Das erste Wort : Wie die Menschen sprechen lernten 3548340911

Mädchen lernen im allgemeinen wesentlich früher sprechen als Jungen, und Frauen verfügen zumeist bis ins hohe Alter über

143 110 6MB

German Pages [235] Year 1982

Report DMCA / Copyright

DOWNLOAD PDF FILE

Recommend Papers

Das erste Wort : Wie die Menschen sprechen lernten
 3548340911

  • 0 0 0
  • Like this paper and download? You can publish your own PDF file online for free in a few minutes! Sign Up
File loading please wait...
Citation preview

Doris F. Jonas/A. David Jonas

DAS

ERSTE Wie die Menschen sprechen lernten

AO

K

Ullstein Sachbuch

Ullstein Sachbuch Ullstein Buch Nr. 34091 im Verlag Ullstein GmbH, Frankfurt/M - Berlin - Wien Ungekürzte Ausgabe

Umschlagentwurf: Jürgen Spohn Alle Rechte vorbehalten Lizenzausgabe mit Genehmigung des Verlags Hoffmann und Campe, Hamburg

© 1979 Hoffmann und Campe Verlag, Hamburg Printed in Germany 1982 Druck und Bindung: Ebner Ulm ISBN 3 548 34091 1 Juli 1982

CIP-Kurztitelaufnahme der Deutschen Bibliothek

Jonas, Doris F.: Das erste Wort: wie d. Menschen sprechen lernten / Doris u. David Jonas. Ungekürzte Ausg. - Frankfurt/M; Berlin; Wien: Ullstein, 1982. (Ullstein-Buch; Nr. 34091: Ullstein-Sachbuch) ISBN 3-548-34091-1 NE: Jonas, Adolphe David:; GT

Doris und David Jonas

Das erste Wort Wie die Menschen sprechen lernten

Ullstein Sachbuch

Die physikalische Forschung hat klipp und klar bewie­ sen, daß zum mindesten für die erdrückende Mehrheit der Erscheinungsabläufe, deren Regelmäßigkeit und Beständigkeit zur Aufstellung des Postulats der allge­ meinen Kausalität geführt haben, die gemeinsame Wur­ zel der beobachteten strengen Gesetzmäßigkeit der Zufall ist. E. Schrödinger: Antrittsrede an der Universität Zürich

Inhalt

Vorwort

9

Einleitung Kapitell

Kapitelll

Kapitel III

Kapitel IV

Kapitel V

«3

4·'1 oder Von der sprachlichen Überlegenheit der Frau

21

Zurück zu den Anfängen oder Geschichte der Theorien überden Ursprung der Sprache

34

Das wuchernde Gehirn oder Wie »rechts * und »links * einander ergänzen

5*

Der biologische Widerspruch oder Feminine Sprach überlegenheit gegenüber maskuliner intellektueller * Vorherrschaft *



Bausteine des Zufalls oder Wie das Instrument der Sprache zustande kam

8i

Kapitel VI

Kapitel VII

Kapitel VIII

Kapitel IX

Kapitel X

Kapitel XI

Kapitel XII

Die Macht wortloser Botschaften oder Notwendige Interimsphasen in der Sprachentwicklung

93

Wozu Sprache? oder Von Gefühlen, Logik undvortäuschender Manipulation

”3

Aus Chaos Ordnung oder Gedanken und (Sprach-)Handlung

I25

Stimmbildung oder Verständigung durch Intonation

M5

Mutter-Kind-Bindung oder Die * Larvenphase * des Menschen

162

Das »sinnliche * Weltbild des Kindes oder Stationen zur Sprache

184

Wo die Pfade konvergieren oder Wie der Mensch das Sprechen lernte

200

Epilog

219

Bibliographie

226

Vorwort

Ein neues Buch über den Sprachbeginn ?, so mag sich mancher fragen, was kann das wohl an Erkenntnissen bringen, nachdem doch schon einmal feierlich beschlossen worden ist, diesen Gegenstand aus dem Repertoire der wissenschaftlich ernst zu nehmenden Themen zu streichen? Nun: Lange Zeit hatten auch wir die Situation kaum anders beurteilt. Wir hatten auch keinen Ehrgeiz, uns mit Problemen herumzuschlagen, die uns in andere Fachbereiche zu gehören schie­ nen als die unseren. Aber irgendwann kam uns der Verdacht, daß von der bisherigen Forschung Fakten übersehen worden sein könnten: Fakten, die sich heute noch nach weisen ließen. Und der Zufall wollte es, daß in derselben Ausgabe einer anthropologischen Zeitschrift, »Current Anthropology«, in der wir diese Vermutung äußerten, ein Kollege wenige Seiten weiter zu ganz ähnlichen Resultaten kam: Sprache kann sich nur im Zusammenhang mit dem Sozialleben der Menschen entwickelt haben. Doch gelangte Dr. A. Marshack zu dieser Ansicht anhand von Fundgegenständen, die eingeritzte Zei­ chen trugen (Knochen mit verschieden geformten Linien, die mög­ licherweise eine Art Kalender sein mochten), während wir den umgekehrten Weg gegangen waren und heute noch »lebende Re­ likte« zurückverfolgt hatten bis zu ihren wahrscheinlichen Ursprün­ gen. Daß wir dabei die Forschungen der Ur- und Frühgeschichtler, der Anthropologen und Biologen nicht außer acht gelassen haben, versteht sich von selbst. Aber was uns zunächst interessierte, war der heute noch lebende Mensch; erst nach und nach wandte sich unser 9

Blick zurück. Und wo wir selbst nicht mehr weiterkamen, halfen uns neuere und neueste Ergebnisse der Vergleichenden Verhaltensfor­ schung. Mag sein, daß unsere Parallelen und Analogieschlüsse zuweilen recht kühn erscheinen; abwegig sind sie nirgends, zumindest folgen sie überall den allgemein anerkannten Gesetzen der Logik. Daß sie früher nie gewagt wurden, könnte daran liegen, daß die Zeit noch nicht reif dafür war bzw. daß noch nicht so viele Details bekannt waren. Eine ähnliche Konstellation hatte sich ergeben, als wir erstmals über Neotenie publizierten. Wir vertraten damals die Meinung- und vertreten sie noch -, daß sich die allmähliche Verjugendlichung des Menschen nicht nur auf seine Anatomie und Physiologie bezieht das ist schon lange kein Streitpunkt mehr -, sondern auch auf sein Verhalten. Der für das Erlernen sozialer Notwendigkeiten Zeit gewinnende Mechanismus, der seine Existenz der Verzögerung aller Entwicklungsphasen, besonders der jugendlichen, verdankt, be­ wirkt ein Fortbestehen frühkindlicher Verhaltensmuster, die auf unsere Primatenvergangenheit zurückführbar sind und nicht immer mit Erwachsenenreaktionen harmonisieren. Die daraus resultieren­ den Konflikte, vor allem in sozialer Hinsicht, sind ohne Gegenstück im Tierreich und weisen darauf hin, daß sich der Mensch hinsichtlich seines neotenen Trends in einer Übergangsphase befindet. Diese Theorie wurde zunächst angezweifelt. Inzwischen ist sie allgemein anerkannt und spielt auch in diesem Buch wieder eine Rolle. Unsere Erkenntnisse ließen sich in beiden Fällen so überzeugend zu einer radikal neuen Theorie zusammenfügen - wie Mosaikstein­ chen zu einem eindrucksvollen Bild -, daß wir uns entschlossen, unser Material einem möglichst breiten Publikum in Buchform zugänglich zu machen. Wir haben uns bei der Niederschrift redlich bemüht, uns allgemeinverständlich auszudrücken, Fachtermini zu erklären, wo sie nicht zu umgehen waren, und komplizierte Sachver­ halte einfach darzustellen. Wir hoffen, daß es dadurch nicht zu Verkürzungen in der Perspektive und zu Entstellungen gekommen ist. Wir haben auch darauf geachtet, unsere Darstellung mit nicht zu io

vielen Literaturhinweisen zu Überfrachten, was uns unsere Fach­ kollegen nachsehen mögen. In der Tat halten wir unsere Thesen für so wichtig - auch für den heute lebenden Menschen bzw. den Homo sapientissimus der Zukunft daß wir nur wünschen können, nicht nur möglichst viele, sondern vor allem auch junge Leser zu er­ reichen, die lebenswichtige Zusammenhänge anschließend vielleicht anders beurteilen und nach praktischen Nutzanwendungen suchen werden. Letztendlich sei uns noch ein kurzer Dank gestattet: Frau Dr. Lisa Hellmer hat den Text dieses Deutsch geschriebenen Buches noch einmal mit uns durchgearbeitet und uns dabei wertvolle Anregungen für die Gestaltung gegeben. Welche Hilfe dies für uns bedeutete, kann wohl nur der ermessen, der nach jo Jahren Auslandsaufenthalt plötzlich versucht, ein Buch in seiner zwar noch vertrauten und häufig gebrauchten Muttersprache, aber im endgültigen Formulie­ ren doch zum Problem gewordenen Idiom zu verfassen. Dies war ein Experiment, das dem Thema unseres Buches durchaus »adäquat« war. London/Würzburg, im Frühjahr 1979

Doris F. Jonas und A. David Jonas

II

Einleitung

Als wir darangingen, unsere Forschungsergebnisse zum Thema »Unterschiedliche geistige Funktionen bei Mann und Frau. Ein Schlüssel zum Ursprung der Sprache« (»Gender differences in mental function: A clue to the origin of language«) in der Zeitschrift »Current Anthropology« zu veröffentlichen, wollten wir zunächst die Mei­ nung eines Fachkollegen hören. »Ja, wie seid ihr denn auf dieses Thema gekommen?«, war sein erstaunter Kommentar, der dann freilich in einer angeregten Fachdiskussion unterging; wir waren einfach zu sehr an seiner Kritik interessiert, um uns bei dieser Frage länger aufzuhalten. Dafür sollte sie uns später um so nachhaltiger beschäftigen. (Ein ungelöstes Problem hat ja die Tendenz, immer wieder aufzutauchen, meistens bei den unerwartetsten Gelegen­ heiten.) Ein weiteres Mal wurden wir mit einem Wieso konfrontiert, als wir uns entschlossen, unsere wissenschaftliche Arbeit einem breite­ ren Publikum zugänglich zu machen: Anläßlich der Vorstellung eines früheren Werkes im Rundfunk - etwa eine Woche, nachdem der Kollege uns mit seiner Frage überrascht hatte - wollte der Inter­ viewer wissen, wie Forscher auf neue Ideen kommen. Unsere Ant­ wort war: »Ein Forscher kommt nicht auf neue Ideen; irgendein glücklicher Zufall bewirkt, daß ein Einfall ihn überfällt; er faßt die Idee »beim Schopf« und arbeitet sie aus, wenn sie vielversprechend ist; manchmal auch, wenn er von vornherein weiß, daß nicht viel dabei herauskommt.« Nach der Sendung überlegten wir dann, wie wir in unserem >3

nächsten Buch, das ebenfalls von der menschlichen Sprache handeln sollte, über die einzelnen Phasen unserer Forschung allgemeinver­ ständlich berichten könnten. Wir wollten den Leser nicht nur an unsere kognitiven Methoden heranführen, sondern ihn, wenn mög­ lich, auch mit den Arbeiten anderer Wissenschaftler zu diesem Thema vertraut machen. Auf diese Weise würde die an uns gestellte Frage beantwortet werden, aber es würde sich auch zeigen, wie Theorien von Vorurteilen beeinflußt werden; wie der Zeitgeist eine »ausgefahrene Spur« vorbereitet und Ideen darin »gefangen« wer­ den; wie kreatives Denken dem Zufall ausgesetzt ist, und anderes mehr. Unsere Methoden sind die eines Psychiaters und einer Anthropo­ login, die sich über ihr eigenes Fachgebiet hinaus mit vergleichendem Verhalten, mit Ethologie, Genetik, evolutionären Mechanismen und

angrenzenden Wissenschaften beschäftigen. Und unsere hauptsäch­ lichen Mittel sind assoziative Denkprozesse, die uns immer wieder zu neuen, abzweigenden Pfaden führen, bis wir zu brauchbaren Ergebnissen gelangen. In dem hier beschriebenen Fall befanden wir uns, ohne diese Absicht im vorhinein gehabt zu haben, am Ende eines solchen Pfades bei einem möglichen Ursprung der Sprache, Da unsere Theorie in einigen Punkten von den herrschenden Lehren abweicht, wagten wir es nur zögernd, diese letzte Schlußfolgerung zu zieher Wir fürchteten, von unserer eigenen Begeisterung davonge­ tragen worden zu sein und die angebrachte Vorsicht außer acht gelassen zu haben. Aber wir konnten unsere Ergebnisse letzten Endes nicht ändern, auch nachdem wir uns mehreren wissenschaft­ lichen »Kreuzverhören« gestellt hatten. Unser Unternehmen war zunächst, wie schon angedeutet, nicht zielgerichtet. Wir sahen uns plötzlich und ohne unser Zutun mit dem Gegenstand dieses Buches konfrontiert und suchten nach prakti­ schen Erklärungen für komplexe Vorgänge, die uns (bzw. Patienten) unmittelbar berührten und uns schließlich von einem Forschungsbe­ reich in den anderen verwiesen, die aber auch - und das war das zuweilen Beängstigende an der Sache-denkende Menschen seit jeher beschäftigt haben. Wir tasteten uns nach und nach von einem Pro­ blemkreis zum anderen, so daß unser Weg einer geistigen Odyssee 14

glich. Hätten wir uns dem Sprachbeginn systematisch genähert, wie man es von einer wissenschaftlichen Arbeit erwarten sollte, dann wären wir vermutlich genauso erfolglos geblieben wie viele unserer Vorgänger. Wohin uns unsere Neugier trieb, ist aber nur ein Teil unserer Geschichte; der andere umfaßt unsere Arbeitsmethoden. Unsere speziellen Interessen, die sich in unserer Zusammenarbeit ergänzen, erlauben es uns, biologische, kulturelle und Verhaltensfaktoren von mehr als einer Seite zu sehen. Eine solche multidimensionale Be­ trachtung verhindert ein starres Festhalten an Dogmen. Unzuläng­ lich formulierte Hypothesen können sich unter den prüfenden Blicken von zwei Augenpaaren nicht lange halten. Unser gemeinsames Arbeitsgebiet sind Aspekte der individuellen und stammesgeschichtlichen Entwicklung des Menschen, also die Entwicklung des Individuums bzw. die Stammesgeschichte betref­ fende Merkmale. Dem Psychiater dienen die individuellen, sich im Laufe der Reifung enthüllenden Verhaltensänderungen als Modell; der Anthropologe ordnet das stammesgeschichtliche Erbgut und evolutionäre Veränderungen in einen Bezugsrahmen ein. Die lang­ jährige Zusammenarbeit verhinderte, daß wir uns auf Einzelgebiete unseres jeweiligen Fachbereichs spezialisierten - ganz im Gegensatz zu dem sonst vorherrschenden Trend, der einen im allgemeinen ja in immer engere Wissensgebiete zwingt. Die sarkastische Feststellung: »Ein Spezialist ist ein Wissenschaftler, der mehr und mehr über weniger und weniger weiß, bis er alles über nichts weiß«, ist zwar eine Übertreibung, trifft aber doch irgendwie den Kern der Sache. Das Fassungsvermögen des menschlichen Geistes ist nun einmal nicht unbegrenzt, und Wissenschaftler müssen sich mit dem Kompromiß begnügen, als Generalisten unvollkommene Spezialisten oder als Spezialisten unvollkommene Generalisten zu sein. Der Spezialist beginnt seine Arbeit auf einem mehr oder weniger ausgedehnten Sektor seines Faches. Seine Aufmerksamkeit ist auf gewisse Einzelheiten dieses Bereichs gerichtet. Er wiederholt seine Untersuchungen so lange, bis er zu einem im Verhältnis zur Größe des Fachgebiets winzigen Sektor gelangt, den er vollkommen be’5

herrscht. Aber diese Methode kann ihn der Übersicht über größere Zusammenhänge berauben. Andererseits ermöglichen es moderne Techniken, die enorme Komplexität der Mikrowelt zu erfassen. Der Spezialist hat keine Wahl: Er muß seine gesamte geistige Energie einem einzelnen Aspekt widmen. Aber manchmal verspürt er die Hoffnung, daß andere Wissenschaftler sich mit dem größeren Zu­ sammenhang befassen werden. Wenn zwei Forscher aus verschiedenen Fachgebieten sich gemein­ sam die Köpfe zerbrechen, wie es bei uns der Fall ist, sind sie gezwungen, ihre jeweiligen Befunde auf einen Nenner zu bringen, zu vergleichen und schließlich zu einem harmonischen Ganzen zu vereinigen. (Der Leser soll nicht glauben, daß hierbei nur friedliche Diskussionen geführt werden; hitzige Wortwechsel, Argumente und Gegenargumente, die einer von uns als stimulierend, der andere als nervtötend empfindet, sind keine Seltenheit.) Die kontinuierliche Synthese von Wissen aus mehreren Gebieten schließt eine Speziali­ sierung aus. Der Psychiater betrachtet emotionelle Störungen und ihre körper­ lichen Manifestationen im Rahmen der Existenz eines Individuums. Der Anthropologe untersucht dieselben Phänomene aus der Sicht der sozialen Gruppe, der das Individuum angehört: Sie erscheinen ihm als eine Reaktion auf den von der Gruppe ausgeübten Druck. Außerdem ist die Funktion einer Gruppe bzw. sind ihre Traditionen nicht immer im Interesse des Individuums. Bei unserer langjährigen Zusammenarbeit gelangten wir mehr und mehr zu der Erkenntnis, daß viele menschliche Fehlfunktionen wie auch seelische und physische Eigentümlichkeiten ihren Ursprung in biologischen Urzuständen haben können. Viele der Verhaltensmu­ ster unserer evolutionären Vorgänger bleiben schablonenartig in den molekularen Strukturen unserer Gene erhalten, wo sie als ein Po­ tential »schlummern« und durch spezifische Umweltverhältnisse aktiviert werden können; oder sie stellen in der Entwicklungsge­ schichte eines Individuums eine auf eine spezifische Periode des Wachstums begrenzte Erscheinung dar. Die Anatomie und in einem geringen Grad die Physiologie unserer Vorgänger aus derTierwelt hinterlassen ihre Fossilienreste, während 16

man für das Verhalten keine greifbaren Beweise mehr hat, um Kontinuitäten zu rekonstruieren. Hier helfen aber die Vergleichende Verhaltensforschung und die Ethologie weiter: Unschwer ließen

sich deren neuere Forschungsergebnisse und unsere eigenen Erfah­ rungen zueinander in Beziehung setzen. Wir versuchten schließlich, verschiedene Grundthemen aus die­ sen Kombinationen herauszukristallisieren, und gelangten zu der Auffassung, daß menschliche Fehlfunktionen (neurovegetative, psychosomatische, neurotische und funktionelle psychotische Ma­ nifestationen) sowohl im Kontext des Individuums und seiner sozia­ len Umwelt untersucht werden müssen als auch im Hinblick auf einen möglichen biologischen Nutzwert bei unseren Vorgängern aus der Tierwelt, denen diese Reaktionen angepaßt waren. Unsere These, daß Fehlfunktionen des modernen Menschen stammesgeschichtliche Überbleibsel darstellen, gewann weiter an Boden durch neuere Untersuchungsergebnisse der genetischen Molekular­ struktur. Es scheint, daß nur wenige der früheren Anpassungsme­ chanismen verlorengehen. Die Gene, diefür die Reaktionsmechanis­ men primitiver Lebewesen verantwortlich sind, werden, wenn sie sich in höheren Organisationen fortsetzen, »überdeckt«. Ein »klug« angelegtes System von Eiweißmolekülen fungiert als Unterdrücker (Repressoren), indem diese verschiedene Nukleinsäuregruppen der Gene überdecken und daher deren Informationspotential ausschal­ ten. Ein später auftauchendes, ebenso »klug« angelegtes System ähnlicher Eiweißmoleküle fungiert dann als Unterdrücker der Un­ terdrücker. Mit anderen Worten, das früher isolierte, archaische Genpotential der Nukleinsäuren ist jetzt in der Lage, ein Programm zu verwirklichen, das in den meisten Fällen dem Erscheinungsbild eines Organismus (Phänotyp) unangepaßt erscheint (wie z. B. das Auftreten von Scheintodreflexen beim Menschen). Daraus ergibt sich, daß archaische Funktionen in jedem von uns »schlummern« und nicht »verschwinden«. Die in einer späteren Phase der menschli­ chen Entwicklung auftretenden archaischen Funktionen, deren Un­ terdrückung sich nur andeutungsweise entwickeln konnte, sind daher nur mangelhaft »überdeckt« und erscheinen sehr häufig in den sogenannten »neurotischen Reaktionen« als Begleitsymptome. i7

Man könnte diese in den Genstrukturen gespeicherten Relikte der Vorzeit mit einer »Zeitbombe« vergleichen, bei der die Umweltbe­ dingungen der Kindheit die Zündschnur darstellen; in einer späteren Phase der Entwicklung kann dann als Folge von Streß die Explosion erfolgen. Das Resultat ist eine dem Menschen unangepaßte, geistig oder körperlich störende Anhäufung von Symptomen. Hier existiert eine Kontinuität archaischer Reaktionen, für die wir noch keine Gesetzmäßigkeit gefunden haben; sie erstreckt sich in unberechen­ baren Sprüngen von den Verhaltensreaktionen des Präsapiens-Menschen über die Menschenaffen, Säuger, Reptilien, Amphibien, Fische bis zu den Invertebraten (wirbellosen Tieren). So weist eine Ver­ krampfung der Kranzgefäße des menschlichen Herzens auf den Scheintodreflex mancher Säuger hin, das Magengeschwür auf den Eventrationsreflex (Abwerfen des Magens als Köder, um Raubfische abzulenken) der Invertebraten (wirbelloser Tiere), der Tauchreflex auf im Wasser lebende Wirbeltiere; Muttermale der Haut erinnern an Reptilien usw. Die von uns vorgeschlagene These ermöglicht es nicht nur, gewisse menschliche Störungen besser zu verstehen, sondern auch - in umgekehrter Richtung - das Verhalten unserer Vorgänger (wie z. B. Präsapiens-Mensch und Affenmensch) aus archaischen Verhaltensweisen, die noch in uns schlummern, zu rekonstruieren. Gerade diese Umkehr führte uns von einer menschlichen Fehlfunk­ tion - der Legasthenie - zum Frühmenschen, der die Sprache »er­ fand«.

Vielleicht dürfen wir unsere Arbeit mit der eines Archäologen vergleichen: Er beginnt seine Forschung mit wenigen, oft rätselhaf­ ten Funden oder vagen Anhaltspunkten: Scherben einer Tonvase, Werkzeug, auf Knochen oderTontafeln eingeritzten Symbolen, der abgerissenen Ecke eines Pergaments, Ruinen und anderem mehr. Um die Bruchstücke zu einem faßbaren Ganzen zusammenzufügen und diesem einen Sinn zu geben, bemüht er viele Wissensgebiete: die Geschichte und Mythen der Bevölkerung in der Nähe der Fund­ stelle; geographische Besonderheiten; antike Sprachen und Handar­ beiten; Physik, Chemie, Botanik, Zoologie und Medizin, um nur einige zu nennen. Der Archäologe fügt also die Teile mit Hilfe

18

interdisziplinären Wissens wie ein Mosaik zusammen, bis er eine genaue Vorstellung von der damals herrschenden Zivilisation hat. Weitere Funde ergänzen das Bild, bis sich schließlich eine logische und überzeugende Rekonstruktion einer längst verblichenen Bevöl­ kerung ergibt. In unserem gemeinsamen Bestreben suchen wir, das Forscherehe­ paar Jonas, »archäologische Ausgrabungsstätten« im menschlichen Körper. Wenn eine Funktion des Menschen als biologisch schädlich, sinnlos oder ohne adaptiven Nutzen erscheint, ist das für uns ein Anlaß, den betreffenden Ursachen auf den Grund zugehen. Die Herausforderung liegt für uns darin, neue Hinweise auf das Verhal­ ten prähistorischer Menschen zu finden und, umgekehrt, im moder­ nen Menschen existierende Fehlfunktionen zu identifizieren, die letztlich verschiedene Stufen der Evolution angepaßter Reaktionen darstellen. Wir sind nicht die ersten, die diesen Weg beschritten haben. W. B. Cannon wunderte sich, warum die meisten Leute ein Mißbehagen in ihrem Magen verspüren, wenn sie Furcht empfinden. Sie nehmen eine Gefahr mit Augen und Ohren wahr und interpretieren die Ursachen mit ihrem Verstand. »Was hat denn der Magen damit zu tun«, war die Frage Cannons. 1939 veröffentlichte er das Buch >Bodily Changes in Pain, Hunger and Fear« (»Körperliche Verände­ rungen bei Schmerz, Hunger und Furcht«), in dem er nachwies, daß der Mensch noch immer die archaischen Kampf- und Fluchtreflexe der evolutionär vorangegangenen Säuger besitzt. Wenn diese Tiere die Gegenwart eines Raubtieres verspüren, dann reagieren sie mit motorischen Aktionen, die es ihnen ermöglichen, entweder standzu­ halten und zu kämpfen oder schleunigst zu fliehen. Bei beiden Reaktionen wäre das Tier von einem vollen Magen oder anderen Organen im Füllungszustand behindert; daher werden evakuierende Reflexe ausgelöst - der Inhalt des Magens, der Blase und des Darmes wird entleert. Solche vegetativen Leistungen sind für Beutetiere lebenserhaltend, aber beim modernen Menschen haben sie ihren biologischen Nutzwert verloren. Die in unserem Alltag empfunde­ nen Gefahren haben nur eine symbolische Signifikanz: Wir fürchten den Verlust einer Stellung, die Konsequenzen realen oder eingebilde­ 19

ten sozialen Fehlverhaltens usw. Manche Menschen reagieren auf Gefahr jedoch mit denselben archaischen Reflexen wie Säuger. Da sozial bedingte Drohungen sich über längere Zeit erstrecken, können die entsprechenden vegetativen, motorischen Aktionen zu chroni­ scher Überbeanspruchung führen. Manche dieser archaischen Reaktionen sind heute nur noch Ku­ riosa, wie der von unseren Primatenvorfahren ererbte Greifreflex des Säuglings, der auf das Anklammerungsbedürfnis des vormenschli­ chen Kleinkindes hinweist; der Tauchreflex, der eine Verlangsa­ mung des Herzschlags bewirkt, wenn das ganze Gesicht ins Wasser gehalten wird (ein stammesgeschichtliches Relikt aus frühesten aquatischen Lebensbedingungen); Rotwerden des Gesichtes und der Halszonen (ein Überbleibsel der Drohgesten von Primaten) usw. Doch erzählt jeder dieser archaischen Reflexe - sozusagen als leben­ des »Fossil« - von unserer Entwicklungsgeschichte. Versteht man diese neuralen und physiologischen Mechanismen, so verbessert sich die Chance, bei krankhaften Erscheinungen therapeutische Maß­ nahmen zu ergreifen.

20

Kapitel I

4=i oder Von der sprachlichen Überlegenheit der Frau.

Anlaß für das hier erzählte wissenschaftliche Abenteuer war ein für einen Wissenschaftler gewöhnlich nicht operational wirkender Fak­ tor: das Mitgefühl für einen kleinen Jungen, den seine verzweifelten Eltern vor Jahren in unsere Praxis brachten: Mit ihrer älteren Tochter Marianne hatte es nie Schulprobleme gegeben. Helmut hingegen hatte enorme Lernschwierigkeiten. Und die mit überdurchschnitt­ licher Intelligenz begabten Eltern konnten und wollten nicht begrei­ fen, daß ihr Sohn, der ihnen genauso intelligent schien wie seine Mitschüler, mit so erbärmlichen Zensuren abschnitt. Die Eltern hatten bereits alles mögliche versucht: Beratung mit dem Lehrer; Privatunterricht; disziplinarische Maßnahmen mit Privilegienentzug als Bestrafung; ärztliche Untersuchung: die Möglichkeit einer Augenstörung wurde von einem Spezialisten ausgeschlossen; Ge­ spräche mit Eltern, deren Kinder ebenfalls Lernprobleme hatten. Da keiner der Befunde abnormale Resultate zeigte, nahmen die Eltern an, daß Helmuts mangelhafte Schulleistungen ein Zeichen für Stur­ heit, Eigenwillen und Rebellion gegen jede Form von Autorität seien. Die Schuld daran schoben die Eltern ihren gegenseitigen vermutlichen Schwächen zu. Es kam zu unangenehmen Meinungs­ verschiedenheiten, so daß schließlich die ganze Familie auseinander­ zufallen drohte. In dieser sich immer mehr zuspitzenden Situation wandten sie sich an uns, die wir verschiedentlich schon Familienthe­ rapien erfolgreich durchgeführt hatten. Eine psychologische Untersuchung Helmuts ergab, daß er an einer angeborenen Leseschwäche litt. Er selbst konnte bis jetzt nicht 21

verstehen, warum die Zeilen in seinem Buch keinen Sinn ergaben, doch hatte er keine Schwierigkeiten, dem Vortrag seines Lehrers zu folgen. »Wahrscheinlich bin ich dumm«, meinte er resignierend. Das begleitende Minderwertigkeitsgefühl erfüllte ihn mit Selbstverach­ tung und Zorn gegen die ganze Welt. Er akzeptierte die häufigen Strafen als etwas Verdientes - es war ja seine Schuld, daß er die Eltern und Lehrer unglücklich machte. Helmuts Legasthenie * war wie in vielen ähnlichen Fällen auf eine angeborene Schwäche der Gehirnzentren zurückzuführen, die opti­ sche Eindrücke - die Schrift - mit Begriffen der Sprache koordinie­ ren. Da ein Kind sich über ein solches Leiden nicht im klaren ist - es kann dieses Problem nicht spontan schildern, da ihm die Worte fehlen, um es zu beschreiben -, wird es in seinen Entwicklungsjahren zum Opfer tiefgreifender Störungen. Man muß sich in den Gemüts­ zustand eines solchen Kindes hineinversetzen, um die folgenreichen seelischen Verheerungen ermessen zu können, die sich daraus ergeben. Irgendwie berührte uns das seelische Leid der Familie Müller auf ganz besondere Weise. Wir waren überzeugt, daß die emotionellen Schwierigkeiten dieser sympathischen Menschen eliminiert werden konnten, wenn Helmuts Leseschwäche entweder als angeborener Defekt akzeptiert wurde oder durch Trainingsmethoden Behand­ lung fand. Die Eltern begannen, Helmut Verständnis entgegenzu­ bringen, als wir ihnen das Wesen der Legasthenie erklärten - sie gaben Reue über ihr ungerechtes Verhalten zu erkennen -, und auch der Sohn war glücklich zu hören, daß er nicht dumm war, sondern an einer angeborenen Störung litt, für die ihn keine Schuld traf und die korrigiert werden konnte. Aber ein unglücklicher Zufall wollte es, daß in keiner der sprach­ fördernden Schulen ein Platz für Helmut gefunden werden konnte, zumindest sollte er eine mehrmonatige Wartezeit in Kauf nehmen. * Dem Legastheniker ist es nicht möglich, die Sachwirklichkeit mit der denkbestim­ menden Kraft der Schriftzeichen zu verknüpfen, so daß die geschriebenen oder gedruckten Wörter mehr oder weniger inhaltslose, aneinandergereihte Zeichen darstellen. Für ihn steht die Realität des gedruckten Wortes in keinem Einklangmit der ihm gewohnten gedanklichen Artikulation der Wirklichkeit.

22

Die Enttäuschung aller Beteiligten war groß und übertrug sich auch auf uns. Wir besprachen uns daher, ob wir Helmut nicht doch vorübergehend helfen könnten, und vereinbarten, die Behandlung zu übernehmen. Wir lasen uns in die neueste Literatur zur Legasthenie ein und stießen dabei auf eine ungewöhnliche Diskrepanz zwischen Jungen und Mädchen in der Anfälligkeit für diese Störung. Verschiedene Tests und klinische Untersuchungen an Universitäten der meisten westlichen Länder hatten immer wieder zu demselben statistischen Ergebnis geführt: Viermal soviel Jungen als gleichaltrige Mädchen leiden an Legasthenie. Dies war ein ungewöhnliches Phänomen, für das es nirgends eine zufriedenstellende Erklärung gab. Noch mehr erstaunte uns, daß die Spezialisten, die sich mit einem so häufig auftretenden Leiden befas­ sen, keine begründete Arbeitshypothese für die geschlechtlich be­ dingte Unterschiedlichkeit in der Leseschwäche hatten. Wo immer wir fragten, was denn die Ursache dieser Diskrepanz sei, erhielten wir nur eine die Tatsachen bestätigende Antwort: »Jungen haben größere Leseschwierigkeiten.« Pädagogen und Neurophysiologen wußten uns kaum mehr zu sagen als: »Jungen haben in diesem Alter keinen Kopf für Schularbeiten«; »Mädchen reifen früher«; »es ist ein Faktum der menschlichen Natur, daß man sich bemüht, das Übel mit

den vorhandenen Hilfsmitteln zu korrigieren«, usw. Auch wir hatten schon häufig mit jungen Legasthenikern zu tun gehabt; sie wurden zur Behebung ihrer Schwierigkeiten an eigens dafür eingerichtete Schulen oder Rehabilitationszentren verwiesen. Nachhaltige Gedanken über die Ursachen hatten auch wir uns deswegen nicht gemacht. Doch jetzt packte uns der Ehrgeiz. Es mußte doch möglich sein, herauszufinden, wo das Übel lag! Also fingen wir an, alles über Legasthenie zu lesen, dessen wir habhaft werden konnten. Die meisten Artikel stammten von Pädagogen und Neurophysiologen, doch gab es auch populär geschriebene Bücher zu diesem Thema. In den Vereinigten Staaten war gerade >Why Johnny can't read< auf die Bestsellerliste gelangt und erregte großes Aufsehen. Das Problem der jugendlichen Lernschwierigkeiten ist offensichtlich so weit verbreitet, daß auch eine partielle Lösung 13

willkommen ist. Im großen und ganzen bestätigten die wissenschaft­ lichen Arbeiten aber nur, was wir bereits wußten, wenn auch viel­ leicht noch nicht so systematisch. Das unauffällige Anfangsstadium schien, wie mehreren Publika­ tionen zu entnehmen war, eines der Hauptprobleme zu sein: Der Mangel an objektiven Kennzeichen, die auf Legasthenie hinweisen, stellt besonders große Anforderungen an den Lehrer. Eine kindliche Fehlfunktion in bezug auf die schulischen Leistungen wird nur dann vermutet, wenn zahlreiche, monatelange Nachhilfe ohne Erfolg bleibt. Anfangs beklagen sich die Lehrer, daß dieschulische Führung eines solchen Kindes außergewöhnlich frustrierend sei - das Kind scheint nicht dumm zu sein, warum macht es nicht größere Anstren­ gungen, um so einfache Dinge wie das Abc zu erlernen ? Es ist sowohl den Eltern als auch den Lehrern unverständlich, warum »Häns­ chen« unaufmerksam, verschlossen und gewöhnlich in schlechter Stimmung ist; manchmal ist es so stur, daß man mit ihm nichts anfangen kann. Obwohl man heute über Leseschwierigkeiten schon einiges weiß, geschieht es immer wieder, daß »Hänschen« geschol­ ten und bestraft wird; daß seine Eltern in die Schule bestellt werden, um das Kind zu eifrigerem Lernen zu ermuntern. Manchmal verteidigen sich die Eltern: »Unser Sohn ist nicht dumm. Wir haben viele Beweise dafür... Wir können es nicht verstehen, warum er Schwierigkeiten in der Schule haben soll. Vielleicht ist etwas nicht richtig mit Ihren Lehrmethoden.« In fort­ schrittlichen Schulen schickt man in solchen Fällen das Kind samt seinen Eltern zuerst zu einem Schulpsychologen, dann zum Augen­ spezialisten und schließlich zu einem Arzt. In der Zwischenzeit-bis das Problem gelöst ist - lastet auf der Familie eine Atmosphäre des Versagens, gekoppelt mit Selbstanklagen, Vorwürfen und Beschul­ digungen. (In neuester Zeit jedoch wird Legasthenie früher erkannt und damit viel unnötiges Leid abgewendet.)

MacDonald Critchley wies in seinem 1970 veröffentlichten Buch >The Dyslexie Child« (>Das legasthenische Kind«) als erster auf die Diskrepanz besonders hin, daß viermal so viele Jungen als Mädchen in diese Kategorie fielen. Dies war das erstemal im Laufe unserer

24

Untersuchungen, daß wir einem bestimmten, kulturell bedingten Vorurteil begegneten, das sich besonders im Studium von Intelligenz und Sprache manifestierte. Critchley zitierte 19 Forscher, die sich in der Zeit von 1927-1968 mit Problemen im Umkreis der Legasthe­ nie befaßt hatten und zu ähnlichen Resultaten gekommen waren: Diese varriierten von einem Minimum von 69 Prozent bis zu einem Maximum von 100 Prozent, d. h., 82 Prozent aller Kinder, die Leseschwierigkeiten hatten, waren Jungen. Der in diesem 40jährigen Zeitraum vorgefundene Durchschnitt von 82 Prozent entspricht der von MacDonald Critchley nachgewiesenen Relation von 4:1. Warum dauerte es aber so lange, bis ein schon seit ca. $0 Jahren bekanntes Faktum die Aufmerksamkeit der Wissenschaftler erregte? 19 von ihnen hatten einwandfreie statistische Resultate veröffent­ licht, die miteinander vergleichbar waren, aber keiner hatte die offensichtliche Schlußfolgerung gezogen. Wir müssen freilich zuge­ ben, daß auch wir anfangs mit denselben Scheuklappen ausgerüstet waren. Erst die Massierung der Beweise ließ uns erkennen, was allen männlichen Wissenschaftlern verborgen war und doch jede Mutter bestätigen kann: daß nämlich Mädchen in allen Aspekten der Sprach­ fähigkeit den Jungen überlegen sind. Eine solche Erkenntnis wider­ spricht jeglichem historisch und kulturell bedingten Glauben an die männliche Überlegenheit. Die bei Jungen viermal so große intellek­ tuelle Behinderung konnte also nur auf eine obskure, unerklärliche Ursache zurückgeführt werden! Auch MacDonald Critchley wies etwas zögernd auf die monströse Möglichkeit hin, daß wir die respektiven Fähigkeiten der Geschlechter sorgfältiger unter die Lupe nehmen müßten. Nun wurden seit jeher verschiedene Gründe angeführt, die bewei­ sen sollten, daß der Mann der Spezies Homo sapiens die Fähigkeit zur Sprache entwickelte. So benötigte er auf einer primitiven Stufe die Sprache angeblich mehr als Frauen, um kooperative Arbeit ins Werk zu setzen. Besonders wichtig erschien die Notwendigkeit, sich während des Jagens miteinander zu verständigen und Botschaften zu den Wohngebieten zu schicken. Eine andere These lautet, daß Sprache aus Beschäftigungen entsprungen sei, für die größere kör­ perliche Anstrengungen erforderlich waren - Sprachlaute hätten 25

physische Aktivitäten begleitet. Und was am überzeugendsten sein sollte: Da Männer mit höherer Intelligenz begabt sind, konnten nur sie es sein, die die Sprache »erfunden« haben. Ohne uns von derlei Vorurteilen beeinflussen zu lassen, setzten wir unsere Suche fort. Wir wollten objektiv faßbare Resultate. Konnten neurophysiologische Befunde den Weg zur Ausbildung menschlicher Intelligenz weisen und uns möglicherweise dem Rätsel der unterschiedlich wirksamen Funktionen der höheren Zentren des Nervensystems hinsichtlich gewisser menschlicher Fähigkeiten nä­ herbringen? Die Untersuchung, warum kulturelle Faktoren beinahe universell diese differentiellen Fähigkeiten - entgegen der biologi­ schen Bestimmung, wie wir zu ahnen begannen - zugunsten des Mannes in die entgegengesetzte Richtung lenkten, versprach ein neues, faszinierendes Unternehmen zu werden. Wir hatten den Eindruck, daß hier ein noch verborgener Zusammenhang bestand, dem wir später wieder begegnen würden.

Bis auf weiteres studierten wir Forschungsergebnisse auch aus be­ nachbarten Gebieten: 1972 berichteten R. C. MacKeith und Μ. Rutter in ihrem Bericht »The Prevalence of Language Disorders in Children< (»Die Verbreitung von Sprachstörungen bei Kindern«), daß sie zweimal so viele Jungen als Mädchen mit Sprachstörungen eruiert hätten. Obwohl die Pathologie des Sprechens für die Beurtei­ lung der angeborenen linguistischen Fähigkeiten nicht ganz in die­ selbe Kategorie fällt wie die Legasthenie - manche der Schwierigkei­ ten wie Stammeln und Stottern sind das Resultat von Verhaltensstö­ rungen -, ist doch das Verhältnis 2 : 1 zuungunsten der Jungen ein ebenso markanter Befund. Ein skeptischer Pädagoge fragte uns denn auch anläßlich eines Vortrags: »Schön und gut. Wieso erklären Sie, daß ein Viertel der Legastheniker dem so überlegenen Geschlecht angehört? Mädchen sind doch auch davon betroffen.« Natürlich muß man in Betracht ziehen, daß Jungen wie Mädchen in ihrer Kindheit Geburtsverlet­ zungen, Gehirnentzündungen, und -erschütterungen erleiden, die Schädigungen des Sprachzentrums nach sich ziehen. Wir hatten im Laufe der Jahre 18 Frauen in psychotherapeutischer Behandlung, bei 26

denen sich eine Leseschwäche bis ins Erwachsenenalter erhalten hatte. Doch ergab sich bei jeder von ihnen eine organische Basis für dieses Leiden. Läßt man solche Fälle aus den Statistiken heraus, erhält man wieder die 4 : i geschlechtsbedingte Diskrepanz. Aus alledem ergab sich die langsam wachsende Überzeugung, daß dies irgendwie eine stammesgeschichtliche Bedeutung haben mußte. Eine so klare, statistisch nachgewiesene, geschlechtsbezogene Di­ vergenz konnte nur zu dem Schluß führen, daß Mädchen eine artbedingte höhere Sprachfähigkeit besitzen. Doch als wir diesen Sachverhalt in einer Fachzeitschrift veröffent­ lichten, wurden wir mit Leserbriefen von Kollegen geradezu über­ schüttet. Man konnte ohne Schwierigkeiten zwischen den Zeilen lesen, daß schon seit jeher die Herren der Schöpfung im ausschließli­ chen Besitz von Intelligenz und Sprache seien und daß Frauen ihr Wissen von den Männern bezogen hätten. Eine stammesgeschicht­ liche, fixierte Anlage, die Mädchen eine den Jungen überlegene Sprachbegabung verleiht, sei ein absurder Vorschlag und widerspre­ che allen hergebrachten Anschauungen. Daß hier und da ein begabtes Mädchen die Aufmerksamkeit seiner Lehrer auf sich ziehe, beweise gerade durch die Auffälligkeit dieses Phänomens die Ausnahme. (Wir werden später noch auf diese maskulinen Scheuklappen in bezug auf die phylogenetisch fixierte, aber kulturell modifizierte Rolle der Frau zurückkommen.)

Dermaßen ermuntert, setzten wir unsere Forschungen fort. Wir wollten als nächstes herausfinden, ob weibliches Denken und seine Sprache - wenigstens im spätkindlichen Alter - auch de facto dem männlichen überlegen sind. (Halb im Scherz sagten wir uns, daß wir uns jetzt auf gefährlichem Boden bewegten.) Diesbezügliche Berichte fanden sich hauptsächlich in der pädago­ gischen Literatur: So hatte J. A. Hobson schon 1947 einen typischen Befund veröffentlicht, der ebenfalls auf das im Bereich der Sprache herrschende maskuline Vorurteil hinweist. Hobson konzentrierte sich auf diejenigen Fähigkeiten, in denen Jungen den Mädchen überlegen waren. Seine Tests ergaben, daß Jungen einen besseren Raumsinn haben, aber er mußte eingestehen, daß bei diesen Tests 27

auch entscheidend höhere Intelligenzquotienten zugunsten der Mädchen zutage traten. Uns interessierte in seinen Befunden der höhere IQ der Mädchen vor allem deswegen, weil die Tests haupt­ sächlich auf verbalen Kriterien beruhten, insbesondere auf dem mühelosen Verstehen geschriebener und gesprochener Worte. Zu ähnlichen Schlußfolgerungen war W. G. Emm ET gekommen. Er hatte 1954 die Resultate der IQ-Tests von Stadt- und Landkin­ dern, und zwar aus den Jahren 1940-1950, analysiert. Als Grundlage dienten ihm Auslesetests mit Elfjährigen, wie sie turnusmäßig an vom britischen Staat geförderten Schulen abgehalten werden, um herauszufinden, welche Kinder zum Weiterstudium an höheren Schulen geeignet sind und welche von ihnen in Berufsschulen bessere Fortbildungsmöglichkeiten haben. Diese langjährigen und die ge­ samte Bevölkerung umfassenden Tests zeigten, daß die Mädchen sowohl in den IQ-Tests als auch im Gebrauch der Sprache den Jungen in signifikanter Weise überlegen waren. Entgegen konventionellen Ansichten wiederholen sich diese Un­ terschiede auch bei älteren Jahrgängen. Der Psychologe David Wechsler, der die weitverbreitete Wechsler-Adulten-IntelligenzSkala (Wais) erfand, zeigte anschaulich anhand von »Untertests«, die Alter und Geschlecht berücksichtigen, daß Frauen den Männern im reichhaltigeren Vokabular, im Wortgebrauch und im Erkennen von Ähnlichkeiten überlegen waren, während die Männer in der Arith­ metik und Bildergänzung vor den Frauen rangierten. Wechsler veröffentlichte diese Befunde 1958 und bestätigte damit in wissen­ schaftlich gültiger Form, was im Volk - diesbezügliche zynisch­ humorvolle Hinweise existierten schon im Altertum - allgemein bekannt war: Mädchen verfügen in einer früheren Entwicklungs­ phase über Sprachfähigkeit und sind gleichaltrigen Jungen unter jedem sprachlichen Aspekt überlegen. Dagegen zeichnen sich Jun­ gen in einigen non-verbalen Aktivitäten, im Zahlenbereich und in der Raumorientierung aus. 1960 publizierte P. E. Vernon die Resultate seiner Intelligenzund Leistungstests. Er konstatierte ebenfalls, daß Mädchen in verba­ len Tests - auch beim Auswendiglernen - besser abschnitten als Jungen. 1962 erzielten J.S.LANSDELLunddasTeam J. McGlone und 28

W. Davidson bei ihren Untersuchungen ähnliche Befunde und kamen zu analogen Schlußfolgerungen. Je mehr Bestätigungen dieser geschlechtsbedingten Diskrepanz wir erhielten, desto nachdrücklicher waren wir davon überzeugt, daß wir es hier mit einer noch existierenden, stammesgeschichtlich be­ dingten Anpassung zu tun hatten, die aber den früheren, arterhalten­ den Zweck eingebüßt hatte und im heutigen kulturellen Kontext sogar Möglichkeiten einer schädlichen Auswirkung in sich barg. Legasthenie könnte also, obwohl sie keine Krankheit im engeren Sinne ist, durchaus psychosomatischen Manifestationen zugeord­ net werden; zumindest schien uns eine phylogenetische Basis denk­ bar. Die nächste Information, bei der auch der Zufall mitspielte, vermittelte uns die persönliche Mitteilung eines Kollegen in Form eines noch nicht veröffentlichten Manuskripts, das augenscheinlich wenig Relevanz für unsere Forschung hatte. Tatsächlich aber war diese Arbeit von eminenter Bedeutung für uns: Säuglinge, so hatte dieser Kollege herausgefunden, sind vor dem sechsten Lebensmonat beinahe immun gegen Folgen einer mangelhaften Sauerstoffzufuhr zum Gehirn. Vom biologischen Standpunkt aus ist dies nur sinnvoll: Das Mißverhältnis des übergroßen Kopfes des Neugeborenen ge­ genüber dem engen Geburtsweg bedingt, daß es zu einer Kompres­ sion des Gehirns kommt, wobei dieses vorübergehend zu wenig Sauerstoff erhalten kann. Die natürliche Auslese begünstigte diejenigen menschlichen Va­ rianten, die sich mit einer solchen Schwierigkeit abzufinden ver­ mochten. Und da sich besonders wichtige Merkmale in der Natur gewöhnlich ein bißchen länger erhalten, als dies eigentlich notwen­ dig wäre, dauert der Schutz für das zerebrale Gewebe bis etwa sechs Monate nach der Geburt an. Danach verschwindet er; ein Fortbeste­ hen wäre nicht nur überflüssig, sondern es hätte sogar schädigende Folgen: Um diese Zeit findet nämlich ein neuer Schub im Gehirn­ wachstum statt, der eine erheblich größere Sauerstoffzufuhr erfor­ derlich macht. Bei der Geburt beträgt das Gehirn ein Viertel, im dritten Lebensjahr hingegen bereits drei Viertel der endgültigen

29

Größe. In den ersten drei Jahren wächst das Gehirn also mehr als in jeder anderen Periode. Die nun einsetzende Anfälligkeit des Nervengewebes zeigt sich z. B. darin, daß Kinder bis zum fünften Lebensjahr zu Konvulsionen neigen, wenn die Körpertemperatur zu hoch wird. Das rasch wach­ sende Gehirn benötigt ideale Stoffwechselbedingungen; werden diese gestört, so kann es zu neurologischen Symptomen kommen. Tritt nun aber hohes Fieber ein, bevor das Gehirn seine vollständige Entwicklung erreicht hat - d. h. bevor die Myelinscheiden * die Nervenfasern völlig eingehüllt haben -, so kann das die weniger entwickelte Hemisphäre angreifen. P. Flor-henry publizierte 1974 eine Zusammenfassung klinischer Befunde. Er fand, daß die durch Fieber verursachten Krampfanfälle ein Zeichen diffuser zerebraler Schäden seien, die selten vor dem sechsten Lebensmonat und maximal um den 18. Lebensmonat auf­ treten, daß 90-9 $ Prozent aller die Kinder befallenden Konvulsionen sich vor dem fünften Lebensjahr einstellen und daß ein geschlechts­ differenziertes konvulsives Anfälligkeitsverhältnis von 140:100 zu­ ungunsten der Jungen besteht. Er schrieb, daß »eine biologisch bestimmte, geschlechtsgebundene, lateralisierte, differentielle hemisphäre Verwundbarkeit das männliche vom weiblichen Gehirn un­ terscheidet«. Mit anderen Worten heißt das, daß das Gehirn eines Jungen gegenüber Störungen verwundbarer ist und daß man daher annehmen muß, das Gehirn eines Mädchens reife viel früher als das eines Jungen. Ähnliche Befunde hat auch D. C. Taylor schon in seinem im Jahre 1969 veröffentlichten Buch angedeutet. Er berichtet über seine Beobachtungen an 150 Kindern, deren Schläfenlappenepilepsie vor dem zehnten Lebensjahr begonnen hatte. Die Zahl der anfälligen Jungen verringerte sich allmählich bis zu ihrem vierten Lebensjahr, bei den Mädchen hingegen fiel die Anfälligkeitskurve bereits vom zweiten Lebensjahr an steil ab. 1971 berichtete Taylor weiter, diesmal zusammen mit C. Ounsted, daß Jungen in einem viel höheren Maße zu Schädigungen der * Eine fettähnliche Substanz.

30

dominanten (linken) Hemisphäre als Folge von hohem Fieber und damit einhergehendem Sauerstoffverlust neigen als Mädchen. Die unvermeidliche Schlußfolgerung, die sich aus all diesen Beob­ achtungen ergibt, ist, daß die weibliche dominante-die Sprachzen­ tren erhaltende - Gehirnrinde früher reift als die korrespondierende männliche und daß sich diese gegenüber Schäden als widerstands­ fähiger erweist. Wie wir schon bei anderen Untersuchungen ungewöhnlicher menschlicher Funktionen feststellen konnten, haben sogenannte »sinnlose«, »nutzlose« oder »zwecklose« Manifestationen häufig eine stammesgeschichtliche Basis. Dies führte uns zu der Frage: Warum kam es in der Vorzeit zur Entwicklung eines solchen ge­ schlechtsbedingten Unterschieds im Sprachzentrum? Wir nehmen dabei an, daß das, was wir heute noch bei unseren Kindern beobach­ ten, Ausläufer bzw. Überbleibsel eines früher existierenden und damals viel stärker ausgeprägten Unterschieds sind. Auch hier lag - wieder einmal - ein ungewöhnlicher Befund vor, den jeder Stati­ stiker hochrechnen konnte, dem man aber keine besondere Bedeu­ tung beimaß. Wir setzten unsere Suche anhand von psychologisch orientierten Berichten über geschlechtsbedingte Unterschiede fort. Bestätigungen der schon auf anderen Gebieten vorgefundenen Mei­ nungen begannen sich zu häufen. Doreen Kimura hatte über mehrere Jahre hinweg die geschlechts­ bedingten Unterschiede gewisser gehörsinnbezogener Fähigkeiten mittels dichotischer Tests untersucht. Diese Tests sind äußerst inter­ essant, weil sie auf der wenig bekannten Tatsache beruhen, daß sich rechtsseitige von linksseitigen auditiven Wahrnehmungen unter­ scheiden. Wenn verschiedene Laute beide Ohren gleichzeitig errei­ chen, identifizieren die meisten normalen Erwachsenen die Sprache mit dem rechten Ohr und non-verbale Laute (Musik, Alarmsignale, animalische Lock- oder Warnrufe) mit dem linken Ohr. Diese seitenverschiedenen Wahrnehmungen entsprechen der parallelen Differenzierung zwischen der rechten und der linken Hemisphäre. Menschen sind rechts- oder linkshörig ebenso wie rechts- oder linkshändig. Kimuras Berichte erschienen 1961, 1963 und (zusam­

31

men mit C. Knox) 1970 und zeigten, daß Jungen im Erlernen der Sprache hinter den Mädchen zurückblieben, wie übrigens auch in der Entwicklung der Sprachzentren; Jungen zwischen fünf und acht Jahren sind Mädchen aber im Erkennen non-verbaler Laute über­ legen. Μ. P. Bryden (1970) fand seinerseits mit Hilfe dieser dichotischen Tests, daß die Gehirnlateralisation (die Lokalisierung von Fähigkei­ ten in den respektiven Hemisphären) bei Mädchen im zehnten Jahr, bei Jungen im zwölften Jahr abgeschlossen ist. Eine andere erstaunliche Entdeckung machte L. Ghent (1961) im Zusammenhang mit Untersuchungen zur geschlechtsbezogenen, unterschiedlichen Sensitivität der Hände gegenüber Druckwahr­ nehmungen. Mädchen wiesen die für Erwachsene charakteristische größere Sensitivität der weniger bevorzugten Hand (beim Rechts­ händer der linken Hand) schon im sechsten Lebensjahr auf, Jungen nicht vor dem elften Lebensjahr. Ähnliche Wahrnehmungen, aber ohne Laborbeweise wurden in der Ausgabe der >Encyclopaedia Britannica« des Jahres 1963 veröf­ fentlicht. Unter der Rubrik >Die Sprache des Kindes« heißt es, daß die Fähigkeit, fremde Sprachen zu erlernen, am besten in den Kindheits­ jahren entwickelt ist; sie bleibt lange Zeit erhalten und geht nach dem vierzigsten Lebensjahr zurück. Frauen behalten diese Fähigkeit jedoch länger als Männer.

Eine große Menge Beweismaterial stand uns jetzt zur Verfügung, das uns die in hohem Maße wahrscheinliche These aufzwang, daß hier eine kontinuierliche Weiterführung des Erbes längst vergangener Zeiten vorlag. Das einst existierende zentrale Nervensystem mußte, genau wie heute, die entscheidenden angeborenen Verhaltensweisen zu einer dem biologischen Zweck angepaßten, sinnvollen Hand­ lungskette aneinanderreihen. Wenn nun eine größere weibliche Sprachfähigkeit, auf die alle obenerwähnten Tests und Beobachtungen hindeuten, ein solches angeborenes Reaktionsmuster darstellte, welche sinnvollen Hand­ lungsketten spielten dann in der Vorzeit eine Rolle? Und wie ging diese geschlechtlich differenzierte Sprachentwicklung vonstatten? 32

Für uns war die Frage.der biologisch fundierten weiblichen Superio­ ri tat in bezug auf die Sprache nicht strittig, nur das Warum erforderte eine kritische Abschätzung weiterer Fakten. Konnten wir die wahr­ scheinlich arteigentümlichen, angeborenen Verhaltensteile, die mit dem Sprechen zusammenhingen, zu den kulturell bedingten Antei­ len in Beziehung setzen und eine Auswertung vornehmen? Des weiteren sahen wir, daß mit zunehmender Organisationshöhe des Menschen in seiner artgeschichtlichen Entwicklungsreihe die Glie­ der eines Verhaltensablaufs immer unabhängiger voneinander wur­ den - was sich bald in einer wachsenden Freiheit der Ausdrucksweise äußerte. Aber ließ sich diese »Freiheit« zu ihrer ursprünglichen »Starrheit« zurückverfolgen?

33

Kapitel II

"Zurück zu den Anfängen oder Geschichte der Theorien über den Ursprung der Sprache

Wir haben keinen direkten Hinweis, wie der prähistorische Mensch seine Fähigkeit, sich durch modulierte Laute zu verständigen, selbst einschätzte. Neuere Forschungen über die Bedeutung von Gestik und Mimik heutiger Menschenaffen lassen aber zumindest Vermu­ tungen zu. Wie der starre Blick eines Alphamännchens seinen rang­ niedrigeren Artgenossen Furcht einflößt, so könnte ein ranghöher Vorzeit-Häuptling durch Gesten und »Worte« Macht auf seine Stammesgefährten ausgeübt haben. Noch heute gibt es in verschiede­ nen Sprachen Sprech weisen, die unterschiedliche Wörter benutzen, um damit die soziale Stellung des Sprechenden anzudeuten. Auf ähnliche Weise könnten Äußerungen eines ranghohen prähistori­ schen Menschen »Gesetz« geworden sein. Die der Sprache innewohnende Macht fand ihren Niederschlag in Mythen, die mündlich von Generation zu Generation überliefert wurden, bis Tafeln mit eingeritzten Symbolen die Tradition in dauerhafter Form verewigten. In historischen Dokumenten und noch erhaltenen Mythen wie­ derholen sich Andeutungen, daß sich der Mensch vom Tier durch seine Sprache unterscheidet. Da Göttern unermeßliche Macht zuge­ schrieben wurde, stellten ihre Worte, in denen sie zu den Sterblichen sprachen, Befehle dar, denen man sich nicht zu widersetzen wagte. Es konnte daher von vornherein kein Zweifel darüber bestehen, daß die Sprache göttlichen Ursprungs war und dem Menschen als Geschenk oder als Zeichen besonderer Gunst gewährt wurde - ein weiterer Beweis, daß er in der Natur einen privilegierten Platz einnahm. 34

(Später unterstreicht die Bibel diesen Glauben noch mit dem Satz: »Im Anfang war das Wort.«) Beim frühgeschichtlichen Menschen reflektiert die ihm von höheren Wesen als besonderes Geschenk verliehene Sprache seine von Göttern beherrschte Welt. Die frühesten Phasen menschlicher Selbsterkenntnis dürften ähn­ lich verlaufen sein, wie das heranwachsende Kind heute seine Um­ welt erfaßt. Hat es Leibschmerzen, werden diese in den Worten konkretisiert: »Mein Bäuchlein tut weh.« Hier ist das »Bäuchlein« eine ego-fremde treibende Kraft, die dem Kind etwas antut, aber gleichzeitig gelangt dieses zu der Erkenntnis, daß das wehtuende Ding ihm gehört. Wenn es gegen eine Sesselkante fällt und Schmerz empfindet, schlägt es auf die Kante mit den Worten: »Du böser Sessel!« So hatten möglicherweise schon unsere zwischeneiszeitlichen, sicher aber unsere steinzeitlichen Vorfahren stark ausgeprägte ver­ wandtschaftliche Gefühle für Tiere und Pflanzen. Mit dem wachsen­ den Bewußtsein ihrer Individualität vollzog sich ein Gewahrwerden der eigenen Innenwelt. Die Menschen verspürten starke, zu Hand­ lungen führende Gefühle, die aber - ungleich Objekten in der Natur - nicht sichtbar waren und doch irgendwo ihren Sitz haben mußten. Auf ähnliche Weise wie das Kind das Unverständliche konkretisiert, haben unsere Vorfahren ihre unbegreifliche Innenwelt in die begreif­ liche Außenwelt projiziert. Gefühle, individuelle Besonderheiten, Eigenschaften verbanden sich mit lebenden Objekten. Wohlwollen, Einsamkeit, Wut, Frustration, Neid, Furcht und Lust personifizier­ ten sich, so daß der mit der Innenwelt der Menschen verbundene Totemismus und Geisterglauben ihr Denken völlig beherrschte. In dieser frühen Phase konnten Götter noch nicht als solche begrifflich erfaßt werden. Erst die sich allmählich ausbreitende Fähigkeit der Symbolisierung verwandelte die animistischen Wesen in Übermen­ schen und schließlich in eine abstrakte Darstellung menschlicher Ideale, personifiziert in der Gestalt eines Gottes. Die noch heute in uns existierenden, fließenden Grenzen zwischen Psyche und Umwelt zeigen sich besonders markant in den paranoi­ den Wahnvorstellungen mancher Geisteskranker. Wie vermutlich unsere steinzeitlichen Vorfahren projiziert ein solches Individuum

3S

seine Gefühle auf die Umwelt, aber ungleich den Steinzeitmenschen spiegelt es nur seine »schlechten« Gefühle wider, und seine furcht­ einflößenden Totems, die es beschwichtigen muß, sind seine Mit­ menschen. Die Schrift war keine Notwendigkeit für die Frühmenschen, da die Älteren der Gruppe ein ausgeprägtes Langzeitgedächtnis besaßen, das es ihnen ermöglichte, alle kulturellen Informationen wörtlich an die nächste Generation weiterzugeben. Aber um die Natur für die Wiedergeburt und Fruchtbarkeit von Menschen, Tieren und Pflan­ zen günstig zu stimmen, waren Geheimzeichen notwendig, die in Bilderschrift dargestellt wurden. Die australischen Ureinwohner, die ebenfalls keine Schrift besitzen, benutzen Botenstäbe (20-30 Zentimeter lange Hölzer mit Linien und Figuren), um anderen Stämmen Nachrichten zu übermitteln. Mansiehthierden gleitenden Übergang von magischen Zeichen zu Schriftsystemen. Ähnlich wie unsere steinzeitlichen Vorfahren die Mysterien ihrer Innenwelt erfaßten, erlebten sie auch ihre Fähigkeit, Worte auszu­ sprechen, als Wunder - eine rätselhafte Manifestation, die sich überall zeigte. Tiere und Bäume »sprachen«, wie es noch in unseren Märchen der Fall ist; sie hörten die Stimmen unsichtbarer Geister; verständlicherweise mußten Worte ihr eigenes Leben und magische Eigenschaften besitzen. Aus alledem ist ersichtlich, daß für diese Menschen der Ursprung der Sprache eng mit Magie, Totemismus und Geisterglauben verbunden war. Ähnlich dem Weiterbestehen physiologischer Mechanismen der Urzeit blieben diese archaischen Glaubenssysteme bis in unsere Zeit erhalten. Unter dem Streß ungünstiger Umweltbedingungen zeigen sich diese magischen und totemistischen Tendenzen heute noch in unserem westlichen Kul­ turkreis. Amulette, glückbringende Zaubergegenstände und vieles andere mehr sind in unseren Läden erhältlich und finden willige Abnehmer. Während die Macht des Wortes bei uns schon im Abklingen ist, ist das Aussprechen gewisser Worte bei vielen Stämmen heute noch nur Priestern, Schamanen und Medizinmännern gestattet. Einem ge­ wöhnlichen Sterblichen sind solche Vorrechte untersagt. Eine Ver­ letzung dieses Gesetzes wird mit grausamen Strafen geahndet.

Gespenster, Teufel und Dämonen beschwor man durch Formeln, die nur Eingeweihten bekannt waren. Das geheime Wissen um bestimmte Worte - im Besitz erwählter Personen - öffnete unsicht­ bare Tore zu unendlichem Reichtum (»Sesam, öffne dich!«; »Abra­ kadabra«); ein entsetzlicher Fluch, der zur ewigen Verdammnis führt, benötigt ebenfalls das Medium des Wortes. Das Rätsel der Sprache behielt seine Faszination in den verschiede­ nen aufeinanderfolgenden Zeitaltern. Denker des Altertums waren sich bewußt, daß Sprache, Gedanken und Gefühle der Innenwelt des Menschen angehören; in philosophischen Kreisen wurde diskutiert, ob diese separate Manifestationen der Psyche seien oder eine Einheit bildeten. Jedenfalls aber gab es nie einen Zweifel, daß die Sprache eine unüberbrückbare Kluft zwischen Mensch und Tier darstellt. Heraklit und Parmenides diskutierten über das Wesen und den Ursprung der Sprache. Die Macht des Wortes konnte man leicht auf die Macht der Götter übertragen, und die logische Folgerung war die Überzeugung vom göttlichen Ursprung der Sprache. Die zunehmende Befähigung, Thesen nicht mehr vorbehaltlos anzunehmen, sondern sie kritisch zu beurteilen, fand auch in neuen Anschauungen über den Ursprung der Sprache Ausdruck. Sokrates faßte diese Theorien in der Behauptung zusammen, daß der Hinweis auf den göttlichen Ursprung der Sprache ein Zeichen geistiger Trägheit sei, um mühsame und langwierige Untersuchungen zu vermeiden, die ein solches Unterfangen bedingte. Er postulierte (berichtet Plato im »Cratylus«), daß viele Wörter anfangs aus der Nachahmung natürlicher Laute entstanden seien, deren ursprüngli­ che Bedeutung seit langem verlorengegangen sei. Seine eigene Psyche diente ihm als Beispiel. Sprache sei, so meinte Sokrates, von weisen Männern erfunden worden, damit einfachere Menschen sie ihrer Lautgebung gemäß benutzen könnten. Aristoteles wies die Theorien seiner Zeitgenossen zurück, daß Worte durch Benennen von Gegenständen oder infolge natürlicher Anpassung entstanden seien. Vielmehr hänge die Wortbedeutung von der Anwendung ab. »Ein Laut ist kein Wort, er wird zu einem Wort, wenn der Mensch ihn als Zeichen benutzt.« 37

Im 4. Jahrhundert v. Chr. äußerte sich Epikur: »Was ist es, das Sprache ermöglicht ? Wie formt der Mensch Worte, so daß er verstan­ den wird?« Er stellte die These auf, daß das Wesen der Sprache von der Natur des Menschen herstamme- sie sei eine Funktion wie Sehen und Hören, aber vom menschlichen Geist oder von der Vernunft abhängig. Der weniger elitär denkende Diogenes schrieb fünfhundert Jahre später, daß Menschen im allgemeinen (also keine spezielle Gruppe wie z.B.die Weisen) die Sprache erfunden hätten. In der Atmo­ sphäre der griechischen Antike, in der philosophische Diskussionen als höchste Betätigung eines Menschen angesehen wurden, nahmen Vernunft und Logik den Vorrang ein. Daraus wird verständlich, warum diese Philosophen zu der Annahme neigten, daß die Vernunft für den Ursprung der Sprache verantwortlich sei. Spätere Denker bewegten sich in denselben Gleisen; z. B. vertrat Jean Jacques Rous­ seau - wie andere seiner Zeitgenossen - die Ansicht, daß der Mensch die Sprache nach seiner Entwicklung zu einem intelligenten Wesen erworben habe. Infolge der periodisch auftauchenden Intensivierung des religiö­ sen Glaubens wurde aber auch immer wieder versucht (z. B. von Johann Peter Sussmilch), der Sprache göttlichen Ursprung zu verlei­ hen. Eine Widerlegung dieser fundamentalen Wahrheit würde, so argumentierte man, den Glauben an Gott zerstören. Erst die wachsende Erforschung biologischer Vorgänge in der Natur veranlaßten den im 18. Jahrhundert lebenden Philosophen Johann Gottfried Herder zu der These, daß dem Menschen dieselben Laute wie den niedrigeren Lebewesen zur Verfügung gestanden hätten; aber erst nachdem er gelernt habe, seine Vernunft zu gebrauchen, hätte er zu sprechen begonnen. Als es für ihn notwendig wurde, mehr als Reaktionen auf Freude oder Schmerz auszudrücken, so meint Herder, eignete sich der Mensch Laute an, die in der Natur mit Handlungen und Dingen verknüpft sind: Im Laufe der Zeit wurde die ursprüngliche Bedeutung der Laute so modifiziert, daß ihre nachahmende Qualität nicht mehr erkennbar war. Herder schrieb seine Abhandlung über dieses Thema, um sie bei

J8

einem von der Preußischen Akademie der Wissenschaften organi­ sierten Wettbewerb einzureichen. Der Siegespreis sollte demjenigen zufallen, der den Beweis zu führen vermochte, ob Rousseau oder Süssmilch auf dem richtigen Weg seien -, und Herder gewann den Preis. Daß diese Akademie sich zu einem solchen Schritt entschloß, zeigt, wie sehr sich die wissenschaftliche Welt für dieses Thema interessierte. In religiösen Kreisen der westlichen Welt blieb der göttliche Ursprung der Sprache freilich genauso selbstverständlich wie der Glaube, daß der Mensch als Ebenbild Gottes erschaffen worden sei und daher das Privileg habe, die Welt zu beherrschen. Die große Umwälzung im Denken über den Platz des Menschen in der Natur begann um das Ende des 18. Jahrhunderts. Pierre Cabanis kann als hervorragendes Beispiel dieser Zeit gelten. (Er war der Arzt, der 1791 für den sterbenden Mirabeau sorgte; er unterrichtete Hygiene, Rechtsmedizin und Geschichte der Medizin an der École de Médecine in Paris.) Seine für diese Zeit sehr fortschrittlichen Ideen über Reaktionsmuster von Lebewesen waren von dem in Frankreich vorherrschenden Materialismus beeinflußt. Cabanis behauptete wie bereits Kant etwas früher in der »Kritik der reinen Vernunft« -, daß im Neugeborenen während der Geburt Gefühle erregt würden; spätere Erfahrungen modifizierten die Persönlichkeit in entspre­ chender Weise; die in den Zellen des Menschen verankerten Erinne­ rungen, Reflexe, Instinkte, Gefühle und Wünsche bildeten seinen Charakter noch weiter; die in dieser Weise geprägte Persönlichkeit gestalte Gefühlserregungen so um, daß diese sich den Bedürfnissen und der seelischen Struktur des Menschen anpassen. Cabanis stimmt darin mit Kant überein, daß der Geist nicht eine unbeschriebene Seite sei, auf die Sinnesempfindungen eingepreßt werden, sondern er wandele Wahrnehmungen in Gedanken und Worte um, auf die dann Handlungen folgen. Cabanis erweiterte Kants Thesen, indem er feststellte, daß der Geist nicht von den Nerven und anderen Organen des Körpers getrennt werden könne. Cabanis veröffentlichte diese Thesen 1796 im ersten Band seiner Memoiren, die später (1802) in den »Rapports du physique et du moral de l’homme« wiederkehrten. Es ist erstaunlich, in welchem J9

Maße dieser Wissenschaftler Erkenntnisse des 20. Jahrhunderts vor­ wegnahm. Im dritten Band seiner Memoiren analysierte er das »Unbewußte«. Er schlug vor, die angehäuften Erinnerungen, die er als »neurale Einmeißelung« verstand, in Verbindung mit den Sinnesempfindungen der Außen- und Innenwelt zu sehen, wodurch Träume produziert werden; diese können auch im Wachzustand Gedanken beeinflussen, ohne daß sich ein Individuum dessen ge­ wahr sein muß. Im vierten Band wies er darauf hin, daß der Geist durch das Altern des Körpers beeinflußt wird, so daß Persönlichkeit und Ideen eines Menschen sich während seines Lebens ändern können. Im fünften Band besprach er die Driisensekretionen besonders die des Sexualapparats - und wie sie auf Gedanken und Gefühle einwirken. Und im zehnten Band war er der Meinung, daß sich der Mensch durch Zufallsmutationen entwickelt habe, die ver­ erbt worden seien. Man kann bei diesem so außerordentlich begabten Arzt bereits etwas von dem intellektuellen Freiheitsdrang spüren, der die Franzö­ sische Revolution auslöste und den Hintergrund für Werke bildete, die sich, kaum fünfzig Jahre später, mit der Evolution des Lebens befaßten - die Schriften von Lamarck, Darwin und Wallace. In diesem Gären neuer Ideen, besonders in Darwins >The Origin of Species«, drängten sich erneut Spekulationen über den Ursprung der Sprache in den Vordergrund des philosophischen und sonstigen wissenschaftlichen Interesses. Der Mensch galt nicht länger als Produkt eines Schöpfungsaktes, sondern er stammte von früher lebenden Formen ab. Bald waren davon nicht nur isolierte akademi­ sche Kreise überzeugt, sondern das gebildete Publikum schlechthin. Viele sahen aber den menschlichen Geist und die Sprache als eine nicht zu überspringende Hürde für die Verallgemeinerung des evo­ lutionären Prozesses. Beide seien so einzigartig, daß sie unmöglich von Vorfahren der Tierwelt ererbt sein könnten. Nur wenige suchten im Verhalten der höheren Tiere nach Anzeichen, die auf die spätere Entwicklung der Sprache hinweisen konnten. 1823, kaum eine Generation nach der Veröffentlichung von Cabanis’ Werken, kam in Edinburgh Alexander Murrays »Die Ge­ schichte der Europäischen Sprachen« heraus. Murray führte die



Anfänge der menschlichen Ausdrucksweise auf Einsilber zurück, die verschiedene Formen des Aufschlagens von Werkzeugen begleitet hätten. Er glaubte, daß Gebärden zunächst von Lauten untermalt worden seien, um so die Umstände von Handlungen zu kommuni­ zieren, wobei verschiedene Lautstärken Verschiedenes bedeuten konnten. Darwin hingegen suchte den Ursprung sozialer Kommunikatio­ nen in den expressiven Gesten der Tierwelt. Er beschrieb in seinen beiden Werken »The Descent of Man« und »The Expressions of the Emotions in Man and Animais« die unwillkürliche und teilweise durch äußere Umstände veränderbare Zurschaustellung emotiona­ ler und triebhafter Reaktionen von Tieren: Farbveränderungen, Sträuben der Haare und Federn, Krümmen des Rückens, Zurückle­ gen oder Aufrichten der Ohren, Stampfen des Bodens, Heben oder Senken des Schwanzes, Wedeln, Spucken und viele andere solcher Ausdrucksmöglichkeiten. Darwin war der Meinung, daß die Ex­ pressivität eines animalen Gefühlszustands als vorbereitende Be­ gleiterscheinung für defensive, aggressive, sozialisierende und ähn­ liche Aktivitäten zu gelten habe. Als solche seien sie von den anderen Mitgliedern der Spezies bewertet worden; im Verlauf der Entwick­ lung einer Art seien sie in konventioneller Gestik erstarrt, die eine bestimmte Information darstellte. Des weiteren wies Darwin darauf hin, daß bestimmte Lippenstellungen zu Ausrufen wie puh, oh und ah führen. Dieser Gedanke wurde gegen Ende des 19. Jahrhunderts von anderen Wissenschaftlern weiterverfolgt. Bereits 1861 vertrat Max Müller in seinen Vorlesungen über die Wissenschaft der Sprache die Meinung, daß Wörter durch Nachah­ mung natürlich hervorgebrachter Laute entstanden seien (die Bowwow-Theorie: »Bau-wau«). 1877 veröffentlichte Ludwig NoirE ein Buch, in dem er schrieb, daß Sprache aus den rhythmischen Lauten entstanden sei, die mit den Anstrengungen von Männern in gemeinsamer Arbeit einhergingen, später als Jo-he-ho-Theorie bezeichnet. Michel BrEal brachte eine Deutung vor, die bis in die fünfziger Jahre des 20. Jahrhunderts lebendig war. Er meinte, der Ursprung der Sprache gehe auf den Drang nach Handeln zurück. BrEal 41

bemerkte, daß viele Forscher den Imperativ des Verbums als die älteste Form der Sprache ansahen, und schrieb 1897 in seinem >Essai de Sémantique«: »Wir beginnen zu verstehen, unter welchem Ge­ sichtspunkt der Mensch seiner Sprache einen Platz in seinem Leben einräumte. Seine Worte dienten nicht dem Zweck der Beschreibung, Erzählung oder zielloser Betrachtung. Einen Wunsch auszudrükken, einen Befehl zu geben... dies war der erste Gebrauch der

Sprache.« G. Elliott Smith vertrat dieselbe Meinung: »Primitives Sprechen, abgesehen von emotionalem Gebrüll, wie es Tiere ausstoßen, begann mit den Imperativen, die sich nur durch ihre Varietät und umfassen­ dere Bedeutung von den triebhaften Lauten unterschieden. Sobald aber Namen erfunden wurden, war es dem Menschen möglich, sich in Sätzen von zwei Wörtern miteinander zu verständigen - ähnlich wie es Alfred Jingle in den »Pickwick Papers« ausdrückte.« Ähnlich äußerte sich auch A. S. Diamond in seinem im Jahre 1959 erschiene­ nen Buch. Eines der schwierigsten Probleme bei der Suche nach dem Ursprung der Sprache ist das Faktum, daß die Gegenwartssprachen eine über­ aus lange Entwicklungsperiode hatten, die weit über die prähistori­ sche Epoche hinausreicht. Im 19. und auch noch im 20. Jahrhundert herrschte jedoch allgemein der Glaube vor, daß die Sprache soge­ nannter »primitiver Stämme« ein Mittelding gewesen sein müsse zwischen animalen Lauten und dem, was die Wissenschaftler dieser Epoche als »menschliche« Sprache bezeichneten. Erst in neuerer Zeit haben die systematischen Forschungen der Anthropologen und Linguisten gezeigt, daß alle heutigen Sprachen, auch diejenigen ohne schriftliche Basis (z. B. viele der in Australien und Afrika vorgefun­ denen Dialekte), vollständig entwickelt sind; in der Form sind sie durchaus den bekannten klassischen und modernen Sprachen ver­ gleichbar; und sie verfügen über ein Vokabular, das ein abstraktes und konkretes, dem Alltag angepaßtes Konzept beinhaltet. Mit anderen Worten, es existieren keine »primitiven« Sprachen, die auf einer früheren Entwicklungsstufe stehengeblieben sind. Edward Sapir stellte sehr zutreffend bereits vor fünfzig Jahren 42

fest: »Es gibt kein signifikanteres Faktum in bezug auf die Sprache als ihre Universalität. Man könnte argumentieren, daß ein bestimmter Stamm sich mit Aktivitäten befaßte, die man Religion oder Kunst nennen kann, aber wir kennen kein Volk, das nicht eine vollständig entwickelte Sprache besäße. Auch der einfachste südafrikanische Buschmann drückt sich in einem reichen, symbolischen System aus, das in jeder Hinsicht dem eines kultivierten Franzosen ähnelt.«

Trotz des Fehlens einer Frühsprache war Darwins >The Origin of Species« eine intellektuelle Herausforderung, in der Morphologie nach Ursprüngen zu suchen. Diese neue und nicht völlig akzeptierte Sicht, daß die Menschheit einTeilderNaturist, bedeutete eine solche Umwälzung gewohnter Denkweisen Überdiemenschliche Existenz, daß alle ihre Aspekte erneut unter die Lupe evolutionären Wissens genommen wurden. In diesem rasch sich ändernden naturphiloso­ phischen Klima wurden auch viele neue Ideen über den Ursprung der menschlichen Kommunikation formuliert. Die >Genesis< erwähnt, daß Gott den Menschen aus Lehm geformt und ihm dann den Odem des Lebens eingehaucht habe; dann habe er die Tiere des Feldes und die Vögel des Himmels erschaffen und sie dem Menschen zu seinem Gebrauch übergeben. Die Namen, die dieser den Kreaturen verleihe, sollten sie in alle Ewigkeit behalten. Auch in wissenschaftlichen Kreisen blieb die Vorstellung lebendig, daß Worte ihren Ursprung in Lauten haben, die animale Ausdrucks­ weisen nachahmen. Aber bevor der Vormensch auf seinem Weg zur Menschwerdung Tiere und Objekte benennen konnte, muß er ir­ gendwelche vokalen Fähigkeiten besessen haben - mit Ideen allein wäre er nicht ausgekommen. Darwins Meinung, daß die Puh-, Oh- und Ah-Laute sich aus einem gewissen Gesichtsausdruck ergeben, und spätere Theorien, die denselben Gedanken zum Ausdruck brachten, wurden als PoohPooh-Theorien bezeichnet. Andere Konzepte stützten sich auf ein Verhältnis zwischen Lauten und Sinn: Angeblich existierte ein my­ steriöses Gesetz der Harmonie; das Schlagen auf feste Gegenstände soll einen spezifischen Klang hervorrufen (die sogenannte DingDong-Theorie).

43

Viele dieser in wissenschaftlichem Zusammenhang halb komi­ schen und unehrerbietigen Bezeichnungen für die Sprachtheorien wurden von Max Müller geprägt; trotzdem oder gerade deswegen haben sie sich im allgemeinen Gebrauch der Linguisten erhalten, wenn sie auf diese Phase der Sprachforschung hinweisen. Einer der bedeutendsten Sprachforscher zur Zeit der Jahrhundert­ wende war der Däne Otto Jesperson (1860-1943). Seine Gedanken über den Ursprung der Sprache ähnelten denen Herders, doch wartete er noch mit ergänzenden Anschauungen auf. Er hielt es für möglich, daß Worte sich aus Spitznamen ergaben - eine Widerspie­ gelung der Bow-wow-Theorie, daß die Namen von Tieren auf den von ihnen hervorgebrachten Lauten basieren. Tatsächlich findet man Bezeichnungen für Vögel wie: Kuckuck, Kiewitz, curlew, hoopoe u. a. m., die sich auf den Gesang dieser Tiere beziehen. Jesperson wies auch auf den Gesang als eine mögliche Quelle für die Wortbil­ dung hin. Diesen Gedanken sah er als besonders attraktiv an, weil er beweisen wollte, daß Wörter nicht notwendigerweise aus einsilbi­ gem Grunzen und Kreischen entstanden (als Tarara-boom-de-ayTheorie bezeichnet). Jesperson meinte, daß viele dieser Theorien sich nicht notwendi­ gerweise ausschließen müßten. In der sich ständig vergrößernden Vielfalt frühmenschlicher Beschäftigungen könnten Wörter ver­ schiedensten Ursachen entspringen. Er zeigte, bis zu welchem Grad Lautnachahmungen auch moderne Sprachen beeinflussen. Sein wichtigster Beitrag war die Erkenntnis, daß eine allgemeine Tendenz zur Vereinfachung der Sprache vorliege. Diese Erwägungen wider­ sprachen der zu seiner Zeit vorherrschenden Ansicht, daß die Spra­ che aus Einsilbern entstanden sei und sich in Richtung auf eine größere Komplexität entwickelte. Jesperson zitierte Beispiele aus der Geschichte der Sprache und bewies trotz des Vorkommens von widersprüchlichen Fällen, daß- Sprache generell auf Kondensation und Vereinfachung ziele und daß dies als Fortschritt bezeichnet werden könne. Wir werden später auf diese Vorstellungen zurück­ kommen. Sir Richard Paget stützte seine Theorie auf das Faktum, daß die Gestik der Hände und Mimik des Gesichts oft unbewußt durch 44

Bewegung und Stellung von Lippen und Zunge nachgeahmt werden. (Diese Beobachtungen hatte schon Darwin gemacht.) Paget beob­ achtete Kinder, wie sie ihre Zunge krümmen, während sie die Finger

bewegen, besonders wenn sie zeichnen oder schreiben; daher schien es ihm möglich, daß Worte ursprünglich durch Verziehen von Lippen und Zunge entstanden. Die Aktionen der Sprechwerkzeuge wären auf diese Weise eine Parallele zu der Gestik der Hände. Wenn z. B. ein Kind ta-ta sagt, um ein Lebewohl anzuzeigen, dann krümmt es gleichzeitig auch die Zunge. Paget zitierte noch ein anderes Beispiel durch Erwähnung des lateinischen Wortes »capio« (ich nehme) oder des englischen »capture« (Gefangennahme). Hier schließt der K-Laut den Rachen und hält den Mund offen - wie eine offene Hand der P-Laut am Ende schließt die Lippen, ähnlich wie Finger und Daumen etwas »mit der Hand fangen«. Pagets Idee wurde als Ta-ta-Theorie bezeichnet.

Allmählich wurden freilich auch Stimmen gegen die Vielfalt dieser Theorien laut. Man könne schließlich unendlich viele linguistische Theorien aufstellen, wenn man seiner Einbildungskraft freien Lauf ließe, aber es sei nicht möglich, den Beweis dafür anzutreten. Die Kritik ging so weit, daß dieses Thema als unwissenschaftlich abgetan wurde, das einem seriösen Forscher nicht angemessen sei. Tatsäch­ lich entschied im Jahre 1866 die Linguistische Gesellschaft von Paris im Artikel 2 ihrer Statuten, keine Manuskripte mehr anzunehmen, die sich mit dem Ursprung der Sprache befaßten. Dennoch interessierten sich Wissenschaftler und ein allgemeines Publikum weiterhin dafür, wenn auch hauptsächlich nur Philoso­ phen und Psychologen darüber publizierten. Wertvolle Anstöße kamen von Seiten der Verhaltensforscher und von Vertretern der Kommunikationstheorie. In diesem Zusammenhang ist vor allem Morris Swadesh zu nennen, ein Linguist, der sich mit den Strukturen der Sprache befaßte; er hatte über fünfzig Sprachen studiert und sich für neue Quellen des Sprachverständnisses ausgesprochen. Prompt wurde ihm und ähnlich denkenden Kollegen vorgeworfen, daß sie »vom Pfad der Wissenschaft abschweiften«. In jüngster Zeit haben sich, angeregt von überzeugenden Experi­ 45

menten der Psychologen und Ethologen, auch Anthropologen mit dem Rätsel des Ursprungs der Sprache auseinandergesetzt. Beson­ ders die Arbeit mit Schimpansen, die eine Kontinuität der animalen und der menschlichen Kommunikation zeigen sollte, bewirkte einen ausschlaggebenden Impuls. Jetzt begannen sich die Schlüssel zum Rätsel des Ursprungs der Sprache zu häufen, die das Interesse beinahe in dem Maße erweckten wie die Kontroverse des »Missing link« in der menschlichen Evolution im vorigen Jahrhundert. Genauso wie sich in unserer Zeit Widerstand erhebt, wenn es um die Anerkennung der Kontinuität der Entwicklung des Geistes vom Tier zum Menschen geht, so hatte es damals Einspruch gegen die Kontinuität einer morphologischen Entwicklung gegeben. In beiden Fällen wurde zur Suche nach dem »Missing link« aufgerufen, obwohl das Beweismaterial vorlag und nur auf eine neue Interpretation wartete. Vielleicht wollte man auch nur Zeit gewinnen, um so den Glauben an die Schöpfung des Menschen leichter überwinden zu können. Wie dem auch sei: Es kam jedenfalls zu einer wahren Flut von Artikeln und Berichten über experimentelle Forschung. Die New York Academy of Sciences veranstaltete im September 1975 die erste Konferenz über den Ursprung und die Evolution der Sprache. Spezialisten verschiedener Fachgebiete tauschten dort ihre Gedan­ ken aus; man gelangte zu neuen Interpretationen, die jetzt die wissenschaftliche Szene beherrschen. Auf der New Yorker Konferenz allein wurden fünfzig Berichte vorgelegt, die sich überwiegend mit dem Verhalten der Primaten beschäftigten. Die in den letzten 25 Jahren in wissenschaftlichen Kreisen allgemein akzeptierte Theorie, daß Sprache im Zusammen­ hang mit der Jagd und der Herstellung von Werkzeugen entstanden sei, fand auch hier die meisten Anhänger. Auf einen einfachen Nenner gebracht, besagt diese Theorie: Muskuläre Anstrengungen sind mit maskulinen Aktivitäten verbunden; in der Epoche, in der die Sprache wahrscheinlich entstand, erlangte die Jagd zunehmende Bedeutung für die männlichen Mitgliederdermenschlichen Gruppe. Die Notwendigkeit der Zusammenarbeit beim Jagen bewirkte die Herausbildung einer verbalen Kommunikation.

46

Diese Theorie findet heute freilich verminderten Anklang bei den Linguisten, da Beobachtungen darauf hinweisen, daß Jagen nur effektiv ist, wenn es in absoluter Schweigsamkeit durchgeführt wird. Kooperative Jagdgruppen existieren noch heute, aber die Männer gehen geräuschlos auf die Pirsch und verständigen sich mit visuellen Mitteln. Morris Swadesh gibt ein Beispiel: »Wenn die Buschmänner der Kalahariwüste jagen gehen, machen sie Gebärden, die ihnen die Gegenwart der Beutetiere verraten. Sie benutzen ein lautloses Signal für jedes der Beutetiere, das sie jagen, und sie geben Richtung und Entfernung durch Gesten an; mit denselben Methoden können sie auch andere wichtige Fakten kommunizieren; ob z. B. das Tier, auf das sie pirschen, schläft oder frißt, anzuwendende Taktiken, um es von der Flucht abzuhalten, die Richtung, in der der Wind bläst. Die amerikanischen Flachlandindianer benutzten [sie tun es noch heute] eine flexible Signalsprache. Sie dient ihnen zu Jagd- und Kriegszwekken und auch dazu, sich über große Entfernungen mit Mitgliedern anderer Stämme zu verständigen.« Dennoch hat sich die Verbindung zwischen Anstrengung und Äußerung von Lauten als Axiom erhalten. Die Sprache, so wird gemeinhin angenommen, ist eine männliche Schöpfung, und Intelli­ genz hat als typisch maskulines Attribut zu gelten. Dies ist das »Leitmotiv«, das seit Sokrates immer wiederkehrt; bis in unsere Zeit ist die signifikante Basis des männlich orientierten Ursprungs der Sprache nur selten in Frage gestellt worden. A. S. Diamond äußert sich unzweideutig: »Die nicht zu überse­ hende Wahrheit ist, daß sich die Sprache entwickelte, als sie notwen­ dig wurde, und daß sie sich zu dem Zweck entwickelte, für den sie notwendig war. Wann nun und zu welchem Zweck wurde die Sprache benötigt? Doch nicht für den Mann als einem Mitglied der Familie - er kann eine Frau freien und mit ihr schlafen, ohne daß ein Wort gewechselt werden muß. Das gleiche gilt für das Verhältnis zwischen Eltern und Kindern. Befriedigung körperlicher Bedürf­ nisse, Wohlbefinden, Warnrufe und sichtbare Beispiele... sind die Dinge, die in erster Linie für die Betreuung einer Familie notwendig sind. Wozu dient dann die Sprache in einer so einfachen menschli­ chen Gruppe? Es gibt nur eine Antwort, und die lautet: andere zu 47

einer Handlung bewegen... Wir können noch hinzufügen, daß in vielen Sprachfamilien die Wurzel des Verbums der maskuline und nicht der feminine Imperativ ist. Dies kann nur bedeuten, daß die ursprünglichen Empfänger von Aufforderungen zur Aktion die Männer waren, und da die Männer physisch stärker sind, sollte das nicht überraschen. Deswegen können wir ohne weiteres annehmen, daß die Urheber der Sprache Männer waren. Die Frauen sind ihrem Rufe nach sprachgewandt, aber die Männer sind die Neuerer und Schöpfer der Sprache.« Und 70 Seiten weiter, nachdem er den Zusammenhang zwischen Sprache und Anstrengung erläutert hat, kommt Diamond zurück zum gleichen Thema: »Es ist klar, daß Frauen weniger zu starken muskulären Leistungen fähig sind, daher sind ihre Arme schwächer. Und es ist nicht überraschend, daß wir darin einen weiteren Beweis sehen, den Ursprung der Sprache bei den Männer zu suchen.« Man könnte sich fragen, ob dieser Philologe die Vorstellung hatte, daß die Weibchen der frühmenschlichen Gruppen, die sich aus den nichtmenschlichen Primaten entwickelten, das Leben viktoriani­ scher Hofdamen führten, die ihm augenscheinlich als Modell für die Rolle der Frau dienten. Und man könnte ihm Vorschlägen, einen Besuch in einem landwirtschaftlichen Betrieb zu machen, um die von morgens früh bis abends spät hart arbeitenden Frauen bei allen ihren Tätigkeiten zu beobachten. Die Herstellung von Werkzeug als Ursache des Impetus zur Sprache beruht auf der Annahme einer Beziehung von manueller Geschicklichkeit und Gehirnentwicklung. Einer der bekanntesten Anthropologen, Hallowell, ging noch einen Schritt weiter und bemerkte, daß es nicht der Mensch war, der Werkzeuge machte, sondern daß Werkzeuge den Menschen machten. Diese Idee be­ herrschte lange Zeit das wissenschaftliche Denken; sie verebbte erst, als man die Fossilien menschenähnlicher Kreaturen - den Australopithekus und Homo erectus - entdeckte. Tatsächlich haben die seit Millionen von Jahren benutzten Werkzeuge keine wesentliche Ver­ größerung des Gehirns bewirkt. Auch die heutigen Menschenaffen fertigen Werkzeuge in verschiedenen Formen - eine Tatsache, die auch erst in den letzten Jahren bekannt wurde. 48

Die nächste in der Reihenfolge der akzeptierten Theorien nimmt an, daß die Sprache aus Gesten entstand. In gewisser Weise ist dies eine Neuauflage der Ta-ta-Theorie. Bereits 1890 hatte A. H. Sayce darauf hingewiesen, daß Gesten schon vor der Sprache existierten und sich notwendigerweise in einer Richtung auf Kommunikation entwickeln mußten. Doch werden neuerdings folgende Argumente vorgebracht: a) Bei den höheren Primaten sei die motorische Kontrolle der oberen Gliedmaßen - infolge des inzwischen aufrechten Gangs - von den ältesten Teilen des Gehirns in die Zentren der sich entwickelnden Neurinde verlagert worden, die auch für das Denken verantwortlich sind. b) Die Herstellung von Werkzeugen und Waffen erforderte einen asymmetrischen Gebrauch der Hände und führte so zur funktionel­ len Differenzierung der Hemisphären. c) Mit dem dringenden Bedarf an ausgedehnterer Kommunikation trugen die enzephalisierten, unter der Kontrolle der Neurinde ste­ henden komplexen Fähigkeiten der Hände fortan zu diesen Funktio­ nen bei. Tatsächlich besitzen die Schimpansen ein reichhaltiges gestisches Mitteilungssystem, dessen Ausdrucksvariationen von vie­ len Forschern, wie der auch hierzulande bekannten Jane Goodall, beobachtet und interpretiert wurde. Die Anhänger der Gestentheorie vertreten die Meinung - und sie führen viele Beweise an -, daß die Gleichzeitigkeit von Gesten und lautlichen Äußerungen bei den Hominiden schließlich zur menschli­ chen Sprache führte. Sie erhielten übrigens Unterstützung von Beob­ achtern der Entwicklung des Kindes. So analysierte C. Trevarthen Filme, die das Verhalten von Müttern und ihren Säuglingen in den ersten zwei Wochen nach der Entbindung zeigten. Er notierte eine Form der Aktivität des Kindes, die er als »prespeech« (Prä-Sprache) bezeichnete - Zungen- und Lippenbewegungen, die mit Geräuschen und Gesten einhergingen. Auch Linguisten beteiligten sich zeitweise an der Suche nach dem Ursprung der Sprache, vor allem Edward Sapir und Leonhard Bromfield, Morris Swadesh, Benjamin Whorff, Mary Haas, Carl Voegelin und viele andere. Es folgte die paralinguistische Kinesik

49

mit den Arbeiten Greenbergs über Sprach typologie und Universa­ lien; der Verwandschaftssemantik von Goodenough und Lounsbury; den auf linguistischen Modellen beruhenden Sozialstrukturen und Mythen von Lévi-Strauss; der lexikostatischen Glottochronologie (Aufzählen ähnlicher Wörter im Sprachschatz verwandter Völker, um die Dauer der Trennung der Dialekte voneinander zu bestimmen). Im allgemeinen k'ann man sagen, daß alle obenerwähnten Wissen­ schaftler der Meinung waren, eine erschöpfende Analyse der Laute und Strukturen der lebenden Sprachen würde zwangsläufig zur Entdeckung der Natur einer Ursprache führen, und der Ursprung der Ursprache würde sich dann ganz von selbst ergeben. Bahnbrechend für die neueren Schulen der Linguistik war das Werk von Noam Chomsky. Beeinflußt von Lévi-Strauss hat es wesentlich zur Analyse von sozialen Strukturen und Mythen beige­ tragen. Auch Untersuchungen der Verwandtschaftsbezeichnungen und die Klassifikation der Völkergruppen gewannen an Tiefe, aber die Suche nach einer linguistischen Vorgeschichte verlor an Bedeu­ tung, da man zu der Überzeugung kam, daß eine Prä-Sprache aus den in der Geschichte des modernen Menschen existierenden Sprachen nicht rekonstruiert werden kann. Chomskys Werk ist zu bekannt, um noch einmal vorgestellt zu werden. Für uns istvon wesentlichem Interesse, daß Chomsky den Ideen über die Grundlagen der Sprache eine radikale Wende gab. Er stellte die These auf, daß der Mensch ein angeborenes Potential zum Sprechen besitze und daß Kinder aus aller Welt, ungeachtet der Variabilität der gesprochenen Worte ihrer Eltern, ähnliche Strukturen (Grammatik) in ihren ersten Bemühun­ gen um den sprachlichen Ausdruck benutzen. Oder auf eine Kurz­ formel gebracht: Wie verschieden auch immer die oberflächlichen Strukturen der Weltsprachen sein mögen, ihre tieferen Strukturen sind universal und angeboren. In denselben Zusammenhang gehört eine Beobachtungdes Arztes Peter Marler. Er fand heraus, daß sowohl die Vögel als auch die Menschen bereits bei ihrer Geburt über eine sensorische Schablone verfügen, deren Funktion ausgelöst wird, sobald sich eine entspre­ chende Stimulation vollzieht. Weiter vertrat er die Meinung, daß



diese sensorische Bereitschaft für vokalisierte Laute durch Erfah­ rung im nachhinein modifiziert wird. Beobachtungen von Lorenz und seinen Schülern stimmen mit diesen Befunden überein. Im Rückblick erscheint es beinahe unglaublich, daß eine ähnliche Anschauung bereits vor über hundert Jahren von dem deutschen Diplomaten und Philologen Wilhelm von Humboldt (1767-1835) vertreten wurde. Er war der erste Gelehrte, der die Vergleichende Sprachwissenschaft auf die Basis von Geschichte und Anthropologie stellte. Auch verfocht er die These, daß Sprache nicht durch Lernen erworben werde, sondern daß sie im Wesen des Menschen angelegt sei und sich entwickele, wenn für sie günstige Umweltverhältnisse bestehen: Es handele sich also mehr um einen Reifungsprozeß als um Lernen. Dieser Gedanke ist erstaunlich modern, d. h., er stimmt mit den neuesten Befunden überein. Tatsächlich hat sich in den letzten 25 Jahren die Forschung vorwiegend auf die Sprache des Kindes konzentriert. Bereits Ge­ lehrte des 19. Jahrhunderts hatten behauptet, daß die von Kindern hervorgebrachten Laute Bedeutungen haben, aus denen sich schließlich Wortbildungen ergeben. Otto Jesperson schrieb: »In den Kin­ derstuben aller Länder wiederholt sich seit eh und je dieselbe kleine Komödie - der Säugling liegt in der Wiege und lallt sein >mamama< oder >papapa< oder >apapap< oder >bababaA Study of The Infantilization of Man«) haben wir einen solchen Menschen der Zukunft, dessen Kopf nur wenig größer wäre als der eines heutigen, beschrieben. Der Grad der Intelligenz im Prozeß der Menschwerdung hing also nicht von der Hirnmasse ab, sondern von anatomischen und funktio­ nellen Umformungen des Zentralnervensystems. Die daraus resul­ tierende Komplexität ist das ausschlaggebende Wesensmerkmal des Homo sapientissimus. Oder anders ausgedrückt: Die Fähigkeit, vielschichtige und voneinander unabhängige Informationen gleich­ zeitig oder nacheinander zu verarbeiten und in Gedächtnisreservoirs zu speichern, wächst nicht mit der Menge der Gehirnzellen, sondern 57

mit den möglichen Verbindungen zwischen den Nervenzellen. Ob­ wohl wir nur über ungefähr io Milliarden Zellen verfügen, erreicht die Zahl der Nervenverbindungen astronomische Größen. Am ehe­ sten könnte man es so umschreiben, daß für jeden neuen Telefonan­ schluß (Zelle) anstelle einer einzigen neuen Leitung Hunderttau­ sende (Verbindungen) eingebaut werden müssen. Dieses offensicht­ liche Übermaß (Redundanz, vgl. Kap. VIII) spielt in der Entwick­ lung der Hochintelligenz wahrscheinlich die wesentlichste Rolle. Im Prinzip hat das Gehirn aller höheren Tiere denselben Grund­ plan: Hinter-, Mittel- und Vorderhirn. Bei den Fischen dient das Hinterhirn dem Gehör- und Gleichgewichtssinn, das Mittelhirn dem Gesichtssinn und das Vorderhirn dem Geruchssinn. Bei den Reptilien vergrößert sich das Hinter- und Mittelhirn, da Hören und Sehen eine größere Bedeutung zukommt. Das Gehirn der Säuger gliederte sich noch weiter auf. Aus dem Hinterhirn ging das Klein­ hirn (Cerebellum) hervor, das die Zusammenarbeit der Muskeln koordiniert. Das Mittelhirn war zuständig für das angeborene Ver­ halten und beim Menschen für sein Gefühlsleben (limbisches Sy­ stem). Von jenem exzessiven Wachstum war das menschliche Vor­ derhirn betroffen, während das Hinter- und das Mittelhirn ihre für Säuger charakteristische Größe beibehielten. Das harmonische Zu­ sammenwirken der Sinneswahrnehmungen, das bei Reptilien vom Mittelhirn gesteuert wird, wurde beim Menschen allmählich ins Vorderhirn verlegt. Eine schon bei niedrigeren Säugern beginnende Ansprechbarkeit des Gehirngewebes auf komplexeres Lernen zeigt eine erkennbare Tendenz zu sich steigernder Rückkopplung; Lernen erfordert er­ höhte Redundanz und damit ein vergrößertes Gehirnvolumen; ver­ mehrte Redundanz aber spornt wiederum zu intensiverem Anrei­ chern von Wissen an. Dieses Wissen unterscheidet sich wesentlich von dem im Erbgut eingebetteten »Wissen«, z. B.der Reptilien, denen nur stereotype Handlungen möglich sind. Bei Vögeln sind bereits gewisse Lernprozesse festzustellen. Eine manipulierende Intelligenz, die zwischen Alternativen wählen kann, macht sich aber erst bei höheren Säugern bemerkbar; voll ausgeprägt ist sie dann bei den Primaten.



Bestimmte Hirnabschnitte der Neurinde - die beiden Hemisphä­ ren - haben mittels morphologischer Umwandlung eine weitere Ausformung von Intelligenz ermöglicht. Während die stammesgeschichtlich älteren Teile des Mittelhirns und des Hirnstammes über Programme verfügen, die sowohl primitive Lebensfunktionen als auch instinktives Verhalten steuern und in der jetzigen Phase der menschlichen Evolution noch nicht von Funktionen der Neurinde verdrängt werden können, entfalten sich in der Neurinde Zentren für umweltbedingte Wendigkeit und Entscheidungsfähigkeit. Bereits bei Lebewesen auf niedrigen Evolutionsstufen ist eine Tendenz feststellbar, das Zentrum des Nervensystems dorthin zu verlagern, wo es mit der Umgebung am ehesten in Kontakt kommt. An dieser Stelle »nisten« sich die Sinnesorgane ein, so daß sie die Umwelt auf dem kürzesten Weg registrieren können. Auf diese Weise ist es dem Tier möglich, schon beginnende Veränderungen sie brauchen gar nicht abgeschlossen zu sein, um in ihrer Ganzheit erkannt zu werden - zu erahnen und vorbeugend etwas zu unterneh­ men. So kann ein Frosch den Anfang eines ihn erreichenden Schat­ tens mittels seiner Netzhaut erfassen, worauf er ins Wasser hüpft (im Labor springt er von einer grüngefärbten Fläche - Grasersatz - auf eine blaugefärbte - Wasserersatz). Eine solche antizipierende Reak­ tion mag für ihn lebensrettend sein, aber der Frosch kann nicht entscheiden, ob der Schatten ein für ihn gefährliches oder harmloses Objekt darstellt. Die Tendenz, später sich entwickelnde Hirnteile nach vorn zu verlagern (Zerebralisation), vollzieht sich ohne wesentliche Unter­ brechung über Fische, Amphibien, Reptilien und Säuger. Ungleiche Wachstumsraten (Allometrie), die diejenigen Teile des Zentralner­ vensystems bevorzugen, die der Umwelt am nächsten sind, bedingen die Vorwölbung der bei niederen Tieren noch rudimentären Neu­ rinde. Bei den Primaten ist eine Beschleunigung dieser Tendenz festzustellen, so daß die Neurinde die restlichen Gehirnteile völlig »überkappt«. Und als es im engen Schädel dafür keinen weiteren Platz mehr gibt, beginnt sich die Hirnmasse zu furchen. Auf diese Weise wird eine Zunahme der Gehirnwindungen und eine weitere Zunahme des Gehirnvolumens erreicht.

59

Die Überlebensfähigkeit des Präsapiens-Typs beruhte hauptsäch­ lich auf dem von seinen Primatenvorfahren ererbten gesellschaftli­ chen Verhalten: Gemeinsam mußte man sich verteidigen, gemein­ sam mußte man Nahrung beschaffen usw. Um in der Vielfalt sozialen Austauschs folgenschwere Mißverständnisse zu vermeiden, wurde eine plötzlich aktivierbare Aufmerksamkeit und Reaktionsfähigkeit erforderlich. Die Natur begünstigt durch natürliche Auslese diejeni­ gen, die über ein größeres Repertoire geselligen Verhaltens verfüg­ ten. Und das stellte verstärkte Anforderungen an das Fassungsver­ mögen. Die Folge war eine markante Vergrößerungdes Gehirnvolu­ mens. Die Tendenz, ein erfolgreiches Anpassungsvermögen weiter­ hin zu verbessern, kann in relativ kurzdauernden Zeiträumen zu einem Übermaß führen. So waren z. B. Hirsche mit merklichen Verdickungen an ihren Köpfen bei den saisonalen Kämpfen um die Vorherrschaft in der Herde im Vorteil. Durch weitere Auslese kam es zu immer größeren Verdickungen, bis diese zu verzweigten Gewei­ hen wurden. In manchen Arten erreichten sie eine solche Größe, daß sie die Beweglichkeit ihrer Träger behinderten. Eine solche Optimierung einer schon erfolgreichen Entwicklung bewirkte auch die rapide Vergrößerung unserer Neurinde. Dabei bleibt die Frage offen, ob die sich weiterentwickelnde Vorderhirn­ masse uns zu demselben Schicksal verurteilt, wie einst das Riesenge­ weih die inzwischen ausgestorbenen Hirscharten. Bis vor kurzem waren die Anthropologen der Meinung, daß die Herstellung von Werkzeugen den Anreiz zur Weiterentwicklung des Gehirns bewirkt hätte. Das ist sicherlich richtig, aber nur bis zu einem gewissen Grad. Die primäre Stimulation ging vom Gruppen­ leben aus - erst in zweiter Linie rangiert Werkzeug, welcher Art auch immer. Mimik und Gestik der anderen mußten sorgfältig abge­ schätzt werden. Stimmungen und sich daraus ergebende Intentionen mußten einkalkuliert werden, um schmerzhafte Schläge zu vermei­ den. Beobachtungen von Menschenaffen lassen heute noch erken­ nen, welche hochgradige Geschicklichkeit erforderlich ist, um so­ ziale Situationen so zu manipulieren, daß sich aus dem engen Kon­ takt der Tiere nur wenige Schwierigkeiten ergeben. Primatensprößlinge, die des Menschen einbegriffen, erlernen ihr soziales Verhalten

60

zuerst in der Mutter-Kind-Bindung und später durch Spiele mit Altersgenossen. Dieses Lernen, das für jedes Gruppenleben eine unabdingbare Notwendigkeit ist, stimuliert aber auch die Lernfähig­ keit zu anderen Beschäftigungen. Die Erweiterung und flächenhafte Ausbreitung der Neurinde brachten für den Präsapiens nun allerdings auch erhebliche Probleme mit sich: Das expansive Gehirnwachstum mußte zu einer solchen Vergrößerung des Kopfes führen, daß dieser den Geburtskanal nicht mehr passieren zu können drohte. Die natürliche Auslese mußte also eine Lösung »finden«, einen tragbaren Kompromiß: Die Entwick­ lung wurde so verlangsamt, daß der menschliche Säugling vorzeitig geboren und die Entwicklung des Gehirns dann fortgesetzt wurde. Die Folge dieses evolutionären Mechanismus war eine ständig sich vergrößernde Unreife des Neugeborenen. Während bei Säugern, die mit jeder Geburt zahlreiche Junge werfen, ein intrauteriner Wettbewerb zwischen den Föten stattfin­ det, bei dem der am schnellsten wachsende einen Vorteil für sich erzwingt, erfreut sich der Einzelgängerfötus des Menschen einer von Konkurrenz ungestörten Existenz. Er kann es sich daher erlauben, seine Reife nicht zu beschleunigen. Auch die hohe Betreuungsfähig­ keit seiner Mutter trägt zu dieser Verzögerung bei. Die Kombination all dieser Faktoren führt also zu einer Verlängerung des Zustands der Unreife über das erste Lebensjahr hinaus und erleichtert in der Kindheitsphase das außerordentlich rasche, für eine fötale Phase charakteristische Wachstum des Gehirns. Damit dies nicht behindert wird, bleiben die Nähte bis ungefähr zum fünfunddreißigsten bis vierzigsten Lebensjahr offen. Mit der zunehmenden Vielschichtig­ keit der Neurinde bildeten sich Schaltzentren für Begriffsbildung, Gedächtnis und Sprache; diese Funktionen sind jedoch nicht vom restlichen Gehirn unabhängig; das im Mittelhirn zentrierte Gefühls­ leben spielt dabei immer noch eine wichtige Rolle. Pierre-Paul Broca lokalisierte schon 1861 den Verlust des Sprach­ vermögens (motorische Aphasie) bei Verletzungen des hinteren und unteren Teils der linken Stirnrinde; Karl Wernicke stellte 1886 den Verlust des Sprachverständnisses (sensorische Aphasie) bei Läsionen des hinteren und oberen Teils des linken Schläfenlappens fest. Beide 61

Lokalisationen wurden nach ihren Entdeckern benannt. In der Nähe dieser Zentren befindet sich der Gyrus angularis, ein Teil des Scheitellappens, in dem Informationen aller Sinneswahrnehmungen konvergieren. Hier werden simultane Gedanken, Bilder, Gerüche, Laute usw. zu einem vielschichtigen Erlebnis verknüpft. Die dazu notwendigen assoziativen Verbindungen machen den Un­ terschied zwischen Menschenaffen und Menschen aus, hier liegt die geistige Kluft zwischen den beiden Spezies. Läßt man den Größenunterschied des Gehirns beider Spezies außer acht, so ist zu vermerken, daß der Schimpanse kleinere Stirn-, Schläfen- und Scheitellappen, dafür aber größere Hinterhauptlappen besitzt, welch letzteres sich aus der stärkeren Muskelbeanspruchung der Primaten erklärt. Man hat das Innere von ausgegrabenen Homi­ nidenschädeln mit Schaumstoff ausgespritzt und anhand dieser Ab­ güsse feststellen können, daß die Hirnoberflächen des Homo erectus und Australopithekus mehr an die von modernen Menschen als an die von Menschenaffen erinnern (vgl. Kap. II). Spätere Forschungen zeigten, daß ein unversehrtes Broca-Zen­ trum für Sprache nicht absolut notwendig ist. Widersprüchliche Befunde der Untersuchungen sind wahrscheinlich darauf zurückzu­ führen, daß Sprache verschieden interpretiert werden kann. Faßt man sie als Informationsträger auf, so registriert man vielleicht eine Art Störung; betrachtet man Sprache als ein Artikulationssystem, so ergibt derselbe Befund vielleicht ein ganz anderes Bild. Will ein Psychologe herausfinden, wie weit ein aphasischer Patient ein Ge­ schehnis versteht, erhält er ein Resultat; wenn er aber die Art der Störung untersucht, vermitteln die Tests ein anderes Ergebnis. Das Sprachareal nimmt ein großes Gebiet der Neurinde für sich in Anspruch. Dieses wird hauptsächlich von der mittleren zerebralen Arterie ernährt, bei der es häufiger als bei anderen Hirnarterien zu einem Verschluß ihres Innendurchmessers kommt: darum die Häu­ figkeit von Schlaganfällen mit Sprachverlust. Aber die Sache wird noch komplizierter: Die Zentren der Sinnesorgane und die motori­ schen Zentren für die Muskeln des Gesichts, Kehlkopfs und des Schlundes befinden sich im gleichen Gebiet. Daher können Schäden in diesem Bereich vielfältige Symptome hervorrufen. 62

Die funktionelle Asymmetrie der beiden Gehirnhälften ist eine weitere Neuheit in der Evolution des Menschen, deren Erforschung noch in vollem Gange ist. Es erwies sich, daß verbale Intelligenz und Lernen ihre Zentren in der linken Hemisphäre haben, während non­ verbale, das Gehör beeinflussende Erfahrungen (wie Zeitsequen­ zen), die verschiedenen mit Musik verbundenen Phänomene und die visuellen Fähigkeiten (Objektverhältnisse im Raum einzuschätzen u.v.a) in der rechten Hemisphäre lokalisiert sind. Neueste psychologische Untersuchungen haben in auffälliger Weise Befunde ergeben, die vielleicht auch die Bedeutung der rech­ ten Hemisphäre für das Seelenleben erklären könnten: Die rechte Hemisphäre formt eine non-verbale, bildhafte Darstellung aller Sinneseindrücke; sie löst komplex erscheinende Probleme mittels vielfacher, konvergierender Bestimmungsfaktoren. Die linke Hemisphäre hingegen wendet eine lineare, kausale Kette von Folgerungen an, um einen Begriff zu bilden; sie besitzt die nüchterne Klarheit, mit der das sogenannte logische Denken auf­ grund gegebener Aussagen zu einem Schluß kommt: Sie bereitet Zusammenhänge auf,diemit »weil«, »falls«, »wenn ja, dann«, »wenn nicht, dann« usw. beginnen; sie ermöglicht einsichtiges Handeln; sie erleichtert das Lockern von fixierten, angeborenen Verhaltenswei­ sen zugunsten eines Handelns aus angereichertem Wissen; aber sie braucht Zeit dazu. Einige Beispiele zur Illustration der Umstände, in denen die rechte Hemisphäre tätig wird: - Wir fahren mit einem Kraftfahrzeug in eine ringförmige Kreu­ zung, in die aus mehreren Richtungen andere Fahrzeuge einfahren; manche warten vorschriftsgemäß an der Einfahrt, andere jedoch nicht; welcher Kurs einzuhalten ist, entscheidet in Blitzesschnelleohne Überlegung - die rechte Hemisphäre. - Die rechte Hemisphäre hat einen Wortschatz, der aber im Impera­ tiv nicht verwertbar ist: So kann ein Patient, dessen linke Hemisphäre chirurgisch entfernt wurde, beim Singen die Worte eines Liedes deutlich von sich geben, aber er kann diese nicht in einem normal gesprochenen Satz wiederholen. - Die rechte Hemisphäre zeigt ihre Stärke im Verarbeiten komple­ 63

xer Gedanken, die sich nicht in ein Muster einfügen: Wortspiele, Rätsel usw., bei denen Wörter je nach ihrem Kontext eine wech­ selnde Bedeutung besitzen, werden hier verarbeitet. Bei Epileptikern, deren Anfälle durch Medikamente nicht unter Kontrolle zu bringen sind, wird gelegentlich eine chirurgischeTrennung des Corpus callosum (eine aus Nervensträngen bestehende Brücke zwischen den beiden Hemisphären) vorgenommen. Dies ermöglicht eine Untersuchung der Funktionen der nach dieser Ope­ ration voneinander unabhängigen Hemisphären, die eine markante Unterschiedlichkeit ihrer Wahrnehmungsmechanismen aufweisen. Nach solchen Operationen zeigte sich, daß Frauen eine stabilere hemisphärische Integration und weniger Schwierigkeiten mit dem Sprechen und dem künstlerischen Ausdruck ihrer kreativen Fähig­ keiten haben als Männer. Man kann nach vollzogener Trennung des Corpus callosum die respektiven Hemisphären mittels visueller Reize gesondert stimulie­ ren; oder man kann den Patienten veranlassen, eine Handlung nur mit einer Hand auszuführen, so daß die korrespondierende Hemi­ sphäre allein die Kontrolle ausübt. Dabei zeigte sich, daß die rechte Hemisphäre eine rudimentäre Fähigkeit besitzt, Sprache zu interpre­ tieren. Wenn das Bild eines Gegenstands mittels des rechten Auges der linken Hemisphäre angeboten wird, kann der mit einem »splitbrain« (gespaltenes Gehirn) behaftete Patient den Gegenstand kor­ rekt benennen, aber er ist unfähig, diesen hinter einer undurchsichti­ gen Wand liegenden Gegenstand mit der rechten Hand zu identifi­ zieren. Wenn dieselbe Prozedur für die rechte Hemisphäre ausge­ führt wird, findet er mit der linken Hand den hinter der Wand liegenden, unsichtbaren Gegenstand, aber er ist nicht fähig, ihn mit Worten zu beschreiben. Aufgrund dieser experimentellen Ergebnisse hat man gefolgert, daß bei normalen Personen eine Information, die auf einer räumli­ chen Analyse basiert, von der rechten Hemisphäre aufgenommen wird, um dann zur Dechiffrierung auf die linke Hemisphäre umge­ schaltet zu werden, wo das dafür korrekte Wort gewählt wird. Es scheint auch, daß die meisten Gedankenabläufe, die man als unbe­ wußt bezeichnet oder die bewußtseinsnah liegen (»das Wort liegt mir 64

auf der Zunge«), von der rechten Hemisphäre gesteuert werden. Galin berichtete, daß hysterische Symptome bis zu 70 Prozent häufiger auf der linken Körperseite auftreten. Es scheint, daß diese Patienten unfähig sind, ihre in bildhaften Vorstellungen verankerten Konflikte, in Worten oder Gefühlen auszudrücken, und sie daher metaphorisch durch linksseitige Symptome »dinghaft« machen. (Ein aus Furcht vor Vergeltung unterdrückter Wutausbruch mag eine Verkrampfung derjenigen Muskeln bewirken, die aggressive Hand­ lungen ausführen, so daß auch eine rechtshändige Hysterikerin die Schmerzen im linken Arm verspürt - der Schmerz stellt metapho­ risch die unausgesprochenen Worte und Gefühle oder die nicht ausgeführte Handlung dar.) Kenyon fand, daß Patienten mit hypochondrischen Symptomen ebenso häufig wie Hysteriker die linke Seite bevorzugen. Die verbindenden Nervenstränge des Corpus callosum sind bei der Geburt noch nicht von der Hülle umgeben (Myelinscheide), die für die volle Nervenfunktion unbedingt notwendig ist. Der Prozeß der Einhüllung beginnt im vierten Lebensmonat und dauert bis zum Ende der Kindheitsjahre. In dieser Frühphase muß man annehmen, daß beide Hemisphären als separate Einheiten funktionieren. Da die Raumorientierung dem Sprechen stammesgeschichtlich vorausgeht, muß in den Kindheitsjahren die rechte Hemisphäre dominieren. Mit der Reifung des Corpus callosum erfolgt eine Verschiebung der Dominanz zugunsten der linken Hemisphäre. Eine beiderseitige Ersetzbarkeit der Hemisphären ist beim Kind noch vorhanden: Wenn bei ihm eine Hemisphäre wegen eines Tumors chirurgisch entfernt werden muß, kann die andere alle Funktionen mit einem nur geringfügigen Verlust für das spätere Leben übernehmen. Aufgrund von Experimenten hat man die Erkenntnis gewonnen, daß die Koordination beider Hemisphären zur Einordnung von dreidimensionalen Wahrnehmungen führt. Unabhängig vom Blick­ winkel behält ein Gegenstand seine Gestalt, die mit der dem Ge­ dächtnis eingeprägten Darstellung konfrontiert wird. So kann z. B. ein Kreis als solcher wahrgenommen werden, wenn er auch infolge schräger Lage - auf der Netzhaut als Ellipse gesehen wird. Die Wichtigkeit der Stetigkeit von Umweltbeobachtungen für 65

einen Baumbewohner braucht kaum betont zu werden: Er muß ständig die Entfernung zwischen Ästen, die sich im Wind bewegen, genau einschätzen, um einen Sturz zu vermeiden; wenn er sich mit seinen Füßen an Ästen anklammert, ist sein Kopf unten; er kann ihn aber auch in verschiedenen Richtungen hin und her schwingen, während er ein bestimmtes Objekt im Äuge behält und unverändert in seinem Gehirn registriert. (Es besteht aber keine Notwendigkeit, diese Wahrnehmung in Worte zu fassen, da die aus der Beobachtung resultierende Handlung keine Älternativen zuläßt.) Der Besitz zweier voneinander relativ unabhängiger, problemlö­ sender Systeme, wie sie sich beim Menschen entwickelt haben, hat einen wichtigen adaptiven Vorteil: Er ermöglicht es, mehrerlei krea­ tive Lösungen für schwierige Situationen zu finden. Sinnliche Wahr­ nehmungen, die von der rechten Hemisphäre als bildhafte Raumvorstellung verarbeitet werden, können experimentell von denen, die zur Wortbildung durch die linke Hemisphäre führen, abgegrenzt werden. Einer der markantesten Faktoren ist das Tempo der Verar­ beitung. Die rechte Hemisphäre muß Sinneseindrücke augenblick­ lich organisieren, um eine korrekte Handlung einzuleiten. Ebenso müssen sich ungewöhnlich schnelle Löschungen einströmender In­ formationen vollziehen, um rasch aufeinanderfolgende Sequenzen in ihren sich verändernden Bedeutungen möglichst fehlerfrei zu bestimmen. Ein Wache stehender Primat erspäht einen Leoparden in einer noch sicheren Entfernung; jede weitere Bewegung des Raubtie­ res erfordert eine ständig wechselnde Neubeurteilung der Situation, die nur dadurch zustande kommen kann, daß frühere Sinnesein­ drücke blitzartig gelöscht werden. Ein Zustand des Nervensystems braucht nur so lange anzuhalten, bis die Konsequenzen erkannt sind und eine Handlung ausgelöst ist. Wenn schon vorprogrammierte Muster der auszuführenden Muskelaktionen sich mit einer dreidimensionalen Eingangsinforma­ tion auseinandersetzen, braucht der Primat nur geringfügige Kor­ rekturen auszuführen, um mit nahezu müheloser Geschicklichkeit Handlungen zu vollbringen, die den Änschein von Hochintelligenz erwecken. Dasselbe geschieht auch, wenn ein Mensch eine gewohnte Tätigkeit ausübt und im Unterbewußtsein an die jeweiligen Erfor­

66

dernisse angleicht: Zum Beispiel das Steuern eines Fahrzeugs und das automatische Anpassen an den Verkehr auch hier wird der An­ schein einer sorgfältig überlegten Handlung erweckt. Der obenerwähnte Zeitfaktor bewirkt bei der linken Hemisphäre eine dem Muster der rechten Hemisphäre entgegengesetzte Aktivie­ rung verzögernder Mechanismen, die eine Wahl zwischen Alternati­ ven, also Überlegen und Nachdenken, ermöglichen. Dies bedingt eine ausgeprägtere Fähigkeit der Umschaltstellen (Synapsen), den Reizstrom selektiv zu hemmen. Eine solche Fertigkeit kann durch Instruktionen gesteigert werden, wenn wir z. B. unsere Kinder er­ mahnen: »Denk doch nach, bevor du antwortest.« Die Fähigkeit zur Alternativhandlung zeigt sich auch in sozial schwierigen Situationen: Durch eine Erweiterung der Umwand­ lungsprozesse unserer von der Neurinde gesteuerten Reaktionen ist es dem Menschen möglich, neue Lösungen zu finden und sein Verhaltensrepertoire zu ändern. Da sich diese Neuerwerbung aber noch in einer Ubergangsphase befindet, werden wir immer wieder Mischungen bisher gewohnter und neuerworbener Muster dieser Umwandlung vorfinden. Um dies zu illustrieren, brauchen wir nur das Verhalten eines Schimpansen in einer heiklen Situation mit dem eines Menschen zu vergleichen. Einem Schimpansen, der seine Dominanz mittels einer Drohgeste zur Schau stellt, ist dieses Verhalten so eingeprägt, daß er sich nicht beruhigen kann, bis ihn eine Geste der Unterwerfung beschwichtigt. Beim Menschen hingegen kann die von Gefühlen bestimmte Wahrnehmung, die entsprechend primitivere Reaktionen zur Folge haben würde, durch Bewußtseinsvorgänge in eine neue Vorstellung umgewandelt werden. Die emotionell vorprogram­ mierte Handlung wird dadurch entweder unvollständig ausgeführt oder total gehemmt; eine »intelligentere« Reaktion tritt an ihre Stelle. (In der gegenwärtigen Phase der menschlichen Evolution wird z. B. anscheinend berechtigtem Zorn in folgender Weise Ausdruck verliehen: durch physische oder verbale Aggression; physische oder verbale Selbstbeschwichtigung; Ignorieren; Verstehen der Ursa­ chen, die den Zorn auslösten, um damit den Umständen eine neue Definition zu geben.)

(>7

So kann z. B. die linke Hemisphäre Gefühle, die auf einer präver­ balen Ebene verspürt werden, in etwas Dinghaftes umwandeln, d. h. in ein manipulierbares Wort; dieses wird mittels einer neuen Definition von seinem emotionellen Ursprung gelöst und setzt ein Individuum in den Stand, eine gesellschaftlich wünschenswerte Handlung zu vollbringen. Ein Beispiel: Zuerst verspürt unser Indivi­ duum, etwa aufgrund einer Provokation, eine ärgerliche Stimmung, die spontan zu unangenehmen seelischen Empfindungen führen würde; statt dessen wird das Gefühl in das Wort »Ärger« eingebettet, das eine Diskussion mit sich selbst oder mit anderen ermöglicht, um den Grund für die Ursachen und Folgen der ursprünglichen Schwie­ rigkeit auszutüfteln: Das zugrundeliegende Gefühl des Ärgers wird durch solche Überlegungen abgeschwächt; jetzt kann das logisch tätige Gehirn (Verstand), das nicht mehr unter dem Druck von mit Gefühlen verbundenen vegetativen Manifestationen steht, seinen Einfluß geltend machen und so unzufriedenstellende, weitere Aus­ einandersetzungen verhindern. In unserer Kultur wird ein solches Verhalten unseren Kindern als Ideal vorgehalten und Nichtbefolgung durch Bestrafung geahndet; aber in späteren Jahren, wenn elterliche Zwangsmaßnahmen nicht mehr wirksam sind, ist dieses Verhalten nur mit schwankendem Erfolg anwendbar. Es bedarf einer Neubestimmung von Gefühlsin­ halten, um sie in verändertem Licht erscheinen zu lassen: eine der Aufgaben der Psychotherapie. Im westlichen Kulturkreis begann sich in historischer Zeit die von der Neurinde ausgeübte Kontrolle auch auf vegetative Vorgänge auszudehnen. Reinlichkeitstraining wird schon in frühester Kind­ heit betrieben. Im späteren Leben reguliert man Sexualreaktionen gemäß den moralischen Erfordernissen unserer Umwelt. In aller­ letzter Zeit ist es gelungen, mittels Biofeedback (biologische Rück­ kopplung) auch Gehirnwellen, Herzschlag, Sekretionen, Haut­ durchblutung usw. willkürlich zu beeinflussen. (Aber schon seit langem berichtet man über ähnliche Erfolge im Fernen Osten, die mittels Konzentrationsübungen und Meditation erreicht werden.) Der besorgte Leser könnte sich nun natürlich fragen, ob all das nicht auf eine Übernahme des gefühlsbetonten Innenlebens durch unseren 68

logisch denkenden Hirnabschnitt und auf eine beginnende Gefühls­ armut hinausläuft. Wir wissen es nicht. Momentan befinden wir uns in einer Interimsphase, in der das Spektrum vom Extrem der unbe­ herrschten Gemütsausbrüche zum »eiskalten« logischen Handeln reicht. Ein permanentes Hinstreben der linken Hemisphäre zur Begünstigung dieses Hemmungsfaktors könnte nach Tausenden von Generationen durchaus zu anatomischen Veränderungen führen. Dieser Selektionsfaktor könnte sogar eine Asymmetrie des Kopfes bewirken. (Freilich sind anatomische Asymmetrien relativ selten; man sieht sie zuweilen bei manchen Fisch- und Krabbenarten.)

Zusammenfassend läßt sich über die stammesgeschichtliche Ent­ wicklung des menschlichen Gehirns sagen, daß es von weitgehenden Spezialisierungen verschiedener Funktionen auf eine neue evolutio­ näre Bahn gedrängt wurde, die die Kluft zwischen unseren Primaten­ vorfahren weiterhin verbreitert. Gegenwärtig sehen wir keine Fak­ toren, die diesen Trend aufhalten könnten. Die unterschiedlichen Funktionen der respektiven Hemisphären geben in den jugendlichen Phasen beim Mann der rechten Hemi­ sphäre und bei der Frau der linken den Vorzug. (Jedoch ist für beide Geschlechter später die sprachübermittelnde Fähigkeit der linken Hemisphäre von gleicher Bedeutung.) Aber wegen der für den Präsapiens-Mann spezifischen Tätigkeiten ist ein stärkerer Raum­ sinn (in der rechten Hemisphäre) verständlich. Warum aberdieFrau im Laufe der Stammesgeschichte eine Sprachüberlegenheit entwikkelt hat, ist aus den bisherigen Indizien nicht ersichtlich. Es ist klar, daß für beide Geschlechter unserer baumbewohnenden Vorgänger der Raumsinn von gleicher Bedeutung war. Die Frage ist nur, an welchem Punkt und warum eine Differenzierung stattfand.

69

Kapitel IV

Der biologische Widerspruch oder Feminine Sprach Überlegenheit gegenüber maskuliner intellektueller » Vorherrschaft«

Kehren wir nach unserem Exkurs über die Entwicklung des Gehirns zu unserer Ausgangserkenntnis zurück, und versuchen wir uns die Reaktion eines Gelehrten vorzustellen, dem wir trotz seiner Erfah­ rungen mit der »Dummheit« von Sekretärinnen und der »Unfähig­ keit« seiner Frau auch nur die elementarsten Aspekte seines Fachge­ bietes zu verstehen, plausibel machen wollen, daß Frauen genauso intelligent, zumindest aber sprachgewandter sind als Männer. Wenn er ein Zyniker wäre, würde er uns vermutlich bedeuten, daß dies wohl ein Witz sei; wenn er ein liebevoller Ehemann wäre, würde er uns vielleicht erklären, daß Frauen praktische Intelligenz besäßen, einen »gesunden Hausverstand«, aber sie mit Gelehrten zu verglei­ chen ...! Ein mokantes Lächeln würde den Satz beenden. Und tatsächlich gibt es kaum Männer, bei denen die wissenschaft­ lich inzwischen gut untermauerte These von der größeren weibli­ chen Sprachbefähigung nicht auf entschiedenen Widerstand stoßen würde. Im Sinne einer in bestimmter Hinsicht notwendiger. Domi­ nanz - das Paarungsverhalten der Primaten verlangt eine biologisch festgelegte Dominanz des Männchens, und diese Tendenz hat sich bei unserer Spezies zum größten Teil erhalten - werden einfach alle Erfahrungsbegriffe entsprechend modifiziert: Traditionen haben den Frauen bestimmte soziale Plätze zugewiesen. Es hat in den letzten Jahren hitzige Diskussionen über diese Probleme gegeben. Wo sind die weiblichen Maler, Bildhauer, Archi­ tekten, Komponisten, Gelehrten und anderen schöpferischen Per­ sönlichkeiten?, so wurde mit schöner Regelmäßigkeit gefragt. Si7°

eherlieh, es gibt hier und da Ausnahmen, aber diese bestätigen nur die Regel. Und im übrigen beläßt man es in allgemeiner Übereinstim­ mung dann doch wieder beim Mythos von der männlichen Überle­ genheit. Aber handelt es sich hier wirklich nur um kulturell bedingte Vorurteile? Bei allen unseren Untersuchungen haben wir immer wieder feststellen können, daß traditionell verankerte Glaubenssy­ steme nur scheinbar die treibenden Faktoren für charakteristische Verhaltensweisen menschlicher Gruppen waren. Immer wieder tauchten biologische Gegebenheiten auf, die sich als Auslöser für kulturbedingte Gebräuche erwiesen. So kann z. B. die Notwendig­ keit der Dichtekontrolle einer Population die verschiedensten Sitten hervorbringen, die man mit der Sehweise eines Außenseiters als grausam, sinnlos, unmenschlich usw. verurteilen kann, die aber dennoch einem biologischen Zweck dienen: etwa eine stabile Bevöl­ kerungsdichte - und dadurch eine andauernde und ausreichende Nahrungsversorgung - der Gruppe zu gewährleisten. Wäre es nicht denkbar, daß wir es auch hier mit biologischen Faktoren zu tun haben, die sowohl für die größere Sprachbefähigung der Frauen verantwortlich sind als auch für die paradoxe, in einer späteren Phase erscheinende männliche intellektuelle Vorherr­ schaft? Dies war für uns eine wichtige Frage, deren Beantwortung uns - wie wir hofften - ein besseres Verständnis für Sprach- und Leseschwierigkeiten ermöglichen würde. Evolution vollzieht sich in einer allmählichen Entwicklung von einfacheren zu komplexeren Formen. Da die Natur aber »auf Aus­ nahmen besteht«, ist schon jeder mögliche Mechanismus irgend­ wann »erprobt« worden. Und da nur die erfolgreichen ihrer Experi­ mente überlebensfähig sind und die anderen aussterben, sieht es heute so aus, als verfüge die Natur ihrerseits über eine Intelligenz, die nur auf die Entstehung ideal angepaßter Geschöpfe abzielt. Das, was uns als vollkommen erscheint, ist jedoch das Ergebnis eines außerge­ wöhnlich verschwenderischen Ausleseprozesses, der sich über Jahr­ millionen erstreckte. Eine der obenerwähnten Ausnahmen von der Regel des Fort­ schreitens der Evolution von Einfacherem zu Komplexerem ist der 7i

Homo sapiens. Unsere gegenwärtigen anatomischen Strukturen sind in mancher Hinsicht einfacher als die des Präsapiens-Typs. So ist z. B. die Entwicklung des Schädels zu einem Stillstand gekommen, noch bevor das Wachstum der mächtigen Augenbrauenwülste, des ausgeprägten Schädelkamms und des vorstehenden Kiefers beendet war. Der Mensch blieb auf einer Stufe stehen, die für den Homo präsapiens die jugendliche Wachstumsphase darstellte. Weiterent­ wickelt haben sich beim Homo sapiens nur das Gehirn, die längeren Beine und einige Fußknochen (möglicherweise auch die Nase). Die entscheidende Rolle dabei spielt der schon im Zusammenhang mit dem überwuchernden Gehirn erwähnte, evolutionäre Mechanis­ mus der Allometrie. Durch ihn kommt es zu anatomischen Speziali­ sierungen, die letzten Endes Spezies voneinander separieren: Es setzen unterschiedliche Entwicklungsschübe ein, d. h., ein Organ beschleunigt oder verlangsamt sein Wachstum im Verhältnis zu den restlichen. Gene, die von der natürlichen Auslese bestimmt sind, kontrollieren das Tempo dieses Prozesses. So kann es für ein Tier von lebenswichtigem Vorteil sein, wenn ein Paar der Extremitäten eine längere Wachstumsperiode hat als das andere und damit z. B. die Hinterbeine im Verhältnis zu den Vorderbeinen länger werden. In diesem Fall wird die Auslese solche Varianten der Fortpflanzungs­ gruppe bevorzugen, deren Gene ein größeres Wachstum der hinte­ ren Extremitäten fördern. Die Hinterbeine zeigen also im Verhältnis zum restlichen Körper eine differentielle Wachstumsrate, hier im Sinne einer Beschleunigung. Das gleiche gilt auch für das umgekehrte Prinzip, die Verlangsa­ mung. Wenn Strukturen ihren Nutzwert verlieren, werden diejeni­ gen Lebewesen von der Auslese bevorzugt, deren Gene das Wachs­ tum der nutzlosen Struktur verlangsamen und damit zu deren Ver­ schwinden beitragen. Die sich in verschiedenen ökologischen Nischen einnistenden Fortpflanzungsgruppen, die ursprünglich alle einen gemeinsamen Ahnentyp besaßen, setzen sich anatomisch, physiologisch und ver­ haltensmäßig in dem Maße voneinander ab, in dem sie sich verschie­ denen Umwelten anpassen. Schließlich erreichen sie einen Punkt, an dem ein genetischer Austausch durch sexuelle Paarung wegen der 72

morphologischen und Verhaltensdifferenzen nicht mehr stattfinden kann. Bei den Primaten zielte die evolutionäre Auslese mehr und mehr auf Intelligenz ab: Baumbewohner können nur überleben, wenn ein hoher Grad an harmonischem Zusammenwirken der Hand- und Fußmuskeln vorhanden ist; dazu kam die Entwicklung der stereo­ skopischen Sicht mit der Fähigkeit, Farben zu unterscheiden; die Geschicklichkeit der Hände fand eine erweiterte Anwendung in der gegenseitigen Hautpflege und dem damit verknüpften Sozialleben. Alle diese Faktoren beschleunigten die Selektion entsprechender geistiger Kräfte. Intelligenz ist fähig, zwischen Alternativen zu entscheiden, Aktionen zu hemmen oder auszuführen, Situationen zu beurteilen usw. Die von der Intelligenz bewirkte Vermehrung der Überlebenschancen hatte einen positiven Rückkoppelungseffekt: Das Ziel war immer noch mehr Intelligenz. Parallel dazu setzte eine Verlangsamung der Entwicklung ein - vor allem der kindlichen und jugendlichen Entwicklungsphase -, die es später dem Menschen ermöglichte, sich das ständig vergrößernde Kulturerbe anzueignen. Der für das Erlernen sozialer Notwendigkeiten Zeit gewinnende Mechanismus verdankt seine Existenz der schon angedeuteten Se­ lektion von das Wachstum verlangsamenden Genen, die eine Verzö­ gerung aller Phasen bewirkten. Beim Homo sapiens führt dieser Prozeß zu einer Bewahrung fötaler und frühkindlicher Charakteri­ stika unserer evolutionären Vorgänger bis ins hohe Alter. Die daraus resultierende Ausdehnung der frühkindlichen und fötalen Phasen der Ahnenform bis in die Reifephase ist von einem Prozeß bedingt, der zur Neotenie * führt. Eine solche Entwicklung ist imstande, die bis spät in die Eigenentwicklung erfolgenden Spezialisierungen all­ mählich zu verdrängen, und gibt einer Spezies die Möglichkeit, sich Umweltbedürfnissen besser anzupassen. Man könnte daher die menschliche Morphologie gegenüber anderen Säugern als »jung« bezeichnen. Kann man diesen Prozeß der Verjugendlichung des Menschen aber genügend verallgemeinern, um ihn auch auf sein ♦) Neotenie ist der Beginn der Geschlechtsreife in morphologisch noch jungen Phasen der Ontogenie.

73

Verhalten zu beziehen ? Da die meisten Begriffe, die unsere seelischen Reaktionen verdeutlichen, nicht genau definiert werden können, werden wir versuchen, »junges« und »reifes« Verhalten am Lebens­ zyklus höherer Säuger zu messen. Die erwachsenen Individuen einerTiergruppe haben folgende, für ihre Existenz wesentliche Beschäftigungen: Selbsterhaltung, Fort­ pflanzung und Erhaltung der Gruppe. Im Gegensatz dazu verbringt das junge Tier die Zeit mit Spielen. Dadurch und durch Beobachtung erwirbt es die Fähigkeiten, die es für sein späteres Leben benötigt: Es ist neugierig, experimentiert, erkundet und lernt auf diese Weise alles, was zum Verständnis der Umwelt notwendig ist. Dieser Lern­ drang, der sich im Spielverhalten ausdrückt, ist eine absolute Not­ wendigkeit zum Überleben. Zur Zeit der sexuellen Reifung ist der Drang zum Spielen in dem Maße vermindert, in dem wichtige Lebensfunktionen bereits erlernt wurden. Das in der Kindheit Er­ lernte erleichtert die automatischen und halbautomatischen Reak­ tionen des erwachsenen Tieres, das allmählich seine Fähigkeit ver­ liert, sich neue Erfahrungen zu eigen zu machen. Bisher ging man davon aus, daß alles tierische Verhalten genetisch vorprogrammiert sei. Lernen, so dachte man, sei ein spezifisch menschliches Attribut. Wir alle wissen jedoch, daß manche Säuger vom Menschen als Haustiere und zur Zirkusunterhaltung dressiert werden können. Aber bis vor kurzem war man sich nicht im klaren, wieviel vom tierischen Verhaltensrepertoire in der jugendlichen Phase erlernt werden kann. Das genetische Programm bereitet die Erwerbung eines bestimmten Verhaltens vor, aber es ist nicht die unmittelbare res agitans der aktuellen Handlung. So ist z. B. einem Vogel die Fähigkeit angeboren, den seiner Spezies eigenen Gesang zu erlernen. Wird er aber in totaler Isolation von seinen Artgenossen aufgezogen, so ist sein Gesangsrepertoire beschränkt und in man­ chen Passagen auch falsch. Ohne in der Frühphase seines Lebens den Gesang seiner Artgenossen zu hören, kann er das genetische Po­ tential nicht erfüllen. Mit zunehmender evolutionärer Entwicklung und Intelligenz, die sich infolge der Vergrößerung des Neokortex (Neurinde) speziali­ sieren kann - dies gilt für alle Säuger bis zu den Primaten -, macht sich 74

ein immer stärkerer Antrieb zur Erweiterung der Spiel- und Erkun­ dungsperiode bemerkbar. Zum Beispiel jagen Wölfe, deren Junge sehr spielerisch sind, als Erwachsene in kooperativen Rudeln nach Beutetieren und zeigen eine hochentwickelte Fähigkeit, ihre Aktio­ nen den Zufallsbedingungen der Existenz anzupassen. Zu den intelli­ gentesten der nichtmenschlichen Säuger zählen einige der Genera Mustelidae (Wiesel, Hermelin, Dachs, Marder, Skunk und Otter), die Cetacea (Wal, Delphin) und die Subspezies der Mysticeti (See­ löwe, Robbe). Alle diese Tiere zeigen in ihrer Jugend spielerisches Verhalten, das sie oft bis in die späteren Jahre beibehalten. Das Andauern neckischen, spielerischen, neugierigen und erkun­ denden Verhaltens zeigt sich in voller Stärke jedoch erst bei den Primaten. Sie erwerben auch noch in den fortgeschritteneren Le­ bensphasen neue Fähigkeiten, wobei diese zumeist von den jüngeren Artgenossen eingeführt werden. Eine sehr gute Dokumentation dafür sind die japanischen Meerkatzen (Makaken), die herausgefun­ den haben, daß man Jamswurzeln waschen kann. Während das Neugier- und Erkundungsverhalten für die Jugend­ lichen aller Tiergesellschaften charakteristisch ist, ermöglicht die neotene Verlängerung jugendlichen Verhaltens bis in die späteren Lebensstadien ein Beibehalten des Lerntriebs. Wenn auch Experi­ mentieren, Forschen, Untersuchen usw. eine gewisse Reife erfor­ dern und ihre praktische Anwendung Fähigkeiten des Erwachsenen voraussetzt, können diese Tätigkeiten als Ausläufer spielerischer Behendigkeit betrachtet werden - sie sind »jung«. Bis in historische Zeiten wurde die Menschheit von allgemeinen, in der Natur selbstverständlichen Regeln beherrscht - man sieht dies noch bei heutigen »primitiven« Stämmen. Aber der unaufhaltsame, rückkoppelnde Trend der Verhaltensinfantilisierung »mästet sich« sozusagen an sich selbst: Er äußert sich in adoleszenten Aktivitäten (Aggressionen), in kindlichen· (Neugierde und Exploration) und kleinkindlichen Bedürfnissen (Dependenz, unverzügliche Wunsch­ erfüllung, wohlfahrtsstaatliche Versorgung). Der Trieb zu spielerischer und exploratorischer Tätigkeit hätte sich auch beim vorzeitlichen Menschen vermutlich auf Mann und Frau erstreckt, wären da nicht in zunehmendem Maße mütterliche 75

Pflichten gewesen. Die beim Menschen sich ständig verlängernde Phase der absoluten kindlichen Hilflosigkeit (vgl. Kap. X) stellte an die mütterliche Betreuungsfähigkeit immer höhere Anforderungen. Die Mutter hatte sich nicht nur länger um ihr Kind zu kümmern, sondern sie mußte es anders tun als die Primaten. Je aufrechter der Gang und je dünner das Haarkleid wurde, desto mehr Kraft mußte die Mutter in die Säuglingspflege investieren. Das Präsapiens-Baby war nicht nur hilfloser, es hatte auch nichts mehr, woran es sich festhalten konnte. Der Mutter blieb also nichts anderes übrig, als ihr Kind im Arm mit sich herumzutragen, wohin sie auch ging und was immer sie tat. Da die Frauen noch eine Menge anderer Pflichten hatten, auf die wir noch zurückkommen werden, ist es kein Wunder, daß sie einen Zustand größerer Reife erreichten, der früher einsetzte und länger andauerte als der ihrer gleichaltrigen männlichen Stammesgenossen. Außerdem waren sie für die Arterhaltung wichtiger. Gewisse Analogien gibt es bei den Menschenaffen: Sie erlangen um das achte Lebensjahr die Sexualreife und die volle Sozialreife drei Jahre später. Sobald die Weibchen Mütter werden, verringert sich ihr Neugierverhalten. Der Wandel des spielerischen Mädchens zu einer verantwortungsbewußten Mutter wird während der Schwanger­ schaft durch Gelbkörperhormone vorbereitet und vollzieht sich zur Zeit der Milchabsonderung durch Laktationshormone. Diese hor­ monelle Steuerung ist mit geringen Unterschieden für alle höheren Primaten charakteristisch. Im Gegensatz dazu haben die gleichaltrigen Männchen keine Pflichten - ihre biologische Rolle beschränkt sich auf die Paarung -, so daß ihrTrieb, sich neugierig und exploratorisch zu verhalten, ohne Unterbrechung bis ins Erwachsenenalter wirksam bleibt. Rudimen­ täre Ansätze zur Brutpflege existieren aber auch in den Affenvätern: Gelegentlich adoptieren sie ein Baby. Dieses Verhalten ist jedoch nicht hormonell bedingt, sondern eine Art »eingeprägte« Erinne­ rung an eigene frühkindliche Beziehungen zur Mutter. Dieses geschlechtsbedingt unterschiedliche und stammesgeschichtlich verankerte Verhalten ist also bei unseren Kindern durch­ aus noch vorhanden. Aber in späteren Jahren werden solche Unter­ schiede durch den Einfluß kultureller Faktoren verringert. 76

Welche Bedeutung der Sprache dabei zukam, wird sich kaum mehr feststellen lassen. Jedenfalls aber scheint die in der Jugend auch heute noch vorhandene sprachliche Überlegenheit der Frau darauf hinzu­ deuten, daß dieser Fähigkeit eine biologische Notwendigkeit zu­ grunde lag, die mit der Pflege der Nachkommenschaft zu tun hatte. Sprache muß für die Frau eine größere Rolle gespielt haben als für den Mann, der zur Zeit der Menschwerdung eher auf die visuell-räumli­ che Erfassung der Umwelt fixiert war. Jagen erfordert, wie bekannt, notwendigerweise eine genaue Orientierung. Aus alledem ergibt sich, daß die Sprache des männlichen Präsapiens vermutlich in einer späteren Phase in die Erlebniswelt eindrang als bei den Weibchen. Bei beiden Geschlechtern-bei der Frau jedoch mit einem beträchtlichen Vorsprung-wurde die Entwicklung korti­ kaler Strukturen, also der Neurinde, vom Sprechvermögen beein­ flußt, obgleich dieses nach heutigen Maßstäben als äußerst rudimen­ tär angesehen werden muß. Wenn wir die Frühphase der Sprachentwicklung rekonstruieren, kommen wir nicht um die Annahme herum, daß das PräsapiensKind bereits angeborene Sprechinstruktionen in seinem genetischen Erbgut besaß. Ihm angeboren war als Potential auch schon ein nicht unbeträchtliches »Lexikon« von Gesten, das eine deutliche und allgemein verständliche Information vermitteln konnte. Bei den Menschenaffen wird durch Beobachten und Nachahmen dieses Potential in eine aktuelle Gestensprache umgewandelt. Obwohl beim modernen Menschen die Körpersprache der Gestik, Mimik und Stellung von der »Wort«sprache überschattet wird, hat diese ursprüngliche Ausdruckskraft nichts eingebüßt - man versuche einmal, mit gebundenen Händen zu sprechen, dann sieht man, wie schwer das ist. Ebenso wie akustische Wahrnehmungen auf Sehzentren umge­ schaltet werden oder umgekehrt, könnten ähnlich funktionierende Schakzentren wechselseitige Beziehungen zwischen Gesten und Worten aktiviert haben. In einer Phase, in der Sprache noch nicht oder nur rudimentär entwickelt war, könnte die Körpersprache der künftigen Verbalsprache den Weg gebahnt haben. Da die der Verbalsprache vorausgehenden Lautgebilde für Frauen 77

offensichtlich wichtiger waren als für Männer - aus Gründen, auf die wir in späteren Kapiteln noch zurückkommen werden muß es eine Phase gegeben haben, in der die männlichen Erwachsenen noch vorwiegend in der für Primaten typischen Weise durch Gesten miteinander kommunizierten, während Lautäußerungen sowohl zwischen Frauen als auch zwischen Frauen und Kindern ständig stattfanden. Dies mag auf den ersten Blick seltsam erscheinen, doch gibt es bis heute Indianer, denen die Tradition vorschreibt, daß Männer die Sprache nur spärlich benutzen dürfen und sich unterein­ ander mittels Gesten zu verständigen haben. Daß Plaudern typisch für die sozial unterlegenen Frauen war und eines Mannes unwürdig erschien, ist sicherlich eine sehr verlockende Bestätigung dieser These, aber für wissenschaftliche Zwecke nicht beweiskräftig. Eine solche Frühsprache benötigte nicht die Symbolfähigkeit der noch nicht entwickelten höheren Gehirnzentren. Man könnte sich recht gut vorstellen, daß der menschliche Vorläufer-Homo erectus, der zur Zeit des Australopithekus lebte und gemäß den neuesten Forschungen Leakeys ungefähr vor drei bis vier Millionen Jahren auftauchte -, dessen Schädelabgüsse auf einen nur unzureichend entwickelten Schläfenlappen hinweisen, bereits imstande war, mo­ dulierte Laute von sich zu geben. Parallel dazu könnte die Benutzung von Steinwerkzeugen (Geröll-Artefakte) begonnen haben, da beide Manifestationen in diesem Stadium noch keine höhere Form der Gehirntätigkeit voraussetzten. Einen weiteren Schlüssel für die Entwicklung von Sprache, bevor noch Hochintelligenz ihren Einfluß ausübte, fand Lenneberg (1964): Bei seinen Forschungen stellte er fest, daß Kinder ihre Sprachbefähigung viel früher erlangen als die höheren intellektuellen Fähigkeiten. Wie bereits erwähnt, entwickeln auch Schwachsinnige und Mikrozephalen eine echte Sprachfähigkeit, während sie zur Beherrschung einer dem Menschen angepaßten Begriffswek für immer unfähig sind. Es ist riskant, von Merkmalsumprägungen auf stammesgeschichtliche Prozesse zu schließen. Aber wenn so viele Wegweiser dieselbe Richtung angeben, kann man sich das durchaus einmal erlauben: Alles bisher zitierte Beweismaterial läßt vermuten, daß die Früh-

78

phase der Sprachentwicklung beim weiblichen Präsapiens noch vor der Phase der Intelligenzentwicklung liegt. Ebenso ist es höchst wahrscheinlich, daß sich die frühesten Jäger noch durch Primatenge­ sten verständlich gemacht haben. Man kann also nicht behaupten, daß die Sprache aus der für die Jäger notwendigen Kommunikation entstand, oder die Sprachentwicklung mit einer schon bestehenden Intelligenz begründen. Eine solche Primitivsprache der Frauen - auf die wir später noch ausführlich zurückkommen werden - muß freilich eher als eine Voranpassung einer später zur Benennung fähigen Sprache gelten. Erst auf dieser Stufe könnte man den Beginn der für den Menschen charakteristischen höheren Intelligenz ansetzen. Wenn man sich den Ablauf des graduellen Spracherwerbs im Sinne unserer bisher skizzierten These vorstellt, könnte der heranwach­ sende männliche Präsapiens, bei dem nach seiner Pubertät Laute kaum noch eine Rolle spielten, auf einer späteren Entwicklungsstufe seine angeborene Befähigung dann doch weiter ausgebaut haben. Die beim jugendlichen Präsapiens noch stärker als im späteren Leben vorhandene kindliche Neugierde hätte bei der Entdeckung noch unbekannter Gegenstände unausbleiblich zu einem »Was-ist-denndas«-Gesichtsausdruck und zu Ausrufen geführt. Gab das betref­ fende »Ding« ein Geräusch von sich, konnte man es nachahmen und es so benennen; gab es kein Geräusch von sich, konnte man es wenigstens durch Exklamationslaute bezeichnen. Auf diese Weise dürften auch die erwachsenen Präsapiens-Männer sprachschöpferisch tätig geworden sein, und zwar zu einer Zeit, als die Wechselwirkung zwischen Sprachvermögen und dessen zentral gesteuerter Nervenversorgung bereits zur Vermehrung der Gehirn­ masse geführt hatte und die Voraussetzungen für Symbolisierungs­ prozesse gegeben waren.

Zusammenfassend könnte man also sagen: Während der männliche Homo präsapiens seine allmählich zunehmende Intelligenz in Rich­ tung auf Befriedigung der Neugierde und adulte Äquivalente des Spielens verwendete, erstreckte sich das weibliche Gegenstück der Intelligenz mehr auf Notwendigkeiten des Lebens (Pflegetrieb, 79

Sammeln von Nahrung und deren Zubereitung, aber auch starkes Geselligkeitsbedürfnis). Diese Phase deutet den Beginn eines Weges an, von dem aus die kognitiv-intellektuellen Prozesse der beiden Geschlechter eine verschiedene Richtung nahmen. Da aber die Sprachbefähigung der Frau eine stammesgeschichtlich offensichtlich ältere Geschichte hat, mag dieser Vorsprung in noch jetzt erkennba­ ren geschlechtsbedingten Unterschieden erhalten geblieben sein. (Dieser Unterschied hat unter heutigen Verhältnissen keinen An­ spruch auf Totalität. Es handelt sich hier mehr um einen differenzier­ ten Nachdruck. Die »maskuline« Intelligenz ist der »femininen« Sprachgewandtheit genauso fähig wie die »feminine« der geistigen Ausarbeitungsweisen des »maskulinen« Raumsinnes; schon die baumbewohnende Vergangenheit allein bedingt dies.) Diese Erklärung der geschlechtsdifferenzierten Sprachentwick­ lung hatte uns der Legasthenie und ihrem stammesgeschichtlichen Ursprung zwar einen Schritt nähergebracht. Gleichzeitig aber hatten wir uns schon in weitere Probleme verstricken lassen, die uns nun nicht mehr losließen: Was war das auslösende Moment für die Entwicklung der Sprache? Und wie entwickelte sie sich? Wie ent­ stand der menschliche Sprechapparat?

80

Kapitel V

Bausteine des Zufalls oder Wie das Instrument der Sprache zustande kam

Nichts kann in der Bewertung der den biologischen Mechanismen zugrundeliegenden entwicklungsgeschichtlichen Bedeutungen zu weitgehenderen Fehlschlüssen führen als die Wechselbeziehung zwischen Organ und Funktion eines in der geologischen Gegenwart vorkommenden Lebewesens. Der Kehlkopf ist ein geradezu ideales Beispiel dafür. Seine derzeitige Funktion beim Sprechen erlaubt keinen Zweifel in bezug auf den den menschlichen Verhältnissen angepaßten Mechanismus und seinen sozialen Zweck. Seine histori­ schen, sich über zahlreiche geologische Perioden entfaltenden Funk­ tionsmerkmale hatten jedoch ganz andere »Ziele«.

Der menschliche Stimmapparat ist heute ein kompliziertes Sy­ stem, das mit Hilfe der veränderlichen Spannung der beiden neben­ einanderliegenden, elastischen Stimmbänder, mehrerer Resonanz­ kästen- Nase und Mundhöhle-und eines Blasebalgs - Lunge - Laute produzieren kann, deren Variationsmöglichkeiten - vor allem durch Zähne, Lippen und Zunge - geradezu astronomische Größen errei­ chen. Beinahe täglich werden in unserer Sprache neue Wörter ge­ prägt; wenn diese mit den in anderen Weltsprachen neu auftauchen­ den Wörtern multipliziert werden und man das Resultat dem Spei­ cher aller bekannten modernen und ausgestorbenen Sprachen hinzu­ fügt - und auch an die Gesangsstimme denkt -, dann hat man eine ungefähre Vorstellung von der Leistungsfähigkeit der menschlichen Sprachwerkzeuge. Wenn wir uns aber der Entwicklungsgeschichte der an der Her-

vorbringung von Sprachlauten beteiligten Organe zuwenden, finden wir das erstaunliche Phänomen, daß ursprünglich nicht ein einziges dem Zweck der Kommunikation gedient hat. Alle diese Teilsysteme haben sich durch natürliche Auslese zur Übernahme anderer Funk­ tionen in früheren Lebewesen herausgebildet. Aufgrund zahlreicher Fossilienfunde haben wir eindeutige Be­ weise, daß einige Fischarten in der Devonischen Periode des Paläo­ zoikums (ungefähr 400 bis 350 Millionen Jahre vor unserer Zeit) durch veränderte Umweltbedingungen, wie z. B. eine allmähliche oder jahreszeitlich bedingte Austrocknung von Marschen, mehr oder minder langfristig auf dem Festland weiterlebten. Auch die Verlockung reichhaltigerer Nahrung in Küstengebieten könnte all­ mählich zu einem Standortwechsel beigetragen haben. Einige Fische entwickelten durch geringfügige morphologische Abweichungen eine Tasche im Schlund, die es durch Umwandlung des in ihr befindlichen Epithels ermöglichte, Sauerstoff aus der Luft zu absor­ bieren, während die Kiemenatmung ihre Funktion wieder über­ nahm, sobald das Tier ins Wasser zurückkehrte. Die Speicherung von Luft in Körperhöhlen war von Fischen jedoch schon vor dieser Periode praktiziert worden. Um sich in einer dreidimensionalen Welt zurechtzufinden, hatten sie luftenthaltende Schwimmblasen ausgebildet. Ein Teil des im Wasser enthaltenen Sauerstoffs wurde, nachdem dieser vom Blut der Kiemen aufgenommen worden war, an die Membranen der Schwimmblase abgegeben, wo er durch Diffusion den vorhandenen Raum ausfüllte. Auch heute gibt es noch mehrere Fischarten, die über primitive Lungen verfügen. Sie befinden sich neben den Kiemen und ermöglichen ein Überleben längerer Trockenperioden in heißen Gegenden. Diese Dualität der Sauerstoffaufnahme war wahrscheinlich die Vorbedingung für die Entstehung von Landtieren. Die im Rachen (Pharynx) befindliche, sich langsam erweiternde Tasche entwickelte sich allmählich zu Lungen. Um den Eintritt von Nahrung in die Lungen zu vermeiden - das sich weiterhin auf Gasabsorption spezia­ lisierende Epithel war zu verwundbar, um eine Berührung mit festen Partikeln zu gestatten -, bildete sich ein von einem Schließmuskel umgebener Schlitz. Das Schema dieser Anordnung erhielt sich im 82

wesentlichen bei allen folgenden auf dem Land lebenden Arten in der Form von Lunge und Kehlkopf (Larynx). Im Laufe weiterer Jahrmillionen wurden noch andere lebenswich­ tige Funktionen den veränderten Umweltbedingungen angepaßt. Fische erhalten Informationen über die Qualität ihrer Nahrung mittels ihres Geruchssinnes; auch kann dieser über die geographi­ sche Struktur ihres Territoriums Aufschluß geben: Zu- oder Ab­ nahme der Konzentration von riechstoffenthaltenden Chemikalien ermöglichen die Orientierung. Um einen optimalen Empfang von Signalen aus der Umwelt zu gewährleisten, mußte das Geruchsorgan aber von den die Nahrung weiterleitenden Passagen separiert wer­ den. Diese Isolierung blieb auch dann erhalten, als Fische sich zu Amphibien und Landtieren entwickelten, bei denen die Geruchsin­ formationen durch Luftströme vermittelt wurden. Bei Fischen dienen einfache Nasenlöcher als Eintrittspforte für Wasser, das dann ein für Gerüche sinnesempfindliches (olfaktori­ sches) Epithel umspült. In einer späteren evolutionären Phase bildete sich ein Kanal, der das Geruchsorgan mit den Urlungen verband. Hier fällt bereits die Präadaptation für die Atmung auf, da Gerüche mit dem Luftstrom ein- und ausgepumpt werden müssen. Diese Urlungen der Fische übernahmen die Funktion eines sauer­ stoffabsorbierenden Organs. Was die Fische in Ausnahmefällen zunächst als Behelfsorgan benutzten - z. B. bei ihren zeitweiligen Aufenthalten auf dem Land -, wurde allmählich komplizierter, bis es den hohen Funktionsgrad der Lungen von Säugern und Vögeln erreichte. Der früher erwähnte Schlitz und die ihn umgebenden Schließmus­ keln bei Lebewesen, die sich zu Landtieren entwickelten, stellen die evolutionären Vorgänger der menschlichen Stimmritze dar. Zu­ nächst hatten die Verstärkung und Individualisierung des den Schlitz umgebenden Muskelgewebes freilich nur die Aufgabe, den Eintritt von Nahrung in die Lungen zu verhindern. Mit Kommunikation hatte dieser sozusagen verbesserte »Schaltplan« noch nichts zu tun. Am Ende dieses Hunderte von Millionen Jahren langen Pfades finden wir den menschlichen Kehlkopf-einMeisterwerkderNatur, das die Komplexität lautproduzierender Instrumente bei weitem

83

übertrifft. Auch wenn uns Fossilienfunde fehlten und heute noch lebende Fisch-Landtier-Ubergangsformen nicht vorhanden wären, besäßen wir mit der embryonalen Entwicklung Hinweise auf die allmähliche Entstehung unseres Kehlkopfs. Wenn der menschliche Embryo die Länge von 5 mm erreicht, bildet sich in der Wand des Rachens ein Schlitz, ähnlich der äquivalenten, von einem Schließ­ muskel kontrollierten Öffnung der heute noch lebenden Lungenfi­ sche. Der sich beim Embryo später entwickelnde Kehlkopf spiegelt in den sukzessiven Stadien bis zur völligen Ausreifung des Stimmap­ parats zur Zeit der Geburt die gesamte, oben beschriebene evolutio­ näre Geschichte wider. Der Kehlkopf des Menschen ist eine äußerst komplexe Struktur, die sich in der Nachbarschaft des Rachens und der Speiseröhre befindet. Der Kehlkopf besitzt eine trichterartige Form. Am Eingang befindet sich eine halbrunde, etwas ausgezogene Klappe (Epiglottis), die als Eingangsventil funktioniert. Sie führt zu einer ein wenig ausgebuch­ teten Kammer (Glottis). Am unteren Ende des Larynx sind die Stimmbänder angesetzt. Weiter gehören zu diesem Organ noch die stützenden Knorpel, Bindegewebe und die die Vokalisierung beein­ flussenden Kehlkopfmuskeln. Die Position der Epiglottis ist verti­ kal, daher ist der Zugang zur Glottis und schließlich zur Lunge offen. Beim Schlucken schließt die klappenartige Epiglottis den Zugang zur Glottis, so daß der Nahrungsbrei in Rachen und Speiseröhre gesteu­ ert wird. Wenn wir die Leistungsfähigkeit des menschlichen Stimmappa­ rats und seine mechanische Vervollkommnung betrachten, fällt es unserem kausal orientierten Denken schwer, diesen nicht als ein dem menschlichen Bedürfnis nach Kommunikation angepaßtes Endpro­ dukt anzusehen - eine »clevere« Manipulation der Natur. Die Schritt für Schritt als Vorläufer des Sprechapparats favorisier­ ten Variationen, die ihren Ursprung einem nahezu unendlichen Reservoir an Entwicklungsmöglichkeiten verdanken, stellten ver­ besserte Konstruktionen dar, um den jeweils gestellten Anforderun­ gen gerecht zu werden: Die mit einem erhöhten Sauerstoffverbrauch verbundene Warmblütigkeit benötigte Lungenoberflächen mit einer 84

entsprechend vermehrten Luftzufuhr. Als sich die Möglichkeit er­ gab, den ausgeatmeten Luftstrom durch verschieden geformte Wi­ derstände in modulierte Geräusche umzuwandeln, wurden Gase zum erstenmal in der Entwicklungsgeschichte für eine systematische Kommunikation verwendet. Demgegenüber zeigen Geräusche der Insekten, die Körperflächen gegeneinanderreiben, eine Invarianz, die nur ein »ich bin da« oder »ich bin nicht da« vermitteln. Anfänglich war der zu den Urlungen führende Schlitz ein Ein­ gangsventil, dessen Funktion es war, Luft einzulassen und feste Stoffe auszuschließen. Erst als die höher Entwickelten unter ihnen zu Brachiatoren11, wurden, deren Arme als Mittel der Fortbewegung dienten, entwickelten sich die Stimmbänder, die sich am unteren Ende des Larynx befinden und in ihrer Arbeitsweise einem Luftaus­ trittsventil entsprechen. Gerade in dieser Phase wurde ein Luftaus­ gangsventil zur absoluten Notwendigkeit: Es fiel ihm die Aufgabe zu, das Ausströmen der in den Lungen angesammelten Gase zu verhindern. Diese Mechanik ermöglichte eine effektivere Ausnut­ zung der muskulären Energie der Arme während des Von-Ast-zuAst-Schwingens wie auch des Anhaltens an festen Objekten, die sich über dem Kopf befanden; aber in keiner Weise hatte diese Anord­ nung etwas mit Kommunikation zu tun. Nur als Folge einer Überlegung im nachhinein kann man hier eine latente Möglichkeit oder - aus biologischer Sicht - eine Präadapta­ tion erkennen. Es scheint uns, als sei der Grundstein für eine bestimmte Eigenschaft eines künftigen Lebewesens schon lange vorher gelegt worden und als hätte sie nur auf eine günstige Gelegen­ heit gewartet, um sich zur vollen Vielfalt ihrer Möglichkeiten zu entwickeln. Aber die Natur hat weder einen Zweck noch eine Absicht; sie wirft x-mal ihre »Würfel«, wobei das X eine astrono­ misch große Ziffer darstellt, und bei so vielen Versuchen ist es kein Wunder, wenn dabei gelegentlich ein Haupttreffer herauskommt. Um nun die Funktion des Ausgangsventils besser zu verstehen, müssen wir uns mit dem Atem-Mechanismus näher befassen. Die Lungen haben keine Muskeln; sie sind passive, elastische Säcke, die * Tiere, die sich mit Hilfe der Arme fortbewegen.

«s

an der Innenseite des Brustkorbs befestigt sind. Eine blasebalgartige Aktion erlaubt es, daß durch den Kehlkopf Luft ein- und ausge­ atmet wird. Bei Säugern wird dies durch einen dehnbaren Brust­ korb und eine Reihe von kuppelförmigen Muskelbündeln erreicht. Ruhiges Atmen ohne Anstrengung ist das Ergebnis der sich abwech­ selnd zusammenziehenden und erschlaffenden diaphragmatischen (Zwerchfell) wie auch der ebenso funktionierenden interkostalen (Zwischenrippen) Muskeln. Das Zwerchfell, geformt wie eine umge­ stülpte Schüssel, ist an den festen Strukturen der Wirbelsäule und des Sternum wie auch den beweglichen unteren Rippen befestigt. Wenn es kontrahiert, wird die »Kuppel« heruntergezogen; dies führt zu einer Vergrößerung von Breite und Tiefe des Brustkorbs - Luft wird eingesogen. Wenn das Zwerchfell erschlafft, bewirkt die Elastizität des Brustkorbs eine Rückkehr zur vorherigen Ruheposition - Luft wird ausgeatmet.

Jetzt können wir zu den baumbewohnenden, armschwingenden Affen zurückkehren. Um ihre Gliedmaßen optimal gebrauchen zu können - bei Aktionen wie Greifen, Festhalten, Klettern -, ist die Ruhigstellung des Brustkorbs - Vermeidung seiner Ausdehnung und Kontraktion, die mit dem Atmen verbunden sind - eine absolute Notwendigkeit. Auf diese Weise wird eine feste Basis für die arm­ bewegenden Muskeln geschaffen. Der bei diesen Tieren wirkende Selektionsdruck veränderte den Kehlkopf dergestalt, daß er die Luftmasse in den Lungen variabel regulieren konnte. Man muß sich die hangelnde Fortbewegung eines Gibbons vor­ stellen, wie er von Baum zu Baum schwingt, sich dabei an den Ästen festhält, und wie die Arme es schaffen, sein nicht unbeträchtliches Körpergewicht zu tragen. Eine außergewöhnliche Anstrengung der oberen Körpermuskeln ist erforderlich, besonders des Pectoralis major, der die Arme mit der Vorderseite des Körpers verbindet, und des Latissimus dorsi, der das gleiche mit der Kehrseite des Körpers vollbringt. Die Wirbelsäule stellt einen starren Anker dar, der dem Latissimus eine Annäherung des Körpers an die sich am Ast festhal­ tenden Arme ermöglicht. Aber der Pectoralis major nimmt seinen Ursprung von den unteren Rippen, und diese sind beweglich - beim 86

Atmen bewegen sie sich auf und ab. Wenn nun die Rippen eine ebenso feste Basis wie die Wirbelsäule bilden sollen, muß es einen Mechanismus geben, der dies ermöglicht. Dies könnte durch die Bildung von kräftigeren Bauchmuskeln erreicht werden. Doch wäre dazu ein vergrößerter Energieverbrauch nötig, wie auch eine Änderung bestehenderStrukturen. Einfacher ist da schon folgende Lösung: Die Versteifung der Rippenverbindun­ gen gewährt den Muskelbündeln den nötigen Halt, während eine maximale Leistungssteigerung dadurch zustande kommt, daß sich die Glottis temporär verschließt und so das Atmen und die damit verbundene Bewegung der Rippen verhindert. Wenn sich nun der Pectoralis major anspannt, bringt er den Körper in die Nähe der sich am Ast festhaltenden Arme, ohne daß seine Leistungsfähigkeit durch eine bewegliche Basis beeinträchtigt wird. Das jedem Sprung folgende Festhalten am Ast ist automatisch mit einem Verschluß der Glottis verbunden. Reste dieses Mechanismus sind auch beim Menschen noch vorhanden. Obwohl er sich nicht mehr von Baum zu Baum schwingt und sich an Asten festhält, kann er den gleichen Effekt bei Turnübungen - z. B. am Barren - erzielen. Auch wenn er sich anschickt, eine schwere Last zu heben, verschließt der Mensch seinen Larynx schon kurz vor der Kraftanstrengung wie einst seine Primatenvorfahren. Ein anderes interessantes, schon früher erwähntes Überbleibsel unserer auf Bäumen lebenden Vorgänger ist der Greifreflex des menschlichen Neugeborenen. Dieser war von der Notwendigkeit für den Affenjungen diktiert, sich am Pelz des Muttertieres und später an Ästen festzuhalten. In den ersten sechs Wochen ist das Neugeborene fähig, sich mit beiden Händen und seinem ganzen Körpergewicht an einem Stab oder an den Fingern der Eltern anzu­ klammern. Eine Bestätigung des obenerwähnten Mechanismus vermittelt das Laryngoskop. Wenn eine Person eine Sprungfeder mit einer Hand zusammenpreßt, sieht man am Anfang der Anstrengung, wie sich die Stimmbänder mit einem Knall schließen. Der Verschluß der Glottis vollzieht sich aber nicht nur bei einem Kraftakt. Jede schwierige, präzise Armbewegungen erfordernde Aktion bewirkt eine Einstel87

lung des Atmens und den Verschluß der Lippen. Obwohl wir den unteren Teil des Kehlkopfs als »Stimmbänder« bezeichnen, hatten diese Strukturen auch bei den hochentwickelten nichtmenschlichen Primaten Funktionen, die mit der Modulierung der Stimme nichts zu tun hatten. Die primäre Aufgabe des Kehlkopfs war es ursprünglich, wie bereits erwähnt, feste Stoffe von den Luftwegen fernzuhalten; später kam die durch Verschluß der Atem­ wege ermöglichte Fixierung des Brustkorbs hinzu. Beim Menschen fand eine Weiterentwicklung statt, wobei sich der Kehlkopf zu einem Stimmkasten und das ursprüngliche Ausgangsventil zu vibrierenden Stimmbändern umwandelten. Doch hat er die früheren Funktionen des Kehlkopfs noch nicht ganz verloren, die ihm bei physischen Anstrengungen von Nutzen sind. Kombinationen von sich verkettenden Umwandlungen findet man auf allen Stufen der evolutionären Entwicklung. Mechanische Bedingungen, wie sich diese aus dem Verweilen auf Bäumen ergeben, waren für die Verstärkung des Ausgangsventils des Kehlkopfs-die späteren Stimmbänder - verantwortlich; gleichzeitig ermöglichte die Benutzung der mit größerer Kraft und Geschicklichkeit ausgestatte­ ten Arme zur Fortbewegung eine aufrechte Haltung. Man könnte darin, d. h. in diesem Stadium der Evolution, eine Nebensächlichkeit sehen, tatsächlich aber war die Vorbedingung für die spätere auf­ rechte Haltung des Menschen in dieser Phase schon gegeben. Die auf Bäumen lebenden Primaten müssen, wie gesagt, präzise schließende Ausgangsventile haben, um ein Entweichen der Luft aus den Lungen zu verhindern. Dieser morphologisch bedingte Reak­ tionsmechanismus übertrug sich auf die Urmenschen, die die Fähig­ keiten der Brachiatoren (sich mit Hilfe der Arme fortzubewegen) noch besaßen, diese aber in ihrer neuen Umgebung nicht mehr voll ausnutzten. Etwaige Lautäußerungen dieser Menschenart, bei denen die Protosprache ihren Anfang nahm, müssen wegen der scharfkan­ tigen Beschaffenheit des Ausgangsventils eine harsche und schrille Tonqualität gehabt haben, die wahrscheinlich in unseren Ohren disharmonisch oder zumindest mißlich klingen würde. Überdies hatte die Luftröhre des Urmenschen einen größeren Durchmesser als 88

die des Homo sapiens, und infolgedessen muß die Stimme lauter gewesen sein. Je weiter die Nachfolger der Brachiatoren sich in ihrer Entwick­ lung von ihren Vorgängern entfernten, desto weniger war die präzise Schließung des Ausgangventils eine Notwendigkeit. Die weniger anstrengende Tätigkeit der Erzeugung von Lauten bewirkte eine Verminderung der Spannung der Stimmbandmuskeln. Die Stimm­ bandkanten wurden dadurch runder und weniger hart - was eine voller und sanfter klingende Stimme entstehen ließ. Gleichzeitig verlängerten sich auch die Falten, die die Vokalmuskeln überdecken; dadurch ergaben sich vergrößerte und verfeinerte Modulationsmög­ lichkeiten: Der Weg zur menschlichen Stimme war frei. Zwar sind auch bei Säugern vereinzelt Muskelbündel bereits an den Stimmbändern angesetzt, doch erreichen diese erst beim Men­ schen eine verbreiterte und komplexere Ausbildung, die vielfältige Form- und Spannungsänderungen der Stimmbänder erlauben. Daß der menschliche Kehlkopf nicht die einzige Möglichkeit zur lautmodulierenden Kommunikation darstellt, ersieht man aus dem Stimmapparat (Syrinx) der Vögel. Dieser ist sowohl morphologisch als auch topologisch vom menschlichen Kehlkopf verschieden, aber dennoch fähig, unendlich mannigfaltige Laute zu produzieren. Das geht so weit, daß manche Vögel menschliche Laute nachahmen können. Man könnte nun fragen, warum die Vögel diese ungewöhnlich stark ausgebildete, lautmodulierende Fähigkeit nicht zu einem Äqui­ valent der menschlichen Sprache weiterentwickelt haben. Analoge Überlegungen könnte man hinsichtlich der Intelligenz der Affen anstellen. Für beides gibt es eine grundsätzliche Erklärung: EinTier, das ein Potential für eine spezielle Eigenschaft besitzt, benutzt diese nur insofern, als Umweltzustände dies erfordern. Wenn es sein muß, balancieren Seelöwen Bälle auf ihren Nasen; Bären lernen radfahren; Schimpansen erwerben die Gesten der menschlichenTaubstummensprache usw. Aber diese interessanten Zurschaustellungen haben in der freien Wildbahn keinen Anpassungswert. Die Entwicklung von semantisch-begriffsbeinhaltenden Lauten würde für Vögel einen überflüssigen Energieverbrauch darstellen. »9

Den in beinahe unvorstellbar kleinen Schritten erfolgenden Verän­ derungen in der Morphologie der Organe, in deren Folge sich der menschliche Kehlkopf bildete, und der synchronisierten Verzah­ nung der Funktionen, die zur Sprache führten, kann man mit einer kurzen Beschreibung kaum gerecht werden. Die vom Kehlkopf allein produzierten Laute hören sich stumpf und monoton an, wie man im Labor jederzeit zeigen kann, indem man durch ein Modell Luft hindurchbläst. Erst durch ein Zusammenwirken von Rachen, Mund, Lippen, Zähnen, Zunge, weichem Gaumen und Nase mit ihren Nebenhöhlen wird der vibrierende Luftstrom modifiziert und auf diese Weise der uns selbstverständliche Reichtum verfeinerter Sprachlaute möglich. Ein anderer zur Qualität der menschlichen Sprache beitragender Faktor ist das graduelle Absinken des Kehlkopfs in die Tiefe der Halsstrukturen. Man erkennt solche Vorgänge noch an fossilen Kieferknochen, beginnend mit dem Rhodesien-Menschen bis zum Neandertaler, des weiteren an nachweisbaren Relikten dieserphylogenetischen Prozesse bei verschiedenen Rassen, von den australi­ schen Ureinwohnern bis zu den Europäern, bei denen der Kiefer allmählich zurückweicht. Beim Übergang zum Sapiens-Typ verrin­ gerte die Zunge, wie sich an Schädelbefunden unschwerablesen läßt, ihr Volumen, aber langsamer als die Mundhöhle, so daß sich die Zunge nach oben krümmte und sich weiter in den Rachen schob. Dieselben Veränderungen des Stimmapparats, die in der Entwick­ lung vom Homo präsapiens zum Homo sapiens stattfanden, sieht man heute noch im Wandel des Embryo zum Fötus, zum Säugling und schließlich zum erwachsenen Menschen. Die Folgen der Verlagerung des Kehlkopfs tiefer in die Halsstruk­ turen hinein beschrieb S. L. Du Bruhl (1958). Er zeigte, daß bei Menschen der Abstand von weichem Gaumen und Kehlkopf größer ist als bei Affen. Die dadurch erfolgende »Befreiung« der Epiglottis von dem überhängenden Gaumensegel verschafft der menschlichen Stimme ein größeres Resonanzpotential. J. Hill (1972) kam bei ihren Forschungen zu der Überzeugung, daß die aufrechte Haltung wesentlich zur menschlichen Sprachbefä­ higung beigetragen habe: Der Stimmapparat sei dadurch so verän90

dert worden, daß nicht mehr nur strukturlose Laute wie das Bellen, Brüllen und Kreischen der Affen möglich wurden. Die muskuläre Kontrolle des Gaumensegels erlaubte es dem Menschen in zuneh­ mendem Maße, den vibrierenden Luftstrom in die Nase zu leiten, so daß Nasallaute gebildet werden konnten. Auf den ersten Blick scheint die Entwicklung des menschlichen Stimmapparats, wie schon erwähnt, kein festes Ziel gehabt zu haben, irgendwie muß sie sich in die jeweilige Lebensnotwendigkeit einge­ fügt haben. Das auffälligste Merkmal der Entstehung des Kehlkopfs ist - und dies trifft auf die meisten Organe zu - die außerordentlich

zweckmäßig erscheinende Ausnutzung des biologisch vorhandenen Materials. Man könnte dieses Prinzip mit einem sparsamen Bastler vergleichen, der beim Bau einer technischen Vorrichtung verwendet, was er in seiner Werkstätte gerade finden kann. Da sie vorher anderen Zwecken gedient haben mögen, muß er verschiedene Teile vielleicht umarbeiten. Wenn man dann aber das fertige Produkt bewundert, merkt man nicht mehr, wie viele Details bei anderen Produkten nützliche Aufgaben erfüllt haben. Bei diesen Überlegungen wurde zum erstenmal klar, daß sich unsere weiteren Forschungen möglicherweise in Richtung auf den Ursprung der Sprache zubewegen würden. Bis dahin hatten uns solche Gedanken nicht beschäftigt. Die Versuchung, der so viele Forscher vor uns zum Opfer gefallen waren, trat an uns heran. Wenn der Kehlkopf ein Ergebnis des Zufalls ist, muß dann sein Produkt, die Sprache, nicht ebenfalls ein Zufall sein? Ergaben sich aus der Entwicklungsgeschichte des Kehlkopfs nicht zwingend folgende Fakten? Im Laufe der Entwicklung der Affen zu Brachiatoren, die auf Bäumen lebten, bildete sich im Kehlkopf ein Ausgangsventil; bei ihren Nachfolgern, die die Savanne zu ihrem Habitat machten, verlor das AuSgangsventil seinen Nutzwert; es war nun da, hatte die Fähigkeit, Geräusche zu verursachen, warum sollte es nicht - wir erinnern an den vorerwähnten Bastler - gerade für diesen Zweck genutzt werden? In anderen Worten: Die Sprache konnte das Zufallsprodukt eines Organs sein, das vorher anderen Zwecken gedient hatte. Wenn aus dem Mund des Präsapiens modu9i

lierte Geräusche kamen, war es nur ein kleiner Schritt, diese Fähig­ keit (wie ein Papagei) dazu zu benutzen, um Tierlaute nachzuahmen und dann mittels dieser Laute die Tiere zu identifizieren. Ähnliche Gedanken hatten auch schon andere Forscher gehabt. Und wir glaubten, daß diese These sich biologisch weitgehend vertreten ließ. Nur etwas schien uns nicht zu stimmen: Wir konnten die geschlechtsbedingte Differenzierung der Sprachbefähigung da­ mit nicht in Einklang bringen. Der weibliche Kehlkopf weicht in einigen Details vom männlichen ab, aber diese unterschiedliche Morphologie konnte in keiner Weise die vorerwähnte Diskrepanz erklären. Da der kindliche Kehlkopf solche Unterschiede nicht aufweist, konnten die verschieden klin­ genden Stimmen der Männer und Frauen als andere Aspekte sekun­ därer Geschlechtsmerkmale angesehen werden. Zu dieser Zeit wuß­ ten wir noch nicht, daß die sanftere Stimme der Frau anderen biologischen Notwendigkeiten folgt. Es wurde uns klar, daß der Kehlkopf keine ausreichenden Hin­ weise auf die geschlechtsbedingte differentielle Sprachleistung geben konnte, und weiter, daß man eineTheoriein bezugauf den Ursprung der Sprache nicht von der Entwicklung eines Teilaspekts der Sprache abhängig machen konnte. Dies bedeutete, daß wir andere Teil­ aspekte der Sprache unter die Lupe nehmen mußten. Wenn uns schon das Organ der Sprache keinen Hinweis zu geben vermochte, vielleicht konnte uns sein Produkt, die menschliche Stimme als Informationsträger, einem Verständnis näherbringen.

92

Kapitel VI

Die Macht wortloser Botschaften oder Notwendige Interimsphasen in der Sprach entwicklung

Nehmen wir an, ein wissenschaftlich interessierter Mensch will die Beschaffenheit des Wassers erkunden. Er vermutet, daß sich dieses aus Elementen zusammensetzt - einen Beweis hat er jedoch nicht. Er untersucht'die Eigenschaften des Wassers und dessen physische Erscheinung in flüssiger, verdampfender und vereister Form, um die vermuteten Elemente zu identifizieren. Aber seine Bemühungen sind vergeblich, bis eines Tages bei einem Laborunfall elektrisch geladene Drähte in ein Wasserbecken fallen. Plötzlich gewinnt unser Individuum die Einsicht, daß die aufsteigenden Gasblasen die Ele­ mente des Wassers enthalten. Aber zu seiner Enttäuschung findet der wißbegierige Mensch, daß einerseits die Wasserstoff- und Sauer­ stoffgase, aus deren Vereinigung Wasser entsteht, und andererseits das Wasser selbst Eigenschaften besitzen, die nichts miteinander gemeinsam haben. Was auf der einen Stufe existiert, scheint dem menschlichen Verstand in keinem Zusammenhang zu stehen mit dem, was auf der nächsten Stufe geschieht. In einer ähnlichen Lage befindet sich ein Forscher, der aus heute gesprochenen Sprachen ihre Anfänge erschließen will. Die modu­ lierte Lautproduktion und die offensichtlich dadurch bewirkten Kommunikationsvariationen müssen wohl als eine nur für den Homo sapiens gültige Wechselbeziehung angesehen werden. Dies bedeutet, daß Laute in einer früheren Phase der Menschwerdung Anwendung fanden, die sich von den heutigen wesentlich unter­ schieden. In den nachfolgenden Stadien dürfte sich eine Leistungs­ symbiose zwischen Denken und Sprechen ergeben haben, in der sich 93

beide Betätigungen an- und miteinander entwickelt und sich gegen­ seitig »hochgetrieben« haben. Ein solcher sich selbst aufschaukeln­ der (positiv rückgekoppelter) Prozeß könnte schließlich eine von menschlichen Umweltbedingungen unabhängige Verselbständi­ gung von Sprachmerkmalen zur Folge gehabt haben, die in keiner Weise auf die früheren Sprachgesetzlichkeiten zurückgeführt wer­ den können. Sie sind im wahrsten Sinne ein Novum. Und daraus ergeben sich auch die Hürden, die den Weg zu ursprünglichen Sprachgewohnheiten so erschweren. Wir beginnen unsere Überlegungen bei der derzeit höchstentwikkelten Sprachphase, bei der die Lautgestalten Träger - und nicht mehr als das - von exakten, eindeutigen Gedankenvorstellungen sind. Dies bedeutet, daß hier Gedanken und die ihnen eigentümli­ chen Operationen die Sprache bestimmen. Auf einer früheren Stufe ist man geneigt, die Sprache als getreue Widerspiegelung der Wirklichkeit anzusehen. Das Lautgebilde steht somit für ein reales Ding. Als Folge dieser Einstellung werden Worten Eigenschaften zugeschrieben, als ob sie lebende Einheiten wären. Solche Sprachgewohnheiten sind so tief in uns eingebettet, daß wir sie heute noch ohne Zögern anwenden, obwohl wir bei näherer Untersuchung einsehen, daß wir semantischen Unsinn reden. Auf einer noch früheren Stufe mag die Sprache nicht mehr nur ein Gefüge von Zeichen für Gegenstände, Sachverhalte und Sinnbilder der Wirklichkeit gewesen sein, sondern etwas, das mit den Dingen verbunden ist, die sie darstellt. Worte besitzen dann eine magische Qualität, die weitgehende Folgen für das soziale Leben primitiver Stämme hat. Fester (1974) fand, daß die sprachlichen Kennzeichnungen für Merkmale der Landschaft, für Täler, Ebenen, Schluchten, Quellen, Mündungen, Bäche und Flüsse, Berge, Gipfel und Höhen überall auf die gleichen Erstprägungen zurückgehen, gleich, welche Sprache vor Ort gesprochen wird. Solche Wörter stellen Projektionen vom menschlichen Körper her in die Landschaft hinaus dar. Ein Schritt-für-Schritt-Zurückführen der Wortanwendung er­ möglicht es uns, eine gleichlaufende anatomische und physiologi94

sehe Verschiebung im Zentralnervensystem zu verfolgen. Die logi­ sche Denkweise unserer Sprache, die von der Neurinde gesteuert wird, hat als ihren Vorgänger ein System des Kundtuns von Gefüh­ len, das von dem älteren Zwischenhirn kontrolliert wird. Jede der zahlreichen Übergangsstufen ist in unserem Sprachgebrauch noch reichlich vorhanden. Bei Ausdrücken, die sich auf intimere zwischenmenschliche Ver­ hältnisse beziehen, wie z. B. bei Zärtlichkeiten zwischen Liebenden, kommt es nicht so sehr auf Worte an, die als legitime Träger eines präzise definierten Begriffs fungieren; vielmehr vermitteln diese gefühlsgebundenen, phantasievollen Gebilde Assoziationen und Hyperbeln, die durch Wertüberstrahlung (»mein Herz«, »mein Schatz«) einen magischen Glanz verbreiten. (Nebenbei sei erwähnt, daß die romantische Liebe mit ihrer zauberhaften Atmosphäre nur einen kleinen Teil der Menschheit erfaßt hat. Wie wir dieses Phäno­ men in einem früheren Werk »Sex und Status« beschrieben haben, weist dies auf die verstärkte Infantilisierung der Menschen des westlichen Kulturkreises hin (vgl. auch S. $7). Deshalb kann man in solchen Trends auch weniger einen Fortschritt als ein Durchbrechen archaischer Reaktionsmechanismen sehen, die - gemäß unserer These - andere, nicht der romantischen Liebe dienende Funktionen besaßen.) Es folgen dann auf der nächst niedrigeren Stufe wortlose Geräu­ sche, wie sie von Tieren hervorgebracht werden können. Je nach Arten läßt sich ein »Kommunikationslexikon« (bei höheren Affen bis zu einhundert verschiedenen Lauten) feststellen, das die Vermitt­ lung von Gemütszuständen zwischen Artgenossen beinhaltet. Neu­ robiologisch werden die Geräusche vom Zwischenhirn gesteuert eine chirurgische Entfernung der Affenneurinde vermindert diese Fähigkeit nicht, im Gegensatz zum Menschen, bei dem einepatholo­ gische Veränderung im Sprachzentrum das Gefühlsleben erheblich beeinträchtigt. Auf einer noch früheren Stufe fehlt den vom Kehlkopf produzier­ ten Lautgebilden jede kommunikative Bedeutung. Es handelt sich dann um spontan produzierte Geräusche, wie sie etwa nach Verlet­ zungen hervorgebracht werden. Man kann annehmen, daß es sich

95

hier um einen Zustand der Übererregung handelt, der die Kehlkopf­ ventile verkrampft und dadurch den mit einem Schmerz verbunde­ nen charakteristischen Schrei hervorruft. Schließlich können schmerzvermittelnde Laute während des Kampfes zwischen Artge­ nossen um ein Revier signalisieren, daß der Wettbewerb zu beenden ist. Diese Progression in der Bedeutung von Lautgebilden - Schmerz, Gefühl usw. - schien uns die Richtung für unsere weiteren Untersu­ chungen anzugeben: Läßt man nämlich die auf jeder Stufe sich ändernde Anpassung der Funktionen menschlicher Laute außer acht und nimmt man nur das Wort selbst, das in neuerer Zeit zum Träger eines Gedankens geworden ist, unter die Lupe, um seine historischen Wandlungen zurückzuverfolgen, gerät man sehr rasch in eine Sack­ gasse. Statt auf das »Ur-Wort« zu stoßen, das sich, wenn man sich nur weit genug in die Vergangenheit zurückversetzt, als das »Missing link« entpuppt, würde man nur noch mit falschen Prämissen und Werten operieren. Mit anderen Worten: Man sollte weniger den formalen Lautstrukturen Beachtung schenken als der Charakteristik des Kommunikationsaustausches, der durch Lautgebilde erzielt wird.

In den frühesten Phasen der menschlichen Vergangenheit muß eine spezifische Lautvermittlung irgendwann einmal zur unabdingbaren Voraussetzung für die Erhaltung der Spezies geworden sein. Als der Mensch später seine Befähigung, Laute zu produzieren, für andere Zwecke benutzte, verfügte die daraus entstehende Sprache schon über Eigenschaften, die den ursprünglichen Gebrauch der Lautge­ bilde überdeckten. Da es also bei diesen schwierigen biologischen Zusammenhängen eher darum geht, »überkappte«, verborgene Relikte auszugraben, als auf Morphologie, Funktion und daraus resultierende Verhaltens­ weisen eines in moderner Zeit erscheinenden biologischen Systems zu achten, galt unsere Aufmerksamkeit ganz besonders den organi­ schen Aspekten des Sprechapparats. Seine Ausgangsleistung, das gesprochene Wort, hatte für uns in dieser Phase unserer Arbeit nur am Rande Bedeutung. Dies war nach unserer Auffassung Sache der 96

Linguisten, Informationstheoretiker und Kommunikationsexper­ ten: Sie hatten sich um das gesprochene Wort, die Struktur der Botschaft und den Nutzwert der Übertragung zu kümmern. Für sie ist Sprache ein aus biologischen Vorgängen entstandenes Phänomen, das in nachprüfbare Gesetze gefaßt werden kann, die jedoch keine Schlüsse über die biologische Voraussetzung der Sprache zulassen.

Bis zu diesem Zeitpunkt hatten unsere Untersuchungen folgendes ergeben: i. eine artbedingte, ältere, weibliche Sprachbefähigung, deren Funk­ tionen in moderner Zeit ihre ursprüngliche Bedeutung verloren haben; 1. ein artbedingtes, späteres männliches Sprachvermögen, das sich bis heute intakt erhalten hat und das wesentlich auf der beim Mann stärker ausgeprägten, neotenen Neugierde beruht; j. Begleiterscheinungen der Evolution des Kehlkopfs, durch die es zu Lautbildungen kommen konnte. Unsere eigentliche Aufgabe sahen wir nun in der Erforschung der ursprünglichen Funktion der Lautbildung. Zunächst galt es, Formen der Kommunikation zu untersuchen, mit denen Gefühlszustände zwischen Artgenossen vermittelt werden konnten. Am auffälligsten erschien uns der hohe soziale Bindungswert der gesellschaftlichen Verständigung bei allen höheren Primaten: Er resultiert aus primiti­ veren Funktionen bei weniger hochentwickelten Primaten und vie­ len Säugern und trägt zur Regelung des Gruppenlebens bei. Schon aus ökologischen Gründen ist es z. B. notwendig, daß Artgenossen, die Nist- und Nahrungsplätze eines Territoriums für sich beanspru­ chen, die Verteilung und den Besitz dieser Gebiete einander mittei­ len. Artspezifische »Vereinbarungen«, die genetisch fixiert sind und strikt befolgt werden, werden durch verschiedene Sinne vermittelt. Es kann sich bei einer solchen Mitteilung z. B. um eine Warnung handeln, die einfach besagt: »Betreten für Unbefugte verboten«; ihr Nutzwert liegt darin, daß unangepaßte Energieverschwendung als Folge territorialer Streitigkeiten von vornherein unterbunden wird. Andere Kommunikationen tragen zur Mutter-Brut-Bindung und zur Paarungsvorbereitung bei. Auch Mitteilungen über Nahrungs-

97

Vorräte gibt es, doch sind sie unter Säugern nicht allgemein verbreitet. Der hohe Grad an Informationsübermittlung bei gleichzeitig fehlender Sprache, wie er bei Primaten besteht, schien uns also ein geeigneter Ausgangspunkt für unsere weiteren Nachforschungen zu sein. Affen übertreffen andere Tiere nicht nur hinsichtlich des Ge­ fühlsaustausches, sondern auch hinsichtlich der Erzeugung von ohrenbetäubendem Lärm. Je nach Primatenart verfügen sie über fünfzig bis einhundert verschiedene Lautbildungen. Einige davon lassen sich umschreiben mit: bellen, knurren, keuchen, gurgeln, grunzen, heulen, quieken, gellen, lippenschmatzen, Schnalzlaute jugendlicher Affen u. a. m. Der interindividuelle Austausch wird durch eine ebenso große Anzahl an Gesten, bedeutungsvollen Kör­ perstellungen und Grimassen erweitert. Die Lautbildungen der Primaten, die einen möglichen Schlüssel für die menschliche Sprache abgeben könnten, stellen differenzierte Signalgeräusche dar: eine dringend zu beachtende Information (Warnungskreischen beim Sichtbarwerden eines Leoparden); ein drohendes Knurren, um einen Artgenossen zu warnen; Lippen­ schmatzen bei gegenseitiger sozialer Körperpflege usw. In dieser Weise vermitteln die Primaten ihre Gemütszustände, wobei die Intensität der Laute eine Modulation zuläßt und dadurch eine wei­ tere Dimension der Informationsübertragung ermöglicht. In ihrer ausgesprochenen Geselligkeit und gegenseitigen Abhän­ gigkeit ist das Sozialverhalten der höheren Affen ähnlich dem der Menschen. Schimpansenmütter bezeugen ihren Sprößlingen Zärt­ lichkeit, Geduld und Toleranz, indem sie diese tätscheln, sie schmat­ zend küssen oder fest an ihre Brust drücken. Sie spielen mit ihnen und sind vorsichtig beim Anfassen ihrer Kinder. Affenmütter wurden auch beobachtet, wie sie ihre toten Säuglinge bis zu deren Verwesung in ihren Armen trugen. Innige Zuneigung zwischen Familienmitglie­ dern, besonders zwischen Geschwistern, äußert sich in liebevoller sozialer Körperpflege. Jane Goodall berichtet, daß in freier Wild­ bahn aufgewachsene Schimpansen ihrer Mutter bis zu deren Tod nahestanden. Im allgemeinen lebt eine Schimpansengruppe in Frieden miteinan­ der. Streitigkeiten sind relativ selten, doch können zur Schau ge?8

stellte, aggressive Geräusche und Gesten niedrigrangigen Individuen großen Schrecken einjagen: Sie äußern dann Furcht oder Panik und zeigen gleich darauf die allgemein anerkannten Demutsgebärden. Die dominanten Tiere antworten mit Beschwichtigungsgesten. Die Kommunikationsmöglichkeiten der Schimpansen erlauben eine sol­ che Vielfalt an Kombinationen, daß das gesprochene Wort, auch wenn der Stimmapparat von Affen dazu fähig wäre, nichts Wesentli­ ches hinzufügen könnte. Filmbeobachtungen zeigen bei allen Primaten subtile Variationen der Ausdrucksweisen, die für das einzelne Individuum charakteri­ stisch sind und es von anderen unterscheiden. So hängt die Form einer Information davon ab, an welchen Artgenossen sie gerichtet ist. Spezifische Gesten, die eine Attacke intendieren, sind den für Men­ schen charakteristischen Gebärden so ähnlich, daß es keinen Zweifel bezüglich ihrer Natur geben kann. Angriffe kommen zustande durch: Beißen, Stoßen, Schlagen, Kratzen usw. Drohungen werden ausgedrückt durch: intensives Ins-Auge-Starren, ruckweise Bewe­ gung des Kopfes, Laufen mit erhobenen Armen, steifbeiniges Hüp­ fen von einem Fuß auf den anderen usw. Versöhnung, Unterwer­ fung, Besänftigung und Beschwichtigung werden angezeigt durch: Aus-dem-Weg-Gehen, Senken des Kopfes, Ausstrecken oder Schüt­ teln der Hände, Umarmung, Lippenberührung, Tätscheln usw. Viele dieser Gesten sind beim Menschen entweder ganz oder andeu­ tungsweise noch vorhanden. Judith Shirek-Ellefson, eine Ethologin, die Primaten in der freien Wildbahn beobachtet hat, stellte fest, daß bei ihnen Ohren, Schädelhaare, Augenlider, Augenbrauen, Lippen, Zunge, Rumpf und Extremitäten ein höchst kompliziertes, von den Ethologen noch nicht ganz erfaßtes non-verbales Kommunikationssystem darstel­ len. Die Zoologen H. und C. F. Hediger bestätigen, daß der ganze Körper der meisten Säuger einem offenen Buch vergleichbar ist, das von jedem gelesen werden kann, der es versteht. Jeder Körperteil dieser Tiere hat eine informationstragende Bedeutung. Adrian Kortlandt, Zoologe der Universität Amsterdam, schreibt, daß man die Wichtigkeit der Hand des Schimpansen in ihrer Bedeutung für sein Sozialleben kaum überschätzen kann. Er beobachtete, wie ein

99

Schimpanse, der körperlich schwer behindert war, dennoch in seiner Gruppe weiterlebte, ohne daß sich seine soziale Stellung geändert hätte. Wenn aber die Hände des Primaten verletzt sind, ist seine soziale Existenz, zuweilen auch sein Leben im höchsten Grad ge­ fährdet. Die Hand hat für Schimpansen eine ähnliche Bedeutung wie der Stimmapparat für uns. Beim Menschen nuancieren die Hände in vielerlei Hinsicht das gesprochene Wort - ein Zeichen, daß die Sprache eine relativ »junge« Erwerbung darstellt, da frühere Kom­ munikationsmechanismen seit der Menschwerdung nur in geringem Grad regredierten. Die Fähigkeit, mittels der Hand Informationen zu vermitteln, setzt ein gut ausgeprägtes Koordinationsvermögen voraus, das von einer funktionell fortgeschrittenen Region (Zona Rolandi) der motorischen Zentren gesteuert wird. Es liegt nahe, daß eine solche Geschicklichkeit sich nicht auf Kommunikation allein beschränkt. Bereits die Schimpansen benutzen ihre Hände in einer Weise, die den Gebrauch von Werkzeugen antizipiert. (Grashalme oder Holzstäbchen als Verlängerung ihrer Finger, um Termiten zu fangen; Stöcke als Verlängerung der Arme, um sich entweder in den Besitz von Früchten zu setzen, die sich außerhalb ihrer Reichweite befinden, oder durch Hebelwirkung schwere Objekte - Kisten in einem Laborexperiment - zu verschieben; die Anwendung von Pinsel und Farben kann leicht als Vorstufe der sich später entwikkelnden Darstellungs- und Schreibbefähigung des Menschen ange­ sehen werden.) Letzten Endes beruht unsere Technologie zunächst auf einer Vervollkommnung der von der Hand ausgeübten Tätigkei­ ten und erst später auf anderen Fähigkeiten des Körpers (z. B. Sinne). Die mit der Schimpansenhand ausgeführten Gesten können nur im Zusammenhang mit der sozialen Schichtung der Schimpansen völlig verstanden werden. Ein niedrigrangiger Schimpanse nähert sich z. B., vom Hunger getrieben, einem nahrungsbesitzenden, höherrangigen und streckt seine Handfläche aus. Sein Gesicht zeigt Demut. Die Mimik des Bettelns wie auch andere Gesten dieser Art rufen im Beobachter immer wieder das komische Gefühl hervor, wie »menschlich« die Gebärden dieser Tiere sind. Ähnlich drückt sich ein Neuankömmling aus, wenn er an die

ioo

hochrangigen Mitglieder des »Empfangskomitees« seine symboli­ sche Bitte richtet, in ihre Gruppe aufgenommen zu werden. Falls seinem Wunsch entsprochen wird, berühren die Senioren mit ihren Fingerspitzen leicht die Handfläche des Bittstellers. Wenn sich eine Schimpansenmutter entfernen will, wirft sie einen kurzen Seitenblick auf ihr Kind, das dann sofort auf ihren Rücken springt. Befindet sie sich außerhalb des Gesichtsfeldes ihres Kindes, berührt sie es sanft mit den Fingerspitzen. Dieselbe Geste führen auch die Erwachsenen aus, wenn sie einander einladen, mitzukom­ men. Ein Ausstrecken des Beines nach hinten scheint Geduld anzu­ deuten oder die Erfüllung einer Bitte. Der abstrakte Begriff der Ungewißheit wird folgendermaßen ausgedrückt: Der Arm wird hochgehalten, der Ellbogen gebeugt, die Handfläche zeigt nach unten; in dieser Stellung wird der Arm mit einem halbkreisförmigen Schwung dem Gesicht genähert, so daß die Hand die Augenbrauen berührt. Je nach den Umständen bedeutet dies:»Ich bin Ihr ergebener Diener, darf ich vorbeigehen ?« oder »Ich möchte Ihre rechte Seite passieren«. Mit dem linken Arm wird dann ein Zeichen gegeben. Die Erlaubnis zu passieren erinnert an einen Kraftfahrer, der einem anderen mit einer Handbewegung bedeutet, an ihm vorbeizufahren. Die gestischen Informationen sind sehr präzise und ähneln in vieler Hinsicht der Zeichensprache der Taubstummen. Diesen Zei­ chen wird auch eine Bedeutung zugeschrieben, wenn sie von Ange­ hörigen anderer Arten gemacht werden. So bemerkte der Schweizer Anthropologe A. H. Schultz, daß sich ein Mensch bei der Begeg­ nung mit einem Gorilla hüten sollte, die Arme auszustrecken - am besten versteckt er diese, dadurch ist der Anschein einer nichtdro­ henden Silhouette gegeben; man soll dem Gorilla nie in die Augen schauen, sondern zur Seite blicken - gleich dem verlegenen Augen­ senken oder Seitwärtsschauen einer schüchternen Person (ein weite­ rer Hinweis auf archaische Reaktionsmechanismen, die noch im Menschen erhalten sind); den Gorilla anzustarren, wäre eine Her­ ausforderung. Die informationstragenden Gesten der höheren Primaten sind nicht starr festgelegt; lokale »Dialekte« haben sich entwickelt, die — IOI

ebenso wie die nur in geringem Maße variierenden Geruchsstoffe regional verbreiteter Gruppen niedrigere Tiere derselben Spezies voneinander separieren - eine Trennung von Anthropoidensippen bewirken. Die Entzifferung des Schimpansenrepertoires ist noch nicht abge­ schlossen. Die außerordentlich nuancenreichen Informationen, die vermittelt werden können, sieht man besonders bei gegenseitigen Hilfeleistungen, die genaue Hinweise erfordern. So kann ein Schim­ panse einen anderen veranlassen, eine für ihn nicht erreichbare Stelle seines Pelzes von Fremdkörpern zu befreien, ein Staubkorn aus dem Auge zu entfernen, irgendwo einen Splitter herauszuziehen oder eine Wunde zu reinigen.

Für uns war bei früheren Nachforschungen schon einmal ein bestimmtes Primatenverhalten im Säuglingsalter von außerordentli­ chem Interesse gewesen. Rückblickend schien dieses Phänomen auch jetzt von großer Bedeutung, da es den Sprachbeginn betrifft. In den ersten sechs bis zehn Monaten ihres Lebens produzieren Schimpansenbabys - wie auch das menschliche Kleinkind - einen lallenden Monolog, der spontan und unbeeinflußt von äußeren Stimuli vernehmbar wird. Der menschliche Monolog ist aber im Gegensatz zu dem der Affen kontinuierlicher und nuancierter. Augenscheinlich wiederholt die Schimpansenmutter diese Laute nicht, während die menschliche Mutter zu ihrem Kind zurücklallt. Diese Protosprachlaute des Schimpansenbabys entwickeln sich nicht weiter; der Kommunikation mit Artgenossen dienen dann die später erlernten Gesten. Die Signifikanz dieses Lallens fiel auch anderen Forschern auf. Auf einem von der Werner-Reimers-Stiftung für Anthropologische For­ schung veranstalteten Symposium (August 1966) wurden im Zusam­ menhang mit diesem Phänomen zwei Probleme in den Vordergrund gestellt: 1. die Frage, ob das Lallen des Schimpansenbabys Ansätze zu einer Protosprache seien, die in der nachfolgenden Entwicklung verkümmern; 2. ob die Menschenaffen tatsächlich schon die pri­ mitive Urform eines begrenzten Vokabulars ausgearbeitet haben können, das sich unserem Verstehen entzieht, da wir ihre Kommuni-

102

kationen als instinktive Äußerungen von Gemütszuständen betrach­ ten, denen jedoch die unserem Wortschatz vergleichbare, präzise Bedeutung fehlt. Eine korrekte Beurteilung der Informationsüber­ tragung wird noch dadurch erschwert, daß Schimpansen schwache Geräusche aus einer ungefähr dreimal so großen Entfernung verneh­ men als Menschen; auch ist die obere Höchstgrenze eine halbe Oktave höher als die unsrige. Einige ihrer Lautgestalten entgehen daher unserem akustischen Wahrnehmungsvermögen. Kortlandt war der Meinung, daß es für Schimpansen nur von geringer biologischer Bedeutung wäre, wenn sie tatsächlich das Schema eines primitiven Vokabularverständnisses besäßen; Koope­ ration sei ihnen nur in Ausnahmezuständen bekannt, so daß sie verbal nicht sehr viel untereinander auszutauschen hätten. Außer­ dem genüge ihnen ihr reiches Repertoire an Gesten und Lauten zur Befriedigung ihres Dranges nach sozialer Kommunikation. Kort­ landt stimmte in der Feststellung, daß sich die Sprache aus der Notwendigkeit kooperativer Aktionen ergeben habe, mit vielen anderen Forschern überein. Wir kamen diesbezüglich zu einer ande­ ren Meinung, und unsere These wurde immer überzeugender, je weiter wir unsere Untersuchungen vorantrieben.

Das Konzept, daß die non-verbale Kommunikation über eine der Sprache ähnliche Reichhaltigkeit und Effektivität verfügen kann und daß sie auch fähig ist, sich in regionale Dialekte zu modifizieren, kann angesichts der gestischen Gewandtheit der Menschenaffen ohne Schwierigkeit akzeptiert werden. Die brennende Frage aber, die sich in diesem Zusammenhang stellt, ist, ob es Parallelen zur menschli­ chen Kultur gibt. Im allgemeinen gilt Sprache ja als unabdingbare Voraussetzung der menschlichen Kultur. Was aber, wenn es menschliche Gesellschaften gäbe, die ohne das gesprochene Wort auskommen? Können Manifestationen von Kultur, Gebräuchen und Traditionen überhaupt ohne Hilfe der Sprache entstehen? Dar­ auf werden in letzter Zeit immer häufiger bejahende Antworten gegeben. R. E. Yerkes war wahrscheinlich der erste Forscher, der das Wort »Kultur« in Zusammenhang mit Tieren gebrauchte. Er beschrieb 103

eine Kolonie von Schimpansen, die in den Labors des Yale-PrimatenForschungsinstituts gezüchtet wurden, und wies nach, wie erlerntes Verhalten - z. B. das Drücken einer Taste, um fließendes Wasser zu bekommen - von einem Tier zum anderen vermittelt werden kann. Yerkes spricht daher von der Möglichkeit eines auf Traditionen beruhenden Verhaltens. So geschieht die mütterliche Betreuung des Schimpansenkindes nicht auf instinktiver Basis allein, wie bisher vermutet wurde, sondern muß durch Beobachtungen ergänzt werden. K. Imanishi, der die Art und Weise kritisierte, in der bei wissen­ schaftlichen Untersuchungen Intelligenz und Instinkt auseinander­ gehalten werden, wies durch seine Befunde individuelle und kultu­ relle Faktoren in Primatengruppen nach. Zusammen mit mehreren Mitarbeitern beobachtete er in einem japanischen Naturschutzpark jo unabhängig voneinander lebende Affengruppen. Dadurch wur­ den Untersuchungen ermöglicht, die sich über lange Zeit erstreckten und erstaunliche Veränderungen im Verhalten der Affen in der Gruppe und Verhaltensvariationen zwischen den Gruppen zutage brachten. Diese Tiere waren Allesfresser, die in ihrem Habitat über eine große Auswahl an Nahrung verfügten. Doch hatte jede Gruppe ihre speziellen Vorlieben, wie man ihnen auch in menschlichen Gesellschaften begegnet. So drangen vier Gruppen dieser Affen auf der Schoto-Insel regelmäßig in Gebiete ein, in denen Yamswurzeln, Sojabohnen und Reis angebaut wurden; Gruppen desTakagoberges und des Aichi-Distrikts zogen durch diese Felder, ohne sie anzuta­ sten, andere bevorzugten Sojabohnen und verschmähten Reis; und so ging es mit Kastanien, Persimonen, Vogeleiern usw. Einige junge Affen fanden Seemuscheln schmackhaft, und drei Jahre später wurde diese Entdeckung ein alltägliches Fressen für alle Mitglieder der Gruppe. Die Schimokigruppe erfand eine erfolgreiche Methode zum Fangen von Garnelen: Die Affen tauchten ihre Arme ins Wasser und bewegten diese nicht, bis sich Garnelen auf dem Pelz niederließen. Den Affen waren ungefähr 120 als Nahrung dienende Pflanzenar­ ten bekannt, und dieses Wissen wurde durch Erlernen und Nachah­ men von einer Generation auf die nächste übertragen. Die jugendli­ chen Affen, die infolge ihrer größeren Neugierde geneigt waren,

104

mehr zu experimentieren als die älteren Gruppenmitglieder, führten - während dieser mehrjährigen Beobachtungen durch die japani­ schen Forscher - neue Methoden der Nahrungsvorbereitung ein, über die bereits mehrfach im Detail berichtet worden ist. Am be­ kanntesten sind das Waschen von Yamswurzeln und Weizenkörnern und das Sich-ins-Wasser-Trauen dieser gewöhnlich so wasser­ scheuen Tiere geworden. Masso Kawai beobachtete drei Typen dieser Affen und sah die Hauptmerkmale ihrer sozialen Strukturen in der: i. Rangordnung der dominanten Tiere, 2. Verwandtschaftsbindung und j. Einord­ nung der als Führer fungierenden Mitglieder. Diese Strukturen bleiben erhalten, auch wenn Mitglieder der Gruppe durch Tod oder Krankheit ausscheiden. Auch die Jugendlichen verfügen überTraditionen. Gewisse Bäume werden als »Spielbäume« ausgewählt, die von den folgenden Generationen in der gleichen Weise benutzt werden. Ein solches Aufrechterhalten von Traditionen ist ein weite­ rer, wichtiger Hinweis auf das Vorhandensein einer Kultur. Aus all diesen Beobachtungen ergibt sich, daß Affen über eine beträchtliche Anzahl von variierenden Lebensgewohnheiten verfü­ gen, die nur durch Lernbefähigung zustande kommen konnten. Der daraus resultierende Lebensstil und die Bereitschaft, sich neue »Mo­ den« anzueignen, haben viel Ähnlichkeit mit menschlichen Ge­

wohnheiten. Traditionen und kulturelle Unterschiede kristallisieren sich aus der kollektiven Erfahrung der Gruppe heraus. Die Art und Weise, wie Gruppenmitglieder ihre Sinnesempfindungen verarbeiten, in ihrem Gedächtnis speichern und dann in entsprechende Handlungen umsetzen, deutet auf eine hochgradige Entwicklung des zentralen Nervensystems hin, was als Voraussetzung für die Bewußtheit des Selbst gegenüber einem Objekt zu gelten hat. Ein Affe ist durchaus imstande, Teilaspekte eines Objekts zu bewerten. So besteht eine lehmbedeckte Yamswurzel z. B. aus »guten« und »schlechten« Tei­ len; eine Handlung ist notwendig, um eine Trennung der Teile herbeizuführen. Ein direktes Hineinbeißen in die Yamswurzel, das ein Verkleben des Mundes mit Lehmstücken zur Folge hätte, wird als 105

nicht wünschenswert empfunden. Die in der Jugend erworbene, spielerische Entdeckung wird jetzt in eine zielbewußte Handlung umgewandelt, wie z. B. das Eintauchen der Yamswurzel in Wasser. Irgendwie und irgendwann verknüpfen sich das Erfolgserlebnis, die daraus resultierende Selbstbelohnung und die Bef riedigung eines körperlichen Bedürfnisses (z. B. Hunger) zu einerphysisch verspür­ ten Hebung des Gemütszustandes. Das Miteinander dieser Vor­ gänge bewirkt im Individuum, egal ob Affe oder Mensch, die Er­ kenntnis eines seelischen Ereignisses, und das Wesen der Erkenntnis ist das Wesen des perzipierenden Selbst. Der Mensch versucht, diese innere Erlebniswelt mittels seiner verbalen Ausdrucksmöglichkei­ ten und durch Befriedigung seiner Neugier in ein zusammenhängen­ des Schema zu bringen. Auf dem primitivsten Niveau der seelischen Erkenntnis hat das Selbst jedoch keine feste Begrenzung; das Ich ist in fließendem Übergang mit der Umwelt verbunden: Die Natur wird mit den nach außen projizierten Gefühlsgestalten belebt. Wie ein Selbst sich trotz fehlender verbaler Möglichkeiten mit seiner Innenwelt auseinandersetzt, gehört zu den aufregendsten Phasen der Erkenntnis überhaupt. Auch beim menschlichen Klein­ kind existiert eine solche Phase, und es besteht kein Zweifel, daß das Individuum schon in der präverbalen Phase ein Selbst besitzt. Schon das Kleinkind trifft willkürliche Entscheidungen, was auf ein seeli­ sches Durcharbeiten zurückzuführen ist. Hier wie auch beim Tier ist ein verbaler Begriffsträger nicht notwendig, um die Existenz eines Selbst zu proklamieren. Für den auf objektive Befunde bestehenden Wissenschaftler gibt es heute zahlreiche experimentell erzielte Re­ sultate, die auf die symbolisierenden Fähigkeiten höherer Säugetiere hinweisen. Rensch und Kapune unterwiesen Rhesusaffen in der Benutzung verschieden gefärbter Plastikscheiben, die sozusagen als Währung für einen »Chimpomat« dienten - ein semantischer Irrtum der Forschung, da es sich um Rhesusaffen handelte. So konnte eine gelbe Scheibe i $ Erdnüsse, eine weiße sechs, eine grüne drei und eine rote

keine einzige kaufen, wenn die Scheiben in den Automaten hineinge­ worfen wurden. Obwohl die Affen anfänglich eine Präferenz für die rote Farbe zeigten, griffen sie später, als sie den »Kaufwert« der 106

Scheiben erkannten, nach den höherwertigen. Rensch kam zu der Überzeugung, daß die »symbolisierende« Grenze nicht zwischen den höheren und niedrigeren Primaten liegt, sondern auf einer früheren Stufe zwischen weniger und höher entwickelten Säugern. Uns scheint auch diese Periode nicht weit genug zurückzuliegen: K. Lorenz zeigte in Experimenten, daß Vögel einen Sinn für Zahlen erwerben können. (Für den Interessierten steht umfangreiche Lite­ ratur zur Verfügung.) Auch hartnäckige Skeptiker können heute nicht mehr daran zwei­ feln, daß Schimpansen ein reiches Repertoire an symbolischen Aus­ drucksmöglichkeiten besitzen. Die rasch wachsende Zahl von Schimpansen, denen verschiedene Methoden des Mensch-zu-Tierzu-Mensch-Informations-Austausches beigebracht wurden, liefert ein imposantes Beweismaterial. Schon vordiesen Interspezies-Kommunikations-Untersuchungen gab es viele Anzeichen, daß Schim­ pansen geistiger Vorstellungen von Objekten fähig sind, die sich dem intellektuellen Niveau eines Vorschulkindes annähern. So berichtete Frau Hayes, daß ihr Schimpansenmädchen Vicky sich mit »Spiel­ zeug« beschäftigte, das nicht vorhanden war - sie mußte eine geistige Vorstellung besitzen, ähnlich der unserer Kinder, die manchmal mit abwesenden Verwandten, Freunden oder dem heiligen Nikolaus sprechen. Desmond Morris berichtete, wie die Schimpansen des Londoner Zoos, die dem Publikum das tägliche Schauspiel einer tea-party boten, auch vorgaben, aus imaginären Tassen Tee zu trinken. Dies bedingt eine in sich abgeschlossene Einheit, eine seelisch geformte Gestalt, die dieselben Aktionen wie ein Umweltreiz hervorrufen kann. Ein amüsantes Beispiel für die Fähigkeit von Schimpansen, neue Konzepte zu formulieren, teilte Roger S. Fouts mit, der zusammen mit den Gardners an dem Washoe-Projekt beteiligt war. Er nahm Washoe mit, als er die üblichen täglichen Beobachtungen an den in einem nahegelegenen Gelände lebenden, verschiedenen Affenarten in sein Heft eintrug. Dies war Washoes erste Begegnung mit Affen, für die sie noch kein Zeichen erworben hatte. Sie gab jedoch das Zeichen für »Käfer«, die respektiven Kategorien richtig einschät-

107

zend. Ihr Lehrer gab ihr dann das Ameslan-Zeichen (amerikanische Taubstummensprache = American sign language) für »Affe« und zeigte - um sich zu überzeugen, ob sie die Lektion begriffen hatte mit dem Finger auf ein in einem Käfig befindliches Totenkopfäff­ chen. Die korrekte Geste »Affe« erfolgte. Dann wies er auf einen anderen Käfig, in dem sich ein erwachsener männlicher Rhesusaffe unruhig hin und her bewegte und drohende Grimassen schnitt. Kurz vorher hatten Washoe und der Rhesusaffe zähnefletschend Drohge­ sten ausgetauscht. Zuerst verweigerte sie die Antwort, aber nach einigen Ermunterungen gab sie - anscheinend unwillig-das Zeichen »Affe«, aber gleich darauf klopfte sie mit der rechten Hand unter das Kinn. Dies war das Ameslan-Zeichen für »schmutzig«, das ihr einer der Hilfslehrer beigebracht hatte, indem er auf Faezes zeigte. (Hier muß man darauf hinweisen, daß Schimpansen keinen Abscheu vor ihren Exkrementen haben. Washoe muß daher die für einen Men­ schen symbolische Bedeutung von Kot als etwas Widerliches genau verstanden haben.) Washoes Bezeichnung des Rhesusaffen als »Affe« - »schmutzig« vermittelte die Werteinschätzung eines uner­ wünschten Objekts. In diesem Zusammenhang ist besonders die von Washoe vorge­ nommene Umwandlung eines Begriffs und die daraus resultierende Verbindung eines realen »schmutzig« mit einem metaphorischen »schmutzig« erwähnenswert. Kurze Zeit danach begann sie das Hilfspersonal in gleicher Weise zu charakterisieren, wenn es ihre Wünsche nicht beachtete. So müssen wir zur Kenntnis nehmen, daß Menschenaffen fluchen können und damit die Distanz zwischen sich und den Menschen um einen weiteren Schritt verkürzen. Fouts berichtete über eine weit fortgeschrittene Begriffsverknüpfung, zu der die Schimpansin Lucy imstande war. Er vermittelte ihr durch ein neues Zeichen, das in Ameslan für »Beere« steht, alle Obstarten, die klein, rund und Tot waren - wie z. B. Kirschen -, und gab ihr, nachdem sie das Zeichen »Beere« mit der Schmackhaftigkeit der Kirsche verbunden hatte, ein Radieschen, in das sie hineinbiß. Ihre Grimassen und tränenden Augen waren der Hinweis auf eine neue Geschmacksempfindung, worauf sie die Zeichen gab: »Schrei« - »Essen« - »Schmerz«.

108

Nach dem so erfolgreichen Erlernen von Symbolen stellte sich eine weitere Frage: Konnten Schimpansen die Syntax eines Satzes beherr­ schen ? Professor David Premack, der in Santa Barbara, der Universität von Kalifornien, lehrt, packte dieses Projekt mit seiner Schimpan­ senschülerin Sarah an, über deren Begriffsrepertoire er bereits aus­ führlich berichtet hatte. Er lehrte sie, verschieden geformte und gefärbte Plastikmarken, die mit einem Magneten versehen waren, so daß sie sich auf einer Wandtafel aneinanderreihen ließen, mit Worten zu verknüpfen. Sarah bewies in ihrer Aufreihung der Plastikmarken, daß sie den Unterschied zwischen »Sarah« »kitzeln« »David« und »David« »kitzeln« »Sarah« begriff, obwohl beide Sätze die gleichen Wörter beinhalten. Sie führte die in »Wenn« »Sarah« »geben« »Schale« »David« »Dann« »geben« »Sarah« »Schokolade«-enthal­ tene Anweisung ohne Zögern korrekt durch. Weitere Versuche mit Schimpansen, die zur Zeit der Niederschrift dieses Buches noch im Gange waren, sind: Verständigung zweier oder mehrerer Schimpansen miteinander mittels der Ameslan-Zeichen; können Affenmütter, denen Ameslan geläufig ist, ihr Wissen auf ihre Kinder übertragen ? Austausch von Informationen zwischen Schimpanse und Computer; Erlernen von mathematischen Begrif­ fen u.v.a.m. Studien zur Interspezies-Kommunikation mit Gorillas wurden von Penny Patterson durchgeführt. Im Zusammenhang mit ihrer Dissertation beobachtete sie das Verhalten eines Gorillamädchens von Geburt an: Koko stammte von einer in bewaldeten Tälern lebenden Gorillaart ab; ihre Intelligenz und Ausdrucksfähigkeit waren der von Schimpansen ebenbürtig. Nach fünf Jahren Training konnte Koko joo Zeichen in Ameslan anwenden und erwarb neue Zeichen schneller als dieSchimpansinWashoe. Koko war auch fähig, neue Zeichen zu erfinden, die den Objekten oder Situationen außer­ ordentlich angepaßt waren, und alte Zeichen in einer anderen Weise aneinanderzureihen, um einer neuen Bedeutung Ausdruck zu verlei­ hen. Koko zeigte auch Humor und erfand Spiele mit den Zeichen. Typisch für Kokos hochentwickeltes Vermögen, kausale Zusam­ menhänge in ihrer Zeichensprache auszudrücken, war folgender Zwischenfall: Sie hatte offenkundig mit Absicht ein Spielzeug zer-

109

stört. Die Ziehmutter Patterson fragte Koko: »Was ist das?« Koko überlegte ein bißchen, dann fand sie das passende Zeichen: »Ärger«. Die Vorahnung einer möglichen Bestrafung veranlaßte sie, schnell noch das Zeichen »Komm« »umarmen« hinzuzufügen. Als wir mit dem Sichten des umfangreichen Materials - neue Berichte erscheinen mehrmals im Jahr - über die Kommunikation der Prima­ ten beinahe fertig waren, fragten wir uns, ob wir nicht auf einen Seitenpfad geraten waren. Wir fanden vor allem die von uns immer wieder formulierteTheseder Kontinuität von Morphologie, Physio­ logie und Verhalten bestätigt, auch wenn es um die höchstentwickel­ ten Merkmale einer Spezies ging. Wenn wir uns von der anthropomorphen Sicht, daß jedes Merkmal des Menschen ungewöhnlich ist und ihn daher von der Tierwelt unterscheidet, befreien, könnten die Merkmale jeder Spezies ebenfalls als ungewöhnlich angesehen wer­ den, da andere Spezies sie nicht besitzen. Der Nutzwert der Charak­ teristika würde so von der Lebensweise der jeweiligen Spezies bestimmt. Es wäre unsinnig, beide auf Waagschalen zu legen. Wir kamen zu der Überzeugung, daß man eher in der Hand des Menschenaffen als im Kehlkopf ein funktionelles Bindeglied zur menschlichen Sprache zu sehen habe. Die neurophysiologische An­ reicherung in den für Handstellungen mit verschiedener Bedeutung verantwortlichen Zentren förderte eine schon bei niedrigeren Affen beginnende Verschiebung von Funktionen aus dem Zwischenhirn in die Neurinde. Die Fähigkeit multidimensionaler Gestaltbildung ist eine der Voraussetzungen für die Ausführung von Gesten und deren Interpretation; eine andere ist ein kurzzeitiger Mechanismus für die gewöhnlichen Vorgänge des Affen-Alltags, wogegen ein Langzeit­ mechanismus für die erlernten sozialen Regeln und Gebräuche zuständig ist. Das Leben eines Schimpansen in der Gruppe ist viel komplizierter, als es einem oberflächlichen Beobachter scheint. Seelische Vorgänge, die sich in informativen Gesten oder Geräu­ schen ausdrücken, kann man beim Affen ebensowenig wie beim Menschen allgemeingültig erfassen. Doch erlauben psychologische Interpretationen von beobachtbaren menschlichen Verhaltensteilen und verbalen Äußerungen zumindest Rückschlüsse. i io

Mit diesem Vorbehalt nähern wir uns dem hypothetischen Seelen­ leben der Menschenaffen. Wir stellen bei unserem Gedankenexperi­ ment einen mittelrangigen Schimpansen - wir geben ihm den Namen »S« - in den Mittelpunkt unserer Beobachtungen und statten ihn mit einer Kombination aller seinen Artgenossen vertrauten Gesten, Lautgebung und Mimik aus. Bei unserem ersten Versuch plazieren wir »S« etwas entfernt von einem der Senioren seiner Gruppe, der sich breitbeinig auf einen Pfad niedergelassen hat, vielleicht zur Siesta. »S« möchte an ihm vorbeigehen und muß, indem er sich ihm nähert, alle an der Gestalt des Seniors ersichtlichen Zeichen korrekt ablesen: Änderungen des Gesichtsausdrucks, seiner Körperstellung; vor allem aber geben die Augen und Augenbrauen Aufschluß dar­ über, ob »S« eine Demutsgebärde machenoderzurFluchtbereitsein soll - ein Biß, die Folge einer fehlerhaften Entscheidung, wäre zu schmerzhaft. In den meisten Fällen ist die Information klar, und »S« kann sie in seinem Geist so verarbeiten, daß er seine nächste Hand­ lung, den Senior zu passieren, ohne besondere Erregung ausführen kann. Aber soziale Bedingungen sind sowohl bei menschlichen als auch Affengruppen komplex. Unser Senior könnte gerade durch das Verhalten eines Weibchens irritiert und daher unfreundlicher Stim­ mung sein. »S« sieht nur die Rückseite des Seniors, deshalb ist die Information für eine unzweideutige Handlung unzureichend. »S« entscheidet, mit entsprechender Vorsicht und ausgesprochenen De­ mutsbezeugungen voranzugehen. Seine Vorbereitung für diese Be­ gegnung ist korrekt - sie entspricht allem, was er gelernt hat. Als er in Reichweite des Seniors kommt, dreht sich dieser brüsk um und beißt »S« in den Arm. Kreischend läuft »S« weg. Nun versuchen wir die seelischen Vorgänge in »S« unter die Lupe zu nehmen. Die Ungewißheit seines Lebens und die Unfähigkeit, sich auf sein Reaktionsrepertoire absolut verlassen zu können, be­ dingen einen chronischen Zustand der Übererregtheit seines Ner­ vensystems. Eigentlich müßte er ebenso wie sein menschliches Ge­ genstück Symptome der Spannung zeigen, die sich in Streßkrankhei­ ten oder ernsten Verhaltensstörungen manifestieren könnten. Doch ist dies nicht der Fall - es wäre schon allein aus dem Grunde nicht möglich, weil ein solch abnormales, das Nervensystem überfordernIII

des Reaktionsmuster bereits früher ausselektiert würde. Die Frage ist nun, wie schafft es »S« dennoch, sich den sozialen Verhältnissen seiner Gruppe anzupassen, ohne Schaden zu erleiden. Wir könnten die Frage auch umkehren und auf den Menschen anwenden, der in seinen zwischenmenschlichen Beziehungen ebenso auf der Hut sein muß, und erkunden, warum der Mensch unter dem Schimpansenleben vergleichbaren Verhältnissen an seeli­ schen Störungen leidet? Es ist klar, daß Gruppenleben, neben seinem selbstverständlichen Vorteil für das Individuum auch Anforderun­ gen an ihn stellt, die Regeln des Sozialaustausches genau zu befolgen. Solche Bedingungen haben für den Menschen unter Umständen schlimme Folgen, die bei Menschenaffen fehlen.

I 12

Kapitel VII Wozh Sprache?

oder Von Gefühlen, Logik und vortäuschender Maniton

Wie bereits erwähnt, ist die menschliche Sprache ein Prozeß, der sich in Richtung auf die Verbalisierung logisch gedachter Vorgänge vollzieht. In einem früheren System war die Sprache hauptsächlich Träger gemütsverknüpfter Informationen, was ja heute noch für den non-verbalen Kommunikationsaustausch der Menschenaffen gilt. Nun besitzen wir neben der im Vergleich mit den restlichen Primaten weitestgehenden Bevorzugung der Neurinde (Enzephalisierung) unseres Nervensystems ein Untersystem, das in bezug auf menschli­ che Handlungen noch keine völlige Dominanz erzielt hat und dessen Aufgabe darin besteht, Sinneswahrnehmungen und deren seelische Verarbeitung einem Werturteil zu unterstellen. Ansätze dazu sind zwar schon bei den Menschenaffen, ja sogar bei Tieren auf niedrige­ ren Stufen der Evolution vorhanden. Bereits die Amöbe muß bei zusammengesetzten Elementarteilchen »entscheiden«, welche sie sich als Nahrung einverleibt, doch kommt diesem Untersystem erst beim Menschen eine stetig wachsende Bedeutung zu. Diese mensch­ lichen »Werturteile« sind nicht genetisch, sondern von kulturell auferlegten Normen geprägt, die das Kind mittels Erziehung in sich aufnimmt. Die Normen werden in Erwartungen »eingebettet« und stellen dem Individuum ein Modell für sein soziales Gebaren zur Verfügung. Auf einer primitiveren Stufe der Menschwerdung war die Fähig­ keit, den Wert des eigenen Verhaltens und seiner Gruppe zu beurtei­ len, vermutlich nur mangelhaft entwickelt. Dem Verhalten noch heute lebender primitiver Stämme nach zu schließen, wurden kultu-

rell festgelegte Gebräuche widerspruchslos angenommen und strengstens befolgt. Auch der Menschenaffe vermeidet ein Brechen mit den Traditionen, weil er z. B. den Schmerz eines Bisses fürchtet, der Mensch hingegen, weil er seelisch verankerten, ihn symbolisch bedrohenden Vorstellungen entgehen will (Dämonen, Götter, ver­ storbene Seelen). Der kollektive soziale Druck eines Stammes, ob­ wohl nicht greifbar, übt einen für den Außenstehenden kaum nach­ vollziehbaren Einfluß auf das Wohlbefinden der Stammesgenossen aus. Eine Verletzung der sozialen Regeln ruft ein so intensiv verspür­ tes Mißbehagen in Form von Schuldgefühlen hervor, die sich in Gemütsstörungen und körperlichen Manifestationen (Spannung, Schlaflosigkeit, Appetitlosigkeit, psychosomatischen Erkrankun­ gen) äußern können, daß das menschliche Individuum die Verursa­ chung eines »seelischen« Schmerzes durch Nichtbefolgung der so­ zialen Regeln ebenso vermeidet wie unser Schimpanse »S« den Schmerz. In der allerletzten geologischen Periode - in historischer Zeit begann eine neue Phase progressiven, von der Neurinde beeinflußten menschlichen Verhaltens, das aber bis heute noch nicht so weit entwickelt ist, daß es die individuellen Reaktionen ausschließlich bestimmt. Bildlich und etwas vereinfachend könnte man das so erklären: Je mehr verästelnde Nervenfortsätze entstanden, desto mehr Leitungsbahnen waren mit der Zeit vorhanden - einem kom­ plizierten Netzwerk vergleichbar, durch das Informationen auf dem einen oder anderen Weg zur Schaltzentrale gelangen können. Und je dichter dieses »Leitungsgewirr« wurde,desto größer wurdedieQual der Wahl, bis jener Grad individueller, auf Denkprozessen beruhen­ der Entscheidungen erreicht war, wie wir sie heute kennen. Ohne diese Freiheit der Entscheidung wäre Sprache nicht mög­ lich: Der Mensch entscheidet im kontinuierlichen Prozeß des Spre­ chens, welchen Ausdruck er benutzen will. Da die meisten Wörter nur in ihrem Kontext verstanden werden und mit Umwelteinflüssen befrachtet sind, bedeutet dies, daß Gesprochenes letzten Endes einen Gedanken, Befehl, eine Beschreibung oder dgl. nur ungefähr vermit­ teln kann. Es haftet Worten immer und überall etwas »Unsicheres« an. Und es ist unser »Entschluß«, der aus dieser Ungewißheit eine

114

Gewißheit (Wahrheit) rekonstruiert. Aber das hierzu erforderliche »Entscheidungsprinzip« hat - wie bereits erwähnt - beim heutigen Menschen noch nicht das Niveau erreicht, auf dem es für sein Verhalten ausschließlich bestimmend ist. Der »freie Wille« ist in seinem Kurs noch von den durch soziale Bedingungen auferlegten Beschränkungen abhängig. Um das Auszudrückende entsprechend zu formulieren, stehen dem Menschen nicht nur Wörter, sondern auch ein multidimensio­ nales Repertoire zur Verfügung. Ein Sprechender kann über die spezifische Bedeutung der Formulierungen hinaus affektive Werte, traditionelle Glaubenssysteme etc. aktivieren; er kann wirkungsvol­ les Beiwerk wie Räuspern, Husten und andere non-verbale Kommu­ nikationen einsetzen. Ein Redner kann skandieren, gestikulieren und Kunstpausen einlegen; kurzum er kann eine Vielzahl von Unter­ systemen seines Nervensystems gleichzeitig betätigen und unge­ heuere Wirkungen erzielen (oder auch nicht, je nachdem, wie frei der Adressat in seiner Willensbildung ist, d. h., welches der Untersy­ steme er aktiviert). Die offensichtlich mühelose Ausführung eines so ungeheuer kom­ plexen biologischen Ablaufs, wie es die richtige Wortwahl ist, ver­ mittelt eine Vorstellung von der Geschwindigkeit, mit der das für das Sprechen notwendige Abfragen des Gedächtnisreservoirs erfolgt. Analoges gilt für jede Alltagsentscheidung. Die graduell sich steigernde Vielschichtigkeit menschlicher Ge­ sellschaften verlangt schon Kindern ab, das Untersystem des Ent­ scheidungsprinzips maximal zu entwickeln. Da dies vorwiegend in Lernprozessen geschieht, kann es im Verlauf von wenigen Genera­ tionen zur Entfaltung eines von der Natur »bereitgestellten« Po­ tentials kommen. Eine latent vorhandene Anlage kann sich also binnen kurzem zur vollen Kapazität entwickeln. So haben z. B. traditionell lebende Stämme, die sich immer an starre Verhaltensfor­ men gehalten haben, im ersten Kontakt mit europäischen Denkwei­ sen unüberwindliche Schwierigkeiten. Aber schon die nächste her­ anwachsende Generation eignet sich durch Training (etwa in Schu­ len) - ebenso wie die Jugend westlicher Kulturen - das Prinzip des Werturteils an, das durch analytisches Denken erworben wird. ■U

In seiner historischen Entwicklung hat sich das Entscheidungs­ prinzip nicht nur auf soziale Situationen beschränkt: Die Notwen­ digkeit, für die Zukunft zu planen, machte ein Abschätzen noch nicht vorhandener Tatsachen erforderlich; abstrakte Überlegungen wur­ den individuell oder in Gruppen angestellt; schließlich sahen sich die Menschen in der Lage, die Werte ihrer Gesellschaft zu hinterfragen und den Selbstwert zu interpretieren. Aus diesem noch in einem Frühzustand befindlichen Novum ergeben sich weitgehende Konsequenzen. Der Mensch ist in dieser Zwischenphase ansprechbar sowohl auf das Schuldgefühlsystem, das für das Gruppenleben ausschlaggebend ist, als auch auf seine persönlichen Schuldgefühle, die sein individuelles Verhalten regeln. Aber teilweise werden menschliche Handlungen bereits von dem neuen Untersystem bestimmt, für das nur logisch ausgewertete, von Gefühlen und Traditionen befreite Entschlüsse zählen. Der moderne Mensch besitzt nun im fortgeschrittenen Teil seines mehr und mehr auf die Neurinde zentrierten Nervensystems zwei miteinander um Dominanz wetteifernde Untersysteme. Die Frage ist nur, welches der beiden sein Verhalten stärker beeinflußt: die Gefühle oder der Verstand. Bis heute ist der Mensch gezwungen, Kompromisse zwischen den beiden Untersystemen zu schließen, die nur selten zufriedenstellend verlaufen und immer wieder zu Konflik­ ten führen. Diejenigen Menschen, bei denen der Erwerb von Ge­ fühlskomplexen - dem in dieser Phase dominanten Untersystem während ihrer Kindheit erschwert oder verhindert ist, verspürt im allgemeinen ähnliche Schwierigkeiten mit den kognitiven Komple­ xen. Hier einzugreifen, ist die Aufgabe von Psychologen und Psy­ choanalytikern: Mit Hilfe einer gezielten Unterstützung kann das kognitive Untersystem trotz mangelhafter Betreuung in der Kind­ heit sein Potential realisieren. Ein vorwiegend verstandesmäßig handelnder Mensch - mögli­ cherweise ein Modell des Homo sapientissimus der Zukunft erscheint uns vor dem Hintergrund der gegenwärtigen kulturellen Verhältnisse allerdings als »seelenlos«. Wir alle verspüren den merk­ würdigen Zwiespalt in unserem Verlangen, daß ein moralischer Mensch seine Vernunft anwendet, ohne seine Gefühle zu vergessen 116

ein offensichtlicher Widerspruch vom Standpunkt der die Endhand­ lungen bestimmenden Systeme aus. Die Gesellschaft verlangt von einem idealen Menschen, daß er in Handel, Technologie und Wissen­ schaft ausschließlich von dem einen Untersystem geleitet werden soll, aber sobald er seine Arbeitsstätte verläßt, soll er das andere Untersystem einschalten. Oder, was noch schwieriger ist, er muß in vielen Situationen beide Untersysteme so behandeln, daß ein opti­ males Verhalten daraus resultiert - ein wahrhaft schwieriges Unter­ fangen, das angesichts der fundamentalen Widersprüchlichkeit der beiden Untersysteme nur selten zufriedenstellende Ergebnisse zuläßt. Schon gewöhnliche Alltagssituationen können Konflikte zwi­ schen den beiden Untersystemen verursachen - immer wieder steht man vor der Alternative, seinen Gefühlen freien Lauf zu lassen oder »vernünftig« zu sein. Wenn aber Umstände als existenzbedrohend interpretiert werden (welche individuelle Definition man auch wäh­ len mag: Verletzung der Würde, Zurückweisung, Lächerlich-gemacht-Werden, scharfe Kritik, angedeuteter Verlust einer Stellung u.v.a.), dann bewirkt die Ubererregung des Nervensystems eine vollständige oder partielle Ausschaltung der empfindlicheren stammesgeschichtlichen Neuerwerbung: Der Verstand verläßt einen; gleichzeitig erfolgt die Übernahme der seelischen Steuerung durch das phylogenetisch ältere limbische System: Furcht setzt ein. Die noch funktionell operationalen Reste der Vernunft mahnen vergeb­ lich, den Kopf oben zu behalten, oder versuchen ebenso vergeblich, auf die Unsinnigkeit der Furcht hinzuweisen. In einem solchen Moment sind die Gefühle »am Lenkrad«, und die Vernunft ist der unfreiwillige Fahrgast auf dem Rücksitz. Dieser Zustand beeinträchtigt die Befähigung, kohärente Gedan­ kenprozesse in Worten auszudrücken. Entweder ist der Zugang zum Gedächtnisreservoir blockiert, und der Mensch beginnt um Worte zu ringen; oder - im Falle eines Zweisprachigen - er wechselt in der Erregung zu seiner Muttersprache über; u.a.m. Wenn aber die Umweltsituation nicht furchterregend ist, dann kann das emotio­ nelle das rationale Untersystem so beeinflussen, daß es in affektiv geladenen Worten (Poesie und Gesang) symbolisch Gemütszu-

"7

stände zum Ausdruck bringt. Wenn zwei Systeme mit ähnlichen oder sich überschneidenden Funktionen dasselbe Geleise - die Spra­ che - benutzen, kann sich ein Spektrum ergeben, das von idealer Harmonie bis zu völliger Dissonanz reicht. Und so wird verständlich, warum unser Schimpanse »S« keinen Streßkrankheiten zum Opfer fällt: Er hat ja nur ein System, das seine Aktionen in Gang setzt. Der Mensch hingegen hat durch seine beschleunigte evolutionäre Entwicklung ein neues Untersystem erworben, das noch unvollkommen in sein Nervensystem eingeglie­ dert ist. Eine vergleichbare Progression erfaßte auch die Sprache der Men­ schen und seine Gedankenformationen, die ihren Weg in Worte finden. So erkennt sein logisches Untersystem z. B. eine Flagge als Tuch mit mehreren Farben, sein emotionelles Untersystem als Sym­ bol seines Vaterlandes, mit all den Gefühlen, die er für seine Heimat verspürt. Welches Untersystem mag wohl das Handeln eines Solda­ ten bestimmen, wenn er die Flagge mit seinem Leben verteidigen muß? Aber dies ist nur die eine Seite der Medaille. Der Mensch weiß seit Urzeiten um die in Worte gebannte Macht und benutzt sie wie technologische Gebilde zu seinem »Vorteil«: z.B. um die Gunst anderer zu gewinnen, einen Zauderer zu überreden, jemanden zu einer Handlung zu veranlassen, die er spontan nicht gewagt hätte, oder Worte als Waffen zu benutzen, usw. Nach 1945 gab es jahrelang einen Krieg der Worte zwischen den USA und der UdSSR. Die logisch denkenden Köpfe beider Regierungen manipulierten die bedeutungs- und gefühlstragenden Aspekte der Worte - mit dem Ziel, den Ruf des Gegners zu unterminieren (Plutokraten, Imperiali­ sten, Reaktionäre, Bolschewiken usw.) George Orwell beschreibt in seinem prophetischen Buch >1984« einen Staat der Zukunft, in dem die totalitären Prinzipien der Regie­ rung zu einem absoluten Höhepunkt entwickelt werden: Um die Untertanen total zu beherrschen, erfinden die Berater des Diktators eine neue Sprache - »Newspeak« -, die noch einen weiteren Schritt von der kommunikativen Fähigkeit der Sprache wegführt. Die An­ wendung von Worten wird vorgeschrieben, so daß z.B. das Adjektiv

118

»schlecht« begrifflich nicht mit den Gesetzen des Staates verknüpft werden kann. Ein korrekter Gebrauch von »Newspeak« bewirkt im Sprecher eine neue Realität der Umwelt, die mit den aktuell stattfin­ denden Ereignissen nichts mehr zu tun hat. In einem solchen Zusammenhang sind gezielte Realitätsinterpre­ tationen das Ergebnis sorgfältiger Überlegungen eines logisch son­ dierenden Geistes, für den das Wort ein »Gefäß« darstellt, das mit Affekten so gefüllt werden kann, daß Fehldeutungen als Wahrheit empfunden werden. Sprachübliche Bagatellisierungen, beschöni­ gende Einstellungen, Anspielungen, Gedankenverknüpfungen, me­ taphorische Verharmlosungen, Begriffsabschwächungen und -Über­ treibungen, disqualifizierende Formulierungen, künstliche Polari­ sierungen, unangepaßte Präzisierungen verschwommener Aus­ drücke, Entschärfungen ethisch-moralischer Begriffsträger, variie­ rende Standpunktbildung gegenüber Fakten (je nach politischem Nutzwert), Manipulation der Wirklichkeitserfassung, Schwächung der sprachlichen Gewandtheit Vergleiche anzustellen, Simplifizie­ ren komplexer zwischenmenschlicher Beziehungen durch sprachge­ bundene Stereotypen -das sind nur einige der zahlreichen Strategien, die dem Zweck dienen, die Sprache als ein den Menschen beeinflus­ sendes (sowohl in einem fördernden als auch schädlichen Sinn) Werkzeug zu benutzen. Eine Entwicklung in diese Richtung vermindert den kommunika­ tiven Wert der Worte, da deren informationsübertragende Aufgabe durch willkürliche, logisch ausgedachte Verzerrung der Realitäts­ darstellung weitgehend geschwächt ist. Wie das logische Denken arbeitet, läßt sich anhand einer Analyse des Begriffs »Wahrheit« demonstrieren: Für das logische Denken ist »Wahrheit« weder ein Ding, das man erfaßt oder fallenläßt, noch eine Region, die erreichbar ist oder sich für immer der Berührung entzieht; vielmehr ist sie die Substantivierung einer adjektivischen Wertbezeichnung, die sich auf Einschätzung und Urteile bezieht; aber sie hat keine Existenz in der logischen Sachwelt. Für den Logiker ist das Streben nach Wahrheit eine gefühlsbedingte, für das limbische System charakteristische Manifestation, bei der das Unerreichbare und Mystische eine beson­ dere Anziehungskraft besitzt.

119

Es mag kein besonders attraktiver Gedanke sein, der sich uns, die wir uns noch auf der Zwischenstufe zwischen logischen und gefühls­ bedingten Weltanschauungen befinden, aufdrängt. Seit dem Beginn der Geschichte haben sich Philosophen mit Betrachtungen darüber beschäftigt, was den Menschen von der Tierwelt abhebt. Die kon­ ventionellen Ansichten der Ethik und Moral werden am häufigsten zitiert, aber sorgfältige ethologische Untersuchungen haben bewie­ sen, daß diese Faktoren ansatzweise auch in der Tierwelt vertreten sind. Das mangelnde Sprechvermögen der Tiere und die anthropo­ zentrische Einstellung der Gelehrten haben lediglich einen früheren Zugang zu dieser Gemeinsamkeit verhindert. Aber etwas Neues ist im Laufe der Menschwerdung - abgesehen von der quantitativen Bereicherung unseres Wissens - doch hinzugekommen: In unver­ kennbarer Weise hat der mit dem neuerworbenen logischen Denken ausgestattete Mensch den Wert der Sprache als manipulierendes Instrument und als zielgerichtetes, doppelschneidiges Schwert er­ kannt und demgemäß genutzt. Es fällt uns schwer, die sich daraus ergebende Schlußfolgerung unverblümt darzustellen; zumindest waren wir anfangs geneigt, dieses wenig schmeichelhafte Ergebnis mit den positiven menschli­ chen Leistungen abzuschwächen. Wir mußten uns abereingestehen, daß das »Positive« im Menschen aus einer Kontinuität unseres animalen Erbes herrührt. WasdenMenscheninseinerVerhaltensleistung wesentlich vom Tier unterscheidet, ist seine Fähigkeit, perzipierte Realität willkürlich zu verzerren oder- banal ausgedrückt- zu lügen. Aber auch in dieser Hinsicht könnte man sagen, »nil novi sub sole«, denn die Evolution hatte bereits bei einem ähnlichen Plan die Hand im Spiel: In der Welt der Insekten haben wir viele Beispiele dafür, wie eine »Schutztracht« Vorstellungen erweckt, die der Wahrheit nicht entsprechen - also eine Lüge, wenn wir uns an den Wortlaut der lexikalischen Definition halten. Manche harmlosen Fliegen weisen die gelbschwarzen Streifen der giftstacheltragenden Wespen auf, um Angreifern einen Schrecken einzujagen, der auf Irreführung beruht; einige Schmetterlingsarten täuschen durch dif­ ferentielle Färbung ihrer Schuppen ein übergroßes und starres Auge

120

vor, das frei durch die Luft schwebt. Aber diese Art Täuschung ist in die Morphologie der Insekten sozusagen eingebaut und daher unver­ änderlich, während sich im Gegensatz dazu die menschliche Lüge flexibel und willkürlich zeigt. Immerhin vermögen Menschenaffen schon einen harmlosen Ge­ mütszustand vorzutäuschen, um dann plötzlich mit einem Mundvoll Speichel den unvorsichtigen Zuschauer zu überraschen- wie manche Zoobesucher zu ihrem Schaden erfahren haben. Jane Goodall beobachtete, wie niedrigrangige Schimpansen in der freien Wildbahn absichtlich von einer halbverborgenen Banane wegschauen, um nicht die Aufmerksamkeit eines höherrangigen Affen in ihrer Nähe auf die Frucht zu lenken. In einem späteren, geeigneteren Moment kann der schwächere Schimpanse die durch diese List erbeutete Banane dann ungestört verzehren. Aber auch hier liegt noch keine willentliche und bewußte Entstellung der Wahrheit vor. Allerdings haben Koko und Washoe auch schon willentlich und wissenschaftlich nachweisbar gelogen. Aber es blieb dem Menschen vorbehalten, Lug und Trug zur hochentwickelten Strategie zu erhe­ ben. Allein der Mensch verfügt über die Möglichkeit, seine geistigen Anlagen beliebig einzusetzen. Oder in anderen Worten: Er allein hat einen »freien« Willen - was immer man darunter verstehen mag; diesbezüglich weichen die Definitionen ja zusehends mehr vonein­ ander ab. Wir wollen mit dieser Feststellung natürlich kein ethisches Wert­ urteil abgeben. Dies wäre vom biologischen Standpunkt aus genauso absurd, wie einen Löwen der Grausamkeit zu bezichtigen, wenn er ein Zebra zerfleischt. Wir sind Beobachter, aber keine Richter. Als Beobachter finden wir immer wieder die opportunistische Tendenz der evolutionären Entwicklung, sich für neue Zwecke das anzueig­ nen, was gerade vorhanden ist. So überrascht es nicht, wenn ein logisch Denkender die Macht eines Werkzeugs im weitesten Sinne erkennt und dieses für seine Ziele benutzt. Das Werkzeug mag eine schneidende Klinge, ein Hebelgerät oder ein Wortgefüge sein. Der Nutzwert dieser Instrumente besteht in ihrer Manipulierbarkeit. Der Gedanke, daß Sprachverzerrung (Lüge) ein Teil unseres logischen Waffenarsenals ist, erfüllt jede moralisch eingestellte Per­ 121

son mit Abscheu. Doch ist die Koexistenz solcher Widersprüche ein weiterer Beweis für das Phänomen der sich in progressiver Weise häufenden Übergangsstufen der menschlichen Entwicklung, bei der sich neue, noch nicht voll entwickelte Mechanismen mit früheren in vielfältiger Weise verknüpfen. Die Sprache, ein manifestes Beispiel der stufenartigen Übergänge, ist eine Fundgrube für diejenigen, die »archäologische Ausgrabungen« - in dem in der Einleitung beschrie­ benen Sinne - im Bedeutungswandel von Begriffen des Alltagslebens betreiben. Die wandelbare Eigenschaft des Wortes ist auch unter den gegen­ wärtigen Umständen erkennbar. So kann ein präzise definierter Ausdruck, der einem Gebiet menschlicher Tätigkeit angemessen ist, in ein anderes begrifflich eingefügt werden, wo er nur als vage Analogie fungiert. Dennoch wird beiden Anwendungen dieselbe Gültigkeit zuerkannt, wenn die Notwendigkeit es erfordert, über­ zeugend zu sein. So wird sprachlicher Ausdruck, der von den reproduzierbaren Resultaten und exakten Messungen der Naturwis­ senschaften zur Verfügung gestellt wird, auf menschliches Verhalten übertragen, um den Anschein zu erwecken, als verdiente das Wesen der den beiden Gebieten zugrundeliegenden Gesetze die gleiche Glaubwürdigkeit. Man nimmt nur widerwillig wahr, daß das menschliche Verhalten nicht unbedingt den Gesetzen der Logik folgt. Es kann aber gar nicht anders sein, da emotionell bedingte Gedankenabläufe und deren Übertragung in Handlungen im limbischen System ihren Ursprung haben, das in einer Phase der Menschwerdung entstand, in der die gegenwärtige Arbeitsweise der Logik sich noch nicht entwickelt hatte. Daher ist eine logisch-wissenschaftliche Annäherung an menschliches Gebaren ein auf Definitionen beruhender Wider­ spruch. Immer wieder wird versucht, menschliche Verhältnisse nach wissenschaftlichen Kriterien in Ordnung zu bringen - ein Verfahren, das aber bisher sehr dürftige Erfolge erzielt hat. Politiker, die die Finger »am Puls der Bevölkerung« haben, verlassen sich auf ihr limbisches System, um z. B. eine Verbesserung sozialer Bedingungen durchzusetzen - die, nebenbei bemerkt, von wissenschaftlichen Kreisen mit Recht als alogisch oder irrational bezeichnet werden -, 122

und erzielen trotzdem oder gerade deshalb wünschenswerte Verän­ derungen. Die Sprache der Politiker - wenn auch nicht ihre Aktionen, die in den meisten Fällen von ihrem logischen Untersystem dirigiert wer­ den - zeigt sich in der Propaganda, in Kampfparolen, dramatischer Rhetorik, tendenziöser Verzerrung von Fakten als ideologische Waffe, die auf das limbische und nicht auf das logische Untersystem zielt. Diese Praktiken werden als ein Aspekt des Wahlkampfes anerkannt, und man fordert den Bürger auf- wenn auch sotto voce-, mit dem Skalpell seiner Logik die emotionellen Manifestationen zu sezieren und sich dadurch eine unabhängige Meinung zu bilden eine schöne Illusion. Das logisch-faktorielle Zentrum aus der ge­ fühlsbetonten Konzentration der Schlagworte zu isolieren bleibt zumeist ein vergebliches Unterfangen, wie man anhand der Werbe­ sprache leicht ersehen kann. Es ist verständlich, daß Menschen gegenüber einem Gewirr von einander widersprechenden Informationen, die mit ihrem Sozialle­ ben anscheinend unlösbar verknüpft sind, ein Streben nach »Wahr­ heit« entwickeln, als ob diese tatsächlich existierte. Aussagen über die Wirklichkeit der Dinge leiden schon von Anfang an unter einer Horizontverengung, die einem Individuum durch stammesgeschichtlich bedingte Leistungsbegrenzungen seiner Sinnesrezeptoren auferlegt wird. Während eine deskriptive, normfreie Darstellung von Invarianten im Naturbereich nur wenigen Schwierigkeiten be­ gegnet, ist eine solche Einstellung gegenüber menschlichen Verhält­ nissen praktisch unmöglich. Hier werden Worte mit Affekten, Ideologien und Doktrinen aufgeladen, die die ursprüngliche Bedeu­ tung des Wortes als unwichtig erscheinen lassen. Wenn diese Anfäl­ ligkeit der Sprache von einem logisch denkenden Subjekt erkannt wird, dann können die früher erwähntenmanipulatorischenTechniken die Sprache für die verschiedensten Zwecke ausnutzen. Eine der fesselndsten Erscheinungen des Phänomens Sprache ist ihr sich ständig wandelnder Gebrauch. Dieser Sprachwandel ist mit einem ursprünglich einstöckigen Haus vergleichbar, bei dem jeder neue Besitzer eine Etage hinzufügt, während die unteren unverän­ dert weiterhin benutzt werden. Man kann daher die verschiedenen

I23

»Baustile« mit einem Blick erkennen, aber dem nächsten Käufer wird das oberste Stockwerk als repräsentativ vorgestellt. Lautgebilde wurden ursprünglich - und hier greifen wir einem späteren Kapitel vor - als eines von mehreren Mitteln gebraucht, um die Mutter an ihr Kind zu binden. Im Laufe derZeit sind Lautgebilde, die sich in eine Art Vorsprache umgewandelt haben - ein neues Stockwerk -, zu einem Instrument sozialer Bindung geworden. Im nächsten Stockwerk ist die Sprache schonTräger von Informationen. Und in unserer Zeit sehen wir - im »Penthouse« -, wie die dem Wort innewohnende Botschaft so manipuliert werden kann, daß eine gezielte Beeinflussung von Menschen erfolgt, während in den unte­ ren Stockwerken sich alles wie vorher abspielt. In diesem Zusammenhang stellt sich noch die Frage, ob die Sprache des heutigen Menschen sich so vervollkommnet hat, daß eine weitere Entwicklung nicht mehr möglich ist. Man könnte zumindest annehmen, daß die sich vergrößernde Intelligenz ihren Ausdruck in einer gleichfalls größeren Komplexität der Sprache findet. Das Gegenteil ist jedoch der Fall. In neuerer Zeit ist es zu einer Vereinfachung der Grammatik und einer Verringerung des Reich­ tums von Ausdruckssequenzen gekommen. Die blumige Sprache z. B. der mittelalterlichen Intelligentia klingt in unseren Ohren altmodisch. Heutzutage wissen wir, daß die Bedeutung eines Satzes aus dem Zusammenhang zu rekonstruieren ist, und wir verlassen uns weniger auf den Gebrauch verbaler Vielfalt, um den genauen Sinn zu vermitteln. Die ursprüngliche Funktion der Sprache als soziales Bindungsele­ ment bleibt erhalten, aber der Trend in der Informationsübermitt­ lung ist auf eine sich vergrößernde Gedanken- und eine sich verrin­ gernde Sprachtätigkeit gerichtet. Dies ist ein weiterer Beweis dafür, daß der informierende Aspekt der Sprache in einer vom sozialen Gesichtspunkt separaten Entwicklung verläuft. Andernfalls müßte der Spalt eines Tages so entscheidend werden, daß Information in mathematischen Formeln enkodiert und nicht mehr in Konversation ausgedrückt wird.

124

Kapitel VIII Aus Chaos Ordnung oder Gedanken und (Sprach-)Handlung

Zwischen der Untersuchung physiologischer Aspekte des Zentral­ nervensystems und seines Endprodukts (Gedanke und Sprache) scheint eine unüberbrückbare Kluft zu bestehen. Die Spezialisierung in den Wissenschaften hat heute ein solches Maß erreicht, daß nur noch wenige Forscher ihre Aufgabe darin sehen, die Verkettung beider Phänomene unter die Lupe zu nehmen. Die bei solchen Untersuchungen immer wieder unterschwellig auftauchende Frage bleibt häufig unausgesprochen: wie nämlich ein immaterieller Ge­ danke eine physische Aktion zur Folge haben kann. Da Erkenntnisse ohne einen handfesten Beweis dem pragmatischen Sinn eines For­ schers zwangsläufig verdächtig erscheinen müssen, bleibt das Gebiet der Geist-Soma-Interaktion hauptsächlich der Philosophie Vorbe­ halten, in der Spekulationen als legitim erachtet werden. Aber gehören solche Überlegungen überhaupt noch zu unserem Thema? Begegnen wir in der Geist-Soma-Dichotomie nicht noch größeren Schwierigkeiten als bei der Erforschung der menschlichen Sprache? Ein historischer Rückblick zeigt, daß in jeder Epoche diejenigen Methoden zur Deutung des Geist-Körper-Problems angewandt werden, die aufgrund des bis zu diesem Zeitpunkt erreichten Wissens zur Verfügung stehen. Das gleiche gilt für die gegenwärtige Einschät­ zung des Problems: Mit der Erforschung der mikrobiologischen Elemente des Gehirns ist man sich langsam gewahr geworden, daß die neuesten technologischen Fortschritte in der Informationsverar­ beitung auf anderen Prinzipien beruhen als die biologischen Arbeits­

I25

weisen der Nervenstrukturen. Wir müssen uns zur Zeit mit der Feststellung zufriedengeben, daß technische Mittel noch nicht er­ funden sind, um dem Kernpunkt, dem Wesen des immateriellen Gedankens, beizukommen. Doch sind auch ohne hinlängliches technisches Wissen - sozusa­ gen eher intuitiv - wertvolle Erkenntnisse zum Verhältnis zwischen Gehirnstrukturen und geistigen Vorgängen vorgelegt worden. Die meisten Wissenschaftler, die sich mit diesem Problem befaßt haben und noch befassen, haben - sowohl in der Vergangenheit als auch heute - eine allgemeine Vorstellung von der Richtung, in der sich die Forschung weiterbewegen soll. Die Frage ist nur, welcher Weg zum Ziel führt. Bisher war die Verlockung groß, die ungeheuer komple­ xen biologischen Phänomene des menschlichen Geistes auf mysti­ sche Weise zu erklären. Heutzutage neigt man zu der Annahme, daß Phänomene, die unerklärbar sind, sich einfach dem gegenwärtigen Wissen entziehen, und vermeidet so das Labyrinth metaphysischer Deutung. Unser eigener Ansatz ist von einer pragmatischen Einstellung hinsichtlich der augenscheinlichen Stofflosigkeit des Geistes be­ stimmt: Gedanken sind ohne die für Kohlenstoffverbindungen cha­ rakteristische Fähigkeit, komplexe multidimensionale, sowohl se­ mistabile als auch stabile, und vielgestaltige Ketten zu bilden, nicht möglich. Daraus ergibt sich, daß durch gewisse Konstellationen von Kohlenstoffverbindungen unvorstellbar viele Möglichkeiten entste­ hen, in denen sich biochemische Bestandteile kurzfristig oder lang­ fristig miteinander verbinden und ein Epiphänomen - ein Beipro­ dukt ähnlich dem Auftreten eines Geruchs, einer Farbe oder von Hitze als Folge chemischer Interaktionen - hervorrufen können, das wir als Bewußtsein bezeichnen. Wir wissen jedoch nicht genau, worauf sich dieser Überbegriff bezieht. Feststellbar ist nur, daß dieses innerlich verspürte »Etwas« eine direkte Folge molekularer Vorgänge ist, ohne aber mit diesen identisch zu sein. Wenn eine bestimmte Region des Gehirns während einer Opera­ tion mit Elektroden gereizt wird, ergeben sich registrierbare, sich entladende Aktionspotentiale. Der Experimentator kann mit ziemli­ cher Gewißheit sagen, daß der Patient mit seinem »inneren Auge«

126

etwas perzipiert. Es ist aber dem Experimentator nicht möglich, dieses Bild zu identifizieren, bis die elektrische Erregung des Patien­ ten sich in Gedanken und schließlich in Sprache transformiert. Die Realität dieser Vorgänge existiert nur in der persönlichen Erfahrung eines Individuums; für andere ist sie nur eine Zacke auf dem Elektro­ enzephalogramm. Wir haben schon erwähnt, daß sich die Evolution, wenn man diesen Begriff als personifiziertes Agens betrachtet, das seine Aufga­ ben zweckmäßig erfüllt, als außergewöhnlich intelligent erweist. Wir brauchen keine Beispiele zu nennen, da schon das Thema unseres Buches, die Sprache, genügend Beweiskraft besitzt. Nun besagt unser objektives Wissen in bezug auf die Evolution, daß eine astro­ nomisch große Zahl von Versuchen, die ohne Ziel und Zweck durchgeführt wurden, eine im Verhältnis dazu verschwindend kleine Anzahl adaptiver Erfolge hervorbrachte. Im Hinblick auf die Trillio­ nen und Abertrillionen von Variationen evolutionärer Konstellatio­ nen ist es aber auch kein Wunder, daß hin und wieder ein positives Resultat erzielt wird. Es ist auch bekannt, daß die möglichen Zellver­ bindungen unseres Zentralnervensystems ebenfalls astronomische Größen erreichen. Wenn wir nun in einem Gedankenexperiment die Zeitspanne der evolutionären Entwicklung der Lebewesen von zweieinhalb Milliar­ den Jahren auf wenige Tage komprimieren, dann würden alle diese Zufallsresultate als willkürliche, bezweckte Manifestation einer op­ timal ausgebildeten Intelligenz erscheinen. Der Aspekt des Zufalls würde durch die trillionenfachen, beinahe in einem Augenblick sich vollziehenden evolutionären Veränderungen total überdeckt. Wenn wir im gleichen Sinn eine jooojährige Sequoie (den amerikanischen Mammutbaum) auf die Größe eines Grashalmes reduzieren und die jooo Jahre auf wenige Monate verkürzen, dann zeigen die biologi­ schen Wachstumstendenzen kaum einen Unterschied zwischen bei­ den Vertretern von Pflanzenspezies. Grundlegende Faktoren biolo­ gischer Tendenzen sind vom Zeitverlauf unabhängig. Die Prinzipien der lebenden Materie wiederholen sich in allen biologischen Erscheinungen, wenn es auch nicht immer leicht für uns ist, dies zu erkennen. Eines dieser Prinzipien ist, wie schon erwähnt

127

(vgl. auch S. 85), die nahezu grenzenlos »verschwenderische« Ar­ beitsweise der Natur, die sich auf der mikrobiologischen Stufe als besonders markant erweist. Als Beispiel für das auf der makrobiolo­ gischen Stufe etwas weniger auffällige »Verschwendungsprinzip« kann die geschlechtliche Vereinigung angeführt werden, deren phy­ siologischer Mechanismus bei Tieren nur wenige Variationen zeigt. Im Gegensatz dazu sind die der Kopulation vorausgehenden Rituale in der Tierwelt von außerordentlicher Mannigfaltigkeit. Der physio­ logische »Zweck« der triebverzehrenden Aktion, die rein mecha­ nisch vor sich geht, benötigt keine Variation. In der Tat ist jegliches »höfische Beiwerk« der kopulativen Vorphasen aus physiologischer Sicht überflüssig, und vom Standpunkt der Schaffung einer neuen DNS-Kombination aus ist das komplizierte Sexualritual in allen seinen verschiedenartigen Ausdrucksweisen eine Energiever­ schwendung. Wir werden das Konzept des Verschwendungsprinzips und seine Auswirkungen auf das Zentralnervensystem später wieder aufneh­ men, vorerst begnügen wir uns mit einem Blick auf die beobachtba­ ren physiologischen Vorgänge der neuralen Strukturen. Man denkt gewöhnlich, daß der visuelle Eindruck auf der Netzhaut des Auges die in unserem Gehirn replizierte geistige Erfahrung darstellt. Zahlreiche Tierversuche haben aber bewiesen, daß diese Umwandlung von Stimuli in einperzipiertes Bild unendlich kompli­ ziert ist. Ehe noch die Stimuli der Netzhaut die Hirnrinde erreichen, werden sie mehrere tausend Male auf verschiedenen Stationen sor­ tiert. Aber dies ist nur eine anfängliche Sortierung, die stattfindet, noch ehe sich die Stimuli in eine bewußte Erfahrung umwandeln. Die Reizwellen durchströmen viele tausend Male die verschiedenen Gedächtnisspeicher und die Zentren der emotionellen Erfahrungen. Einige hundert Moduln, deren Vibrationen oder Gestaltbildung auf den Durchschnitt der von den Reizwellen getragenen Botschaften ansprechen, bringen den visuellen Eindruck dem Bewußtsein einige Schritte näher. Die höchstentwickelten Zentren formulieren auf der Basis von trial and error eine Hypothese - auch dies erfordert Dutzende von Versuchen -, die dann zu einer sprachlichen Darstel-

128

lung in Form einer »Theorie« bezüglich des perzipierten Objekts führt. Man kann sich nun eine Vorstellung von dem machen, was sich zwischen dem Gewahrwerden eines Schmetterlings und der Feststel­ lung »das ist ein Schmetterling« vollzieht. Der Reizstrom wird auf dem Wege seiner zahlreichen Transfor­ mationen - nahe dem Zentrum des Bewußtseins - als Denkprozeß empfunden; die verdurchschnittlichte Botschaft heftet sich in einer Schlüssel-ins-Schloß-Weise an Dutzende so angepaßter Moduln. Die schließliche Entscheidung- die korrekte Theorie-wird dann als Gedanke empfunden, der zum Sprachausdruck führt. Dieser Vor­ gang erinnert an die Arbeitsweise eines Computers. Blitzschnell werden Ja-/Nein-Antworten abgefragt und sich deckende Schemata eruiert. Und dennoch gibt es da einen ganz wesentlichen Unter­ schied: Der Computer funktioniert außerordentlich ökonomisch und energiesparend, während für das menschliche Gehirn das für alle mikrobiologischen Prozesse maßgebliche Verschwendungsprinzip gilt. Am ehesten läßt sich dies mit dem etwas hinkenden Hinweis verdeutlichen, daß z.B. beim Menschen bei jeder Paarung ioo Millionen Spermien in den weiblichen Genitaltrakt eindringen und nur ein Spermatozoon das Ei befruchtet - wobei dies auch noch ein »Glücksfall« ist. Das Zentralnervensystem sorgt für eine ständige und nur vom Tod der neuralen Zellen beendeten Entladung von Reizen in das Nerven­ netzwerk ; sie erfolgt unabhängig von externen Stimuli und ist für die peripheren Ausgangsaktionen ebenfalls nicht verantwortlich. Dieses energieverschwendende Perpetuum mobile hat nur eine Funktion, nämlich den ein und aus gehenden Stimuli einen Weg zu bahnen. Der Hintergrund für diese biologische Rastlosigkeit könnte sehr wohl die Brownsche Molekularbewegung sein: eine durch Molekülstöße verursachte, ständige, unregelmäßige Bewegung kleinster, in Flüs­ sigkeiten oder Gasen schwebender Teilchen, die unter dem Elektro­ nenmikroskop sichtbar sind. Diese neurale Rastlosigkeit kann in das Bewußtsein eindringen und seelische Unruhe hervorrufen. Sie zeigt sich besonders bei Kindern in der Vorphase des Explorationstriebes: als Unfähigkeit, stillzusitzen. Dieser rastlose Zustand des Nervensystems ist auch in

129

den motorischen Aktionen des Organismus zu beobachten, die es erlauben, z. B. möglichst viele Sinneseindrücke gleichzeitig aufzu­ nehmen. Man kann dieser energieverschwendenden Tätigkeit der neuralen Strukturen keine der heute existierenden technischen Arbeitsweisen entgegenstellen. Schon seit den frühesten Epochen der Menschheit wurde durch Werkzeuge Muskelkraft gespart, wozu später auch eine Materialersparnis kam. Der gemeinsamen Anstrengung von Tausen­ den folgten später arbeitssparende Maschinen, und in moderner Zeit werden sogar menschliche Wahrnehmung, Denkarbeit, Entschei­ dungen u. a. m. Computern übertragen. Alle Versuche, das Prinzip des Nervensystems instrumental anzuwenden - Bionik ist die Wis­ senschaft, die sich mit diesem Thema befaßt-, sind bisher gescheitert. Hätte aber z. B. ein Ägypter, der zur Zeit der Pharaonen lebte, von einer solchen biologischen Tatsache gewußt, wäre ihm diese weder erstaunlich noch verschwenderisch vorgekommen. Und dies, weil er Zeuge eines wahrhaft verschwenderischen Einsatzes vonTausenden von Sklaven war, die in Millionen von Arbeitsstunden mit den primitivsten Werkzeugen architektonische Meisterwerke schufen, an die wir heutzutage mit unseren modernen Methoden nicht mehr heranreichen. Wenn man den Standpunkt einnimmt, daß Selektion diejenigen Funktionen fördert, die sich für Lebewesen am nützlichsten - oder zumindest als nützlich - erweisen, und daß dies mit dem vorhande­ nen Material geschieht, dann müssen wir das »Verschwendungsprin­ zip« vom Standpunkt seines Nutzwertes aus verstehen. Eine anthro­ pozentrische Einstellung kann uns hier nicht weiterhelfen, weil die uns bekannten technischen Methoden anderen Prinzipien folgen. Die Frage, ob eine solche Anordnung effektiv ist, ist nicht zulässig, da menschliche Bemühungen mit ihren energiesparenden Maßnah­ men unfähig sind, die biologischen Vorgänge zu duplizieren. Viel­ mehr sollte die Frage lauten: »Kann dieses Verschwenden der leben­ den Materie etwas bewirken, was auf keine andere Weise stattfinden kann?« Hier denkt man an eine relativ wenig bekannte physische Erschei­ nung, die sich definieren läßt, aber keine zufriedenstellende Erklä-

130

rung erlaubt: den Komplexitätsfaktor. Er besagt: »Wenn eine sich ständig steigernde Masse von Teilchen, die dieselben Funktionen ausüben, sich anhäuft, dann taucht an einem Punkt dieser Entwick­ lung ein Phänomen auf, das mit den früheren, in den einzelnen Teilchen sich vollziehenden Funktionen nichts mehr gemeinsam hat.« Ein wahrscheinlich zu einfaches Beispiel - da die Masse nicht groß genug ist -, das aber dennoch eine bildhafte Vorstellung dieses Phänomens vermitteln kann, ist die Aktion eines einzelnen Soldaten im Vergleich mit den Aktionen der Armee, der er angehört. Zwi­ schen dem koordinierten Vorgehen einer Armee und der individuel­ len Handlung eines Soldaten besteht eine begriffliche Kluft, obwohl sich die Aktion der Armee aus der Summe der Aktionen einzelner Soldaten zusammensetzt. Würden die Grundlagen für diese Spekulation -der Komplexitäts­ faktor - genaue Messungen oder Quantifikationen zulassen, so daß man von einer wissenschaftlich nachweisbaren Tatsache sprechen könnte, dann würde auch das »Verschwendungsprinzip« einen bio­ logischen Sinn erkennen lassen. Es wäre dann die Anhäufung unzäh­ liger separater Reizabläufe notwendig, um auf einer nächsthöheren Organisationsstufe neue, variierende Funktionen zu erzielen, in diesem Fall Gedanken. Dies ist nicht besonders erstaunlich, wenn wir bedenken, daß an einem Ende der physikalischen Welt aus einer phänomenalen Anhäufung von Energie etwas ganz Neues entsteht das nicht in der Energie enthalten ist -, die solide Materie. Analog kann am anderen Ende eine ebenso phänomenale Anhäufung von Einzelfunktionen materieller Teilchen das Erscheinen immaterieller Gedanken bewirken. In einem ähnlichen Dilemma - Austauschbarkeit von Energie und Materie - befanden sich die Physiker, als Wilhelm Hallwachs im Jahre 1888 entdeckte, daß unter dem Einfluß des Lichts negative elektrische Ladungen aus einer negativen Metallelektrode austreten. Das unerklärbare Rätsel war: Wie sollten elektromagnetische Wellen wie das Licht ein Materienteilchen wie das Elektron aus seiner Bindung stoßen können? Im Jahre 190$ fand Albert Einstein auf­ grund der Untersuchungen von Max Planck, daß Licht nicht nur als

’31

eine Wellenerscheinung, sondern auch als eine Flut von Teilchen aufgefaßt werden muß. Die Energie, die diese Teilchen besitzen, ergibt sich aus der Frequenz des Lichts, multipliziert mit der von Planck entdeckten Konstante h. Man könnte dieses Phänomen auch in anderen Worten beschreiben: Was aus einer Sicht immateriell erscheint, existiert gleichzeitig als Materie auf einer anderen Ebene. Solche Konzepte, daß Einheiten ihre Charakteristika je nach dem Bezugsrahmen ändern, sind der Realität menschlicher Erfahrungen fern und können nur als mathematische Aussagen akzeptiert werden. Die gleiche Schwierigkeit einer begrifflichen Bewältigung liegt der Natur des immateriellen Gedankens zugrunde. Wenn man aber der ungeheuer großen Anhäufung von Energie, die durch spezielle Zusammenballung in solide Materie umgewan­ delt wird - die Zahl der Photonen pro Baryon (ein Materialteilchen) ist als Konstante mit dem seit 1965 gemessenen Wert von einer Milliarde vorgegeben - die korrespondierende Konzentration der in Gedanken resultierenden Reizabläufe gegenüberstellt, findet man ähnliche Größenordnungen. (Moderne Methoden erlauben die Frei­ setzung der in der Materie angesammelten Kernenergie.) Die anscheinende Schwierigkeit, Immaterielles im Zusammen­ hang mit Materie in Begriffe zu fassen, fand eine Lösung in der Welt physikalischer Phänomene. In einem solchen Kontext sind beide Begriffe semantische Artefakte. Wir absorbieren die aus der Umwelt stammenden Botschaften mittels einer Wahrnehmung, die aufgrund biologischer Notwendigkeiten - ausgedrückt in der funktionellen Begrenztheit unserer Sinnesorgane - nur ein kleines Fenster zur Beobachtung von Vorgängen in der Natur zuläßt. Daher entspre­ chen unsere Grundvorstellungen nicht den Realitäten, unter ande­ rem denen von Energie und Masse. Die Kompaktheit eines Tisches ist ein auf dem menschlichen Wahrnehmungsniveau auftauchendes Phänomen, dessen perzipierte Eigenschaft nichts mit der im Verhältnis zu den Elementarteil­ chen, die für die anscheinende Kompaktheit verantwortlich sind, ungeheuren Ausbreitung des leeren Raumes zu tun hat. Ebenso fremd für unser Verständnis von Zeit und Raum sind neue kosmologische Erkenntnisse wie z.B., daß Entfernungen zwischen 132

Galaxien sich vergrößern können, ohne daß sich diese von ihrem Platz wegbewegen - zusätzlicher Raum wird in einheitlichen Raten neu gebildet. Während das Verständnis eines Physikers hinsichtlich der subatomischen und kosmischen Welt keinen Bezug zu unserer Alltagser­ fahrung hat, kann diese dennoch Auskünfte über Ereignisse vermit­ teln, die wir mit unseren Sinnesorganen nicht wahrnehmen können. Hierher gehört auch die Einordnung der immateriellen Gedanken in ein faßbares Schema. Noch einer weiteren Besonderheit der Nervenzelle-dem Fehlen einer mitotischen Teilung (Zellkernteilung mit Längsspaltung der Chromosomen) bereits in den frühen Phasen der Embryogenese kann im Rahmen des Komplexitätsfaktors eine Bedeutung zuge­ schrieben werden. Andere Zellen - mit Ausnahme von Muskelzellen - teilen sich und vererben die genetischen Charakteristika weiter. Im Gegensatz dazu haben die Nervenzellen keine Möglichkeit, ihre »Produkte« weiterzugeben, da sie keine Tochterzellen erzeugen. Der während ihres Lebens ständig unterdrückte mitogenetische Mechanismus ist ein weiteres »Steinchen« im Mosaik der Gedanken­ bildung. Wir müssen annehmen, daß das bei der Teilung einer gewöhnlichen Zelle auftretende »Etwas« im Prozeß der seelischen Verarbeitung mittels Nervenzellen von inneren und äußeren Reizen ebenfalls angewendet wird. Das »Etwas«, das von einer Zellgenera­ tion zur nächsten vermittelt wird, ist Information. Wenn nun dieser informationsübertragende Prozeß eingefangen wird - und nicht mehr den genetischen Instruktionen dient-, kann er ebensogut als Informationsträger im üblichen Sinn benutzt werden.

Das sich in jeder Zelle manifestierende Verschwendungsprinzip ist daraus ersichtlich, daß jede einzelne Zelle die Summe aller geneti­ schen Informationen enthält, die nicht nur den ganzen Organismus, dessen Teil die Zelle ist, rekonstruieren kann, sondern auch die Information der genetischen Strukturen aller vorausgegangenen Linien seit dem Beginn von Leben enthält. Wenn dieses evolutionäre Potential der Zelle durch seine Unterdrückung mittels Überkappung der Gene nun in den Dienst der seelischen Verarbeitung gestellt wird, dann ergibt sich eine solche astronomisch große Zahl an Möglichkei-

«33

ten, daß der Zufall beim Gedankenprozeß dieselbe Rolle spielen kann wie bei der evolutionären Entwicklung. Und in einigen seltenen Fällen kommt es zu »intelligenten« Resultaten. Schon Hegel bemerkte: »Wo Zweckmäßigkeit wahrgenommen wird, wird ein Verstand als Urheber derselben angenommen.«

Steine des Anstoßes bei der Interpretation der Geistestätigkeit als Zufallsprodukt sind die unzweifelhafte Zweckmäßigkeit von Ge­ danken und deren richtunggebende Intentionen. Daneben gibt es jedoch - unseren Sinnen verborgen - die nahezu unendliche Zahl von Alternativen, über die in Bruchteilen von Sekunden Entscheidungen gefällt werden müssen. Schon lange bevor unser Gehirn Denkarbeit leisten konnte, waren in Nervenbündeln (Moduln) Mechanismen angehäuft, die stereo­ type Handlungen mittels Schrittmachern in Gang setzten (z. B. der Rhythmus des Sprechens). Obwohl sich jeder Stimulus im ganzen Netzwerk des Gehirns ausbreitet, zieht die Anwesenheit von unun­ terbrochen aktiven Schrittmachern solche Reize an sich, für deren Empfang schon eine Vorprogrammierung besteht. Die Schrittmachertätigkeit weist auf spontane, von der Umwelt unabhängige Arbeitsvorgänge des Nervensystems hin. Ein gegensei­ tiges Abstimmen von neuralen Zellgruppen resultiert in einer stabi­ len Funktionseinheit, bei der ein anfänglicher Reiz sich in eine »kreisförmige Bahn« einschiebt und von da an periodisch wieder­ kehrt (feedback loop). Normale Stoffwechselbedingungen erlauben diesen Aktionen, lebenslang und ohne Unterbrechung tätig zu sein. Die stabile Umlaufzeit drückt sich in einem Rhythmus aus, der auf andere neurale Aggregate übertragen werden kann. Ein Schrittma­ cher, wie der des Herzens, entwickelt sich schon während des embryonalen Lebens. Obwohl sein innewohnender Eigenrhythmus stabil ist, kann er dennoch, je nach den Umweltzuständen, entweder beschleunigt oder verzögert werden. Andere Schrittmacher sind weniger permanent; sie bilden temporäre fokale Herde als Ergebnis konvergierender Stimulationen. Wieder andere organisieren sich in Zyklen, die als dauerhafte biologische Uhrwerke in verschieden langen Intervallen andere Systeme steuern. •34

Wenn auf dem Zellniveau die Ausgangsenergie auf die Eingangs­ energie (Rückkopplungseffekt) anspricht, dann können diese Schrittmacher, wie der Verschluß einer Kamera, periodisch einen Reiz durchlassen (Lindsley 1961) oder, wie am Fernsehapparat, die Rasterfrequenz der Eingangsenergie periodisch ausprobieren. Ein fluktuierender elektrischer Zustand erlaubt unzählige Variationen von Schaltungen, die sich besonderen biologischen Umständen an­ passen können. Fundamentale Gedankenprozesse, die dann ihrer. Ausdruck in Sprache finden, könnten sehr wohl in dieser Weise gesteuert werden. Mit den in der Komplexität neuraler Vorgänge auftauchenden Gedanken findet auch gleichzeitig eine Einprägung der ankommen­ den, verdurchschnittlichten Informationen in Abertausenden von Moduln statt. Wir sollten daher das langfristige Einlagern von Gedankenstrukturen in Gedächtnisspeichern nicht als spezifische Veränderungen der Zusammensetzung von Aminosäuresequenzen betrachten, sondern mehr als Verzerrung der normalen Schwin­ gungsraten der Schrittmachertätigkeit von Moduln durch neu aufgepfropfte Schwingungen, deren Amplitude und Frequenz von denen des Schrittmachers verschieden sind. Ein Beispiel mag dies veranschaulichen: Wir stehen am Rande eines Weizenfeldes, das von einem leichten Wind in wellenförmige Bewegungen versetzt wird. Dann schlagen wir mit einem Stock auf einige Dutzend Weizenhalme. Diese Störung pfropft sich jetzt auf die vom Wind erzeugte Wellenbewegung auf und wird über die Länge des Feldes weitergetragen. Nun stelle man sich anstatt des Weizenfeldes eine ununterbrochen oszillierende Kreisbewegung vor, die sich über Abertausende von Moduln erstreckt. Ein neuange­ kommener Stimulus bewirkt dann die kleine Verzerrung, die sich den Wellen permanent einprägt. Die Erinnerung an diesen Stimulus bleibt erhalten, solange dieser - wie ein Perpetuum mobile - von den Wellen des Schrittmachers getragen wird. Die Metapher des Weizenfeldes kann uns auch eine sonst wider­ sprüchlich erscheinende Manifestation erklären: Personen mit Lä­ sionen ihrer optischen Leitungsbahnen sollten eigentlich außer­ stande sein, Gestalten in ihrer Ganzheit zu sehen - in sorgfältig BI

ausgeführten Labortests können tatsächlich solche Löcher (Skotoma) des Blickfeldes nachgewiesen werden; aber die Patienten berichten, daß sie dennoch keine Beeinträchtigung bemerkt hätten. Ebenso können Tiere, deren optisches Gehirn bis zu 90 % zerstört wurde, dennoch Objekte genauso erkennen wie vorher. Nun stellen wir uns vor, daß irgendwo in der Mitte des Weizenfeldes Kinder ein Feuer anlegten, wodurch ungefähr ein Zehntel des Feldes zerstört wurde. Wenn wir unser früheres Experiment mit dem Stock wieder­ holen, könnte am anderen Ende des Feldes eine genügende Anzahl von verzerrten Wellen ankommen, so daß ein wellenanalysierender Apparat ohne Schwierigkeit die Art der Störung erkennt. (Dies weist darauf hin, daß optische Wahrnehmungen der Netzhaut nicht wie Fotos auf die Sehrinde projiziert werden. Wäre dies der Fall, dann würde eine Person Löcher, entsprechend den Verletzungen, in ihrem Gesichtsfeld bemerken. Die früher angenommene Punkt-aufPunkt-Übertragung von der Peripherie zu den Zentren der visuellen Wahrnehmung entspricht nicht den klinischen Befunden.) In ihren Spielen und Entdeckungen setzen sich Kinder mit einer Anzahl von Variablen (Ungewißheiten) auseinander, die als Reiz­ empfindungen die spontan oszillierenden Kreisströme vieler Mo­ duln verzerren. Wenn sich eine Übereinstimmung zwischen der neuen und einer bereits festgelegten Verzerrung ergibt, verspüren sie das freudige »Heureka!«-Gefühl (der Ausruf des Archimedes, als er die Lösung eines mathematischen Problems fand: »Ich hab’s gefun­ den.«), das sich in einer plötzlich eintretenden Entspannung mani­ festiert. Der Zyklus Objekt im Sichtfeld - Neugierde- Ungewißheit - Spannung - Exploration - »Heureka«-Entspannung ist der haupt­ sächliche Ansporn für Kinder, ihre geistige Geschicklichkeit zu erweitern. Um ihre intellektuelle Entwicklung zu fördern, vergrö­ ßern wir den von ihnen verspürten Grad der Ungewißheit, indem wir ihnen Rätsel, Herausforderungen, neue Situationen, Versteckspie­ len usw. anbieten. Aus alledem läßt sich folgern, daß »freier Wille« dann in Aktion tritt, wenn man einer spezifischen Ungewißheit ausgesetzt ist, die einen Vergleich mit schon Bekanntem erfordert und dann in einer Handlung resultiert. Dasselbe Prinzip bezieht sich auch auf die

136

Konversation, die wesentlich aus einer Mischung von erwarteten und unvorhergesehenen Wendungen besteht. Wenn genügend Ge­ wißheit herrscht, verliert das, was man von einem Moment zum anderen sagt, an Informationsbedeutung - das Interesse ebbt ab, und Langeweile setzt ein. Konversation ist dann stimulierend, wenn ein gewisser Grad an Unerwartetem das Zuhören interessant macht; doch in exzessivem Grad ist diese Sprechweise charakteristisch für den Geistesgestörten.

Wenn eine These auf der Formulierung von Begriffen allein basiert, sucht man natürlich möglichst viele Bestätigungen anderer Forscher. Lorente De Nö liefert reichlich Beweise (basierend auf mikroskopi­ schen Untersuchungen), daß Nervenzellen nicht nur Ketten, son­ dern auch Schaltkreise bilden. Er formulierte das Gesetz der Wech­ selseitigkeit der Verbindung von Nervenzellen: Wenn ein Zellkom­ plex »A« Nervenfasern zu einem ähnlichen »B« lenkt, dann sendet »B« Nervenfasern oder internuntiale (kürzere, verbindende) Neuro­ nen auf anderen Bahnen zurück zu »A«. Youngs These war, daß ein geschlossener Schaltkreis von Neuro­ nen im Zustand erhöhter Reizbarkeit einen von der Umwelt aufge­ nommenen Sinneseindruck in Form eines Reizstromes beherbergt, der ununterbrochen weiterbesteht. Im Zustand gelöschter Reizbar­ keit ist der Reizstrom wirkungslos in den Neuronen gespeichert. Auf diese Weise könnte das System die Information eines Geschehnisses formbeständig und permanent immer wieder reproduzieren. Die Darstellung der Hirnfunktionen, die ihre Gültigkeit bis in die fünfziger Jahre beibehalten hat, stützte sich auf den Begriff der »kortikalen Assoziationsfelder« und Hughling Jacksons Konzept der funktionellen Schichtung der Gehirnteile. In diesem Sinne pas­ sieren einströmende Wahrnehmungen Relaisstationen - z. B. den Thalamus -, um dann zu der Assoziationsrinde gesteuert zu werden, wo eine Integration aller höheren Tätigkeiten stattfindet. Später wurde der Weckmechanismus, der seinen Ursprung in der Formatio reticularis hat, hinzugefügt - er kontrolliert den Grad der Aufmerk­ samkeit. Um die Wende der fünfziger Jahre kamen verschiedene JJ7

Wissenschaftler zu der Überzeugung, daß das limbische System (in niederen Tieren dient es als Riechzentrum), das vorher nur als eine Relaisstation angesehen wurde, sich in Stromkreisen anordnet. Es besteht sozusagen aus einem ständigen Fluß von Vorstellungsmu­ stern, die als programmierende »Tonbänder« die »Computer« der Neurinde beeinflussen. Smythies (1970) entwickelte eine These aus dem Zusammenspiel von Hippocampus, Mandelkern und Formatio reticularis (anatomi­ sche Strukturen, die sich unterhalb der Rinde befinden): Der Hippo­ campus wird ständig in verschlüsselter und analysierter Form über den Zustand der Umwelt informiert; diese Information zirkuliert dann im Neuronenkreis für Emotionen in Form einer inneren Repräsentation der äußeren Welt. Gleichzeitig gibt der Mandelkern demselben Systemkreis Informationen über das Geschehen im vege­ tativen System. An allen Punkten des Neuronenkreises für Gefühle fügen sich Informationssätze in das Programm ein und verlassen es wieder. Die höheren Zentren erhalten eine ununterbrochene »verdurchschnittlichte« Botschaft von dem, was sich auf dem Neuronen­ kreis abspielt. Auch die neuesten Entdeckungen der siebziger Jahre scheinen unsere These - wenn auch indirekt - zu bestätigen. Hobson und McCarley (1977) untersuchten die neurophysiologische Basis des Traumprozesses und widerlegten die von Freud formulierte und lange für richtig gehaltene Hypothese, daßderTraum unterdrückte Wünsche zeige, die sich im Unbewußten verbergen; daß die Erleb­ nisse des Tages zum Begriffsträger dieser Wünsche werden, die den ethisch-moralischen Standpunkt des Träumers verletzen könnten; daß die Traumgedanken durch verschiedene seelische Maßnahmen Kondensierung, symbolische Verkleidung u. v. a. - in Beunruhigung vermeidende Konzepte umgewandelt werden und daß in dieser Weise der Schlaf nicht gestört werde. Das von Hobson und McCarley beschriebene Aktivierungssyn­ these-Modell ergab sich aus den Resultaten elektrischer Reizungen des Brückenteils des Hirnstammes bei der Katze wie auch daraus entnommenen Exzisionen. Der Einfluß dieser Eingriffe auf die schnellen Augenbewegungen (REM) während des Traumschlafes

138

wurde dokumentiert. Dieses Zentrum mobilisiert seine eigenen Informationen, die in einem hohen Grad von äußeren Reizen unab­ hängig sind und daher wesentlich als zufallsbedingt angesehen wer­ den müssen. Die so erfolgende Aktivierung von Vorstufen eines Gedankenmaterials wird mit gespeicherten sensorischen und moto­ rischen Daten verglichen, oder in anderen Worten, die Hirnstamm­ reize wühlen entsprechendes Erinnerungsmaterial in einer zufallsbe­ dingten Weise auf, das dann von den kognitiven Zentren der Neu­ rinde verarbeitet wird. Die bizarren Elemente der räumlichen und zeitlichen Verzerrun­ gen während des Traumes weisen in viel ausgeprägterem Maße als die bewußten Gedanken während der Wachperiode auf die Zufallsbe­ dingtheit der kognitiven Prozesse hin. Der Traum läßt-wie auch die verwirrte Sprache des Schizophrenen oder des Kopfverletzten auf eine niederer organisierte Form dieser Zufallsbedingtheit schließen. Im Traumschlaf findet eine direkte Hemmung der spinalen moto­ rischen Nervenzellen durch Blockierung ihrer Aktivitäten statt; sie wird als ein paralysierendes Gefühl verspürt: Wir sind unfähig, einer Gefahr zu entrinnen oder Warnschreie auszustoßen. Die stammesgeschichtliche Basis dieser motorischen Hemmung mag in den Schlafgewohnheiten der in Bäumen nestenden Primaten zu suchen sein. Die Schlafparalyse verhindert ein Aus-dem-NestFallen. Unter arteriosklerotischen Schäden der Gehirngefäße lei­ dende ältere Leute fallen oft aus ihren Betten, da die Zentren dieses Mechanismus vom Krankheitsprozeß angegriffen sind. Auch Kin­ der fallen aus ihren Betten, da bei ihnen dieser Mechanismus nicht genügend entwickelt ist. Gleichaltrige Affenkinder klammern sich an den Pelz ihrer Mütter; daher besteht für sie noch nicht die Notwendigkeit einer Schlafparalyse. Ebenso zufallsbedingte okulomotorische Impulse, die die charak­ teristischen schnellen Augenbewegungen (REM) im Traumschlaf hervorrufen, lösen bildhafte Vorstellungen aus : Es besteht ein quan­ titatives Verhältnis zwischen REM und Traumintensität. Auch die­ ses Material wird von der Neurinde interpretiert und demgemäß in halluzinatorische Bildgestalten umgewandelt. Die für eine Person typische Weise des Träumens - das Fundament der psychoanalyti'39

sehen Traumdeutung - beruht auf individueller Ausarbeitung von reizunabhängigem und strukturlosem Material- nicht unähnlich der Deutung von Tintenklecksen eines Rorschachtests; denn wenn man vor Ungewissem oder Unbegreifbarem steht, das man nicht oder nur teilweise mit Begriffen erfassen kann, dann verwirft man das Unbe­ greifbare und liest in die hin und her sich bewegenden Strukturen Bedeutungen hinein, die das Gemütsleben widerspiegeln. Wenn ein Individuum einen seiner Träume beschreibt, gibt es damit nicht ein innerseelisch verankertes Bild wieder, sondern seine Hoffnungen, Konflikte, Wünsche usw., das weitere Schlüsse auf die seelische Natur des Träumers zuläßt. So ergibt sich aus alledem, daß imTraum zufällige Zustandsverän­ derungen des Hirnstamms der Neurinde Material anbieten. Da aber die Neurinde das Material weiterverarbeitet, besitzt dieses im nach­ hinein eine individuelle Programmierung. Aus diesem Grund kann man den sich wiederholenden Traumschemata eine Bedeutung zuer­ kennen. Hobson und McCarley sehen jedoch den Traum nur als einen vorprogrammierten Automatismus an, der von externen Stimuli unabhängig - und möglicherweise auch nur in einem geringen Grad beeinflußbar ist. Daraus ergibt sich für diese Forscher, daß ein wichtiger kognitiver Vorgang des Menschen wenigstens teilweise vom Zufall abhängig ist.

Es bedarf keines großen Gedankensprunges, um auch das bewußte Denken - ebenso wie den Traumprozeß - als von ähnlichen Mecha­ nismen gesteuert anzuerkennen. Der Zufallsfaktor zeigt sich noch deutlicher bei intuitiven Gedan­ ken, dem plötzlichen Auftauchen eines vergessenen Wortes oder von äußeren Bedingungen unbeeinflußten Vorstellungen vergangener Ereignisse usw. Ein weiterer Hinweis, daß unser technischer Fortschritt sich auf einer ganz anderen Ebene vollzieht als die Evolution biologischer Systeme, ist die Wahrnehmung von Farben mittels unseres Sehor­ gans und dessen Nerven Verbindungen. Hier hat besonders die Farb­ fotografie interessante Ergebnisse zutage gefördert. E. H. Land

140

(1977) fragte sich z. B., warum ein Farbfoto im Lichteiner Wolfram­ lampe eine starke Rottönung aufweist, die alle Objekte auf dem Film farblich verzerrt. Und doch können wir, wie oft auch immer wir in einem mit einer Wolframlampe beleuchteten Zimmer ein und aus gehen, die Objekte in ihren natürlichen Farben sehen, ohne vom »roten« Licht dieser Lampe beeinflußt zu sein. Daß das Auge die Welt in unveränderlichen Farben sehen kann, hängt damit zusam­ men, daß seine Entwicklung unabhängig von der Art und Intensität der Beleuchtung erfolgte. In einem sehr bedeutsamen Experiment, bei dem nur das Stäb­ chensystem der Netzhaut durch kaum sichtbares Licht (i/i,joo Fuß-Kerzen) gereizt wurde, ergab sich, daß Rot sehr dunkel, Grün lichter, Blau dunkel, Weiß am lichtesten erscheint. In dieser »farblo­ sen« Welt wird das Bild nicht vom Wechsel der Leuchtenergie beeinflußt. So kann ein schwarzes Viereck stark beleuchtet werden und ein weißes Viereck von kaum sichtbarem Licht bestrahlt werden, und doch ändert sich für das Auge in bezug auf die Farberkennung nichts. Während der anfängliche Reiz der äußeren Netzhautrezepto­ ren der einströmenden Lichtenergie proportional ist, wird die end­ gültige Reaktion des Sehsystems davon bestimmt, wie »licht« oder »dunkel« das Objekt perzipiert wird - dies bedeutet, daß die mit Farben verbundene Qualität »licht« und »dunkel« von der einströ­ menden Lichtenergie unabhängig ist und durch einen biologischen Mechanismus erzielt wird, der sowohl für den kortikalen Bildschirm als auch die Netzhaut zuständig ist; der Eindruck einer Farbe ist nur von der »Licht-dunkel-Variation« in den verschiedenen Wellenbän­ dern abhängig. Land betonte die mysteriöse Weise, in der wir uns alle mit großer Präzision auf die gesehene Farbe einigen, wenn keine offensichtliche physische Qualität vorhanden ist, die es uns erlaubt, die Farbe eines Gegenstandes objektiv festzustellen - das Auge ist fähig, die Licht­ dunkel-Variationen der Farben zu unterscheiden, auch wenn eine verschieden starke Beleuchtung vorhanden ist. Auch hier ergibt sich aus Multimillionen von separaten Hell­ dunkel-Reizempfindungen, die ursprünglich nichts mit Farbe zu tun haben, mittels des Komplexitätsfaktors etwas Neues: nämlich Farbe. 141

Die Zufallsbedingtheit dieses Phänomens ist von der gleichen Ord­ nung wie die der Gedanken, die sich in der Sprache manifestieren (das gleiche gilt auch für den Geruchs- und Geschmackssinn)!

Der Mensch - und dies bezieht sich auch auf die restlichen Lebewe­ sen - lebt in einem Meer von physikalischen Ereignissen, wobei einzelne Vorgänge und Wahrnehmungen in keiner Weise vergleich­ bar sind. Wenn die von uns vorgeschlagene These experimentell beweisbar wäre, könnte sie zwei Fragen beantworten. 1. Ist der Mensch das einzige Lebewesen, das fähig ist zu denken ? 2. Führt die Sprache zur Gedankenbildung, oder führen Gedan­ ken zur Sprache? Zu Frage i: Unsere These besagt, daß neue Funktionen auftau­ chen, wenn die sie produzierende Struktur einen gewissen Grad der Komplexität überschreitet. Eine weitere Definition geistiger Vor­ gänge müßte zeigen, daß dieser Grad erreicht ist, wenn genetisch fixiertes Verhalten von einem neuen abgelöst wird, das Entscheidun­ gen ermöglicht. Mit anderen Worten: Der Zufall oder die Ungewiß­ heit bezüglich einer Aktion ersetzen die instinktiv bedingte starre Handlung. Eine solche Definition würde Gedankengänge oder gei­ stige Vorstellungen auf viel niedrigeren Stufen der Evolution begin­ nen lassen als der des Menschen. (Man denke an die in Experimenten verifizierte Uberlegungskraft der Krake.) Zwar kann man aus dem stereotypen Verhalten der meisten Tiere auf niedrigeren Stufen der Evolution annehmen, daß bei ihnen ebenfalls aufgrund der zerebralen Komplexität · Gedanken· auftau-

chen, aber da diesen keine Einheiten mit entziffernden Fähigkeiten gegenüberstehen, stellen sie nur ein hintergründiges •Geräusch· der Nerventätigkeit dar. Gäbe es eine Möglichkeit, während einer Ope­ ration am bloßgelegten Gehirn Gedankenprozesse mit Hilfe von Meßinstrumenten festzustellen - z. B. als verifizierbare elektrische Veränderungen -, dann sollte man ähnliche Kurvenbilder auch von animalischen Gehirnen erhalten. Doch könnte man letzteren beim gegenwärtigen menschlichen Wissensstand keine Bedeutung zu­ schreiben. Zur zweiten Frage: In dem Maße, wie sich die Ungewißheit in der 142

Wahl von Alternativen steigert, gewinnt das Attribut Zufall bei Gedankenvorgängen eine größere Bedeutung. Da die Ausdrucks­ möglichkeiten verschiedene Informationsgeleise benutzen können, kann ein Gedanke auch ohne verbalen Ausdruck vermittelt werden; Gesten, Mimik, Lautgebilde u. a. genügen, um Intentionen klarzu­ machen. Das präverbale Kind gibt in unzweideutiger Weise seine Wünsche zu erkennen, wobei es ohne den Gebrauch der Sprache Erwachsene zu Handlungen veranlassen kann. In der allmählichen Menschwerdung muß es eine Phase gegeben haben, in der sich die Wahrnehmung eines Gedankens mit Worten zu verknüpfen begann. Damit aber stünden uns verifizierbare biologi­ sche Zufallsfaktoren zur Verfügung, um eine mysteriöse Arbeits­ weise der Nervenzellen zu postulieren. (Die mittelalterliche Vorstel­ lung eines Homunkulus im Gehirn, der die geistigen Aktivitäten ähnlich einem Schiffskapitän in Gang setzt, ist in modernen Zeiten durch neue, wissenschaftlicher klingende Faktoren ersetzt worden.) Diese These ermöglicht die Koexistenz des Zufallsfaktors mit dem, was als freier Wille erscheint. Die in unserem Nervensystem einge­ bettete Ungewißheit kann zu einem Gefühl der Unsicherheit führen und den Wunsch aufkommen lassen, zu einem mehr stereotypen Denken zurückzukehren. Andererseits erlaubt die Ungewißheit, mit Neuem zu experimentieren, Gedankensprünge, Intuitionen usw. Und damit wird die Ungewißheit oder das Nichtfestgelegtsein zum menschlichsten Element unseres Gehirns. Abschließend möchten wir Horst Lange-Prolius (1978) zitie­ ren, der mit seiner Bemerkung den Kern dieses Kapitels herauskri­ stallisiert hat: »Die bisherige Methode des Brainstorming , * dieses Halbgottes der Ideenfindung, über den Weg der Kombination von zufälligen Einfällen zu neuen Lösungen zu kommen, ist nicht viel besser als die von der Natur angewandte, über zufällige Genkombi­ nationen Selektionsfortschritte zu erreichen.« In einem früheren Werk (Other Senses/Other Worlds) haben wir die Möglichkeiten untersucht, wie sich Intelligenz entwickelt haben könnte, wäre die * Ein Verfahren, um durch Aneinanderreihen von spontanen Einfällen der Verant­ wortlichen einer Firma die beste Lösung eines Problems zu finden.

M3

Umwelt von anderen Sinnen als den Augen wahrgenommen worden. Doch die Intelligenz hat eine Stimme, und die wollen wir jetzt untersuchen.

144

Kapitel IX Stimmbildung oder Verständigung durch Intonation

Der Begriffsinhalt eines Wortes steht im allgemeinen so sehr im Vordergrund unserer Aufmerksamkeit, daß wir kaum daran denken, was der dem Wort zugrundeliegende Zweck sein könnte. Oberfläch­ lich gesehen läßt sich sagen, daß Wörter Vermittler von Informatio­ nen sind. Demgegenüber hat aber die »Sprache« unserer nächsten Verwandten, der Affen, über den Kommunikationswert hinaus auch eine bindende Funktion, die in den Individuen einer Gruppe das Gefühl der Zusammengehörigkeit verstärkt und deren Bedeutung gar nicht hoch genug eingeschätzt werden kann. Wenn wir nach dem der menschlichen Sprache zugrundeliegenden Zweck suchen, geraten wir zunächst in Schwierigkeiten. Ohne die Entwicklungsgeschichte des Menschen als Leitfaden würden die in unserer Zeit manchmal gleichzeitig auftretenden oder aufeinander­ folgenden und meistens widersprüchlichen Elemente, aus denen sich der Zweck der Sprache herauskristallisiert, eine so hoffnungslos verwickelte Begriffsgestalt ergeben, daß uns die wesentlichen Struk­ turen entgingen. Erst wenn wir das evolutionäre Geschehen berück­ sichtigen, erscheint manches nicht mehr so rätselhaft. Vor allem die soziale Bindungskraft der »Affensprache« liefert uns einen Hinweis darauf, daß in einer Phase der Menschwerdung das gesprochene Wort über die Informationsvermittlung hinaus auch zum Zusam­ menhalt der frühmenschlichen Gruppe beigetragen haben muß. Der Informationsaustausch der Menschenaffen berührtallesozia­ len Aspekte, die in einer Gruppe auftreten, und seine Leistungsfähig­ keit zeigt keine Verminderung im Vergleich zur Sprache. Worte Mi

könnten, wie wir gesehen haben, zum Sozialleben der Affen nicht wesentlich beitragen; dafür genügen die begrenzten Möglichkeiten von Gesten und Geräuschen. Wenn wir die funktionellen Aspekte des frühmenschlichen Sprachniveaus den informationsvermittelnden Gesten und Geräu­ schen der Affen gegenüberstellen, war der Präsapiens-Typ schon durch eine Sprachphase hindurchgegangen, die bei den nicht­ menschlichen Primaten keine Parallele hatte. In dieser Vorphase muß die Sprache einen Zweck gehabt haben, der im Sprachgebrauch der späteren Entwicklungsperioden nur als transparente Spur erhal­ ten geblieben ist. Da stammesgeschichtliche Merkmale in bezug auf die Lautgestaltbildung der Frau offensichtlich eine andere Stellung zuweisen als dem Mann, muß ihre Protosprache Aufgaben gehabt haben, die aus den Sprachelementen der nachfolgenden Stufen nicht mehr erkennbar sind. Man wird darüber vermutlich nie Genaueres aussagen können, aber immerhin haben wir hinsichtlich der Proto­ sprache Indizienbeweise. Unsere vorläufige Annahme bestand darin, daß die ursprünglich auftauchenden Lautgebilde einerseits keine wortähnliche Begriffs­ gestalt besaßen, aber andererseits einen ausgesprochenen Nutzwert hatten, den wir in dieser Phase unserer Untersuchung noch nicht erfassen konnten. Einer Tatsache waren wir jedoch sicher: daß die Protosprache für den weiblichen Präsapiens - aufgrund der noch heute vorhandenen genetisch bedingten Sprachüberlegenheit der Frau - einen biologischen Zweck hatte, der mit der Anatomie, der Physiologie und dem Verhalten der Präsapiens-Frau zusammenhing - wahrscheinlich in dem Maße, in dem diese sich von den Äquivalen­ ten des männlichen Präsapiens-Typs unterschieden. Wesentliche Aufschlüsse über den Ursprung der Sprache mußten also der allmäh­ lichen Lautgebung zu entnehmen sein. Um aus dem Dilemma herauszukommen, welches Projekt wir zuerst anfassen sollten, entschieden wir, daß einer von uns die Stimmbildung des gegenwärtigen Menschen untersuchen sollte, während der andere die Rolle der Frau in der Präsapiens-Gruppe aus noch heute existierenden Verhaltensrelikten und stammesbedingten

146

Mechanismen rekonstruieren würde. Wir hatten den Eindruck, daß diese beiden Themen parallel lägen und doch irgendwo konver­ gierten. Zunächst hatten wir uns zu fragen, ob nicht in der unterschiedlichen Lautgebung eine Erklärung zu finden sei? Vielleicht ließen sich hier auch Funktionsrelikte aufdecken, die zu der für die Sprachbildung entscheidenden Periode führten. Gewisse strukturelle Anordnun­ gen des Körpers und deren Funktionen, besonders wenn sie einen höheren Entwicklungsgrad aufweisen, besitzen eine außerordentli­ che Variationsfähigkeit, deren Mittelwert spezifisch genug ist, um als solcher erkannt zu werden. Dies gilt auch für die menschliche Lautgestaltung - man denke nur an das Frequenzspektrum des Gesangs, das mit dem Bassisten beginnt und bis zum Koloratur­ sopran reicht. Es ist z. B. nicht besonders schwierig, eine uns vertraute Stimme am Telefon zu erkennen, auch wenn der Sprecher sie zu verstellen sucht. Aber wir finden es äußerst schwierig zu sagen, was uns an soeben gehörten Lautgebilden als charakteristisch auffiel. Mit einer elektronischen Apparatur können die von einer Stimme hervorgeru­ fenen, sichtbar gemachten Vibrationen ein Individuum jedoch ge­ nauso identifizieren wie seine Fingerabdrücke. Der Musikhistoriker G. Becker gab aufgrund von Schallanalysen - dem Beitrag der verschiedenen Teile des Vokalapparats zur Laut­ bildung - Hinweise, wie man einer Person durch Nachahmen von Brust- und Körperstellung die Stimme erstaunlich getreu imitieren kann. Außerdem können wir die Stimmung einer Person -die Etymolo­ gie des Wortes »Stimme« ist kein Zufall - aus den sich bei einer Konversation ergebenden Tongestalten erfassen. W. Wundt hat sich bemüht, aus Rhythmusänderungen und Tonmodulationen Rück­ schlüsse auf Affekte zu ziehen. Der Laie schätzt eine Gemütsstimmung hauptsächlich nach den dimensionalen Aspekten der Laute ein, wie z. B. Stärke, Höhe, Dauer, Steigen und Fallen der Tonhöhe usw. Subtilere Anzeichen sind: Ausdrucksleichtigkeit und -hemmung, Änderungen der Wel-

«47

lenform der Stimme, emphatische Dehnung, Lautwiederholungen, Pausen, Räuspern und andere non-verbale Geräusche, Stakkatooder Legato-Aneinanderreihung von Wörtern, abbrechende und schon in der Mitte eines Satzes abklingende Sprechweise, Betonen eines im Zusammenhang des Gespräches irrelevanten Wortes, Arti­ kulationsschärfe, undeutliches Prononcieren und Wortschlucken. Phylogenetisch lassen sich diese paralingualen Begleiterscheinungen von dem bei niedrigeren Spezies vorhandenen, affektiv bedingten Lautausdruck herleiten. Dieses präexistente, vorsprachliche Aus­ druckspotential fand seinen Weg in die menschliche Sprache und fügte den in der Phonationsgestaltung bereits vorhandenen Dimen­ sionen eine weitere hinzu. In Schallbildern kann man diese sich verschmelzenden Faktoren noch deutlich erkennen. Wir alle reagieren, meistens unbewußt, auf in der Wortgebung mitschwingende Gefühle. Ein erfahrener Psychotherapeut hat sein sogenanntes drittes Ohr auf solche Sendungen geradezu »einge­ stellt« (vgl. Reik 1976). Kleinkinder, denen die präzise Bedeutung vieler Wörter noch fehlt, reagieren mehr auf die Stimme, d. h. die in ihr ausgedrückte Affektivität, als auf den Sinn des Gesagten. Wenn man ein neutrales Wort barsch genug ausspricht, kann man ein Kind zum Weinen bringen. Die in der Phonation erscheinenden paralingualen Manifestatio­ nen von Gefühlszuständen sind stammesgeschichtlich vorgegeben. Das gleiche gilt für die Grammatik der Aneinanderreihung von Wörtern wie auch für die im Vorstadium des Spracherwerbs geäu­ ßerten Laute des Kindes. Die universale Verbreitung und die relative Unabhängigkeit von der angewendeten Nationalsprache sind ein weiterer Beweis dafür, daß diese paralingualen Manifestationen nicht durch Lernen erworben worden sind. Lautäußerungen bei der Katze, die von motorischen Wutreaktio­ nen begleitet sind, können durch elektrische Reizung einer bestimm­ ten Region des Hypothalamus im Mittelhirn ausgelöst werden - sie drücken sich in rhythmischem Schreien während der Ausatmung aus, der eine verlangsamte tiefe Einatmung folgt, und sind dem jammernden Weinen eines Kindes nicht unähnlich, wenn es sich verlassen fühlt. Diese Ansprechbarkeit des Hypothalamus ist ver-

148

ständlich, da er zusammen mit anderen Trieben auch der »Sitz der Betreuung« ist. (Die hormonelle Vorbereitung während der Schwangerschaft findet im Hypothalamus statt.) D. W. Ploog wandte dieselben Hirnreizungen beiTotenkopfäffchen an und erzielte variierende Laute, die mit Peniserektionen verbunden waren - d. h., es wurde gleichzeitig der Geschlechtstrieb mit angereizt. Auch diese Begleiterscheinung hat beim Menschen eine Parallele, da sich seine Erregung während des Geschlechtsakts ebenfalls in non-verbalen Lautgebilden äußert. Schusterman und Dawson fanden, daß das Bellen des Seelöwen eine Territorialfunktion beinhaltet, die auf den Dominanzstatus des Männchens hinweist. Diese außerordentlich voluminösen Lautäu­ ßerungen sind gegen Rivalen gerichtet und haben - ähnlich dem Effekt, mit dem ein Ausbildungsunteroffizier bei Drillübungen durch sein Brüllen Rekruten einschüchtert - eine auf Lautäußerun­ gen der kleineren Männchen hemmende Wirkung. Die räumliche Beziehung des geräuschproduzierenden Tieres zu seinen Artgenossen erlaubt eine Einteilung der Laute in: a) solche, die sich auf Kontaktsuche, Warnung, Einladung zum Spielen, Verteidigung, Dominanz und Unterwerfung beziehen und in naheliegenden Gebieten gehört werden; b) Ruf- und Alarmlaute sowie Abschreckungsgeräusche,die füreine größere Distanz bestimmt sind. T. E. Rowell und R. A. Hinde untersuchten die Lautäußerungen von Makaken und zeichneten sie auf Sonagrammen auf. Sie fanden ein starkes Überwiegen tiefer Frequenzen bei ranghohen und an­ griffsbereiten Individuen, ein breites Frequenzspektrum bei sich wehrenden Tieren, hohe Frequenz mit Zeitdehnung bei Unterlege­ nen - die höchste Frequenz bei einem im Kampf besiegten, erschöpf­ ten Affen. Bei Meerkatzen sind die hochfrequenten Laute ebenfalls ein Zei­ chen der Unterwerfung, aber gleichzeitig signalisieren Jungtiere durch diese Laute momentane Isolierung. In beiden Fällen sind die Laute dieser Frequenzbreite angriffshemmend, da sie bei dominan­ ten oder elterlichen Tieren das Betreuungsverhalten auslösen. Auch bei Schimpansen, die von ihrem Pfleger getrennt werden, zeigt das '49

Sonagramm hochfrequente Laute. Einen Dringlichkeitsinhalt be­ sitzt auch der hochfrequente Schrei des menschlichen Säuglings, der die Mutter ganz anders berührt als die niedrigeren Frequenzen des Lallens. Die Bedeutung dieser Tatsache - Auslösung von Betreu­ ungsverhalten durch hochfrequente Laute - wurde uns erst in einer späteren Phase klar, die uns dem wahrscheinlichen Ursprung der Sprache wesentlich näherbrachte. Trojan beschreibt die Gegensätze im stimmlichen Ausdruck, die sich einerseits in einem freundlichen Gespräch (Schonstimme), an­ dererseits in einem aggressiven Satz (Kraftstimme) manifestieren. Der gleiche Kontrast besteht - wenn auch weniger markant - zwi­ schen männlichen und weiblichen Lautäußerungen. Die Schonstimme zeichnet sich aus durch Silben mit leichten Schwellklängen, durch Legato, wellenförmige Veränderungen der Tonhöhe beim Sprechen, nur geringe Unterschiede der Lautheit, langsameres Tempo, gleichmäßig ruhige, wenig frequente Atmung, besonders starkes Zurücktreten der Auslautkonsonanten. Die Kraftstimme zeigt verhärtete Einsätze, lauten Silbenbeginn, aber rasch abklingend, Stakkato, sprunghafte VeränderungderTonhöhe, große Unterschiede der Lautstärke, schnelles Tempo, stoß­ weise Atmung. Die geschlechtliche Differenzierung des Kehlkopfes gibt der Frau eine um eine Oktave höhere Stimmlage als dem Mann, was durch die unterschiedliche Länge der Stimmbänder bedingt ist. Bemerkens­ wert ist, daß sich beim Mann oft eine weibliche Veranlagung in einer höheren Stimme manifestiert. Außerdem ist das Vorherrschen einer erhöhten Tonstufe mit der Tendenz einer Person, unterwürfig zu sein, verknüpft. Eine Mutter benutzt absichtlich die Schonstimme, wenn sie ihr Kind beruhigen will; sie kann dies noch sicherer durch ihre Gesangs­ stimme erreichen, vor allem, wenn das rhythmische Auf- und Ab­ schwellen der Stimme noch durch ein Schaukeln der Wiege verstärkt wird - ein Relikt aus der Primatenvergangenheit, als die Mütter die sich an ihren Pelz anklammernden Jungtiere durch ihren rhythmi­ schen Gang beruhigten. Noch heute tragen die Mütter vieler Stämme ihre oft tief schlafenden Kinder, die sich durch das Rütteln des

150

Gehens nicht stören lassen, in einer körpernahen Schlinge mit sich herum. Wenn das Verhalten des Kindes korrigiert werden muß, wechselt die Mutter zur Kraftstimme über - eine phylogenetisch bestimmte Notwendigkeit, die dem Kind sozial angepaßtes Verhal­ ten beibringt. Wendet jedoch die Mutter gegenüber ihren Sprößlingen ausschließlich die Schonstimme an, wird sich deren Anpassung an die sozialen Verhältnisse ihrer späteren Umwelt nur mangelhaft ausprägen. Man darf wohl annehmen, daß die inflekten Laute, wie sie noch heute als paralinguale Begleiter des gesprochenen Wortes fungieren, die Lingua adamica, die Vorsprache darstellen. Da die gegenseitigen räumlichen Beziehungen der Vokalstrukturen eine große Varia­ tionsbreite zeigen, können z. B. Anforderungsgeräusche, die gene­ tisch verankert sind, eine bestimmte Stellung des Vokaltraktes her­ vorrufen, die sich schließlich als Lexeme kodifizieren. Auch können Geräusche, die auf Objekte hinweisen, ein Nennungsprinzip ein­ leiten. Eine von der Mutter an den Säugling gerichtete Aufforderung besitzt neben dem Lexem, das in diesem Zusammenhang keine Rolle spielt, eine Inflexion, die vom Säugling »verstanden« wird - ein weiterer Beweis der phylogenetisch eingebetteten Lautgebung so­ wohl in ihrer motorischen Produktion als auch in der akustischen Interpretation. Andere Varianten der Tonhöhe, die in Gesprächen Erwachsener leicht nachweisbar sind und allgemein erkannt werden, sind die am Ende eines Satzes auftretenden Intonationskonturen, die den Empfänger informieren, ob er eine Frage, Aussage oder Konti­ nuität zu hören bekommt. Den Übergang von einer Tonhöhe zu einer anderen vermitteln die parallel zur Begriffsübertragung statt­ findenden Gefühlsregungen. Auch die Schreie eines Säuglings zeigenTonhöhenwechsel, begin­ nend mit einer steigenden, danach gleichbleibenden und vor ihrer Beendigung abrupten Grundfrequenzkontur. Der Schrei des Neugeborenen ist ohne Parallele im Tierreich. So gibt z. B. der nicht weniger hilflose neugeborene Schimpanse keinen Schrei von sich. Dies kann auch experimentell verifiziert werden: Wenn die Auslösestellen seines Gehirns zur Lautproduktion elek*51

trisch gereizt werden, finden nur saugende Lippenbewegungen statt. Auch die plötzliche Entfaltung kollabierter Lungen durch einströ­ mende Luft und die Entfernung eines verschluckten Mekoniums aus den Luftwegen bei Tieren finden ohne Lauterzeugung statt. Da das menschliche Neugeborene sich als der hilfloseste aller Säuger erweist, könnte der biologische Nutzwert des Geburtsschreis ein Signal für die Mutter sein, die so notwendige Mutter-KindBindung akustisch zu initiieren. (Auf die Bedeutung dieser Bindung für die Sprachentwicklung kommen wir in Kap. X zurück.) Des weiteren erfordert die absolute Hilflosigkeit eine phylogenetisch verankerte Kommunikationsform, die Zustände der Unlust kund­ tut. Solche Mitteilungen sind vegetativ bedingt, es fehlt ihnen der sich später entwickelnde Sprechdrang. Aber sie zeigen das physiologi­ sche An- und Abschwellen von Stoffwechselveränderungen wie auch die Schmerzerregung peripherer Nervenenden an. Der Geburtsschrei bleibt in den ersten Lebenstagen das Muster für die Lautäußerungen des menschlichen Säuglings. Man könnte je­ doch den Beginn des menschlichen Ausdruckstriebs vordatieren, wenn man die Mundbewegungen des Fötus einbezieht. Sie stellen Probeversuche der Phonationsmuskulatur dar, eine sich bereits in diesem Frühstadium vollziehende Vorbereitung für den Geburts­ schrei und die nachfolgenden Schreisignale. Dies steht im Einklang mit der von uns in einem späteren Kapitel ausführlicher beschriebe­ nen Lebensnotwendigkeit für das Neugeborene, automatisch einen intensiven Kontakt zu seiner Mutter herzustellen. Es ist kein Wun­ der, daß noch heute - in der geschützten Umgebung moderner Zivilisation - dem Schrei des Säuglings eine Dringlichkeit zugespro­ chen wird, die nicht nur die Mutter, sondern auch Unbeteiligte verspüren. In einer für die Entwicklung des Kindes optimalen Atmosphäre der Betreuung ändern sich seine Laute sehr bald. Es gibt nicht mehr abrupte Laute, vergleichbar dem Geburtsschrei, von sich, sondern beginnt sein Mißbehagen mit kaum hörbaren Geräuschen anzukün­ digen. Eine aufmerksame Mutter »versteht« dieses Signal und er­ greift die notwendigen Maßnahmen. Für die Vergleichende Verhal­ tensforschung ist es von Interesse, daß die Schimpansenmutter

U2

ähnliche unterschwellige Signale ihres Kindes beantwortet; auf eine dem Beobachter nicht wahrnehmbare Botschaft reagierend, hält sie das Kind von ihrem Körper weg, so daß es den Darm entleeren kann. Daß die menschliche Mutter genetisch ebenso vorprogrammiert ist, ersieht man daraus, daß sie Signale wahrnehmen kann, die dem Vater, auch wenn er noch so sehr darauf achtet, entgehen. Dies gilt übrigens auch für den Wissenschaftler, der Instrumente am Kind befestigt, um die vegetativen Vorgänge des kindlichen Organismus und das Wahr­ nehmungsvermögen der Mutter zu messen. Die Erweiterung der kindlichen Lautgebung ist für die Mutter ein faszinierender, ihre ganze Aufmerksamkeit heischender Vorgang, der täglich neue Errungenschaften bringt. Verhaltensforscher ten­ dieren dazu, diesen Feststellungen von Müttern nicht zuviel Gewicht beizumessen - mütterliche Voreingenommenheit sei im Spiel, wenn sie beobachtet, daß ihr Sprößling schon so früh ungewöhnliche »Intelligenz« erkennen läßt -, weil diese objektiv nicht nachweisbar sei. Die objektiv beweisbaren Befunde stellen tatsächlich aber nur einen minimalen Ausschnitt aus dem Kommunikationsrepertoire dar, und die fehlende Nachweisbarkeit beruht gerade auf der man­ gelnden hormonellen Vorbereitung des Beobachters. Für eine Mut­ ter ist das Pendeln der Atmung, jeder Laut, jede Körperbewegung­ um einen mittleren Wert, den sie intuitiv erfaßt - ein äußerst reales Erlebnis. Die Ansprechbarkeit eines nur wenige Wochen alten Säug­ lings auf Worte ist für die Mutter ebenso selbstverständlich. In neuester Zeit haben Wissenschaftler die Erfahrungen von Müttern mittels einwandfrei nachgewiesenen Meßdaten bestätigt. Ohne Un­ terschied, welche Sprache benutzt wird, zeigt das Kind folgende Reaktionen: Fixieren des Gesichts des Sprechers; Arm wedeln; Blub­ berlaute und kaum merkliche, aber genauestens meßbare Span­ nungsveränderungen in allen Muskeln. Um die 7. Woche kann das Kind dem Gefühl des Wohlbehagens, das mit einem gefüllten Magen einhergeht, Ausdruck verleihen; Lautgebilde geringerer Intensität drücken den Zustand der Sättigung aus. Eine etwa stärkere Intensität und größere Modulation der Laute signalisieren in der 8. bis 10. Woche den Zustand des »Vergnügens«. Das Lallen setzt ungefähr in der 11. Woche ein und wird im Laufe

U3

der Zeit anhaltender. Zunächst vokalisiert das Kind einzelne Silben, die es später in Form von Wiederholungen oder unterschiedlichen Lauten aneinanderreiht (auch Konsonanten werden hörbar). Daß beim Lallen kein umweltbedingter Einfluß vorliegt, ergibt sich aus der Unmöglichkeit für Erwachsene, manche der Schnalz-, Sprudelund Blubberlaute (mit aus Speichel gebildeten Luftblasen kombi­ niert) nachzuahmen oder schriftlich darzustellen. Natürlich wird in den späteren Monaten des ersten Lebensjahres das Lallen von den Äußerungen der Erwachsenen beeinflußt. Wir erinnern uns noch lebhaft an den komischen Effekt eines Lallmonologs unseres 14 Monate alten Sohnes. In Tonfall und Artikulation hörte sich das wie ein ernstes Gespräch an, das durch gelegentliche Emphase und Intonationskontur zur Karikatur erwachsener Wichtigtuerei wurde. Ein zwerchfellerschütterndes Gelächter war die Folge. Zunächst lallt das Kind unmittelbar nach Beendigung seiner Mahl­ zeit etwa 5-15 Minuten. Mit zunehmendem Alter erwirbt es unter­ schiedliche Intonationskonturen, die die ebenfalls unterschiedlichen Vokalisationen erweitern. Wenn eine Mutter ihrem ruhig im Bett liegenden Kind Lailaute vormacht, erwecken diese binnen kurzem einen Widerhall, der zu einem »Lallduett« führt. Andere Laute des Säuglings könnte man als Jauchzen und Krähen bezeichnen, die auf freudige Erregung hinweisen. Im 7. bis 8. Monat werden Silben bei einmaligem Vorsagen nach­ gesprochen. Verdoppelungen treten auf und auch rollende Gurgel­ laute. Im 8. Monat sagt das Kind »papapa« und »mamama«. Das Lallen ist intonationsreicher geworden, und mit einiger Phantasie kann man silbenähnliche Laute vernehmen, die oft von einem Ge­ mecker unterbrochen werden. Die ersten Worte unterscheiden sich vom Lallen allerdings so wenig, daß man ihnen kaum eine begriffliche Resonanz zuschreiben kann. Aber diese rudimentären Worte sind inzwischen zu Trägern von Affektzuständen geworden: Das Kind äußert Lust und Unlust, Wollen und Nichtwollen oder einfaches Wahrnehmen durch diese Lautgebilde. Am Ende des ersten Lebensjahres verfügt es über ein rudimentäres Sprachverständnis und begrifflich konzipiertes Spre­ chen, das nicht nur im Nachahmen besteht. >54

Lallen, Gesten und Mimik sind psychomotorische Manifestatio­ nen, die mit einem seelisch verspürten Reizablauf beginnen und sich in muskuläre Aktivitäten umsetzen, ohne daß es in bezug auf das Lallen einer Erfahrung oder eines Vorbilds bedarf. Da beim Kind soziale Hemmungen noch nicht entwickelt sind, bewirkt jede innere Regung eine motorische Reaktion. Am leichtesten ansprechbar sind die Muskeln von Gesicht, Zunge, Kehlkopf, Armen und Beinen. Daß die Kehlkopfmuskulatur hier einbezogen wird, könnte auf eine Vorbereitung für die künftige Sprachfähigkeit hinweisen. Aber das Lallen hat, wie wir später herausfanden, eine spezifische Funktion, die mit der Sprache nur sehr wenig zu tun hat. Es scheint wie ein Zufall der Evolution, daß Sprache und Lallen dasselbe Organ be­ nutzen. Für die Vervollkommnung der anfänglichen Lautbilder hat die Mutter eine überragende Mittlerrolle. In dem Maße, in dem sie die Signale des Säuglings beachtet, lernt dieser den Nutzwert eines Schreies - das Abstellen des Unbehagens - kennen. Durch das Eingreifen der Mutter, die die vorsprachlichen Lautgebilde des Säuglings durch Wiederholen verstärkt, wird das Gefühl eines Austauschs von Gemütszuständen wach. Die höhere Tonlage und die sanftere Stimme der Frau erleichtern es ihr, sich auf die Tonfrequenz ihres Kindes einzustellen. Wenn das Kind durch Lautäußerungen eine Befriedigung seiner Bedürfnisse erzielt hat, bewirkt das von ihm verspürte Erfolgserleb­ nis eine allmähliche Veränderung der Antriebsverhältnisse. Seine Lautäußerungen dienen sowohl in der Qualität als auch in der Quantität mehr und mehr dem Zweck, seine Stimmung auszudrükken. Mutter und Kind verbessern ihre phonetischen Strategien, die sich unter idealen Umständen zu einem harmonisch ablaufenden Informationsaustausch vervollkommnen. Diese informatorische Geschicklichkeit seitens der Mutter ist nicht das Resultat eines Lernprozesses. Ohne eine genetische Verankerung dieser Fähigkeit, die automatisch zu der richtigen Zeit ausgelöst wird - hierfür sind die Reaktionen des Säuglings verantwortlich -, könnte der komplexe Mutter-Kind-Informationsaustausch nicht stattfinden. Ament schrieb bereits 1899: »Die Onomatopöie und die ge’55

samte Ammensprache sind nicht eine Erfindung der Mütter und Ammen, sondern der ungezählten Kinder von Jahrtausenden·, die Mütter und Ammen stehen dazu in keinem anderen Verhältnis als dem des Fixierens, Überlieferns und Nachahmens des Gegebenen.« Der Säugling lehrt die Mutter seine genetisch fixierten Lautgebilde und löst dadurch ihre vorgeprägte Phonationstendenz zur Baby­ sprache aus. Diese Befähigung ist in einem geringeren Grad in uns allen ange­ legt. Wenn die Zärtlichkeit in den einleitenden Phasen der Sexualverbindung eine gewisse Intensität erreicht, revertiert die Phonation zu diesem Frühstadium - sowohl was die Tonhöhe als auch den Laut­ inhalt betrifft. Warum sich für so viele Erwachsene diese Babyspra­ che als sexuell stimulierend erweist, ist ein interessantes Thema, dessen Behandlung aber den Rahmen unseres Buches überschreiten würde. Der bereits bei den Menschenaffen stark ausgeprägte Nachah­ mungstrieb ist auch beim menschlichen Kind vorhanden und veran­ laßt es zu immer besserem Nachsprechen. Interessanterweise ist die Wiederholung von Wörtern nicht auf den akustischen Bereich be­ schränkt; das Kind fixiert seine Augen auf den Mund derMutter und versucht zunächst seine Lippen lautlos in die richtige Stellung zu bringen; dann erst kommen die nachgeahmten Wörter heraus. Den Lippenlauten wird in den Frühstadien der kindlichen Äußerungen der Vorrang gegeben, da sie mittels motorischer Aktionen produ­ ziert werden, die auch das Saugen bewirken; aber ebenso wichtig ist die Auffälligkeit der sich bewegenden roten Lippen. Die Wörter »Mama« und »Papa« sind im wahrsten Sinn eine Erfindung des menschlichen Säuglings. Das optische Element des Spracherwerbs zeigt sich im Lippenlesen der Taubstummen. Ansätze zur Nachahmung können schon im Alter von drei Mona­ ten beobachtet werden, aber die wiederholten Lautgebilde sind ohne Bedeutung. Wenn jedoch später das Kind einen Ausdruck mit einer Bedeutung verbindet, dann hat es den ersten Schritt zur Symbolisie­ rung seiner Lautgebilde getan. Die Wiedergabe der Laute beim Kind ist - im Gegensatz zum Papagei - nicht wortgetreu; sein unvollständig entwickeltes Nervenij6

System erlaubt nur eine mangelhafte Wahrnehmung von Wörtern und eine ebensolche motorische Artikulation. Die Art der Wortver­ stümmelung ermöglicht interessante, obgleich indirekte Rück­ schlüsse auf die unterschiedliche Entwicklung der Phonationssy­ steme. Beispiele dafür sind: Auslassen von Silben oder schwer auszusprechenden Konsonanten (»pot« für Kompott, »isa« für Gisa); Lautwandel (»bobet« für Robert); Vokal- und Konsonanten­ wandel (hier werden die schwierigen Gaumenlaute durch die leichte­ ren Zahnlaute ersetzt); Erfindung von ähnlich klingenden Lautgebil­ den, um entweder das Wort zu verkürzen oder eine einfachere Aussprache zu erzielen (»einaman« für Weihnachtsmann, »omuta« oder »oma« für Großmutter); Platzwechsel von Wortelementen (»biba« für Papier); onomatopoetische Substitution für einen sich weniger attraktiv anhörenden Begriff (»tschu-tschu« für Lokomo­ tive). Im Alter von 14-16 Monaten beginnt das Kind zu verstehen, und damit wird ein starker Drang zur Wortformulierung ausgelöst. Die fehlende sprachliche Koordination zwingt das Kind, das Lautmate­ rial zu kondensieren oder zu verändern. Das erfolgreiche Finden eines der Bezeichnung eines Objektes nahekommenden Wortes löst in der Mutter eine »Vergnügensreaktion« aus, auf die das Kind besonders anspricht und die daher als Verstärker für die Suche nach neuen Wörtern dient. Doch besteht in diesem Stadium viel weniger eine Tendenz zur Nachahmung. Jetzt setzt viel mehr ein spontanes Verarbeiten des durch Nach­ ahmung erworbenen Materials ein. Das Kind tut Äußerungen, die von Erwachsenen als komisch empfunden werden. Das begleitende Lachen wirkt als weiterer Verstärker, und es ist kein Wunder, daß manche Kinder gern bereit sind, »Vorstellungen« zu geben, sobald sie ein geeignetes Publikum finden. Dem Kind bereitet die Verknüpfung eines seelisch empfundenen Begriffs und seiner Äußerung mittels Phonation an und für sich viel Spaß. Dieser Vorgang hat für das Kind eine spielerische Qualität, und daher kann es, auch wenn es allein ist, sich in einem Monolog unterhalten oder eine Konversation mit einer Puppe führen. Die Kombination von Erlebnisfülle und dem von seiner Umgebung

>57

stimulierten Äußerungsbedürfnis regen es an, neue Wörter zu prä­ gen oder gebräuchlichen Ausdrücken andere Bedeutungen zu geben. Das Kind konstruiert Zeitwörter aus Substantiva, es gibt den Verben seine Version der Flexionsform (ich »gehte«). Auf diese Weise konstruiert es mittels seines genetisch verankerten Sprachpotentials und seiner Erfahrung eine Übergangssprache, die ihm den Erwerb der Erwachsenensprache erleichtert.

An dieser Stelle möchten wir zur Fähigkeit des Kleinkindes, auf Laute anzusprechen, zurückkehren und über die Untersuchungen einiger Forscher berichten. E. L. Kaplan untersuchte Kinder im Alter von vier und acht Monaten hinsichtlich der Perzeption von steigendem und fallendem phonologischem Kontrast, worauf sie mit bestimmten physiologi­ schen und motorischen Reaktionen ansprechen. Erfand, daß Kinder spätestens im Alter von acht Monaten das Steigen und Fallen der Tonhöhe der Stimme, wie sie in der Aussprache der Endsilben zum Ausdruck kommen, unterscheiden können. Das heißt, die Kinder reagieren auf den Frageton in für sie charakteristischer, der Situation angepaßter Weise. Lewis (1951) beschreibt den Übergang von der Wahrnehmung vollständiger Klangmuster beim Kind zur Wahrnehmung phoneti­ scher Formen. Μ. Lahey (1972) erkannte bei ihren Beobachtungen, daß Kinder beim Babbeln noch vor ihrem ersten Geburtstag die Intonationskon­ turen der Sprache von Erwachsenen nachahmen (ein außerordent­ lich wichtiger Punkt, auf den wir später noch zurückkommen wer­ den); auch haben sie in ihrem Babbeln variierende Lautmuster; später sind sie fähig, Einwortausdrücken steigende und fallende Intonationen zu unterlegen. Doch muß darauf hingewiesen werden, daß den wechselnden Intonationsmustern in der kindlichen Lallphase keine sprachliche Information zugrunde liegt, sondern daß es sich hier um eine stammesgeschichtlich verankerte Modulation der Stimme handelt, die sich bis in die Erwachsenenphase des Menschen erstreckt. Nur ist dieses Phänomen dann so mit Worten verknüpft, daß wir es kaum ij8

wahrnehmen (Prosodik befaßt sich mit diesem Aspekt der Sprache). Lieberman (1965) führte eine Vereinfachung derTransskription von Intonationsmustern ein, die es dem Hörer sowohl bei synthetischen Sprachen (fehlende syntaktische und semantische Information) als auch bei unbekannten Fremdsprachen ermöglicht, dieprosodischen Konturen der Sprache eindeutig und in objektiv verifizierbarer Weise zu entziffern. Dies ist ein weiterer Beweis für einen stammesgeschichtlich einge­ betteten Erkennungsmechanismus, der es bereits dem Kleinkind, für das die Informationsstruktur des gesprochenen Wortes ja keine Bedeutung hat, erlaubt dennoch auf Intonationsänderungen - die an sich auch eine Art Sprache darstellen - zu reagieren. Wenn das Kind die Phase der Einwortbildung erreicht hat, wendet es - wie schon früher erwähnt - die angeborene Befähigung zur Sprachmelodie an, indem es seinen Wörtern eine Intonationskontur verleiht. So kann ein Kind die zweite Silbe des Wortes »Ma-ma« mit steigendem, fallendem oder ohne Tonbruch aussprechen. Informelle Diskussio­ nen mit Müttern hinsichtlich ihrer Interpretation dieses unterschied­ lich klingenden Lautgebildes ergaben, daß die meisten Frauen dem Kind zulächeln, wenn es Ma-ma ohneTonbruch sagt; bei steigendem Tonbruch eilen sie zum Kinderbett, da sie ein Schreien erwarten; bei fallendem Tonbruch sind sie weniger besorgt, da das Kind bald einschlafen wird. Es war interessant für uns festzustellen, daß den Frauen die Bedeutung der kindlichen Intonation desto selbstver­ ständlicher war, je »mütterlicher« sie waren. Einige Mütter, von denen wir aufgrund einer psychotherapeutischen Behandlung wuß­ ten, daß sie selbst eine gestörte Kindheit gehabt hatten, die viel zu ihren späteren Schwierigkeiten beigetragen hatte, legten diesen Nu­ ancierungen keine Bedeutung bei; ihre Reaktionen waren von ihrer Stimmung abhängig. Es ist nicht schwierig, dem steigendenTon im Wort »Ma-ma« eine Aufforderung zu entnehmen und dem fallenden einen Hinweis auf die Erwartung einer beruhigenden Geste, die das Kind augenschein­ lich vor dem Einschlafen benötigt - solange der Säugling körpernah gehalten wird, gibt es keine Unterbrechung zwischen Ernährungs­ und Ruheperiode, aber in der Phase der Entwöhnung braucht das

U9

Kind anfänglich diesen Kontakt, um sein Nervensystem dem Zu­ stand anzupassen, der zum Schlaf führt. Mangelnde mütterliche Aufmerksamkeit auf diesem Faktor führt zu unruhigen, kürzeren Schlafperioden. Wenn kein Tonbruch bei der Äußerung des Wortes »Ma-ma« stattfindet, bedeutet dies nicht mehr als die spielerische Ausübung der Vokalisationsfähigkeit des Kindes. Miller (1976) prüfte diese These anhand von Tonbändern mit frühkindlichen Äußerungen. Die Versuchspersonen stimmten in hohem Maße in bezug auf die Intonationskontur kindlicher Ein­ wortäußerungen überein. Miller versuchte jedoch nicht, von seinen Testpersonen zu erfahren, ob sie dem Einworttonbild eine Bedeu­ tung zuschrieben. (Wir glauben, daß ein solcher Versuch im Rahmen einer Testserie nicht sehr erfolgreich gewesen wäre, da unseres Erachtens die Fähigkeit, eine Information aus den kindlichen Lauten herauszuhören, bei Frauen in latenter Form zwar immer da ist, aber erst ihre volle Kapazität erreicht, wenn der Betreuungstrieb hormo­ nell ausgelöst wird.) Miller interpretiert die ansteigende Intonation der kindlichen Einwortäußerungen als eine Aufforderung - die das Kind, oft mit zunehmendem Quengeln, wiederholt -, bis die Mutter die erwünschte Handlung ausführt; die fallende Intonation je nach ihrer Emphase als Beschreibung, Ablehnung oder Widerspruch; den ausbleibenden Tonbruch als Begleiterscheinung von Selbstimpera­ tiven. Spätere Wortentwicklungen zeigen den semantischen Einfluß der Mutter und erfordern eine eigene Untersuchung, die den Bezugsrah­ men unseres Themas überschreiten würde. Umfangreiche Literatur steht dem Interessenten zur Verfügung. Zusammenfassend läßt sich sagen, daß die in modernen Sprachen beibehaltene Phonation wie auch die des Kleinkindes auf einen gemeinsamen stammesgeschichtlichen Ursprung zurückgeht und höchstwahrscheinlich eine Übergangsstufe zwischen der non-ver­ balen Gestik und Mimik der Menschenaffen und der Sprache des Homo sapiens darstellt. Ausläufer dieser vormenschlichen Kommu­ nikationsform finden wir im menschlichen Gesang, in der Rezitation und Rhetorik, wo die Intonationskonturen eine bedeutend ein-

160

drucksvollere Botschaft menschlicher Gefühle vermitteln als die Sprache der Konversation. Es ist erstaunlich, über wie viele Informa­ tionsträger der Homo sapiens für seine sozialen Bedürfnisse verfügt. Um nur einige zu nennen: Gestik, Mimik, Phonation, paralinguale Lautgebilde, Gerüche, Körperstellungen usw. Die Reichhaltigkeit dieser Kommunikationen ist wieder einmal ein Hinweis auf das »Verschwendungsprinzip« der Natur. Die wichtigsten Faktoren, die sich aus der Untersuchung der Phonation ergaben, waren die besondere Ansprechbarkeit der Mutterauf kind­ liches Lallen, ihre dem Kleinkind angepaßte Stimmlage und die von diesem durch sein Lallen ausgelösten Reaktionen der Mutter.

161

Kapitel X

Mutter-Kind-Bindung oder Die »Larvenphase« des Menschen

Bis ins ausgehende 19. Jahrhundert und noch darüber hinaus galt das Säuglingsalter als mehr oder weniger modifizierte Verlängerung der fötalen Existenz. Man traute dem Kleinkind im allgemeinen weder Intelligenz noch Sprache zu. Nach der Jahrhundertwende wurde Kindern zwar eine Sonder­ stellung in der menschlichen Entwicklung zugestanden, doch be­ trachtete man das Kleinkind immer noch als ein unbeschriebenes Blatt, auf das die Eltern pflichtschuldigst die Regeln und das Wissen ihrer Gesellschaft einzutragen hatten. Erst die Psychoanalyse er­ zwang in den folgenden Jahrzehnten eine neue Sicht: Man stellte fest, daß spätere Charakterprobleme ihren Ursprung in der Kindheit haben. Radikale Anhänger der psychoanalytischen Schule vertraten sogar die Ansicht, daß die ersten, das spätere Leben beeinflussenden Eindrücke schon während der intrauterinen Existenz stattfinden. Da die Psychoanalytiker zu jener Zeit nicht über empirische Methoden verfügten und vieles von den neueren Entdeckungen der Biologie noch nicht bekannt war, rekonstruierte man das Erlebnis der frühkindlichen Phase aus den Erinnerungen erwachsener Patien­ ten. Eine retrospektive Methode kann jedoch zu falschen Informa­ tionen führen, da das Gedächtnis an und für sich nicht allzu verläß­ lich ist und Erinnerungen oft durch spätere Erlebnisse und eine veränderte Einstellung modifiziert werden. Auch in unserer Zeit herrschen verschiedene Ansichten über die Frühphase des Menschen vor. Verhaltensforscher und Kinderärzte neigen dazu, die Kindheit als Anfangsstadium einer geradlinigen,

162

ununterbrochenen Entwicklung zu betrachten, deren alleiniger Zweck die Ausbildung der Erwachsenenpersönlichkeit ist. Vertreter beider Gebiete übersehen gern - oder besser gesagt: halten es nicht für relevant-, daß das Kleinkind sowohl quantitativ als auch qualita­ tiv nur begrenzt mit dem Erwachsenen in Relation gesetzt werden kann. Erst neueste Forschungsergebnisse haben gezeigt, in welchem Maß Anatomie, Physiologie und Verhaltenssysteme des Kleinkindes sich von denen der Erwachsenen unterscheiden. UmnureinBeispiel aus jeder dieser Kategorien zu nennen: 1. Das Kopf-zu-Körper-Verhältnis des Erwachsenen stellt nur einen Bruchteil von dem des Säuglings dar; 2. der infantile Verdauungsapparat ist nicht in der Lage, Erwachse­ nennahrung aufzunehmen; j. den Bewegungsmöglichkeiten, der Sprache und der Intelligenz des Erwachsenen fehlt beim Kleinkind das jeweils entsprechende Ge­ genstück. Trotzdem scheint es schwierig zu sein, den Glauben aufzugeben, daß das Kleinkind eine Art Homunculus sei. Der irische Schriftstel­ ler George Bernard Shaw hat das auf seine Weise treffend zum Ausdruck gebracht: »Das Baby ist ein inkompletter Erwachsener, der an beiden Enden tröpfelt.« Boshafterweise könnte man angesichts der Definitionsschwierig­ keiten im menschlichen Bereich gar noch den Entymologen benei­ den. Für ihn stellt nämlich die begriffliche Trennung zweier Ent­ wicklungsstadien keine Schwierigkeit dar. Die Raupe und der Schmetterling repräsentieren nun einmal zwei Phasen ein und dersel­ ben Kreatur. Dennoch sind die Anpassungsbedingungen in den respektiven Phasen vollständig voneinander verschieden. Der Entymologe sieht die Raupe als Raupe und nicht als »Junior-Schmetter­ ling. Auch der moderne Kinderarzt, der über die biologische Sonder­ stellung des Kleinkindes Bescheid weiß, vermag sich von früheren Ansichten über das frühkindliche Dasein nur schwer zu lösen: Er sieht seine Aufgabe darin, die körperlichen Funktionen des Kindes in Ordnung zu halten, die Ernährung entsprechend seiner Entwick­ lung zu ändern und Krankheitszustände zu kurieren. Dadurch

163

wurden außerordentliche Fortschritte in der Kinderheilkunde er­ zielt. Krankheit und Tod wurden auf ein Minimum reduziert. Den­ noch ist das medizinische Modell nur einTeil der Wahrheit. Es erfaßt das Krankheitsphänomen zu sehr als eine vom betroffenen Indivi­ duum unabhängige und separat identifizierbare Einheit: Herr Schmidt, der an einer Lungenentzündung leidet, ist ein Fall von Pneumonitis, nichts mehr. Die Behandlung wird gemäß der klini­ schen Routine durchgeführt. Persönlichkeit und Umweltbedingun­ gen haben in dieser Sicht keinen Raum. Das medizinische Modell ist auf die Restitution des pathologischen Zustands eines Organs oder eines Organsystems zu normaler Funktion ausgerichtet und nicht auf die Heilung des ganzen Individuums, das an der Krankheit leidet. Während diese Art medizinischen Denkens in bezug auf Erwach­ sene nur in den wenigsten Fällen zu Schäden führt, ist es zweifellos fehl am Platz, wenn es sich um Kleinkinder handelt. Tatsächlich war es gerade dieses Modell, das Kinderärzte veranlaßte, den Müttern weitgehende Änderungen in der Ernährung und Erziehung ihrer Kinder aufzuerlegen. Komplexe Erkenntnisse der Biologie und Medizin, die den Trend für die Behandlung Erwachsener bestimm­ ten, wurden bedenkenlos auch auf Kleinkinder bezogen. Aufgrund der wissenschaftlichen Fundierung dieser Neuerungen war es auch nicht schwierig, Mütter zu überreden, die traditionellen Methoden aufzugeben und neuere, »wirksamere« anzuwenden. So versprach man sich eine günstigere Entwicklung des Kleinkindes z. B. von Pulvermilch anstelle von Muttermilch, rigiden Stundenplänen für die Nahrungseinnahme und frühzeitiger Einführung von fester Nahrung; man redete Müttern ein, ihre Babys nicht übermäßig zu berühren, da dieses verführerische Verhalten die Voraussetzungen für spätere Homosexualität schaffen könnte; dagegen wurde ein frühzeitiges, strikt eingehaltenes Reinlichkeitstraining empfohlen wie andererseits das Vermeiden einer übertrieben permissiven Hal­ tung gegenüber dem Kind, da diese den Prozeß der Sozialisierung erschweren würde, und anderes mehr. Was halfen dadieProtesteder »hoffnungslos hinter der Mode zurückgebliebenen« Großmütter? Inzwischen mußte man freilich einsehen, welch verheerende Wir­ kungen solche Maßnahmen auf die Entwicklung der Kinder haben.

164

Die übertriebene Anwendung des medizinischen Modells - in dem das Individuum ein vom behandelten Zustand getrenntes Objekt darstellt - auf Kleinkinder ist vermutlich überhaupt nur aus einem mangelhaften Wissen um angeborene Verhaltensweisen erklärbar. Bis in die unmittelbare Gegenwart haben Wissenschaftler die Rolle des Instinkts beim Menschen als unwesentlich betrachtet. Man konnte daher auch nicht anerkennen, was offen zutage lag: daß eine von ihrem Instinkt geleitete Mutter einen viel besseren Kontakt zu ihrem Säugling hat, als wenn sie »wissenschaftlich fundierten« Rat­ schlägen gehorcht. Es bedurfte neuer Disziplinen, wie z. B. der Humanethologie, um zu zeigen, welchen großen Einfluß die vorprogrammierten Verhal­ tensweisen der Mutter wie auch die des Kindes auf eine optimale Entwicklung haben. Beinahe in jeder Hinsicht bestätigten Humanethologen schon seit altersher bekannte Volksweisheiten, die bisher als »unwissenschaftlich« abgelehnt worden waren. Wie wir bereits gesehen haben, ermöglichen es angeborene Ver­ haltensweisen dem Säugling, seine Wünsche und Bedürfnisse der Mutter aktiv mitzuteilen. Diese Botschaften sind sehr spezifisch, und nur eine von Hormonen für die Mutterschaft vorbereitete Frau kann diese mit ihrem eigenen, genetisch eingebetteten Verhalten völlig in Einklang bringen. Wenn wir einen Säugling ansehen, verspüren wir eine Reihe tief empfundener Emotionen, die uns als so natürlich erscheinen, daß wir uns kaum fragen, warum dies so ist. Wir fühlen ein Aufwallen von Zärtlichkeit und sind versucht, das Kind zu berühren und an unsere Brust zu drücken. Wir ändern unsere Sprache, ohne ersichtlichen Grund erhöht sich die Tonlage unserer Stimme, und wir richten Einsilber oder bedeutungslose Lautgebilde an das Kind. Wenn es lächelt, lächeln wir zurück. Wir haben eine beinahe unwiderstehliche Neigung, es zu streicheln. Dieses Gefühl kann so überwältigend werden, daß wir uns zusammennehmen müssen, da eine Mutter kaum damit einverstanden wäre, wenn ein Fremder sich so intim mit ihrem Baby beschäftigte. Auch ein Junggeselle, der noch nie zuvor ein Baby angefaßt hat, ist solchen Gefühlen gegenüber nicht immun. Eine so universelle und ohne Vorbedacht einsetzende Spontanre­

165

aktion kann aber nur zustande kommen, wenn sie genetisch bedingt ist. Zweifellos sind Nachahmung und Lernen beitragende Faktoren, doch kann man das aufwallende Gefühl der Zärtlichkeit und den Trieb, ein Kind anzufassen, kaum einem Lernprozeß zuschreiben. Diese genetische Fixierung hat einen stammesgeschichtlichen Hin­ tergrund, und tatsächlich lassen sich auch bei Menschenaffen viele Merkmale der menschlichen Mutter-Kind-Bindung feststellen. Diese Erkenntnis veranlaßte einige Ethologen, die sich bisher mit sorgfältigen Beobachtungen von Tieren in der freien Natur befaßt hatten, die gleichen Methoden auch auf das Verhalten des Menschen - und besonders auf das des Kleinkindes - anzuwenden. Dieses Unternehmen war so erfolgreich, daß sich ein neues Wissensgebiet, die Humanethologie, herausbildete. Man bezog nunmehr auch die Anthropologie und die Psychologie mit ein und erzielte alsbald erstaunliche Ergebnisse. Die abendländische Kultur hat den Men­ schen im Laufe der Jahrtausende zu einem vernunftgesteuerten Willensträger gemacht. Im Gegensatz dazu mußte das Kleinkind mit seinem unentwickelten Verstand als ein auf Stimuli nur passiv reagie­ rendes Wesen erscheinen. Erst der Ethologie gelanges, die ungeahnte Komplexität der verschiedenen Entwicklungsphasen in den ersten drei Lebensjahren und deren entscheidenden Einfluß auf das weitere emotionelle und intellektuelle Wachstum zu enthüllen. Es ist inzwi­ schen allgemein anerkannt, daß Störungen in diesem Alter seelisch verkrüppelnde Folgen für den Erwachsenen nach sich ziehen. Sehen wir uns einen Bereich angeborener Verhaltensweisen näher an: Tiere, die in einer Phase der fötalen Entwicklung geboren werden, in der sie noch nicht imstande sind, sich selbständig zu erhalten, verdanken ihre optimalen Überlebenschancen einem gene­ tisch bedingten mütterlichen Verhalten. Schon auf der evolutionären Stufe der Insekten nehmen manche Insektenmütter eine Reihe von komplexen Handlungen vor, die für die Erhaltung der Brut unerläß­ lich sind: z. B. die Eiablage in Larven anderer Spezies, die ihren eigenen Larven zum Zeitpunkt des Ausschlüpfens sofort Nahrung anbieten. Die Insektenmutter hat diesbezüglich keine Erfahrung aus ihrer Vergangenheit, noch erlebt sie das nächste Jahr, um ihre Betreuungspflicht weiter auszuüben.

166

In die gleiche Kategorie gehört auch der zwischen der menschli­ chen Mutter und ihrem Kind stattfindende Informationsaustausch, der den Anschein eines frei handelnden Willens - wenigstens seitens der Mutter - erweckt. Angesichts der allgemeinen Überzeugung, daß mütterliches Ver­ halten erlernt werden müsse, bedarf es eines stark ausgeprägten Mutes, um seinen natürlichen Gefühlen freien Lauf zu lassen. Jane Goodall, die, wie wir wissen, viele Jahre Schimpansen in freier Wildbahn beobachtete, gebar während ihres Aufenthaltes in Afrika ein Kind und entschloß sich, es ihrem Instinkt folgend großzuziehen. Sie konnte dabei erstaunliche Parallelen zum Verhalten der Schim­ pansenmütter feststellen. Ihr Ehemann filmte die Sequenzen der Entwicklung seines Sohnes, der zweifellos den Eindruck eines wohl­ angepaßten Jungen erweckte. (Der Film wurde inzwischen von allen möglichen Fernsehstationen sozusagen als Lehrbeispiel gezeigt.) Gerade weil es für den Menschen leichter ist als für die Tierwelt, viele seiner Instinkte willkürlich zu beeinflussen, bedeutet dies nicht, daß die Existenz solcher Reaktionsmuster in höheren Leistungen des Menschen bezweifelt werden soll. So vollzieht sich z. B. die Blasen­ entleerung automatisch, und doch sind wir fähig, den Harnfluß willkürlich zu kontrollieren. Wenn wir eine Mutter beobachten, wie sie ihr Kind im Kinderwa­ gen oder in ihren Armen hin und her schaukelt, verspüren wir begreifliche Hemmungen, dieses Verhalten aus einem Automatis­ mus zu erklären. Wir geben zwar zu, daß komplizierte Handlungen von Tieren trotz ihrer exakten und zweckmäßigen Ausführung auf stammesgeschichtlicher Übermittlung beruhen, doch stößt derselbe Gedanke auf Widerstand, sobald er sich auf Menschen bezieht. Das augenscheinlich zielgerichtete Verhalten der sich auf niedrige­ ren Organisationsstufen befindlichen Tiere und Pflanzen ist das Endresultat zahlloser, durch Zufall bedingter »Trial-and-error«Prozesse. Im Laufe von Jahrmillionen übersteigt die Zahl der »Ver­ suche« astronomische Quantitäten; ständige Auslese vermag, wie wir festgestellt haben, auch die komplexeste Instinkthandlung so zu vervollkommnen, daß der Anschein erweckt wird, als sei sie von einem Höchstmaß an Intelligenz erdacht worden. Die Insekten

167

»wissen« nicht, daß ihre Eiablage im Körper einer Raupe, in der Rinde eines Baumes oder in den Exkrementen pflanzenfressender Säuger der nächsten Generation Schutz und Nahrung bietet. Die Insekten handeln aufgrund eingebauter biologischer Zeitbestimmer und umweltbedingter Auslöser in einer Weise, daß das genetisch vorprogrammierte Verhalten so ausgeführt wird, als ob ein Ziel bewußt erreicht werden müßte. Wenn wir zu den höher organisierten Tieren kommen, wie z. B. Vögeln und Säugern, komplizieren sich die Verhaltensmuster, da ein sich graduell ausbreitendes, durch Intelligenz bedingtes Lernvermögen den genetisch vorprogrammierten Reaktionsmechanismus mo­ difizieren kann. Aber auch bei den höchstentwickelten Säugern sind viele Handlungen, die mit der Betreuung des Nachwuchses, mit sozialem Verhalten, mit der Kontrolle der Bevölkerungsdichte zu tun haben, in einem sehr hohen Grad von ererbten Aufbauplänen bedingt. Durch Lernen entstanden Variationen. Schließlich überschatteten die für das Tier spezifischen Verhaltensweisen das zugrundelie­ gende, vorprogrammierte Reaktionsmuster so sehr, daß dieses erst in jüngster Zeit als auch für den Menschen bestimmend erkannt wurde. Dennoch kostet es den Menschen einige Überwindung einzusehen, daß er trotz aller Intelligenz von »blinden« Instinkten abhängig ist, auch wenn diese sozial oder biologisch wertvolle Resultate erzielen. Daher sind die wissenschaftlichen Diskussionen über das Verhältnis von Angeborenem zu Erlerntem auch heute noch nicht beendet. Für unser Thema ist es jedoch wichtig, jene genetisch fixierten Handlungsweisen herauszukristallisieren, bei denen Überlebens­ chancen auf dem Spiel stehen. Es werden optisch, akustisch, olfakto­ risch (mit dem Geruchssinn) und haptisch (mit dem Tastsinn) leicht erkennbare Signale ausgesendet, die von Artgenossen in voraussag­ barer Weise beantwortet werden. Die Instinkthandlung eines Part­ ners hat eine auslösende Funktion für die des anderen Partners, die wiederum die erste verstärkt. Ein gegenseitiges Hochschaukeln, eine unbewußte Verständigung, ein Informationsaustausch ist die Folge. Vom stammesgeschichtlichen Standpunkt aus erstrecken sich die 168

Instinkthandlungen in der Zeitspanne ihrer Entwicklung über weni­ ger ausgedehnte geologische Perioden als die morphologischen Ver­ änderungen des Skeletts. Aus dem Zurückverfolgen von Verhaltens­ mustern können neue Einsichten in das Leben des Präsapiens-Typs gewonnen werden. Die vergleichende Verhaltenslehre gibt genü­ gend Hinweise, wie sich Instinkthandlungen zwischen Artgenossen im Laufe der Stammesgeschichte gemäß den veränderten Umweltbe­ dingungen in neue Formen des Informationsaustausches umgewan­ delt haben. Solche Signale benötigen einen nur geringen Energieauf­ wand und werden, auch wenn sie unvollständig sind, von Artgenos­ sen verstanden. Dadurch kann z. B. der Säugling wie auch die Mutter auf die Intention des anderen reagieren, noch bevor die Instinkt­ handlung ihre maximale Intensität erreicht. Dies ist ein besonders wichtiger Punkt, da negative Intentionen einer Mutter, auch wenn diese das Ausdrucksniveau einer Handlung nicht erreichen, vom Säugling immer noch »verstanden« werden. Wenn ein solcher Zu­ stand andauert, zeigen sich Entwicklungsstörungen, die sich bis ins Erwachsenenalter halten und den Charakter des Betroffenen beein­ flussen können. Die ursprünglich komplexeren Instinkthandlungen - wie z. B. Entblößen der Zähne mit begleitender Mimik und Gestik beim Menschenaffen, um seinen Artgenossen ein bestimmtes Gefühl mit­ zuteilen - werden durch Modifikationen allmählich in die Richtung einer Vereinfachung und gleichzeitigen Übertreibung eines isolier­ ten Merkmals gelenkt. Ein solches Endresultat ist das Verziehen des Mundwinkels, das wir optisch als Lächeln des Säuglings wahrneh­ men. Auf dieser Stufe ist es eine symbolische Aktion geworden, die bei der Mutter spezifische Auslösereaktionen hervorruft. Das Lernprinzip, ein wichtiger Überlebensfaktor für höher orga­ nisierte Lebewesen, kann man sehr schön bei Vögeln beobachten. Legt man ein Vogelei in das Nest einer anderen, aber verwandten Art, entwickelt sich nach dem Ausschlüpfen ein Individuum, das den Bereich und die Koloratur des Gesangs seiner Artgenossen nur sehr unvollständig beherrscht; doch ist die genetische Vorprogrammie­ rung für den artspezifischen Gesang erhalten geblieben. Anderer­ seits kann es den Gesang seiner Stiefeltern nicht ganz richtig mei-

169

Stern. Das Bemühen des Vogels um lautgetreue Nachahmung, ein Aspekt des Lernens, erstreckt sich auch auf artfremde Lautgebilde, doch ist die Fähigkeit dazu nur bei wenigen von ihnen markant genug ausgebildet-wie z. B. bei Papageien-, um eine akkurate Wiedergabe zu erreichen. Im allgemeinen erlaubt die Vorprogrammierung nur eine Nachahmung des arteigenen Gesangs. Ähnliche Bedingungen gelten auch für die Spezies mit der höchst­

entwickelten Intelligenz. Obwohl den Menschenaffen und den Men sehen eine große Auswahl erlernter Leistungsmechanismen zur Verfügung steht, sind die für die Primatengruppe oder für das einzelne Individuum lebenswichtigen Handlungen doch genetisch bestimmt und daher vorhersagbar. Der Schrei eines Kindes, der Schmerz, Mißbehagen oder Furcht ausdrückt, wird von in der Nähe befindlichen Erwachsenen augenblicklich registriert und beantwor­ tet, wenn die Mutter gerade nicht da ist. Die darauffolgenden Hand­ lungen sind stereotyp und nicht kulturbedingt. Allerdings kann der Mensch im Unterschied zum Affen aufgrund seiner Fähigkeit, Ge­ fühle zu hemmen, entscheiden, ob er die vorprogrammierte Tätigkeit ausführt oder nicht. Schon bei den Primaten bewirkte der Selektionsdruck, der sich zunehmend in Richtung auf eine größere Intelligenz hin vollzog, ein weniger stereotypes Verhalten als bei genetisch fixierten Tätigkeiten. Daraus ergab sich eine Erweiterung des Spielraums für Wahlhand­ lungen. Der Preis für die größere Freiheit, einen Kurs zu »bestim­ men«, war jedoch, wie schon früher erwähnt, Ungewißheit; sie geht überhaupt jeder Wahlhandlung voran. In der Entwicklung des Men­ schen wurde sie zu einem der wichtigsten Faktoren: Unbestimmtheit in bezug auf Endhandlungen erfordert die Fähigkeit, zwischen den Alternativen diejenigen auszuwählen, die den gegebenen Umwelt­ bedingungen am besten angepaßt sind. Eine reflektierende Gesamtbetrachtung schließlich gibt es nur, wo eine mit vergangener Erfahrung vergleichende wie auch abmessende Gegenüberstellung der neuen Fakten möglich ist, um Unterschiede oder Gleichheiten herauszuheben, die den weiteren Kurs für eine Handlung bestimmen. Auch bei bruchstückhaften Informationen mußten die Lücken durch assoziativ arbeitende Intelligenz über170

brückt werden, und auf ähnliche Weise wurde vorausschauendes Handeln möglich. Etwas verallgemeinernd läßt sich folgende Gesetzmäßigkeit fest­ stellen: Die Wechselwirkung zwischen Intelligenz und erhöhter Überlebensfähigkeit bewirkt eine positive Rückkoppelung, so daß die Auslese sich für die ständig wachsende Intelligenz entscheidet. Schließlich wirkt sich dieser Faktor auch kulturell aus, da ein Freier mit höherer Intelligenz erfolgreicher ist (und wenn er vielleicht auch nur bessere Chancen hätte, eine Frau zu gewinnen). Infolgedessen verstärkt sich der Druck sowohl der biologischen als auch der kulturellen Auslese, die jugendlichen Entwicklungsjahre des Ler­ nens demgemäß zu verlängern. In einem früheren Kapitel (vgl. S. 73 ff.) haben wirdieTrends zur Verjugendlichung adulten Verhaltens, besonders des Mannes, er­ wähnt. Jetzt wollen wir uns mit diesem Mechanismus, der es erlaubt, beträchtlich mehr Zeit auf die Lernperiode zu verwenden, noch einmal befassen. Denn durch ihn verändern sich die Anpassungsmo­ dalitäten des menschlichen Kleinkindes. Wahrscheinlich ist der ausschlaggebende Faktor der Selektions­ druck für Ratengene, die alle Entwicklungsphasen verzögern. Paral­ lel zu dieser Verzögerung erfolgt eine Ausdehnung dieser Phasen. Wie schon früher erwähnt, bewirkt dieser Prozeß Veränderungen in der Anatomie des Erwachsenen, die man ohne Schwierigkeiten als Retentionen früherer fötaler Merkmale erkennen kann - dünne Haut, Fehlen eines Fells, dünne Nägel, kleine Zähne, flaches Gesicht u.v.a. Was aber hier interessiert, ist die Art und Weise, wie der Wirkungsmodus dieser Verzögerung die Bedingungen bestimmt, unter denen das Kind geboren wird, aber auch die daraus resultieren­ den Reaktionsmechanismen des Säuglings. Die lebenden Repräsentanten der höheren Primaten verfügen über eine genügend große Anzahl von Merkmalen, die sie mit den Men­ schen teilen und die auf gemeinsame Vorgänger zurückführbarsind. Schlüsse aus diesem evolutionären Faktum dürften zu einem besse­ ren Verstehen der physiologischen Entwicklung des Menschen füh­ ren. Ein Vergleich paralleler Wachstumsstadien beweist sehr über­ zeugend die Verlängerung menschlicher Entwicklungsphasen. J7I

Tabelle i : Wachstumsphasen im Vergleich Primate

Makake Gibbon Orang-Utan Schimpanse Gorilla Mensch

Bis zur Geburt (Wochen) 14 3° 3° 34 37 4°

Erste Zahnung (Monate) 0.6-5.9 i.a-7 3S-9-8 a.7-12.3 3.0-13.0 6.0-24.0

Zweite Zahnung (Jahre) 1.6-6.5 . -8.5 4.o-i).o 2.9-10.2 J.O—lO.j 6.0-20.0

Wachstums­ periode (Jahre)

7

9 11 II I1 20 plus

Lebens­ spanne (Jahre) 15 33 3° 35 35 70 plus

(Daten nach Bolk, De Beer und SCHULTZ)

Diese Tabelle zeigt deutlich die Verlängerung der intrauterinen Periode beim Menschen, die wahrscheinlich schon beim Homo präsapiens begann. Aber auch die Ausdehnung der fötalen Existenz kann nur in geringem Maße die verlangsamte Entwicklung kompen­ sieren. Obwohl das menschliche Baby zur Zeit der Geburt größer und schwerer ist als das anderer Primaten, ist seine Unreife auffal­ lend. Die extreme Abhängigkeit des Säuglings erstreckt sich langsam abnehmend bis zur Zeit des Zahnwechsels. Auch diese Zeitspanne (s.Tab. i) ist wesentlich verlängert; sie beträgt ungefähr das Dop­ pelte dessen, was unsere nahen Verwandten, die Menschenaffen, benötigen. Die in der Tabelle angeführten Daten sind jedoch nur ein Bruchteil der Fakten, die hinsichtlich dieses bemerkenswerten evolutionären Prozesses als wichtig erscheinen. Andere tragen dazu bei, daß durch eine fein abgestimmte Synchronisierung die Entwicklung aller we­ sentlichen Organsysteme im richtigen Verhältnis zur Reifung er­ folgt. So ist die Myelinisierung (durch den Aufbau einer »Hülle« werden die Nerven funktionsbereit, vgl. S. 6 5) des Nervenstrangs im Zentralnervensystem gegen Ende des ersten Lebensjahres noch un­ vollständig; die unmyelinisierten Nerven stellen also sozusagen ein noch unbenutztes Funktionssystem dar, das mit dem später stattfin­ denden »Einhüllen« der Nerven den überaus wichtigen Lernprozeß für die jeweilige Entwicklungsphase optimal vorbereitet. Ein weiteres Beispiel für das perfekte Verzahnen einer ganzen Reihe biologischer Prozesse, die alle dazu beitragen, die durch Selektionsdruck verlangsamte Entwicklung des Säuglings zu ver-

stärken, ist das Verhältnis des Proteingehalts der Muttermilch zur Dauer der frühkindlichen Phase bei verschiedenen Säugern. Tabelle 2: Wachstumsrate und Milchprotein Säuger

Hase Hund Schaf Schwein Kuh Pferd Mensch

Verdopplung des Geburts­ gewichtes in Tagen 6 8 10 18

Eiweißgehalt der Milch 0//0 10,4 8.J 7»°

47 60 180

4,0 i,8

(Daten nach S1VERTSEN)

Ein weiteres Beispiel der verlangsamten Physiologie sind die in der Haut befindlichen Haarwurzeln. Ihre Anzahl ist beim Menschen nicht wesentlich geringer als bei den Affen, dennoch ist die Haarent­ wicklung bei den letzteren üppiger, während wir die fötale Haarqua­ lität beibehalten. Der Schimpansenfötus besitzt dieselben kurzen Körperhaare wie der erwachsene Mensch, doch wachsen sie bei den Pongiden kurz vor der Geburt zu einem Fell zusammen, während dieses Wachstum beim Menschen nicht mehr stattfindet. F. Kovacs zog aus seinen Untersuchungen den Schluß, daß die menschliche Schwangerschaft ca. 21 Monate dauern müßte, wenn das menschliche Baby zur Zeit der Geburt dieselbe Reife erreichen sollte wie die Jungtiere anderer Säuger. Dies bezieht sich auf alle Entwicklungskomponenten wie z. B.: Regulation der Körpertempe­ ratur, Koordination der Muskeln, Enzymentwicklung, Umwand­ lung von Knorpeln zu Knochen u.a.m. Der hohe Grad der Unreife des menschlichen Säuglings hätte für diesen außerordentlich lebensbedrohende Konsequenzen - und würde dadurch auch die Überlebensfähigkeit des Homo sapiens in Frage stellen -, besäße seine Mutter keine genetisch eingebetteten Verhaltensmuster, die sie zu intensiven Betreuungsmaßnahmen ge­ genüber ihrem Kind veranlassen. Auch die Männer sind - allerdings in geringerem Maße - mit einem solchen Pflegetrieb ausgestattet, der *73

sich nicht nur auf das hilflose Kind beschränkt. In modifizierter Form zeigt sich dieser Trieb in unseren sozialen Idealen. Wir bewer­ ten die Berufe sehr hoch, die sich den Kranken, physisch Behinderten und sozial Benachteiligten widmen. Der Pflegetrieb ist genügend ausgeprägt, um sich auch auf andere Spezies zu übertragen: Unsere Fürsorge für Tiere hat dieselbe Wurzel wie die einer Mutter für ihr Kind. Typisch dafür ist etwa die Liebe einer älteren, alleinstehenden Frau zu ihrer Katze. Der menschliche Pflegetrieb stellt ein so allgemeines, tief in unse­ ren Traditionen verankertes Verhalten dar, daß Ethologen bereits darauf hinweisen mußten, daß die Bindungsstimuli für das MutterKind-Verhältnis vom Säugling ausgehen. Konrad Lorenz identifizierte diese Stimuli in einem 1935 veröf­ fentlichten Artikel, in dem er bahnbrechend die genetisch vorpro­ grammierten Verhaltensmuster der Küken von Wasservögeln be­ schrieb: In einem kritischen, nur auf wenige Stunden beschränkten Zeitraum nach ihrem Ausschlüpfen verspüren die Küken den Trieb, markanten Objekten in ihrem Gesichtskreis zu folgen. Diese zeitbe­ stimmte, angeborene Prägung erregte bei den Zoologen große Auf­ merksamkeit und wurde Gegenstand einer Reihe von Untersuchun­ gen. Die ursprüngliche Annahme von Lorenz wurde modifiziert; neuere Forschungen zeigten, daß Küken in den kritischen Prägungs­ phasen artfremden Objekten (Ersatzmüttern) nur dann folgen, wenn ihr Nervensystem durch andauernde intensive Sinneseindrücke tief­ greifend beeinflußt wird. Die künstliche Überstimulation, wie sie sich aus einer experimentellen Situation ergibt, erfordert um so mehr Zeit und Anstrengung, je mehr das Objekt von der natürlichen Mutter abweicht. Im Gegensatz dazu findet die Fixierung auf die natürliche Mutter binnen weniger Minuten statt. Gleichzeitig damit setzt die Furcht vor artfremden Objekten ein; im Labor tritt diese Reaktion erst nach einigen Stunden ein. In ausführlichen Versuchen fand Hess (1943), daß die für die natürliche Mutter erforderliche Prägungszeit bei Küken 10 Minuten beträgt; die analoge Prägung auf einen Menschen dauert etwa 100 Minuten. Weiter fand er, daß die Prägung schon während des Brütens des Muttervogels einsetzt. Der sich im Ei 174

entwickelnde Fötus beginnt zwischen dem 25. und 28. Tag zu piepen; die Mutter antwortet mit leisen, gluckenden Lauten, deren Intensität sich im Laufe des Nesthockens verstärkt. In den ersten Wochen des Brütens fehlt dem Muttervogel diese auf Piepen einge­ stellte Reaktion. Eine Wiedergabe dieser akustischen Signale durch ein Tonband bewirkt in ihm eine durch Federnsträuben gekenn­ zeichnete Unruhe. In der vor dem Ausschlüpfen erfolgenden Kom­ munikation werden die Voraussetzungen geschaffen, die das Küken für die Prägung empfänglich machen. In ähnlicher Weise werden Nahrungspräferenzen und Bindungen an spezifische Umwelt­ aspekte erreicht. Prägung ist also ein vorprogrammierter Mechanismus, der es dem Jungtier ermöglicht, in einer relativ kurzen, kritischen Phase eine anhaltende Bindung an seine Mutter zu entwickeln. Und zwar erstreckt sich dieses Phänomen nicht nur auf Vögel; auch Säuger bis hin zum Menschen verfügen über ähnliche Mechanismen, die sie während einer kritischen Phase gegenüber gegenseitigen Stimulatio­ nen empfindsam machen. Ein typisches Beispiel dafür ist der Reflex einer Mutter, den sie nur in den ersten 24 Stunden nach der Entbin­ dung zeigt. Wenn man ihr das Neugeborene reicht, legt sie es automatisch auf den linken Arm und hält es an ihre linke Brust - egal ob sie Links- oder Rechtshänderin ist. Am folgenden Tag zeigen die Mütter keine Präferenzen mehr. Eine solche universelle, stereotype Handlung deutet auf eine vorprogrammierte Prägung hin. Die natür­ liche Auslese hat die Haltung- herznah im Falle einer Wahl zwischen zwei Möglichkeiten - bevorzugt, die auf das Neugeborene beruhi­ gend wirkt. Schon in der Gebärmutter ist der menschliche Fötus fürTon und Rhythmus des Herzschlags empfindsam geworden, nicht unähnlich dem im Ei befindlichen Fötus eines Wasservogels, der das Glucken seiner Mutter vernimmt. Diese Frühentwicklung des akustischen Sinnesapparats ist von großer Bedeutung für die Ansprechbarkeit des Kleinkindes auf Lautgebilde seiner Umgebung, noch bevor der optische Sinn voll entwickelt ist. In einem von uns geplanten Experi­ ment, das in verschiedenen Entbindungsstationen durchgeführt wurde (Salk 1963), übertrugen wir den auf Tonband aufgenomme­

*75

nen Rhythmus des Herzschlags mittels eines Lautsprechers in das Säuglingszimmer, während ein nebenan gelegenes als Kontrolle fungierte. Um den Unterschied zwischen den beiden Gruppen auszumachen, brauchte man gar keine tonmessenden Instrumente mehr! Säuglinge, die simulierten Herzschlägen ausgesetzt waren, nahmen überdies rascher an Gewicht zu als gleichartige Kontrollkin­ der (Salk 1961). Salk hatte es bereits 1960 für wahrscheinlich gehalten, daß der Herzton, d. h. das Liegen an der linken Brust, einen beruhigenden Effekt auf die Stimmung von Säuglingen haben könnte. Diese so grundlegende Beobachtung fand bis in die siebziger Jahre kaum Beachtung, als eine Reihe von Untersuchungen diese Hypothese bestätigte. In späteren Artikeln beschrieb Salk (1961, 1973) das linksseitige Halten des Kindes in Kunstwerken der westlichen Kul­ turen (besonders bei italienischen Madonnendarstellungen, aber auch bei Henry Moores »Mutter und Kind«) und in den vom Anthropologen veröffentlichten Filmen aus Bali. Finger (1975) untersuchte das Verhaltensmuster von Müttern in Kunstwerken von 34 amerikanischen und europäischen Malern und konstatierte eine deutlich linksseitige Präferenz. Das gleiche Resultat ergaben 268 Photographien von europäischen, chinesischen, japanischen und nordamerikanischen (auch Indianer-)Müttern und deren Säug­ lingen. Von 44 von Chagnon (1974) photographierten YanomamoMüttern hielten 38 ihre Säuglinge links. Salk (1961) beobachtete überdies 287 Mütter und ihre Neugebo­ renen in einer Entbindungsstation: 80% von ihnen bevorzugten linksseitiges Halten. 1973 berichtete er aber ein Experiment, in dem er der Mutter den Säugling nach einer kurzen Trennung zurückgab: 77 % von ihnen wählten spontan wieder die linke Seite. Finger (1973) betonte, daß Männer keine solche Präferenzen zeigten. Einige Autoren (Murdoch & Provost 1973; Brown 1970 u. a.) vertraten die Meinung, daß das linke Halten mit Rechtshändig­ keit Zusammenhänge. Daß dies ein Irrtum ist, wiesen Salk (1961) und Weiland (1964) in ihren Beobachtungen linkshändiger Mütter nach, die ebenfalls die linke Seite bevorzugten. Es scheint also, daß das linksseitige Tragen der Kinder ein Primär­ 176

faktor ist, der zur allmählichen Entwicklung der Rechtshändigkeit beitrug (was wahrscheinlich nicht ohne Einfluß auf die Verlagerung des Sprachzentrums auf die linke Hemisphäre geblieben ist, wie wir gleich noch sehen werden). In diesem Zusammenhang sind die Befunde von Harlow und Zimmermann (1958) äußerst interessant: Sie schreiben dem Herz­ schlag der Affenmutter bei der Entwicklung von Verhaltensweisen, die Zuneigung ausdrückeh, eine besondere Bedeutung zu. Offenbar helfen die Herztöne dem Jungtier auch, die im Verhältnis zum mütterlichen Körper richtige Lage zu finden. Sperber ( i 964) und Weiland (1973) vertraten die Ansicht, daß die beruhigende Wirkung des mütterlichen Herzschlags auf eine innere Prägung zurückzuführen sei. In ihren Experimenten fanden sie, daß Frauen die linke Seite für das Tragen eines Kindes bevorzugten, während für das Tragen von Paketen die Seite keine Rolle spielte. Um das mögliche Vorhandensein einer linksseitig wirkenden Span­ nungsverminderung zu bestimmen, gaben Sperber und Weiland ihren Testpersonen während einer Zahnbehandlung einen Gummi­ ball und wiesen sie an, diesen hart gegen ihre Brust zu pressen: Die meisten bevorzugten die linke Seite. In einem weiteren Versuch wurden Frauen aufgefordert, ein Kopfkissen an sich zu drücken: In diesem Fall wurde keine Seite bevorzugt. Dies änderte sich jedoch, sobald die Versuchsleiter die Frauen veranlaßten, sich vorzustellen, das Kopfkissen sei ein Kind in Not: Und nun wanderte es plötzlich bei fast allen nach links.

Eine tiefenpsychologische Untersuchung dieser Vorstellungen konnte in drei Kategorien eingeteilt werden: 1. ein positives Gefühl der Liebe und Freude; 2. ein neutrales Gefühl gezielten Interesses; 3. das beunruhigende Gefühl einer dem Kind bevorstehenden Ge­ fahr. Die dritte Kategorie hatte den stärksten Einfluß auf die linkssei­ tige Bevorzugung. Angesichts des Selektionsdrucks und der Notwendigkeit, opti­ male Bedingungen für den hilflosen Säugling zu schaffen, darf man wohl annehmen, daß auch die Präsapiens-Frauen den linken Arm für das Kind freihalten und alle Geschicklichkeit erfordernden Hand­ lungen mit der rechten Hand ausführen mußten. Eine solche Not­

177

wendigkeit bestand jedoch für den Mann nicht. Man kommt daher zu dem beinahe selbstverständlichen Schluß, daß sich die linke Gehirn­ hälfte - als maßgeblich für die rechte Hand - stärker entwickeln mußte. Auch jede andere Leistung, die ungefähr in derselben Epoche ihren Ursprung hatte, wie z. B. die Fähigkeit, Lautgebilde zu produ­ zieren, würde sich opportunistisch - typisch für die Ballung von Gehirnzentren, deren Funktionen ähnlich sind - in die schon vorge­ bahnten Reizleitungssysteme einreihen, in diesem Falle in der linken Hemisphäre. Wenn auch beim Menschen Prägungsmechanismen von einfa­ chem Lernen nicht einwandfrei zu trennen und daher nicht so eindeutig feststellbar sind wie bei den Wasservögeln, haben wir nichtsdestoweniger viele Hinweise, daß Prägung für den Menschen eine ebenso wichtige Rolle spielt. So beschrieb A. Jirarin in einer unveröffentlichten Dissertation (Universität Chicago, 1970) ihre Beobachtungen hinsichtlich der Wahrnehmungendes Neugeborenen. Es ist schon vorprogrammiert für Präferenzen in bezug auf das menschliche Gesicht. Jirarin hielt 36 Neugeborenen Attrappen von natürlichen und verzerrten Abbil­ dungen des menschlichen Gesichts vor. Die Augen folgten dem normalen Bild bedeutend öfter - auch wenn das Kind nur wenige Stunden alt war. Ließ man Neugeborene zwischen Attrappe und richtigem Gesicht wählen, zogen sie das letztere vor. In einem etwas späteren Alter lächelt das Kleinkind, wenn es die Augen seiner Mutter erblickt, auch wenn das restliche Gesicht verhüllt ist. Obwohl ein Mangel an Prägung das Überleben des menschlichen Kindes nicht gefährdet - ungleich den Jungtieren, bei denen ein solches Ausbleiben zum sicheren Tod führt -, kann die Entwicklung wesentlich beeinträchtigt werden, was beim Erwachsenen dann als seelische Störung zutage treten kann. Dieses Gebiet bedarf noch weiterer Erforschung, da die verfügbaren Daten, die hilfreich sein könnten, »wissenschaftlich« nicht akzeptabel sind: Es handelt sich um isolierte Berichte von Müttern. Im allgemeinen neigen Wissen­ schaftler dazu, solche Wahrnehmungen eines einzelnen Individu­ ums als unzuverlässig anzusehen - persönliche Vorurteile könnten den wahren Zusammenhang verzerren.

178

Wir fanden Berichte von Müttern, die sich in den ersten Monaten nach der Niederkunft in stark voneinander abweichenden Verhält­ nissen befanden, äußerst aufschlußreich. In solchen Fällen wurde plötzlich die sonst unerklärliche Verschiedenheit von Kinderper­ sönlichkeiten in ein und derselben Familie verständlich; der Grund lag zumeist in der Intensität der mütterlichen Betreuung, die sich gemäß den Umweltzuständen wandelte. Genaugenommen ist diese These zwar nicht bewiesen, doch ist sie in hohem Maße wahrschein­ lich. Zumindest sind wir aufgrund eigener Beobachtungen von im späteren Leben auftauchenden Verhaltens- und psychosomatischen Störungen der Auffassung, daß dieses genetisch bedingte Suchen nach Befriedigung bestimmter Notwendigkeiten zu einem kriti­ schen Zeitpunkt erfüllt werden muß. Nur so wird das Verhalten des Kindes seinen Umweltzuständen optimal angepaßt; ein weiteres Suchen nach Befriedigung dieses spezifischen Triebes ist dann nicht mehr notwendig. Wenn aber einer Prägung nicht oder nur unzuläng­ lich nachgekommen wird - man denke nur an die vielen Ersatzmütter eines wegen Krankheit in einer Klinik befindlichen Säuglings -, dann verbleibt das unerfüllte Suchen (das frustrierte Appetenzverhalten) als chronischer Reiz, wenn auch unterschwellig, in der Seele des Kindes zurück. Da die kritische Periode vorbei ist, kann die Suche nicht mehr in ihrem ursprünglichen Sinn erfüllt werden. Ein solcher Zustand kann unter Umständen bis ins Erwachsenenalteranhalten; es kann zu einer unaufhörlichen, in keiner Weise erfüllbaren Suche, z. B. nach einer Ersatzmutter, kommen, die von der Vernunft allein nicht bewältigt werden kann. Die im späteren Leben erworbenen Fähigkeiten, unannehmbare oder schmerzhafte Gefühle mit neuro­ tischen Verhaltensmechanismen zu überdecken, ermöglichen es zwar, solche mangelhaften Entwicklungen zu überstehen, aber eben nur mit seelischen Schäden. Den Tieren in der freien Natur fehlen diese Mechanismen. Von einem philosophischen Standpunkt aus könnte man natürlich die Auffassung vertreten, daß die Evolution den Menschen zu einem Mangelwesen gestempelt hat: Er habe das morphologische Handi­ kap mittels seiner überkompensierenden Intelligenz überstanden. Die Frage ist nur, ob die kulturellen Überlagerungen, die die stam-

179

mesgeschichtlich bedingten Instinkthandlungen beeinträchtigen, ebenfalls einen Mangelzustand fördern, der genauso überkompen­ siert werden kann. Viele sind der Meinung, daß der schöpferische Geist seinen Ursprung in einem solchen Mangelklima hat. Infolge niedriger Affekttoleranz und mangelnden Kooperationsvermögens wähle er in zunehmendem Maße eigene Wege, die ihn von den anderen wegführen und unter Umständen zum einsamen Genie werden lassen. Das Geselligkeitsbedürfnis muß in der Wiege ge­ weckt werden, oder besser gesagt: das genetische Potential für dieses Verhalten muß aktiviert werden, um im späteren Leben eine Bedeu­ tung zu haben. Eine tiefgreifende Umkonstruktion der Verhaltens­ pläne als Folge fehlerhafter Betreuung in der Kindheit zieht im allgemeinen und unglücklicherweise Störungen nach sich, die das Leben des einzelnen Menschen wie auch die Harmonie seiner Gesell­ schaft beeinträchtigen. Umfassendere Untersuchungen dazu stehen noch aus. Nur eine weitestgehende Erforschung der Instinkthandlungen kann Licht in die Genese des Menschen bringen, sowohl was seine Stammesgeschichte als auch seine individuelle Entwicklung betrifft.

Der bekannte Verhaltensforscher Niko Tinbergen befaßte sich u. a. mit Teilaspekten von in Sequenzen ablaufenden Aktionen und mit spezifischen morphologischen Merkmalen, die bestimmte Reaktio­ nen auslösen. Küken öffnen z. B. ihren Schnabel ganz weit, wenn der Muttervogel im Nest landet; der Gaumen der Küken hat eine typische grelle Farbe, die im Muttervogel den Fütterungstrieb aus­ löst; diese Reaktion kann sogar durch eine Attrappe erzielt werden, die dieselbe Farbe und Form des Schnabels zeigt - das Junge des Kuckucks nutzt diese Reaktion für seine Zwecke auf Kosten der natürlichen Vogeljungen aus, da sein größerer Schnabel auf den Muttervogel einen unwiderstehlichen Reiz ausübt. Andere Beispiele sind das Piepen der Hühnerküken, das in der Mutterhenne eine Rettungsreaktion auslöst; der spezifische Geruch mancher neugebo­ rener Säuger; deren charakteristische Farbverteilung des Felles, die beim Muttertier bestimmte Fürsorgetätigkeiten hervorrufen. Auch beim Menschen ist ein sehr großer Teil mütterlicher Reak­

180

tionen stammesgeschichtlich eingebettet. Dennoch täuschen indivi­ duelle mütterliche Varianten nur zu gern darüber hinweg, daß hier vom Willen unbeeinflußte Handlungen ausgeführt werden. Ver­ stärkt wird dieser Eindruck noch durch anscheinend willkürlich sich äußernde Hemmungen, die auf seelischen Störungen basieren und dadurch den instinktiven Ablauf mütterlichen Verhaltens verzerren können. Die Unfähigkeit des Säuglings, verbal zu kommunizieren oder sich aktiv von seinem Platz fortzubewegen, kann sehr leicht den Eindruck erwecken, daß diese Beeinträchtigung in keiner Weise zu der so wichtigen Mutter-Kind-Bindung beiträgt. Aber ebenso wie die Neugeborenen anderer Spezies spezifische Signale aussenden, um sich der Fürsorge der Mutter zu vergewissern, so praktiziert auch das menschliche Kleinkind sein eigenes »Propaganda«-System, mit dem es die schon hormonal vorprogrammierte Mutterliebe noch weiter verstärkt. Auch hier wird das Verschwendungsprinzip wirk­ sam: Eine Überfülle an Bindungsmechanismen ist bei einem so hohen Grad kindlicher Hilflosigkeit eine absolute Notwendigkeit. Diese aktive Intervention ist besonders beim weiblichen Klein­ kind markant - eine Beobachtung, die die von uns aufgestellte These verstärkt, daß die Sprache vom Präsapiens-Weibchen zumindest forciert wurde. Während die Mutter-Kind-Interaktionen bei zwei­ jährigen Jungen und Mädchen keinen Unterschied zeigten (Philipps 1973), stellten Goldberg und Lewis (1969) solche Verschiedenhei­ ten bei Kleinkindern fest: Mütter und weniger als ein Jahr alte Mädchen verbalisierten und vokalisierten mehr ineinander, als dieses bei gleichaltrigen Jungen der Fall war. Moss (1967) berichtet, daß Mütter das Lallen ihrer drei Monate alten Töchter öfter nachahmten als das ihrer gleichaltrigen Söhne. Lewis und Freedle (1973) beob­ achteten Mütter in Spielsituationen mit ebenfalls drei Monate alten Kindern. Auch hier ergab sich ein größerer gleichgeschlechtlicher Austausch; Mädchen lallten in höherem Maße zurück als Jungen. Cherry und Lewis (1976) fanden, daß die durchschnittliche Länge einer Ausdruckssequenz von Seiten der Mutter und deren Komplexi­ tät im »Dialog« mit Mädchen größer waren als mit Jungen. Diese Autoren kamen zu der Überzeugung, daß die von der Mutter

181

ausgehende größere Ermutigung der Mädchen deren bessere Sprachentwicklung bedinge. Wir vertreten jedoch die Meinung, daß die beim weiblichen Geschlecht markantere Sprachtendenz schon beim weiblichen Säug­ ling hervortritt; sie hat eine entsprechend stärkere Auslösefähigkeit. Wir hatten Gelegenheit, Krankenschwestern auf einer Kinderstation zu beobachten, die gesunde zwei bis fünf Monate alte Kinder betreu­ ten, deren Mütter für längere Zeit im Krankenhaus behandelt werden mußten. Die wechselseitige »Mutter«-Kind-Interaktion wurde da­ durch beträchtlich vermindert, dennoch war der verbale und vokalisierte Austausch zwischen Schwestern und Mädchen im Verhältnis 5 : 3 häufiger als zwischen Schwestern und Jungen. Auf die Frage, warum dies so sei, erhielten wir eine typische Antwort: »Diese Babymädchen wissen schon, wie sie die Aufmerksamkeit auf sich ziehen können. Ich kann nicht an ihnen vorbeigehen, ohne anhaken zu müssen und etwas zu ihnen zu sagen; die Jungen sind nicht so raffiniert.« Wir finden die beim Kind verschieden wirksamen, als Auslöser fungierenden Signale auch bei den Jungtieren der meisten Säuger. Der Geruchssinn spielt bei vielen Herdentieren zur Identifizierung der Jungtiere seitens der Mutter eine große Rolle. Die Nuancierung dieses Erkennungsprinzips ist so scharf, daß ein Schaf sein eigenes Kind aus Hunderten von anderen in der Herde herausriecht. Der Mensch besitzt nur ein rudimentäres olfaktorisches Vermögen Sehen und Hören ersetzen diesen Sinnesrezeptor. Trotzdem reagie­ ren wir auf den »Milchgeruch« des Säuglings, der aber nur teilweise durch Milch bedingt ist. In unseren Kulturkreisen verwenden wir zur Babypflege Puder, Cremes und öle, die auf bestimmte Gerüche abgestellt sind: Aber die Hersteller verwenden nur solche Düfte, die wir mit der Kinderstube assoziieren. Den flaumigeren Federn oder den schmiegsameren Haaren der Jungtiere von Säugern und Vögeln entsprechen die zarte Haut des Kindes und seine feinen Haare. Diese beiden Faktoren üben einen emotionellen Einfluß auf uns aus, dem die meisten Erwachsenen erliegen. Wenn eine Frau etwas von der Qualität der kindlichen Haut beibehält-auch hier hat die kosmetische Industrie viel dazu beigetra182

gen wird sie gerade ob dieses Merkmals bewundert. Die auf einem stammesgeschichtlichen Potential beruhende Vorliebe für Ge­ schmeidiges erstreckt sich auch auf Haustiere mit weichem, warmem Fell. Vor allem aber hat das Menschenkind die akustischen Signale von Jungtieren höher organisierter Tiere weiter verfeinert und seine typischen Lautgebilde entwickelt. Diese beginnen mit dem undiffe­ renzierten Geburtsschrei und setzen sich in dem im vorigen Kapitel beschriebenen charakteristischen Lallen fort, das noch stärker als die vorerwähnten Auslöser die Aufmerksamkeit der Mutter auf sich zieht. Wie bei allen anderen für die Erhaltung eines Lebewesens wichtigen, vorprogrammierten Verhaltensreaktionen macht sich die Sprachbereitschaft lange vor ihrem eigentlichen Einsetzen - unge­ fähr im dritten Lebensmonat - bemerkbar. Auf Röntgenbildern kann man beim älteren Fötus schnappende Mundbewegungen beob­ achten. Der Geburtsschrei hat keine Parallelen im restlichen Tier­ reich und stellt, wie schon früher erwähnt, wahrscheinlich eine Vorbereitung für die auf dem Gehörsinn beruhende Bindung dar.

183

Kapitel XI

Das »sinnliche« Weltbild des Kindes oder Stationen zur Sprache

Die Einsicht, daß den kindlichen Lautgebilden eine tiefere biologi­ sche Bedeutung zugeschrieben werden kann, verdanken wir, wie bereits angedeutet, dem wachsenden Ehrgeiz der Ethologen, die stammesgeschichtlichen Voraussetzungen für das Säuglingsverhal­ ten zu untersuchen. Einen wesentlichen Beitrag auf diesem Gebiet lieferte John Bowlby, der in seinem Buch »Attachment and Löss« (Bindung und Ausfall) bahnbrechend auf die Wichtigkeit derjenigen Faktoren für eine normale Entwicklung des Kindes hinwies, die, wie z. B. Lallen, Lächeln u. ä., die Mutter an das Kind binden. Auch Ambrose beschrieb die elektrifizierende Wirkung des ersten Säuglingslächelns auf Mütter und wie diese Mimik sie in einem noch stärkeren Grad als bisher an ihr Kind bindet. Aus naturwissenschaft­ licher Sicht kann man sagen: Das Lächeln des Säuglings beeinflußt eine Mutter derart, daß die Wahrscheinlichkeit, künftig auf dieses Signal prompt zu reagieren, vergrößert wird und damit die Überle­ benschancen des Kindes verbessert werden. Auch das Vernehmen des Lallens hat dieselbe langfristige Wirkung. Die Sperrbewegung junger Vögel vorder Fütterung, die mit einem plötzlichen Emporschnellen des Kopfes und gleichzeitigem Offnen des Schnabels beginnt, kann man in verschiedenen Varianten bei Jungtieren von Säugern beobachten. Zumeist sind sie begleitet von akustischen Signalen, die das Betteln um Nahrung vermitteln. Auch das menschliche Kind kommuniziert seinen Hunger akustisch. Da­ neben hat der Säugling eine der vogelartigen Sperrbewegung ähnli­ che Zuwendereaktion: zur Brustwarze. Erfolgt eine Berührung

184

seiner W ange - im natürlichen Zustand mittels derHautder mütterli­ chen Brust oder künstlich mittels eines sanften Fingerdrucks so beginnt das Kind Saugbewegungen auszuführen. Wir hatten den Eindruck, daß die aktive Suchbewegung in Beantwortung des Reizes auf der rechten Wange (entsprechend der linken herznahen Brust) stärker war als auf der linken. Der Frustrationsanstoß auf den Säugling durch ein Hungergefühl führt zu einer Reizüberflutung, die sein unentwickeltes Nervensy­ stem nicht verarbeiten kann. Das Kind kann den Aufschub der Befriedigung nicht ertragen und reagiert den Triebdruck mit dem ihm für Notzustände verfügbaren akustischen Mittel ab. Oder kurz gesagt: Es schreit! Das mit Sättigung oder einem Fehlen des Trieb­ drucks einhergehende Hintergrundgefühl von Sicherheit und Wohl­ behagen äußert das Kind in einem neuen, auch bei den höheren Primaten nicht auftretenden Signal: Es lächelt. Diese Zauberformel drückt im allgemeinen eine Spannungsver­ minderung aus, deren wohltuenden Effekt wir auch als Erwachsene verspüren: Treffen sich zwei Unbekannte in einem fremden Gebiet, so kann die feindliche Reaktion durch ein Lächeln neutralisiert werden; eine unerwartete, gute Nachricht oder das plötzliche Ende einer bestehenden, unerträglichen Spannung löst ein Lächeln aus; unser blickerwiderndes Lächeln ist genauso wie beim Säugling eine Aufforderung zu sozialem Austausch. Daß unsere symbolisierende Tendenz dem Lächeln den Ausdruck einer freundlichen Geste zu­ schreibt, ist ein typisches Beispiel, wie die vorprogrammierte Verhal­ tenssequenz Triebdruck - Entspannung - Lächeln in ein soziales Konzept umgewandelt wurde, bei dem uns sein primitiver bzw. automatischer Aspekt völlig entgeht. Verschiedene Lautgebilde üben einen wechselseitigen Einfluß auf Mutter und Kind aus, und in den Varianten kann man heute noch den stammesgeschichtlichen Ursprung erkennen. Die »freie Wildbahn«, in der unsere Beobachtungen dieser akustischen Manifestationen stattfanden, waren Parkanlagen in verschiedenen Ländern. Wir suchten Mütter aus, deren Babys weniger als sechs Monate alt waren. Zuerst saßen wir auf derselben Bank, lasen ein Buch und warteten auf eine Aktion zwischen Mutter und Kind oder eine vorbeigehende i8j

Frau, die eine Bekannte der Mutter war und sich nach einer kurzen Konversation mit der Mutter dem Baby zuwandte. Die uns interes­ sierenden Lautgebilde waren eine von der Mutter oder ihrer Freun­ din eingeleitete wortähnliche Konversation mit dem Kind. Die Frauen begannen gewöhnlich eine solche Unterhaltung mit einem »Wie ist es denn, mein Baby?« und wechselten sofort zu wortlosen Lautgebilden über. Am häufigsten hörten wir ein gluckendes Ge­ räusch, bei dem die Zunge in einem Rhythmus von drei bis vier Lauten pro Sekunde gegen den Gaumen abwechselnd gepreßt und rasch losgelöst wird und an die Lockrufe vieler Vögel erinnert. (Vorsichtshalber wollen wir hier betonen, daß der Mensch nicht in direkter Linie von den Vögeln abstammt; es handelt sich hier um ein Konvergieren von ähnlichen biologischen Umständen: hilflose Brut, die außergewöhnliche Betreuung erfordert und dadurch ein be­ stimmtes Verhalten selektiert.) Ein anderes Lautgebilde, das durch rasches Offnen und Schließen der Lippen in einer SchmollmundStellung zustande kommt und von einem Hin- und Herbewegen des Kopfes begleitet wird, gemahnt an das auf Vorfinden von Nahrung gerichtete Aufmerksamkeitsgeräusch, das mit der Warnfunktion des Kopfschüttelns kombiniert ist. In beinahe allen Fällen stellten die Babys in den Kinderwagen eine sichtliche Erregung zur Schau, die sich in Lächeln, Herum werfen der Arme und einem raschen, hörbaren Atmen manifestierte: offensicht­ lich eine Reaktion der Freude. Um die Mutter so wenig wie möglich zu beeinflussen, gaben wir vor, Touristen zu sein. Durch unsere Mimik bezeugten wir Interesse und fragten, warum die Mutter oder ihre Freundin in dieser Weise mit dem Baby kommunizierten. »Sie können doch sehen, daß es ihm Spaß macht.« »Wieso sind Sie auf die Idee gekommen, daß diese eigentümlichen Geräusche Spaß ma­ chen?« »Das weiß ich nicht«, oder »Das ist doch ganz natürlich«, oder »Entschuldigen Sie, das ist eine merkwürdige Frage, jede Mutter tut doch dasselbe.« In keinem Fall erwähnten die Frauen, daß sie ein solches Verhalten von jemand gelernt hatten. Es scheint, daß Säuglinge fähig sind, in uns Erwachsenen latente, tief eingebettete Reaktionen hervorzurufen, die sonst in unserem Alltagsleben keinen Ausdruck finden.

r86

Hess berichtet, daß rhythmische Geräusche, zwei bis vier pro Sekunde, Jungvögel - besonders Enten - doppelt so häufig zum Folgen bringen wie eine Attrappe oder eine natürliche Ente, die im ,Gebrauch ihres Stimmapparats künstlich behindert wird. Die An­ sprechbarkeit auf Laute ist auch bei verschiedenen Säugetieren stark entwickelt. Ein Beispiel dafür ist das Schaf. Sofort nach der Geburt wird das Lamm vom Mutterschaf mit großer Hingabe abgeleckt, wobei dieses hochfrequente Laute auszustoßen beginnt. Nach kur­ zer Zeit antwortet das neugeborene Lamm, indem es ähnliche Geräu­ sche von sich gibt. Dieser »Dialog« ist laut genug, um den Schäfer zu wecken, wenn er - auf die Geburt wartend - eingeschlafen ist. J. F. Bernd und P. Μ. Richards fanden, daß rhythmische Geräu­ sche auf das menschliche Neugeborene eine stärkere Wirkung aus­ üben als nichtrhythmische; ebenso spricht es selektiv auf Laute an, die strukturell der Sprache ähnlich sind. Diese Selektivität kündigt den späteren Spracherwerb an. Obwohl optische und haptische Wahrnehmungen ihren Teil zum Gefühl der Geborgenheit beitragen, vermittelt das Registrieren von Sprachele­ menten eine akustische Gestalt der kindlichen Welt, in der sich das Baby, wenn auch noch in primitiver Weise, orientieren kann. Die Augen können weder koordinieren - doch ist ein Folgen mit dem Blick schon in den ersten Stunden nach der Geburt möglich -, noch ist die zentrale Repräsentation optischer Stimuli genügend ausgebil­ det. Die aus einiger Entfernung auf den Säugling einwirkende Um­ welt ist vielmehr akustisch gestaltet, und das Kind antwortet darauf ebenfalls mit akustischen Signalen. Die hochfrequente, sanfte Sprechstimme der Mutter und verschiedene archaische Lautgebilde, die aus einer früheren Evolutionsstufe stammen, sind solche Tonge­ bilde. Für den Säugling ist Schreien nicht nur der Ausdruck physischen oder emotionellen Mißbehagens, es ist auch bereits der Beginn einer kommunikativen Ausdrucksweise. Bald ist der Säugling fähig, sein Schreien zu modulieren, und die daraus resultierende Information wird von seiner Mutter klar verstanden. Das akustische Weltbild ist so wichtig für den Säugling, daß das Ausbleiben von Lauten als Störung empfunden wird. Lenneberg beobachtete Babys, deren

187

Eltern taubstumm, aber dennoch fähig waren, lautähnliche Geräu­ sche von sich zu geben. Obwohl diese Kinder genauso viele Geräu­ sche machten und dieselben Entwicklungssequenzen der Lautent­ wicklung durchliefen, vokalisierten sie nicht wie die Kinder norma­ ler Eltern, da die übliche Beantwortung kindlicher Signale nicht stattfand. Dies zeigt sehr deutlich, daß das kindliche Vokalisieren genetisch so vorprogrammiert ist, daß es eine stimmhafte Reaktion der Mutter hervorruft. Ohne eine solche rückkoppelnde Beantwor­ tung wird dieses Potential gegenüber den Eltern nicht aktiviert. Interessanterweise zeigen diese Kinder später normale Sprachge­ wohnheiten gegenüber normalen Erwachsenen, aber für ihre tauben Eltern gebrauchen sie eine charakteristische (abnormale) Aus­ drucksform. Diese Beobachtung bietet wichtiges Beweismaterial für die vom Kind ausgehende Stimulation, die die Bindung der Mutter nach sich zieht. Dieser Trieb ist so wirksam, daß das Kind eine »spezielle« Sprache erfindet, um mit seinen taubstummen Eltern zu kommunizieren, obwohl es fähig ist, sich normal auszudrücken. Das erste Lebensjahr zeigt die deutliche Entwicklung einer Sprachkompetenz, die schließlich zur Sprachfähigkeit führt. TreVARTHEN untersuchte in Zeitlupenstudien das Verhalten von Klein­ kindern gegenüber gesprochenen Worten und gleichzeitig damit die hochorganisierten Reaktionsmuster der Kinder: Schon Neugebo­ rene bewegen sich in perfekter Sy nchronie mit der Sprechstimme der sie umgebenden Erwachsenen. Condon beobachtete eine klare hierarchische Organisation der beteiligten motorischen Einheiten, so daß die Bewegungen sowohl einer internen als auch einer externen Synchronie (Gleichlauf) unterworfen waren. Condon gelangte schließlich zu der Überzeugung, daß die kinetische und paralinguale Matrix (Muster) der verbalen Sprache entwickelt ist, lange bevor das erste Wort gesprochen wird. Dieses auf Konversation gerichtete Verhalten ist angeboren und von einem inneren Rhythmus abhängig, der fein abgestufte Reaktionen auf verschiedene Bereiche sozialer Stimulationen aufweist und eine wichtige Vorstufe für die neurophy­ siologische Vorbereitung der Sprechfähigkeit darstellt. Solche sich dynamisch abspielende Handlungen zwischen Mutter und Kind finden auch bei höheren Tieren statt. Da aber diese

188

lautlichen Äußerungen nicht bis zur Sprache gelangen, haben die Tierforscher bis vor kurzem die subtilen Aspekte der sozialen Bin­ dung bei Tieren nicht erkannt. Weitere genetisch fixierte Verhaltensmechanismen wirken über das Gleichgewichtsorgan, das durch passive oder aktive rhythmische Bewegungen stimuliert wird. Wenn ein Kleinkind ein Bedürfnis nach Kontakt verspürt oder Mißbehagen empfindet, tut es diesen Zustand durch Weinen kund. Wenndie Mutter das Kind entweder in ihren Armen oder in der Wiege hin und her schaukelt, beruhigt es sich sofort. Ambrose fand bei fünf Tage alten Säuglingen, daß ein automa­ tischer Mechanismus, der die Wiege sechzigmal pro Minute hin und her bewegt, den besten Beruhigungserfolg erzielt; unter dreißigmal pro Minute vermindert sich dieser Effekt sehr rasch. Wenn man die kindliche Herzschlagrate als ein Kriterium des Beruhigungseffekts benutzt - ein Fallen von 200/min auf 90/min -, dann ist das Wiegen anderthalbmal erfolgreicher als der Lutscher. Bantu-Mütter, die ihre Kinder auf dem Rücken tragen, vollbrin­ gen bei ihren Alltagsbewegungen sechzig Schritte pro Minute. Da Tausende von Generationen nötig sind, bevor sich ein Merkmal genetisch fixiert, kann man aus dem Vorhandensein eines solchen Rhythmus schließen, daß die Präsapiens-Mutter es ebenfalls ge­ wohnt war, in ihrem Alltag das Kind herumzutragen.

Andere Auslöser, die sich aus dem Größenverhältnis der kindlichen Anatomie ergeben, wurden von dem Humanethologen I. EiblEibesfeldt beobachtet: die besonders gerundete Stirn; die im Ver­ hältnis zum Gesicht sehr großen Augen; der im Verhältnis zum Körper große Kopf. Wir reagieren auf diese optischen Signale der kindlichen Morphologie mit Wohlwollen und Zärtlichkeit. Diese Reaktion wird von Unternehmern und Werbegraphikern ausge­ nützt, um eine größere Anziehungskraft ihrer Produkte zu erzielen. Die anatomischen Größenverhältnisse des Kindes werden in menschlichen und tierischen Spielzeugfiguren nachgeahmt; ein be­ rühmtes Beispiel ist Disneys Reh Bambi, das mit seiner runden Stirn, seinem großen Kopf und den Kulleraugen dem menschlichen Säug­ ling nachempfunden ist. Andere morphologische Merkmale, die

189

unbewußt Gefühle wecken, sind: kleine Gegenstände oder Abbil­ dungen, winzige Finger und Zehen und zarte Haut. Aus alledem ergibt sich eine Vielzahl von Signalen, die ihren Ursprung im Verhalten des Säuglings haben und das der Erwachse­ nen beeinflussen. Doch wenn man Instinkthandlungen beim Men­ schen als unwesentlich betrachtet, ist es schwierig, die aktive Teil­ nahme des Kindes hinsichtlich seines Überlebens anzuerkennen. Eine solche Einstellung weist dem Säugling nur eine passive Rolle zu, und seine Manifestationen werden dann als mangelhafte Imitationen der ihn aus der Umwelt erreichenden Reize erklärt. Wir beobachten beim Kleinkind drei Formen der Informations­ übertragung: i. Äußerungen des Verlangens nach engem Kontakt mit der Mutter, der allein ein Gefühl der Geborgenheit bewirkt; 2. eine Mitteilung physischen Mißbehagens, hervorgerufen durch Hunger oder unangenehme Reize wie Nässe, intensive optische oder akustische Stimuli, Hitze, Kälte u.v.a.; j. in einer späteren Phase Lallen, Blubbern und verschiedene andere Lautgebilde, die sowohl Wohlbehagen als auch ein Verlangen nach sozialen Bedürfnissen (spielen, kitzeln, zurücklallen u.v.a.) anzeigen. Diese Stimuli haben einen rückkoppelnden Effekt auf das kindliche Nervensystem, des­ sen Zustand dadurch zu weiterer Reifung angespornt wird. Die Rolle des Vaters gegenüber dem Kleinkind ist hauptsächlich auf kulturelle Traditionen beschränkt, obwohl auch er auf die mor­ phologischen Merkmale des Babys ansprechbar ist. Er verfügt je­ doch nicht über jene hormonell vorbereiteten, genetisch fixierten und für das Überleben des Kindes so wichtigen Verhaltensreak­ tionen. Die geschlechtsbedingten Unterschiede hinsichtlich der kindli­ chen Bindungsfaktoren lassen sich deutlich und mühelos erkennen. Wir haben als »Beobachtungsposten« für Reaktionen Erwachsener gegenüber Kindern im allgemeinen Badestrände gewählt. Ein typi­ sches Beispiel war ein junger Vater, der sich aktiv mit seinem zehn Monate alten Sohn beschäftigte. Beide krochen auf allen vieren, dann nahm der Vater den Jungen bei den Beinen, so daß er sich auf den Händen fortbewegte; gemeinsames Spielen mit einer Gummipuppe folgte. Es war offensichtlich, daß das Kind mit ganzem Herzen bei

190

der Sache war; gelegentlich quietschte es. Ungefähr zwanzig Minu­ ten später erschien die Mutter. Sie legte das Kind auf den Rücken, um Sandkörnchen von seiner Haut wegzuflippen. Ganz spontan begann es zu lallen - beim Vater hatte es in der Zeit unserer Beobachtung keine solchen Laute von sich gegeben. Die Mutter lallte zurück und variierte diesen Austausch mit vibrierenden Geräuschen - sie blies Luft durch die halbgeschlossenen Lippen. Der Vater hatte in dersel­ ben Situation seine normale Sprache benutzt. Später fragten wir ihn, ob er jemals seinem Jungen zugelallt hätte. Seine Antwort: »Nein, das tue ich nicht; es ist doch lächerlich, solch^Geräusche zu machen. Willi muß sich an die richtige Sprache gewöhnen.« Unter den zahlreichen jungen Ehepaaren mit Babys, die diesen Strand besuchten, konnten wir kein einziges Mal einen Lalldialog zwischen einem Vater und seinem Kind beobachten. Einige Male gelang es uns, Väter zu ermutigen, mit ihren Kindern zu lallen, aber nur mit sehr geringem Erfolg, während die Mütter binnen kurzem eine Lallkonversation mit ihrem Kind in Gang gesetzt hatten. Es kann nicht oft genug betont werden, daß die optimale Befriedi­ gung der vorprogrammierten Bedürfnisse des Kleinkindes den Bo­ den für die auf der nächsthöheren Organisationsstufe wirkenden Verhaltensmuster bereiten. Andererseits sollte gewährleistet sein, daß das kindliche Nervensystem weder überfordert noch ungenü­ gend angeregt wird. Um die goldene Mitte einzuhalten, muß sich die

Mutter auf ihre eigenen vorprogrammierten Verhaltensreaktionen verlassen. Bücher oder Arzte können durch Ratschläge, auch wenn diese korrekt sind, die angeborenen Reaktionen nicht ersetzen. Letztere stellen automatische Handlungen dar, während Ratschläge mit Vorbedacht ausgeführt werden müssen. Eine für Primaten besonders wichtige Form der sozialen Bindung, die auch beim Menschen eine große Rolle spielt, wird durch die taktilen Nerven vermittelt. Diese Bindung nimmt verschiedene For­ men an: Fühlen, Berühren, Halten, Anklammern, Kuscheln, Massie­ ren, Kitzeln, den Haarboden untersuchen, Pflege der Haare. Die Primaten sind hauptsächlich Pflanzenfresser. Schimpansen fangen gelegentlich einen jungen Pavian und Insekten, andere Arten

191

fressen Vogeleier und Eidechsen; doch im wesentlichen besteht ihre Nahrung aus Früchten. Schon von ihrer Morphologie her sind sie keine Jäger sondern Beutetiere; natürliche Verteidigungs- und An­ griffsorgane besitzen sie nicht, auch bewegen sie sich nicht sehr rasch, wenn sie auf dem Boden sind. Anders der Mensch. Er sucht wie ein Raubtier nach Beute: aller­ dings mit Hilfe von Waffen. Ohne sie hätte er keine Aussicht auf Erfolg. Doch ehe er sich auf Waffen verstand, hing seine Überlebens­ fähigkeit ebenfalls von der für Primaten typischen Geselligkeit ab. Primaten leben in Gruppen und haben ein ausgeprägtes Gemein­ schaftsgefühl. Zum Funktionieren jedes sozialen Lebens gehören aber besondere Verhaltensregeln, auf deren Einhaltung genau geach­ tet wird: Wenn Gefahrdroht, werden Alarmsignale ausgestoßen, um die Artgenossen zu warnen; die Primatenkinder werden von den Älteren beschützt; an allen Tätigkeiten nimmt die Gruppe gemein­ sam teil, wie z. B. an der Nahrungssuche, den Ruhepausen; gegensei­ tig wird das Fell gereinigt; es wird auf demselben Baum geschlafen u. v. a. Gerade diese soziale Einheit war die Chance zum Überleben. Das Zusammenleben ist so wichtig für die Primaten, daß sie schwer­ wiegende nervöse Störungen aufweisen, wenn man sie von ihrer Gruppe isoliert. Soziale Bindungen finden schon in frühester Kind­ heit statt, wobei die engen Mutter-Kind-Beziehungen »das Modell« abgeben; und sie dauern bis zum Tod von Artgenossen an. Die Freundschaft zwischen den Sexualpartnern ist jedoch weniger be­ ständig als die zwischen Geschwistern und früheren Spielgefährten. Diese intimen Beziehungen zwischen den Primatenindividuen be­ stimmen das Muster für den auf einer späteren Stufe erscheinenden Homo präsapiens. Auch beim Menschen ist höchstwahrscheinlich die enge Bindung von Mutter und Kind die Voraussetzung für die spätere Geselligkeit. Schon ein experimentelles Isolieren von Affenbabys zeigt den ver­ heerenden Einfluß der fehlenden Mutter. Ein solcher Mangelzu­ stand kann verringert werden, wenn das Affenwaisenkind mit gleichaltrigen Artgenossen zusammengebracht wird. Beim Men­ schenkind hingegen hilft auch das nicht: Wenn es von seiner Mutter für längere Zeit entfernt werden muß, wie z. B. gelegentlich eines

192

Krankenhausaufenthalts, können beträchtliche Entwicklungsstö­ rungen auftreten, deren schwerste Komplikation der gewöhnlich zum Tode führende Marasmus ist. Am schlimmsten sind die Folgen unzulänglicher Bemutterung in Waisenhäusern. Wenn hier auch für die physischen Notwendigkeiten der Kinder von pflichtbewußtem Pflegepersonal optimal gesorgt wird - leider ist dies jedoch nicht überall der Fall -, vollzieht sich in den Kindern - und das gilt bis zu einem gewissen Grad auch für Krankenstationen-keine permanente Bindung an die in mehreren Schichten arbeitenden Frauen. Die Kinder ziehen sich in sich selbst zurück, und alle ihre Entwicklungs­ komponenten - Intelligenz, Gefühlsleben und physisches Wachs­ tum - verzögern sich. Sie liegen apathisch in ihren Betten und reagieren kaum auf Stimuli in ihrer Umgebung. In einer späteren Phase, in der normal aufgezogene Kinder schon auf allen vieren kriechen, zeigen die Waisen verringerte motorische Aktivitäten. Das Aufrechtstehen wird viel später erlernt. Ihre soziale Ansprechbar­ keit ist nahe dem Nullpunkt. Nur selten lächeln und lallen sie. Wenn solche Kinder die Kindergartenstufe erreichen, besitzen sie nicht die Fähigkeit, mit anderen Kindern zu spielen oder eine einfache Annä­ herung zu wagen. Wenn sie Mißbehagen verspüren, haben sie keine Mutter, zu der sie hilfesuchend laufen können. Statt dessen lutschen sie an ihren Fingern oder schaukeln sich im Bett hin und her, manchmal schlagen sie ihren Kopf in rhythmischen Intervallen an die Wand. Gewöhnlich äußern Kleinkinder Mißgunst oder Schmerz sponta­ ner, wenn jemand in ihrer Nähe ist. Wenn ein Kind sich auf einem Spielplatz verletzt, läuft es zuerst zur Mutter; erst dann beginnt es zu weinen. Im Gegensatz dazu kann ein autistisches Kind eine Brand­ wunde erleiden, ohne Schmerz zu zeigen. Man dachte daher, daß autistische Kinder ein defektives Nervensystem hätten; aber es ist wahrscheinlicher - da der Schmerz eine Kommunikation darstellt -, daß dieser Mangel auf ihre Unfähigkeit zurückzuführen ist, mit ihrer Umwelt auf eine gefühlsbetonte Weise zu kommunizieren. Das allgemeine Verhalten mutterloser Kinder zeigt nur eine geringe Tendenz, sich in späteren Jahren sozial auszugleichen. Sie bleiben scheu und furchtsam, sind besessen von Minderwertigkeitsgefühlen

«93

und unfähig, beständige Freundschaften zu schließen, obwohl sie ein starkes Bedürfnis danach empfinden; am liebsten ziehen sie sich in ihre Phantasiewelt zurück. Durch sorgfältige Behandlung eines zu einem frühen Zeitpunkt verlassenen Kindes kann viel erreicht wer­ den; aber es kann die unter normalen Umständen aufgezogenen Altersgenossen nie ganz einholen. Auch wenn später korrektive Maßnahmen angewendet werden, wie z. B. die Wiederherstellung einer intimen Mutter-Kind-Beziehuhg durch Adoption, bleibt eine Narbe in der Seele des Kindes zurück. Natürlich gibt es Ausnahmen. Bei besonders guter Betreu­ ung durch eine Ersatzmutter - die nach Möglichkeit nicht wechseln sollte - lassen sich Entwicklungsstörungen vermeiden oder zumin­ dest in Grenzen halten. Voraussetzung ist aber, daß die »Bezugsper­ son« wirklich zu einer solchen wird. Die frühe Mutter-Kind-Bindung ist so einzigartig in ihrer genetischen Vorprogrammierung, daß sie im späteren Leben nur mangelhaft ersetzt werden kann. Ein dramatisches Beispiel stellt das auf eine Stoffmutter angewiesene Makakenäffchen dar. Wenn es später selbst Mutter wird, stößt es sein Baby von sich weg, auch wenn sich das Affenjunge an die Mutter anzuklammern versucht. Sie verweigert ihre Milch und beißt das Baby, wenn es zu saugen versucht. Man erkennt hier Parallelen zu menschlichen Müttern, die ihre Kinder mißhandeln. Das Problem der fehlenden Mutterliebe ist erst im 20. Jahrhundert in seiner Tragweite erkannt worden. Die hohe Sterblichkeitsrate bei Kleinkindern hatte in der Vergangenheit wenig Raum für die Erfor­ schung des durch Mangel an Mutterliebe verursachten seelisch­ körperlichen Leidens gelassen. (Um so unverständlicher erscheint einem die zeitweilig mit so viel Eifer geführte Diskussion um »Tagesmütter«.) Erkenntnisse über die Empfindsamkeit von Kleinkindern hin­ sichtlich der Entbehrung der Mutter - das gleiche Phänomen bei Jungtieren ist den Landwirten schon seit Urzeiten bekannt - veran­ laßten einige Forscher, die seelisch-körperlichen Entwicklungsstö­ rungen des Säuglings in Tierversuchen zu beobachten. Das HarlowTeam vollbrachte auf diesem Gebiet eine wahre Pionierleistung. Das bekannteste Experiment bewies, daß ein Affenbaby eine Mutterat­ ’94

trappe, die mit Flausch umkleidet war und an die es sich anklammern konnte, der einer Attrappe aus Draht vorzog, obwohl diese mit einer Milchflasche versehen war. Auf diese Weise wurde klar, wie wichtig für den Primatensäugling - den des Menschen eingeschlossen - die Sicherheit und das Gefühl der mütterlichen, taktil faßbaren Haut­ nahe ist: wichtiger als Nahrung. Ohne die von der Mutter ausge­ hende Stimulation der in Haut und Muskeln des Kindes befindlichen Nervenenden, die die Welt der vom Tastsinn erfaßbaren Umgebung vermitteln, fremdelt das Kind sowohl gegenüber seinen Artgenossen als auch gegenüber den Objekten seiner Umgebung. Es entwickelt kein »Verständnis« für sein Innenleben oder das seiner Spielgefähr­ ten ; es befindet sich in einer ihm fremden und ihn bedrohenden Welt, gegen die es sich nicht wehren kann. Wenn solche Kinder im späteren Leben Vertrauen zu ihrem Psychotherapeuten gewinnen, wagen sie ein bißchen mehr von ihren Emotionen zu enthüllen. Typisch ist ihre Frage: »Wenn Leute einander zulächeln, ist dies einTeil der Konver­ sation?« und weiter: »Warum ist dieses Grinsen notwendig? Ich muß wie ein Dummian aussehen, wenn ich ununterbrochen mein Gesicht verziehe.« Die uns so selbstverständliche Gefühlskomponente in der zwischenmenschlichen Beziehung fehlt ihnen, und daher erscheint ihnen eine intime Situation mit anderen Personen anstrengend. Wenn man einem auch nurfür kurze Zeit isolierten Affenbaby eine Stoffmutter gibt, klammert es sich mit aller Macht an diese; wenn man die Stoffmutter gewaltsam von diesem Affenbaby wegnimmt, schlingt es beide Arme um seinen eigenen Körper und sucht die Sicherheit einer Ecke des Käfigs, wo es sich zu einem Ball zusammen­ rollt (diese Manifestation ist nicht unähnlich der eines autistischen Kindes). In späteren Phasen seines Lebens ist dieser mutterlose Affe unfähig, eine soziale Bindung mit einem Gleichaltrigen zu etablie­ ren; die Männchen versagen im Paarungsverhalten; den Weibchen fehlt, wie schon früher erwähnt, jedes mütterliche Gefühl, wenn sie ein Kind gebären. Sie stoßen es von sich, als ob es ein schädlicher Fremdkörper wäre. Als Erwachsene entwickeln diese Affen Psycho­ sen, nicht unähnlich denen von Menschen.

195

Diese sensationellen und dramatischen Experimente - man kann nur Mitleid haben mit diesen armen Äffchen! - beweisen den Wissen­ schaftlern Grundwahrheiten, die jede (gesunde) Menschenmutter (ohne besonderes Studium) als selbstverständlich betrachtet. Trotz­ dem tun nicht wenige Arzte die vorübergehende Trennung eines Kleinkindes von seiner Mutter aufgrund einer notwendigen Behand­ lung im Krankenhaus immer noch als einen unwesentlichen Faktor ab. Manche fortschrittlichen Abteilungen erlauben es der Mu tter, im Zimmer des erkrankten Kindes zu schlafen - ein wichtiger Faktor zu seiner beschleunigten Heilung. Ganz wenige Entbindungsstationen haben damit begonnen, die Neugeborenen der Pflege der Mutter zu überlassen und ihr auch zu gestatten, im gleichen Zimmer zu schla­ fen, bis beide aus der Klinik entlassen werden. Eine solche Einrich­ tung ist auch für die Mutter von großer Bedeutung, da ihre genetische

Prägungsdisposition erst durch die kindnahe Atmosphäre voll ent­ wickelt wird. Unsere an vielen Stellen dieses Buches mit Emphase vorgebrach­ ten Hinweise auf genetisch fixiertes Verhalten ist aus der Notwen­ digkeit zu erklären, ein auf wissenschaftlichen Befunden basierendes Gleichgewicht gegenüber der behavioristisch eingestellten Mehrheit der Verhaltensforscher herzustellen. Letztere behaupten, daß alle Menschen die gleichen Chancen haben sollten, da durch fortschrittli­ che Lehrmethoden die Nachteile ursprünglicher Umweltbedingun­ gen oder angeborene biologische Mangelzustände ausgeglichen wer­ den könnten. Dementsprechend steht die Betonung der Modifizier­ barkeit menschlichen Verhaltens bei ihnen im Vordergrund. Zwar werden genetische Anlagen nicht ganz geleugnet, aber wesentlich abgewertet. Anderenfalls müßte ja die Reichweite der Verhaltens­ modifikation eingeschränkt werden. Die Wahrheit liegt wie immer in der Mitte. Doch können wir gewisse begriffliche Schwierigkeiten nicht außer acht lassen. Die genetisch vorprogrammierten Verhaltensmechanismen sind beim Menschen weniger markant als beim Tier: nicht so sehr, weil sie weniger offensichtlich sind, sondern weil wir an eine stereotype Mutterliebe so sehr gewöhnt sind, daß wir die biologischen Elemente übersehen. Daher ermöglichen ethologische Untersuchungen von

196

angeborenen Instinkthandlungen bei Tieren, die eine hochgradige Ähnlichkeit mit denen des Menschen besitzen, Rückschlüsse auf dessen angeborene Verhaltensdispositionen. Indem jede, auch die kleinste Veränderung bei Tieren wie auch beim Menschen registriert wird, lassen sich automatisch abrollende Vorgänge herauskristalli­ sieren. Ein auslösender Reiz bestimmt den Verlauf einer Instinkthand­ lung; eine formstarre, von anderen Reizen oder Lernbestrebungen unbeeinflußte Ausdrucksrichtung kann in Kraft treten. Lorenz (19 3 7) wies in bezug auf solche Vorgänge auf Modifikationsmöglich­ keiten hin, bei denen richtungweisende Schlüsselreize, unabhängig von den angeborenen Auslösern, die Instinkthandlungen steuern können. Gerade dieser erlernbare Anteil einer vorprogrammierten Reaktion veranlaßte ein Mißverstehen des Wesens dessen, was ange­ borenes Verhalten darstellt. Ein typisches Beispiel dafür wurde von Tinbergen und Kuenen beobachtet: Frisch ausgeschlüpfte Amseln sind noch blind; sie erkennen die Ankunft der Amselmutter an Erschütterungen des Nestrandes; ihre genetisch vorprogrammierte Reaktion ist die typische Sperreaktion mit Halsrecken und Schnabel­ aufreißen. Solange die Amseljungen blind sind, sperren sie den Schnabel senkrecht nach oben auf. Ein bis drei Tage nach dem Offnen der Augen entspricht die Schnabelstellung der Richtung des Mutter­ schnabels. Hier wird die formstarre Handlung des Schnabelauf­ reißens zuerst durch eine Störung des Gleichgewichtsorgans und dann durch die optischen Signale des Mutterschnabels ausgelöst (diese Modifikation wird durch Lernen erworben). Unter besonderen Umständen werden die genetisch bestimmten Handlungen beim Menschen so offensichtlich, daß kein Zweifel hinsichtlich ihrer Natur bestehen kann. Eibl-Eibesfeldt (1967) filmte blind geborene Kleinkinder. Sie waren ebenso fähig, wie sehende Kinder zu lächeln, zu lachen, schmollende Schnutenlippen zu bilden oder in furchtauslösenden Momenten die Mundwinkel zu verziehen. Ploog (1972) verglich die menschliche Mimik mit der des Schimpansen und kam zu der Auffassung, daß hier identische Ver­ haltensweisen vorliegen. Peiper (1964) fand, daß den Schreitbewe­ gungen angeborene Programme zugrunde liegen: Neugeborene, die

197

man aufrecht hält und auf eine Unterlage stellt, setzen ein Bein vor das andere. Viele ritualisierte Gesten, die man leicht als erlernt ansehen kann, sind auch bei blinden Kindern feststellbar. EiblEibesfeldt beobachtete (1970) in einer späteren Untersuchung typi­ sche Ablehnungsgesten, wie verneinendes Kopfschütteln, ruckarti­ ges Kopfzurücknehmen, ab wehrende Handbewegungen oder Weg­ schiebebewegungen mit der offenen, zum Gegner gekehrten Hand­ fläche bei gleichzeitigem Abwenden des Kopfes. Diese Gesten sind rudimentäre Fluchtreaktionen (stammesgeschichtliche oder archai­ sche Überbleibsel), die Teilreaktionen darstellen wie Nahrungsver­ weigerung, Fluchtintentionsbewegung, Schutzbewegung gegen stö­ rende Reize, fluchtartige Fortbewegung. Hierher gehören auch die ritualisierten Gesten der Kontaktauf­ nahme und der Begrüßung wie auch Relikte des Imponiergehabes des Mannes und das Sprödigkeitsverhalten der Frau. Konflikte hinsichtlich der Statuseinschätzung eines Individuums in seiner Umwelt führen zur chronischen Spannung der Muskeln, die die rituelle Dominanz und Unterwerfung ausführen. Das Resultat ist ein chronischer Krampf der Nackenmuskeln (Jonas & Jonas 1977). Sexualität, Aggression und Neugier liefern weitere Beispiele für genetisch vorprogrammierte Reaktionen des Menschen.

Zusammenfassend läßt sich sagen: In den letzten Jahrzehnten sind in bezug auf die stammesgeschichtlichen Einflüsse auf die Entwicklung des Kleinkindes wichtige Forschungsergebnisse erzielt worden, aber die Frühphase harrt noch weiterer Untersuchungen. Vom Blickwin­ kel unseres Themas her, dem Ursprung der Sprache, weisen alle Elemente des kleinkindlichen Reifungsprozesses auf eine Tendenz hin, die den Boden für eine sich später entwickelnde verbale Kom­ munikation bereitet. Die Mutter-Kind-Bindung ist die biologische Basis für diese Tendenz. Aus dieser Entwicklung lassen sich Rückschlüsse auf den Ur­ sprung der Sprache in vorgeschichtlicher Zeit ziehen. Die meisten angeborenen Reaktionen des Säuglings haben stammesgeschichtli­ che Hintergründe. Die über Jahrmillionen sich erstreckende Ent­ wicklungsperiode der Sprache erfolgte in unzähligen Stufen, deren 198

wichtigste heute noch in den archaischen Relikten unserer Kinderund Erwachsenensprache nachweisbar sind. Gesten, Mimik, pri­ mitives Schreien, Lallen und durch Intonation konturierte Laute sind Stationen zu der in der jüngsten geologischen Periode erschei­ nenden Sprachfähigkeit.

199

Kapitel XII

Wo die Pfade konvergieren oder Wie der Mensch das Sprechen lernte

Wir nähern uns dem Ende unserer Überlegungen. Wir haben gese­ hen, wie sich die Elemente, die zur Sprachbildung beigetragen haben, biologisch entwickelt haben. Es handelt sich um ein Netzwerk von komplementären Untersystemen, von denen jedes einzelne so be­ deutsam ist, daß die menschliche Sprache, wäre die Entwicklung auch nur in einer Hinsicht anders verlaufen, nicht zustande gekom­ men wäre. Andererseits können aber die einzelnen Untersysteme selbst nicht als die einzigen bestimmenden Faktoren für den Ur­ sprung der Sprache angesehen werden, wie dies bei früheren wissen­ schaftlichen Untersuchungen meist der Fall war. Hatte man bisher geglaubt, im Austausch von Information während der Jagd, in kooperativen Handlungen der männlichen Horde, der Werkzeug­ herstellung, der Nachahmung natürlicher Laute und anderem mehr den Ursprung der Sprache gefunden zu haben, so konnten wir der Frau eine ausschlaggebende Rolle zuschreiben. Sprache ist nach unserer Auffassung ein System, das weitgehender als die von anderen Spezies gebrauchten Signale den menschlichen Bedürfnissen und einer ständig sich vergrößernden Intelligenz entspricht. Aber sie entstand zunächst nicht als Medium für den Informationsaustausch,

sondern als Mittel zur arterhaltenden sozialen Bindung. Als entscheidend für die menschliche Entwicklung haben wir den Prozeß erkannt, der zur Neotenie führte: Im Laufe der biologischen Spezialisierung einer Art kommt es zu einer solchen Verfeinerung ihrer Anpassung, daß weitere Verbesserungen kaum mehr möglich sind und somit das Ende einer evolutionären Linie erreicht wird. 200

Unter solchen Umständen sind die Lebewesen so ideal den Umwelt­ bedingungen angepaßt, daß schon die geringsten Veränderungen in ihrer Umgebung ihr Überleben bedrohen. Die Weiterentwicklung geht dann von mangelhafter angepaßten Tieren aus, die sozusagen einen Ausweg aus der evolutionären Sackgasse anbieten. Dieser Ausweg kommt durch eine Verlangsamung und damit durch eine Verlängerung der Wachstumsperioden zustande: Die Jugend wird auf Kosten der Erwachsenen-Phase erweitert, da eine Neuanpassung eine Flexibilität erfordert, die in reiferen, erwachsenen Tieren nicht mehr möglich wäre. Die Neotenie beschränkt sich nicht nur auf die Primaten, sie ist vielmehr auf jeder Stufe - auch schon bei wirbellosen Tieren wirksam. In jeder Spezies tauchen von Zeit zu Zeit Zufallsvarianten auf, deren Wachstum sich im Vergleich zu dem ihrer Artgenossen langsamer vollzieht. Dieses Reservoir an Varianten kann sich vergrö­ ßern, wenn die Überlebensfähigkeit einer Spezies bedroht wird, so daß im Laufe vieler Generationen die »reiferen« Tiere von der neuen Gattung »abgelöst« werden. Tiere mit einer verlängerten Wachs­ tumsperiode verlieren die anatomischen Eigenheiten ihrer Artge­ nossen und erreichen die sexuelle Reife in einem Zustand der Ent­ wicklung, der für die Vorgänger dieser Tiere als jugendlich galt. Der Vorteil der größeren Plastizität auf der einen Seite bringt jedoch auf der anderen Seite auch Nachteile mit sich. Der Preis, den unsere Spezies für die größeren Chancen in dieser evolutionären Lotterie bezahlen mußte, war die sich verlängernde Phase der Un­ reife. Das Positive dieser neuen Richtung ermöglichte jedoch eine beispiellose Entfaltung der menschlichen Intelligenz und als weitere Konsequenz ein sich ebenfalls vergrößerndes Potential an kultureller Evolution, was aber nicht mehr zu unserem Thema gehört. Diese unaufhaltsame, verjugendlichende (neotene) Tendenz hatte die ausgesprochene Hilflosigkeit des Kleinkindes zur Folge und forderte als Lebensnotwendigkeit vorprogrammierte Verhaltens­ mechanismen, die sein Wohlergehen sicherten. Diese in unseren Genen eingebetteten Verhaltensreaktionen sind heute noch vorhan­ den und nicht nur auf die kindliche Phase beschränkt, sondern sie berühren jeden Aspekt dessen, was wir als spezifisch menschlich 201

betrachten, wie z. B. die Fürsorge für Arme, Kranke und Gebrech­ liche. Und es war gerade diese neotene Richtung, die den Boden für das gesprochene Wort vorbereitete. Die außerordentliche Reichhaltig­ keit der Lautbildung erwies sich als geeignetes Mittel, um angesichts des starken Selektionsdrucks, dem der Homo präsapiens in seiner Entwicklung unterlag, die Bindung zwischen Mutter und Kind zu verstärken und die fehlende Reife des Kleinkindes zu kompensieren. Ein wenig beachteter Faktor, der jedoch im Prozeß der Mensch­ werdung eine wichtige Rolle spielt, ist die relative Haarlosigkeit der menschlichen Haut. Die glatte, haarlose Haut der Mutter macht es dem Kleinkind unmöglich, sich an ihr festzuklammern, wie es die Menschenaffenbabys am Pelz ihrer Mutter tun. (Sie reiten auch auf dem Rücken oder untergeschlungen am Bauch ihrer Mutter; Gorilla­ babys fassen die mütterlichen Rückenhaare an, wenn sie müde sind und verstecken ihr Gesicht im mütterlichen Pelz, wenn sie Gefahr verspüren.) Die menschliche Mutter jedoch muß ihr Kind auf dem Arm tragen oder es mit beiden Händen an sich drücken, wenn es Angst hat. Diese entwicklungsgeschichtliche Innovation der Kin­ derbetreuung hatte weitgehende Folgen, da sie die Latéralisation der Hirnzentren, wenn auch indirekt, förderte. Bei den Menschenaffen gibt es keine geschlechtsbedingte Arbeits­ teilung. Männchen und Weibchen sorgen individuell für ihre Nah­ rung. Im Gegensatz dazu fiel der Frühmenschenfrau die Hauptrolle für das Sammeln von Früchten und Wurzeln, das Fangen von Kleintieren sowie die Zubereitung und Verteilung der Nahrung für die ganze Gruppe zu. So mußte die Frau doppelte Arbeit leisten: Neben der langen Betreuungsperiode für das Kleinkind und der Fürsorge für die älteren Kinder hatte sie die Verantwortung für die Gruppe hinsichtlich des Sammelns von Nahrung. Wie es die Natur der Jagd mit sich bringt, waren die Beiträge der beutesuchenden Männer viel zu unregelmäßig, als daß man sich darauf hätte verlassen können. Beispiele für eine solche Rollenteilung kann man in moder­ nen Zeiten noch bei Stämmen sehen, die nach wie vor sammeln und jagen. Die Frühmenschenfrau hatte also im einen Arm das Kind zu tragen 202

und mit dem anderen Tätigkeiten ihres Alltagslebens zu verrichten. Später ist es den Frauen gelungen, mit Hilfe von Werkzeugen Schlingentücher herzustellen, in denen die Kleinkinderden größten Teil ihres Tages verbringen konnten. Aber es muß eine lange Zeit­ spanne gegeben haben, in der den Müttern solche Hilfsmittel nicht zur Verfügung standen. Und dieser Umstand hatte unvorhersehbare Folgen. Da der Rhythmus des schlagenden Herzens eine beruhi­ gende Wirkung auf Säuglinge hat und es bei der Arbeit vorteilhaft sein mochte, ein ruhiges Kind zu haben, dürften die Mütter ihre Säuglinge vorwiegend links gehalten haben. (Wie schon erwähnt, tut jede Menschenmutter dies heute noch automatisch, wenn man ihr das Neugeborene reicht.) Da bei den Menschenaffen keine Präferenz für eine oder die andere Seite des Körpers festzustellen ist, dürfen wir annehmen, daß bei den Vormenschen der Selektionsdruck diejenigen Mütter förderte, die den linken Arm zum Halten des Kindes benutzten. Als Folge davon entstand eine Asymmetrie in der Anwendung und Geschicklichkeit der beiden Hände. Die linke Hand hatte eine vorwiegend gewichts­ tragende Funktion, während die rechte frei war, Tätigkeiten auszu­ führen, die Geschicklichkeit verlangten. Da die linke Gehirnhemi­ sphäre die rechte Hand kontrolliert, verstärkten sich Fähigkeiten für komplexere muskuläre Koordinationen durch den Prozeß der Rück­ kopplung: Fingerfertigkeit stimulierte die Nervenzentren zu einer Verbesserung der Reizübertragung, und die stimulierten Nerven­ zentren förderten die Fingerfertigkeit noch weiter. Für die rechte Hemisphäre bestand keine solche Notwendigkeit. Aktivierte Grup­ pen von Nervenzellen neigen aber dazu - nicht nur von dem Ge­ sichtspunkt der Merkmalsumprägung, sondern auch von dem der Stammesgeschichte aus -, Stimulationen, die aus neuem Verhalten resultierten, an sich zu ziehen. (Darum hat ein Sportler viel weniger Schwierigkeiten, einen neuen Sport zu erlernen, als eine ungeübte Person.) Nun kontrolliert die linke Hemisphäre auch die Sprach­ funktion - eine Tätigkeit, die an und für sich bei fehlender Asymme­ trie der Vokalorgane keine Seite bevorzugen sollte. Dennoch ist diese Asymmetrie (oder fachwissenschaftlich ausgedrückt: Latéralisa­ tion) ein klinisches Faktum, wie bei Schlaganfällen der linken Ge­

203

hirnhälfte durch die sich manifestierenden schweren Sprachstörun­ gen (Aphasien) nur allzuleicht beweisbar ist. Daraus ergibt sich der logisch zwingende Schluß, daß in die Zeit, als die Frau des Frühmen­ schen ihr Kind auf dem linken Arm trug, auch der Beginn der Sprachfähigkeit fällt. Wir haben hier ein Beispiel für das in der Evolution von Funktio­ nen so oft vorkommende Triggerphänomen - aufeinanderfolgende Auslöseaktionen oder kurz AAR genannt -, bei dem ein Prozeß den nächsten in Gang setzt, und dieser einen dritten usw.: Die Verlänge­ rung der Entwicklungsperioden bewirkte eine Förderung der ju­ gendlichen Morphologie; diese führte zu einem Nachlassen des Haarwachstums in der jugendlichen Phase, so daß die Haare nicht mehr zu einem Fell weiterwuchsen; die daraus resultierende Haarlo­ sigkeit der Mutter bot dem Säugling keine Möglichkeit mehr, sich anzuklammern - er mußte getragen werden; um dem Kind ein optimales Gefühl der Geborgenheit zu geben, verwendete die Mut­ ter dafür vorzugsweise den linken Arm; dadurch hatte sie nur die rechte Hand frei für komplexere Tätigkeiten; dies ergab wieder eine bevorzugte Stimulation der linken (kontralateralen) Hemisphäre; die um diese Zeit beginnende Fähigkeit, klar abgetrennte Laute und Intonationsfolgen zu produzieren, wurde nun ebenfalls in die linke Hemisphäre einbezogen; am unteren Ende dieser Sequenz folgt die Reichhaltigkeit der in der Sprache eingeschlossenen Untersysteme (Semantik, Symbolik, Magie, Begriffsmanipulation, Poesie u. v. a.). Ein anders Beispiel für AAR ist die Entwicklung des menschlichen Skeletts: Die über Jahrzehntausende sich vollziehende Aufrichtung der Wirbelsäule von der Horizontalstellung bei den niedrigeren Primaten setzte sich in der schrägen Stellung bei den Menschenaffen fort und endete in der vertikalen Stellung beim Menschen. Diese morphologische Verschiebung bewirkte in dieser Sequenz ein »Ab­ rutschen« des Kehlkopfs tiefer in die Halsstrukturen. Die während des Absinkens verschiedentlich plazierten Lagendes Sprachapparats beeinflußten wiederum die Gestaltung der Stimme. Unterkiefer- und Schädelfunde lassen diesbezüglich signifikante Rückschlüsse zu. Wie bereits erwähnt, gelang es Lieberman und seinen Mitarbeitern, in ihrem Labor die anatomischen Strukturen 204

des Vokalapparats von Menschenaffen sowie des erwachsenen Ne­ andertalers nachzubauen. Diese Modelle wurden mit einer Pumpe verbunden, die einen wechselnden Luftstrom durch diese Strukturen blies und dadurch typische Vibrationen erzeugte. Die so erzielten Lautgebilde deuten darauf hin, daß der Sprach­ apparat des Neandertalers dem des modernen Kleinkindes ähnlicher gewesen sein muß als dem des modernen erwachsenen Menschen. So wäre es dem Neandertaler unmöglich gewesen, die beträchtliche Bandbreite der Artikulation der modernen Sprache, ja nicht einmal ihre Laute nachzuahmen. Dennoch müssen diese für unsere Ohren primitiv und harsch tönenden Laute so variiert und manipuliert worden sein, daß sie sich zu einer Art Sprache formten. Natürlich gehörte dazu eine gut entwickelte Intelligenz, über die der Neandertaler ohne Zweifel schon verfügte. Aufgrund von Fun­ den dürfen wir darauf schließen, daß vorgeschichtliche Menschen bereits einer Kultur fähig waren. Doch zeigten sich signifikante Unterschiede bei den in verschiedenen geographischen Gebieten ausgegrabenen Artefakten: Der westeuropäischen Abart fehltez. B. der Rachen - Lieberman vermutet daher, daß sie nur über zehn Prozent der Sprachfähigkeit des modernen Menschen verfügte -, während die asiatischen Abarten schon einen Ansatz zu einem Rachen aufwiesen. (Im Vergleich dazu entwickelt das Kleinkind einen Pharynx im dritten Monat.) Diesen morphologischen Ver­ schiedenheiten entspricht wahrscheinlich auch eine differentielle Höhe ihrer Kultur. Bei Ausgrabungen im nördlichen Iran fand man in den Grabstätten Reste von Pflanzenmaterial, die sich unter dem Mikroskop als Samen von Blumen erwiesen. Auch die Anordnung der Grabstätten verstärkte die Ansicht, daß diese Neandertaler rituelle Bestattungszeremonien anwendeten - ein sicheres Zeichen, daß ihr Verständnis der Umwelt dem des frühgeschichtlichen Men­ schen ähnlich war. Wenden wir uns nun noch einmal der - nach Laborversuchen vermuteten - anderen Tonqualität der Neandertaler zu und verfol­ gen wir die Entwicklung in Parallele zur Kleinkindersprache konse­ quent weiter zurück, dann müssen wir - in einem viel früheren Stadium als dem des Neandertalers - auf eine Sprechweise stoßen, die

205

aus modulierten Geräuschen bestand. Sie hatten - wenn wir die kindliche Entwicklung im Blick behalten - weniger mit Informa­ tionsaustausch zu tun, als soziale Bindungen zu verstärken. Diese Präsapiens-Menschen dürften auch noch Primatengesten als eines ihrer Kommunikationsmedien benutzt haben. Besonders bemer­ kenswert ist das Faktum, daß die bei unseren Kleinkindern vorhan­ denen und beim Frühmenschen wahrscheinlichen Lautgebilde, de­ ren spezifische Wandlungen jede Phase der Sprachentwicklung cha­ rakterisiert, in der Sprache des erwachsenen Homo sapiens keines­ wegs verlorengegangen sind. Sie sind in unseren Ausdrucksformen als ein die Bedeutung eines Wortes verstärkender Faktor erhalten und fügen sich so subtil in unsere Konversation ein, daß sie kaum bemerkt werden. Nur Zeitlupenaufnahmen mit gleichzeitiger Ton­ wiedergabe vermitteln die Erkenntnis, wie viele dieser in uns noch »lebenden Fossilien« sich erhalten haben. Nun haben wir hier zwei Auslöser in einer Art und Weise beschrie­ ben, als hätten sie unabhängig voneinander ihren Lauf genommen. In Wirklichkeit jedoch überlappen sie sich, und es entstanden Querver­ bindungen, die sicherlich nicht ohne Einfluß auf die Weiterentwick­ lung der Sprache blieben. Wir kommen jedoch auch mit zwei Auslö­ sersystemen nicht aus. Aber, wie es bei Untersuchungen von biologi­ schen Systemen meistens der Fall ist, man verspürt schon eine gewisse Genugtuung, wenn sich aus der Unmenge von Daten eine plausible Zusammenschau herauskristallisiert. Tatsächlich hat man darum oft nur die Oberfläche eines Gesamtkomplexes »angekratzt«. Das nächste Untersystem, das in diesem Zusammenhang unsere Aufmerksamkeit verdient, ist das der Physiologie und des Verhaltens von Neugeborenen, das im Laufe der Entwicklung von Stufe zu Stufe einen allmählich sich vergrößernden Beitrag zum Verständnis der Sprachentstehung hinzufügte. Blickt man auf die Geschichte der Menschenwerdung zurück, so kommt man zu der Feststellung, daß der neotene Trend beim Homo sapiens außerordentlich erfolgreich war, sonst wären wir heute nicht mehr als interessante Fossilien für eine neue Abart von Hominiden. Tatsächlich konnte sich nur ein Zweig erhalten, der zum modernen Menschen führte - die vielen Varianten von Hominiden, deren

206

Evolution in einer Sackgasse endete, bezeugen den prekären Charak­ ter einer neotenen Richtung von Speziesmodifikationen. Ein solcher evolutionärer Trend kann nur dann erfolgreich sein, wenn gleichzei­ tig ein verstärkter Selektionsdruck einsetzt, um die aus derNeotenie resultierenden Schwächen zu korrigieren, zu kompensieren und gelegentlich auch überzukompensieren. Um Physiologie und Verhalten des Kindes besser zu verstehen, können wir das Auslösersystem auch einmal in umgekehrter Rich­ tung verfolgen, indem wir mit dem Endresultat beginnen: Intelligenz scheint der stärkste auslösende Faktor für den von Neotenie be­ stimmten Selektionsdruck gewesen zu sein; Intelligenz kann sich nur voll entwickeln, wenn eine genügend verlängerte Wachstumspe­ riode zur Verfügung steht; eine verlängerte Wachstumsperiode be­ dingt aber eine ausgedehntere Phase der Hilfslosigkeit des Kleinkin­ des ; die Hilflosigkeit verlangt eine Auslese für genetisch eingebettete Faktoren beim Kleinkind wie auch bei seiner Mutter, die dem Kind bessere Chancen für seine Weiterentwicklung geben; diese untrenn­ bar miteinander verknüpften biologischen Einheiten bestimmen das Untersystem der Mutter-Kind-Bindung. Im Rahmen der Merk­ malsumwandlung der stammesgeschichtlichen Sprachentwicklung im Lautsystem der Mutter-Kind-Bindung ist das Lallen von beson­ derer Wichtigkeit. Ebenso wie andere Signale (Lächeln, morphologi­ sche Merkmale des Gesichts, der Haut und des Körpers u. a.) löst das Lallen einen Betreuungstrieb in der Mutter aus. Die frühmenschliche Mutter, die noch keine Sprachfähigkeit besaß, konnte zurücklallenein Verhalten, das in ihr über die Betreuungsphase erhalten blieb. Da die Frühmenschenfrau schon eine aufrechte Haltung hatte, saß ihr Kehlkopf tiefer im Hals als der der Primaten, und daher war sie imstande, Lautgebilde zu produzieren, die Vorläufer der bedeu­ tungstragenden Sprache waren. So wurde aus einem genetisch be­ dingten Verhalten, das die Bindung des Kindes an die Mutter ver­ stärkte, durch Zufall ein neues soziales Element. In diesem Triggersystem löste ein Faktor, beginnend mit dem für ein Säugerneugeborenes außergewöhnlichen Mangel an Reife, eine Serie von aufeinanderfolgenden, durch Zufall bedingten Faktoren aus, die notwendigerweise einerseits in Intelligenz und andererseits 207

über das der Mutter eigene Auslösersystem in Sprache resultierten. Als initiierendes Element für das Auslösersystem der frühmensch­ lichen Mutter bestimmen wir etwas willkürlich, da es in Wirklichkeit noch viel weiter zurückgeht, die genetisch bedingte, hormonelle Vorbereitung für eine intensive und lang andauernde Betreuung ihres Kindes. Im Rahmen der sich daraus ergebenden Mutter-KindBindung finden die für die Entwicklung der Sprache entscheidenden und aus dem Lallaustausch zwischen Mutter und Kind stammenden Lautgebilde statt. Die sich ständig verlängernde Unreife des Klein­ kindes gab seiner Mutter mehr und mehr Zeit, diese Ausdrucksform zu praktizieren - im Gegensatz zum zeitlich beschränkten Lallen bei den Primaten, bei denen das Baby nur in den ersten drei Monaten solche Laute von sich gibt, ohne daß sie von den Erwachsenen wiederholt würden -, bis diese zu einer Gewohnheit wurden und über die Betreuungsperiode hinaus erhalten blieben. Akustische Signale stellen keine evolutionäre Neuigkeit dar: Man­ che Reptilien und Fische, wie auch die meisten Vögel und Säuger, benützen mittels des Kehlkopfs produzierte Lautgebilde für ver­ schiedene, artspezifische Zwecke. Die Erstmaligkeit hinsichtlich der Lautbildung besteht vielmehr darin, daß der Sprachapparat der menschlichen Mutter und die mit ihm verbundenen Resonanzkörper - deriviert von einem Auslösersystem, das mit einem Schlitz in niedrigeren Tieren beginnt und dessen Entwicklung zum menschli­ chen Kehlkopf eine Periode von mehreren hundert Millionen Jahren überspannt - eine Band- und Modulationsbreite besitzen, die für keine andere Spezies möglich ist. Der menschliche Kehlkopf ist so strukturiert, daß die verschiedensten Sprachlaute die durchströmen­ den Luftmassen produzieren können. Für ein biologisches Gefüge, das ein ungenutztes Potential besitzt, wie das beim Stimmapparat der frühmenschlichen Frau der Fall war, kann das Gesetz des Zufalls in Kraft treten, das besagt: Alles, was möglich ist, muß sich irgendwann realisieren, wenn genügend Zeit zur Verfügung steht. Ein weiteres Auslösersystem wirkte auf die arterhaltende Zweck­ mäßigkeit des sozialen Verhaltens hin. Die meisten Tiere leben in Gruppen und gehorchen aufgrund genetischer Vorprogrammierung 208

Gesetzen, die ein soziales Leben ermöglichen. Dieses Verhaltenssy­ stem erreicht einen besonders hohen Grad bei den Primaten. Ein typisches Beispiel dafür sind die Reaktionen von Menschenaffen in experimentellen Situationen. Wenn ihnen als Belohnung eine Wahl zwischen Nahrung und Gesellschaft von Artgenossen angeboten wird, ziehen sie, auch wenn sie hungrig sind, die soziale Bedürfnisse zufriedenstellende Belohnung vor. Die soziale Bindung der Primaten erhält ihre Bedeutung aus der Notwendigkeit gegenseitigen Beschützens. Eine für das Überleben der Spezies so wichtige Anordnung wird, wie gewöhnlich, in jeder möglichen Weise durch weitere biologische Mechanismen verstärkt. Hier spielt die Hautpflege eine besonders große Rolle, wie sie von Jane Goodall nach Beobachtung einer Schimpansengruppe in freier Wildbahn so eindrücklich beschrieben worden ist: »Den Morgen verbrachten sie mit Nahrungssuche; dann wurde eine Rastpause eingeschaltet, in der die erwachsenen Individuen mit ihren Fingern sorgfältig die verfilzten Haare des Pelzes eines Nachbarn auseinan­ derzogen, um Ungeziefer oder Fremdkörper zu entfernen, während die Kinder spielend herumtollten.« Dieser intime Kontakt der Pri­ maten ist eine Verlängerung der artverwandten Mutter-Kind-Bindung und dient sozialen Zwecken. Was geschieht nun, wenn eine Primatenabart das für soziale Belange so wichtige Fell im Laufe vieler Generationen verliert? Die beim Menschen auftretende Haarlosigkeit - erwähnt im Kontext der Auslöserserie, die zum Tragen des Kleinkindes auf dem linken Arm führte - erforderte eine Umstellung des für alle Primaten so wichti­ gen sozialen Austauschs. Ähnlich wie das Modell der gegenseitigen Bindung zwischen Mutter und Kind bei den Primaten das spätere soziale Verhältnis der erwachsenen Individuen bestimmt, könnten sich neue Verhaltensweisen herausgebildet haben: Beispielsweise könnten die Frauen dieselben beruhigenden Laute, die Mutter und Kind austauschten, allmählich auch gegenüber Erwachsenen ge­ braucht haben. In dieser Weise könnte der sozial gefärbte Lallaus­ tausch die Bindungstendenzen des Frühmenschen kanalisiert haben. Ein Informationsaustausch war in dieser Phase nicht notwendig, da Primatengesten diesen Notwendigkeiten vollauf gerecht wurden. 209

Aber als Intonationskonturen dem Lallen eine größere Variations­ breite vermittelten, war es nur ein kleiner Schritt, Aufforderungen, Drohungen, Bejahen, Verneinen u. v. a. mit Veränderungen des Tones anzudeuten. Wenn wir uns noch Emphase und begleitende Gestik und Mimik hinzudenken, haben wir den Beginn einer Spra­ che, noch bevor der Stimmapparat den Entwicklungsgrad des mo­ dernen Menschen erreicht hat. Den frühmenschlichen Männern standen dieselben vokalen Aus­ drucksmöglichkeiten zur Verfügung, aber es fehlte ihnen die durch Hormone in Gang gesetzte, vorprogrammierte Einprägung, Laute zu produzieren. Dieser geschlechtsbedingte Unterschied im Sprach­ erwerb dürfte auch eine Parallele in einem gegenüber Mädchen und Jungen differenzierten Verhalten der Mutter gehabt haben, wie das ähnlich auch bei den Menschenaffen der Fall ist. Die Schimpansen­ mädchen bleiben länger bei ihrer Mutter als die Jungen; sie helfen bei der Pflege später geborener Kinder; auch wenn sie erwachsen sind, wahren sie ihre Bindung an die Mutter. Eine Kontinuität dieser unterschiedlichen Haltung kann bis zum modernen Menschen ver­ folgt werden, wenn auch die Erklärung dafür im allgemeinen auf kulturelle Verstärker bezogen wird. Im Gegensatz dazu dürften sich die Jungen auch von der Frühmenschenmutter früher gelöst haben: Das Verhalten von Knaben war der Umwelt angepaßt. Könnten wir eine solche frühmenschliche Gruppe besuchen, so würden wie vielleicht Ähnlichkeiten mit Indianern feststellen kön­ nen, die sich mit Hilfe von Gesten unterhalten und nur selten den bekannten »ugh«-Laut von sich geben. Ihre Männlichkeit ist durch Schweigen gekennzeichnet. Geschwätzigkeit ist Sache der Frauen und Kinder. Es könnte sehr wohl so gewesen sein, daß der früh­ menschliche Mann eine Tugend aus seiner Sprachuntüchtigkeit machte, zumal seine Hauptaufgabe, die Jagd, sowieso komplette Stille erforderte. Diese frühgeschichtliche Differenzierung hinsichtlich der Laut­ bildung mag ihren eigenen Selektionsdruck auf die Frühmenschen ausgeübt haben: Für die Frauen ging er in Richtung auf eine sich stetig verbessernde Lautgestaltung, für die Männer hingegen in Richtung auf eine stetig sich verbessernde Raumorientierung. 210

Und genau an diesem Wendepunkt der menschlichen Entwick­ lung hat der in der Legasthenie sich manifestierende Unterschied im Spracherwerb von Jungen gegenüber Mädchen seinen Ursprung. Jetzt können wir auch das Ausgangsproblem-die Legasthenie-, das unsere Odyssee in Gang setzte, noch einmal mit den gewonnenen Einsichten betrachten. P. Dünn- Rakin beobachtete in einer Reihe von Experimenten mit Schulkindern, wie sie die visuellen Charakteristika der Buchstaben perzipieren, um den Grad der Schwierigkeit ihrer Erkennung wäh­ rend des Lesens festzustellen. Dabei stellte er fest, daß das Auge nicht aufs Geratewohl auf die Teilaspekte der Worte blickt. Die Kinder zeigten in seinem Experiment eine allgemeine Tendenz, den Brenn­ punkt ihrer Sicht in einer höchst spezifischen Weise zu regulieren. Dunn-Rankin nahm daher an, daß es sich hier um eine angeborene Reaktion handelt, die dem Geist die Worte so darstellt, daß ein mit minimaler Anstrengung erfaßbares Wortbild auf die Netzhaut fällt. Übung und Verständnis des Textes erleichtern die Aufgabe des Lesens. Diese vorprogrammierte, automatisch sich abspielende Ak­ tion des Auges und seiner Muskeln ist mit einer ebenso angeborenen Fähigkeit verbunden: der in der rechten Hemisphäre lokalisierten Raumperzeption, die beim männlichen Geschlecht besser entwickelt ist. Diese Kombination ist ein wesentlicher Faktor in der Lesefähig­ keit. Leseschwierigkeiten können besser verstanden werden, wenn wir präzisieren, wie sich uns gedruckte Worte visuell darstellen: Wir sehen eine Konfiguration von Worten, die als verschieden geformte, zweidimensionale, verdickte Linien auf einem weißen Hintergrund erscheinen. Da diese in den indogermanischen Sprachen große Ähn­ lichkeit untereinander besitzen, kann man sie demgemäß gruppie­ ren. So ergibt z. B. ein b ein umgekehrtes p; die Kombination von 1 und n produziert ein h; 1 und x werden zu k usw. Diese Anordnung erfordert eine ausgeprägte Fähigkeit, Formen zu perzipieren, um dadurch Verwechslungen zu vermeiden. Gerade hier begegnen wir einem Paradox: Die mit einem weniger ausgeprägten Raumsinn ausgestatteten Mädchen sind den Jungen in der Erkennung der Nuancen von Buchstabenformen bei weitem 211

überlegen. Man könnte diesen Widerspruch ohne weiteres aufgrund der höheren weiblichen Sprachfähigkeit erklären. Aber damit wäre der differentiell entwickelte Raumsinn nicht berücksichtigt. Die ursprüngliche Anwendung der Raumorientierung bezog sich auf dreidimensionale Objekte, deren Größe, Schatten, Form und Ver­ trautheit dem Beobachter ein klares Bild der Distanz vermitteln - ein wichtiger Faktor für die noch baumbewohnenden Primaten, die beim Von-Ast-zu-Ast-Springen die Muskeltätigkeit genauestens präzisieren und demgemäß Entfernungen genauestens einschätzen müssen. Bei den bodenbewohnenden Menschenaffen und Frühmen­ schen war dieser Raumsinn noch erhalten, wenn er sich auch allmäh­ lich den anderen Umweltverhältnissen anpaßte. Für die auf Jagd spezialisierten Männer waren Orientierung in Wäldern und in der Savanne, Erkennen von Markierungen und Einschätzen von Distan­ zen von größter Wichtigkeit. Diese Fähigkeiten wurden daher ver­ stärkt. Im Laufe der Weiterentwicklung wurde der Raumsinn bei den Frauen dagegen weniger gefordert, so daß sich auch hier eine ge­ schlechtsbedingte Differenzierung ergab. Alle frühmenschlichen Raumbeobachtungen bezogen sich, wie gesagt, auf dreidimensionale Objekte. Eine zweidimensionale Dar­ stellung von dreidimensionalen Objekten fand erst spät in der Ent­ wicklung des Menschen statt - ungefähr 20000-30000 Jahre vor unserer Zeit, wie Höhlenzeichnungen beweisen. Wir sind so daran gewöhnt, einer Abbildung auf einer flachen Seite ein räumliches Bild zu entnehmen, daß wir kaum daran denken, daß dies eine erworbene kulturelle Fähigkeit darstellt. Wenn wir z. B. einem Chinesen die Zeichnung eines menschlichen Gesichts zeigen, bei dem die dreidi­ mensionale Konfiguration durch Schattierung angedeutet wird, glaubt er, daß die Schattierungen Schmutzflecken sind. Es liegt also der logische Schluß nahe, daß die legasthenischen Jungen einen nicht durch spätere Veränderungen modifizierten Raumsinn haben, der sich von diesem »primitiven« Niveau nicht weiterentwickelt hat. Um diese Hypothese zu überprüfen und unse­ rem in Kapitel I beschriebenen Schützling zu helfen, veranlaßten wir also die Herstellung von dreidimensionalen Kartonbuchstaben. Zu­ erst forderten wir Helmut und später noch so manchen legastheni212

sehen Jungen auf, einen gedruckten Text zu lesen, und notierten: Zahl und Fehler, benötigte Zeit und begleitende Gestik und Mimik, die den Grad der geistigen Anstrengung vermittelten. Jedem dieser Faktoren wurden Punkte zugeschrieben, und die Summe ergab eine Zahl, die den Grad der Leseschwierigkeit vermittelte. Nach einer Pause arrangierten wir - in einem zweiten Experiment - die dreidi­ mensionalen Buchstaben zu demselben Text in einer geraden Linie; im dritten Experiment waren die Buchstaben unregelmäßigplaziert, so daß diese dem Beobachter aus verschiedenen Seiten ersichtlich waren; im vierten Experiment erlaubten wir den Jungen, die Buch­ staben mit ihren Fingern zu berühren. Die sich aus den Variationen ergebenden Zahlen zeigten von Experiment i zu i = 5 5 Prozent, von i zu 3 = 65 Prozent und von 1 zu 4 = 85 Prozent Verbesserung. Diese Ergebnisse waren ein klarer Hinweis, daß legasthenische Jungen ihren dreidimensionalen Raumsinn beim Lesen nicht anzu­ wenden vermochten. Der Sprachfaktor » Wortverständnis« stellt bei manchen Fällen der Legasthenie das ausschließliche Problem dar und ist bei anderen zumindest ein beitragendes Element. Die Hauptschwierigkeit ent­ steht, wenn der Sprachfaktor auf einen archaischen Typ des Raum­ sinnes trifft. Dann kommt es zu einer hochgradigen Legasthenie, die sich aber beheben oder zumindest verbessern läßt, wenn man diese Faktoren berücksichtigt. Einem heutigen Beobachter dürfte es unmöglich sein, einen Un­ terschied zwischen Mann und Frau hinsichtlich ihrer Beredsamkeit zu finden. Er würde sogar dazu neigen, den Männern eine größere Sprachgeschicklichkeit zuzuschreiben. Die Geschichte kennt eine Menge berühmter Redner und nur wenige Frauen, die sich mit ihnen vergleichen können. Berufe, die eine gute Beherrschung der Sprache erfordern, haben traditionell Männer angezogen. Solche Tatsachen würden der von uns vorgeschlagenen These widersprechen, wenn man nicht auch die stammesgeschichtlichen Bedingungen in Be­ tracht zöge, die für diese besondere Entwicklung verantwortlich sind und sogar zu einer Sprachüberlegenheit des männlichen Erwachse­ nen führten: Gemäß der weiterbestehenden neotenen Tendenz, die jugendlichen Phasen zu verlängern, konnte sich die in der kindlichen

Entwicklungsphase vollziehende Mutter-Kind-Bindung in einer Zeitspanne von Zehntausenden von Generationen auch auf die präadoleszente Phase erstrecken. Dies gab den Jungen eine längere Lallperiode, die wahrscheinlich mit der in der Pubertät stattfinden­ den Veränderung der Stimmbänder endete. In dieser Epoche besaßen beide Geschlechter die anatomischen Strukturen, welche die Sprachfunktion in Gang setzen konnten. Kulturell veranlaßte Wertverschiebungen bei den Männern, die bis heute noch nicht zu Ende gekommen sind, anerkannten den Ge­ brauch der Sprache nicht mehr als »unmännlich«. Dies erleichterte es den Heranwachsenden, die in ihrer Kindheit praktizierte Vorspra­ che beizubehalten. Ihre genetisch bedingten Fähigkeiten - wie Raumsinn, Exploration und Neugierde - nützten diese menschliche Neuerwerbung, Lautgebilde zu modulieren, und wandelten sie zu neuen Zwecken um. So blieb die geschlechtsbedingte Klufthinsichtlich der Sprache weiterhin erhalten, wenn sie auch von neuauftauchenden Umständen abhängig war. Auch die soziale Bindungskraft der Sprache hat sich trotz aller wissenschaftlichen, kommerziellen und pragmatischen Tendenzen erhalten; der größte Teil unserer Konversation dient weniger dem Informationsaustausch als der Schaffung menschlicher Kontakte. Das gewöhnlich von Männern bagatellisierte »Schwätzen« der Kinder oder »Tratschen« der Frauen besitzt diesen tieferen Sinn der Gruppenbindung. Auch Männer sind übrigens diesen »Schwächen« gegenüber nicht immun, nur betrach­ ten sie die abgewertete »feminine« Seite der Sprache nicht als solche, wenn sie sich miteinander unterhalten: Gespräche über Politik, Sport, berufliche Tätigkeiten usw. kann man doch nicht mit Weiber­ klatsch vergleichen! Wir haben bisher eine Reihe von Auslösersystemen besprochen, die alle zum Sprachbeginn beigetragen haben. Das dominante Übersy­ stem, ohne das die erwähnten Untersysteme nicht hätten in Gang gesetzt werden können, betrifft freilich die Rolle des Gehirns. Wenn wir das Verhältnis zwischen Intelligenz und Sprache unter die Lupe nehmen, sagt uns der gesunde Hausverstand, daß jede Konver­ sation von der Intelligenz des Sprechenden abhängig ist. Dieser 214

offensichtlich richtige Schluß entspricht aber nicht den im Laufe der Sprachentstehung sich spielenden Sequenzen. Die vorliegenden Be­ funde zeigen deutlich, daß Sprache, wenigstens ursprünglich, nicht von Intelligenz abhängig war. Wie schon im dritten Kapitel erwähnt, besteht kein direkter Zusammenhang zwischen Gehirnmasse und Intelligenz. Sonderbe­ dingungen, die neuartige, adaptive Umwandlungen nach sich ziehen, bestimmen, welche der unzähligen Möglichkeiten für Intelligenz durch den Ausleseprozeß gewählt wird. Eine solche Notwendigkeit - die absolute Hilflosigkeit des Sprößlings - ergab sich bei einem Lebewesen und bewirkte, daß anatomische und physiologische Strukturen gefördert wurden, die Lautgebilde produzieren und wesentlich zur intimen Bindung der Mutter an ihr Kind beitragen konnten. Jede Körperfunktion erlaubt eine Optimierung ihrer Fähigkeit. Eine Hand, die geschickt genug ist, einen Ast mit Blitzesschnelle zu fassen, kann durch allmähliche Verschiebung des Daumens eine noch größere Geschicklichkeit entwickeln. (Schon bei niedrigeren Affen sieht man, wie sie ihre Hände und Füße zur Ausführung von komplexen Handlungen benützen.) Ebenso eignet sich das Rohma­ terial Lautgebilde, das in seinem Anfangsstadium noch keiner unge­ wöhnlichen Intelligenz bedurfte, in einer späteren Phase, als neue Sonderbedingungen herrschten, dazu, zu geistigen Zwecken umund aufgewertet zu werden. All das bestärkt uns in der sich aus der Stammesgeschichte er­ gebenden Sicht, daß der Ursprung der Sprache noch vor der rapiden Expansion des Großhirns anzusetzen ist. Die von der Neurinde bewirkte Förderung der Denkfähigkeit erfolgte, als die Sprachfähig­ keit schon einen gewissen Grad der Entwicklung erreicht hatte. Die sich neu eröffnenden Möglichkeiten, Gesten durch Lautgebilde zu ersetzen, hatten vielmehr einen stimulierenden Einfluß auf das zen­ trale Nervensystem, das seinerseits durch positive Rückkopplung die Weiterentwicklung der Sprache förderte. In dieser Weise schau­ kelten sich beide Systeme auf einer exponentialen Kurve höherund höher, bis sie in historischer Zeit ein Höchstmaß erreichten. Bisher haben wir die motorische Komponente des Sprechens noch

kaum berührt, da die Lautgebilde des Lallens relativ unkomplizierte Strukturen darstellen, deren Vokalisation schon genetisch vorpro­ grammiert ist. Die menschliche Sprache erfordert jedoch eine neuar­ tige Konstellation von muskulären Koordinationen, die ohne das in früheren Kapiteln erwähnte Verschwendungsprinzip nicht zustande gekommen wäre. Nicht nur die unmittelbar wortmodulierenden Muskeln von Kehlkopf, Zunge, Rachen, Kiefer und Gesicht, son­ dern auch Nebenfunktionen der Sprache durchführende Muskeln von Nacken, Brust und Abdomen fügen sich zu einer funktionellen Einheit zusammen. Ungefähr ioo Muskeln müssen zusammen oder nacheinander mit oder ohne Rhythmus kontrahiert oder entspannt werden - eine Anforderung, die 14 Reizungen pro Sekunde benötigt, um ca. 210 bis 220 Silben pro Minute hervorzubringen. Wenn man bedenkt, daß neurale Impulse eine Sekunde für 30 Meter benötigen und in jeder Sekunde 14 Reizungen erfolgen, dann wird auf einer Strecke von einem halben bis zu einem Meter (Distanz zwischen Gehirn und Muskeln) ein Reiz abgeführt, sobald der vorhergehende den Muskel erreicht hat. Jeder dieser Muskeln ist bereit, auf die Befehle: »stop«, »go« und »stand-by« augenblicklich zu gehorchen, auch wenn diese nur Zehntelsekunden voneinander getrennt sind. Diese unglaubliche Geschwindigkeit biologischer Systeme könnte ohne automatisch funktionierende, leitende Mechanismen nicht erzielt werden. Wir besitzen im Gehirn einen von äußeren Reizen unabhängigen, genetisch eingebetteten Schrittmacher, der sechs Zyklen pro Sekunde schafft und für den Fluß der Sprache verantwortlich ist. Ein solcher Schrittmacher, der auf einer früheren Stufe schon seine eigene Funktionskette besaß, konnte dann im Laufe seiner späteren Vervollkommnung ein leitender Faktor für die Sprechtätigkeit wer­ den. Wir denken hier an das bei den Primaten existierende und der Kommunikation dienende System von Gesten. Auch dazu sind ungefähr 100 Muskeln mittels eines Schrittmachers synchronisiert, der in späteren Phasen sehr wohl auch die Kontrolle der Produktion von Lailauten übernommen haben könnte. Vom Standpunkt der zentralen Innervation kann Lallen in das System der Primatenkommunikation einbezogen werden, obwohl 216

diese Lautgebilde andere Funktionen hatten und auch von anderen biologischen Maßnahmen (Schwangerschaftshormonen) in Gang gesetzt werden. Die Vorbedingungen für eine komplexe Sprache waren im Nervensystem also schon angelegt, ehe der Frühmensch Worte aussprechen konnte. Die Koexistenz im Schrittmacher von automatisch ablaufenden Mechanismen für Sprache wie auch für Gesten ist bei unseren Kindern noch bemerkbar, wenn sie schwer auszusprechende Wörter bewältigen müssen: Die Gesten auslösen­ den Muskeln werden gleichzeitig mobilisiert, und es kommt zu Grimassen. Aber auch beim modernen Erwachsenen sind die kon­ versationbegleitenden Gesten mit Worten synchronisiert. Ohne Schrittmacher könnten wir nur vereinzelte Worte nach sehr langem Lernen und mit großer Anstrengung aussprechen - ungefähr in derselben Weise, wie wir Worte einer uns unbekannten Sprache nachzusprechen versuchen. Dieser Schrittmacher kann auch beim Kleinkind beobachtet werden, wenn es bis zu 15 Minuten ohne Unterbrechung Lailaute von sich gibt. Die von uns aufgestellte These über den Ursprung der Sprache besitzt, wie wir meinen, schon deshalb einige Beweiskraft, weil die Schlüssel zu diesem Wesensmerkmal der Menschwerdung nicht in einer unfaßbaren Vergangenheit verborgen liegen, sondern sich sozusagen unseren Augen anbieten. Unsere Untersuchungen über die möglichen Arten vor- und frühmenschlicher Verständigungs­ weisen wurden von »fossilen« Lautgebilden geleitet, die noch heute in unseren Sprachgewohnheiten einen festen Platz einnehmen. Als wir während dieser Nachforschungen nach dem Leitfaden in der menschlichen Sprachentwicklung gefragt wurden, antworteten wir mit einem Einwortsatz: »Zufall«. (Religion und Philosophie mögen andere Erklärungen dafür haben. Wir halten uns hier an die naturwissenschaftlich einzig vertretbare Deutung.) Das kausal den­ kende Individuum vermag zunächst kaum anzunehmen, daß der Zufall sich als Leitprinzip in der biologischen Entwicklung erweisen soll. Doch hat der Glückswurf blinden Zufalls zu solch unglaubli­ chen Besonderheiten geführt wie z. B. dem Pfauenschwanz, der in seiner vielfältigen Pracht von Farbe und Form in jeder Weise die

217

Funktionen übersteigt, für die er ursprünglich gedacht war. Seine hauptsächlich für den Flug bestimmte Struktur wurde zu einem Statussymbol des Männchens. Dies mußte rein zufällig begonnen haben, als eine Variante dieser Vögel einige auffallend gefärbte Schwanzfedern aufwies. Der anfänglich geringe Vorteil war alles, was notwendig war, um der Selektion die Richtung zu geben, die zum späteren Meisterwerk des zu einem »Rad« aufrichtbaren Pfauen­ schwanzes führte. (Für einen planmäßig nach dem Grundsatz der Nützlichkeit orientierten Menschen wäre diese biologische Arbeits­ weise undenkbar; wäre der Pfau jedoch andererseits fähig, Gedanken zu formulieren, würden wir vernehmen, daß sein Gefieder für ihn die höchste Leistung evolutionärer Kräfte darstellt.) Nicht weniger wunderlich war der Pfad, der zum biologischen Endresultat Sprache führte, die uns Menschen als die höchste Lei­ stung evolutionärer Kräfte beeindruckt. An jeder Gabelung dieses Pfades, der kein Ziel kannte, bedingte der Zufall, daß diese oder jene Richtung eingeschlagen wurde. Pfade aus anderen Gebieten verei­ nigten sich temporär oder permanent mit demjenigen, der zur Laut­ bildung führte, bis schließlich »eine breite Straße« entstand, auf der die Wortbildung sichtbar wurde.

218

EPILOG

Als wir die letzten Schlußfolgerungen gezogen und alle erforsch­ ten Fakten in bezug auf die Entwicklung der Sprache und die menschliche Fähigkeit, diese in ein System der Verständigung einzu­ fügen, auf einen gemeinsamen Nenner gebracht hatten, blieb uns immer noch ein Aspekt dieser lang dauernden Suche zu klären. Seit über zweieinhalbtausend Jahren hat der Ursprung der Sprache den Geist vieler Denker beschäftigt. Seit dem letzten Jahrhundert begann sich ein kontinuierlich wachsendes Wissensgut relevanten Materials anzuhäufen, das in den letzten drei Jahrzehnten ein potenziertes Ausmaß erreichte. Warum aber hat in all den Überlegungen die größere Sprachfähigkeit der Mädchen keine Rolle gespielt? Warum wurden wir auf das weibliche Element in der Sprachgenese nur durch einen Zufall aufmerksam? Warum konnten die Wissenschaftler die statistischen Ergebnisse einer Sprachüberlegenheit registrieren und dennoch keine adäquaten Schlüsse daraus ziehen ? Warum wurde das Dogma, daß Männer die Sprache »erfunden« hätten, von einer Generation von Sprachforschern zur nächsten überliefert, ohne daß nach den Grundlagen desselben gefragt wurde? Wissenschaft als ein objektives Studium von Fakten, unbeeinflußt vom Gefühlsleben des Forschers, ist ein erstrebenswertes Ideal. In Wirklichkeit bestimmt er aber schon im vorhinein, von seinen Erwartungen gesteuert, wen er als Autorität anerkennt, was er als selbstverständlich ansieht und wofür er daher keines Beweises bedarf u. v. a. m. Auf diese Weise lenkt er den Verlauf seiner Gedan­ kenprozesse in bestimmte Bahnen. Häufig verstärken diese dann nur 219

eine mehr oder weniger allgemein anerkannte Hypothese, stoßen zu Anfang auf Widerstand, ermöglichen aber von Zeit zu Zeit bahnbre­ chende neue Einsichten. Schon der Anthropologe Evans-Pritchard wies darauf hin, wie leicht Beobachtungen sozialer Umstände von Frauen unter primitiven Stammesverhältnissen aus der Sicht unserer Traditionen falsch eingeschätzt werden können. Daher ist es ver­ ständlich, warum in der zweiundeinhalbtausendjährigen Geschichte der linguistischen Forschungen bisher niemand die Rolle der Frau in der Sprachentwicklung adäquat gewürdigt hat, obwohl jede Mutter die in der Kindheitsphase erscheinende Sprachüberlegenheit ihrer Tochter gegenüber ihrem Sohn jederzeit bestätigen konnte. Die Forscher waren einfach in ihrem maskulinen Selbstbild gefangen. Tatsächlich aber häufen sich seit längerem die Hinweise, daß in der Vorgeschichte Frauen die menschlichen Gruppen beherrschten, während die Männer nur Randfunktionen innehatten. Der männli­ che Beitrag zur Ernährung durch die Jagd stellte nur einen Bruchteil des kalorischen Bedarfs der Gruppe dar. Erst als Ackerbau und Viehzucht größere Anforderungen an die Arbeitskraft stellten, wurde die Rolle des Mannes bedeutender. Die sich daraus ergebende Machtverschiebung ist schon von Cato treffend skizziert worden: »Du mußt dir vor Augen halten, daß alle Gesetze unserer Vorfahren die Freiheit der Frau beschränkten und sie so der Macht der Männer auslieferten... Sobald die Frauen uns gleich sind, werden sie uns überlegen ...« Nebenbei bemerkt, kann man diesen Machtwechsel von der Frau zum Mann auch in der Verdrängung der weiblichen Götter durch männliche beobachten. Die in geschichtlicher Zeit stattfindende Abwertung der femini­ nen Rolle war sowohl von biologischen als auch von kulturellen Faktoren bestimmt. Beide sind eng mit der evolutionären Entwick­ lung des modernen Menschen verknüpft. Aber es würde den Rah­ men unseres Buches überschreiten, die faszinierenden Einzelheiten dieser Entwicklung auf ihren Ursprung zurückzuführen. Für unser Thema ist nur wichtig, daß der Mann wesentliche Aufgaben der vorgeschichtlichen Frau - Fürsorge, Leitung, Erzie­ hung, Religion, Riten und Aufrechterhaltung von Traditionen und deren Überlieferung zur nächsten Generation - übernahm, um diese

220

in der Heilkunde, im Unterricht, im Dienst der Götter usw. anzu­ wenden. Er wurde der ausschließliche Beobachter menschlicher Angelegenheiten. So ist es kein Wunder, daß soziale Werte von der männlichen Psyche überformt wurden; die menschliche Geschichte wurde mit den Augen des Mannes beobachtet. Gerade diese Einstel­ lung wurde zum Handikap, als Wissenschaftler feststellten, daß Sprachschwierigkeiten zumeist die Jungen befielen. Daß eine so wichtige Funktion wie die der Sprache von Mädchen mit einer größeren Fertigkeit gemeistert wurde, widersprach der »biologi­ schen Tatsache« der männlichen Überlegenheit. Dem wahrscheinlich markantesten Beispiel vorgefaßter maskuli­ ner Meinungen begegneten wir bei Gelehrten, die den Vorwurf einer mangelnden Objektivität in den meisten Fällen entrüstet ablehnen würden: Als wir unsere Befunde einer führenden anthropologischen Zeitschrift übergaben, deren Redaktionspraktik darin besteht, Kommentare bedeutender Wissenschaftler aller Länder zu den ver­ öffentlichten Themata anzufordern, fanden viele unsere Thesen »plausibel« und »einreihbar unter die akzeptierten Modelle«. »Die Hypothese ist sehr attraktiv, da sie Erklärungen zu verschiedenen Befunden mehrerer Disziplinen anbietet«, heißt es da. Andere Kom­ mentare hingegen spiegelten die tiefgreifenden Vorurteile angesehe­ ner Wissenschaftler hinsichtlich femininer Leistungen und ihrer Bedeutung im biologischen und kulturellen Bereich wider. So schrieb ein Professor der Universität Utrecht: »Während mei­ ner Schuljahre wurde ich in Englisch, Französisch, Deutsch, Grie­ chisch und Latein unterrichtet. Ich konnte nie eine auffällige Sprach­ überlegenheit der Mädchen sehen. Diese praktische Erfahrung mag oder mag nicht von Bedeutung sein. Wie dem auch sei, die Zusam­ menhänge, die von den Autoren gesehen werden, sind nur Annah­ men, die nicht bewiesen werden und wahrscheinlich nicht bewiesen werden können.· Nun findet der Spracherwerb allerdings in der Frühphase des Kindes statt und hat nichts oder nur sehr wenig mit dem Erlernen von Fremdsprachen zu tun. Zur Zeit des Mittelschulal­ ters haben die Jungen in der Sprachgeschicklichkeit die Mädchen längst eingeholt. Wir sind sicher, daß unser Utrechter Kollege unter 221

anderen Umständen die Arbeiten von mehr als fünfzig Forschern in verschiedenen Ländern, die zu den gleichen Resultaten gelangten, als vielsagend, wenn nicht sogar als schlüssig ansehen würde. Der Konsensus dieser fünfzig Forscher war doch, daß die Mädchen den Jungen in puncto Sprachbefähigung überlegen sind. Zwei Anthropologie-Professoren von der Universität von Kali­ fornien gingen ebenso an diesem Hauptpunkt vorbei und betonten: »Zweifellos findet der ontogenetische Erwerb der Sprache in einem solchen Kontext statt, aber die Mutter-Kind-Bindung scheint uns der am wenigsten mögliche Kontext, der zum phylogenetischen Spracherwerb führte. Bei den nichtmenschlichen Primaten ist die Betreuung hoch entwickelt und effektiv... Von allen frühmenschli­ chen Zwischenaktionen ist die Mutter-Kind-Bindung am wenigsten imstande, die Evolution eines neuen Kommunikationssystems zu erleichtern.« Bei diesem Argument dürfte unser Hauptthema über­ sehen worden sein, daß Sprache nicht als Kommunikationssystem entstanden ist, sondern zur Verstärkung der Mutter-Kind-Bindung diente, besonders während der evolutionären Phase, die den mensch­ lichen Primaten ihr Fell entzog, das für die Affenbabys genauso kontaktwichtig ist wie der sich später entwickelnde Kontakt durch Lautgebilde. Die Voreingenommenheit, Sprache - Lautgebilde in­ klusive - als ausschließlich kommunikatives Medium zu definieren, ließ diese beiden Professoren nicht erkennen, daß das Kommunika­ tive der Sprache auf das Fundamentale, das Bindungsvermögen, durch Lautaustausch aufgepfropft wurde. Ein Professor der Universität Sheffield in England schrieb in seinem Kommentar: »Es ist wahr, daß das Lallen eine Rolle in der Mutter-Kind-Bindung spielt. Das Kleinkind findet Spaß an den durch seine Aktivität ausgelösten Reaktionen der Erwachsenen; dies bezieht sich auf alle seine Aktivitäten, ob es sich um Lallen, Zungen­ bewegungen oder Lächeln handelt. Diese Äußerungen sind ein Teil der Kulturübertragung, aber die Lallkomponente der Mutter-KindBindung ist kaum wichtig genug, um als Selektionsdruck für den Spracherwerb wirksam zu sein; auch kommt sie [die Lallkompo­ nente] für den Anfang der Sprache, im Sinne der symbolischen und syntaktischen Kommunikation nicht in Frage... Bezüglich der

222

emotionellen Bindung möchte ich sagen, daß es eine Mutter mehr stören würde, wenn das Kind nicht lächelte oder schrie, als wenn es nicht lallte.« Diesem Kollegen sind die besonderen biologischen Mechanismen entgangen, durch die eine feine Übereinstimmung zwischen Mutter und Kind gerade durch solche Lautgebilde erzielt wird. Wohl ist das Lallen nur eines der Bindungsmittel - gerade ihre Vielfalt bezeugt ihre Lebenswichtigkeit -, aber es bahnte den Weg (als Präadaptation), als sich später für die Mutter die Gelegenheit ergab, diese Lautgebilde auf Sozialfunktionen bei Erwachsenen zu übertragen. Von da an war es nur ein weiterer Schritt, Kommunika­ tion mit Lauten zu verbinden. Ein anderer Professor vom Wiley College, Texas, der von unserer These begeistert war, konnte sich dennoch nicht enthalten, seinen maskulinen Stolz mit einer letzten Bemerkung zu retten: »Die Idee, daß unsere femininen Vorfahren ihren linken Arm benutzten, um ihre Babys ans Herz zu drücken ... hat, obwohl sie logisch möglich ist, einen sentimentalen Beigeschmack.« Und doch ist die linkshän­ dige Haltung bei Schimpansen- und Menschenmüttern hinreichend bestätigt und durch umfangreiche Literatur belegt. Auch die Indu­ strie bedient sich dieser Erkenntnis, indem sie ein elektronisches »Mutterherz« erzeugt, dessen Ticken das Baby einschläfert. Wir zitieren als weiteres Beispiel einen Professor der Rutgers University in New Jersey, US A: »Die Beweise von Jonas und Jonas hinsichtlich einer Geschlechtsdifferenzierung der geistigen Funk­ tion sind beinahe ausschließlich Entwicklungsgeschichte. Im Falle der Sprache... stützen diese Beweise die allgemein eingestandene Tatsache, daß Jungen langsamer reifen als Mädchen ... Feminine linguistische »Überlegenheit« mag deshalb nicht mehr als eine tempo­ räre Frühreife sein - wie dies die nicht zu verachtende Fähigkeit von Anwälten und Schriftstellern aus den Reihen des geistig zurückge­ bliebenen Geschlechts beweisen kann.« Diese ein wenig sarkastische Bemerkung ignoriert die überzeugend dokumentierten medizini­ schen Befunde über die relative /mmwmtätderweiblichen Säuglinge gegenüber Gehirnschäden im Vergleich zu den männlichen Säuglin­ gen. Diese Immunität ist stammesgeschichtlich eingebettet und hat nichts mit kulturellen Einflüssen zu tun. Auch wenn man nur die

223

Annahme in Betracht zöge, daß Jungen langsamer reifen als Mäd­ chen, könnte man dennoch dieses Differential als durch selektiven Druck bedingt in Kauf nehmen, und dies führt uns zu demselben Faktum, der größeren Sprachbefähigung der Mädchen, wenn auch auf einem anderen Weg. Die Evidenz, daß Männer als Redner hervorragender, als Kompo­ nisten, Architekten usw. den Frauen überlegen sind, hat wenig mit unserer These zu tun, da sich in der Erwachsenenphase das Sprach­ differential zwischen den Geschlechtern ausgeglichen hat. Ein ande­ rer wichtiger Punkt ist der temporäre Aspekt der Sprachüberlegen­ heit; er konnte uns einen Schlüssel zu einer Phase der Entwicklung unserer Spezies geben. Es ist offensichtlich, daß die kulturelle Um­ welt des Mannes eine Sprachgeschicklichkeit verlangt, die der der Frau mindestens ebenbürtig, wenn nicht überlegen sein muß. Daher müssen sich die geschlechtsbedingten Sprachunterschiede der Er­ wachsenenphase in den letzten ca. 20 000 Jahren ausselektiert haben. So verbreitet ist das gegenwärtige Konzept des Mannes, als des überlegenen sozialen Faktors unserer Gesellschaft, daß auch Frauen diesen Glauben als selbstverständlich hinnehmen. Eine Professorin der Stockton University, USA, schrieb: »Der Beitrag von JONAS und Jonas ist wegen seines heuristischen Wertes signifikant, da er eine einzigartige und... plausible Hypothese für den Ursprung der Sprache anbietet.. .Die Rolle der geschlechtsbedingten Differenzie­ rung der geistigen Funktion in der Ontogenese der Sprache fand ich äußerst interessant...« Doch gegen das Ende ihrer Kritik machte sich der kulturelle Zwiespalt bemerkbar. Offensichtlich hatten ihre berufliche Ausbildung und ihre Stellung in den Reihen ihrer Kolle­ gen genügend Einfluß, um sie hinzufügen zu lassen: »Es könnte sehr wohl sein, daß die sozialisierenden Personen (besonders die Mütter) die verbale Fertigkeit ihrer Töchter und die non-verbale Ausdrucks­ fähigkeit ihrer Söhne ermutigen und verstärken.· Diese Bemerkung sollte wohl beweisen, daß auch eine Professorin die männliche Superiorität als gegeben ansieht - wenn dies auch nur zwischen den Zeilen zu lesen ist. Sie schloß etwas zweideutig: »Obwohl ich nicht ganz mit der These übereinstimme... glaube ich, daß sie ein katalyti­ sches Agens für eine lebhafte Debatte sein könnte.« 224

Diesen Nachsatz möchten wir unserem Buch als Wunsch mit auf den Weg geben. Eine letzte Sicherheit wird es im Hinblick auf die Entstehung der menschlichen Sprache nie geben, aber wenigstens stehen uns wahrscheinliche Annäherungswerte zur Verfügung.

“5

Bibliographie

Ambrose, J. A.: Determinants of Infant Behavior. Bd. i, B. Μ. Foss (ed.). London: Methuen, 1961 Ament, W.: Die Entwicklung von Sprache und Denken bei Kindern. Leipzig: Wunderlich, 1899

Bachofen, J. J.: Das Mutterrecht: eine Untersuchung über die Gynaikokratie der alten Welt nach ihrer religiösen und rechtlichen Natur. Stuttgart: Kroner, 1954 Bakan, P.: The Eyes Have It. Psychology Today, April 1971 Barker-Benfield, G.J.: The Horrors of the Victorian Half-Known Life. New York: Book-of-the-Month Club, 1976 Bartholomew, G.A., & J. B. Birdsell: Ecology and the Protohominid. American Anthropologist55: 481-498, 1953 Becker, G.: Der musikalische Rhythmus als Erkenntnisquelle. Augsburg 1918 Beer, G. de: Embryos and Ancestors. Oxford: Clarendon Press, ’1962 Bertalanffy, L. von: Sy mbolismus und Anthropogenese. In: B. Rensch (ed.): Handgebrauch und Verständigung bei Affen und Frühmenschen. Bern: Huber, 1968 Best, C. H., & N. B. Taylor: The Physiological Basis of Medical Practice. Baltimore: Williams & Wilkins, 1966 Blakemore, C. B., & Μ. A. Falconer: Long-term effects of anterior temporal lobectomy on certain cognitive functions. Journal of Neurology, Neuro­ surgery and Psychiatry 30: 346 f., 1967 Bolk, L.: Das Problem der Menschwerdung. Jena: Fischer, 1926 Bolton, R.: Child-Holding Patterns. Current Anthropology 19, 1: 134!., 1978 Bowlby, J.: Attachment and Loss. Bd. 1: Attachment. New York: Basic Books, 1969 Brown, E.: The left-handed carrying of infants. Science it: 515, 1970

226

Bryden, M.P.: Laterality effects in dichotic listening and relations with handedness and reading ability in children. Neuropsychologia 8: 443-45°.1970 Buxo-Rey, J. B.: Ethnica 11:7,1976 (Barcelona)

Cabanis, P.: Rapports du physique et du moral de l’homme. Paris 1796 Cannon, W. B.: Bodily Changes in Pain, Hunger and Fear. New York: Columbia University Press, 1939; dt.: Wut, Hunger, Angst und Schmerz. Eine Physiologie der Emotionen. Wien: Urban & Schwarzenberg, 1975 Chagnon, N.: Studying the Yanomano. New York: Holt, Rinehart & Winston, 1974 Cherry, C., & A. Lewis: Creative Play for the Developing Child. Belmont (Calif.): Fearon-Pitman, 1976 Chomsky, N.: Language and Mind. New York: Harcourt, Brace & World, 1963; dt.: Sprache und Geist. Frankfun: Suhrkamp, 1973 - Aspects of the Theory of Syntax. Cambridge (Mass.): MIT Press, 1965; dt.: Aspekte der Syntax-Theorie. Frankfurt: Suhrkamp, 1973 Condon, J.: Introduction to Intercultural Communication. Indianapolis: Bobbs, 1975 Critchley, Μ.: The Dyslexic Child. London: Heinemann, 1970 Darwin, Ch. R.: The Expression of the Emotions in Man and Animals. -London: Murray, 1872 - On the Origin of the Species by Means of Natural Selection. London: Murray, 1859; dt.: Die Entstehung der Arten durch natürliche Zucht­ wahl. Stuttgart: Reclam, o. J. - The Descent of Man. London: Murray, 1871; dt.: Die Abstammung des Menschen. Stuttgart: Kroner, 1966 Diamond, A. S.: The History and Origin of Language. London: Methuen, '959 Du Bruhl, S. L.: Evolution of Speech Apparatus. Springfield :C. C. Thomas,

1959 Dunn, L.: Exceptional Children in the Schools. New York: McGraw-Hill, '973 Dwight-Whitney, L. G.:The Life and Growth of Language. London 1893 Eibl-Eibesfeldt, I.: Der vorprogrammierte Mensch. München/Zürich: Molden, 1973 - Liebe und Haß. München: Piper, 1970 - Neue Wege der Humanethologie. Homo 18: 13-23, 1967 Emmet, W. G.: The intelligence of urban and rural children. Population Studies 7: 207-221, 1954 Escalona, S. K.: The Roots of Individuality. London: Tavistock, 1969

227

Evans-Pritchard, E. E.: The Position of Women in Primitive Societies. London: Faber & Faber, 196$ Fester, R.: Protokolle der Steinzeit - Kindheit der Sprache. München: Herbig, 1974 Finger, E. (ed.): Recovery from Braindamage. New York: Plenum Press, 1978 Flesch, R. : Why Johnny Can’t Read. New York : Harper, 1955 Flor-Henry, P.: Psychosis, Neurosis and Epilepsy. British Journal of Psychiatry 124: 144-150, 1974 Fouts, R. S.: Communication with Chimpanzees. In: Kurth & Eibl-Eibesfeldt (Hrsg.), Hominisation und Verhalten, a.a.O. Fox, R.: Kinship and Marriage. Harmondsworth: Penguin Books, 1967; dt. : Verwandtschaft und Heirat. Wiesbaden: Heymann, 1976 Freeman, L. G.: Cultural developments in the paleolithic. In: Kurth &EiblEibesfeldt (Hrsg.), Hominisation und Verhalten, a.a.O.

Galin, D.: Implications for Psychiatry of left and right cerebral specializa­ tion. Arch. Gen. Psychiatry 31: 552-583, 1974 - Lateral specialization and psychiatric issues: speculations on the de­ velopment and evolution of consciousness. Conference on Evolution and Lateralization of the Brain, Annals of N. Y. Academy of Sciences, 1977 Gallup, G.: Chimpanzees: Self-Recognition. Science 168:88 f., 1970 Gardner, R. A., & B. T. Gardner: Teaching sign language to a chimpanzee. Science 165: 164-172, 1969 - Two-way communication with an infant chimpanzee. In: A. Μ. Schrier& F.Stollnitz (eds.): Behavior of Nonhuman Primates. New York: Aca­ demic Press, 1972 Ghent, L.: Developmental changes in tactual thresholds on dominant and non-dominant sides. Journal of Comparative Physiology 54: 670-673, 1961 Goldberg, A., & C. Larson: Group Communication. Englewood Cliffs: Prentice-Hall, 1975 Goldberg, R., & B. Lewis: Mother-child-interactions. The Journal of Pediatrics 1: 147,1969 Gomperz, Th. : Griechische Denker. Berlin : de Gruyter, 1973 (insbes. Bde. 1 und 3) Goodall, J. van Lawick: In the Shadow of Man. Boston: Houghton Mifflin, 1967 Grote, J.: Why a Woman Left Science. New Scientist, 26. Jan. 1978 Gwinner, E., & J. Kneutgen: Über die biologische Bedeutung der »zweck­ dienlichen- Anwendung erlernter Laute bei Vögeln. In: Lorenz & Leyhausen, Motivation of Human and Animal Behavior, a.a.O.

228

Harlow, H. F., & E. W. Hansen: The maternal affectional system of rhesus monkeys. In: Reingold (ed.), Maternal Behaviorin Mammals. New York: Wiley, 1963 Harlow, H. F., & R. R. Zimmermann: The development of affectional responses in infant monkeys. Proceedings of American Philosophical Society 102: 501-509, 1958 Hayes, K. J., & C. Hayes: Imitation in ahome-raised chimpanzee. Journal of Comparative Physiology and Psychology 45:450-459, 1952 - The intellectual development of a home-raised chimpanzee. Proceedings of American Philosophical Society 95: 105-109, 1951 Hediger, H.: Beobachtungen zur Tierpsychologie. Basel: Reinhardt, 1961 Hess, E. H.: Imprinting. New York: Van Nostrand Reinhold, 1973 Hill, J. H.: On the evolutionary foundation of language. American Anthro­ pologist 74:308-317, 1972 Hobhouse, L. T.: The Material Culture and Social Institutions of Simpler Peoples. 1915 (zit. in: Evans-Pritchard, a.a.O.) Hobson, J. R.: Sex differences in mental abilities. Journal of Education Research 41: 126-132, 1947 Hobson, J. A., & R. W. McCarley: The neurobiological origins of psycho­ analytic dream theory. American Journal of Psychiatry, Nov. 1977 - The brain as a dream state generator: an activation-synthesis of the dream process. American Journal of Psychiatry, Dez. 1977 Huxley, J. S.: Evolution: The Modern Synthesis. London: Allen & Unwin, 1942 Imanishi, K.: Evolution of Humanity. Tokio: Ningen, Mainichi Library,

1952 - Social organization of subhuman primates in their natural habitat. Current Anthropology 1: 293-407, i960 Itani, J.: Vocal communication of the wild Japanese monkey. Primates 4,2: i1—66,1963 Jesperson, O.: Language: Its Nature, Development and Origin. London: Allen & Unwin, i960 Jirarin, A.: Facial recognition. Ph. D. diss., unpubl., University of Chicago, 1970 Jonas, A. D.,& D. F. (Klein) Jonas: Man-Child: A Study of The Infantilization of Man. New York: McGraw Hill, 1970 - The evolutionary mechanisms of neurotic behavior. American Journal of Psychiatry 131: 636-640, 1974 Jonas, D. F.: An »Alternative Paleobiology« and the Concept of a Scavenging Phase. Current Anthropology 17, 1: 144!., 1976 Jonas, D. F., & A. D. Jonas: Gender differences in neurophysiological

229

function: a clue to the origin of language. Current Anthropology 16,4: 626-630, 1975 - Signale der Urzeit. Stuttgart: Hippokrates, 1977 Kaplan, E. L.: The role of intonation in the acquisition of language. Ph. D. diss. Cornell University 1969 Kawai, Μ.: Precultural behaviorof the Japanese monkey. In: Kurth8cEiblEibesfeldt (Hrsg.), Hominisation und Verhalten, a.a.O. Kenyon, F. E.: Hypochondriasis: A clinical study. British Journal of Psychiatry 110:478-488, 1964 Kimura, D.: Cerebral dominance in the perception of verbal stimuli. Cana­ dian Journal of Psychology 15:166-171,1961 - Speech lateralization in young children as determined by an auditory test. Journal of Comparative Psychology and Physiology 56: 899-902, 1963 Kimura, D., 8c C. Knox: Cerebral processing of non-verbal sounds in boys and girls. Neuropsychologia 8: 227-237, 1970 Kortlandt, A.: Handgebrauch bei freilebenden Schimpansen. In: B. Rensch (Hrsg.): Handgebrauch und Verständigung bei Affen und Frühmen­ schen. Bern: Huber, 1968 Kovacs, F.: Biological interpretation of the nine months duration of human pregnancy. Acta Biol. Magyar, Tudom Academy, 10:331, i960 Kühn, Herbert: Einleitung zu -Sprache der Eiszeit«. In: R. Fester (Hrsg.), a.a.O. Kurth, G., & I. Eibl-Eibesfeldt (Hrsg.): Hominisation und Verhalten. Stuttgart: Fischer, 1975

Lahey, Μ.: The role of prosody and syntactic markers in children's compre­ hension of spoken sentences. Ph. D. diss., Teacher’s College, Columbia University, New York, 1972 Land, E. H.: Color Vision. Scientific American, August 1977 Lange-Prolius, H.: Die Schöpfung geht weiter. Stuttgart: Seewald, 1978 Lansdell, J. S.: A sex difference in effect of temporal lobe neurosurgery on design preference. Nature 194: 852-854, 1962 Lawai, B.: Letter from Dept, of Fine Arts, Univ, of lie, Ife-Ife, Nigeria. In: Current Anthropology 18, 3:400, 1977 Leakey, R., 8c R. Lewin: Origins. London: Macdonald 8c Jane’s, 1977; dt.: Wie der Mensch zum Menschen wurde. Hamburg: Hoffmann 8c Campe, ‘978 LeMay, Μ.: Cerebral asymmetries in nonhuman primates, Neanderthal and modern man. Proc. Conference on Origins and Evolution of Language and Speach, N. Y. Academy of Sciences, Sept. 1975 Lenneberg, E.H.: New Directions in the Study of Language. Cambridge (Mass.): MIT Press, 1964; dt.: Neue Perspektiven in der Erforschung der

230

Sprache. Frankfurt: Suhrkamp, 1973 - Biological Foundations of Language. New York: Wiley, i967;dt. biolo­ gische Grundlagen der Sprache. Frankfurt: Suhrkamp, 1973 Leroi-Gourhan, A.: Treasures of Prehistoric Art. New York: Abrams, 1967 Lewis, Μ.: Infant speech: A study of the beginning of language. New York: McGraw-Hill, 1951 Lewis, B., & S. Freedle: Differential attitudes of mothers toward three months old infants. Nature 2:669,1973 Lieberman, Ph.: On the acoustic basis of the perception of intonation by linguists. Cambridge (Mass.): MIT Press, 1965 Lieberman, Ph., D. H. Klatt, 8c W. H. Wilson: Vocal tract limitation on the vowel repertoires of rhesus monkeys and other nonhuman primates. Science 164: 1185-87, 1969 Lieberman, Ph., E. Crelin, & D. Klatt: Phonetic ability and related anatomy of the newborn and adult human, Neanderthal man, and the chimpanzee. American Anthropologist 74: 297-307,1972 Lindsley, D. B.: The reticular activation system and perceptual integration. In: D. E. Sheer (ed.): Electrical Stimulation of the Brain (pp. 331-49). Austin: University of Texas Press, 1961 Lorente de No, R.: Vestibule-ocular reflex arc. Arch. Neurology 8c Psych. 30:245,1933 Lorenz, K.: Der Kumpan in der Welt des Vogels; der Artgenosse als auslösendes Moment sozialer Verhaltensweisen. Zeitschrift für Ornitho­ logie 83, 137-213, 1935 Lorenz, K., 8c P. Leyhausen: Antriebe tierischen und menschlichen Verhal­ tens. München: Piper, 1973

Marler, P.: An ethological theory of the origin of speech. Proc. Conference on Origins and Evolution of Language 8c Speech, N. Y. Acad, of Sciences, Sept. 1975 Marshack, A.: The Roots of Civilization. New York: McGraw Hill, 1972 Marx, O.: The History of the Biological Basis of Language. In: E. H. Lenneberg: Biological Foundations of Language, Appendix B. New York: Wiley, 1967 McCully, R. S.: Archetypal Psychology as a Key to Understanding Pre­ historic Art Forms. History of Childhood Quarterly, Vol. 3, No. 4, 1976 McGlone, J., 8c W. Davidson: The relation between speech laterality and spatial ability with special reference to sex and hand preference. Neuropsychologia 11: 105-113, 1972 McKeith, R. C., 3c Μ. Rutter: The prevalence of language disorders in children. In: Μ. Rutter 8c J. A. Μ. Martin (eds.): Clinics in Developmental Medicine. Philadelphia 1972

Meyer, V., Sc A. J. Yates ; Intellectual changes following temporal lobectomy for psychomotor epilepsy : preliminary communication. Journal of Neu­ rosurgery and Psychiatry 18:44-52, 1955 Miller, Μ.: Zur Logik der frühkindlichen Sprachentwicklung. Stuttgart: Klett, 1976 Milner, B. : Intellectual function of the temporal lobe. Psychological Bulletin 51:42-62,1954 Milton, J.: Paradise Lost. The Poetical Works of John Milton. Oxford: Clarendon Press, 1952 Monod, J.: Zufall und Notwendigkeit. München: Piper, 1973 Mori, U. : The play of young Japanese monkeys. Anima 6, 1973 (Tokio) Morris, D.: The Naked Ape. New York: McGraw Hill, 1967; dt.: Der nackte Affe. München: Droemer, 1968 Moss, C. S.: Dreams, Images and Fantasy. Urbana (Ill.): University of Illinois Press, 1970 - Differential responses of mothers to their infants. Arch, of Deseases in Childhood. Chicago 1967, 68 ff. Müller, Μ.: Lectures on the Science of Language. London ’1877 Müller-Braunschweig, H.: Die Wirkung der frühen Erfahrung. Stuttgart: Klett, 1975 Murdoch, A., & L. Provost: Human Memory. Potomac (Md.): Erlbaum,

'973 Murray, A. : The History of the European Languages. Edinburgh 1823 Negus, V. R.: The Comparative Anatomy and Physiology of the Larynx. London: Heinemann, 1949 Paget, R. A. D.: Human Speech. New York: Harcourt Sc Brace, 1930 Paredes, J. A., & Μ. J. Hepburn : The Split Brain and the Culture-Cognition Paradox. Current Anthropology 17, 1:121—127, March 1976 Patterson, P.: Interview with Sandra Blakeslee. New York Times, 27. Juni

■975 Peiper, A. : Cerebral Functioning in Infants. New York: Plenum Press, 1964 Phillips, E.: Basic Ideas in Biology. New York: MacMillan, 1971 - Further Thoughts about Biology. New York: MacMillan, 1973 Piaget, J.: La formation du symbole chez l’enfant. Paris: Delachaux & Nestlé, 1946; dt.: Die Bildung des Zeitbegriffs beim Kinde. Frankfurt: Suhrkamp, 1974 Ploog, D. W.: The Behavior of Squirrel Monkeys. In: S. A. Altmann (ed.): Social Communication Among Primates. Chicago: University Press, 1967 Premack, D.: The Education of Sarah. Psychology Today 4:55-58, 1970 Pribram, K. H.: Languages of the Brain. New Jersey: Prentice-Hall, 1971 232

Reik, Th.: Hören mit dem dritten Ohr. Hamburg '1976 Rensch, B. (Hrsg.): Handgebrauch und Verständigung bei Affen und Frühmenschen. Bern: Huber, 1968 Rowell, T. E., 8c R. A. Hinde: Vocal communication by the rhesus monkey. Proceedings of Zoological Society of London 138:279-294, 1962

Salk, Lee: Mother’s heartbeat as an imprinting stimulus. Trans. Acad, of Science, Ser. II, 24:753-765, 1961 Sapir, E.: Language: An Introduction to the Study of Speech. New York: Harcourt 8c Brace, 1921 ; dt. : Die Sprache. Eine Einführung in das Wesen der Sprache. Irmaning: Μ. Hueber, 1972 Savage-Rumbaugh, E. S., D. Μ. Rumbaugh, 6c S. Boysen: Symbolic com­ munication between two chimpanzees. Science, Vol. 201, 15. Aug. 1978 Sayce, A. H.: Introduction to the Science of Language. New York41900 Schultz, A. H. : Chimpanzee fetuses. American Journal of Physical Anthro­ pology 18:61-79, 1933 Schusterman, R. I., & R. G. Dawson: Barking, dominance and territoriality in male sealions. Science 160:434-436, 1968 Sherfey, Μ. J : The Nature and Evolution of Female Sexuality. New York: Vintage Books, Random House, 1973 Shirek-Ellefson, J.: A Primate’s Communication. New York: Academic Press, 1972 »Sir Galahad« (Pseud.): Mütter und Amazonen. Zit. in: J. J. Bachofen, Das Mutterrecht, a.a.O. Smith, G. E.: Primitive Language. London: MacMillan, 1906 Société de Linguistique de Paris: Statutes. 8. März 1866 Sperber, P. A.: Drugs, Doctors and Disease. New York: Green & Harrison,

'973 Steklis, H. D., 8c S. R. Harnad: From hand to mouth. Annals of N. Y. Acad, of Sciences, 1976 Swadesh, Μ.: The Origin and Diversification of Language. Chicago: Al­ dine-Atherton, 1971 Taylor, D. C.: Differential rates of cerebral maturation between the sexes and between the hemispheres: evidence from epilepsy. Lancet, 9. Juli 1969, 140 ff. Taylor, D. C., 8c C. Ounsted: Biological mechanisms influencing the outcome of seizures in response to fever. Epilepsia 12:33-45, 1971 Tinbergen, N.: Curious Naturalist. New York: Basic Books, 1958 Trevarthen, C.: Early attempts at speech. In: R. Lewin (ed.): Child Alive, London: Temple-Smith, 1975 Trojan, F.: Biophonetik. Mannheim: R. I. Verlag, 1975

23J

Vernon, P. E.: Intelligence and Attainment Tests. London: University of London Press, i960 Wechsler, D.: Sex differences in intelligence. In: Measurement and Apprai­ sal of Adult Intelligence. Baltimore: Williams & Wilkins, 19)8 Weiland, A.: Infant holding patterns in left-handed mothers. Clinical Pediatrics 3:133, 1969 Wind, J.: On the Phylogeny and the Ontogeny of the Human Larynx. Groningen: Wolters-Noordhoff, 1970 Wordsworth, W.: The Rainbow. London 1802 Wundt, W.: Völkerpsychologie. Bd. 1: Die Sprache. Leipzig 1900 Wynne-Edwards, V. C.: Animal Dispersion. Edinburgh: Oliver & Boyd, 1962 Yerkes, R. E.: Chimpanzees: A Laboratory Colony. New Haven: Yale University Press, 1943 Young, J. Z.: Neuronal circuits. In: G. R. De Beer (ed.): Evolution. London: Oxford University Press, 1938

Ullstein Sachbuch

Mädchen lernen im allgemeinen wesentlich früher sprechen als Jungen, und Frauen verfügen zumeist bis ins hohe Alter über eine größere Sprachgewandtheit als Männer. Ist das Zufall oder gibt es Gründe dafür? Das Forscherehepaar Jonas suchte und fand Erklärungen für diese und ähnliche Rätsel, aber auch für einen mög­ lichen Ursprung der Sprache. Jahrelang gingen die Autoren komplexen Zusammenhängen nach, die in der Evolutions­ geschichte des Menschen ihren Ursprung haben: der Entwicklung der anatomischen Sprachstrukturen und des Gehirns, dem Informationsaustausch der Primaten, der Be­ deutung der Mutter-Kind-Bindung für die Sprachentwick­ lung. Was dabei herauskam, liest sich wie eine wissen­ schaftliche Detektivgeschichte, die zurückführt bis zu den ersten Lallversuchen des Homo präsapiens. Doris F. Jonas ist Anthropologin und Verhaltensforscherin, A. David Jonas Professor em. für Psychiatrie. Beide Autoren sind Abteilungsdirektoren am Institute of Sociobiological Medicine in London. DM 7.80 ISBN 3 548 34091 1