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German Pages 202 Year 2014
Frank Lestringant Die Erfindung des Raums
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machina | Band 4
Editorial Das lateinische Wort »machina« bedeutet – wie seine romanischen Entsprechungen – nicht nur Maschine, sondern auch List, bezeichnet zugleich den menschlichen Kunstgriff und das technische Artefakt. Die mit diesem Wort überschriebene Reihe versammelt Studien zur romanischen Literatur- und Medienwissenschaft in technik- und kulturanthropologischer Perspektive. Die darin erscheinenden Monographien, Sammelbände und Editionen lassen sich von der Annahme leiten, dass literarische, theatralische, filmische oder andere mediale Produktionen nur mit gleichzeitiger Rücksicht auf ihre materielle Gestalt und ihren kulturellen Gebrauch angemessen zu beschreiben sind. Die Reihe wird herausgegeben von Irene Albers, Sabine Friedrich, Jochen Mecke und Wolfram Nitsch.
Frank Lestringant (Prof. Dr.) lehrt Literatur des 16. Jahrhunderts an der Universität Paris IV-Sorbonne. Der Herausgeber Jörg Dünne (Prof. Dr.) lehrt romanistische Literaturwissenschaft an der Universität Erfurt.
Frank Lestringant
Die Erfindung des Raums Kartographie, Fiktion und Alterität in der Literatur der Renaissance. Erfurter Mercator-Vorlesungen (hg. von Jörg Dünne)
Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar. © 2012 transcript Verlag, Bielefeld
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Inhalt
Vorwort des Autors | 7
Erster Teil: Karte und Erzählung
Zum Verhältnis von Erzählung und Karte | 19 Vom Sinn des Blasens. Der Physeter bei Rabelais | 49 Allegorische Welten. Rabelais’ Fünftes Buch, Trentos Neue Papistische Weltkarte und sieben satirische Zeichnungen von Baptiste Pellerin | 77
Zweiter Teil: Identität und Alterität
Buße für die Renaissance? Die anthropologische Öffnung des 16. Jahrhunderts | 113 Bernard Palissy oder die Unheimlichkeit. Der ›königliche Töpfermeister‹ und seine Renaissance | 145 Eine Reise in die Eucharistie. George Psalmanaazaars Insel Formosa | 165
Nachwort des Herausgebers | 181
Abbildungsverzeichnis | 197 Nachweis der Erstveröffentlichungen | 199
Vorwort
Die Welt der Renaissance ist wie ein Buch, das man aufschlägt. Aber niemand kennt mehr die Anzahl der Kapitel und der Seiten, niemand könnte ihre Reihenfolge und das Gliederungsprinzip bestimmen. »Das, was zuerst auffällt«, schreibt André Chastel mit Bezug auf die Renaissance, »ist eine Akkumulation ohne Rücksicht auf die Folgen; es herrscht eine Art ungeduldiger Offenheit für die Anhäufung von Neuem – deutlich sichtbar ist dies bei Rabelais, später bei Montaigne oder auf einem ganz anderen Gebiet auch bei Paracelsus.«1
D ER V ORRANG DES R AUMS In der Renaissance findet eine wahrhafte geographische Revolution statt, die vom Geschlossenen zum Offenen geht, vom Vollen zum Leeren und von einer einheitlichen und festen Welt zu einer Pluralität instabiler Welten. Als Begleiterscheinung kehrt sich das Verhältnis von Land und Meer um. Die Welt der Menschen hat kein Zentrum und keine Peripherie mehr: Sie ist gerade erst auf der Oberfläche eines enorm vergrößerten Ozeans hervorgetreten. Dieses veränderte Bild der Welt führt auch zu einer neuen Funktion der Kartographie: Die mittelalterliche mappamundi begnügte sich nicht damit, die Gesamtheit des bekannten Raums darzustellen; ihr weiter reichender Anspruch bestand darin, die Weltgeschichte vom Sündenfall bis zur Apokalypse
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André Chastel: La Crise de la Renaissance, 1520-1600, Genf: Skira 1968, S. 37f.
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zusammenzufassen. Man konnte in ihr mit bloßem Auge das irdische Paradies in dem unheilvollen Augenblick sehen, als die Frucht vom Baum der Erkenntnis gepflückt wurde; nicht weniger deutlich waren im Norden die Berge zu erkennen, die die Legionen von Gog und Magog daran hinderten, über die Christenheit zur Zeit des Jüngsten Gerichts herzufallen. Die Weltkarte der Renaissance hört auf, diese totale geschichtliche Erinnerung zu sein; sie ist eine momenthafte Erinnerung, die kurzfristige Erfassung einer Welt in Bewegung, eine bald wieder hinfällige Bestandsaufnahme und die vorläufige Bilanz der gerade stattfindenden Entdeckungen. Die Renaissance verkündet den Vorrang des Raums über die Zeit; in der Malerei erfindet sie die Perspektive. Sie berechnet und vermisst die Welt, erfindet den Atlas. Sie kehrt zum Konzept der »Weltgeschichte« zurück, das in der Antike von den Griechen erfunden worden war und das Polybius zur Zeit einer ersten terrestrischen Globalisierung auf den Mittelmeerraum, der unter der pax Romana vereint war, angewendet hatte. Die Weltgeschichte ist die Geschichte, die man direkt von der Kartenoberfläche ablesen und in globalem Maßstab auf einer Weltkarte betrachten kann. Sie erhebt weniger den Anspruch, die Geschichte der Menschen in ihrer chronologischen Gesamtheit zu erfassen, als vielmehr, sie in einem synoptischen Tableau sichtbar zu machen, das die gesamte Erde und mit ihr die Menschheit erfasst, die sich auf ihrer Oberfläche ausbreitet. Sie entwirft ein Gesamtbild, lässt die Beziehungen und Spannungen unmittelbar hervortreten, die sie durchziehen und die Geschichte der verschiedenen Völker zu einer organischen Einheit zusammenzwingen. Sie zeigt letztlich, wie sich die Zeit im Raum zur Entfaltung bringt, wie die überall bewohnte Erde zugleich die Form und der Zweck der menschlichen Geschichte geworden ist. Die neue Welt, die aus den großen Seefahrten entstanden ist, ähnelt der globalen Welt bei Polybius, ist aber eine Stufe größer und umfasst tatsächlich die ganze Erde. Sie ähnelt der antiken Welt mit dem Unterschied, dass ihr Zentrum nicht mehr das Mittelmeer, sondern der Atlantik ist und dass der Ozean nicht mehr ihr äußerer Rand ist, sondern der Zwischenraum, der in seinem weiten Becken ihre Kontore verbindet und ihren Handelsbeziehungen Vorschub leistet. Die Weltwirtschaft, die aus den großen Seefahrten hervorgeht, verbindet wie
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nie zuvor die verschiedenen Abstammungslinien der Menschheit und propagiert zu Beginn der Neuzeit die Herausforderung einer echten, tatsächlichen Weltgeschichte. Italien nimmt sich dieser Aufgabe zuerst an, mit Paolo Giovio oder Francesco Sansovino. Man könnte an dieser Stelle den Beginn der Historiae von Paolo Giovio, Bischof von Nocera, zitieren, die 1550 veröffentlicht werden und ein halbes Jahrhundert Krieg und andauernde Expansion auf der Erdoberfläche als ansteckende Form der Gewalt beschreiben, die sich von Italien und Europa ausgehend über die Meere verbreitet: »Die unheilvolle Ansteckung des Krieges«, so schreibt er, habe nicht nur die alte Welt überzogen, sondern sich auch auf »all die Länder um den Ozean herum« ausgebreitet, so dass, »wir auf diese Weise zuvor unbekannte Völker entdeckt haben, bis zu denen sich die römische Tapferkeit nicht ausgebreitet hat.«2 Man muss diese vereinte und gleichzeitig von Krämpfen geschüttelte Welt, diese wiedergefundene und wieder hergestellte, aber im Krieg gegen sich selbst befindliche Welt auf einer kosmograpischen Ebene betrachten. Nach der kanonischen Definition des Ptolemäus ist die Kosmographie oder universelle Geographie die mathematische Beschreibung der Erde in Bezug auf die Himmelskreise; sie setzt beim kleinsten kartographischen Maßstab und auf der abstraktesten Ebene an. Es geht gewissermaßen um den Blick Gottes auf die Erde, ein distanzierter und dennoch aufmerksamer, forschender Blick. Von daher rührt auch die Verbindung zwischen Kosmographie und Theologie. Die Cosmographia des Deutschen Sebastian Münster von 1544 und ein halbes Jahrhundert später der Atlas von Gerhard Mercator beginnen mit der Schöpfungsgeschichte im Ausgang von den amplifizierten ersten beiden Kapiteln der des Buches Genesis: De fabrica mundi et fabricati figura. Wie in der ›Fabrik‹ des Arztes Vesalius3, dessen Titel er wieder aufnimmt, ist der geographische Atlas eine moralische Ana-
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Paolo Giovio: Histoires de Paolo Iovio Comois Evesque de Nocera, sur les choses faictes et avenues de son temps en toutes les parties du Monde, Traduictes de latin [...] par le seigneur du Parq Champenois (Denis Sauvage), Lyon: Guillaume Rouillé 1552, Buch I, S. 3. Die erste italienische Ausgabe dieses ersten Bandes wurde 1550 von Lorenzo Torrentino in Florenz veröffentlicht. Erstdruck: Andreae Vesalii Bruxelensis De Humani Corpris fabrica, Libri VII, Basel: Johannes Oporinus 1543.
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tomie.4 Doch während sich die Anatomie bei Vesalius mit dem Mikrokosmos, der ›kleinen Welt‹ des menschlichen Körpers beschäftigt, bezieht sich diejenige von Mercator auf die ›große Welt‹, den Makrokosmos, die sie zum Ausgangspunkt einer geistlichen Meditation macht. Die Erdkugel ist ein verbreiteter Gegenstand barocker vanitas-Darstellungen.5 Sie steht, wie auch die Seifenblase, der Totenschädel oder das Rad der Fortuna, für den flüchtigen und trügerischen Charakter der diesseitigen Welt, die dem Tod und der Zerstörung geweiht ist. Bevor sie jedoch zu einer beliebten Gattung in der Malerei wird, ist die geographische vanitas bereits integraler Bestandteil des kosmographischen Projekts. Auf den ersten Seiten seiner Cosmographia verknüpft Sebastian Münster das Schauspiel der Erdkugel mit einer moralischen Reflexion auf den »Wandel und der Veränderung der Staaten« und zitiert dabei das Buch Kohelet neben Plinius dem Älteren.6 Die Reihe von Veränderungen, die das Weltbild der Renaissance von Grund auf umstößt, führt nach und nach zu einer Säkularisierung des geographischen Raums, bis in ihm das Wirken der Vorsehung nicht mehr unmittelbar erkennbar ist, sondern, um verstanden werden zu können, einen ganzen Kommentarapparat erfordert. Nichtsdestotrotz besteht die Verbindung zwischen Kosmographie und Theologie in gewisser Weise fort. Mercator lässt ganz am Ende des Jahrhunderts seinen berühmten Atlas mit »kosmographischen Meditationen« beginnen und zieht somit praktische Konsequenzen aus der Säkularisierung
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Zum Konzept der »moralischen Anatomie« vgl. Louis Van Delft: Littérature et anthropologie. Nature humaine et caractère à l’âge classique, Paris: P.U.F. 1993, Kap. X u. XI. Vgl. dazu im Ausstellungskatalog Le Globe et son image, Paris: Bibliothèque nationale de France 1995, die von Catherine Hofmann und Eve Netchine verfasste Sektion mit dem Titel »Le globe, image de la vanité du monde«, S. 61-70. Vgl. auch Les Vanités dans la peinture au XVIIe siècle. Méditations sur la richesse, le dénuement et la rédemption, Caen: Musée des Beaux-Arts/Paris: Musée du Petit Palais 1990, insbesondere die Abbildungen auf den Seiten 196f, 208f, 236f, 320f u. passim. Sebastian Münster: La Cosmographie universelle de tout le monde, ergänzt von François de Belleforest, Paris: Chesneau et Sonnius 1575, Buch I, Kap. 31, col. 74-75. A.d.Ü.: Die deutsche Fassung erscheint ab 1550 in Basel unter dem Titel Cosmographey oder Beschreibung aller Länder, Herrschafften und fürnemesten Stetten des gantzen Erdbodens.
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des Raums.7 Die Geographie verzichtet nicht ganz auf die Theologie, aber sie behält nur noch in ihren Prolegomena theologischen Charakter. Was an der Schwelle zum Theater der Karten noch spricht, ist der paraphrasierte und kommentierte Schöpfungsbericht. Jenseits dieser sakralen Schwelle schweigt sich die moderne Geographie, die methodisch die in Kartenblättern angeordnete Struktur der Welt entfaltet, über den Ursprung wie auch das Ende der Welt aus. Mit dem Verzicht darauf, den Gottesstaat zu zeigen, den die Erde gleichsam ex negativo präfiguriert, beschränkt sie sich darauf, den unermesslichen Staat der Menschen mit seinem Gedränge und seiner Geschäftigkeit zu beschreiben. Während die Allegorien und Symbole in den mittelalterlichen mappaemundi noch allgegenwärtig, in den universellen Kosmographien der Renaissance dagegen schon weniger zahlreich sind, verlassen sie nun den kartographischen Raum, um sich in seine Ränder zurückzuziehen, in die Kartuschen und Ornamente der Karte. Die Genauigkeit ist ein Effizienzkriterium und garantiert die zunehmende Kontrolle über den realen Raum. Zu Beginn des 16. Jahrhunderts kann Orontius Finaeus die Welt in ein Herz einfassen, indem er eine von Johannes Werner geprägte Projektion wieder aufgreift. Ortelius und Mercator liefern ihrerseits Varianten dieser herzförmigen Projektionen und versehen sie mit genauen ideologischen Absichten kabbalistischer und mystischer Art.8 Diese Vermischung von Realität und Symbol ist später nicht mehr nötig, außer in genau abgegrenzten Bereichen wie demjenigen der sakralen Geographie, insbesondere in der jesuitische Apologetik. Das Bild der Welt ist von nun an frei für seine profanen Verwendungen.
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Gerardi Mecatoris Atlas, sive Cosmographicae Meditationes de fabrica mundi et fabricati figura, Duisburg: Mercator 1595, S. 3-32. Vgl. dazu Jean-Marc Besse: Les Grandeurs de la Terre. Aspects du savoir géographique à la Renaissance, Lyon: ENS Éditions 2003.
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K ARTENFIKTIONEN Das bedeutet aber keinesfalls, dass die auf Karten dargestellte Welt nur noch sich selbst repräsentiert. Wie schon in der Antike, jedoch mit nachdrücklicheren Folgen kann man ausgehend von der Welt auf Karten jede Wissenschaft entfalten sowie durch den Darstellungs- und Erklärungsraum, den sie dem Blick und dem Geist liefert, Wissen über alles erlangen. Die Karte erhält somit die Funktion eines Gedächtnisoder Informationsspeichers. Es handelt sich hier um die kartographische Variante der ars memoriae oder des Ortsgedächtnisses, dieser genialen Erfindung, die auf das 6. Jahrhundert v. Chr. zurückgeht und die das Erinnern aufgrund einer Technik von Orten und Bildern ermöglicht, die sich in das Gedächtnis einprägen.9 Die ars memoriae, die in der Renaissance eine nie zuvor gekannte Beliebtheit genoss, ist nicht nur eine Mnemotechnik, sondern darüber hinaus ein Weg, die Welt zu ordnen und enzyklopädisches Wissen visuell darzustellen. Sie gibt außerdem Einblick in die dunklen Beziehungen zwischen Begehren und Vernunft, indem sie ersteres in den Dienst letzterer stellt. Weit davon entfernt, die Unordnung stiftende Macht der Einbildungskraft zu beschneiden oder sie in Misskredit zu bringen, greift die ars memoriae sie auf und stellt sie in den Dienst ihrer eigenen Ziele. Ihr gelingt es, die Einbildungskraft zu ihrer Grundlage und ihrem Antrieb zu machen, um zu einer höheren und vollständigeren Einsicht in die Belange der Welt zu gelangen. Die Karte ist in materieller oder auch in mentaler Form eines ihrer bevorzugten Werkzeuge, sodass die Geographie noch an der Schwelle zum 17. Jahrhundert als das ›künstliche Gedächtnis der Geschichte‹ verstanden werden kann, d.h. als das Dispositiv, das es erlaubt, eine potenziell unendlich große Serie von Ereignissen in visueller Form in einen gezeichneten, klar unterteilten und vereinheitlichten Raum einzuschreiben. Das Ortsgedächtnis der Karte besitzt ein außerordentliches Fassungsvermögen, um im Kopf ihres Lesers eine hohe Anzahl von Informationen zu speichern und zu visualisieren, sie namentlich
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Vgl. dazu Frances A. Yates: The Art of Memory, London: Routledge and Paul 1966.
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und dauerhaft zu erfassen, wodurch sich unzählige Geschichten erzeugen lassen. Die Karte ist in dieser Hinsicht eine Erzählmatrix. Wenn man seine Augen über sie schweifen lässt, entdeckt man auf ihr ein ums andere Mal neue Wege, unbekannte Abkürzungen, ungewöhnliche Bezüge und kann somit letztlich immer eine neue Geschichte aus ihr herauslesen: Erzählungen von tatsächlichen, historischen, aber auch von nur vorgestellten Ereignissen, poetische oder satirische Fiktionen. Wenn man von ersteren zu letzteren übergeht, ist dies jedoch mit einer Verschiebung verbunden. Der Unterschied besteht in dem Stellenwert, der jeweils der Einbildungskraft eingeräumt wird. Im Fall einer historischen oder wissenschaftlichen Darstellung aus der Geschichte der Natur oder der Menschen werden die »tätigen Bilder« (imagines agentes), die das Gedächtnis mit ihrer Durchschlagskraft bzw. Gewalt, bisweilen sogar mit ihrer skandalösen und obszönen Kraft beunruhigen, unter die Oberfläche gedrängt und somit zu einem mentalen Vorgang gemacht, der dem Blick des Zuschauers entzogen bleibt. Die Satire bringt sie dagegen direkt auf die Bühne. Diese unpassenden, manchmal schockierenden und manchmal lächerlichen Bilder erhalten dabei eine doppelte Funktion. In erster Linie sind sie, wie in jeder Gedächtniskunst, dafür verantwortlich, die Lunte ans Pulverfass zu legen. Durch ihren Appell an die geheimsten Phantasmen rufen sie auf assoziativem Weg die geistige Präsenz von Gegenständen und Figuren und somit auch von Ideen hervor, die abrupt dem Vergessen entrissen werden und in ihrer ursprünglichen Lebendigkeit zu Tage treten. In zweiter Linie – und dies zeichnet das satirische Dispositiv aus – stellen diese Bilder den eigentlichen Sprechgegenstand dar. Anstatt auf eine dienende Funktion beschränkt und von der Oberfläche der Repräsentation verdrängt zu werden, treten sie in voller Pracht auf die Bühne als ein formloses Durcheinander, das vor aller Augen erscheint und seinen eigenen Sinn ergibt. Das ist der Ursprung der grotesken Figuren, die die Karte ausfüllen, sowie der beunruhigenden Phantasmagorie, die beispielsweise den Raum der Neuen Papistischen Weltkarte von Jean-Baptiste Trento und Pierre Eskrich heimsucht, einer kartographischen Allegorie des Papsttums, die in Genf zur Zeit der
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französischen Religionskriege entstand.10 Die Weltkarte verwandelt sich somit von der Einschreibefläche für die Erinnerung zu einer Matrix für Ungeheuer, zu einem fruchtbaren Chaos, das vor allegorischen, die Einbildungskraft anregenden und die Vernunft destabilisierenden Fiktionen nur so wimmelt. Diese satirische Indienstnahme der kartographischen Vorlage spielt wissentlich mit den traditionellen Formen der Raumdarstellung, aber auch mit der bislang ungekannten Mobilität der imago mundi, mit ihrer grundlegenden und neuen Instabilität. Sie spielt auch mit ihrer extrem vielfältigen Teilbarkeit.
D IE W ELT
ALS
ARCHIPEL
Im Gegensatz zur geschlossenen Welt der Theologen, die im Raum und in der Zeit zweifach abgeschlossen ist, strebt die ›wirkliche‹ Welt der Geographen und der Seeleute nach Öffnung. Die durch Kolumbus, Vespucci und Magellan größer gewordene Welt ist eine in Einzelteile zerbrochene Welt. Die Menschheit bewohnt keinen stabilen Boden mehr, sondern einen dahintreibenden Archipel, der kaum solider ist als das Deck eines Schiffs. Es ist daher alles andere als ein Zufall, wenn die Utopie, diese Erfindung der Renaissance, eine Insel ist. Alles andere als ein Zufall ist es auch, dass sich um diese Zeit herum die Gattung des Insulariums oder »Inselbuchs« herausbildet. Ein Insularium oder Isolario ist nichts Anderes als ein Atlas, der ausschließlich aus Inselkarten zusammengesetzt ist.11 Ein Isolario ist aber nicht nur eine spezielle Art von Atlas oder eines seiner Anhängsel, das nach seinem Hauptteil d.h. der Beschreibung der Kontinente, käme. Es handelt sich dabei vielmehr um eine andere, besondere, zerstückelte und in besonders viele Fragmente aufgeteilte Art, die Welt zu sehen und somit auch ihre Reichtümer zu zeigen und genau zu bestimmen. Es handelt sich um eine Bestandsaufnahme der Welt im Zeichen des Mannigfaltigen, der unerschöpflichen Vielfalt der Natur.
10 Vgl. dazu in diesem Band den Beitrag »Allegorische Welten«. 11 Vgl. dazu Frank Lestringant: Le Livre des îles. Atlas et récits insulaires, de la Genèse à Jules Verne, Genf: Droz 2002.
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Die Zuständigkeit des Insulariums umfasst die ganze Welt. Von den Inseln aus erstreckt es sich über den ganzen Erdglobus. Es ist nicht verwunderlich, dass vom 16. Jahrhundert an die Erd-Insel im Sinn der oikumene, d.h. der in der Antike bekannten bewohnten Welt, in den Inselatlanten am Beginn oder am Ende des weltweiten Archipels auftaucht. Denn die ganze Welt kann als Insel inmitten der Weltmeere beschrieben werden – »a guisa d’un’Isola«, wie es bei Thomaso Porcacchi heißt.12 Sie ist eine Insel, die selbst aus Myriaden von Inselchen besteht. Die Mode der Inselbücher der Renaissance kann ihrerseits in einen größeren Zusammenhang gestellt werden. Die gesamte Epoche zeichnet sich in ihren künstlerischen und literarischen Hervorbringungen durch Zersplitterung aus. Als einige Beispiele unter vielen kann man hierfür die bienenstockartige Architektur der Basilica di San Lorenzo in Florenz, die Einteilung der Bibel in Verse, die Fragmentierung des Kommentars, die Konjunktur der Miszellen und der Lexika sowie die Systematisierung der Register anführen. Im Gegensatz zu dem von weltumfassender Geltung besessenen Mittelalter schätzt die Renaissance die kleinen Einheiten, die Sinnsprüche oder den bruchstückhaften Dialog mehr als den formvollendeten Traktat, sucht sie das Detail in der Malerei, die Singularität in den Naturwissenschaften, die Abweichung, das Ungeheuerliche, das ›Wundersame‹ in der Anthropologie und in der Geschichte.13 Der Vorrang des Raums über die Zeit bringt schließlich, wenn sich die Transzendenz zurückgezogen hat und wenn das Prinzip der Rekapitulation nicht mehr die hierarchiestiftende Rolle einer kontrollierten Synthese spielt, die »Sezierung des Menschen bei lebendigem Leib« mit sich, von der Alphonse Dupront gesprochen hat.14 Zu die-
12 Thomaso Porcacchi da Castiglione: L’Isole piu famose del Mondo, Venedig: Simon Galignani & Girolamo Porro 1572, « Prohemio », f. b3 v°. 13 Ich übernehme diesen Gedanken von Michel Jeanneret: Le Défi des signes. Rabelais et la crise de l’interprétation à la Renaissance, Orléans: Paradigme, 1994, S. 57-59; vgl. vom selben Autor: Perpetuum mobile. Métamorphoses des corps et des œuvres de Vinci à Montaigne, Paris: Macula (»collection Argô«) 1997, S. 232-236: »Modules et mélanges«. 14 Alphonse Dupront: »Espace et humanisme«, in: Bibliothèque d’humanisme et Renaissance 8 (1946), S. 7-104, hier S. 100: »Un univers de l’espace est une vivisection de l’homme«.
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sem Befund gelangt beispielsweise das gesamte Werk des Kosmographen André Thevet. Sein Großes Insularium und Buch für Piloten (Grand Insulaire et Pilotage), das an die 300 Inselkarten aus aller Welt enthält, ist unvollendet geblieben, und zwar, so könnte man sagen, aus innerer Notwendigkeit heraus und nicht bloß aufgrund äußerer Umstände, die für die wissenschaftliche Tätigkeit nicht eben förderlich waren, wie die unendliche Abfolge von Religionskriegen.15 Ohne das Prinzip der vertikalen Rekapitulation, das so etwas wie ihr Rückgrat und ihre transzendente Rechtfertigung war, zerstreut sich die unendliche Bestandsaufnahme natürlicher und menschlicher Singularitäten, die Insel für Insel untersucht werden, und verliert sich in der Horizontalität einer offenen, ja einer fragmentierten Welt, die in die Scherben des Spiegels der verlorenen Einheit zerbrochen ist.
N EUE W ELTEN
UND EINE NEUE
M ENSCHHEIT
Die Renaissance hat eine neue Menschheit entdeckt und damit eine weitere Erfindung gemacht, auf die sie eigentlich gar nicht vorbereitet war. »Unsere Welt hat kürzlich eine andre entdeckt […], die nicht weniger groß, weniger bevölkert und weniger vielgestaltig ist als die unsre«, heißt es bei Montaigne fast ein Jahrhundert nach der Entdeckung Amerikas 1588 in der dritten Ausgabe der Essais im Kapitel »Über Wagen«. Und er fügt sogleich hinzu: »[U]nd wer steht uns dafür ein, dass es die letzte unter ihren Schwestern sein wird, wo doch weder Orakel und Sibyllen noch wir selbst bisher von dieser gewusst haben?«16 Auf einmal macht sich ein Zweifel an der Einheit der Welt und damit unterschwellig auch an der Einheit des Menschengeschlechts breit.
15 Vgl. zu diesem heute in der Bibliothèque nationale de France (Ms. fr. 15452-15453) aufbewahrten handschriftlichen Atlas Frank Lestringant: L’Atelier du cosmographe ou l’image du monde à la Renaissance, Paris: Albin Michel 1991, Kap. V, S. 149-174. 16 Michel de Montaigne: Essais, III, 6, hg v. Pierre Villey, Paris: P.U.F. 1965, S. 908. Dt. Übersetzung: Essais, a.d. Frz. v. Hans Stilett, Frankfurt a.M.: Eichborn 1998, S. 455.
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Das ist der entscheidende Punkt, bei dem die Ereignisse von 1492 zu einer neuen Erkenntnis geführt haben, bevor sie das Gewissen verunsichert haben. Die Anthropologie ist eine Tochter der Missionswissenschaft; sie entsteht nicht im 15. Jahrhundert in Afrika, sondern im 16. Jahrhundert in Amerika und in Asien. Erst »aus dem Kontakt mit den amerikanischen Indianern, die am fremdesten waren und denen man zuletzt begegnete«17, erwuchs eine neue Frage nach dem Menschen. Auf der Strecke blieb dabei die Nachkommenschaft von Cham, die an den Fluch eines geschlossenen, übergangenen und vergessenen Kontinents gekettet blieb, bevor sie als Arbeitskraft für die Ausbeutung der neuen Welten missbraucht wurde. Die Frage nach einer Missionsliteratur, die nebenbei eine anthropologische Funktion erfüllt, erfährt 1588, im Jahr der letzten Ausgabe der Essais von Montaigne, mit dem Werk des Jesuiten José de Acosta eine Synthese: Die sechs Bücher De promulgatione Evangelii apud Barbaros sive de procuranda Indorum salute unterteilen die heidnischen Völker je nach ihrer Eignung zur Bekehrung in drei Gruppen: Die Dreiteilung unterscheidet zwischen den zivilisierten Völkern, die über die Schrift und eine stabile Regierung verfügen wie die Chinesen oder die Japaner, den schriftlosen Barbaren, die aber in Städten leben und eine Religion pflegen wie die Mexikaner und die Peruaner, und schließlich den Wilden, die ohne Glauben, Gesetz und ohne Herrscher in den weiten Wäldern Brasiliens, Panamas und Florida sowie in den unzugänglichsten Winkeln des Archipels der Molukken und auf den Inseln des Pazifik leben.18 Diese Typologie ist nach einem Jahrhundert kolonialer Erfahrungen das Ergebnis der gleichzeitig stattfindenden Begegnung mit den halb nomadischen Indianern ganz im Westen und mit den Hochkulturen des Fernen Ostens, zunächst mit den Japanern und dann mit den Chinesen, die die portugiesischen und spanischen Jesuiten durch Überzeugungsarbeit zum christlichen Glauben zu bekehren versuchen. Dieses Verständnis des Anderen, das Europa erst mehrere Jahrhunderte später wiedergefunden und überwunden hat, wäre nicht mög-
17 Pierre Chaunu: Conquête et exploitation des nouveaux mondes, Paris: P.U.F. 1969, S. 364. 18 François de Dainville: La Géographie des humanistes, Paris: Beauchesne 1940 (Reprint Genf: Slatkine 1969), S. 150-153. Vgl. Giuliano Gliozzi: Adamo e il Nuovo Mondo, Florenz: La Nuova Italia 1977, S. 371ff.
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lich gewesen ohne die Umwälzungen des Weltbilds an der Schwelle zum 16. Jahrhundert, das zum einen den Kontinent der Gewissheiten in einen unsicheren Archipel verwandelt hat und zum anderen ausgehend von diesen verstreuten Inseln andere, in sich vollständige Welten mit einer neuen Menschheit in ihrer unerschöpflichen Vielfalt hervorgebracht hat. *** Die in den folgenden Beiträgen präsentierte Entdeckungsreise erstreckt sich über ein Jahrhundert und reicht sogar noch weiter bis an die Schwelle der Aufklärung. Die Bandbreite der behandelten Texte und Gattungen ist dabei sehr groß und reicht von der satirischen Pasquinade über das Streitgespräch und den Roman bis hin zur Kosmographie. Alle behandelten Werk haben aber einen zumindest impliziten kartographischen Raum gemeinsam, der die Grundlage, den Rahmen bzw. die Form der Fiktion bildet oder sie illustriert. Mein Dank gilt insbesondere Jörg Dünne, ohne dessen Unterstützung das vorliegende Buch mit seinen in französischer Sprache noch weitgehend unveröffentlichten Beiträgen nie zustande gekommen wäre.
Frank Lestringant Paris, im November 2011
Zum Verhältnis von Erzählung und Karte
»Dort, wo die Karte Einschnitte macht, stellt die Erzählung Verbindungen her.«1 Diese scharfsinnige und sehr einleuchtende Formulierung von Michel de Certeau soll mir als Einstieg dienen. Die Karte macht Einschnitte. Die Metapher, die den kartographischen Ausschnitt und den chirurgischen Eingriff zusammenbringt, hat Tradition und geht auf die Griechen zurück.2 Die Darstellung eines Kontinents durch die aufeinander folgenden Seiten eines Atlas verlangt nach einer Art chirurgischem Eingriff durch Abtragung, Entnahme und Verkleinerung. Der Archipel hingegen fügt sich, bereits zugeschnitten und zu Einheiten aufgelöst, die auf das passende Format verkleinert sind, ohne die geringsten Schwierigkeiten in den Atlas ein. Die Erzählung stellt Verbindungen her. Sie fügt die durch die Karte getrennten Räume wieder zusammen; sie vereint in einer einzigen Handlung das Nahe und das Ferne, das Diesseits und das Jenseits. Sie schlägt eine Brücke über die Lücken des Atlasses. Der reisende Erzähler näht in der Erzählung seiner Reiseroute die membra disjecta wieder zusammen, die der Kartograph auf seinem Weg zurückgelassen hat, gleich Medea, die auf der Flucht mit Jason die abgehackten Glieder ihres kleinen Bruders Absyrtos aus dem Streitwagen wirft, um den
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Michel de Certeau: L’Invention du quotidien. 1. Arts de faire, Paris: UGE (»10/18«) 1980, S. 225. Dt. Übersetzung: Kunst des Handelns, a.d. Frz. v. Ronald Vouillé, Berlin: Merve 1988, S. 236. Vgl. dazu Christian Jacob: »L’Œil et la mémoire: sur la Périégèse de la Terre habitée de Denys«, in: Christian Jacob/Frank Lestringant (Hg.): Arts et légendes d’espaces. Figures du voyage et rhétoriques du monde, Paris: Presses de l’École normale supérieure 1981, S. 34, 37f u. passim.
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sie verfolgenden Vater aufzuhalten. Der von Mitleid erfüllte Verfolger, der sich auf die Gefahr hin, in seiner Verfolgung aufgehalten zu werden und seine Beute entkommen zu lassen, bei jedem Schritt zur Erde niederbückt, ist der Erzähler, der allmählich einen verlorenen und verstreuten Körper wieder zusammenfügt. Dieser geduldig Stück für Stück rekonstituierte Körper ist sein Gedächtnis. Nun verbindet sich dieser besondere Körper untergründig mit einem anderen, dem Ur-Körper der Erde, der ihm seine Bewegung aufprägt und auf dem er von Beginn an unterwegs ist. Die Erzählung stellt ein Kontinuum und eine Kohärenz wieder her, die zuvor fehlten, und besiegelt damit gleichzeitig eine Aneignung. »Die Erde gehört mir, ich bin eins mit ihr« – das erklärt jeder Reisende, wenn er nach seiner Rückkehr seinen Bericht aufschreibt oder diktiert. Doch geht diese Wiederherstellung nicht ohne Verlust vonstatten. Die Durchquerung, die in einem einzigen narrativen Prozessionszug auseinanderliegende Orte und Ereignisse vereint, ist auch ein Riss. Tatsächlich kommt es vor, dass die Naht des Weges, diese flüchtige Flickarbeit, in ihrer Eile alle getane Arbeit mit sich fortreißt. So sehr die narrative Heftnaht sich bemüht, die zerrissenen Teile der Bekleidung der Erde wieder zusammenzufügen, so sehr ist dieses Kleid in Fetzen gegangen. Und die Erde erscheint plötzlich entblößt oder vielmehr ganz abwesend. Zwischen Naht und Riss geht mit der Linearität des Reiseberichts der Verlust von Ausdehnung und Tiefe einher. Wohl werden die Fragmente der Weltkarte Stück für Stück – »pièche à pièche«, wie der Kapitän Le Testu in seinem cauchois-Dialekt sagen würde3 – wieder zusammengesetzt, doch die Gesamtstruktur ist verschwunden und es bleibt nur ein über der Leere gespannter Faden. Es gilt also zur Karte zurückzukehren, zum fragmentierten Körper, dessen Kataster die Karte erstellt, und mehr schlecht als recht den Faden mit dem Fragment zu verknüpfen, den Saum mit dem Kleid, die Linie mit der Oberfläche, die Bordüre mit dem eigentlichen Körper.
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Guillaume Le Testu: Cosmographie universelle selon les navigateurs, tant anciens que modernes, 1556, Vincennes: S.H.A.T., DLZ 14, f. xxxv. Vgl. Frank Lestringant: L’Atelier du cosmographe ou l’image du monde à la Renaissance, Paris: Albin Michel 1991, S. 190. A.d.Ü.: cauchois, aus dem »pays de Caux«, einem Teil der Normandie stammend.
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Ich möchte nun diese recht abstrakten oder vielmehr allzu metaphorischen Überlegungen hinter mir lassen und mich Beispielen zuwenden, wo sich im Hin und Her zwischen Erzählung und Karte ein Oszillieren zwischen Kontinuität und Diskontinuität, Durchquerung und Fragmentierung ereignet. Ich werde dabei drei Fälle betrachten: 1. Die Karte in absentia oder Phantomkarte, die in der Form einer Ekphrasis beschrieben wird, aber im Buch als solche nicht vorhanden ist. Als Beispiel werde ich dabei den bekannten Reisebericht von Jean de Léry mit dem Titel Geschichte einer Reise in das Land Brasilien (Histoire d’un voyage faict en la terre du Bresil, 1578) heranziehen. 2. Die Koexistenz von Karte und Text innerhalb des Buches, veranschaulicht am zweiten Band der America-Reisen von Theodor de Bry (1591), der eine Karte von Florida, einen Kurzen Bericht (Bref Récit) und zweiundvierzig Holzschnitte, die die Timucua-Indianer darstellen, zusammenführt. Das Ganze verdanken wir dem Maler und Kartographen Jacques Le Moyne de Morgues aus Dieppe. 3. Als drittes Beispiel sollen die Inselkarten in den Kosmographien und den Insularien der Renaissance dienen, in denen der Atlas die Erzählung in ihren Zusammenbruch führt. Bevor ich diese verschiedenen Beispiele angehe, möchte ich mich einer weiteren Figur von Michel de Certeau bedienen: Kurz nach dem Tod des Philosophen Michel Foucault erwähnt er dessen Lachen als Ausdruck seiner Methode des Staunens. Über Foucault, diesen »großen Passanten« (»passant considérable«), wie Mallarmé einmal Rimbaud nannte, sagt Certeau, die von ihm zurückgelegten Wege hätten Wissensbereiche und Länder mit einem Muster markiert.4 Dieses Muster durchschneidet die Grenzen zwischen Disziplinen und Territorien, verbindet und zerreißt zugleich in einer umfassenden Entortung. Es setzt die Weltkarte voraus, aber gleichzeitig wirft sie sie über den Haufen und löscht sie aus.
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Michel de Certeau: Histoire et psychanalyse entre science et fiction, hg. v. Luce Giard, Paris: Gallimard 1987, S. 52. Dt. Übersetzung: Theoretische Fiktionen. Geschichte und Psychoanalyse, a.d. Frz. v. Andreas Mayer, Wien: Turia & Kant 1997, S. 49.
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Bei der Karte handelt es sich also um etwas, was der Erzählung vorausgeht, doch die Erzählung kommt in den meisten Fällen ohne sie aus. So beantwortet zu Beginn von Diderots Nachtrag zu Bougainvilles Reise, ein Kommentar in Dialogform zur Reise um die Welt von Louis-Antoine de Bougainville, B eine Frage von A: »War seine Fahrt lang?« mit einer simplen Geste in Richtung einer Weltkugel, die er vor seinem Gesprächspartner zur Drehung bringt: »Ich habe sie auf diesem Globus eingezeichnet. Sehen Sie diese Linie aus roten Punkten?«5 – Eine unterbrochene gepunktete Linie geht von Nantes aus, läuft bis zur Magellanstraße, setzt sich in den Pazifischen Ozean fort, schlängelt sich zwischen den Philippinen und Australien hindurch, streift Madagaskar und das Kap der guten Hoffnung, steigt den Atlantik wieder hinauf und verknüpft sich an ihrem Ende wieder mit ihrem Ausgangspunkt. Von dieser sich drehenden Weltkugel und dieser Linie ist daraufhin keine Rede mehr im Nachtrag, dessen Inhalt sich auf die Station Bougainvilles auf Tahiti oder dem »Neuen Kythera«6 konzentriert. Zwar verortet die Weltkarte den Gegenstand des Textes, sie stellt für ihn aber nur einen Vorwand dar.
J EAN
DE
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ODER DIE
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Manche Reisen proklamieren von Anfang an, dass sie nichts mit Karten zu tun haben wollen. So die Reise in das Land Brasilien von Jean de Léry (1578) – ein Werk, das man als Protoyp des Reiseberichts erkannt hat.7 Im siebten Kapitel, mit dem die eigentliche Beschreibung von Brasilien nach einem ersten Abschnitt beginnt, der der Reise von Dieppe nach Rio de Janeiro gewidmet ist, skiziert Léry den Rahmen der Handlung, nämlich die Bucht von Guanabara – im eilig ans Fran-
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Denis Diderot: Supplément au Voyage de Bougainville, Kap. 1, »Jugement du voyage de Bougainville«, hg. v. Michel Delon, Paris: Gallimard 2002, S. 31. Dt. Übersetzung: »Nachtrag zu Bougainvilles Reise«, in: Das erzählerische Werk, Bd. 4: Rameaus Neffe, a.d. Frz. v. Christel Gersch, Berlin: Rütten & Löning 1979, S. 212. A.d.Ü.: Name, die Bougainville Tahiti in Anspielung auf die griechische Insel Kythera verleiht, die als die Liebesinsel der Aphrodite galt. Michel de Certeau: L’Ecriture de l’histoire, Paris: Gallimard 1975, Kap. V, S. 215-248.
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zösische angepassten Portugiesisch der normannischen Seefahrer heißt sie Bucht von »Geneure« oder »Genèvre«, das Neue Genf von Amerika, das den verfolgten Hugenotten einen Zufluchtsort in den Tropen bieten sollte. Keine einzige Karte oder »Beschreibung« visueller Art findet sich in diesem topographischen Kapitel. Léry ergreift ganz im Gegenteil die Gelegenheit, um die ihm vorausgegangenen Beschreibungen des Kosmographen André Thevet zunichte zu machen, der selbst einige Monate vor ihm nach Brasilien gefahren war. Will man Léry glauben, so hat Thevet eine imaginäre Stadt von vorne bis hinten erfunden, die am Westufer der Bucht liegen sollte, umgeben von gezackten Stadtmauern, wo die Soldaten Wache stehen, und umgeben von Gräben, in die Wasser aus dem Flusse Cariobe umgeleitet wurde. Diese nur auf dem Papier existierende Stadt hatte Thevet zu Ehren des verstorbenen Königs Heinrich II in seinen beiden Werken: Die Einzigartigkeiten des antarktischen Frankreich von 1557 und später die Universelle Kosmographie von 1575, zuerst Ville-Henry, dann Henryville getauft: »bonnet rouge oder rouge bonnet«, so Jean de Léry, »das läuft letztlich auf das Gleiche hinaus, nämlich nichts als eine in die Karte eingezeichnete Erfindung«.8 Von größter Bedeutung ist dabei die Tatsache, dass Léry eine bereits bestehende Karte übergeht, an deren Stelle keine andere tritt. Dafür trägt er Sorge, seinen Text mit verschiedenen Figuren von Indianern von Kopf bis Fuß zu illustrieren. Die mit einem Federzug durchgestrichene Topographie macht Platz für eine Anatomie, die Landschaft für einen Körper. Letzten Endes hebt die Geschichte einer Reise als Geschichte eines reisenden Auges (eben dies ist die Etymologie des Worts »voyage«9, die bei Léry ihre ganze Aussagekraft behält) die Kosmographie von Thevet auf. Sie streicht die Karte durch,
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Jean de Léry: Histoire d’un voyage faict en la terre du Bresil (Genf, 1580), Paris: LGF (»Bibliothèque classique«) 1994, Kap. VII, S. 203-204. Zu dieser in ihrer Existenz umstrittenen Stadt vgl. Frank Lestringant, »Fictions de l’espace brésilien à la Renaissance: l’exemple de Guanabara«, in: Jacob/Lestringant (Hg.): Arts et légendes d’espaces, S. 205-256. A.d.Ü.: Die Formulierung »C’est bonnet rouge ou rouge bonnet« entspricht in etwas der deutschen Redensart »Jacke wie Hose«. A.d.Ü.: Die Etymologie des französischen Worts voyage wird in der Regel auf lat. via (Weg/Reise) zurückgeführt; F.L. geht hier stattdessen von einer Verbindung mit dem frz. Verb voir (sehen) aus.
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um dem Anderen, oder zumindest dem Blick, der darauf geworfen wird, den ganzen Platz zu überlassen.10 Diese Aufhebung ist umso bemerkenswerter, als Léry in der zweiten Ausgabe der Geschichte einer Reise nicht davor zurückschreckt, in drei neuen, recht groben Stichen drei Holzschnitte aus Thevets Cosmographie universelle zu plagiieren bzw. kopieren zu lassen: den Kampf der Maracajá- und der Tabajara-Indianer, die Tötung des Gefangenen sowie die brasilianische Hölle mit dem »Haüt«, dem vom Wind lebenden Tier, und über dem Meer auf der rechten Seite einem Schwarm fliegender Fische.11 Dennoch entdeckt man bei näherer Betrachtung, dass die Karte zwar nicht materiell vorhanden, aber im Werk Lérys doch nicht vollständig abwesend ist. Tatsächlich erstellt der Text eine mentale Karte, die dem Leser zur Verfügung steht. Diese Karte ist nicht sofort ersichtlich, wird aber am Ende des Buches im Kapitel XX aufgedeckt und zwar in der Auflistung der zweiundzwanzig Dörfer, die im Anhang der »Unterredung über die Einfahrt oder die Ankunft im Land Brasilien, zwischen den Leuten, die in der Sprache der Wilden die Namen Tupinamba oder Tupiniquin tragen, und den Franzosen«12 auftauchen. Diese zweiundzwanzig Dorfnamen sind zwischen der linken und der rechten Seite der Bucht verteilt, dazu kommt noch die »große Insel« oder »Maracajá-Insel«, die heutige Ilha do Governador. Eine von einem anonymen Verfasser gestochene Karte, die in zwei Exemplaren in der französischen Nationalbibliothek erhalten ist, trägt den Titel »Das antarktische Frankreich oder Rio Janeiro nach den Reisen von Villegagnon und Jean de Léry in den Jahren 1557 und 1558« (vgl. Abb. 1).13 Sie schlägt hypothetisch eine Verteilung der Indianer-
10 Diese Argumentation ist zusammengefasst aus folgender Studie übernommen: Frank Lestringant: Jean de Léry ou l’invention du sauvage, Paris: Champion 2005, Kap. III, S. 57-78 sowie S. 74-78. 11 Léry: Histoire d’un voyage, S. 339, 367 und 383. 12 Ebd. S. 479-503, insbes. S. 502f. 13 »La France Antarctique autrement le Rio Ianeiro Tirée des Voyages que Villegagnon, et Jean de Léri ont faits au BRESIL les années 1557. et 1558.«, Kupferstich-Karte, o.O., o.J., 230 x 160 mm, »8 lieues de France« = 58 mm, Maßstab ca. 1:776.000, Paris: BnF, Cartes et Plans, Ge F.5425 (koloriertes Exemplar; ein anderes, nicht koloriertes Exemplar befindet sich in der Sammlung J.-B. d’Anville : Ge DD.2987, 9481).
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Abbildung 1: Anon.: Das Antarktische Frankreich / oder auch/ der Rio Ianeiro/ nach den Reisen, die Villegagnon und / Jean de Léri in BRASILIEN in den Jahren 1557 und 1558 unternommen haben (um 1750).
stämme auf die ganze Gegend um die Bucht von Guanabara vor. Ganz offensichtlich hat die Reihenfolge dessen, was im Buch gesagt wird, die Anordnung der Legenden von unten nach oben in zwei Spalten vorgegeben, »ausgehend von der linken Seite, wenn man in den genannten Fluss kommt«, und dann weiter »auf der rechten Seite«. Die Namen der Dörfer der »großen Insel« oder Maracajá-Insel sind im Uhrzeigersinn angeordnet. Diese Legenden sind in regelmäßigen Abständen auf der Karte verteilt und bedecken den gesamten vorhandenen Raum. Selbst die Dörfer, von denen Léry behauptet, ihre Namen vergessen zu haben – zwei gibt es davon auf der großen Insel – werden in den Zwischenräumen der vorhandenen Legenden von »Markierungen« oder konventionellen Zeichen so, wie der Autor es wollte, und gemäß seinen Angaben dargestellt. All dies deutet in der Tat darauf hin, dass es sich bei der Karte um ein Werk eines sorgfältigen und sogar ein wenig schülerhaften Lesers handelt, der Lérys Text beim Wort nimmt. Das Auftauchen eines der beiden Exemplare in der Hinterlassenschaft von Jean-Baptiste d’Anville, dem königlichen Geographen unter Ludwig XV., sowie die Machart des Stichs erlauben die Datierung dieses Dokumentes auf Mitte des 18. Jahrhunderts. Die regelmäßige und einheitliche Vertei-
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lung der indianischen Ortsnamen auf der Grundlage einer undifferenzierten Karte zeigt schön, dass es sich dabei um eine willkürliche Rekonstitution anhand des Textes und nur im Hinblick auf ihn handelt, wie eine Art Gedächtnishilfe, die dazu bestimmt ist, die Lektüre oder mehr noch die Neulektüre zu erleichtern. Man hat früher die Geographie, oder genauer: die Kartographie, als künstliches Gedächtnis der Geschichte bzw. als deren Ortsgedächtnis definiert. Durch die Anordnung sukzessiver Elemente einer Erzählung oder eines Diskurses an verschiedenen, voneinander getrennten Orten erhält man eine Art Gedächtnis, das sofort verfügbar ist. Das zeigt sich in der Karte des »Antarktischen Frankreichs«, die nach Léry, und zwar ausschließlich nach ihm gezeichnet wurde; Villegagnon hat trotz des Titels der Karte nichts mit der Sache zu tun. Dieser Abriss stellt die Umsetzung oder eher eine der vielen möglichen Umsetzungen der mentalen Karte dar, die in der Geschichte einer Reise unterschwellig vorhanden ist. Es handelt sich in diesem speziellen Fall um eine recht facettenarme und wenig phantasievolle Ausführung. Doch gerade in seiner Facettenlosigkeit offenbart diese kartographische ›Probe‹ die Konstruktion des Werkes und des Gedächtnisses, das es auf seinen Buchseiten konstituiert, indem es sich in dauerhaften Zügen in die Köpfe der Leser einschreibt. Wie jeder Reisebericht – und damit nehme ich eine Dreiteilung von Réal Ouellet auf14 – verbindet die Geschichte einer Reise ein Abenteuer mit einer Bestandsaufnahme, wobei diese beiden Elemente ihrerseits in einem fortlaufenden Kommentar zusammenkommen. In die Kategorie des Abenteuers gehören insbesondere die Hin- und Heimreise, die chronologisch erzählt werden und dabei der Reihenfolge der Ereignisse in den ersten fünf und letzten beiden Kapiteln eines Buches folgen, das insgesamt zweiundzwanzig Kapitel enthält. Die Zahl der Indianerdörfer, die an der Bucht entlang verteilt sind, ist ebenfalls zweiundzwanzig – die zahlenmäßige Erfassung des Raums, auf den das Abenteuer Lérys in der Neuen Welt während seines zehn-
14 Vgl. Réal Ouellet: »Pour une poétique de la relation de voyage«, in: Marie-Christine Pioffet/Andreas Motsch (Hg.): Écrire des récits de voyage (XVe-XVIIIe siècles): esquisse d’une poétique en gestation. Actes du colloque tenu à Toronto du 4 au 6 mai 2006, Québec: Les Presses de l’Université Laval 2008, S. 17-40.
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bis elfmonatigen Aufenthalts begrenzt ist. Diese Übereinstimmung ist vielleicht rein zufällig. Man kann jedoch sehen, dass die Geschichte einer Reise eher auf einem räumlichen als auf einem chronologischen Modell beruht. Im Übrigen handelt es sich bei der Geschichte einer Reise keineswegs um eine Chronik und noch weniger um ein Bordtagebuch, wie sie einer der späteren Herausgeber zu bezeichnen können glaubte.15 Die Geschichte einer Reise stellt ein ›Tableau‹ von Brasilien dar, das thematisch geordnet in etwa fünfzehn Kapiteln entfaltet wird (VIIXIX), in denen nach und nach der topographischen Rahmen, die Flora und Fauna Brasiliens und dann die Sitten der kannibalischen Indianer von Rio de Janeiro dargestellt werden. In diesem Mittelteil des Buches überwiegt also die Bestandsaufnahme über das Abenteuer und die Auflistung der Annehmlichkeiten Brasiliens über die Erzählung des Alltagslebens des reisenden Erzählers. Doch ist diese Bestandsaufnahme, die ein Diptychon bildet und der natürlichen Fülle des Landes die Grausamkeit und Unbarmherzigkeit seiner Bewohner gegenüberstellt, selbst in einen Kommentar über die Gegenstände und Völker Brasiliens eingebettet. Im Einzelnen erscheint die Konstruktion der Geschichte einer Reise sehr komplex und der Leser könnte sich leicht darin verlieren. Es sind also Grundpfeiler und Orientierungspunkte nötig, um sich in einem Text zurechtzufinden, der sich immer wieder auf sich selbst bezieht, sich korrigiert und kommentiert, auf die Gefahr hin, sich zu wiederholen und sich zu widersprechen. Nimmt man das Beispiel des Kapitels XVIII16 über »Das, was man bei den Wilden Gesetz und politische Ordnung nennen kann«, in dem nacheinander von der indianischen Gastfreundschaft, von der tränenreichen Begrüßung und den Risiken, die der Tauschhandel mit den »Amerikanern« mit sich bringt, die Rede ist, bemerkt man, dass weder das Abenteuer (die Chronik) noch die Bestandsaufnahme (die Auflistung) die Grundstruktur darstellt, sondern eine Art pädagogische Fiktion, die in einer gewissen Weise den Wechsel von Abenteuer und Inventar koordiniert. Bei die-
15 M.-R. Mayeux (Hg.): Journal de bord de Jean de Léry en la terre de Brésil (1557), Paris: Éditions de Paris 1957. 16 Es handelt sich hierbei um die Zusammenfassung meiner Argumentation in Lestringant: Jean de Léry ou l’invention du sauvage, Kap. VIII.
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ser pädagogischen Fiktion handelt es sich um eine geführte Besichtigung des Dorfes der Einheimischen, in deren Verlauf der reisende Erzähler den Leser bei der Hand nimmt und ihm die diversen Utensilien des indianischen Haushaltes zeigt: Hängematten, Spindeln, Webgeräte, Kalebassen, Töpfe und Kessel. Das Inventar ist also in die Geste eines Kommentars eingeschrieben, in den der Leser im Modus der Konversation eingebunden wird. Doch ist das Abenteuer nicht aus dem Kapitel verschwunden. Es taucht stellenweise in Form von losen Fragmenten wieder auf, die von einem Haupterzählstrang komplett losgelöst sind, oder, wie Léry sagt, von den »Kostproben« einer stummen Chronik, die in den Zwischenräumen des Textes mitläuft.17 Diese verschiedenen Erzählungen von aufeinander folgenden Eskapaden auf dem Festland, weit entfernt von der erdrückenden Atmosphäre der Insel von Villegagnon, wo sich die Kolonie aufreibt, haben eine veranschaulichende Funktion: Sie nehmen die Stelle von in den Kommentar eingepassten exempla ein. Diese ›Kostproben‹ verleihen den allgemeinen Äußerungen das Gewicht tatsächlich gemachter Erfahrungen. Sie dramatisieren die Darstellungen plötzlich und lassen das allgemeine Tableau in die handfesten Niederungen der Realität heruntersteigen. Um diese verschiedenen Abenteuer voneinander abzugrenzen, greift Léry auf ziemlich unklare zeitliche Referenzen zurück, wie z.B.: »das erste Mal, als ich sie besuchte, war drei Wochen nachdem wir auf der Insel von Villegagnon angekommen waren«18; »damals, als zwei Franzosen und ich uns im Wald verlaufen hatten, dachten wir, wir würden von einer dicken und schrecklichen Echse aufgefressen werden«19; »als wir eines Tages sechs Franzosen trafen«20 usw. Sicher reichen diese vereinzelten und lakonischen Hinweise nicht aus, um das Muster der fehlenden Chronik vollständig zu rekonstruieren, doch setzen sie sie zumindest voraus und lassen der Einbildungskraft des Lesers Spielraum. Vor allem sind diese ›Kostproben‹ an präzise Orte gebunden, nämlich an die Namen der indianischen Dörfer, deren vollständige Liste, wie gezeigt, als Anhang der französisch-
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Léry: Histoire d’un voyage, Kap. XVIII, S. 454. Ebd., S. 449. Ebd., S. 461. Ebd., S. 465.
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brasilianischen »Unterredung« auftaucht. Die Austern-Taufe von Jean de Léry21 findet im Dorf Yabouraci statt, und ein wenig weiter weg, in Euramiri, wird der Erzähler dazu eingeladen, an einem Festschmaus mit Menschenfleisch teilzuhaben. Die tränenreiche Begrüßung und das Waschen der Füße nach einem Brauch, der bereits zur Zeit der Bibel existierte, spielen sich im Dorf Pavo ab. Der missglückte Tauschhandel und die drohende Rauferei um eine Pute haben das Dorf Ocarentin zum Schauplatz. Auf diese Weise impliziert die Vielfalt einzelner Erzählungen eine dem Text zu Grunde liegende Karte, eben diese mentale Karte, zu deren eigener Erstellung jeder Leser aufgerufen wird, um sich die verschiedenen Etappen der Schilderung wieder in Erinnerung rufen zu können. Diese mentale Karte funktioniert wie eine Gedächtniskunst, wie ein Ordnungsmodell, in dem sich die verschiedenen Materialien der Darstellungen unterbringen lassen. Die ganze Kunst de Lérys und auch die besondere Leistung der Geschichte einer Reise besteht darin, aus dem Text selbst sowohl die Erzählung als auch die Karte zu tilgen und durch einen Kommentar zu ersetzen. Die fortgeführte Chronik wäre notwendigerweise repetitiv und ermüdend, die Karte erlogen, wie die Karten Thevets – der Kommentar hingegen ist wahrheitsgetreu, denn er erzählt ohne Umschweife die Erfahrungen des Autors und trägt die Stimme des Reisenden bis ans Ohr des Lesers beziehungsweise er macht zumindest versuchsweise aus der Autopsie des Reisenden als Schriftsteller eine sekundäre Autopsie, die ersatzweise Autopsie eines Lesers, dem unvermittelt ein Tableau von Brasilien vor Augen gestellt wird. Um diese Präsenz herzustellen, beauftragt Léry den Leser damit, eine Phantomerzählung und eine Phantomkarte erstehen zu lassen, aus denen sich wie ein kalkuliertes Wunder das Phantom des ursprünglichen Brasiliens bildet. Letzten Endes erreicht Léry von seinem Leser durch diese doppelte Absenz, die eine doppelte Präsenz hervorruft, die aktive Mitarbeit an der literarischen Illusion der Reise, an der Fiktion eines immer neuen »Gebrauchs der Welt«, um mit Nicolas Bouvier zu
21 A.d.Ü.: Lérys Name bedeutet in der Tupi-Sprache »Auster«.
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sprechen22. Wenn der Leser heute wie gestern so stark in die Geschichte Lérys involviert ist, dann aufgrund eben dieses aktiven Beitrags, der ihm abgefordert wird und den er gerne leistet, wenn die Geschichte einer Reise dabei ein wenig auch zu seiner Geschichte und ein vor vier Jahrhunderten auf Brasilien geworfener Blick zu seinem eigenen wird.
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Bei Jean de Léry verschwinden Karte und Erzählung zugunsten eines proliferierenden Kommentars, der im Text einen Platz für den Leser schafft und ihm die Initiative überlässt oder dies zumindest vorgibt. Ich möchte jetzt den gegenteiligen Fall untersuchen, bei dem Karte und Erzählung beide präsent sind und in einer Art von instabiler Konkurrenz zueinander stehen. Im zweiten Band der America-Reisen, den Theodor de Bry 1591 in Frankfurt veröffentlicht hat, die Floridae descriptio, oder um den ganzen Titel zu nennen die Floridae Americae provinciae recens et exactissima descriptio, eröffnet eine Überblickskarte Floridas von Jacques Le Moyne de Morgues (Abb. 2) eine Sequenz aus zweiundvierzig Kupferstichtafeln – oder »Eicones« –, die die Sitten der Timucua-Indianer darstellen.23
22 A.d.Ü.: Anspielung auf einen 1963 erschienenen Bericht des Schweizer Schriftstellers Nicolas Bouvier über eine Reise von Jugoslawien nach Afghanistan: Nicolas Bouvier: L’usage du monde, Paris: Découverte 1985. 23 Jacques Le Moyne de Morgues: »Indorum Floridam Provinciam inhabitantium Eicones«, in: Theodor de Bry: Brevis Narratio eorum quae in Florida Americae provincia Gallis acciderunt [...], quae est Secunda Pars Americae, Frankfurt am Main: De Bry 1591. – Siehe auch Paul Hulton (in Zusammenarbeit mit D. B. Quinn, R. A. Skelton, W. C. Sturtevant & W.T. Stearn): The Work of Jacques Le Moyne de Morgues. A Huguenot Artist in France, Florida and England, London: The Trustees of the British Museum 1977. Die wichtigsten Schriften des hugenottischen Korpus über Florida, allerdings nicht der Bericht von Jacques Le Moyne, sind versammelt in: Suzanne Lussagnet (Hg.): Les Français en Amérique pendant la deuxième moitié du XVlème siècle, Bd. 2: Les Français en Floride. Textes de Jean Ribault, René de Laudonnière, Nicolas Le Challeux et Dominique de Gourgues, Paris: P.U.F. 1958.
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Abbildung 2: Theodor de Bry: Karte aus Jacques Le Moyne de Morgues Floridae Americae Provinciae Recens et exactissima descriptio (ca. 1566).
Der Titel dieser Überblickskarte von Florida beinhaltet einen Anflug von Ambiguität. Wie der Ausdruck delineatio, so beschreibt auch der lateinische Ausdruck descriptio sowohl eine Zeichnung als auch einen Text. Als Zeichnung von den Konturen der Halbinsel – hier grob in einem Dreieck zusammengefasst – ist sie auch Beschreibung und ist damit ebenso lesbar wie sichtbar. Die »Beschreibung Floridas«, die Karl IX. gewidmet ist und dem König von Le Moyne nach seiner Rückkehr aus Florida überreicht wurde, stellt zugleich einen End- und einen Ausgangspunkt dar. Als Endpunkt einer unglücklich verlaufenen kolonialen Expedition und als räumliches Gedächtnis der Spuren, die diese hinterlassen hat, erscheint sie ebenso als Programm und Einladung zur Wiederholung der Eroberung, die beim ersten Mal scheiterte. Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft sind in einer Karte vereint, in der sich die Gesten des Gedenkens und des Vorausdenkens überlagern. Die französischen Lilien, die man auf der Karte oben rechts ausmachen kann, sind in ein Nordamerika eingeschrieben, das seit der Reise von Verrazano im Jahre 1524 »Nouvelle-France«, Neu-Frank-
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reich hieß. Sie stehen dem Wappen Spaniens gegenüber, das für seine argwöhnische Überwachung dieser Gegend bekannt ist, und zeigen die Fortdauer eines imperialen Traums. Jede alte Karte, bemerkt diesbezüglich Réal Ouellet, ist insofern »relational«, als sie »mit einem Ereignis, dem Handeln eines Individuums oder einer Gruppe verknüpft ist und nicht, wie die moderne Karte, eine ›kategoriale‹ Funktion erfüllt, also standardisiert, quantifiziert und Informationen nach einem strengen, fast unveränderlichen Code klassifiziert«.24 Im Gegensatz zur kategorialen Karte, die jedem Gegenstand, jedem Volk einen bestimmten Platz zuweist, impliziert die relationale Karte eine Handlung auf einem Territorium, ja sie zeigt diese Handlung bereits im Gange. In diesem Sinn wäre die alte Karte mit der performativen Funktion der Sprache in Beziehung zu setzen. In der Ökonomie des Buches von Le Moyne und De Bry, in dem die Karte dem Text und den Stichen vorausgeht, die von kurzen, darunter befindlichen Kommentartexten begleitetet werden, findet man diese doppelte Funktion von Ausgangs- und Endpunkt wieder. Die Floridae descriptio ist der Ausgangspunkt einer Serie von fragmentarischen Bildern, die von einem Gegenstand zum anderen alles nach und nach in ihre Einzelteile zerlegt. Sie stellt aber auch die Summe am Ende einer Leseroute dar, die idealerweise keine einzige ihrer Etappen unberücksichtigt lässt. Das Gesetz der Transformation ist dabei in beide Richtungen wirksam: Einerseits stellt die Karte eine Lektürebilanz auf, sie sammelt in einer Collage, die durch das Netz der Längen- und Breitengrade vereinheitlicht werden soll, Einzelteile aus verschiedenen Erfahrungskontexten zusammen. Im Gegenzug dazu trägt das dem Anschein nach kohärente Ganze der descriptio eine virtuelle Fragmentierung in sich; sie kommt in den aufeinander folgenden Gliedern einer narratio durch die Reihe von Etappen zum Vorschein, die im Laufe der Seiten und Tafeln zu lesen und zu sehen sind. Das Beispiel von Le Moyne erlaubt es also, die Karte sowohl als Gedächtnis als auch als Matrix zu betrachten, wobei diese beiden Begriffe reversibel sind. Die Karte als Gedächtnis rekapituliert die Etappen einer oder mehrerer unternommener Reisen und stellt damit eine
24 Réal Ouellet: »Le Discours fragmenté de la relation de voyage en Nouvelle-France«, in: Saggi e Ricerche di Letteratura francese, 25 (1986), S. 178-179.
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Bilanz am Ende des Wegs auf. Die Karte als Matrix produziert eine Erzählung, eine Vielfalt an virtuellen Routen und damit an Reiseerzählungen, die dazu bestimmt sind, zu Handlungen und Ortswechseln zu werden. Die Karte ist Bilanz einer Akkumulation und mögliche Quelle einer narrativen Entfaltung. In ihrer Verbindung mit dem Text ist die Karte also alles andere als eine Illustration. Sie ist ein Komplement oder ein Supplement: ein Komplement, das den Text öffnet, ein Supplement, das ihn problematisch macht. Beginnen wir damit, die Karte selbst zu betrachten. Auf eine paradigmatische Weise kombiniert die Floridae descriptio von Jacques Le Moyne drei heterogene Elemente: die von früheren Karten übernommenen Informationen, die durch die französischen Expeditionen neu hinzugekommenen Informationen und den Mythos von sich neu auftuenden Räumen. Das Erbe einer bereits mehr als ein halbes Jahrhundert andauernden kartographischen Tradition vor allem spanischem Ursprungs wird von den klaren Konturen der Insel Kuba und durch den vergrößerten Grundriss der Bahamas oder »Lucayas« belegt. Es handelt sich hier um eine Rückkehr zum Beginn der Entdeckungsreisen, waren doch einige dieser Küsten von Kolumbus selbst bestimmt worden. Mit diesem kartographischen Wissen, das auch einer Gründungsgeste gedenkt, verbinden sich die Informationen aus Routenbüchern, deren Spur im Bahamas-Archipel mehrmals durch gepunktete Linien und durch für den Seemann bestimmte »Warnungen« markiert wird: »Haec maris pars plena est Insulis, scopulis et pulvinis valde insidiosis« (»Dieser Teil des Meeres ist voller Inseln, sehr gefährlicher Klippen und Sandbänken«) oder über Kuba: »Jardines scopuli, navigantibus formidabiles« (»die Klippen der ›Gärten‹, die für Seefahrer sehr gefährlich sind«). Diese königlichen Inselgärten mit ihren unzähligen Fallen stellen ein Überbleibsel der Benennung durch Kolumbus dar – der Admiral hatte sie bei seiner zweiten Reise Königin Isabella gewidmet.25
25 Christoph Kolumbus: La découverte de l’Amérique, Bd. 2: Relations de voyages 1493-1494, Paris: François Maspéro (»La Découverte«) 1979. Vgl. die historische Einleitung von Michel Lequenne, S. 20, und die Karte auf S. 112f. Tatsächlich liegen die Jardines de la Reina weiter im Osten als bei Le Moyne angegeben: Sie schließen den Golf von Ana María ab,
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Diese Art von deiktischen Anmerkungen, die zum Einsatz in der Praxis bestimmt sind, ist auch in den roteiros (Routenbüchern) wieder anzutreffen, wo sie die Liste der Orte mit ihren Positionen begleitet.26 Hier ist die Information vom Verzeichnis der Entfernungen, wie in den roteiros, bis in die Karte vorgedrungen. Die maritime Reiseroute, die einzig den Leuten vom Fach bekannt war, wird jetzt, »dem Auge zugänglich«, dem profanen Blick zur Schau gestellt. Somit stellt die descriptio die Tauglichkeit einer Praxis unter Beweis: Es handelt sich dabei um eine anonyme und kollektive Praxis der Piloten und Seeleute, durch die die Route nach Florida mit einem Wissensbestand verbunden wird, der sich bewährt hat und die Entsendung neuer Expeditionen möglich macht. Darüber hinaus registriert die Karte die Errungenschaften der französischen Unternehmungen in der Neuen Welt. Die ganze nordamerikanische Küste, vom Promontorium Gallicum (Französisches Kap27) bis zum Flumen Humile (Kleiner Fluss), wurde gemäß den Beobachtungen von Kapitän Jean Ribault bestimmt, dem Befehlshaber der Expedition des Jahres 1562. Es handelt sich also um einen geographischen Beitrag, der auf ein früheres Wissen aufgepfropft und notdürftig mit diesem verbunden wurde. Der Akt der Montage bleibt in der vergrößerten Darstellung der damals erforschten Flüsse und Buchten sichtbar. Dazu schreibt sich eine Serie von Ortsnamen französischen Ursprungs (Seine, Somme, Loire, Charente, Garonne, Gironde usw., bis hin zu Port-Royal), in einer zur Küste rechtwinkligen Linienführung aufgereiht, in einen toponymisch älteren Hintergrund spanischen oder indischen Ursprungs ein. Bemerkenswert ist das Fehlen von Heiligennamen in einer Nomenklatur, die ganz offensichtlich protestantisch motiviert ist: Kein einziger Name eines Heiligen oder eines kirchlichen Feiertags findet sich in diesem französischen Beitrag, dafür aber geographische Namen, die aus der Alten
direkt unterhalb der Provinz Camagüey. Le Moyne hat sie anscheinend mit den Inseln verwechselt, die den Archipel der Canarreos im Norden der Insula Pinorum (span.: Isla de Pinos) bilden. 26 Unter der Routenbüchern, die Le Moyne vor Augen haben konnte, seien hier der Spanier Fernandez de Enciso mit seiner Suma de Geographia (1519) und Jean Alfonce de Saintonge mit seinen Voyages avantureux (1559) erwähnt, die später in Dutzenden von Neuauflagen erschienen. 27 Variante der Karte von John White: »C. des Francoys«.
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Welt verpflanzt wurden und einige beschreibende Toponyme mit, wenn auch sehr vagen, Anklängen an einen Lobpreis: die Flüsse Belle (»schön«) und Grand (»groß«). Der einzige Name mit Gedenkfunktion ist ein Monatsname: Es handelt sich um den Mai-Fluss28, den Jean Ribault am ersten Mai 1562 erstmals befahren hatte und an dessen Ufern Laudonnière zwei Jahre später das Karolinen-Fort (»fort Caroline«) errichten sollte. Zu diesen beiden Arten von Material, die sich in der Montage der Karte verbinden, kommt noch eine dritte hinzu: die Legende. Die Insel Bimini im Westen der Bahamas ist wegen des Jungbrunnens berühmt geworden, auf dessen Suche sich der Kapitän Juan Ponce de Leon im Glauben an die Informationen Einheimischer machte.29 Doch vor allem in den Tiefen des Hinterlandes breitet sich der Raum der Legende aus. Imaginäre Seen, Flüsse, die Edelsteine mit sich führen, und Brunnen, aus denen Kaskaden von Silberkörnern strömen, sind auf der Karte auf den bloßen mündlichen Bericht der Indianer hin verzeichnet: »In hoc lacu Indigenae argenti grana inveniunt. Ab Indigenis dicta Jaquaza (»In diesem See finden die Eingeborenen Silberkörner, die von ihnen ›Jaquaza‹ genannt werden.«)30 Was den Raum des offenen Meeres darüber hinaus betrifft, führt die Karte die Tradition Verrazanos fort. Im Jahre 1524 glaubte Giovanni da Verrazano, jenseits des Küstenstreifens ein im Westen gelegenes Meer auszumachen – das »Verrazano-Meer«. Tatsächlich handelte es sich dabei lediglich um die Lagune von Pamlico Sound im heutigen North Carolina.31 In der Karte von Le Moyne hat sich der
28 Heute der St John’s River. 29 Leonardo Olschki: »Ponce de Leon’s Fountain of Youth: History of a Geographical Myth«, in: The Hispanic American Historical Review 21 (1941), S. 361-385; Enrique de Gandia: Historia critica de los mitos y leyendas de la Conquista Americana, Buenos Aires: Centro Difusor del Libro 1946, S. 53-62; Juan Gil: Mitos y utopias del Decubrimiento, Bd. 1: Colon y su tiempo, Madrid: Alianza Universidad 1989, Kap. IX, S. 251282. 30 R. A. Skelton: »The Le Moyne-De Bry Map«, in: Hulton: The Work of Jacques Le Moyne de Morgues, S. 45-54. 31 Zur Geschichte der von Verrazano abgeleiteten Kartographie vgl. Michel Mollat du Jourdin/Jacques Habert: Giovanni et Girolamo Verrazano navigateurs de François Ier, Paris: Imprimerie Nationale 1982, Kap. VI,
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isthmo Verazanio, der auf der Karte aus Velinpapier aus dem Jahr 1524 (sie befindet sich in der Bibliothek des Vatikans) nur ein schmaler Festlandstreifen war, erheblich ausgedehnt. Das überlieferte technische Wissen aus Spanien und die neuen Entdeckungen der Franzosen werden also durch die mündlichen Überlieferungen der amerikanischen Indianer vervollständigt. Der See, dessen anderes Ufer man nicht ausmachen kann, die fabelhaften Minen in den weit entfernten Appalachen, der unbekannte Ozean, der im Norden zu entdecken ist und den amerikanischen Kontinent zu einer Landenge zusammenschrumpfen lässt, manifestieren die Kohärenz eines Projekts, das sich zwar indigener Mythen bedient, in denen man damals eine unerhoffte Bestätigung sah, das aber im Grunde doch vor allem das Projekt der Eroberer bleibt. Le Moynes Karte legt letzten Endes den kartographischen Markstein, der den Übergang von der ersten bis zur dritten Schule Verrazanos sichert, von der Portulankarte aus dem Jahr 1524 und deren unmittelbaren Nachfolgern bis hin zum Wiederauftachen des »Meeres im Westen« in der englischen Kartographie der elisabethanischen Zeit. 32 Sie wird es ermöglichen, dass der Traum der Protestanten vom Kolonialreich nach der blutigen Niederlage im Jahr 1565 aus der Asche wieder geboren wird und von Frankreich nach England übergeht. Ihre unmittelbare Wirkung lässt uns jedoch ganz andere Entwicklungen von Le Moynes Karte miterleben: Die Descriptio wird zu einem Buch. Von der Floridakarte, die Karl IX. übergeben wurde, bis zu den Eicones, die Theodor de Bry nach den von Le Moyne kurz vor seinem Tod im Jahr 1588 fertiggestellten Zeichnungen 1591 veröffentlicht, vergeht ein Vierteljahrhundert. In der Zwischenzeit ist der Initiator des kolonialen Unterfangens, Admiral de Coligny, während der Bartholomäusnacht ermordet und Florida endgültig an Spanien abgetreten worden. Während sie aus der Geschichte verschwunden ist, wird die Karte des französischen Florida zum Zweck einer fiktiven Rekonstruktion benutzt. In diesem Sinne entnimmt Le Moyne bzw.
S. 155-202. Diese Studie berücksichtigt jedoch nicht den wichtigen Meilenstein, den der Kupferstich von Le Moyne-De Bry darstellt. 32 Über die »drei Schulen der Kartographie« nach Verazzano vgl. Mollat/Habert, Giovanni et Girolamo Verrazano navigateurs de François Ier, S. 166ff.
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nach ihm De Bry der auf einer Grundfläche vereinten Floridae descriptio die sieben ersten Tafeln seiner Bildererzählung. In sieben Stationen zeichnet sich der Vormarsch der Franzosen entlang der Küsten im Frühling 1562 und danach ihre Ansiedelung auf dem Gebiet ab. Diese sieben Stiche korrespondieren mit ebenso vielen vergrößerten Teilen der Karte zu Eingang des Buches. Eine Region wird herausgegriffen, nämlich der Abschnitt des atlantischen Küstenstreifens zwischen dem Kap Canaveral und der Mündung des »Jordans« (»Jourdain«), und sie wird zur Grundlage einer Folge bewegter Bilder. Die hydrographische Karte mit ihrem rechtwinkligen Küstenverlauf und ihren verästelten, senkrecht zur Küste stehenden Wasserläufen wird zur ›symbolischen Form‹ der Darstellung; in dieser Funktion ist sie analog zu den perspektivischen Räumen in den Gemälden der Renaissance, folgt dabei aber ganz anderen Gesetzen. Der Hintergrund der Karte erlaubt die Abgrenzung der Momente eines von Südwesten nach Nordosten ausgerichteten Parcours, der vor allem in die beiden folgenden Episoden zerfällt: die Entdeckungsreise von Jean Ribault entlang der Küste Floridas vom 30. April bis zum 22. Mai 1562 auf der Suche nach dem mythischen Jordan, den er nicht erreichen wird, (Eicones I bis VI; vgl. Abb. 3 und 4), und die Krise beim Aufbau von Charlesfort (»Fort Karl«), als die von Ribault zurückgelassenen Siedler vor lauter Hunger gezwungen sind, die Einheimischen um Lebensmittel zu bitten (VII). Das Verfahren, in Text und Bild aus einer geographischen Karte Elemente einer Erzählung zu beziehen, ist nicht neu. Bereits Olaus Magnus hatte seiner Skandinavienkarte – der Carta Marina aus dem Jahre 1539 – die mehreren Dutzend Vignetten entnommen, die seine etwa sechzehn Jahre später, d.h. 1555, erschienene Historia de gentibus septentrionalibus illustrierten.33 Wenn man weiß, dass die Kapitel dieses Werkes die dichten Kartenlegenden amplifizieren, von denen die Carta bereits überfrachtet war, erkennt man schnell, dass es nicht
33 Vgl. Elfriede Regina Knauer: Die Carta Marina des Olaus Magnus von 1539. Ein kartographisches Meisterwerk und seine Wirkung, Göttingen: Gratia-Verlag 1981, und v.a. Kurt Johannesson: The Renaissance of the Goths in Sixteenth-Century Sweden. Johannes and Olaus Magnus as Politicians and Historians, hg. u. a.d. Schwedischen v. James Larson, Berkeley: University of California Press 1991.
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schwer ist, eine Karte in ein Buch zu verwandeln. Von der Carta Marina bis zur Historia oder in einem ähnlichen Übergang von der Descriptio von Le Moyne zur Brevis Narratio vollzieht sich eine Art mechanische Umwandlung, die die Entwicklung von einer simultanen Repräsentation auf einer einzigen Grundfläche – Velin oder Papier – zur Struktur aufeinanderfolgender Seiten erlaubt, die man einzeln umblättern kann.
Abbildung 3/4: Theodor de Bry: Tafel I / II aus Jacques Le Moyne de Morgues: Floridam Provinciam inhabitantium Eicones (1591).
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Dank ihrer beträchtlichen Vergrößerung kann die Darstellung nun auch Elemente integrieren, die sie anfangs nicht zeigen konnte, und die relative Abstraktheit der Descriptio, von Wal und Karavelle einmal abgesehen, macht wirklichen Landschaften mit einem Dekor aus Bäumen und Hütten Platz, wo sich die Silhouetten von Jägern und Kriegern abzeichnen. Nach der kanonischen Definition von Ptolemäus entstammen diese Ansichten dem choro- oder topograpischen Genre. Sie schreiben einem kartographischen Raum einmalige Szenen und Ereignisse ein: das Anlegen des Schiffes, den Austausch von Geschenken mit den Einheimischen, das Zusammentreffen mit Alligatoren, den Bau eines Forts. So entfaltet sich der Ablauf der Erzählung Bild für Bild an den aufeinander folgenden Schauplätzen der Route einer Entdeckungsreise entlang der Küste. Der Weg, der von der Überblickskarte von Florida zu diesen fragmentarischen Bildern führte, ist mit einer Wandlung des Inhaltes einhergegangen. Die Quantität der Kosmographie hat der Qualität der Topographie Platz gemacht. An dieser Stelle ist ein kurzer Exkurs nötig, um zwei Probleme voneinander zu unterscheiden, die in der Analyse bisher miteinander vermischt worden sind; zum einen der Schritt von der Simultaneität zur Sukzession durch die topographischen Ausschnitte der Eicones von De Bry-Le Moyne und zum anderen der davon zu unterscheidende Schritt von der Diskontinuität der kartographischen Repräsentation zur diegetischen Kontinuität der Erzählung. Diese Kontinuität stellt sich jedoch durch die Aufeinanderfolge der Stiche der Eicones aus dem Jahre 1591 noch nicht wirklich ein. Die ersten sieben Tafeln der Serie stellen, wie bereits erwähnt, die aufeinander folgenden Etappen der Entdeckung der Küstengebiete Floridas durch Jean Ribault im Frühling 1562 dar. Sie halten unterschiedliche Momente fest, die die Lektüre im Laufe der Seiten miteinander zu verknüpfen erlaubt. Man befindet sich hier auf dem Weg zur Linearität einer Erzählung ohne Unterbrechungen und Lücken. Es handelt sich um eine Art Comic avant la lettre, bei dem die gleichen Hintergrundelemente Tafel für Tafel wiederkehren: die geradlinige Kante des sandigen Ufers, das die spärlichen Wälder im Hintergrund von der Meeresszenerie im Vordergrund trennt, wo die Schiffe mit ihren eingeholten oder gesetzten Segeln von ihren Beibooten eskortiert werden. Und sogar Personen kann man entdecken: nackte, hochgewachsene Indianer mit
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schwingenden Hüften und zu Hochfrisuren gebundenen Haaren, stämmige Matrosen mit Mützen auf dem Kopf und Soldaten, die ihre Arkebusen oder Lanzen schultern. Die topographische Sequenz strebt zur Kontinuität der Erzählung, erreicht sie jedoch nicht ganz. Sie nähert sich ihr in der Form einer Asymptote – als hätte der Herausgeber Theodor de Bry versucht, zwei miteinander konkurrierende und komplementäre Medien dazu zu bringen, sich so lange wie möglich und so exakt wie möglich einander anzunähern. Auf der einen Seite entwickelt sich die kartographische Descriptio als aus dem Körper der Neuen Welt ausgeschnittenes und für die Kolonisatoren geöffnetes Handlungsfeld zu einer topographischen Sequenz, die wie die Sätze einer Erzählung segmentiert ist. Zum anderen wird die Brevis Narratio, das heißt die Erzählung, die Le Moyne von seinem Abenteuer angefertigt hat, die etwa dreißig eng beschriebene Seiten umfasst und mit der gleich nach der Karte das Buch beginnt34, durch einen parallelen Prozess der Fragmentierung in einer Serie von kurzen, beschreibenden Tableaus fortgeführt, von denen man nicht weiß, ob sie speziell für die Stiche geschrieben worden sind oder einem bereits existierenden Text entnommen wurden – sie könnten auch in einem Stück geschrieben worden sein und den zweiten Teil des Einleitungstextes bilden. Diese kommentierenden Texte mit einer Länge zwischen sechs und zwanzig Zeilen sind unter den Stichen angeordnet und lassen zusammen mit den Titeln der einzelnen Tafeln über der Seite die Seitenaufteilung des emblema triplex erkennen, das so oft in den illustrierten Büchern der Renaissance vorkommt. Immerhin wird durch dieses Ergebnis, bei dem es sich wahrscheinlich eher um das Werk von Theodor de Bry als das von Le Moyne handelt, auf eine instabile und problematische Weise die Konvergenz von Karte und Erzählung erreicht. Diese Verbindung von Diskontinuität und Kontinuität bringt ein Theater hervor: das Theater der neuen Welt, wie es Jean-Paul Duviols so treffend benannt hat35 – ein Thea-
34 Der vollständige Titel lautet: Brevis Narratio eorum quae in Florida Americae provincia Gallis acciderunt, secunda in illam navigatione, duce Renato de Laudonniere classis Praefecto : Anno M.D.LXIIII. 35 Jean-Paul Duviols (Hg.): Le Théâtre du Nouveau Monde. Les Grands Voyages de Théodore de Bry, Paris: Gallimard 1992.
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ter, das man gleichzeitig hören und sehen kann, aufgeteilt in Szenen und Tableaus. Das Theater bezeichnet in seinem grundlegenden Sinn als Dispositiv des Sehens im 16. Jahrhundert jede Art von Werk in Manuskript- oder Druckform, in dem das Bild an erster Stelle steht bzw. das spektakuläre Element den Vorrang hat. Von diesem Element kommt im Übrigen auch die Bezeichnung des ersten neuzeitlichen Atlas im Jahre 1570 durch Abraham Ortelius: Theatrum Orbis Terrarum. Theatrum Orbis Novi, so könnte der Titel der von Theodor de Bry und seinen Söhnen ab 1590 herausgegebenen Reihe von Quartbänden lauten, die heute unter der Bezeichnung America-Reisen bekannt ist; Theatrum Floridae ist die genaue Beschreibung des zweiten Bandes der Reihe. Diese theatrale Konstruktion, die eine Art Kompromiss zwischen Simultaneität und Abfolge, Diskontinuität und Kontinuität schafft, besitzt die Funktion, eine redundante und überbordende Präsenz herzustellen, die anachronistische und dennoch reale Präsenz einer doppelt verlorenen Welt. Die französische Kolonie wurde Ende des Sommers 1565 von den Spaniern zerstört und die Gesellschaft der freien Timucua von Florida, die gegen ihren Willen zu Untertanen Philipps II. geworden waren, wurde ins Landesinnere zurückgedrängt, zum Teil zur Konversion gezwungen und unterworfen. Ungeachtet dieses doppelten Desasters errichtet das »Theater« von Florida seinen Schauplatz vor unseren Augen, mit dem Meer als Vordergrund, dem immergleichen Ort des Zuschauers bzw. Entdeckers, und seinem Hintergrund, wo sich zwischen den Stützen der unaufhörlich umgestellten Kulissen tanzende und unwirkliche Figuren von Schauspielern bewegen, die dem Garten Eden zu entspringen scheinen. Von Tafel zu Tafel wiederholt sich die gleiche Anordnung: das Meer im Vordergrund und darüber ein Stück rechteckig ausgeschnittener Kontinent, den zueinander parallel und vertikal ausgerichtet verlaufende Flüsse tief zerschneiden. Das in Streifen zerschnittene Gebiet verfügt über keinen Eigennamen, dafür tragen die ›Flüsse‹ die Namen »Delfinfluss«, »Maifluss« oder »Schöner Fluss« usw.; genauer gesagt handelt es sich um jene unzähligen Mündungen und langestreckten Buchten, die zum maritimen Raum gehören, über den der Seefahrer und zukünftige Kolonisator herrscht. Letzterer verfügt von Anbeginn der Fahrt an über ein Netz, das ihm die sprachliche und die strategische Beherrschung des Gebiets des Anderen zusichert. Außerdem
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sind diese Ortsansichten stets vom Standpunkt des Entdeckers aus angeordnet, d.h. vom Meer aus, das sich in der unteren Hälfte der Darstellung befindet und von dem aus der Blick, wie die Beiboote und Barken, in Richtung des Landesinneren aufsteigt. So wird der Zuschauer in dieser aufsteigenden Lektüre direkt mit der Bewegung der Entdeckung und Aneignung verbunden. Der aus der Ferne kommende Europäer taucht in einer dominanten Position auf. Von vornherein ist er hier der Herrscher über den amerikanischen Raum. Mehr oder weniger allein verfügt er über einen Raum, den er mit seinen hoch aufragenden Schiffen besetzt, mit seinen Beibooten, seinen Erkundungsgängen, den Ortsnamen, die er jeder Flussmündung einschreibt. Ihm gegenüber besetzen die Indianer nur bestimmte abgetrennte Orte, sie sind in einem Netz gefangen, das sie umschließt und einsperrt. Man sieht, dass die theatrale Konstruktion von De Bry aus einer einfallsreichen Improvisation resultiert, die sowohl aus der Floridakarte von Le Moyne als auch aus dessen Erzählung schöpft, eine Erzählung, die es schon vorher gab und die zum Teil mit derjenigen Laudonnières identisch ist, dem Befehlshaber der Expedition, der selbst der Autor einer Bemerkenswerten Geschichte Floridas (Histoire notable de la Floride) war. Die Funktion dieser theatralen Konstruktion ist eine doppelte: Sie soll kompensieren und gleichzeitig neu beleben. Sie ermöglicht es, das verlorene Theater eines Aufeinandertreffens wiederzufinden bzw. wiederherzustellen, und seine verstorbenen Protagonisten, Hugenotten ebenso wie Einheimische, wieder zum Leben zu erwecken. Jedoch ist diese Rekonstruktion nicht nur zum Trost und zur Selbstbestätigung des protestantischen Gedächtnisses bestimmt. Sie haucht dem Interesse an dieser aus der Welt gefallenen Region neues Leben ein und macht sie wieder für ein Eingreifen protestantischer Mächte bereit, die nun allerdings nicht mehr die französischen Hugenotten, sondern das elisabethanische England und bald auch Holland sind. Obwohl sie mit entgegengesetzten Mitteln arbeiten, ist Jean de Léry und Theodor de Bry der Wille gemeinsam, einen Raum zu erschaffen und ein Gedächtnistheater zu errichten. Ein solches Verfahren ist sowohl auf die Vergangenheit als auch auf die Zukunft gerichtet. Es strebt darüber hinaus gleichzeitig nach einer konkreten, ästhetischen Umsetzung und einer ungewisseren, politischen Lösung. In sei-
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ner unmittelbaren Wirkung zielt es auf das Vergnügen des Lesers; auf lange Sicht erweckt es die Aufmerksamkeit des Strategen. Nichts von all dem findet sich dagegen in dem dritten Beispiel wieder, das es noch zu untersuchen gilt. Das absolute Gegenteil spielt sich in der insulären Kartographie von André Thevet ab. Es geht weder um Vergangenheit, noch um Zukunft, sondern um eine alles vereinnahmende Gegenwart. Das der Nostalgie wie auch allen Projekten verschlossene Insularium von Thevet verjagt den Leser brutal aus seinem Territorium. Es verbittet sich außerdem jedwedes Einwirken auf die Realität, trotz seiner Anfeindungen gegen die Reisenden im Lehnstuhl.
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GETRÜBTE
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Das Isolario – zu Deutsch Insularium – d.h. der Atlas, der so erschöpfend wie möglich die Inseln der Welt zeigt, betrachtet den beschreibbaren Raum der Welt als ein Nebeneinander von teilbaren Einheiten.37 Es gibt kaum ein Festland, das nicht von den Inseln seiner Küstenregionen oder von den Netzen seiner Wasserläufe her in Fragmente aufgeteilt und beschrieben werden könnte. Ist der Nachteil eines solchen Weltverständnisses das Fehlen einer globalen Perspektive, besteht der Gewinn dafür in dem sofortigen, punktgenauen Zugriff auf eine Welt, die sich gerade erst erschließt und der man bislang nur in sehr unvollständiger Weise Herr werden kann. Im Jahrhundert der großen Entdeckungen und der Bildung der ersten Kolonialreiche wird leicht verständlich, wie wertvoll ein solches Modell sein konnte. Die Form der Karte hat dabei Auswirkungen auf die Erzählung.38 Die kartographische Zerstückelung des Insulariums greift auf die Be-
36 In dem Sinn, in dem Terence Cave diesen Ausdruck gebraucht. Vgl. Terence Cave: Pré-Histoires. Textes troublés au seuil de la modernité, Genf: Droz 1999. 37 Frank Lestringant: Le Livre des îles. Atlas et récits insulaires de la Genèse à Jules Verne, Genf: Droz 2002. 38 Zum Verständnis der Analogie von Text und Karte vgl. Ouellet: Le discours fragmenté, S. 178f.
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schreibung über, auf die sie sich bezieht, oder auf die Erzählung, die ihr entspringt, wie es die Beispiele des Vierten Buchs (Quart Livre) von Rabelais oder Gullivers Reisen von Swift aufzeigen. In der Erzählung nach Art eines Insulariums zerbricht die Beschreibung zu Spiegelscherben, die Erzählung zerstäubt zu einer Wolke von Episoden, deren Reihenfolge aleatorisch ist. Daraus resultiert, was den Text betrifft, eine beinahe unbegrenzte Fruchtbarkeit. Der ArchipelText ist ein »kornukopischer Text«, bei dem kein Weg verpflichtend ist, es keine bevorzugte Route gibt und wo ein- und dieselbe Reise auf verschiedene Arten verschriftlicht werden kann, indem man verschiedenen Handlungsfäden folgt.39 Das Insularium entspricht in gewisser Weise einem epistemologischen Moment. Es floriert zur gleichen Zeit wie die ersten Landgänge der Entdecker, als die Ferne sich in eine Folge von Ufern ohne Fortsetzung auflöst, von denen jedes eine Insel bildet. Dieser zerstückelte Stand des geographischen Wissens wird von dem Grünen Globus in der französischen Nationalbibliothek (um 1515) exakt dargestellt, auf dem die Neue Welt zu Fragmenten von zu Inseln gewordenen Küstengebieten zusammenschrumpft: Labrador, Florida, Yukatan, der NordOsten Brasiliens, der auf einem beinahe schwarzen Ozean treibt – eine wortwörtliche Illustration des mare tenebrosum der Antike. Dieses Bild von der Erde ist jedoch Ende des 16. Jahrhunderts anachronistisch geworden: In der Zwischenzeit hat sich Amerika wieder verfestigt und ganz allgemein haben die Inseln ihre relativ bedeutende Stellung verloren. Etwa in dieser Zeit, in den Jahren 1586-1588, stellt André Thevet am Ende einer langen, umstrittenen Karriere als Kosmograph der Könige von Frankreich – er hat vier aufeinander folgenden Königen gedient, von Heinrich II. über Franz II. und Karl IX. bis hin zu bis Heinrich III. – ein Großes Insularium und Buch für Piloten (Grand Insulaire et Pilotage) zusammen, das die Karten von allen Inseln der Welt enthalten sollte, aber unvollendet geblieben ist.40 Ein geographisches Werk, an dem er über 30 Jahre lang gearbeitet hat-
39 Terence Cave: The Cornucopian Text. Problems of Writing in the French Renaissance, Oxford: The Clarendon Press 1979. 40 André Thevet: Le Grand Insulaire et Pilotage, ca. 1588, Paris: BnF, Ms fr. 15452-15453.
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te, mündete so in eine zersplitterte Beschreibung der Welt, in eine Weltkarte in Form eines Archipels. In dieser Zeit schrieb Thevet eine Geschichte zweier Reisen nach Ost- und Westindien (Histoire de deux voyages aux Indes Australes et Occidentales) ins Reine, eine Erzählung, die als Autobiographie einer Reise nach Brasilien vorgestellt wird, tatsächlich aber eine Neufassung der Einzigartigkeiten des antarktischen Frankreich (Singularitez de la France Antarctique) aus dem Jahr 1557 ist.41 Die beiden Schriften sind späte Früchte aus dem Lebensherbst des Kosmographen, die beide in Manuskriptform blieben; sie stellen jede auf ihre Weise eine Apologie pro domo dar. Das Große Insularium wäre die Krönung eines im Dienste des Königs vollendeten Werkes gewesen, wenn es nur zu Ende geführt worden wäre. Als eine Bestätigung dieses Weltwissens durch persönliche Erfahrung ruft die Geschichte zweier Reisen – in der das Wort »Geschichte« wie bei Léry die etymologische Bedeutung der Augenzeugenschaft annimmt – ein letztes Mal den Gründungsakt eines Lebens als Geograph und damit zugleich als Mann der Praxis in Erinnerung. Um dieses Diptychon erfolgreich auszuführen, übernimmt Thevet teilweise die fragmentierte Logik des Insulariums. Dies ist ganz offensichtlich der Fall bei dem gleichnamigen umfangreichen Werk, dessen etwa dreihundert Kapitel sich nach Belieben über die Weltmeere treiben lassen und nur in zwei unscharfe Unterabteilungen zusammengefasst werden, die Inseln der großen Weltmeere im ersten Band sowie diejenigen des Mittelmeers und seiner Umgebung im zweiten Band. Es trifft aber ebenso auf die Geschichte zweier Reisen zu, die Wiederholungen und Exkurse anhäuft und nur recht künstlich in den Schranken einer Hin- und einer Rückreise verbleibt. Es ist bedeutsam, dass in den beiden Navigationsbüchern, die Thevet besaß und mit eigener Hand kommentierte, d.h. die Reise zu den Molukken (Voyage es Isles de Mollucques) von Antonio Pigafetta42 41 André Thevet: Histoire d’André Thevet Angoumoisin, Cosmographe du Roy, de deux voyages par luy faits aux Indes Australes, et Occidentales, ca. 1586, Paris, BnF, Ms fr. 15454 ; kritische Ausgabe, hg. v. Jean-Claude Laborie u. Frank Lestringant, Genf: Droz 2006. 42 Antonio Pigafetta: Le Voyage et navigation faict par les Espaignolz es Isles de Mollucques, Paris: Simon de Colines o.J. [1526], Exemplar in der Bibliothèque Méjanes d’Aix-en-Provence mit der Signatur D. 751 mit dem
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und die Abenteuerlichen Reisen (Voyages avantureux) des Kapitäns Jean Alphonse43, das Wort »Insel« durchgängig unterstrichen ist und am Rand darauf Bezug genommen wird. Diese marginalia stellen gewissermaßen eine Matrix der Weltbeschreibung durch Inseln dar, wie sie das Große Insularium und weitgehend auch die Geschichte zweier Reisen sind: eine zerstückelte, fragmentierte Beschreibung, die den diskontinuierlichen Charakter der Schriften hervorhebt, auf denen sie aufbaut. Zehn der ersten fünfzehn Kapitel der Geschichte zweier Reisen und die zwanzig letzten beziehen ihren Stoff aus dem Großen Insularium. Diese Anleihen haben massive Ausmaße: Die Geschichte greift auf das Große Insularium über, dessen Fertigstellung sich immer wieder verzögert und nie eintreten wird. Ein Drittel, um nicht zu sagen die Hälfte der Geschichte stellt die mehr oder weniger getreue Kopie des Insulariums dar, das bereits seit beinahe einem Jahrzehnt in Arbeit ist. Sie verdankt ihm sowohl ihren Inhalt als auch ihre archipelartige Gliederung, eine vor allem gegen Ende der Reise spürbare Auflösung in Einzelteile. Es ist wahrscheinlich, dass Thevet sich zunehmend in diesen unvollendeten Zustand gefügt hat und den Gegenstand des großen Werkes absichtlich in eine Schrift umgegossen hat, die einen weniger langen Atem erforderte. Infolge dessen hat die Geschichte zweier Reisen viel von der Monotonie einer Auflistung. Man kann also nicht behaupten, dass die thematische Gliederung sich gegen den Strang der Ereignisse durchsetzt. Indem Thevet bei den Worten der Reise stehen bleibt, ohne zu den Sätzen und Absätzen selbst vorzudringen, die er mit diesen ungeordnet losgelassenen Worten organisieren könnte, scheint er zu einem Verfahren unterhalb des Anspruches einer linearen Erzählung sowie einer in Form gebrachten Darstellung zurückgekommen zu sein. Da-
handschriftlichen ex-libris von André Thevet mit dem Datum »1553« versehen: f. vi v°, vii, 15 r°, 17 r°, 19 v°, 20 v°, 36 v°, 43 r°, 45 r° und v°, 52 r°, 53 r°, 54 r° und v°, 55 r° und v°, 56 r°, 57 v°, 61 r°, 67 r° und v°, 70 r° usw. – die Erwähnung von »Inseln« wird von Seite zu Seite wiederholt. 43 Jean Alphonse: Les Voyages avantureux, Rouen: Xaintongeois, 1622. Persönliche Ausgabe von Thevet, f. 28 r°: handschriftliche Randbemerkung »Insel«, um eine der kleinen Inseln des »gouffre S. Jehan« in der Gegend von Neufundland hervorzuheben; f. 64 r°: »Insel«, neben dem folgenden Satz im gedruckten Text: »Cellan (= Ceylon) ist eine große Insel«.
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durch soll jedoch aus einem Text heraus, dessen Schnipsel in die Winde der offenen See geworfen werden, die aktive Kompetenz eines weltweiten »Insulisten« um so deutlicher behauptet werden. In der Tat lässt Thevet nicht davon ab, seinen Mann vom Fach beständig zu duzen, während er ihn über Klippen und Eis geleitet, ihm den Kurs angibt und an seiner Stelle im Wechsel Astrolabium und Ruder hält. Daher die monotonen Auflistungen von Landmarken und Peilungswinkeln, die in einem Katalog von Inseln, Inselchen und Klippen mündet, mit dem sich das narrative Gerüst auflöst. Dies legt die Sackgasse offen, in die sich Thevet hineinmanövriert hat. Das Modell des Atlasses, und zwar des zu Bruch gegangenen Atlasses, den das Insularium darstellt, zieht den Niedergang des Reiseberichts nach sich. Es überrascht keineswegs, dass dieser monströse Text in Manuskriptform geblieben ist. Man kann sich kaum vorstellen, wie ein solcher Text hätte lektoriert werden sollen. Seeleute hatten spezialisierte Handbücher zur Verfügung, roteiros oder maritime Routenbücher, die Thevet für seine Zwecke geplündert hat; die Liebhaber der Reiseliteratur verfügten über andere Kost nach ihrem Geschmack: die mehr und mehr vom Romangenre infizierten Reiseberichte und sogar richtige Reiseromane wie die tragische Geschichte jener Demoiselle, die auf eine Insel ins Exil verbannt wurde – eine Geschichte, die Thevet bezeichnenderweise nicht berücksichtigt hat, die zeitgleich aber von François de Belleforest erzählt44 und bald von Adrien de Boufflers und Simon Goulart wieder aufgriffen wurde.45
44 François de Belleforest: Le Cinquiesme Tome des Histoires Tragiques, contenant un discours memorable de plusieurs Histoires, les succez et evenemens desquelles est pour la plus part recueilly des choses advenuës de nostre temps. Par François de Belle-Forest Comingeois, Paris: Jean Hulpeau/Gervais Mallot 1572, f. 72 r°-102 v°: »Histoire 3. Coeur genereux d’une Damoiselle françoise«. 45 Adrien de Boufflers: Le Chois de plusieurs histoires et autres choses memorables tant anciennes que modernes, appariées ensemble, pour la pluspart non encores divulguées, Paris: P. Mettayer 1608, S. 508-522: »D’une Damoiselle Normande«; Simon Goulart: Thresor d’Histoires admirables et memorables de nostre temps. Recueillies de plusieurs Autheurs, Memoires, et Avis de divers endroits, Genf: Samuel Crespin 16201628, »Quatriesme Volume«, S. 545-547: »Affections desreiglées, griefvement punies«.
Vom Sinn des Blasens Der Physeter bei Rabelais1
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Die Episode vom Physeter oder Meerungeheuer im Vierten Buch (Quart Livre) von François Rabelais (1552) muss auf die Carta Marina et descriptio septentrionalium terrarum von Olaus Magnus (1539) bezogen werden. Mein Vorhaben ist es, die Karte zu untersuchen, die sich in Rabelais’ Text verbirgt bzw., wenn man so will, die Karte zum Intertext Rabelais’ werden zu lassen. Diese textgenetische Studie, die eine Karte mit einem literarischen Text verbindet, wirft mehrere methodische Fragen auf, und als solche wird die Karte in gleicher Weise wie auch ein Buch zum literarischen Intertext. 1) Eine Karte ist ganz offensichtlich nicht nur ein Bild; sie ist auch ein Text, der einen mehrfachen Sinn annehmen kann, und als Text kann sie, wie ein Buch, in die literarische Intertextualität Eingang finden. In der Tat ist Rabelais für die Episode des Physeter im Vierten Buch (Kap. 33-34) von einer Art kartographischen Träumerei ausgegangen, indem er die verstreuten Elemente auf der Karte zu einer einheitlichen Sequenz verbunden, sie zu einer Erzählung zusammengestellt hat und somit letztlich aus dieser kartographischen memoria eine der Geschichten hervorgeholt hat, die in ihr angelegt waren. Die
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A.d.Ü: Originaltitel: »Le souffle et le sens«. Das im Französischen mögliche Spiel mit souffle: Atem, Hauch, Blasen; und souffleur: blasendes Meeressäugetier (Delphin/Wal) ist nicht direkt ins Deutsche übersetzbar.
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geographische Weltkarte in der Renaissance funktioniert in der Tat wie eine Gedächtniskunst, d.h. ein künstliches Gedächtnis oder besser gesagt, ein Ortsgedächtnis.2 So bietet die Weltkarte für denjenigen, der sie zu lesen versteht, ein Tableau der Weltgeschichte. Sie ermöglicht die unmittelbare Visualisierung einer Menge von Ereignissen, die in der Zeit nach und nach stattgefunden haben, sofern man über die nötigen Hinweise und die Kartenlegende verfügt. Anstatt sie, wie dies die historische Erzählung tut, in einer syntagmatischen Kette anzuordnen, ordnet die Karte diese Ereignisse in einer compositio loci, auf einer Oberfläche mit ihren Abteilungen, ihren Hinweisen und Maßstäben an, auf der sich der Blick bewegen kann. Eine regionale Karte lädt in gleicher Weise dazu ein, eine oder verschiedene Geschichten aus den Orten, die sie zu sehen gibt, herauszulesen. Als Zusammenfassung der Geschichte eines großen Kapitäns, einer Nation oder eines Stamms, als Speicher der Ereignisse aus der Vergangenheit ist die Karte gleichzeitig auf die Zukunft bzw. auf alle möglichen Zukünfte gerichtet: Sie bringt fast unendlich viele Geschichte hervor – Geschichten, von denen einige zu echten historischen Ereignissen werden, die in der Mehrzahl aber Träume oder Fiktionen bleiben. Letzteres ist ganz offensichtlich hier der Fall. So betrachtet, ist eine Karte wie der Speicher eines Computers: Man kann sie vollstopfen, sie entleeren und sie unbegrenzt wieder mit neuen Geschichten aufladen. Jede neue Lektüre produziert unweigerlich auch eine neue Erzählung, neue Wege, unerhörte Abenteuer oder Handlungspläne. Die Carta marina im vorliegenden Fall ist ein Erinnerungsspeicher und eine Enzyklopädie von allem, was man über die Natur der Einwohner Skandinaviens und auch über ihre Vergangenheit, über ihren Glauben und ihre Legenden wissen kann. Die Lektüre der Karte bringt Erzählungen hervor. In der Fiktion von Rabelais ermöglichen es, wie zu zeigen sein wird, vielfältige Hinweise die Entstehung dieser erfinderischen Lektüre nachzuzeichnen: Die Insel Fare, die wegen der Assoziation mit dem »Grimmigen-Meer« (»mer des Farouches«) aus Pantagruels Schüler (Le Disciple de Pantagruel), einer Quelle Rabe-
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Ich verweise hier auf die klassische Studie von Frances A. Yates: The Art of Memory, London: Routledge & Kegan Paul 1966.
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lais’, zur »Grimmigen-Insel« (»île Farouche«) wird; das Auftreten des Physeters als blasender Wal; die Schlachtordnung und der Aufruf der Trompeten, die Formation einzunehmen; der Tausendfüßler des Meeres; die Anatomie des Physeters, der am Ufer in Stücke zerteilt wird; die Dudelsäcke, die den Marsch der Würste anleiten: All diese Motive werden im Rahmen eines umfassenden narrativen Syntagmas miteinander verknüpft 2) Auf diese Art des Umgangs mit der Karte könnte Rabelais durch das Beispiel von Olaus Magnus selbst gekommen sein. Als erster überhaupt hat Olaus Magnus aus seiner Karte ein Buch gemacht: die 1555 und somit 16 Jahre nach der Karte in Rom veröffentlichte Historia de gentibus septentrionalibus. Diese umfangreiche Inquarto-Publikation kann als die textuelle Erweiterung seiner Skandinavienkarte angesehen werden. Man kann festhalten, dass die Carta marina bereits viel Text in Form von Legenden in der Holzschnitt-Karte selbst beziehungsweise an ihren Rändern enthält. Außerdem wird die Karte von einem Kommentarheft begleitet, in dem die Legenden länger ausgeführt sind. Die Historia von 1555 besitzt jedoch noch einmal einen ganz anderen Umfang. Sie stellt die unverbundenen Teile dieses diskontinuierlichen Kartenkommentars zusammen und macht aus ihnen eine zusammenhängende Darstellung. Außerdem wird sie von kleinen Holzschnitten illustriert, die wie vergrößerte und nur leicht überarbeitete Ausschnitte aus der Carta marina wirken. Rabelais als Kartenleser übernimmt ziemlich genau den Gebrauch, den Olaus Magnus selbst von der Carta Marina macht. Er verwandelt ein Bild in eine Erzählung, ein Versatzstück einer Weltkarte in eine Geschichte. 3) Dieser narrative Gebrauch der Karte folgt nicht nur dem Wortsinn, sondern auch dem allegorischen Sinn. Auf den allegorische Lektüremodus wird in der Carta Marina bisweilen deutlich hingewiesen, in den meisten Fällen bleibt er aber nur implizit. Die monströsen Geschöpfe wie der Physeter oder der »Blaswal« (»souffleur«) tummeln sich frei in einem Meer, um dessen reichen Schatz an Symbolen man seit der Antike weiß. Von Olaus Magnus bis zu Rabelais wird man Zeuge des gleichen zweistufigen Schaffensprozesses, auf einer literalen und auf einer allegorischen Ebene. Die Carta Marina und das Vierte Buch haben mehr als den Lokalkolorit gemeinsam, sie teilen ein
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gleiches symbolisches Universum an Bezügen im weitesten Sinne, und über diesen gemeinsamen Rahmen hinaus auch die gleichen Regeln der Transformation, der Wiederzusammensetzung und der Neuschöpfung. Es versteht sich von selbst, dass von einem Werk zum anderen, d.h. von der Carta zum Vierten Buch, nicht einfach eine mechanische Übertragung des allegorischen Schemas stattfindet. Die Carta Marina und die Abenteuer von Pantagruel bilden zwei autonome Sinnsysteme, die voneinander weitgehend unabhängig sind. Außerdem sind Olaus Magnus und Rabelais nicht vom selben Ufer, wenn man so sagen kann. Olaus Magnus ist Bischof in partibus von Uppsala und träumt von einem Kreuzzug gegen die lutherische Monarchie in Schweden; Rabelais ist dagegen wohl vertraut mit lutherischen Lektüren und hasst den Papst ebenso wie Calvin. Interessant ist vor allem, dass Rabelais keine Botschaft, sondern eine Form der symbolischen Umwandlung von der Karte zur Geschichte übernimmt und somit eine Denkstruktur schafft, in der die Kartographie der zügellosesten Entfaltung der Einbildungskraft Vorschub leistet.
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Auf den ersten Blick scheint sich die Episode des Physeters, die ihren Ort zwischen den Episoden von Antiphysis und den Kuttelwürsten hat, für die allegorische Interpretation weniger zu eignen als die anderen beiden. Die Episode ist beinahe nur erzählend, eine im Wesentlichen narrative Ruhepause inmitten eines Buches, in dem sich die – oft in Dialogform eingespielten – Erzählerkommentaren nur so anhäufen. Doch begünstigt eben diese geringe Bedeutung der Passage ihre Auslegung, und man kann seit einiger Zeit eine Art Inflation von Deutungen zu diesem schmalen Kapitel feststellen, das bisher von der Kritik eher vernachlässigt worden ist. Dieser bislang literaturwissenschaftlich brach liegende Ort wird nun von zahlreichen Arbeitern beackert, von fleißigen Handwerkern, die jetzt dieses unerforschliche,
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maritime Feld, unerschöpflicher als die Tonne des Diogenes3, wahrlich genauso unerschöpflich wie der Ozean, in alle Richtungen hin umgepflügt haben. Eine glückliche oder unglückliche Fügung will es, dass die Episode im geometrischen Zentrum des Vierten Buchs liegt. Sie ist also möglicherweise, wie Florence Weinberg glaubt, »der Fixpunkt, um den sich die Gesamtlogik dieses zutiefst rätselhaften Buchs dreht«.4 Beziehungsweise sie ist, wie Gérard Defaux noch nachdrücklicher behauptet, »das perfekte numerische Zentrum und der Augenblick der Epiphanie in diesem Buch«.5 Auch Edwin M. Duval hat aus diesen beiden Kapiteln den Schlussstein der Architektur seiner Interpretationsgebäudes gemacht.6 Es handelt sich also um eine zentrale Lücke, eine Leerstelle, die nach einer Überfülle an Sinn verlangt und nach einem Überfluss von Kommentaren. Ohne hier auf den Prozess zurückkommen zu wollen, den Leo Spitzer den ergebenen Rabelaisforschern (»rabelaisants«) macht7, und weit davon entfernt, die »poetischen Gedanken« verteidigen zu wollen, die dem großen Philologen und Stilisten lieb und teuer sind, soll es darum gehen zu zeigen, dass nicht die Frage nach dem Sinn bei Rabelais im Vordergrund steht, sondern dass sie einem symbolischen
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François Rabelais: »Prologue du Tiers Livre«, in: Œuvres complètes, hg. v. Mireille Huchon, Paris: Gallimard (»Bibliothèque de la Pléiade«) 1994, S. 351. Die Bücher Rabelais’ werden im Folgenden nach dieser Ausgabe zitiert. Für die deutsche Übersetzung wurde folgende Ausgabe verwendet: Gargantua und Pantagruel, hg. u. a.d. Frz. v. Horst und Edith Heintze (unter Benutzung der Übersetzung von Ferdinand A. Gelbcke), 2 Bde., Frankfurt a.M.: Insel 1974, hier Bd. 1, S. 321 (Vorwort zum Dritten Buch). Florence Weinberg: Rabelais et les leçons du rire. Paraboles évangéliques et néoplatoniciennes, Orléans: Paradigme 2000, Kap. XI: »Le centre allégorique«, S. 171-179. Gérard Defaux: Einleitung zu Rabelais: Le Quart Livre, Paris: LGF (»Bibliothèque classique«) 1994, S. 72. Wieder aufgenommen in Gérard Defaux: Rabelais agonistes: du rieur au prophète. Études sur Pantagruel, Gargantua, Le Quart Livre, Genf: Droz (»Études rabelaisiennes«, Bd. XXXII) 1997, S. 497. Edwin M. Duval: The Design of Rabelais’s Quart Livre de Pantagruel, Genf: Droz 1998, Kap. VI, S. 125-142: »The sign at the center and the quest without end«. Leo Spitzer, »Rabelais et les ›rabelaisants‹«, in: Études de style, Paris: Gallimard 1970, S. 134-165.
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Dispositiv untergeordnet ist, dessen Spiel und dessen Variationen den eigentlichen Gegenstand des literarischen Textes bilden.
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Die Biographie von Olaus Magnus – Olaf Stor mit richtigem Namen – verdient einen kurzen Abriss. 1490 in Linköping in Schweden geboren, studiert Olaus Magnus Theologie in einem Deutschland, das kurz vor Ausbruch der Reformation steht. Im Jahr 1523 reist er zum ersten Mal nach Rom, um seinen älteren Bruder Johannes Magnus zu begleiten, der gerade von Gustav Wasa zum Erzbischof von Uppsala ernannt worden war. Gustav Wasa, der Anführer des Aufstandes gegen den blutrünstigen Christian II. von Dänemark, wird im gleichen Jahr zum König von Schweden gewählt. Olaus erhält daraufhin die Bischofsweihe. Zwischen 1525 und 1527 unternimmt er mehrere diplomatische Reisen im Dienst Gustav Wasas. Doch der neue König konfisziert die Güter der Kirche und schlägt sich 1527 auf die Seite der Reformation, was zur Folge hat, dass die Brüder Magnus in Ungnade fallen und bald endgültig nach Rom ins Exil gehen müssen. Nach dem Tod seines Bruders Johannes 1544 wird Olaus zum Erzbischof von Uppsala in partibus ernannt und nimmt in dieser Funktion am Konzil von Trient teil. Vergebens erwartet er von dem Konzil die Exkommunikation von Gustav Wasa und die katholische Wiedereroberung Skandinaviens. Er selbst stirbt 1557, ohne sein Heimatland wiedergesehen zu haben, in Rom. Im Exil nimmt er also seine Carta Marina in Angriff, die 1539 veröffentlicht wird, sowie die Historia de gentibus septentrionalibus, die 1555 erscheint. Sie ist voller Kummer der Verbannung und voller Vorwürfe gegen die Reformation, die inzwischen in ganz Nordeuropa fest verwurzelt ist.8
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Zur Biographie der Brüder Magnus vgl. Kurt Johannesson: The Renaissance of the Goths in Sixteenth-Century Sweden. Johannes and Olaus Magnus as Politicians and Historians, hg. u. a.d. Schwedischen v. James Larson, Berkeley: University of California Press 1991.
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Abbildung 1: Olaus Magnus: Carta Marina (1539).
Die Carta Marina (vgl. Abb. 1), von der es heute nur noch zwei bekannte Exemplare gibt, die in München und Uppsala aufbewahrt werden9, erfuhr eine weite Verbreitung und übte einen beträchtlichen Ein-
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Der volle Titel lautet: Carta Marina et descriptio septemtrionalium terrarum ac mirabilium rerum in eis contentarum diligentissime elaborata. Anno Dni 1539, Venedig: Thomas de Rubis 1539. Die Karte beinhaltet eine zehnjährige, vom Papst Paul III. bewilligte und mit Blosius unter-
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fluss aus. In erster Linie entspringen die Holzschnitte, die die Historia von 155510, sowie ihre Epitome 1558 von Christoph Plantin zieren11, dieser Karte. Ab 1550 reproduziert Sebastian Münster im vierten Buch seiner Kosmographie, die insbesondere von Skandinavien handelt, nicht nur das im gleichen Jahre 1539 auf Lateinisch und Deutsch veröffentlichte Beiheft der Carta Marina mit Kommentaren, sondern auch auf einer Doppelseite die daraus stammenden »Meereswunder« – so Gustave Flaubert in seiner Versuchung des Heiligen Antonius sagt, für die die Carta marina eine nachgewiesene Quelle darstellt.12 Auf der doppelten Bildtafel von Münster erscheinen die Seeungeheuer wie in einem Aquarium eingesperrt, darüber ein Landstreifen, auf dem die außergewöhnlichsten Vierbeiner verteilt sind, etwa verschiedene Rentiere, die zusammen im Geschirr gehen (man denkt an
zeichnete Druckerlaubnis mit dem Datum vom 2. März 1539. Die Adressierung lautet: »Venundantur in Apotheca Thome de Rubis in corona super ripam ferri prope Pontem rivi alti Venetiis.« Rechts unten, neben der Signatur: »Olaus Magnus Gotus Lincopen[sis]«, und unter dem Motto »Vince in bono malum« stellt eine Abbildung die Fabel vom Löwen und der Maus dar, begleitet von dieser Legende: »En leo terribilis quem solvit mus laqueatum./ Sic Magni minima sepe iuvantur ope.« – Benutzt wurde das Faksimile des Exemplars der Universitätsbibliotek von Uppsala. Das andere Exemplar befindet sich in München, Bayerische Staatsbibliothek, Signatur: 12 Mapp. VII, 1. 10 Olaus Magnus: Historia de gentibus septentrionalibus, earumque diversis statibus, conditionibus, moribus, ritibus, superstitionibus, disciplinis, exercitiis, regimine, victu, bellis, structuris et rebus mirabilibus, Romae: apud Ioannem de Viottis 1555. Verwendete Exemplare: Bibliothèque nationale de France [BnF], Signatur: Rés. M. 1288 Fol.; Bibl. de la Sorbonne, Signatur: R XVIb 70 in-fol.; Cambridge University Library, Signatur: Sel.3.230. Das Werk wurde 1567 bei Heinrich Petri in Basel neu herausgegeben, mit erneuerten Holzschnitten und überarbeitetem und erweitertem Text. 11 Olaus Magnus: Historia de gentibus septentrionalibus, authore Olao Magno Gotho, Archiepiscopo Upsalensi, Suetiae et Gothiae Primate, sic in Epitomen redacta, ut non minus clare quam breviter [...], Antverpiae: ex officina Christophori Plantini 1558. Verwendetes Exemplar: Sorbonne, Signatur: Rra 629 in-12°. 12 Vgl. dazu Jean Seznec: Saint Antoine et les monstres. Essai sur les sources et la signification du fantastique de Flaubert, New York: PMLA 1943, S. 200-217. Vgl. auch Frank Lestringant: André Thevet, cosmographe des derniers Valois, Genf: Droz 1991, S. 335-341.
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den tarandus von Medamothi bei Rabelais13), Elche, Vielfraße, im Käfig gefangene Hermeline usw. Sebastian Münster macht sich zudem Olaus Magnus’ Technik zu eigen, Buchstaben in die Bildtafel einzufügen, die auf die Spalten eines als Beiheft gedruckten Kommentars verweisen. Ironischerweise hat Münster, der Protestant und sogar Anhänger der Reformation und Theologe war, alle deutschen Ausgaben seiner Cosmographia dem treulosen Gustav Wasa gewidmet. Münster behält von der Carta Marina offensichtlich nur ihre dokumentarischen und künstlerischen Inhalte und nicht ihren höheren, allegorischen Sinn bei, den sensus spiritualis, der sich, wie wir gleich sehen werden, für die Gegenreformation einsetzt. Denn die Carta kann auch allegorisch verstanden werden. Der italienische Kartograph Giacomo Gastaldi schöpft in seinen Ergänzungen zu Sebastian Münster, die er in seinen Neuausgaben und Aktualisierungen zum Atlas des Ptolemäus von 1547, im Jahr 1548 und 1561 vornimmt, aus den Quellen von Olaus Magnus, ohne dabei die Kosmographie des Deutschen zu benutzen. In seiner Afrikakarte von 1564 reproduziert er erneut die Meeresungeheuer aus der Carta marina. Er versetzt sie großzügig in den Südatlantik, wobei man dort aber keinen Kampf zwischen Walen und Schiffen zu sehen bekommt.14 Benedetto Bordone, der in Venedig 1539 stirbt, d.h. im gleichen Jahr, in dem auch die Carta marina erscheint, und der der Vater des bekannteren Julius Caesar Scaliger15 war, stellt in seinem weltweiten
13 Rabelais: Le Quart Livre, Kap. II, S. 541-542. Dt. Übers.: Bd. 2, S. 36. Vgl. auch Marie-Madeleine Fontaine: »Une narration biscornue: le tarande du Quart Livre«, in: Poétique et narration. Mélanges offerts à Guy Demerson, Paris: Champion 1993, S. 407-427. 14 Die Details sind wiedergegeben bei Elfriede Regina Knauer: Die Carta Marina des Olaus Magnus von 1539. Ein kartographisches Meisterwerk und seine Wirkung, Göttingen: Gratia-Verlag 1981, S. 51, Abb. 14. 15 Myriam Billanovich: »Benedetto Bordon e Giulio Cesare Scaligero«, in: Italia medioevale e umanistica 11 (1968), S. 187-256. Zur Herkunft und Jugend Scaligers stammt der aktuellste Überblick von Michel Magnien in seiner Einleitung zu den Orationes. Vgl. Jules-César Scaliger: Oratio pro M. Tullio Cicerone contra Des. Erasmum (1531); Adversus Des. Erasmi Roterod. Dialogum Ciceronianum oratio secunda (1537), Genf: Droz 1999, S. 35-43.
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Insularium bzw. Libro de tutte l’Isole del Mondo (1528) Vulkane auf den Inseln dar, die vielleicht aus der gleichen Quelle stammen wie der Berg Hekla von Olaus Magnus.16 Es ist nicht auszuschließen, dass die beiden zusammengearbeitet haben und dass Olaus Magnus Bordone geographische Informationen zu den nördlichen Gegenden geliefert hat. Die Carta Marina regt einen weiteren Insel-Atlas an, der allerdings in Manuskriptform verbleibt, das Islario general de todas las Islas del Mundo des Spaniers Alonso de Santa Cruz, der königlicher Kosmograph und Chronist von Karl V. und Philipp II. war. Zwar weicht »Olao Magno« bei den Längen- und Breitengraden vom gelehrten »Jacobo Ziglerio aleman«, d.h. dem Deutschen Jakob Ziegler, ab, der parallel zu ihm zitiert wird. Aber »da er klug und umsichtig ist«, so Alonso de Santa Cruz, und außerdem in dieser Gegend geboren ist, wird Olaus Magnus als die höchste Autorität für den ganzen nördlichen Archipel betrachtet, der von Island über die Halbinsel Skandinaviens bis zu den Hebriden und den Orkney-Inseln reicht.17 Ausgehend von Sebastian Münster verbreiten sich die Meeresungeheuer von Olaus Magnus in den Werken von Conrad Gesner, André Thevet und Ambroise Paré in Form von vergrößerten, mit Legenden versehenen Details. André Thevet zieht beispielsweise aus der Carta Marina sechs der lebendigsten Stiche seiner Universellen Kosmographie (Cosmographie universelle). Darin geht es einerseits um die Sitten der Lappen (»Wie die Lappen ihre Boote von einem Ort an einen anderen transportieren«, »Wie die Nordleute Schlangen jagen«), aber auch darum, vor den Augen des Lesers die so faszinierenden wie schrecklichen Wunder des Nordens auszubreiten (»Unglücksfälle, die üblicherweise in den kalten Ländern auftreten«, »Porträt des
16 Benedetto Bordone: Isolario nel qual si ragiona di tutte l’Isole del Mondo, Venedig: Niccolo d’Aristotele, detto Zoppino 1528/1534. 17 Alonso de Santa Cruz: Islario de todas las Islas del Mundo por Alonso de Santa Cruz Cosmografo mayor de Carlos I. de España, hg. v. Antonio Blazquez, Madrid: Publicaciones de la Real Sociedad Geográfica 1920, Bd. 1, S. 105. Diese Ausgabe ist voller Fehler und wurde für den Teil, der die Neue Welt betrifft, abgelöst von der leider sehr unvollständigen Ausgabe von Françoise Naudé: Reconnaissance du Nouveau Monde et cosmographie à la Renaissance. Étude de l’Islario general de todas las islas del mundo d’Alonso de Santa Cruz, Paris: Université de Paris VIII 1980 (doctorat de 3ème cycle, mit Teiledition des Islario); verwendetes Exemplar: BnF, département des Cartes et Plans (GeEE.2719-1-2).
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ungeheuerlichen Fisches mit Schneckenhaus«, »Wie man einen Wal fängt«).18 Noch später, als er an einem unvollendet gebliebenen Großen Insularium und Buch für Piloten (Grand Insulaire et Pilotage) arbeitet, bedient sich Thevet bei der Carta von 1539 und bei der Historia von 1555, um damit seine Kapitel zu den Inseln Nordeuropas, aber auch diejenigen zu Neufundland sowie zu den Inseln des Golfs und der Mündung des St.-Lorenz-Stroms mit Inhalt zu füllen.19 Am aufschlussreichsten ist es aber, dass die Carta Marina nicht nur unter Geographen und Enzyklopädisten zirkulierte, sondern mit François Rabelais, für den sie eine seiner Quellen darstellt, in bestimmter Weise auch in die Literatur eingegangen ist. Als Echo einer wundersamen Alterität, die sowohl geographischer als auch geistiger Art ist, trägt die Carta marina von 1539 ein wenig zum Exotismus und viel zum Geheimnis von Pantagruels Heldentaten bei. In seiner lexikographischen Übersicht über die Sprache von Rabelais hat Lazare Sainéan erstmals auf die Gegenüberstellung von Pantagruels Heldentaten und diesem außergewöhnlichen kartographischen Dokument hingewiesen: Die Ortsbezeichnung Lappia für Lappland im 51. Kapitel des Dritten Buchs stammt demzufolge direkt aus dieser Karte.20 Später hat Povl Skarup vorgeschlagen, in dieser Karte die wahrscheinliche Quelle der Episode des Physeter zu sehen, den Pantagruel in den Kapiteln 33 und 34 des Vierten Buchs in der Nähe der »Grimmigen-Insel« (»île Farouche«) antrifft und bekämpft.21 Dass sowohl in der Carta Marina wie auch im Vierten Buch eine Verknüpfung zwischen dem Physeter und der Insel »Fare« oder »Farre« – in Wirklichkeit das Archipel der Färöer – hergestellt wird, ist in der Tat erstaun-
18 André Thevet: La Cosmographie universelle d’André Thevet cosmographe du roy, Paris: Pierre L’Huillier und Guillaume Chaudière 1575, Bd. 2, f. 869 r°, 872 v°, 900 r°, 929 v°, 1017 r°. Dazu kommt auf f. 931 v° der »Plan de l’Isle de Zeland«. 19 Ich erlaube mir auf meine Studie »L’Avenir des Terres Nouvelles« zu verweisen, in: La Renaissance et le Nouveau Monde, hg. v. Jean-René Béguin, Québec: Musée du Québec 1984, S. 45-51. 20 Lazare Sainéan: La Langue de Rabelais, Paris: E. de Boccard 1922-1923, Bd. 2, S. 519. 21 Povl Skarup: »Le Physétère et l’île Farouche de Rabelais«, in: Études Rabelaisiennes 6 (1965), S. 57-59.
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lich. In Pantagruels Schüler (Le Disciple de Pantagruel), auf den sich Rabelais durch das ganze Vierte Buch hindurch ausgiebig berufen hat, gibt es tatsächlich ein »Grimmigenmeer« (»mer des Farouches«), »wo die Menschen behaart sind wie die Ratten«, doch ist eindeutig die Vermischung mit dem Ortsnamen bei Olaus Magnus dafür verantwortlich, dass dieses Meer zur Insel wurde.22 In der Carta Marina tauchen westlich und nördlich von Fare, einem Archipel, der so kompakt dargestellt wird, als sei er eine einzige Insel, mehrere Seeungeheuer auf, die weit über die »Mastkörbe der Schiffe« hinweg Wassersäulen blasen und spucken (vgl. Abb. 2). Neben einem von beiden, der ganz besonders wild ist, wie eine Säule im Wasser steht und ein Schiff aus NORVEGI bedroht, steht eine abgekürzte Inschrift: PISTR[IS] SIVE/ PHISET[ER]. Diese beiden durch ihre Nähe miteinander verbundenen Elemente – Fare-Insel und Physeter – reichen aus, um eine Nähe und wahrscheinliche Filiation zwischen der Carta und dem Vierten Buch mit guten Grund behaupten zu können.
Abbildung 2: Detail aus der Carta Marina (Teile A und D).
22 Le Disciple de Pantagruel, hg. v. Guy Demerson u. Christiane Lauvergnat-Gagnière, Paris: STFM 1982, S. 22-25 (Kap. X: »Vom GrimmigenMeer, wo die Menschen behaart sind wie die Ratten, und von ihren Gebräuchen«; Kap. XI: »Von der Gewandtheit der Wilden, wie sie ins Meer springen, wenn man Artillerie auf sie abschießt und wie schwer sie zu fangen sind«). Vgl. auch S. 1547, FN 1 der von Mireille Huchon besorgten Ausgabe der Œuvres complètes.
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Doch das ist noch nicht alles: Povl Skarup fügt in seinem Aufsatz von 1965 ein drittes Element hinzu, das bezüglich der eigentlichen Physeter-Episode scheinbar nebensächlich und gewissermaßen peripher ist. Es handelt sich um die Dudelsäcke, die uns noch einmal zum Blasen, zum Wind und zur Leere des Schlauches, aus dem die Luft weicht, führen. In der Carta Marina nimmt man auf einer Erhöhung der Insel Fare einen Dudelsackspieler wahr, der wie ein Bergsteiger auf einem Gipfel sitzt. An dessen Fuß ist ein riesengroßer Wal gestrandet, festgezurrt mit einem Schiffsanker. Drei Seemänner zerstückeln ihn mit weit ausholenden Axtschlägen und schicken sich an, sein Fett in zwei in der Nähe aufgestellte Fässer zu füllen. Nun empfangen bei Rabelais in der Episode, die direkt auf die des Physeters folgt, die kampflustigen Würste Pantagruel und sein Gefolge »unter dem Klang von Dudelsäcken, Sackpfeifen, Stopfhörnern, Blasentrommeln, Querpfeifen, Zinken und Trompeten«.23 Diese Militärmusik wird mit Ausnahme der Trommeln ausschließlich auf Blasinstrumenten24 gemacht. Die »Sackpfeifen, Stopfhörne[r] und Blasentrommeln« dominieren und weisen diese Blaskapelle als »Windsack-Kapelle« aus. Der Physeter oder »Bläser«25 ist ebenso eine Kreatur, die bläst, ein gigantischer, leerer, aufgeblasener Sack. Auch ihm geht schließlich die Luft aus und er fällt zusammen. Der einzige Unterschied ist, dass er nicht Luft, sondern Wasser ausbläst. Man bekommt bereits eine Vorahnung, wie der Dämon der Allegorie von dieser analogischen Sequenz Besitz ergreifen wird. Selbst wenn der Physeter und die Würste zwei unumstößlich feindlichen Lagern angehören, haben beide den gleichen Makel des Anschwellens und der Leere. Die Blasinstrumente – diesmal sind es Hörner und Trompeten – finden sich in einem anderen Detail der Carta Marina wieder, das einen vierten Bezug zu Rabelais erlaubt. Man bemerkt in der Carta Marina zwischen Fare und Island die eigenartige Anwesenheit eines Trompetenspielers auf dem Vorderkastell eines Schiffes, das siegreich gegen den Angriff zweier Wale (»bellues«) im Wasser besteht. Der Kampf Pantagruels gegen das Ungeheuer beginnt nunmehr mit
23 Rabelais: Le Quart Livre, Kap. XXXVI. Dt. Übers.: Bd. 2, S. 120. 24 A.d.Ü.: Frz. »instruments à vent«, wörtl.: Wind-Instrumente. 25 A.d.Ü.: Frz. »souffleur« von souffle: Atem, Hauch, bezeichnet einen Wal oder Delphin (Tümmler).
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Trompetenstößen, kurz bevor sich die Schiffe zur Schlachtordnung formieren. Dieser Kampf ist eine geordnete Schlacht, eine Seeschlacht mit all ihrem decorum, mit ihren Anfangs- und Endritualen und vor allem mit ihrer Ordnung bzw. Taktik. Tatsächlich beschreibt die Physeter-Episode keine Fischerei- oder Jagdszene, sondern das Spektakel einer Schlacht – der Schlacht gegen ein Ungeheuer, eine Theriomachie. Diese Theriomachie gehört weniger zur Mythologie, als zur Geschichte – eine Geschichte, die, wie man vermuten kann, durch die Legende überformt und ausgeschmückt wird. Dieses Detail erinnert, wie es Elfriede Regina Knauer in ihrer Interpretation der Carta Marina richtig gesehen hat, an die berühmte Seefahrt von Nearchos im Golf von Persien, wie sie Quintus Curtius, Strabo26, Arrian und Plinius berichtet haben. Von ähnlichen Seeungeheuern überrascht, bringt der Admiral Alexanders seine Flotte in Angriffsposition – ist es ein »griechisches Y«, das diese Flotte, die selbst aus Griechenland kommt, bildet? Gleichzeitig ertönen die Trompeten, vermischt mit den Schreien der Besatzung. Diese Schlachtordnung und diese Musik aus Blasinstrumenten lassen die Ungeheuer sofort in die Fluten abtauchen. Der Physeter, auf den Pantagruel stößt, ist gefährlicher, da er unempfindlich und furchtlos ist: Er beruhigt sich erst, als er tot und mit Pfeilen gespickt ist und so endgültig das Aussehen eines See-»Skolopenders« annimmt. Dieser See-Skolopender lädt aufs Neue zu einem Vergleich mit der Carta Marina von Olaus Magnus ein, ein fünfter Berührungspunkt zwischen Karte und Buch. Zwar gibt es eigentlich keinen Skolopender auf der Karte über die Länder des Nordens, aber mehrere Seeungeheuer mit ringförmigem Körper lassen an Tausendfüßler denken, zum Beispiel der gigantische Krebs zwischen den Hebriden und OrkneyInseln, der einen Menschen mit einer seiner Scheren packt.
26 Vgl. Strabo: Geographica, Buch XV, Kap. II, 12: »Plurimum eos turbaverunt physeterum (qui sic ab efflanda aqua dicuntur) magnitudines, fluctum maximum et confertim cum caligine tanta sufflationibus suis excitantium, ut proxima etiam quaeque conspici non possent. Sed quum navigationis duces illis timentibus et causam ignorantibus indicassent belluas esse, quae facile tubarum sonitu et plausu exaudito discederent, Nearchus naves cum impetu eo compulit ubi maxime arcebatur, ac tubis belluas terruit. Illae undas subire, tum ad puppim rursus apparere, adeo ut navalis pugnae spectaculum praeberent; verum subito cessavere.«
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Sechstes und letztes Detail, das der Carta Marina und dem Vierten Buch gemeinsam ist, ist das Ausnehmen und Sezieren des Ungeheuers, um seinen Tran aufzufangen – »das Nierenfett«, präzisiert Rabelais scherzhaft.27 Bei Olaus Magnus findet die Szene, wie bereits festgestellt, auf Fare statt. Das Zerstückeln des Wals wird in späteren Abbildungen oft nach diesem Vorbild dargestellt, vor allem von Sebastian Münster und Konrad Gesner28, später von André Thevet29 und Ambroise Paré30. Gesner, Thevet und Paré, der den Holzschnitt von Thevet wieder aufnimmt, setzen den Dudelsackspieler direkt auf den Kopf des Ungeheuers, ein Bein nahe am Auge. Der Hintergrund dieser zuletzt genannten Bildkomposition ist voll von teratologischen, von Olaus Magnus entliehenen Details, wie z.B. der Seeteufel, der weibliche Brüste vor sich her trägt und dessen Körper in einem Fischschwanz endet, ein Wal, der ein Schiff umwirft und untergehen lässt sowie ein Physeter, der nahe einer Karavelle mit gehisstem Segel bläst usw. Es scheint also, als sei Rabelais für diese Episode des Vierten Buchs von einer kartographischen Meditation ausgegangen, wenn er in einer kontinuierlichen Sequenz vereinzelte Elemente der Karte zusammenführt, sie in einer Erzählung anordnet und so aus diesem kartographischen Gedächtnisspeicher eine der Geschichten herausholt, die dort deponiert waren. Die Insel Fare, die zur »grimmigen« (»Farouche«) Insel wegen der Nähe zum »grimmigen Meer« (»mer des Farouches«) aus Pantagruels Schüler wird, das Auftauchen des Physeter oder des Blas-Wals, die Schlachtordnung und die zum Sammeln der Schiffe (»Guare Serre«)31 blasenden Trompetenstöße, der Tausendfüßler des Meeres, das Sezieren des am Ufer zerstückelten Physeter, die
27 Rabelais: Le Quart Livre, Kap. XXXV. Dt. Übers.: Bd. 2, S. 116. 28 Conrad Gesner: Nomenclator aquatilium animantium. Icones animalium aquatilium in mari et dulcibus aquis degentium, Zürich: Christoph Froschauer 1560, S. 176. 29 Thevet: Cosmographie universelle, Bd. 2, Buch XXIII, Kap. 5, f. 1017 r°: »Comme on prend la Baleine«. 30 Ambroise Paré: Des monstres et prodiges, kritische Ausgabe von Jean Céard, Genf: Droz 1971, S. 122, Abb. 64; Kommentar S. 193-194. Der Holzschnitt, der in der Ausgabe von 1579 erscheint, ist direkt von Thevet entliehen, wie etwa zwanzig andere. Er ersetzt die einfachere Darstellung, die in früheren Ausgaben von Gesner übernommen worden war. 31 Rabelais: Le Quart Livre, Kap. XXXIII. Dt. Übers.: Bd. 2, S. 113.
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Dudelsäcke, Flöten, Därme und Blasen, die den Marschschritt der Würste bestimmen: All diese Motive werden in einer Narration miteinander verknüpft, in der die Metonymie mit der Metapher einhergeht, und in der man beobachten kann, wie die Heldentat des Riesen ein Seeungeheuer in ein anderes verwandelt, d.h. den vertikal aufragenden Physeter in den sich in der Horizontale bewegenden Skolopender mit seinem Aussehen einer umgekippten, mit dem Kiel nach oben treibenden Galeone.32 Der Bezug zur Carta Marina beschränkt sich nicht auf diesen geographischen Prä-Text. Wahrscheinlich leistet, wie es Paul Smith beobachtet hat, der ungeheuerliche Fisch, wie auch der Tarandus, das Einhorn oder das physikalische Phänomen der gefrorenen Worte, das erneut einen Bezug zu Olaus Magnus hat, einen Beitrag zum »Lokalkolorit des Vierten Buchs, das kein anderes ist als das der Nordmeere«.33 Aber damit noch nicht genug: Die Carta Marina ist in erster Linie eine Grundlage für Geschichten, eine ortsgebundene memoria der Völker des Nordens – und zwar in einem solchen Ausmaß, dass Olaus Magnus aus der Karte sogar ein Buch macht, die Historia de gentibus septentrionalibus. Dieses Buch ist seit 1539 im Entstehen begriffen, wie es eine Passage des Begleitheftes der Carta unmissverständlich belegt, die das »andere Buch« ankündigt, in dem sich der Autor, wie es dort heißt, bemühen wird, die unzähligen Ungeheuer zu erklären, für die in seinem Holzschnitt kein Platz mehr gewesen sei.34 Genau genommen ist die Carta Marina in zweierlei Weise mit dem Buch verbunden. Zum einen enthält sie sehr viel Text in Form von Legenden, die in die Holzschnitte integriert oder am Rande in einer Kartusche ausgeführt werden, wobei die Verweise über Großbuchstaben und Kapitälchen erfolgen – Großbuchstaben von A bis I, um die neun großen Regionen der Karte, von Osten nach Westen und
32 Ebd., Kap. XXXIV. Dt. Übers.: Bd. 2, S. 116. 33 Paul Smith: Voyage et écriture. Étude sur le Quart Livre de Rabelais, Genf: Droz 1987, S. 115. 34 Olaus Magnus: Opera breve laquale demonstra, e dechiara, overo da il modo facile de intendere la charta, over delle tere frigidissime di Settentrione: oltra il mare Germanico, dove si contengono le cose mirabilissime de quelli paesi, fin’ a quest’hora non cognosciute, ne da Greci, ne da Latini, Venedig: Giovan Thomaso 1539, acht unpaginierte Blätter in-4°, Sign. A-B4 (London, BL: c.55.c.2), f. B i r°.
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von Norden nach Süden zu bezeichnen, und Kapitälchen, um die Einzelheiten jeder Region zu spezifizieren.35 Zudem existiert zu der Karte ein erläuterndes Beiheft, in dem die Legenden detaillierter ausgeführt werden. Dieses Beiheft wurde, wie es damals üblich war, zusammen mit der Karte 1539 in den Sprachen Deutsch und Italienisch veröffentlicht.36 Das Buch von 1555 im Quartformat, das somit von ganz anderen Ausmaßen ist, stellt die unzusammenhängenden Segmente dieses diskontinuierlichen Kommentars zu einer kontinuierlichen Darstellung zusammen. Dazu ist es, wie bereits erwähnt, mit Holzschnitten illustriert, die wie vergrößerte, kaum überarbeitete Details der Carta Marina wirken. Die Carta ließ sich als Bild verstehen, das durch im Hintergrund stehende oder in Kästchen eingeschlossene Texte angereichert wurde; die Historia ist umgekehrt ein Text, der einzelne Bruchstücke der Karte enthält. In seiner Lektüre der Karte lässt sich Rabelais von diesem Beispiel anregen. Er verwandelt seinerseits ein Bild in einen Text, ein Fragment einer Weltkarte in ein burleskes Epos. Die Lektüre der Karte bringt eine Erzählung hervor, allerdings eine Erzählung, die auf der literalen und auf der allegorischen Ebene lesbar ist. Der geographische und rein informative Sinn wird durch einen spirituellen Sinn – altior sensus – verdoppelt. Die weitgehend überzeugende Interpretation, die uns Elfriede Regina Knauer zur Carta liefert, ist folgende: Das von Wunderwesen bevölkerte und Seeungeheuern umzingelte Skandinavien steht auch für das lutherische Skandinavien, das sich von der römischen Kirche gelöst hat und der Häresie zum Opfer gefallen ist. Die monströsen Kreaturen wie der Physeter tümmeln sich ungestört in einem Meer, dessen unerschöpfliche symbolische Ressourcen man seit
35 Dieses zweistufige Verweissystem wird in einer Mitteilung an den Leser erklärt, die auf die päpstliche Vollmacht folgt und sich in einem kleinen Kästchen auf der Carta Marina links unten befindet: »Olaus Magnus Gothus benigno lectori salutem./ Ut tabulam hanc Aquilonarium terrarum et mirabilium rerum in eis contentarum (quam ad laudem serenissimi Ducis Petri Landi Senatusque Venet. ac publicam christiani orbis utilitatem emitto) commode intelligas. Scias ipsam in .IX. partes per .IX. literas maiores A.B.C. etc. distinctam, deinde sub qualibet litera maiore literas minutas contineri quae summatim rem quaesitam indicabunt.« 36 Olaus Magnus: Ain kurze Auslegung, Venedig: 1539. – Vgl. Skarup: »Le Physétère et l’île Farouche de Rabelais«, S. 58, FN 5.
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der Antike kennt: Es ist seit der christlichen Odyssee von Guillaume Budé ein Meer weltlicher Irrungen und des Fleisches – ich denke an die Allegorie des De Transitu Hellenismi ad Christianismum37 – und bis hin zu den viel späteren barocken Dichtern. In der Carta Marina badet Skandinavien im Meer der Häresie: Bedrohte Schiffe stehen für das in vielerlei Hinsicht bedrohte Schiff der Christenheit.38 Man sieht, wie leicht sich dieser für Rabelais’ Zeitgenossen so offensichtliche Symbolcharakter des Meeres auf das Vierte Buch übertragen lässt. Was ich zeigen möchte, ist aber nicht, dass der Symbolismus von Rabelais der gleiche wie bei Olaus Magnus ist, was absurd wäre, sondern dass man bei beiden die gleiche Art und Weise beobachten kann, allegorischen Sinn zu konstituieren. Diese allegorische Lesart ist manchmal in der Carta Marina klar ausgewiesen. So reinigt sich der Vielfraß, indem er sich zwischen zwei Bäumen »entleert«, damit er weiterfressen kann, obwohl er keinen Hunger mehr hat. Die Moral der Geschichte: Die Reichen nehmen, wenn sie eine Kleidung aus dem Fell des Vielfraßes tragen, die Natur dieses Tieres an.39 Doch bleibt die allegorische Absicht oft implizit und wird nur durch Anspielungen zugänglich. Die Trompete auf dem Heck des Schiffes zum Beispiel – ein Motiv, das an die Seefahrt des Nearchos und den Alexanderroman erinnert – beinhaltet wohl eine sehr viel genauere historische Anspielung: bei diesem Schiff handelt es sich, wie die Legende LUBICENSES anzeigt, um ein Schiff aus Lübeck. Eine Hansestadt, die, nachdem sie die Reformation überstanden hatte, von 1533 bis 1535 eine kurze anabaptistische und radikal reformatorische Zeit durchlief, bevor im Herbst 1537 die Ordnung wieder hergestellt wurde, als der gefallene Bürgermeister, der Händler Jürgen Wullenweber, wegen Anabaptismus, Ikonoklasmus und Aufrührertum hingerichtet wurde. Diese Umkehrung des Pendelausschlags ließ, so zumindest der Traum, dem man sich hingeben mochte, auf die Wiederherstellung der alten Reli-
37 Guillaume Budé: Le Passage de l’Hellénisme au christianisme (De transitu Hellenismi ad Christianismum), 1534, hg. u. a d. Lateinischen v. MarieMadeleine de La Garanderie u. Daniel Franklin Penham, Paris: Les Belles Lettres 1993, Buch 2, § 201-209, S. 188-193. Für andere Beispiele der »philhomeria« (oder Liebe zu Homer) vgl. Budé: Buch 2, § 22-25, S. 217220. 38 Elfriede Regina Knauer: Die Carta Marina des Olaus Magnus, S. 44. 39 Ebd., S. 43.
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gion hoffen. Die siegreiche Strategie, die gegen das Seeungeheuer zum Einsatz kommt, wäre also ein Symbol für diesen örtlich begrenzten Erfolg gegen die Häresie in ihrer gefährlichsten Form.40 Doch die lutherische Religion blieb bis auf Weiteres bestehen. Bei Rabelais fügt sich die Episode des Physeters zwischen zwei andere, deren religiöser Sinn sich aufzudrängen scheint. Der Fastennarr »Quaresmeprenant«41 verweist über die Institution der Fastenzeit auf die katholische Religion und ihren pedantischen, intoleranten Formalismus. Die Würste können dagegen aufgrund ihrer traditionellen Verbindung zu Mardi gras, dem Faschingsdienstag, nur protestantisch sein in der ihnen eigenen, angeborenen Ablehnung der Fastenzeit. Folgt man Florence Weinberg, wären dies die deutschen Lutheraner, potenzielle Verbündete der erasmistischen Evangelischen, die Rabelais am Herzen liegen, aber die ihnen trotz allem den Krieg erklären aus einer Art von Verachtung oder eher einer religiösen Intoleranz heraus, die der des erzkatholischen Kaisers Karl V., ihres Verfolgers, gleich kommt.42 Jedoch hat Paul Smith sehr überzeugend aufgezeigt, dass es sich bei den Würsten auch um schismatische Engländer handeln könnte, nämlich um Anglikaner, die zwischen Reformation und Gegenreformation standen.43 Diese Annahme scheint zur Verkettung der Episoden in geographischer Hinsicht kohärenter und sinnvoller. Die Färöer-Inseln liegen schließlich auf der Karte nur ein wenig höher als die Orkney-Inseln und Schottland. England gehört ebenso zu den Ländern des Nordens, Schottland liegt gegenüber Norwegen. Und weiß Gott blasen in dieser Gegend die Dudelsäcke! In der antiken Zoologie ist der Physeter ein Fisch wie jedes andere Wesen, das im feuchten Element lebt. Er findet sich also natürlicherweise auf der Seite von Quaresmeprenant. Man aß in der Fastenzeit
40 Ebd., S. 46. 41 A.d.Ü.: Der Name verweist auf den Übergang vom Karnevalsfest/der Fastnacht, mit dem Quaresmeprenant häufig identifiziert wird, zur Fastenzeit. 42 Weinberg: Rabelais et les leçons du rire, Kap. XII, S. 181-193, und insbesondere S. 188-193. 43 Vgl. Paul J. Smith: »Les âmes anglaises sont andouillettes. Nouvelles perspectives sur l’épisode des Andouilles« (Quart Livre : Kap. 35-42), in: Rabelais et la question du sens. Études rabelaisiennes 49 (1994), S. 99111.
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Walfett. Es ist also kein Zufall, wenn er von den fetten Würsten gefürchtet wird, die niemals fasten. Doch haben die Würste den Lärm der auf das Seeungeheuer abgefeuerten Kanonenschüsse falsch interpretiert. Xenomanes, ein Experte in physischer und moralischer Kosmographie, vermutet, sie seien »erschreckt, und sie fürchteten, dass jener, ihr Feind, mit seinen Kriegsscharen gekommen sei, um sie zu überfallen oder ihre Insel zu verwüsten, wie er es schon mehrmals versucht hat, aber wegen ihrer großen Vorsicht und Wachsamkeit mit geringem Erfolg.«44 Pantagruel, der den Physeter besiegt und getötet hat, müsste also von den Würsten mit offenen Armen empfangen werden. Das passiert aber nicht, denn sein Ziel ist es offensichtlich, wie auch dasjenige des Xenomanes, Frieden zu stiften und nicht Krieg zu führen, also Quaresmeprenant mit den Würsten zu versöhnen, Katholiken mit Protestanten. Diese Perspektive ist seit dem »Nationalkonzil von Chesil«45 anachronistisch geworden, das die Gegenreformation und den Kampf gegen die Häresie organisiert und die Protestanten zunächst ausgeschlossen hat, bevor sie bekämpft wurden.
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Berücksichtigt man diesen allegorischen Kontext, so scheint es, als müsste der Physeter aufgrund von Kontamination und Nachbarschaft einen einfachen und klaren allegorischen Sinn haben. Doch wird eben hier die Sache kompliziert und die Interpretationen gehen auseinander. Selbstverständlich kann dieser allegorische Sinn unmöglich derselbe sein, den die Carta Marina von Olaus Magnus stiftet, die im Italien der Gegenreformation angefertigt und gedruckt wurde und mit einer Vollmacht von Papst Paul III., datiert auf den 2. März 1539, versehen war.46 In der Carta ist das Ungeheuer, ja ist jedes Ungeheuer, notwendigerweise häretisch; im Gegensatz dazu steht die Heldenhaftigkeit der Seeleute und der Navigatoren römisch-katholischen Ursprungs. Doch diese Quelle lässt in keiner Weise auf den eigentlichen Sinn der
44 Rabelais: Le Quart Livre, Kap. XXXV, S. 622. Dt. Übers.: Bd. 2, S. 117. 45 Ebd. Dt. Übers.: Bd. 2, S. 118. A.d.Ü.: Gemeint ist das Konzil von Trient. 46 Diese Vollmacht taucht unten links in der Carta Marina auf, vor der Adressierung an den Leser und dem Legendentext.
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Episode aus dem Vierten Buch schließen. Rabelais improvisiert mit den Ausgangsmaterialien und setzt sie zu einer Montage zusammen, die ihnen ein neues, symbolisches Dasein verleiht. Wenn es einen allegorischen Sinn gibt, so reproduziert dieser nicht automatisch den Sinn des Ausgangsmaterials. Umso mehr, als Rabelais’ Text bis in seine kleinsten Episoden hinein bereits zusammengesetzt ist und niemals nur einer einzigen Vorlage entspringt. Wenn die Carta Marina in den beiden Kapiteln über den Physeter schemenhaft wahrnehmbar ist, so verbindet sich diese Vorlage mit vielen anderen, zum Beispiel mit der Naturgeschichte von Plinius, wahrscheinlich mit Strabo, ohne jeden Zweifel auch mit Ariost, wo Roland und Roger beide mit einem Seeungeheuer kämpfen, um eine schöne Gefangene zu befreien47, noch zuvor mit Ovid und seinen Metamorphosen, und natürlich auch mit Pantagruels Schüler und seinen Phantasie-Inseln, seinem von grimmigen behaarten Wesen bevölkerten Meer und seinen Würsten. In einem weiteren Punkt gilt es Vorsicht walten zu lassen: Es gibt im Vierten Buch, wie übrigens auch in den anderen Teilen des Werkes von Rabelais, Episoden, deren Bedeutung lang und breit durch die Figuren selbst kommentiert wird und an deren allegorischer Intention, wie auch immer sie im Einzelfall aussehen mag, kaum ein Zweifel besteht. So verhält es sich mit dem Seesturm, gefolgt von dem Zwischenstopp auf der Makraeonen-Insel, die ganz genau den Kommentar zum Vorangegangenen darstellt. Dagegen bleiben andere Episoden unkommentiert und werden dem Scharfsinn oder öfter noch der Ratlosigkeit des Lesers überlassen. So liegt der Fall bei dem Physeter. Deswegen kann Paul Smith schreiben, dass »der Physeter kein Zeichen« ist, »zumindest nicht in der Art, wie der Sturm eines ist, die ›Kometen und Erscheinungen der Meteore‹ oder die außergewöhnliche Schlacht zwischen den Elstern und den Hähern«.48 Der Physeter trägt keine Bedeutung mit sich, die auf etwas Anderes verweist. Er wird weder interpretiert noch kommentiert – außer, wie sich zeigen wird, durch Panurg, von dem er aber im wahrsten Sinn des Wortes »anatomisch zerlegt«, d.h. seziert wird, bevor er vor allem wegen seiner Speckschicht, aus der man den wertvollen Tran gewinnt,
47 Diese Bezüge hat Smith: Voyage et écriture, S. 115, hergestellt. 48 Ebd., S. 117.
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in ein Fastenmahl verwandelt wird.49 Hier würde es sich also um einen reinen Signifikanten ohne zuordenbare Referenz handeln. Dieses Fehlen von Kommentaren ist um so bemerkenswerter, als die Erzählung mit der Geschichte des Seesturms kurz zuvor eine frappierende Parallele anbietet. Auch hier löst die Gefahr genau gegenläufige Reaktionen bei Panurg und Bruder Hans aus: ersterer kämpft und springt mit den Kanonieren auf das »Vorder-Kastell« des Schiffs, der zweite »fing an, mehr denn je zu heulen und zu jammern« und schlägt vor, aufs Festland zu fliehen anstatt zur See zu kämpfen.50 Schon in der Episode des Sturms vermisst er bitterlich den festen Boden unter seinen Füßen. Immer noch während des Sturmes evoziert Bruder Hans die Affinität Panurgs mit dem Feuer und nicht mit dem Wasser: »Denn du bist nicht dazu bestimmt, im Wasser zu ersaufen, du wirst hoch in der Luft baumeln, oder man röstet dich, Kerl, auf dem Scheiterhaufen wie einen Pastor«.51 Auch Pantagruel gibt zu diesem Widerstreit oder vielmehr zu dieser naturgemäßen Antipathie zwischen Panurg und dem Wasser einen Kommentar ab. Und um seinen Gegenstand einzuführen, bezieht er sich explizit auf die vorherige Beweisführung von Bruder Hans: Wenn dir das vorherbestimmt ist, sagte Pantagruel, was Bruder Hans dir kürzlich darlegte, so solltest du dich eher vor Pyrois, Eous, Äthon und Phlegon, den vier berühmten Sonnenrossen, fürchten, die Feuer aus ihren Nüstern blasen; Wale, welche Wasser aus ihren Rachen und Nasenlöchern speien, brauchst du dich nicht zu fürchten, denn durch dieses Element kommst du in keine Lebensgefahr, ja, wirst du eher noch geschützt und bewahrt als gefährdet und geschädigt.
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Der Physeter ist also in gewisser Weise Panurgs Totemtier, sein Schutzpatron. So erfährt man etwas weiter im Text, dass Panurg selbst die Allegorese des Wals vorschlägt, indem er das Ungeheuer mit dem »Teufel, Satan« und dem biblischen »Leviathan« vergleicht.53
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Rabelais: Le Quart Livre, Kap. XXXV. Dt. Übers.: Bd. 2, S. 116. Ebd., Kap. XXXIII. Dt. Übers.: S. 113. Ebd., Kap. XXIV. Dt. Übers.: S. 93f. Ebd., Kap. XXXIII. Dt. Übers.: S. 113f. Ebd. Dt. Übers.: S. 114.
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Seit dem Dritten Buch und Episoden wie die der Sibylle von Panzoust oder des Tods des Dichters Raminagrobis, weiß man, dass sich Panurg in Sachen Teufel auskennt. Er wirkt wie ein Anhänger des Teufels, ein Gefolgsmann Satans. Auch auf den allerletzten Seiten des Vierten Buchs liefert sich Panurg erneut dem Teufel aus, nachdem er aus der Tiefe des Frachtraums des Schiffes wieder hervorgestiegen ist »gleich einem wildgewordenen Bock«, mit einem abgerissenen Hosenbein, und der Katze Rodilardus, die sich an seinem Bein festkrallt. Man muss nicht eigens darauf hinweisen, dass Bock und Katze höchst teuflische Kreaturen sind. Panurg beschreibt seinen Aufenthalt im Schiffsbauch während des krachenden Kanonenfeuers wie einen Abstieg in die Hölle. Da er sich vor Angst in die Hosen gemacht hat, fordert ihn Pantagruel auf, sich mit einem weißen Hemd neu einzukleiden. Panurg antwortet ihm mit einer wahrhaften Sintflut an Fäkalsprache, einer Lawine an Synonymen für Exkremente, und in diesem Ton endet das Heldenepos von Pantagruel. Die Hölle der Welt vereinigt sich mit der Kloake des Körpers.54 Wenn man Panurg glauben will, wäre der Physeter oder Leviathan also der Teufel oder der Satan. Edwin Duval misst im letzten Band seiner Tetralogie, die Rabelais’ Intention gewidmet ist, dieser von Panurg vorgeschlagenen Identifizierung des Teufels die größte Bedeutung bei. Als Teufelsfigur verkörpert der Physeter für Duval das Prinzip der anticaritas.55 Erst hierin bekäme die Heldentat des Riesen ihren ganzen Sinn. Der über den Physeter errungene Sieg bedeute den entscheidenden Triumph über alle Formen der anticaritas, die ihm auf seiner Reise begegnet sind. Diese Heldentat im Zentrum des Buches symbolisiere den unermüdlichen Kampf, der den guten Pantagruel als lebendes Abbild der paulinischen caritas den teuflischen Mächten entgegentreten lässt. Das Problem ist, dass der Sieg über den Physeter ganz leicht zu erringen ist. Das Ungeheuer verteidigt sich nicht, während man vom Teufel mindestens den Einsatz von Schläue und Tricks erwarten würde. Dem Physeter geht dagegen wie einem Luftballon die Luft
54 Ebd., Kap. LXVII. Dt. Übers.: S. 197-200. 55 Edwin M. Duval: The Design of Rabelais’s Quart Livre de Pantagruel, Genf: Droz 1998, Kap. 6: »The Sign at the center and the Quest without end«, S. 133-135.
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aus.56 Mit dem ersten Schuss »traf er nun den Wal […] so vor die Stirn, dass er ihm beide Kinnbacken nebst der Zunge durchbohrte«, sodass das Tier kein Wasser mehr ausspeit und ipso facto aufhört, gefährlich zu sein. Der zweite und der dritte Schuss zerstören die Augen des Fisches, die drei ersten Pfeile bilden dabei ein gleichseitiges Dreieck, das viel kommentiert wurde.57 Das Ungeheuer schwankt im Todeskampf »blind und schon dem Tode nahe von einer Seite auf die andere«. Was folgt, ist nichts als ein sadistisches Spiel, ein perfekter Zeitvertreib zum großen Jubel aller Zuschauer.58 Mit seinen drei Hörnern auf der Stirn ist der Physeter nicht nur ein Gehörnter, sondern ein dreifach Gehörnter. Zudem erinnern diese ihm »in Gestalt eines gleichschenkligen Dreiecks« aufgesetzten drei Hörner an das Nashorn mit drei Hörnern aus dem Alexanderroman. Die Grausamkeit des Spiels wird den Leser Rabelais’ im Übrigen nicht überraschen. Die Gleichgültigkeit gegenüber dem Leid der Tiere, und in geringerem Maße gegenüber dem der Menschen ist in der Gesellschaft zu seiner Zeit an der Tagesordnung. Orkas und Haie waren häufig diejenigen, die für die brutale Freude der Seemänner, die sie gefangen hatten, zu zahlen hatten. Jean de Léry berichtet in seiner Geschichte einer Reise in das Land Brasilien, wie man aus einer Art Zeitvertreib die Tiere wieder ins Meer zurückwarf, die man aus ihm herausgefischt hatte, nachdem man den gefangenen Fischen die Flossen abgeschnitten und ihnen »einen Fassreifen an den Schwanz gebunden« hatte, um dabei zuzuschauen, wie sie sich abmühten und schließlich versanken.59 Pantagruel, der in dieser ganzen Episode eher wie ein Akrobat als wie der Protagonist eines Heldenliedes dargestellt wird, beweist wei-
56 Hier spiele ich auf den Aufsatz von Samuel Junod an: »Lectures du Physetère, ou le Physetère se dégonfle«, in Études Rabelaisiennes 35 (1998), Genf: Droz 1998, S. 161-174. 57 Rabelais: Le Quart Livre, Kap. XXXIV. Dt. Übers.: Bd. 2, S. 116. 58 Ebd. 59 Jean de Léry: Histoire d’un voyage faict en la terre du Bresil (1578), hg. v. Frank Lestringant, Paris: LGF (»Bibliothèque classique«) 1994, Kap. III, S. 134. A.d.Ü.: Die einzige greifbare deutsche Übersetzung mit dem Titel Unter Menschenfressern am Amazonas, hg. v. Karl Salzmann, a. d. Frz. v. Ernst Bluth, Tübingen/Basel: Erdmann 1977, beruht auf der zweiten Auflage des Buches und korrespondiert daher nicht überall mit der zitierten französischen Erstausgabe, so auch an dieser Stelle.
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terhin seine Geschicklichkeit, indem er die Pfeile so auf ihrem Ziel anordnet, dass sie eine schöne Symmetrie bilden: ein Pfeil auf den Schwanz, drei weitere »senkrecht auf den Rücken«, alle im gleichen Abstand voneinander, und am Ende fünf Pfeile auf jede Flanke. Der so mit Holzstangen gespickte Fisch gleicht erst einer mit Stützstangen ausgestatteten Galeone, dann, wenn er umkippt, einem See-Skolopender, einem Seetausendfüßler, auf dessen Gegenstück man, wie bereits gezeigt, in der Carta Marina trifft. Mit all dieser enargeia, die eine Verwandlung auf die nächste folgen lässt, erfreut Rabelais die Einbildungskraft des Lesers, ganz wie dieser ungleiche Kampf, oder besser diese Schießübung aus Sichtweite, den »Jubel« der Zuschauer erregen soll. Der parodistische Charakter dieser Episode ist eindeutig und Rabelais bedient sich, wie so oft im Vierten Buch, der Komik des Riesenhaften, um die klassische und moderne Heldenliteratur, d.h. Vergil durch die Anspielung auf Dido, Ovid im Mythos von Perseus und Andromeda und Ariost in den bereits erwähnten beiden Kampfszenen, im Pastiche zu wiederholen. Viel wurde über die in diese Episode eingeschriebenen Ziffern und trigonometrischen Figuren nachgedacht. Für Florence Weinberg zum Beispiel, die die Analysen von Marcel Tetel und Paul Smith zusammenfasst, ist das Y die Figur der alles entscheidenden Wahl zwischen zwei Wegen – welchen, ist schwer zu verstehen.60 Pantagruel wird hier nicht vor eine Wahl gestellt. Er verletzt das Ungeheuer tödlich und sorgt dann so auf dessen Kosten für seinen Zeitvertreib. Es ist gekünstelt und absurd zu denken, dass Pantagruel und sein Gefolge eine Wahl hätten zwischen Flucht oder Kampf, Sieg oder Niederlage. Man hat auch behauptet, dass das Y nach dem Muster einer Allegorie, die während der ganzen Renaissance sehr verbreitet war, ein Symbol für Herkules am Scheideweg ist, an der Kreuzung zwischen Laster und Tugend.61 Pantagruel ist ganz sicher ein neuer Herkules, aber ein Herkules des Jahrmarkts. Das auf die Stirn des Ungeheuers geschriebene Dreieck sei, so hat man weiter angenommen, ein Zeichen der Verschwörung, möglicherweise sogar der Dreifaltigkeit. Die Anordnung der Pfeile sind der sehr gelehrten numerologischen Exegese von Mar-
60 Weinberg: Rabelais et les leçons du rire, S. 174-175. 61 Vgl. hier Erwin Panofsky: Hercules am Scheidewege, Leipzig: Teubner 1930, insbesondere Kap. II.
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cel Tetel zufolge der Ausdruck von Perfektion und Totalität.62 Glaubt man Philip Berk, bilden die ersten sieben Pfeile in senkrechter Anordnung das Kreuzzeichen als Kombination der Dreifaltigkeit (aber es fehlt das ins Dreieck eingeschriebene Tetragramm) und der Vierzahl, der Zahl der Erde und ihrer vier Elemente, der vier Jahreszeiten und der vier Himmelsrichtungen.63 Fünfzig ist natürlich die Zahl des Pfingstfests. Hierzu passt aufs Beste noch der Heilige Geist, der mit zwei multipliziert wird, um den Triumph der Kirche durch Christus und den bevorstehenden Triumph des irenäischen Evangelismus über Gegner aller Art zu symbolisieren, »die tollen Putherben«, »kalvinischen Dämoniaken« und andere »Pistolen-Maniaken«.64 Man sieht, wohin der Dämon der Numerologie führen kann. Letztendlich stellt die Physeter-Episode also ein ausgezeichnetes Beispiel für den interpretatorischen Taumel dar, dem die Rabelais-Spezialisten gerne zum Opfer fallen. Von den verschiedenen Strategien, diese Episode zu interpretieren, ist diejenige am sichersten und wenigsten willkürlich, die sie mit den unmittelbar vorangehenden und nachfolgenden Episoden verknüpft und annimmt, der Roman würde ein großes, symbolisch zu verstehendes Syntagma entfalten, das nur aus nächster Nähe entschlüsselt werden kann. Nun legt aber die syntagmatische Kontiguität zugleich eine metaphorische Ähnlichkeit und einen ironischen Kontrast nahe. Es war bereits die Rede von der Nähe zu Quaresmeprenant, der teilweise die Eigenschaft des Physeters herausstellt, ein »Fisch« zu sein, der als solcher mit der Fastenzeit verbunden ist. Paul Smith zitiert Jean Fleury: der Autor, der »damit begonnen hat uns auf Kosten von Quaresmeprenant zu unterhalten, verkörpert jetzt die Ichthyophagie, die Abstinenz von Fleisch und den Verzehr von Fisch, in einem kolossalen Fisch«.65 Diese Beobachtung ist verführerisch, aber sie stimmt nur teilweise und vereinfacht zu sehr.
62 Marcel Tetel: »Le Physetère bicéphale«, in: Raymond La Charité (Hg.): Writing the Renaissance. Essays on Sixteenth-Century French Literature, in honor of Floyd Gray, Lexington: French Forum 1992, S. 57-64. 63 P. R. Berk: »Evangelical Irony: Allegory and Design in Rabelais«, Diss. PhD, University of Pittsburgh, 1969, S. 313, 317-318. Zitiert von Weinberg: Rabelais et les leçons du rire, S. 178. 64 Rabelais: Le Quart Livre, Kap. XXXII. 65 Smith: Voyage et écriture, S. 119, FN 43.
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Die andere Episode, die an die des Physeters grenzt, ist der Verschiedenartigkeit ihrer Interpretationen nach zu urteilen, weniger transparent. Die Würste sind alles andere als katholisch, aber es gibt verschiedene Arten von Protestanten, deutsche Lutherianer und britische Anglikaner, wie Paul Smith bemerkt hat. Der religiöse Charakter der Allegorie des Physeters ist also als solcher zweifelhaft. Gibt es überhaupt eine Allegorie? Es ist eine Tatsache, dass die Episode eine Verbindung zwischen Quaresmeprenant und den Würsten herstellt. Der Physeter ist onomastisch durch ein Wortspiel, das sich aufdrängt, mit Antiphysis verknüpft. Dies ist weder ein Zufall noch ein Kalauer, sondern eines dieser Wortspiele, die Rabelais so schätzt und die ein Prinzip seines literarischen Schaffens darstellen.66 Physeter kommt auf den ersten Blick von Physe oder Physa, der Hauch, der Blasebalg, aber möglicherweise sogar von Physis, der Natur, an die sich Therion, das wilde Tier, das Ungeheuer, anschließen würde. Der Physeter wäre nach dieser abgeleiteten Etymologie ein Ungeheuer nach der Natur – und nicht wider die Natur. Der Physeter ist ein Naturungeheuer, das genauso riesenhaft wie Quaresmeprenant ist, aber frei durch die Weiten des Meeres schwimmt wie der biblische Leviathan, das wundersamste aller Wunder. Schließlich und endlich strandet der Wal oder Pottwal, das aus seinem Loch blasende Tier, als Fetthaufen am Ufer der Insel der Grimmigen, »dem alten Wohnsitz der Würste«.67 Diese sind selbst voll mit Fett, sind Würste aus lebenden Innereien, die kriechen und sich winden und deren Losungswort »Fastnacht« (»Mardigras«) lautet.68
66 Vgl. hierzu Guy Demerson: Humanisme et facétie. Quinze études sur Rabelais, Orléans: Paradigme 1994, »Les calembours de Rabelais«, S. 171-189. Vgl. auch Frank Lestringant: »Allusions onomastiques et création poétique de Du Bellay à d’Aubigné«, in: Michel Murat (Hg.): L’Allusion dans la littérature. Colloque de la Sorbonne, Paris: PUPS 2000, S. 67-82. 67 Rabelais: Le Quart Livre, Kap. XXXV (Überschrift des Kapitels). Dt. Übers.: Bd. 2, S. 116. 68 Ebd., Kap. XLI. Dt. Übers.: Bd. 2, S. 132. Dies ist auch das Losungswort von Pantagruel im Kampf gegen die Würste. Vgl. ebd., Kap. XXXVII. Dt. Übers.: Bd. 2, S. 125.
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Mein Fazit ist nicht steganographisch, sondern palimpestartig. Rabelais zeigt in dieser Episode, wie sein Held Pantagruel einem Ungeheuer seinen Stempel aufdrückt, das bereits bei Plinius und in einer vor kurzem erschienenen Seekarte aufgetaucht war und durch eine ganze Reihe weiterer Verweise überdeterminiert ist. Indem er dies tut, verfährt Pantagruel, so kann man annehmen, wie mit dem Kopf eines Rindes oder eines gezähmten Tieres, dessen Besitz er sich damit sichert. En abyme bezeichnet das Bild die Aneignung einer legendären Tradition durch Rabelais, die er in geometrischen Figuren und Proportionen ein für allemal festzurrt und sie so im Zentrum seines Werks verankert. Die Markierung des Tieres stellt eine Art von Signatur dar. Selbst wenn man annimmt, dass das Vierte Buch in seinen Grundzügen dem Prinzip der »konzentrischen Inklusion«69 gehorcht und dass es dementsprechend Gesetze der symmetrischen Anordnung um das XXXIV. Kapitel herum gibt, das die Niederlage des Monströsen besiegelt, folgt daraus nicht, dass diese Symmetrie zwingend einen Sinn ergeben muss und dass dieser Sinn im geometrischen Zentrum des Buches liegt. Bei Rabelais muss man sich vielmehr an weniger eindeutige und offensichtliche Konstruktionen gewöhnen. Die geometrische Obsession, die ganz offensichtlich in der Physeter-Episode und der dort erfolgenden kundigen Triangulation erkennbar wird – sie erfolgt zuerst durch die Schlachtordnung der Schiffe und dann durch die Anordnung der Pfeile auf dem Körper des Ungeheuers – könnte nur eine Finte sein, einer dieser trompe-l’œil-Effekte, die bei den Heldentaten Pantagruels so häufig vorkommen und den Leser zu unwahrscheinlichen Exegesen verleiten sollen. Letztendlich stellt man, wenn es auch stets möglich ist, Anzeichen zu erkennen, nirgends diese vollkommene Entsprechung zwischen einer historischen und religiösen Referenz sowie der Metamorphose fest, die das Werk von Rabelais uns in einer kartographischen Ekphrasis zu lesen, vor allem aber zu sehen gibt.
69 Die Formulierung stammt von Guy Demerson, der sie auf das Dritte und Vierte Buch bezieht. Vgl. Guy Demerson: Rabelais, Paris: Balland 1986, S. 230 u. 275.
Allegorische Welten Rabelais’ Fünftes Buch, Trentos Neue Papistische Weltkarte und sieben satirische Zeichnungen von Baptiste Pellerin
Die Karte bietet ein Bild von der Welt, im buchstäblichen und im übertragenen Sinn. Sie ist reich an allegorischem Potenzial; sie stellt die Welt dar, wie sie ist und wie es ihr geht – die »Welt auf dem absteigenden Ast«, wie Pierre Viret1 sagt, die Welt unter einer Narrenkappe, um ein berühmtes Beispiel einer Weltkarte mit moralischer und satirischer Bedeutung aufzugreifen, die von diesem Spruch Salomos begleitet wird: Stultorum infinitus est numerus, »der Narren Zahl ist grenzenlos«.2 Die Welt ist – metonymisch gesprochen – die Menschheit, die sie bevölkert. Die Weltkarte erlaubt es somit, mit Lineal und Kompass das Ausmaß menschlicher Narretei zu ermessen. Die allegorische Karte steht gleichzeitig mit der Kartographie, der Emblematik und dem Theater in Verbindung und stellt eines der bevorzugten Mittel dar, um einen Transfer verschiedener Formen und ih-
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Pierre Viret: Le Monde à l’empire et le monde demoniacle, faict par dialogues, Genf: J. Berthet 1561. A.d.Ü.: Unübersetzbares französisches Wortspiel zwischen der Welt der Herrschaft (empire) und einer Welt, der es immer schlechter (pire) geht. Die Karte ist ein aquarellierter Stich, um 1590, Paris: Bibliothèque Nationale de France, département des Cartes et Plans, Rés. Ge. DD. 2987 (63). Abgedruckt findet sich die Karte bei Mireille Pastoureau: Voies océanes. De l’ancien aux nouveaux mondes, Paris: Éditions Hervas 1990, Abb. Nr. 67, S. 92.
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re Verschmelzung zu beobachten. Sie lässt verschiedene Größenordnungen miteinander in Beziehung treten, überblendet unterschiedliche Maßstäbe und repräsentiert die kleine Welt durch die große, den menschlichen Mikrokosmos durch den Makrokosmos des Universums. Dieses Prinzip der Metamorphose wird unter anderem durch drei kosmographische Fiktionen aus den Sechzigerjahren des 16. Jahrhunderts veranschaulicht, die zur Zeit der Religionskriege in Frankreich entstanden sind: Eine allegorische Erzählung, die Läut-Insel (L’Isle Sonnante), die erste Episode des Fünften Buchs von Pantagruel (Cinquiesme Livre de Pantagruel), das man Rabelais zuschreibt (1562), eine satirische Weltkarte, Die Neue Papistische Weltkarte (La Mappe-Monde Nouvelle Papistique) von Jean-Baptiste Trento und Pierre Eskrich (Genf, 1566), und eine anonyme Serie von sieben allegorischen Zeichnungen, die man Baptiste Pellerin zuschreibt und die eine grelle Satire der katholischen Kirche bilden, in der die Figur der Welt, eine Figur mit einem enormen Bauch als Weltkugel, die Hauptrolle spielt. Diese drei Beispiele haben einen protestantischen, anti-katholischen Hintergrund gemein. Vor allem aber stellen alle drei eine AntiWelt, eine Art Gegen-Utopie vor, die sie sich zu vermessen und zu kartieren bemühen. Diese Anti-Welt ist eine Übertreibung und Karikatur der echten Welt, deren Auswüchse sie anprangert und zu deren Reformation im religiösen, moralischen und politischen Sinn sie aufruft.
D IE P APIMANEN -I NSEL (1552) Das Vierte Buch der heroischen Taten und Reden des guten Pantagruel (Le Quart Livre des faicts et dicts heroïques du bon Pantagruel) wurde in zwei Teilen publiziert, ausschnittsweise im Jahr 1548 und in der vollständigen Fassung 1552. Es wählt den Raum des Meeres, um auf einer geographischen Grundlage eine ganze Serie an Allegorien aufmarschieren zu lassen.3 Die Umstände mit dem sporadischen 3
Zum Archipel bei Rabelais vgl. Tom Conley: The Self-Made Map. Cartographic Writing in Early Modern France, Minneapolis-London: University of Minnesota Press 1996, Kap. IV u. V, S. 135-201; und Frank
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Krieg, in dem sich das Königreich Frankreich und das Kaiserreich von Karl V. gegenüber stehen, und die »gallikanische Krise« im Sommer 1551, in der gerade noch der Bruch zwischen Heinrich II. und dem Papst verhindert wird, erklären, warum das Vierte Buch »das politischste und satirischste Buch« ist, »das Rabelais jemals geschrieben hat«.4 Diese Heftigkeit speist sich obendrein aus den beidseitigen Angriffen aus Genf und Rom, von Protestanten ebenso wie Katholiken, zu deren Zielscheibe Rabelais gerade geworden ist, als 1550 Calvin mit seiner Abhandlung Von den Skandalen (Des scandales) auf den ein Jahr zuvor erschienenen Theotimus von Gabriel du Puy-Herbault reagiert. Der offene Raum der großen Entdeckungen wird zu einem Archipel zerstückelt, dessen beunruhigende Trümmer die Nacht des Ozeans ausfüllen. Genau in diesem Moment, als die geographische Welt ihre Einheit und ihre traditionellen Grenzen verliert, zerbricht auch die Einheit der Kirche. Von da an kann man eine Art formale Konvergenz zwischen diesen beiden Phänomenen des Zerbröckelns beobachten. Eine der Fragen, die der exotisch oder religiös zu verstehende Archipel aufwirft, ist, wie man das Andere begreifen und gegebenenfalls mit ihm leben kann. Kann es nackte Völker geben, die ohne Glauben, Gesetz und König leben? Wie ist es möglich, Papist zu sein? Oder angeblicher Reformierter? Diese Fragestellungen beginnen sich miteinander zu verbinden und zu einer einzigen Frage zu werden. In diesem neuen Raum liegen Utopie und Gegen-Utopien nah beieinander, Inseln und abstoßende Regionen, die, anstatt sie zu korrigieren, die Fehler und Laster der Gesellschaft verschlimmern, auf die sie sich beziehen. Der Archipel der neu entdeckten Meere bietet unerhörte neue Möglichkeiten für die Satire, denn er erlaubt es, die Völker, Gruppen, Sekten oder Konfessionen, die man diskreditieren möchte, zu verdinglichen, ja sogar zu Stein erstarren zu lassen. Die Abgeschlossenheit der Inseln, die jeweils einzeln eine soziale oder mora-
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Lestringant: Le Livre des îles. Atlas et récits insulaires, de la Genèse à Jules Verne, Genf: Droz 2002, Kap. VIII, S. 239-262. Einleitung von Gérard Defaux zu Rabelais: Le Quart Livre, Paris: LGF (»Bibliothèque classique«) 1994, S. 37; erneut abgedruckt in Gérard Defaux: »Rabelais agonistes: du rieur au prophète. Études sur Pantagruel, Gargantua, Le Quart Livre«, in: Études rabelaisiennes, 32 (1997), S. 475.
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lische Ungeheuerlichkeit umschließen, lässt die Satire besonders hervortreten. Der geschlossene Raum des Archipels regt die Imagination des Lesers an und stellt ihn vor eine mit Ungeheuern bevölkerte Theaterbühne, wobei jedes in seinem eigenen Käfig sitzt. Es gibt Ungeheuer für jeden Geschmack und alle Vorlieben, oder wohl besser für jeden Ekel und alle Schrecken: Da sind die kriechenden, hündisch ergebenen Würste, die durch die Wälder bis zum Hafen der GrimmigenInsel schleichen5; da ist der tyrannische und beleibte »Herr Gaster«, der auf seinem Felsen sitzt und den Berg der Tugend parodiert6; und da gibt es die »gesegnete« Papimanen-Insel, die das aufschlussreiche Gegenstück zur trostlosen Insel der Papifeigen bildet und deren Bewohner, »Männer, Frauen und Kinder«, auf der Mole versammelt den Papst als Messias erwarten.7
Z WISCHENLANDUNG
AUF DER
L ÄUT -I NSEL (1562)
Die Episode der Läut-Insel, die etwa zehn Jahre nach Rabelais’ Tod erscheint, fügt der blühenden Papimanen-Insel eine zweite geographische Allegorie des Papstsitzes Rom hinzu. Diese zweite Allegorie, auch sie eine Insel-Allegorie, ist um Vieles düsterer als ihre Vorgängerin und somit ein Zeichen dafür, dass die allgemeine Atmosphäre noch bedrückender geworden ist. Die kurze französische Renaissance versinkt unwiderruflich im Dunkel der Religionskriege. Die Läut-Insel erdröhnt, wie ihr Name schon anzeigt8, im Geläut der Glocken, die auch Kessel, Pfannen und Töpfe sind, in denen die fette Suppe des Papstes kocht, in einer Entsprechung, die zur gleichen Zeit in einem satirischem Stich protestantischer Herkunft mit dem Titel Der Um-
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Rabelais: Quart Livre, Kap. XXXV. Die Werke Rabelais’ werden nach folgender Ausgabe zitiert.in: Œuvres complètes, hg. v. Mireille Huchon, Paris: Gallimard (»Bibliothèque de la Pléiade«) 1994. Für die deutsche Übersetzung wurde folgende Ausgabe verwendet: Gargantua und Pantagruel, hg. u. a.d. Frz. v. Horst und Edith Heintze (unter Benutzung der Übersetzung von Ferdinand A. Gelbcke), 2 Bde., Frankfurt a.M.: Insel 1974, hier Bd. 2, S. 116-118. Rabelais: Quart Livre, Kap. LVII. Dt. Übers.: Bd. 2, S. 171-174. Ebd., Kap. XLVIII. Dt. Übers.: Bd. 2, S. 149. A.d.Ü.: »Isle Sonnante«, von frz. sonner: klingen, läuten.
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sturz des großen Topfes (Le Renversement de la grand marmite) auftaucht: Eine umgedrehte Glocke mit einem Sprung, in der die Suppe überläuft, in der Mitren und Bischofsstäbe schwimmen, kocht dort auf einem Feuer, das von den Körpern dreier reformierter Märtyrer genährt wird. Die Wahrheit, die vom Himmel fällt, stürzt mit dem Schwert der Heiligen Evangelien das seltsame Gebräu um, während der Klerus, der sich auf die »kanonischen Rechte« des Papstes stützt oder sich an Seilen festhält, verzweifelt versucht, die Situation in den Griff zu bekommen. Unter den Vertrauten der päpstlichen Küche erkennt man den Ritter von Villegagnon9, porträtiert als Kannibale mit einem Diadem aus Federn auf dem Kopf und einem auf seinem nackten Oberkörper festgesteckten Malteserkreuz. Dieser Druck stellt eines der explizitesten Zeugnisse vom »Glockenkrieg« dar, der zu dieser Zeit den Bilderstreit fortführt.10 Der Autor der Läut-Insel spricht seinerseits von einem Lärm, den die Leute »mit ihren Kesseln, Pfannen, Becken und korybantischen Zymbeln der Göttermutter Kybele« machen; und ein wenig zuvor von »Dodona mit seinen Kesseln«.11 Auf das klingelnde Echo des 27. Kapitels im Dritten Buch antwortet, angeregt von den Christlichen Disputationen (Disputations chrestiennes) von Pierre Viret12, jetzt die ikonoklastische Symbolik der umgestürzten und zu einem Kessel gewordenen Glocke. Dieser tumultartige Lärm von Küchengeräten bildet den Auftakt zu einem Fasten, das »vier volle Tage hintereinander« dauert, das Quatemberfasten, zu dem die Reisenden aufgefordert wer-
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A.d.Ü.: Der französischer Entdecker und Ritter des Ordens des Hl. Johannes von Jerusalem, Gründer der France Atlantique (der kurzlebigen französischen Kolonie in Brasilien), kehrt später zum katholischen Glauben zurück, weswegen er den Hass der Protestanten auf sich zieht. 10 Paris: BnF, Estampes, Qb 1 (1585). Kolorierter Holzschnitt, 370 x 475 mm. Zu diesem Dokument vgl. Philip Benedict: »Des marmites et des martyrs: images et polémiques pendant les guerres de Religion«, in: La Gravure française à la Renaissance à la Bibliothèque nationale de France, Ausstellungskatalog, Los Angeles/Paris: Regents of the University of California 1994-1995, S. 108-137; und Frank Lestringant: »Le Cannibale et la Marmite«, in: Bulletin du Bibliophile 1 (1996), S. 82-107. 11 Rabelais: Cinquiesme Livre, Kap. I. Dt. Übersetzung: Bd. 2, S. 204-205. 12 Rabelais: Tiers Livre, Kap. XXVII. Vgl. auch Franco Giacone: »Note rabelaisienne. Literae ancillae theologiae. Dette de Rabelais à l’égard de Viret à propos de l’anecdote des ›cloches‹«, in: Micromégas, 17/1-2 (1990), S. 93-98.
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den, die, wie Panurg sagt, sich »den Bauch [nur] mit Wind voll[stopfen]«.13 In den Christlichen Satiren der päpstlichen Küche (Les Satyres Chrestiennes de la cuisine papale), einer anonymen Verssatire von 1560, werden die Glocken gleichermaßen als umgekehrte Kessel beschrieben. Die Satire zielt darauf ab, sie wieder aufzurichten, das heißt sie in die Position von Töpfen ohne Deckel zu bringen: Grosses cloches sont chauderons, Dessus dessous mis à l’envers, Qui bouillent tousjours descouvers.14 Übers.: Große Glocken sind die Kessel / umgestürzt und umgekehrt / die immer ohne Deckel kochen.
In diesen ikonoklastischen Kontext müssen 1562 die Publikationen der Läut-Insel und zwei Jahre später des Fünften und letzten Buchs des guten Pantagruel (Cinquiesme et dernier Livre du bon Pantagruel) gestellt werden, in das die Läut-Insel nachträglich integriert wurde und dessen ersten Teil sie von nun an bildet. Das Werk, das Rabelais zugeschrieben wird, aber ganz offensichtlich auf protestantische Gedanken zurückgeht, bekommt einen polemischen, antikatholischen und ketzerischen Sinn.15 Die Läut-Insel gibt einen Ausblick auf die »andere Welt«, ein Ausdruck, den man in der Episode mehrmals antrifft. Von den »Klerigeien« (»Clergaux«), die die Insel bevölkern, sagt Aedituus, es handele sich bei ihnen »samt um sonders [um] Zugvögel, und [sie] kommen aus der andern Welt zu uns hierher«16, das heißt eigentlich aus der Welt, aus der Pantagruel und sein Gefolge kommen. Die ande-
13 Rabelais: Cinquiesme Livre, Kap. I. Dt. Übers.: Bd. 2, S. 205. 14 Theodor von Beza: Les Satyres Chrestiennes de la cuisine papale, Genf: Conrad Badius 1560, »Satyre Quatrieme. Des souillars et utensiles de la cuisine«, S. 53. 15 Die Polemik der Reformation gegen die dämonischen Glocken ist natürlich noch älter. Beweis hierfür ist das Büchlein von Pier Paolo Vergerio: Aquae consecratae seu (ut vocant) benedictae, et Campanae baptizatae origo, primum Italice, et modo ab Antonio Stupa Rhoeto Praegaliensi versus, Basel 1550. 16 Rabelais: Cinquiesme Livre, Kap. IV, S. 734. Dt. Übers.: Bd. 2, S. 210.
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re Welt, die weit weg und unbekannt ist und sich jenseits der Meere befindet, ist hier die dem Leser vertraute Welt, die ironischerweise zu einem fremdartigen Land geworden ist. Mit dieser Umkehrung der Perspektive verbindet sich die Opposition von Kirche und Welt: Aedituus, ein Priester der Läut-Insel, »versicherte, sie wären weder geistlich noch weltlich«.17 Es handelt sich also nicht um Menschen, sondern um Vögel – komische Vögel, um genau zu sein. Die andere Welt, von der Aedituus spricht, ist in Wahrheit die einzige Welt, von der sich die Institution der Kirche abwendet. Dieser echten Welt ist die künstliche, pervertierte und widernatürliche Welt der Kirche entgegengesetzt, mit ihrem ohrenbetäubenden Lärm der Glocken, die wie leere Kessel dröhnen. Diese Gegen-Welt erlaubt es, nach der innerkirchlichen Hierarchie die neuen Orden anzuprangern, die Ritterorden, in denen geschlemmt wird, den Geiz, die Völlerei, die Trägheit und Wollust, die am Hofe des Papstes regieren sollen. Nun ist aber die Anti-Welt das Auffangbecken für alle Abfallprodukte der anderen Welt, der Überlauf, in den Armut und Bedürftigkeit ihren Überfluss an Kindern werfen, die niedrigsten und erbärmlichsten unter ihnen, die »bucklig, einäugig, lahm, einarmig, gichtisch, verwachsen oder verhext« oder, wie es die homerische Formulierung auf den Punkt bringt, »eine unnütze Bürde der Erde« sind.18 Das VI. Kapitel: »Wie die Vögel auf der Läut-Insel gefüttert wurden«, das den Müßiggang des Klerus und des päpstlichen Hof des Papstes sowie auch die Ausplünderung der Christenheit durch die Kirche anprangert, zeigt, wie die Vögel, die »[das Land nicht] pflügen und bebauen«19, ihre Substanz aus der »anderen Welt« ziehen, die Welt, in der man nach dem Gebot Gottes arbeitet und sein täglich Brot im Schweiße seines Angesichts verdient. Diese Kritik war bereits bezüglich der Papimanen und ihren heiligen Dekretalen formuliert worden: »Wie durch die Kraft der Dekretalen das französische Gold gar geschickt nach Rom gezogen wird«.20 Die andere Welt ist nicht nur Übersee, sondern auch das Jenseits, nicht mehr im räumlichen, sondern im zeitlichen Sinne, anders gesagt
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Ebd., Kap. II. Dt. Übers.: Bd. 2, S. 207. Ebd., Kap. IV. Dt. Übers.: Bd. 2, S. 210. Ebd., Kap. VI. Dt. Übers.: Bd. 2, S. 214. Rabelais: Quart Livre, Kap. LIII. Dt. Übers.: Bd. 2, S. 162.
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die Welt nach dem Tode, die weiten, höllischen Abgründe oder ganz einfach die christliche Hölle. Diese Ambiguität fällt bereits im Vierten Buch auf. Als Fazit der Geschichte über die Hammel spricht Panurg diesen sehr wenig evangelischen Satz: »Wer mir aber etwas Böses zufügte, hat’s auch noch nie getan, ohne dass er hier oder dort dafür hätt’ büßen müssen. So dumm bin ich nicht.«21 Die andere Welt erklingt hier in einem recht unheilverkündenden Ton. Genauso ist es auch im Fünften Buch. Panurg ruft voller Bewunderung über die Vögel der Läut-Insel aus: »›Den Teufel auch‹, rief hier Panurg, wie gut ihr’s doch in dieser Welt habt!« ›Und in der andern‹, sagte der Aedituus, ›werden wir’s noch besser haben. Die elysischen Gefilde sind uns, das ist das wenigste, unbedingt sicher.‹«22 Der Fluch am Anfang von Panurgs Satz kann wie eine Apostrophe interpretiert werden: »Teufel, der Ihr seid!« Sein Ausruf legt nahe, dass die von Aedituus erhofften Elysischen Felder ganz im Gegenteil auch die Gefilde der Hölle sein könnten, wo die gehörnten, fliegenden Teufel zu Hause sind. Die Läut-Insel selbst sieht wie die Welt der Toten aus, eine sterile Welt ohne Wachstum, Anbau und Erneuerung, eine Welt, die nur durch die Zerstörung der anderen zunimmt. All ihre Handlungen bringen nur Zerstörung hervor. Auf ihr regiert die Tyrannei des Papstes, die verbrennt, zuschlägt, bannt und tötet. »Liebe Leute, wenn ihr solche gotteslästerlichen Reden hört, seid ihr verloren. Seht ihr in seinem Käfig den Napf da? Aus dem werden Blitze, Donner, Unwetter, Teufel und Sturmgebraus fahren, die euch alle im Handumdrehen hundert Fuß tief in die Erde schmettern.«23
D IE N EUE P APISTISCHE W ELTKARTE (1566) Nun findet sich diese umgekehrte Welt, die auch eine Totenwelt ist, diese pervertierte Welt, die gleichzeitig eine höllische Welt darstellt und eher Angst einjagt als zum Lachen bringt, vier Jahre später in einer großen kosmographischen Fiktion wieder, die in Genf unter dem Titel Neue Papistische Weltkarte (Mappe-Monde nouvelle papisti21 Ebd., Kap. VIII. Dt. Übers.: Bd. 2, S. 51. 22 Rabelais: Cinquiesme Livre, Kap. VI. Dt. Übers.: Bd. 2, S. 215. 23 Ebd., Kap. VIII. Dt. Übers.: Bd. 2, S. 221.
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que)24 erscheint. Diese Fiktion, deren Autor der italienische Flüchtling Jean-Baptiste Trento und deren Zeichner der Franzose Pierre Eskrich ist, der auch »Krug« oder »Vase« genannt wurde, setzt sich zum einen aus einer groß dimensionierten Karte oder, einer Weltkarte (vgl. Abb. 1), und zum andern aus einem dicken Textband, einer Geschichte (Histoire)25, zusammen. Die Geschichte ist in Kapitel und Rubriken eingeteilt und bildet so den Kataster einer neuen Welt, der in allen Punkten mit dem der Welt korrespondiert, die die Könige Spaniens und Portugals jenseits des Ozeans entdeckt und erobert haben. Nun ist in der Karte diese »andere Welt« in Wirklichkeit die Stadt Rom, deren »Stadtmauer« – die Aurelianische Mauer einschließlich der Pyramide von Caius Cestius – ganz genau zu erkennen ist. Diese Weltkarte stellt also eine kosmographische Allegorie der katholischen Kirche dar. Wie die Läut-Insel ist diese neue Welt in der Hölle angesiedelt, im vorliegendem Fall in dem über die Maßen vergrößerten Mund des Teufels. Es handelt sich also, wie bei der Läut-Insel, um die andere Welt im doppelten Sinn des Wortes, kosmographisch und eschatologisch,
24 Jean-Baptiste Trento/Pierre Eskrich: Mappe-monde nouvelle papistique. Kritische Ausgabe v. Frank Lestringant u. Alessandra Preda, Genf: Droz (»Travaux d’humanisme et Renaissance 463) 2009. 25 Jean-Baptiste Trento/Pierre Eskrich: Histoire de la Mappe-Monde Papistique, en laquelle est declairé tout ce qui est contenu et pourtraict en la grande Table, ou Carte de la Mappe-Monde : Composée par M. Frangidelphe Escorche-Messes, imprimée en la ville de Luce Nouvelle [= Genf], par Brifaud Chasse-diables [= François Perrin] 1566. – Während es etwa zehn Exemplare der Histoire gibt, gibt es von der Mappe-Monde heute gerade noch fünf Exemplare, die in der British Library (c.160.c.7.) erhalten sind, in der Universitätsbibliothek von Wroclaw in Polen, im Schlossmuseum von Sondershausen in Deutschland (vgl. Dror Wahrman: »From Imaginary Drama to Dramatized Imagery. The Mappe-Monde nouvelle papistique, 1566-1567«, in: Journal of the Warburg and Courtauld Institute 54 (1991), S. 188, FN 4), in der Nationalbibliothek von Florenz und der Bibliothèque Nationale de France in Paris. Vgl. Frank Lestringant: »Une cartographie iconoclaste: la Mappe-Monde Nouvelle Papistique de Pierre Eskrich et Jean-Baptiste Trento«, in: Monique Pelletier (Hg.): Géographie du monde au Moyen Age et à la Renaissance, Paris: Éditions du CTHS 1990, S. 99-120; und Frank Lestringant: »Le Gouffre et l’atlas, ou la cosmographie infernale de Jean-Baptiste Trento et Pierre Eskrich: la Mappe-Monde nouvelle papistique de 1566«, in: Bibliothèque d’humanisme et Renaissance, 69/3 (2007), S. 561-588.
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eine neue Welt und Welt des Jenseits, die hier in einem unmittelbar bevorstehenden Weltenende zusammenkommen. Schon erklimmen die Reformatoren mit Bibeln und Schleudern bewaffnet im Sturm die Mauer von Rom, um die Ewige Stadt zu plündern, kaum vierzig Jahre nach deren historischer Belagerung von 1527. Sie sind vierundzwanzig an der Zahl, wie die Ältesten der Apo-
Abbildung 1: Jean-Baptiste Trento / Pierre Eskrich: Mappe-monde nouvelle papistique (1566).
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kalypse, und man erkennt unter ihnen Luther, Zwingli, Bullinger, Oecolampadius, Calvin und Theodor von Beza. Die oberhalb der Schützengräben aufgestellten Kanonen des »Wortes Gottes« und die aus dem Norden Europas gekommenen Streitkräfte unterstützen ihren Kampf wirkungsvoll. Diese neue Welt, die der Papst, wie Spanien, mit Gewalt und List durch Brandschatzung, Zerstörung und Unterjochung erobert hat, ist dazu bestimmt, im Inneren der Hölle zu verschwinden. Obwohl es den Anschein hat, stammt diese Allegorie nicht von Rabelais. Zwar bemerkt man in der Mappe-Monde nouvelle papistique die Gegenwart des Fastennarrs Quaresmeprenant, dem »großartigen Baron, der tapferer als alle anderen ist« und der aus der Stadt der Fastenzeit (Carême) stammt.26 Ebenso kann man eine Stadt der Vier Zeiten (Quatre-Temps) entdecken, die »dritte Stadt« der Fastenprovinz, das Quatemberfasten, das die Ankunft von Pantagruel und seinem Gefolge auf der Läut-Insel verzögert.27 In der Weltkarte kommen die gleichen skatologischen Scherze über die als Toilettenpapier verwendeten Dekretalen28 und die gleichen sarkastischen Bemerkungen über den Gott auf Erden aus dem Dekret von Gratian vor, die man auch in der Episode der Papimanen antrifft.29 Und schließlich tauchen auch die auf Kamelrücken geladenen Glocken auf, welche zusammen mit allen möglichen Handelswaren, die zum größten Teil aus dem Orient kommen, ins neue Babylon eindringen. Es handelt sich um die Glocken, deren »ununterbrochene[r]«, »in der Ferne« zu hörender
26 Vgl. Rubrik 91 des Kommentars in Trento/Eskrich: Mappe-Monde. 27 Rabelais: Cinquiesme Livre, Kap. I; vgl. Rubrik 93 des Kommentars der Mappe-Monde. 28 Trento/Eskrich: Mappe-Monde, Rubrik 90 (»Buchhändler«): »für zwei Heller das Pfund gute Bücher für den Versand in die Laienprovinz, für die Konditoren und Hersteller von Brat- und Blutwürsten, und für alle Zwischenverkäufer, um darin Käse, Butter und Würste einzuwickeln; oder um sie für andere Zwecke zu gebrauchen, die nicht ganz so sauber sind: Decken Sie sich hier ein, wo Sie einen guten Preis bekommen«. Vgl. Rabelais: Quart Livre, Kap. LII. Luther ist der erste, der die Dekretalen mit Exkrementen assoziiert, da im Deutschen der Dreck dem Dekret ähnlich ist. 29 Trento: Histoire de la Mappe-Monde Papistique, S. 43: »Also sagt er [der Papst], er sei Gott auf Erden, da er über allem steht, was man Gott nennt oder anbetet, wie Paulus von ihm im zweiten Kapitel des zweiten Thessalonicherbriefs geweissagt hat.« Vgl. Rabelais: Quart Livre, Kap. XLVIII und LII.
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Lärm30 am Vorabend der Religionskriege die Ohren der Protestanten so sehr gestört hatte. Tatsächlich geht die Neue Papistische Weltkarte aber auf den Pasquillus extaticus von Celio Secondo Curione (1542)31 und die Tragödie des Königs ›Freier Wille‹ (Tragedie du Roy Franc-Arbitre von Francesco Negri (1546)32 zurück und ist somit die dritte Ausprägung einer flüchtigen und wandelbaren Form, die mit einer bemerkenswerten Flexibilität von einer Gattung zur nächsten wandert. Die Grundstruktur, die die Übernahme von Riten und Institutionen der römischen Kirche in einer aus verschiedenen Ländern zusammengesetzten Welt ebenso erlaubt wie die Aufnahme ihrer ereignisreichen pittoresken Kartographie, kommt tatsächlich von Curione über Negri, bei dem das von dem Notar Trifon angelegte topographische Verzeichnis bereits acht Provinzen enthielt. In der Weltkarte wird dieses Verzeichnis sehr deutlich erweitert. Von acht in der Tragödie des Königs ›Freier Wille‹ werden die allegorischen Provinzen zu neunzehn an der Zahl und in folgender Reihenfolge durchlaufen: Schule, Terzianer, Nonnen, Heiligengedenken, Andachtsorte, Pilgerfahrten, Eremitagen, Laien, Gebet, Almosen, weltlicher Klerus, Mönche, Kongregationen, Kalentbrüder, Fasten, Ritter, Buße, Messe und Sakramente. Sechs autonome »Republiken« vervollständigen das Inventar, nämlich die Sorbonne, die Theatiner, die Jesuiten, die Englischen Fräulein, die Antonianer und die Flagellanten. In einem Detail, das direkt von Curione übernommen wurde, erblickt man am unteren Ende der Komposition, d.h. am Fuße, oder genauer: unterhalb der Stadtmauer von Rom, wo die
30 Rabelais: Cinquiesme Livre, Kap. I, S. 729. Dt. Übers.: Bd. 2, S. 204. 31 Celio Secondo Curione: Pasquillorum tomi duo. Quorum primo versibus ac rhythmis, altero soluta oratione conscripta quamplurima continentur, ad exhilarandum, confirmandumque hoc perturbatissimo rerum statu pii lectoris animum, apprime conducentia, Eleutheropoli: 1544; konsultiertes Exemplar: Paris: Bibliothèque de la SHPF, R 4923, in-8°. 32 Francesco Negri (oder Negro) de Bassano: Tragedie du Roy Franc-Arbitre, en laquelle les abus, pratiques et ruses cauteleuses de l’Antechrist sont au vif declarées, d’un stil plaisant et recreatif. Nouvellement traduit d’Italien en François, imprimé à Villefranche (= Genf): J. Crespin 1558; weitere Ausgabe 1559. Das italienische Original wurde 1546 anonym in Basel veröffentlicht: Tragedia di F. N. B. intitolata Libero arbitrio, [o.O.]: [J. Oporin] 1546.
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Teufel Wache schieben, Rosenkränze, Glocken, Kreuze, Hostien, Mitren, Kutten und Chorhemden.33 Tatsächlich ist die Neue Papistische Weltkarte sehr komplex in ihren Formen und führt verschiedene Elemente, auf die sich traditionell die Satire beruft, in einem einzigen Ganzen zueinander: 1) die Luftfahrt, die einen von oben erfolgenden und damit ironischen Blick auf die Erde bedingt; 2) den Abstieg in die Hölle mit der abschließenden Episode von Charon, der den verdammten Klerus verunglimpft, und somit eine Kosmographie der Hölle ganz im Sinn von Pierre Viret;34 3) die Schifffahrt in ferne Länder über einen monströsen Archipel jenseits des Meeres der Dunkelheit – das mare tenebrosum der Antike. Belege hierfür sind das Boot des Charon rechts unten, die eine Galeere und ein drittes Boot im Schlepptau führt35; das Netz der Meerarme und Flüsse, die die Gesamtheit der Weltkarte verbindet; die Abfolge der Lektüre von Provinz zu Provinz, die zu einer archipelhaften Erzählung wird; 4) die Kartographie einer anderen Welt, die zugleich die Karikatur und die Kehrseite unserer Welt darstellt; 5) und schließlich das Theater, da der Atlas selbst ein Theater darstellt – so lautet auch der Titel des ersten modernen Atlas, das Theatrum Orbis terrarum von Abraham Ortelius aus dem Jahr 1570 –, wie auch die Weltkarte oder eine Planisphärenkarte ein Theater sind, d.h. eine Spektakularisierung der Welt und der Geschichte der Menschheit bewirken. Das augenfälligste Merkmal ist hier die Vorgängigkeit der kartographischen Struktur vor dem Text. Wie bei Rabelais, aber diesmal in expliziter Weise, ›rahmt‹ die geographische Repräsentation die Darstellung ein. Die Welt-›Karte‹ befindet sich am Ausgangspunkt dessen, was die Geschichte geduldig vor Augen führt. Das Buch, das erst an zweiter Stelle kommt, stellt im Wesentlichen einen Kommentar der Karte dar. Abgesehen von einem »Vorwort« oder Prolog und einem
33 Trento/Eskrich: Mappe-Monde, Block 14, 15 und 16. 34 Trento: Histoire de la Mappe-Monde Papistique, S. 167-172. 35 Trento/Eskrich: Mappe-Monde, Block 16.
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doppelten Epilog, der sich zum einen an die »gläubigen Christen« wendet und zum anderen »an einen Phantasten«, besteht sie eigentlich aus einem Katalog von mit 1 bis 133 nummerierten Rubriken, die sich auf die verschiedenen Orte der Karte beziehen und eine Leseroute vorgeben, die oben links mit der »Schule« beginnt und rechts unten mit der »Hölle« endet, die folglich auch die letzte Etappe des Parcours darstellt. Dieser Katalog von 133 Hauptorten schließt historische Anekdoten mit ein, äsopische Fabeln, Possen in der Art Poggios und sogar zwei lange Theatermonologe über die »verschiedenen Prälatenseelen« und über Charon, den unwirschen Fährmann der Unterwelt, der letztere mit Peitschenhieben an Bord treibt.
S IEBEN
SATIRISCHE
Z EICHNUNGEN
Mit Rabelais und Trento kann eine Serie von sieben anonymen Federund Tuschezeichnungen in Verbindung gebracht werden, die kürzlich Baptiste Pellerin zugeschrieben wurden, einem Künstler der Schule von Fontainebleau, den man lange Zeit mit Etienne Delaune verwechselt hat.36 Eine aktuelle Studie von Valérie Auclair zeigt in überzeugender Weise, dass zwar Delaune unbestreitbar ein bedeutender Graveur und Kupferstecher war, er aber vor allem die Zeichnungen interpretiert hat, die ihm andere vorlegten.37 Von ihm selbst stammende Zeichnungen sind rar und eher unbeholfen, nicht zu vergleichen mit den Vorlagen, die er durchaus brillant interpretierte. Durch eben diese Studie konnte dieses Feld für einen großen Unbekannten bereitet werden, dem damit Anerkennung zuteil wird, dem wirklichen
36 Zu dieser Zuschreibung vgl. vor kurzem die Anmerkung von Dominique Cordellier: »Sept dessins de ›drôlerie‹«, in: Grande Galerie. Le Journal du Louvre 16 (Juni-August 2011), S. 8-9. 37 Zur kritischen Neubetrachtung des graphischen Werk, das Étienne Delaune zugeschrieben wurde, vgl. Valérie Auclair: »Étienne Delaune dessinateur? Un réexamen des attributions«, in: Henri Zerner et Marc Bayard (Hg.): Renaissance en France, Renaissance française? Paris: Somogy (»Collection d’histoire de l’art de l’Académie de France à Rome«) 2009, S. 143-160.
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Zeichner und Maler Baptiste Pellerin, der wie Delaune Protestant war, 1575 starb und dessen Gesamtwerk derzeit erschlossen wird.38
Zwischenlandung auf der Läut-Insel
Abbildung 2: Baptiste Pellerin: Drôlerie (Zeichnung 1, ca. 15601570).
Diese sieben Zeichnungen, die der Gattung der drôlerie, d.h. der Satire in Bildern unter Rückgriff auf die Allegorie und auf groteske Figuren angehören, kommen aus einem reformierten und antikatholischen Umfeld und stammen höchstwahrscheinlich aus den Sechzigerjahren
38 Zur Person dieses derzeit neu entdeckten Künstlers vgl. die in Vorbereitung befindliche Publikation der Beiträge des Studientags am 12. Juni 2010 am INHA: Baptiste Pellerin, peintre et enlumineur parisien actif de 1548 à 1575, mit Beiträgen von Valérie Auclair, Emmanuel Buron, Marianne Grivel, Guy-Michel Leproux und Audrey Nassieu Maupas. Im Übrigen konnte eine Sammlung von »Zeichnungen und Tapissereien des Hl. Bartholomäus«, die 17 Vorlagen für Tapisserien enthält und in der Réserve des Département des Estampes der BnF aufbewahrt wird, kürzlich Pellerin zugeschrieben werden: vgl. Barbara Brejon de Lavergnée und Séverine Lepape: »An Album of Sixteenth-century French Tapestry Designs of the Life of St. Bartholomew«, in: Master Drawings 46/3 (2008), S. 322352; insbes. S. 336-338.
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des 16. Jahrhunderts. Am interessantesten an ihnen ist wohl, dass sie sich in die Reihe der Intertexte zu Rabelais einfügen: Eine der sieben Zeichnungen (vgl. Abb. 1) stellt beinahe eine Illustration der bereits analysierten Läut-Insel dar. Sowohl bei der Zeichnung als auch bei dem Text handelt es sich um eine Allegorie der katholischen Kirche, in der der Klerus in Vögel in einer Voliere verwandelt worden ist: Die Käfige waren groß, prächtig, kostbar und von wundervoller Bauweise, die Vögel groß, schön und sehr leutselig, ganz wie die Menschen bei mir zu Lande: Sie aßen und tranken wie Menschen, verdauten wie Menschen, furzten, schliefen und begatteten sich wie Menschen […].39
Über den Vogelkäfigen sind hier, wie in der Läut-Insel, Glocken aufgehängt: »Damit läutete er die Glocke, die über dem Käfig hing; aber wie stark er auch läutete, der Bischofsgeier schnarchte tapfer weiter und sang nicht.«40 An anderer Stelle zeigt Meister Aedituus ihnen die Glocken, die über ihren Käfigen hängen . Es ist die Rede von Vögeln »auf ihren Stangen«, zart und wohlgenährt: So schön wie sie flöten keine Nachtigallen bei Tisch, wenn sie diese vergoldeten Stäbe sehen (– das ist das Stabsfest, sagte Bruder Hans – ) und ich die Glocken läute, die um ihre Käfige herum hängen.41
Im Zentrum der Zeichnung, am Fuß des am höchsten hängenden Käfigs erklärt ein Führer mit Kapuze (Aedituus?) den drei Reisenden (Pantagruel, Bruder Hans und Panurg?) die Vögel. Es ist tatsächlich verlockend, im rundlichen Schiff auf der linken Seite, das die Form einer Karavelle hat, das Schiff von Pantagruel, Panurg und seinen Freunden zu sehen, die sich auf der Suche nach der Göttlichen Flasche befinden und gerade eben auf der Läut-Insel von Bord gegangen sind. Die Winde, die auf dem schäumenden Meer blasen, illustrieren scheinbar die folgenden Worte von Aedituus am An-
39 Rabelais: Cinquiesme Livre, Kap. II. Dt. Übers.: Bd. 2, S. 207. 40 Ebd., Kap. VIII. Dt. Übers.: Bd. 2, S. 222. 41 Ebd., Kap. VI. Dt. Übers.: Bd. 2, S. 214.
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fang des VI. Kapitels (»Wie die Vögel auf der Läut-Insel gefüttert werden«): Hier bei uns aber entschädigt sich das Meer für die lange Ruhe, und kommen Reisende hierher, so stürmt es ohne Unterlass vier Tage lang mit verdoppelter Wut, aus keinem anderen Grund, wie wir meinen, als um sie zu zwingen, diese Zeit über hier zu verweilen und sich aus den Einkünften der Läut-Insel bewirten zu lassen.42
Diese großzügige und feierliche Gastfreundschaft ist in der Festtafel auf der rechten Seite dargestellt, die mit drei Tellern Fleisch beladen ist, ein Motiv, das der Heldensage Pantagruels und der protestantischen Satire der »fetten Küche« des Papstes gemeinsam ist. Seinen drei Gästen gegenüber steht eine schmerbäuchige Figur in Kapuze und erhebt ihren Becher. Man glaubt Aedituus Pantagruel, Bruder Jahn und Panurg zuprosten zu hören: Frisch getrunken, liebe Freunde! Ich weiß nicht, es schmeckt heute ganz besonders gut – wie überhaupt alle Tage. Trinkt, trinkt, auf euer Wohl von ganzem Herzen; seid willkommen. Nur keine Angst, dass der Wein uns ausgehen könnt’! Und wenn der Himmel ehern wär’ und die Erde aus Eisen, wir hätten immer noch genug für sieben bis acht Jahre […] Also lasst uns trinken, einmütig und in christlicher Liebe.43
Zuvor hat er sie dazu eingeladen, den Sturm nicht unnötig herauszufordern, sondern es sich lieber wohl sein zu lassen.44 Die Szene des Rastens unter dem Zelt, im Vordergrund der Zeichnung auf der linken Seite, könnte die Illustration des Anfangs des siebten Kapitels im Fünften Buch sein (»Wie Panurg die Geschichte von dem Ross und vom Esel erzählt«): Nachdem wir uns satt gegessen und satt getrunken hatten, führte uns der Aedituus in ein Zimmer mit schönen Möbeln, kostbaren Tapeten und reicher Vergoldung. Hierher ließ er Myrobalanen, Gewürzstänglein und eingemachten
42 Ebd., Kap. VI. Dt. Übers.: Bd. 2, S. 213. 43 Ebd., Kap. VI. Dt. Übers.: Bd. 2, S. 214f. 44 Ebd., Kap. VI. Dt. Übers.: Bd. 2, S. 214.
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Ingwer bringen, dazu Hippokras und köstliche Weine und lud uns ein, uns durch dieses Mittel wie durch einen Trunk aus dem Lethestrom von allen Gedanken an die auf See erlittenen Beschwerden zu befreien und sie aus unserem Gedächtnis zu verbannen; auch zu unseren Schiffen, die im Hafen lagen, ließ er eine große Menge Lebensmittel hinschaffen. Dann legten wir uns zur Nachtruhe nieder, aber wegen des unaufhörlichen Glockengebimmels konnte ich nicht schlafen. Um Mitternacht weckte uns der Ädituus zum Trinken; er selbst trank zuerst […].45
Die Einwohner der Läut-Insel verbringen Tag und Nacht mit Essen und Trinken. Deshalb lässt Aedituus den Reisenden auch keine Verschnaufpause: »Dergleichen weckte er uns bei Tagesanbruch, um die Nüchternheit mit einer Primsuppe zu vertreiben.«46 Nach Mireille Huchon handelt es sich hierbei um eine Anspielung auf die Brotscheiben, die in Brühe getunkt werden und zur ersten Messe des Tages oder Primmesse um sechs Uhr morgens gereicht werden. Aber damit noch nicht genug: Der Aufenthalt auf der Läut-Insel ist ein »großes Fressen«, ein andauerndes Gelage: Dann kam eine Mahlzeit, die den ganze Tag dauerte, so dass wir nicht wussten, ob’s Frühstück oder Mittagessen, Zwischenimbiss oder Abendbrot war. Zur Abwechslung gingen wir zwischendurch ein wenig spazieren, um die Insel kennenzulernen und den Gesang der gesegneten Vögel zu hören.47
Die vier Stände auf den Fersen des verfolgten Gläubigen Die nächste Zeichnung, die nach dem Besuch der Läut-Insel am leichtesten zu interpretieren ist, ließe sich folgendermaßen beschreiben: Sie stellt den kreisförmigen Lauf gegen den Uhrzeigersinn von vier Figuren dar, die versuchen, eine fünfte niederzustrecken. Da ist zunächst der Bauer mit seiner Schleuder, es folgt der Beamte mit quadratischer 45 Ebd., Kap. VII. Dt. Übers.: Bd. 2, S. 215. 46 Ebd., Kap. VII. Dt. Übers.: Bd. 2, S. 216. 47 Ebd., Kap. VII. Dt. Übers.: Bd. 2, S. 216.
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Abbildung 3: Baptiste Pellerin: Drôlerie (Zeichnung 2, ca. 15601570).
Mütze und Beutel, dann der Theologe mit seiner entzündeten Fackel und unter dem anderem Arm einem dicken Buch, aus dem eine Schlinge hängt, und schließlich der Adlige in Stiefeln und Pluderhose mit seinem Schwert und Schild. Ihr Ziel ist es, einen unglücklichen Hugenotten ins Grab zu stürzen. Dieser verfolgte Gläubige trägt auf seinen Schultern eine sehr leicht bekleidete, junge Frau, die mit einem Palmwedel und einem Messer bewaffnet ist, mit dem sie ihm die Kehle durchschneidet. Der Lauf des Unglücklichen ist bald zu Ende. Ein Grab, in dem bereits ein Kadaver ruht, öffnet sich zu seinen Füßen. Die vier Verfolger lassen an die vier personifizierten Stände denken, die zu Beginn des XLVIII. Kapitels des Vierten Buchs die Reisenden auf der Insel der Papimanen empfangen: Kaum, dass wir im Hafen Anker geworfen, und noch ehe wir vertäut waren, sahen wir ein Boot herankommen, in welchem vier verschiedenartig gekleidete Männer saßen: der eine bekuttet, besudelt und beschuht wie ein Mönch; der zweite angetan wie ein Falkner mit Köder und Beizhandschuh; der dritte wie ein Rechtsanwalt mit einem Beutel voll Protokollen, Vorladungen, Gerichtsakten und Vollstreckungsbefehlen in der Hand; der vierte wie ein orleansscher
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Winzer mit schönen leinenen Gamaschen, einem Täschchen und einem Rebmesser am Gürtel.48
Es gibt keinen direkten Bezug, außer dass es eben vier Figuren sind, wie die vier Stände der Gesellschaft, Klerus, Adel, Richterstand und die nichtadlige Rotüre. Allein diese vier Figuren repräsentieren die Gesellschaft in ihrer Gesamtheit. In dieser Episode des Vierten Buchs sind die vier Stände papistisch und »papiman«, das heißt verrückt nach dem Papst. In der Zeichnung, die Baptiste Pellerin zugeschrieben wird, sind sie nicht weniger katholisch und verfolgen mit gleichem Eifer den vermeintlichen Ketzer. Sogar die Wahrheit führt einen erbitterten Kampf gegen den verfolgten Gläubigen, wenn sie ihm ein Messer an die Kehle setzt oder vielmehr hineinstößt, während sie mit der anderen Hand den Palmzweig des Märtyrers schwingt. Denn diese entblößte junge Frau, die der Gläubige rittlings schultert, stellt die Allegorie der Wahrheit dar, so wie es Gilles Corrozet in seinem Gemälde von Kebes aus Theben (Tableau de Cebes de Thebes) erklärt: La verité doibt estre paincte nue, D’aucun habit non couverte ne sceincte, Affin qu’a tous elle soit mieulx congneue, Et qu’on la voie à l’œil sans quelque faincte : Il est bien vray que cest vertu tressaincte Et qu’il n’y a chose plus qu’elle forte. Mais d’un cousteau (en ostant toute craincte) Coupe la gorge à celluy qui la porte.49 [Die Wahrheit muss nackt gemalt werden / von keinerlei Kleidungsstück bedeckt oder umgürtet / damit sie von allen besser erkannt werden / und man ihr ohne Verstellung ins Auge sehen kann. / Wahrlich ist sie eine hochheilige Tugend / und nichts ist stärker als sie. / Aber mit einem Messer (das alle Furcht nimmt) / durchschneidet sie die Kehle dessen, der sie trägt.]
48 Rabelais: Quart Livre, Kap. XLVIII, S. 649. Dt. Übers.: Bd. 2, S. 148. 49 Tableau de Cebes de Thebes, Paris: Gilles Corrozet 1543. Diese Bildtafel ist abgedruckt bei Jean-Raymond Fanlo in seiner Ausgabe von Agrippa d’Aubigné: Les Tragiques, Paris: Champion 1995, Bd. 2, S. 976.
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Ein halbes Jahrhundert später wird dieses Bild von Agrippa d’Aubigné in seinem Gedicht Die tragischen Verse (Les Tragiques, 1616) und in seiner Universalgeschichte (Histoire universelle, 1619-1620) wieder aufgegriffen: Für den Zeichner aus dem Jahr 1560 wie auch für den Dichter der Tragischen Verse ist die Wahrheit eine gefährliche Verbündete. Sie »trägt ein Messer für den, der sie trägt«. Sich auf ihre Seite zu schlagen heißt das Risiko einzugehen, von ihrer Hand zu sterben. Der Gläubige, der sie in Kenntnis der Lage trägt, ist bereit ihr sein Leben zu opfern.
Satire der Justiz
Abbildung 4: Baptiste Pellerin: Drôlerie (Zeichnung 3, ca. 15601570).
Die dritte Zeichnung gehört zur traditionellen Satire der bestechlichen und bestochenen menschlichen Gerichtsbarkeit. Über einen runden Tisch aus Marmor gebeugt, der von einem mit den Resten eines Essens beladenen Tischtuch bedeckt ist, streckt ein Richter mit Rabenschnabel seine klauenartigen Hände nach einem Hasen und einer Ringeltaube aus, die ihm ein Paar Bauern darbieten. Man denkt an die satirische Figur von Krallfratz (Grippeminaud), dem »Erzherzog der Muffelkater« (»archiduc des Chats-fourrés«), in der Isle Sonnante,
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Typus des gierigen Richters auf Beutejagd mit seinem Leitmotiv »Geld her!« (»Or çà!«).50 Während der Richter, wie es sein Name anzeigt, seine Beute »ergreift«51, wird ihm von hinten ein Klistier eingeführt, das ihm ein Diener mit dem Gesicht eines Marders verabreicht. Im Hintergrund bemerkt man durch eine große Öffnung hindurch zwei Gehenkte, die an einem Galgen aufgeknüpft sind. Auf der rechten Seite hängen Prozessbeutel an der Wand, aus denen Schlangen hervorkriechen. Es ist dies die wortwörtliche Illustration einer langen Passage der Hölle (L’Enfer) von Clément Marot, einer satirischen Epistel, die er bei seiner Entlassung aus dem Châtelet-Gefängnis im Frühjahr 1526 verfasste. Marot macht darin einer ungerechten und käuflichen Justiz den Prozess, zu dessen Opfer er selbst geworden war. Die Prozesse, die sich ewig hinziehen und mit ihrem Gift ganze Familien zerstören, werden dort in einer etwa hundert Verse langen Textpassage (V. 126-210) durchgängig mit sich hinziehenden, sehr langen Schlangen verglichen. Die Passage schließt folgendermaßen: Doncques, Ami, ne t’ébahis comment Serpents procès vivent si longuement; Car bien nourris sont du lait de la Lice Qui nommée est du Monde la malice.52 [Also, mein Freund, wundere dich nicht, warum / Prozess-Schlangen so lange leben. / Denn sie werden gut von der Milch der Hündin genährt / die von der Welt Bosheit genannt wird.]53
Das Frappierende an diesen Zeichnungen, die noch nicht all ihre Geheimnisse preisgegeben haben, ist das unterschwellige Vorkommen von extrem präzisen Textbezügen. Der Künstler ist genau auf der Höhe der Literatur seiner Zeit in ihren polemischsten Aspekten. Zudem 50 Rabelais: L’Isle Sonante, Kap. 11-15, S. 859-869. Vgl. Cinquiesme Livre, Kap. XI-XV, S. 749-761. Dt. Übers.: Bd. 2, S. 226-239. 51 A.d.Ü.: Der Name geht zurück auf frz. agripper: ergreifen. 52 Vgl. Clément Marot: »L’Enfer«, in: L’Adolescence clémentine, hg. v. Frank Lestringant, Paris: Gallimard (»Poésie«) 1987, S. 250-251. 53 A.d.Ü: Unübersetzbares Spiel mit den Reimworten lice (Hündin) und malice (Bosheit).
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gehören sowohl Marot als auch Rabelais den religiösen Dissidenten an, wenn nicht gar dem Protestantismus. »Evangelisch« wie Rabelais, ist Marot in seinem Schulterschluss mit der Reformation noch weiter gegangen als dieser. Er war Freund und Gast Calvins in Genf.
Aufstieg zur Hölle
Abbildung 5: Baptiste Pellerin: Drôlerie (Zeichnung 4, ca. 15601570).
Die brennende, qualmende Höllenstadt mit ihrem großen Portal und ihren Türmen erhebt sich auf der linken Seite über dem gähnenden Maul eines Monsters, in dem mit gereckten Armen die Seelen der Verdammten heulen. In der Mitte fordert eine Art Mönch mit Kapuze, dick und fett, mit einen Rosenkranz am Gürtel und die Füße von Ketten beschwert, eine Menschenmenge dazu auf, die von rechts in einem langen Prozessionszug herankommt, die Leiter zu erklimmen, die an seinen beiden Schultern angelehnt ist. Das obere Ende der Leiter ist zerbrochen, so dass die kleinen Figuren mit tierartigen Gesichtern, die beladen mit verschiedenen Gegenständen wie Eimern, Holzschuhen, Rad und Mörser die Sprossen hinaufsteigen, am Ende ihres Anstieges in die Höllenstadt stürzen. Ganz oben scheint die Sonne durch die aufgerissenen Wolken. Die Menschenmenge, die sich von
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rechts dem Fuß der Leiter nähert, gleicht einem Drachen mit zwei Schwingen an der Seite und einem Schlangenschwanz am hinteren Ende. Der Hintergrund auf der rechten Seite zeigt ein Meeresufer mit Bauten in antikem Stil, ein Rondell, einen Obelisk und einen Triumphbogen, die sich gegen Berge abheben.
Die im Bauch heranwachsende Welt und die vier Stände
Abbildung 6: Baptiste Pellerin: Drôlerie (Zeichnung 5, ca. 1560-1570).
Ich komme nun zu den drei letzten Zeichnungen, die alle drei eine Allegorie der Welt darstellen. Die Welt ist in dieser Serie von sieben Zeichnungen also nicht die Gesamtstruktur der Darstellung, sondern sie wird selbst zur dargestellten Figur. Die erste dieser drei Figuren der Welt ist die rätselhafteste. Man scheint einer umgekehrten oder parodistischen Schöpfung beizuwohnen. Die Sonne, die vielleicht Gott darstellt, empört sich über eine umgedrehte Flasche, die von zwei grotesken Figuren mit geflügelten Schneckenkörpern in die Höhe gehalten wird. Das Motiv der Schnecke mit Flügeln kommt in der grotesken Ikonographie häufig vor, und insbesondere in den graphischen Arbeiten, die man Delaune zu-
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schreibt.54 Es bringt zwei gegensätzliche Elemente auf absurde Weise zusammen: die Langsamkeit und die geflügelte Schnelligkeit; die Schwere und die Leichtigkeit; das kriechende Tier und die Insektenbzw. Schmetterlingsflügel. Dieses graphische Oxymoron hat manchmal den Sinn des berühmten Wortes Festina lente: »Eile mit Weile!« Im vorliegenden Fall bezeichnet es viel wahrscheinlicher die Widernatur, eine pervertierte Natur, deren Gegensätze sich verbünden und miteinander verschmelzen. Mit ihrer freien Hand spannen die beiden symmetrischen Figuren ein Netz über einer runden und unförmigen Masse, aus der die Schwänze von Schlangen und die Köpfe verschiedener Tiere in einem wilden Durcheinander heraustreten: Köpfe von Elefanten, von Kühen (sie scheinen fast die lachende Kuh – »La vache qui rit« – vorwegzunehmen, die später von Benjamin Rabier gezeichnet wurde), von Hunden, Katzen, Böcken, Maulwürfen, Eseln, Löwen usw. Dieses andeutungsweise kugelförmige Chaos, das ein konfuses und ungeheuerliches Eigenleben führt, vermittelt recht gut die Vorstellung einer Anti-Welt oder einer Widernatur. Um diese Welt herum, die offensichtlich wie ein Gegenentwurf zu der wahren, von Gott erschaffenen Welt wirkt und als eine Art von ursprünglichem Tohuwabohu erscheint, das durch das Wort Gottes nicht unterschieden und geordnet worden ist, mühen sich vier Gestalten ab und nehmen lebhaft an ihrer Entstehung Anteil, helfen ihr mit allen Kräften und versuchen bereits, ihren eigenen Vorteil daraus zu ziehen. Man stößt hier wieder auf die Figuren der vier Stände, die bereits in der Verfolgung des Gläubigen vorkommen, d.h. von links nach rechts auf den Richter mit seiner quadratischen Kappe, der in seiner linken Hand eine Waage hält, den Adligen, der sein Schild losgelassen hat, um eine Lanze mit einem Schaber an ihrem Ende zu schwenken, der Theologe und der Bauer. Drei der vier Figuren weisen ein Gebrechen auf: Der Adlige ist verkrüppelt und stützt sich auf ein Holzbein. Der Theologe ist blind oder sieht zumindest schlecht: Seine Kerze ist erloschen und raucht, seine Lampe ist umgestoßen und er sucht tastend eine von seinen drei Brillen neben sich; ein jugendlicher
54 Christophe Pollet: Les gravures d’Étienne Delaune (1518-1583), Villeneuve d’Ascq: Presses universitaires du Septentrion 1995, Nr. 239 (5), S. 544-545: Es handelt sich um eine Allegorie der Astronomie mit Groteskenschmuck auf weißem Grund.
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und pausbackiger Wind bläst unter seinem Hintern als Ausdruck der ›windigen‹ Nichtigkeit seiner Doktrin. Wie in der Zeichnung, die die vier Stände auf den Fersen des verfolgten Gläubigen zeigt, blickt er durch eine Fensterluke: Sein Gesicht ist wortwörtlich umrahmt von einem Rahmen aus Stein, dem engen Rahmen seiner Doktrin, seiner Zelle oder des Kerkers, in den er den Ketzer wirft. Der Bauer trägt Sense und Messer am Gürtel und hält einen Spaten. Er ist seinerseits bucklig, trägt einen flachen Hut und seine Nase wächst zu einem maßlosen Elefantenrüssel heran, als mögliches Zeichen für seine ausschließliche Verbundenheit mit dem Boden. Der Beamte, der mit weit aufgesperrtem Auge zu lächeln scheint, ist dagegen der einzige, der bei guter Gesundheit zu sein scheint. Während er in seiner Linken die für seine Funktion emblematische Waage hält, greift seine rechte Hand auf der Suche nach einer Frucht (einem Apfel?) in seine Umhängetasche. Der Boden ist übersät mit verschiedenen Instrumenten und Werkzeugen, die ganz offensichtlich dazu bestimmt sind, die Welt zu vervollkommnen oder ihr zumindest eine grobe Form zu geben: die Werkzeuge eines Scherers, der Kamm eines Wollkämmers, ein Schwamm (?), der Hobel und Hobelbock eines Tischlers.
Die Welt im Schlummer zwischen zwei Kirchen Die zwei anderen Figuren der personifizierten Welt sind leichter zu entziffern. Es handelt sich zum einen um die Welt, die zwischen der wahren und der falschen Kirche schlummert und den Einschmeichelungen letzterer nachgibt, zum andern um die Heilige Jungfrau, die mit der Welt schwanger geht und die Geschenke und Ehrerbietung der Mächte der Erde empfängt. In diesen beiden Fällen ist die Welt mit anthropomorphen Zügen dargestellt, einmal als eine männliche und einmal als eine weibliche Figur, deren gewölbter Bauch die Form der Weltkugel annimmt, auf der die Kontinente, d.h. Afrika und Europa, die durch das Mittelmeer voneinander getrennt sind, gut erkennbar eingezeichnet sind.
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Abbildung 7: Baptiste Pellerin: Drôlerie (Zeichnung 6, ca. 15601570).
Die schlafende oder vor sich hin dämmernde Welt zwischen den beiden Kirchen verweist auf einen echten Topos protestantischer Bildpropaganda, nämlich den Gegensatz zwischen der wahren und der falschen Kirche, wie er in Deutschland und in deutscher Sprache von Luther oder Cranach sowie in Genf in französischer Sprache von Pastor Simon Du Rosier gezeigt wird. Die wahre Kirche taucht auf der linken Seite in Gestalt einer keusch verschleierten lesenden Frau in andachtsvoller Haltung auf; die lügnerische Kirche auf der rechten Seite mit den Gesichtszügen einer geizigen Alten, die verdrießlich und hässlich aussieht und Goldstücke aufsammelt. Die Attribute der wahren, in Lektüre und Meditation vertieften Kirche sind das mystische Lamm zu ihren Füßen, die brennende Lampe vor ihr, das aufgeschlagene Buch, d.h. die Bibel, auf ihren Knien sowie das Herz, in dem eine Flamme lodert: das brennende Herz der Barmherzigkeit, das sie mit der linken Hand zum Himmel hebt. Darüber strahlt in einer Wolke das göttliche Tetragramm. Die Attribute der falschen Kirche sind dagegen der grausame Löwe zu ihren Füßen, die erloschene Lampe, der Sack voll Gold, den sie in der Hand hält, die mit Schultertasche voller Goldstücke, die vom Himmel fallen, sowie der wackelige Hocker, auf dem sie sitzt und der so aussieht, als bräche er jeden Moment zusammen. Über ihr verweist der Münzenregen, der aus einem um-
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gekippten Gefäß in den Wolken kommt, auf den stets blühenden Ablasshandel. Es ist dies die käufliche, simonistische Kirche, die Kirche des Teufels, die ausschließlich an den Gütern dieser Welt hängt, und der die Welt ganz selbstverständlich ihre Zuneigung, ihre Ehrerbietung und ihr Ohr schenkt. In der Mitte unten suhlt sich die Welt in einem Sumpfloch mit einer Kröte im Vordergrund. Sie ist dick und fett und sieht einem Ball oder einer Kugel gleich, auf die dürre Glieder aufgepfropft sind: zwei Beine, ein angewinkelter Arm, ein kurzer Oberkörper und ein bärtiger Kopf mit Hut. Genau genommen bleibt die Welt auf eine anthropomorphe Weltkugel beschränkt, auf deren Oberfläche sich die Konturen der Meere und Kontinente abzeichnen. Die Welt entspricht, mit anderen Worten, ziemlich genau einem kugelförmigen Bauch. Dieser Weltkugelbauch besitzt die Eigentümlichkeit, in einem Schlangenoder Drachenschwanz auszulaufen, so dass diese unförmige Welt zugleich etwas Kröten- und etwas Reptilienhaftes an sich hat. Halb liegend und schlummernd, den Kopf auf die Hand gestützt, wendet die Welt ihren Kopf der falschen Kirche zu. Mit ihrem spitzen Rüssel spricht die falsche, d.h. hier zwangsläufig die katholische Kirche, der Welt ins Ohr, die ihr mit sichtlicher Zufriedenheit lauscht. Der weite Umhang, der Kopf und Schultern der schlechten Kirche bedeckt, dehnt sich ebenso unproportional aus wie ihre Nase, sodass sie die Welt mit ihren Faltenwürfen bedeckt, als wolle sie sie beschützen oder einhüllen. Es handelt sich hier um das freilich karikaturhaft und parodistisch eingesetzte Motiv des Mantels der Barmherzigkeit, das man auch in der letzten Zeichnung der Serie wiederfindet. In der Mitte der Bildkomposition dient zwischen den beiden Flügeln des Diptychons ein Baum als Symmetrieachse: Auf der einen Seite – der Seite der wahren Kirche – ist er voll von Astwerk und Blättern, auf der anderen Seite – in Richtung der falschen Kirche – sind seine Äste abgestorben. Links trägt sein lebendiges Astwerk eine Trompete, die Trompete des Jüngsten Gerichts, und Vogelgefieder, das an die Taube denken lässt, die Himmelsbotin; an seinen abgestorbenen Ästen rechts hängt ein Netz und ein augenloses Maskenpaar – beide zusammen bringen den Betrug zum Ausdruck. Traditionell wird der Teufel als Vogelfänger dargestellt, der die unschuldigen Vögel in die Falle lockt; man weiß andererseits aber auch, dass er tausend
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Gestalten und tausend Erscheinungsformen annehmen kann, alle Masken zur Schau trägt, um besser täuschen und betrügen zu können. Auf Seiten der wahren Kirche, biegen sich Schilfrohre im Wind, ohne zu brechen, vielleicht als Anspielung auf eine Passage bei dem Propheten Jesaja (42, 3)55 und als Bild der Gläubigen, die das Wort Gottes dazu bringt, sich zu beugen, ohne sie zu zerbrechen.
Ein apokalyptisches Krippenfest
Abbildung 8: Baptiste Pellerin: Drôlerie (Zeichnung 7, ca. 15601570).
In der letzten Zeichnung bietet eine Figur mit großen Ohren und Zähnen, die aufgrund ihrer ausladenden Ohrmuscheln von vornherein an die Allegorie des Hörensagens (»Ouï-dire«) bei Rabelais erinnert, unter ihrem Mantel einer Menge nackter, androgyner, zusammengesunkener Kreaturen Unterschlupf, die fressend, trinkend und möglicherweise kopulierend ein Gelage feiern. Die Kreaturen haben teils menschliche und teils tierische Gestalt. Diese allegorische Figur parodiert ganz offensichtlich die barmherzige Jungfrau, die mit ihrem aus-
55 Ich verdanke diesen Gedanken Marie-Aurore de Boisdeffre, der mein herzlicher Dank gilt.
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gebreiteten Mantel die drei Stände der Gesellschaft beschützt, die artig unter ihrem Umhang Platz finden. Diese Anti-Jungfrau gewährt dagegen nicht einer geordneten und hierarchischen Gesellschaft, sondern einer Orgie Unterschlupf, einer Ansammlung von nackten, eng aneinander geschmiegten und schlemmenden Körpern. An diese erste Parodie der barmherzigen Jungfrau schließt unmittelbar eine zweite an: die der Anbetung der Heiligen Drei Könige. Auf der linken Seite der Bildkomposition bieten drei blinde Könige mit verbundenen Augen unter ihren Kronen der zentralen Gestalt ihre Gaben dar: ein wertvolles Gefäß mit Wein oder Likör, eine gebratene Gans auf einem Teller. In dieser Darstellung, die man also als die Parodie der Krippe Jesu verstehen könnte, verweisen die drei Könige unweigerlich auf die Drei Heiligen Könige, die dem Jesuskind ihre Geschenke darbieten: Gold, Weihrauch und Myrrhe (Matthäus 2,11). Hier jedoch handelt es sich offensichtlich um drei heruntergekommene Könige mit Bärten und weißen Haaren, vom Alter gebeugt und mit schwerem Gang. Alle drei tragen Spinnrocken, was so viel bedeutet wie dass sie die Macht über ihre Königreiche verloren haben.56 Eben war vom Krippenfest die Rede. Dieser Ausdruck ist nicht ganz zutreffend, denn das Bemerkenswerteste an dieser Szene ist, dass die Hauptfigur kein Kind ist, sondern eine erwachsene Person und ganz offensichtlich eine Frau. Diese Frau hat die Welt zum Bauch, eine recht klar gezeichnete Weltkugel mit Europa, Afrika und dazwischen dem Mittelmeer, in dem man entlang der italienischen Küste die drei Inseln Korsika, Sardinien und Sizilien erkennt. Das quer verlaufende Rote Meer trennt Afrika und Asien. Könnte dies eine Allegorie der Welt darstellen, wie in der zuvor besprochenen Zeichnung? Die Schwierigkeit einer solchen Annahme besteht darin, dass es sich um eine weibliche Figur handelt, und genauer noch um eine Mutterfigur, wie das der Mantel und das Kleid sowie die langen Haare verraten. Der Weltbauch nimmt vor diesem Hintergrund eine andere Be56 A.d.Ü.: Ein Spinnrocken, auf dem beim Spinnen die noch unversponnenen Fäden befestigt werden, heißt im Französischen »quenouille«; ein Königreich »tombe en quenouille«, d.h. fällt, einer im 16. Jahrhundert geprägten Redewendung zufolge, »dem Spinnrocken zu«, wenn es in die Hände von Frauen gerät, also der weiblichen Linie eines Herrschergeschlechts zufällt – übertragen steht »tomber en quenouille« ganz allgemein für den Verfall eines Besitzes.
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deutung an. Es handelt sich dabei nicht mehr um einen aufgeblähten Magen, sondern um eine Schwangerschaft. Man könnte also versucht sein, in dieser mit der Welt schwangeren Frau eine neuerliche Allegorie der römisch-katholischen Kirche zu sehen, eine ganz und gar weltliche Kirche in den Augen eines Protestanten. Die Respektlosigkeit des Künstlers ist offenkundig, und die Allegorie erhält eine gewollt blasphemische Dimension. Diese barmherzige Jungfrau ist eine schwangere Jungfrau, mehr noch: Sie geht schwanger mit der Welt und nicht mit dem Himmel, mit der Schande der Erde und nicht mit Gottes Sohn. Mit beiden Händen empfängt sie von links und rechts dankend die Gaben der blinden Könige und des Tieres. Dies ist das dritte Element der Bildkomposition: ein siebenköpfiges Ungeheuer, das auf der rechten Seite steht. Es scheint recht einfach identifizierbar: Ganz offensichtlich handelt es sich dabei um eine apokalyptische Figur, diejenige des Antichristen. Es kombiniert die Figur des Tieres mit den sieben Köpfen mit der Großen Hure Babylon – beide aus der Apokalypse, wo die beiden (in Kapitel 13 und 17) im Übrigen auch miteinander in Verbindung gebracht werden. Die sieben Köpfe stammen hier von Wildschwein, Hund, Bär, Löwe, Bock, Affe und Esel. Von der Großen Hure erhält die Figur die nackten Brüste, die von unten mit einer Bandage gestützt werden, und die langen Haare, die über die Schultern fallen und im Wind wehen. Wie das Tier der Apokalypse kommt sie aus dem Meer (Apokalypse 13,1), worauf ein Schiff rechts im Hintergrund hinweist. Sie hat haarige Schenkel und die gegabelten Hufe eines Bocks, die zur Genüge von ihrem diabolischen Wesen zeugen. Das Tier und die mit der Welt schwangere Frau sind in eigenartiger Weise und durch ein fleischliches Band miteinander verbunden, das etwas von einem schwanzartigen Fortsatz, einem männlichem Glied und einer Nabelschnur hat. Das Tier stellt einen langen Schlangenschwanz zur Schau, der sich im Vordergrund erhebt und auf den Weltbauch der Person im Zentrum aufgepfropft wird wie eine Nabelschnur. Es sieht so aus, als sei die Welt der Fortsatz des Tieres, oder als sei das Tier die Mutter, die gerade die Welt geboren hat und sie nunmehr nährt, bevor auch nur die Nabelschnur zwischen beiden durchtrennt worden wäre. Tatsächlich quillt aus seiner rechten Brust
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ein Milchstrahl, der in eine Schale fällt, die ihm die im Zentrum sitzende Frau hinhält. Wie die drei blinden Könige auf der linken Seite bringt auch das Tier seine eigenen Gaben mit: seine rechte Hand hält einen Teller mit einer Hammelkeule und seine linke Hand eine Trinkflasche. Wer ist denn nun tatsächlich die Mutter der Erde? Ist es die in der Mitte kauernde schwangere Frau, deren Appetit offensichtlich unersättlich ist und die nie genug hat von den Speisen, die man ihr bringt, um sich den Bauch vollzuschlagen? Oder ist es das Tier aus dem Meer, mit dem die Welt durch einen reptilienartigen Schwanz verbunden ist, der in einer Nabelschnur endet? Man muss man hier wohl zwischen den Rollen der Mutter und der Amme unterscheiden. Die Rolle der Mutter bzw. der werdenden Mutter übernimmt die kauernde Frau mit ihrem Weltbauch, die der Amme kommt dem zuvorkommenden Tier zu, das gleichermaßen die Mutter und deren Leibesfrucht ernährt: die Mutter durch die Speisen, die es ihr reicht und ihre Leibesfrucht durch den Nahrungsschlauch, über den es mit der Welt zusammengewachsen ist, bzw. durch die Milch aus seiner Brust, die es wie ein Springbrunnen vergießt. Die Nabelschnur, die sie verbindet, zeigt, dass sie beide gleichen Ursprungs sind. Die mit der Welt schwangere Jungfrau und das Tier aus dem Meer sind nicht nur von gleicher Art, sie bilden letztlich ein einziges Fleisch, das Fleisch, aus dem die Weltkugel selbst gemacht ist. Man könnte eine andere Hypothese wagen und behaupten, dass die schwangere Frau nicht die echte Mutter ist, sondern eine Leihmutter, die in ihren Schoss die Frucht aus dem Leib einer anderen aufnimmt, nämlich den Fötus des Tieres aus dem Meer, das mit seiner vor Milch überlaufenden Brust neben ihr steht. Dies würde die Bedeutung der Allegorie jedoch nicht sehr verändern. Wie wäre dann aber der Appetit zu verstehen, die Zähne und die Gier der sitzenden Frau, wenn nicht all dies zur Ernährung der Frucht ihres sich dehnenden Bauches diente? Zwischen den drei gekrönten Greisen auf der linken Seite und dem siebenköpfigen Tier zur Rechten sitzt die mit der Welt schwangere Jungfrau, lauscht und empfängt: Sie lauscht mit ihren großen, weit geöffneten Ohren der Ehrerbietung der Könige der Erde und des Tieres; sie empfängt mit ihren beiden krummfingrigen Händen Nah-
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rungsmittel und Geschenke, das gebratene Gänschen und die Hammelkeule, die Milch und den Wein. Eine Art Mast oder Baumstumpf erhebt sich hinter der Jungfrau: er trägt eine umgestoßene Waage deren leere Schalen sich im Wind bewegen: Dies ist ein Zeichen dafür, dass die Ungerechtigkeit über die diesseitige Welt herrscht. Dahinter erstreckt sich eine weite, maritime Landschaft mit einem steinigen Abhang und einem Tempel auf der linken Seite, den Bergen in der Ferne und der auf- oder untergehenden Sonne auf der rechten Seite. Am Boden im Vordergrund stellen eine Lanze und ein Spaten, eine Geldbörse und ein geöffnetes Buch metonymisch die vier Stände der Gesellschaft, den Adel, die nichtadelige Rotüre, den Richterstand und den Klerus. Die Tatsache, dass Lanze und Spaten zerbrochen sind, dass die Börse leer ist und das Buch am Boden liegt, scheint darauf hinzudeuten, dass nicht nur die Gesellschaft in ihren verschiedenen Bestandteilen der Tyrannei der falschen Kirche unterworfen ist, sondern dass sie auf diese Weise zerstört wird. Was kann man schließlich aus diesen drei Weisen des Umgangs der Welt in der Serie von Zeichnungen Baptiste Pellerins folgern? Die Weltkugel liefert verschiedenen metaphorischen, synekdochischen und metonymischen Deutungen Vorschub. In metaphorischer Hinsicht wird die Weltkugel durch ihre Form zu einem Bauch. Die Welt ist rund wie ein Schmerbauch. In der Sprache der Satire gibt es natürlich zwei Möglichkeiten, dieses Anschwellen zu interpretieren: entweder als Folge einer Fressorgie, als sichtbare Konsequenz der gula, der Sünde der Völlerei, oder als Schwangerschaft und somit als natürliche Folge der Unzucht, wenn man die luxuria, die Sünde der Wollust begangen hat. Die antikatholischen Zeichnungen von Baptiste Pellerin spielen mit diesen beiden Varianten des aufgeblähten Bauches: der von Nahrung (und als natürliche Folge davon auch von Exkrementen) dick gewordene Bauch taucht in der Allegorie von der zwischen zwei Kirchen schlummernden Welt auf; der dicke Bauch der Gebärenden im Bild des apokalyptischen Krippenfests. Synekdochisch betrachtet ist die Welt ganz Bauch und der Bauch steht für die ganze Person. Diese synekdochische Verkürzung des Körpers auf den Bauch, die häufig in der Satire und der Karikatur vorkommt, prangert hier die Unterwerfung der Menschheit unter ihre fleischlichen Gelüste an, die Sünden der Völlerei und der Wollust. Ei-
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ne solche Reduzierung des Ganzen auf einen Teil davon betrifft ebenso den Makrokosmos oder die »große Welt« wie den Mikrokosmos oder die »kleine Welt«. Heraus kommt dabei die aufgedunsene, sich in ihrem Schlamm und Sumpf suhlende, schlafende Gestalt der Welt zwischen den zwei Kirchen. Bei der sitzenden Frau im apokalyptischen Krippenfest handelt es sich um eine komplexe Allegorie, die sich nicht auf die Welt beschränkt, die den Platz in ihrem Bauch einnimmt. Sie umgibt die Welt, trägt sie dabei und nährt sie wie eine Mutter ihr Kind trägt und ernährt. Die Welt haftet an ihr mit all ihren Fasern; sie ist ganz offensichtlich von ihr noch nicht getrennt. Die Figur funktioniert eher wie eine Metonymie, die Trope der Kontiguität. Die dritte (und hier zuerst besprochene) Zeichnung nimmt eine Sonderstellung ein: Ist es nicht unangemessen, hier von einer Welt zu sprechen? Zwei Elemente rechtfertigen diese Bezeichnung dennoch: Einerseits die kugelförmige Masse, ein im Werden begriffener Ball, und andererseits die Vielzahl der tiergleichen Formen von der Kuh bis zur Schlange, aus der sich diese Kugel zusammensetzt. Jedoch ist diese ungleiche und holprige Weltkugel das genaue Gegenteil eines Kosmos: Sie ist ein Chaos oder vielmehr ein »Chaosmos«, eine Chaos-Welt, um den oxymoralen Ausdruck von James Joyce aufzugreifen, der so sein Werk beschrieb. In diesen drei Zeichnungen ist die Welt ein dargestellter Gegenstand und nicht die umfassende Struktur der Darstellung selbst. Doch diese Behauptung stimmt nicht ganz, denn die Weltkugel stellt auch ein strukturierendes Element dar. Außer dass sie sich ohne Weiteres in den ovalen Rahmen der Komposition einschreibt, taucht sie auch stets in deren Zentrum auf. Die drei behandelten Kugeln haben jeweils die Mittellinie des Blattes als vertikalen Durchmesser. Entlang dieser Mittelachse sind sie je nach Zeichnung in verschiedener Höhe angeordnet: entweder im oberen Drittel, wie die monströse Schöpfungsgeschichte oder das apokalyptischen Krippenfest, oder ganz unten wie das Bild der zwischen zwei Kirchen schlummernden Welt, stellt die Weltkugel das Zentrum dar, um das herum sich der ganze Raum der Bildkomposition anordnet. Um sie herum und in Bezug auf sie sind die anderen Elemente verteilt: die vier Stände, die wahre und die falsche Kirche, die blinden Heiligen Drei Könige und das Tier der Apokalypse. All
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diese Nebenfiguren sind nicht nur um die Welt herum angeordnet, sondern wenden sich ihr auch zu und sehen sie an. Die Weltkugel erscheint also als der Fluchtpunkt der Blicke und als der Knotenpunkt der Botschaft. In der irdischen Welt als Antithese zum Himmelreich konzentriert sich all die unheilvolle Energie der katholischen Kirche, so wie einst im Kreis der Läut-Insel oder in der ovalen Stadtmauer bzw. dem verschlingenden Rachen, der die Stadt Rom in der Neuen Papistischen Weltkarte umschließt. Dass man von dieser Erdkugel in ihrer höchsten Vereinfachung immer den gleichen Teil oder die gleiche Seite sieht, hat vielleicht auch eine symbolische Bedeutung: Man sieht immer nur den traditionellen Raum des Mittelmeers, der sich von Spanien bis hin zum Roten Meer erstreckt. Die römische Kirche regiert zusammen mit dem Islam über diesen seit zwei Jahrtausenden vermessenen kartographischen Raum, der in etwa der oikumene der Antike entspricht, in einer absichtlichen Ausblendung der Welt, die sich durch die neuen Seefahrten ausgedehnt hat. Nichts Neues unter der Sonne. Nichts Neues auch auf der Oberfläche der Erdkugel, auf der das immer gleiche Heidentum wiederkehrt, und mit ihm der gleiche Betrug des Satans.
Buße für die Renaissance? Die anthropologische Öffnung des 16. Jahrhunderts
Sein Antrittsvorlesung am Collège de France beendete Claude LéviStrauss im Januar 1960 mit folgender Feststellung und Aufforderung: Unsere Wissenschaft ist an dem Tag zur Reife gelangt, an dem der abendländische Mensch zu begreifen begann, dass er sich niemals begreifen würde, solange auf dem Erdball auch nur eine einzige Rasse oder einziges Volk von ihm als ein Objekt behandelt wird. Erst dann konnte die Anthropologie sich als das durchsetzen, was sie ist: ein Unternehmen, das die Renaissance erneuert und für sie Buße tut, um den Humanismus auf die gesamte Menschheit auszudehnen.1
»Buße für die Renaissance«? An einer akademischen Einrichtung, noch dazu wenn sie dem Studium des Humanismus und der Renaissance gewidmet ist, klingt die Frage wie schreckliche Blasphemie. Obendrein erscheint die Formulierung abwegig: Man tut Buße für eine Sünde, eine Jugendsünde etwa, aber wie sollte es möglich sein, Buße für eine Epoche zu tun, insbesondere wenn diese Epoche stellvertretend für eine der höchsten Formen unserer Kultur steht? Tatsächlich muss diese Formulierung in ihren Kontext zurückversetzt werden, in eine Krisenzeit des europäischen Selbstverständnisses und des Endes
1
Claude Lévi-Strauss: Anthropologie structurale II, Paris: Plon 1973, Kap. 1: »Le champ de l’anthropologie«, S. 44. Dt. Übersetzung: Strukturale Anthropologie II, a.d. Frz. v. Eva Moldenhauer, Frankfurt a.M.: Suhrkamp 1999. S. 43 (hier in leicht überarbeiteter Form, A.d.Ü.).
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der Kolonialzeit. Lévi-Strauss ruft uns so in Erinnerung, dass unser ›schönes‹ 16. Jahrhundert für andere Gebiete auf der Welt eine ziemlich traurige Epoche war. Seine paradoxe Formulierung ist eine hilfreiche Warnung vor der stets präsenten Versuchung des Ethnozentrismus. Mit den Augen Mexikos, der Karibik oder Perus gesehen, handelt es sich bei der Epoche, die unserem 16. Jahrhundert entspricht, keineswegs um eine Renaissance, sondern vielmehr um eine Apokalypse. Muss man für die Renaissance, diese Zeitalter der Hochkultur, Buße tun, in der unser Kontinent sich durch die Ausbeutung der drei anderen, bald mit Waffengewalt, bald durch ungleichen Handel, bereichert hat? Diese brutale und raffinierte Jugendzeit, die weltweit, genauer gesagt: in der Neuen Welt, den größten ungewollten Genozid der Geschichte der Menschheit begangen hat? Wenn ich an diesen »Genozid ohne Vorsatz« erinnere, um den Ausdruck von Jacques Ruffié wieder aufzunehmen,2 so möchte ich damit selbstverständlich nicht zu einem öffentlichen Akt der kollektiven Reue auffordern, sondern vielmehr dazu einladen, über dieses Paradoxon nachzudenken, das das Jahrhundert des Humanismus zu einem der inhumansten Jahrhunderten unserer Geschichte macht. Die anthropologische3 Öffnung des 16. Jahrhunderts setzt uns dem Risiko dieser Untersuchung aus.
D IE ANTHROPOLOGIE
IN DER
K OLONIALZEIT
Die koloniale Epoche beinhaltet, vor allem durch die Arbeiten von Paul Gaffarel, die Wiederentdeckung oder vielmehr die Erfindung einer verlorenen imperialen Vergangenheit. Die Geschichte des französischen Florida und die Geschichte des französischen Brasilien, die 1875 bzw. 1878 veröffentlicht werden, situieren sich so in einem europäischen Kontext nationaler Rivalitäten und konkurrierender Im-
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Zitiert von Serge Gruzinski: La Pensée métisse, Paris: Fayard 1999, S. 74. A.d.Ü.: Obwohl die Ausdrücke »Anthropologie«/»anthropologisch« im Französischen eine sehr viel weiter gefasste Bedeutung haben als im Deutschen, werden sie in der Folge wörtlich übersetzt.
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perialismen.4 Außerdem ging es kurz nach dem französisch-preußischen Krieg darum, eine Kompensation für die kürzliche Niederlage und ein Ventil für den gekränkten Patriotismus zu schaffen. Diese Kompensation sollte in der Kolonialpolitik von Jules Ferry bald darauf ihre historischen Niederschlag finden. Unverzüglich und auf einer symbolischen Ebene erlaubte es der Rückgriff auf die Archive, den versunkenen Archipel des ersten Kolonialreichs und seiner unaufhörlichen Vorboten, also die ›vergeblichen Versuche‹ des 16. Jahrhunderts dem Vergessen zu entreißen. Man hätte keinen besseren Augenblick wählen können, um daran zu erinnern, dass das französische Brasilien und das französische Florida mehr als bloße Hirngespinste waren. Natürlich war es nicht mehr an der Zeit, Besitzansprüche auf diese weit entfernten Gegenden anzumelden, die seitdem von konkurrierenden Mächten in Besitz genommen worden waren. Wenigstens aber konnte man ein Recht auf die Erinnerung und das Nachempfinden geltend machen. Die Zwischenkriegszeit nach der Erschütterung durch den ersten weltweiten Konflikt ist von der Abschwächung dieses guten Gewissens und, damit einhergehend, vom Aufkommen der Ethnologie geprägt. Aus dieser Zeit stammen die beiden grundlegenden Studien von Alfred Métraux, Die materielle Kultur der Tupi-Guarani-Stämme, sein Hauptwerk, und Die Religion der Tupinamba.5 Der Versuch, eine verlorene Welt wiederaufleben zu lassen, hat im darauffolgenden Jahrzehnt durch Métraux in der Herausgabe und der Untersuchung von bislang vernachlässigten Zeugnissen seine Fortsetzung gefunden, namentlich die unveröffentlichten Manuskripte von André Thevet, darunter die Geschichte zweier Reisen nach Ost- und Westindien (Histoire de deux voyages dans les Indes Australes et Occidentales).
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Paul Gaffarel: Histoire de la Floride française, Paris: Firmin Didot 1875; Histoire du Brésil français au seizième siècle, Paris: Maisonneuve 1878. Alfred Métraux: La Civilisation matérielle des tribus Tupi-Guarani, Paris: Paul Geuthner 1928; La Religion des Tupinamba et ses rapports avec celle des autres tribus Tupi-Guarani: Paris: Ernest Leroux 1928.
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Atkinson und die geographische Literatur Die literaturgeschichtliche Studie von Geoffroy Atkinson mit dem Titel Die neuen Horizonte der französischen Renaissance (Les Nouveaux Horizons de la Renaissance française), die 1935 bei Eugénie Droz veröffentlicht wurde, kann man aus heutiger Sicht als zu eingeschränkt positivistisch ausgerichtet und insofern als schwer zu benutzen ansehen, als die zahlreichen Zitate, die sie beinhaltet, nicht nur in ihrer ursprünglichen Orthographie, sondern auch in ihrer ursprünglichen Syntax und Lexik wiedergegeben wurden. Im Übrigen verweist schon der Titel des Buchs auf seine Grenzen: Es geht darum, das geographisch Neue auf das rechte Maß zu beschneiden, d.h. auf seine durchaus nachrangige Bedeutung im Feld der humanistischen Neugier. Im 16. Jahrhundert übt, so gibt uns Atkinson zu verstehen, der legendäre Orient der Fabeln und der Kreuzzüge mehr Reiz auf die Franzosen aus als Westindien, über das verwirrende und lange Zeit wenig verlockende Gerüchte im Umlauf sind. Gilbert Chinard hatte von 1911 an die exotische Literatur, die die Neue Welt betrifft, erforscht und bei seinen Sondierungen gleich eine Reihe glücklicher Funde gemacht.6 Er war es beispielsweise, der den Ursprung von Mntaignes Essai »Von den Kannibalen« auf die Neue Geschichte der Neuen Welt (Histoire nouvelle du Nouveau Monde) von Girolamo Benzoni zurückführte, die 1579 von dem Genfer Pastor Urbain Chauveton ins Französische übersetzt wurde. Methodisch kohärenter, aber weniger inspiriert in seinem Vorgehen weitet Atkinson die Untersuchung auf den ganzen Umkreis der »neuen Horizonte« aus und versucht, den Ort, den Amerika in der Herausbildung eines exotischen Imaginären in Europa einnimmt, zu bestimmen. Ein syptomatischer Satz Atkinsons zu diesem Thema lautet: »Was für viele Autoren der Antike und sogar noch für den Humanisten Thomas Morus eine bloße Imaginationsübung war, wurde von der geographischen Literatur zunächst einmal zur Tatsache erklärt.«7
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Gilbert Chinard: L’Exotisme américain dans la littérature française au XVIe siècle, Paris: Hachette 1911. Geoffroy Atkinson: Les Nouveaux Horizons de la Renaissance française, Paris: Droz 1935, S. 138.
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Atkinson hat mit dieser Aussage zugleich Recht und Unrecht. Recht hat er insofern, als die Beschreibung der nackten Völker ohne Glaube, Gesetz und Herrscher auf bereits bestehende Schemata zurückzuführen ist, wie z.B. den Mythos des Goldenen Zeitalters, des irdischen Paradieses, des Schlaraffenlandes, der tierra de Jauja8, ganz zu schweigen von den utopischen Projektionen, die aus Platons Staat stammen. Es gab zweifellos eine Erwartungshaltung in Bezug auf die unbekannten Welten, und diese Erwartungshaltung hat ihr Objekt präformiert. Unrecht hat Atkinson aber, indem er monumentale Werke als rohe Dokumente ansieht, ohne Rücksicht auf ihre ideologische Funktion und ihren literarischen Stellenwert zu nehmen. Was ist eigentlich diese »geographische Literatur«, an der Atkinson festhält, Anderes als eine Kategorie in der alles untergebracht werden kann und die vor heterogensten Materialien überquillt? Man findet dort zugleich Zeitungen und Reiseberichte, Briefe, Kapitel aus Enzyklopädien, d.h. aus den Kosmographien, sowie Miszellen – Werke also, die teils aus dem Bereich der Literatur stammen und teils ganz technischer Natur sind: Neben »Deklamationen« wie dem Essai »Von den Kannibalen« von Montaigne oder dem anonymen Werk Die Torheit (La Pazzia)9 stehen die Wegbeschreibungen und die roteiros, Navigationsanweisungen und andere Handbücher für Piloten. Das Auftauchen dessen, was man, verallgemeinernd gesprochen, den Mythos vom Edlen Wilden nennt, hat selbstverständlich nicht die gleiche Bedeutung, wenn man ihm in einem paradoxen Lob wie in La Pazzia begegnet, die selbst das Lob der Torheit von Erasmus imitiert, oder in der Geschichte einer Reise in das Land Brasilien (Histoire d’un voyage faict en la terre du Bresil) von Jean de Léry. Das goldene Zeitalter löst in einem elegischen Gedicht wie Ronsards Klage über
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A.d.Ü.: Jauja ist eine Stadt und Provinz in Peru, aufgrund deren milden und fruchtbaren Klimas die Region im 16. Jahrhundert als irdisches Paradies galt, wie dies von zahlreichen spanischsprachigen Theaterstücken und Gedichten verbreitet wurde, wie etwa einem ›paso‹ von Lope de Rueda mit dem Titel La tierra de Jauja. Das Werk wird Ascanio Persio, einem Schüler Bernis, oder Vianezio Albergati zugeschrieben, der ihm vielleicht auch als Vorbild gedient hat. Vgl. Patrick Dandrey: L’Éloge paradoxal de Gorgias à Molière, Paris: P.U.F. 1997, S. 102.
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das Schicksal (Complainte contre Fortune) und einer auf einer Reise beruhenden Kosmographie wie Die Einzigartigkeiten des antarktischen Frankreich (Les Singularitez de la France Antarctique) von André Thevet aus dem Jahr 1557 nicht den gleichen Nachhall aus. Die Fiktion sprechender Tiere, insbesondere der logisch denkenden Auster, die sich in Giovanni Battista Gellis Circe lang mit Odysseus unterhält,10 nimmt eine ganz andere Bedeutung an, wenn sie in den Reisebericht Jean de Lérys aufgenommen wird, dessen Name in der TupiSprache ›Auster‹ bedeutet.11 Diese schnell zusammengesuchten Beispiele zeigen bereits, dass man zumindest über den Schnittpunkt von moralischer und geographischer Literatur in der Renaissance nachdenken müsste – und natürlich auch danach, zumindest bis ins Jahrhundert der Aufklärung. Das Thema der dignitas hominis, das besonders zur Wanderung und zur Aufpropfung neigt, könnte ein gutes Beispiel sein, das die unsicheren Grenzen bezeugen könnte, die um den vagen Begriff der »geographischen Literatur« gezogen werden. Dass die Reisen und die Gemeinplätzen der Moralphilosophie sich die anthropologische Frage teilen, mahnt zur Vorsicht gegenüber vorschnellen Schlussfolgerungen, die man aus der Fortschrittlichkeit oder aber der Rückständigkeit eines bestimmten Bewusstseins ziehen zu können glaubt, wenn es um die Beobachtung und Beurteilung anderer Gesellschaften geht. Da er diese auf dem Text beruhenden Gattungs- und sogar Stilfragen vernachlässigt, schließt Atkinson seine Überlegungen im Manichäismus einer Opposition zwischen einem früheren und einem späteren Zustand ein, zwischen dem Obskurantismus der Vergangenheit und der Aufklärung der Zukunft. Die geographische Literatur lässt sich von da aus in ihrer Gesamtheit betrachten und ohne jede Verknüpfung mit der nicht-geographischen Literatur in Erneuerer und
10 Giovanni Battista Gelli: La Circé de M. Giovan Baptista Gello, Academic Florentin: nouvellement mis en Françoys par le Seigneur Du Parc, Champenois [d.h. Denis Sauvage], Lyon: G. Rouillé 1550. 11 Jean de Léry: Histoire d’un voyage faict en la terre du Bresil (1578), kritische Ausgabe v. Frank Lestringant, Paris: LGF (»Bibliothèque classique«) 1994, Kap. XVIII, S. 451. Zum Vergleich mit Gellis Circé vgl. Frank Lestringant: »L’Oisiveté du sauvage«, in: Marie-Thérèse Jones Davies (Hg.): L’Oisiveté à la Renaissance, Paris: Klincksieck 2001, S. 209232.
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Verspätete unterteilen. Man wird Verständnis dafür haben, dass ich es Atkinson niemals verziehen habe, unseren französischen Kosmographen André Thevet zu letzteren gezählt zu haben.12 Unterm Strich ist fast der einzige Gewinn, den man heute noch aus Atkinson ziehen kann, sein bibliographisches Verzeichnis, das aber wegen seiner willkürlichen Grenzziehungen ebenfalls unbefriedigend bleibt.13 Dieses Verzeichnis beschränkt sich faktisch auf die Bücher, die im Laufe des 16. Jahrhunderts in französischer Sprache publiziert werden und schließt das Lateinische sowie das Italienische aus, das die Gelehrten oder auch nur Halbgelehrten zu dieser Zeit ohne Probleme praktizierten, und berücksichtigt auch nicht die Zirkulation von Manuskripten, der in diesem Bereich von beträchtlicher Bedeutung war.
Dainville und die Missionswissenschaft Eine weitaus bedeutendere Studie ist kurz Zeit später in einem völlig unterschiedlichen geistesgeschichtlichen Kontext herangereift: Die Geographie der Humanisten des Jesuitenpaters François de Dainville ist 1940 und somit nur fünf Jahre nach Atkinsons Les Nouveaux Horizons erschienen.14 Um die vorgefertigten Kriterien Atkinsons zu verwenden, könnte man behaupten, dass dieses Buch für seine Zeit tatsächlich eine große Innovation darstellte – im Vergleich dazu erscheint der laizistisch gesinnte Atkinson selbst als bloßer Nachzügler. Zwar verfällt Dainville wohl bisweilen der Versuchung der Hagiographie: Der Gebrauch des Ausdrucks ›Humanisten‹ im Titel des Werks kann als leicht irreführend angesehen werden, denn dieser Humanismus ist ein christlicher Humanismus, wie er in den Jesuiten-
12 Atkinson: Nouveaux Horizons, S. 289-297: »Un attardé: André Thevet«. A.d.Ü: Es sei an dieser Stelle auf Frank Lestringants zahlreiche Editionen und Studien zu Thevet verwiesen, die ganz wesentlich dazu beigetragen haben, Thevet vom Makel des ›Epigonen‹ zu befreien; vgl. vor allem L’Atelier du cosmographe, ou l’image du monde à la Renaissance, Paris: Albin Michel (»Bibliothèque de synthèse«) 1991. 13 Geoffroy Atkinson: La Littérature géographique française de la Renaissance: répertoire bibliographique, Paris: A. Picard 1927. 14 François de Dainville, S.J.: La Géographie des humanistes, Paris: Beauchesne 1940 (Reprint Genf: Slatkine 1969).
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schulen gelehrt wurde, denen das Buch im Wesentlichen gewidmet ist. Diese Geographie der Humanisten, die in allererster Linie eine »Geographie der Lehrer der Societas Jesu« ist, ist dennoch sehr verdienstreich. Auch wenn die Affäre um Galilei dort in einer heutzutage unangemessenen Weise dargestellt wird und auch wenn Dainville sich der daraus resultierenden intellektuellen Vorsicht jahrzehntelang rühmt,15 kann man doch seinem Versuch nicht den Vorwurf der engen Eingrenzung und der kurzsichtigen teleologischen Perspektive machen, die die bestimmenden Züge von Atkinsons Studie darstellen. Als Wissenshistoriker und Pionier der Geschichte der Pädagogik, wie dies die Studien in dem posthum veröffentlichten Band Die jesuitische Erziehung bezeugen,16 stellt Dainville die Geographie, und zwar ohne Privilegierung einer bestimmten Sprache, in den Zusammenhang der humanistischen Disziplinen, wo sie eine zwar bescheidene, aber doch notwendige und im Laufe der Zeit immer deutlicher behauptete Rolle spielt. Lange Zeit war die Geographie in der Tat eine dienende Wissenschaft und eine Hilfsdisziplin der Geschichte, der sie vor allem als Gedächtniskunst diente. Man denke nur an den Brief Gargantuas an seinen Sohn Pantagruel, der in Paris studiert, und an diese aufschlussreiche Empfehlung: »Die Historie musst du unbedingt vollständig im Gedächtnis haben, wozu dir die Kosmographien derer, die darüber geschrieben, von Nutzen sein werden.«17 Die Geographie ist mit der Geschichte im Bunde, liefert ihr eine Grundlage und ein Fundament, und sie verfolgt wie auch die Geschichte ein moralisches Ziel. Es gehört zu den Verdiensten Dainvilles, diese Verbindung und dieses Ziel in Erinnerung gerufen zu haben. Vor allem umreißt Dainville durch das Studium der Missionswissenschaft – ein Gegenstand, zu dessen Verständnis er beigetragen hat – den anthropologischen Rahmen, in dem sich das europäische Denken des 16. Jahrhunderts bewegt: Es handelt sich um einen
15 Vgl. meine Bemerkungen dazu in: L’Atelier du cosmographe ou l’image du monde à la Renaissance, Paris: Albin Michel 1991, S. 42. 16 François de Dainville, S.J.: L’Éducation des jésuites (XVIe-XVIIIe siècles), Paris: Éditions de Minuit 1978. 17 François Rabelais: Pantagruel, Kap. VIII, in: Ders.: Œuvres complètes, hg. v. Mireille Huchon, Paris: Gallimard (»Bibliothèque de la Pléiade«) 1994, S. 244. Dt. Übersetzung: Gargantua und Pantagruel, a.d. Frz. v. Edith u. Horst Heintze, Frankfurt a.M.: Insel, Bd. 1, S. 219.
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Rahmen, den der Jesuit José de Acosta für lange Zeit in seinem Traktat De promulgatione Evangelii apud Barbaros sive de procuranda Indorum salute von 1588 abgesteckt hatte, und der die berühmte Dreiteilung enthält, derzufolge man bei den zu evangelisierenden Völkern unterschied zwischen den Zivilisierten wie den Japanern oder Chinesen, den einfachen Barbaren wie den Azteken und den Mayas und den Wilden, die in ihrem heimischen Urwald herumirrten, wie es die Etymologie des Wortes besagt.18 Jeder dieser Stufen entspricht eine geeignete Evangelisierungsmethode: Sanftheit und Überzeugungskraft für erstere, anfängliche Gewalt, gefolgt von einer autoritären und aufmerksamen Pädagogik für zweitere, und schließlich der physische und geistige Zwang für letztere, auf die in ganzer Strenge die Lehre aus dem Evangelium anzuwenden ist: compelle eos intrare (»Zwinge sie einzutreten«).19 Diese Dreiteilung zieht das Dogma von der Einheit des Menschengeschlechts jedoch in keiner Weise in Zweifel. Sie erstellt nur eine Genealogie der Völker und eine sich über sehr lange Zeiträume erstreckende Chronologie ihrer Verbreitung über die bewohnte Erde. Die barbarischsten Völker sind die jüngsten, wie es das Beispiel Amerikas zeigt, des ›jüngsten‹ der vier bekannten Kontinente. Man spricht in diesem Zusammenhang von der »acostianischen Revolution«.20 Trotzdem stellte der spanische Historiker und Missionsforscher eine Art universeller Typologie auf, in die über kurz oder lang das ganze große Spektrum der menschlichen Unterschiede aufgenommen werden konnte. Dieses anthropologische Raster, das den zweckgerichteten und natürlich auch durchaus interessierten Gebrauch, den die jesuitischen Missionare davon machten, durchaus übersteigt, gehorcht genau bestimmten Zwecken. Es orientiert die ganze Menschheit in Richtung auf die Bekehrung zum Christentum. Es unterwirft die Verschiedenheit einer Einheit des Grundes und des Ziels. Allerdings sind diese Prinzipien und diese Teleologie, die Dainville ganz offensichtlich überhaupt nicht in Frage stellt oder kritisch prüft, die der von ihm
18 A.d.Ü.: Der Etymologie nach kommt sauvage von spätlat. salvaticus, d.h. im Wald lebend/Waldbewohner. 19 Dainville: Géographie, S. 150-152. 20 Giuliano Gliozzi: Adamo e il nuovo mondo, Florenz: La Nuova Italia 1977, S. 371ff, insbes. S. 378-381.
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untersuchten Epoche, und so liegt in seiner Analyse kein Anachronismus. In ihrem Drang nach Vereinheitlichung und Eroberung ist diese christliche Anthropologie, die die deskriptiven Mittel in den Dienst der Evangelisierung stellt, nicht die einzige, deren Aufblühen der Herbst der Renaissance beobachten konnte. Man kann sie derjenigen Anthropologie gegenüberstellen, die zur gleichen Zeit Montaigne entwirft, beispielsweise im Kapitel »Über die Gewohnheit und dass man ein überkommenes Gesetz nicht leichtfertig ändern sollte« (»De la coustume et de ne changer aisément une loy receüe«) seiner Essais21 und die dem Unterfangen der Missionierung von vornherein zuvorzukommen und es zu lähmen scheint – zumindest aber dämpft es in starkem Ausmaß seinen Antrieb und seine Aussichten auf Erfolg. Diese Anthropologie, die sich auf der Förderung des Individuums als einzigem Kriterium und einziger Norm gründet, vermischt absichtlich die verschiedenen kulturellen Stufen, die Acosta so sorgsam unterschied. So neigt Montaigne im Kapitel »Über Wagen« (»Des coches«) dazu, die nackten Völker in Brasilien – »wie meine Kannibalen mir bezeugten« – und die Hochkulturen Mexikos und Perus auf eine Stufe zu stellen.22 Das Bild einer »ganz nackt im Schoß ihrer Nährmutter Natur« liegenden Welt, die »allein aus deren Brust« lebt, erhellt in seiner Verdichtung aufs Schönste diese Art und Weise, die ethnischen und historischen Differenzen im Traum eines verlorenen Goldenen Zeitalters und in der Nostalgie einer getöteten Kindheit zu verschmelzen und aufzulösen.23 Es ist keineswegs ein Zufall, dass Montaigne seit einem halben Jahrhundert ein sehr großes Echo sowohl bei den Historikern als auch bei den Anthropologen findet.
21 Michel de Montaigne: Essais, I, 23, hg. v. Pierre Villey, Paris: P.U.F. 1965, S. 108-123. Dt. Übersetzung: Essais, a.d. Frz. v. Hans Stilett, Frankfurt a.M.: Eichborn 1998, S. 60-68. 22 Montaigne: Essais, III, 6, S. 898-915. Dt. Übersetzung: S. 450-459. 23 Ebd., S. 908. Dt. Übersetzung, S. 456. Für eine Analyse dieses Kapitels vgl. Frank Lestringant: »L’Amérique des ›Coches‹, fille du Brésil des ›Cannibales‹: Montaigne à la rencontre de deux traditions historiques«, in: Actes du colloque ›Montaigne et l'Histoire‹, hg. v. Claude-Gilbert Dubois, Paris: Klincksieck 1991, S. 143-160.
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Charles-André Julien oder die Kolonisierung auf der Anklagebank der Geschichte Unmittelbar nach Ende des Zweiten Weltkriegs gründete und leitete Charles-André Julien bei den Presses Universitaires de France eine Reihe, die den unglücklichen Titel »Klassiker der Kolonisierung« trug und ein höchst ehrgeiziges Programm von historischen Studien und Texteditionen präsentierte. Dieses gerade einmal begonnene und 1958, offensichtlich wegen der überseeischen Ereignisse wieder unterbrochene Programm ermöglichte dennoch die ersten wissenschaftlichen Editionen der Texte Thevets über Brasilien24 sowie von Ribault, Laudonnière, Le Challeux und Gourgues über Florida25 durch Suzanne Lussagnet, die Nichte von Charles-André Julien. Als aktiver und langjähriger Sozialist, Vertreter der Mehrheit beim Kongress von Tours26 und eifriger Verfechter der Dekolonisierung, bereicherte CharlesAndré Julien selbst die Reihe im Jahr 1948 um einen historiographischen Band, der den Entdeckungsreisen und den ersten Niederlassungen gewidmet war.27 Dies war der erste Baustein zu einer folgenlos gebliebenen Kolonialgeschichte, die es sich zur Aufgabe gemacht hatte, mit dem Chauvinismus eines La Roncière zu brechen, dem Autor einer denkwürdigen Geschichte der französischen Marine,28 in der
24 Les Français en Amérique pendant la deuxième moitié du XVIe siècle. I. Le Brésil et les Brésiliens par André Thevet, Einleitung v. Charles-André Julien, Textauswahl u. Anmerkungen v. Suzanne Lussagnet, Paris: P.U.F. 1953. 25 Les Français en Amérique pendant la deuxième moitié du XVIe siècle. II. Les Français en Floride. Textes de Jean Ribault, René de Laudonnière, Nicolas Le Challeux et Dominique de Gourgues, Einleitung v. CharlesAndré Julien, Textauswahl u. Anmerkungen v. Suzanne Lussagnet, Paris, P.U.F. 1958. 26 A.d.Ü.: Kongress der französischen Sektion der Arbeiter-Internationale (Section française de l’Internationale ouvrière) im Jahr 1921, bei dem eine Spaltung zwischen der Mehrheitsfraktion der SFIC, der zukünftigen kommunistischen Partei, und der Minderheitsfraktion SFIO um Léon Blum stattfindet. 27 Charles-André Julien: Les Voyages de découverte et les premiers établissements (XVe-XVIe siècles), Paris: P.U.F. 1948. 28 Charles de La Roncière: Histoire de la marine française, Paris: Plon 19091932, 6 Bde. (Originalausgabe 1899-1920).
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noch der laute Ruf unserer Siege und die trauernde Klage über die französischen Niederlagen nachklangen. Die Schwächen Juliens sind die Kehrseite seiner Stärken. Er war zwar vor allem Historiker, aber auch engagierter Politiker und konnte sich nicht verkneifen, in »Des Coches« eine »Anklage gegen die Kolonisierung«29 zu sehen – eine Einschätzung, die vor kurzem ohne jede Vorsicht die Herausgeberin einer Anthologie der Essais in der Reihe »Pocket Classiques«30 übernommen hat. Allerdings passiert es nicht zum ersten Mal, dass Montaigne für eine Angelegenheit in Dienst genommen wird, die er selbstverständlich nicht vorhersehen konnte. Julien besitzt wenigstens ein Gespür für Nuancen. Er hütet sich davor, aus Montaigne schlicht und ergreifend einen Gegner der Kolonialherrschaft zu machen. Im Gegenteil verdient Montaigne nach Julien »durch die großzügigen und neuen Ideen, die er hervorgebracht hat, einen besonderen Platz unter den Schriftstellern der Kolonialzeit«.31 Wenn der Autor der Essais den Geiz und die Brutalität der Konquistadoren verurteilt, wie dies auch Julien mit den Großunternehmen seiner Zeit in Afrika und in Indochina tut, dann hat er damit keineswegs die Vorherrschaft Europas in der Welt zurückgewiesen. Das Problem liegt darin, dass Europa sich als »schlechter Erzieher«32 erwiesen hat. Indem er von Alexander dem Großen bei der Eroberung Mexikos träumte und von den alten Griechen und Römern, die »ihre stoischen Tugenden« mit den »in dem Lande beheimateten« mischen, entwarf Montaigne in den Augen von Julien in Wirklichkeit »eine Politik der stufenweisen und friedlichen Vervollkommnung«.33 Dergestalt war die großzügige Illusion, die nach dem Ende des letzten Kriegs und vor der grausamen Ernüchterung im darauf folgenden Jahrzehnt bestimmte Linksintellektuelle immer noch hinsichtlich der zivilisatorischen Rolle Frankreichs hegten. Wenn er sich auch bezüg-
29 Julien: Voyages de découverte, S. 424-429. 30 Michel de Montaigne: Essais, textes choisis, hg. v. Marie-Madeleine Fragonard, Paris: Pocket (»Pocket Classiques«) 1998, S. 432: »eine Anklage gegen den Kolonialismus, die ihresgleichen sucht, und zu einer Zeit, in der die Vorstellung von der Relativität der Sitten bei weitem nicht überall in der Welt verbreitet war«. 31 Julien: Voyages de découverte, S. 430. 32 Ebd., S. 427. 33 Ebd., S. 428.
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lich der Gegenwart irrte – und wer würde ihm heute diese Blindheit nicht verzeihen –, so schätzte Julien Montaigne und sein Jahrhundert doch weitgehend richtig ein, als er bemerkte, dass der Autor der Essais, weit davon entfernt, nur die Spanier zu verurteilen, »der ganzen Christenheit eine Komplizenschaft bei den Verbrechen attestiert, deren Opfer die Indianer werden, entweder durch ihr Handeln oder durch ihr Schweigen«. Und er fügte diese hellsichtige Schlussfolgerung mit damals sehr aktuellen Konnotationen hinzu: »Letztlich erklärt er die Unwürdigkeit und das Versagen der europäischen Kultur«.34 Eine weitere Beschränkung der Vorhabens von Julien, die mit de historischen Umständen seiner Entstehung zusammenhängt, ist folgende: Der vornehmliche und fast ausschließliche Rückgriff auf französische Archivquellen führt zu widersinnigen Behauptungen oder zu interpretatorischen Irrtümern, besonders im Hinblick auf die Unternehmungen von Ribault und Laudonnière in Florida und von Chauvin de Tonnetuit auf der île de Sable vor Neufundland. Auf diese Irrtümer ist vor kurzem Hélène Lhoumeau gestoßen, die das Archiv von Simancas zu Florida ausgewertet hat,35 und bereits zuvor von Marcel Trudel in seiner monumentalen Geschichte Neu-Frankreichs, die sich ebenso aus angelsächsischen wie auch französischen Quellen speist.36
34 Ebd. 35 Hélène Lhoumeau: Les Expéditions françaises en Floride (1562-1568) (thèse pour le diplôme d'archiviste paléographe), Paris: École des chartes 2000; ausführliche Zusammenfassung in dem Band: Positions des thèses soutenues par les élèves de la promotion de 2000, Paris: École des chartes 2000, S. 213-223. 36 Marcel Trudel: Histoire de la Nouvelle-France, Bd. 1: Les Vaines tentatives 1524-1603; Bd. 2: Le Comptoir 1604-1627, Montréal et Ottawa: Fides 1963/1966. Vgl. insbes. Les Vaines Tentatives, S. 229, zur Identifizierung der île de Sable.
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Das Ende der Kolonialzeit war mit den grundsätzlichen Fragen, die es aufgeworfen hat, ausgesprochen fruchtbar für anthropologische Überlegungen. Wir sind damit in der letzten bzw. vorletzten Phase angekommen, derjenigen des Zweifels und des Schuldbewusstseins, wie sie Claude Lévi-Strauss in seiner Antrittsvorlesung im Januar 1960 so treffend beschreibt. Die Geburt und die Entwicklung der Anthropologie, befindet Lévi-Strauss in seinem Fazit, gingen einher mit […] einer Bewusstwerdung – fast einer Reue [so der Redner in einem Einschub, F.L.] – über die Tatsache, dass die Menschheit so lange Zeit sich selbst entfremdet bleiben konnte; und vor allem, dass jener kleine Teil der Menschheit, der die Anthropologie hervorgebracht hat, eben jener ist, der so viele andere Menschen zu einem Gegenstand der Verachtung und des Abscheus gemacht hat.37
Selbstbezichtigung und öffentliche Geißelung führen über die Distanz von vier Jahrhunderten hinweg die Anklage fort, die Montaigne in seinen Essais am Ende des Kapitels »Über Kutschen« beschreibt, und bringen sie somit zum Abschluss. Die Anklage bekommt heute durch die vergangenen vier Jahrhunderte Kolonialgeschichte, die so gleichzeitig ihren Epilog erfahren, noch mehr Gewicht. Dieser bußfertige Unterton geht Hand in Hand mit dem Trauma der beiden Weltkriege, deren Erschütterung in der ganzen Welt durch die überall geführten Befreiungskriege immer aufs Neue widerhallt, von Indochina über Kuba bis Algerien. Das daraus resultierendes Gefühl der Reue und die tiefe Melancholie, die daraus hervorgeht und unversehens der Anthropologie selbst das Misstrauen ausspricht, hat es wohl seit der Zeit, die wir Renaissance nennen und die für große Teile der Welt ein katastrophales Jahrhundert war, nicht gegeben. Das postkoloniale Zeitalter holt so die Epoche der brutalen Eroberung wieder ein, als schließe sich durch das gleiche Bußritual eine lange, desaströse und blutige Klammer.
37 Lévi-Strauss: Anthropologie structurale II, S. 43. Dt. Übersetzung: Strukturale Anthropologie II, S. 43.
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Lévi-Strauss als Leser von Montaigne und Léry Wieder erlaubt es Montaigne, die Krise zu denken. Kein Zufall also, wenn ihm Claude Lévi-Strauss in einem seiner letzten Bücher, der 1991 veröffentlichten Luchsgeschichte, die Ehre erweist. Dort meditiert der Anthropologe, der damit für sich selbst dem fünfhundertsten Jahrestag von Kolumbus’ erster Reise gedenkt, über die ›Begegnung‹ zwischen den zwei Welten, wie man sich heute jenseits des Atlantiks auszudrücken pflegt. In der Apologie des Raimundus Sebundus, beobachtet Lévi-Strauss, »treibt Montaigne den Kulturrelativismus bis in sein Extrem, wenn er leugnet, dass es bestimmte ›feste, ewige und unwandelbare Gesetze […]‹ gibt, ›die dem Menschengeschlecht durch die Verfassung seines eigenen Wesens eingeprägt sind.‹«38 Sowohl in der Ordnung der Natur als auch in der Ordnung der Kultur haben wir »keinerlei Anteil am Sein«. Dieser Relativismus, den Montaigne »bis zum philosophischen Nihilismus«39 treibe, werde durch die Vielfalt der Bräuche und des Glaubens illustriert; er diene letzten Endes dazu, »der Vernunft selbst den Prozess zu machen«.40 Diese Kritik stößt jedoch an eine Grenze, nämlich die »Gewissheit durch den christlichen Glauben und die göttliche Gnade«, vor deren Überschreitung sich Montaigne sehr wohl hütet. Montaignes Antwort schließt sich somit derjenigen des spanischen Jesuiten José de Acosta an. Allein »unser alter Glaube«, nämlich der römische Katholizismus, kann den Schwindel ausgleichen, der durch die Auseinandersetzung mit fremden Bräuchen entsteht. Dieses Bekenntnis zu den transzendenten Wahrheiten des christlichen Glaubens hat aber viel von der Inbrunst und der Energie, wie man sie bei Acosta unbestreitbar feststellen kann, verloren. Der Montaigne, in dem die Anthropologie des 20. Jahrhunderts gern einen ihrer Vorläufer sehen möchte, ist in Wirklichkeit ein verweltlichter Montaigne, als hätte man ihm diesen letzten, aber sicheren Ankerpunkt des Glaubens herausgerissen. Dieser Montaigne, dessen
38 Claude Lévi-Strauss: Histoire de lynx, Paris: Plon 1991, S. 284. Dt. Übersetzung: Die Luchsgeschichte, a.d. Frz. v. Hans-Horst Henschen, Frankfurt a.M.: Suhrkamp 2004, S. 229. 39 Ebd., S. 285. Dt. Übersetzung: S. 230. 40 Ebd., S. 281: Dt. Übersetzung: S. 227.
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Nominalismus jeglichen Anspruch der Vernunft und damit des Moralgesetzes auf Allgemeinverbindlichkeit untergräbt, ist der Montaigne für unsere Zeit, den ein Claude Lévi-Strauss, wenn auch nicht ohne Nuancen und vorsichtiges Abwägen, zu entwerfen versucht, und in dem er einen Meister des Skeptizismus zu erkennen geneigt ist, einen Anhänger der intellektuellen Schizophrenie, die, heute mehr als je zuvor, in jedem Wissenschaftler die Erkenntnis vom Handeln trennt. Der Autor des 16. Jahrhunderts, mit dem sich Lévi-Strauss am engsten anfreundet, ist dennoch nicht Montaigne, sondern Jean de Léry, der »Montaigne unter den Reisenden«, um einen Ausspruch von Paul Gaffarel aufzunehmen. Die Geschichte einer Reise in das Land Brasilien war für Lévi-Strauss ein wahres Brevier, das »Brevier des Ethnologen«. Die berühmte Formulierung – die auch ein bisschen komisch ist, wenn man sich’s recht überlegt, denn es handelt sich ja um einen protestantischen Autor – findet sich zu Beginn der Traurigen Tropen, die in gewisser Weise ein Palimpsest von Lérys Text sind.41 In seiner Antrittsvorlesung am Collège de France drückte LéviStrauss abschließend folgendes Bedauern aus: Wie kommt es, dass die Ethnographie keinen Platz erhalten hat, als sie noch jung war und die Tatsachen ihren Reichtum und ihre Frische bewahrten? Denn man könnte sich vorstellen, dass dieser Lehrstuhl schon im Jahre 1558 eingerichtet worden wäre, als Jean de Léry nach seiner Rückkehr aus Brasilien sein erstes Werk verfasste und als die Singularitéz de la France antarctique von André Thevet erschienen.
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Die Jugend und Frische der Welt zur Zeit Lérys, wie bei einem Neuanfang, der sein Versprechen nicht gehalten hat; die Jugend einer Disziplin, die gerade erst an den gegenüberliegenden Ufern des Atlantiks aus dem Ei geschlüpft war und noch keinen Namen erhalten hatte: Die rückblickende Illusion ist so nachdrücklich, dass sie Leben und Werk
41 Claude Lévi-Strauss: Tristes Tropiques, Paris: Plon 1955, Kapitel IX, S. 89. Dt. Übersetzung: Traurige Tropen, a.d. Frz. v. Eva Moldenhauer, Frankfurt a.M.: Suhrkamp 2003, S. 71. 42 Lévi-Strauss: Anthropologie structurale II, S. 43. Dt. Übersetzung: Strukturale Anthropologie II, S. 42. Thevets Singularités wurden tatsächlich bereits in den letzten Monaten des Jahres 1557 veröffentlicht.
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des Anthropologen heimsucht. Sie findet sich in ihrer ganzen Ausdruckskraft in dem von Dominique-Antoine Grisoni geführten Interview wieder, das als Vorwort für die französische Taschenbuchausgabe der Geschichte einer Reise in das Land Brasilien dient: [D]ie Lektüre von Léry hilft mir dabei, meinem Jahrhundert zu entkommen, um wieder den Kontakt aufzunehmen mit etwas, das ich »sur-realité« (ÜberRealität) nenne – es handelt sich dabei aber nicht um das, wovon die Surrealisten sprechen: Es geht um eine Realität, die noch realer ist, als die, deren Zeuge ich bin. Léry hat Dinge gesehen, die unschätzbar sind, weil man sie zum ersten 43
Mal sah und weil das jetzt 400 Jahre her ist.
Am Ende der Reise, in diesem nachträglichen Blick zurück auf die längst vergangene Idylle unter den Indianern, fühlt sich Lévi-Strauss am stärksten an Léry erinnert, der sich seinerseits zurückerinnert und schon bedauert: »Ich bedaure es oft, dass ich nicht mitten unter den Wilden bin […].«44 Es ist ein Vertrauen ohnegleichen in der Reiseliteratur des 16. Jahrhunderts, selbst wenn man es nicht aus seinem moralischen und polemischen Kontext herauslösen kann. Léry ging es darum, über den Umweg des noch weiter Entfernten und noch Barbarischeren die Undankbarkeit des Vaterlandes anzuprangern. Mit seiner schroffen Formulierung macht Jean de Lérys »Bedauern« am Ende jedoch den Weg frei für eine höchst fruchtbare philosophische Zukunft, die auch Traurige Tropen umfasst. In dem Maß, in dem Lévi-Strauss’ nachfolgendes Werk von der Geschichte einer Reise den unergründlichen Teil der Trauer erbt, nimmt es das Bußritual dort wieder auf, wo das erste Werk stehen geblieben war, und weitet es aus, nährt es mit aller Bitterkeit des postkolonialen schlechten Gewissens.
43 Claude Lévi-Strauss: »Sur Jean de Léry«, Vorwort zu Jean de Léry, Histoire d’un voyage faict en la terre du Bresil, hg. v. Frank Lestringant, Paris: LGF (»Bibliothèque classique«) 1994, S. 13. 44 Léry: Histoire d’un voyage, Kap. XXI, S. 508.
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Die Renaissance erneuern: Von Lévi-Strauss zu Pierre Clastres Genau genommen lädt Lévi-Strauss im Fazit seiner Antrittsvorlesung im Jahr 1960 nicht nur dazu ein, »Buße für die Renaissance zu tun«, sondern ebenso dazu, sie »zu erneuern«, um, wie er hinzufügt, »den Humanismus auf den Maßstab der Menschheit auszudehnen«45. Fünf Jahre zuvor hatten seine Überlegungen der Traurigen Tropen die Renaissance in ihrer großzügigsten Form erneuert. Das eine ist nicht möglich ohne das andere. Sollte man für die Verbrechen der Renaissance tatsächlich büßen müssen, so muss man sie auch in ihrem vornehmsten Sinn aktualisieren und diesen Gewinn für alle Menschen zugänglich machen. Und wenn es nur dazu diente, dass die lange Geschichte der Kriege und der Verkennungen nicht ganz umsonst gewesen ist – die Buße muss Hand in Hand gehen mit einer Erneuerung. Deshalb wirft das Wiederlesen der großen Texte des 16. Jahrhunderts uns immer wieder auf unsere Gegenwart zurück. Ich werde damit beginnen, ein scheinbar anekdotisches Beispiel vorzustellen, nämlich die Episode der »Verbindungsstifter« (»Allianciers«) im Vierten Buch46 von Rabelais. In diesen Allianzen, wie derjenigen zwischen Handgriff und Axt, Auster und Schale, Peitsche und Kreisel, Furz und Blähung, die sich über die natürliche Ordnung hinwegsetzen und die Vererbungsgesetze zu verschmähen scheinen, um ihre alleinige Begründung in der Sprache zu finden, hat Lévi-Strauss gewitzt eine Präfiguration der strukturalen Anthropologie sehen wollen. Bereits dort wendet die Kultur der Natur den Rücken zu. Die Abstammungsordnung der Tierwelt wird durch die scheinbare Arbitrarität der elementaren Strukturen der Verwandtschaft mit ihrem extrem komplizierten Rattenschwanz an Vorschriften und Tabus ersetzt. Diese Denkweise wäre die vorweggenommene Satire auf die ethnographische Literatur. Im gleichen Aufsatz beschreibt Lévi-Strauss die »Scherzver-
45 Lévi-Strauss: Anthropologie structurale II, S. 44. Dt. Übersetzung: Strukturale Anthropologie II, S. 43. 46 François Rabelais: Le Quart Livre, Kap. IX, in: Ders.: Œuvres complètes, hg. v. Mireille Huchon, Paris: Gallimard (»Bibliothèque de la Pléiade«) 1994, S. 556-560.
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wandtschaft« der Luapula von Nordrhodesien, dem aktuellen Sambia. Die beiden fundamentalen Gesetze der Verwandtschaft seien von Rabelais gut enthüllt worden; zum einen die interne Kohärenz des Systems und seiner Funktionalität, zum anderen seine Rolle als semiotischer Gründungsakt: Wie abwegig sie auch scheinen mag, begründet die Struktur der Verwandtschaft Sinn und eine Ordnung. Aus ihr leitet sich sofort eine Reihe von Rechten und Verpflichtungen ab.47 Die Renaissance erneuern heißt hier aufzuzeigen, dass der heutige Wissenschaftler noch aus dem scheinbar ungezügeltsten und ungeordnetsten verbalen Imaginären seine Lehren ziehen kann. Es ist hierbei nicht von Belang, dass Rabelais sicher nicht einen Augenblick lang daran gedacht hat, welchen Gebrauch ein LéviStrauss von ihm machen würde. Es ist sogar ohne Belang, ob er oder ob er dabei nicht an André Thevet und an Reiseberichte aus seiner Zeit gedacht hat, als er dieses Kapitel über die »Verbindungsstifter« schrieb, in dem die Wörter ein Liebesspiel betreiben. Was zählt, ist, dass Rabelais’ Werk Anlass zu diesem unwahrscheinlichen Sinn gibt, so wie zahlreiche Texte der Renaissance aufgrund ihrer offenen, enigmatischen und zugleich einen Anfang setzenden Konzeption, ihrer Unabgeschlossenheit, andere Anschlüsse auslösen und damit ganz offensichtlich die Intention ihres Autors überschreiten.48 Der Rückgriff auf Rabelais ist hierbei ein bloßes Mittel zum Zweck. Der Umweg über die Renaissance kann aber auch eine tiefere Rückbesinnung begünstigen: nicht nur intellektuell, sondern auch moralisch und anthropologisch im wahrsten Sinne des Wortes. Darin erlangt der Aufruf zur Erneuerung der Renaissance seine volle Berechtigung. Ein anderer Anthropologe, Pierre Clastres, hat ganz wunderbar auf diese Aufforderung reagiert. Pierre Clastres ist in erster Linie der Autor der Chronik der Guayaki-Indianer, einem erschütternden ethno-
47 Claude Lévi-Strauss: »The Future of Kinship Studies«, The Huxley Memorial Lecture, in: Proceedings of the Royal Anthropological Institute of Great-Britain and Ireland (1965), S. 13-22. 48 Ich rekuriere auf die Überlegungen von Fernand Hallyn: Le Sens des formes. Études sur la Renaissance, Genf: Droz (»Romanica Gandensia«) 1994, S. 9-32, und auf diejenigen von Michel Jeanneret: Le Défi des signes. Rabelais et la crise de l’interprétation à la Renaissance, Orléans: Paradigme 1994.
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graphischen Erlebnisbericht über die Ache-Indianer von Paraguay, der wie eine tragische Replik auf die Traurigen Tropen und wie die dunkle Rückseite eines durch die Erinnerung und den zwischenzeitlichen europäischen Zusammenbruch ein wenig idealisierten Gemäldes wirkt.49 Zudem wusste Pierre Clastres aus seiner Erfahrung als Ethnologe heraus ein politiktheoretisches Buch entstehen zu lassen. In Die Gesellschaft gegen den Staat beschreibt er, ausgehend sowohl von seinen Beobachtungen aus der Praxis, als auch von den exemplarischen historischen Überlegungen eines Marshall Sahlins, das Modell einer Gesellschaft ohne Arbeit und Zwang, in der die Produktion »unmittelbar auf die Wiederherstellung des verbrauchten Energievorrats umgelegt wird«50. Mehr noch, dieser Typ der primitiven Gesellschaft definiere sich »durch die Weigerung, sich von Arbeit und Produktion verschlingen zu lassen«, anders formuliert: »durch das Verbot der Ungleichheit«51. Diese rousseauistisch klingende Überlegung findet in der Renaissance in einer Art von unerwarteter Präfiguration. Das Paradox der Gegnerschaft von Gesellschaft und Staat erinnert nicht zuletzt an die freiwillige Knechtschaft, meisterhaft dargestellt von Étienne de La Boétie, Montaignes Freund. So ist es nicht überraschend, wenn Pierre Clastres’ Werk kurz vor seinem Unfalltod in einer Studie gipfelte, die in Zusammenarbeit mit Claude Lefort geschrieben wurde und La Boéties berühmtem Diskurs über die Freiwillige Knechtschaft52 gewidmet ist. Dieses Gemeinschaftswerk über La Boétie – oder genauer gesagt um La Boétie herum – versammelt die verschiedenen Lesarten der Freiwilligen Knechtschaft im Laufe der beiden letzten Jahrhunderte, von Lamennais bis Simone Weil, und vervollständigt sie durch zwei Erstveröffentlichungen. Während Claude Lefort, Machiavelli-Spezialist, sich in Anspielung auf La Boé-
49 Pierre Clastres: Chronique des Indiens Guayaki, Paris: Plon 1972. 50 Pierre Clastres: La Société contre l’État, Paris: Éditions de Minuit 1974, S. 168. 51 Ebd., S. 170. 52 Etienne de La Boétie: Le Discours de la Servitude volontaire, hg. v. Pierre Léonard, Paris: Payot 1976; La Boétie et la question du politique, mit Beiträgen v. Lamennais, Pierre Leroux, Auguste Vermorel, Gustav Landauer, Simone Weil, Pierre Clastres u. Claude Lefort, Paris: Payot 1976.
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ties »Le Contr’un«53 dem Rätsel des »Namen des Einen« (»Nom d’un«) widmet, entwickelt Pierre Clastres seine Überlegungen um die Triade »Freiheit, unheilvolle Begegnung, Unsagbares« herum. In der einzigartigen und rigorosen Denkweise La Boéties, »die sich allein aus ihrer eigenen Bewegung, aus ihrer eigenen Logik speist«54, sieht der Ethnologe die Bestätigung seiner eigenen Intuition, nach der, im Gegensatz zum marxistischen Schema, nicht die Wirtschaft Grundlage der Staatsbildung ist, sondern umgekehrt. Durch eine äußerst verhängnisvolle Art der »unheilvollen Begegnung« (»malencontre«), hat sich die menschliche Gesellschaft ohne Zwang von außen selbst entfremdet, in dem sie die Unterteilung in Herren und Knechte unternahm, mehr noch, indem sie die alleinige Macht wieder in die Hände eines Einzelnen legte, der allerschwächsten Gestalt der Nation – egal, ob man ihn Tyrannen oder Monarchen nennt. Das Wiederlesen La Boéties im Spiegel der Ethnographie der amerikanischen Indianer erlaubt es Pierre Clastres, zu diesem Axiom zu gelangen: »Die primitiven Gesellschaften verweigern die Machtbeziehung, indem sie es verhindern, dass sich das Verlangen nach Unterjochung realisiert.«55 Diese Überlegung, die sowohl als naiv als auch als meisterhaft eingeschätzt worden ist, begnügt sich meiner Meinung nach nicht damit, einen Autor aus der Vergangenheit als Vorwand vorzuschieben, um ihr Vorgehen zu rechtfertigen und ihre Zwecke zu erreichen. Sie zeigt sich der Ökonomie und Ethik einer bestimmten Art von Diskurs, der typisch ist für die Kultur der Renaissance, erstaunlich treu, nämlich der »Deklamation«56, und zwar bis hinein in ihre Form und ihre zwingende Entwicklung, wobei die Fakten, wie später bei Rousseau, die geringste Rolle spielen. Bei der Deklamation handelt es sich im rhetorischen Sinne um eine freie Übung in Wort und Gedanke, bei der
53 A.d.Ü..: Wörtlich: »Wider den Einen« – gemeint ist der Alleinherscher oder Tyrann. 54 La Boétie et la question du politique, S. 241. 55 Ebd., S. 239. 56 Vgl. hierzu Jean Lafond: »Le Discours de la Servitude volontaire de La Boétie et la rhétorique de la déclamation«, in: Mélanges sur la littérature de la Renaissance à la mémoire de V.-L. Saulnier, Genf: Droz 1984, S. 736. Zu den Beziehungen zwischen der Servitude und »Des Cannibales«, siehe Frank Lestringant: Le Cannibale, grandeur et décadence, Paris: Perrin 1994, Kap. VIII, S. 181-183.
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der Standpunkt flexibel und in keinster Weise einem bestimmten Gegenstand zuzuordnen ist – der Schwung der Beweisführung autorisiert allen Wagemut. Es handelt sich um einen »Versuch«, in dem Sinn, wie der Ausdruck ursprünglich bei Montaigne gemeint war, eine Gedankenübung ohne Grenze und Zügel, ein zugleich spielerisches und rigoroses Ausprobieren einer heiklen Freiheit. In der Deklamation sind »die beiden entscheidenden, miteinander verbundenen Begriffe Übung und Fiktion«57. Niemand vermochte besser als Pierre Clastres, mit seiner großzügigen Öffnung zum Anderen und einer Denkweise ohne Vorurteile und Denkverbote die Renaissance in ihrem edelsten Sinne zu erneuern, wie es Claude Lévi-Strauss ein Jahrzehnt später anregte.
Gleichgültigkeit oder Reue? Der Literaturwissenschaft blieb diese Bewegung der kritischen Erneuerung, wie sie von der Anthropologie und der Geschichte ausging, lange Zeit fremd. Das schlechte Gewissen, das die Anthropologen empfanden, hat die Wissenschaftler der literarischen Disziplinen dementsprechend sehr wenig berührt, und man stellt hier und dort sogar eine hartnäckige Unkenntnis über die weit entfernt liegenden Realitäten fest. So zögert der große Montaigne-Kenner André Tournon in seinem Kommentar zum Essai »Über Kannibalen« nicht davor, an einer Stelle von dem Tamtam der Tupinamba zu sprechen, an der der Autor der Essais sehr genau einen Gegenstand beschreibt, den er vielleicht beim Diktieren vor sich hatte, nämlich den Rhythmusstab der Tänzer, oder, wie er sagt, die »große[n], an einem Ende offene[n] Rohrstäbe, deren Klang ihnen beim Tanzen den Takt gibt«58. Und eine
57 Jacques Chomarat: Grammaire et rhétorique chez Erasme, Paris: Les Belles Lettres 1981, Teil II, S. 935. 58 Montaigne: Essais, I, 31, S. 208 Dt. Übersetzung: Essais, a.d. Frz. v. Hans Stilett, Frankfurt a.M.: Eichborn 1998, S. 112. Vgl. André Tournon: Montaigne. La glose et l’essai, Lyon: Presses Universitaires de Lyon 1983, S. 219.
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Taschenbuchausgabe der Essais von Montaigne präsentiert »Über Kutschen« unerschrocken als antikolonialistische Anklageschrift.59 Von dieser beinahe allumfassenden Gleichgültigkeit muss man jedoch die Teilnehmer des Kolloquiums von Tours im Jahre 1966 ausnehmen, das der Entdeckung Amerikas gewidmet war. Es tauchen dort die Namen von Alexandre Cioranesco auf, des Kanadiers Roger le Moine, Herausgeber der Anthologie Amerika und die französischen Dichter der Renaissance60, und vor allem von Marcel Bataillon, den nichts, was die iberische und hispano-amerikanische Welt betrifft, unberührt ließ. Der Autor von Erasmus und Spanien schrieb für den 1968 bei Vrin erschienenen Sammelband eine energische Einführung: »Westindien, Entdeckung einer menschlichen Welt«. Dieses Vorwort lässt sich in dieser Formulierung zusammenfassen: »Der evangelisierbare Indianer und seine Schätze wurden entdeckt.«61 Die Plünderung der Neuen Welt hat ihre Entschädigung (oder kann man es wagen zu sagen: ihre Kompensation?) gefunden, und zwar in der Gründung neuer Kirchen und der ersten Universitäten von Amerika. Der Band von 1968 war ganz selbstverständlich im Wesentlichen dem spanischen Amerika gewidmet und war vor allem ein Werk von Historikern zu beiden Seiten des Atlantiks. Die Literatur und Frankreich nahmen darin den kleinsten Platz ein, jedoch muss man André Stegmann für seine darin präsentierte Einsicht in »Das Amerika von Du Bartas und De Thou« dankbar sein, die die Behauptung von Geoffroy Atkinson bestätigte, dass die Erfindung des Kolumbus hierzulande nur auf ein schwaches Interesse gestoßen sei.62 Diese Bilanz ist ein Vierteljahrhundert später in einem weiteren in Tours abgehaltenen Kolloquium in Teilen berichtigt und zumindest etwas nuanciert worden – ge-
59 Michel de Montaigne: Essais, textes choisis, hg. v. Marie-Madeleine Fragonard, Paris: Pocket (»Pocket Classiques«) 1998. Vgl. auch FN 29. 60 Roger Le Moine (Hg.): L’Amérique et les poètes français de la Renaissance, Ottawa: Les Éditions de l’Université d’Ottawa (»Les Isles fortunées«) 1972. 61 Marcel Bataillon: »Présentation. Les Indes occidentales, découverte d'un monde humain«, in: La Découverte de l’Amérique, Paris: Vrin 1968, S. 10. 62 André Stegmann: »L’Amérique de Du Bartas et de De Thou«, in: La Découverte de l’Amérique, S. 299-309.
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widmet war das Kolloquium dem Thema La France-Amérique (16.18. Jahrhundert).63 Dieses zweite Kolloquium machte den enger gefassten geographischen Raum der scheinbar eingeschränkten Themenstellung durch historische Tiefe wieder wett und erweiterte die chronologische Erstreckung des Untersuchungsgebiets auf drei Jahrhunderte, wobei die Wissenschaftler beider Seiten des Atlantiks, insbesondere aus Quebec, eng zusammenarbeiteten. Als Gelegenheit, über den ursprünglichen Beitrag nachzudenken, den Frankreich in der Erfahrung Amerikas leistete, zeigte es insbesondere auf, wie der koloniale Misserfolg zur fruchtbaren Erfahrung für die Erkenntnisse über die Menschen und die Gesellschaften geworden war. Amerika ist nicht französisch geworden, außer während kurzer Zeitspannen oder in Randgebieten, aber dafür hat Frankreich mehr als jede andere Kolonialmacht die Versuchung der ›Verwilderung‹ verspürt, wovon eine ganze Reihe Reisender zeugen, von de Léry bis zu La Hontan. Durch den Band konnten die Missionen und die Interferenzen zwischen den Religionsdebatten in Frankreich von den Religionskriegen bis zum Siegeszug der Aufklärung in einem neuen Licht erscheinen, ebenso wie die gegensätzlichen Bilder von Indianern, seien es die Tupinamba des antarktischen Frankreich oder die Huronen von Neufrankreich am Sankt-Lorenz-Strom. Es drängte sich die Feststellung auf, dass in der Zeit der französischen Kolonialisierung eine einzigartige Beziehung zum Anderen bestand. An dieser Stelle hat die Methode der Komparatistik, wie sie insbesondere von Philip Boucher und Wilcomb Washburn entwickelt wurde, das volle Ausmaß ihrer Fruchtbarkeit bewiesen. Die geringen demographischen Ausmaße der Besiedelung, somit die geringere Ausübung von Druck auf die lokale Bevölkerung, sowie die sehr schwach ausgeprägte Kontrolle aus Paris über die riesigen Territorien haben eine Beziehung zum Anderen begünstigt, die sich oft unaufgeregter gestaltete als dies in den spanischen, englischen oder portugiesischen Besitzungen der Fall war.
63 La France-Amérique (XVIe-XVIIIe siècles). Actes du XXXVe colloque international d'études humanistes, hg. v. Frank Lestringant, Paris: Honoré Champion (»Centre d’Études supérieures de la Renaissance. Le savoir de Mantice«) 1998.
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Dieser Nachweis kann nur in seinem ganzen Ausmaß Früchte tragen, wenn er sich auf eine mittlere oder noch längere Zeitspanne bezieht. Zu dieser Erkenntnis sind wir insbesondere durch die italienische Schule und die exemplarischen Arbeiten von Antonello Gerbi64, Sergio Landucci65 und Giuliano Gliozzi, dem Verfasser von Adam und die Neue Welt66, gekommen. Zu häufig fehlt Frankreich – aufgrund der Spezialisierung der Forschung – die Jahrhunderte und Kulturen übergreifende Perspektive. Die Konsequenz der in den literarischen Disziplinen immer streng eingehaltenen Aufteilung in Jahrhunderte ist, dass die besten Beiträge zur Geschichte der Anthropologie – ich denke insbesondere an das schöne Buch von Michèle Duchet über Anthropologie und Geschichte im Zeitalter der Aufklärung67 – um die notwendigen Erweiterungen in die frühere bzw. spätere Zeit beschnitten werden. Solche auf eine Epoche begrenzten Untersuchungen sind nützlich, vorausgesetzt sie können sich, genauso wie die »topographischen« Sichtweisen, wie sie sich Montaigne wünschte,68 nebeneinander- und zusammengestellt in einen größeren »kosmographischen« Rahmen einordnen. Dies allein erlaubt ein umfassendes Verständnis der einzelnen Phänomene und des Gefüges von Beziehungen, das ihnen Sinn verleiht. Tatsache ist jedoch, dass die Literatur der neuen Horizonte, wie Atkinson sagen würde, schließlich doch ins Beschäftigungsfeld der Literaten gelangt ist. Diese Bewegung hat möglicherweise von der Peripherie aus begonnen, mit Kanada, dem ehemaligem Eroberungsund Missionsland, dessen literarisches Erbe vor der Eroberung durch England vor allem aus Reiseberichten und Missionsbriefen bestand. Ich erinnere mich an das erste Heft der Études littéraires, der Zeitschrift der Universität von Laval von 1977, die unter der Leitung von
64 Antonello Gerbi: La Disputa del Nuovo Mondo. Storia di una polemica. 1750-1900, Mailand/Neapel: Ricciardi 1955 (ergänzte Neuauflage 1983). 65 Sergio Landucci: I Filosofi e i Selvaggi. 1580-1780, Bari: Laterza 1972. 66 Giuliano Gliozzi: Adam et le Nouveau Monde, a.d. Italienischen v. Arlette Estève u. Pascal Gabellone, Lecques: Théétète Éditions 2000. 67 Michèle Duchet: Anthropologie et histoire au siècle des Lumières, Paris: Maspéro 1971 (neu aufgelegt mit einem Nachwort von Claude Blanckaert, Paris: Albin Michel 1995). 68 Montaigne: Essais, I, 31, S. 205. Vgl. Frank Lestringant, Le Huguenot et le sauvage, Paris: Klincksieck 1990, Kap. IV, S. 133-148.
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Réal Ouellet dem Thema Neu-Frankreich: Dokumente und Fragestellungen gewidmet war.69 Ohne unnötige Nostalgie oder von einer political correctness inspirierten Verlegenheit ging es darum, den Beitrag dieser Texte zu einem kollektiven Gedächtnis zu untersuchen und auf diesen Textkorpus zunächst einmal die damals aktuellen Methoden der Textkritik anzuwenden. Diese literaturwissenschaftliche Fragestellung, die die Grenzen der Literatur auf Gegenstände ausweitete, die bis dahin nicht als literarisch angesehen wurden, war zur gleichen Zeit in der Schweiz zu beobachten, und zwar in Bezug auf die Geschichte einer Reise in das Land Brasilien von Jean de Léry, zweifellos ein hapax der Reiseliteratur, aber dennoch aufschlussreich, was die Funktionsweise eines Textkorpus betrifft, in dem offen und konkret die Frage nach der Beziehung zum Anderen gestellt wird, das heißt der Menschen in Europa zu den Menschen außerhalb davon, die nicht weniger menschlich sind.70 Diese literarische Fragestellung hat es erstmals möglich gemacht, über den Gattungsbegriff: »Was ist ein Reisebericht?« und über das Zusammenspiel von Literatur und Geschichte im weitesten Sinne des Wortes nachzudenken. Sie hat versucht, die gattungsbildende Hybridität als Mischung aus discours und récit, aus Aufzählung und Erzählung zu erfassen, strukturiert durch die Etappen eines Itinerars. So konnte Réal Ouellet den Reisebericht als ein Kompositum von Abenteuer und Bestandsaufnahme definieren, eine mehr oder weniger fiktionalisierte Geschichte, unterbrochen von Aufzählungen und gesehenen Dingen, exotischen Vokabellisten, Gemälden oder Stichen von »wundersamen«71 Absonderlichkeiten. Erst kürzlich hat derselbe Réal
69 Réal Ouellet (Hg.): La Nouvelle-France: documents et questionnements. Études littéraires 10/1-2 (April-August 1977). 70 Michel Jeanneret: »Léry et Thevet: comment parler d’un monde nouveau?«, in: Mélanges à la mémoire de Franco Simone, Bd. 4: Tradition et originalité dans la création littéraire, Genf: Slatkine 1983, S. 227-245. Frédéric Tinguely: »Jean de Léry et les vestiges de la pensée analogique«, in: Bibliothèque d’humanisme et Renaissance 57/1 (1995), S. 25-44. 71 Réal Ouellet: »Le Discours fragmenté de la relation de voyage en Nouvelle-France«, in Saggi e Ricerche di Letteratura francese 25 (1986), S. 183: »Tatsächlich basiert jeder Bericht auf der Spannung zwischen einer thematischen Ordnung und einer Chronologie der Ereignisse.« – Vgl. Rémi Ferland/Réal Ouellet: »Les Sauvages de Lahontan: enfants de
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Ouellet diesen beiden für den Reisebericht konstituiven Elementen ein drittes, nicht weniger entscheidendes hinzugefügt, nämlich den Kommentar, jene reflexive Form, die für einen Autor wie Jean de Léry maßgeblich ist und die Geschichte einer Reise zu einem nahen Verwandten der Essais von Montaigne macht.72 Dies rechtfertigt und bereichert auf eine neue Weise die Formulierung vom »Montaigne unter den Reisenden«, die einst für Léry gefunden wurde. Die Geschichte einer Reise ist eher noch ein Reisekommentar als ein Erlebnisbericht. Im Hinblick auf die literarische Analyse muss weiterhin auf dem performativen Wert dieser Literatur am Rande der Literatur beharrt werden. Unrein und hybrid ist der Reisetext zunächst, weil er die reale Welt einkreist, die er rekapituliert oder in die er Handlungen hineinprojiziert, meistens beides gleichzeitig, anstatt ein in sich geschlossenes Paralleluniversum zu entwerfen, das wahrscheinlich ist und sich, wie der fiktionale Text, selbst genügt. Dies gilt für diese in politischer und religiöser Hinsicht exotische Literatur, die als Eroberungs- und Unterwerfungsprogramm, als Militärchronik funktionieren oder erbauliche und neugierige Briefe hevorbringen kann. Es gilt aber ebenso in geistlicher Hinsicht, wofür sich die Literatur der Ferne in bestimmten Fällen eignet: Neben dem bekannten und bereits erwähnten Beispiel der jesuitischen Erbaulichen Briefe (Lettres édifiantes) ist der Fall der »kosmographischen Meditationen« in den Blick zu nehmen, bei denen ein aus Karten und Texten zusammengestellter Atlas den Geist vom Buch der Welt über das heilige Buch bis hin zur Gotteserfahrung leitet.73 Dieser geistliche Gebrauch ist auch der Geschichte einer Reise von Jean de Léry nicht fremd, die in vielerlei Hinsicht eine Meditation
la Nature ou porte-parole des Lumières«, in: Gilles Thérien (Hg.): Les Figures de l’Indien, Montréal: Université du Québec 1988, S. 257-269. 72 Zu dieser dritten Komponente des Reiseberichts vgl. Réal Ouellet: »Pour une poétique de la relation de voyage«, in: Marie-Christine Pioffet/Andreas Motsch (Hg.): Écrire des récits de voyage (XVe-XVIIIe siècles): esquisse d’une poétique en gestation. Actes du colloque tenu à Toronto du 4 au 6 mai 2006, Québec: Les Presses de l’Université Laval 2008, S. 17-40. 73 Frank Lestringant: »Ouverture: La Méditation cosmographique, une méditation entre deux livres«, in: Les Méditations cosmographiques à la Renaissance. Cahiers V.L. Saulnier 26, Paris: Presses de l’Université Paris-Sorbonne, 2009, S. 7-16: Vgl. Jean-Marc Besse: Les grandeurs de la Terre, Lyon: ENS Éditions 2003, S. 309-336: »La méditation géographique«.
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über die Natur der Neuen Welt und ihrer Völker darstellt, erhellt durch das Lesen der Bibel, in erster Linie der Genesis und der Apokalypse, vor allem aber beleuchtet durch den Gesang der Psalmen. Aber das Interessanteste liegt vielleicht anderswo, nämlich in der Heterologie, die in jeder exotischen Verbindung besteht. Das heißt ein Zwischenbereich, der einen Platz für das Andere errichtet, der aber auch durch eine Art Bumerang-Effekt, oder besser: durch einen Rückstoß selbst von dieser Andersartigkeit betroffen ist. Als Grundlage des ethnographischen Vorgehens stellt die Heterologie laut Michel de Certeau »eine Kunst, auf zwei Plätzen zu spielen« dar, eine Art und Weise, an einem Ort das zu ermitteln, was dem anderen fehlt.74 Als Beispiele dafür können »Von den Kannibalen« von Montaigne, aber auch die bereits erwähnte Geschichte einer Reise von Léry, oder sogar, auf einem scheinbar bescheideneren und weniger ausgeklügelten Niveau, Die Einzigartigkeiten des antarktischen Frankreich (Les Singularitez de la France Antarctique) von André Thevet genannt werden. Die Kategorien des wilden Denkens wie die Opposition von Geräuchertem und Gekochtem75 erreichen es, die Barriere europäischer Denkkategorie in gewisser Weise zu überschreiten und die Folie des deskriptiven wissenschaftlichen Diskurses zu durchdringen, die an ihnen klebt. Ungeachtet des Spotts von Jean de Léry hat Thevet Recht wenn er unterstreicht, dass es auch Rauch ohne Feuer geben kann, oder zumindest eine Küche des Geräucherten, die anthropologisch gesehen der Küche des Gekochten und Gebratenen vorangeht.76
74 Michel de Certeau: »Histoire et anthropologie chez Lafitau«, in: Claude Blanckaert (Hg.): Naissance de l’ethnologie?, Paris: Éditions du Cerf 1985, S. 67-87. Der Aufsatz wurde zusammengefasst und kommentiert von François Dosse: Michel de Certeau. Le marcheur blessé, Paris: La Découverte 2002, S. 533. 75 A.d.Ü.: Anspielung auf Claude Lévi-Strauss’ Studie zum Rohen und Gekochten: Le cru et le cuit, Paris: Plon 1964. 76 Speziell zu diesem Beispiel vgl. Frank Lestringant: L’Atelier du cosmographe ou l’image du monde à la Renaissance, Paris: Albin Michel 1991, Kap. III: »Polydore Vergile et la pensée sauvage«, S. 91-101.
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»Politische Korrektur« Haben wir der Zeit der Reue ein Ende gemacht? In Amerika ist die anthropologische Reue zu einem sehr großen Teil in ein Denksystem übergegangen, die political correctness, das sicher die Aufdeckung des in zahlreichen traditionellen Studien unterschwelligen Ethnozentrismus als Verdienst verbuchen kann, das aber, indem es uneingestandenen Motiven des westlichen Diskurses auf den Grund gehen will, am Ende ebenso unzulässige, wenn auch entgegengesetzte Dogmen verlauten lässt wie diejenigen des triumphierenden Kolonialismus. Gegen die Apologeten der Konquista zum Beispiel, die seit dem 16. Jahrhundert den Kannibalismus der Indianer der Karibik als Vorwand vorschoben, um ihre Ausrottung und Versklavung zu rechtfertigen, behauptete William Arens mit seiner zum Buch gewordenen These, The Man-Eating Myth, in einer typischen, revisionistischen Vorgehensweise, dass es sich beim Kannibalismus um eine Fabel handle.77 Ohne vor der gewagten Schlussfolgerung zurückzuschrecken, ging er noch weiter und behauptete, dass der Kannibalismus der Indianer beider Amerikas, die Antillen und Brasilien eingeschlossen, eine von den Kolonialherren erfundene Fiktion sei, die dazu diene, den unbegründeten Ansprüchen auf Eroberung Geltung zu verschaffen. Diese karikaturhafte These hat jenseits des Atlantiks ein breites Echo ausgelöst und ist sogar auf die Zustimmung eines so renommierten Anthropologiehistorikers wie Anthony Pagden gestoßen.78 Ausgehend von einer minutiösen – oder eher kurzsichtigen – Untersuchung der Verbindungen insbesondere von Christoph Kolumbus,
77 William Arens: The Man-Eating Myth: Anthropology and Anthropophagy, New York: Oxford University Press 1979. Zum Verneinungswahn bei Arens und seiner unleugbaren Ähnlichkeit mit den negationistischen Historikern des Holocaust, siehe die hilfreichen Seiten von Pierre VidalNaquet: Les Assassins de la mémoire. Un »Eichmann de papier« et autres essais sur le révisionnisme, Paris: La Découverte 1987, S. 14-19 : »Du Cannibalisme, de son existence et des explications qui en ont été données«. 78 Anthony Pagden: The Fall of Natural Man. The American Indian and the Origins of Comparative Ethnology, Cambridge: Cambridge University Press 1982 (Neuaufl. 1986), S. 80-87. Vgl. insbes. S. 83 sowie die Fußnote 154, S. 226.
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Hans Staden und Jean de Léry leitete Arens aus der freien textuellen Erfindung die Nichtexistenz des tatsächlichen Referenten ab. Es genügte ihm, dass der Bericht Hans Stadens, einem gerade des Schreibens mächtigen Kanonier, von einem mit Latinismen um sich werfenden Humanisten überarbeitet oder vielmehr in Form gebracht worden sei, dass der Bericht von Léry zwanzig Jahre nach dessen Reise erschienen sei, auch er geschmückt mit ein paar Blumen der Gelehrsamkeit, um daraus auf die Wertlosigkeit beider Erlebnisberichte zu schließen. Da ich nicht dieser Lehre eines radikalen Revisionismus gefolgt bin und mich an die traditionelle These des rituellen Kannibalismus der Tupinamba gehalten habe, bin ich selbst in der Rezension eines meiner Bücher durch Arens eines subtil ethnozentrischen Postmodernismus, eines sozusagen soften Ethnozentrismus bezichtigt worden, der, an den heutigen Geschmack angepasst, intellektuell akzeptabel und weniger beschämend sei als der andere.79 Die political correctness hat auch hierzulande Konjunktur, wie es die moralisierenden Abhandlungen, die Tzvetan Todorov seit zwanzig Jahren in allerdings weniger karikaturhafter Art verfasst, zur Genüge zeigen. Wenn es in der Tat bedeutsam ist, Völker wieder in die Weltgeschichte einzugliedern, die aus ihr unberechtigterweise ausgeschlossen waren, so scheint es heute dennoch möglich, den säkularen Antagonismus des Relativismus und des Universalismus hinter sich zu lassen, so wie ihn ein Buch wie Wir und die Anderen80 in wechselnden Erscheinungsformen von Montaigne bis Diderot konstruiert hat. Im Konzept der Akkulturation hatte der Ethnozentrismus seine adäquate Antwort gefunden. Der zu lange konstant negative und vor allem zu einsinnige Gebrauch, der von diesem Begriff gemacht wurde, hat dazu geführt, dass man ihn durch den der Transkulturation ersetzt hat. Selbst dieser Begriff, der einen ausgeglicheneren Austausch zwischen Kulturen beschrieb, ist seinerseits wieder überholt. Um die komplexen Beziehungen zu bezeichnen, die sich zwischen Kolonial79 William Arens: »Half-Baked Ideas on Cannibalism«, in: The Times Higher Education Supplement, Friday 4th September 1998, S. 24 (Besprechung der englischen Übersetzung meines Buches Le Cannibale, grandeur et décadence, Paris: Perrin 1994. Engl. Übersetzung: Cannibals, Cambridge: Polity Press/Berkeley: Univ. of California Press 1997). 80 Tzvetan Todorov: Nous et les autres. La réflexion française sur la diversité humaine, Paris: Éditions du Seuil 1989.
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mächten und kolonialisierten Völkern, oder weiter gefasst, zwischen warmen und kalten Gesellschaften81 knüpfen, spricht man heutzutage lieber von Kulturtransfer, im Sinne einer »Herstellung von Bezügen zwischen zwei autonomen und asymmetrischen Systemen«82. Der generelle Rahmen des Austausches zwischen zwei gegebenen Gesellschaften mit all ihren Ungleichheiten definiert weniger eine univoke Verbindung als ein komplexes Spiel der Interaktion und wechselseitigen Aneignung. Von da an bis zum Anstimmen von Lobliedern auf die Tugenden des Mestizischen Denkens83 ist es nur ein Schritt – eine andere gerade populäre Melodie. Aber es ist zumindest ein Zeichen dafür, dass nach der Zeit der Reue die Zeit des Teilens und der Gemeinschaft gekommen ist.
81 A.d.Hg.: Anspielung auf eine Passage aus Claude Lévi-Strauss: La pensée sauvage, Paris: Plon 1962, S. 390f. Dt. Übersetzung: Das wilde Denken, a.d. Frz. v. Hans Naumann, Frankfurt a.M: Suhrkamp, S. 270f. 82 Siehe hierzu Laurier Turgeon: »De l’acculturation aux transferts culturels«, in Laurier Turgeon/Denys Delâge/Réal Ouellet (Hg.): Transferts culturels et métissages. Amérique/Europe, XVIe-XXe siècle, Québec: Les Presses de l’Université Laval 1996, S. 11-32. 83 Serge Gruzinski: La pensée métisse, Paris: Fayard 2002.
Bernard Palissy oder die Unheimlichkeit Der ›königliche Töpfermeister‹ und seine Renaissance
Für Yves Faure
I. Von Bernard Palissy (1510-1590) kennt man vor allem die legendäre Persönlichkeit, die ihr Mobiliar verbrennt, um die Geheimnisse der berühmten Email-Kunst wieder zu entdecken. Man hat das Bild des hartnäckigen Protestanten im Kopf, der unter Lebensgefahr in der Stadt Saintes, seiner Wahlheimat, zur Zeit der ersten Bürgerkriege die Worte Gottes verbreitet und sehr viel später unter dem Regime der katholischen Liga am Elend und seiner miserablen Behandlung in der Bastille stirbt. Dort soll nach einer Legende von Agrippa d’Aubigné der achtzigjährige Greis König Heinrich III. die Stirn geboten haben, als dieser in seinen Kerker gekommen war, um ihn dazu zu drängen abzuschwören.1 Der protestantischen Hagiographie der Reformation, die zwei Jahrhunderte lang halb in Vergessenheit geraten war, folgte die laizistische und republikanische Hagiographie des 20. Jahrhunderts. Als Musterbeispiel für hartnäckige Eigenbrötelei und als Modell der Entsagung für die Besinnungsaufsätze verdienter Schüler war der Töpfermeister eine langweilige und ziemlich altmodische Persönlichkeit
1
Théodore Agrippa d’Aubigné: Les Tragiques, Buch IV: Les Feux, Paris: Gallimard 1995, V. 1239-1256.
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geworden, wovon die Falschmünzer von André Gide zeugen. Der Zyniker Strouvilhou steigert das Klischée bis ins Absurde und stellt sich mit einem grausamen Vergnügen vor, »ein Bernard Palissy (wenn ich den Namen schon höre!) verheize um einer schöne Glasur willen Frau und Kinder, ja sich selbst«.2 Die Formulierung in Klammern zeigt schön Gides Gereiztheit gegenüber dem protestantischen Milieu, in dem er aufwuchs, und die Tugenden des Verzichts und des Opfers, die es einforderte. Die neue Gestalt des Töpfers, die sich heute abzeichnet, räumt mit einigen dieser hartnäckigen Legenden auf: die Legende des unverstandenen, im Elend lebenden Genies, das gegenüber dem Widerstand des Materials und den Vorurteilen seines Jahrhunderts die »Leiden des Erfinders« verspürt, die Balzac inspirierten; das moderne Denken eines Pioniers der experimentellen Methode, die bereits auf Claude Bernard verweist und der mit einem Leonardo oder Galileo in Konkurrenz treten könnte; die kreative Originalität eines unvergleichlichen Künstlers, zugleich naiv und raffiniert. Palissy passt in Wirklichkeit in keine der klischeehaften Rollen, die von der Geschichtsschreibung der Romantik und der Schule von Jules Ferry erfunden wurden. Vielleicht ist er aber noch viel mehr: einer der Wegbereiter des autobiographischen Romans mit dem Wahrhaftigen Rezept (Recette véritable, 1563) und den Wunderbaren Diskursen (Discours admirables, 1580), seinen beiden Abhandlungen in Dialogform, in denen sich ein gemeinsamer Einfluss der Erzählungen der Alchimisten und der Psalmen Davids erkennen lassen; ein Meister der Selbstvermarktung und vollendeter Redner; ein Visionär vom gleichen Schlag wie Rabelais oder Campanella, der die Abtei Thélème auf das Land verlegt und den verlorenen Garten Eden inmitten des von den Religionskriegen verwüsteten Frankreich wiederbelebt; ein Künstler von verblüffender technischer Meisterschaft, dessen Tonarbeiten oder »rustiques figulines«: Blindschleichen, Frösche oder Eidechsen mit der Natur wetteifern; ein Handwerker mit staunenswerter Kunst-
2
André Gide: Les Faux-Monnayeurs III/11, in: Romans et récits, Bd. 2, Paris: Gallimard (»Bibliothèque de la Pléiade«) 2009, S. 418. Dt. Übersetzung: Die Falschmünzer, a.d. Frz. v. Christine Stemmermann, Zürich: Manesse 2000, S. 344.
B ERNARD P ALISSY ODER DIE U NHEIMLICHKEIT
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fertigkeit, der Medaillen, Münzen, Flachreliefs und Goldschmiedearbeiten in Keramiken verwandeln konnte. Auch wenn seine Innovationen weniger bedeutend waren als man oft meinte, nimmt Palissy trotzdem einen herausragenden Platz in der Kunst und Literatur der Renaissance ein. Die Email-Kunst war in Italien bekannt, schon bevor er sie im Ofen seines Ateliers in Saintes ›neu erfand‹, wo nicht die Möbel im Stil Heinrichs II. zerstört wurden, wie es später in den Schulbüchern gern dargestellt wurde, sondern die Gartenspaliere und Fußbodenbretter seines Hauses. Die Theorie über die Herkunft von Fossilien aus dem Meer stammt nicht von ihm, sondern von Girolamo Cardano, den er gelesen hat und der seinerseits diese Theorie von Leonardo da Vinci übernommen hatte.3 Die Werke aus Keramik, die zu Hunderten bei den Ausgrabungen im LouvreAreal gefunden wurden, zeigen weniger einen schöpferischen Künstler als einen kreativen Nachahmer, dem es keineswegs widerstrebte, eine Serie von Jaspis-Löffeln oder Keramikplatten zu entwerfen, die wie Marmor aussahen. Was die Originalität Palissys und seiner Töpferkunst ausmacht, ist vor allem die eigensinnige und minutiös genaue Weise, mit der er versucht, die niedersten Kreaturen wie Muscheln Schnecken, Skarabäen und Frösche, zartestes Gewächs und feinst gewundenes Muschelwerk so lebensecht wie möglich nachzugestalten. In dieser Art von peinlich genauer Hommage an den Schöpfer aller Dinge bringt es Palissy zu einer Transparenz und Zartheit des Email, die vor ihm kein Künstler zustande gebracht hatte. Die Feinheit des Blattwerks von Salbei und Wegerich, der Weizen- und Haferähren, die die Natur täuschend echt nachformten und dazu bestimmt waren, die rustikale Grotte zu schmücken, die Katharina von Medici für den Tuilerienpark in Auftrag gegeben hatte, die Lebendigkeit der Eidechsen,
3
Das von Palissy plagiierte Werk ist De Subtilitate von Girolamo Cardano in der französischen Übersetzung von Richard Le Blanc (Paris: Guillaume Le Noir, 1556); die betreffende Passage beschäftigt sich mit dem organischen Ursprung der Fossilien (f. 151 v°). Vgl. Bernard Palissy: Discours admirables, de la Nature des eaux et fonteines, tant naturelles qu’artificielles, des metaux, des sels et salines, des pierres, des terres, du feu et des emaux, Paris: Martin le Jeune 1580, S. 315-318; sowie Bernard Palissy: Œuvres complètes [in der Folge abgekürzt: OC], hg. v. MarieMadeleine Fragonard, Mont-de-Marsan: Éditions InterUniversitaires 1996, Bd. 2, S. 235-248.
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der Blindschleichen und Frösche, die den Tieren nachgebildet sind, wirken gemeinsam auf die Umsetzung einer perfekten Übereinstimmung von Natur und Kunst hin. Diese stetige Sorge um die Transparenz, die in den durchsichtigen Glasierungen sichtbar wird, dieses Bemühen, jede Opazität zwischen göttlichem Modell und menschlichem Werk zu tilgen, finden sich in den Schriften Palissys, dem Wahrhaftigen Rezept von 1563 und den Wunderbaren Diskursen über Natur, Gewässer und Brunnen von 1580, wieder, die eigentlich ganz andere Dinge beinhalten als technische Gebrauchsanweisungen für Landvermesser und Landwirte, Email-Künstler und Brunnenbauer. Kurz nach dem ersten Religionskrieg veröffentlicht, umfasst das Wahrhaftige Rezept, dessen Titel gleichermaßen alchimistische Tradition und den sich in seinen Anfängen befindenden Geist des Kapitalismus evoziert, den »bewundernswerten Plan« eines Lustgartens »in den man sich in einer Zeit der Spaltungen, der Seuchen, der Epidemien und anderer Plagen zur Erholung zurückziehen kann«.4 Als Zufluchtsort und Ort der Meditation zugleich wird der »Freude spendende Garten«5 vervollständigt durch einen »Palast bzw. ein Amphitheater der Zuflucht für exilierte Christen in Zeiten der Verfolgung«.6 Dem Psalm 104 nachempfunden, der an einem Frühlingssonntag von einem Jungfrauenchor an den Ufern der Charente gesungen wird, wiederholt Palissys Garten im Kleinen den Garten Eden und dessen Urfrieden. Er stellt eine reine Transparenz zwischen Mensch und Schöpfer wieder her, zu dem von nun an ungehindert eine ewige Dankeshymne emporsteigt. In diesem Garten, der die ganze Schöpfung vereint und in dem die Gebäude von lebenden Bäumen gebildet werden, besteht sogar die Schrift aus dem Flechtwerk von Ästen, die die Weisheit und den Großmut des Allmächtigen kundtun. Das Heilige Buch und das Buch der Natur, diese zwillingsgleichen Zugangswege zur Göttlichkeit, verbinden und vermischen sich im Mythos eines Gar-
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Bernard Palissy: Recette véritable, par laquelle tous les hommes de la
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(1563), hg. v. Frank Lestringant u. Christian Barataud, Vorwort v. Frank Lestringant, Paris: Macula 1996, S. 67. Ebd., S. 69. Ebd., S. 68.
France pourront apprendre à multiplier et augmenter leurs trésors
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tens, der sich außerhalb der Geschichte und ihrer jüngsten Katastrophen befindet. Er wird plötzlich zum wirklichem Raum von Saintes – ein Ort, der seinen Namen zu Recht trägt7 – mit seinen Chören von jungen Mädchen, die am Ufer des Wassers sitzen und Psalmen singen, mit seiner Gesellschaft von Arbeitern, die im Wäldchen spazieren gehen und mit lauter Stimme die Bibel kommentieren; ein Raum, der die Dimension einer Vision oder eines Traums annimmt – eine ideale Umsetzung der göttlichen Harmonie, die an diesem Sonntag des Lebens zu den Menschen herabgestiegen ist. Dieser Traum von einer christlichen Gemeinschaft, die sich in der Versöhnung von Gott und den Menschen dem Himmel öffnet, hat seine perfekte Ausformulierung in der auf den 1. August 1543 datierten Epistel »an die Damen Frankreichs« (»Aux Dames de France«), gefunden, die Clément Marot seiner Übersetzung der Fünfzig Psalmen (Cinquante Psaumes) Davids vorangestellt hat. Bei der Verkündigung des Anbruchs eines neuen Zeitalters im Zeichen der Liebe Gottes, die die weltliche Liebe entthronen soll, stellt sich der Dichter den Feldarbeiter hinter seinem Pflug vor, den Fuhrmann auf der Straße und den Handwerker in seinem Geschäft, der einen Psalm oder ein Kirchenlied summt, um die Monotonie der täglichen Arbeit zu vertreiben: O bien heureux, qui veoir pourra Fleurir le temps, que l’on oyrra Le Laboureur à sa charrue, Le Charretier parmy la rue, Et l’Artisan en sa boutique, Avecques ung Psalme, ou Cantique, En son labeur se soulager. Heureux qui oyrra le Berger Et la Bergere, au boys etants, Faire que rochiers et estangs, Après eulx chantent la haulteur Du sainct Nom de leur Createur.8
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A.d.Ü.: Wortspiel mit dem Ortsnamen »Saintes« und dem Adjektiv saint(e) (heilig). Clement Marot: »Aux Dames de France, humble salut«, in: L’Adolescence clémentine, hg. v. Frank Lestringant, Paris: Gallimard (»Poésie«) 1987, S.
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Übers.: Wohl dem, der die blühende Zeit erleben wird, in der man hören kann, wie der Landmann bei seinem Pflug, der Fuhrmann auf dem Weg und der Handwerker in seinem Laden mit einem Psalm oder einem Lobgesang sich die Arbeit erleichtern. Wohl dem, der den Schäfer und die Schäferin hören wird, wie sie die Felsen und Seen dazu bringen, nach ihnen die Größe des heiligen Namens ihres Schöpfers zu besingen.
In diesem Traum, der der vierten Ekloge von Vergil nachempfunden ist und Lefèvre d’Étaples ebenso wie der Paraclesis von Erasmus9 verpflichtet ist, bringt das allerorts gepredigte und zum Psalm gewordene biblische Wort das verlorene Goldene Zeitalter in eine Menschheit zurück, die Frieden gefunden und sich mit dem Schöpfer versöhnt hat. Denn der persönliche Mythos von Bernard Palissy, wie ihn der Erfinder der »rustiques figulines«, der rustikalen Tonarbeiten des Königs zu seinen Lebzeiten schuf, geht von vornherein weit über die Beschränktheit der frommen Bilder hinaus, in denen man die Tragweite seiner Aussagen später zu bannen versuchte. Die Geschichte über die Anfänge der kleinen evangelischen Gemeinschaft der Heiligen, von der das Rezept erzählt, bringt die gesegnete Zeit der Urkirche zurück, mit ihrer egalitären Ordnung, dem allumfassenden Frieden und der allerorts und bis in die alltäglichsten Aufgaben hinein verbreiten Heiligkeit.10 Eine solche symbolische Darstellung der Ereignisse gehört eher zum Modus der Prophetie als zu demjenigen der nachträglichen Berichterstattung. Von der Genesis bis zur Apokalypse beschränkt sich diese Kirchengeschichte auf nur wenige Jahre, ja sogar nur auf einige Monate einer prekären Harmonie, die im Herbst 1562 durch Verfolgungen und die Rückkehr des papistischen »Teufelspacks«, das mit aller Höllenwut aus Schloss Taillebourg ausgerückt war, bald zerstört wurde. Doch was bedeutet dies schon? Die Größe und Einsamkeit einer solchen Persönlichkeit und eines solchen Werkes resultiert aus der Spannung zwischen dem Traum des Architekten und der tragischen
283, V. 43-47. Vgl. auch Clement Marot: Œuvres poétiques, hg. v. Gérard Defaux, Paris: Bordas (»Classiques Garnier«) 1993, Bd. 2, S. 629. 9 Marot: Œuvres Poétiques, Bd. 2, S. 1262, FN 9. 10 Palissy: Recette véritable, S. 197-222.
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Wirklichkeit der Religionskriege. Trotz der Entdeckungen der letzten zwanzig Jahre gelingt es immer noch nicht, beides in den Griff zu bekommen. Heutzutage, wo ein engstirniger Positivismus nicht mehr angebracht ist und sich das Forschungsgebiet der Historiker auf die Mentalitäten und noch aktueller auf die Kulturgeschichte ausgedehnt hat, gewinnt eine Figur wie Palissy ohne Zweifel an Dichte, aber auch an Schattenseiten. Welchen genauen Bezug hatte er zu den Alchimisten, die er mit einer so verdächtigen Vehemenz bekämpft, während er ihnen, über eine Terminologie und eine Forschungsmethode hinaus, eine organizistische Konzeption der Natur entlehnt? Die Diskussion der Werkzeuge der Architektur und der Geometrie – Kompass, Lineal und Bleilot – die der Dummheit der Menschen trotzen und Maß und Harmonie, derer die Welt so sehr bedarf, wiederherstellen sollen, lässt auf eine gewisse Vertrautheit mit den Geheimnissen des aktiven Freimaurertums oder zumindest der Gesellenbruderschaften schließen.11 Ein anderer Hinweis darauf besteht in der Omnipräsenz des allweisen Salomon im Rezept, dem Erbauer des Tempels von Jerusalem, dessen Maximen mit ihrer göttlichen Weisheit die Grotten und Lauben des erträumten Gartens ausfüllen. Es handelt sich hierbei höchstens um die Symptome einer höheren Wissenschaft, mit größerer Gewissheit jedoch um die Aufforderung,
11 In der Tat haben sich die Bruderschaften seit dem 19. Jahrhundert darum bemüht, die Person Palissy für sich zu vereinnahmen, wie das ein Artikel vom 1. Juli 1911 in Le Ralliement des Compagnons du Devoir et chevaliers de l’ordre bezeugt, der sich als das »Organ der Rentenkasse und der Belange der Compagnons du Devoir, mit Erscheinungsdatum an jedem Monatsersten in Nantes und an jedem 15. in Tours« bezeichnet, aus der Feder von »E. Jean, genannt Saintonge , das Kind des Sieges« (S. 2-3). Man kann dort insbesondere lesen: »im Jahr 1530 öffneten ihm die Großmeister der C... C..., Glaser aus der Stadt Agen, die Tore ihrer Tempel, aus denen er mit dem Namen Saintonge-le-Juste heraustrat, und in der Folge gereichten sein Genie und sein Talent der Bruderschaft in dieser Epoche zum Ruhm«. Vgl. François Icher: Dictionnaire du Compagnonnage, Le Mans: Éditions du Borrégo 1992, S. 223-224, s.v. »Palissy«: »Der mündlichen Überlieferung zufolge wurde der berühmte Email- und Keramikkünstler in die Geheimnisse der Bruderschaft eingeweiht. Sein Bruderschaftsname soll Agenais la Fierté du Devoir gewesen sein.« Ein Zeichen für die Unsicherheit dieser Überlieferung ist die Tatsache, dass sich die Kommentatoren nicht auf den Namen des angeblichen Mitglieds der Bruderschaft der Glaser einigen können.
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sich die offenkundige Tatsache in Erinnerung zu rufen, dass der Renaissance-Gelehrte nur ein weit entfernter oder metaphorischer Vorfahre bzw. älterer Bruder des heutigen Wissenschaftlers ist. Diese komposite Wissenschaft zu Beginn der Neuzeit setzt sich aus eilig miteinander amalgamierten mythologischen Versatzstücken zusammen. Der Neoplatonismus und Luther, das Evangelium und die universelle Alchimie, der Humanismus und die jüdische Kabbala, die Symbolik der Freimaurer unter den französischen Wandergesellen und die Hermeneutik des vierfachen Schriftsinns – so viele absolut plausible Paare, die obendrein im Verdacht stehen, sich untereinander zu vermischen. Palissy ist nur ein Beispiel von vielen aus dieser noch nie dagewesenen intellektuellen Mischung, aus der hier und da, inmitten der Herde verwirrter Köpfe, eine starke Individualität aufsteigt, in der man aber nicht gleich um jeden Preis den Pionier eines neuen Geistes erkennen sollte.
II. Nehmen wir das Beispiel des sakrosankten Experiments, dem Prüfstein der palissyschen Methode, glaubt man sowohl dem Wahrhaftigen Rezept als auch den späteren Wunderbaren Diskursen.12 Dort, wo man versucht sein könnte, eine frühe Fassung der modernen experimentellen Wissenschaften zu lesen, muss man eher einen Legitimierungsprozess sehen, der mit demjenigen vergleichbar ist, den zur gleichen Zeit sein ganzes Werk hindurch der Geograph André Thevet ge- und missbraucht, der Kosmograph der letzten Könige aus dem Geschlecht der Valois.13 Tatsächlich geht es Palissy weniger darum, die rationalen Grundlagen des Wissens als »den mystischen Grund seiner Autorität« zu etablieren, wenn man hier mit Montaigne spre-
12 Palissy: Discours admirables, f. *5v°-*7 v°; OC, Bd. 2, S. 14-17. 13 Zu Thevets »Methode« vgl. Frank Lestringant: L’Atelier du cosmographe ou l’image du monde à la Renaissance, Paris: Albin Michel 1991, Kap. I. Einen Vergleich zwischen Palissy und Thevet hat bereits François de Dainville S.J. vorgeschlagen, wenn auch mit einem anderen Bezugspunkt, nämlich demjenigen einer bereits modernen Orientierung auf die experimentelle Wissenschaft hin – vgl. François de Dainville: La géographie des humanistes, Paris: Beauchesne 1940, S. 85.
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chen möchte.14 Wenn er zum Beispiel vorgibt, die exorbitanten Ansprüche der »Theorie« zu alleinigen Gunsten der gesunden »Praxis« zu eliminieren (dies sind die beiden Instanzen, die von Anfang bis Ende der Wunderbaren Diskurse miteinander im Dialog stehen), gibt Palissy eine gewisse Neigung für scharfe Antithesen zu erkennen. Seine rhetorische Energie dabei ist bemerkenswert, die tatsächliche wissenschaftliche Bedeutung dagegen kümmerlich. Des Weiteren wird der Strenge der Argumentation mitnichten Rechnung getragen: Wenn erwiesen ist, dass die »Praxis die Theorie erschaffen« habe, wie kann man dann behaupten, dass »die lateinischen Bücher der Philosophen« sich notwendigerweise der Praxis widersetzen, aus der sie logischerweise hervorgegangen sind, und dass die Wissenschaft der Antike jeglichen natürlichen Grundes entbehrt? Indem er, wie sein Zeitgenosse Thevet, eine durch und durch scholastische Antinomie radikalisiert, hat Palissy keinerlei Schwierigkeiten, den »geneigten Leser« für seine Ansichten zu gewinnen. Letztendlich hätte der Geograph aus Angoulême ohne Zögern eine solche falsche Frage unterschrieben, wie sie der Töpfermeister aus Saintes gegen gedachte Kritiker richtet: Ich würde gerne diejenigen die diese Meinung vertreten, Folgendes fragen: Wenn sie fünfzig Jahre lang in den Büchern über Kosmographie und Navigation zur See studiert hätten, und wenn sie Karten aus allen Gegenden besäßen und die Windrose, den Kompass und die astronomischen Instrumente, würden sie es dann wagen, ein Schiff in alle Länder zu führen? Wie ein Mensch, der sich gut auskennt und in der Praxis beschlagen ist, würden sie sich nicht in diese Gefahr begeben, wie viel Theorie sie auch gelernt hätten.15
Die extrem schematische Gegenüberstellung von theoretischer Erkenntnis und Erfahrung, bei der jeder Anflug von Dialektik ausgeschlossen scheint, geht Hand in Hand mit dem Beharren auf der physischen Gefahr, der sich derjenige aussetzt, der seine technische Fer14 Michel de Montaigne: Essais, III, 13, hg. v. Pierre Villey, Paris: P.U.F. 1965, S. 1072: Dt. Übersetzung: Essais, a.d. Frz. v. Hans Stilett, Frankfurt a.M.: Eichborn 1998, S. 541: »Die Macht der Gesetze bleibt ja nicht deswegen unangetastet, weil sie gerecht, sondern weil sie Gesetze sind. Dies ist der mystische Grund ihrer Autorität, einen anderen haben sie nicht – und das kommt ihnen sehr zustatten.« [Übers. modifiziert] 15 Palissy: Discours admirables, f. *6 r°; OC, Bd. 2, S. 15.
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tigkeiten erprobt. In gleichem oder noch größerem Ausmaß wie Thevet inszeniert sich Palissy in seinen Schriften selbst. Die Pose des Märtyrers, die er in seinen beiden wichtigsten Abhandlungen einnimmt, kommt dabei nicht nur im theologischen Diskurs zum Tragen: Als Verfechter des verfolgten Glaubens einer Minderheit ist Palissy in erster Linie ein »Mann der Praxis«, der Leben, Vermögen und Freundschaften für die durch das Experiment begründete Erkundung einer Wahrheit aufs Spiel setzt. Diese Wahrheit geht nicht aus Übersee-Reisen mit ihrer Bedrohung durch die »barbarischsten [Wesen] dieser Welt«, hervor, sondern aus einer langen Reihe von Essais, an denen er hartnäckig über Jahre hinweg immer wieder arbeitet und in denen im physischen Härtetest des zur Reaktion gezwungenen Stoffes das Geheimnis des berühmten Email aufgedeckt wird. Während er auf dem Kampf gegen die Materie – daher kommt später auch das Klischeebild des geopferten und verbrannten Mobiliars – ebenso wie auf der Inkompetenz seiner Vorgänger und Rivalen insistiert, die alle Anhänger der unnützen Theorie sind, versäumt es Palissy, wie auch Thevet, zu erwähnen, was er der Theorie eigentlich verdankt. Ausgerechnet die Wunderbaren Diskurse beinhalten nämlich, wie Ernest Dupuy und Pierre Duhem belegt haben16, ein ausgedehntes Plagiat von Girolamo Cardano, der doch so sehr für seine Nachlässigkeit gegenüber der sakrosankten Praxis getadelt worden war. Der Vergleich der beiden Texte: der Universellen Kosmographie von 1575 und der Wunderbaren Diskurse von 1580, lädt dazu ein, eine so klare Verwandschaft zwischen dem Kosmograph und dem »Erfinder der ›rustiques figulines‹ des Königs« zu erkennen, dass man, ohne unglaubwürdig zu werden, den einen mit genau den gleichen Formulierungen beschreiben könnte wie den anderen. Bei beiden verbirgt die Verachtung für die Theorie und die Autoritäten der Antike die faktische Entwendung von Textpassagen: Thevet bedient sich bei Plinius und den Navigationi et Viaggi des Italieners Ramusio17, Pa-
16 Ernest Dupuy: Bernard Palissy, Paris: Lecène 1894, S. 167; Pierre Duhem: »Léonard de Vinci, Cardan et Bernard Palissy«, in: Bulletin italien 6 (1906), S. 289-319. 17 Die drei Bände der Navigationi et Viaggi von Giovanni Battista Ramusio wurden bei Giunti in Venedig von 1550 bis 1559 publiziert und danach mehrfach wieder aufgelegt. Sie sind einer der wichtigsten Quellen André
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lissy bei Vitruv18, Serlio, Androuet du Cerceau und den »Büchern über die Subtiliät« (Livres de la Subtilité) von Girolamo Cardano. Bei diesen beiden Autoren, die beide in gleichem Maße wenig angetan von den klassischen Humanwissenschaften und in Latein beinahe ebenso unbewandert wie in Griechisch sind, geht erklärte Wille zur Neuerung und zum Vollzug eines Bruchs mit der Tradition einher mit der beharrlichen Zurschaustellung ihrer eigenen Aktivitäten: einerseits Thevets Selbstdarstellung als allgegenwärtiger, auf allen vier Kontinenten zu findender viator, andererseits der sich als Einzelgänger gebende Palissy, der für der Nachwelt die Heldensage seiner heroischen Bemühungen festhält. Schließlich – und das ist der Punkt, der uns bei beiden Autoren hier interessiert – eröffnet das Schreiben der Naturgeschichte einen Blick auf die Gegenstände der Welt. Genauer gesagt setzt sich die Naturgeschichte im Mikrokosmos eines Kuriositätenkabinetts fort, das sich in gewisser Weise am Schnittpunkt von Natur und Buch ansiedelt.19 Die endlose Vielfalt der Schöpfung fügt sich hier in eine diskursive Logik ein. Die zusammenhanglosen, überall eingesammelten Bruchstücke – die Überreste von Tieren, Bruchstücke von Muscheln oder Mineralien – bilden die geordneten Schichten eines Wissens: »in Reihenfolge oder schichtenweise anzubringen, darunter mit Hinweisschildern.«20 Die Ausbeute des Naturforscher und Geographen artikuliert klar eine Lehre von den Dingen – damit, wie Palissy sagen wird, »jedermann sich selbst bilden könne«. Bevor sie jedoch eine pädagogische Funktion erfüllt, unterhält die Kuriositätensammlung zunächst eine Beziehung zur Schrift. Sie stellt weniger deren konkrete Illustration dar, als ihr »Zeugnis« und ihren »Beweis«, um die Aus-
Thevets für seine Cosmographie universelle, Paris: Pierre L’Huillier/ Guillaume Chaudière 1575. 18 Diese Quelle wurde von Ernest Dupuy identifiziert, aus so unterschiedlichen Gründen wie der Energie, die von Wasserdampf unter Druck produziert wird, der Herkunft der architektonischen Säulen usw. Vgl. Dupuy: Bernard Palissy, S. 169, 172. 19 Zum Alter des Kuriositätenkabinetts vgl. Krzysztof Pomian: »Histoire naturelle: de la curiosité à la discipline«, in: Curiosité et cabinets de curiosités, hg. v. Pierre Martin & Dominique Moncond’huy, Neuilly: Atlande 2004, S. 15-40. 20 Palissy: Discours admirables, f. *7 r°; OC, Bd. 2, S. 16.
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drücke zu zitieren, die im einleitenden »Hinweis« (»Avertissement«) der Diskurse von 1580 verwendet werden. Die Zeugenschaft der Dinge tritt also in eine Prozedur juristischer Art ein, die in letzter Instanz den wissenschaftlichen Diskurs legitimiert: Jedermann kann in weniger als zwei Stunden sehen und verstehen, sofern er sich die Mühe machen will, mein Kabinett zu besichtigen, in dem man wunderbare Dinge sehen kann, die als Zeugnis und Beweis meiner Schriften dienen.21
Eine solche Lektion über den direkten Zugriff auf die Welt geschieht mittels dreier der fünf Sinne, die die Autopsie vollkommen einlösen: »zum Beweis meiner schriftlich dargelegten Gründe bedarf es nur des Sehsinns, des Gehörs und des Tastsinns«.22 Was mehr kann der anfangs ungläubige Leser wünschen? Dazu bestimmt, die Zweifler mundtot zu machen, verleihen Palissys kuriose Steine einer Abhandlung, deren Gültigkeit Neider anzweifeln könnten, ausreichend Gewicht. Das materielle Objekt stellt also den letzten und entscheidenden Beweis dar, der die Rede ihrer beständigen Bedrohung durch die Willkür entreißt. Dieser Beweis, der drei der fünf Sinne beansprucht, setzt der trockenen Theorie eine Lawine von sehr greifbaren Argumenten entgegen. Hier manifestiert sich vielleicht die Modernität von Palissy am besten. Seine Ähnlichkeit mit einem Zeitgenossen wie Thevet hört genau hier auf. Im Unterschied zum Kosmographen, der eifersüchtig über den Schatz seiner Wunder wacht, die er aus den vier Himmelsrichtungen der Erde mitgebracht hat, vom Krokodil aus Ägypten bis zum Pfeil des Patagoniers, öffnet Palissy die Pforten seines Kabinetts sperrangelweit. Wenn man ihm glauben darf – aber darf man einem »Hinweis« in Form eines Manifestes Glauben schenken? – beansprucht das Buch den Status einer so gut wie erschöpfenden Behandlung. Das unmittelbare Aufeinandertreffen des Lesers mit der Sammlung von Dingen ersetzt auf vorteilhafte Weise die Vermittlung durch die Lektüre, vorausgesetzt der »Mann der Praxis« ist anwesend und
21 Ebd., f. *6 v°-*7 r°; OC, Bd. 2, S. 16. 22 Ebd., f. *7 r°; OC, Bd. 2, S. 17.
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erhellt die aus der Natur hergeleitete Beweisführung. Der Erfolg dieser Lektion der Dinge geht einher mit der Reaktivierung dessen, was man das Prinzip der Autorität durch Ansteckung nennen könnte. Das bedeutet einen beträchtlichen Zeit- und Energiegewinn: Ich kann dir versichern (Leser), dass du in sehr kurzer Zeit, ja sogar schon am ersten Tag, mehr an Naturphilosophie über die tatsächlichen Dinge lernen wirst, die in diesem Buch enthalten sind, als du es in fünfzig Jahren tun könntest, wenn du die Theoretiker und die Meinungen der Philosophen der Antike lesen würdest.23
Die wahre Eloquenz kann auf die Eloquenz verzichten, wird Pascal im nächsten Jahrhundert sagen. Schon für Palissy ist die beste Rhetorik die, die sich in Vergessenheit bringt, und zwar so, dass jeder Anschein einer Trennwand zwischen dem Zuhörer und der Wahrheit, von dem man ihn überzeugen muss, entfernt wird. Hier wäre man versucht, von wissenschaftlicher »Objektivität« zu sprechen, stünde eine solche Erklärung nicht in einem stark polemischen Kontext, und wäre, Palissy zufolge, das Buch tatsächlich das überflüssige Anhängsel des Kabinetts der Naturwissenschaften. Doch das ist alles andere als sicher. Alles deutet darauf hin, dass das Buch ein wesentliches Bindeglied darstellt, insofern es mittels eines Äußerungsaktes, dem die Wunderbaren Diskurse durchweg Bedeutung beimessen, die Person eines Sprechers in Szene setzt. Die Hartnäckigkeit, die Palissy aufbringt, um »ein zuverlässiges Zeugnis« von der Wahrheit seines Redens vor allen und gegen alle abzulegen, die pathetische Pose, in der er sich von vornherein darstellt, machen aus seiner »kleinen Akademie« ein Theater, auf dem sich der Epilog eines Dramas abspielt, bei dem Palissy gleichzeitig Regisseur und Hauptfigur ist. Dieses Kabinett mit seinen durch Schilder markierten Regalen stellt für Palissy ein nach Belieben verfügbares Theater seiner Wahl dar, auf dem man durch die persönliche Darbietung die entscheidende Prüfung bestehen kann, mit deren Hilfe man die noch schwankende Überzeugung der ehrenwerten Leute auf seine Seite zieht. Dieser Probe ist voll und ganz durch das Buch
23 Ebd., f. *7 r°; OC, Bd. 2, S. 16.
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der Weg bereitet worden, das durch die Präsenz einer Stimme die Verbindung eines Autors zu seinem Publikum hervorgebracht hat. Immerhin ist Palissy ein Risiko eingegangen, indem er auf diese Weise eine solch offene Beziehung zu seiner Zuhörerschaft schuf: Es besteht darin, durch einen rivalisierenden Experten anhand eines Gegenstands Widerspruch zu erfahren. Es ist unbestreitbar, dass er dieses Risiko in der Fastenzeit des Jahres 1575 in Kauf nahm, also noch vor der Veröffentlichung der Wunderbaren Diskurse aus Anlass jener öffentlichen Vorträge, für die man Eintritt zahlen musste und bei denen neben anderen berühmten Zuhörern der Chirurg Ambroise Paré24 anwesend war. Etwas Vergleichbares könnte man sich bei Thevet nicht vorstellen, für Italien kann man jedoch das etwas spätere Beispiel des Mediziners und Naturforschers aus Bologna, Ulisse Aldrovandi, anführen, der dem Senat von Bologna seine gesamten Sammlungen unter der dreifachen Bedingung vermachte, dass sie niemals geteilt würden, dass man sich um die Veröffentlichung seines Werkes kümmern möge und dass sein Kabinett der Öffentlichkeit zugänglich gemacht werde.25 Wie das von Palissy, öffnet sich Aldrovandis Kabinett zugleich auf die Welt, deren unzählige Wunder in den Vitrinen und Galerien auf den Betrachter einströmen, und auf das Publikum, dem der Zutritt für eine ausgedehnte Besichtigung erlaubt ist, um sich darin zu erholen und zu bilden. Die Wunderbaren Diskurse wie auch die Universelle Kosmographie leiten einen Glaubensprozess ein. Ohne einen Glaubensakt, der hier und dort von Seiten der Öffentlichkeit lebhaft gefordert wurde, würde das System der »Beweise«, das diese Werke bereitstellen, ohne Wirkung bleiben. Im einen wie auch im anderen Fall ist es die Betonung des Äußerungsaktes, die zu dem Ergebnis führen soll, eine Überzeugung zu erzwingen: ein Autor, der Dinge gesehen, gehört, berührt und während einer wahrhaften experimentellen Askese erheblich gelitten hat, wendet sich an eine Zuhörerschaft, die direkt angesprochen wird. Doch während die Taktik, die sich Thevet ausgedacht hat, eine undurchdringliche Wand um endlos wiederholte Phantomobjekte auf-
24 Vgl. neben Dupuy: Bernard Palissy, auch Louis Audiat: Bernard Palissy, étude sur sa vie et ses travaux, Paris: Didier 1868. 25 Vgl. dazu Marie-Élisabeth Boutroue: »Le cabinet d’Ulisse Aldrovandi et la construction du savoir«, in: Curiosité et cabinets de curiosités, S. 43-63.
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baut, steht das palissysche Modell am Ende des Wegs, wenn man das Buch wieder zugeklappt hat, nicht einer tatsächlichen pädagogischen Unterweisung im Weg.
III. Ebenso wenig wie der Erfinder der Experimentalwissenschaft ist Palissy der Erfinder des Kitsch. Und dennoch erscheint er diesbezüglich wie ein Vorläufer oder eher noch wie ein Meister. Die emaillierten Tonarbeiten, auf denen es von Fröschen und Eidechsen nur so wimmelt, die Tellerböden, wo sich zwischen Salatblättern Würmer und Blindschleichen ›naturgetreu‹ schlängeln, sind dazu angetan, auch die robustesten Geschmäcker zu entmutigen. Die manieristische Kunst hat sich die Gunst der größten Prinzen der Renaissance, vom Konnetabel Anne de Montmorency bis hin zur Königin Katharina von Medici erworben, bevor sie im letzten Jahrhundert ihre lächerliche Ausdehnung auf das glasierte Terracottamobiliar der Vorstadtgärtchen erfuhr. Tatsächlich war diese rustikale Mode ziemlich lange von der Bildfläche verschwunden, spätestens seit dem Beginn des 17. Jahrhunderts: Der Arzt Jean Héroard erzählt in seinem Tagebuch, dass man Ludwig XIII. als Kind mit einer Schale von Bernard Palissy spielen ließ, auf die Gefahr hin, das alte Stück könne zerbrechen.26 Doch die Mode tauchte im 19. Jahrhundert triumphierend wieder auf, in dem Palissy zusammen mit dem Keramiker Jean-Charles Avisseau und der so genannten Schule von Tours »einer der großen Stars« war.27 Will man die Gründe dieser Begeisterung verstehen, muss man zur Ästhetik der »Anti-Renaissance« zurückgehen, um den Begriff von
26 Jean Héroard: Journal de Jean Héroard, médecin de Louis XIII, hg. v. Madeleine Foisil, Vorwort v. Pierre Chaunu, Paris: Fayard 1989, Bd. 1. Diese Information wurde mir durch den leider inzwischen verstorbenen Michel Simonin mitgeteilt. 27 Christian Gendron: »Les imitateurs de Bernard Palissy au XIXe siècle«, in: Bernard Palissy. L’écrivain, le réformé, le céramiste, hg. v. Frank Lestringant, Paris: Éditions InterUniversitaires 1992, S. 201-206.
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Eugenio Battisti aufzugreifen.28 Entgegen der Mode mit apollinischen Tendenzen, die in der venusgleichen Schönheit Raphaels triumphiert, speist sich diese Strömung aus den Verzerrungen des Grotesken – und versteht dabei das Wort in seiner genauesten Bedeutung. Sie taucht ein in das Dunkel der Materie, erforscht ihre zweifelhaftesten Zwischenräume und bezieht aus dem Halbdunkel der natürlichen oder künstlichen Grotten – das Goldene Haus Neros in Rom – das Argument vom Chaos. Die Grotte nimmt im Übrigen nicht nur in der Einbildungskraft, sondern darüber hinaus auch im architektonischen Werk von Bernard Palissy einen bedeutenden Platz ein. Mit einem Projekt einer künstlichen Grotte für Schloss Écouen beginnen im Frühling 1561 die literarischen Aktivitäten des Töpfermeisters aus Saintes. Aus der Tiefe des Kerkers von Bordeaux, wo er wegen des Verdachts häretischer Propaganda und ikonoklastischer Unternehmungen dahinvegetiert, richtet er seine Schrift von der Architektur und Anordnung der rustikalen Grotte (Architecture et ordonnance de la Grotte rustique), ein Diskurs »in Dialogform«, der in La Rochelle im Jahre 1563 gedruckt werden sollte, an den Konnetabel Anne de Montmorency.29 Dieses für Schloss Écouen bestimmte Projekt wurde zumindest in seiner Ausführung begonnen, wie auch für ein späteres Projekt in den Pariser Tuilerien eine Werkstatt und eine Baugrube eingerichtet wurden – die Überreste davon wurden bei den Ausgrabungen im Louvre-Komplex von 1983 bis 1986 wieder ans Tageslicht befördert.30 Palissy hat außerdem Grotten für die Schlösser von Chenonceaux, Reux, Chaulnes und Nesles entworfen. Andere Grotten kamen über das Planungsstadium nicht hinaus, so wie begreiflicherweise der ideale Garten aus
28 Eugenio Battisti: L’Antirinascimento. Fiaba, allegoria, automi, arte profana, astrologia, razionalismo architettonico: storia dell’anticlassicismo nel Rinascimento, Mailand: Garzanti 1989. 29 Bernard Palissy: »Architecture et ordonnance de la grotte rustique de Monseigneur le duc de Montmorency, pair, & connestable de France«, La Rochelle: Barthelemy Berton 1563, in: Palissy, Recette véritable, S. 243272 ; vgl. auch Palissy: OC, Bd. 1, S. 3-38. 30 Zur einstweilen noch provisorischen Bilanz dieser Ausgrabungen vgl. Yves de Kish: »Palissy: une réapparition archéologique«, in: Palissy. L’écrivain, le réformé, le céramiste, S.183-186.
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dem Wahrhaftigen Rezept oder die geplante Grotte des Großstallmeisters Claude Gouffier.31 Als geschlossener und geschützter Ort steht die gebärmutterartige Höhle mit dem Ursprung des Lebens und der Materie in Verbindung. Sie stellt kein aufgezwungenes, sondern ein aktiv aufgesuchtes Gefängnis dar, das sich der »neugierige Chemiker« wünscht, der dort die bloßgelegten Geheimnisse der Kristallbildung von Steinen und des Wachstums von Metallen beobachtet. In der Grotte, die gleichzeitig Kunstwerk und Laboratorium ist, lauert der Erfinder den Archetypen des Werks der Natur auf, diesen Urphänomenen32, die zwei Jahrhunderte später noch Goethe faszinieren sollten.33 Oder er versucht, um diese besser greifen und begreifen zu können, die Bedingungen ihres Entstehens künstlich nachzustellen – durch Feuer und Wasser. Zuerst durch Wasser: Nach Palissy ist Salz für das Gefrieren von Steinen und die Versteinerung von Skeletten und Muscheln zuständig. So führen die »hängenden Strähnen« oder Stalaktiten zu der Behauptung, dass Steine nicht durch vegetative Tätigkeit wachsen, wie Bäume, Äste oder Blätter, sondern durch »Zuwachs beim Gefrieren«.34 Für seine künstlichen Grotten nimmt Palissy bei der Natur in der Nachfolge seiner italienischen Vorgänger in zweierlei Art und Weise Anleihen: zum einen durch die Wiederverwendung echter Stalaktiten und Stalagmiten, die er aus Kalkgebieten mitgebracht hat; zum anderen, indem er mittels unterirdischer Wasserläufe Rinnsale über die tropfnassen Wände seiner rekonstruierten Grotten oder auch auf die Spitzen der abgetrennten Stalaktiten fließen lässt, die er dorthin transportiert und wieder aufgestellt hat. All dies, stellt Philippe Morel fest, »funktioniert geradezu wie eine Inszenierung der Entstehung der mineralischen Natur«.35 Die natura naturans wird so in ihrer Entstehung und in ihren Metamorphosen zur Schau gestellt. In gleicher Weise machen der Korallenast am Grottenrand mit seinen »Wurzeln«, die in die Tiefe reichen, sowie der künstliche Sinter 31 Philippe Morel: Les grottes maniéristes en Italie au XVIe siècle. Théâtre et alchimie de la nature, Paris: Macula 1998, S. 34-36. 32 A.d.Ü.: Im Original deutsch. 33 Robert Klein: La Forme et l’intelligible, Paris: Gallimard 1970, Kap. VIII, S. 214. 34 Morel: Les grottes maniéristes, S. 36-37. 35 Ebd., S. 37.
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des Gewölbes »die mitten in ihrem Werden überraschte Natur« deutlich. Tatsächlich sind Korallen in der Vorstellung der Renaissance »Bäume«, die wachsen und sich in Gestein verwandeln, sobald sie nicht mehr im Wasser sind.36 Auf diese Weise restituiert die Grotte mit ihrer Flora und Fauna aus kristallinen Pflanzen und Tieren, die lebenden Modellen nachempfunden sind, das im Dunkel liegende, faszinierende Leben der Anfänge in der stummen und geheimnisvollen Kontinuität, die unbemerkt den Übergang von einem Reich der Natur zu einem anderen, vom Unbelebten zum Belebten herstellt. Und dann durch Feuer: Indem er flüssiges Email über das Relief des Mauerwerks gießt, dessen Fugen so verdeckt werden, und dann ein großes Feuer entzündet, um alles fugenlos und ohne Anzeichen menschlichen Eingreifens zu brennen und zu glasieren, versucht Palissy ein so perfektes trompe-l’œil zu erhalten, dass selbst die Mauerund sonstigen Eidechsen drauf hereinfallen. Eine solche Grotte braucht keinerlei Wandbehang oder Wandteppiche, um sich in ein komfortables Kabinett zu verwandeln, »denn ihr Schmuck wird von solcher Schönheit sein, als wäre er aus Jaspis oder Porphyr oder fein poliertem Chalzedon«.37 Nach dem Beispiel von Leonardo da Vinci will Palissy noch grundlegender trasmutarsi nella mente di natura – »sich in die Natur hineinversetzen, um zu wissen, wie sie vorgeht«.38 Das zentrale Feuer, das die härtesten Felsen zu einem einzigen konkaven Block verschmilzt, wiederholt das Verfahren, das im Inneren des Brennofens des Töpfermeisters vonstatten geht, aber noch vor diesem, dem Steingutkünstler wohl bekannten, technischen Verfahren knüpft es an die schöpferische Gewalt des Ur-Feuers der Erde an. Darüber hinaus erzeugt der Guss aus Email sogar eine gegenständliche Malerei als Frucht der Natur und des Zufalls: »Und so fängt das Email bei der Verflüssigung an zu fließen, die verschiedenen Ströme vermischen sich und schaffen bei ihrer Vermischung sehr schön anzu-
36 Philippe Morel: »La théâtralisation de l’alchimie de la nature. Les grottes artificielles et la culture scientifique à Florence à la fin du XVIe siècle«, in: Symboles de la Renaissance, Bd. 3, Paris: Presses de l’École normale supérieure 1990, S. 167. 37 Palissy: Recette véritable, S. 131. 38 Klein: La Forme et l’intelligible, S. 214.
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sehende Figuren und Ideen«.39 Das Unternehmen Palissys schreibt sich hier in die Nachfolge von Leon-Battista Alberti und Leonardo ein, denen zufolge die ersten Künstler in der Materie, vor allem in raffinierten Holzstrukturen und in bildhaften Steinen, Modelle für einen graphischen Ausdruck der Wirklichkeit entdeckten: »Palissy überführt so das Problem des Ursprungs der Malerei oder der Bildhauerei an einen Ort, der sich wohl wie kein anderer dafür eignet«.40 In der Gebärmutter aus Stein, die die Grotte darstellt, »zieht sich der Ursprung der Kunst auf die Entstehung der Materie zurück«.41 Was heute in unseren Augen letztlich das Interessante an Palissy ausmacht, ist diese Art von »Unheimlichkeit«42, die sein Werk bestimmt, d.h. die Rückkehr zur Erkenntnis einer flüchtigen Ur-Realität, die durch die Verdrängung verschüttet und dadurch unkenntlich gemacht wurde.43 Der bereits erwähnte schlechte Geschmack, der sogar eine Art Unwohlsein oder Verstörung hervorrufen kann, ist nur die Begleiterscheinung eines unruhigen Suchens, das an das Geheimnis der Schöpfung rührt, das bis in deren niedrigste und scheinbar verwirrendste, aber insgeheim doch vertrauteste Hervorbringungen hinein zu finden ist.
39 Palissy: Recette véritable, S. 130. 40 Morel: »La théâtralisation«, S. 169. Vgl. auch Morel: Les grottes maniéristes, S. 43-46. 41 Morel: Les grottes maniéristes, S. 49. 42 A.d.Ü: Im Original: »inquiétante étrangeté«, mit dem der psychoanalytische Begriff der »Unheimlichkeit«, auf den F.L. hier anspielt, meist ins Französische übersetzt wird. 43 Sigmund Freud: L’Inquiétante étrangeté et autres essais, a.d. Dt. v. Bertrand Féron, Paris: Gallimard (»Folio«) 1985, S. 211-263. Dt. Original: »Das Unheimliche«, in: Gesammelte Werke, hg. v. Anna Freud u.a., Bd. 12, Frankfurt am Main: Fischer 61986, S. 229-268.
Eine Reise in die Eucharistie George Psalmanaazaars Insel Formosa
Die Reformation in ihren radikalsten Strömungen bei Zwingli und Calvin will mit der Idolatrie des Fleisches brechen, wobei sie von der Obsession des Rests heimgesucht wird und sie den Körper aus dem Sakrament und die physische Anwesenheit Christi vom Tisch der Kommunion verbannt. Aus diesem Grund tendiert sie dazu, aus der Eucharistie, dem ersten und wichtigsten Sakrament des Christentums, einen einfachen Gedächtnisakt zu machen, aus Brot und Wein reine Zeichen ohne Substanz. Das Programm einer ›reformierten‹ und ein für allemal vom Opferzwang befreiten Religion geht einher mit der Begründung einer neuen Anthropologie. Die Scheidung zwischen dem katholischen und dem protestantischen Körper ist unaufhebbar und verkörpert im wahrsten Sinn des Wortes zwei antagonistische Arten zu leben und zu glauben, zu handeln und zu fühlen. Die Kontroverse um die Eucharistie ist eine Sache der Vernunft, aber vor allem der Leidenschaft; sie ist eher eine Sache der religiösen Empfindung als der intellektuellen Spekulation oder der Berechnung.1 Am Beginn der Neuzeit hat die Kritik an der Transsubstantiation im Namen eines Abendmahls, das symbolisch oder als Gedenken verstanden wurde, indirekt die verschwisterten und miteinander solidarischen Körper des monarchischen Staats und der Kirche erschüttert,
1
Vgl. dazu die genaueren Ausführungen in Frank Lestringant: Une sainte horreur ou le voyage en Eucharistie (XVIe-XVIIIe siècle), Paris: P.U.F. (»Histoires«) 1996; 2. korrigierte und ergänzte Auflage, Genf: Droz, (»Titre courant«) 2011.
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brüchig gemacht und zumindest für eine bestimmte Zeit vernichtet. An der Schwelle zur Aufklärung kann man auf dem Umweg über ingeniöse Fiktionen das nachhallende Echo dieser Kontroverse mit ihren zahllosen Folgen entdecken. Was ist eine »Reise in die Eucharistie«?2 Eine literarische BastardGattung, die etwas von der utopischen Erzählung und vom allegorischen Roman hat, etwas vom Pamphlet und vom Reisebericht. Die politische und religiöse Fiktion nimmt hierbei einen auf der Karte isolierbaren Ort als Rahmen, bevorzugt eine Insel, und lässt unter den ausgeprägten Zügen einer theokratischen und anthropophagen Gesellschaft einen Schrecken in verdichteter Form hervortreten, den die Protestanten und in ihrem Fahrwasser auch die Freidenker über eine archaische Gewalt empfinden. Diese Gewalt kommt auf nicht näher bestimmte Weise im Dogma eines verteufelten Feindes wieder zum Vorschein. Durch diese Distanzierung und diese unruhige sowie neugierige Suche verbindet die Reise in die Eucharistie auf widersprüchliche Weise den beschwörenden Ritus mit dem Willen zur Profanation. Der mystische Körper wird zum fleischlichen Körper abgewertet, der verschlingt und ausstößt; gleichzeitig wird er auch bis zu den legendären Dimensionen eines Moloch oder eines Leviathan vergrößert. Die Beschreibung der Insel Formosa (Description de l’Ile Formosa / Description of Formosa) von George Psalmanaazaar stellt, gemeinsam mit Die andere Welt oder die Staaten und Reiche des Mondes (L’Autre Monde ou les Estats et Empires de la Lune) von Cyrano de Bergerac (1653) und Die Entdeckung der Terra Australis (La Terre Australe connue) von Gabriel de Foigny (1676) eine solche Reise in die Eucharistie dar. Es handelt sich mit Sicherheit um eine der erfindungsreichsten und eine der paradoxesten dieser Reisen. Denn anstatt aus dem Ozean, wie Foigny, einen hypothetischen südlichen Kontinent mit seiner Geographie, seiner Flora, seiner Fauna und seiner hermaphroditischen Menschheit erstehen zu lassen, beschränkt sich Psalmanaazaar darauf, eine seit der Renaissance wohl bekannte Insel auszuwählen, die schöne und üppige Formosa, und diese ver-
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A.d.Ü.: Der frz., von Frank Lestringant geprägte Ausdruck »voyage en Eucharistie« kann sowohl »Reise in die Eucharistie« als auch »Reise in das Land der Eucharistie« bedeuten. Dieses geographische Substrat ist in den folgenden Ausführungen immer mitzudenken.
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trauten Umrisse bzw. diesen vertrauten Namen mit einem neuen Inhalt zu versehen. Dieses Verfahren gelingt ihm bestens. Nicht nur kann er die Fiktionalität seiner Erzählung verschleiern, sondern er geht so vor, dass er als Held und Erzähler sein eigenes Abenteuer überlebt. Als er beim Wort genommen wird, baut er auf dieser imaginierten Erzählung seine Karriere und seinen Ruhm auf. Im Gegensatz zu dem traurigen Jacques Sadeur, der Held, den Foigny als Spielball einer sadistischen Vorsehung inszeniert, hat die Reise in die Eucharistie für ihn nur die günstigsten Folgen. Die Beschreibung der Insel Formosa, 1704 in London zuerst veröffentlicht, ist wohl eine der berühmtesten Fälschungen, die die Reiseliteratur hervorgebracht hat.3 Dieses detailreiche und vorgeblich objektive Bild einer theokratischen und kannibalischen Gesellschaft überträgt die blutigen Feste der aztekischen Religion auf den Fernen Osten. Dies geschieht offenbar mit dem Ziel, die handfesten missionarischen Eingriffe der Jesuiten in diesem Teil der Welt zu kritisieren. Indirekt stigmatisiert die imaginäre Idolatrie der Formosaner auch das Opferverständnis der katholischen Messe. George Psalmanaazaar findet wohlwollende Aufnahme in London, wo seine Verteidigung des Anglikanismus allseits geschätzt wird, er wurde jedoch von den französischen Jesuiten des Betrugs bezichtigt. Trotz ihrer Proteste wird der Text des angeblichen Japaners beinahe dreißig Jahre lang weitgehend als authentischer Bericht rezipiert.
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George Psalmanaazaar: Description de l’Ile Formosa en Asie. Du Gouvernement, des Loix, des Mœurs et de la Religion des habitans : Dressée sur les Mémoires du Sieur George Psalmanaazaar natif de cette Ile [...]. Par le Sieur N.F.D.B.R., Amsterdam: E. Roger 1705. Die englische Originalausgabe war 1704 in London unter dem Titel An Historical and Geographical Description of Formosa erschienen. Zum französischstämmigen Autor und den Quellen seines Werkes siehe Percy G. Adams: Travelers and travel liars, 1660-1800, Berkeley/Los Angeles: University of California Press 1962, S. 93-97; sowie ders.: Travel Literature and the Evolution of the Novel, Lexington: The University Press of Kentucky 1983, S. 71 und 108. Vgl. auch Justin Stagl: Eine Geschichte der Neugier. Die Kunst des Reisens 1550-1800, Wien/Köln/Weimar: Böhlau Verlag 2002, Kap. V.: »Der Mann, der sich George Psalmanaazaar nannte, oder: Das Authentizitätsproblem in der Ethnographie«, S. 215-251.
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Es ist müßig, sich über diese literarische Täuschung zu entrüsten, wie es Tzvetan Todorov in den Neunzigerjahren getan hat.4 Alles in allem sollte man die Heldentat dieses »mythenhungrigen Abenteurers, dieses genialen Hochstaplers« lieber bewundern: Seine Fiktion stellte sich als so überzeugend heraus, dass er »offiziell damit beauftragt wurde, die formosanische Sprache in Oxford zu unterrichten, um zukünftige Missionare auszubilden, die man in dieses Land schicken wollte«.5 Zunächst einmal verblüfft die Art und Weise, wie der Autor ein Gefühl der Vertrautheit zu schaffen verstand, das es ermöglichte, auch noch die unwahrscheinlichste Erzählung für wahr zu halten. Denn die Parallelwelt, die er erschuf, verbindet mit der unsrigen mehr als nur eine unterschwellige Ähnlichkeit. Die – mit Freud gesprochen – »Unheimlichkeit«6 der formosanischen Theokratie fasziniert eben wegen ihrer Vertrautheit. Der Schrecken der Menschenopfer auf der Insel Formosa spottet dem gesunden Menschenverstand. Er spricht allen Regeln der Vernunft Hohn und widerspricht ganz offensichtlich den Beobachtungen, die bis dahin von den Reisenden gemacht wurden. Doch ist er eben nicht ganz unbekannt, denn er hat seinen Ort im Herzen des katholischen Sakraments der Eucharistie, so wie es zumindest von den Protestanten spontan interpretiert und zutiefst verabscheut wird. Die formosanische Utopie taucht diesen Ritus somit in ein spektakuläres Licht – ein Ritus, der umso skandalöser ist, als er ganz im Stillen in den vertrauten Gegenden Südeuropas praktiziert wird, wo die Römische Kirche ganz allein regiert. Zudem sind die gut informierten und dem Sensationalismus abgeneigten Reisenden, die Psalmanaazaars Vorgänger im Fernen Osten waren, zum Großteil Jesuiten,
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Tzvetan Todorov: Les Morales de l’Histoire, Paris: Grasset 1991, S. 134141. Es versteht sich von selbst, dass ich den folgenden sehr moralischen Schluss dieses Kapitels (S. 141) nicht unterschreibe: »Als historischer Text verdient die Description Psalmanazars keine Beachtung, denn es handelt sich um eine Fälschung. Als Fiktion ruft sie keine Bewunderung hervor, weil sie sich nicht als solche zu erkennen gibt und ihr Autor über keine besondere Beredsamkeit verfügt. Aber wenn das anders gewesen wäre?« Jean-Michel Racault: L’Utopie narrative en France et en Angleterre, Oxford: Voltaire Foundation at the Taylor Institution 1991, S. 304. A.d.Ü: Im Original deutsch.
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was schon ausreichend war, um ihr Zeugnis gegenüber der englischen Elite zu diskreditieren, an die die Beschreibung der Insel Formosa in erster Linie gerichtet ist. Die Stärke des Pseudo-Formosaners bestand darin zu wissen, wie er mit einer latenten Angst seiner potenziellen Leser zu spielen hatte. Der heilige Schrecken vor dem blutigen Opfer bringt, sofern er auf Distanz gehalten und mit dem Prestige des Exotismus geschmückt wird, bis in seine schwindelerregendsten Übertreibungen hinein eine vollkommen wahrscheinliche Fiktion hervor. Ein Beispiel: Jedes Jahr sterben angeblich nicht weniger als 18.000 männliche Kinder unter neun Jahren durch die Hand der Opferpriester. Das Vorwort bemüht sich jedoch gleich, möglichem Widerspruch an dieser Stelle zuvorzukommen: Von allen Gebräuchen, die bei den Heiden üblich sind, werden diejenigen, die die Religion betreffen, im Allgemeinen mit größerer Neugier untersucht als die anderen: Je weiter sie von denen, die wir praktizieren, entfernt sind, um so 7
eigenartiger erscheinen sie uns.
Diese rhetorische Vorsichtsmaßnahme verrät eine tiefe Ironie. Denn gerade von der Religion, ja fast ausschließlich der christlichen Religion, berichtet die Beschreibung von Formosa unter dem Deckmantel einer geographischen Allegorie. Es wurde schon bemerkt, was von der angeblichen Fremdheit der religiösen Bräuche auf der Insel zu halten ist, insbesondere von dem wichtigsten Brauch unter ihnen: der Opferung der kleinen Kinder. Seine Fremdheit ist jedoch nicht so radikal, als dass man nicht auf Anhieb, wenn auch mehr oder weniger undeutlich, eine geheimnisvolle Übereinstimmung mit den Zeremonien
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Psalmanaazaar: Description De L’Ile Formosa, Vorwort, S. XXV. A.d.Ü.: Die deutsche Übersetzung folgt dem von F.L. verwendeten französischen Text – aus diesem Text wird auch die Schreibung des Namens »Psalmanaazaar« übernommen (daneben findet sich auch die Form »Psalmanazar«). Verwiesen sei noch auf die deutsche Übersetzung von Philipp G. Hübner (Historische und geographische Beschreibung der Insul Formosa […], Franckfurt und Leipzig, verlegts Daniel Walder, Buchhändl. in Augspurg. Coburg, druckts Moritz Hagen, 1716), die aber vom verwendeten französischen Text teilweise zu stark abweicht, um hier verwendet zu werden.
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in Europa entdecken könnte. Wenn also der Skandal letzten Endes so groß ist, dann deshalb, weil die scheinbare Distanz eine gefährliche Nähe vertuscht. Das Grauen und die Scham des Lesers entsprechen dem Gefühl der Beunruhigung, die das Wiedererkennen von etwas Vertrautem hinter dem so ungeheuerlichen und dem so weit entfernten Äußeren der beschriebenen Welt hervorruft. Vor der offensichtlichen Wahrheit eines blutigen Opfers, das weniger weit entfernt und weniger exotisch ist als es scheint, erschrickt das Publikum. Es protestiert lauthals gegen die enorme Zahl der 18.000 Opfer. Da es schwierig ist, einer solch tief tragischen Geschichte einen oberflächlichen Anschein von Wahrheit zu verleihen, greift Psalmanaazaar auf ein Autoritätsargument zurück: Die Antike, vorweg die Griechen und die Römer, aber auch die Israeliten, werden als berühmte Vorgänger angeführt. Die blutrünstige Theokratie von Formosa kann auf Vorgänger bei den berühmtesten Völkern der profanen und sakralen Geschichte zurückblicken. Der Fall der alten Hebräer bietet sich als gutes Beispiel an, sofern man dem erwählten Volk einen solchen Aussetzer verzeihen mag: Die Heilige Schrift lehrt uns, dass sie mit Absicht einen Ort in einem Tal in der Nähe von Jerusalem eingerichtet hatten, wo sie ihre Kinder ins Feuer gehen ließen, und sie zu Ehren der Sonne und dem Mond opferten, von denen sie Götzenbilder angefertigt hatten. Dieses Bild wurde von dem guten König Josia zerstört, der diesen gottlosen und abscheulichen Kult gänzlich ab8
schaffte.
Als Schlüsselfigur der protestantischen Bibellektüre ist Josia die Figur des Souveräns der Reformation, die wie Edward VI. oder Elisabeth die Idolatrie zerstört und den Bund mit Gott, der kurzzeitig gefährdet war, erneuert haben.9 Wenn man dieser allegorischen Entzifferung der Heiligen Geschichte Glauben schenken will, die im hugenottischen Frankreich und im England zur Zeit von Cromwell und Wilhelm von
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Ebd., S. XXVII. Nach 2. Könige, 22f., reinigte Josia den Tempel von Jerusalem und das Land Judäa von der Idolatrie. Vgl. Théodore Agrippa d’Aubigné: Les Tragiques, Buch III, Paris: Gallimard 1995, V. 731.
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Oranien beliebt war, erscheint der Moloch-Kult daher wie die genaue Vorwegnahme der papistischen Idolatrie. Das zweite Argument zugunsten der Glaubwürdigkeit von Psalmanaazaars Zeugnis ist anderer Art, da die angestrebte Wahrscheinlichkeit nun keine historische mehr, sondern eine gleichermaßen soziologische und geopolitische ist. Formosa ist, wie man weiß, eine Insel. Ihre menschlichen Reserven sind also eng begrenzt. Die Frage ist, ob die Geburtenrate einer notwendigerweise begrenzten Population ein solches Übermaß an Opfern zulässt. Steht nicht am Ende ganz einfach die Auslöschung des formosanischen Volkes auf dem Spiel? Diese Fragestellung verrät bei Psalmanaazaar und bei seinem Interpreten eine sehr moderne Beschäftigung mit einem Thema, das während des ganzen Jahrhunderts der Aufklärung immer von neuem auftaucht, von Swift über Voltaire und de Sade bis Diderot und von Cornelius De Pauw bis Thomas Robert Malthus.10 Diese Aufmerksamkeit hat mit Ökologie zu tun und besteht darin, über eine mehr oder weniger lange Zeitspanne hinweg die Beziehung einer bestimmten Population zu ihrem Lebensraum zu untersuchen. Malthus’ Pessimismus ging mit seiner ganzen Schlagkraft aus diesen Überlegungen hervor, die auf den ganzen Globus ausgedehnt wurden. Diderot dagegen bezog diese Betrachtungen auf das Paradigma der Insel zurück: Die Ozeaninsel, eingeschlossen in ihrem Korallenriff und vor jeglichem Kontakt mit der Außenwelt abgeschirmt, stellt in seinen Augen das ideale Beobachtungsobjekt dar, um die Evolution sozialen Lebens über mehrere Generationen zu betrachten. So werden die verschiedenen Lösungen sichtbar, die eine Gruppe gegen das Risiko der Übervölkerung entwickelt, wie die Geburtenkontrolle, die Eugenik, das Menschenopfer und die Anthropophagie. Unter diesem Gesichtspunkt könnte Formosa ein anthropologisches Laboratorium darstellen, das gut mit der winzigen Lanciers-Insel zu vergleichen ist, die von Bougainville mitten im Pazifik entdeckt wurde. Eine explodierende Geburtenrate, die vom Fehlen sexueller Tabus begünstigt wird, scheint gezwungenermaßen das labile Gleichgewicht mit einer Umwelt in Gefahr zu bringen, die nur über begrenzte Ressourcen verfügt. Dieser
10 Vgl. hierzu Frank Lestringant: Le Cannibale, grandeur et décadence, Paris: Perrin 1994, Kap. XII: »Cruelle Nature: De Pauw, Sade«.
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natürliche, theoretisch endlose Zuwachs kann nur von kulturellen Praktiken kontrolliert werden, die auf den ersten Blick barbarisch sind, die aber aufgrund des engen Raums in Kombination mit einem allzu günstigen Klima zwingend notwendig und gerechtfertigt sind.11 Tatsächlich ist das Problem in der sozialen Fiktion Psalmanaazaars ein umgekehrtes: Die Bedrohung für die Bewohner von Formosa ist nicht das Verhungern wegen Überbevölkerung, sondern die Auslöschung ihrer Art durch ein Übermaß von Opferungen. Es könnte das passieren, was sich später im afrikanischen Königreich Butua abspielt, dieser blutrünstigen Anti-Utopie, die der Marquis de Sade in seinem Roman Aline und Valcour inszeniert. In diesem tyrannischen Staat im Herzen Afrikas, der sich ehemals von einem Ozean bis zum anderen erstreckte, haben der Hass auf die Fortpflanzung, die Verachtung der Frauen und ihre systematische Vernichtung in kannibalischen, Tag für Tag erneuerten Orgien einen rapiden Rückgang der Bevölkerung mit sich gebracht. Folglich schrumpft das Königreich des sodomitischen und kannibalischen Despoten Ben Mâacoro wie ein Chagrinleder zusammen und ist auf bestem Wege, von seinen Nachbarn verdrängt zu werden, die weniger schreckliche Barbaren sind und sich mehr um ihre Zukunft kümmern.12 Formosa hat zwar in vielerlei Hinsicht mit dieser Brutalität nichts zu tun, doch gibt es auf der Insel nicht minder einen Aberglauben, der beinahe ebenso zerstörerisch ist. Jedoch steht, wie uns der Verfasser des Vorworts versichert, dieses Volk nicht kurz vor der Auslöschung: Die Polygamie schenkt den Formosanern eine unerschöpfliche Nachkommenschaft. Zudem wird die Zahl der 18.000 Opfer nicht streng eingehalten: Das »positive Gesetz«, das dies vorschreibt, ist nicht im buchstäblichen Sinn zu verstehen. Das letzte Argument, zweifellos das schwächste, jedoch nicht weniger einfallsreich, ist folgendes: Die scheinbare Unwahrscheinlichkeit von so verbreiteten Menschenopfern ist in Wirklichkeit kaum schockierender als die »Extravaganz« von Candidius bezüglich der
11 Denis Diderot: »Supplément au Voyage de Bougainville (1771-1780)«, in: Le Neveu de Rameau et autres dialogues philosophiques, hg. v. Jean Varloot und Nicole Evrard, Paris: Gallimard (»Folio«), S. 287. 12 Marquis de Sade: Aline et Valcour, in: Œuvres, Bd. 1, hg. v. Michel Delon, Paris: Gallimard (»Pléiade«) 1990, Brief XXXV, »Déterville à Valcour«, S. 559-597.
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ständigen Abtreibungen der Frauen von Formosa, die vor dem siebenunddreißigsten Lebensjahr keine Kinder haben dürfen.13 Mit einem recht geschickten Trick lenkt Psalmanaazaar mithilfe seines Gewährsmanns den Vorwurf der Absurdität, der ja ihm gilt, auf seine Hauptquelle um. In Wahrheit hat die Beschreibung der Insel Formosa stellenweise Candidius buchstäblich geplündert, um das Land im Nirgendwo mit leicht nachprüfbaren Eigenschaften zu versehen.
13 Zitiert von Psalmanaazaar: Description De L’Ile Formosa, S. XXVIII. Siehe G. Candidius: »A Short Account of the Island of Formosa in the Indies, situate near the Coast of China; and of the Manners, Customs and Religions of its inhabitants. By George Candidius, Minister of the Word of God in that Island«, in: A Collection of Voyages and travels, some now first printed, London: Awnsham and John Churchill 1704, S. 531: »But one thing is very remarkable in them, that their Wives are forbid to bring forth any live Children till they are 36 or 37 Years of Age : wherefore they are obliged to kill their Children in the Womb, which they do thus : One of their Priestesses is called in, who lays the Woman with Child upon a Bed, and squeezes her so long, till the Child is forced thus from her, which puts them into more violent pains, than if they brought forth a Child according to the regular Course of Nature: they declare, they do this not for want of tenderness to them, but because they are forced to it by their Priestesses, who persuade them that they cannot commit a greater crime, than to bring Children into the World before the Age of 36, by which means many thousands are lost in a Year. I remember a certain Woman there, who told me her self, that she had thus been forced to miscarry sixteen several times, and she was then big with the seventeenth, which she promissed she would bring forth alive. When they are arrived at the age of 36 or 37, they thus first begin to bring Children into the World as our Women do, and from that Age till 50.« Vgl. Arnoldus van den Berghe: Gesandtschaften der holländischen Ostindiengesellschaft an den Kaiser von Japan (Ambassades de la Compagnie Hollandoise des Indes d’Orient, vers l’Empereur du Japon), 2 Bde., Leiden: 1685-1686, hier Bd. 2, S. 279: »Sie haben einen schrecklichen Brauch bei Frauen, die schwanger werden, bevor sie das 37. Lebensjahr erreicht haben: Die Priesterinnen, die man aus Anlass eines so schönen Geheimnisses kommen lässt, legen sie auf Betten, von denen wir bereits gesprochen haben, und springen ihnen auf den Bauch. Sie lassen sie dabei fürchterliche Schmerzen leiden, bis sie sie zur Abtreibung gebracht haben. George Candidius, ein holländischer Pastor auf dieser Insel, berichtet, dass er im Jahr 1628 eine Frau gesehen hatte, die man sechzehn Mal auf diese abscheuliche Art zur Niederkunft gebracht hatte. Sie war zu dieser Zeit mit dem siebzehnten Kind schwanger, das sie bis zum Ende der Schwangerschaft austragen zu können hoffte, da sie nun endlich das nötige Alter hatte, um es lebend zur Welt zu bringen.«
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Im Rahmen dieser Vorkehrungen kann sich nun die geographische Fabel in ihrer ganzen erfindungsreichen Verrücktheit entfalten, da sie jederzeit über die Anforderungen der Allegorie hinausgeht. Wie JeanMichel Racault anmerkt, hat der Pseudo-Formosaner etwas von Borges.14 Mit beeindruckender Genauigkeit liefert die Beschreibung konsequent alle für die statistische Erfassung des Landes notwendigen Elemente. Eine Landkarte, die sich von Nordkorea bis zu den Philippinen im Süden erstreckt, verlegt die Insel in den Archipel des chinesischen Meeres. Ein Alphabet, in dem einige griechische und hebräische Buchstaben auftauchen, bietet dem Leser die Möglichkeit, sich mit den Grundlagen der formosanischen Sprache vertraut zu machen. Der von zu Hause aus reisende Leser entdeckt etwas später Münzen, in die seltsame Hieroglyphen eingraviert sind und die es ihm eines Tages, wenn er dazu Lust hat, erlauben werden, um kaum glaubliche Waren mit den Einwohnern dieser imaginären Gegend zu feilschen, deren Kleidung je nach Geschlecht und sozialem Stand beschrieben und unterschieden wird. Tatsächlich ist die Beschreibung ebenso eine Utopie wie auch ein Reiseführer. Der aus dem Lateinischen stammende Name Formosa wird zudem von allen modernen Atlanten verzeichnet. Um seine Fiktion glaubhaft zu machen, musste Psalmanaazaar lediglich eine bereits existierende Karte reproduzieren. Dem Leser wird zu jeder Zeit der Eindruck vermittelt, dass diese onirische Lesereise sich in eine Bewegung durch einen tatsächlich begehbaren, realen Raum verwandeln könnte. Um eine solche tiefe Überzeugung ausdrücken zu können, musste der Autor selbst in dieser Illusion aufgehen – zumindest zeitweise. Der einführende Rahmen, der in einem extrem neutralen Ton gehalten ist, bereitet auf das Wichtigste, sozusagen auf den Hauptgang vor, der in der religiösen Antropophagie der Formosaner besteht. Dieser Ritus wird ganz genau und ohne unnötiges Pathos – es ist nur die Rede von »unschuldigen Herzen«, die gerade gebraten werden – und mit aller erbotenen technischen Präzision beschrieben. Weder Schreie noch Tränen noch vergebliche Zuckungen werden von der Stunden dauernden Opferung berichtet, wo man angekettete Opfer erdrosselt, denen dann die Herzen herausgerissen werden. Die vollkommene
14 Racault: L’utopie narrative, S. 304.
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gläubige Stille wird nur von den Gebeten der Priester unterbrochen. Es erklingen dann die heiligen Hymnen, begleitet von Flöten, Zimbeln »und anderen Instrumenten«15; während jeder der Gläubigen, sobald das in kleine Stücke geschnittene Fleisch im eigenen Blut gekocht ist, seinen Teil erhält. Geschickt fädeln die Priester die Brocken aus Menschenfleisch auf Bratspieße auf, die Stück für Stück an die versammelte Menge aus erwachsenen Männern, Frauen und Kindern über neun Jahren verteilt werden. Nacheinander kommen sie zum Altar, wo sie aus den Händen der Priester das Stück geweihten Fleisches respektvoll entgegennehmen und essen, nachdem sie sich auf einem Bein niedergekniet haben. Hier setzt der Prozess der »soziologischen Revolution« ein, die bald danach von Montesquieu salonfähig gemacht wird.16 Der Augenzeuge der Riten von Formosa zeigt sich natürlich ungerührt gegenüber den Zeremonien, die ihm offenbar vertraut sind. Dafür schuldet er seinem europäischen Leser eine Erklärung durch Vergleiche, die er für passend erachtet und die im Gegenzug hierzulande ganz gewöhnliche Praktiken als ausgefallen erscheinen lassen. Daher kommt die Verwendung von Formulierungen wie »diese Art von Kommunion«, mit denen die rituelle Anthropophagie der Formosaner beschrieben wird. Der Trick besteht dabei darin, über Einschübe, die in den Text integriert sind, oder über ans Ende der Seite verschobene erläuternde Anmerkungen eine allegorische Lektüre zu suggerieren. Die genaue Beschreibung der kulinarischen Eigenheiten stellt ein ausgezeichnetes Mittel dar, um die Gedanken des Lesers über die offensichtliche Bedeutung hinweg unversehens von Formosa zum papistischen Europa zu leiten. Man erfährt nebenbei, dass die so verteilten Stücke menschlichen Fleisches »ungefähr die Größe eines Eis [haben], welches in gekochtem Zustand zu einem mundgerechten Bissen zusammenschrumpft.« Die Ähnlichkeit mit der Hostie aus der katholischen Eucharistie drängt sich auf, umso mehr, wenn man dann durch
15 Psalmanaazaar: Description De L’Ile Formosa, Kap. VII, S. 66-67. 16 Zu diesem Konzept der »soziologischen Revolution« siehe Roger Caillois: »Préface à Montesquieu«, in: Œuvres complètes, Paris: Gallimard (»Bibliothèque de la Pléiade«) 1947, Bd. 1, S. V. Vgl. Georges May: »Sens unique et double sens. Réflexions sur les voyages imaginaires«, in: Diogène 152 (Oktober-Dezember 1990), S. 3-21.
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eine weitere Fußnote erfährt, dass die Priester die besten Stücke für sich behalten und den gewöhnlichen Gläubigen nur »einen kleinen Bissen« übrig lassen. Seit der Reformation wurde der katholische Ritus oft hierfür kritisiert, dass er aus der Menge der Gläubigen Einzelne heraushob und den Verzehr von Wein und Brot lediglich dem Klerus vorbehielt. Zudem vermischt sich diese Beobachtung möglicherweise mit einer uralten antiklerikalen Kritik gegenüber einer Kirche, die ihre Schäflein ausnimmt und sich auf deren Kosten mästet. Auf genauere Art und Weise können gewisse Details des Ritus von Formosa nur unter Bezug auf das heilige Sakrament des Altars erklärt werden. Die Tatsache zum Beispiel, dass das Fleisch in kleinen Stücken in das Blut des Opfers getaucht und darin gekocht wird, erinnert an die Geste der intinctio, die die Einheit von Körper und Blut Christi wiederherstellt, indem der Priester bei der Kommunion die Hostie in den Kelch mit Wein taucht. Ein weiteres Indiz besteht darin, dass das Fleisch Stück für Stück aus der Hand des Priesters entgegen genommen wird, wie die im katholischen Ritus aus dem Ziborium verteilte Hostie. Die Protestanten, zumindest die radikalsten unter ihnen, bestanden dagegen darauf, dass der Kelch und das Brot unter allen, die sich zur Kommunion in einem Kreis versammelt hatten, herumgereicht wurde, und zwar ohne Vermittlung durch einen Priester. Das Niederknien der Gläubigen, eine Haltung des Respekts oder sogar der Anbetung, ist ein weiteres Element des Ritus, den die Reformatoren als Zeichen der Idolatrie anprangerten.17 Schließlich ist der explizite Sinn in der Kommunion von Formosa und in der Roms identisch: An beiden Orten wird Gott gebeten, »dass er das Opfer zur Vergebung der Sünden seines Volkes gnädig annehmen möge«.18 Nun ist das Opfer in der Messe gerade der große Skandal, den eine reformierte Kirche seit jeher anprangert, wenn sie an die stets aktuelle Wirkungskraft von Tod und Leiden Christi erinnern möchte und ein für alle Mal mit dem unheilvollen Blut brechen will. Beim protestantischen Abendmahl, wie es Zwingli und Calvin
17 Vgl. hierzu die heftige Reaktion des Hugenotten Jean de Léry angesichts der demonstrativen Frömmigkeit von Villegagnon, dem Anführer der Kolonie des Antarktischen Frankreich. Siehe zu diesem Thema Frank Lestringant: Une sainte horreur, Kap. IV, v.a. S. 89-91. 18 Psalmanaazaar: Description De L’Ile Formosa, S. 67.
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praktizieren, handelt es sich in keiner Weise um ein Opfer, sondern höchstens um ein Symbol des Bundes oder zumindest einen Gedächtnisakt. Der Fortgang der Darstellung der in Formosa zu beobachtenden Zeremonien bestätigt diese allegorische Lesart, die Seite für Seite von den für den christlichen Leser bestimmten Anmerkungen nahegelegt wird. So erinnert im Kapitel über »Die Kleidung der Priester und der Mönche« die Mitra des Hohepriesters, dem das Privileg zukommt, die Herzen der Kinder herauszureißen, an die eines Bischofs; die violette Leinenschärpe, die er trägt, ähnelt dem Skapulier des »Großteils der Mönche in Europa«. Eine ergänzende Erläuterung zu diesem Gegenstand unterstreicht das abergläubische Denken, das bisweilen unter dem katholischen Klerus herrscht: »Mehrere unter ihnen versichern, ihn aus den Händen der Heiligen Jungfrau erhalten zu haben«. Später rufen die Schuhe des Hohepriesters durch einen Vergleich die Sandalen der Kapuzinermönche auf, die in einer Anmerkung sofort als Heuchler charakterisiert werden: »Sie gehören zu der Sorte von Mönchen, die sich als Erneuerer des Ordens vom Heiligen Franziskus bezeichnen und die sich mit ihrem Leben in Armut und Entsagung brüsten; sie gehen barfuß.«19 Man weiß hier nicht mehr genau, an welchen Leser die Beschreibung gerichtet ist: an einen Formosaner, der die Sterne anbetet? An einen praktizierenden Katholiken? Oder, was wahrscheinlich ist, an einen Anglikaner, der von vornherein von der Korrumpiertheit und dem heidnischen Charakter, die dem römischen Ritus zugrunde liegen, überzeugt ist? In jedem Fall folgt nach dem Porträt der religiösen und politischen Institutionen von Formosa, das die Beschreibung im engeren Sinn ausmacht, der zweite Teil des Romans, der manchmal im Modus der Pikareske, meist aber in nicht enden wollenden Kapiteln, die der theologischen Auseinandersetzung dienen, das Abenteuer und die Konversion des Helden zur wahren Religion erzählt. Auf die chorographische Beschreibung einer weit entfernten Insel und ihrer Sitten, die Formosa mit der Gattung der Utopie verbindet, folgt nunmehr der Bildungsroman. Erst der religiöse Diskurs stellt die tiefere Kohärenz
19 Ebd., Kap. XII, S. 84-86.
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eines Werkes sicher, das an der Oberfläche so bruchstückhaft erscheint.20 Der erste Teil stigmatisiert den Katholizismus mittels einer exotischen Allegorie. Der zweite setzt für diese Verurteilung die zusätzlichen Argumente von persönlicher Erfahrung und allgemeiner Vernunft ein. Psalmanaazaar, der durch seine Intelligenz einem Jesuitenpater aufgefallen war, welcher sich seiner annahm und erzog, wird bald zum Opfer seines Beschützers. Als er nach Europa mitgenommen wird, merkt er zu spät, dass er in eine echte Glaubensfalle getappt ist. Man hat ihn zunächst nur die allgemeinen Glaubenswahrheiten des Christentums gelehrt, die er mit Enthusiasmus aufgenommen hat. In Avignon nun wollen Pater Alexander von Rhodos und seine Brüder ihn auf das Dogma der Transsubstantiation verpflichten, was der Formosaner, obwohl er an Blutvergießen und den Verzehr von Menschenfleisch gewöhnt ist, weit von sich weist. Man droht ihm also mit der Inquisition. Um der Befragung zu entgehen, flieht er, kommt nach Köln, wo er die Lutheraner und ihre Konsubstantiation kennenlernt, die für ihn ebenso schockierend ist wie »die Transubstantiation von Rom«. Der Calvinismus reizt ihn mehr. Man darf nicht vergessen, dass der ›echte‹ Psalmanaazaar wahrscheinlich ein Hugenotte ohne Aufenthaltsberechtigung war, der unmittelbar nach dem Widerruf des Edikts von Nantes aus Frankreich geflohen ist. Der Formosaner spricht also mit einem reformierten Pastor, der mit ihm einer Meinung ist, was die »Absurditäten der Doktrin der Römer und Lutheraner« betrifft, und Psalmanaazaar ist nun wirklich dazu bereit, zum Christentum zu konvertieren. Doch erweist sich der Pastor als dem Prinzip der absoluten Prädestination zu sehr zugeneigt. Der Formosaner fühlt sich erneut abgelehnt und irrt erfolglos von Konfession zu Konfession, um in den Niederlanden zu stranden, wo er sich freudigen Herzens dem Anglikanismus zuwendet, in seinen Augen der einzigen Doktrin, die sich mit der Naturreligion vereinbaren lässt und zudem noch am besten der »Lehre der Apostel und den unter den Urchristen verbreiteten Gebräuchen« entspricht.21 Ein Dankgebet beendet das XXXIX. und letzte Kapitel: »Es gebe der Himmel, dass
20 Siehe hierzu den Hinweis von Todorov: Les Morales de l’Histoire, S. 135. 21 Psalmanaazaar: Description De L’Ile Formosa, Kap. XXXVIII, S. 296.
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ich nie mehr umkehre; und diesem großen Gott sei aller Ruhm und alle Ehre, jetzt und in Ewigkeit. Amen.« Die Fabel von Formosa scheint letztlich einfach und klar zu sein. Das Rätsel in Gestalt eines geographischen Rebus wird alsbald in eine erbauliche Geschichte mit der Krönung eines hoch moralischen Endes aufgelöst. In den Jahren, die auf den Widerruf des Edikts von Nantes folgen, stellt ein solches Zeugnis ein schwerwiegendes Argument im Kampf gegen die römische Kirche und gegen den Triumph der Intoleranz dar. Die Beschreibung ist indessen listenreicher als es auf den ersten Blick erscheint, und der Autor könnte den Leser letztlich täuschen. Die Allegorie des Kannibalismus könnte nämlich tatsächlich noch eine andere Bedeutung haben: Sicher ist der Katholizismus eine Form der Anthropophagie, aber nicht nur er allein verstößt gegen dieses Nahrungstabu – im übertragenen Sinn, versteht sich. Die von Calvin und seinen Anhängern vertretene absolute Prädestinationslehre ist kaum weniger »ungeheuerlich« als das »absurde« Dogma der Transsubstantiation. Bei einer öffentlichen Debatte im niederländischen Sluis hat der Formosaner, der noch zögert sich taufen zu lassen, leichtes Spiel, denjenigen zu antworten, die sich über die Unmenschlichkeit der Kinderopfer empören und den Formosanern »einen sehr grausamen und sehr barbarischen Gott« vorwerfen: Wenn ihr unseren Gott grausam nennt, weil er einigen seiner Geschöpfe das irdische Leben nimmt, um sie auf ewig glücklich zu machen, wie soll man dann denjenigen nennen, der Geschöpfe nur zu diesem Zweck aus dem Nichts hervorholt, um sie unüberbietbar unglücklich werden zu lassen, und der sie zu ewigen Qualen verurteilt, bevor sie überhaupt geboren sind, ohne Rücksicht auf die guten und die bösen Taten, die sie einmal vollbringen werden […]?22
Diese ungewöhnliche Ansprache lehrt, dass das Symbol leicht noch erschreckender sein kann als die Realität selbst. Die notwendigerweise in weiter Ferne liegende Perspektive ewiger Schmerzen, mit denen Unschuldige bestraft werden, ist für den Fremden noch abstoßender als das Spektakel zerstückelter und gebratener Kinder zum größeren
22 Ebd., Kap. XXXVII, S. 279.
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Ruhm des Gottes von Formosa. Selbst wenn man hier Ironie und eine gezielte Paradoxie mit berücksichtigen muss, ist am Ende die Tyrannei des mystischen Körpers unerträglicher als die Misshandlungen an lebendigen Körpern. Zwar haben die Calvinisten in ihrer Opposition gegenüber dem Papst versucht, ihre Religion zu reformieren und zu reinigen, indem sie jede Spur des ursprünglichen Opferzwangs tilgten. Doch haben sie so den Schrecken, der auf den Seelen lastet, nicht beendet. Ganz im Gegenteil: Sie haben damit das Zerstörungswerk bis an den Anfang der Geschichte zurückverlegt und ins Unendliche ausgeweitet. Obwohl sein Text wie ein improvisiertes Gemisch wirkt, hat George Psalmanaazaar damit genau das erfasst, was man einmal mehr als Wiederkehr des Verdrängten beschreiben kann. Dagegen ist die Lösung, die er am Ende seines geographisch-theologischen Romans vorschlägt, nicht unbedingt überzeugend. Reicht es tatsächlich aus, diese Bemühungen um eine »Reformation« fortzuführen und einen vernünftigen Mittelweg einzuschlagen, um in einer friedlichen und heiteren Religion ohne Opfer und ohne Bedrohung die Gewissensfreiheit des Einzelnen mit einer furchtbar besitzergreifenden und alles verschlingenden Weltkirche zu versöhnen? Die Anglikaner in der Beschreibung und ihr neues Mitglied scheinen jedenfalls nicht daran zu zweifeln.
Nachwort J ÖRG D ÜNNE
I. R AUMKÜNSTE , R AUMLEGENDEN Unter dem Titel Arts et légendes d’espace erscheint im Jahr 1981 die erste von Frank Lestringant mit verantwortete Publikation eines Kolloquiums an der Pariser École Normale Supérieure.1 Der Titel kann gleichsam als Motto für seine zahlreichen Arbeiten zur Frühen Neuzeit verstanden werden. Räume, so die Annahme, die dieser Publikation lange vor der aktuellen kulturwissenschaftlichen Konjunktur von Raumfragen zu Grunde liegt, sind nicht gegeben, sondern ihre Konstitution ist eine Kunst, genauer: eine Kunstfertigkeit (art de faire).2 Der materiellen Praxis als Kunst, einen Raum in Besitz zu nehmen, ihn sich anzueignen, entspricht auf der diskursiven Seite die Fertigkeit, die Lesbarkeit dieses Raums, also seinen – der Etymologie folgend – ›legendären‹ Charakter zu erkennen: In den frühneuzeitlichen Raumlegenden gibt sich aber nicht nur das traditionelle heilsgeschichtliche Wissen über die Welt mitsamt ihren wunderbaren Rändern zu erkennen, sondern auch ein zunehmend erfahrungsbasiertes
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Die wichtigsten eigenständigen Publikationen Lestringants, darunter alle in der Folge erwähnten Bücher, sind am Ende dieses Nachworts in einem Verzeichnis der wichtigsten Publikationen des Autors zusammengefasst. Vgl. zur Bedeutung der »arts de faire« Michel de Certeau: L’Invention du quotidien (1980), Bd. 1, Paris: Gallimard (»Folio Essais«) 1990. Dt. Übersetzung: Kunst des Handelns, a.d. Frz. von Ronald Vouillé, Berlin: Merve 1988; Vgl. zur Verbindung zwischen Michel de Certeaus Praxistheorie und Frank Lestringant auch weiter unten, Teil III dieses Nachworts.
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Weltwissen, das sich in verschiedensten räumlichen Anordnungen entfaltet. Prototyp dieser neuen Form von »Lesbarkeit« der Welt3 ist nicht die Heiligen-, sondern die Kartenlegende, in der sich heilsgeschichtlich überliefertes und neu verbreitetes Erfahrungswissen überlagern.4 Über die Raumkünste und Raumlegenden wird, so der Grundgedanke Frank Lestringants zur geographischen Literatur der Frühen Neuzeit, Raum nicht einfach dargestellt oder vermessen, sondern in all seiner Vielschichtigkeit neu erfunden. Der Begriff der Erfindung ist dabei in einem spezifischen Sinn zu verstehen. Dass die Renaissance selbst dann, wenn man sich von einer heroischen Konzeption dieser Epoche5 inzwischen verabschiedet hat, eine Zeit ist, der sich zahlreiche künstlerische oder literarische Erfindungen, wie z.B. die perspektivische Malerei verdanken, ist ein Gemeinplatz. Weniger selbstverständlich ist es jedoch anzunehmen, dass das 16. Jahrhundert nicht nur bestimmte folgenreiche Kulturtechniken, sondern, wie dies zum ersten Mal Edmundo O’Gorman in den späten Fünfzigerjahren des 20. Jahrhunderts formuliert hat, auch geographische Räume, ja sogar einen ganzen Kontinent namens Amerika weniger entdeckt als vielmehr »erfunden« hat:6 Nicht die (erstmalige oder bereits in einer Tradition vorangegangener Reisen stehende) Landung auf dem amerikanischen Kontinent durch Kolumbus ist für O’Gorman ausschlaggebend, sondern der Moment, in dem die damit verbundene ›Neuheit‹ auch als solche erkannt und folgenreich wird – aus diesem Grund ist für O’Gorman auch nicht der eher zufällige, eigentlich auf der Suche nach Ostasien befindliche ›Entdecker‹ Kolumbus, sondern der im Bewusstsein der Unerhörtheit dieses Ereig-
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Vgl. dazu grundlegend Hans Blumenberg: Die Lesbarkeit der Welt (1981), Frankfurt a.M.: Suhrkamp 2003. Vgl. dazu insbesondere den Mitherausgeber des Bandes zu den Arts et légendes d’espaces, Christian Jacob, in seiner Geschichte der Kartographie unter dem Titel: L’empire des cartes, Paris: Albin Michel 1992. Vgl. dazu etwa Jacob Burckhardt: Die Kultur der Renaissance in Italien (1860), Frankfurt a.M.: Fischer 2009. Zu einer nuancierten aktuellen Einschätzung des Verhältnisses von Tradition und Innovation in der Renaissance vgl. bspw. Christian Kiening: Das wilde Subjekt. Kleine Poetik der Neuen Welt, Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht 2006 v.a. S. 13-28. Edmundo O’Gorman: La invención de América (1958), México: Fondo de cultura económica 1991.
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nisses reisende als auch schreibende Amerigo Vespucci der ›Erfinder‹ Amerikas. Die Frage, wie Amerika als geographischer Raum überhaupt ›erfunden‹ werden konnte, führt aber noch weiter, nämlich zu der Frage, welche Voraussetzungen im Umgang mit Räumen in der Frühen Neuzeit vorgelegen haben müssen, damit so etwas wie eine ›Neue Welt‹ auf den Plan treten kann7 – dazu gehören arts de faire ebenso wie arts de dire, d.h. praktische Fähigkeiten ebenso wie rhetorische: ›Erfindungen‹ sind an Techniken des Suchens sowie des Findens von Neuem geknüpft, und dies nicht nur auf dem Gebiet der Navigation, sondern auch auf dem Feld der rhetorischen inventio. Die Konsequenz, die Frank Lestringant aus dieser Frage gezogen hat und die sich im Titel der vorliegenden Sammlung von Beiträgen niederschlägt, ist diejenige, dass man es im 16. Jahrhundert nicht nur mit der Erfindung eines spezifischen Raums zu tun hat, in dem das Neue erscheinen kann, sondern dass zu dieser Zeit gleichzeitig eine Matrix der Raumwahrnehmung und Raumbeschreibung geschaffen werden musste, um dieses Neue überhaupt in Erscheinung treten zu lassen. Der mediale Ort, von dem Frank Lestringant zufolge die Erfindung des Raumes in der Frühen Neuzeit ausgeht, ist die Karte in ihren verschiedenen Erscheinungsformen. Von der Insel- bis zur Weltkarte, vom zweckbestimmten Navigationswerkzeug bis hin zur allegorischen Darstellung der verkehrten Welt ist die Karte nicht nur ein Medium, das sich auf ein Territorium bezieht, sondern das in der Ökonomie der frühneuzeitlichen Zeichenpraktiken eine strategisch besonders wichtige Rolle spielt: Die die Welt der Lesbarkeit darbietende Karte ist in der Frühen Neuzeit einerseits ein Gedächtnisspeicher, sie ist aber auch Erzähl- und Operationsmatrix, die die literarische Imagination ebenso aktiviert wie die Kolonial- und Handelsmacht des 16. Jahrhunderts.8
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Zur ›Neuheit‹ der Neuen Welt vgl. Susanne Burghartz: »Alt, neu oder jung? Zur Neuheit der ›Neuen Welt‹«, in: Achatz v. Müller/Jürgen v. Ungern-Sternberg (Hg.): Die Wahrnehmung des Neuen in Antike und Renaissance, München u.a.: Saur 2004, S. 182-200. Vgl. dazu in diesem Band den Beitrag »Zum Verhältnis von Erzählung und Karte«. Die dort entfalteten Überlegungen waren grundlegend für die vom Verfasser dieses Nachworts vorgelegte Studie zur Kartographischen Imagination. Erinnern, Erzählen und Fingieren in der Frühen Neuzeit, München: Fink 2011.
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Die ›Neue Welt‹ wird dabei zum prototypischen Ort, an dem die verschiedensten Ausprägungen »anderer Räume« erfahrbar werden, die Michel Foucault als Heterotopien bezeichnet hat.9 Doch damit noch nicht genug. Lestringant behauptet obendrein, dass sich mit den Karten und den damit verknüpften semiotischen sowie materiellen Operationen in der Frühen Neuzeit auch ein Umbruch im Denken des ›Menschen‹ vollzieht: Vor dem Hintergrund des frühneuzeitlichen Ähnlichkeitswissens entsteht im 16. Jahrhundert auch eine neue Wahrnehmung der menschlichen Natur, die nicht mehr ausschließlich in einem Analogieverhältnis von Mikro- und Makrokosmos, von der Anatomie des menschlichen Körpers und der Vermessung der Erdoberfläche erfasst wird; es entfaltet sich im Zuge der Reisen über die Ränder der ›Alten Welt‹ hinaus vielmehr eine zunehmend ›horizontale‹ Bestandsaufnahme unterschiedlicher menschlicher Zivilisationen auf unbekannten Inseln wie auch auf Kontinenten. Diese Bestandsaufnahme bringt den Prototyp der Wissenschaft hervor, die man im deutschsprachigen Raum als Ethnologie, im französischsprachigen Raum aber ganz allgemein als Anthropologie, als Wissenschaft vom Menschen bezeichnet. Charakteristisch für diese frühneuzeitliche Wissenschaft vom Menschen ist jedoch, dass sie sich nicht von vornherein als Analyse der Grundlagen der anthropologischen Grundlagen des je eigenen Denkens und Handelns konstituiert wie das moderne »Zeitalter des Menschen«10, sondern zunächst einmal als Beobachtung des fremden, ›wilden‹ Menschen. Frühneuzeitliche Anthropologie ist damit zumindest noch nicht direkt eine moderne Humanwissenschaft, sie ist vielmehr eine Heterologie, eine Wissenschaft vom Anderen bzw. von den anderen Menschen11 – noch
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Michel Foucault: »Des espaces autres«, in: M.F.: Dits et écrits, hg. v. Daniel Defert u. François Ewald, Paris: Gallimard, Bd. 4, S. 752-762. Dt. Übersetzung: »Von anderen Räumen«, a.d. Frz. v. Michael Bischoff, in: Jörg Dünne/Stephan Günzel (Hg.): Raumtheorie. Grundlagentexte aus Philosophie und Kulturwissenschaften, Frankfurt a.M.: Suhrkamp 2006, S. 317-329. 10 Vgl. dazu Michel Foucaults Beschreibung vom Menschen als »empirischtranszendentale Doublette« in: Les mots et les choses, Paris: Gallimard 1966, S. 329. Dt. Übersetzung: Die Ordnung der Dinge, a.d. Frz. v. Ulrich Köppen, Frankfurt a.M.: Suhrkamp 1971, S. 384. 11 Zu dem von Michel de Certeau geprägten Begriff der Heterologie s.u., Teil III dieses Nachworts.
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Claude Lévi-Strauss beruft sich in dieser Tradition auf Jean de Léry und seine Brasilien-Aufzeichnungen, und Frank Lestringant schreibt in gewisser Weise selbst wiederum Lévi-Strauss’ Anthropologie vor der Entstehung der Humanwissenschaften fort.12 Andere Räume, andere Menschen, Heterotopien und Heterologien – das sind die beiden Achsen, an denen sich Frank Lestringants Forschungen zur frühen Neuzeit orientieren; und es sind auch die beiden Achsen, denen die beiden Teile des vorliegenden Bandes folgen, mit dem versucht wird, einen repräsentativen Querschnitt der Arbeiten eines der bedeutendsten gegenwärtigen französischen Renaissance-Forscher zu präsentieren.
II. R EISELITERATUR
UND
P ROTESTANTISMUS
Frank Lestringant (Jahrgang 1951) ist ohne Zweifel nicht nur einer der produktivsten, sondern auch einer der kulturtheoretisch versiertesten literaturwissenschaftlichen Frühneuzeit-Experten in der gegenwärtigen französischen Hochschullandschaft. Er ist zwar einerseits, wie dies an französischen Universitäten üblich ist, als Inhaber einer Professur an der Pariser Sorbonne Spezialist für eine ganz bestimmte Epoche, namentlich für das 16. Jahrhundert und insbesondere für das Verhältnis von Geographie, Literatur und religiösen Praktiken in der Frühen Neuzeit; darüber hinaus aber ist er einer der nicht übermäßig zahlreichen Universitätsprofessoren, die als Spezialisten auch weit über seine Epoche und sein Fachgebiet im engeren Sinn hinaus anerkannt und gefragt sind – was sicher nicht zuletzt daran liegt, dass er von seiner Ausbildung her auch Altphilologe und Anthropologe ist.13 Frank Lestringant hat sich so ausführlich wie kaum jemand sonst vor ihm mit der frühneuzeitlichen »Werkstatt des Kosmographen« beschäftigt (so der Titel seiner 1991 erschienen Monographie zu diesem
12 Vgl. dazu in diesem Band den Beitrag »Buße für die Renaissance?«. 13 Nicht näher eingegangen kann dagegen an dieser Stelle auf neuere Arbeiten Frank Lestringants zur modernen Literatur, insbesondere zu Alfred de Musset und zu André Gide – derzeit arbeitet er u.a. an einer monumentalen zweibändigen Gide-Biographie, deren erster Band 2011 bei Flammarion unter dem Titel Gide, l’inquiéteur erschienen ist.
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Thema):14 Die Kosmographie ist im 16. Jahrhundert die Bezeichnung für die Disziplin, die das gesamte Wissen über die ›Welt‹ in ptolemäischer Tradition zu versammeln versucht,15 mit all den Spannungen und Brüchen, die dies gerade zu dieser Zeit nach sich zieht. Textgrundlage der Beschäftigung mit der Kosmographie ist für Frank Lestringant vor allem die intensive Auseinandersetzung mit André Thevet, dem »Kosmographen der letzten Valois-Herrscher« (wie es in seiner Thevet-Biographie, ebenfalls aus dem Jahr 1991, heißt). Dieser wissensgeschichtliche Hintergrund erlaubt ihm einen neuen Zugriff auf die französischsprachige Reiseliteratur der Renaissance von François Rabelais16 über Jean de Léry bis hin zu Michel de Montaigne.17 Lestringant ist auf diesem Feld jedoch nicht nur durch seine wissenschaftlichen Monographien hervorgetreten, sondern auch durch seine Editionen zahlreicher Texte von Thevet, der Brasilienreise von Jean de Léry als auch der Brasilien-Texte von Michel de Montaignes in ihrem literatur- sowie kulturgeschichtlichen Kontext. Ein laufendes Projekt widmet sich der Faksimile-Edition des bislang unveröffentlichten Manukripts der Universellen Kosmographie (Cosmographie universelle) des normannischen Seefahrers und Kartographen Guillaume Le Testu.18 Besondere Erwähnung unter den Schriften zum Verhältnis von Geographie und Literatur in der Frühen Neuzeit verdient die 2002 er-
14 Die im Folgenden ohne Einzelnachweis genannten Monographien und Editionen sind am Ende dieses Nachworts in chronologischer Reihenfolge aufgeführt. 15 Zur frühneuzeitlichen Kosmographie und den Wandlungen, den dieser Begriff von Ptolemäus bis zur Renaissance unterworfen ist, vgl. ausführlich Jean-Marc Besse: Les Grandeurs de la terre: aspects du savoir géographique à la Renaissance, Lyon: ENS 2003. 16 Vgl. im vorliegenden Band den Beitrag »Zum Sinn des Blasens«, der dem Physeter bei Rabelais gewidmet ist. 17 Eine andere Art von ›Werkstatt‹, in der es ebenfalls weniger um ›reine‹ Kunst als um eine spezifische Kunstfertigkeit in der Herstellung neuer Welten geht, untersucht Lestringant in Bezug auf den königlichen Töpfer Bernard Palissy – vgl. dazu im vorliegenden Band den Beitrag »Bernard Palissy oder die Unheimlichkeit«. 18 Der ursprünglich geplante Abdruck eines Beitrags zu Le Testu in diesem Band war aufgrund von rechtlichen Fragen in Zusammenhang mit der geplanten Edition, die im Herbst 2012 erscheinen soll, nicht möglich. Im Rahmen dieser Edition ist aber eine eigene deutsche Übersetzung geplant.
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schienene Monographie über Insularien. Inselkarten und Inselbücher beschäftigen Lestringant seit seinen frühesten Publikationen, und nicht zuletzt stammt auch von André Thevet ein umfangreiches Insularium – Lestringant verfolgt in seiner Monographie die gesamte Geschichte und die Funktionen einer Gattung des geographischen Schifttums und ihre literarische Folgen von der Renaissance bis in die Moderne hinein. Das Insularium ist nach Lestringant deswegen so bedeutsam, weil die Insel nicht nur in navigationspraktischer Hinsicht ein ›Übergangsobjekt‹ zwischen der Schifffahrt auf dem Mittelmeer und der transozeanischen Navigation im so genannten ›Zeitalter der Entdeckungen‹ ist, sondern darüber hinaus auch der prototypische Raum für die inventive Wissenstopik der Renaissance: Inseln sind nach Lestringant Wissensräume, in denen sich das Singuläre ansiedelt. Auf diese Weise wird ein unendlich offener, aber auch entsprechend fragmentierter ›modularer‹ Wissensraum als die topologische und topographische Grundlage geschaffen, auf der in der Frühen Neuzeit das ›Neue‹ vorstellbar und erfahrbar wird. Der zweite Schwerpunkt der Forschungen Lestringants neben der Reiseliteratur ist die Geschichte des Protestantismus in Frankreich vor allem zur Zeit der Religionskriege. Das protestantische Schrifttum bringt zu dieser Zeit eine Reihe satirisch-allegorischer Polemiken gegen das Papsttum hervor, die sich häufig auf einer kartographischen Matrix entfalten – einschlägig sind in diesem Bereich vor allem Lestringants Studien zu François Rabelais sowie zur allegorischen, katholizismuskritischen Kartographie, u.a. bei Jean-Baptiste Trento und Pierre Eskrich, deren Neue Papistische Weltkarte ebenfalls durch Lestringant ediert wurde.19 Bisweilen spitzt sich die Polemik zur Zeit der Religionskriege bis zur Darstellung eines tragischen Theaters der Grausamkeit zu, die auf protestantischer wie auf katholischer Seite durchaus vergleichbare Märtyrerlegenden hervorbringt: Ihnen hat Lestringant nicht nur einen eigenen Essai gewidmet, sondern an ihrer Aufarbeitung war er auch mit gewichtigen Editionen beteiligt (vgl. seine Ausgabe von Agrippa d’Aubignés Tragiques, aber auch die Edition des den Grausamkeiten der Protestanten gewidmete Theatrum crudelitatum von Richard Verstegan). Doch auch die Protestantismus-
19 Vgl. im vorliegenden Band den Beitrag »Allegorische Welten«.
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Forschungen Lestringants stehen in engstem Zusammenhang mit der Reiseliteratur des 16. Jahrhunderts, da es häufig Hugenotten waren, die sich zur Zeit der Wirren der Religionskriege auf den Weg nach Amerika machten, teils in der Hoffnung, in einem ›antarktischen Frankreich‹ auf der anderen Hemisphäre endlich einen Ort ohne religiöse Verfolgung zu finden: Dass diese Hoffnung ebenso kurzlebig wie illusionär war und dass die innerfranzösischen Religionskriege aufs Engste mit den Bestrebungen der Kolonisierung einhergingen, zeigt bereits Lestringants erste Monographie von 1990, die dem Verhältnis von Hugenotten und Wilden gewidmet ist: In Fortsetzung dieser Studien untersucht ein weiteres, 1996 erschienenes Buch am Beispiel des Eucharistiestreits, wie beispielsweise in der Bucht von Guanabara zur Zeit Villegagnons in Brasilien erbitterte Auseinandersetzungen um das richtige Verständnis des Abendmahls geführt wurden und wie die Reise nach Brasilien unversehens zu einer »Reise in die Eucharistie« werden konnte.20 An der Schnittstelle von Reiseliteratur und protestantischer Religion bzw. Anthropologie gilt es erneut eine Monographie besonders hervorzuheben, die nicht zuletzt durch ihre Übersetzung ins Englische vielleicht das bekannteste Buch Lestringants ist, nämlich die 1994 erschienene Studie über die Figur des Kannibalen: Die besondere Popularität dieser Figur der Alterität in der Renaissance wird hier erneut in einen großen und gelehrten geschichtlichen Aufriss eingebettet, der von der Antike von hin zur Moderne reicht. Der Kannibale erweist sich hierbei als besonders aufschlussreiches Paradigma einer Heterologie, dem nicht nur eine primitive Wildheit zugeschrieben wird, sondern in dem die eigene unheimliche Kehrseite der europäischen Anthropologie mit verhandelt wird – kein Wunder, dass die Figur des Kannibalen auch in der Moderne nicht aufhört, die Kulturtheorie zu beunruhigen. So wie die Insel die protoypische Figur des Raumdenkens der Frühen Neuzeit darstellt, erscheint der Kannibale als die paradigmatische Figur der frühneuzeitlichen Anthropologie.
20 Zu einem späten Variante der »Reise in die Eucharistie« vgl. im vorliegenden Band den Beitrag zu Georges Psalmanaazaars Insel Formosa.
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III. V ERORTUNGEN
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ANSCHLÜSSE
Im Jahr 1980 und somit kurz vor den Arts et légendes d’espace erscheint Michel de Certeaus bekanntestes Buch, dessen erster Teil ins Deutsche unter dem Titel Kunst des Handelns übersetzt ist. Dort untersucht Certeau die arts de faire, die Kunstfertigkeiten, mit der der ›normale Mensch‹ den Alltag meistert; der französischer Originaltitel der Studie, deren zweiter Teil in Zusammenarbeit mit Luce Giard dem Wohnen und Kochen gewidmet ist, lautet: L’invention du quotidien – »die Erfindung des Alltags«. Die Erfindung, von der Certeaus Studie handelt, findet dabei zum einem großen Teil über Praktiken der Aneignung von Räumen statt – erst als »Orte, mit denen man etwas macht« konstituieren sich demnach gelebte Räume.21 Als die Schaffung eines solchen »Orts, mit dem man etwas macht«, könnte man auch die Erfindung der ›Neuen Welt‹ in der Renaissance beschreiben. Die Raumpraktiken beziehen sich dabei nicht nur auf die koloniale Aneignung und auf die ökonomische Ausbeutung, sondern auch auf die imaginative Besetzung und die aus dem Wechselspiel beider resultierende Schaffung von sozialen sowie literarischen Heterotopien. Die Tatsache, dass Erfindungen schon bei Michel de Certeau an Raumpraktiken gekoppelt sind, lässt vermuten, dass es deutliche Verbindungslinien zwischen Michel de Certeaus Denken und Frank Lestringant gibt, die jedoch nicht allein auf die Frage der Raumpraktiken beschränkt sind; diese Parallelen erstrecken sich auch auf die Frage nach der Geschichte der Anthropologie. Im Grunde arbeitet Frank Lestringant an der Fortsetzung eines Projekts, das Michel de Certeau zwar verschiedentlich skizziert, jedoch nie ausgeführt hatte: an dem Projekt einer »Heterologie«, d.h. einer Wissenschaft, oder vielleicht treffender: einer Wissenspoetik der Alterität.22 Die Heterologie ist nach Certeau zunächst einmal der Versuch, über ein Anderes
21 Vgl. Certeau: L’Invention du quotidien, S. 173. Dt. Übersetzung: Kunst des Handelns, S. 218. 22 Vgl. dazu etwa »L’absent de l’Histoire«, in: M.d.C.: Histoire et psychanalyse entre science et fiction (1987), hg. v. Luce Giard, Paris: Gallimard 2002, S. 208-218. Die wichtigsten Beiträge Certeaus zu diesen Thema in englischer Sprache sind publiziert unter dem Titel: Heterologies: Discourse on the Other, a.d. Frz. v. Brian Massumi, Minneapolis: Univ. of Minnesota Press 2006.
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zu sprechen, indem man sich selbst einen Ort zuweist, von dem man aus man glaubt, bestimmen zu können, was dieses Andere, das nicht für selbst spricht, ›eigentlich‹ ist oder will. Die Heterologie ›übersetzt‹ somit etwas Fremdes in die Sprache des Eigenen – die Theologie ist in diesem Sinn ebenso eine Heterologie wie auch die Anthropologie oder die Psychoanalyse. Doch die Heterologie betreibt nicht nur eine Aneignung des Anderen, sondern die Beschäftigung mit dem Anderen hat eine Rückwirkung, die nicht nur zur Selbstvergewisserung und zur überlegenen Machtposition des Theologen, des Anthropologen oder des Psychoanalytikers führt, sondern auch zur Verunsicherung und Störung des klaren Verhältnisses von erkennendem Subjekt und erkanntem, beherrschtem Anderen – in die Eroberung der unterlegenen Neuen Welt, in die Beobachtung einer ›wilden‹ Menschheit ist zumindest potenziell immer schon die eigene Unsicherheit, ja sogar die eigene Wildheit eingeschrieben, die zur Signatur des neuzeitlichen Menschen wird. Montaignes anthropologische Skepsis ist der Ort, an dem sich diese Ambivalenz von Selbstermächtigung und Selbstinfragestellung vielleicht am deutlichsten entfaltet.23 Nicht immer wird die grundlegende Ambivalenz der Heterologie so deutlich wie in der mystischen Öffnung gegenüber der Alterität der Gotteserfahrung, die Michel de Certeau als radikales Beispiel einer sich selbst ›enteignenden‹, sich dem Anderen ausliefernden Heterologie untersucht.24 Doch liegen ganz offensichtlich die Impulse für die Beschäftigung Certeaus mit der Frage der Heterologie nicht nur in seiner intensiven Auseinandersetzung mit der Mystik, sondern eben auch mit der Reiseliteratur: In den Siebzigerjahren plante Certeau, seine Konzeption der Heterologie an dem Korpus der französischen Amerika- und vor allem Brasilien-Reisen zu profilieren, die Frank Lestringant etwa ein Jahrzehnt später zu untersuchen beginnt.25
23 Vgl. dazu Bernhard Teuber: »Figuratio impotentiae. Apologien der Entmächtigung bei Montaigne«, in: Rudolf Behrens/Roland Galle (Hg.): Konfigurationen der Macht in der frühen Neuzeit, Heidelberg: Winter 2000, S. 105-126. 24 Vgl. dazu insbesondere Michel de Certeau: La fable mystique, Paris: Gallimard 1982. Dt. Übersetzung: Mystische Fabel, a.d. Frz. v. Michael Lauble, Frankfurt a.M.: Suhrkamp 2010. 25 Michel de Certeau: »Travel Narratives of the French to Brazil: Sixteenth to Eighteenth Centuries«, in: Representations 33 (1991), S. 221-226. Vgl.
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Vermutlich hatte Certeau mit diesem Projekt bereits die die Überlagerungen und Spannungen von geographischem und anthropologischen Diskurs, also von Heterotopie und Heterologie im Blick, die Lestringant in immer neuen Konstellationen herausgearbeitet hat. Die besondere Ambivalenz der Heterologie der neuen Welt aus der Sicht protestantischer Reisender besteht dabei darin, dass sie besonders geeignet ist, die Brüche und Ambivalenzen innerhalb der ›europäischen‹ Perspektive aufzuzeigen, die eben selbst nicht als monolithischer Block der Kolonialmacht auftritt – vielmehr wiederholt die innereuropäische Differenz zwischen Protestanten und Katholiken gleichsam en abyme die koloniale Differenz zwischen Kolonisierten und Kolonisatoren; somit werden die protestantischen Reisenden zu Kolonisatoren auf der Flucht vor einem europäischen Feind, der unter Umständen genauso grausam und sogar in der gleichen grotesken Gestalt des Kannibalen erscheint wie der brasilianische ›Wilde‹. Das Sichtbarwerden dieser Ambivalenz ist es auch, die Lestringant dazu nutzt, um letztlich gegen die Fundamentalkritik der postcolonial studies das zu verteidigen, was er die »anthropologische Öffnung« der Renaissance nennt.26 Natürlich partizipieren auch die französischen Hugenotten und andere Protestanten auf ihre Weise an der Eroberung und Ausbeutung der Neuen Welt, aber bei ihnen wird in besonderer Weise deutlich, wie das koloniale othering aus der Perspektive der Europäer zurückverwiesen ist auf die Brüche und Spaltungen in der kulturellen Identität der Kolonisatoren selbst, von denen die Religionskriege sicherlich eines der augenfälligsten Zeugnisse sind. Und wo sich die postcolonial studies gerne der methodischen Leitmetapher des mapping bedienen,27 um eine scheinbar ›objektive‹ Darstellung der Verteilung von Machtrelationen auch jenseits von konkreten Topographien zu suggerieren, zeigt Lestringant mit größter historischer Detailgenauigkeit, dass die Zeichenregime der Karte, sei es der allegorischen oder auch der buchstäblichen Karte, einen Schauim gleichen Sonderheft zum Thema »The New World« über dieses Projekt Luce Giard: »Epilogue: Michel de Certeau’s Heterology and The New World«, ebd., S. 212-220. 26 Vgl. dazu den Eröffnungsbeitrag des zweiten Teils dieses Bandes. 27 So etwa die Annahme bei Graham Huggan: »Decolonizing the Map: PostColonialism, Post-Structuralism and the Cartographic Connection«, in: Ariel 20/4 (1989), S. 115-131.
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platz von Machtkämpfen eröffnen, in der einerseits koloniale Schicksale besiegelt werden, andererseits aber auch ein – im 16. Jahrhundert häufig auf allegorisch-satirischen Gebiet ausgetragener – Kampf um eine im wahrsten Sinn des Wortes ›weltanschauliche‹ Deutungshoheit innerhalb der europäischen Nationen und innerhalb der christlichen Religionen geführt wird. Er sensibilisiert damit letztlich den Blick für die diskursiven wie die operationalen Implikationen des vielleicht zentralen Aufschreibesystems vom ›Welt‹ in der Frühen Neuzeit: der Karte, sowie die mit ihr verbundenen Texte und Bilder. Hier besitzen die Forschungen Frank Lestringants eine nirgendwo explizit markierte, aber in der Sache um so auffälligere Nähe zur aktuellen medienwissenschaftlichen Kulturtechnikforschung im deutschsprachigen Raum,28 die von dem enormen Fundus an Wissen um die frühneuzeitliche geographische Literatur, in den Lestringant mit den vorliegenden Untersuchungen einen Einblick verleiht, nur profitieren kann.
IV. V ON
DER M ERCATOR -G ASTPROFESSUR ZU DEN M ERCATOR -V ORLESUNGEN
Die Idee zu der vorliegenden Publikation ist aus einer von der Deutschen Forschungsgemeinschaft geförderten Mercator-Gastprofessur hervorgegangen, die Frank Lestringant im Sommersemester 2010 an der Universität Erfurt wahrgenommen hat. Die in der Erfurter Literaturwissenschaft, am Max-Weber-Kolleg, am Forschungszentrum Gotha sowie an anderen Orten, insbesondere in Heidelberg und München, gehaltenen Vorträge wurden zu diesem Zweck zu einer um weitere aktuelle Forschungsbeiträge ergänzten Publikation zusammengestellt, die den Anspruch hat, einen der bekanntesten französischen
28 Vgl. dazu mit Bezug auf Karten insbesondere Wolfgang Schäffner: »Operationale Topographie. Repräsentationsräume in den Niederlanden um 1600«, in: Hans-Jörg Rheinberger u.a. (Hg.): Räume des Wissens. Repräsentation, Codierung, Spur, Berlin: Akademie-Verlag 1997, S. 63-90; sowie Bernhard Siegert: »Einleitung: Repräsentationen diskursiver Räume«, in: Hartmut Böhme (Hg.): Topographien der Literatur, Stuttgart/Weimar: Metzler 2005, S. 3-11.
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Renaissance-Forscher zum ersten Mal einem größeren Publikum in deutscher Sprache bekannt zu machen.29 Die Übersetzung konnte dem ebenso eloquenten wie lebendigen Stil des Autors nicht in allen Facetten gerecht werden; das Ziel bestand vor allem darin, einen möglichst präzisen und lesbaren deutschen Text zu präsentieren. Viele der von Frank Lestringant untersuchten und zitierten frühneuzeitlichen oder kritischen Texte sind nie oder nur in schwer greifbaren Übersetzungen ins Deutsche übertragen worden; deswegen wurden die Texte samt ihrer Titel meist mit übersetzt. Für Verstexte wurde eine Prosaübersetzung unter dem mit abgedruckten Originaltext angefertigt; auch die Originaltitel wurden beim erstmaligen Vorkommen jeweils in Klammern aufgeführt. Wo für Zitate eine gedruckte Übersetzung verfügbar war, wird darauf neben der vom Autor verwendeten französischen Originalfassung in den Fußnoten verwiesen. Mit Übersetzeranmerkungen wurde so sparsam wie möglich umgegangen, kommentiert wurden nur Ausdrücke oder Zusammenhänge, die im Deutschen entweder aus historischen oder aus sprachlichen Gründen nicht unmittelbar verständlich gewesen wären. Gefördert wurde die Publikation mit den Mitteln der Professur für Romanistische Literaturwissenschaft an der Universität Erfurt. Die Erstfassung der Übersetzung eines Großteils der hier versammelten Beiträge hat Kathrin Fehringer erstellt; für die dabei investierte enorme Arbeit sei ihr ebenso gedankt wie Johannes Bluth für die aufmerksame Korrektur der übersetzten deutschen Texte. Schließlich gilt der Dank des Herausgebers den Reihenherausgebern, insbesondere Wolfram Nitsch, die die Aufnahme den Bandes in die Reihe ›machina‹ ermöglicht haben, sowie dem transcript Verlag für die professionelle und vertrauensvolle Zusammenarbeit.
29 Der übersetzte Text eines weiteren im Sommer 2010 an der Universität Potsdam gehaltenen Vortrags ist inzwischen unter dem Titel »Die Wilden Europas: Der Korse, der Sarde, der Lappe« erschienen in: Ralf Pröve/Cornelia Klettke (Hg.): Brennpunkte kultureller Begegnungen auf dem Weg zu einem modernen Europa. Identitäten und Alteritäten eines Kontinents, Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht 2011, S. 27-46.
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W ICHTIGSTE V ERÖFFENTLICHUNGEN VON F RANK L ESTRINGANT ZUR F RÜHEN N EUZEIT Monographien Le Huguenot et le sauvage. La controverse coloniale, en France, au temps des guerres de Religion (1555-1589), Paris: Aux Amateurs de livres/Klincksieck 1990 (3., erw. u. korr. Aufl. Genf: Droz 2004). André Thevet, cosmographe des derniers Valois, Genf: Droz 1991. L’Atelier du cosmographe, ou l’image du monde à la Renaissance, Paris: Albin Michel 1991. (Engl. Übersetzung: Mapping the Renaissance World, a.d. Französischen ins Englische v. David Fausett, Cambridge: Polity Press/Berkeley: University of California Press 1997.) Écrire le monde à la Renaissance. Quinze études sur Rabelais, Postel, Bodin et la littérature géographique, Caen: Éditions Paradigme 1993. Le Cannibale, grandeur et décadence, Vorwort v. Pierre Chaunu, Paris: Perrin 1994. (Engl. Übersetzung: Cannibals. The Discovery and Representation of the Cannibal from Columbus to Jules Verne, a.d. Französischen ins Englische v. Rosemary Morris, Cambridge: Polity Press/Berkeley: University of California Press 1997.) Une sainte horreur ou le voyage en Eucharistie, Vorwort v. Pierre Chaunu, Paris: P.U.F. 1996 (2., erw. u. korr. Aufl. Genf: Droz 2011).
L’Expérience huguenote au Nouveau Monde (XVIe siècle), Genf: Droz 1996. Jean de Léry ou l’invention du sauvage. Essai sur l’»Histoire d’un voyage faict en la terre du Brésil«, Paris: Champion 1999 (2., erw. Aufl. 2005). Le Livre des îles. Atlas et récits insulaires de la Genèse à Jules Verne, Genf: Droz 2002. »Sous la leçon des vents«. Le monde d’André Thevet, cosmographe de la Renaissance, Paris: Presses de l’Université de Paris-Sorbonne 2003.
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Lumière des martyrs. Essai sur le martyre au siècle des Réformes, Paris: Honoré Champion 2004.
Editionen André Thevet: Les Singularités de la France Antarctique. Le Brésil des Cannibales au XVIe siècle (Textauswahl, Einleitung und Kommentare), Paris: La Découverte/Maspéro 1983. André Thevet: Cosmographie de Levant (kritische Ausgabe), Genf: Droz 1985. Clément Marot: L’Adolescence clémentine. L’Enfer. Déploration de Florimond Robertet. Quatorze Psaumes (kommentierte Ausgabe), Paris: Gallimard («Poésie») 1987. Jean de Léry: Histoire d’un voyage faict en la terre du Bresil (kritische Ausgabe mit Vorwort u. Gespräch mit Claude Lévi-Strauss), Paris: Hachette 1994 (2. Aufl. 1999). Agrippa d’Aubigné: Les Tragiques (mit Einleitung und Kommentar), Paris: Gallimard 1995. Richard Verstegan: Théâtre des cruautés des hérétiques de notre temps (mit Einleitung und Kommentar), Paris: Éditions Chandeigne/Librairie Portugaise 1995. Bernard Palissy: La Recette veritable (kommentierte Ausgabe, mit Christian Barataud), Paris: Macula 1996. André Thevet: Le Brésil d'André Thevet. Les Singularités de la France Antarctique (vollständige Ausgabe mit Kommentar), Paris: Éditions Chandeigne 1997 (2., erw. Auflage 2011). Le Brésil de Montaigne. Le Nouveau Monde des »Essais« (15801592) (Textauswahl, Einleitung und Kommentar), Paris: Éditions Chandeigne 2005. André Thevet: Histoire d’André Thevet Angoumoisin, Cosmographe du Roy, de deux voyages par luy faits aux Indes Australes, et Occidentales (kritische Ausgabe, mit Jean-Claude Laborie), Genf: Droz 2006. Jean-Baptiste Trento/Pierre Eskrich: Histoire de la Mappe-Monde Nouvelle Papistique (kritische Ausgabe, mit Alessandra Preda), Genf: Droz 2009.
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Sammelbände Arts et légendes d'espaces. Figures du voyage et rhétoriques du monde (mit Christian Jacob u.a.), Paris: Presses de l'École normale supérieure 1981. Rhétorique de Montaigne (mit Vorwort von Marc Fumaroli und Nachwort von Claude Blum), Paris: Honoré Champion 1985. Études sur la Satyre Ménippée (mit Daniel Ménager u.a.), Genf: Droz 1987. La Liberté de conscience (XVIe-XVIIe siècles) (mit Hans R. Guggisberg und Jean-Claude Margolin), Genf : Droz 1991. La France-Amérique (XVIe-XVIIIe siècles), Paris: Honoré Champion 1998. D’encre de Brésil. Jean de Léry, écrivain (mit Marie-Christine Gomez-Géraud), Orléans: Paradigme 1999. Frank Lestringant ist außerdem Herausgeber der »Cahiers V.L. Saulnier«, die bei den Presses de l’Université Paris-Sorbonne erscheinen; letzte Publikationen: Le théâtre de la curiosité (2008) / Les méditations cosmographiques à la Renaissance (2009) / La Renaissance de Lucrèce (2010) / Contes et discours bigarrés (2011).
Abbildungsverzeichnis
»Zum Verhältnis von Erzählung und Karte« Abb. 1: »La France Antarctique/ autrement/ le Rio Ianeiro/ Tirée des Voyages que Villegagnon, et/ Jean de Léri ont faits au BRESIL les années 1557. et 1558«, anonyme kolorierte Kupferstich-Karte, 230 x 160 mm (um 1750), Paris, BnF, Cartes et Plans, Ge F.carte 5425. Abb 2: Jacques Le Moyne de Morgues, »Floridae Americae Provinciae Recens et exactissima descriptio« (um 1566), KupferstichKarte Floridas von Theodor de Bry in der Brevis narratio eorum quae in Florida Americae provincia Gallis acciderunt, Frankfurt a.M.: De Bry 1591. Abb 3: »Floridae promontorium ad quod Galli appellunt, Gallicum ab illis nuncupatum«, Tafel I in Jacques Le Moyne de Morgues, Floridam Provinciam inhabitantium Eicones, Frankfurt a.M.: De Bry 1591. Abb. 4: »Gallorum ad Maii flumen navigatio«, Tafel II in Jacques Le Moyne de Morgues, Floridam Provinciam inhabitantium Eicones, Frankfurt a.M.: De Bry 1591. »Vom Sinn des Blasens« Abb. 1: Olaus Magnus: Carta marina (1539), in: Olaus Magnus: Wunder des Nordens. Hg. v. Elena Balzamo u. Reinhard Kaiser, Frankfurt a.M.: Eichborn. Abb. 2: Ebd., Detail. »Allegorische Welten« Abb. 1: Jean-Baptiste Trento/Pierre Eskrich: Mappe-monde nouvelle papistique (1566), in: Histoire de la Mappe-Monde Nouvelle Papistique hg. v. Frank Lestringant u. Alessandra Preda, Genf: Droz 2009.
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Abb. 2-8: Sieben »drôleries« von Baptiste Pellerin (ca. 1560-1570), Feder-/Tuschezeichnungen, Musée du Louvre, Cabinet des arts graphiques, Réunion des Musées nationaux.
Nachweis der Erstveröffentlichungen
»Vorwort«. Erstveröffentlichung. Ins Deutsche übersetzt von Jörg Dünne. »Zum Verhältnis von Erzählung und Karte«. Zuerst in französischer Sprache: »Des récits, des cartes, quelle relation?«, in: Marie-Christine Pioffet (Hg.): Écrire des récits de voyage (XVe-XVIIIe siècles): esquisse d’une poétique en gestation, Québec: Les Presses de l’Université Laval 2008, S. 299-324. Ins Deutsche übersetzt von Kathrin Fehringer und Jörg Dünne. »Vom Sinn des Blasens. Der Physeter bei Rabelais«. Zuerst in französischer Sprache: »Le Souffle et le sens. À propos du Physetère (Quart Livre, ch. 33-34)«, in: Jean Céard/Marie-Luce Demonet (Hg.): Rabelais et la question du sens. Actes du colloque international de Cerisy-La-Salle (1er au 11 août 2000), Paris: Droz 2011 (= Études Rabelaisiennes 49), S. 37-58. Ins Deutsche übersetzt von Kathrin Fehringer und Jörg Dünne. »Allegorische Welten. Rabelais’ Fünftes Buch, die Neue Papistische Weltkarte und sieben satirische Zeichnungen von Baptiste Pellerin«. Erstveröffentlichung. Ins Deutsche übersetzt von Kathrin Fehringer und Jörg Dünne. »Buße für die Renaissance? Die anthropologische Öffnung des 16. Jahrhunderts«. Erstveröffentlichung. Ins Deutsche übersetzt von Kathrin Fehringer und Jörg Dünne »Bernard Palissy oder die Unheimlichkeit«. Zuerst in französischer Sprache: »Bernard Palissy ou l’inquiétante étrangeté. Le ›potier du roi‹ en son demi-millénaire«, in: Bulletin de la Société de l’histoire du protestantisme français 155, (Okt.-Dez. 2009), S. 767-779. Ins Deutsche übersetzt von Jörg Dünne.
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»Eine Reise in die Eucharistie. George Psalmanaazaars Insel Formosa«. Zuerst in französischer Sprache: »L’Ile Formosa de George Psalmanaazaar«, in: Frank Lestringant: Une sainte horreur, ou le voyage en Eucharistie, VXIe-XVIIIe siècle, Paris: P.U.F. 1996, S. 311-323. Neuauflage: Genf, Droz 2011 (»Titre courant«). Ins Deutsche übersetzt von Kathrin Fehringer und Jörg Dünne.
machina Matei Chihaia Der Golem-Effekt Orientierung und phantastische Immersion im Zeitalter des Kinos 2011, 392 Seiten, kart., 33,80 €, ISBN 978-3-8376-1714-6
Marina Ortrud M. Hertrampf Photographie und Roman Analyse – Form – Funktion. Intermedialität im Spannungsfeld von nouveau roman und postmoderner Ästhetik im Werk von Patrick Deville 2011, 432 Seiten, kart., 36,80 €, ISBN 978-3-8376-1718-4
Maria Imhof Schneller als der Schein Theatralität und Beschleunigung in der spanischen Romantik Mai 2012, ca. 200 Seiten, kart., ca. 25,80 €, ISBN 978-3-8376-1890-7
Leseproben, weitere Informationen und Bestellmöglichkeiten finden Sie unter www.transcript-verlag.de
machina Jochen Mecke (Hg.) Medien der Literatur Vom Almanach zur Hyperfiction. Stationen einer Mediengeschichte der Literatur vom 18. Jahrhundert bis zur Gegenwart 2010, 298 Seiten, kart., 29,80 €, ISBN 978-3-8376-1675-0
Christine Rath Schamhafte Geschichte Metahistorische Reflexionen im Werk von Jorge Luis Borges 2011, 266 Seiten, kart., 35,80 €, ISBN 978-3-8376-1766-5
Leseproben, weitere Informationen und Bestellmöglichkeiten finden Sie unter www.transcript-verlag.de