Die Erneuerung des Abendlandes: Von der Knechtschaft zur Freiheit durch das Christentum der Tat [Reprint 2021 ed.] 9783112455944, 9783112455937


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German Pages 93 [100] Year 1923

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Die Erneuerung des Abendlandes: Von der Knechtschaft zur Freiheit durch das Christentum der Tat [Reprint 2021 ed.]
 9783112455944, 9783112455937

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Robert Schwell.enbach

Die Erneuerung desAbendlandes Bon der Knechtschaft zur Freiheit durch das Christentum der Tat

Berlin und Leipzig 1922 Vereinigung wissenschaftlicher Verleger Walter deGruyter LCo. vormals G.J.Göschen'sche Verlagshandlung / J.Guttentag,Verlags­ buchhandlung / Georg Reimer / Karl I.Trübner / Veit LComp.

Inhalt. Seite

Vorwort.................................................................................... V

1.

Knechtschaft des Leibes.........................................................1

2.

Knechtschaft der Seele............................................................12

3.

Christentum des Geistes..................................................... 27

4.

Christentum der Tat........................................................... 40

5.

Freiheit des Schaffens............................................................ 56

6.

Freiheit des Genießens...................................................... 71

Vorwort. Die Not der Zeit hat dieses Buch zum Abschluß gebracht und seinen Titel bestimmt. Knechtschaft droht einem Volke, das der Freiheit sich würdig gezeigt hat in seiner ganzen Ver­ gangenheit, das für die Freiheit kämpfte gegen eine beispiellose Überzahl von Gegnern. Und wird es geknechtet, wird es in blindem Haß versklavt und zur Verzweiflung getrieben, dann reißt es zweifellos auch seine Feinde mit in den Abgrund hinab. Daher die Losung: Von der Knechtschaft zur Freiheit durch das Christentum der Tat. Denn nur tatkräftiges, werktäti­ ges Christentum kann uns retten und sonst nichts in der Welt. Das ist die Überzeugung, von der dieses Buch beseelt ist, die es

in weitesten Kreisen mit Nachdruck vertreten will. Aber die Losung, die unsrer Zeit nottut, frommt zugleich jeder Zeit. Sie ist zeitlos und daher imstande, der Menschheit ein für allemal das zu geben, was zu einem zielbewußten Kultur­ fortschritt unbedingt erforderlich ist, eine einheitliche Welt­ anschauung. Schlagworte verwirren die Geister und entzweien sie. Sozial und sozialistisch, pazifistisch und militaristisch, orthodox und liberal, dogmatisch und undogmatisch, evangelisch und katholisch und wie

die wirklichen oder vermeintlichen Gegensätze alle heißen mögen, ziehen äußerlich oft die schärfsten Trennungsstriche, während die Grundauffassung des Menschenlebens eigentlich die gleiche ist. Soll daher auf dem Gebiet der Weltanschauungen die Einheit­ lichkeit erzielt werden, deren die Völker bedürfen, um die wert­ vollsten Kräfte nicht zu zersplittern, dann müssen zunächst einmal alle Schlagworte völlig vermieden werden. Und ebenso alle

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Vorwon.

philosophischen Fachausdrücke, die immer nur einem kleinen Kreise verständlich sein können.

In schlichten und knappen Worten die

Wahrheit so darzustellen, daß jedermann sie erkennen kann, das ist's, was nottut, um endlich der Vernunft zum Siege zu ver­

helfen. Vor dem Richterstuhl der Vernunft aber muß alles bestehen

können, was auf Allgemeingültigkeit Anspruch erhebt, auch die Religion, auch das Christentum in Worten und in Werken. Was

wider die Vernunft ist, kann niemals christlich sein.

Das ist für

jeden echten Christen von vornherein sicher. Was aber ist das höchste Glück, das die Vernunft für alle

Menschen ohne Ausnahme ersinnen kann? Sein Glück sucht jeder auf seine Weise. Was dem einen als

ein großes Glück erscheint, dünkt den andern oft gleichgültig oder gar verächtlich. Über nichts vielleicht gehen die Meinungen der Menschen so auseinander, als über die Frage, was das Glück

sei und wie es am besten erlangt werden könne. Einmütig aber sind alle in der Hochschätzung der Freiheit. Frei sein, tun und lassen können in jedem Augenblick des Daseins,

was einem beliebt, sich kein Begehren, kein Verlangen jemals

versagen brauchen, ist das nicht das Höchste, was ein Mensch überhaupt zu wünschen vermag? Ist das nicht das vollkommene Glück, das jedem Menschen vorschwebt, einerlei wie er im Einzel­ fall veranlagt ist oder wodurch er feilt* Glück zu erreichen sucht?

Erscheint aber eine solche Freiheit hier auf Erden jemals denkbar?

Man braucht keineswegs ein Knecht oder Sklave seiner

Leidenschaften zu sein, um diese Frage zunächst rundweg und ein

für allemal zu verneinen.

Wie sollten die Menschen wohl in

die Lage kommen können, daß sie tun und lassen dürften, was

ihnen beliebt, da sie doch notwendig nicht nur sich selbst gegen­ seitig beschränken, sondern auch von der Natur abhängig sind, die

ihnen auf Schritt und Tritt Schranken errichtet hat?

Und sich

in ihnen ebenso wie bei den Tieren in Trieben und Bedürfnissen äußert, denen jeder Mensch unterworfen ist, mag er sie auch als

Vorwort.

VII

noch so gemein empfinden und schon allein um ihretwillen wirk­ liches Glück auf Erden für völlig unmöglich halten?

Ja, schrankenlos freilich dürfen die Wünsche niemals werden, wenn einer zur Freiheit gelangen will.

An die Naturgesetze sich

binden, das ist die erste Bedingung, um wahrhaft frei zu werden.

Wer das Natürliche und Naturgemäße als niedrig oder sogar als

menschenunwürdig ansieht, der geht von vornherein bei seiner Weltanschauung von falschen Voraussetzungen aus.

Und er muß

daher notwendig auch zu falschen Schlußfolgerungen gelangen,

die sich im Leben unbedingt rächen werden. Ebenso

selbstverständlich

aber

wie

die Bindung an die

Naturgesetze ist auch die Bindung an die Vernunftgesetze, ohne die menschliches Gemeinschaftsleben völlig unmöglich wäre. Wer

frei sein will, muß daher vor allem die Schranken der Sitte und

des Rechtes anerkennen und durch strenge Selbstzucht dahin zu gelangen suchen, daß unsittliche und ungesetzliche Wünsche in ihm überhaupt nicht mehr rege werden können.

Aber was ist unsitt­

lich, was ist ungesetzlich? Können nicht die Sitten einer Gemein­

schaft und eines ganzen Zeitalters nur mehr oder weniger grobe oder verfeinerte Unsittlichkeit sein, die Gesetze nur krasse Unge­

rechtigkeit verkörpern? Wo findet, woher schöpft einer die Kraft,

sich aufzulehnen gegen unsittliche Sitten und ungerechte Gesetze, zu handeln lediglich wie er will, wie sein Gewissen es ihm vor­ schreibt, und sich frei zu fühlen selbst in Ketten und Banden, in

Not und Schmach? Es ist die Religion, die solche Kraft verleiht, die den Menschen

befreit aus aller Menschenknechtschaft der Gewissen, von allen Schranken des Raumes und der Zeit. Und mögen auch Unzähligd,

die sich für durchaus religiös halten und nichts Unsittliches oder gar Ungesetzliches zu tun glauben, trotzdem laut oder im füllen

stöhnen oder klagen über, den Zwang der Verhältnisse, über die Enge des Lebens, über die unvermeidliche Unfreiheit alles Erden­

daseins: Das echte Christentum macht die Menschen frei und glücklich, je mehr es in die Tat umgesetzt und wahrhaft gelebt wird.

In ein Abhängigkeitsverhältnis zu seiner Zeit, zu seiner

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Vorwort.

Umgebung wird jeder Mensch hinein geboren; jeder fühlt sich irgendwie gebunden oder geknechtet, jeder sehnt sich nach Glück

und Freiheit, bis er das Christentum erlebt und in freudigem

Staunen die Freiheit kennenlernt.

Und so läßt sich der Sinn

des Menschenlebens für alle Zeit zusammenfassen in die Losung:

Von der Knechtschaft zur Freiheit durch das Christen­ tum der Tat.

Durch das lautere, reine, unverfälschte Christen­

tum, das klar und einfach ist, wie die Wahrheit stets einfach ist und auch vom einfachsten Menschen jederzeit muß verstanden werden können.

Knechtschaft des Leibes. s¥Xon jeher ist es üblich gewesen, beim lebenden Menschen (O zwischen Leib und Seele zu unterscheiden. Unstreitig bildet aber der Mensch ebenso wie jedes andere Lebewesen der Erde eine natürliche Einheit, so daß eine scharfe Grenze zwischen leib­ lichen und seelischen Bedürfnissen und Fähigkeiten sich nicht ziehen läßt. Nur von diesem Gesichtspunkte aus kann daher auch zwischen leiblicher und seelischer Knechtschaft beim Menschen unterschieden werden. Denn rein leiblich ist nichts, was den Menschen be­ drückt, weil das Seelische sich auf das gesamte Triebleben erstreckt und auch bei den unbewußten Vorgängen innerhalb des Körpers nicht ausgeschaltet werden kann. Um so mehr vermag daher auch der bewußte Wille den Körper zu beherrschen und sämtliche Triebe der Vernunft zu unterwerfen. Vor allem den Gattungs­ trieb, der ganz besonders von der Vernunft gezügelt werden muß, damit er nicht von frühester Jugend an mißbraucht werde und, einmal mißbraucht, den Menschen quäle und knechte das ganze Leben hindurch. Der Gattungstrieb ist von Natur Paarungstrieb und wird mißbraucht, sobald seine Befriedigung auf andere Weise als im Wege der Paarung erstrebt wird. Wahrhaft vernunftgemäß ist daher die Erziehung der Kinder und die Pflege der Jugend, in einem Volke erst geregelt, wenn dadurch jedem Mißbrauch des eigenen Körpers bei Knaben und Mädchen ein für allemal vor­ gebeugt wird. Denn vernunftgemäß ist zugleich auch natur­ gemäß und unvereinbar mit allem, was auf eine Überlistung,

Verzerrung und Verhöhnung der Natur hinausläuft. Die Jugend leidet ja auch, soweit es sich nicht um entartete Kinder lasterhafter Eltern handelt, sehr unter derartigen Mißbräuchen, die gar zu leicht feststehende Gewohnheiten werden und allen guten VorSchwellenbach, Erneuerung

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Knechtschaft des Leibes.

sätzen trotzen. Welch eine Verhöhnung der Natur bedeutet aber eine solche Gewohnheit, wenn sie gar in reifem Alter noch immer von neuem als ein unwiderstehlicher Zwang sich geltend macht! Das ist eine Knechtschaft, eine sklavische Abhängigkeit des Men­ schen von seinem Körper, die von einem Vernunftwesen notwendig als feige und verächtlich, ja als ekelhaft empfunden werden muß. Aber der vernünftige Mensch läßt sich auch zur Paarung nicht blindlings wie das Tier hinreißen, sondern beim Gattungs­ trieb ebenso wie bei jedem anderen Triebe stets von der Rücksicht auf die voraussichtlichen Folgen seines Handelns bestimmen. Und ihm genügt schon das Bewußtsein schwerer gesundheitlicher Ge­ fahren, die mit einer ungeregelten und zügellosen Beftiedigung des Paarungstriebes verbunden sind, um^ solchen Gefahren aus dem Wege zu gehen und sich nicht etwa für ein Kind des Glücks oder gar einen Günstling der Vorsehung zu halten, der sich un­ gestraft über alle Warnungen der Wissenschaft hinwegsetzen dürfe. Wie furchtbar rächt sich aber auch im Menschenleben nicht selten eine einzige blinde Stunde oder fast Minute, zumal wenn noch aus Unkenntnis oder unerhörtem Leichtsinn oder aus einer ans Verbrecherische grenzenden Gleichgültigkeit das Gift der Krankheit auf eine ahnungslose Gattin übertragen wird und sich auf unschul­ dige Kinder vererbt, die ihr ganzes Leben lang unter einem solchen Fluch leiden müssen! In welchem Umfang oft die Geschlechts­ krankheiten auf einem Geschlecht lasten, wie oft sie durch ihre unmittelbaren und mittelbaren Folgen eine Familie plötzlich des Ernährers berauben und die Hinterbliebenen in leibliche und see­ lische Not stürzen, ist in den einzelnen Fällen wohl nur dem Arzt genau bekannt. Und doch muß unbedingt schon die Jugend von berufener Seite über solche Gefahren aufgeklärt werden, damit sie aus ihrer Erkenntnis Kraft gewinne, sich zu zügeln und nicht, kaum ins Leben eingetreten, sich schon ihr Lebensglück verscherze oder es wenigstens dauernd trübe durch das Bewußtsein, vielleicht unheilbar mit einer solchen Krankheit behaftet zu sein. Aber der Hinweis auf die Folgen reicht keineswegs aus, um einer unvernünftigen Befriedigung des Paarungstriebes genü­ gend vorzubeugen, zumal ja auch bei der Paarung selbst eine Überlistung und Verhöhnung der Natur möglich ist, die wie alles nicht Naturgemäße dem Menschen auf die Dauer notwendig schwe-

Knechtschaft des Leibes.

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ren leiblichen und seelischen Schaden zufügen muß. Der Paarungs­ trieb ist und bleibt seiner Natur nach stets Gattungstrieb und darf niemals zum bloßen Geschlechtstrieb herabgewürdigt und aus einem Mittel zur Erhaltung und zum Wohl der menschlichen Gattung zum Selbstzweck für die bloße Lüsternheit der Menschen gemacht werden. Es steht aber auch zweifellos fest, daß auch bei vorhandener Fruchtbarkeit keineswegs jede Paarung Befruchtung nach sich zieht. Und je sorgfältiger die Wissenschaft allen Lebensvorgängen auf den Grund zu gehen sucht, desto eher ist zu hoffen, daß in dieser Hinsicht Gesetze ermittelt werden, die für das menschliche Liebesleben und die Volkswohlfahrt von größter Wichtigkeit sein müssen.*) Faßt man im übrigen das ganze menschliche Triebleben in die beiden Grundtriebe, Selbst­ erhaltungstrieb und Gattungstrieb, zusammen, dann ist der Gättungstrieb in weiterem Sinne auch die Quelle und das Gebiet der Nächstenliebe, während der reine Selbsterhaltungstrieb nur zur Selbstsucht und Selbstliebe führt. Und wenn die herr­ lichen Blüten der Nächstenliebe, wie sie in einzelnen Ausnahme­ naturen die menschliche Gattung gezeitigt hat, lediglich als ver­ edelter Gattungstrieb angesehen werden, dann ist es klar, daß der Gattungstrieb, auch abgesehen von der Fortpflanzung, stets der Gattung dient, insofern aus ihm gerade die Kräfte entspringen, die der Selbstsucht des einzelnen zugunsten des Wohles der Gat­ tung Schranken setzen. Daher verstößt gegen einen Grundtrieb und gegen ein Grundgesetz des Lebens, wer die Freuden der Liebe nicht lediglich als ein Mittel zur Fortpflanzung und zum Fortschritt der Menschheit, zur Belebung und zur Neubelebung der Kräfte ansieht, sondern die krasse Geschlechtslust zum Selbstzweck macht und als Selbstzweck in allen nur möglichen Formen erstrebt. Es ist überhaupt eine völlige Verkennung der Menschen­ natur, wenn der Geschlechts- und Gaumengenuß und alles, was auf ihn hinzielt, als der eigentliche Sinn des Menschenlebens betrachtet wird, auf den im Grunde genommen alle Anstrengungen der Menschen bewußt oder unbewußt hinausliefen. Nein, wer ein wahrhaft menschenwürdiges Dasein führen und sein Leben wirklich genießen will, der muß in den seelischen Freuden den Hauptinhalt des Lebens suchen und den sinnlichen Genüssen nur *) Vgl. Kap. 6 S. 71.

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Knechtschaft des Leibes.

insoweit Berechtigung zugestehen, als es zur Erhaltung des Lebens

und zur Entlastung der geistigen, also der höheren Seelenkräfte, je nach der Veranlagung des einzelnen Menschen wirklich geboten erscheint. Seelisch im allgemeinsten Sinne des Wortes ist jede Kraft, die im menschlichen Körper sich betätigt. Denn die Seele umfaßt das gesamte Leben des Körpers. Alles, was dem mensch­ lichen Leibe entflieht, wenn im Augenblick des Todes nur eine, starre unbewegliche Masse übrigbleibt und sich zersetzt, alles das ist die Seele oder der Inbegriff des gesamten menschlichen Lebens. Aber seelisch im engeren, im eigentlichen Sinne ist alles, was nicht der bloßen Erhaltung und Fortpflanzung des Körpers, nicht der unmittelbaren, oft nur dumpf empfundenen sinnlichen Be­ friedigung dient. Seelisch im engeren Sinne ist jenes Leben, das der Mensch führt, wenn er nicht lediglich in Essen und Trinken aufgeht oder vom Geschlechtstriebe so umnebelt ist, daß er nur noch aus bloßer Gier besteht. So ist das seelische Leben vor allem das ununterbrochen hinfließende bewußte Leben, das die Einheit der Persönlichkeit bildet und sich hauptsächlich durch die Sprache äußert, das aber sogar auch dieses Werkzeugs noch ent­ behren kann und nur des Gehirns als körperlicher Grundlage beim irdischen Menschen bedarf. Und das Bewußtsein des Menschen braucht Nahrung, ebenso wie sein Körper Nahrung braucht, damit er wachse und gedeihe, solange ein Menschenleben auf Erden zu dauern vermag. Aber das Bewußtsein will auch dann noch wachsen, wenn der Körper längst sein Wachstum ein­ gestellt hat. Und im Wachstum, im Fortschritt allein findet es seine Beftiedigung, nicht in der bloßen Selbsterhaltung, nicht im Süllstand. Erweiterung des Bewußtseins, das ist es, was die Menschenseele braucht, wonach sie sich sehnt aus tiefstem Drang, der jedem Menschen ohne Ausnahme eigen ist. Der aber in der Sucht nach immer neuen, vermeintlich unbekannten Sinnengenüssen vollständig ersticken kann, so daß er niemals zu jenem Trieb sich entfaltet, der dem Menschen das höchste Glück gewährt, zum reinen Trieb nach Erkenntnis. Erkenntnis, Erweiterung des Bewußtseins ist freilich auch bei einem rein sinnlichen Begehren oft das einzige Ziel, das der Wille sich eingesteht, um schließlich doch seiner ursprünglichen,

Knechtschaft des Leibes.

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bewußten Absicht zuwider dem übermächtig gewordenen Triebe zum Opfer zu fallen. Insbesondere die Jugend gerät, wenn sie nicht einen festen Halt in sich hat, leicht in die Gefahr, zunächst bloß aus Neugier und Drang nach Erleben vom rechten Wege abzuweichen und schließlich ganz in die Irre zu gehen. Wie betrügt sie sich aber selbst um den Genuß ihrer Jugendzeit, wenn sie sich nicht zu zähmen weiß, sondern immer von neuem Augen­ blicke angstdurchzitterter und von Angst vergällter Lust mit Wochen und Monaten ständiger Furcht und Aufregung erkaufen muß! Und welche Jämmerlichkeit erst, wenn zügellose Sinnlichkeit zu­ nächst im Arm des Lasters sich glaubt entspannen zu müssen, ehe sie es wagen dürfe, einen harmlos fröhlichen Kreis lieber Menschen aufzusuchen, zu dem das noch nicht ganz verdorbene Herz sich trotz aller Verirrungen immer von neuem unwidersteh­ lich hingezogen fühlt! Wobei freilich durch die Entspannung auch die Sinnenfreudigkeit gelähmt wird, so daß statt der erhofften Anregung lediglich Langeweile und Mißmut sich einstellen und die Oberhand gewinnen. Denn wo der Mut zur reinen Freude fehlt, da muß notwendig Mißmut herrschen, wenn andere ftöhlich sind. Mutig und furchtlos mit offenen Sinnen durchs Leben gehen, aber zugleich auch von Jugend an sich bemühen, jedem Sinnenreiz den Stachel der sogenannten Sinnlichkeit zu nehmen und sich alle Sinneseindrücke möglichst nur nach den Gesichts­ punkten des Schönen und Häßlichen zum Bewußtsein zu bringen, das ist der Weg zur wirklichen Erkenntnis der Sinnenwelt. Und nicht etwa durch möglichst viele sinnliche Erlebnisse mit möglichst verschiedenen weiblichen Wesen erlangt der Mann eine wirk­ liche Erkenntnis weiblicher Wesensart, sondern nur durch eine möglichst innige Lebensgemeinschaft mit einem einzigen echten Weibe. Während Zügellosigkeit den Lebensinhalt nicht erweitert, sondern lediglich zu den bestehenden Abhängigkeiten immer neue hinzufügt, gleichzeitig aber nicht etwa zu wirklicher Beftiedigung und Erschöpfung des Gattungstriebes führt, sondern ihn vielmehr immer von neuem aufpeitscht und den Stachel der Sinnlichkeit immer tiefer ins Herz hineintreibt. Sämtliche menschlichen Triebe stimmen darin überein, daß sie um so stärker werden, je mehr der Mensch ihnen nachgibt und sich von ihnen fesseln läßt. Aber gerade weil dies von den

geistigen Trieben und seelischen Bedürfnissen ebenso gilt wie von den sinnlichen und leiblichen, können die Sinne des Menschen nach und nach um so sicherer unter die Herrschaft des Geistes gebracht werden. Dazu aber ist erforderlich, daß schon in der Jugend geistige und seelische Bedürfnisse geweckt werden, damit sie sich selbst möglichst bald ein Gegengewicht gegen ihre Anfech­ tungen schaffe und so zur Freiheit gelange. Nur eine freie Jugend ist davor bewahrt, daß sie blindlings in die Ehe hineinstürmt und, kaum imstande, für sich selbst den nötigsten Lebensunterhalt zu erwerben, schon für Nachwuchs sorgen muß und dann immer tiefer ins Elend hineingerät. So kommen Ehen zustande, in denen von vornherein Zank und Streit an der Tagesordnung sind und der Haß, ja der Ekel der Ehegatten voreinander ständig zunimmt, zumal wenn sie zugleich in roher Sinnengier sich immer wieder zueinander hingezwungen fühlen und bei alljährlich wachsender Kinderschar auch die Not und das Entsetzen unaufhörlich und unaufhaltsam wachsen sehen. Die Kinder aber, die solchen Ehen entstammen, müssen sie nicht notwendig verkümmern, verrohen oder zu Verbrechern sich entwickeln, wenn sie nicht rechtzeitig den schlimmsten Einflüssen int Elternhause entzogen oder ganz in eine andere Umgebung gebracht werden? Denn auch int Men­ schenleben bestehen nicht minder ursächliche Zusammenhänge wie im Naturgeschehen. Und je tiefer die Vernunft in diese Zusam­ menhänge eindringt, desto leichter ist es ihr, ein Übel an der Wurzel zu packen und auszurotten. Eines der Grundübel in der menschlichen Gesellschaft aber heißt: Mißbrauch des Gattungs­ triebes, Überwuchern der Sinnlichkeit über die Vernunft und Geringschätzung oder Verachtung der seelischen Bedürfnisse des Menschen. Vor allem auch in der Ehe, der Keimzelle, aus der alles Gemeinschaftsleben der Menschen organisch sich entwickelt. Der Gattungstrieb bildet allerdings die Grundlage und die ständige Quelle jeder echten und unerschütterlichen Liebe zwischen den Geschlechtern. Wenn Mann und Weib sich in einem Lebens­ bunde wahrhaft frei und glücklich fühlen wollen, dann muß auch das rein körperliche Wohlgefallen aneinander bei beiden so stark sein, daß es durch keinen anderen sinnlichen Eindruck jemals ab­ geschwächt oder vernichtet werden kann. Ein reiner Seelenbund, der die sinnlichen Triebe geringschätzt oder verachtet, würde

Knechtschaft des Leibes.

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allerdings vielleicht größere Gewähr für ein befriedigendes Zu­ sammenleben bieten als eine lediglich auf Sinnenlust gegründete Ehe, in der für seelische Bedürfnisse kein Verständnis vorhanden wäre. Aber volles irdisches Liebesglück ist nur Seelenglück mit Sinnenfreude vereint. Im übrigen entzündet sich die Liebe schon aus dem Grunde stets durch die Sinne, weil auch die Seele des Menschen immer nur mit Hilfe der Sinne von den Mitmenschen erschlossen oder erfaßt werden kann. Überall aber, wo die bloße

Sinnlichkeit im Menschenleben das Szepter führt, wo der Gat­ tungstrieb sich der Herrschaft der Vernunft entzieht, ist der Mensch unfrei, ja geknechtet bis zum Lebensüberdruß, bis zur Selbstver­ nichtung. So stark auch der Selbsterhaltungstrieb in einem Men­ schen sein mag, dem Geschlechtstrieb hält er nicht stand, wenn dieser in wilder Brunst alle Dämme überflutet. Ein Sklave der Sinne setzt auch sein Leben aufs Spiel, wenn es gilt, eine Gier zu Wen. Der Lustmörder schont weder ein fremdes Menschen­ leben noch das eigene, wenn der Sinnenrausch ihn fortreißt und alle anderen Empfindungen in ihm erstickt. Selbst am eigenen unmündigen Kinde kann sich ein entmenschter Vater vergreifen, der, vielleicht selbst ein Sproß lasterhafter und entarteter Eltern, sich von Jugend an zügellos seinen tierischen Gelüsten überlassen hat. Wo beim Tier der Instinkt als Hemmung wirkt, fehlt beim Menschen jede natürliche Schutzwehr, wenn er sich aller Vernunft zum Trotz die Sinnengier zum Lebensinhalt macht und dann notwendig immer tiefer und tiefer sinkt, bis er sich schließlich selbst unter das Tier haltlos erniedrigt. Aber das sind fteilich Ausnahmen, von denen sich mancher schaudernd abwendet, ohne zu bedenken, daß sein eigenes Tun und Lassen oft nur dem Grade, aber keineswegs der Art nach von solchen krassen Fällen der Sinnengier sich unterscheidet. Unter dem Einfluß von berauschenden Getränken kann auch eine zwar vor Übermaß behütete, aber sonst völlig ungebundene Sinn­

lichkeit sich zu einem Sinnenrausch entfesseln, der alle sorgfältig aufgerichteten Schranken jäh durchbricht und auch zu Gewalt und Mord sich würde hinreißen lassen, wenn er unerwarteten Wider­ stand fände und so aufs heftigste gereizt würde. Wer sich über­ haupt unfrei macht dem Gattungstrieb gegenüber, der setzt sich dadurch zugleich auch stets der Gefahr aus, wider seinen bewußten

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Knechtschaft des Leibes.

Willen völlig von ihm unterjocht zu werden und schließlich ganz und gar die Herrschaft über sich zu verlieren. Unfrei aber macht sich jeder Mann, der seinen Paarungswillen jemals auf etwas anderes richtet als auf eine zugleich seeli­ sche Gemeinschaft mit einer einzigen, das eigeneSelbst zu vollem Menschentum ergänzenden echt weiblichen Persönlichkeit. Das ist das Grundgesetz des menschlichen Ge­ schlechtslebens, das sich mit fortschreitender Erfahrung notwendig immer mehr in der Menschheit durchsetzen muß. Es bedarf keines Rückblicks auf niedrige Kulturstufen, auf Zeiten, in denen durchgängig Vielweiberei und Sllaverei herrschte, um die furchtbaren Folgen der zügellosen Sinnlichkeit für einzelne Menschen und für ganze Volksstämme und Völker klar und deut­ lich zu erkennen. Wenn die Energie eines Menschen niemals in Arbeit, sei es körperliche oder geistige, umgesetzt wird, so muß naturgemäß alles Sinnen und Trachten sich auf geschlechtliche Entspannung richten und zu Ausschweifungen führen. Und die Ausschweifungen peitschen sich wieder gegenseitig auf, weil der einzelne Reiz sich schnell abstumpft und neuen Kitzel verlangt, wobei jede Energieverschwendung wieder übermäßige Energie­ zufuhr erfordert und zu stärkeren und schärferen Gaumengenüssen antreibt. Bis schließlich völlige Abstumpfung und vorzeitige Er­ schlaffung der Kräfte oder dauerndes Siechtum eintritt und allen Genüssen ein Ende bereitet. Genüssen, die keinen wirklichen Ge­ nuß des Lebens bedeuten, sondern nur einen Taumel der Sinne, denen die wahre Schönheit und Fülle des Daseins völlig verborgen bleibt. Weil sie sich immer wieder von den gleichen Reizen ge­ fangennehmen lassen, statt sich stet zu machen für den über­ quellenden Reichtum, den sie in immer neuen Eindrücken der Seele zuführen könnten. Um sie zwar niemals zu sättigen, aber doch unaufhörlich zu nähren und zu stärken, wie es der tiefsten Sehnsucht des Menschen nach fortwährender Erweiterung seines seelischen Inhalts entspricht, während alle ^Einseitigkeit und Ein­ förmigkeit langweilt und auf die Dauer notwendig als ein sinnund zweckloser Kräfteverbrauch angesehen oder geradezu als Ekel empfunden werden muß. Was aber so unter der Herrschaft der Sllaverei besonders schroff und abschreckend zutage tritt, das macht sich, wenn auch

Knechtschaft des Leibes.

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in schwächerer Form überall da bemerkbar, wo die Arbeit ver­ abscheut und der Sinn des Lebens ausschließlich in leiblichen oder sinnlichen Genüssen gesucht wird. Ohne Arbeit, ohne Kultur­ tätigkeit würden die Menschen sich ebenso wie die wilden Tiere mit rohen Naturerzeugnissen zufrieden geben müssen und auch sonst in ihrer ganzen Lebenshaltung kaum wesentlich von den Tieren unterscheiden. Ohne Arbeit, ohne technische, von der Menschheit erarbeitete Hilfsmittel gäbe es keine Kunst und keine Wissenschaft, um von allem anderen zu schweigen, ja nicht einmal eine Schrift, um die Gedanken zu verbreiten, gäbe es schließlich überhaupt nur wenige Gedanken im Menschengeist, weil der ganze Gedankenreichtum ja zum allergrößten Teil erst nach und nach im Laufe der Kulturentwicklung mit Hilfe der technischen Errungen­ schaften erworben worden ist. So ist es die Technik und ihre Verwertung, die den Menschen erst wahrhaft zum Kulturmenschen macht, die überhaupt die unerläßliche Grundlage auch aller vor­ nehmlich geistigen Schöpfungen des Menschen bildet. Die aber auch eine fortschreitende Vergeisügung und Beseelung der mensch­ lichen Arbeit ermöglicht, weil der Mensch seine rein körperlichen Leistungen immer mehr auf Maschinen übertragen kann, wobei er sich freilich hüten muß, ein Sklave der Maschine zu werden, statt ihr Schöpfer und geistiger Lenker zu sein. Wer aber nicht seinen Kräften und Anlagen gemäß zur Erzeugung und Verteilung der Kulturgüter oder zur Hebung der geistigen Kultur der Mensch­ heit beitragen will, der kann auch nicht beanspruchen, am Genuß der Kulturerzeugnisse teilzunehmen. Das ist eine aus dem Wesen der Kultur mit Notwendigkeit sich ergebende Schlußfolgerung, die jeder vernünftige Mensch unbedingt als richtig anerkennen muß. Die aber auch zugleich tatsächlich dem Wesen des Menschen ent­ spricht, indem niemand sich wahrhaft znftieden fühlt, der sich nicht freudig in den Dienst der Kultur stellt und alle seine Kräfte an­ strengt, um sich zum Wohl der Gesamtheit immer mehr zu ver­ vollkommnen. Während Untätigkeit unzufrieden macht und zu immer neuem Sinnengenuß drängt, der aber viel zu ärmlich ist,

um auch nur einigermaßen ein Menschenleben bis ans Ende voll­ ständig auszufüllen. Daher kann auch die Arbeit, kann auch die angestrengteste Tätigkeit den Menschen nicht befriedigen, wenn ihr Ertrag bloß

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Knechtschaft des Leibes.

verpraßt und vergeudet, aber nicht zur Stillung wirklicher Le­ bensbedürfnisse, sei es eigener oder fremder, nutzbar gemacht wird. Ebensowenig befriedigt aber auch die Arbeit, wenn ihr Einkommen auch nicht im entferntesten ausreicht, um der drin­ genden Lebensnotdurft des Arbeitenden und seiner Familie zu genügen. Und als Arbeitssklave fühlt sich nicht nur der Handund Kopfarbeiter, der für einen Hungerlohn sich aufreiben muß, weil er unter dem wirtschaftlichen Joch genußsüchtiger, ihre Mit­ menschen ausbeutender Arbeitgeber schmachtet, sondern auch der sein Gehirn zermürbende Gewinnstreber, der durch schlaue Be­ rechnung und gewissenlose Verteuerung notwendiger Bedarfs­ mittel ungeheure Reichtümer erwirbt und verschwendet, ruhelos hin- und her gehetzt von Habgier und Sinnengier, in dumpfem Einerlei/ in ständigem Taumel, ohne Glück und Frieden. Wo aber die Sucht besteht, das ganze Leben in Muße und Nichtstun zu verbringen und sich auf Kosten anderer Menschen, die es le­ diglich als Last beklagen, so angenehm wie möglich zu gestalten, da ist auch die Bahn beschritten, die ein Geschlecht notwendig zur Erschlaffung und Entartung führen muß. Und erst recht ein ganzes Volk, wenn es auf solche Weise die Vernunft mit Füßen treten und von Renten leben will, die andere Völker in harter Frone ihm verdienen sollen. Ist somit jede Kulturgemeinschaft in erster Linie Arbeits­ gemeinschaft, so setzt auch die eheliche Gemeinschaft notwendig den Willen zur Arbeit voraus, wenn sie sich wahrhaft glücklich gestalten soll. Und wie bei der Vielweiberei das Weib nur das Arbeitstier oder das Lustwerkzeug des Mannes ist, so ver­ sklaven sich bei der Einehe Mann und Weib, wenn sie die Ehe nur als ein Mittel zum Müßiggang und zu arbeitslosem Ein­ kommen ansehen und sich lediglich oder hauptsächlich von diesem Gesichtspunkt aus verheiraten. Sind dabei vielleicht gar Herz und Sinne noch anderweitig gefesselt, so ist eine solche Bindung im Grunde genommen nichts anderes als schnöde Preisgabe des Körpers und daher auch ähnlich erniedrigend wie das eigentliche Laster, das mit vollem Bewußtsein von solcher Preisgabe möglichst üppig leben will. Erst recht dann, wenn noch fortgesetzte Untreue des Gatten hinzukommt und mit in den Kauf genommen wird, nur um auf Üppigkeit, Prunk und

Knechtschaft des Leibes.

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hohlen Glanz in dumpfer Erschlaffung und Versklavung nicht verzichten zu müssen. Nur dem Müßiggang und dem Laster ist es zuzuschreiben, wenn auf der Erde Not und Elend, Neid und Unzufriedenheit herrschen, wenn die Völker sich entzweien und auf Feindselig­ keiten sinnen, statt in friedlichem Wetteifer ihre Kräfte zu messen und sich gegenseitig ihre Natur- und Kulturerzeugnisse nutzbar zu machen. Dem Laster aber sind überall die Wege geebnet, wo der Gattungstrieb schon von der Jugend mißbraucht wird, wo der Paarungswille die echte Liebe verspottet und Ungebundenheit erstrebt. Und das Laster versteht es, wenn ihm nicht von einer aus dem tiefsten Grunde der Menschheit urwüchsig entspringenden Kraft immer wieder von neuem energischer Widerstand geleistet wird, sich in den Straßen der Städte, an den Ufern der Ströme, auf den Gipfeln der Berge, an den Küsten der Meere, überall wo die Technik Wunderwerke der Kultur zu schaffen vermag, rücksichtslos breitzumachen und geistlos und stillos sinnverwirrende Pracht und Üppigkeit zu entfalten. Diese Üppigkeit aber wirkt zurück auf die Ehen, die nicht aus wahrer Liebe geschlossen sind und sich vom Laster zwar äußerlich scharf scheiden und nichts mit ihm gemein haben wollen, trotzdem aber voll Neid darauf Hinblicken und sich von seiner Süllosigkeit blenden und beeinflussen lassen. Diese' Üppigkeit wirkt zurück auf die Jugend, daß auch

sie schon nur noch für äußeren Glanz und blendenden Schimmer Sinn hat und geistigen Werten gleichgültig, ablehnend oder gar spöttisch gegenübersteht. So zieht die Begehrlichkeit vom Laster aus immer weitere Kreise und vertieft den schroffen Gegensatz zwischen Überfluß und Not, bei dem kein Volk auf die Dauer zu bestehen vermag. Der aber notwendig überall entstehen muß, wo aus Sinnengier ungeheure wirtschaftliche Güter errafft und verschwendet werden, wo alles Streben der Menschen lediglich auf Geld und Gut sich richtet, und Selbstbeschränkung in sinnlichen Genüssen zugunsten der geistigen Freuden des Menschenlebens etwas völlig Unbekanntes ist. Obwohl diese Selbstbeschränkung Las einzige Mittel ist, um zur Freiheit zu gelangen und durch fort­ schreitende Erweiterung und Vertiefung des seelischen Lebensinhalts den gesamten Verlauf des Lebens als einen ununterbrochenen Fortschritt der Erkenntnis und als ein Glück zu empfinden.

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Knechtschaft der Seele.

Statt dessen welche Unfreiheit überall da, wo nur der Leib gepflegt wird, wo alles Sinnen und Trachten lediglich dahin geht, durch sinnliche Reize andere zu bestricken und sich selbst bestricken zu lassen. Welchem Druck häßlicher und quälender Em­ pfindungen ist die Seele des Menschen da notwendig immer wieder ausgesetzt, von Argwohn und Furcht, Mißgunst und Neid, Eifersucht und Haß bis zu kochender Wut und ohnmächtigem Zorn, der die Brust fast zersprengt. Und doch unter der Maske gleißender Liebenswürdigkeit sich verstecken muß und um so heftiger brennt, je weniger er sich nach außen hin zu entladen wagt! So gesellen sich zur Habgier und Sinnengier notwendig Verstellung und Heuchelei als unzertrennliche Begleiter. Und unter der Herrschaft der Lüge wird die Seele dann völlig geknechtet, bis sie schließlich in dumpfem Grimm sich selbst verachtet und jede Hoffnung auf Freiheit endgültig zu Grabe trägt.

2.

Knechtschaft der Seete. Die Seele des Menschen wird sich ihrer Freiheit und Stärke am meisten bewußt, wenn sie sich imstande fühlt, lediglich um der Wahrheit willen die furchtbarsten körperlichen Schmerzen, ja die vollständige Vernichtung des Körpers zu ertragen. Die Geschichte kennt zahlreiche Helden, die ihrer Überzeugung zuliebe die schrecklichsten Folterqualen und grausamsten Todesarten er­ duldet haben. In Zeiten politischer Verfolgungen ist es auch vorgekommen, daß Parteiführer, die auf Grund vermeinllich staatsgefährlicher Äußerungen oder Handlungen eingekerkert wur­ den, jede Nahrungsaufnahme verweigert und diese Weigerung bis zu ihrem freiwilligen Hungertode durchgeführt haben, um auf diese Weise dem, was sie für richtig hielten, zum Siege zu verhelfen. Bewunderung kann niemand einer solchen Seelenstärke versagen. Auch dann nicht, wenn er sie letzten Endes nur auf Selbstliebe zurückführt und in diesem Sinne aus der Natur des Menschen Zug um Zug ohne weiteres glaubt erllären zu können.

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Knechtschaft der Seele.

Statt dessen welche Unfreiheit überall da, wo nur der Leib gepflegt wird, wo alles Sinnen und Trachten lediglich dahin geht, durch sinnliche Reize andere zu bestricken und sich selbst bestricken zu lassen. Welchem Druck häßlicher und quälender Em­ pfindungen ist die Seele des Menschen da notwendig immer wieder ausgesetzt, von Argwohn und Furcht, Mißgunst und Neid, Eifersucht und Haß bis zu kochender Wut und ohnmächtigem Zorn, der die Brust fast zersprengt. Und doch unter der Maske gleißender Liebenswürdigkeit sich verstecken muß und um so heftiger brennt, je weniger er sich nach außen hin zu entladen wagt! So gesellen sich zur Habgier und Sinnengier notwendig Verstellung und Heuchelei als unzertrennliche Begleiter. Und unter der Herrschaft der Lüge wird die Seele dann völlig geknechtet, bis sie schließlich in dumpfem Grimm sich selbst verachtet und jede Hoffnung auf Freiheit endgültig zu Grabe trägt.

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Knechtschaft der Seete. Die Seele des Menschen wird sich ihrer Freiheit und Stärke am meisten bewußt, wenn sie sich imstande fühlt, lediglich um der Wahrheit willen die furchtbarsten körperlichen Schmerzen, ja die vollständige Vernichtung des Körpers zu ertragen. Die Geschichte kennt zahlreiche Helden, die ihrer Überzeugung zuliebe die schrecklichsten Folterqualen und grausamsten Todesarten er­ duldet haben. In Zeiten politischer Verfolgungen ist es auch vorgekommen, daß Parteiführer, die auf Grund vermeinllich staatsgefährlicher Äußerungen oder Handlungen eingekerkert wur­ den, jede Nahrungsaufnahme verweigert und diese Weigerung bis zu ihrem freiwilligen Hungertode durchgeführt haben, um auf diese Weise dem, was sie für richtig hielten, zum Siege zu verhelfen. Bewunderung kann niemand einer solchen Seelenstärke versagen. Auch dann nicht, wenn er sie letzten Endes nur auf Selbstliebe zurückführt und in diesem Sinne aus der Natur des Menschen Zug um Zug ohne weiteres glaubt erllären zu können.

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Selbstverständlich ist die Wahrheitsliebe stets auch Selbstliebe, wie ja der Mensch sogar bei Handlungen, die als selbstlos bezeichnet werden, sein eigenes Ich, sein Selbst niemals völlig ausschalten kann. Wer sich aus innerstem Drang genötigt weiß, unbedingt und unter allen Umständen für die Wahrheit einzutreten, der fühlt sich notwendig auch in seiner Selbstliebe gekränkt, wenn das, was er als Wahrheit vertritt, überhaupt nur angezweifelt wird. Und es ist begreiflich, wenn der Haß gegen Lüge und Heuchelei in einem solchen Menschen alle anderen Triebe erstickt, so daß er sich selbst verächtlich vorkommen würde, wenn er nicht nötigenfalls sogar das Leben opferte, um der Wahrheit nicht untreu zu werden. Eine ungeheure Willenskraft gehört aber doch dazu, um so bis zum äußersten das eigene Selbst durchzusetzen. Eine Willenskraft, die niemand aufbringen kann, der nicht die ungeheure Bedeutung der Wahrheit für1 das ganze Menschenleben erkannt hat und nicht felsenfest überzeugt ist, daß die Wahrheit auf die Dauer unbedingt siegen werde, auch wenn es noch so sehr den Anschein habe, als ob sie immer wieder der Unwahrheit weichen müsse. Wahrheit, richtige Auffassung der Wirklichkeit und richtige Überlieferung dieser Auffassung von Geschlecht zu Geschlecht ist

in der Tat die unerläßliche Voraussetzung schon für die bloße Er­ haltung der menschlichen Gesellschaft. An einem Irrtum, an Unkenntnis der Bedingungen für die Entstehung und Verbreitung von ansteckenden Krankheiten oder Seuchen können unzählige Menschen zugrunde gehen. Noch verderblicher aber wirkt die bewußte Irreführung der Menschen, die Lüge. Wer einem Kinde wider besseres Wissen giftige Beeren als gesund und wohlschmekkend bezeichnen wollte, würde als sein Mörder anzusehen sein, wenn es sich dadurch den Tod zuzöge. Die Lüge ist daher auch der Todfeind der menschlichen Gesellschaft und sogar verhaßt selbst bei denen, die sich selbst ohne Scheu ihrer bedienen, wenn sie sich gegen sie selbst richtet und ihnen Schaden oder Schande zu bereiten sucht. Jede menschliche Seele, auch die verworfenste, fühlt sich aber auch unlöslich gebunden an die Wahrheit. Indem der Mensch sich selbst der Außenwelt gegenüber als einen und denselben weiß und an seinem eigenen Dasein, solange er den Verstand nicht verloren hat, überhaupt nicht zweifeln kann, drängt sich ihm

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zugleich bei den wechselnden Eindrücken der Außenwelt notwendig auch die Empfindung oder die Frage auf, ob sie für ihn ebenfalls dieselben sind oder nicht. Diese Frage beantwortet sich aber durch die Sinneswahrnehmungen von selbst mit ja oder nein, richtig oder unrichtig, wahr oder falsch. So ist mit dem Selbstbewußtsein eines Menschen unbedingt auch das Unterscheidungsvermögen zwischen richtig und unrichtig, zwischen wahr und falsch gegeben. Und zwischen richtig und falsch muß der Mensch stets aufs sorg­ fältigste unterscheiden, wenn er sich ein zutreffendes Bild von der Wirklichkeit machen und eine wirkliche Weltanschauung ge­ winnen will. Der Mensch hat aber auch das natürliche Bestreben, alles so darzustellen, wie es ihm erscheint oder seinem Bewußtsein vor­ schwebt und alles so auszudrücken, wie es sich ihm auf die Zunge legt und ihm unmittelbar gewiß ist. In diesem Antrieb besteht die Gewissensanlage des Menschen. Sie gibt sich als Bindung an die Wahrheit schon im frühesten Lebensalter zu erkennen, indem Kinder, wenn sie nicht entartet sind, zunächst alles genau so äußern, wie es ihnen zum Bewußtsein kommt. Werden sie dann aber für Äußerungen, die den Erwachsenen unbequem sind oder Ärger bereiten, wider Erwarten härt angelassen oder sogar geschlagen, müssen sie überhaupt gleich Schelte oder Schläge befürchten, wenn sie die Wahrheit sagen, dann gewöhnen sie sich bald das Lügen an, zumal wenn sie erst merken, daß sie dadurch Bestrafungen vorbeugen oder Vorteile erlangen können. So wird von unver­ ständigen Eltern und Erziehern nur zu leicht den Kindern die Wahrheitsliebe und kindliche Unbefangenheit geraubt. Ganz zu schweigen von den unglücklichen Kindern, die in einer völlig ver­ logenen und lasterhaften Umgebung aufwachseu, in der sie von frühester Jugend an zum Lügen und Betrügen abgerichtet und sogar gezwungen werden. Selbstverständlich kann aber einem Kinde nicht gestattet werden, jeder Empfindung, die in ihm rege wird, rückhaltlos und rücksichtslos Ausdruck zu geben, einerlei ob dadurch der Anstand, die Sitte oder auch nur das Empfinden anderer Menschen verletzt wird oder nicht. Wer überhaupt die Wahrhaftigkeit so auslegen wollte, als ob der Mensch das Recht oder sogar die Pflicht habe, jedem Antrieb, dessen er sich bewußt werde, völlig der Wirklichkeit

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entsprechend Folge zu geben und in jedem Augenblick seines Lebens seinem tatsächlichen, also wahren Gemütszustände, seinen wirk­ lichen Wünschen und Begehrungen gemäß sich zu verhalten, der würde dadurch zahlreichen Menschen einen Freibrief nicht nur für abstoßende und häßliche, sondern auch für verbrecherische und lasterhafte Handlungen ausstellen. Der Mensch strebt allerdings danach, sich in seinem Leben jederzeit genau so geben zu können und zu dürfen, wie er wirklich ist. Aber eine solche Freiheit setzt auch eine Wesensbeschaffenheit voraus, die wirklich so ist, daß sie sich völlig ihren Stimmungen und Antrieben gemäß geben darf. Im übrigen ist die Wirklichkeit zwar immer wahr und damit auch richtig. Aber soweit sie zugleich auch abstoßend, wider­ lich, gemein und ekelerregend sein kann, ist es durchaus nicht immer richtig und berechtigt, sie ohne zwingenden Grund, wie etwa um der Forschung und Belehrung willen, anderen Menschen vor Augen zu führen oder sonstwie zur Wahrnehmung zu bringen. Gegen­ über der nackten, unverhüllten Wirklichkeit hat der natürliche Wahrheitsdrang des Menschen seine Schranke am Schönheits­ sinn und an der Scham. Diese Schranke muß daher auch bei der Ausbildung des Gewissens von Jugend an stets innegehalten werden. Sie bedeutet aber keineswegs eine Einschränkung der Wahrhaftigkeit oder gar des Wahrheitsmutes, sondern lediglich eine Grenze, bis zu der die Freiheit des Wortes und der Gebärde reicht, die wie jede andere Freiheit nie in Zügellosigkeit aus­ arten darf. Wird der Wahrheitsmut in einem Menschen von Jugend auf gewaltsam geknebelt und unterdrückt, dann ist es ihm schließlich ein leichtes, das Gewissen derart zu betäuben, daß es ihm nicht wehrt, sich einzureden, die Lüge sei gegenüber der Macht und Gewalt die gegebene Waffe des Menschen im Kampf ums Dasein, die er unbedenklich gebrauchen dürfe. Und diese Betäubung kann so weit gehen, daß einer, statt Gewissensbisse über eine Lüge zu empfinden, vielmehr innere Befriedigung darüber empfindet und sich in seinem Selbstbewußtsein gehoben fühlt, wenn er mit einer Lüge Erfolg erzielt. Ja, es scheint sogar, als ob das Gewissen selbst, statt die Stimme der Wahrheit im Menschen zu sein, ihn unmittelbar zum Lügen antreiben und für eine Lüge loben statt tadeln könnte. Dann wäre natürlich jede Berufung auf das Ge-

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wissen ausgeschlossen, weil dadurch ja die Wahrheit erst recht unter­ drückt und ins Gegenteil verkehrt werden könnte. Was überhaupt im Namen des Gewissens zu den verschiedensten Zeiten und bei den verschiedensten Nationen und Völkern nicht nur gelogen, sondern auch an Greueln und Verbrechen verübt worden ist, er­ scheint so schreckenerregend, daß es naheliegt, zu behaupten, die Berufung auf das Gewissen führe notwendig zu sittlicher Verwil­ derung, weil es ein einheitliches Menschheitsgewissen niemals

gegeben habe und auch niemals geben könne. -Das Gewissen müsse daher durch die Vernunft ersetzt werden. Sie allein sei imstande, der Wahrheit zum Siege zu verhelfen und echte Sitt­ lichkeit zu schaffen, die lediglich praktische Vernunft sei und auch nur als eine Sache der Vernunft behandelt werden dürfe. Ein richtiges Gewissen stimme vollständig mit der Vernunft überein und sei überhaupt nichts anderes als die Stimme der Vernunft im Menschen. Eine andere Stimme gebe es in ihm nicht und habe es auch nie gegeben, auch nicht in uralten Zeiten, aus denen der Begriff des Gewissens, der Vernunft zum Trotz, als Stimme der Wahrheit und Sittlichkeit im Menschen sich erhalten habe. In Wirklichkeit seien Natur und Vernunft die einzigen Quellen für Wahrheit, Sittlichkeit und Recht. Das Gewissen der Menschen und Völker dagegen vermöge unbedenklich auch das krasseste Unrecht zu billigen und sei um so schwerer zu belehren, je leichter es sich, wie die Erfahrung zeige, blindlings über alle Vernunft hinwegsetze und von vornherein über sie unendlich er­ haben dünke. Aber wenn jemand sich auf sein Gewissen beruft, um eine Handlungsweise zu rechtfertigen, die von allen gewissenhaften Menschen verworfen wird, dann verwechselt er das Gewissen lediglich mit dem Bewußtsein, das er selbst sich von der Erlaubtheit oder Verwerflichkeit des Tuns und Lassens der Menschen und seines eigenen Verhaltens gebildet hat. Und das Bewußtsein, die Auffassung, die einer von der Lüge hat, kann vielleicht so weit gehen, daß er sogar die Lüge für richtiger hält als die Wahr­ heit, für richtiger, um bequem durchs Leben zu kommen und ein angenehmes Dasein zu führen. Dann vermag er, wenn es ihm zweckmäßig oder notwendig erscheint, skrupellos zu lügen, ohne auch nur im geringsten einen Gewissensbiß zu empfinden.

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Aber selbst wer völlig gewissenlos sich der Lüge als Werkzeug für habgierige und ehrgeizige Pläne oder als Waffe zur Verteidigung bedient, kann sich doch dem ursprünglichen Wahrheitsdrang nicht so sehr entziehen, daß er nicht da, wo die Lüge ihm nichts nützen würde, die Wahrheit sagte, und nicht eine Regung des Gewissens verspüren würde, wenn er das, was er selbst für richtig und wahr hält, nicht auch als richtig und wahr nach außen hin verträte. So belügt ja auch selbst die abgefeimteste Lügnerin niemals ohne Gewissensbisse den wirklich Geliebten, mag sie auch sonst nicht nur völlig unbedenklich, sondern im Gegenteil mit innerer Genug­ tuung eine ganze Reihe von Liebhabern schamlos betrügen und ausbeuten. Wer daher gar keine Stimme der Wahrheit mehr in seinem Innern hören würde, der wäre überhaupt kein Mensch mehr, sondern müßte aus der Reihe der Vernunftwesen gestrichen werden. Insofern gibt es zweifellos ein einheitliches Menschheits­ gewissen, von dem in jeder Menschenbrust wenigstens ein ganz kleines Fünkchen noch unauslöschlich glüht. Mag es auch so winzig und schwach sein, daß es das Bewußtsein nicht mehr zu erhellen vermag, so daß dieses sich selbst mit dem Gewissen ver­ wechselt und fälschlich der Stimme des Gewissens zuschreibt, was lediglich als eine Stimme der Unvernunft, der Leidenschaft oder sogar des Hasses gegen die Wahrheit, die sich furchtlos durch­ setzen will, bezeichnet werden müßte. Es ist selbstverständlich nur eine bildliche Ausdrucksweise, wenn eine besondere Stimme des Gewissens, der Vernunft und viel­

leicht auch noch der Natur im Menschen unterschieden wird, wäh­ rend höchstens von einer einzigen Stimme gesprochen werden könnte, nämlich dem Bewußtsein als solchem, in dem der Mensch zu sich selbst spricht und sein eigenes Ich als unmittelbar gewiß, wahr und wirklich von anderen Dingen und Wesen unterscheidet. Im übrigen aber ist sich der gewissenhafte Mensch völlig darüber klar, daß es für ihn unerläßlich ist, zwischen den Begriffen Gewissen und Vernunft sorgfältig und bestimmt zu unterscheiden. Denn was das Gewissen ihm gebietet, das gilt ihm als unbedingt richtig und wahr. Wo es sich daher für ihn um eine Gewissens­ angelegenheit handelt, da weiß er, daß es ihm ganz und gar unmöglich ist, sich in seinem Standpunkt auch nur im geringsten erschüttern zu lassen, während er alles, was ihm lediglich als eine Schwellenbach, Erneuerung

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Sache der Vernunft gilt, jederzeit zu berichtigen gewillt ist, wenn ihm ein Irrtum überzeugend nachgewiesen wird. Und ebenso fühlt er sich im Gewissen aufs tiefste verletzt, wenn ihm der Vorwurf gemacht wird, das, was er sage, sei unwahr, also ein Verstoß gegen die Pflicht der Wahrhaftigkeit, während es sein Gewissen gar nicht berührt und ihn vollständig unempfindlich lassen kann, wenn ihm eine Unrichtigkeit vorgehalten und damit lediglich seine Vernunft herausgefordert wird. Selbstver­ ständlich muß aber das, was einer als Gewissensangelegenheit bezeichnet, sich mindestens vor der wissenschaftlichen Vernunft­ erkenntnis der Menschheit mit dem ganzen Gebiet ihrer fest­ stehenden Wahrheiten rechtfertigen lassen. Wer sich daher lediglich auf sein Gewissen stützen und die Wissenschaft für nichts achten wollte, der handelt auf jeden Fall gewissenlos, weil er eineruntrüglichen Stimme der Wahrheit, die für jedermann unbedingt verbindlich sein muß, in blinder Uberhebung absichtlich sein Ohr verschließt. Es ist der Wissenschaft allerdings unmöglich, bis zu den An­ fängen der Menschheit vorzudringen und mit Sicherheit festzu­ stellen, wie sich die Gewissensbildung beim Menschengeschlecht, insbesondere in vorgeschichtlichen Zeiten, vollzogen hat und wor­ auf die Verschiedenheit des sittlichen Bewußtseins bei den der geschichtlichen Forschung zugänglichen Nassen uitb. Völkern letzten Endes zurückzuführen ist. Aber es ist ohne weiteres klar, daß mit dem bloßen Antrieb zur Wahrhaftigkeit im einzelnen Men­ schen nicht zugleich auch ein einheitliches sittliches Gesamtbe­ wußtsein in der Menschheit gegeben sein kann, weil dieser Antrieb nicht zugleich auch Aufschluß über die Wahrheit selbst gibt, sondern sich sogar auf den unbewußten und ungewollten Irrtum mit erstrecken kann. Daher kann auch der ursprüngliche Drang der unverfälschten Menschennatur, sich wahrheitsgetreu zu geben und alle Heuchelei und Verstellung zu verabscheuen, nur als die Anlage, als die Wurzel des Gewissens betrachtet werden, zu der notwendig noch das Bewußtsein hinzukommen muß, worin das wahre eigene Selbst, das der Mensch im Leben zu behaupten, und das unmittelbar und unbedingt Gewisse, das er wahrheits­ getreu zu vertreten habe, tatsächlich bestehe. Das eigentliche Gewissen, in dem dieses Bewußtsein mit enthalten ist, beschränkt

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sich daher auch nicht auf die bloße Pflicht der Wahrhaftigkeit, sondern bezeichnet dem Menschen außerdem noch ganz untrüglich die sämtlichen Wahrheiten, die für ihn unbedingt als richüg und als verpflichtend zu gelten haben. Wo die Kenntnis dieser Wahr­ heiten fehlt oder geschwunden ist, so daß im Menschen lediglich noch das Bewußtsein lebt, das, was das Gewissen als solches sage, sei unbedingt wahr und richüg, und was es gebiete, ebenso unbedingt richüg und wahr, da ist dann natürlich gerade bei der Berufung auf das Gewissen dem Irrtum und der Unsitt­ lichkeit Tür und Tor geöffnet. Weil jeder sich einreden kann, das, was er wünsche und für richüg halte, sei vom Gewissen geboten, wozu dann nur noch bewußte Unwahrhaftigkeit und Heuchelei hinzuzukommen brauchen, um die sitüiche Verwilderung in einer der grundsätzlichen Lebenswahrheiten entbehrenden Ge­ sellschaft notwendig immer mehr zu steigern und zu vergrößern. Bei dieser Verfälschung des sittlichen Bewußtseins ist es aber gerade die vermeintliche Stimme 4>er Vernunft in den Menschen, die sich ihnen am willfährigsten zeigt, wenn es gilt, das Gewissen zu betäuben und der Sümme der Leidenschaften recht zu geben. Gewissen und Vernunft entspringen überhaupt einer gemeinsamen Quelle und streben auch demselben Ziele zu. Sie fallen auch bei jedem Menschen zunächst offenbar in eine einzige Anlage zusammen, die daher auch einheitlich ausgebildet werden muß. Aber wenn das Gewissen sich die einfachen Grund­ wahrheiten sittlicher Lebensführung einmal eingeprägt hat, dann bedeutet es zugleich auch die fertige und unumstößliche Ge­ wißheit des Menschen über seine letzten und höchsten Lebens­ ziele, so daß es ihn in jeder Lebenslage befähigt, sich diesen Zielen gemäß mit unbedingter Sicherheit, wenn auch vielleicht erst nach gründlicher Selbstprüfung und Beratung mit anderen, zu entschließen und zu entscheiden. Das Gewissen geht daher, selbst wenn es mit der Vernunft übereinsümmt, doch stets über deren Gesichtskreis hinaus, weil die Vernunft, vermöge deren die Menschen nach und nach die unendliche Fülle des Seins und Werdens so weit wie möglich in sich aufzunehmen suchen, unauf­ hörlich in der Entwicklung begriffen ist und sich ihrer Unfertigkeit und Beschränktheit beim wahrhaft vernünfügen und gewissen­ haften Menschen auch stets bewußt bleibt. Die Verfälschung des 2*

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sittlichen Bewußtseins mit Hilfe der Vernunft erfolgt aber in der Weise, daß die Begriffe wahr und richtig, die vom Standpunkt des Gewissens aus unlöslich zusammengehören, gewaltsam aus­ einandergerissen und sogar in einen Gegensatz zueinander gebracht werden.*) Und doch steht und fällt auch die Vernunft mit dem Satze, der dem Menschengeist unmittelbar gewiß ist, daß das, was wahr sei, unbedingt auch richtig, und wasrichtig sei, unbe­ dingt auch wahr sein müsse, ohne daß dieser Satz erst bewiesen zu werden braucht und in strengem Sinne überhaupt bewiesen werden könnte. Wie ja auch jeder vernünftige Mensch es für unbedingt wahr und richtig hält, daß zwei mal zwei vier ist, ohne daß ein eigentlicher Beweis für diesen Satz sich führen ließe oder etwa im praktischen Leben vor seiner Anwendung jemals beansprucht würde. Es ist fteilich ein Unterschied, ob eine Tatsache richtig und damit auch wahr wiedergegeben und als richtig und wahr aner­ kannt wird, oder ob die Ziele für richtig befunden werden, die die Menschen sich setzen, und die Mittel, die sie anwenden, um ihre Ziele zu erreichen. Ist ein Ziel derart, daß es alle Menschen ohne Ausnahme wahrhaft und unbedingt beftiedigen muß, dann sind auch die Mittel, die richtig zu diesem Ziele führen, wahre Mittel zur menschlichen Zuftiedenheit. So ist Getreide und das aus Getreide bereitete Brot für alle gesunden Menschen ein un­ bedingt richtiges Mittel zur Beftiedigung ihres Nahrungsbedürf­ nisses. Die Behauptung, daß der Mensch von Brot lebt und des Brotes zum Leben bedarf, ist daher ebenso richtig und wahr wie etwa die Tatsache, daß er einen Magen hat und dem Stoff­ wechsel unterliegt. Und während die Menschen zunächst unbewußt auf Grund der natürlichen Triebkräfte des Lebens sich im wesent*) So z. B., wenn ein wiffenschaftlicher Forscher die Pflicht der Wahr­ haftigkeit nur noch auf dem Gebiet der Wissenschaft unbedingt gelten läßt, im übrigen aber es für unvernünftig erklärt, bei der Wahrheit zu bleiben, wenn man sich dadurch einen Vorteil verscherzen oder einen Nachteil zuziehen könnte. Dann kann er nicht mehr sagen, das, was die Vernunft gebiete, sei richtig und wahr, sondern kann es höchstens als richtig zu bezeichnen wagen, wenn seine Vernunft, d. h. das, was er für Vernunft hält, ihm eine Unwahrhaftig­

keit gebietet, d, h. wenn sie die Unwahrheit oder etwas Unwahres für richtig erklärt in bezug auf das Ziel, auf den Vorteil, den er erreichen und sich nicht

durch Wahrhaftigkeit verscherzen will.

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lichen richtig ernährt haben, wird es im Laufe der Kultur immer mehr zu einer Aufgabe der Ernährungswissenschaft, alle Nahrungs- und Genußmittel auf ihre Eignung für den menschlichen Körper zu prüfen und so nach und nach die nötigen Tatsachen oder Wahrheiten zu ermitteln, die der Mensch wissen und für sich als verbindlich erachten muß, wenn er möglichst lange und gesund leben will. In gleicher Weise kommt jeder wahre und vernünftige Kulturfortschritt zustande, aber nur deshalb, weil es in der Menschheit einen unausrottbaren Antrieb gibt, das zur Erhaltung und Förderung des Lebens als unbedingt richtig und zweckmäßig d. h. als wahr Erkannte, ebenso wie das un­ mittelbar Gewisse d. h. unbedingt Wahre und Richtige, tat­ sächlich auch als solches im Leben zu vertreten und immer mehr zur Geltung zu bringen. Wohl kann der einzelne sich Ziele setzen, die seine Vernunft ihm als vernünftig, die sein Gewissen ihm als richtig bezeichnet, ohne daß es wahrhaft vernünftige, unbe­ dingt richtige und wahre Lebensziele sind, die von jedermann gebilligt werden können und müssen. Aber die wirkliche, im vollen Einklang mit dem Gewissen der Menschheit sich entwickelnde Ver­ nunft triumphiert immer wieder über alle Aftervernunft, die auf die Dauer stets zuschanden wird, auch wenn sie noch so lange mit gleißnerischer Macht sich zu behaupten weiß. Denn wo das Unwahre als richtig, das Wahre aber als unrichtig hingestellt wird, da wird notwendig das ganze Leben verfehlt, wenn es auf eine solche Verkehrtheit sich allen Ernstes glaubt unerschütterlich grün­

den zu können. Nein, nur auf Wahrheit kann das Menschenleben gegründet werden, wenn es als Freiheit empfunden werden soll. Nach Wahrheit und Freiheit aber sehnt sich die Menschheit, wie sie sich nach Licht und Luft sehnt, weil die Lebensnotdurft es unbedingt erfordert. Es ist ebensowenig möglich, das menschliche Zusam­ menleben auf Lüge statt auf Wahrheit zu gründen, wie der Ge­ schmackssinn des gesunden Menschen imstande ist, sauer als süß zu empfinden, oder sein Auge, rot als weiß zu sehen und die Ein­ drücke von Hell und Dunkel in entgegengesetztem Sinne wahrzu­ nehmen. Daher ist es ein unumstößliches, aus der Natur des Menschen sich ergebendes Gesetz, das den Menschen vom Gewissen zum Bewußtsein gebracht wird, wenn es ihnen die Wahrheit als

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richtig hinstellt und zur Pflicht macht, die Lüge aber für unrichtig erklärt und als unerlaubt brandmarkt. Es ist das Grundgesetz des menschlichen Gemeinschaftslebens, das natürliche Sit­ tengesetz, aus dem auch alle anderen Pflichten der Menschen sich folgerichtig ergeben. Und selbst wer so gewissenlos ist, daß er das Unsittliche, das Vernunftwidrige, das Verächtliche der Lüge nicht mehr empfindet, der empfindet doch mindestens den Druck und Zwang, den sie auf den Menschen ausübt, indem sie ihn stets in der Furcht vor Entlarvung erhält und in immer neue Lügen verstrickt. Während der wahrhaftige Mensch sich völlig frei und ungebunden fühlt, wenn er ohne Umschweife dem Ge­ wissen folgt und schlechthin die Wahrheit sagt, so wie sie ihm ohne weiteres als feststehend bewußt ist oder sich dem reinen Erkenntnistrieb aus folgerichtigen Schlüssen einfach und unge­ künstelt ergibt. Unfrei und unfroh aber ist feder, der sich nicht streng an die Wahrheit bindet, selbst wenn er sein Gewissen so zu beschwich­ tigen weiß, daß es ihm sogar unzweifelhafte Lügen als Notlügen durchgehen läßt und sie mit der Rücksicht auf gesellschaftliche Sitten und Gebräuche oder auf eigenes und fremdes Wohlergehen zu entschuldigen weiß. Auf solche Weise artet dann das ganze ge­ sellschaftliche Leben und Treiben e,irrer Zeit in Verlogenheit aus, bloß weil jeder Furcht hat, Anstoß zu erregen, wenn er freimütig seine Meinung äußert. Und statt daß der gesellige Verkehr Aus­ spannung und Anregung gewährt und neue Kraft zur Arbeit gibt, wird er lediglich zu einem gesellschaftlichen Zwang und zu einer Last, die alle bedrückt. Die Furcht ist überhaupt die eigentliche Wurzel der Lüge und liegt ihr stets auch da mit zugrunde, wo lediglich die Gier nach Macht, Besitz und Sinnenlust ihre Trieb­ feder zu sein scheint. Denn auch diese Gier ist im letzten Grunde nur Angst vor der Heftigkeit des eigenen Triebes und vor den Qualen, die er bereitet, wenn er nicht gestillt wird. Mit Recht kann daher alle Tugend auf Tapferkeit zurückgeführt werden, auf Tapferkeit nicht nur einer feindlichen Umwelt gegenüber, sondern auch gegenüber dem Feind in der eigenen Brust, der die Erkenntnis trübt und das natürliche Streben nach Lust ins Maß­ lose und Rücksichtslose, ins Böse verkehrt. Während das Laster zugleich trotz des Mutes, den es oft zu haben glaubt, doch nur

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Feigheit ist, die sich nicht nur selbst belügt, sondern auch anderen gegenüber stets von der Wahrheit abweichen muß, wenn es ihr gelingen soll, sich zu behaupten und eine Eroberung zu machen. Feigheit ist es auch, wenn man aus Unwissenheit oder sogar wider besseres Wissen den Behauptungen und Äußerungen an­ derer zustimmt, weil man sich keine Blöße geben will, weil man nicht für dumm, für unerfahren, für ungebildet, für einseitig, kurz für geringer gehalten werden möchte, als man zu sein glaubt oder es andere glauben machen will. Und solche Feigheit trägt min­ destens ebensoviel zur Verbreitung der Unwahrheit und zur Unterdrückung der Wahrheit bei wie die bewußte Lüge. Denn wer bei einer Lüge auch nur auf einer einzigen Seite Zusümmung findet, hat schon halb gewonnenes Spiel. Und wer bei einer Halben- oder Viertelswahrheit oder sogar bei einer völligen Un­ wahrheit, die er aber selbst für durchaus richtig hält, nicht auf Widerspruch stößt, wird in seinem eigenen Irrtum bestärkt, so daß er nun um so eifriger für ihn eintritt. Auf solche Weise setzt sich ein Irrtum immer mehr durch und gilt schließlich als Wahrheit. Als eine Wahrheit, die jahrhundertelang unbestritten bleiben kann, bis sich endlich ein Mutiger findet, .der sie furchtlos als unrichtig und unwahr entlarvt. Viel größer ist noch die Furcht, seine Unkenntnis einzuge­ stehen, wenn es sich um das Berufsleben handelt, wo ein solches Eingeständnis vielleicht wirklich zunächst einen Nachteil oder eine Unannehmlichkeit zur Folge haben könnte, während es auf die Dauer notwendig befreiend wirkt. Das Jämmerlichste aber ist ein unfähiger Streber, der stets den Mantel nach dem Winde hängt und dabei doch immer in der Furcht lebt, sich bloßzustellen oder gar von seinem Posten verdrängt zu werden. Nicht minder ver­ ächtlich aber sind alle, die einem solchen Streber aus Furcht, sich in ihrem eigenen Fortkommen zu schädigen oder gar in der Ab­ sicht, selbst durch ihn gefördert zu werden, schmeicheln und gegen ihre Überzeugung recht geben. Auch sie können sich niemals zu­ frieden fühlen und auch nichts Ersprießliches wirken, selbst wenn sie noch so tüchtig sind, während auch bei durchschnittlicher Be­ gabung und selbst geringer Tüchtigkeit jeder an seinem Platze Gutes schafft, sofern er nur der Wahrheit die Ehre gibt und ohne Ansehen der Person lediglich der Sache zu dienen sucht.

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Ist es nötig, noch weiterhin ittt einzelnen nachzuweisen, wie leicht die Menschen aus Furcht, sich zu schaden, von der Wahrheit abweichen, dadurch aber erst recht sich und andere wirklich schädigen

oder sogar unglücklich machen? Was soll man sagen von der Verstellung, Heuchelei und Lüge, die geübt wird aus Furcht, sich eine Heirat zu verscherzen, zu der nicht echte, wahre, unbeirrbare Liebe drängt, sondern lediglich die Sucht nach äußeren Vorteilen oder ein bloß triebhaftes Verlangen ohne das seelische Bedürfnis nach Ergänzung und Vervollkommnung der eigentlichen Persön­ lichkeit? Da überbietet die Unwahrhafügkeit sich selber in der Ausklügelung immer neuer Listen. Da bezähmt der schlimmste Jähzorn, der heftigste Trotz für eine Weile sich selbst mit fast übermenschlicher Kraft, durch den Hinweis auf das lockende Ziel. Da werden Krankheiten verheimlicht, die das Leben der zukünf­ tigen Gattin gefährden können oder wenigstens ihre Hoffnung auf Mutterglück notwendig vereiteln müssen. Und wenn nicht Krankheiten, so wenigstens körperliche Mängel und Übel, die bei einer so engen Lebensgemeinschaft, wie eine Ehe sie bedeutet, unbedingt abstoßend wirken. Aber statt die ganze lange Lebenszeit zu bedenken, die auf den Abschluß der Ehe folgt, geht alles Sinnen und Trachten nur dahin, in der kurzen Spanne Zeit bis zu ihrem Abschluß alles Abstoßende zu verheimlichen und nach Möglichkeit zu verschleiern. Während die echte Liebe freimütig auf alle ihre vermeintlichen Mängel hinweist, ihre ganze Vergangenheit rück­ haltlos darlegt und ihre ganze Seele dem Geliebten zu entschleiern sucht. Weil sie zugleich wahre Vernunft ist und aus unmittel­ barer Erkenntnis mit untrüglicher Sicherheit den vollen Sinn der Ehe erfaßt. Was soll man ferner sagen von der Heuchelei und Verlogenheit im politischen Leben, sei es im Parteigetriebe innerhalb der ein­ zelnen Staaten und Völker, sei es in den zwischenstaatlichen Be­ ziehungen von Volk zu Volk und in der gesamten Weltpolitik? Wie betäubt die Furcht, daß die nackte Wahrheit der Partei schaden könne, das Gewissen, daß es nicht nur sofort mit einer Notlüge zur Hand ist, sondern daß die Unwahrhaftigkeit geradezu als ein sittliches Gebot betrachtet wird, das durch die Rücksicht auf den dadurch erstrebten Zweck völlig gerechtfertigt sei! Aber muß nicht jeder, der sich einer Partei um des Gemeinwohles

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willen und nicht aus selbstsüchtigen Beweggründen angeschlossen hat, ihr kurz entschlossen den Rücken kehren, wenn er einsieht, daß sie nicht für die Wahrheit kämpft, sondern mit der Waffe der Lüge bloß für ihre eigenen Machtgelüste? Die Parteiführer aber, die gegen die Pflicht der Wahrhaftigkeit verstoßen und sich vielleicht einreden, daß die Sache der Partei und das Wohl des ganzen Volkes sowie die Notwendigkeit, an die geschichtlich über­ lieferte Lage anzuknüpfen, solches unbediügt erfordern, handeln sie nicht im letzten Grunde doch bloß aus Furcht, sich persönlich zu benachteiligen und vielleicht den Einfluß oder auch nur die Einnahmen zu verlieren, die ihnen die Partei verschafft? Was auf Wahrheit gegründet ist und der Wahrheit dienen soll, braucht sich niemals der Lüge als eines Mittels zur Erreichung seiner Ziele zu bedienen. Und nur die Wahrheit allein kann eine an sich gute Sache retten, wenn sie zeitweilig infolge Unwahrhaftigkeit und Unfähigkeit einzelner Führer gefährdet erscheint, während sie zweifellos völlig in den Sumpf geraten würde, wenn man versuchen wollte, durch falsche Vorspiegelung und durch Ver­ tuschung die Gefahr abzuwenden. Am allerwenigsten aber ist ein Vertuschen angebracht, wenn es sich um den religiösen Glauben oder um die Weltanschauung handelt und neue wissenschaftliche Einsichten gewonnen sind, die der als feststehend geltenden, überlieferten Wahrheit entweder gänzlich zu widersprechen scheinen oder sich nicht völlig mit ihr in Einklang bringen lassen. Da regt sich bei 'den Führern einer religiösen Gemeinschaft oder bei den Vertretern einer bestimmten Weltanschauung nur allzu leicht die Furcht, alles könne ins Wanken geraten und im Zusammenbruch entsetzliches Unheil anrichten, wenn die neue Einsicht ins „Volk" dringe. Und diese Furcht kann die Seele derart lähmen, daß selbst klare und scharfsinnige Köpfe sich gegen unzweifelhaft sichere Ergebnisse der Wissenschaft zu­ nächst sträuben und die Mahnungen ihres Gewissens vollständig überhören, weil sie von der Stimme ihres religiösen Bewußtseins mit ungeheurer Heftigkeit immer wieder übertönt werden. Je energischer einer anfänglich an einem falschen religiösen Bewußtsein festgehalten hat, das sich durch die Zugehörigkeit zu einer Gemeinschaft, in die er hineingeboren oder von frühester Jugend an hineingezwungen wurde, in ihm gebildet hatte, je

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mehr Mühe und Kampf es ihn gekostet hat, sich von diesem Be­ wußtsein frei zu machen und lediglich auf die eigene Einsicht zu stützen, desto leichter erliegt er dann später der Gefahr, in Sachen der Weltanschauung, der Sitte, des Rechts das, was seine Ver­ nunft ihm sagt, als vernünftig schlechthin anzusehen und mit derselben Energie zu vertreten, mit der er früher seine falschen religiösen Ansichten als vermeintliche Stimme des Gewissens glaubte vertreten zu müssen. So erklärt sich die fanatische Un­ duldsamkeit und Unbelehrbarkeit, mit der Menschen, die weder eine gründliche wissenschaftliche noch eine richtige religiöse Aus­ bildung, empfangen haben, alles Religiöse als Hirngespinst be­ trachten und zugleich auch aller Wissenschaft zum Trotz mit ihrer eigenen völlig unzulänglichen Einsicht, die ihnen als neue und endgültig richtige Stimme des Gewissens und der Vernunft erscheint, das ganze Leben zu meistern suchen. Um so wichtiger ist es, von frühester Jugend an die reinste, lauterste Wahrheit in die Seele zu gießen, damit das Gewissen von vornherein unbedingt richtig sich gestalte und für die Vernunft das ganze Leben hindurch die untrügliche Leuchte bilde, um damit selbständig alle einzelnen Gebiete des Wissens nach allen Richtungen hin zu erforschen und zu ergründen. Wie muß aber das Gewissen be­ schaffen sein, um diese Aufgabe erfüllen zu können? Welche Weltanschauung kann den Anspruch erheben, die richtige zu sein, die jeder Mensch unbedingt in seinem Gewissen zu vertreten habe, wenn er der Wahrheit treu bleiben wolle? Man muß von der Schale der Religion bis zu ihrem eigentlichen Kern, vom Buchstaben der christlichen Überlieferung bis zum Geist des Christentums vordringen, um diese Frage beantworten zu können. Das Christentum, nicht des Buchstabens, sondern des Geistes ist die Wahrheit, der sich die Menschheit, je mehr sie nach Freiheit lechzt, um so weniger zu entziehen vermag. Die in die Tat umgesetzt werden muß, wenn alle Menschen frei werden sollen, wenn sie frei sein wollen ihr ganzes Leben lang bis zum

letzten Atemzug.

Christentum des Geistes.

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Christentum des Geistes. „Der Buchstabe tötet, der Geist aber macht lebendig." Das ist der Grundgedanke des Christentums, wie ihn bereits der Apostel Paulus kurz und bündig ausgesprochen hat. Welches aber ist der Geist, der Inbegriff des Christentums, der wahrhaft lebendig

macht und alle Kräfte der Menschen zu ihrem eigenen Besten und zum allgemeinen Wohl aufs stärkste entfaltet? Das ist die Frage, über die sich jeder klar sein muß, der ein echter Christ sein will und nicht ein Buchstabengläubiger, der vom Geist des Christentums kaum einen Hauch zu spüren bekommt. In der Bergpredigt vergleicht Jesus von Nazareth die Men­ schen mit den Vögeln unter dem Himmel und fragt: „Seid ihr denn nicht viel mehr als sie?" (Matth. Kap. 6 V. 26). Vom streng naturwissenschaftlichen Standpunkt aus scheint es zunächst, als ob der Mensch genau so wie das Tier im Leben dastehe und sich keines­ wegs höher als dieses einschätzen dürfe, wenn er nicht sein ganzes Dasein von vornherein auf falsche Voraussetzungen gründen wolle. Rein als Lebewesen betrachtet ist der Mensch zweifellos den Naturereignissen in demselben Umfang ausgesetzt wie das Tier. Der ganze Verlauf seines Lebens von der Geburt, ja von der Zeugung an bis zum Tode vollzieht sich auch bei ihm genau so wie bei den Säugetieren. Die Naturwissenschaft ist daher voll­ kommen berechtigt, alles Leben von einem einheitlichen Gesichts­ punkt aus zu betrachten und dabei den Menschen an sich mit den Tieren zunächst durchaus auf gleiche Stufe zu stellen. Trotzdem aber ist die Natur des Menschen unleugbar anders als die Natur der Tiere. Denn im Gegensatz zu den Tieren, die vollständig dem Naturzwang unterliegen, unterscheidet der ver­ nünftige Mensch an sich'selbst eine tierische und eine höhere Natur, die ihn befähigt, nicht nur seine eigene tierische Natur zu zügeln, sondern auch das ganze Tierreich zu beherrschen. Der Mensch ist also, wenn der Begriff der Natur auf die ganze Wirklichkeit ausgedehnt wird, von Natur sowohl tierische Natur wie be­ wußter, vernünftiger Geist. Und eine richtige Weltanschauung muß selbstverständlich imstande sein, aus ihrer Auffassung der

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Wirklichkeit auch das gesamte Seelenleben, auch die geistigen Bedürfnisse und Fähigkeiten des Menschen ohne den geringsten Fehlschluß abzuleiten und zu erklären. Die Naturwissenschaft sucht aber alles Geschehen so zu er­ klären, daß sie die belebte Natur auf die unbelebte zurückführt und mit dieser gemeinsam in physikalische und chemische Vor­ gänge zerlegt, die auf Grund feststehender Bedingungen mit Notwendigkeit sich vollziehen. Auch das Menschenleben besteht für sie lediglich in solchen Vorgängen, die seine natürlichen Be­ dingungen bilden und notwendig den Tod eines Menschen zur Folge haben müssen, wenn sie zufällig oder absichtlich gewaltsam unterbrochen werden. Aber selbst wenn die ganze Wirklichkeit in solcher Weise von der Naturwissenschaft erforscht und erklärt würde, bliebe immer noch die Frage offen, was denn eigentlich das Wirkende ist, das allem Geschehen in der Welt zugrunde liegt. Mit dem Begriff der Kraft ist darüber nichts gesagt. Denn dieser Begriff hat in der Naturwissenschaft, soweit er überhaupt noch in ihr benutzt wird, lediglich den Sinn einer rein zahlen­ mäßigen Größe, mit deren Hilfe die Vorgänge zueinander in Beziehung gesetzt und gegenseitig gemessen werden, aber keines­ wegs die Bedeutung einer Ursache, die das Naturgeschehen seinem Wesen nach tatsächlich zustande brächte. Wird aber an die Stelle der Kraftlehre die reine Bewegungslehre gesetzt, so daß die -Wirklichkeit für die Naturwissenschaft lediglich aus unsichtbaren inneren und sichtbaren äußeren Bewegungen besteht, die sich gegenseitig ineinander verwandeln, wobei scheinbar Kräfte auftreten, die aber nichts anderes sind als die unsichtbaren Be­ wegungen selbst, dann bleibt erst recht die Frage offen, wie denn die Bewegungen überhaupt im letzten Grunde zustande kommen. Denn unzweifelhaft setzt doch alles Geschehen, alles Entstehen und Vergehen von Weltkörpern, alle Veränderung im Größten und im Kleinsten, die im Weltall unablässig vor sich geht, not­ wendig etwas tatsächlich Vorhandenes, ein wahrhaft Wirk­ liches und Seiendes voraus, ohne das eine Veränderung über­ haupt nicht gedacht und vorgestellt werden kann. Und dieses wahrhaft Wirkliche und Seiende, auf dem nicht bloß die außer­ menschliche, sondern auch die menschliche Natur beruht, muß not­ wendig so beschaffen sein, daß auch der menschliche Geist sein

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eigenes Wesen vollständig darauf zurückzuführen vermag. So führt das Denken über den Begriff des Naturgeschehens im natur­ wissenschaftlichen Sinne hinaus zu einem umfassenderen Begriff, für den nur die Religion eine Bezeichnung hat, indem sie ihn Gott nennt. Und eine völlig befriedigende und der ganzen Wirklichkeit Rechnung tragende und gerecht werdende Welt­ anschauung ergibt sich nur dadurch, daß die Wirklichkeit durch die Begriffe Gott und die Natur wiedergegeben wird derart, daß beide als Wirkendes und Gewirktes unablässig zueinander in Beziehung gesetzt werden. Wobei freilich das Wort Gott ebenso wie das Wort Kraft zunächst nur ein leerer Begriff ist, für den erst aus der Fülle des Lebens und Erlebens heraus In­ halt und Umfang gewonnen werden müssen. Wie wirkt denn die Gottheit in der belebten Natur? Jesus sagt von den Vögeln: „Sie säen nicht, sie ernten nicht, sie sammeln nicht in die Scheunen und euer himmlischer Vater ernähret sie doch." (Matth. Kap. 6 V. 26.) Zweifellos ist das Naturgeschehen, auch streng wissenschaftlich betrachtet, derartig, daß die Vögel als Gattung unbedingt ihre Nahrung finden. Das einzelne Tier aber hat seinen Instinkt und seine Flügel als Mittel zur Erhaltung des Lebens, zum Kampf ums Dasein. Denn ein solcher Kampf ist offenbar im Bereich des Natur­ zwanges ein feststehendes Gesetz. Die schnelleren, flinkeren, hastigeren Tiere finden eher ihre Nahrung und ihr Fortkommen als die schwächeren. Jede Tierart, jede Tiergattung aber hat ihre eigenen Waffen, deren Erforschung, deren Kenntnis dem Menschen Lebensnotwendigkeit ist und für ihn zugleich Befriedigung seines Dranges nach Erweiterung des Bewußtseins bedeutet. Die Waffe des Menschen jedoch im Kampf ums Dasein ist seine Vernunft, durch die er allen Tieren überlegen ist. Er hat daher unbedingt das Recht, sich für viel mehr als ein Tier zu halten und, indem er die Natur auf Gott zurückführt, von einer be­ sonderen Fürsorge Gottes zunächst wenigstens für die menschliche Gattung zu sprechen.*) Der Mensch kann säen, kann ernten, kann in die Scheunen sammeln und so durch vernünftiges Wirt­ schaften seinen Lebensunterhalt dauernd sicherstellen. Und es gilt Unzähligen als ausgemacht, daß die Menschen, sofern nur *) Vgl. Kap. 4 S. 44 f.

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innerhalb der Menschheit auf eine gerechte Verteilung der wirt­ schaftlichen Güter hingewirkt werde, sich keineswegs darum zu sorgen brauchen, was sie essen, was sie trinken, wie sie sich kleiden, kurz, wie sie die dringenden leiblichen Bedürfnisse befriedigen sollen. Ausgleichende Gerechtigkeit wird daher als die Haupt­ sache bezeichnet, auf die es im Leben ankomme. Vor allem im Sinne Jesu von Nazareth und seiner Mahnung: „Trachtet zuerst nach dem Reich Gottes und seiner Gerechtigkeit, so wird euch solches alles zufallen." (Matth. Kap. 6 V. 33.) Jesus schiebt in der Tat alles das, was den Menschen infolge ihrer körperlichen Bedürfnisse als das Wichtigste erscheint, näm­ lich die Sorge für die Notdurft des Lebens, völlig in den Hinter­ grund. Der Gedanke an ein Reich Gottes soll nach Jesu Willen bei den Menschen im Vordergrund aller ihrer Bestrebungen stehen. Wenn es wahr ist, was Jesus von Nazareth gesagt hat, muß dann nicht den Menschen, die tatsächlich in erster Linie ihr ganzes Sinnen und Trachten auf die Gottheit richten, gewissermaßen als Entgelt für ihre Verehrung Gottes von diesem alles das, was sie für ihre leiblichen Bedürfnisse brauchen, in irgendeiner Form sozusagen in den Schoß geworfen werden? Hat jemand, der Jesu Worten Glauben schenkt, nicht das Recht, zu erwarten, daß ihm, wenn er sich in einer wirtschaftlichen Notlage befindet und, statt alle seine Gedanken nur auf die Behebung dieser Not­ lage zu richten, lediglich an Gott denkt und zu Gott um Hilfe fleht, daß Gott ihm daun auch tatsächlich helfen werde und seine Not lindere oder vielleicht sogar mit einem Schlage völlig be­ seitige? Sind das die Frommen, die Gott Wohlgefälligen, die Jesu Worte so auffassen, daß sie beten, statt zu handeln, und Gott lobpreisen, statt zu arbeiten? Oder muß Jesus von Naza­ reth ganz anders verstanden werden, so daß wirtschaftliche Tätig­ keit und Tüchtigkeit nicht etwa als unvereinbar mit echter Frömmig­ keit erscheinen, sondern daß im Gegenteil das ganze Gebiet der Wirtschaft, ebenso wie sämtliche Gebiete menschlicher Bedürfnis­ befriedigung durchaus als ein Gott wohlgefälliges Werk betrachtet werden können, sofern sie nur vollständig vom Geist wahrer Ge­ rechtigkeit erfüllt und durchdrungen sind? Was kann die Berg­ predigt meinen, wenn sie von der Sorge für den Leib und das Leben abrät und die Mahnung ausspricht, zuerst nach dem Reich

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Gottes und seiner Gerechtigkeit zu trachten? Wie ist diese Mah­ nung mit der Natur des Menschen, wie ist sie vor allem mit der Wissenschaft der Wirtschaft vereinbar, die geradezu als ein offener Hohn auf die Bergpredigt erfcheinen könnte und doch von jedem vernünftigen Menschen als unentbehrlich für ein ge­ sittetes Gemeinschaftsleben anerkannt werden muß? Das ist die Kernfrage, die entscheidende Frage, mit der das Christentum steht und fällt. Sind die wirtschaftlichen Bestrebungen der Men­ schen nach christlicher Lebensauffassung als minderwertig anzu­ sehen, dann ist das Christentum mit einer hochentwickelten Mensch­ heitskultur ein für allemal unvereinbar. Da hilft kein Vertuschen, kein Vermitteln. Die Wahrheit gilt's. Wer sich als Jünger der Wirtschaftswissenschaft selbst belügen müßte, um sich dabei auch als wirklichen Christen zu fühlen, der müßte zunächst erst einmal sein ganzes Christentum über Bord werfen, um dann das wahre Christentum kennen und von Herzen lieben zu lernen. Denn wenn es wahr wäre, was viele glauben, daß die wirt­ schaftliche Kultur innerhalb der christlichen Völker sich tatsächlich nur im Gegensatz zum eigentlichen Christentum so glänzend entwickelt hätte, wäre das nicht der beste Beweis dafür, daß ein Jesus von Nazareth es nicht als seine Aufgabe zu betrachten brauchte, die Menschen zur Sorge für ihre leiblichen Bedürfnisse anzuhalten? Wenn die Wirtschaftsformen ferner, wie unzählige meinen, tatsächlich einen solchen Einfluß in der Menschheit aus­ üben, daß sich mit ihnen sogar die Religionsformen ändern, er­ scheint es dann nicht doppelt notwendig, die Gedanken der Men­ schen von der Sorgfalt für die Pflege ihres Leibes, die ihnen ja von selbst schon gerade genug am Herzen liegt, abzulenken und auf ihre seelischen Bedürfnisse zu richten, wie es das Christentum in erster Linie für seine Pflicht erachtet? Der Mensch braucht doch unzweifelhaft zur Befriedigung der allgemeinen Lebens­ notdurft, die er mit den Tieren gemeinsam hat, ebensowenig wie das Tier besonders angehalten zu werden. Dafür sorgen schon zur Genüge seine eigentlichen Naturtriebe, die ihn durch die Empfindungen von Hunger und Durst, von Kälte und Hitze zur Beschaffung von Nahrung und Kleidung drängen. In dieser Beziehung ist es wahrhaftig genug, daß, wie Jesus sagt, ein jeglicher Tag seine eigene Plage habe. (Matth. Kap. 6 V. 34).

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Und als Plage empfindet auch tatsächlich jeder Mann, der die Pflege der Seele und des Geistes als seinen eigentlichen Lebens­ zweck erachtet, durchweg die Notwendigkeit, für die leiblichen Bedürfnisse zu sorgen, die er überhaupt nur insoweit befriedigt, als es die Gesundheit, der Anstand und die Rücksicht auf Aus­ spannung und Erholung von geistiger Anstrengung erfordern. Während es auf ihn abstoßend, lächerlich und mitleiderregend wirkt, wenn er sieht, wie Menschen ihr ganzes Sinnen und Trachten lediglich auf Essen und Trinken, Kleidung und Woh­ nung, Putz und Tand und tausenderlei nichtige Dinge richten oder wie sie, um mit Jesu Worten zu reden, „übertünchten Gräbern gleichen, die auswendig hübsch scheinen, inwendig aber voll sind von Totengebeinen und jeglicher Unreinigkeit". (Matth. Kap. 23 V. 27.) Es ist unzweifelhaft lediglich die Knechtschaft des Leibes, die Jesus von Nazareth beseitigen will, aber nicht die gebotene Rücksicht auf die leiblichen Bedürfnisse, die ein vernünftiger Mensch niemals außer acht läßt, um wahrhaft gesund zu bleiben an Leib und Seele. Lesen wir nicht auch in den Evangelien, daß Jesus für die leibliche Notdurft des Volkes, das bei ihm mehrere Tage ausgehalten hatte, persönlich Sorge trägt, damit es nicht verschmachte auf dem Wege? (Matth. Kap. 15 V. 32.) Im übrigen war der Begriff der Wirtschaftswissenschaft und Wirtschaftspolitik zur Zeit um Christi Geburt noch keinem Menschen zum Bewußtsein gekommen, so daß Jesus, der in allem von dem Gesichtskreis und dem Stand des Erfahrungswissens seiner Zeitgenossen ausging, hierzu gar keine Stellung nehmen konnte. Daß er jedoch die wirtschaftliche Vorsorge, wie sie den wirtschaft­ lichen Verhältnissen seines Volkes entsprach, nicht verwirft, geht deutlich daraus hervor, daß er Säen, Ernten und in die Scheuern Sammeln als eine selbstverständliche Aufgabe der Menschen im Gegensatz zu den Vögeln unter dem Himmel, die nicht säen und ernten, betrachtet. Wie er ja auch einen Gegensatz aufstellt zwischen den Menschen, die arbeiten und spinnen, und den Lilien auf dem Felde, die ohne weiteres wachsen. Nur die eigentliche Sorge, die Angst um die Notdurft des Leibes, die sucht Jesus den Menschen zu nehmen. Das Wirtschaften als solches stellt er ihnen keineswegs als minderwerüg hin, sondern setzt es einfach

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als selbstverständlich voraus, weil der Mensch sonst nicht menschen­ würdig leben kann. Selbst wer daher keine andere Sorge kennt, als für die Befriedigung der leiblichen Bedürfnisse seiner Mitmenschen zu sorgen, selbst wer die Wirtschaftswissenschaft und Wirtschaftspolitik zu seinem Lebensberuf macht, stellt sich damit nach christ­ licher, echt christlicher Auffassung keineswegs in einen Gegensatz zu denen, die nach dem Reich Gottes trachten, sondern völlig in die gleiche Reihe mit ihnen, wenn er gewissenhaft seine Berufs­ pflichten erfüllt und nach Kräften darauf hinwirkt, daß die wirt­ schaftlichen Güter auch in gerechter Weise allen zugänglich ge­ macht werden. Freilich, wie das zu bewirken sei, das ist die un­ geheuere Schwierigkeit, über die sich Unzählige den Kopf zer­ brechen. Hier kann der einzelne ost nicht einmal die unmittel­ baren Wirkungen seiner Berufstätigkeit, seines Tun und Lassens überblicken, geschweige denn die mittelbaren Folgen mit allen ihren Begleiterscheinungen und Nachwirkungen. Und wenn über­ haupt ernstlich die Frage aufgeworfen wird, wie das Ideal der Gerechtigkeit im Leben zu verwirklichen sei, dann steht die mensch­ liche Vernunft ratlos da und muß sich schließlich nach Hilfe um­ sehen, um nicht zu verzweifeln. Diese Hilfe aber bietet das Christentum durch das Vorbild des Gottmenschen, das es allen Menschen zur Nachahmung vor Augen stellt. Denn im Gott­ menschen ist die menschliche Natur durch die göttliche derartig verklärt und emporgerichtet, daß die Menschen, wenn sie sich bemühen, einem solchen Vorbild immer ähnlicher zu werden, von selbst notwendig immer mehr zum Siege der Gerechtigkeit beitragen, weil es ihnen immer weniger möglich wird, Miß­ bräuche wirtschaftlicher Güter und sonstige Ungerechtigkeiten auch nur zu dulden, geschweige denn zu verüben oder zu verursachen. Das ist der Leitgedanke des Christentums, der auch unabhängig von der Persönlichkeit Jesu für die wirtschaftliche und allgemeine Freiheit der Menschen unentbehrlich wäre. Aber das Christen­ tum kann von Christus nicht losgelöst werden, weil es innerlich und äußerlich auf ihm beruht und ohne ihn notwendig in sich selbst zerfallen müßte. Nur als Gottmensch, als Christus, hat Jesus von Nazareth die ungeheure Wirkung in der Geschichte ausgeübt, die selbst der größte Gegner des Christentums nicht Schwellenbach, Erneuerung

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in Abrede stellen kann. Das ist Wahrheit, ebenso wie es richtig und wahr ist, wenn das Christentum an Christus festhält und durch den Gottmenschen die Menschheit zum Gottesreich führen will, zu einer Gerechtigkeit, wie alle Vernunftwesen sie not­ wendig ersehnen. Die Vernunft ist allerdings ebensowenig imstande, sich in das Selbstbewußtsein eines Gottmenschen hineinzudenken, wie sie überhaupt das Bewußtsein der Gottheit sich vorzustellen ver­ mag, die ihr zunächst nur als das unbedingt Wirkliche und Wahre gegenüber dem unablässigen Fluß des Geschehens in der sinnfälligen, durchgängig bedingten Wirklichkeit denknotwendig zum Bewußtsein kommt. Aber wenn sie sich die Gottheit, also die unbedingte Wahrheit, zugleich in einer irdischen Persönlichkeit verkörpert vorstellt, dann ist es klar, daß das, was diese Persön­ lichkeit als unbedingt wahr und richtig für die Menschen hinstellt, notwendig auch als unbedingt verpflichtend von ihnen anerkannt werden muß, und nicht von jedem einzelnen seinen eigenen und eigensüchtigen Zwecken oder seiner Vernunft

gemäß abgeschwächt und umgedeutet werden darf. Und gerade in dieser unbedingten Gültigkeit der grundsätzlichen christlichen Lebenswahrheiten besteht die Bedeutung des Christus glaubens. Wer daher dem Christentum den Gottmenschen nimmt, der trifft es bis ins Mark und versetzt ihm den Todesstoß. Denn der Gott­ mensch ist nicht Buchstabe, sondern Geist des Christentums, mit dem es steht und fällt. Diesen Geist aber muß jeder Mensch verspüren, wenn ihm das Christentum nicht bloßer Buchstabe sein soll, der tötet. Wer sich selbst belügen müßte, wenn er er­ klären soll, er glaube an die Gottheit Jesu, der würde zweifellos christlicher handeln, wenn er ehrlich erklärt, daß und weshalb er nicht daran glaube, als wenn er heuchelt. Denn dann wird er frei für die Wahrheit und empfänglich für den Geist des Christentums, während er unfrei bleibt, solange er sich an Christus ärgert und mühsam und beladen ein totes Christentum mit sich herumschleppt. Obwohl vom lebendigen Christentum immerzu gilt, was Jesus einst tröstend zu seinem Volk gesprochen hat: „Kommt her zu mir alle, die ihr mühselig und beladen seid, ich will euch erquicken. Denn mein Joch ist sanft und meine Last

ist leicht" (Matth. Kap. 11 V. 28, 30).

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Es ist in der Tat nicht schwer, den Geist des Christentums zu begreifen und zu verspüren, wenn im Begriff des Gottmenschen weder der Gottheit noch der Menschheit der geringste Abbruch getan, sondern an der göttlichen Persönlichkeit, die eine wahrhaft menschliche Natur unzertrennlich mit sich vereinigt hat, unbedingt festgehalten wird. Als wirklicher Mensch kann selbstverständlich der Gottmensch zur Erkenntnis der Sinnenwelt nicht anders als im Wege der menschlichen Vernunftentwicklung durch Verarbei­ tung der Sinneseindrücke und durch Erweiterung des Wissens mit Hilfe der Erfahrung und des folgerichtigen Denkens gelangen. Es heißt ja auch von Jesus ausdrücklich, er habe zugenommen an Alter und Weisheit, wie überhaupt niemand ein wirklicher irdischer Mensch sein kann, der nicht nach der Geburt allmählich erst zur Vernunft kommt, der der Unterweisung bedarf, um das Wissen seiner Zeit in sich aufzunehmen und an dieses Wissen gebunden bleibt, wenn er es nicht selbst in wissenschaftlicher Form erweitert. In dieser Hinsicht muß auch ein Gottmensch ein Kind seiner Zeit sein, sonst ist er kein wirklicher Mensch, sondern höchstens seiner äußeren Erscheinung nach als Mensch anzusehen. Daher ist es auch nicht angängig, sich in rein wissenschaftlichen Fragen auf den Gottmenschen zu beziehen. Nur als Träger und Ver­ künder unbedingter göttlicher Wahrheiten hat der Gott­ mensch für die Menschheit einzigartige Bedeutung. Voraus­ gesetzt, daß die menschliche Vernunft im Lauf ihrer Entwicklung sich tatsächlich imstande sieht, die göttlichen Wahrheiten immer mehr als solche zu erkennen und in ihrer Bedeutung für die Menschheit zu erproben. Wie es im Christentum tatsächlich der Fall ist, indem die göttliche Wahrheit sich im Lauf der Zeit für die Menschen immer mehr als die einzige Möglichkeit erweist, einen wahrhaft befriedigenden Lebensinhalt zu gewinnen und zur Freiheit zu gelangen. Während die Welt sowohl wie das Leben ohne diese höchste Wahrheit für die Menschheit sinnlos bleibt, ja die Menschen sogar in blindem Drang gegen sich selbst wüten und sich zerfleischen, wenn sie dem Gottmenschen untreu werden und den Worten, die er als unbedingte göttliche Wahrheit verkündigt hat. Indem er stets erklärte, daß er nicht gekommen sei, das Gesetz aufzulösen, sondern es zu erfüllen, und die Er­ füllung ausdrücklich in das Gebot zusammenfaßte: „Du sollst 3*

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Gott lieben über alles und deinen Nächsten wie dich selbst. In diesen zwei Geboten hängt das ganze Gesetz und die Propheten." Sicherlich ist jeder Ausspruch Jesu, der von ihm in den Evangelien überliefert wird, von allerhöchstem Wert, auch wenn sein voller Sinn einstweilen vielleicht noch nicht verständlich ge­ worden ist. Aber als die einzige Wahrheit, die unbedingt für alle Menschen verpflichtend sei, hat Jesus doch nur die zehn Gebote und ihre Zusammenfassung im Gebot der Liebe hin­ gestellt. Er erteilt eine Fülle heilsamer Ratschläge und praktischer Winke in den wundervollsten Bildern und Gleichnissen, aber sie sind alle nur Erläuterungen zu den zehn Geboten, deren Kennt­ nis er bei jedem als selbstverständlich voraussetzt. In diesem Sinne ist auch das Christentum innerhalb der Christenheit, einerlei wie diese sich zu Christus selbst gestellt haben mag, stets aufgefaßt worden. Christ sein heißt die zehn Gebote als Sittengesetz an­ erkennen und als ihren Inbegriff den Satz: „Du sollst Gott lieben über alles und deinen Nächsten wie dich selbst." Darin sind alle Christen aller Richtungen und religiösen Strömungen auch jetzt noch vollständig einig. Aber auch da, wo der Gottesbegriff und der Begriff des Gottmenschen entschieden abgelehnt, aber doch nach einer wahr­ haft menschenwürdigen Sittlichkeit gestrebt wird, auch da werden die Verbote des Mordes, des Ehebruchs, des Diebstahls, der Lüge und der Verunehrung von Vater und Mutter als unent­ behrlich für ein vernünftiges Gemeinschaftsleben anerkannt, wie ja auch das Gebot der Nächstenliebe weit über den Kreis der Christenheit hinaus als die goldene Sittenregel gilt, an die jeder Mensch sich gebunden erachten müsse. Aber gerade dadurch, daß das Gebot der Nächstenliebe vom Gebot der Gottesliebe los­ gelöst wird, entsteht jene falsche Auffassung der Sittlichkeit, die als Freiheit, Gleichheit, Brüderlichkeit die Köpfe verwirrt und die Kulturentwicklung notwendig in falsche Bahnen lenken muß. Die Menschen sind von Natur nicht gleich und können auch bei gleichem sittlichen Streben ihre natürlichen Ungleichheiten an körperlichen und geistigen Anlagen, Bedürfnissen und Fähigkeiten nicht beseitigen. Wenn aber jeder Mensch jedem andern nur das gönnt, was er selbst hat oder für sich erstrebt und für sich als ausreichend erachtet, wenn vor allen Dingen die Rechts-

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bildung im Sinne der Verwischung aller Ungleichheiten sich vollzieht, dann kommt keine wirkliche Gerechtigkeit, keine christ­ liche Gerechtigkeit in der Menschheit zustande, sondern vielmehr die krasseste Ungerechtigkeit, die notwendig alle Liebe unter den Menschen ersticken muß. Nein, zuerst kommt das Gebot der Gottesliebe, der Liebe zur unbedingten Wahrheit, wie sie sich im echt christlichen Gewissen dem Menschen kundgibt und ihm zum Bewußtsein bringt, worin seine besondere Lebensaufgabe, seine Bestimmung, sein Beruf bestehe, den er als göttliche Berufung aufzufassen und über alles zu lieben habe. Dann erst kommt die Nächstenliebe, die sich immer der Gottesliebe, die zugleich auch wahrhaft sittliche Selbstliebe ist, als zweites, wenn auch gleiches Gebot anzuschließen hat. Wer aber bei dieser Besinnung auf seinen Beruf und bei einem Vergleich mit anderen, an ihnen unzweifelhaft höhere Fähigkeiten und wertvollere Kräfte feststellen muß als an sich selbst, der muß ihnen auch als seinen Nächsten aus Liebe zu Gott das gönnen und zugestehen, was er selbst für sich erstreben und beanspruchen würde, wenn er jene Fähigkeiten und Kräfte besäße. So allein ist der rechte Knlturfortschritt in der Menschheit gewährleistet. Und das christliche Sittengesetz allein ist ein wahres Vernunftgesetz, weil es die Menschen zu einer vernünftigen Lebensgemeinschaft führt, vernünftig, weil keine Kräfte brachliegen, sondern alle sich ihrer Art nach aufs höchste entfalten. Aber wenngleich hiernach das Christentum den wirklichen Fortschritt der Menschheit auf Erden sicherstellt, so erschöpft sich doch der Geist des Christentums nicht im rein irdischen Kultur­ fortschritt, sondern nur im Gedanken eines ewigen Gottes­ reiches, das auch ohne eine Vergewaltigung des Christentums nicht in ein irdisches Paradies oder einen Himmel auf Erden umgedeutet werden darf. Freilich, ein solches Gottesreich sich vorzustellen, dazu ist der Menschengeist nicht imstande. Und gar zu leicht leidet die Vernunft an der Klippe der Ewigkeit Schiff­ bruch, wenn sie die winzige Erde und das Leben auf ihr zum ganzen Weltall in Beziehung setzt und sich dann sagen muß, daß alles Irdische im Vergleich damit nur einen flüchtigen Hauch im Winde bedeute und daher anscheinend auch nicht höher als ein solcher eingeschätzt werden dürfe. Während auf der anderen

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Seile freilich sogar wissenschaftlich gebildete Menschen an die Möglichkeit einer unmittelbaren Verständigung zwischen Lebenden und Verstorbenen glauben und nur in diesem Glauben noch einen festen Halt im Leben zu besitzen wähnen. Wo ist die goldene Mitte zwischen solchen schroffen Gegensätzen, die sich notwendig feindlich gegenüberstehen und aufs heftigste bekämpfen müssen? Was sagt die wahre Vernunft, wenn sie völlig voraussetzungslos die Welt und das Leben betrachtet und von dem, was ihr un­ mittelbar gewiß ist, ausgeht, um daran anknüpfend in strenger Folgerichtigkeit die ganze Wirklichkeit zu durchdenken und bis in ihre letzten Denknotwendigkeiten wahrheitsgetreu sich zum Be­ wußtsein zu bringen? Unmittelbar gewiß ist dem Menschen zunächst nur sein eigenes Ich, sein eigenes Dasein, von dem er auf das Dasein einer Umwelt und einer Welt überhaupt lediglich schließt, und zwar deshalb, weil ihm Sinneseindrücke zum Bewußtsein kommen, denen notwendig etwas außer ihm entsprechen muß. Dabei zweifelt freilich kein vernünftiger Mensch daran, daß die Welt so ist, wie die gesunden Sinne der Menschen sie wahrnehmen. Aber es ist doch auch unbestreitbar, daß die Farben, die das Auge, die Töne, die das Ohr wahrnimmt, an sich lediglich Bewegungen, lediglich Schwingungen sind, die erst im menschlichen Bewußt­ sein zu Farben und Tönen werden und nur als solche für Auge und Ohr wirklich vorhanden sind. Und so wird überhaupt die ganze Wirklichkeit erst durch Vernunftwesen, die imstande sind, ihre Eindrücke in sich aufzunehmen und zu einem Weltbilde zu gestalten, in Wahrheit wirklich. Gäbe es im gesamten Weltall lediglich ein blindes, zufälliges Entstehen und Vergehen zahlloser Weltkörper, aber keine Gottheit und auch auf keinem einzigen Weltkörper selbstbewußte, vernünftige Wesen, gäbe es in der ganzen Welt kein Auge, das sähe, kein Ohr, das hörte, kein Gehirn, das die Eindrücke von Auge und Ohr verarbeitete, dann wäre die Welt für niemand vorhanden, also überhaupt nicht vorhanden. Und ebensowenig wie es dem Menschengeist möglich ist, die gesamte Welt und auch sich selbst vollständig wegzudenken und sich ein völliges Nichts vorzustellen, ebensowenig ist es ihm möglich, ein vollständig unbelebtes Weltall und weiter nichts zu denken, weil eine solche Welt gleich einem Nichts

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Wäre. Erst durch das Leben, erst durch den vernünftigen Geist, der imstande ist, sich von der Welt eine Vorstellung, eine An­ schauung zu machen, bekommt also die Welt für die menschliche Vernunft einen Sinn, indem sie Sinnenwelt und damit wirk­ liche Welt wird. Und wenn tatsächlich im ganzen Weltall nur unsere winzige Erde einzig und allein von Vernunftwesen be­ wohnt wäre, dann wären wir, diese Vernunftwesen, der einzige vernünftige Sinn des Weltalls, den wir uns denken könnten. Für uns allein wäre nicht nur unsere Sonne und unsere Erde, die wir ja notwendig brauchen, um überhaupt zu leben, sondern auch das ganze Weltall da. Wir können ja auch auf keinen Fall unsere Sonne samt ihren Planeten aus dem Zusammenhang mit dem ganzen Weltall losgelöst denken, weil sie zweifellos, schon um im Gleichgewicht zu bleiben, dieses Zusammenhangs notwendig bedürfen. Im übrigen muß es der künftigen Forschung überlassen bleiben, immer tiefer in den Bau der Sinnenwelt einzudringen. Aber wenn wir Menschen wirklich die einzigen Vernunftwesen im Weltall sind, dann muß schon aus diesem Grunde ein ewiges Leben, dem Wortlaut des christlichen Bekennt­ nisses gemäß, angenommen werden, weil sonst nach dem Erlöschen des Lebens auf der Erde die ganze sogenannte Wirklichkeit da­ hinschwände. Das ist eine Denknotwendigkeit, die von keinem vernünftigen Menschen, der sich die Bedeutung der Unsterblich­ leitsfrage klar gemacht hat, ernstlich bestritten werden kann. Man könnte freilich noch einwenden, es erscheine zahllosen Menschen, die es für nötig hielten, an einen Gott zu glauben und einen Sinn der Welt vorauszusetzen, als ein völlig genügender Sinn, wenn im Weltall nur auf einem oder einigen Weltkörpern Leben gleich dem irdischen Leben herrsche und durch göttliche Kraft bis zu einem Reiche freier Vernunftwesen entwickelt würde, um rach Erreichung dieses Höhepunktes wieder zu vergehen und auf einem anderen Weltkörper von neuem in gleicher Weise von Anfang bis Ende sich zu entwickeln. Aber ist das tatsächlich ein Sinn her Welt, der die Vernunft wahrhaft befriedigt? Ist es ein Sirn, der den tiefsten Bedürfnissen der menschlichen Seele, ja schon dem bloßen Lebens- und Schaffensdrang in seiner ur­ sprünglichen Kraft Genüge zu leisten vermag? Wie ganz anders stellt sich das Weltgeschehen dar, wenn es so ausgefaßt wird,

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Christentum der Tat.

daß die Naturkräfte, die anscheinend sinnlos immer wieder Mil­ liarden von Lebenskeimen und Lebensformen blindlings ver­ nichten und vergeuden, statt dessen immer mehr der Herrschaft von Vernunftwesen unterworfen würden, die imstande sind, ge­ radewegs auf ihr Ziel loszugehen und mit dem kleinsten Kraft­ aufwand das Größte zu leisten! Ist es also Unsinn, an ein ewiges Gottesreich zu glauben, in dem schließlich die Natur vollständig dem vernünftig wirkenden und schaffenden Geist untertan wird? Muß nicht die Menschheit zu jeder Zeit sich aufs ängstlichste hüten, ihre Ziele zu niedrig zu spannen, damit die Kultur nicht auf Abwege gerate, von denen die nachfolgenden Geschlechter sich vielleicht nur nach unerhörten Opfern an Gut und Blut mühsam wieder auf den rechten Weg zurückfinden könnten? Von Gott durch Christus den Gottmenschen zum Gottesreich, das ist die Lösung des Welträtsels, die das Christentum bietet. Sie ist die einzige Lösung, bei der die Menschheit niemals in die Irre gehen kann, weil in ihr der wahre irdische Kulturfortschritt mit dem Ewigkeitsgedanken vereinigt ist. Nur der Geist des Christentums ist es daher, der den Menschen wahrhaft lebendig macht. Der alle seine Kräfte in einen einzigen Brennpunkt zu­ sammenfaßt und ihn immer aufs neue wieder begeistert und anspornt zur unvergänglichen Tat.

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Christentum der Tat. Der Geist des Christentums ist der Geist der Wahrheit; er muß daher auch notwendig immer mehr zum Siege der Wahr­ heit führen, je mehr er in die Tat umgesetzt wird. Wer aber tatsächlich für die Wahrheit eintreten will, der muß vor allem auch den Begriff der Wahrheit sich deutlich zum Bewußtsein bringen und ihn unter allen Umständen gegen jede Verdunkelung und Abschwächung unbedingt verteidigen können. Besteht jedoch das Weltgeschehen lediglich in Bewegungsvorgängen, die in gleicher Weise dem blinden Zufall und dem blöden Ungefähr unterliegen,

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Christentum der Tat.

daß die Naturkräfte, die anscheinend sinnlos immer wieder Mil­ liarden von Lebenskeimen und Lebensformen blindlings ver­ nichten und vergeuden, statt dessen immer mehr der Herrschaft von Vernunftwesen unterworfen würden, die imstande sind, ge­ radewegs auf ihr Ziel loszugehen und mit dem kleinsten Kraft­ aufwand das Größte zu leisten! Ist es also Unsinn, an ein ewiges Gottesreich zu glauben, in dem schließlich die Natur vollständig dem vernünftig wirkenden und schaffenden Geist untertan wird? Muß nicht die Menschheit zu jeder Zeit sich aufs ängstlichste hüten, ihre Ziele zu niedrig zu spannen, damit die Kultur nicht auf Abwege gerate, von denen die nachfolgenden Geschlechter sich vielleicht nur nach unerhörten Opfern an Gut und Blut mühsam wieder auf den rechten Weg zurückfinden könnten? Von Gott durch Christus den Gottmenschen zum Gottesreich, das ist die Lösung des Welträtsels, die das Christentum bietet. Sie ist die einzige Lösung, bei der die Menschheit niemals in die Irre gehen kann, weil in ihr der wahre irdische Kulturfortschritt mit dem Ewigkeitsgedanken vereinigt ist. Nur der Geist des Christentums ist es daher, der den Menschen wahrhaft lebendig macht. Der alle seine Kräfte in einen einzigen Brennpunkt zu­ sammenfaßt und ihn immer aufs neue wieder begeistert und anspornt zur unvergänglichen Tat.

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Christentum der Tat. Der Geist des Christentums ist der Geist der Wahrheit; er muß daher auch notwendig immer mehr zum Siege der Wahr­ heit führen, je mehr er in die Tat umgesetzt wird. Wer aber tatsächlich für die Wahrheit eintreten will, der muß vor allem auch den Begriff der Wahrheit sich deutlich zum Bewußtsein bringen und ihn unter allen Umständen gegen jede Verdunkelung und Abschwächung unbedingt verteidigen können. Besteht jedoch das Weltgeschehen lediglich in Bewegungsvorgängen, die in gleicher Weise dem blinden Zufall und dem blöden Ungefähr unterliegen,

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wie wenn ein unvernünftiges Kind mit Feuer spielt und achtlos Brände entfesselt, die ungeheuren Schaden anrichten können, dann ruht das ganze Menschenleben samt der Erde und allen Weltkörpern auf einer völlig haltlosen und unaufhörlich hin- und herschwankenden Grundlage, die jeden Augenblick zusammen­ brechen und alle menschlichen Pläne mit einem Schlage zunichte machen kann. Dann gibt es überhaupt nichts Wirkliches und Wahres für den Menschen, sondern nur noch sogenannte Wahrnehmungen, von denen er niemals weiß, ob sie etwas Wirkliches, Dauerndes oder bloßen Sinnenschein bedeuten, ob sie im nächsten Augenblick noch dieselben sein werden oder im tollen Wirbel und regellosen Fluß aller Dinge von Grund aus verändert. Die unerläßliche Voraussetzung, die der Mensch daher machen muß, um sich überhaupt Ziele setzen und zwischen richtigen und falschen Mitteln zur Erreichung seiner Ziele unter­ scheiden zu können, ist die Annahme einer Regelmäßigkeit des Geschehens, einer Ordnung, die sich zum mindesten eine Zeitlang erhält, ehe sie sich in Unordnung auflöst oder in eine andere Ordnung verwandelt. So wird ja auch von denen, die nicht an eine Gottheit glauben, mit um so größerer Energie, fast könnte man sagen Inbrunst, an eine Naturordnung geglaubt, die eine unbedingte Regelmäßigkeit, eine unverbrüchliche Gesetz­ mäßigkeit verbürge und dadurch allein den Menschen eine plan­ mäßige Kulturtätigkeit ermögliche. Und als Grundwahrheit, als unbedingte Wahrheit gilt dann das Naturgesetz, das sich von der unbelebten Natur aus durch die ganze belebte Natur hindurchziehe und in der Menschheit zum Sittengesetz werde, an das der Mensch sich notwendig binden müsse, um der Wahrheit und dem Fortschritt auf Erden zum Siege zu verhelfen. Soweit daher tatsächlich der Sieg der Wahrheit innerhalb der Menschheit erstrebt und für möglich gehalten wird, wird auch an eine un­ bedingte Wahrheit geglaubt, die für den Menschen verpflichtend sei. Wie ja auch das natürliche Sittengesetz, was die Pflichten von Mensch zu Mensch angeht, mit dem christlichen Sittengesetz im wesentlichen übereinsttmmt, nur daß es sich lediglich auf die Vernunft stützt und daher auch nur zu leicht gerade aus ver­ meintlichen Vernunftgründen zu Zweifeln an seiner unbeding­ ten Gültigkeit Veranlassung gibt.

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Wie sollte auch ein Sittengesetz unbedingt gültig sein können, wenn es lediglich von der Vernunft auf irgendeiner Entwicklungs­ stufe aus der Erfahrung abgeleitet worden wäre, da es ja der­ selben Vernunft auf einer späteren und höheren Entwicklungsstufe niemals verwehrt sein könnte, es umzustoßen oder abzuändern, wenn es der weiter fortgeschrittenen Einsicht und Erfahrung nicht mehr entspräche? Kommt nicht auch der technische und wissen­ schaftliche Fortschritt in der Menschheit nur dadurch zustande, daß die Vernunft immer mehr ihre eigenen ftüheren Behaup­ tungen als ungenügend oder unrichtig erkennt und berichtigt? Was könnte also die Vernunft wohl veranlassen, in praktischer Hinsicht, also in dem gegenseitigen Verhalten der Menschen zu­ einander, sich an ihre früher einmal für unbedingt richtig ge­ haltenen Anschauungen immerfort zu binden und sich dadurch vielleicht selbst aufs empfindlichste zu schädigen und zu benach­ teiligen? Selbst-wenn sie Gewissensbisse über eine Unwahr­ heit verspüren, lassen sich die Menschen erfahrungsgemäß sehr leicht zu einer Lüge hinreißen, sofern ihnen in einem besonderen Falle Wahrhaftigkeit nachteilig erscheint, Unwahrhaftigkeit aber nützlich. Um wie viel leichter natürlich dann, wenn von Ge­ wissensbissen gar keine Rede sein kann, weil sie überhaupt nur ihre Vernunft als maßgebend betrachten und diese von vorn­ herein keine unbedingte Pflicht der Wahrhaftigkeit anerkennt, sondern es unbedenklich als unvernünftig bezeichnet, die Wahr­ heit zu sagen, wenn man sich dadurch schadet. Nicht nur der Begriff der Wirklichkeit, sondern auch der Glaube an den Sieg der Wahrheit setzt also notwendig ein un­ bedingt Wirkliches und Wahres voraus, auf dem alle Wirklichkeit und Wahrheit im letzten Grunde beruht. Aber wie könnte der Mensch durch dieses unbedingt Wahre nun auch wirklich zur Wahrheit gelangen, wenn er sich mit dem leeren Begriff als solchem begnügen müßte und sich keine Vorstellung davon zu machen wüßte, ob und inwieweit das Unbedingte in der Wirk­ lichkeit erkennbar ist und in welcher Weise es den Sieg der Wahr­ heit tatsächlich gewährleistet. Welchen Zweck hätte es dann auch für den Menschen, von einem Glauben an Gott zu reden, wenn er von Gott nichts weiter zu sagen wüßte, als daß er die un­ bedingte Wahrheit sei und alle Wirklichkeit und Wahrheit in letzter

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Hinsicht bedinge? Eine solche Gottesauffassung stände praktisch mit einer völlig gottlosen Weltanschauung auf einer Stufe. Denn die Gottheit wäre ein bloßer Name, der für das Leben nicht den geringsten Wert besäße und daher unbedenklich auch ganz und gar daraus gestrichen werden könnte. Nein, wenn der Mensch tatsächlich auf die unbedingte Wahrheit sich stützen und durch sie wirklich zur Wahrheit gelangen will, dann muß er auch annehmen, daß von der Gottheit zur Menschheit jene Brücke geschlagen ist, wie sie das Christentum im Glauben an den Gottmenschen bietet, der die unbedingte Wahrheit ver­ kündet und zugleich in seiner eigenen Persönlichkeit als höchste Sittlichkeit verkörpert hat. So führt der Drang nach reiner Wahrheit mit zwingender Denknotwendigkeit von der Wirk­ lichkeit zur Gottheit, von der Gottheit zum Gottmenschen und so zu Christus und zum Christentum. Man kann sich freilich damit begnügen, stets das zu tun, was einem die Vernunft als richtig bezeichnet, ohne sich den Begriff der Wahrheit überhaupt klarzumachen. Man kann auf solche Weise bei gesicherter wirt­ schaftlicher Grundlage ein durchaus achtbarer Mensch werden und sich bei seinen Standesgenossen eines sehr guten Rufes er­ freuen. Aber ein wahrhaft freier Mensch mit eigener, allen nur denkbaren Lebenslagen gewachsener Sittlichkeit, eine wirkliche Persönlichkeit wird man auf solche Weise niemals. Dazu gehört volle Klarheit über den Sinn der Welt und des Lebens, Klarheit über die Grundlagen der Sittlichkeit und ein Mut zur Wahrheit, der sich in dem als richtig Erkannten auch durch eine Welt von Vorurteilen nicht im geringsten beirren läßt. Sucht einer jedoch in heißem Wahrheitsdrang nach einem wirklich befriedigenden Sinn der Welt und des Lebens, dann darf er auch nicht auf halbem Wege stehenbleiben und sich mit einem Christentum ohne Christus begnügen wollen, mit einer Religion, wie sie Jesus von Nazareth vertreten habe, indem er die Menschheit lehrte, Gott als liebevollen Vater aller Menschen anzusehen und sich in diesem Sinne zur Gottheit in Beziehung zu setzen. Wird Jesus seiner Christuswürde in streng gottmensch­ lichem Sinne entkleidet, dann sinkt unaufhaltsam und un­ bedingt das ganze Christentum dahin, so daß nichts mehr von ihm übrigbleibt. Das hat sich bereits durch die Wege, die bei

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der Leben-Jesu-Forschung eingeschlagen worden sind, aufs schla­ gendste erwiesen. Nur das Menschentum des Gottmenschen ist freilich dem Menschengeist verständlich. Aber gerade dadurch, daß man dieses Menschentum immer vollkommener zu begreifen und Jesus von Nazareth zunächst lediglich als Kind seiner Zeit zu verstehen sucht, gelangt man notwendig zu der Erkenntnis, daß die Christenheit ihn entweder als Gottmenschen verehren oder sich selbst aufgeben und die christliche Religion endgültig zum Untergang verdammen muß. Ein Drittes gibt es nicht. Aber wer zu dieser Erkenntnis durchgedrungen ist und sich aus Überzeugung zu Christus und zum Christentum bekennt, der muß auch die zehn Gebote im Sinne Jesu als unbedingt ver­ pflichtend anerkennen und von vornherein allen Einflüsterungen seiner selbstsüchtigen Vernunft, gelegentlich diese unbedingte Ver­ pflichtung abzulehnen, sofort energisch entgegentreten. Auch hier gibt es nur ein Entweder-Oder in strenger Folgerichtigkeit und klarer Erkenntnis. Entweder Ablehnung des Christentums und damit überhaupt aller unbedingten Wahrheit und aller festen sittlichen Grundsätze oder Bekenntnis zu Christus und damit auch ohne jeden Vorbehalt zu dem von Gott gegebenen Sitten­ gesetz. Etwas anderes ist unmöglich. Die zehn Gebote grund­ sätzlich als richtig anerkennen, aber, wenn die Rücksicht auf das eigene Ich es angebracht erscheinen läßt, immer wieder von ihnen abweichen und diese Abweichungen mit Vernunftgründen rechtfertigen, das ist nicht christlich, sondern pharisäisch. Die Christenheit muß das christliche Sittengesetz ohne jede Aus­ nahme in die Wirklichkeit umzusetzen bestrebt sein. Das allein ist Tatchristentum und damit Befreiung von der Knechtschaft des Leibes und der Seele, wahre Zufriedenheit und echter Genuß des Lebens. Ohne Ansammlung von „Schätzen, die Rost und Motte zerstören", aber auch ohne Sorge für den folgenden Tag im Vertrauen auf Gott, wie es Jesus von Nazareth in so un­ vergleichlicher Weise der Menschenseele eingeflößt hat. Ja, wer wahrhaft an Gott glaubt, der kann sich in der Tat nicht damit begnügen, daß die menschliche Gattung wegen ihrer Vernunftanlage der Gottheit offenbar mehr bedeute als das Tier­ reich, sondern der muß und will sich auch in seinen Anliegen persönlich zu Gott in Beziehung setzen und bei ihm in allen

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Lebenslagen Trost und Zuversicht finden. Es ist aber auch klar, daß, wenn die Gottheit als das Unbedingte, als der Urgrund alles Geschehens hingestellt wird, daß dann auch alles, was ge­ schieht, tatsächlich im letzten Grunde auf sie zurückgeführt werden muß, so daß nichts ohne sie oder gar gegen ihren Willen geschehen kann. Auch in dieser Hinsicht ist das Christentum streng folgerichtig. Welcher Anlaß läge wohl auch für einen Menschen vor, an einen Gott zu denken und von Gott zu reden, wenn dieser Gott vielleicht den Lauf der Gestirne und das Naturgeschehen im großen und ganzen regelte, um die Lebewesen auf den einzelnen Weltkörpern jedoch sich nicht weiter kümmerte? Nein, entweder wird alles im Weltall ohne die geringste Ausnahme von Gott geregelt oder nichts. Halbheiten gibt es hier ebensowenig wie sonst im Christentum. Ebenso unbedingt wie das göttliche Sittengesetz als verpflichtend angesehen werden muß, ebenso unbedingt muß auch das Vertrauen auf Gott sein, daß er denen, die sein Gesetz gewissenhaft befolgen, unfehl­ bar auch zu dem damit erstrebten Ziele verhilft. Nur da, wo Glaube und Leben eins sind und sich unablässig durchdringen, nur da ist echtes, volles Christentum der Tat. Ein bloßes Namen­ christentum, das sich das Sittengesetz nach seinem jeweiligen Be­ lieben zurechtlegt und, wenn dann nicht alles nach Wunsch geht, in seinen leiblichen Nöten zu Gott um Hilfe fleht, hat mit dem Geist des Christentums kaum etwas gemein. Da steht einer zweifellos sittlich höher, wenn er schlicht und ehrlich bloß die Menschen uneigennützig liebt und sich überhaupt nicht auf Gott bezieht, weil er meint, es gäbe nur ein blindes Naturgeschehen, mit dem der Mensch sich abfinden müsse. Aber eine solche Welt­ anschauung führt, folgerichtig durchdacht, notwendig zum Glauben an ein unerbittliches Schicksal, dem sich niemand entziehen kann. Auch nicht durch stärkste Anstrengung des Willens, weil ja der Wille selbst dann in dieses Naturgeschehen mit verstrickt ist und sich unbedingt so entscheiden muß, wie der eherne Zwang der Natur es mit sich bringt. Mag auch der einzelne sich fälschlich für wiltensfrei halten, weil er anscheinend zwischen verschiedenen Regungen nach Belieben zu wählen vermag, aber doch letzten Endes nur das wählen und tun kann, wozu der blinde Fluß des Geschehens ihn drängt. Während der Christ sich dem Natur-

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gesetz gegenüber an das Sittengesetz bindet und damit sein ganzes Geschick der Gottheit anheimstellt, die alles lenkt. So daß jegliche Furcht vor einem blöden Zufall und blinden Schicksal im Christen­ tum ein für allemal behoben ist, und die Gesetzmäßigkeit des Naturgeschehens lediglich die Zuversicht bestärkt, daß tatsächlich alles bis ins kleinste hinein von Gott geregelt ist und ihm ge­ horcht. Wie ja auch Jesus von Nazareth, als er seine Jünger aussendet, um das Reich Gottes zu verkündigen, ihnen ver­ sichert, daß ohne,Gott nicht einmal ein Sperling auf die Erde falle und daß auch ihre Haare alle auf dem Haupte gezählt seien, worauf er aufmunternd hinzufügt: „So fürchtet euch nicht, denn ihr seid besser als viele Sperlinge" (Matth. Kap. 10 V. 29—31). Aber es heißt auch ausdrücklich im Evangelium, daß Jesus bei dieser Berufung seiner Jünger zu Aposteln ihnen gesagt habe: „Ich sende euch wie Schafe mitten unter die Wölfe, darum seid klug wie die Schlangen und ohne Falsch wie die Tauben" (Matth. Kap. 10 V. 16). Auch der Christ darf also nicht die von der Ver­ nunft gebotene Klugheit außer acht lassen, wenn er seine Lebens­ aufgabe erfüllen und mit Erfolg für das Reich Gottes wirken will. Gerade die Vergleiche mit den Tieren und Pflanzen, die Jesus seinen Zuhörern gegenüber gern anwendet, können den Christen vorzüglich zum Bewußtsein bringen, daß sie als Lebe­ wesen ebenso wie alle anderen in den Verlauf des Naturgeschehens hineingestellt sind und daher, unbeschadet der strikten Befolgung des Sittengesetzes, kein Mittel unbenutzt lassen dürfen, um sich im Leben zu behaupten. Nicht im Kampf ums Dasein, sondern im Kampf um das Gottesreich braucht der Mensch vorzüglich Gottes Beistand. Und wer überhaupt kein Trachten nach dem Reiche Gottes kennt, der mag leicht verächtlich, spöttisch oder mitleidig auf solche herabsehen, die auf Gott vertrauen und sich von der Vorsehung behütet glauben. Wer aber tatsächlich sein ganzes Leben dem Kampf um die Wahrheit, dem Kampf für Gott geweiht hat, der braucht auch die unbedingte Zuversicht, daß er nicht für einen Wahn kämpft und daher auch durch keine Hindernisse sich abschrecken lassen darf, den Kampf bis ans Ende durchzuführen. Im übrigen aber läßt sich das leibliche Leben des Menschen vom seelischen und geistigen nicht durch einen

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scharfen Strich trennen. Der Mensch kann sich daher auch nur für sein ganzes Leben und Lebenswerk einheitlich auf die Vor­ sehung stützen und von ihr erwarten, daß sie alles so gestaltet, wie es für sein Werk erforderlich ist. Aber gerade der hartnäckigste

Kämpfer für die Wahrheit weiß auch am besten, daß ohne die Gesundheit und Spannkraft des Leibes auch die Seele nur zu leicht ihre Kraft einbüßt. Und was bietet nicht gerade das Christen­ tum für Beispiele von heldenmütigen Kämpfern, die es bis zu einer fast unglaublichen Beherrschung des Körpers gebracht haben, um im Dienst der Wahrheit nicht zu erlahmen, sondern möglichst ihren Sieg selbst noch zu erleben? Starben sie aber vor Erreichung ihres Lebenszieles, dann wußten sie, daß trotzdem ihr Wirken nicht vergeblich war, sondern unbedingt der Wahrheit weiter zum Durchbruch verhelfen werde. Das ist christliche Lebensweisheit, die auch im künftigen Verlauf der Geschichte bis ans Ende aller Zeiten niemals zuschanden werden kann. Freilich, der geschichtliche Sinn ist mit der Wandlung des wissenschaftlichen Weltbildes in der Christenheit, von einzelnen außerordentlichen Geistern abgesehen, erst nach und nach erwacht, ebenso wie er auch im einzelnen Menschen meist erst geweckt werden muß und nur allmählich sich entfaltet. Und wer als Christ nicht geschichtlich denken kann, dem erscheint die Möglichkeit, daß die göttliche Wahrheit, das göttliche Sittengesetz im Lauf der Geschichte tatsächlich innerhalb der Menschheit zum Siege gelangen könne, sehr leicht unfaßlich, wenn nicht gar völlig aus­ geschlossen. Auch die rein wissenschaftliche Geschichtsauffassung erklärt sich noch außerstande, aus dem bisherigen Verlauf der Geschichte mit Bestimmtheit auf einen sittlichen Fortschritt der Menschheit zu schließen. Trotzdem ist es selbstverständlich, daß das Christentum auf dieses Ziel planmäßig hinarbeiten muß, wenn es sich tatsächlich als von göttlicher Kraft durchdrungen erweisen will. Und eine Lebensauffassung, die lediglich auf ein jenseitiges Gottesreich ihre Hoffnung setzen wollte, ohne zugleich auf einen irdischen Fortschritt im Sinne des christlichen Sittengesetzes bedacht zu sein, spräche dem Christentum geradezu Hohn, weil es von ihm ja überhaupt keinen nachweisbaren Ein­ fluß auf die Menschheit erwartete. Nein, hier auf Erden muß die Christenheit zeigen, was sie leisten kann. In praktischem,

werktätigem Christentum, das vom Sittengesetz nicht die geringste Ausnahme duldet. „Du sollst nicht ehebrechen, du sollst nicht töten, du sollst nicht stehlen, du sollst nicht falsch Zeugnis reden, du sollst niemand täuschen, du sollst Vater und Mutter ehren." In dieser Reihen­ folge führt Jesus selbst die auf das gegenseitige Verhalten der Menschen hinzielenden Gebote des Sittengesetzes an (Mark. Kap. 10 V. 19; Luk. Kap. 18 V. 20). Gegen den Ehebruch eifert er ganz besonders. Mehrfach findet sich in den Evangelien, wenn von den Schriftgelehrten und Pharisäern gesprochen wird, die Redewendung: „Das böse und ehebrecherische Geschlecht." Und in der Tat, was untergräbt wohl die Wohlfahrt eines Volkes mehr als skrupelloser Ehebruch? Welche Unsummen werden da­ durch verpraßt und vergeudet, wie viele Verbrecher gezüchtet und Verbrechen hervorgerufen, wie viele Leiden über völlig Un­ schuldige heraufbeschworen! Jesus aber lehrt, wie der Ehebruch aus der Welt zu schaffen ist. „Ihr habt gehört, daß zu den Alten gesagt ist: Du sollst nicht ehebrechen! Ich aber sage euch: Ein jeder, der ein Weib, um es zu begehren, ansieht, hat schon mit ihr die Ehe gebrochen in seinem Herzen" (Matth. Kap. 5 V. 27,28). Er setzt also ohne Umschweife die Begierde der Tat gleich. Er verlangt, daß der Mann, der sich an ein Weib gebunden hat, dadurch gefeit sei gegen jedes Verlangen nach dem Besitz eines anderen Weibes. Und in der Tat, wenn die Ehen wahrhaft glücklich werden sollen, dann muß voller Ernst gemacht werden mit Jesu Worten. Es ist kein Christentum, wenn einer die Achseln zuckt und sagt: „Nun ja, das hat Christus freilich erklärt, das steht unleugbar da, aber so etwas gibt es in Wirklichkeit nicht und wird es nie geben. Das ist eben ein Ideal, das die Menschen nie erreichen werden." Aber wenn die Menschen wirklich Tat­ christen sein wollen und nicht bloß Namenchristen, dann müssen sie auch unweigerlich dieses Ideal zu erreichen suchen. Dann müssen die Männer auch nicht aus Standesrücksichten, nicht um ihre Schulden bezahlen zu können oder um ein gutes Geschäft zu machen, überhaupt nicht um irgendwelcher äußeren Vorteile willen sich verheiraten, sondern nur aus echter, wahrer Liebe, die sinnlich und seelisch sich in der einen Auserkorenen so voll­ ständig beftiedigt fühlt, daß ein tatsächliches Begehren nach

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einem anderen Weibe überhaupt nicht mehr in der Brust rege werden kann. Es ist freilich eine höhere Natur, als das rein naturgemäß triebhafte Empfinden, Denken und Wollen des Mannes, die damit in der Ehe verlangt wird, auf daß sie sich wahrhaft zu einer Lebens- und Liebesgemeinschaft gestalte. Aber darum muß ja auch das Christentum am höheren Menschen, am Gottmenschen Jesus Christus festhalten und mit göttlicher Kraft die Seelen erfüllen ohne Unterlaß von frühester Jugend an bis zum höchsten Mannesalter. Ebenso wie beim Verbot des Ehebruchs geht Jesus auch beim Verbot des Mordes über den Wortlaut der zehn Gebote von Grund auf weit hinaus. „Ihr habt gehört, daß zu den Alten gesagt ist: Du sollst nicht töten; wer aber tötet, soll des Gerichtes schuldig sein. Ich aber sage euch: Wer mit seinem Bruder zürnt, der ist des Gerichtes schuldig" (Matth. Kap. 5 V. 21, 22). So erklärt Jesus das fünfte Gebot und zeigt, wie auch bei ihm die Liebe des Gesetzes Erfüllung sein soll. Hat Jesus sich mit seinen Geboten der Liebezugleich auch gegen den Krieg erklärt? Wie steht das Christentum zur Frage der Abrüstung und der Beseitigung des Krieges? Das ist eine der wichtigsten Fragen, über die jeder Christ sich unbedingt klar sein oder völlige Klarheit verschaffen muß. Nach dem Buchstaben des Evangeliums hat Jesus sich zweifellos nicht bestimmt darüber ausgesprochen, ob der Krieg sittlich erlaubt sei oder nicht. Er sagt zwar in der Bergpredigt: „Selig sind die Friedfertigen, denn sie werden Gottes Kinder heißen." Er spricht sich auch gegen die Auffassung aus, die die Pharisäer dem Mosaischen Gesetz gaben, indem er erklärt: „Ihr habt gehört, daß gesagt ist: Du sollst deinen Nächsten lieben und deinen Feind hassen. Ich aber sage euch: Liebet eure Feinde, tuet Gutes denen, die euch hassen, bittet für die, die euch be­ leidigen und verfolgen" (Matth. Kap. 8 V. 43, 44). Aber diese Worte Jesu können ebensowenig als ein Verbot, sich gegen einen Feind, der einem das Leben nehmen will, zu wehren, aufgefaßt werden, wie etwa die Äußerung Jesu, er sei nicht gekommen,

Frieden zu bringen, sondern das Schwert (Matth. Kap. 10 V. 34), zugunsten von Religionskriegen oder von Kriegen überhaupt ge­ deutet werden darf. So kann das Evangelium seinem Wortlaut nach weder als Kronzeuge für noch gegen den WeltfriedensSchwellenbach, Erneuerung

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gedanken angeführt werden. Das ergibt sich am klarsten, wenn man alles das, was Jesus anscheinend gegen den Krieg gesagt hat, dem Gleichnis gegenüberstellt, in dem er ausdrücklich vom Kriege spricht, indem er frugt: „Welcher König wird gegen einen andern König ausziehen, um Krieg zu führen, ohne sich zuvor hinzusetzen und zu überlegen, ob er mit zehntausend Mann dem entgegenrücken kann, der über ihn kommt mit zwanzigtausend? Kann er das nicht, so schickt er Gesandte, wenn jener noch fern ist und bittet um Frieden" (Luk. Kap. 14 V. 31, 32). Mit keinem Wort nimmt Jesus hier, wo es doch so nahe läge, gegen den Krieg Stellung. Und so findet sich nirgends in den Evangelien auch nur eine einzige Stelle, die unzweifelhaft als eine Ver­ urteilung des Krieges bezeichnet werden könnte. Der Buchstabe des Evangeliums kann also sowohl von den Anhängern wie von den Gegnern des Weltfriedens für ihre Ansicht verwertet werden, wie er überhaupt in vielen Fällen verschiedene Auslegungen ermöglicht, die von den am Buchstaben Klebenden sich ohne Mühe gegeneinander ausspielen lassen. Aber das fünfte Gebot sagt ohne jeden Vorbehalt: Du sollst nicht töten. Auch Jesus stellt es als göttliches Gebot hin, ohne irgendwie für den Fall der Notwehr oder Verteidigung die ge­ ringste Ausnahme zu machen. Und wenn er schon dem, der bloß seinem Bruder zürnt, die schwerste Strafe androht, dann ist es klar, daß er die Menschen zu einer Lebensgemeinschaft führen will, in der ein Krieg ebenso unmöglich ist, wie ein Ehe­ bruch dem unmöglich ist, der beim Anblick eines fremden Weibes überhaupt keine Begierde mehr in sich aufsteigen fühlt. Das Christentum schließt also seinem Wesen nach den Ge­ danken des Friedens auf Erden von selbst in sich ein. Und wer sich einen Christen nennt, dabei aber den Weltfriedens­ gedanken verhöhnt oder verspottet, der hat den Geist des Christen­ tums auch im entferntesten noch nicht begriffen. Das ist so selbst­ verständlich und so sicher, daß niemand, der über den Geist des Christentums wirklich nachgedacht hat, es ernstlich in Abrede wird stellen können. Aber soll denn nun ein Christ ohne jeden Widerstand sich von Wegelagerern und Mordgesellen um Leben und Eigentum bringen lassen? Soll gar ein Familienvater, der für Frau und

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Kinder zu sorgen hat, einem hinterlistigen Angreifer, der ihn meuchlings erschießen will, nicht zuvorzukommen suchen, auch wenn er dazu imstande ist, sondern eher sich selbst töten und seine Familie des Ernährers berauben lassen, als seinerseits das Gebot: Du sollst nicht töten, zu übertreten? Dann wäre das Christentum Unvernunft, wenn es solches verlangte. Und es würde ja auch einem zumuten, den Mordgesellen mehr als sich selbst zu lieben, also das Gebot der Nächstenliebe umkehren und seinen Sinn völlig in Unsinn verwandeln. Aber die Notwehr und die Tötung aus Notwehr hebt keines­ wegs das fünfte Gebot in seiner unbedingten Gültigkeit auf und unterstellt es durchaus nicht der menschlichen Vernunft zur selbst­ herrlichen Entscheidung. Das christliche Gewissen gibt sich auch, wenn einer in unzweifelhafter Notwehr einen Menschen getötet hat, keineswegs damit zuftieden, daß von einer Tötung in straf­ rechtlichem Sinne nicht im geringsten die Rede sein könne, sondern treibt vielmehr den einzelnen und die Gesellschaft an, Verhältnisse, Lebenslagen, Einrichtungen, Gebräuche, überlieferte Sitten und dergleichen, kurz Bedingungen zu ändern, unter denen überhaupt ein Mensch gezwungen sein kann, aus Notwehr einen Mitmenschen zu töten. Wenn bei jeder Tötung aus Notwehr sorgfältig nachgeforscht wird, wodurch sie verursacht war, wenn tatsächlich der Wille vorhanden ist, das Sittengesetz ohne die ge­ ringste Ausnahme in der Menschheit zur Geltung zu bringen, dann müssen sich notwendig nach und nach die Fälle der Tötung aus Notwehr immer mehr beseitigen lassen. Der Wegelagerer, der Wilderer, der Mordgeselle, der aus Notwehr erschossen wird, ist er wirllich von Jugend an ein Tunichtgut gewesen, dem ein Menschenleben nichts galt, wenn es ihm darauf ankam, seine Gelüste zu beftiedigen? Oder hat auch er einst den ehrlichen Willen gehabt, vielleicht einen viel ehrlicheren sogar, als mancher, der nie unehrenhaft handelt, ein sittlicher Mensch und braver Christ zu werden, ist er vielleicht zunächst nur aus Not gestrauchelt und dann haltlos immer tiefer hinabgeglitten, weil er gleich beim ersten Mal ungerecht bestraft worden ist und dann ver­ bittert wurde? Wie oft erweist sich nicht das gültige Recht ge­ radezu als krasse Ungerechtigkeit! Wahre Gerechtigkeit, richtiges Recht kommt sowohl im Volks- wie im Völkerleben nur auf der 4*

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Grundlage des christlichen Sittengesetzes und seines Inbegriffs, des Gebots der Liebe, zustande. Die Liebe allein verfehlt jedoch nur zu leicht das Ziel, wenn sie lediglich dem Herzen und seinen Wallungen folgt, anstatt stets auch die Vernunft zu, Rate zu ziehen und alles richtig abzuwägen. Wer blindlings Mmosen austeilt, ohne die Bedürftigkeit und Würdigkeit dessen, der sein Mitleid erregt, genau zu prüfen, kann unbewußt mehr Unheil anrichten als ein kaltblütiger Verbrecher. Nur im Wege der folgerichtig fortschreitenden Rechtsbildung kann daher die christliche Liebes­ gesinnung wirklich in die Tat umgesetzt werden, nicht durch plan­ lose Mildtätigkeit und durch willkürliches Wohltun. So sucht ja auch der entwickelte Rechts- und Kulturstaat für Witwen, deren Not in den Evangelien so oft geschildert wird, dadurch zu sorgen, daß er ihnen ein bestimmtes Witwengeld gewährt, um sie dadurch ein für allemal gegen Not zu schützen. Und wenn dem Geist des Christentums wahrhaft Genüge geschehen soll, dann ist es die Aufgabe eines jeden Volkes, die gesamte Volks­ wirtschaft so zu gestalten, daß jeder Volksangehörige, sofern er das Sittengesetz beobachtet, sich um des Leibes Notdurft nicht zu sorgen braucht, sondern der Befriedigung seiner dringenden leiblichen Bedürfnisse stets sicher ist. Ein solches Ziel ist aller­ dings, da die einzelnen Volkswirtschaften aufeinander angewiesen und voneinander abhgngig sind, nur durch einmütiges Zusammen­ wirken aller Völker der Erde zu erreichen. So ergibt sich aus dem christlichen Sittengesetz und seiner Idee der Gerechtigkeit mit fortschreitender Kultur immer mehr die Idee einer Völker­ gemeinschaft, die, getragen vom Geist christlicher Nächstenliebe, alle Not auf Erden zu bannen versteht. Damit ist selbstverständ­ lich ein Krieg unvereinbar, schon weil im Kriege die Güter­ erzeugung und der Verkehr stockt, so daß notwendig Hungersnot eintritt, abgesehen von allen sonstigen Greueln, die mit Kriegen unausbleiblich verbunden sind. Auch von diesem Gesichtspunkt aus muß daher das Christentum auf den Weltfrieden hinarbeiten, wenn es wirkliches Tatchristentum sein will und nicht schein­ heiliges, heuchlerisches Getue, wie es Jesus kennzeichnet, wenn er die Worte anführt: „Dies Volk nahet sich zu mir mit seinem Munde und ehret mich mit seinen Lippen; aber ihr Herz ist ferne von mir" (Matth. Kap. 15 V. 8).

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Selbstverständlich jedoch kann sich ein christliches Volk nicht widerstandslos abschlachten oder versklaven lassen von wilden Völkerschaften, die in ungestümem Ausdehnungsdrang und trotzi­ gem Machtbewußtsein alles zu überfluten suchen und aller Sitt­ lichkeit und Gerechtigkeit Hohn sprechen. Das Christentum hat zu Beginn, unserer Zeitrechnung von einem einzelnen Volke seinen Ausgang genommen und muß sich nach und nach auf alle Völker der Erde auszudehnen suchen. Was wäre aus ihm vielleicht schon im Mittelalter geworden, wenn sich nicht christliche Mannen unter einem Führer, der in der Geschichte den Beinamen „der Fromme" führt, den von Osten her bis nach Schlesien vorgedrunge­ nen Mongolenstämmen heldenmütig entgegengestellt und sie da­ durch zum Abzüge gezwungen hätten? Und so wird sich niemals ein Volk, solange es noch wahrhaft christlich gesinnt ist, in die Knechtschaft des Lasters begeben und es dulden, daß sittenlose Eroberer seine Frauen, Mädchen und Kinder schänden und scham­ los in Saus und Braus leben von dem Schweiß und der Not gewaltsam Unterdrückter. Das hieße ja, nicht dem christlichen Sittengesetz, sondern lediglich der Sittenlosigkeit Vorschub leisten und sich fürchten vor denen, die den Leib töten, die Seele aber nicht töten können (Matth. Kap. 10 V. 28). Aber die helden­ mütige Abschüttelung eines solchen ftemden Joches setzt in erster Linie auch voraus, daß die christlichen Grundsätze von den Unter­ drückten in den eigenen Reihen aufs sorgfältigste beachtet werden und die Seelen entflammen. Nur dann wird sich auch die Einmüügkeit ergeben, deren es für eine Volkserhebung bedarf, um erfolgreich einem an Machtmitteln überlegenen Gegner die Spitze bieten zu können. Aber wenn die Vernunft sich somit auch sagen muß, daß ihr trotz des Gebots: Du sollst nicht töten, in Fällen der Not­ wehr und drohender Knechtschaft die Tötung von Menschen als unvermeidlich und als das einzig Richtige erscheinen kann, so kann sie sich doch dabei der Einsicht nicht verschließen, daß die un­ bedingte Gültigkeit des Sittengesetzes von ihr trotzdem nicht als erschüttert angesehen werden darf. Denn die Vernunft als die unmittelbare Urheberin aller menschlichen Rechtssatzungen kann zwar sowohl für das Straftecht, wie für das Völkerrecht den Satz rechtfertigen, daß, wie überhaupt Tötung aus Notwehr,

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so auch Verteidigungs- und Abwehrkriege erlaubt seien, weil es kein anderes Mittel geben könne, um sich vor dem eigenen Unter­ gang zu retten oder seine sittliche Würde, seine Ehre zu wahren. Aber die Vernunft hat darum keineswegs das Recht, dem fünften Gebot, dem göttlichen Gesetz, einen Sinn unterzulegen, der der Fassung entspräche: „Du sollst nicht töten, ausgenommen im Fall der Notwehr, wo du töten darfst." Nein, das fünfte Ge­ bot kennt wie jedes andere der zehn Gebote keinen Ausnahme­ fall. Es verlangt, daß es von den Menschen unbedingt bis zum letzten Rest verwirklicht werde. Aber der Unterschied zwischen Sittengesetz und Recht, der ja völlig überflüssig wäre, wenn beide sich vollständig deckten, zeigt sich treffend gerade darin, daß das Recht, auch wenn es danach strebt, mit dem Sittengesetz völlig eins zu werden, doch für sein Gebiet Entscheidungen treffen kann, die als Ausnahmen, ja als eine Aufhebung des Sitten­ gesetzes erscheinen, aber lediglich Zugeständnisse an unvollkommene Entwicklungsstufen der menschlichen Gesellschaft darstellen. So sagt ja auch Jesus zu den Pharisäern, als sie ihn wegen der Ehe­ scheidung auf die Probe stellen wollen: „Moses hat euch erlaubt, zu scheiden von euren Weibern eurer. Herzenshärtigkeit wegen; von Anbeginn aber ists nicht also gewesen" (Matth. Kap. 19 V. 8). Und er betont auch bei dieser Gelegenheit die unbedingte Ver­ werflichkeit des Ehebruchs, obwohl selbst seine Jünger zu ihm sagen: „Stehet die Sache eines Mannes mit seinem Weibe also, so ist's nicht gut, ehelich zu werden." Am krassesten tritt das Bestreben der menschlichen Vernunft, die unbedingte Gültigkeit des göttlichen Sittengesetzes selbst in Fällen, wo das geltende Recht völlig damit übereinstimmt, trotz­ dem in Zweifel zu ziehen, sehr oft beim siebenten Gebot zutage. Wer sich nicht zum unerschütterlichen Grundsatz gemacht hat, niemals, unter keinen Umständen, möge der Fall liegen wie er wolle, zu stehlen, der kommt nur zu leicht in die Gefahr, sich einzureden, es sei sein gutes Recht, sich anzueignen, was für ihn zum Leben erforderlich sei, was ihm infolge ungerechter gesell­ schaftlicher Einrichtungen vorenthalten werde und wie die Aus­ reden jeweils nach Lage des Falles alle lauten mögen. Und dann stürzt ein Familienvater um eines geringen Vorteils willen, den er sich ungestraft glaubte verschaffen zu können, sich und seine

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ganze Familie ins Unglück, verliert seine Stellung und seinen guten Namen und sieht zu spät ein, was feste sittliche Grundsätze im Leben bedeuten. Dann bringen Söhne und Töchter über die Eltern, Frauen über die Männer Schmach und Ungemach; dann häufen sich die Eigentumsvergehen, daß kaum jemand noch seiner Habe sicher ist und das ganze Gemeinschaftsleben von Grund aus wankt. Mit ehernen Lettern, unauslöschlich, unantast­ bar muß daher das Gebot: Du sollst nicht stehlen, von Jugend an den. Gewissen eingegraben werden. Als unbedingt ver­ pflichtendes göttliches Gesetz, an dem niemand mit seiner Ver­ nunft auch nur im geringsten deuteln und drehen darf. Vor allem aber verlangt das echte Tatchristentum stets un­ bedingte Wahrhaftigkeit und jenen glühenden Abscheu gegen Lüge und Heuchelei, wie ihn Jesus von Nazareth fast auf Schritt und Tritt aufs deutlichste und schärfste zu erkennen gegeben hat. „Ihr Heuchler, ihr Schriftgelehrten und Pharisäer, ihr Heuchler!" Wie oft findet sich dieser Ausruf Jesu nicht in den Evangelien aus­ gezeichnet! Und wie leidet die Menschheit unter dem Fluch der Heuchelei, wenn jeder einzelne an die Stelle des Gewissens, der Stimme Gottes, der ewigen, unbedingten Wahrheit, seine eigene Vernunft setzen will, die sich nur allzu leicht von den Leidenschaften beirren läßt und, wenn sie sich hinterher von ihnen betrogen sieht, sich vor Lächerlichkeit, Schaden, Schimpf oder Schande fürchtet und immer tiefer in Lügen verstrickt! Heuchelei und Verrat, das sind auch die vergifteten Waffen, ohne die von jeher kaum ein Krieg geführt, kaum ein Volk unterjocht werden konnte. Aber die Erfahrung lehrt auch zugleich, daß die Unwahr­ heit auf die Dauer immer der Wahrheit weichen muß. Mag es daher auch einer feindlichen Übermacht gelingen, einem zur Knechtschaft verurteilten Kulturvolk alle technischen Hilfsmittel zu seiner Befreiung zu rauben, die Möglichkeit, für die Wahrheit zu zeugen, kann sie ihm niemals rauben. Freilich Ausdauer, Furchtlosigkeit, Opfermut, ja auch rücksichtsloser Einsatz des Lebens, die gehören dazu, um die Lüge zu überwinden. Um durch die Wahrheit nicht nur selbst von aller Knechtschaft stet zu werden, sondern auch andere frei zu machen und so den Frieden auf Erden für alle Zeiten zu sichern. Oder werden die Kriege in der Menschheit niemals aufhören?

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Schon die Entwicklung der Technik allein weist darauf hin, daß die Gewalt notwendig immer mehr dem Recht weichen muß. Die ganze Geschichte der technischen Errungenschaften zeigt eine immer weiter fortschreitende Umwandlung von roher Macht und ihrer rücksichtslosen ^Betätigung in rechtliche Vereinbarungen, die um des beiderseitigen Nutzens willen von beiden Seiten frei« willig eingehalten werden. Hierauf stützt sich die Zuversicht derer, die sich unabhängig vom Christentum für den Weltftiedensgedanken einsetzen. Und da könnte ein Christ den Gedanken des Friedens auf Erden lediglich als ein törichtes Hirngespinst ansehen, das niemals in Erfüllung gehen würde? Nein, die Christenheit muß entweder geschlossen auf den Weltftieden hinwirken oder auf­ hören, überhaupt noch von Christentum zu reden. Das Christen­ tum ist der Friede. Und nur, wenn es für den Frieden und die Freiheit aller Menschen und Völker sich einsetzt, schafft es zugleich am Reiche Gottes und bleibt unüberwindlich allezeit bis ans Ende der Welt. Ein Christentum, das der Gottheit für einen Kiegerischen Erfolg Dank sagt, ist nach dem Weltkrieg nicht mehr möglich. Nur als Friedensfürst kann Christus die Welt erobern, nicht als Kriegsgott, der die Seinen zum Kampf be­ geistert.

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Freiheit des Schaffens. Das Christentum ist Freiheit, weil es die Menschen lediglich an die Wahrheit bindet und es im übrigen jedem einzelnen über­ läßt, was er tun und lassen, wie er sich im Leben einrichten und sein Leben gestalten will. Wer erkannt hat, daß es in Wahrheit die unerläßliche Vorbedingung zu einem wirklich vernünftigen und glücklichen Gemeinschaftsleben ist, das christliche Sittengesetz in jeder Lebenslage unbedingt zu befolgen, der kann sich, sofern er sich nur an diese Wahrheit bindet, im übrigen seinen Lebens­ weg vollkommen nach seinem Belieben suchen und bahnen. Welche Lebenszwecke er sich im einzelnen setzt, worin er seinen Beruf

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Schon die Entwicklung der Technik allein weist darauf hin, daß die Gewalt notwendig immer mehr dem Recht weichen muß. Die ganze Geschichte der technischen Errungenschaften zeigt eine immer weiter fortschreitende Umwandlung von roher Macht und ihrer rücksichtslosen ^Betätigung in rechtliche Vereinbarungen, die um des beiderseitigen Nutzens willen von beiden Seiten frei« willig eingehalten werden. Hierauf stützt sich die Zuversicht derer, die sich unabhängig vom Christentum für den Weltftiedensgedanken einsetzen. Und da könnte ein Christ den Gedanken des Friedens auf Erden lediglich als ein törichtes Hirngespinst ansehen, das niemals in Erfüllung gehen würde? Nein, die Christenheit muß entweder geschlossen auf den Weltftieden hinwirken oder auf­ hören, überhaupt noch von Christentum zu reden. Das Christen­ tum ist der Friede. Und nur, wenn es für den Frieden und die Freiheit aller Menschen und Völker sich einsetzt, schafft es zugleich am Reiche Gottes und bleibt unüberwindlich allezeit bis ans Ende der Welt. Ein Christentum, das der Gottheit für einen Kiegerischen Erfolg Dank sagt, ist nach dem Weltkrieg nicht mehr möglich. Nur als Friedensfürst kann Christus die Welt erobern, nicht als Kriegsgott, der die Seinen zum Kampf be­ geistert.

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Freiheit des Schaffens. Das Christentum ist Freiheit, weil es die Menschen lediglich an die Wahrheit bindet und es im übrigen jedem einzelnen über­ läßt, was er tun und lassen, wie er sich im Leben einrichten und sein Leben gestalten will. Wer erkannt hat, daß es in Wahrheit die unerläßliche Vorbedingung zu einem wirklich vernünftigen und glücklichen Gemeinschaftsleben ist, das christliche Sittengesetz in jeder Lebenslage unbedingt zu befolgen, der kann sich, sofern er sich nur an diese Wahrheit bindet, im übrigen seinen Lebens­ weg vollkommen nach seinem Belieben suchen und bahnen. Welche Lebenszwecke er sich im einzelnen setzt, worin er seinen Beruf

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erblickt und erkennt, das ist vom christlichen Standpunkt aus völlig gleichgültig. Das kann jeder mit seinem Gewissen ausmachen und vor Gott verantworten. Damit ist allen Menschen vollste Schaffensfreiheit gegeben, so daß jeder unbehindert seiner Natur folgen und sie zur Führerin nehmen kann. Im übrigen treiben ja die vielfältigen menschlichen Lebensbedürfnisse, die sich mit jeder neuen Kulturerrungenschaft steigern, die Menschen von selbst schon zum Wirken und Schaffen an. Und es ist keineswegs zu befürchten, daß bei einem dauernden Frieden auf Erden eine von echt christlichem Geist erfüllte Kulturmenschheit jemals ein faules, bequemes Nichtstun, ein zur Entartung führendes Genuß­ leben als erstrebenswertes Ziel hinstellen oder auch nur.ins Auge fassen könnte. Nein, unter der Herrschaft des Friedens und der christlichen Freiheit werden zweifellos erst recht alle Kräfte der Menschen aufs höchste entfaltet werden, weil die Liebe zur ewigen Wahrheit durch jede neue Erkenntnis der von göttlichem Geist durchfluteten Wirklichkeit nur immer glühender entfacht wird und zu immer neuen wissenschaftlichen, künstlerischen und technischen Leistungen antreibt, deren Erfüllung frische Geisteskraft und Züge­ lung der Sinnlichkeit verlangt, wenn die Menschen ihnen ge­ wachsen sein sollen und freudig schaffen wollen. Während Kriege mit fortschreitender Technik notwendig immer kulturfeindlicher wirken und auch die Sittlichkeit gefährden, weil sie alle ihre Grundlagen unterwühlen und die Leidenschaften aufs schlimmste entfesseln. Wie werden sie erst forschen, die Forscher auf dem Erden­ rund, wenn sie einmütig nur der Wahrheit allein dienen und sich weder durch die Rücksicht auf persönliche Vorteile noch durch Völkerhaß auch nur im geringsten in ihrem Eifer für die lautere Wahrheit werden beirren lassen! Wie werden sie schaffen, die Künstler, wenn sie nur noch der Kunst allein sich hingeben und nur noch ein gemeinsames Ziel kennen, die ganze Menschheit mit heiliger Begeisterung für die reine Schönheit zu erfüllen! Was wird sie erst leisten, die Technik, wenn sie niemals mehr zur Vernichtung von Menschenleben und von menschlichen Be­ darfs- und Genußmitteln mißbraucht werden wird, sondern nur noch dem Wohl der Menschen dient, statt Not zu schaffen und grauenhaftes Elend! So schließt die wahre Liebe zu Gott und

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den Menschen ein für allemal jeden Stillstand oder Rückschritt der Kultur vollständig aus. Und je mehr die Menschen sich wirk­

lich lieben, desto unabhängiger fühlen sie sich auch voneinander, weil sie dann ja nur ihren eigenen Antrieben zu folgen brauchen, um von selbst so zu handeln, wie das allgemeine Beste es er­ fordert. Das ist der Gedanke der christlichen Freiheit im Gegensatz zum natürlichen Freiheitsverlangen des Menschen, das auf Zügellosigkeit hinausläuft und deshalb nicht sich selbst über­ lassen werden darf, sondern in richtige Bahnen gelenkt werden muß. Aber nicht gewaltsam, sondern so behutsam wie möglich, damit die Seele sich nicht in ihrem eigentlichen Schaffenstrieb gehemmt und eingeengt fühle, sondern ungeschwächt ihre Kräfte zu entfalten vermag, so wie sie von Anfang an in ihr angelegt sind und auf Betätigung drängen vom ersten Hauch des Lebens an. Schon von zartester Kindheit an schafft die Seele sich auch mit Hilfe der Sinneseindrücke ihre eigene Welt, die ihr Fühlen und Denken, aber auch ihr Wollen bestimmt und immer mehr ihr Wesen als den Inbegriff einer eigenen Persönlichkeit erkennen läßt. Jeder Mensch nimmt ja während seines ganzen Lebens von der Fülle dessen, was unaufhörlich in den Bereich seiner Sinne fällt, nur das wahr, was gerade für ihn nach seiner Ver­ anlagung, nach seinen Bedürfnissen und Neigungen einen Sinn hat, was ihm Anregung, Beftiedigung, Nutzen gewährt und zur Erfüllung dessen beiträgt, worin er seine eigentliche Lebensaufgabe sehen muß. So verrät auch die Seele des Kindes dem aufmerk­ samen Beobachter schon frühzeitig, wie sie persönlich veranlagt ist und nach welcher Richtung sie sich zu entfalten strebt. Das gilt nicht nur von besonderen wissenschaftlichen, künstlerischen oder technischen Befähigungen, die ja zuweilen schon in den allerersten Lebensjahren sich deutlich bemerkbar machen, sondern fast von allen Berufsarten, wie sie im Laufe der Kultur sich entwickelt haben und immer mannigfaltiger und verschiedenartiger gestalten.

Ebenso wie ein Mensch niemals Mensch schlechthin ist, sondern stets entweder männlichen oder weiblichen Geschlechts, derart, daß ein Mann um so männlicher ist, je weniger er weibisch emp­ finden, und ein Weib um so weiblicher, je weniger es sich als Mann fühlen und geben kann, ebenso ist auch niemals ein Mensch für mehrere Berufsarten völlig gleichmäßig geeignet, sondern stets

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sowohl nach seiner körperlichen wie geistigen Wesensart in der Wahl seines Berufs sehr beschränkt. Und die Aufgabe der Er­ ziehung und Jugendpflege besteht darin, jede einzelne Menschen­ seele außer der Bindung an die Wahrheit in voller Freiheit sich entwickeln zu lassen und keinen Menschen in einen Beruf zu drängen, für den ihm die Neigung und Begabung fehlt. Vor allem nicht aus Eitelkeit oder Hochmut der Eltern oder Ver­ wandten in einen Beruf, dem die Kräfte und Fähigkeiten auch nicht entfernt gewachsen sind, so daß das Bewußtsein der eigenen Unzulänglichkeit entweder zu Heuchelei und Kriecherei führt oder zu Überanstrengung und Verängstigung, wobei in jedem Falle Freiheit und Schaffensfreudigkeit ausgeschlossen sind. Wie es nur zu leicht in den Kreisen der Fall ist, die von der christlichen Demut nichts wissen wollen, sondern nur auf Äußerlichkeiten

Wert legen und für echte, wirkliche Bildung nicht das geringste Verständnis besitzen. Die christliche Demut wird völlig verkannt, wenn sie so aufgefaßt wird, als ob sie mit energischer Selbstbehauptung und berechtigtem Selbstgefühl, ja mit freudigem Stolz über den Wert der eigenen Persönlichkeit sich nicht vereinbaren lasse. Wohl sagt Jesus: „Lernet von mir, denn ich bin sanftmütig und von Herzen demütig, so werdet ihr Ruhe finden für eure Seelen" (Matth. Kap. 11 V. 29). Wohl bekundet er bei verschiedenen Anlässen seine Demut, indem er auf Vorwürfe nichts erwidert und schwei­ gend die gröbsten Schmähungen und Mißhandlungen über sich ergehen läßt. Aber gr zeigt sich auch als stolzen Herrn und Ge­ bieter, indem er feierlich seinen Einzug in Jerusalem hält und, als die ganze Stadt in Bewegung kommt und spricht: „Wer ist dieser", zum Tempel geht, um ihn im Bewußtsein seiner Macht von den Käufern und Verkäufern zu reinigen, die das Haus des Gebetes zu einer Räuberhöhle gemacht hätten (Matth. Kap. 21 V. 9 ff.). Und so ist auch bei jedem Christen wahre Demut mit echtem Stolz nicht bloß vereinbar, sondern um so mehr vereinigt und in eine einzige Gesinnung verschmolzen, je mehr Jesus tat­ sächlich zum Vorbild für die ganze Lebensführung erwählt und in jeder Lebenslage nachgeahmt wird. Christliche Demut ist nicht Schwäche, nicht Weichlichkeit oder gar hündische Nachgiebigkeit und Verleugnung der eigenen Persönlichkeit, sondern strengste

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Sachlichkeit, aber mit persönlichem Wertbewußtsein verschmol­ zen. Gerade in dieser Verschmelzung besteht ihre ungeheure Bedeutung, ihre Unentbehrlichkeit für ein einträchtiges Zusammen­ wirken und ein echtes Gemeinschaftsleben. Ohne Sachlichkeit, ohne selbstloses Eintreten für die Sache, die es zu regeln, zu vertreten, zum guten Abschluß zu bringen gilt, läßt sich nichts Tüchtiges schaffen. Aber, wer sich nach seiner ganzen Persön­ lichkeit mit Recht sagen darf, daß er die nötige Sachkenntnis besitzt, um wahrhaft der Sache zu dienen, der hat auch die Pflicht und das Recht, mit allem Nachdruck seine Persönlichkeit zur Gel­ tung zu bringen. Und er handelt um so christlicher, je mehr er selbstlos seinen ganzen Stolz darein setzt, die von ihm vertretene Sache in seinem Sinne zu regeln und, wenn es nottut, nach Jesu Vorgang selbst vor einem kräftigen „ihr Otterngezücht nicht zurückzuschrecken, um seinen Worten mehr Nachdruck zu verleihen. In diesem Sinne ist wahres Tatchristentum von echten Männern stets aufgefaßt worden. Und je demütiger sich einer von Herzen fühlt, desto leichter fällt es ihm auch nach außen hin, den vollen Wert seiner Persönlichkeit zur Geltung zu bringen, weil er ganz genau weiß, daß sein Selbstgefühl von wahrheits­ liebenden und für Wahrhaftigkeit empfänglichen Menschen niemals als Dünkel, Eitelkeit oder Hochmut aufgefaßt werden wird. Während die gemachte Bescheidenheit und geheuchelte Demut in ihrer ganzen Dünkelhaftigkeit sich um so mehr ent­ larvt, je mehr sie sich auf Christus beruft und ihn wohl gar noch übertreffen will, weil sie ihn nicht als Gottmenschen gelten läßt, sondern nur als einen in seinem Lebenswerk gescheiterten Menschen, dessen Messiasrolle sie selbst mit größerem Erfolg wieder aufnehmen möchte. Als ob nicht das Christusideal ein für allemal bis ans Ende aller Zeiten unvergleichlich und einzig­ artig dastände und daher notwendig jeden in das jämmerliche Nichts zurückschleudert, der so verblendet ist, daß er es allen Ernstes wagt, sich ihm gleichzustellen. Durch das Christentum ist nicht nur aller Gottlosigkeit, Ab­ götterei und Vielgötterei vollständig ein Ende gemacht, sondern auch jeder neuen Religionsbildung endgültig vorgebeugt und ein für allemal der Boden entzogen. Der einzige wirkliche Gott­ mensch, den die Menschheit kennt und bis zum Ablauf der Ge-

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schichte kennen wird, ist Jesus Christus. Alles, was daher an religiöser, also im Namen der Gottheit erfolgender Beeinflussung der Menschheit innerhalb des christlichen Kmturkreises möglich ist, kann nur an Jesus Christus anknüpfen und sich auf ihn beziehen. Wer also sich selbst als Erlöser der Menschheit'aufspielen und Jesus von Nazareth in den Hintergrund drängen oder über Jesus hinaus die Religionsbildung weiterführen will, geht von vorn­ herein in die Irre. Und gerade die christliche Demut bewahrt am besten vor dem Fluch der Lächerlichkeit, dem im günstigsten Falle jeder sich aussetzt, der noch an die Möglichkeit einer neuen Religion glaubt und sich wohl gar selbst zu ihrer Stiftung berufen wähnt. Wie es auch völlig aussichtslos ist, an die Stelle des Christentums etwa eine der -anderen großen Weltreligionen setzen zu wollen, die noch neben ihm bestehen, mag man auch noch so sehr deren Stifter bewundern und ihnen die Anerkennung zollen, die sie als Denker und Tatmenschen zweifellos immerfort verdienen. Aber die abendländische Kulturmenschheit kann sich auch nicht nachdrücklich genug zum Bewußtsein bringen, daß sie mit allen Wurzeln ihrer Schaffenskraft unlöslich an das Christentum ge­ bunden ist und sich unbedingt der Gefahr des völligen Untergangs aussetzen würde, wenn sie sich vom Christentum lossagen und einer fremden Religionsform zuwenden wollte. Deutlich genug lehrt die Geschichte, daß gerade dadurch machthungrige Völker andere Völkerschaften vollständig zu unterjochen verstanden, daß sie ihnen nach gewaltsamer Bezwingung auch noch ihre Gott­ heiten aufzwangen und sie dadurch endgültig ihrem Einfluß unterwarfen. Denn, wenn ein Volk ganz und gar seine Religion aufgibt, gibt es nur zu leicht sich selbst auf. Wohl muß notwendig mit fortschreitender Kultur die niedere Religionsform der höheren weichen, wie der Irrtum notwendig der Wahrheit weichen muß. Aber selbst das Christentum hat sich bei den Völkern, die es an­ genommen haben, nur in der Weise durchgesetzt, daß sich religiöse Gebräuche und Einrichtungen, die der Wesensart des jeweiligen Volkscharakters entsprungen waren, mit den bereits vorhandenen christlichen Einrichtungen verschmolzen, soweit es unbeschadet der Erhaltung des christlichen Kernes möglich war. So werden auch bei der weiteren Ausbreitung des Christentums über den ganzen Erdkreis die neben ihm einstweilen noch bestehenden Religionen

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das, was in ihnen wahrhaft religiös ist und im Grunde genommen christliches Denken und Empfinden widerspiegelt, zweifellos nicht aufgeben, sondern mit dem Christentum verschmelzen. Nur auf diesem Wege ist ein wirklicher religiöser Fortschritt in der Durch­ dringung von Abendland und Morgenland, von europäischem und asiatischem Kulturkreis möglich, nicht umgekehrt. Gibt jedoch das Abendland mit dem Christentum seine ganze wirkliche Kultur preis, dann ist es zum Untergang reif. Dann wird das Christentum, da es selbst auf keinen Fall untergehen kann, an den Völkern des Ostens seine göttliche Kraft erweisen und sie in den Stand setzen, den Erdkreis zu beherrschen und die ganze Schaffenskraft, die in ihnen nach Betätigung ringt, als Licht von Osten über die gesamte Menschheit neu erstrahlen zu lassen. Geradezu wie ein Hohn freilich auf das Christentum muß es erscheinen, wenn christliche Völker ihre Überlegenheit über nicht christliche dazu benutzen, um im Namen des Christentums schnöde Eroberungszüge zu unternehmen und unter dem Vor­ wande, den Heiden die Segnungen des Christentums zugänglich zu machen, scheinheilig lediglich ihrer Erwerbsgier zu frönen. Nach den christlichen Grundsätzen soll die Menschenliebe allgemein sein und sich auf alle Völker auf dem ganzen Erdkreis erstrecken. Gewiß müssen dabei die höher stehenden Nationen erzieherisch auf wilde Völkerschaften einwirken und nötigenfalls energische Maßnahmen anwenden, um diese vor allem auch an gesittete Arbeit zu gewöhnen. Aber ist es christlich, die Bewohner anderer Erdteile auszubeuten und aus krasser Gewinnsucht zu Zwangs­ arbeiten heranzuziehen oder gar zu Sklaven zu machen? Ist es vernünftig, die Eingeborenen heißer Landstriche, die an das Klima gewöhnt sind und körperliche Arbeit zur Ausnutzung des Bodens leisten könnten, die dem Europäer unmöglich wäre, gewaltsam auszurotten und sich so der wertvollsten Arbeitskräfte zu berauben? In welchem Lichte aber erscheint ein Volk der weißen Rasse, das Angehörige der schwarzen Rasse nicht nur zur Kriegführung gegen ein Land mit weißer christlicher Bevölkerung verwendet, sondern die Schwarzen sogar zu Fronvögten über Weiße macht und dadurch in ihnen ein Machtgefühl erzeugt, das notwendig zur Überhebung, zu Ausschreitungen und widerlichen Ausschwei-

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fungen führen muß und das gesamte Erziehungswerk der Kultur­ völker an den Naturvölkern aufs schwerste gefährdet! Während gleichzeitig bei dem christlichen Volke, dem solches angetan wird, die Erbitterung gegen die Urheber dieser Schmach in riesigen Flammen gen Himmel lodert und einen Sturm der Entrüstung und des gerechten Zornes erzeugt, der jeden Augenblick in offene Empörung ausbrechen kann. Denn bis in die belebte Natur und in das Menschenleben hinein erstrecken sich zweifellos die Gesetze der Anziehung und Abstoßung- die in der unbelebten Natur herrschen und die Be­ wegungen der Himmelskörper, das Entstehen und Vergehen von Welten nicht minder wie die geringfügigsten Bewegungsvorgänge im Weltall regeln. Daher kann auch innerhalb der menschlichen Natur kein Druck ausgeübt werden, ohne daß er einen Gegen­ druck erzeugt und Kräfte auslöst oder in einem Brennpunkt sammelt, die vorher gebunden waren oder nach verschiedenen Richtungen hin auseinander strebten. Aber es ist ein großer Irrtum, die Kraft eines solchen Gegendrucks nur nach den technischen Hilfsmitteln, den rein mechanischen Kräften be­ rechnen zu wollen,die dabei dem Unterdrückten offenkundig zur Verfügung stehen, ohne zugleich die Kraft der Verzweiflung und die todesmutige Macht der Begeisterung in Betracht zu ziehen, deren ein freiheitliebendes Volk fähig ist, wenn es sich um alles betrogen sieht, und wenigstens sein Heiligstes retten will, wenn sonst nichts mehr zu retten ist, seine Ehre. Und auch das ist ein Irrtum, wenn siegestrunkene Verblendung glaubt, aus einem versklavten Volk alles herauspressen zu können, was nach der Leistungsfähigkeit, die das Volk in den Tagen der Frei­ heit aufwies, sich anscheinend mit Leichtigkeit von ihm müßte erpressen lassen. Ist doch letzten Endes die Sklaverei, soweit christlicher Einfluß sie nicht zu beseitigen vermochte, vor allem aus dem Grunde aufgehoben worden, weil sie sich schließlich als unwirtschaftlich erwies und daher von selbst dem freien Angebot der Kräfte weichen mußte. In Freiheit schaffen, das ist die unerläßliche Vorbedingung, wenn mit dem kleinsten Kraftauf­ wand die größte Wirkung erzielt werden soll, während der Un­ freie keinen Trieb zum Schaffen und keine Schaffensfreudigkeit besitzen kann, weil er weiß, daß der Ertrag seiner Arbeit nicht

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ihm zugute kommt, sondern in fremde Taschen fließt und sie mühelos füllt. Daher muß die Gütererzeugung auf der Erde notwendig um so mehr zunehmen, je mehr die Freiheit in der Volks- und Weltwirtschaft wächst und alle Hemmungen beseitigt, an denen die Schaffensfteudigkeit der Menschen auch nur im geringsten' erlahmen könnte. Doch ist volle wirtschaftliche Freiheit nur unter der Herrschaft der christlichen Freiheit möglich, weil nur dann der Schaffenstrieb sich von selbst in den richtigen Grenzen hält und nicht in blinde Erwerbsgier ausarten kann, die nicht nur sich selbst um die wahren Güter des Lebens betrügt, sondern auch das Gemeinwohl aufs schlimmste schädigt oder gar völlig vernichtet. Das Christentum als solches kennt nur ein einziges Schaffen, nur eine einzige Arbeit des Menschen, seine Lebens­ arbeit zu seiner sittlichen und geistigen Vervollkommnung, als dem Endzweck, dem alle einzelnen Zwecke im Leben unterzu­ ordnen sind. Man verkennt vollständig den Geist des Christen­ tums, wenn man ihm vorwirft, es betrachte die Arbeit als einen Fluch-der Menschheit, mit dem sie von Gott gestraft worden sei. Eine solche Auffassung lag Jesus von Nazareth zweifellos völlig fern. Er kennt nur eine einzige Sorge des Menschen, die Sorge für die Seele, für das wahre, innere Glück. Daß zur Förderung des Seelenheils, zur Erreichung des eigentlichen Lebenszwecks für den Menschen eine geregelte, gewissenhafte und beftiedigende Berufstätigkeit das richtige ist, diese Erkenntnis ist der Vernunft auf Grund der christlichen Lebenswahrheiten erst nach und nach aufgegangen. Ebenso wie die Vernunft auch erst nach und nach dazu gelangt ist, die Arbeit mit vollem Bewußtsein als Genuß zu empfinden und auch die Bedingungen zu ergründen, unter denen die Arbeit wahrhaft als Genuß empfunden werden kann. Von Natur jedoch ist der Mensch zweifellos so veranlagt, daß er zunächst die Arbeit, vor allem die körperliche Arbeit, als eine Last betrachtet und sie zu der Lust, die ihm ein sinnlicher Genuß bereitet, in einen entschiedenen Gegensatz stellt. Und wie sehr auch mit fortschreitender Kultur dieser Gegensatz sich abschwächen und in eine Lebensauffassung sich umwandeln mag, die gerade um des echten Lebensgenusses willen auf Arbeit, auf eine den Kräften und Fähigkeiten entsprechende Berufstätigkeit keines-

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falls verzichten möchte, so wird doch mit einer völligen AufHebung dieses Gegensatzes in der Menschheit kaum jemals zu rechnen sein. Insbesondere wird gerade die höchste Tätigkeit, die es für den Menschen überhaupt gibt, die Arbeit des frei Jähren« den Künstlers, in ihrem Mngen mit dem spröden Stos^Incht

selten als eine Qual empfunden, wie sie der Handarbeiter nie­ mals kennenlernt. Und der Einteilung des Lebens in Stunden oder Zeiten der Arbeit und in solche der Muße, des Genusses, der Erholung oder wie die Bezeichnung sonst lauten möge, wird selbst da nicht widersprochen werden, wo die Berufstätigkeit als der eigentliche Lebensinhalt angesehen und aller Genuß im enge­ ren Sinne nur als ein Mittel zur Erhaltung der Arbeitskraft und Schaffensfreudigkeit betrachtet wird. Wahre Schaffens­ freudigkeit kann aber auch nur da herrschen, wo der Beruf nicht als ein bloßes Werkzeug zur Erlangung von Macht oder Besitz aufgefaßt, sondern letzten Endes bewußt oder unbewußt in den Dienst des Gesamtwohls gestellt wird, also in christlichem Sinne auf das Gottesreich als Ideal hinzielt. Während alles bloße Berufsmenschentum innerlich ebenso leer läßt, wie alles bloße Jagen und Streben nach Rang und Prunk. Wie es Jesus von Nazareth geißelt, indem er erÄärt: „Wo dein Schatz ist, da ist auch dein Herz"; „Ihr könnt nicht Gott dienen und dem Mam­ mon" (Matth. Kap. 6, V. 21 und 24). Das Christentum kennt daher auch keinen Unterschied zwischen freien und unfreien Berufen. Jeder Beruf soll aus eigener freier Wahl in innerer Freiheit und Unabhängigkeit zum eigenen und allgemeinen Besten ausgeübt werden. Zweifellos ist es aber leichter, in einem sogenannten unfreien Beruf als Arbeiter, An­ gestellter, Beamter sich wahrhaft frei zu fühlen, als in einem freien Beruf als Gewerbetreibender oder Unternehmer, wo die Sucht nach Gewinn nur zu leicht allseitige Abhängigkeit bewirkt und alle Kräfte des Menschen für den Erwerb in Anspruch nimmt, so daß für die wirklichen Genüsse des Lebens, für geistige Be­ strebungen und seelische Freuden > nichts mehr übrigbleibt. Auf Erwerb freilich, wenigstens insoweit, als es sich um die Beschaffung der zum Lebensunterhalt erforderlichen Mittel handelt, zielt jeder Beruf hin. Wie ja auch niemand bei einer Berufstätigkeit sich frei und zufrieden fühlen kann, deren Einnahmen kaum ausSchwellenbach, Erneuerung.

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Reichen, um die Notdurft des Leibes zu stillen, es sei denn, daß es sich um anfängliche Opfer handelt, die in der Hoffnung auf sperren Ausgleich gern gebracht und und willig ertragen werden. Das einer durch eigene Kraft und Tüchtigkeit erwirbt, das willde aber auch als Eigentum besitzen und zu eigener Ver­ fügung haben, in die kein Unbefugter sich einzumischen hat. Es ist selbstverständlich, daß der Begriff des Eigentums in der Mensckheit niemals aufgehoben werden kann. Abgesehen von rein geistigem Eigentum, das in einer vom Mammonsgeist verseuchten Gesellschaft nicht minder wie Geld und Gut gegen Diebstahl ge­ schützt werden muß, beansprucht jeder zum mindesten das, was er zur Bekleidung und Behausung braucht, als seinen Besitz, den ihm niemand streitig machen darf. Wie weit im übrigen 'der Begriff des Eigentums zu ziehen ist, unterliegt der Ent­ scheidung der Vernunft. Der Wortlaut des zehnten Gebots spricht allerdings von Haus, Acker, Knecht, Magd, Ochs und Esel des Nächsten, ohne indes dadurch dem Eigentumsbegriff einen festen Inhalt und Umfang zu geben. Jesus führt in den Evangelien das zehnte Gebot überhaupt nicht an, sondern nur das siebente: Du sollst nicht stehlen. Immerhin wird einer, dem es Ernst mit dem Christentum ist, es auch unbedingt als Unrecht empfinden, wenn ein Besitzer, Unternehmer oder sonstiger Arbeit­ geber dem andern skrupellos die besten Arbeitskräfte zu entziehen sucht, ganz zu schweigen von allen den unlauteren Machen­ schaften, mit denen Erwerbsgier sich überhaupt Menschen, die anderen verpflichtet sind, zu ködern sucht, um sie für ihre Zwecke auszunutzen. Indessen wird auch in dieser Hinsicht dem freien Spiel der Kräfte und der freien Entschließung der Menschen nur da gewaltsam ein Damm zu setzen sein, wo es sich mit Rücksicht auf das Gemeinwohl als unumgänglich nötig erweist, während eine wirkliche Ausrottung solcher Übel nur durch moralische Ein­ flüsse möglich erscheint. Auf jeden Fall aber geht die Vernunft in die Irre, wenn sie grundsätzlich von der Verneinung des Eigen­ tumsbegriffs ausgehen und da, wo sie trotzdem Eigentum als unbedingt notwendig anerkennen muß, diese Notwendigkeit nur als Ausnahme von der Regel gelten lassen will. Nein, die Regel muß sein, daß jedem das, was er durch eigene Kraft schafft und für sich und die Seinen braucht, auch unbedingt zugestanden

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wird. Vorausgesetzt natürlich, daß nicht auch Lug und Trug im Spiele waren, sondern nur Tüchtigkeit und Fleiß, die sich in einer vernünftigen Gesellschaftsordnung unbedingt auch lohnen müssen. Im übrigen ist es Sache der Wirtschafts- und Rechtswissen­ schaften, zu ermitteln, unter welchen Bedingungen die Güter­ erzeugung am größten wird und der Umlauf und Austausch von Gütern sich am besten vollziehen. Aber auch hier muß Freiheit die Regel sein und Beschränkung der Freiheit die Ausnahme. Das Umgekehrte, grundsätzlich jeden in seinem Schaffen unfrei zu machen und in seinen Entschlüssen an die vorher einzuholende Genehmigung der Gemeinschaft zu binden, würde in zahlreichen Fällen die Schaffenskraft lähmen und die Schaffensfreudigkeit beeinträchtigen. Der wahrhaft freie und echt christlich gesinnte Mann wird ohnehin keine schwerwiegenden Entschlüsse fassen, ohne sich vorher aufs eingehendste mit berufenen Persönlichkeiten zu beraten. Während der Zwang, sich einer zahlenmäßigen Mehrheit zu fügen, natutgemäß zu Weiterungen und Reibereien führt, wenn er nicht wegen der Gefügigkeit mittelmäßiger Kräfte einem starken und klaren Willen gegenüber lediglich als leere Formsache sich erweist und damit von selbst als Zeit- und Kraft­ vergeudung sich richtet. Ebensowenig wie zwischen freien und unfreien Berufen kennt das Christentum auch eine Unterscheidung zwischen schöpferi­ schen und nicht schöpferischen Persönlichkeiten. Im christ­ lichen Sinne ist jeder Mensch schöpferisch veranlagt, jeder soll sein besseres Ich gegen seine tierische Natur durchsetzen, jeder soll in sich selbst durch Nachfolge Christi einen höheren Menschen, einen göttlichen Menschen schaffen, dessen Geist alles durchforscht, auch die Tiefen der Gottheit, und inmitten von Raum und Zeit doch über Zeit und Raum erhaben sein und im Ewigen leben kann. Und sind etwa die sogenannten Schöpfungen der geistigen Kultur, sind Weltanschauung und Wissenschaft, Kunst und Recht ausschließlich von den Persönlichkeiten geschaffen worden, die in der Kulturgeschichte als ihre Schöpfer gelten, und nicht zugleich auch von dem Volke, dem sie entstammten, oder sogar auch dem Kulturkreis, dem sie angehörten? Der echte Christ weiß ganz genau, daß er das, was ihn etwa vor anderen auszeichnet, nicht 5*

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sich selbst verdankt, sondern nur seinen Anlagen und im letzten Grunde der Gottheit. Und auch wenn er mit eiserner Ausdauer und ehernem Fleiß seine Anlagen ausbildete, wo andere sich anscheinend das Leben bequemer machten, so sieht er selbst in dieser Ausdauer und diesem Fleiß wiederum nur Kräfte, die unbedingt nach Betätigung drängten, ohne daß er es sich als ein besonderes Verdienst vor anderen anrechnete, seiner Natur nach so gehandelt zu haben, wie er als sittlicher Mensch handeln mußte. In dieser Hinsicht sind nach christlicher Auffassung die Menschen, trotz aller ihrer Ungleichheiten, vor Gott doch alle gleich. Und wenn ferner niemand ohne die Mitwelt, in der er lebt, ohne die Vergangenheit, auf der er fußt, die geistigen Schöp­ fungen der Menschheit selbstschöpferisch erweitern und tiertiefen kann, wie dürfte er dann nur sich allein oder sich vornehmlich als einen Schaffenden bezeichnen, ohne zugleich alle anderen mit einzuschließen, die ihn bei seinem Werk förderten und unter­ stützten? Nicht bloß die wenigen, die ihm unmittelbar wissen­ schaftlich oder künstlerisch beratend oder helfend zur Seite standen, sondern auch die vielen, unzähligen, die ihm in irgendeiner Weise mittelbar oder unmittelbar schafften und verschafften, was er zum Leben und Schaffen, zu seiner Notdurft, Annehmlichkeit und Zufriedenheit bedurfte? In dieser Hinsicht sind alle Be­ rufsarten und Erwerbstände derart aufeinander angewiesen, daß sie sich gegenseitig bedingen, ergänzen und fördern. Wissenschaft und Kunst vermögen nichts ohne Wirtschaft und Verkehr, wie anderseits das ganze praktische Leben fortwährend durch die Wissenschaften und Künste neu belebt, erfrischt und erhöht werden muß, um nicht in Dumpfheit, Gleichgültigkeit und Sattheit zu ersticken. Und selbst der einfachste Maschinenarbeiter kann sich als schöpferische Persönlichkeit fühlen, wenn er seine Arbeit in dem Be­ wußtsein leistet, daß sie nicht nur für ihn selbst zum Lebensunterhalt und zur Erreichung seiner sittlichen Lebensziele unentbehrlich ist, sondern auch seinen Mitmenschen als unentbehrlich gilt, weil sie wirkliche Lebensbedürfnisse befriedigt und nicht etwa entbehr­ lichen Tand und wertlosen Schund hervorbringt oder gar un­ sittliche und verbrecherische Zwecke fördert. So ist es der Sinn der Arbeit, der sie adelt oder niedrig und gemein macht. Mcht die Täügkeit als solche, die sich lediglich nach den Fähigkeiten

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und Neigungen der Menschen richten muß und ihnen um so mehr gerecht zu werden vermag, je größer die Freiheit ist, mit der jeder einzelne sich seinen Beruf wählen und in ihm schaffen kann. Aber die Gleichheit der Menschen vor Gott darf selbstver­ ständlich nicht dahin führen, daß auch vom Standpunkt der Kultur aus alle Unterschiede zwischen den Menschen verwischt und alle Anlagen und Bestrebungen völlig einander gleichgesetzt werden.

Denn wie sehr auch die hervorragenden Menschen, die wahrhaft Großen, denen in der Geschichte ein Ehrenplatz eingeräumt ist, nur ihren Kräften und Anlagen, aber nicht ihren Leistungen das zuschreiben, was sie schaffen und weshalb sie von der Mit- und Nachwelt verehrt und bewundert werden, so muß doch jeder, der ihnen gleichkommen will, gerade ihre Leistungen, also ihre Ausdauer und ihren Fleiß, ihre Furchtlosigkeit und Wahrhaftig­ keit, kurz ihre ganze Persönlichkeit mit allen hervorragenden Eigenschaften sich zum Vorbild nehmen, um seiner persönlichen Eigenart gemäß ihren Fußstapfen zu folgen. Wie einer sich selbst in seinem Gewissen einschätzt, das kann nicht zum Maßstab für die gegenseitige Einschätzung der Menschen vom Standpunkt des Gemeinschaftslebens aus, also auch nicht zum Maßstab für den Geschichtsforscher und Geschichtschreiber gemacht werden, um danach die Menschen zu messen und zü beurteilen. Und gerade die christliche Demut ist um so williger, ftemde Größe anzu­ erkennen und ftemde Willenskraft zu bewundern, je mehr sie ihren eigenen Willen, wenn er wahrhaft Vernunftwillen ge­ worden ist und die Sinnlichkeit beherrscht, lediglich als einen Sieg der göttlichen Wahrheit über die falschen und irreführenden Einflüsterungen der Leidenschaften betrachtet. Wobei sie aber doch auch der Qual der Überwindung und der furchtbaren Lockun­ gen, die es standhaft zu ertragen galt, sich voll bewußt ist und sich nicht verhehlt, daß andere vielleicht noch bedeutend heftigere Qualen erduldeten, ehe sie endlich zu ihrer bewunderungswürdigen Selbstzucht und Größe gelangten. So ist auf dem Boden des echten Christentums auch dem Standpunkt der Geschichtswissen­ schaft Rechnung getragen. Wie überhaupt göttliche Wahrheit und menschliche Wissenschaft sich niemals widersprechen können, weil ja die Wissenschaft nichts anderes als die fortschreitende Erkenntnis dieser Wahrheit im Wege der Vernunftentwicklung bedeutet.

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Hat aber der Mensch mit Sicherheit erkannt, worin er den eigentlichen Schwerpunkt seiner schöpferischen Persönlichkeit zu suchen habe, dann ist es ihm auch ein leichtes, bei seiner täglichen Berufsarbeit zum Bewußtsein voller Freiheit zu gelangen selbst bei strenger Bindung an feste Arbeitstunden und bei der Einfügung in eine Arbeitsgemeinschaft, die den einzelnen nur als ein winziges Rädchen in einer ungeheuren Maschine erscheinen läßt. Wo die Einsicht vorhanden ist, daß die Arbeit als solche um der Gemeinschaft willen geleistet werden muß, daß die eigene Kraft und Erfahrung nicht ausreicht, um höher bewertete Arbeit zu leisten, wo schließlich die Bedürfnisse sich dem Einkommen, das der Beruf gewährt, angepaßt haben, da stellt sich von selbst auch das Freiheitsgefühl ein, so daß in den Stunden der Arbeit auch nicht einmal der Wunsch sich regt, etwas anderes zu wollen und von der gewohnten Tageseinteilung abzuweichen. Das ist nicht etwa knechtische Bedürfnislosigkeit, sondern echte Lebens­ weisheit, die sich mit dem Erreichbaren zufrieden gibt und sich nicht selbst das Leben verbittert durch ständige Vergleiche mit anderen, die es anscheinend besser haben. Die aber trotzdem gegen jede Ungerechtigkeit aufbegehrt und mit ihren Vorstellungen um so mehr durchdringt, je mehr Anerkennung sie von allen Seiten findet und selbst' von ihren Gegnern aufs höchste ge­ achtet wird. ■ Von oben her, von den führenden und leitenden Persönlich­ keiten aus muß das Freiheitsbewußtsein ständig das ganze Volk durchdringen und beseelen, weil die unteren Schichten natur­ gemäß zu der Furcht neigen, durch stetes und wahrhaftes Auf­ treten nach oben hin Anstoß zu erregen und sich Nachteile zu­ zuziehen. Ein freier Mann aber duldet ebensowenig Unter­ würfigkeit und Kriecherei seiner eigenen Person gegenüber, wie er selbst unterwürfig sein kann und zu kriechen vermag. Aber das wahre Freiheitsbewußtsein wahrt auch sorgsam innerhalb des Volkskörpers die Rücksicht, die die Glieder dem Haupte um des Gesamtwohles willey notwendig bezeugen müssen, und weiß vor allem, daß die Grenze zwischen Freiheit und Frechheit scharf gezogen ist und niemals überschritten werden darf. So entsprießt aus dem christlichen Freiheitsbewußtsein die herrliche Blüte des freien und ungezwungenen Taktes, der mit der Sicher-

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heit eines Instinktes das Richtige trifft und sich zuversichtlich seiner Natur überlassen kann, weil er bestimmt weiß, daß sie von selbst sich an alle Lebenslagen anpaßt und auf sie einstellt. Ohne Berechnung, ohne Klügelei, stets dem Herzen und dem Kopfe zugleich folgend und unaufhörlich bemüht, sich selbst und anderen den ftohen, heiteren Sinn zu erhalten, der alle Arbeit beflügelt. Aus Liebe, aus eigenem Antriebe, immerzu von selbst das tun, was die höchste Vernunft gebietet, das ist wahres Christentum, wahre Freiheit. Und diese Freiheit ist zugleich echter Lebens­ genuß und wahres Glück, das mit der weiteren Ausbreitung des wahren Tatchristentums den Menschen immer mehr beschieden sein wird. Wenn erst ein einziges Volk auf Erden wahrhaft frei im Innern ist, frei vom Mammonsgeist, frei von Hochmut und Kriecherei, wahrhaftig, ehrlich vom Höchsten bis zum Geringsten, in jedem Volksangehörigen den Nächsten erblickend, den jeder liebt wie das eigene Selbst, dann ist der Freiheit auf dem ganzen Erdenrund eine Gasse gebahnt. Dann werden alle den Mut zur Wahrheit und Freiheit haben, weil sie die Früchte sehen, die am Baum der Freiheit heranreifen. Denn wie sagt Jesus von Nazareth: „Jeder Baum, der nicht gute Früchte bringt, wird umgehauen und ins Feuer geworfen werden. Also, an ihren Früchten werdet ihr sie erkennen" (Matth. Kap. 7, V. 19,20).

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Freiheit des Genießens. Was im Vorwort zu dieser Schrift behauptet wurde, daß das Christentum imstande sei, die Menschen völlig frei zu machen und ihnen die Möglichkeit zu bieten, in jedem Augenblick ihres Lebens zu tun und zu lassen, was sie wollen, das gilt es jetzt zu beweisen. Die Freiheit des Schaffens ist natürlich nur eine Vorstufe zur vollen Freiheit. Daß einer in einem liebgewonnenen oder auch nur gewohnten Beruf werktäglich 7 bis 8 Stunden ftisch und ftöhlich und ohne eine Anwandlung, etwas anderes zu wollen, drauf los schafft und die Zeit wie im Fluge schwinden

Freiheit des Genießens.

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heit eines Instinktes das Richtige trifft und sich zuversichtlich seiner Natur überlassen kann, weil er bestimmt weiß, daß sie von selbst sich an alle Lebenslagen anpaßt und auf sie einstellt. Ohne Berechnung, ohne Klügelei, stets dem Herzen und dem Kopfe zugleich folgend und unaufhörlich bemüht, sich selbst und anderen den ftohen, heiteren Sinn zu erhalten, der alle Arbeit beflügelt. Aus Liebe, aus eigenem Antriebe, immerzu von selbst das tun, was die höchste Vernunft gebietet, das ist wahres Christentum, wahre Freiheit. Und diese Freiheit ist zugleich echter Lebens­ genuß und wahres Glück, das mit der weiteren Ausbreitung des wahren Tatchristentums den Menschen immer mehr beschieden sein wird. Wenn erst ein einziges Volk auf Erden wahrhaft frei im Innern ist, frei vom Mammonsgeist, frei von Hochmut und Kriecherei, wahrhaftig, ehrlich vom Höchsten bis zum Geringsten, in jedem Volksangehörigen den Nächsten erblickend, den jeder liebt wie das eigene Selbst, dann ist der Freiheit auf dem ganzen Erdenrund eine Gasse gebahnt. Dann werden alle den Mut zur Wahrheit und Freiheit haben, weil sie die Früchte sehen, die am Baum der Freiheit heranreifen. Denn wie sagt Jesus von Nazareth: „Jeder Baum, der nicht gute Früchte bringt, wird umgehauen und ins Feuer geworfen werden. Also, an ihren Früchten werdet ihr sie erkennen" (Matth. Kap. 7, V. 19,20).

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Freiheit des Genießens. Was im Vorwort zu dieser Schrift behauptet wurde, daß das Christentum imstande sei, die Menschen völlig frei zu machen und ihnen die Möglichkeit zu bieten, in jedem Augenblick ihres Lebens zu tun und zu lassen, was sie wollen, das gilt es jetzt zu beweisen. Die Freiheit des Schaffens ist natürlich nur eine Vorstufe zur vollen Freiheit. Daß einer in einem liebgewonnenen oder auch nur gewohnten Beruf werktäglich 7 bis 8 Stunden ftisch und ftöhlich und ohne eine Anwandlung, etwas anderes zu wollen, drauf los schafft und die Zeit wie im Fluge schwinden

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Freiheit des Genießens.

sieht, das ist ja.nicht schwer zu begreifen. Aber die anderen 8 bis 9 oder 10 Stunden, die vom Tage übrigbleiben, wenn man 7 bis 8 Stunden für den Schlaf rechnet, wie sollen die unter­ gebracht werden? Wie soll da einer tun und lassen können, was er will, wenn er bei gerade ausreichendem Einkommen tagtäglich vielleicht neue Genußmittel locken und winken sieht, die seinen Gaumen, seine Augen reizen, die ihm jedoch unerreichbar bleiben, weil er keine Mittel besitzt, um sie sich zu verschaffen? Und da­ neben alle die anderen Genüsse des Kulturlebens, Theater- und Musikaufführungen, Ausstellungen, Vergnügungsreisen, gesell­ schaftliche Veranstaltungen aller Art und was sonst noch q/les reiche Leute sich leisten können, ganz zu schweigen von deih Ge­ nüssen der Liebe, nach denen Unzählige vergeblich hunger^ und schmachten! Da soll einer tun und lassen können, was er will, und völlige Genußfreiheit haben? So etwas soll auf Erden er­ reichbar sein, nicht bloß für wenige bevorzugte Sterbliche, nein, unter der Herrschaft des Christentums für alle Menschen? — Freiheit des Genießens! Ja, es ist der Traum der Menschheit. Doch ein Traum, so scheint's, der nie in Erfüllung gehen kann, sondern einem Irrlicht gleich alle ins Verderben lockt, die sich von ihm betören lassen. Man müßte denn das Wort Genießen in einem ganz anderen Sinne auffassen, als es gewöhnlich auf­ gefaßt wird, ja seinen Sinn beinahe völlig umkehren, so daß er fast auf Entsagung hinauskäme. Dann ließe sich vielleicht von einer solchen Freiheit reden, die aber zum mindesten nicht ohne Entsagung erlangt werden könnte, so daß zweifellos zunächst ^ltsagung gepredigt werden müßte, um den Willen so zu zügeln,

daß er nur noch allgemein erreichbare Genüsse erstrebte. Also durch Entsagung zur Freiheit? Ist das des Christen Weg? Dann scheint er doch dornig und steinig zu sein und schließlich auf Verzicht hinauszulaufen, wenngleich auch im freiwilligen Verzicht ein Ge­ nuß liegen kann, der den Genuß, auf den verzichtet wird, weit hinter sich läßt und vollkommen übertrifft. Aber muß es wirklich notwendig Entsagung, schmerzlich oder gar qualvoll empfundene Entsagung sein, die nach und nach zur Freiheit führt, die vielleicht am Ende des Lebens einige wenige Jahre völliger Freiheit verschafft^ nachdem der bei weitem größte Teil des Lebens lediglich eine ununterbrochene Kette von Ent-

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behrungen und notgedrungenen Verzichten gewesen ist, denen gegenüber die paar Jahre der Freiheit kaum ins Gewicht fallen? Können nicht Eltern, gerade wenn sie in der Lage wären, jeden Wunsch ihrer Kinder zu erfüllen, sie doch in größter Einfachheit aufwachsen lassen und in zahlreichen Fällen zu Verzichten an­ halten, nicht zu erzwungenen, sondern zu freiwilligen Verzichten, indem sie ihnen den Zweck, den Sinn des Verzichts klarmachen und ihnen selbst die Wahl lassen, ob sie aus Liebe zu ihnen und im Glauben an die Wahrheit dessen, was ihnen gesagt wird, je­ weils auf Genüsse, die sie anlocken, verzichten wollen oder nicht? So läßt sich zweifellos ein Kind zur Freiheit erziehen, ohne daß es notwendig vom Leben erst hart angefaßt oder gar grausam behandelt zu werden braucht, ohne daß es erst durch falsche Ge­ nüsse, durch Übermaß und Zügellosigkeit den rechten Genuß des Lebens kennenlernen muß und ihn in weiser Mäßigung auskostet, in einer Freiheit, die dann aber auch schon auf der Höhe des Lebens so weit gehen kann, daß sie, wenigstens was die sinnlichen Genüsse angeht, keine Entsagung mehr verlangt, sondern sich den aus dem Triebleben aufsteigenden Wünschen vollständig über­ lassen darf, weil überhaupt keine Wünsche mehr aufsteigen, die mühsam oder gewaltsam unterdrückt werden müßten. Nicht, als ob es sich dabei um ein aufs feinste ausgeklügeltes Genußleben handelte, das immer nur einem geringen Bruchteil der Menschen möglich wäre, sondern um eine einfache, gesunde Lebensweise, die in einem Lande mit arbeit- und betriebsamer Bevölkerung bei freiwilliger Befolgung der christlichen Grundsätze allen Ein­ wohnern erreichbar sein könnte. Ist es ein Wahn, solche Erziehungs­ weise für allgemein durchführbar zu halten, um auf diesem Wege nach und nach alle Völker zu völliger Freiheit heranzubilden? Muß nicht das Christentum, wenn es wirkliches Tatchristentum sein will, unbedingt diesen Weg einschlagen, mag es auch noch so sehr als Torheit verspottet werden, wie das junge Christentum einst von den Heiden als Torheit verspottet wurde und doch sich durchgesetzt hat und immer unüberwindlicher erweist, je mehr es'auch jetzt noch von den verschiedensten Seiten verhöhnt und bekämpft wird? Es ist tatsächlich keine Verdrehung oder Entstellung des Wortsinns nötig, um von Freiheit des Genießens zu sprechen

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Freiheit des Genießens.

und diese Freiheit mit Hilfe des Christentums für alle Menschen zu erhoffen und zu erstreben. Denn es handelt sich dabei keines­ wegs um Verzicht auf irgendeinen wirklichen und reinen Genuß, sondern nur um eine Besinnung auf die echten, auch in ihren Nachwirkungen ungetrübten Genüsse des Lebens, die, von den geistigen Genüssen abgesehen, sehr beschränkt sind und sich in wenige Arten zusammenfassen lassen. Wer freilich trotz reichlicher, für mehrere Personen völlig ausreichender Mttel sich in seiner Genußfreiheit beschränkt fühlt, weil er seiner Genußsucht nicht nach Belieben frönen kann, der muß zunächst erst einmal in eindringlicher Selbstprüfung sich die Genüsse des Lebens zum Bewußtsein bringen und seinen Willen auf echtes Genießen einstellen, um auf diesem Umwege zur Freiheit zu gelangen. Die echte Freiheit ist weder Verzicht noch Schrankenlosigkeit, wie sehr auch der Ausdruck „Freiheit des Genießens" manchem zunächst unangebracht oder gar als ein Anreiz zur Zügellosigkeit erscheinen könnte. Auch Jesus hat sich offenbar schon gegen den Vorwurf verteidigen müssen, als ob er eine Lebensauffassung verträte, die auf Zügellosigkeit hinauskomme. „Der Menschensohn kam, er ißt und trinkt, und sie sagen: Sehet, er ist ein Fresser und Weinsäufer, ein Freund der Zöllner ünd Sünder" (Matth. Kap. 11, V. 19). Und er sagt ausdrücklich, daß nicht das, was zum Munde eingehe, den Menschen verunreinige, sondern, was aus dem Munde herausgehe und aus dem Herzen komme, das verun­ reinige den Menschen. „Denn aus dem Herzen gehen hervor böse Gedanken, Mordtaten, Ehebrüche, Unzucht, Diebstähle, fal­ sche Zeugnisse, Lästerung" (Matth. Kap. 15, V. 19). Vor solchen Gedanken also muß der Mensch sich hüten, wenn er ein Christ sein will. Im übrigen aber kann er essen und trinken, was er will, wie ja auch die alttestamentlichen Speiseverbote im Christen­ tum vollständig aufgehoben sind. Und die christliche Freiheit ist vollständige Freiheit des Genießens, wie überhaupt jede Be­ friedigung eines Bedürfnisses dem Menschen wirklichen Genuß bereiten muß, so daß es geradezu ein Zeichen von Ungesundheit

oder Krankheit ist, wenn Essen und Trinken nicht schmecken oder gar Unbehagen und Schmerz verursachen. Nur daß es natürlich nicht Sache des Christentums ist, die Menschen zu einer schmack­ haften Ernährung anzuhalten, weil das Christentum ebenso wie

Freiheit des Gemeßens.

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Christus nur eine einzige Sorge, kennt, die Sorge um die Seele. Wie könnte aber auch die Seele eines Menschen sich wohl­ fühlen, wenn sein Herz erfüllt ist von bösen Gedanken, von Mordplänen oder anderen verbrecherischen Absichten, von dem Ent­ schluß, einen Ehebruch zu begehen oder einen falschen Eid zu schwören oder was sonst noch alles den Willen eines Menschen bewegt, wenn er den rechten Pfad verloren hat und sich auf dem Wege zum Abgrund befindet? Aber auch wer von solcher furcht­ baren Schuld sich frei weiß und nur den leichteren Anfechtungen, Verdrießlichkeiten, Bekümmernissen und Bedrängnissen ausge­ setzt ist, die die Seele der unfreien Menschen bedrücken und ihnen den Frohsinn, die Heiterkeit, die Ruhe des Gemüts rauben, deren es zum seelischen Wohlbefinden bedarf, auch der fällt unter die Schar der Unglücklichen, deren Seelenheil Jesus am Herzen lag, indem er die Sünden der Menschen bekämpfte. Ist es denn nicht eine unaufhörliche Qual der Seele, wenn der Mensch nicht loskommt von seinen Leidenschaften und falschen Angewöhnungen, wenn er, statt heiter und zufrieden durchs Leben zu wandeln und hohe und erhabene Gedanken in der Brust zu hegen, stets zer­ rissen ist von wühlenden, bohrenden, aufpeitschenden, die Sinne verwirrenden Vorstellungen und. Einfällen, die den Tag ruhelos, die Nacht schlaflos machen und das ganze Leben durch und durch vergiften? — Seelsorge, Sorge für die Seele, das ist es daher, was dem Christentum recht eigentlich am Herzen liegt und seinen Beruf ausmacht. Um den Leib sorgt sich der Mensch von selbst schon genug und tut sich seinem Körper gegenüber viel eher viel zu viel des Guten, als daß er es, überstrenge gegen sich selbst, am Nötigen, sofern er es hat, tatsächlich fehlen läßt. Aber auch die Seelsorge kann die seelischen Bedürfnisse nicht vollständig von den körperlichen trennen und den Menschen nicht als ein rein geistiges Wesen behandeln, dessen Körperlichkeit für sie gar nicht in Betracht käme. Daher ist es nicht etwa unchristlich, sondern vielmehr echt christliche Lebensweisheit, den Leib so zu pflegen, daß er dem Geist vollständig gehorcht und die Seele niemals beunruhigt. Das ist bei Gaumengenüssen schon aus dem Grunde nicht schwer, weil die Wohlgeschmäcke ihren wirklich ver­ schiedenen Arten nach sich im Leben bald durchkosten lassen. Und

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Freiheit des Genießens.

es ist oft mehr der Reiz des Unbekannten, der das Verlangen nach einer Speise oder einem Trank rege werden läßt, als eigent­ liche Genußsucht. Jeder Mensch möchte zwar alle Genüsse kennen­ lernen, die das Leben bietet. Aber es genügt zuweilen schon eine einzige Erfahrung, um ein für allemal einen Reiz zu füllen, der vielleicht lange Zeit die Phantasie heftig erregt hatte, weil sie seine Befriedigung sich als besonders köstlich vorstellte und dann endlich von der Wirklichkeit vollständig enttäuscht wurde. So be­ gnügen sich unzählige, obwohl sie üppig leben könnten, fteiwillig mit einer einfachen, gesunden Hausmannskost, ohne überhaupt nach sogenannten Feinschmeckergenüssen noch Neigung zu ver­ spüren. Wie ja überhaupt jeder vernünftige Mensch wenigstens auf möglichst regelmäßige Mahlzeiten hält, um in der Zwischen­ zeit nicht vom Verlangen nach Speise und Trank gestört zu wer­ den. Wobei echte Lebenskunst die Wünsche nach Abwechflung von der gewohnten, für Leib und Seele bekömmlichen Ernährungs­ weise auf Festtage verschiebt und sie dann leicht derartig zügeln kann, daß sie in der Zwischenzeit kaum noch dringlich werden. Jesus von Nazareth billigt nicht nur Festlichkeiten, sondern sogar kostspielige Genüsse, indem er den Jüngern unrecht gibt, als sie ein Weib der Verschwendung bezichtigen, weil es ein Glas mit köstlichem Wasser brachte und den Inhalt über sein Haupt ausgoß (Matth. Kap. 26, V. 7ff., Luk. Kap. 7, V. 37ff.). Hat also nicht auch der Christ das Recht, alle Genüsse, die die Erde bietet, zu durchkosten, sofern er nur die Worte Jesu beherzigt, daß das Leben mehr ist als die Speise und der Leib mehr als die Kleidung (Matth. Kap. 6, V. 25), immer vorausgesetzt natür­ lich auch die strikte Befolgung des Sittengesetzes? Vor einer kleinlichen, nüchternen und öden, aller Feiertagsstimmung, allem festlichen Gepräge, allem künstlerischen Schmuck abholden Lebens­ auffassung hat die Religion von jeher die Menschen bewahrt, indem sie vom Wertvollsten, das sie ihr eigen nannten, stets das beste zum Dienst Gottes bestimmte und damit zugleich der Ver­ fügung des einzelnen entzog und der Gemeinschaft zugänglich machte. Es ist auch unzweifelhaft Sache der Gemeinschaft, darauf hinquwirken, daß eigentliche Not in einem Volkskörper nirgends herrschen kann, wo Arbeitswilligkeit herrscht. Im übrigen aber muß es unbedingt als Sache jedes einzelnen gelten, durch eigene

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Energie sich emporzuarbeiten und über die Befriedigung der Notdurft hinaus das zu erstreben, was er zu seiner vollen Zu­

friedenheit als nötig erachtet. Und wenn dabei die Wünsche der Menschen immer kühner werden, wenn sie an Festtagen auch das genießen möchten, was ihre Jahreszeit, ihr Land ihnen nicht bieten kann, brauchen sie sich solche Wünsche zu versagen? Setzen nicht Handel und Verkehr mit den Fortschritten der Technik die Erdenbewohner immer mehr in den Stand, jederzeit alle Erzeug­ nisse der einzelnen Länder gegeneinander auszutauschen und die Freiheit des Genießens immer weiter auszudehnen? Nicht minder auch den reinen Naturgenuß durch die fortschreitende Überbrückung der Schranken von Raum und Zeit bis zu unge­ ahnten, ja kaum zu begrenzenden Möglichkeiten? So setzt das Christentum nirgends der Freiheit des Genießens eine Schranke, verdammt aber um so heftiger die zügellose Genußsucht einer Minderheit, die zum Schaden, zum Verderben der Mehrheit ihr eigenes Leben nicht genießen, sondern verprassen und vergeuden will. Auch die Vernunft sieht aber immer mehr ein, daß Üppigkeit

und Schwelgerei die Menschen in ähnlicher Weise zerrüttet, wie ihre Kehrseite, die bittere Not sie zermürbt, anstatt ihre Kräfte wirklich zu entfalten und aufs stärkste anzufachen. Und solange sich Üppigkeit und Not als schroffe Gegensätze gegenüberstehen, solange gibt es auch für die in der Mitte zwischen diesen beiden Polen lebenden Menschen keine Freiheit und Genußfreudigkeit, weil die Spannung, die zwischen den Polen besteht, stets zur Entladung führen und alles in einen Trümmerhaufen verwan­ deln kann. Es muß also die Aufgabe jeder vernünftigen Gemein­ schaft sein, auf ein Gleichgewicht der Kräfte hinzuarbeiten, bei dem alle insgesamt und jeder für sich fteudig schaffen und ihr Leben in Freiheit genießen können. Wenn aber jeder einzelne die seelische Zuftiedenheit und den geistigen Genuß als das Höchste im Leben erachtet, wenn jeder sich stets die leibliche Gesundheit und Frische zu bewahren strebt, die auch zum seelischen Wohl­ befinden unumgänglich nötig ist, dann sichert das freie Spiel der Kräfte van selbst das Gleichgewicht, wie es der Vernunft vor­ schwebt. Das christliche Sittengesetz muß daher Sitte und Recht werden. Das ist der einzige Weg, der die Menschheit zur Freiheit und zum Glück zu führen vermag.

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Wie wenig Gaumengenüsse dem Leben einen Sinn zu geben vermögen, zeigt sich auch darin, daß es erfahrungsgemäß vielen Menschen im Geisteskampf, im Schaffensdrang, im Eifer für den Kulturfortschritt, der aber nur zu leicht bloß verkappte oder unbe­ wußte Ruhm- und Ehrsucht ist, gar nicht schwer fällt, den Körper dem Geist unterzuordnen und bei völlig unzureichender Ernährung, bei fast jeglichem Mangel an Abwechslung doch irgendeine Ent­ behrung an Speise und Trank kaum zu verspüren. Aber um so stärker macht sich bei solcher Vergewaltigung des Körpers oft der Liebesdrang geltend, um die Sinne schadlos zu halten und alle Lebensgier in einem einzigen Punkte zu sammeln. Und wenn es der christlichen Lebensauffassung auch nicht schwerfallen mag, mit ihrer Mahnung zur Selbstbescheidung in Speise und Trank

Zustimmung zu finden, dann hat sie es dafür anscheinend desto schwieriger, dem Liebesverlangen der Menschen gegenüber das Sittengesetz als Freiheit hinzustellen, als Freiheit des Ge­ nießens, bei der von Entsagung und Verzicht, nach wirklicher Bindung an das sechste Gebot, nicht im geringsten mehr die Rede zu sein brauche. Erachten nicht Unzählige das Leben für schal und inhaltlos, wenn ihm das Schönste und Berauschendste, die Mannigfaltigkeit der Liebe geraubt werde? Erscheint es nicht geradezu wie ein Hohn auf die Freiheit, wie eine Vergewaltigung der Menschennatur, daß die Menschen nach dem sechsten Gebot ihr ganzes Leben lang sich richten sollen? Was sagt die Jugend, wenn man ihr dies Gebot zur Pflicht macht? Die reifere Jugend vor allem, bei der nur zu leicht vom Eintritt der Geschlechtsreife an alles Sinnen und Trachten hauptsächlich auf die Liebe sich richtet und in heißem Drang und glühendster Phantasie den Reiz des Unbekannten in den verlockendsten Formen und Empfin­ dungen sich ausmall? Die aber auch, solange sie unverdorben ist und in echter Jugendlichkeit sich entwickelt, von urwüchsigem Drang nach kraftvoller Lebensbetätigung und vollster Lebens­ wahrheit durchglüht ist und sich nicht durch halbe Wahrheiten täuschen lassen will, sondern sie trotzig verspottet. Auf das echte, natürliche Jugendempfinden kommt es hier vor allem an, weil auf keinem Gebiet die Jugend durch ein früh verdorbenes, zer­ mürbtes, vom Leben enttäuschtes, sich und anderen mißtrauendes und aller Energie bares Alter so leicht sich selbst entftemdet werden

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kann, wie gerade auf dem Gebiet des Geschlechtslebens. Wie sagt Jesus von Nazareth: „Es sei denn, daß ihr euch umkehret und werdet wie die Kinder, so werdet ihr nicht ins Himmelreich kommen"! Und mit der ganzen Wucht seiner Worte fügt er, der Sanftmütige, aber auch in seinen sittlichen Forderungen Uner­ bittliche, drohend hinzu: „Wer aber eines von diesen Kleinen, die an mich glauben, ärgert, dem wäre besser, daß ein Mühlstein an seinen Hals gehängt und er ersäuft würde im Meer, wo es am tiefsten ist" (Matth. Kap. 18, V. 3 und 6). Selbstverständlich muß die Jugend, wenn die Zeit der Ge­ schlechtsreife kommt, von berufener Seite über das Wesen des das Leben fortpflanzenden Triebes aufgeklärt werden. Aber die Aufklärung darf auf keinen Fall die naturwüchsige Entwicklung der Kinder gefährden, ihr Schamgefühl verletzen oder gar ersticken, ihre Sinnlichkeit vorzeitig wecken und die Kindlichkeit und Jugend­ lichkeit zerstören, um bloße Vernunftmenschen heranzubilden, in denen alle Glut der Empfindung von vornherein erloschen zu sein scheint. Ebensowenig jedoch wie gut geartete Kinder schutzlos der Verführung durch die Brut des Lasters und durch die über­ fütterten, verzogenen und geilen Sprößlinge schwelgerischer Eltern ausgesetzt werden dürfen, ebensowenig dürfen sie auch auf Schritt und Tritt gegängelt und mit Verhaltungsmaßregeln geärgert werden, die ihren Spott herausfordern und ihr Ehrgefühl kränken. Und wie leicht nimmt nicht ein Jüngling mit der ganzen Fein­ fühligkeit einer lauteren, unverbildeten Seele Ärgernis an dem,

was Erwachsene in ihrer vermeintlichen Klugheit oder ihrem ver­ meintlichen Pflichtgefühl an ihm erziehen wollen! Wie unsäglich gemein empfindet er es, wenn seiner reinen, fleckenlosen Schwär­ merei unlautere Beweggründe untergeschoben werden, wenn er von lüsternen und wohl gar neidischen Erwachsenen zum Gegen­ stände roher Späße und zweideutiger Redensarten gemacht wird! Mag er doch schwärmen und» anbeten, verehren und jauchzen und wiederum sich tief unglücklich fühlen, um bald von neuem zu schwärmen und zu verehren, welcher vernünftige Mensch wird es ihm wehren? Das ruhige, sichere Glück des Besitzes, das erst dem Mannesalter beschieden ist, wenn es sich völlig frei gemacht, wenn es seinen Paarungswillen fest gebunden hat, wird in der Jugend ausgeglichen durch die überströmende Seligkeit, die mit

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Freiheit des Gemeßen«.

der reinen, lauteren Schwärmerei verbunden ist und gegen Ge­ meinheit schützt. Die unter der Herrschaft des christlichen Sitten­ gebots die Jugend sicher hindurchzuführen vermag durch die Zeit der Ungebundenheit und Unfreiheit, des Gärens und Schäu­ mens, des Suchens und Wählens, Wachsens und Reifens, bis auch sie imstande ist, sich zu binden und Freiheit und Glück zu erlangen für ihre ganze weitere Lebensbahn. Es strömt eine wunderbare Kraft aus von dem Christusideal, eine Kraft namentlich auch auf die Jugend in der Zeit, wo der Freiheitsdrang in ihr erwacht, wo die Persönlichkeit sich in ihrer Eigenart entfalten will und jede störende Beeinflussung entschieden von sich weist. Planmäßige, kaltblütige, wohl gar mit Lug und Trug verbundene Verführung, die gar nicht an Ehe denkt, ist dem von diesem Ideal erfüllten Jüngling, auch wenn er sonst einmal in die Irre geht, ganz und gar unmöglich. Aber, wie der Jüngling, der mit Jesus lebt, bei seinem Drang zum anderen Geschlecht, bei seiner Sehnsucht nach Erfüllung, vor solcher Niedertracht geschützt ist, so wird er auch anderseits durch jede Schwärmerei gefeit gegen jede Entweihung seines eigenen Kör­ pers. Wie würde er sich vorkommen der 14, 15, 16jährige, in dem schon das Gefühl der Männlichkeit rege ist, wenn er feige und willensschwach heimlich seinen Gelüsten frönen wollte, während er bei der Angebeteten lauterste Reinheit voraussetzt, wie sie der Mann vom Weibe verlangt, das ihm Braut, Gattin, Geliebte, Freundin und Kameradin werden und für das ganze Leben bleiben soll? Die ganze Kunst der Lebensführung und die Möglichkeit der Freiheit besteht ja überhaupt darin, daß der Mensch sein Triebleben durch seine Zwecke zügelt und dem Reiz, den ein Trieb in ihm hervorruft, eine Vorstellung entgegensetzt, die diesen Reiz von selbst unwirksam macht. So ist der Gedanke an die Geliebte für den Jüngling der wirksamste Schutz gegen einsame Anfechtungen; die Vorstellung der Geliebten als Gattin für den jungen Mann der beste Talisman gegen Verführung. Wo überhaupt der Wille fest auf die Ehe gerichtet ist, da ist auch von selbst in einem jungen Manne, der in einem echt christlichen Familienkreise aufgewachsen ist, der sittliche Halt stark genug, daß er sich nicht sein Eheglück verscherzt oder durch Mangel an Selbstzucht leichtsinnig trübt. Während überall, wo die männliche Jugend

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über die Ehe geringschätzig denkt, der Ausschweifung Tür und Tor geöffnet ist, zumal wenn der Zeitgeist sie billigt und den Verführer wohl gar noch bewundert, statt ihn gebührend zu verachten. Was soll man von Müttern und Vätern sagen, die ihren Heranwachsenden Söhnen den Rat geben, nicht zu heiraten, wenn sie es im Leben zu etwas bringen wollten, nicht zu heiraten, weil die meisten Ehen unglücklich seien und nur Enttäuschungen berei­ teten? Kann man einen jungen Mann sicherer in die Gefahr bringen, sich um sein Lebensglück zu betrügen, als durch einen solchen Rat? Es mag noch hingehen, wenn die Sorge um das eigene Auskommen, wenn der Wunsch, daß der erwachsene Sohn und Bruder seine Angehörigen unterstützen möge, diese dazu veranlaßt, ihm von der Ehe abzuraten Und ihm alle möglichen warnenden Beispiele zur Abschreckung vorzuhalten. Aber wenn wohlhabende Familien ihre Söhne gegen die Ehe einzunehmen suchen oder die Ehe noch zum Geschäft machen wollen, wenn die Eheschließung durch gesellschaftliche Verpflichtungen erschwert oder verhindert wird, wenn der unverheiratete Mann in der Gesellschaft die Hauptrolle spielt und von Frauen angeschwärmt wird, dann sind das Krebsschäden, die ein Volk unfrei machen und alle echte Lebensfreude ersticken. Nein, gleich vom Beginn der Geschlechtsreife an muß gerade von der männlichen Jugend neben der Berufsausbildung auch die Sicherung des Lebensglücks durch eine wahrhaft vernünftige Ehe als Ziel alles Strebens betrachtet werden. Und die Ehe darf nicht etwa nach einer zügel­ losen, ausschweifenden Jugendzeit vom Manne als Beginn der Unfreiheit angesehen werden, sondern muß nach dem unerfüllten Sehnen des jugendlichen Sturmsund Drangs als die Befriedigung aller Wünsche und als ein Zustand wahrer Freiheit gelten, wenn sie nicht von vornherein zur Fessel werden soll, durch die ein Mann sich gebunden und gedrückt fühlt bis ins hohe Greisenalter hinein. Welcher Energie ist die männliche Jugend fähig, wenn es gilt, Mut, Tapferkeit, Ausdauer zu zeigen und dadurch Aner­ kennung und Bewunderung zu ernten? Wo es daher als ein Zeichen von Kühnheit und schneidiger Männlichkeit gilt, mit zahlreichen Eroberungen und Verführungen prahlen zu können, wie sollte da ein junger Mann nicht seinen ganzen Stolz darin setzen, es hierin allen anderen zuvorzutun? Aber man gebe der Schwellenbach, Erneuerung

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Freiheit des Genießens,

Jugend ein anderes, ein wirkliches Tüchtigkeits- und Tapferkeits­ ideal, man begeistere sie für ein Heldentum, das wohl die Blüte der Weiblichkeit sucht, verehrt, bewundert und danach strebt, von ihr bewundert zu werden, das sie aber nicht in blindem Sieges­ rausch zerpflückt und ihres schönsten Schmuckes, der Jungfräu­ lichkeit, beraubt. Dann wird die Jugend mit der ganzen ihr eigenen Spannkraft dieses Ideal erstreben und ihm um so eifriger nachjagen, je mehr sie sich dabei selbst gehoben und wahrhaft beseligt fühlt. Wenn das wirklich ein ganzer Mann wäre, der es versteht, möglichst viele weibliche Wesen in sein Garn zu locken, dann müßte ja geradezu als ein Held der gewissenlose Heirats­ schwindler angesehen werden, der nicht nur zahlreiche Mädchen zugleich betört, sondern ihnen auch noch ihre Ersparnisse und ihr ganzes Vermögen abschwindelt und sie wohl gar noch zu Betrü­ gereien verleitet. Aber wenn die Jugend mit Recht den verfehmt, der gemeinen Diebstahl oder Betrug verübt, muß sie es dann nicht auch als unehrenhaft ansehen, ein armes Mädchen um sein höchstes Gut, um seine Ehre, zu beschwindeln und dem Laster in die Arme zu treiben? Nur der Selbstbezwinger ist der wahre Held, dem der Preis echter Männlichkeit gebührt. Er ist der wahre Freie, der in reiner Freude seine Jugend verlebt und sein Leben lang sich frei fühlt, wenn er aus echter Liebe sich endgültig gebunden hat. Unerbittlich lastet das Naturgesetz auf der Menschheit und zwingt die Geschlechter zusammen, auf daß die Gattung sich fort­ pflanze. Aber Mann und Weib können sich von dieser Last be­ freien und sie in Lust, in echten Lebensgenuß umwandeln, wenn sie sich Paar für Paar aneinander binden und so im Laufe ihres Lebens den Trieb erschöpfen, ohne ihn jemals zu mißbrauchen.

Wie aber wird die höchste Lust, der reinste Genuß aus dem Gattungstrieb erzielt? Dadurch daß Ernst gemacht wird mit den Worten Jesu, daß ein Mann schon die Ehe gebrochen habe in seinem Herzen, sobald er in wirklicher Begierde seine Blicke auf ein anderes Weib richte und so der eigenen Gattin untreu werde. Das bedingt nicht etwa, daß auch das bloße sinnliche Wohlgefallen an einer schönen Mädchenknospe, an einem voll erblühten Weibe erstickt werden müsse. Das wäre eine Vergewaltigung der Natur und

Freiheit des Gcmeßens.

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ein völlig verfehltes Beginnen, das den Trieb nur immer mehr reizen, statt erschöpfen würde. Nein, die echte Freiheit des Genießens besteht darin, daß jeder die Schönheit, die echte, reine, ungeschminkte Schönheit fteudig in sich aufnimmt, wo immer sie ihm, ohne ihn reizen zu wollen, klar entgegenstrahlt. Aber wer das falsche Begehren aus seinem Herzen verbannt hat, dem dienen alle Eindrücke, die ihm die Sinne vermitteln, nur dazu, die Liebe zu der Einen, an die sein Begehren gebunden ist, immer von neuem anzufachen und zu beleben. Und so ist das sechste Gebot, nach Jesu Worten verstanden, eine Wahrheit, die, sinngemäß für das ganze Leben beherzigt, beiden Geschlechtern den denkbar höchsten Liebesgenuß sichert, der für die Dauer eines ganzen Menschenlebens sich überhaupt erzielen läßt. Ist aber nicht vielleicht auch noch eine tiefere Wahrheit in Jesu Worten enthalten, eine Wahrheit, die zugleich eine der schwierigsten Fragen löst, mit denen sich die Volkswirtschaft schon seit geraumer Zeit beschäftigt, nämlich die Frage, wie einer Über­ völkerung der Erde durch maßlose Vermehrung der Menschen vorzubeugen sei? Sicherlich bietet die Erde für viele Millionen Menschen Raum, wenn ihre ganze Oberfläche eifrig bebaut, wenn alles, was sie an Naturschätzen zu bieten hat, für mensch­ liche Zwecke ausgenutzt wird. Aber was nützt selbst die stärkste Gütererzeugung, wenn die Menschen sich schrankenlos der natür­ lichen Fruchtbarkeit ihrer Gattung gemäß fortpflanzen wollten? Da wären stets Millionen und aber Millionen Menschen zu viel auf der Erde, die entweder Hungers sterben oder durch Seuchen umkommen oder in wütenden Kämpfen und Kriegen ihr Leben lassen müßten. Aber befindet sich nicht vielleicht das sogenannte Liebesleben der Menschheit noch zu einem großen Teil auf einer fast tierischen Stufe, von der es erst nach und nach durch das Christentum losgelöst und emporgehoben werden muß? Wie würde sich die Fortpflanzung gestalten, wenn die Männerwelt erst einmal ernst machte mit Jesu Worten und wenn zugleich die Winke der Natur beachtet würden, wie sie im weiblichen Triebleben und bei den Vorgängen innerhalb des weiblichen Körpers zum Ausdruck kommen?*) Denn beides ist notwendig, wenn die Menschheit zur vollen Freiheit gelangen soll: Der ■) Vgl. Kap. 1 S. 3.

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Freiheit des Genießens.

Gottmensch muß als Leitstern und die Natur als Führerin erwählt werden, damit dieses Ziel erreicht werde. Entscheidend sind hierbei vor allem die weiteren Forschungen der Wissenschaft, wie überhaupt die Wissenschaft es ist, die an der Hand der Grund­ wahrheiten, die im Sittengesetz als göttliche Wahrheiten den Pfad der Menschheit erhellen, ihr weiterhin die Wege zu ebnen und die einzelnen Wahrheiten aufzuzeigen hat, die in Sitt­ lichkeit und Recht umgesetzt werden müssen, damit die Mensch­ heit und die einzelnen Menschen ihr Ziel erreichen. Wie die Ernährungswissenschaft die Fingerzeige für die richtige Ernährung zu geben hat, so hat jede Wissenschaft in ihrem Bereich dafür zu sorgen, daß das Wahre auch als das Richtige gelte, das jeder sich stets zur Richtschnur nehmen muß. So nur kann die Sitten­ lehre Wissenschaft werden und die Menschheit unbedingt zur Freiheit führen. Zur Freiheit durch die Wahrheit, die sich mit Hilfe der Vernunft immer mehr den Menschen entschleiert. Freiheit des Genießens! Sind Hunger und Liebe gestillt, dann fängt bei vielen erst der Heißhunger nach Genuß, der Drang zum Leben und Erleben an. Und Unzählige fühlen sich ausge­ schlossen von allen Kulturgenüssen, die immer nur einer kleinen Minderheit zugänglich seien, während die meisten Menschen stets zur Entsagung verurteilt wären und niemals zu wirklichem Lebensgenuß gelangten. Gewiß, der Mensch lebt nicht von Brot allein. Aber sind es nicht meistens nur Steine statt Brot, die von der Kultur geboten werden, wenn sie dem christlichen Sittengesetz den Rücken kehrt und selbstherrlich in ihrer Weise nach Übernatur strebt? Echten Genuß bieten, abgesehen von schlichter, herzlicher, einfacher Geselligkeit, nur die reine Wissen­ schaft und die reine Kunst. Beide aber sind von der Gemein­ schaft allen zugänglich zu machen, damit jeder zur Freiheit des echten Lebensgenusses gelangen kann. Nur wenn die Kunst wirkliche Volkskunst ist und dem ganzen Volke dient, kann sie ihre Würde wahren. Dient sie dem Mammon, so gibt sie sich selbst auf und führt mit dem eigenen Verfall auch ihr Volk dem Ab­ grund entgegen. Also liegt die wirkliche Freiheit nur in einer fernen, erst zu erstrebenden, vielleicht ewig unerreichbaren Zukunft? Also kommt doch die christliche Lebensweisheit auf Entsagung hinaus, ohne

Freiheit des Genießens.

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in Wahrheit den echten Christen in den Stand zu setzen, sich jeden seiner Wünsche erfüllen zu können und stets zu handeln, wie das eigene Selbst es will? In der Zukunft lebt freilich jeder Mensch, ebenso wie fast jeder Genuß in Vorfreude und wirkliche Freude zerlegr werden kann, wobei oft die Vorempfindung die wirkliche Empfindung weit übertrifft, ja nicht selten der einzige Genuß ist, weil die Wirklichkeit enttäuscht. So lebt auch der Christ in letzter Hinsicht in seinem Zukunftsideal, dem Gottesreich, dem sein Lebenswerk gilt, auf das sein Schaffen hinzielt. Aber der Zustand der Ver­ wirklichung des persönlichen und gemeinschaftlichen Freiheits­ ideals auf echt christlicher Grundlage ist keineswegs eine Jenseits­ hoffnung, der zuliebe auf Erden Entsagung und Verzicht geübt werden müßten, sondern ein Ziel, für das jeder einzelne sich in der Erwartung einsetzen - kann, seine teilweise oder vollständige Erfüllung selbst zu erleben. Ja, soweit echtes Tatchristentum bisher auf Erden verwirklicht war, war auch die christliche Freiheit verwirklicht, die im Rahmen der irdischen Genüsse keinen Verzicht mehr kannte, weil der Geist den Körper genügend beherrschte. Und das Tatchristentum hat sich keineswegs auf die eigentliche

Christenheit beschränkt, wie es auch jetzt noch weit über den Kulturkreis der christlichen Völker sich erstreckt, während es im Namenchristentum seinen schlimmsten Gegner erblickt, der ihm am meisten schaden muß. Weil er gedankenlos dahinlebt und die Freiheit leugnet, weil er nicht den Mut hat, frei zu sein und sich wahrhaft an die Wahrheit allein zu binden. Um so wichtiger aber ist es, daß alle echten Tatchristen, alle, die in der unbedingten Befolgung der zehn Gebote dey einzigen Weg zum Heile für die Menschheit erblicken, sich einmütig zu­ sammenschließen zum Kampf für Wahrheit und Freiheit, zum Kampf ums Recht gegen alle Vergewaltigung und Heuchelei. „Jedes Reich, das wider sich selbst uneins ist, wird verwüstet werden, und jede Stadt oder jedes Haus, das wider sich selbst uneins ist, wird keinen Bestand haben" (Matth. Kap. 12, V. 25). Auch das ist ein Jesuswort, das wie alle Worte des Lehrers der Menschheit allenthalben die höchste Beachtung finden muß.

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