Anschluss wurde dann sogar die Rückgabe von Mürzsteg, ja sogar der Albertina an die Erzherzog Karl-Linie erwogen. Inzwischen wurde Erzherzog Eugen als populärer Heerführer herumgereicht, politischer Ehrgeiz mehr noch der damals erst 21-jährigen Erzherzogin Adelheid nachgesagt, der Schwester Ottos. Im September 1935 ergriff Schuschnigg dann bei einem Treffen mit Otto im elsässischen Mühlhausen die Initiative.779 Sein Vorschlag lief darauf hinaus, Otto und Starhemberg einander näherzubringen und ihre brachliegenden Energien zu bündeln. Otto mit seinen französischen Kontakten und Starhemberg mit seinen italienischen Verbindungen sollten eine mittlere Linie finden. Dahinter stand wohl auch das innenpolitische Kalkül : Die Heimwehren sollten mit der Restauration als ideologisch kompatiblem Fernziel auf eine Aufgabe eingeschworen werden, die sie von den Frustrationen des Regierungsalltags ablenkte. Als erstes Resultat dieser Strategie sandte Starhemberg im Dezember 1935 eine hochrangige Delegation, bestehend aus Minister Draxler, Staatssekretär Karwinsky und Sicherheitsdirektor Revertera, zu Otto nach Schloss Steenockerzeel in Belgien. Ihre Botschaft lautete : Starhemberg wollte sich verpflichten, die VF auf einen legitimistischen Kurs zu bringen. Tatsächlich sprach er beim Bundesappell im Jänner 1936 öffentlich davon, es sei vorstellbar, »daß der Zeitpunkt kommt, wo die Begriffe Habsburg und Österreich wieder zu Beider Glück zusammenkommen«. Er erwartete sich dafür im Gegenzug allerdings die Unterstellung der legitimistischen Bewegung in Österreich unter sein Kommando und gewisse Sondervollmachten. Auch wenn der Fürst den Vergleich mit Horthy zurückwies, die Stellung, die er anstrebte, als bevollmächtigter Beauftragter seines Kaisers im Exil, hatte gewisse Parallelen mit der eines Reichsverwesers auf Zeit.
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Österreicher im Exil Abbildung 45 : Otto Bauer Abbildung 46 : Otto von Habsburg mit Besuchern aus Österreich Abbildung 47 : Das Auslandsbüro der Sozialdemokraten im Haus des Brünner Konsum
Schuschnigg sah in der »Wiedererrichtung« der Monarchie eine rein ö sterreichische, sprich : »kleinösterreichische« Angelegenheit, Starhemberg hingegen ein revisionistisches Konzept – nichts weniger als die Rückkehr zur Reichsidee, die auf ganz Mitteleuropa ausstrahlen sollte, in erster Linie zulasten der Nachfolgestaaten, aber im Hintergrund natürlich auch als ideologische Konkurrenz für das Dritte Reich. In einer Besprechung am 12. Jänner 1936 – abgehalten in Anwesenheit Schuschniggs und der VF-Spitze im barocken Saal des Hofkriegsrates, dem neuen Hauptquartier der Freiwilligen Miliz – sprach er von der Krone, die als »Magnet auf die Nachbarvölker« wirken sollte, wie ein »Sprengmittel« für traditionslose Staaten. Er hätte »an der ganzen Frage des Legitimismus keinerlei Interesse, wenn er nicht die Möglichkeit erkennen würde, von Österreich aus mit der Zeit eine Neuordnung des mitteleuropäischen Raumes verwirklicht sehen zu können.« Hoyos formulierte es kurz darauf pointiert : »Das kleine, ewig auf seine Unabhängigkeit pochende Österreich von heute ist eben nicht das Ziel.«780 Doch schon der erste Schritt führte zu internationalen Komplikationen. Starhemberg sollte Österreich Ende Jänner 1936 bei den Begräbnisfeierlichkeiten für König
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Georg V. in London vertreten, dort gewisse vorbereitende Gespräche führen und auf der Rückreise Otto in Steenockerzeel selbst seine Aufwartung machen. Doch die Initiative ging nach hinten los. Die Westmächte – selbst die Briten – verhielten sich ablehnend. Schlimmer noch : Auch Mussolini, der Schuschnigg im Mai 1935 noch grünes Licht für eine Lösung im monarchischen Sinne gegeben hatten, ruderte jetzt zurück. Prinzregent Paul von Jugoslawien hingegen ließ keinen Zweifel daran : Im Falle eines österreichischen Flirts mit den Habsburgern werde er »marschieren« lassen. Das Dritte Reich brauchte dabei keinen Finger zu rühren. Starhemberg gab bei seiner Rückkehr zu, man müsse die Restaurationsfrage wegen des großen Lärms der Kleinen Entente auf absehbare Zeit vertagen. Er blieb zwar dabei : »S.M. müsse sich für die große Möglichkeit reservieren.« Doch inzwischen wäre es am besten, er würde für ein, zwei Jahre eine Weltreise unternehmen. Der französische Gesandte Puaux zitierte ihn : Otto sei ja noch jung, er könne ein Dutzend Jahre warten.781 Kaum waren die Hoffnungen auf eine Zukunftsperspektive, die an die glorreiche Vergangenheit anknüpfte, wieder in die weite Ferne gerückt, gewann die Krisenstim mung erneut die Oberhand. Starhemberg unkte schon Mitte März 1936, die innere Lage sei »unhaltbar« und mache eine Entscheidung notwendig. Als Damoklesschwert schwebte über den Heimwehren die Einführung der allgemeinen Wehrpflicht, die allen paramilitärischen Verbänden die Existenzberechtigung entzog. Bereits am 1. April verkündete Schuschnigg dann die Rückkehr zur allgemeinen »Dienstpflicht« – formell ein Bruch des Vertrags von St. Germain, den freilich niemand mehr besonders tragisch nahm, seit Hitler schon ein Jahr zuvor diesen Schritt getan hatte. Starhemberg reagierte darauf mit einer trotzigen Rede, eine Auflösung und Abrüstung der Heimwehren könne es nur über seine Leiche geben. Entweder müssten die Heimwehren jetzt auch das Heeresministerium übernehmen – oder die Miliz müsse der VF unterstellt werden. Noch war Starhemberg ja offiziell Frontführer der VF. Schuschnigg konterte, er werde jetzt persönlich auch die VF übernehmen. Die Demontage der Heimwehren war kaum mehr abzuwenden. Nur über den geordneten Rückzug wurde noch verhandelt. Schuschnigg war bereit, einen Heimwehrmann als Generalsekretär der VF einzusetzen – und als Bauernopfer den Sozialminister Dobretsberger fallen zu lassen, der sich bei den Heimwehren unbeliebt gemacht hatte, weil er fast alle Initiativen seines Vorgängers Neustädter-Stürmer – wie z. B. den Freiwilligen Arbeitsdienst – rückgängig zu machen versuchte.782 Doch sobald sich die Umrisse dieses Kompromisses abzeichneten, machten sich diverse Quertreibereien bemerkbar. Der Freiheitsbund, der Wehrverband der Christgewerk schafter, alte Rivalen der Heimwehren, aber auch längst unterwandert von Oppositionellen aller Lager, hatte für den 10. Mai 1936 einen Aufmarsch am Heldenplatz geplant – und Schuschnigg dazu eingeladen. Wie wir heute wissen, hatte die Kosten dafür – mit ausdrücklicher Genehmigung Hitlers – die reichsdeutsche Gesandtschaft übernommen.
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Die Heimwehren fühlten sich durch ein Flugblatt des Freiheitsbundes provoziert und kündigten eine Gegenkundgebung an, die Fey für einen Auftritt nützte, (Fey bekleideteder zwar keine Funktion mehr, verfügte aber in Wien nach wie vor über beträchtlichen Anhang.) Schuschnigg schloss sich daraufhin demonstrativ dem Zug des Freiheitsbundes an. Zwar lehnte Starhemberg – erwartungsgemäß – jede Verantwortung für das Auftreten Feys ab. Doch auch Starhemberg begann den Kompromiss infrage zu stellen, oder besser gesagt : Er wollte die Sache zuvor lieber noch mit Mussolini besprechen. Als Türöffner gratulierte er – in seiner Eigenschaft »als Führer des österreichischen Faschismus« – dem Duce in einem überschwenglichen Telegramm zur Einnahme von Addis Abeba. Schuschnigg beschied Starhemberg daraufhin noch am selben Tag, dem 12. Mai, zu sich und teilte ihm seine Entlassung als Vizekanzler mit. Die Episode war ein weiteres Paradebeispiel für die Art und Weise, wie innenpolitische Machtkämpfe bevorzugt über Bande ausgetragen, als Wunsch des Auslands kaschiert wurden. Lange hieß es in diesem Zusammenhang, Schuschnigg habe – der Westmächte halber – seinem Stellvertreter die Berufung auf den Faschismus übelgenommen. Diese Interpretation überzeugt nicht : Starhemberg hatte schon früher ähnliche Telegramme komponiert. Nicht Schuschnigg wollte sich von Mussolini distanzieren, Starhemberg wollte ganz offensichtlich Mussolini für seine persönlichen Interessen mobilisieren. Was Schuschnigg seinem aufmüpfigen Vizekanzler übelnahm, war der Appell an einen ausländischen Regierungschef als oberste Instanz in innenpolitischen Fragen. Mussolini durchschaute das Manöver Starhembergs selbstverständlich. Der einleuchtenden These, dass ein autoritäres System eine einheitliche Führung verlange, konnte und wollte er nicht entgegentreten. Er legte nur Wert darauf, dass Starhemberg »nichts weiter passiere«. Staatssekretär Suvich erklärte Starhembergs Freund Mandl, die »mezzadria« – das Prinzip : halbe-halbe – eigne sich für die Landwirtschaft, nicht für die Politik. Der bisherige italienische Gesandte Gabriele Preziosi (1933–36) war ein eingefleischter Anhänger Starhembergs. Seine Ablöse durch Francesco Salata – einen Altösterreicher, vor dem Krieg sogar Landtagsabgeordneter in Istrien, jetzt zunächst Chef des neugegründeten Kulturinstituts in Wien – war ein Beweis seines Wohlwollens für Schuschnigg.783 Die Heimwehren waren verstört. Die Bewegung rückte von der Regierung ab, nicht bloß rein räumlich – denn die Bundesführung übersiedelte nach Linz. Offiziell stellten sie mit Edi Baar ein paar Monate lang auch weiterhin den Vizekanzler. Starhemberg gab die Devise aus, man solle keine Positionen voreilig räumen. Er selbst betraute seinen oberösterreichischen Stellvertreter Wenninger mit der Geschäftsführung und ließ den Sommer über wenig von sich hören. Die Gefolgschaft war sich nicht darüber im Klaren, ob man jetzt aus Solidarität mit dem ausgebooteten Bundesführer eine oppositionelle Haltung einnehmen solle oder nicht ? Die Spannung entlud sich in internen Auseinandersetzungen : Die Starhemberg-Anhänger schalten
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den armen Baar, der es bloß allen recht machen wollte, hinter vorgehaltener Hand einen Verräter ; Fey sammelte die Dissidenten und ließ sich im September wieder zum Landesführer von Wien wählen. Starhemberg neigte anfangs zwar zu einem Kompromiss mit Schuschnigg, der ihn als Oberkommandant der Frontmiliz zurückholen wollte. Doch wieder kam ihm der Konflikt mit Fey in die Quere : Er verstieg sich zur Behauptung, die Quertreibereien Feys seien »mit Wissen und Billigung« der Bundesregierung erfolgt, nicht ohne Hinweis auf das »nicht aufgeklärte Verhalten« Feys am 25. Juli 1934, bei der Ermordung Dollfuß’. Seine Kampfansage gipfelte in einer berühmten Rede in Wiener Neustadt am 4. Oktober, die in der Formel ausklang : »Auf ein Wiedersehen, und wenn es sein muß, in Wöllersdorf«, dem Anhaltelager gleich nebenan. Der Passus von den Schweinehunden, »die in Heimatschutz-Uniform dieser Regierung Staffage geben«, wurde von Schuschnigg prompt aufgegriffen. Er erklärte im nächsten Ministerrat, er wolle seine Kollegen gerne »aus einem allfälligen Gewissenskonflikt befreien«. Die Heimwehrminister schieden in den nächsten Wochen aus. Die Heimwehren wurden bereits am 10. Oktober aufgelöst. Denn außerhalb der Frontmiliz könnten bewaffnete Vereinigungen nicht länger geduldet werden.784 Die letzte bürgerliche Koalition der Ersten Republik war damit zu Ende, auch wenn es sich dabei schon nur mehr um eine Ersatz-Koalition gehandelt hatte, nach dem Zerfall des »Bürgerblocks« 1931/32. Eine bezeichnende Episode hatte sich noch am Vorabend des 10. Oktober zugetragen : Als die Landesführer der Heimwehren beim Regierungschef und Frontführer vorstellig wurden und sich dabei möglicherweise im Ton vergriffen, antwortete Schuschnigg : »Gehen Sie nach Hause, mobilisieren Sie, stürmen Sie das Bundeskanzleramt. Ich bleibe hier.« Eine Woche später beschwerte sich Hoyos abermals über eine Maßnahme der Regierung. Es entspann sich folgender bemerkenswerter Dialog : Schuschnigg quittierte die Kritik des Bundestagspräsidenten mit der ironischen Bemerkung : »Merkwürdig, wie verschieden der Begriff autoritär interpretiert wird.« Hoyos reagierte empört : »Für Sie ist autoritär, jederzeit alles tun zu können, was Ihnen in den Kram passt.«785 Das Juli-Abkommen Auch außenpolitisch hatten sich inzwischen die Koordinaten verändert. Der Kassen schlager des Jahres 1934, Lehárs Operette »Giuditta«, erwies sich als richtungsweisend. Allem Herkommen widersprechend, gab es diesmal kein Happy-End. Die Titelheldin geht dem Untergang entgegen, seit ihr mediterraner Liebhaber sie verlässt – weil er nach Afrika in den Krieg ziehen muss.786 1935 hatte sich Mussolini noch in der sogenannten Stresa-Front mit den Westmächten gemeinsam für die österreichische Unabhängigkeit stark gemacht. Doch im Herbst begann er – nach diversen
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Grenzzwischenfällen in den Wüsten Somalias – mit der Eroberung Äthiopiens. Ein erstes Alarmsignal war die Bitte des Duce, ihm die Prägestöcke für die Maria Theresien-Taler zu überlassen, die in Ostafrika nach wie vor das gängige Zahlungsmittel darstellten. Die Aktion gegen den Negus war mit Frankreich abgesprochen, aber nicht mit Großbritannien, das prompt den Völkerbund gegen den Aggressor mobilisierte. Österreich, Ungarn und Ecuador waren die einzigen Mitgliedsländer, die sich auf die Seite Italiens stellten und gegen die Sanktionen stimmten. (Die Schweiz und fünf weitere lateinamerikanische Staaten enthielten sich der Stimme.) Der Konflikt zwischen Italien und dem Völkerbund verschaffte Deutschland eine vorteilhafte Position als lachender Dritter. Hitler nützte die Chance im März 1936 zum Einmarsch im bislang entmilitarisierten Rheinland.787 Der Schulterschluss zwischen Hitler und Mussolini war nicht ganz so automatisch, wie es im Rückblick den Anschein hatte. Deutschland hatte Äthiopien anfangs sogar insgeheim mit Waffenlieferungen unterstützt. (Dabei spielte übrigens ein alter Bekannter eine Rolle, Major Pabst, inzwischen Manager bei Rheinmetall-Borsig.) In Frankreich hingegen versuchte Ministerpräsident Laval den Italienern weiterhin goldene Brücken zu bauen, ein Unterfangen, das von den Österreichern wärmstens begrüßt wurde. Doch der Wahlsieg der Volksfront im März 1936 machte all diesen Bemühungen ein Ende. Das »Kartell« der französischen Linken – unter der Führung der immer noch ziemlich bürgerlichen »Radikal-Sozialisten« – hatte immer wieder Wahlen gewonnen ; doch noch nie hatten die Sozialisten Leon Blums danach den Premier gestellt, gehörten die Kommunisten offiziell der Regierungsmehrheit an. Jetzt erst war das Tischtuch mit Mussolini endgültig zerschnitten, jetzt erst erhielt das – ohnehin recht lockere – Bündnis mit der Sowjetunion, das noch Laval verhandelt hatte, seine unheilschwangere Bedeutung.788 Österreich musste dieser veränderten Großwetterlage naturgemäß Rechnung tragen. Der Abessinienkrieg galt später als der Anfang vom Ende, als der Wendepunkt, der es Mussolini nicht mehr erlaubte, weiterhin für die österreichische Unabhängigkeit einzutreten. Die Diplomaten witterten da von vornherein Unheil. Ob sich Deutschland jetzt auf die Seite von Italien oder von England schlagen werde, »in beiden Fällen entstehen für Österreich schwere Lagen«, warnte Liebitzky aus Rom. Man konnte die Sache freilich auch aus einer anderen Perspektive sehen. Eine Verständigung zwischen Berlin und Rom könnte eine Entspannung zwischen Österreich und dem Dritten Reich im Gefolge oder sogar zur Bedingung haben. Es war ja keineswegs das Ziel der Österreicher, den Konflikt mit dem Dritten Reich zu perpetuieren. Sie taten sich nur schwer, den ersten Schritt zu tun, weil sie – wohl zu Recht – fürchteten, er würde unweigerlich als Zeichen der Schwäche interpretiert werden. Während Mussolini auf sein ostafrikanisches Abenteuer zusteuerte, befleißigte sich Hitler in puncto Österreich zunächst einmal auffälliger Zurückhaltung, um die Italiener nur ja nicht von ihrem Vorhaben abzulenken oder abzubringen.
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Es war übrigens Starhemberg, der als Erster die Zeichen der Zeit erkannte und sich – noch in seiner Funktion als Vizekanzler – im Jänner 1936 im Gespräch mit dem Gesandten Papen für »einen Block der faschistischen Staaten« aussprach, der rund um Österreich nicht bloß Deutschland und Italien, sondern auch Ungarn und Polen versammeln würde – als Gegengewicht zur »bolschewistisch-freimaurerischen« Achse Paris-Prag-Moskau. Als erster Schritt wurde ein Treffen mit Göring anvisiert : Man wollte sich einfach ganz zwanglos beim ungarischen Ministerpräsidenten Gömbös zur Jagd einfinden. Als Postillon d’amour fungierte Starhembergs alter Heimwehrkamerad Hueber, der Schwager Görings. Am 5. Mai gab Berlin prinzipiell grünes Licht für das Rendezvous ; doch eine Woche später war Starhemberg gestürzt.789 Der Sturz Starhembergs hatte nun freilich nichts mit seinen außenpolitischen Absichten zu tun. Im Windschatten der sich anbahnenden Achse Berlin-Rom einen Ausgleich, zumindest aber einen modus vivendi mit dem Dritten Reich herbeizuführen, war Schuschnigg ebenso sehr ein Anliegen wie Starhemberg. Miklas formulierte einmal, das Kunststück bestehe darin, sich an die Achse anzulehnen, ohne von ihr aufgespießt zu werden. Schuschnigg erklärte in diesem Sinne beiläufig schon im September 1935, eine Annäherung sei für Österreich »vorteilhaft«.790 Der Fürst wurde weder gestürzt – wie nachher oft kolportiert –, weil er einer solchen Aussöhnung entgegenstand, noch, weil er – ganz in der anderen Richtung – eine solche Aussöhnung mit allzu vollmundigen Thesen begleitete. Allenfalls in einem Punkt ließe sich ein gewisser Dissens ausmachen : Starhembergs »Block der faschistischen Staaten«, entriert von Gömbös, ließ immerhin gewisse aggressive Absichten z. B. gegenüber der Tschechoslowakei durchblicken. Auch Mussolini scheint die Österreicher in dieser Richtung ermuntert zu haben. Wildner notierte wenig diplomatisch : »Die Katzelmacher haben fortwährend Angst, daß wir mit den Tschechen anbandeln könnten.« Denn Schuschnigg hatte eben erst Prag besucht und mit dem neuen (tschecho-)slowakischen Ministerpräsidenten Milan Hodža alte Erinnerungen an Franz Ferdinand aufgewärmt. Im österreichischen Protokoll zumindest stand zu lesen, Hodža wäre mit dem Erzherzog-Thronfolger durch dick und dünn gegangen. Aber leider sei eine Restauration in Österreich für Prag einfach unverdaulich. Man wolle einander doch keine Schwierigkeiten bereiten.791 Papen hatte die Bemerkungen Starhembergs im Jänner mit Freuden weitergeleitet. Aber er setzte keineswegs exklusiv auf diese Schiene, sondern er hatte auch noch andere Eisen im Feuer, wie z. B. seine Kontakte zum Freiheitsbund erkennen ließen. Papen hatte es nicht leicht gehabt : Einige seiner Mitarbeiter waren im Zuge des »Röhm-Putsches« 1934 der »Nacht der langen Messer« zum Opfer gefallen. Er war in Wien keineswegs mit offenen Armen empfangen worden ; manche seiner Reden im Jahr der Machtergreifung hatten gerade beim katholischen Zielpublikum für Unmut gesorgt ; im Jockey-Club wollte man ihn erst gar nicht zur Aufnahme vor-
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schlagen, um allfälligen Peinlichkeiten auszuweichen ; seine Frau wiederum brachte Gäste durch kritische Bemerkungen über den »Führer« in Verlegenheit. Doch steter Tropfen höhlt den Stein. Wenn ihm auch niemand so recht traute, in der gegebenen Situation erwies er sich als nützlich. Denn er war – bei allen Vorbehalten – kein Radikaler, ein aalglatter Diplomat, aber kein Mann des Parteiapparates – und auch er stand unter Erfolgszwang.792 Schuschnigg machte die Verhandlung mit Papen zur Chefsache – ohne alle Umwege über Budapest oder Rom und ohne sich von der Beamtenschaft des Ballhausplatzes allzu viel dreinreden zu lassen, die nach der Initiative Starhembergs kurz zuvor bloß argwöhnte : »Es scheint wieder ein Wettverhandeln mit den Deutschen im Gang zu sein.« Als Mitarbeiter und Nachfolger Berger-Waldeneggs berief er den Vorarlberger Guido Schmidt zum Staatssekretär für Äußeres, den jüngeren Bruder des langjährigen christlichsozialen Bürgermeisters von Bludenz, wie Schuschnigg selbst ebenfalls Seipel-Protegé und Absolvent der Stella Matutina, des Feldkircher Jesuitengymnasiums, ein CV-er (Norica) mit »mondänen Gewohnheiten«, verheiratet mit der Tochter des mährischen Großindustriellen Baron Chiari. Ursprünglich »Volontär« an der Pariser Botschaft, hatte Seipel ihn auf Fürsprache Grünbergers nach Wien in die Präsidentschaftskanzlei gebracht, Dollfuß ihn dort zur »Bearbeitung« Miklasʼ zum Vizedirektor befördert.793 Papen lieferte Mitte Juni einen Entwurf des geplanten Abkommens. Am 11. Juli wurde um 21 Uhr über das Radio verlautbart, Schuschnigg habe mit dem Dritten Reich ein Übereinkommen getroffen, um den leidigen Bruderzwist zu beenden. Dieses sogenannte Juli-Abkommen, ein Notenwechsel mit einem geheimen Zusatzprotokoll (Gentlemen’s Agreement), ist von der Nachwelt ganz überwiegend mit negativen Zensuren versehen wurde. Alle wollten es immer schon gewusst haben, wohin das alles führen werde : Gäbe man Hitler den kleinen Finger, nehme er die ganze Hand. Doch auf den ersten Blick lagen die Vorteile ganz eindeutig auf österreichischer Seite : Deutschland erkannte die österreichische Unabhängigkeit an ; es hob die Tausend-Mark-Sperre auf ; es erleichterte die österreichischen Exporte ins Reich. Die Agrarier – vor allem im Westen, aber auch Reither – hatten deshalb schon seit Jahr und Tag der Intensivierung der Beziehungen mit dem Reich das Wort geredet.794 Schuschnigg selbst war verwundert, dass Berlin alle österreichischen Wünsche so problemlos akzeptiert hatte. Er erklärte sich das Einlenken Hitlers in erster Linie mit der Rücksicht auf Italien, das vielleicht wieder zur Stresafront zurückfände, wenn man in Berlin seine Interessen nicht respektiere.795 Mussolinis Auftrag an die italienische Diplomatie lautete ganz eindeutig : Den modus vivendi mit Deutschland zu erleichtern. Doch einer Beteiligung am Juli-Abkommen oder einer Garantie der österreichischen Unabhängigkeit, wie sie Schuschnigg gerne gehabt hätte, wich er wohlweislich aus.796 Am 1. November sprach Mussolini dann erstmals öffentlich von der »Achse« Berlin-Rom. Zwischenzeitig hatte
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sich eine weitere Gemeinsamkeit ergeben : Eine Woche nach dem Juli-Abkommen brach der Spanische Bürgerkrieg aus. Hitler und Mussolini unterstützen beide General Franco ; die Sowjetunion und die französische Volksfrontregierung die Republikaner. Diese Frontstellung, die gängige ideologische Schablonen zu bestätigen schien, verfehlte ihren Einfluss auf die öffentliche Meinung nicht. Im Engagement für die Sache der verfolgten Katholiken in Spanien fanden sich Kreise, die in anderen Fragen geteilter Meinung waren. Während sich im Reich ein neuer Kulturkampf entspann, den Pius XI. ein halbes Jahr später mit der Enzyklika »Mit brennender Sorge« quittierte, half die dramatische Entwicklung in Spanien, diese Spannungen vorerst zu übertünchen. Dabei war das Juli-Abkommen, wie die einschlägige Studie von Gabriele V olsansky lautet, natürlich ein »Pakt auf Zeit«. Schuschnigg stellte es dem Kabinett ohne viel Illusionen mit den Worten vor : Beide Seiten hätten »unter dem Zwang der Stunde« gehandelt, nicht aus »innerem Drang«. Er hoffte auf eine Atempause von fünf Jahren – und in fünf Jahren kann viel geschehen. Der Kern des Abkommens lässt sich auf die einfache Formel bringen : Wirtschaftliche Zugeständnisse Berlins gegen politisches Wohlverhalten Österreichs. Der Teufel steckte im Detail. »Wird diese Vereinbarung loyal eingehalten, so könnte sie viel gutes bringen«, formulierte der Führerrat der Heimwehren in seiner ersten Erklärung. Dafür waren die Voraussetzungen freilich nicht wirklich gegeben. Welche Seite durch die Haltung der anderen in der eigenen Ignoranz entschuldigt wird, lasse sich schwer entscheiden, lautete das harsche Urteil Wolfgang Rosars. Auf beiden Seiten überwogen die Mentalreservationen, stand die »Aktionspraxis der Exekutive oftmals im Gegensatz zur offiziellen Befriedungspolitik«.797 Wirtschaftlich stellte sich die Lage so dar : Der Tourismus nahm zu, erreichte aber nicht das Niveau der Jahre vor 1933. Das Reich gab jedem Reisenden maximal 250 Mark an Devisen mit. Einen Aufschwung nahmen die österreichischen Exporte ins Reich. Vor allem die Landwirtschaft – und die Filmindustrie – profitierten davon. Die oberösterreichischen Bauern sahen darin zwar eine Erleichterung, wie der VFGauführer von Braunau, Baron Handel, berichtete ; doch der kleine Grenzverkehr litt darunter, dass alles jetzt zentral geregelt werde. Vor allem aber, der Pferdefuß bestand darin : Die Ausfuhren schlugen sich nicht in Deviseneinnahmen nieder, sondern bloß in einer »Clearing-Spitze« im bilateralen Zahlungsverkehr, der irgendwann einmal am St. Nimmerleinstag abgerechnet werden sollte. Anders gesagt : Die Österreicher bevorschussten den Konsum des großen Bruders. Die Tiroler Bauern erhielten ein Zubrot nicht auf Kosten Hjalmar Schachts und der Reichsbank, sondern Viktor Kienböcks und seiner Nationalbank. Auf die Dauer war das kein gutes Geschäft. Nicht zuletzt Kienböcks Austerity-Politik verhinderte, dass die Österreicher im größeren Ausmaß im Reich Einkäufe tätigten, um die Devisenspitze abzubauen. Die
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reichsdeutschen Verhandler – wie z. B. der aus Sofia zurückgekehrte Clodius – nahmen die Kritik von keynesianischer Seite vorweg, wenn sie eine »largere« Finanzpolitik der Österreicher befürworteten. Göring und seine Gefolgsleute aus dem Management des »Vierjahresplanes« schlugen deshalb schon lange vor dem März 1938 mehrfach eine Währungsunion vor, die eine Ankurbelung der Wirtschaft – und reichsdeutsche Investitionen z. B. in Kaprun – ohne Rücksicht auf Devisenreserven erlauben würde. Kienböck wiederum wollte – von allen politischen Bedenken einmal abgesehen – »die intakte österreichische Währung« nicht an die Mark anhängen, »deren Abwertung früher oder später unvermeidlich sei«, wie selbst Papen zugab.798 Politisch beinhaltete das Juli-Abkommen im angeschlossenen Gentlemen’s Agreement auch das Versprechen einer Heranziehung der nationalen Kräfte in Österreich zur politischen Willensbildung. In dem Punkt wiederum sah sich die reichsdeutsche Seite in ihren Erwartungen enttäuscht. Berlin betrachtete den Passus als eine dynamische Formel, im Sinne von »ever closer union«. »In Berlin betrachtet man das Ganze als den Anfang weiterer Annäherung, während es doch bei uns ein Schlusspunkt sein soll«, notierte der Gesandte Wildner. Schuschnigg hatte zwar tatsächlich, auch schon vor dem Juli-Abkommen, diverse Honoratioren des nationalen Lagers kontaktiert, ob sie nicht in sein Kabinett eintreten wollten, als Aushängeschild und Galionsfigur, vielleicht sogar als Vizekanzler, sobald Starhemberg diese Position geräumt hatte. (Nur in dieser Beziehung ergab sich ein gewisser Zusammenhang zwischen der Ablöse des Fürsten und dem »deutschen Frieden«, denn Starhemberg war an einem weltpolitischen Arrangement mit Berlin im Sinne des »Antikomintern pakts« interessiert, nicht an einem Bonus für die heimischen »Wotanschurls«.) Bei dieser »Kopfjagd« war dem Kanzler wenig Erfolg beschieden. Seipels alter Vizekanzler Dinghofer wollte lieber im Obersten Gerichtshof weiterdienen, als auf diesen Schleudersitz zwischen den Fronten zu wechseln. Der Historiker Srbik – immerhin Minister schon unter Schober – sagte sehr höflich, der Jurist Egbert Mannlicher weniger höflich ab : Srbik schrieb, »die Situation sei noch nicht reif« ; Mannlicher, die Leute würden über ihn sonst bloß sagen, er sei »ein schöner Renegat«. Es blieb bei der Ernennung Edmund Glaise-Horstenaus, des Kriegsarchivdirektors, zum Minister ohne Portefeuille, nach dem Muster des »Landsmannministers« der alten Monarchie – eines Kabinettsmitglieds, das Sorge tragen sollte, dass seinen Volksgenossen kein Leid geschah, sprich : seinen Kollegen mit Interventionen das Leben sauer machte. Glaise verfügte über eine gewandte Feder, doch er war kein eigenständiger politischer Kopf ; er schätzte die Annehmlichkeiten des Ministerdaseins, insbesondere den Dienstwagen. Ein besonders durchschlagskräftiger Anwalt der Interessen der »nationalen Opposition« war er nicht. Schuschnigg hielt es geradezu für eine Empfehlung, dass Glaise dumm – und daher bequem und ungefährlich sei. Es war aus dieser Sicht vielleicht verständlich, wenn die reichsdeutsche Seite in seiner Ernennung
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bloß eine Anzahlung erblickte. Glaise selbst brachte es auf den Punkt, wenn er bemerkte, es genüge schließlich nicht, diesen oder jenen zum Nationalen zu ernennen. Die Diplomaten aber unkten über das Abkommen, das über ihre Köpfe hinweg abgeschlossen worden war : »Die Deutschen bestehen auf ihrem Schein und wir wollen es offenbar nicht so gemeint haben.«799 An der »Basis«, auf unterer und mittlerer Ebene, setzte die bewusste Heranziehung der nationalen Opposition zur politischen Willensbildung nur höchst schleppend ein. Diverse Anläufe wurden unternommen und wieder abgebrochen. Die sogenannten »Volkspolitischen Referate« der VF, die als Anlaufstellen dienen sollten, wurden erst nach über einem Jahr, im Herbst 1937, eingerichtet, dann aber erstmalig mit einem Aufnahmestopp für die VF verbunden. Als Aktivum für die »Illegalen« war selbstverständlich eine weitreichende Amnestie zu verzeichnen. Die Anhaltelager leerten sich. Doch gerade hier bewahrheitete sich der alte Spruch : Dankbarkeit ist keine politische Kategorie. Die Aktivisten fürchteten, im Zuge des Juli-Abkommens im Stich gelassen und beiseite geschoben zu werden. Sie waren nicht an schrittweiser Unterwanderung des Regimes interessiert, sondern an der »Machtergreifung«, die sie für alle Unbill entschädigen sollte. Ihr Auftreten war daher keineswegs im Sinne des »deutschen Friedens«, sondern vielfach äußerst provokant. So veranstalteten sie z. B. schon wenige Tage nach dem Juli-Abkommen beim Empfang des Olympischen Feuers auf dem Heldenplatz einen Krawall, im nächsten Jahr dann bei einem Treffen von Frontsoldaten in Wels. Reinthaller grollte : Den »Dorfmussolinis« beider Seiten müsse man endlich das Handwerk legen.800 Diese latente Opposition zu den Intentionen des Juli-Abkommens verband die »Illegalen« mit ihren Antipoden, nämlich großen Teilen des VF-Apparates, der selbstverständlich kein Interesse an einer Teilung der Macht hatte, die ihre Pfründe in Mitleidenschaft ziehen und Konkurrenten an die Krippe locken würde. Man wollte keine Konjunkturritter oder Chamäleons zu Amt und Würden kommen sehen. Der Rittmeister Weller als Gmundner Gauführer der VF brachte den Funktionärsstandpunkt auf den Punkt : »Die Leute, die heute noch nicht zur VF gefunden haben, kriegen wir nicht und kriegen wir sie, dann sind sie nur Schädlinge.« Guido Zernatto als neuer Generalsekretär der VF führte ganz in diesem Sinne aus, es sei falsch, zu glauben, dass Organisationen wie die Soziale Arbeitsgemeinschaft sich zu einer eigenen Bewegung entwickeln dürften. Man habe ein Herz für sie, doch sie solle bloß die Arbeiter an die VF »heranführen«, nicht selbst Mitglieder werben. Wo war die Grenze zu ziehen zwischen Verbreiterung der Basis und Unterwanderung durch die »Illegalen« ? Reinthaller umriss seine Tätigkeit ein Dutzend Jahre später während seines Prozesses ironisch mit dem Begriff »illegale Obergrundtätigkeit gegenüber einer illegalen Regierung«.801 Revertera als Sicherheitsdirektor – in diesen Belangen keineswegs mit Scheuklappen ausgestattet – beschrieb das Dilemma der Behörden, die sich aus den widersprüchlichen Signalen »von oben« keinen Reim
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machen konnten : »Auf der einen Seite wird alles für die Befriedung gemacht und nach meiner Meinung zu weit gegangen, auf der anderen Seite soll man wieder gegen die Nazis vorgehen und dabei weiß man nicht, wo die Legalität aufhört und die Illegalität anfängt.«802 Das kuriose Verhältnis charakterisiert eine Anekdote, die Schuschnigg gerne erzählte. Im August 1937 erhielt er als Kanzler eine rührende Einladung von der Schriftstellerin Paula Grogger, er möge doch zur Aufführung ihres Erzherzog Johann-Spiels ins Ennstal kommen. Um alle Bedenken auszuräumen, fügte Grogger hinzu, die Leute im Ort – ihr Vater war »Illegaler« – hätten ihr zugesagt, den Besuch des Kanzlers nicht für irgendwelche Demonstrationen zu nützen und auch beim Absingen der Bundeshymne das Dekorum zu wahren, sprich : nicht das Deutschlandlied anzustimmen. Man konnte den Öblarner Waffenstillstand als Erfolg der Befriedungspolitik verbuchen. Der arglos-freundliche Geleitschutz, wie er dem »Diktator« da offeriert wurde, sprach aber auch Bände über die zweifelhafte Autorität des Regimes. Schuschnigg resümierte : »Ich bin nicht hingegangen. Aber so war es eben.«803
6. Die Endphase des Regimes 1937/38 Austerity und Pluralismus ? Die Endphase des Ständestaates war von zwei gegensätzlichen Entwicklungen geprägt, oder vielleicht auch nur zwei widersprüchlichen Eindrücken. Mit der Demontage der Heimwehren hatte das Regime seinen »Hitzeschild« verloren, den Sündenbock vom Dienst : Die »Hahnenschwanzler« mit ihrem schillernden Image, zwischen legitimistischen Grafen und plebejischen Konjunkturrittern, biederen kleinstädtischen Honoratioren und für das Schutzkorps rekrutierten Arbeitslosen, boten für jeden ein passendes Feindbild. Sozialdemokraten, Christlichsoziale und Nationalsozialisten beteiligten sich da mit Wonne an der liebevollen Ausschmückung der chronique scandaleuse. Dieses Ventil fiel jetzt weg. An der »Basis« verbreitete sich vielmehr der Eindruck, nach dem Ausscheiden der Heimwehren sei das Regime gänzlich in die Fänge der alten Christlichsozialen geraten. Eine Kulturkampfstimmung machte sich breit. Schüler beschwerten sich über Drangsalierungen durch Religionslehrer. Die Opposition war vielgestaltig ; was sie verband, war das Misstrauen oder die Abneigung gegen die »Klerikalen«. Selbst in den Kreisen katholischer Edelleute musste Hoyos schon mahnen, doch nicht so auf die »Schwarzen« zu schimpfen. Revertera – selbst aus einer untadelig katholisch-konservativen Familie – beschwerte sich über das »Versagen der VF, die krankhafte Überspitzung des klerikalen Moments, das einem schon wirklich beim Hals herauswächst, die immer unverhohlenere Diktatur des CV und zwar des übelsten Teils desselben und
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schließlich das immer ärger werdende Politisieren des hohen und niedrigen Klerus.« In Oberösterreich monierte ein Gauführer der VF, in Deutschland beschwere sich die Kirche, dass der Staat nicht loyal vorgehe ; in Österreich hingegen stehe man vor dem Problem, dass die »konfessionellen Verbände« weit über die Bestimmungen des Konkordats hinausgingen.804 Vielleicht spielte da vor Ort auch der robuste Zugang Bischof Gföllners eine Rolle. Derlei Indizien sind nicht zu generalisieren und lassen sich auch schwer quantifizieren. Da war persönliche Chemie im Spiel, viele Gerüchte und wohl auch ein Körnchen Wahrheit. In gewisser Weise war der beschriebene Zustand vielleicht auch nur die logische Folge, wenn politische Organisationen (wie z. B. Schmitz’ Katholischer Volksbund) nach der Auflösung der christlichsozialen Partei unter den Fittichen der Katholischen Aktion Zuflucht suchten. An der Spitze hingegen konnte von einer »Totalität« der »Schwarzen« keine Rede sein. Im Gegenteil : Schuschnigg regierte mit einem Kabinett, das stolz auf seinen »unpolitischen« Charakter war. Allzu ausdauernde Wortwechsel würgte der Kanzler mit dem Argument ab, solche Debatten eigneten sich besser für eine Volksversammlung. »Macht Schwierigkeiten, wo Ihr wollt, aber nicht beim Ministerrat.« (Nach 1945 fügte er hinzu, man sei sich ja nie sicher gewesen, ob die Protokolle nicht doch auf der deutschen Gesandtschaft landeten.)805 Er war die mühsamen politischen Schwergewichte allesamt losgeworden und hatte sie durch fügsame Beamte und Fachleute ersetzt. Zum Vizekanzler wurde im November 1936 der Kärntner Abwehrkämpfer-Kommandant Hülgerth befördert, der die Illusion verkörperte, die Heimwehren seien ja doch nicht ganz ins Ausgedinge geschickt worden, bei Bedarf aber auch als nationales Aushängeschild herhalten konnte. Als die »schwarzen« Landeshauptleute, allen voran der Steirer Stepan, mit Reither und Rehrl in der Hinterhand, um die Jahreswende 1936/37 die Regierungsumbildung nachvollziehen wollten, um auch in den Ländern »alle Heimwehrleute in hohen Stellungen abzusägen«, pfiff Schuschnigg sie zurück. Für den Fall einer Verhinderung, eines Attentats oder eines Putsches nach dem Muster des Juli 1934 hatte er vorsorglich zwei Staatssekretäre auserkoren, die in einem solchen Fall die Geschäfte übernehmen sollten, beides altgediente Beamte ohne jeden politischen Stallgeruch : Skubl und HammersteinEquord, den Wiener Polizeipräsidenten, der aus einer Kärntner nationalen Familie stammte, und den Vorgänger Reverteras als Sicherheitsdirektor in Oberösterreich, den er selbst später charakterisierte, er sei »bei Gott kein Klerikaler« gewesen.806 Nicht bloß die Heimwehren schieden im November 1936 aus. Streng genommen, blieb auch von den Christlichsozialen kaum jemand im Kabinett zurück, ausgenommen Technokraten wie Resch als Sozial- und Manhalter als Landwirtschaftsminister, der zwischen den Strategien seiner Vorgänger Reither und Strobl eine mittlere Linie fahren sollte. Als Schuschniggs persönlicher Vertreter im Unterrichtsministerium fungierte Hans Perntner von den OSS, der wenigstens CV-er war. (Auch von den Spitzenbeamten waren 1938 gerade einmal fünf von 44 Sektionschefs CV-er – und
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zwei »Illegale«.) Die Neuzugänge in den Wirtschaftsressorts waren Fachleute. Beamte wiesen in der Ersten Republik meist einen gewissen nationalen Stallgeruch auf. Das galt auch für die zwei Minister, die neu aufgenommen oder abkommandiert wurden, Neumayer – einst Magistratsbeamter unter Breitner – für die Finanzen und Wilhelm Taucher für den Handel, ein Grazer Volkswirtschaftler, der 1932 auf dem Kammertag noch gegen den agrarischen Kurs der Regierung losgezogen war ; Burschenschafter der eine, freisinniger Jurist der andere, der »so halb als nationaler Minister« galt. Czermak vermerkte, diese Personalpolitik habe blankes Entsetzen ausgelöst. Als er mit einer Abordnung des CV dagegen protestierte, gab ihm Schuschnigg zu verstehen : Zugegeben, es handle sich um weltanschauliche Antipoden, aber die Herren müssten doch auch »einsehen, daß wir nicht allein auf der Welt sind«.807 Diese Einstellung verwies auf eine zweite Entwicklung : Wenn Schuschnigg im Juli-Abkommen die Heranziehung der Betont-Nationalen zur politischen Willensbildung versprochen hatte, dann verbargen sich dahinter die Konturen eines versteckten Pluralismus. Auch die Sozialdemokraten (»Soziale Arbeitsgemeinschaft«) und die Legitimisten (»Traditionsreferate«) sollten im Rahmen der VF ihre Spielwiesen erhalten. Das Ziel war, »die verschiedenen Gruppen so zu organisieren, daß jeder dort irgendwie eine ›politische Heimstatt‹ gefunden hat.«808 Ob sich revolutionäre Untergrundbewegungen von links oder rechts mit dieser Nischenexistenz zufriedengeben würden, stand freilich auf einem anderen Blatt. Jedenfalls häuften sich die Anzeichen, dass Schuschnigg die VF mehr an die Kandare nehmen wollte. Als Generalsekretär der VF hatte noch Starhemberg einen weiteren Kärntner Heimwehrmann nominiert, Guido Zernatto, einen Dichter und Burschenschafter, der sich als getreuer Gefolgsmann Schuschniggs erwies. Als Reither den Landesleiter Dworschak hinausekelte, beförderte Schuschnigg ihn prompt zum 2. Generalsekretär und übernahm kommissarisch selbst seine Stelle in Niederösterreich. Henz als Leiter der Kulturorganisation der VF (»Neues Leben«) wurde beurlaubt ; das »Neue Leben« direkt Zernatto unterstellt (der vermutlich auch der bessere Literat war).809 Der berufsständische Aufbau hingegen legte einen Krebsgang ein, wurde auf »halber Strecke eingemottet«. Nach der endgültigen Entlassung Neustädter-Stürmers im März 1937 kam Ender als Verantwortlicher für Verfassungsfragen zurück. Neustädter-Stürmer hatte endlich die vertikale Organisation in Angriff nehmen wollen, die Verknüpfung von Arbeitgeber- und Arbeitnehmern zu »Korporationen«, wie sie in Italien inzwischen tatsächlich eingeführt worden waren. Ender hingegen wollte zu den horizontalen Interessensvertretungen zurückkehren und setzte auf die Renaissance der Handelskammern, die Dollfuß wegen ihrer »liberal-freigeistigen Bürokratie« und ihrer nationalen Schlagseite am liebsten abgeschafft hätte. Politische Gefahren drohten aus dieser Richtung inzwischen keine mehr : Das Mandat der gewählten Kammerräte war 1935 ausgelaufen. Die Ersatzmänner wurden von der Re-
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gierung ernannt. Ender sah in den Handelskammern ein notwendiges Element des Interessensausgleichs zwischen den verschiedenen »Ständen« von Handel, Gewerbe und Industrie. Insbesondere war ihm an einem Gegengewicht zu Raabs Gewerbebund gelegen, der den Kammern nur eine »dienende« Funktion zugestehen wollte, keinesfalls die Rolle eines Schiedsrichters.810 Gerade die Wirtschaftspolitik wird oft als die »Achillesferse« des Regimes betrachtet. Österreich erholte sich nur höchst zögerlich von den Auswirkungen der Weltwirtschaftskrise. Die Vorgaben im Vorfeld der Lausanner Anleihe hatten die Regierung 1931/32 zu einer »pro-zyklischen« Finanzpolitik gezwungen, die mit ihren Sparmaßnahmen die Konjunktur weiter drosselte. Doch inzwischen war die Lausanner Anleihe längst unter Dach und Fach. Im September 1933 war die letzte Rate eingezahlt worden. Die Inlandsanleihe im Monat darauf lief sogar Gefahr, überzeichnet zu werden.811 Das Jahr 1934 hatte mit seinen militärischen Herausforderungen gewisse zusätzliche Ausgaben verursacht. Die eigentliche finanzpolitische Weichenstellung stand danach an : Sollte Österreich nach der Überwindung der akuten politischen, nicht der wirtschaftlichen Krise vom Pfad der Tugend abweichen und sich in die Untiefen des »deficit spending« wagen oder zur orthodoxen Finanzpolitik zurückkehren ? Schuschnigg war – ebenso wie Starhemberg – persönlich durchaus ein Verfechter einer expansiven Wirtschaftspolitik. Er postulierte im April 1935, es werde »die Existenzfrage« sein, »ob die Arbeitsschlacht gelingt«, ja, er ließ sich wenig später zu dem ketzerischen Kommentar hinreißen : »Wenn wir ohnehin keinen Kredit kriegen, brauchen wir nicht kreditwürdig zu bleiben.« Schließlich leiste Italien sich ein Defizit von 10 % des Budgetrahmens – daran war inzwischen allerdings der Abessinienkrieg schuld –, Österreich ohnehin bloß von 2 %.812 Er stellte die Frage in den Raum, ob ein autoritäres Regime überhaupt mit einer absolut liberalen Wirtschaft vereinbar sei (die ganz so absolut wohl ohnehin nicht gegeben war). Als die Konjunktur 1937 wiederum umzuschlagen drohte, warnte Schuschnigg, man dürfe keinesfalls untätig zuschauen, »wie sich das Jahr 1933 wiederholt«. Jeder Handelsminister, von Jakoncig bis Stockinger, schwärmte von der Fortsetzung der Elektrifizierung der Bundesbahnen, mit ihrem großen Investitionsbedarf. Stockinger benannte offenherzig auch das offenkundige Hindernis – der größte Gegner einer solchen Politik sei Nationalbankpräsident Kienböck.813 Doch Kienböck erhielt im Herbst 1935 Schützenhilfe aus einer unerwarteten Richtung. Bei der Regierungsumbildung wurde neben Fey auch Sozialminister Neustädter-Stürmer ausgebootet, der im Zuge seines korporatistischen Modells beinahe schon planwirtschaftliche Ansätze verfochten hatte : Arbeitsbeschaffung (»Geld in die Wirtschaft pumpen«) hatte für ihn immer schon Vorrang vor dem Wohlwollen der Finanzwelt. Starhemberg holte damals bekanntlich seinen persönlichen Freund Draxler in die Regierung. Draxler setzte sich auch tatsächlich bis zum Schluss (und
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sogar über den Krieg hinaus) für Starhemberg ein, aber er vertrat wirtschaftspolitisch ganz andere Ansichten als der Fürst, der gern auf seine soziale Ader verwies. Starhemberg hatte sich nie sehr für die Details der »berufsständischen Ordnung« interessiert ; Draxler war ihr erklärter Gegner : Diese Gesetze enthielten seiner Meinung nach vieles, was im praktischen Leben nicht anwendbar sei. Die Wirtschaft sei zu vielgestaltig, um sie in derlei Schablonen zu pressen. Viktor Kienböck konnte sich keinen kongenialeren Partner als Finanzminister wünschen. Er drohte 1936 dann angeblich sogar, die Nationalbank aufzugeben, wenn Draxler gehen müsse.814 Sogar ein durchaus heimwehrkritischer Autor konzediert Draxler, er sei »der vermutlich entschiedenste Verfechter marktwirtschaftlicher Prinzipien« gewesen, der je in einer österreichischen Regierung saß. Sein Nachfolger Neumayer hatte nicht mehr denselben politischen Rückhalt wie Draxler, aber denselben Mentor. Er erinnerte sich : Jeder der Neulinge im Kabinett habe seinen »politischen Kurator« gehabt, »meiner war der Kienböck«, bei dem er am Samstag in der Nationalbank »sein wöchentliches Rigorosum« zu absolvieren hatte. Am restriktiven Budgetkurs änderte sich nichts. Die Investitionen wurden 1936 gekürzt. Auch eine 1937 aufgelegte »Investitionsanleihe« von 180 Mio. trug ihren Namen nicht ganz zu Recht, denn sie diente vor allem der Rückzahlung alter Schulden. Über steigende Budgetposten konnte sich nur das Bundesheer freuen. Schuschnigg beugte sich – bei allen persönlichen Vorbehalten – den Sachzwängen, so wie sie die Fachleute interpretierten. Zwar belebte das Juli-Abkommen die Exporte ins Reich. Schuschnigg hielt es seinem neuen Handelsminister Taucher zugute, dass bei der Alpine jetzt wieder alle Hochöfen in Betrieb genommen werden konnten ; die Geschäfte gingen dort inzwischen so gut, dass der Konzern bereits englische Aufträge zurückwies ; die Metallarbeiter wurden 1937 dreimal erfolgreich um Lohnerhöhungen vorstellig. Dafür brach im August 1937 die internationale Konjunktur erneut ein. Vor allem die Textilbranche klagte aufs Neue. Als Fazit der Industriepolitik verzeichnet die Statistik einen Rückgang der Bundesausgaben zwischen 1934 und 1937 von über 24 % auf knapp 21 % des BNP.815 Die hohe Arbeitslosigkeit wird oft ins Treffen geführt, um die Popularität des Nationalsozialismus zu erklären. Nun ist der Aufstieg der NSDAP zur mit Abstand stärksten Partei der Weimarer Republik ohne die Weltwirtschaftskrise tatsächlich schwer vorstellbar. Es wäre aber wohl irrig anzunehmen, der Film ließe sich einfach zurückspulen, sobald die Konjunktur wieder anspringe. Das rasche Wachstum der deutschen Wirtschaft, auch wenn es auf Pump gebaut war, erhöhte zweifellos die Attraktivität des »Dritten Reiches« für die Österreicher. Zwischen 1933 und 1937 wuchs die deutsche Wirtschaft um 43 %, die österreichische um 12 % – das war eine Spur weniger als in den meisten anderen Nachbarländern, von den 15 % in der Tschechoslowakei bis zu den 23 % in Ungarn. In der Schweiz und in Frankreich war
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die Stagnation sogar noch auffälliger – allerdings war dort auch der Einschnitt bis 1933 nicht so dramatisch verlaufen.816 Sonntagsredner mögen das »eigentliche Debakel« des Regimes in seiner Wirtschafts- und Sozialpolitik erblicken. Doch bei aller Kritik am Detail und am missionarischen Eifer Kienböcks und Draxlers, ein rücksichtsloses »deficit spending« nach deutschem Vorbild war für einen Kleinstaat mit negativer Handelsbilanz nicht so leicht zu bewerkstelligen. Der Außenhandel war in der Weltwirtschaftskrise noch viel stärker zurückgegangen als die Produktion. Im beschränkten Rahmen Österreichs konnte – anders als im Reich oder in den USA – keine noch so bemühte »Ankurbelung« des Konsums den Exportrückgang wettmachen. Entscheidende Bedeutung kam der Arbeitsbeschaffung für das Wohl und Wehe des Regimes aber wiederum nicht zu. Das Regime hatte in dieser Beziehung wenig zu verlieren. Die Industriearbeiterschaft hatte nie eine besondere Affinität zu den Parteien bekundet, die an der Wiege des Ständestaates standen, unabhängig von allen Konjunkturzyklen. Auch die Lager des Freiwilligen Arbeitsdienstes – mit ihren Zwangsbeiträgen für die VF – galten als Brutstätten der Opposition (oder wie Raab es später einmal ausdrückte : Am Bau nehme man stets »die politisch Gestrandeten auf«). Zwischen den diversen Lagern der Opposition mochten sich Verschiebungen ergeben, doch der »christliche Ständestaat« hatte in diesem Revier von vornherein wenig Chance zu punkten.817 Ganz anders stellt sich die Lage in der Landwirtschaft dar : Dort war das Gros der potenziellen Anhänger des vaterländischen Kurses beheimatet. Die Maßnahmen der Jahre 1931/32 hatten den inländischen Markt weitgehend für heimische Produzenten reserviert. Doch schon bald machte sich der sprichwörtliche Schweinezyklus bemerkbar. Die Förderungen – und die billigen Importe an Futtermitteln, wie z. B. Mais aus Rumänien – führten zur Überproduktion, die Überproduktion zum Preisverfall. Schon 1933 versuchte man z. B. die Schweinemast durch eine eigene Lizenzgebühr auf Futtermittel wiederum zu drosseln. Die vom Milchausgleichsfond subventionierte Butter musste regelrecht verschleudert, der Rübenanbau 1935/36 um 20 % gedrosselt werden.818 Ende 1935 – wohlgemerkt, zu einem Zeitpunkt, als die Weltwirtschaftskrise ihre Talsohle schon längst durchschritten hatte – hieß es dann, die Vieh- und Holzpreise seien binnen eines Jahres um 40–50 % gefallen. Reither warnte, ohne Entschuldungsaktion stünden 60 % der Bergbauernbetriebe vor der Exekution. Alle waren sich jedoch auch darüber im Klaren : Kredit heißt Vertrauen. Wenn man die Zwangsversteigerungen einfach aussetzte oder einstellte, bekämen die Bauern bald überhaupt keinen Kredit mehr. Allenfalls in besonders krassen Fällen (wenn z. B. der Verkaufserlös unter 80 % des Schätzwerts betragen hätte), wurde seit August 1932 ein gewisser »Exekutionsschutz« wirksam. Erst die Nationalsozialisten verkündeten dann bereits am ersten Tag nach ihrer Machtergreifung ein Moratorium ; die Abhängigkeit der Bauern übertrug sich von den Banken auf den Staat.819
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Politische Sorgen musste der Regierung in erster Linie dieser Sektor bereiten, wo säkulare Trends sich mit kurzfristigen Krisenerscheinungen zu einem schwer entwirrbaren Knäuel verdichteten. Der Rückhalt bei ihrer Stammklientel begann möglicherweise nach 1934 (weiter) zu erodieren. Die Not der Bergbauern ließ den Anschluss als Rettung vor den wirtschaftlichen Schwierigkeiten auch für Kreise attraktiv erscheinen, die aufgrund ihrer katholischen Überzeugung den »neuheidnischen«, auf alle Fälle aber kulturkämpferischen Allüren der Nationalsozialisten mit prinzipieller Skepsis gegenüberstanden. Landarbeiter werden darüber hinaus oft als eine Schicht genannt, die für den Slogan von der »Volksgemeinschaft« empfänglich war und den Nationalsozialismus als Chance für eine Emanzipation betrachtete, die vielfach mit der Abwanderung in die Städte verbunden war – eine Entwicklung, die den bäuerlichen Besitzern dann wiederum sehr gegen den Strich ging. Freilich : Ein entscheidender Impuls zum Zusammenbruch des Regimes ging auch von dieser Misere im bäuerlichen Hinterland nicht aus. Die Nazis spalten : Seyß-Inquart und Göring Das Regime stolperte letztendlich nicht über seine ökonomische Performance oder auch über den Grad seiner Popularität, sondern ging in erster Linie an der Konfrontation mit der benachbarten Großmacht zugrunde, der es letztendlich doch nicht auszuweichen vermochte. Die Ausgangsbasis war brutal einfach. Die Krise war nahezu unausweichlich, sofern es nicht gelang, Hitler ein Arrangement schmackhaft zu machen, das Österreich bei außenpolitischem Wohlverhalten seine innere Autonomie beließ, wie es in abgestufter Form bei vielen der Nachbar- und Nachfolgestaaten früher oder später zum Tragen kam. Mit der Mentalreservation, keine kriegerischen Abenteuer mitzumachen, war Schuschnigg für seinen Teil zu einem solchen Agreement durchaus bereit. Als Knackpunkt mochte im Hintergrund seine mehrfach dokumentierte Weigerung stehen, sich an einer allfälligen Aktion gegen die Tschechoslowakei zu beteiligen. Doch so weit waren diese Überlegungen hüben und drüben bis 1938 noch gar nicht gediehen. Im Vordergrund – so scheint es – standen vielmehr immer wieder die Schmerzen der österreichischen Nationalsozialisten, die ein solches Arrangement auf Dauer in die zweite Reihe verbannen würde. 1937 war ein Jahr ohne außenpolitische Krisen, bis auf die Manöver im Zusammenhang mit dem Spanischen Bürgerkrieg. Deutschland und Italien waren beide Franco zu Hilfe geeilt. Hitler mit wenigen Spezialeinheiten, wie den Fliegern der Legion Condor ; Mussolini mit Zehntausenden von Freiwilligen, in einem Ausmaß, das Franco bereits Kopfzerbrechen bereitete. Für Mussolini war Spanien weit mehr eine Herzens-, Prestige- und strategische Frage als für Hitler. Vor dem Hintergrund dieses massiven Engagements ist die berühmte Anweisung des neuen italienischen Außenministers Graf Ciano zu sehen, die Aufgabe des Gesandten in Wien sei es, dem
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österreichischen Patienten heimlich Sauerstoff zuzuführen, ohne dass der reichsdeutsche Erbe davon erfahre. Aber im Zweifelsfall sei man mehr am Wohlwollen des Erben als am Patienten interessiert. Hitler gab im Oktober 1937 noch die Weisung aus, das österreichische Problem solle keineswegs in absehbarer Zeit »zum Platzen gebracht« werden. Bekannt, doch meist missverstanden ist in diesem Zusammenhang das sogenannte Hoßbach-Protokoll vom 5. November 1937, als Hitler – vor Militärs, die ganz andere Entscheidungen von ihm erwarteten – darüber spekulierte, einen Konflikt zwischen Italien und Frankreich sofort zu einem Vorgehen gegen Österreich und/oder die Tschechoslowakei zu nützen. Um diese Prioritäten herauszufinden, bedurfte es keiner Geheimkonferenzen. Ein Blick auf die Karte genügte. Auffällig war allenfalls, dass Polen – als bevorzugter Reibebaum aller Preußen – damals auf dieser Liste noch nicht aufschien. Wie man weiß, hielt sich Hitler nicht an diesen vermeintlichen Fahrplan. Keine der Eventualitäten, die als mögliche Auslöser dieser Expansion hätten dienen sollen, traf ein : Der Krieg im Mittelmeer brach nicht aus ; aber die Gelegenheit für ein Ausgreifen in Mitteleuropa ergab sich dennoch.820 Einen besonders gefinkelten Plan, der Schritt für Schritt in die Tat umgesetzt wurde, muss man dabei keinem der Beteiligten unterstellen. Die Geschichte ist oft nacherzählt worden. Es genügt, ihre wesentlichen Stationen kurz Revue passieren zu lassen. Die zwiespältige Position der »nationalen Opposition« seit dem Juli-Abkommen sorgte immer wieder für Irritationen auf beiden Seiten. Gegen Mitte 1937 hatten sich schon einmal die Klagen gehäuft, das Juli-Abkommen hätte eigentlich nichts bewirkt.821 Das Regime konnte sich nicht zu einer großen Geste durchringen, aus Gründen, die von kleinlichen Ressentiments bis zu der Befürchtung reichten, mit jedem weiteren Zugeständnis einen Dammbruch auszulösen. Zu sehr war man sich bewusst, dass gerade in den städtischen Zentren die Opposition die überwältigende Mehrheit hinter sich, die NSDAP noch dazu im Behördenapparat überall ihre Sympathisanten hatte. Sogar die Sekretärin des VF-Generalsekretärs Adam hatte, wie sich herausstellte, für die Illegalen gearbeitet. Aus einer solchen Position auf der Spitze des Vulkans heraus tat man sich schwer, Großzügigkeit zu demonstrieren. Schuschnigg behalf sich daher lange mit Taktieren. Der Ernennung Glaise-Horstenaus 1936 folgte die Sommerpause ; dann kam der finale Krach mit Starhemberg, gefolgt von einem Experiment Neustädter-Stürmers, der in einer Art Diagonale zwischen Schuschnigg und Starhemberg die Exponenten der »nationalen Opposition« in einem »Deutsch-Sozialen Volksbund« sammeln wollte, der von den nationalen Industriellen des nun zweifellos legalen Bundeswirtschaftsrates und sonstigen Honoratioren – wie dem inzwischen pensionierten General Geng oder dem Nobelpreisträger Wagner-Jauregg – bis zu Leopold und diversen Gauleitern der »Illegalen« reichte. Schuschnigg ließ Neustädter-Stürmer anfangs gewähren, erklärte den
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Verein im Februar 1937 dann doch für unerwünscht, kurz danach auch NeustädterStürmer selbst, der am 20. März 1937 endgültig aus der Regierung ausschied.822 Zurück blieb ein Siebener-Ausschuß, eine Mini-Version des fast 500 Namen zählenden »deutsch-sozialen« Proponentenkomitees, das ebenfalls die ganze Bandbreite des Spektrums abdeckte, von Neustädter-Stürmers Mitarbeiter Berghammer über alte großdeutsche Beamte (Wolsegger) und katholisch-nationale Professoren (Menghin) bis zu Hauptmann Leopold als Landesleiter der »Illegalen«, seinem niederösterreichischen Gauleiter Jury und seinem Leibjournalisten Gilbert In der Maur, der einst für Schober die Trommel gerührt hatte. Der Siebener-Ausschuß verfügte ganz offiziell über ein Büro in der Teinfaltstraße – was Polizeipräsident Skubl die Überwachung sehr erleichterte. Im Rahmen der NS-Bewegung verkörperte Leopold den aktivistischen, plebejischen Flügel. Neustädter-Stürmer hatte den Hebel bewusst bei den »Radikalen« ansetzen wollen – die »alten Kämpfer« würden sich letztendlich besser vertragen, so meinte er, als die Intriganten »aus der Etappe«. Schuschnigg ließ den Gesprächsfaden nicht abreißen, versuchte aber – genauso wie Papen es auf der anderen Seite tat – auch mit dem anderen Flügel der »nationalen Opposition« ins Gespräch zu kommen. Dort bot sich als Ansprechpartner nach Reinthaller jetzt Arthur Seyß-Inquart an, der im Juni 1937 deshalb in den Staatsrat berufen wurde, das »Herrenhaus« des Ständestaates, das keinerlei berufsständische Qualifikationen voraussetzte.823 Der aus Mähren gebürtige Seyß-Inquart – sein Vater war Direktor der Schule gewesen, die Czermak in Iglau besucht hatte – war ein Mann der gut vernetzten Wiener Eliten. Was ihn empfahl, war nicht bloß, dass er in seiner Pfarre Dornbach fleißig die Messe besuchte. Er war – wie Dollfuß – in den Zwanzigerjahren Mitglied der lagerübergreifenden katholisch-nationalen »Deutschen Gemeinschaft« gewesen, dann Stellvertreter Neubachers im »Österreichisch-Deutschen Volksbund«, mehr noch : Er war als Anwalt – mit einer Kanzlei in der Innenstadt, gleich neben dem Hauptgebäude der CA, Am Hof 5 – Rechtsberater der Katholischen Frauenbewegung gewesen (und aufgrund dieser Verbindung auch von Fanny Starhemberg 1932 ausgesandt worden, ein Auge auf die Ordnung der Finanzen ihres Sohnes zu werfen). Zur NSDAP war er über den Steirischen Heimatschutz gestoßen, ihr aber nicht beigetreten. Hitler sei er anfangs kein Begriff gewesen, meint Schuschnigg. (Neurath sprach noch Anfang 1938 von »Glaise und wie heißt der zweite ?«) Um sich ein wenig Bewegungsfreiheit zu verschaffen, ergriff Schuschnigg die Gelegenheit zu einem divide et impera, wie es bei den Heimwehren so reiche Früchte getragen hatte. »Für einen Moment schien es ja wirklich, als wäre es gelungen, die Nazi in Österreich zu spalten.« Er billigte Seyß auch nach dem Krieg weiterhin die gute Absicht zu, die Aktivisten niederzuhalten, denn es lag in seinem Interesse, »Leopold und seine Leute kalt zu stellen«.824 Die Spannungen innerhalb der österreichischen »Illegalen« waren ein offenes Geheimnis. Leopold verfolgte den Aufstieg Seyß-Inquarts mit Argusaugen – und
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mit unverhohlener Schadenfreude. Denn das Regime erweckte weiterhin den fatalen Eindruck der Unaufrichtigkeit. Es offerierte auf der einen Seite gewisse Zugeständnisse, die es auf der anderen Seite umgehend infrage stellte. Wolfgang Rosar hat die wechselseitigen Vorwürfe in die Formel gefasst : »Das Regime redete sich auf die Aktivität der Illegalen aus und die Illegalen auf die Passivität des Regimes.« Zur »Heranziehung der nationalen Kreise zur politischen Willensbildung« wurden im Herbst 1937 die »Volkspolitischen Referate« aktiviert, zugleich aber erstmals eine Aufnahmesperre für die VF verkündet. Leopold höhnte, die Referate seien bestenfalls als »Klagemauern« zu gebrauchen. Als Dachverband der Volkspolitischen Referate hatte Seyß-Inquart die Errichtung einer »Volksdeutschen Gemeinschaft« angepeilt, die natürlich einer »Fraktionierung« der VF gleichkam. Wiederum ergaben sich Schwierigkeiten : Seyß-Inquart drohte wiederholt mit dem Rücktritt. Schuschnigg und Zernatto verwiesen auf die Widerstände in den eigenen Reihen, die es zu überwinden gelte : »Was sagen unsere vaterländischen Bonzen ? […] Die Katholische Aktion läuft Sturm.« Wie immer, wenn autoritäre Führungen derlei Ausreden bemühen, ist Vorsicht am Platze : Handelte es sich dabei um einen Vorwand oder um tatsächliches Unvermögen ?825 Zur Ergänzung dieser heimischen Strategie (allenfalls auch als Ersatz ?) wurde – so wie es auch Starhemberg angepeilt hatte – eine Verbindung mit Göring ins Auge gefasst. Damit rührte Schuschnigg an ein Tabu, wenn man so will, eine Lebenslüge des Regimes. Die österreichische Regierung hatte stets auf der Nichteinmischung des Reiches in die inneren Angelegenheiten Österreichs bestanden. Dieser Souveränitätsstandpunkt befand sich völlig im Einklang mit den völkerrechtlichen Usancen. Aber beruhte er letztendlich nicht doch auf einer Fiktion ? Die österreichischen Nazis erwarteten nun einmal das Heil von »draußen«, von ihrem »Führer«. Die versprochene Neutralität Berlins wurde von ihnen nicht ernst genommen. Solange diese Erwartungshaltung anhielt, lag eine Befriedung nicht im Interesse der »Illegalen«, die vielmehr auf den Mitleidseffekt setzten, um das Reich zum Eingreifen zu bewegen. Wenn sich der Einfluss Berlins schon nicht leugnen ließ, war es dann nicht vernünftig, den Hebel in Berlin anzusetzen ? Oder wie ein geflügeltes Wort schon im Ersten Weltkrieg gelautet hatte : Ist die Annäherung an das Deutsche Reich wünschenswert ? Nein – sie ist notwendig. Guido Schmidt skizzierte die Rationale einer solchen Annäherung im November 1937 : Man müsse Göring als dem Beauftragten für den Vierjahresplan in der Devisenfrage entgegenkommen, »ihm gegen Goebbels helfen«, sprich : die technokratische Komponente des Dritten Reiches gegen die Ideologen und Parteifunktionäre ausspielen. Göring hatte sich – im Sinne einer good cop, bad cop-Strategie, aber wohl auch im Einklang mit seinen persönlichen Sympathien – immer wieder gegen Habicht und die Clique um Leopold ausgesprochen. Er schien der gegebene Mann, die verstockten Widerspenstigen unter den Illegalen zu zähmen. Schmidt hatte Gö-
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ring erst unlängst auf seinem Landsitz in Karinhall besucht. Was lag da näher als eine Gegeneinladung des Reichsjägermeisters Göring auf ein paar Gemsen im alpinen Rahmen, z. B. im Karwendelgebirge – wo dann auch auf den Bergesspitzen keine störenden Demonstrationen zu gewärtigen wären ? Doch Göring – oder seine Berater – rochen den Braten und machten das Treffen ganz offenbar von einer vorhergehenden Einigung in den anstehenden Finanzfragen abhängig.826 Dafür spann Papen den Faden weiter. Schon Anfang Jänner 1938 kreuzte er mit der Idee auf : Warum nicht gleich ein »Gipfeltreffen« zwischen Schuschnigg und Hitler arrangieren ? Die Fritsch-Krise im Reich, die am 4. Februar 1938 zur Abberufung des Reichswehrministers, des Generalstabschefs, des Außenministers Neurath und Papens führte, wirkte bloß noch als Katalysator. Papen – der von seiner Abberufung übers Radio erfuhr – wurde am nächsten Tag überraschend zu Hitler beschieden und kam mit der Einladung noch einmal nach Wien zurück. Er musste den Plan jetzt sofort umsetzen, wenn er seine Mission noch mit einem Erfolg abschließen wollte. Ein solches Angebot war für Schuschnigg ohne Brüskierung Hitlers schwer abzulehnen. Auch Mussolini gab seinen Sanktus dazu. Als Termin wurde der 12.Februar in Hitlers »Adlernest« am Obersalzberg bei Berchtesgaden vereinbart. Schuschnigg soll auf der Hinfahrt noch mit Galgenhumor gescherzt haben, vielleicht hätte er als Begleiter Wagner-Jauregg mitnehmen sollen, den nobelpreisgekrönten Psychiater. Zumindest in dieser Beziehung wurde er nicht enttäuscht. Hitler spielte die Rolle des »wilden Mannes« mit Verve und Begeisterung. Die Unterredung verlief in einer »Atmosphäre der Erpressung«. Er hatte zu dem Zweck am »Berghof« extra eine Schar von monokelbewehrten Generalen versammelt, sorgsam ausgewählt wegen ihres besonders martialischen Aussehens. Als Ergebnis der theatralisch aufgezogenen Inszenierung sagte Schuschnigg zu, als Krönung der im Juli-Abkommen festgelegten »Heranziehung nationaler Kreise zur politischen Willensbildung« Seyß-Inquart zum Innenminister zu berufen – aller dings ohne die Sicherheitsagenden, die weiterhin bei Skubl lagen, der direkt dem Kanzler unterstellt blieb. Mit dem Versicherungsdirektor Hans Fischböck – der bei der Verkehrsbank der Schoellers begonnen hatte und sich mit Kienböck gut verstand – sollte sich ein zweiter Vertrauensmann des Reiches der wirtschaftlichen Seite annehmen. Die ursprüngliche Idee Hitlers, Glaise-Horstenau zum Heeresminister zu befördern, wurde stillschweigend fallengelassen. Selbst jetzt waren die Formulierungen, auf die man sich einigte, weiterhin doppeldeutig : Der österreichische Nationalsozialist solle grundsätzlich die Möglichkeit legaler Betätigung im Rahmen der VF haben, und zwar »auf dem Boden der Verfassung in Gleichstellung mit allen anderen Gruppen« – sprich : als perfekte Quadratur des Kreises in Gleichstellung mit Gruppen, die es auf dem Boden dieser Verfassung eben ausdrücklich nicht gab !827 Doch in der am 16. Februar gebildeten neuen Regierung Schuschnigg gab es diese »Gruppen« unübersehbar doch. Das neue Kabinett sei ein »Sammelsurium verschie
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dener Existenzen und Schattierungen«, befand Wildner. Seyß-Inquart war bei Weitem nicht die einzige Neuerwerbung. Taucher wurde als Handelsminister durch Raab abgelöst, der auch Fischböck zugeteilt erhielt, doch bloß als Konsulenten »ohne jede Akteneinsicht«, nicht als Staatssekretär. Zum Staatssekretär wurde dafür – mit e inem Stallgeruch aus Heimwehr und Legitimismus – der Salzburger Industriellenchef Ludwig Stepski-Doliwa ernannt (wie Streeruwitz oder Klimann ein ehemaliger Berufsoffizier). Schließlich befand sich unter Schuschniggs »bunten Vögeln« auch ein besonders exotisches Exemplar : Adolf Watzek, ein waschechter Sozialdemokrat und ehemaliger Leiter des Arbeitsamts der Metaller als Staatssekretär für »Arbeiter- und Angestelltenschutz«. Ursprünglich wollte man auf Vorschlag von Schmitz gar Friedrich Hillegeist ernennen, den Vorsitzenden der illegalen Gewerkschaft der Privatangestellten, konnte ihn aber angeblich nicht rechtzeitig ausfindig machen.828 Berchtesgaden war ein Schock, wegen der Begleiterscheinungen. Doch von der politischen Linie her entsprach es der Strategie, auf die Schuschnigg und Schmidt im letzten halben Jahr gesetzt hatten. Sie verbanden damit die Erwartung, dass SeyßInquart – jetzt, wo die Mitwirkung an der politischen Willensbildung gegeben und er als einziger Ansprechpartner Berlins in Österreich anerkannt war – auch tatsächlich die Radikalinskis unter den mehr oder weniger legalisierten Illegalen in die Schranken weisen würde, bei denen erst vor Kurzem ein Aufstandsplan (Tavs-Plan) entdeckt worden war. Diese Absicht war vermutlich auch gegeben. »Die Pläne Rainers [des Kärntner Rivalen Leopolds] zielten auf eine weitgehende Zerschlagung dieser alten Parteiorganisation hin«, gab einer seiner Verbindungsleute zu – und fügte aufatmend hinzu : Diese Überlegung »wurde durch den raschen Gang der Entwicklung überholt«. Denn genau diesen Erfolg wollte die »Basis« den Seyß-Inquarts dieser Welt, den Intellektuellen, die auf Hintertreppen zu Amt und Würden gelangt waren, nicht gönnen. Zwar wurde Landesleiter Leopold abberufen, heim ins Reich, wo er keine politischen Posten mehr bekleiden sollte ; sein Stellvertreter Schattenfroh war schon früher in Ungnade gefallen (wie man munkelte, wegen seiner jüdischen Frau) ; auch Persche wurde an der Spitze der SA abgelöst. Doch in der Provinz »brodelte« es ; verschwammen die Grenzen zwischen dem Leopold-Flügel und seinen Rivalen. Die volkspolitischen Referenten in der Steiermark und in Salzburg erklärten, sie hätten keine Lust mehr, ihre Leute zurückzuhalten. Seyß-Inquart predigte vergeblich »Ernst, Sammlung und Disziplin«. Leopold war abgesetzt worden, doch sein Nachfolger Hubert Klausner und seine Kärntner Gefolgsleute wollten ihre Popularität nicht aufs Spiel setzen, auch wenn ihr Auftrag anders lautete. Klausner stellte sich auch pflichtschuldigst nicht mehr als »Landesleiter« vor, sondern als »Führer der österreichischen Nationalsozialisten«, sprich : nicht mehr als Chef einer illegalen Organisation, sondern nur mehr einer ideellen – und daher seit Berchtesgaden legalen – Gemeinschaft.
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Derlei Spitzfindigkeiten beeindruckten niemand. Die »Illegalen« erweckten den Eindruck, als ob sie bereits die Straßen beherrschten. Höhepunkt war das Hissen der Hakenkreuzflagge auf dem Rathaus von Graz am 24. Februar, das deshalb später als »Stadt der Volkserhebung« gefeiert wurde. Landeshauptmann Stepan setzte prompt den Grazer Bürgermeister ab, der derlei Übergriffe toleriert hatte – und wurde seinerseits von Schuschnigg abberufen, der Seyß-Inquart nach Graz schickte, um für Ordnung zu sorgen. Seyß-Inquart erwog sogar schon die Verhängung des Standrechtes, ließ sich aber dann doch lieber von den Grazern feiern. Hitler hatte am 26. Februar klargemacht, eine »gewaltsame Lösung« sei ihm im Augenblick unerwünscht und am 1. März eine interne Anweisung erlassen, das Prestige der österreichischen Regierung nach Möglichkeit zu schonen. Doch seine österreichischen Anhänger wollten ihr Blatt auslizitieren, in einer Grauzone zwischen der Spekulation auf Rückendeckung von außen und spontanem Aktionismus im Inneren das Eisen schmieden, solange es heiß war.829 Der Dammbruch Damit schien der befürchtete Dammbruch gekommen. Um klare Grenzen zu ziehen und der Entmutigung der eigenen Leute entgegenzuwirken, begann jetzt auch Schuschnigg die VF zu mobilisieren. Am 24. Februar hielt der Kanzler im Bundesrat seine berühmte Rede, die mit den Worten ausklang : »Rot-weiß-rot« bis in den Tod. »Bis hierher und nicht weiter.« Um den 3. März scheint er zum Entschluss gekommen zu sein, sich mit einer Volksabstimmung über die österreichische Unabhängigkeit ein klares Mandat zu verschaffen. Die Ankündigung erfolgte am 9. März in Innsbruck, dem Lokalkolorit entsprechend unter Bezug auf Andreas Hofers : »Mander, es ischt Zeit.« Die Volksabstimmung war ein taktischer Fehler (von allen administrativen Bedenken einmal abgesehen). Sie bot Hitler die willkommene Gelegenheit, die beleidigte Unschuld zu mimen und von einem Bruch der Berchtesgadener Vereinbarungen zu sprechen, weil dort wechselseitige Information über alle wesentlichen politischen Schritte vereinbart worden war. Auf der anderen Seite enthielt sie keine wirkliche Gewinnchance, wie Mussolini den Kanzler sofort wissen ließ : »Wenn es gut ausgeht, wird man sagen, sie sei manipuliert ; wenn sie schlecht ausgeht, sind wir verloren.« Schuschnigg ergänzte : »Da habe ich aber das Gefühl gehabt, ich kann nicht mehr zurück.«830 Schuschniggs Plan war aufgrund des Informantennetzes der Nationalsozialisten schon vor dem 9. März für die deutsche Seite kein Geheimnis mehr geblieben. SeyßInquart wollte retten, was zu retten war, und begann mit Schuschnigg über die Parole der Volksabstimmung zu verhandeln. Vielleicht könne man den Appell ja doch noch zu einer gemeinsamen Kundgebung umfunktionieren. Doch inzwischen hatte sich die zweite Reihe hinter Seyß-Inquart, die Kärntner SS-Gruppe, aber auch Hue-
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ber und Glaise (der zufällig gerade auf einer Vortragstour in Deutschland unterwegs war), längst mit Berlin ins Einvernehmen gesetzt. Dort war es jetzt insbesondere Göring und sein Sonderbeauftragter Keppler, die darauf drängten, den gordischen Knoten durch eine Machtübernahme von oben zu durchschlagen. Den Gnadenstoß versetzten Schuschnigg somit ausgerechnet die Kräfte, auf die er gesetzt hatte, um den Rabauken das Wasser abzugraben. Göring blieb bis zu einem gewissen Grad der Linie treu, den Revoluzzern keinen Erfolg zu gönnen – aber nicht, indem er sie zurückpfiff, sondern indem er ihnen zuvorkam. Ein stehender Topos der »Erinnerungskultur« der Sechziger- und Siebzigerjahre war die Enttäuschung der österreichischen, insbesondere der Wiener Nazis über die Funktionäre aus dem »Altreich«, die ihnen 1938 die Posten vor der Nase weggeschnappt hatten. Oder wie es Gerhard Botz formuliert hat : Der Übergang von der »Bewegung« zum »Regime« vollzog sich in Österreich viel schneller. Offen bleibt, ob für viele der weniger enthusiastischen Volksgenossen die Machtübernahme von außen nicht vielleicht sogar der Machtergreifung im Inneren vorzuziehen war ? Man fürchtete, eine »Pseudounabhängigkeit« hätte viel radikalere Strömungen an die Oberfläche gespült. Ohne die hingeworfene Bemerkung überbewerten zu wollen, ist es in dem Zusammenhang vielleicht bezeichnend, dass SS-Chef Heinrich Himmler – der schon in der Nacht vom 11. auf den 12. März in Wien eintraf – einen Einmarsch der Wehrmacht offenbar für unnötig hielt.831 In der Nacht vom 10. zum 11. März wurde Seyß-Inquart im Hotel Regina das Ultimatum Berlins überbracht : Die Volksabstimmung müsse abgesagt werden ; sobald diese Forderung erfüllt war, wurde unter Androhung des Einmarsches der Wehrmacht dann der Rücktritt der Regierung und die Ernennung Seyß-Inquarts zum Bundeskanzler gefordert. Zur selben Zeit tagte in einer anderen Ecke Wiens, im Café Meteor in der Fasangasse, auch das Komitee der RS. Es waren seit einiger Zeit Versuche in Gang, in der Konfrontation mit Hitler die Linke hinter der Regierung zu vergattern. Die Verhandlungen führten Staud als Obmann der Einheitsgewerkschaft, Staatssekretär Hans Rott (früher Obmann der christlichen Postbeamten) und zum Teil auch der Wiener Bürgermeister Schmitz. Die Kommunisten waren – im Sinne der seit 1935 proklamierten Volksfronttaktik – sofort dafür ; auch der rechte Flügel der alten Sozialdemokraten um Renner sah hier eine Möglichkeit gegeben, für die Arbeiterbewegung entscheidende Verbesserungen durchzusetzen. Zunächst ließ die Regierung in den Betrieben bloß Unterschriftenlisten zirkulieren. Der klassische regimetreue Passus »christlich-national« wurde dabei vielfach gestrichen. Mit dem Entschluss zur Volksabstimmung intensivierten sich die Kontakte. Am 3. März hatte Schuschnigg eine Arbeiterdelegation empfangen, am 7. März fand in Floridsdorf eine Konferenz »offizieller Illegaler« statt. Die Mehrheit der Sozialisten – besonders energisch äußerte sich dazu Franz Olah – wollte zumindest gewisse Bedingungen erfüllt wissen, in erster Linie freie Wahlen im Gewerkschaftsbund,
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stieß damit aber bei Staud auf hartnäckigen Widerstand. Einzelne prominente Funktionäre sollten in Führungspositionen gehievt werden : Karl Hans Sailer wurde für die Leitung der Sozialen Arbeitsgemeinschaft in Aussicht genommen, Johann Böhm die Übernahme seiner alten Bauarbeitergewerkschaft angeboten. Am 10. März wurde ein Amtsvermerk zu Papier gebracht, das Tragen roter Nelken sei ab jetzt in der Öffentlichkeit erlaubt. Doch von einer generellen Preisgabe des Regimes und seiner Institutionen wollten weder Staud noch Schuschnigg etwas wissen. Es ging ihnen um einen publizistischen Schulterschluss, ein Gegengewicht zur Heranziehung der Nationalen, nicht um eine »Volksfrontregierung«, die bei allen Nachbarn auf Ablehnung gestoßen wäre. Die RS standen Gewehr bei Fuß. Buttinger sah die Arbeiterbewegung vor ein unlösbares Dilemma gestellt. Im Inneren ließe sich das Steuer seiner Meinung nach nur herumreißen, wenn die Regierung zur Gewaltanwendung gegen die exzedierenden Nationalsozialisten bereit sei. Aber gerade dieser Weg, »wenn er wirklich beschritten würde, könnte den Untergang nur beschleunigen«, weil er zu einer militärischen Intervention des Deutschen Reiches führen würde. Die Illusionen Otto Bauers über Hilfe von außen teilte er nicht. Die RS erklärten sich deshalb in der fraglichen Nacht zwar zähneknirschend bereit, mit einer Gegenstimme und zwei Enthaltungen, für die Volksabstimmung eine Ja-Parole auszugeben : Nicht für Schuschnigg, aber gegen Hitler. Dahinter liefen aber bereits die Vorbereitungen für die unausweichliche Machtübernahme der Nazis. Besonders gefährdete Genossen sollten über die Grenze gebracht werden, andere untertauchen. An der Basis war die Stimmung offenbar alles andere als einheitlich. Ein Teil wollte den Kampf gegen Hitler aufnehmen, allenfalls auch militärischen Widerstand leisten ; ein anderer fürchtete, damit bloß vor die Gewehre der Gegner gelockt zu werden, als »Kugelfang« zu dienen. Ein Teilnehmer an den Beratungen – eine der beiden Enthaltungen – schätzt das Verhältnis auf fifty-fifty. In Wien sei in den Bezirken südlich der Donau kaum jemand für eine solche Auseinandersetzung zu begeistern gewesen.832 Was bei den Debatten um die Einbindung der linken Opposition meist übersehen wird : Bei einer militärischen Auseinandersetzung wäre die Haltung der Sozialdemokraten nicht wirklich ins Gewicht gefallen. Auf eine militärische Auseinandersetzung hatte es Schuschnigg allerdings auch gar nicht angelegt. Die Mobilisierung für die Volksabstimmung sollte nur der Mobilisierung der Illegalen vom Vormonat entsprechend Paroli bieten. Schuschniggs Ziel war es gewesen, Österreich aus den Turbulenzen, die sich mit Hitlers Machtergreifung ergaben, so weit wie möglich herauszuhalten. Er wollte weder die Volksfront und den Kampf bis aufs Messer noch die völlige Einverleibung Österreichs, sondern einen »dritten Weg« als modus vivendi. Die Illegalen fürchteten bis zuletzt, er könne damit vielleicht doch noch Erfolg haben (»von unserem Standpunkt wäre eine solche Entwicklung nicht erwünscht gewesen«) ; möglicherweise scheiterte er an den typisch österreichischen Halbhei-
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ten, mit denen diese Strategie 1937/38 umgesetzt bzw. eben nicht umgesetzt wurde. Schuschnigg war an einer Abschreckungsfront interessiert, die einen weiteren Zeitgewinn ermöglichte. Aber er wollte keinen großen Krieg vom Zaun brechen, der mit einer Niederlage Hitlers auch die Vernichtung Deutschlands und wer weiß was für Folgewirkungen nach sich zog. Schon 1935 hatte er Mussolini gestanden, Österreich könne sich zwar gegen eventuelle Einfälle der Österreichischen Legion oder weitere Putschversuche wehren, doch wenn ein offizieller Angriff erfolge, »können wir uns nur unterwerfen«.833 In diesem Sinne beruhte die österreichische Abwehrhaltung letztendlich auf einem Bluff. Ein großer Krieg – ob man ihn jetzt in Kauf nehmen wollte oder nicht – zeichnete sich im März 1938 allerdings auch nicht ab. Österreich hätte im Falle eines bewaffneten Widerstands damals mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit keine Unterstützung gefunden – aus guten Gründen. England brachte für Österreich »rein platonische Sympathien« auf, wie es Vansittarts Nachfolger Sir Alexander C adogan ausdrückte, der sich erleichtert zeigte, als die ganze Sache ohne Komplikationen über die Bühne ging : »Thank Goodness, Austria is out of the way.« Frankreich wollte nicht für Italien die Kastanien aus dem Feuer holen : Es machte jeden Schritt zugunsten Österreichs von der Unterstützung Englands und von einer Initiative Mussolinis abhängig. Dass Paris im März 1938 gerade wieder von einer Regierungskrise heimgesucht wurde, war in dieser Beziehung zweitrangig.834 Der französische Verbündete in Prag befleißigte sich ebenfalls demonstrativer Zurückhaltung. Dem tschechoslowakischen Außenminister Krofta hatte Paris erst vor Kurzem vertragsgemäß natürlich jegliche Unterstützung versprochen. Doch die Zusage war mit einer langen Wunschliste verknüpft : Dazu müsse man zuallererst das Verhältnis zu Italien einrenken, die Kleine Entente auf Vordermann bringen und die Beziehungen zu Polen verbessern. Inzwischen waren die genannten Ansprechpartner, Mussolini und Stojadinović, längst mit Glanz und Gloria in Berlin empfangen worden (den jugoslawischen Premier lud man in Berlin übrigens just zu einer Aufführung der »Fledermaus« ein). Die Polen hatten – mit einer Anspielung auf das Jahr 1683 – eben erst ausdrücklich erklärt, sie würden sich kein zweites Mal bei Wien schlagen.835 Auch in Österreich rieten die einschlägigen Fachleute nicht zum Widerstand : Staatssekretär Wilhelm Zehner war am 11. März nicht aufzufinden, wie Miklas nach dem Krieg beiläufig zu Protokoll gab ; Generalinspekteur Schilhavsky sah sich zwar bemüßigt, den Ruf des Heeres zu verteidigen : Er glaube nicht, dass es zu einem »IR 28 in neuer Form gekommen wäre«, sprich : dass Bundesheereinheiten die Seiten gewechselt hätten (wie man es dem Prager Regiment Nr. 28 im Jahre 1915 unterstellt hatte) ; aber er riet nicht zum Kampf. Hülgerth warnte, die Frontmiliz werde nicht gegen Deutschland kämpfen ; auch Skubl war der Meinung, auf die Wiener Polizei sei in einem solchen Fall »nicht zu bauen«.836 Auch der vor Kurzem – aber noch
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vor Berchtesgaden ! – routinemäßig pensionierte Generalstabschef Alfred Jansa hielt Widerstand im März 1938 für zwecklos. Sein sagenumwobener Jansa-Plan war keinesfalls darauf berechnet, die geeignetste Verteidigungsposition zu beziehen, um möglichst lange Widerstand leisten zu können, nämlich die Enns ; sondern schon weit vorher – spätestens an der Traun – Gefechte zu liefern, um potenzielle Verbündete auf den Plan zu rufen. Ohne die Aussicht auf nachhaltige Hilfe von dritter Seite ergab dieses Kalkül keinen Sinn. Jansas Hinweis, im Februar hätte sich vielleicht noch etwas machen lassen, war zum einen ein Plädoyer in eigener Sache ; zum anderen ein beherzigenswerter Hinweis auf die Psychologie der Sicherheitskräfte : Ein klarer Befehl ohne Wenn und Aber wäre fraglos befolgt worden, ohne Rücksicht auf persönliche Vorlieben (wie das selbst deklarierte Mitglieder des NS-Soldatenringes ihren Parteistellen eingestanden) ; doch nach einem Monat voller widersprüchlicher Signale mochte im Augenblick einer Regierungskrise niemand überflüssigerweise Kopf und Kragen riskieren.837 Anfang und Ende : Die Revolution von 1938 wies gewisse Parallelen zur Revolution von 1918 auf. In beiden Fällen handelte es sich nicht wirklich um eine Revolution, einen Umsturz allein aufgrund der inneren Dynamik, sondern um einen Kollaps, eine Implosion des herrschenden Regimes aufgrund äußeren Drucks. Es war der sich deutlich abzeichnende Sieg der Entente-Armeen, der 1918 einer feindlichen Machtübernahme im Inneren der Habsburgermonarchie die Wege ebnete. Es war die übermächtige Stellung des Deutschen Reiches, die im Augenblick durch keinerlei außenpolitisches Gegengewicht aufgewogen wurde, die eine Erwartungshaltung schuf, die 1938 Widerstand zwecklos erscheinen ließ. Schuschnigg hat nach seiner Rückkehr aus Berchtesgaden – im Gespräch mit dem französischen Gesandten – Hitler als einen Narren bezeichnet, der sich für einen Gott hält. Das war als Verdikt über die Lebensleistung des »Führers« keineswegs falsch ; bloß : hic et nunc, in der Situation des Frühjahrs 1938 hatte Hitler recht und/oder Glück. Keine der Großmächte würde ihm entgegentreten. Die normative Kraft des Faktischen war im einen wie im anderen Fall vom Publikum diskontiert worden, schon lange, bevor fremde Truppen österreichischen Boden betreten hatten. Die Massendemonstrationen der NSDAP wirkten als Katalysator der Entwicklung in den Märztagen. Aber sie konnten nur stattfinden, weil sich ihre Teilnehmer inzwischen vor nachhaltigen Repressalien sicher wähnten. Zu den »Illegalen« und den Idealisten gesellten sich die Opportunisten, die »Märzveilchen«, die an die Stelle der »Novembersozialisten« traten. Buttinger schrieb mit einer gewissen Bewunderung von der eindrucksvollen Kraft, welche der Nationalsozialismus »aus dem Glauben vieler junger Menschen bezog, daß ihre Begeisterung Großes und Dauerndes für die Zukunft schaffen werde«, aber : »erst der Zulauf der reinen Postenjäger und Geschäftemacher bewies, daß es sich um eine Bewegung handelte, die unwiderstehlich geworden war.«838 Das konnte noch als »self-fulfilling prophecy« durchgehen : Die
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Bewegung war unwiderstehlich geworden, weil man sie für unwiderstehlich hielt. Aber die Sicherheit, dass ihnen nicht mehr viel geschehen könne, bezogen die Aktivisten des Februar und März 1938 doch in erster Linie aus dem Vertrauen auf die Schutzmacht jenseits der noch bestehenden Grenzen. Erst so ergab sich der zum Teil irreführende Eindruck einer »Revolution«, einer Machtübernahme von unten, schon einige Tage (1918) oder Stunden (1938), bevor die endgültige Kapitulation des ancien regime tatsächlich erfolgt war. Ob die homines rerum novarum cupidi eine Mehrheit dargestellt haben, darüber lässt sich im einen wie im anderen Fall trefflich streiten. 1918 wäre zwischen der Monarchie als Prinzip, Kaiser Karl als Regent und der Konstellation der Hungerjahre zu unterscheiden, die jede Regierung erbärmlich aussehen ließen ; 1938 zwischen dem Anschluss als lange einhellig begrüßtem Prinzip, den auf den ersten Blick günstigen ökonomischen Perspektiven, der Person Hitlers mit ihrem Mythos und den Bonzen der NSDAP, die als solche bei freien Wahlen wohl kaum eine Mehrheit erzielt hätte. Nützlich erscheint dabei allemal der Hinweis auf die sogenannte »Schuschnigg’sche Konstante«, die auf ein Aperçu des Ex-Kanzlers im amerikanischen Exil zurückgeht. Auf die häufig gestellte Frage, wie eine wirklich freie Abstimmung 1938 denn wohl ausgegangen wäre, antwortete Schuschnigg nämlich keineswegs, er hätte natürlich gewonnen, sondern rechnete für beide Seiten mit einem harten Kern von vielleicht 25 % – und einer schweigenden Mehrheit, die abwartete, »wie der Hase lief«. Man kann es den Historikern nur schwer recht machen. 1914 war von Wien aus der Startschuß zu einem Weltkrieg erfolgt ; 1938 verwarf man in Wien diese Variante ausdrücklich, als unrealistisch und unwillkommen. Schuschnigg trat am Nachmittag des 11. März 1938 zurück. Miklas leistete noch einige Stunden hinhaltenden Widerstand gegen die Ernennung Seyß-Inquarts. Schuschnigg ist nachträglich oft getadelt worden, wegen der Formel in seiner Abschiedsansprache, er wolle kein deutsches Blut vergießen. Es war möglicherweise der populärste Satz, den er je gesagt hatte. Denn die Alternative – ein neuerlicher Bürgerkrieg – war, bei Licht besehen, nur den wenigsten recht. Die Bischöfe haben in ihrer ersten Reaktion auch genau diesen Ton getroffen : Sie begrüßten nicht den Umsturz (was ihnen kaum wer abgenommen hätte), sondern sie dankten Gott dafür, dass er unblutig verlaufen war. Im vorletzten Ministerrat der Ersten Republik am 12. März 1938 aber ist im inof fiziellen Stenogramm über den Bericht Seyß-Inquarts mit nahezu britischem Understatement zu lesen : »Der Bundespräsident hat darauf hingewiesen, daß man über die Ereignisse verschiedener Meinung sein kann.«839
V. Schlussbetrachtung »Geschichtliche Umwälzungen kann man nicht mit der Denkweise eines Strafrichters beurteilen, sondern mit der eines Historikers.«840 Karl Renner, November 1918 »Zu bleibenden Verirrungen führt wahrscheinlich nur der Irrtum, immer recht gehabt zu haben.«841 Kurt von Schuschnigg, Jänner 1958
Die Erste Republik war ein Provisorium, nicht bloß, weil sie als der Staat galt, den keiner wollte. Im »Westen« Europas – der in dieser Beziehung auch den Norden und Süden Europas umfasste – hatten sich schon seit Langem Nationalstaaten gebildet, zusammengehalten durch gemeinsame Sprache und/oder die Macht der Gewohnheit. Die Erste Republik konnte auf keines von beiden zurückgreifen. Die gemeinsame Sprache sprach für den Anschluss ; die Macht der Gewohnheit für die untergegangene Monarchie. Diese mangelnde Identität als Geburts- oder gar Kardinalfehler der Ersten Republik ist nach 1945 vermutlich überschätzt worden, als es darum ging, die Aufgabe der Unabhängigkeit als absurden Irrweg zu charakterisieren. Die neuen, nach 1919 gezogenen Grenzen und die Legitimität der Nachkriegsordnung waren nirgendwo unumstritten. Österreich war da kein Sonderfall. Im Zeitalter der europäischen Integration und diverser Sezessionsbewegungen von Schottland bis Katalonien fällt es vielleicht leichter, die Gottgegebenheit bestehender staatlicher Strukturen wieder zu hinterfragen. Die Erste Republik war aber auch in vielen anderen Belangen ein Provisorium. Von der Verfassung über den Finanzausgleich bis zu wesentlichen Teilen des Sozial versicherungssystems waren die getroffenen Regelungen nicht Ausdruck eines wohlerwogenen, auf Dauer angelegten Kompromisses, sondern Resultante rasch wechselnder Augenblickskonstellationen. Selbst die nachjustierte Verfassung von 1929 wurde in Windeseile übers Knie gebrochen, um eine gewisse Konjunktur auszunützen ; zentrale Fragen blieben weiterhin offen. Ihr Herzstück, die Volkswahl des Bundespräsidenten, wurde bereits nach Kurzem hinterfragt – von eben den Kräften und Parteien, die sie gerade erst beschlossen hatten. Wenn die Zweite Republik zuweilen den Eindruck erweckt, an einem Übermaß von Stabilität und »wohlerworbenen Rechten« zu leiden, die sich nur schwer aushebeln lassen und alle Reformen blockieren, so verkörperte die Erste Republik das entgegengesetzte Extrem : Man balancierte von einer kurzfristigen Lösung zur nächsten, viele Regelungen wurden
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Schlussbetrachtung
mit Ablaufdatum erlassen, von der Notstandshilfe bis zu den Sicherheitsdirektoren, dann vielleicht verlängert, jedenfalls ständig zur Disposition gestellt. Der Charakter des Politischen hatte sich verschoben : Der »k. u. k.« Teil der Monarchie, die monarchische Exekutive, hatte Haupt- und Staatsaktionen in Szene gesetzt (und war daran zerbrochen). Sozialpolitik wurde an die Kronländer delegiert ; staatliche Wirtschaftspolitik beschränkte sich im Wesentlichen auf den Eisenbahnbau und den Schutzzoll. Die Republik hingegen hatte auf Außen- und Militärpolitik im klassischen Sinn zu verzichten. Sie war de facto schon damals »neutral«, nicht aus Überzeugung, sondern weil sie sich nichts anderes leisten konnte. Das Verhältnis von Politik und Wirtschaft war dafür weit dichter geknüpft. Die Staatsquote war schon vor dem Krieg auf 13 % geklettert. Sie bewegte sich in der Zwischenkriegszeit um die 20 % – immer noch wenig, verglichen mit den 40 % plus der Gegenwart, aber doch ein beträchtlicher Anstieg. Darüber hinaus bemächtigten sich die Parteien des Staates – und der Wirtschaft. Die staatlichen Strukturen waren demokratischer geworden, das hieß auch : in stärkerem Ausmaß dem Zugriff der Parteien ausgesetzt, die sich ihrer Protektionskinder annahmen, mit zuweilen desaströsen Auswirkungen auf die Staatsfinanzen. Eine gewisse Ausnahme machten die Großbanken, die nicht zuletzt deshalb politisch umstritten waren. Zwei von ihnen –, die Bodencreditanstalt und die Niederöstereichische Escompte – pflegten ein diskretes Naheverhältnis zu den großen Parteien ; zwei – Creditanstalt und Bankverein – setzten mehr auf Distanz. Bis zu einem gewissen Grade lässt sich auf diesem Sektor eine kuriose Schubumkehr beobachten : Gerade als der freie Markt in der Weltwirtschaftskrise zunehmend außer Kraft gesetzt wurde, gewann die Hochfinanz ihre Autonomie zurück. Nationalbankpräsident Reisch hatte als zu nachgiebig gegolten ; der Politiker Kienböck, der die Seiten gewechselt hatte (und Van Hengel in der CA) vermochte politische Querschüsse in einer souveränen Weise abzublocken, die mit ein wenig Übertreibung, aber nicht ganz zu Unrecht als »Finanzdiktatur« (Siegfried Mattl) bezeichnet wurde : »Die Nationalbank muß nicht müssen.«842 Das politische System der Ersten Republik kippte früher oder später in ein autoritäres System. Damit war Österreich im Rahmen der Nachfolgestaaten beileibe kein Einzelfall. Es gab die Königsdiktaturen in Jugoslawien und Rumänien ; das schillernde Horthy-Regime in Ungarn und das Pilsudski-Regime in Polen ; Mussolinis Marsch auf Rom. Österreich folgte diesem Trend erst relativ spät, nicht durch einen klassischen Staatsstreich oder einen Bürgerkrieg, sondern ausgelöst durch eine Kette von Zufällen, die an Seipels selbstironischen Spruch erinnern : »Das Maultier sucht im Nebel seinen Weg.« Die Suche nach einer Alternative zur parlamentarischen Demokratie hatte eine lange Tradition, aber der Weg in die Diktatur folgte einem unvorgesehenen und unvorhersehbaren Muster, war mehr von den Fehlern der Gegner abhängig als von den eigenen Planungen.
Schlussbetrachtung
365
In den Vielvölkerstaaten waren es die nationalen Konflikte, die einen Staatsstreich von oben als die gegebene Lösung erscheinen ließen ; in Italien und Deutschland die sozialen Spannungen (verbunden mit einer zweiten Welle nationaler Einigungsbewegungen). In der Tschechoslowakei, die als einziges Land Mitteleuropas das parlamentarische System bis 1938 bewahrte, waren es die »crosscutting cleavages«, die paradoxerweise Stabilität verbürgten : In der Tschechoslowakei gab es eine der stärksten kommunistischen Bewegungen Europas und eine der stärksten irredentistischen. Doch nationale und soziale Spannungen hielten einander die Waage. Im »Westen« – in Deutschland und Italien – übernahmen faschistische Massenbewegungen die Macht (in einem unterschiedlichen Mischungsverhältnis mit den »alten Eliten«). Im Osten versperrten die konservativen Diktaturen den nachdrängenden faschistischen Bewegungen den Weg zur Macht, Horthy den Pfeilkreuzlern, Antonescu der Eisernen Garde, Pilsudski der polnischen Rechten. Österreich folgte in dieser Beziehung dem östlichen Modell. Die Österreicher der Zwischenkriegszeit waren, um Otto Bauer zu zitieren, im allgemeinen keine »kleinbürgerlichen Vulgärdemokraten, die die Demokratie über den Sozialismus stellen« (oder über ihre sonstige Weltanschauung).843 Sie hatten im 20. Jahrhundert bereits eine Phase der konstitutionellen Monarchie durchlaufen, mit eingeschränktem, dann allgemeinem und gleichen Wahlrecht, unterbrochen von Perioden des Notverordnungsregimes, dann drei Jahre des »Kriegsabsolutismus«, schließlich gefolgt von der Unsicherheit der Umbruchszeit. Das autoritäre § 14-Regime der Monarchie war für den Durchschnittsbürger – in Friedenszeiten – kaum mit irgendwelchen negativen Konnotationen besetzt ; es zählte durchaus zur »Normalität«. Einen neuerlichen Versuch in diese Richtung zu starten stellte keineswegs einen solchen »Tabubruch« dar, wie es den Nachfahren vorkommt, die zwei, drei Generationen auf der »Insel der Seligen« unter derselben Verfassung zugebracht haben und sich an keine andere Ordnung mehr erinneren können. Vielleicht war das eigentliche Spezifikum Österreichs auch gar nicht auf der Rechten zu suchen, die überall in Mitteleuropa zur Demokratieskepsis neigte, sondern auf der Linken, in der ambivalenten Stellung der Sozialdemokratie, die eine Revolution 1919 verhinderte – aber gegen eine Machtstellung eintauschte, die eine gegenrevolutionäre Spannung erzeugte, die sich in immer neuen Anläufen Luft machte. Das eigentliche Kuriosum daran war die Frage, warum eine bürgerliche Mehrheit nicht erst 1932 mit dem Staatsstreich kokettierte, als sie ihre Mehrheit verloren hatte ; sondern schon viel früher, als diese Mehrheit zweifellos noch gegeben war. Die Antwort ist zum Teil in den internen Gegensätzen dieser Mehrheit zu suchen, die keine effektive Umsetzung ihrer Anliegen ermöglichten ; zum Teil aber auch in der Obstruktionstaktik der Sozialdemokratie, die sie von dieser Mehrheit keinen Gebrauch machen ließ, oder wie Renner 1930 dann an seine Genossen appellierte : Wenn man
366
Schlussbetrachtung
die autoritäre Versuchung ihrer Attraktivität berauben wolle, dann »müssen wir einer bürgerlichen Mehrheit zu regieren ermöglichen«.844 Die Bewegungsfreiheit der bürgerlichen Regierungen war nicht bloß gehemmt durch die »Macht der Straße« und die Obstruktion im Hause am Ring, sondern durch die Vorgaben der internationalen Lage, der Gläubiger und der Großmächte. Für die Neu-Österreicher, aufgewachsen als Teil einer Großmacht, die selbst immer wieder zur Kanonenbootpolitik zu Lande gegriffen hatte, war es bitter, jetzt nicht bloß den Großmächten ausgeliefert zu sein, sondern auch unter den Nachfolgestaaten die letzte Stelle einzunehmen. Die Großmächte verweigerten den Anschluss 1918/19 und tolerierten ihn 1938 ; sie bestanden auf harten Bedingungen für die Kredite, die sie 1922/23 und 1932/33 gewährten ; vom Veto der Nachbarn gegen jegliche Restauration einmal ganz abgesehen. Daraus ließe sich eine »Opferthese«845 ableiten, keineswegs allein bezogen auf den üblichen Kontext von Anschluss und Nationalsozialismus, sondern für die gesamte Zwischenkriegszeit, im Sinne der »Bettelsouveränität kleiner Völker« :846 Österreich als der Spielball der Mächte. Diese Abhängigkeit von außen war selbstverständlich gegeben. Aber sie stellt bloß die eine Seite der Medaille dar. Die andere ist das unnachahmliche Geschick, wie der – tatsächliche oder vermeintliche – Einfluss des »Auslandes« für innenpolitische Spielchen und Manöver instrumentalisiert wurde, in einer Art und Weise, die es bis heute schwermacht, Kausalzusammenhänge und Verschwörungstheorien fein säuberlich auseinanderzuhalten. Sah sich das Land wirklich auf Schritt und Tritt mit apodiktischen Ultimaten konfrontiert oder wurden Nebenbemerkungen von Gesprächspartnern zu solchen hochstilisiert, von Hirtenberg bis zu Habsburg, vom Entwaffnungsgesetz bis zum Studentenrecht ? War Schober in den Augen der potenziellen Geldgeber 1922 tatsächlich der Liebling und 1932 der Bösewicht ? Wurden Seipel die Bedingungen der Genfer Sanierung oktroyiert oder waren sie zum Teil sogar von ihm selbst suggeriert worden ? War Mussolini der eigentliche Drahtzieher von Dollfuß’ »Machtergreifung« oder musste er nur als Ausrede herhalten, um lästige Kritiker zum Schweigen zu bringen ? Selbst Schuschnigg erwies sich in der Klemme der späten Dreißigerjahre nicht als das Kaninchen, das auf die Schlange starrt, sondern versuchte die Spannungen innerhalb der »Polykratie« des NS-Regimes für sich zu nutzen, wenn diese Strategie auch vielleicht von charakteristischen österreichischen Halbheiten begleitet war. Immer wieder begegnet man einer erstaunlichen Chuzpe, was das Kokettieren mit der eigenen Zahlungsunfähigkeit betrifft – oder auch den eigenen Anschlusswillen, der sich nur durch milde Gaben eine Zeit lang besänftigen ließe. Vielleicht ist es gerade dieser Teil der vielzitierten Lehren aus der Geschichte, der im 21. Jahrhundert die größte Aktualität aufweist. Allerdings haben die Österreicher von heute als »beati possidentes« in manchen dieser Fragen die Seiten gewechselt …
Anhang : Wahlergebnisse Tabelle D001–D004
Bundesweite Wahlen 1919 ‐ 1930 Konstituierende NV 1919 Partei Stimmen SDAPÖ 1.211.814 Christlichsoziale Partei 1.068.382 Deutschnationale 413.155 Deutschösterr. Bauernpartei 88.997 Bürgerliche Demokraten & Wirtschaftspartei 48.847 der Festbesoldeten Deutsche Nationalsozialistische 23.334 Arbeiterpartei Deutschvölkischer Wahlausschuss 15.679 Demokratische Partei 15.133 Vereinigte tschechoslowakische Parteien 67.514 Jüdischnationale Partei 7.760 Sonstige 12.839 Gesamt 2.973.454 1920*) Partei Christlichsoziale Partei SDAPÖ Großdeutsche Deutschösterr. Bauernpartei Bürgerliche Arbeitspartei & Demokraten Nationalsozialisten Kommunisten Soz. u. dem. Tschechoslowaken Jüdischnationale Partei Slowenen Christlichnationale (Orel) Sonstige Gesamt
% Mand. 41,79% 85 35,99% 69 12,28% 21 4,16% 7 1,41% 1 0,81% 0,92% 1,31% 0,67% 0,33% 0,30% 0,03% 100,00% 183
*) In Kärnten wurde erst 1921, im Burgenland 1922 gewählt
Stimmen 1.245.539 1.072.768 366.035 124.014 41.884 24.015 27.386 39.002 19.828 9.869 9.050 942 2.980.332
% Mand. 40,75% 72 35,93% 69 13,89% 19 2,99% 6 1,64%
1
0,78%
0
0,53% 0,51% 2,27% 0,26% 0,43% 100,00%
1 0 1 1 0 170
368
Anhang : Wahlergebnisse
Bundesweite Wahlen 1919 ‐ 1930 1923 Partei Christlichsoziale Partei (CS) SDAPÖ Verband der Großdeutschen Volkspartei und des Landbundes Kärntner Einheitsliste Landbund für Österreich Jüdische Wahlgemeinschaft KPÖ Bürgerlich‐demokratische Arbeitspartei Partei der Kärntner Slowenen Sonstige Gesamt
Stimmen 1.459.047 1.311.870
% Mand. 44,05% 80 39,60% 68
259.375
7,83%
10
95.465 99.583 24.970 22.164 18.886 9.868 11.378 3.312.606
2,88% 3,01% 0,75% 0,67% 0,57% 0,30% 0,34% 100,00%
6 1 0 0 0 0 0 165
Von der Ktn. Einheitsliste entfielen je 2 Mandate auf Chr.Soz., Großdeutsche und Landbund. Zwei auf der Liste der Großdeutschen. gewählte oö. Abg.schlossen sich ebenfalls dem Landbund an.
1927 Partei Einheitsliste SDAPÖ Landbund Udeverband ‐ Bund gegen Korruption Völkischsozialer Block KPÖ Demokratische Liste Jüdische Partei Partei der Kärntner Slowenen Sonstige Gesamt
Stimmen 1.753.761 1.539.635 230.157 35.471 26.991 16.119 15.112 10.845 9.334 1.101 3.638.526
% Mand. 48,20% 85 42,31% 71 6,33% 9 0,97% 0 0,74% 0 0,44% 0 0,42% 0 0,30% 0 0,26% 0 0,03% 0 100,00% 165
369
Anhang : Wahlergebnisse
Bundesweite Wahlen 1919 ‐ 1930 1930 Partei SDAPÖ Christlichsoziale Partei und Heimwehr Nat. Wirtschaftsblock und Landbund Heimatblock Nationalsozialistische Deutsche Arbeiterpartei (Hitlerbewegung) Landbund für Österreich (OÖ & Sbg.) KPÖ Demokratische Mittelpartei (DMP) Jüdische Liste Sonstige Gesamt
Stimmen 1.517.146 1.314.956 428.255 227.401
% Mand. 41,14% 72 35,65% 66 11,61% 19 6,17% 8
111.627
3,03%
0
43.689 20.951 6.719 2.133 15.191 3.688.068
1,18% 0,57% 0,18% 0,06% 0,41% 100,00%
0 0 0 0 0 165
370
Anhang : Wahlergebnisse
Landtagswahlen 1919 ‐ 1932 Niederösterreich inkl. Wien : 1919 Partei Stimmen % Mand. SDAPÖ 582.202 46,68% 62 Christlichsoziale Partei (CSP) 458.425 36,75% 47 Deutschnationale (DN) 93.809 7,52% 7 soz. u. dem. Tschechoslowaken (PSDČ) 57.629 4,62% 3 Nationaldemokraten 16.183 1,30% 1 Vereinigte demokratische Parteien 19.248 1,54% 0 Jüdischnationale Partei 13.830 1,11% 0 Sonstige 5.948 0,48% 0 Gesamt 1.247.274 100,00% 120
Partei CS SDAPÖ GDVP KPÖ NSDAP Sonstige Gesamt
Niederösterreich : 1921 Stimmen % Mand. 320.781 49,18% 32 241.015 36,95% 22 82.072 12,58% 6 5.477 0,84% 0 1.909 0,29% 0 1.004 0,15% 0 652.258 100,00% 60
Partei Einheitsliste (CS/GDVP) SDAPÖ Landbund Völkisch Sozialer Block NSDAP (Schulz‐Gruppe) KPÖ Gesamt
Niederösterreich : 1927 Stimmen % Mand. 474.283 58,05% 38 307.005 37,57% 21 23.597 2,89% 1 4.875 0,60% 0 4.012 0,49% 0 3.275 0,40% 0 817.047 100,00% 60
371
Anhang : Wahlergebnisse
Landtagswahlen 1919 ‐ 1932
Partei CS GDVP SDAPÖ NSDAP Landbund KPÖ Gesamt
Niederösterreich : 1932 Stimmen % Mand. 362.977 46,34% 28 18.427 2,35% 0 272.595 34,80% 20 110.808 14,15% 8 10.009 1,28% 0 8.513 1,09% 0 783.329 100,00% 56
Oberösterreich : 1919 Partei Stimmen % Mand. Christlichsoziale Partei (CSP) 196.982 51,11% 38 SDAPÖ 111.026 28,81% 22 Deutsche Freiheits‐ und Ordnungspartei 77.372 20,08% 12 Gesamt 385.380 100,00% 72
Partei Einheitsliste SDAPÖ NSDAP
Oberösterreich : 1925 Stimmen 305.471 113.456 12.177
Christliche Arbeiter‐ und Angestelltenpartei KPÖ Gesamt
2.996
% Mand. 69,98% 44 25,99% 16 2,79% 0 0,69%
0
2.416 0,55% 436.516 100,00%
0 60
372
Anhang : Wahlergebnisse
Landtagswahlen 1919 ‐ 1932 Oberösterreich : 1931 Partei Stimmen Christlichsoziale Partei (CS) 239.998 SDAPÖ 128.392 Nat. Wirtschaftsblock und Landbund 50.843 Heimwehr (Heimatblock) 18.802 NSDAP 15.800 KPÖ 3.408 Sonstige 404 Gesamt 457647
% Mand. 52,44% 28 28,05% 15 11,11% 5 4,11% 0 3,45% 0 0,74% 0 0,09% 0 1 48
Salzburg : 1919 Partei Stimmen % Mand. Christlichsoziale Partei (CS) 36.863 45,37% 19 SDAPÖ 24.107 29,67% 12 Deutschfreiheitliche (DF) 17.320 21,32% 8 Pinzgauer Wirtschaftspartei (PWP) 2.955 3,64% 1 Gesamt 81.245 100,00% 40 Salzburg : 1922 Partei Christlichnationale Wahlgemeinschaft (Chr.soz., Landbund, NSDAP) SDAPÖ Großdeutsche Volkspartei (GDVP) Gesamt
Stimmen 53.925
%
Mand.
56,27%
16
33.082 34,52% 8.818 9,20% 95.825 100,00%
10 2 28
Salzburg : 1927 Partei Christlichsoziale Partei (CS) SDAPÖ Großdeutsche Volkspartei (GDVP) Landbund (LB) Wirtschaftsständebund Gesamt
Stimmen % Mand. 54.661 48,02% 13 36.506 32,07% 9 13.140 11,54% 3 8.004 7,03% 1 – 1.521 1,34% 113.832 100,00% 26
Anhang : Wahlergebnisse
373
Landtagswahlen 1919 ‐ 1932 Salzburg : 1932 Partei Christlichsoziale Partei (CS) SDAPÖ NSDAP Landbund Heimatschutz (HB) KPÖ Großdeutsche Volkspartei (GDVP) Gesamt
Stimmen % Mand. 44.013 37,94% 12 29.810 25,69% 8 24.125 20,79% 6 7.361 6,34% 0 5.530 4,77% 0 3.127 2,70% 0 2.050 1,77% 0 116.016 100,00% 26
Tirol : 1919 Partei Tiroler Volkspartei (TVP) SDAPÖ Deutschfreiheitliche Partei (DFP) Wirtschaftliche Vereinigung (WV) Partei der Kriegsbeschädigten Gesamt
Stimmen % Mand. 87.302 65,99% 38 25.102 18,97% 11 12.979 9,81% 6 4.199 3,17% 1 2.720 2,06% 0 132.302 100,00% 56
Tirol : 1921 Partei Tiroler Volkspartei (TVP) SDAPÖ Großdeutsche Volkspartei (GDVP) Osttiroler Wählervereinigung Dt. Natsoz. Arbeiterpartei (DNSAP) Verb. Christl.Kriegswitwen und Waisen Gesamt
Stimmen % Mand. 80.242 64,49% 27 26.677 21,44% 8 13.761 11,06% 4 1.948 1,57% 1 1.231 0,99% 0 559 0,45% 0 124.418 100,00% 40
374
Anhang : Wahlergebnisse
Landtagswahlen 1919 ‐ 1932 Tirol : 1925 Partei Tiroler Volkspartei (TVP) SDAPÖ Großdeutsche Volkspartei (GDVP) Tiroler Arbeitsgem. = Chrsoz. Arbeiter Dt. Natsoz. Arbeiterpartei (DNSAP) Gesamt
Stimmen % Mand. 94.291 59,81% 25 31.583 20,03% 8 16.719 10,60% 4 11.804 7,49% 3 3.260 2,07% 0 157.657 100,00% 40
Tirol : 1929 Partei Tiroler Volkspartei (TVP) SDAPÖ Großdeutsche Volkspartei (GDVP) Bürg. Ständebund Tirols = Heimwehr Österreichische Angestelltenpartei Landbund für Österreich Unpolitischer Wirtschaftsbund DNSAP = Schulz‐Gruppe NSDAP KPÖ Gesamt
Stimmen % Mand. 103.930 60,05% 26 39.114 22,60% 9 9.344 5,40% 2 12.618 7,29% 3 3.480 2,01% 0 1.998 1,15% 0 1.389 0,80% 0 522 0,30% 0 480 0,28% 0 197 0,11% 0 173.072 100,00% 40
Vorarlberg : 1919 Partei Stimmen % Mand. Christlichsoziale Partei (CSP) 39.476 63,79% 22 SDAPÖ 11.662 18,84% 5 Deutsche Volkspartei 6.591 10,65% 2 Unabhängige Bauernpartei 2.166 3,50% 1 Demokratische Wirtschaftspartei 1.993 3,22% 0 Gesamt 61.888 100,00% 30
Anhang : Wahlergebnisse
375
Landtagswahlen 1919 ‐ 1932 Vorarlberg : 1923 Partei Stimmen % Mand. Christlichsoziale Partei (CSP) 43.529 63,04% 21 SDAPÖ 12.302 17,82% 5 Großdeutsche Volkspartei (GDVP) 6.593 9,55% 2 Landbund (LB) 6.463 9,36% 2 Kommunisten 158 0,23% 0 Gesamt 69.045 100,00% 30 Vorarlberg : 1928 Partei Stimmen % Mand. Christlichsoziale Partei (CSP) 45.332 59,31% 21 SDAPÖ 16.244 21,25% 6 Landbund (LB) 7.337 9,60% 2 Großdeutsche Volkspartei (GDVP) 6.750 8,83% 1 NSDAP 763 1,00% 0 Gesamt 76.429 100,00% 30 Vorarlberg : 1932 Partei Stimmen % Mand. Christlichsoziale Partei (CSP) 43.346 56,75% 18 SDAPÖ 11.916 15,60% 4 NSDAP 8.033 10,52% 2 Landbund (LB) 5.315 6,96% 1 Großdeutsche Volkspartei (GDVP) 5.159 6,75% 1 KPÖ 2.614 3,42% 0 Gesamt 76.383 100,00% 26
376
Anhang : Wahlergebnisse
Landtagswahlen 1919 ‐ 1932
Partei Christlichsoziale Partei (CSP) SDAPÖ Steirische Bauernpartei Deutschdemokratische Partei sonstige dtnationale Listen Nationalsozialistische Partei Gesamt
Steiermark : 1919 Stimmen % Mand. 169.338 46,54% 35 124.673 34,26% 24 46.310 12,73% 9 12.472 3,43% 2 9.069 2,49% 0 2.028 0,56% 0 363.890 100,00% 70
Steiermark : 1923 Partei Stimmen % Mand. Christlichsoziale Partei (CSP) 215.008 45,77% 34 SDAPÖ 163.073 34,72% 24 Landbund (LB) 53.269 11,34% 8 Großdeutsche Volkspartei (GDVP) 35.810 7,62% 4 KPÖ 2.575 0,55% 0 Gesamt 469.735 100,00% 70 Steiermark : 1927 Partei Stimmen % Mand. Einheitsliste (EL) 199.295 40,82% 24 SDAPÖ 180.328 36,94% 21 Landbund (LB) 78.561 16,09% 9 Wirtschaftsverein für Österreich (Ude) 22.795 4,67% 2 Völkische 5.139 1,05% 0 KPÖ 1.828 0,37% 0 Sonstige 257 0,05% 0 Gesamt 488.203 100,00% 56
Anhang : Wahlergebnisse
Landtagswahlen 1919 ‐ 1932 Steiermark : 1930 Partei Stimmen % Mand. SDAPÖ 175.603 34,83% 17 Christlichsoziale Partei (CSP) 163.304 32,39% 17 Nationaler Wirtschaftsblock und Landbund 83.201 16,50% 8 (Schober‐Block) Heimatblock (HB) 64.351 12,76% 6 NSDAP ‐ Hitlerbewegung 17.749 3,52% 0 Gesamt 504.208 100,00% 48 Burgenland : 1922 Partei Stimmen % Mand. SDAPÖ 49.059 38,08% 13 Christlichsoziale Partei (CSP) 40.156 31,17% 10 Deutschöst. Bauernpartei (DÖBP) 21.990 17,07% 6 Großdeutsche Volkspartei (GDVP) 16.510 12,82% 4 Öst. Bürger‐ und Wirtschaftspartei 1.113 0,86% 0 Gesamt 128.828 100,00% 33 Burgenland : 1923 Partei Stimmen % Mand. SDAPÖ 46.524 38,58% 12 Christlichsoziale Partei (CSP) 45.275 37,55% 13 Landbund 23.201 19,24% 7 Großdeutsche Volkspartei 3.123 2,59% 0 Hrvatska stranka 2.454 2,04% 0 Gesamt 120.577 100,00% 32
Partei Einheitsliste (EL) SDAPÖ Landbund für Österreich Gesamt
Burgenland : 1927 Stimmen % Mand. 57.688 42,64% 14 55.111 40,74% 13 22.491 16,62% 5 135.290 100,00% 32
377
378
Anhang : Wahlergebnisse
Landtagswahlen 1919 ‐ 1932 Burgenland : 1930 Partei Stimmen % Mand. Christlichsoz. Partei & Heimatwehr (CSP) 57.336 42,75% 14 SDAPÖ 50.723 37,82% 13 Nationaler Wirtschaftsblock und Landbund 21.533 16,05% 5 (Schober‐Block) Heimatblock 3.078 2,29% 0 NSDAP (Hitlerbewegung) 983 0,73% 0 KPÖ 562 0,42% 0 Gesamt 134.125 100,07% 32 Wien : 1919 (Gemeinderatswahl) Partei Stimmen % Mand. SDAPÖ 368.228 54,17% 100 Christlichsoziale Partei (CS) 183.937 27,06% 50 soz. u. dem. Tschechoslowaken (PSDČ) 57.380 8,44% 8 Nationaldemokratische Partei 21.387 3,15% 2 Deutschnationale Partei 14.313 2,11% Vereinigte demokratische Partei 17.605 2,59% 2 Jüdischnationale Partei 13.075 1,92% 3 Sonstige 3.803 0,56% 0 Gesamt 679.728 100,00% 165
Anhang : Wahlergebnisse
379
Landtagswahlen 1919 ‐ 1932 Wien : 1923 Partei SDAPÖ Christlichsoziale Partei (CS) Großdeutsche Volkspartei (GDVP) Jüdischnationale Partei (JNP) Demokraten (DMK) KPÖ soz. u. dem. Tschechoslowaken (PSDČ) Gesamt
Stimmen % Mand. 573.305 55,90% 78 338.580 33,02% 41 50.357 4,91% 0 24.253 2,36% 1 17.669 1,72% 0 13.748 1,34% 0 7.603 0,74% 0 1.025.515 100,00% 120
Wien : 1927 Partei SDAPÖ Einheitliste (EL) Demokraten (DMK) KPÖ Jüdischnationale Partei (JNP) Gesamt
Stimmen % Mand. 694.457 60,67% 78 420.897 36,77% 42 14.504 1,27% 0 7.609 0,66% 0 7.172 0,63% 0 1.144.639 100,00% 120 Wien : 1932
Partei SDAPÖ Christlichsoziale Partei (CS) NSDAP KPÖ Gesamt
Stimmen % Mand. 683.295 59,94% 66 233.539 20,48% 19 201.411 17,67% 15 21.813 1,91% 0 1.140.058 100,00% 100
380
Anhang : Wahlergebnisse
Ergebnisse der Arbeiterkammerwahlen 1921 & 1926 (ohne Verkehrssektion) Niederösterreich Arbeiter Wählerzahl Gültige Stimmen Wahlbeteiligung Freigewerkschaftliche Christlichsoziale Nationale Kommunistische Neutrale
1921 317.775 204.807 64,50% 186.455 91,0% 7.321 3,6% 11.031 5,4% -
1926 312.223 206.398 66,40% 180.524 87,5% 14.191 6,9% 3.124 1,5% 8.559 4,1% -
Angestellte 1921 1926 122.157 128.574 62.966 69.153 51,50% 53,80% 47.427 75,3% 48.786 70,5% 8.010 12,7% 9.104 13,2% 7.243 11,5% 9.871 14,3% 286 0,5% 343 0,5% 1.049 1,5%
Steiermark Arbeiter Wählerzahl Gültige Stimmen Wahlbeteiligung Freigewerkschaftliche Christlichsoziale Nationale Kommunistische
1921 80.477 51.882 64,50% 50.152 96,7% 1.730 3,3% -
1926 72.827 47.048 64,60% 37.479 79,7% 4.048 8,6% 1.991 4,2% 4.130 8,8%
Angestellte 1921 1926 14.118 14.289 9.069 8.991 64,20% 63,10% 5.250 57,9% 5.386 59,9% 961 10,7% 3.819 42,1% 2.644 29,4% -
381
Anhang : Wahlergebnisse
Ergebnisse der Arbeiterkammerwahlen 1921 & 1926 (ohne Verkehrssektion) Oberösterreich Arbeiter Wählerzahl Gültige Stimmen Wahlbeteiligung Freigewerkschaftliche Christlichsoziale Nationale Kommunistische
1921 46.757 36.795 78,70% 32.962 89,6% 2.908
7,9%
925
-
1926 55.750 35.908 64,40% 28.991 80,7% 5.543 15,4% 1.374 3,8% -
Angestellte 1921 1926 8.098 9.582 5.415 5.858 66,90% 61,60% 3.182 58,8% 2.707 46,2% 885 15,1% 2.233 41,2% 2.266 38,7% -
Salzburg Arbeiter Wählerzahl Gültige Stimmen Wahlbeteiligung Freigewerkschaftliche Christlichsoziale Nationale Kommunistische
1921 14.852 7.108 47,90% 6.116 86,0% 992
14,0%
-
-
1926 14.902 6.568 44,10% 5.081 77,4% 793 12,1% 694 10,6% -
Angestellte 1921 1926 2.675 3.058 1.543 1.655 57,70% 54,10% 574 37,2% 570 34,4% 153 9,2% 969 62,8% 932 56,3% -
382
Anhang : Wahlergebnisse
Ergebnisse der Arbeiterkammerwahlen 1921 & 1926 (ohne Verkehrssektion) Kärnten Arbeiter Wählerzahl Gültige Stimmen Wahlbeteiligung Freigewerkschaftliche Christlichsoziale Nationale Kommunistische
1921 21.037 9.867 46,90% 9.446 95,7% 421
4,3%
-
-
1926 24.379 15.549 63,80% 12.457 80,1% 895 5,8% 1.457 9,4% 740 4,8%
Angestellte 1921 1926 3.911 4.752 2.077 3.571 53,10% 75,10% 941 45,3% 1.491 41,8% 300 8,4% 1.136 54,7% 1.780 49,8% -
Tirol Arbeiter Wählerzahl Gültige Stimmen Wahlbeteiligung Freigewerkschaftliche Christlichsoziale Nationale Kommunistische
1921 17.778 8.811 49,60% 5.913 67,1% 2.898
32,9%
-
-
1926 22.175 10.078 54,40% 7.095 70,4% 2.740 27,2% 242 2,4% -
Angestellte 1921 1926 4.634 5.395 2.848 2.864 61,50% 53,10% 1.107 38,9% 1.381 48,2% 543 19,0% 1.741 61,1% 940 32,8% -
383
Anhang : Wahlergebnisse
Ergebnisse der Arbeiterkammerwahlen 1921 & 1926 (ohne Verkehrssektion) Vorarlberg Arbeiter Wählerzahl Gültige Stimmen Wahlbeteiligung Freigewerkschaftliche Christlichsoziale Nationale Kommunistische
1921 10.124 6.485 64,10% 3.535 54,5% 2.693 41,5% 257 4,0% -
1926 14.717 9.451 64,20% 4.600 48,7% 4.551 48,2% 300 3,2% -
Angestellte 1921 1926 1.796 2.452 1.392 1.904 77,50% 77,70% 427 30,7% 433 22,7% 496 35,6% 767 40,3% 469 33,7% 704 37,0% -
Gesamt Arbeiter Wählerzahl Gültige Stimmen Wahlbeteiligung Freigewerkschaftliche Christlichsoziale Nationale Kommunistische Neutrale
1921 508.800 325.755 64,00% 294.579 90,4% 18.963 5,8% 257 0,1% 11.956 3,7% -
1926 516.973 331.000 64,00% 276.228 83,5% 32.761 9,9% 8.582 2,6% 13.429 4,1% -
Angestellte 1921 1926 157.389 168.052 85.310 93.996 54,20% 55,90% 58.906 69,0% 60.754 64,6% 18.404 21,6% 12.713 13,5% 7.712 9,0% 19.137 20,4% 296 0,3% 343 0,4% 1.049 1,1%
384
Anhang : Wahlergebnisse
Landwirtschaftskammerwahlen Niederösterreich CS Bauernbund Landbund Großdeutsche Sozialdemokraten NSDAP Stimmen Pzt. Stimmen Pzt. Stimmen Pzt. Stimmen Pzt. Stimmen Pzt. 1922 93.665 80,93% 14.185 12,26%