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German Pages 318 Year 1993
HEINER TIMMERMANN
Die Entstehung der Nationalbewegung in Europa 1750 -1849
Restitutio democraciae Europae - RdE
Dokumente und Schriften der Europäischen Akademie Otzenhausen Herausgegeben von Heiner Timmermann
Band 71
Die Entstehung der Nationalbewegung in Europa 1750-1849 Herausgegeben von Heiner Timmermann
Duncker & Humblot · Berlin
Die Deutsche Bibliothek- CIP-Einheitsaufnahme Die Entstehung der Nationalbewegung in Europa 1750- 1849 I hrsg. von Heiner Timmennann. - Berlin : Duncker und Humblot, 1993 (Dokumente und Schriften der Europäischen Akademie Otzenhausen e.V.; Bd. 71) ISBN 3-428-07864-0 NE: Timmermann, Heiner [Hrsg.]; Europäische Akademie {Otzenhausen): Dokumente und Schriften . . .
Alle Rechte vorbehalten © 1993 Duncker & Humblot GmbH, Berlin Fotoprint: Wemer Hildebrand, Berlin Printed in Gennany ISSN 0944-7431 ISBN 3-428-07864-0
Inhaltsverzeichnis I. Einführung Heiner Timmermann
Nationalbewegungen in Europa 1750- 1849 ......... . .............. .. .. .. . .. 9
II. Geteilte Völker Detlef Rogosch
Das Heilige Römische Reich Deutscher Nation und die Entstehung des deutschen Nationalgefühls .. . ................ . . . .... . ........ . .............. . ... . . . . 15 Georg Schmült
Der Rheinbund und die deutsche Nationalbewegung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 29 HelmuJ Reinalter
Österreich, der Liberalismus und die deutsche Nationalbewegung . . . . . . . . . . . . . . . . . 45 Angelica Gernerl
Bewußtsein und Bewegung - Überlegungen zur Nationalbewegung im italienischen Risorgimento . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 53 Andrzej Broiek
Die Nationalbewegung in den Teilungsgebieten Polens 1794-1864 ........ . . . .... . . 71 Antoni Podraza
Die Rolle der Emigration für die polnische Nationalbewegung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 89 Marian Zg6rniak
Der Anteil Polens an den nationalen Freiheitskämpfen 1832-1849 . . . . . . . . . . . . . . . . 103 III. Rußland Anatoli M ichailow
Die Russische Idee als ein Versuch der nationalen Selbstidentifikation . . . . . . . . . . . . . 119 Wladimir Tschernega
Russisches Reich und ukrainische Nationalbewegung im 18. und 19. Jahrhundert .... . 129
Inhaltsverzeichnis
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IV. Kleinere Völker und Nationalbewegungen Jörg-Peter FiN:kisen
Schweden-Stolz zwischen Rußland- und Frankreichbindung. "Königlicher Patriotismus" contra ''freiheitsaristokratische Abhängigkeiten zwischen Ny stad (1721) und der "Revolution des Jahres 1772'' . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 135 Hannes Saarinen
Grundlagen für die Herausbildung der finnischen Nation in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 149 Taina Huulalanen
Die Sprache in der nationalen Bewegung Finnlands .. ... ................ . ... . 163 Knud J. V. Jespersen
Die Nationalbewegung und Dänemarie 1750-1850 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 177 Gerhard Brunn
Die Anfänge der Katalanischen Nationalbewegung bis 1898 . . .... . ........ . . . .. 185 Stanislaw Grodzislci
Die Rolle der Religion in den Nationalbewegungen Ost-Mitteleuropas ....... . . .. . . 203 AleksaN:Ur Loit
Die nationalen Bewegungen im Baltikum . . . . . ... ........ .. ............. . . 213 Miroslaw Hroch
Die ersten Phasen der tschechischen Nationalbewegung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 229
Eva Kowalslcd Historische Tradition, Sprache und Ausbildung: Zu einigen Faktoren des Werdegangs der Slowaken zur Nation ...... . .... . ... . . . ... . .. . . . . . . . . . . .... . . . ..... . 241 Dan Berindei
Die Nationalbewegung der Rumänen im 18. und 19. Jahrhundert .......... . ... .. . 251 Mihai-$tefan Ceall.fU
Der Josephinismus und der Anfang der rumänischen Nationalbewegung in Bukowina (1774-1830) ... .. ........ . .... . .. .. ...... . ........ . . .. . . .... . . . . . . 261
Claus Rem~~r Innen- und außenpolitische Bedingungen für die Entstehung und das Wirken der ukrainischen Nationalbewegung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 273 HarllfiJU Zwahr
Die Sorben. Zur Sozial- und Kulturgeschichte eines Restvolkes im Jahrhundert des Entstehens der Europäischen Nationalbewegungen .... . .... . . .... . . . ... . ....... 291 Autorenverzeichnis ..... .. ... . ........... . .. . . .... . . .. ..... . ... . .... . .. 317
I. Einführung
Nationalbewegungen in Europa 1750- 1849 Von Heiner Timmennann Die Welle des "New Nationalism", die in den letzten Jahren Europa erfaßt hat und in den Staaten des ehemaligen Ostblocks besonders aktiv ist/wird, macht die Frage nach den historischen Wurzeln aktuell. Diese Wurzeln sind in jener Zeit zu suchen, in der sich moderne Nationalbewegungen in Europa formiert haben - also im 18. und 19. Jahrhundert, manche auch noch an der Schwelle zum 20. Jahrhundert. Man kann wohl grundsätzlich sagen, daß die Nationalbewegungen durch die Bestrebungen definiert werden können, die grundlegenden Defizite nationaler Existenz zu beseitigen: 1. die mangelnde politische Eigenständigkeit, 2. die unvollständige soziale Struktur und 3. die mangelnde Kultur in eigener Schriftsprache. Allerdings haben sich die Nationalbewegungen auch gleichzeitig an verschiedenen, miteinander konkurrierenden Merkmalen orientiert: Religion, Rasse, Tradition, Geschichte, Brauchtum, Bildung und Wissenschaft, Wirtschaft und wieder Sprache. Dann gab es noch die an einem Staat orientierte, imperialistisch ausgreifende Nationalbewegung - ebenso wie jene, die sich mit Kraft und Energie gegen eine einschmelzende Staatsgewalt wandte. Die Nationalbewegung war ein Konglomerat von Ideen und Handlungen, von Ausdrucksformen und Ausdrucksmitteln (z. B. Agrarreformen, Schule, Universität, Bildung, Vereinswesen: allgemein-kulturell, wirtschaftlich, ideell, wissenschaftlich-literarisch, später politische Parteien und Gewerkschaften, Journalistik, Sammeln und Aufzeichnen folkloristischen Materials: besonders Märchen, Volkslieder, Literatur), von tragenden Schichten und führenden Gruppen (Volksbewegungen, Intelligenz, Bedeutung der Volksschullehrer, Kulturvereine, akademisch Gebildete, Adel, Priesterseminare, Exilgruppen), von Zielen und Programmen (Bewegungen fehlte oft eine feste und einheitliche Organisation, die aufgestellten Forderungen umfaßten ein breites Spektrum, Abhängigkeit von Zeit, Ort und Entwicklung des Territoriums, der Wirtschaft, Kultur; Endziel: eigener Staat oder Autonomie) und von Reaktionen aufnationale Bewegungen (Aufnahme oder Ablehnung).
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Heiner Timmennann
Obwohl den Nationalbewegungen Grundmuster in der Typologie und Soziologie zugrundelagen, gab es in den verschiedenen Territorien und in verschiedenen Phasen Abweichungen und unterschiedliche Entwicklungen: Sie existierten ohne eigenen Staat und mit unvollständiger Sozialstruktur, mit eigenem Staat und mit unvollständiger Sozialstruktur, mit eigenem Staat und vollständiger Sozialstruktur. Sie waren häufig gerichtet gegen die wirtschaftlich und sozial vorgefundene politische Ordnung, wollten einen politisch-kulturellen Befreiungsprozeß. Dabei waren sie verwurzelt in der agrarischen Gesellschaft und übten gleichzeitig eine mobilisierende und bewußtseinsschaffende Funktion aus. Religiös umfaßten sie das Spektrum: säkulär, kirchenfeindlich, klerikal. Insgesamt kann gesagt werden, daß der kulturelle Faktor wichtiger war als der soziale. Kultur wurde oft benutzt als Vehikel für die Ausbreitung von Aktivitäten. Die Alphabetisierung, Entwicklung der Schulen und Universitäten, des Verlagswesens, der Zeitungen und Zeitschriften spielten eine tragende Rolle. Daß die Nationalbewegungen ab Mitte des 19. Jahrhunderts Massenbewegungen wurden, hat seine Gründe in der Bauembefreiung, die eine Erhöhung der Mobilität und eine Verbesserung der wirtschaftlichen Lage mit sich brachte, aber auch in politischen, wirtschaftlichen und sozialen Ereignissen und philosophisch-geistigen Strömungen. Für manche Territorien war die kirchlich-territoriale Organisation neben der Konstituierung des historischen Bewußtseins auf den Raum schon ein nationales Element. Der Prozeß der nationalen Institutionenbildung vollzog sich uneinheitlich in der Zeit und im Ablauf, wenn es auch grundsätzlich Gemeinsames gab. Völker waren oft nicht nur verteilt, sondern lebten auch unter verteilten Herrschaften. Die Umwandlung des Volksbewußtseins in Nationalbewußtsein ist als Konsequenz der Entwicklung der Gesellschaft auf sozialem, kulturellem, rechtlichem, wirtschaftlichem und politischem Gebiet zu betrachten. Das Entstehen der Nationalbewegungen ist ein komplexer, langwieriger und sich verfestigender Prozeß. Es können hier - historisch und politisch gesehen folgende Ereignisse die in sich auch schon wieder uneinheitliche Prozesse waren, genannt werden: - Die Lockerung alter Bindekräfte infolge der Auflösung der mittelalterlichen Universalmonarchie. Erst durch das nationale Gliederungsprinzip konnten neue, offensichtlich verlangte und gewünschte Bindungen geschaffen und gestaltet werden. - Zwar hatten Renaissance und Reformation andere Ziele als die der Bildung oder Vorbereitung zur Bildung von Nationalbewegungen gehabt, aber dennoch können ihre Einflüsse auf die Nationalbewegung nicht in Abrede gestellt werden. Nationale Differenzierungen waren die Folge des Verschwindens alter Autoritäten.
Nationalbewegungen in Europa
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- Die Humanisten entdeckten frühgeschichtliche Zusammenhänge, die u. a. zur Mythenbildung führten. Andere Völker und ihre Sitten wurden mit ihren Kulturen und Geschichten entdeckt Es setzte sich die Auffassung durch, daß sich die Menschheit nicht nur aus Individuen, sondern primär aus Völkern und Nationen zusammensetzt. - Die Französische Revolution bezeichnete nicht den Zeitpunkt der Entstehung der Nationalbewegungen, aber sie hat mit dem demokratischen Prinzip den wesentlichen soziologischen Träger hervorgebracht Nun war mit dem Bürgertum die Gesellschaft bestimmt. Die Idee der Volkssouveränität bestimmte die Überprüfung des Verhältnisses zwischen Herrschern und Beherrschten. Die nationalen Muttersprachen erfuhren eine wesentliche Aufwertung als Voraussetzung für die politische Partizipation. - Die Industrialisierung drängte über die Zäune der bisherigen territorialen weil dynastisch- Gliederung hinaus. Es begann die Suche nach der Verwirklichung von Nationalwirtschaft und Nation. Bei ethnischen Gruppen, die außerhalb eines Nationalstaates lebten, differenzierte sich insbesondere im Osten und Südosten Europas dieses in Nationen, wobei es zu einigen Überschneidungen kam: I. Das dynastische Gefüge blieb stabil. 2. Das völkische Prinzip deckte sich nicht mit dem ethnischen Bestand der Nation. 3. Die Nationalbewegungen waren nicht immer identisch mit den Wirtschaftsräumen, erhoben aber den Anspruch auf Autonomie oder Souveränität Abhängige Völker waren bestrebt, dem Druck der regierenden Völker bzw. Großmachtvölker und großen Nationen zu entkommen und einen eigenen Nationalstaat zu bilden. So wurden gerade die Großmächte Helfer der nationalen Befreiungsbewegungen. In diesem Prozeß spielten konkrete Bedingungen historischer Etappen, allerdings auch Zufälle, eine bestimmende Rolle. Wirtschaftlich bedingtes Wachstum der Städte und der Produktion, des Innenund Außenhandels bewirkten eine rasche Entwicklung der Bedeutung von Wissenschaft und Bildung. Die Produktionsmethoden verlangten eine entsprechende Bildung und Ausbildung der Leiter und breiter Volksschichten. Während die Gebildeten früherer Zeiten fast immer eng an Kirche und/oder Herrscher gebunden waren, konnte sich jetzt das Bildungsbürgertum freier und unabhängiger entfalten und die Führung der Nationalbewegung übernehmen. Bei einigen "historischen" Völkern- wie die der Deutschen und Italiener-. die in eine Vielzahl von Staaten und Kleinstaaten unterschiedlichster Größe zersplittert waren, wuchs unter dem Einfluß der Nationalbewegungen das Bewußt-
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Heiner Timmennann
sein der Notwendigkeit einer politisch-organisatorischen Vereinigung. Nach Unabhängigkeit strebten Polen, Ungarn, Tschechen, Italiener in der Lombardei und in Venetien, Rumänen, Slowaken, Iren, die Slawen auf dem Balkan, die Katalanen auf der iberischen Halbinsel u. v. m. Gegen Ende der 20er und Beginn der 30er Jahre des 19. Jahrhunderts erkämpften sich die Griechen sowie die Flamen und Wallonen ihre UnabhängigkeiL Da den Finnen- anders als z. B. bei den Polen - die Möglichkeit fehlte, sich auf einen verlorengegangenen Staat zurückzubesinnen, traten bei ihnen das Volk und dessen Sprache und Geschichte in den Vordergrund. Nationale Bewegungen im Europa des 18., 19. und 20. Jahrhunderts, so legt es ein Blick auf die "erfolgreichen" Fälle nahe, sind nicht denkbar ohne den Staat. Nationen sind nach einer gängigen Defmition Gemeinschaften, die auf einen Staatsapparat bezogen sind. Demgemäß war der Nationalstaat das Ziel der nationalen Bewegungen. Sie hatten einen aktiven Anteil bei seiner Schöpfung, und wenn er geschaffen war, trugen sie ihn.
Literaturverzeichnis Alter, Peter: Nationalismus. Frankfurt 1985. Anderson, Benedikt: Die Erfmdung der Nation. Zur Karriere folgenreichen Konzepts. Frankfun/New York 1988.
Christ, Hans: Die Rolle der Nationen in Europa. Gestern- Heute- Morgen? Stuttgart 2 1963. Hobsbawm, Eric J.: Nationen und Nationalismus. Mythos und Realität seit 1780. Frankfurt 1991. Fenslc.e, Hans, Mertens, Dieter, Reinhard, Wolfgang und Rosen, Klaus: Geschichte der politischen Ideen. Von Horner bis zur Gegenwart. Frankfurt 1987. Kohn, Hans: Die Idee des Nationalismus. Unprung und Geschichte bis zur Französischen Revolution.
Frankfurt 1962.
Lemberg, Eugen: Nationalismus, 2 Bde. Harnburg 1964. Mayer, Tilman: Prinzip Nation. Dimensionen der nationalen Frage am Beispiel Deutschlands. Op1aden 1987.
II. Geteilte Völker
Das Heilige Römische Reich Deutscher Nation und die Entstehung des deutschen Nationalgefühls Von Detlef Rogosch I. Der Begriff des "Heiligen Römischen Reiches Deutscher Nation" tauchte erst spät im 15. Jahrhundert auf und galt dann bis zur Niederlegung der Kaiserkrone durch Franz II. im Jahre 1806 fort. Die Bezeichnung entstand in drei Stufen vom "Römischen Reich" (Romanorum Imperium) im Jahre 1034 über die Ergänzung "Heiliges Reich" (Sacrum Imperium) 1157 bis zum Zusatz "Deutscher Nation". Im Anfang bezog sich dieser Annex nur auf die deutschen Gebiete des Reiches. "Erst später verstand man diesen Titel des Reiches im Sinne eines Anspruchs auf das Imperium -.eine Bedeutung, die sich seit dem 17. Jahrhundert auch durchzusetzen begann".' Nachdem der römisch-katholische und der kaiserliche Universalismus durch die Kämpfe zwischen Papst und Kaiser um die Vorherrschaft im Hochmittelalter auch in Deutschland und Italien am Ende war, setzten sich im Gegensatz zu Frankreich die Territorialstaaten durch. Der Westfälische Friede von 1648 brachte dann eine weitere Stärkung der deutschen Territorien. In der Zeit zwischen 1648 und 1789 vollzog sich die moderne Staatenbildung innerhalb der Einzelstaaten. Während dieser 130 Jahre entwickelte sich in den europäischen - mit Ausnahme Englands - und deutschen Ländern die Staatsform des Absolutismus. So war zwischen 1740 und der 'Revolutionsära' der "aufgeklärte Absolutismus" 2 auch in Deutschland die vorherrschende Regierungsform. Das damit verbundene Reformprogramm brachte vor allem Preußen und mit etwas Zeitverzögerung auch Österreich wichtige Anstöße für die weitere staatliche Entwicklung. Den Herrschern ermöglichte ihre Machtposition die Zurückdrängong bzw. Beseitigung überkommener feudaler Strukturen und den Aufbau eines von der Rationalität im Sinne der Aufklärung geprägten Staates. Diese Entwicklung wurde getragen von neuen Zielvorstellungen einer Gesamtpolitik des Staates, durch entsprechende Maßnahmen der Regierung vor allem aber auch ein verändertes Selbstverständ-
1
So Horst Möller, Fürstenstaat oder Bürgemation. Deutschland 1763-1815. Berlin 1989, S.44.
2 Vgl. hierzu insbesondere Karl Otmar Freiherr von Aretin (Hrsg.), Der Aufgekärte Absolutismus. Berlin, Köln 1974.
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Detlef Rogosch
nis. So kam es besonders in Preußen und Österreich zu weitgehenden Reformen im politisch-sozialen Bereich, in der Wirtschaft, im Rechtswesen und hinsichtlich der Individualrechte der Untertanen wie Rechtsgleichheit und Toleranz. Mit Recht bemerkte Karl Otmar Freiherr von Aretin, daß die wirkungsvolle Reformpolitik in Preußen und Österreich "das herausragende Ereignis der deutschen Geschichte im letzten Viertel des 18. Jahrhunderts" gewesen ist.3 Im Gegensatz zu diesen beiden größten Einzelstaaten im Reich war es für die anderen Territorien weitaus schwieriger, ein Refonnprogramm im Sinne des aufgeklärten Absolutismus einzuleiten und durchzuführen. Eine bedeutende Rolle spielt hierbei die Tatsache, daß im Gegensatz zu anderen europäischen Ländern, in denen sich seit dem 16. Jahrhundert Nationalstaaten mit zentralistischen Organisationsstrukturen ausformten, sich für die Deutschen nicht der nationale, sondern der partikulare Staat mit einem partikularen Bewußtsein und entsprechenden Loyalitäten als Lebensorientierung entwickelt hatte. Das in den Friedensverträgen von 1648 festgeschriebene Prinzip der Mehrkonfessionalität förderte neben der territorialen im besonderen auch die kulturelle Vielfalt. So führt Wolf Gruner aus, daß "gerade die konfessionelle Spaltung und Regionalisierung des Bewußtseins der Menschen ... für den Weg Deutschlands in die Modeme eine große Bedeutung" hatte.4 Die Trennung der geistlichen und weltlichen Bereiche bildete den "Anfang von Säkularisierung und Rationalität".s Dies führte dazu, daß unter dem "föderativen Verfassungsdach des Alten Reiches" 6 die Konfrontation wie Kooperation der Temitorien und politischen Organisationsformen so stark waren wie nirgendwo sonst in Europa. Diese besondere Situation in Deutschland bedeutete für die Entwicklung des 'Nation-Verständnisses', daß sich so etwas wie "Staatsbewußtsein" der Untertanen, falls es im 17. und 18. Jahrhundert überhaupt existierte, nur auf die Einzelstaaten beziehen konnte, "denn das Reich bildete keinen Staatskörper im strengen Sinn".7 Das Reich und nicht die Nation stellte die übergeordnete politische Ebene dar. Diese konnte aber lediglich staats- und völkerrechtlich, nicht aber volksbezogen oder national definiert werden.
3
Kar! Otmar Freiherr von Aretin, Vom Deutschen Reich zum Deutschen Bund. Göttingen 1980,
s. 27.
4 Wolf D. Gruner, Deutschland zwischen Revolution, Reform und Restauration 1770-1830, in: Tijdschrift voor geschiedenis 102 (1989), S. 368-400, S. 377.
5
Thomas Nipperdey, Probleme der Modernisierung, in: Saeculum 30 (1979), S. 292-303, S. 294.
6
Gruner, Deutschland 1770-1830, S. 377.
7
Möller, S. 46.
Das Heilige Römische Reich Deutscher Nation
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II.
Seit dem 18. Jahrhundert wird als ein Kennzeichen der Nation die Gemeinsamkeit kultureller Überlieferung angesehen. Dies konnte sich in Deutschland aufgrund der konfessionellen Spaltung nicht mehr auf eine religiöse Einheit, sondern nur noch auf die säkulare Kultur, hier insbesondere die Sprache, beziehen. Doch "mit der kulturellen Einheit war ... kaum mehr Staat zu machen als mit der politischen".8 Denn noch während des 17. Jahrhunderts war das Latein die Sprache der Gelehrten und die Höfe wie Gebildeten sprachen bis in das 18. Jahrhundert hinein Französisch. Doch schon im 17. Jahrhundert kam es in Deutschland zur Gründung von Sprachgesellschaften, die sich die Pflege der deutschen Sprache zum Ziel setzten.9 Leibniz, Thomasius und Christian Wolff begannen vorsichtig, Deutsch auch als Gelehrtensprache zu verwenden. Es begannen Arbeiten an deutschen Wörterbüchern. Um 1750 verband sich dann die Pflege der deutschen Sprache mit dem Willen, die deutsche Literatur zu fördern und getrennt vom klassizistischen französischen Vorbild einen eigenen Weg zu gehen. Über die Kritik an der französischen Klassik und die Hochschätzung der Werke Shakespeares kam es langsam zu einer Art nationaler Identifikation; die französische Klassik wurde als 'künstlich', die Werke Shakespeares dagegen als 'natürlich' und 'original' angesehen. Andere wie der Osnabrücker Justus Möser10 wandten sich der Geschichte ihrer eigenen Territorien zu. Es entstanden Sammlungen deutscher Volkslieder. "Auf breiter Ebene erfolgte eine Hinwendung zur deutschen Geschichte und Kultur- die nicht etwa im ausgehenden 18. und beginnenden 19. Jahrhundert begann, sondern mit der Romantik nur vertieft wurde."11 Dieser Entwicklung im Zeitalter der Aufklärung lag neben der beginnenden nationalen Identifikation auch eine soziale zugrunde. Dem am französischen Vorbild sich orientierenden höfischen Leben wurden in 'bürgerlichen Trauerspielen' und 'bürgerlichen Romanen' eigene Werte wie Arbeitsamkeil und Echtheit entgegengesetzt. Der Glanz und Müßiggang der deutschen Höfe wurde polemisch als Gegenbild aufgebaut.
I
Ebd.
9 So wurde 1643 in Harnburg die "Deutschgesinnte Genossenschaft" als Sprachgesellschaft gegründet. 10 Justus Möser war Verwaltungsfachmann und Regierungschef in Osnabrück. Eines seiner Werke beschäftigte sich mit der "Osnabrückischen Geschichte" (1768-1780). Vgl. zu Möser neuerdings Renale Stauf, Justus Mösers Konzept einer deutschen Nationalidentität. Tübingen 1991 (Diss.Pbil. Gießen 1989). 11
Möller, S. 47.
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Detlef Rogosch
Über die Besinnung auf die eigene Kultur wandten sich in Deutschland die Aufklärer des 18. Jahrhunderts der Nation, einem national orientierten Patriotimus zu. Gleichzeitig richtete sich diese Entwicklung bewußt gegen weite Kreise der herrschenden höfischen Schicht. Der Patriotismus wurde im 18. Jahrhundert vor allem von der literarischen Intelligenz, die sich zum Vorreiter der bürgerlichen Emanzipationsbestrebungen machte, verfochten. Die Einheit des Reiches spielte hierbei als Voraussetzung für Frieden und Fortschritt eine große Rolle. Michael Stalleis führte aus, "daß 'Reichspatriotismus' eine speziell in Krisen stimulierte emotionale ldentiflkation mit dem Reich ist".12 Um 1750 setzte eine neue Strömung des Reichspatriotismus13 ein, die nur sehr schwer eindeutig vom aufkommenden "National-Geist" zu unterscheiden war. Einer der bedeutensten Vertreter war Friedrich Karl von Moser, der seine unmittelbar nach Beendigung des Siebenjährigen Krieges 1765 veröffentlichte Schrift "Von dem Deutschen nationai-Geist" 14 mit dem Satz einleitete: "Wir sind Ein Volk, von Einem Nahmen und Sprache, unter Einem gemeinsamen Oberhaupt, unter Einerley unsere Verfassung, Rechte und Pflichten bestimmenden Gesetzen, zu Einem gemeinschaftlichen grossen Interesse der Freyheit verbunden, auf Einer mehr als hundertjährigen Nationalversammlung zu diesem wichtigen Zweck vereinigt, an innerer Macht und Stärke das erste Reich in Europa, dessen Königseroneo auf Deutschen Häuptern glänzen, und so, wie wir sind, sind wir schon Jahrhunderte hindurch ein Räthsel politischer Verfassung, ein Raub der Nachbarn, ein Gegenstand ihrer Spöttereyen, ausgezeichnet in der Geschichte der Welt, uneinig unter uns selbst, kraftlos durch unsere Trennungen, stark genug, uns selbst zu schaden, ohnmächtig, uns zu retten, unempfindlich gegen die Ehre unseres Namens, gleichgültig gegen die Würde der Gesetze, eifersüchtig gegen unser Oberhaupt, mißtrauisch unter einander, unzusammenhangend in Grundsätzen, gewaltthätig in deren Ausführung, ein grosses und gleichwohl verachtetes, ein in
12 Michael Stolleis, Reichspublizistik und Reichspatriotismus vom 16. zum 18. Jahrhundert, in: Günter Birtsch (Hrsg.), Patriotismus. Harnburg 1991 (=Aufklärung 4/1989, Heft 2), S. 7-23, S.18.
13 Zur Problematik der Reichspublizistik und dem Reichspatriotismus vom Beginn des 16. Jahrhunderts vgl. den o.a. Aufsatz von Michael Stolleis als gute Überblicksdarstellung mit mit weiterführenden literaturhinweisen. 14 Friedrich Carl von Moser, Von dem Deutschen national-Geist. Frankfurt a. M. 1765. Zu Moser vgl. u.a. Notger Hammerstein, Das politische Denken Friedrich Carl von Mosers, in: Historische Zeitschrift 212 (1971), S. 316-338.
Das Heilige Römische Reich Deutscher Nation
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der Möglichkeit glückliches, in der That selbst aber bedauernswürdiges Volk." 15 Das Denken Mosers war auf den Erhalt der Reichsverfassung ausgerichtet. Sein Streben nach einem erneuerten 'Nationalgeist' richtete sich gegen Willkürherrschaft in einzelnen Staaten des Reiches. "Der ganze Begriff von National-Interesse setzt ein Volck voraus, welches in dergleichen großen, seine Ruhe und Wohlstand betreffenden Angelegenheiten mit zu sprechen hätte, wie solches in allen Republicken und eingeschränckten Monarchien angetroffen wird. "16 Für Moser bildete das Reich die beste Möglichkeit zur Verwirklichung der Freiheit. Aretin sieht darin "eine deutliche Abwendung von einzelstaatlichem Patriotismus".11 Justus Möser wandte sich gegen diese Auffassungen Mosers. Er sah in den einzelnen Territorien die Grundlage für patriotisches Denken, für die Entwicklung einer nationalen Identität. Möser versuchte auf territorialer Grundlage ein kulturelles Nationalgefühl zu entwickeln. Sein Nationalbegriff war an der frühen deutschen Vergangenheit orientiert. Doch "trotz dieser Verherrlichung der vaterländischen Kultur und Geschichte und obgleich er der Stellung des mittelalterlichen Reiches nachtrauerte, stand dem territorialstaatlich orientierten Möser die Schaffung eines deutschen Nationalstaats nie vor Augen". 18 Möser blieb in seiner konservativen Denkhaltung, der Bewahrung gegebener Werte gefangen. Er war allerdings der bedeutenste Vertreter einer Rückbesinnung der Deutschen auf ihre Geschichte als Versuch zur Gewinnung einer nationalen Identität. Trotz des am Ende des 18. Jahrhundert nochmals verstärkt aufkommenden Reichspatriotismus, der seinen stärksten politischen Ausdruck im Fürstenbund von 178519 fand, erwuchsen die Ansätze eines Staatsbewußtseins aus einem Territorialpatriotismus, und das galt insbesondere für Brandenburg-Preußen. So stellte Christoph Martin Wieland 1773 fest: "Die Deutsche Nation ist eigentlich
u Moser, national-Geist, S. 5 f. Moser, Beherzigungen. Frankfurt 1761, S. 341, zit. nach Christoph Prignitz, Vaterlandsliebe und Freiheit. Deutscher Patriotismus von 1750-1850. Wiesbaden 1981, S. 25. 16
17
Aretin, Reichspatriotismus, in: Birtsch, Patriotismus, S. 25-36, S. 28.
11
Prignitz, Vaterlandsliebe, S. 27.
19 Der Fünotenbund, gemeinsam getragen von kleinen evangelischen und katholischen Reichsfürsten, die ihre Existenz der Eingebundenheit in die Reichsverfassung verdankten, und PreuJkn, scheiterte mit seinen Bemühungen um eine Reichsreform 1789/90. "Eine Erneuerung des Reiches schien nur gegen die deutschen Großmächte möglich und dazu hatte niemand den Mut", so Aretin, Reichspatriotismus, S. 32.
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nicht Eine Nation, sondern ein Aggregat von vielen Nationen." 20 Ein die Deutschen der verschiedenen Territorien verbindenes Nationalgefühl konnte sich unter diesen Umständen nur schwer durchsetzen. Der Gedanke an eine deutsche Nation haue im ausgehenden 18. Jahrhundert noch kein politisches Gewicht. Am Vorabend der Französischen Revolution gab es im politisch, religiös und sozial geteilten, ökonomisch schwachen "Alten Reich" keine Anzeichen für einen Nationalismus im modernen Sinn. Michael Hughes21 und Harold James22 haben in ihren 1988 bzw. 1989 erschienenen Studien zum deutschen Nationalismus und deutscher Identität aus unterschiedlichen Blickwinkeln festgestellt, daß es im vorrevolutionären Zentrai-Europa kein Bedarf an einer Nationalbewegung gab, solange das Alte Reich existierte. Es symbolisierte die Einheit der deutschen Nation. "For many contemporaries the Holy Roman Empire, combining as it did unity and diversity in correctly balanced proportions, was the ideal constitution for Germany. "23 Der Reichspatriotismus in den 70er und 80er Jahren des 18. Jahrhundert war nicht auf den alten Reichsadel beschränkt. Ein Teil des Bildungsbürgertums ist ihm zuzurechnen. "Auch das Bildungsbürgertum, das um die Jahrhundertwende, was die politischen Verhältnisse in Deutschland anbetrifft, resignierte, gehörte in den achtziger Jahren, im Gegensatz zu Frankreich, zu den Kräften, die in den Kategorien der Reichsverfassung dachten und sie, wie viele Zeugnisse belegen, für reformierbar hielten. "2A 111.
Die Französische Revolution von 1789 und der ideologische wie militärische 'Export' dieser Revolution nach ganz Europa zerstörte die alte europäische Gleichgewichtsordnung, in die auch das Alte Reich als ein wichtiger Gleichgewichtsfaktor eingebaut war. Die Auswirkungen der Französischen Revolution auf die 'öffentliche Meinung' und die politischen Eliten wurde in Deutschland verstärkt durch eine konstitutionelle Krise in den Einzelstaaten. Horst Möller
20 Christoph Martin Wieland, National-Poesie, in: ders., Sämmtliche Werke, 36 Bde., Leipzig 1853-1858, Bd. 36, S. 327. Zu Wieland vgl. auch Irmtraut Sahmland, Christoph Maltin Wieland und die deutsche Nation. Zwischen Patriotismus, Kosmopolitismus und Griechentum. Tübingen 1990.
21
Michael Hughes, Nationalism and Society. Germany 1800-1945. London 1988.
22 Harold J ames, A German Identity 1770-1990. London 1989. Inzwischen in deutsch erschienen Deutsche Identität 1770-1990. Frankfurt a.M. und New York 1991 mit einem leicht veränderten Schi ußkapitel. 23
Hughes, S. 30.
2A
Aretin, Reichspatriotismus, S. 32.
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wies der 'öffentlichen Meinung' 25 eine bedeutende Rolle bei der Entwicklung einer nationalen Identität zu. Er sah in ihr "eine weitere Ursache für die Ausbildung des nwdernen Begriffs der Nation im Deutschland des 18. Jahrhunderts: das Entstehen eines kollektiven nationalen Bewußtseins durch die integrierende Wirkung der öffentlichen Meinung in einer als national angesehenen Krise."u. Darüberhinaus wurden weitere Volkskreise in den Prozeß der Meinungsbildung miteinbezogen. "Von den immer zahlreicher werdenden Journalisten, Publizisten und Schriftstellern, von der wachsenden Buchproduktion und der Fülle der Zeitschriften und 'Intelligenzblätter' her gesehen, stellte die öffentliche Meinung in Deutschland einen beachtlichen Faktor dar.'m Die konstitutionellen Experimente scheiterten. "Die mittleren und kleinen Territorien des Reiches konnten aufgrund ihrer Einbindung in die Reichsverfassung und auch wegen ihres vielfach verstreuten Besitzes Reformen im Sinne des aufgeklärten Absolutismus nur teilweise. oder unter erschwerten Bedingungen durchführen. "23 In Territorien wie Bayern, Sachsen, Baden oder Weimar stellte der aufgeklärte Absolutismus "eine wesentliche Stufe der Entwicklung auf dem Wege vom klassischen oder höfischen Absolutismus des siebzehnten Jahrhunderts zur deutschen Reformzeit der ersten Hälfte des neunzehnten Jahrhunderts dar". 29 Zur Umsetzung von Reformideen bedurfte es in den Staaten einer funktionierenden und effektiven Bürokratie. Gerade diese Bürokratie bildete eine der wichtigsten Triebfedern für die Modernisierung. "Die Beamten stammten überwiegend aus dem Bürgertum, waren nachhaltig vom Geist der Aufklärung durchdrungen und traten daher für als notwendig angesehene umfassende Veränderungen ein."30 Doch "da nwderne Reformen im Reich nur in sehr beschränkten Maß möglich waren, vollzog sich die Reichspolitik in den alten, von der Tradtion vorgegebenen Gleisen. Es entstand eine Art faradayischer Käfig ... Dieser faradayische Käfig hat verhindert, daß die Reformunfähigkeit der Reichsstände
25 Möller versteht unter •öffentlicher Meinung' die durch die Aufklärung seit Mitte des 18. Jahrhundens verstärkte Publizistik und öffentliche Diskussionen der Schriftsteller und Gelehnen. Vgl. MöllerS. 50. 26
Ebd.
v Elisabeth Fehrenbach, Vom Ancien Regime zum Wiener Kongreß. München 1986 (=Grundriß der Geschichte Bd. 12), S. 57. Fehrenbach nennt für 1773 3.000 und für 1787 bereits 6.000 Berufsschriftsteller. 1791 wurden auf dem deutschen Buchmarkt 3.200 Titel produzien, darunter 1.300 Zeitschriften. Einige Blätter hatte eine Auflage von bis zu 4.400 Exemplaren. 21
Gruner, Deutschland 1770-1830, S. 377.
29 Eberhard Weis, Reich und Territorien in den letzten Jahrzehnten des 18. Jahrhundens, in: Helmut Berding/ Hans Peter VIImann (Hrsg.), Deutschland zwischen Revolution und Restauration. Königstein 1981, S. 49ff.
30
Gruner, Deutschland 1770-1830, S. 378.
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fühlbar wurde".31 Obwohl also die Reformen oft im Ansatz stecken blieben oder nur Stückwerk waren, so schufen sie doch Voraussetzungen, an die herausragende Persönlichkeiten der Reformzeit in der Endphase des Alten Reiches anknüpfen konnten. 32 Den Reformansätzen des aufgeklärten Absolutismus war es zu verdanken, daß es zwischen dem Ausbruch der Französischen Revolution 1789 und dem Frieden von Luneville 1801 zu keiner wirklichen revolutionären Situation in Deutschland kam. Eine 'deutsche Revolution' fand eigentlich nur in Mainz statt. "Deutschland stand nicht vor einer Revolution, weil man sich anders als in der sehr lockeren Form der Reichsverfassung ein Zusammenleben aller Deutschen nicht vorstellen konnte. Selbst als man an die Neugründung eines deutschen Reiches oder Bundes ging, hat man zunächst geglaubt, die alte Reichsverfassung wiederbeleben zu können."33 Die Revolutionskriege seit 1792, die zunächst auch als Reichskriege geführt worden waren, und die Friedensverträge von Basel (1795), Campo Formio (1797) und Luneville (1801) banden das Heilige Römische Reich in den größeren Zusammenhang der europäischen Entwicklungen ein. Die Friedensverträge brachten eine "Territorialrevolution" (Wolf D. Gruner) und sollten für die innere Struktur des Reiches katastrophale Folgen haben. Sie bereiteten die Zerschlagung des Alten Reiches 1806 vor. Das Ende des Reiches stand im Zusammenhang mit dem Übergang vom 'Ancien Regime' zum modernen Staat, der erzwungen worden war durch die französischen Revolutionsanneen. Mit der Zerschlagung des europäischen Gleichgewichts fiel auch der letzte Grund zur Aufrechterhaltung des Alten Reiches. Im Moment des Zusammenbruchs wurden aber auch seine Glieder unregierbar und mußten sich, um überleben zu können, der neuen Situation anpassen. "Daher ist der Wille zur Staatssouveränität der Einzelstaaten 1806 das Elementare, hinter den der Wille zur Einheit Deutschlands zurücktreten mußte. Da sich das Ganze als nicht reformierbar erwiesen hatte, mußte der Prozeß der Modernisierung wie in Österreich und Preußen von den Einzelstaaten ausgehen". 34
31 Aretin, Das Reich. Friedensordnung und europäisches Gleichgewicht 1648-1806. Stuttgart 1986, S.50f.
32 Vgl. Weis, Der Durchbruch des Bürgertums 1776-1847. Frankfurt a.M. 1978 (= Propyläen Geschichte Europas, Bd. 4), S. 27ff. 33
Aretin, Das Reich, S. 45.
34
Ebd., S. 51.
Das Heilige Römische Reich Deutscher Nation
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Friedrich Schiller faßte in seinem 1797 oder 1801 35 geschriebenen Gedichtfragment "deutsche Groeße" "eine unter den Gebildeten um die Jahrhundertwende weitverbreitete Stimmungslage, aber auch ihr Geschichtsverständnis und eine wesentliche Zielvorstellung plastisch"36 zusammen. Er fragte nach dem Selbstgefühl der Deutschen, indem er schrieb:
"Deutsches Reich und deutsche Nation sind zweierlei Dinge. Die Majestät des Deutschen ruhte nie auf dem Haupt s[einer] Fürsten. Abgesondert von dem politischen hat der Deutsche sich einen eigenen Wert gegründet, und wenn auch das Imperium unterginge, so bliebe die deutsche Würde unangefochten. Sie ist eine sittliche Größe, sie wohnt in der Kultur und im Charakter der Nation, die von ihren politischen Schicksalen unabhängig ist... indem das politische Reich wankt, hat sich das geistige immer fester und vollkommener ausgebildet... Unsre Sprache wird die Welt beherrschen. Die Sprache ist der Spiegel einer Nation , weM wir in diesen Spiegel schauen, so kommt uns ein großes treffliches Bild von uns selbst entgegen..m Einen Nationalismus in bezug auf das Alte Reich konnte es nicht geben. Der durch die Aufklärung verstärkte Reformprozeß und die Kriegssituation am Ende des 18. Jahrhundert förderten noch einmal den Reichspatriotismus. Man verfolgte das "Ideal des machtlosen, allein auf das Wohl des Bürgers ausgerichteten Staates"38 • Goethe und Schiller dichteten 1796 in ihren "Xenien":
"Deutschland? Aber wo liegt es? Ich weiß das Land nicht zu finden. Wo das gelehrte beginnt, hört das politische auf .. Zur Nation euch zu bilden, ihr hoffet es, Deutsche, vergebens: Bildet, ihr könnt es, dafür freier zu Menschen euch aus."39 Michael Hughes schrieb zu den Gründen, daß das Nationalgefühl in Deutschland am Ende des 18. Jahrhunderts verkümmert war, daß "Germany lacked a powerful centre around which it could cohere. The Empire remained a focus of
35 In der Gesamtausgabe Schillers herausgegeben von Fricke und Goepfert (München 1965-67) wird die Entstehungszeit mit 1797 angegeben. F.Burschell nennt dagegen in seinem Welk über Schiller (Reinbek b. Harnburg 1968) den Luneviller Frieden von 1801 als Entstehungsdatum. 36 Hans Ulrich Wehler, Deutsche Gesellschaftsgeschichte, Band 1: Vom Feudalismus des Alten Reiches bis :wr Defensiven Modemisierung der Reformära 1700-1815. München 1987, S. 44f. 37 Friedrich Schiller, Sämtliche Welke, 5 Bde., hrsg. von Gerhard Fricke und Herbett G. Töpfert. München •1964, Bd. 1, S. 473ff.
31
Aretin, Reichspatriotismus, S. 35.
39
Schiller, Bd. I, S. 267.
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patriotism and popular emotion but was unable to do anything to strengthen Germany. The Empire was concerned only with tradition while most positive aspects of life - government, commerce, defence and education - passed totally under the control of princes. There was no German national dynasty to act as a focus for national sentiment".4{')
Mit dem Jahr 1789 änderten sich die Voraussetzungen des politischen Denkens in ganz Europa. Mit der Französischen Revolution war der deutschen Intelligenz das Vorbild eines politisch konkret gefüllten Patriotismus gegeben. "Aufgeschlossen gegenüber den Wandlungsprozessen der Revolutionszeit ... verfolgten sie den Durchbruch desfranzösischen Nationalismus, bewunderten die Energien, die er freisetzte, die Leistungen, die er ermöglichte.... Der neuefranzösische Nationalstolz galt bald als Vorbild für das eigene Verhalten, die eine, unteilbare, souveräne Nation als erstrebenswertes Ziel einer zeitgemäßen deutschen Nationalpolitik.'"' 1 Doch die Französische Revolution radikalisierte nicht allein liberale und demokratische Strömungen in Deutschland, sondern prägte ~.uch weitgehend die konservative Bewegung und gab ihnen politischen Widerhall, "der ihnen vorher fehlte und der zu einer größeren Wirkung unerläßlich war. Die unmittelbare Bedrohung der überlieferten sozialen und politischen Ordnung durch die Revolution im Westen hat erst die Warnungen vor der Aufklärung und den geheimen Gesellschaften ein Gewicht auch in den Augen der politischen Realisten gegeben. War vor 1789 der Kampf gegen den drohenden Umsturz eine theoretische Angelegenheit einiger besorgter Theologen und Schriftsteller gewesen ... , so schienen jetzt die Warnungen in größerem Umfang gerechtfertigt zu sein. Je mehr die Fürsten der deutschen Länder... um ihre Machtstellung besorgt waren, umso stärker wurde der Wunsch, die Gefahren der Revolution planmäßig, entschieden zu bekämpfen".42 Die Ideale des neuen, durch die Französische Revolution geprägten Nationalismus wurden von großen Teilen der deutschen Bildungselite mit großer Intensität verfochten. Eine politische Eindeutigkeit war allerdings nicht zu erkennen. Konflikte entstanden zwischen landespatriotischer Anhänglichkeit an den Einzelstaat und dem wnfassenderen Kultur- oder gar Staatsnationalismus. Daneben gab es für die Beamten in den Territorialstaaten einen Loyalitätskonflikt in Hinsicht auf das Verlangen nach einer gesamtdeutschen Nation. Kein Einzelstaat konnte oder durfte auf die Loyalität seiner Beamten verzichten, ohne seine eigene Existenz zu gefährden. Die deutschen Fürsten und Regierungen setzten daher dem aufkommenden Nationalismus ihren entschiedenen Widerstand entgegen.
«>
Hughes, S. 31.
•• Wehler, S. 513 . ., Fritz Valjavec, Die Entstehung der politischen Strömungen in Deutschland 1770-1815. München 1951 (ND Diisse1dorf 1978), S. 302.
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"Nicht zuletzt deshalb blieb der Nationalismus in seiner ersten Phase eine eingehegte Elitenideologie. "43
Das Vorbild Frankreichs schwächte sich mit der Fortdauer der Kriege und der französischen Besetzung ab. Die Verfechter revolutionsfreudlicher Ideen in Deutschland fanden zunehmend weniger Gehör. Das Mißtrauen weiter Kreise gegen die Errungenschaften der Französischen Revolution stiegen an. Die jakobinische deutsche Publizistik verstummte um die Jahrhundertwende. Angesichts der territorialen Annexion des linken Rheinufers durch Frankreich in Folge des Luneviller Friedens von 1801 zeigte sich deutlich eine Loslösung vom französischen Vorbild. Der deutsche Patriotismus richtete sich von dieser Zeit zunehmend an den deutschen Interessen und Entwicklungsmöglichkeiten aus. Heget stellte nach seiner Analyse der deutschen Verfassungswirklichkeit konkrete Forderungen auf. "Das Wesentliche, was einen Staat ausmacht, nämlich eine Staatsmacht, geleitet vom Oberhaupt, mit Mitwirkung der Teile {wäre zu] errichten ... Ein Bestehen des Deutschen Reiches wäre nur auf die Art möglich, daß eine Staatsmacht organisiert {würde] und das deutsche Volk wieder in Beziehung mit Kaiser und Reich käme.'.-44
Heget reflektierte ein modernes, gesellschaftlich umfassendes Verständnis von der Nation. "Er verband die Nation zugleich mit dem Staat und mit dem über eine Repräsentation staatsbürgerlich mitwirkenden Volk.',.s
IV. Am 6. August 1806 erklärte Pranz II. das Heilige Römische Reich Deutscher Nation für erloschen. Das Zerbrechen des Alten Reiches zerstörte auch die lokalen und regionalen Bindungen des Einzelnen. In dem Prozeß des Wiederaufbaus und der Konsolidierung versuchten die neuen Herren die Loyalitäten ihrer neuen Untertanen für sich zu gewinnen.46 'This was to become an important element for understanding German nationality and German identity past and
43
Wehler, S. 514.
04
Georg Wilhelm Friedrich Hege!, Politische Schriften, hrsg. von Gerd Irrlitz. Berlin/Ost 1970,
45
Möller, S. 57.
s. 108.
46 Gruner, The Impact of the French Revolution of 1789 on the States of Gennany and the Development of Political Nationalism and National Identity from the Perspective of German Historiograpby, in: La Storia della Storiografia Europea sulla Rivoluz.ione Francese. Rom 1990, S. 19-39, s. 33.
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present.'-41 Die Suche der Deutschen nach einer eigenen Nationalität gewann an Wichtigkeit. Die napoleonische Herrschaft in Deutschland sorgte für einen entscheidenden Aufschwung des deutschen Nationalgefühls. Es vollzog sich ein Wendung von einem kosmopolitischen zu einem nationalstaatliehen Denken.48 Die Politik Frankreichs seit der Zeit des Direktoriums und besonders unter Napoleon in den besetzten deutschen Gebieten enttäuschte viele Patrioten, sodaß sich ein spezifisch 'deutsch' orientiertes Nationalgefühl zu entwickeln begann. Darüberhinaus suchten deutsche Patrioten nach der Auflösung des Reiches nach einerneuen Form nationaler Identität, "die Deutschland Zusammenhalt und damit eine atl.ii4ua1e Rolle im Leben der Völker ermöglichen würde".49 In den Jahren um die Jahrhundertwende formte sich in Deutschland ein Nationalbewußtsein heraus, "was wohl dem deutschen Vaterland eine zentrale geschichtliche Aufgabe zuweist, das sich jedoch von einer Verabsolutierung des Vaterländischen und damit auch von einer Abwertung anderer Nationen zugunsten des eigenen Landes weitgehend freihält". 5° Fichte, Schiller und Hölderlin sahen daher einen kulturell-geistigen Schwerpunkt in der zukünftigen Aufgabe Deutschlands. Deutschland stand zwar im Mittelpunkt des Denkens, es wurde aber nicht isoliert oder verabsolutiert. Es kam zu keinen agressiven Haßempfindungen gegenüber anderen Völkern, und "es blieb bei einer kosmopolitischen Akzentuierung des Nationalgefühls". 51 Die charakteristischste Verbindung von nationalem und kosmopolitischem Denken fand sich bei Fichte. In seinen "Reden an die deutsche Nation", die er im Winter 1807/08 in Berlin hielt, wies er den Weg, auf dem sich die Erneuerung im Kampf um die Freiheit und nationale Identität vollziehen sollte. Für die Einheit Deutschlands stellten die "gemeinschaftliche Sprache" und der "gemeinsame Nationalcharakter" unverzichtbare Voraussetzungen dar. "Der künftige Einheitsstaat, den Fichte sich leidenschaftlich herbeiwünschte, bildetefür ihn 'bloß das Mittel' für die 'ewig gleichmäßig fortgehende Ausbildung des rein Menschlichen in dieser Nation' ."52 Neben den nationalen Engagement blieb bei Fichte noch immer das kosmopolitische Ideal der Menschheit von großer Bedeutung. So enden seine Reden mit dem Aufruf an alle Deutschen : "... wenn ihr versinkt, so versinkt die ganze Menschheit mit, ohne Hoffnung einer einstigen Wiederherstellung."53
41
Ebd.
48
Vgl. Friedrich Meinecke, Weltbürgertum und Nationalstaat. München, Berlin 7 1928.
49
Prignitz, S. 75.
50
Ebd., S. 85.
51
Ebd., S. 86.
51
Wehler, S. 519.
53
Johartn Gottlieb Fichte, Reden an die deutsche Nation. Köln 1961.
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Von diesem kosmopolitischen Ansatz der Aufklärung setzten sich die Vertreter der Romantik in Deutschland ab. Ein entscheidendes Kriterium zur Zugehörigkeit zu einem Volk wurde die Geburt und das Bekenntnis zum Volksgeist Die Romantik wandte sich gegen die Ideen der Aufklärung. "Sie entfernte sich von der gedanklichen Basis des Rationalismus, der den Staat aufvertragsmäßiger Grundlage verstand, gegründet aus vernünftiger Erwägung zum Zweck der Daseinserhaltung."S4 Es begann vor allem die Verklärung des Mittelalters als der Epoche, in der Kaiser und Reich die führende Position innerhalb der abendländischen Welt innehatten. Es begann die Abwertung der demokratischen Ideen, die mit der Französischen Revolution nach Deutschland gekommen waren. Die deutschen Romantiker waren vehemente Verfechter des nationalen Gedankens, allerdings ohne bürgerliche Inhalte. Je länger die Besatzungszeit der Franzosen dauerte, desto deutlicher regte sich der Widerstand auch unter den Wortführern des deutschen Nationalismus. Die französische Vormundschaft wurde immer schroffer abgelehnt. In Preußen bildete die Stein-Hardenbergsche Reformbewegung eine wichtige Vorbedingung für die Entwicklung fortschrittlich nationaler Tendenzen. Beim Nationalgefühl dieser Epoche kann man also zwei unterschiedliche Akzentuierungen erkennen. Einmal begann das nationale Denken, verbunden mit aggressiver Intoleranz gegenüber anderen, die politisch-freiheitliche Komponente zu verdrängen. Gerade die Vertreter der Romantik erträumten sich in ihrer Verherrlichung des mittelalterlichen Reiches eine ähnliche Stellung für das national geeinte Deutschland. Auf der anderen Seite stand zwar auch der Kampf um die Unabhängigkeit und Einheit Deutschlands, doch die innere Ausgestaltung des neuen Staates nach freiheitlichen Grundsätzen wurde weiter verfolgt. "Die Freiheitsforderung ... bewahrt[e] ... ihren bürgerlich-emanzipatorischen Gehalt. "55 Die erste Komponente des Nationalgefühls verstärkte sich in den Freiheitskriegen gegen Napoleon 1813/14. "Die deutschen Romantiker trugen mit ihrem Ideengut wesentlich zur Volkserhebung gegen Napoleon bei."56 Wolf D. Gruner faßte diese beiden Komponenten in zwei Hauptlinien der deutschen Nationalbewegung zusammen: I. Die politisch-irrationale Linie. Sie war stark beeinflußt von der beginnenden Romantik. Das Zeitalter der großen Deutschen Kaiser des Mittelalters wurde unkritisch verherrlicht.
54
Prignitz, S. 96.
55
Prignitz, S. 126.
56
Ebd., S. 97.
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2. Die politisch-rationale Linie. Diese war charakterisiert durch die Einflüsse der Aufklärung, Reformbewegung und den Ideen von 1789. Sie nahm Traditionen der Reichsreformbewegung und britische Verfassungsideen auf. Sie forderte eine stärkere Beteiligung im Staatswesen.57 Doch während des ganzen hier betrachteten Zeitraums blieb die Bewegung des Reichspatriotismus bzw. die beginnende deutsche Nationalbewegung auf eine kleine Schicht der Bevölkerung begrenzt. Erst mit den Napoleonischen Befreiungskriegen kann man davon sprechen, daß es Ansätze einer Massenbasis der deutschen Nationalbewegung gab. Michael Hughes stellte rückblickend für die Periode von 1789-1815 fest: "The Germannationalist movement remained vague and had no realistic scheme ofreorganization to offer as an alternative to the individual states. The local prince, not the German nation, remained the focus of popular sentiment. "58
fl
Gruner, Impact of French Revolution, S. 37.
51
Hughes, S. 54.
Der Rheinbund und die deutsche Nationalbewegung Von Georg Schmidt Nachdem die Vertreter von 16 Reichsständen am 12. Juli 1806 in Paris die Rheinbundakte unterzeichnet hatten, war die Auflösung des Heiligen Römischen Reiches deutscher Nation unumgänglich geworden. Wie schon die Könige von Bayern und Württemberg sowie der Großherzog von Baden im Preßburger Frieden1, erreichten nun alle Mitglieder der Rheinischen Konföderation die Souveränität, zum Teil eine Standeserhöhung und noch einmal recht ansehnliche Gebietserweiterungen. Napoleon wurde zum "Protektor" dieses Bündnisses, das den gesamten oberdeutschen Raum und damit die "klassischen" Gebiete des Alten Reiches umschloß. Die Unterzeichner verpflichteten sich darüber hinaus, den Korsen bei seiner Kriegführung auf dem Kontinent mit erheblichen, vertragsmäßig festgelegten Truppenkontingenten zu unterstützen. 2 Diese Bestimmung ist von einer am Leitbild des Nationalstaates orientierten Geschichtsschreibung zu einseitig als eigentlicher Zweck des Bündnisses gekennzeichnet worden, und sie hat seit der Mitte des 19. Jahrhunderts das Bewußtsein der deutschen Öffentlichkeit vom Rheinbund geprägt.
1. War der Rheinbund also nur eine Offensiv- und Defensivallianz, ein Militärbündnis, und lediglich dazu da, die von Napoleon geschaffenen und von seinem Schutz abhängigen neuen Staaten zur Unterstützung seiner Kriegsführung zusammenzufassen? Unterwarf er einen erheblichen Teil Deutschlands der "Fremdherrschaft", machte ihn zum "Rekrutendepot", zur "französischen" bzw. zur "großen napoleonischen Präfektur" oder gar zum "Protektoratsgebiet"?3 Obwohl
1
Rudolfine Freün von Oer, Der Friede von Preßburg, Münster 1965.
2 Vgl. Theodor Bitterauf, Die Gründung des Rheinbundes und der Untergang des alten Reiches, München 1905; Günther Lottes, Deutschland im napoleonischen System, in: Heinz Duchhardt (Hrsg.), In Europas Mitte, Bonn 1988, S. 138-143. ·Druck der Rheinbundakte: Ernst Rudolf Huber (Hrsg.), DokiD!lente zur deutschen Verfassungsgeschichte, Bd. I, Stuttgart 1978, S. 28-34.
3 Kurt von Raumer, "Prefecture franfi:ais". Montgelas und die Beurteilung der französischen Rheinbundpolitik, in: Spiegel der Geschichte, Festgabe für Max Braubach, Münster 1964, S. 636661; Ders., Deutschland um 1800 - Krise und Neugestaltung 17891815, Wiesbaden 1980 (= Brandt/Meyer/ Just, Handbuch der Deutschen Geschichte, Bd. 3), S. 169; Ludwig Häußer, Deutsche Geschichte vom Tode Friedrichs des Großen bis zur Gründung des Deutschen Bundes, Bde. 1-4, Berlin 1855-57, hier
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der Rheinbund wegen der Obstruktionspolitik der Könige von Bayern und Württemberg, die sich ihre gerade erst errungene Souveränität von keinem übergeordneten Verbund einengen lassen wollten, als ein zielgerichtet handlungsfähiges politisches System nie zusammenfancf, und obwohl sich seine Mitglieder im Zuge der Niederlagen Napoleons sang- und klanglos von ihm lossagten, hat er doch das Handeln und vor allem das Denken der Politiker und der interessierten Öffentlichkeit einige Jahre benügelt. Ganz davon abgesehen, gewann Deutschland unter der Hegemonie Napoleons Anschluß an die Ideen von 1789, selbst wenn die alten sozialen und ökonomischen Strukturen weithin intakt blieben bzw. nur langsam und vorsichtig umgestaltet wurden. Der dramatisch beschleunigte Wandel war jedenfalls in beinahe allen Bereichen spürbar: Auf der Ebene der Einzelstaaten wurde in kürzester Zeit die Verwaltung reformiert, das arrondierte Staatsgebiet integriert und mit der Schaffung einer Gesellschaft mehr oder weniger rechtsgleicher Bürger begonnen. Diese Modemisierungen sind in den letzten Jahren zu recht neben bzw. über die "Preußischen Reformen" gestellt worden. 5 Bei der politischen Einordnung des Rheinbundes dominieren jedoch weiterhin die alten negativen Wertungen, die zu sehr vom Ende des Rheinbunds, vom Niedergang der napoleonischen Herrschaft und von einer stark nationalstaatliehen Sicht geprägt sind.6 Angeregt von der zeitgenössischen antifranzösischen und anti-napoleonischen Publizistik7 verfestigten sich diese negativen Einschätzungen
Bd. 2, S, 695; Ernst Rudolf Huber, Deutsche Verfassungsgeschichte seit 1789, Bd. I ND Stuttgart 1961, S. 80. Ähnlich auch Willy Andreas, Das Zeitalter Napoleons und die Erhebung der Völker, Heidelberg 1955, S, 338f.; Wemer Conze, Die Deutsche Nation. Ergebnis der Geschichte, Göttingen 1963, S. 37. • Vgl. Karl Beck, Zur Verfassungsgeschichte des Rheinbundes, Mainz 1890. 5 Zu den rheinbündischen Reformen: Elisabeth Fehrenbach, Traditionale Gesellschaft und revolutionäres Recht. Die Einführung des Code Napoleon in den Rheinbundstaalen, Göttingen '1984; Dies., Verfassungs- und sozialpolitische Reformen und Reformprojekte in Deutschland unter Einfluß des napoleonischen Frankreichs, in: HZ 228, 1979, S. 288-316; Helmut Berding, Napoleonische Hemchafts- und Gesellschaftspolitik im Königreich Westfalen 1807-I 8 I 3, Göttingen I 973; Eberhard Weis, Der Einfluß der französischen Revolution und des Empire auf die Reformen in den süddeutschen Staalen, in: Francia I, 1973, S. 569-583; Thomas Nipperdey, Deutsche Geschichle 1800-1866. Bürgerwelt und starker Staat, München 1983, S. 69-79; HansUirich Wehler, Deutsche Gesellschaftsgeschichle, Bde. 1-2, München 1987, hier Bd. I, S. 368-396; Horst Möller, Fürstenstaat oder Bürgernation. Deutschland 1763-1815, Berlin 1989, S. 595-632.
6 Elisabeth Fehrenbach, Vom Ancien Regime zum Wiener Kongreß, (= Oldenbourg-Grundriß der Geschichte 12), München/Wien 1981, S. 170-178. 7 Vgl. etwa die anonym erschienene Schrift: Geburt, Thaten und Ende des Rheinbundes ... an das Licht gestellt von einem leutschen Patrioten/Germanien 1814. Wichtig ist in diesem Zusammenhang aber vor allem Lucchesini, der 1821 gleich zu Beginn seiner Geschichle des Rheinbundes darauf verweist, daß er "seinen Beförderem Schande brachte und dem deutschen Volke ein schmerzliches,
Der Rheinbund und die deutsche NationalbewegWtg
31
in Deutschland bezeichnenderweise erst nach 1840, als sich im Zeichen des neuerlichen französischen Anspruchs auf die Rheingrenze das Erbfeindsyndrom bildete.8 Obwohl der ehemalige Darmstädter Minister du Thil schon in seinen um die Jahrhundertmitte entstandenen Memoiren notierte, "was heute den Deutschen gegen den Rheinbund einnimmt, das ist das verletzte Nationalgefühl" 9 , wurde die These von der Fremdherrschaft als Signum dieser Übergangsphase fortan kaum mehr hinterfragt. Die vorsichtige Revision des nationalstaatliehen Tenors, der nach 1945 für die kleindeutsche Nationalstaatsgründung Bismarcks erfolgte, ließ diese Frühzeit außer acht. Fritz Valjavecs Auffassung von 1951 wurde richtungweisend: "Der deutsche Nationalismus hat seine noch gegenwärtig wirksame Ausprägung seit dem Ausgang des 18. Jahrhunderts erfahren. Als politische Bewegung wurde er durch die napoleonische Fremdherrschaft ausgelöst und hat sich erstmals in den Befreiungskriegen machtvoll entfaltet." 10 Valjavec stand ganz in der Tradition der älteren deutschen Historiographie, unterließ aber bezeichnenderweise jeden Hinweis auf Preußen. Friedrich Meinecke hatte 1907 die Entstehung des deutschen Nationalismus prinzipiell ähnlich verortet, aber im Deutschland um 1800 die eigentümliche Konstellation zu erkennen geglaubt, "daß die einzigen brauchbaren Grundlagen zu einem modernen Nationalstaate nicht auf dem Boden der deutschen Nation, sondern auf dem Boden des preußischen Einzelstaates lagen II
11
Diese Perspektive der borussischen Mission in der deutschen Geschichte projiziert spätere Entwicklungen in eine Zeit zurück, als Preußen alles andere als die deutsche Nationaleinheit anstrebte, als die preußische Politik den Reichsverband preisgab (Friede von Basel 1795) und in der Neutralität gegenüber Napoleon verharrte. In dieser Sicht, die allerdings mit der historischen Realität wenig gemein hat, gerät der Rheinbund zu einer Art "Betriebsunfall" der deutschen Geschichte und der Deutsche Bund zum "dürftige(n) Machwerk", weil "die große Bewegung, verabscheuungswürdiges Andenken hinterlassen" habe. Marches Lucchesini, Historische Entwickelung der Ursachen und Wirkungen des Rheinbundes, Bde 1-2.2, Leipzig 1821-25, hier Bd. 1, S. 1 f. 1 Hans Schrnidt, Napoleon in der deutschen Geschichtsschreibung, in: francia 14, 1986, S. 530560, hier S. 358 ff.
9 Heinrich Ulmann (Hrsg.), Denkwürdigkeiten aus dem Dienstleben des Hessen-Darmslädtischen Staatsministers Freiherr du Thil, Stuttgart/Berlin 1921, S. 123.
°Fritz Valjavec, Die Entstehung derpolitischen Strömungen in Deutschland 1770-1815, München
1
1951,
s. 329.
11 Friedrich Meinecke, Weltbürgertum und Nationalstaat, München 1963 (zuerst 1907), S. 39. Bereits ein Jahr zuvor hatte Meinecke die Rolle Preußens stark hervorgehoben und schon angesichts des kläglich verlorenen Krieges von 1806 von den Hoffnungen auf Preußen als den Hort der deutschen Freiheit und Kultur gesprochen. Friedrich Meinecke, Das Zeitalter der deutschen Erhebung, Göttingen ~957 (merst 1906), S. 43 f.
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welche den preußischen Staat mit der deutschen Nation geistig und politisch verknüpfen wollte, gehemmt ..." wurde. 12 Verantwortlich für diesen lange Zeit alternativlos gedachten borossiseben Weg zum Nationalstaat war somit eine teleologische Geschichtsauffassung, die zunächst von den Wünschen und Vorstellungen einer bürgerlichen Bildungselite und dann von der Macht des Faktischen, dem von Bismarck mit Blut und Eisen herbeigeführten kleindeutsche Nationalstaat, gespeist wurde. Die gängige Interpretation der Frühphase der deutschen Nationalbewegung wurde auch im letzten Vierteljahrhundert nicht grundsätzlich in Frage gestellt. Dafür gibt es viele Gründe - vor allem eine Verlagerung der Forschungsschwerpunkte, die auch durch die Differenzierung des Faches "Neuere Geschichte" in eine frühe und eine späte Neuzeit mitbedingt ist. Da sich natürlich in erster Linie die späte Neuzeit mit dem Problem der Nationenbildung beschäftigt, ist der ältere Nationalismus der kulturellen Eliten, also die Phase bis zur Gründung des Deutschen Bundes, als Vorläuferphänomen etwas aus dem aktuellen Blickfeld der Forschung geraten. Diese beschäftigt sich nun vor allem mit dem organisierten gesellschaftlichen Nationalismus insbesondere der 1840er Jahre. Untersucht werden Sänger, Turner und Burschenschaften, die Griechen-, Polen- und Pressvereine sowie Denkmalsund Jubiläumsfeste als soziale Träger eines volkstümlichen Nationalismus, denen es in Deutschland wie beinahe überall in Europa gelang, die nationale Frage wachzuhalten. Dementsprechend wird der deutsche Nationalismus in die europäischen Zusammenhänge eingeordnet, und die jüngere Forschung sieht in ihm auch keineswegs mehr die Ursache allen Übels, sondern betont die sinnstiftende und die modernisierende Kraft der nationalstaatliehen Ordnung: "Kurz, Nation wird zum Schlüssel für das Verständnis von Kultur und Geschichte der eigenen Lebenswelt, der Identität." 13 Als politisch-soziale Bewegung bot der Nationalismus zudem "neue Leitideen, die der entstehenden, großräumig organisierten Gesellschaft besser angepaßt waren ... ". 14 Erforscht wird also das Neue und Zukunftweisende: der Nationalismus als Massenbewegung, sein Sinnstiftungs- und Modernisierungspotial sowie seine Integrationskraft Diese perspektivenreiche Sicht auf den entstehenden Nationalismus als einer Massenbewegung relativiert zwar die Bedeutung der älteren Ausprägungen bis hin zur politischen Romantik mit ihrer Akzentuierung von "Volk" und "Volkstum" als geschichtlichem Substrat in einem nationalen, ja ethnisch-
12
Ebd., S. 134.
13
Nipperdey, Geschichte, S. 305.
14 Dieter Langewiesche, Nationalgefühl und Nationalismus im 19. Jahrhundert, in: Deutschland Porträt einer Nation; Bd. I, S. 233-236, ZitatS. 233. Vgl. auch ders.,"Nation" und "Nationalstaat". Zum Funktionswandel politisch-gesellschaftlicher Leitideen in Deutschland seit dem 19. Jahrhundert, in: Friedrich W. Busch (Hg.), Perspektiven gesellschaftlicher Entwicklung in beiden deutschen Staaten, Oldenburg ..., S. 173-182; Peter Alter, Nationalismus, Frankfurt/M. 1985.
Der Rheinbund und die deutsche Nationalbewegung
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völkischen Sinn, wo das Vaterland zum Gottesdienst wird15, überläßt sie aber den Wertungen einer "nationalstaatlich" orientierten Geschichtsschreibung. Die von Hans Mommsen der Geschichtswissenschaft zugewiesene Aufgabe "die spezifische Historizität der Nationalismen aufzudecken und damit deren teleologische Inhalte zu hinterfragen" 16 - ist inzwischen als eine Minderheitsposition anzusehen, soll aber hier insofern aufgegriffen werden, als die aus dem Alten Reich kommende Tradition einer staatenbündischen, nicht aggressiven Variante der deutschen Nationaleinheit zur Diskussion gestellt wird. Es gilt, die spezifische Kontinuität von Reichspatriotismus und den zu Beginn des 19. Jahrhunderts dominierenden Einheitsvorstellungen aufzudecken, um so nicht nur das weitverbreitete Diktum - "die deutsche Nationalbewegung entstand aus der Abwehr einer Fremdherrschaft" 17 - zu relativieren, sondern auch, um das Spektrum des frühen deutschen Nationalismus als einer politischen Bewegung nicht von vomherein auf die flammenden Appelle eines Johann Gottlieb Fichte, Ernst Moritz Amdt oder Friedrich Ludwig Jahn einzuengen. Sie appellierten weniger an den Verstand als an das Gefühl, "Nation" und "Vaterland" erhielten bei ihnen einen quasi religiösen Charakter. 18 Heinz Angermeier hat kürzlich nachgewiesen, daß in den deutschen Verfassungsentwürfen vor 1815 nicht nationalstaatliche, sondern föderative Konzeptionen dominierten. "Darum ist wohl am Ende des 20. Jahrhunderts das Verständnis der modernen deutschen Staatsbildung und Staatsentwicklung aus dem Kern der alten Reichstradition ein besserer Ausgangspunkt für die Gewinnung eines deutschen Selbstverständnisses als die Rückführung scheinbar natürlicher nationalstaatlicher Bestrebungen auf einen Spannungszustand zwischen weltbürgerlichem Denken und nationaler Sendung. Es ist der dem deutschen Staatsdenken um 1800 völlig fremde und nur in der nationalstaatliehen Literatur herangezüchtete Natio-
u Wehler, Gesellschaftsgeschichte, Bd. 2, S. 409 ff. 16 Hans Mommsen, Nation und Nationalismus in sozialgeschichtlicher Perspektive, in: Wolfgang SchiederNolker Sellin (Hrsg. ), Sozialgeschichte in Deutschland, Bd. 2, Göttingen 1986, S. 162-1 84, Zitat S. 177.
17 Thomas Stamm-Kuhlmann, Humanitätsidee und Überwertigkeitswahn in der Entstehungsphase des deutschen Nationalismus, in: Historische Mitteilungen 4, 1991, S. 161171, ZitatS. 161. 11 Ebd.; Hasko Zimmer, Auf dem Altar des Vaterlands. Religion und Patriotismus in der deutschen Kriegslyrik des 19. Jahrhunderts, Frankfurt a. M. 1971, S. 16 f.; Kari-Georg Faber, Politisches Denken in der Restaurationszeit, in: Helmut Berding/Hans-Peter Ullmann (Hrsg.), Deutschland zwischen Revolution und Restauration, Königstein{faunus 198 I, S. 258-278, hier S. 272; James J. Sheehan, German History 1770-1866, Oxford 1989, S. 379-382.
3 Timmennann
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nalstaatsgedanke, der in das Verständnis der deutschen Geschichte des 19. und 20. Jahrhunderts einen tiefen Bruch gerissen hat ...''19 Am Beispiel des als zielgerichtet handlungsfllhiges und politisches System nie Realität gewordenen Rheinbunds soll daher gezeigt werden, wie nach dem Ende des Alten Reichs auch außerhalb Preußens politisch, vor allem aber publizistisch um die nationale Einheit gerungen wurde. Die europäische Umbruchsituation hat zu einer merklichen Aktualität der nationalstaatliehen Fragen geführt. Die deutsche Wiedervereinigung und die alles andere als konfliktfreie Welle von Nationenbildung hat zugleich das Problem aufgeworfen, wie dies mit der fortschreitenden europäischen Integration zu verbinden ist Unter diesem Aspekt erscheint die kritische Aufarbeitung der Nationalbewegung im Rheinbund dringend geboten: Nicht nur um mögliche Vorurteile abzubauen, sondern vor allem, um die Chancen und Risiken staatenbündischer Integrationsmodelle auszuloten. Insbesondere Karl Theodor von Dalberg, letzter Kurerzkanzler und nunmehriger Fürstprimas des Rheinbunds20, verkörpert in seiner Person das - den veränderten Umständen allerdings angepaßte - Fortleben des alten Reichspatriotismus. Er wollte um nahezu jeden Preis die Einheit der deutschen Nation bewahren und sie im Vergleich mit der Verfassungswirklichkeit des Alten Reichs institutionell festigen. Als verantwortlicher Staatsmann durfte er sich nicht an nebulösen Idealen, sondern mußte sich an der politischen Realität orientieren, die aber hatte mit Napoleon einen Namen. Dennoch ist es gerade Dalberg und der von ihm inspirierten bzw. der an die späte Reichspublizistik nahtlos anknüpfenden Rheinbundpublizistik mitzuverdanken, wenn in der Öffentlichkeit ein Bewußtsein der Zusammengehörigkeit über die Grenzen der Einzelstaaten hinweg erhalten blieb und sogar noch intensiviert wurde. Wie Elisabeth Fehrenbach ausgeführt hat, ist der Rheinbundpatriotismus das entscheidende Bindeglied zwischen dem Reichspatriotismus und dem liberalen Nationalismus des 19. Jahrhunderts.21
19 Heinz Angermeier, Deutschland zwischen Reichstradition und Nationalstaat. Vetfassungspolitische Konzeptionen und nationales Denken zwischen 1801 und 1815, in: Ders., Das alte Reich in der deutschen Geschichte, München 1991, S. 449-521, ZitatS. 493 (zuerst erschienen in: Zeitschrift für Rechtsgeschichte, G. A. 107, 1990, S. 19-101). :tD Klaus Rob, Kar! Theodor von Dalberg (1744-1817). Eine politische Biographie für die Jahre 1744-1806, Frankfurt 1984; Antje Freyh, Kar! Theodor von Da1berg (1744-1817). Ein Beitrag zum Verhältnis von politischer Theorie und Regierungspraxis in der Endphase des aufgeklärten Absolutismus, Frankfurt 1978.
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Fehrenbach, Gesellschaft, S. 77.
Der Rheinbund und die deutsche Nationalbewegung
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2. In der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts wurde - auch wenn oder gerade weil die Realitität anders aussah - vor allem vom gebildeten Bürgertum die kulturelle, aber auch bereits die wirtschaftliche und sogar die staatliche Einheit Deutschlands immer häufiger beschworen. Während zuvor kaum jemand in Kategorien wie "Deutschland" oder "deutsche Nation" dachte, bekamen diese Begriffe seit der Jahrhundertmitte eine ungeahnte Konjunktur. 1766 erschien Friedrich Carl von Masers Schrift: "Von dem deutschen Nationalgeist". Sie beginnt: "Wir sind Ein Volk, von Einem Nahmen und Sprache, unter Einem gemeinsamen Obemaupt ..."22
Der jüngere Maser unterschied nicht zwischen "Reich" und "deutscher Nation". Er blieb der Vorstellungswelt des Alten Reiches verhaftet und benutzte die moderne, mobilisierende Begrifflichkeit, um "Kaiser und Reich" wachzurütteln. Er forderte Einigkeit im Inneren, größere Rücksicht der Teile auf das Ganze sowie eine generelle Reform des politischen Systems. Sein "Deutschland", das er meist als "mein Vaterland" bezeichnet, blieb das reformierte Reich- ein funktionierender Verbund von Ländern, wo "ein Berliner Wien, ein Wiener Hannover, ein Hesse Mainz als sein Vaterland achten, lieben und ehren lernte. "23 Selbst Johann Jacob Maser, Vater Friedrich Carls, machte noch im gleichen Jahr sein Zugeständnis an diese neue Entwicklung. Der Neufassung seines "teutsches Staatsrechts" lagerte er fünf Kapitel vor, in denen er sich ausführlich mit dem Komplex "Deutschland" und dessen Grenzen beschäftigte. Sein nüchterner Stil verdeckt, daß auch sein erster Satz programmatisch zu verstehen ist: "Der Name unseres Vaterlandes wird von uns Teutschen selbsten auf zweyerley Art geschrieben, nemlich Teutschland und Deutschland". :lA
Vaterland wird nun - wie selbstverständlich - nicht mehr auf kleinräumige Ortsangaben, sondern auf Deutschland insgesamt bezogen. Johann Jacob Maser bringt zudem dieses "Vaterland" sofort mit Schreibweisen und damit mit Sprache in Verbindung. Die Appelle an die kulturellen Gemeinsamkeiten, die Betonung der deutschen Sprache sowie der "Reichspatriotismus" der späten Rcichspublizistik,haben nach der Jahrhundertmitte zumindest im gebildeten Deutschland dieses 22 Friedrich Carl von Moser, Von dem Deutschen Nationalgeist, ND Selb 1976 (ruerst erschienen: 1766), s. 5. D Ebd., S. 56.- Vgl. John G. Gagliardo, Reich and Nation. The Holy Roman Empire as ldea and Reality, 1763-1806, Bloomington/London 1980, bes. S. 53-65. :rA Johann Jacob Moser, Neues teutsches Staatsrecht, Bd. 1: Von Teutschland und dessen StaatsVerfassung übemaupt ... ,ND Osnabrück 1967 (zuerst: 1766), S. I.
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neue nationale Bewußtsein kreiert.25 "Nation" wurde nicht mehr im mittelalterlichen, ständische Abgrenzung implizierenden, sondern im modernen, auf die Teilhabe aller und nicht mehr nur der führenden Schichten und auf einen gemeinsamen Staat zielenden Sinne gebraucht. Dies führte aber zu einer merklichen Spaltung der noch jungen Bewegung in den publizistischen Reichspatriotismus und in eine mehr literarische Verarbeitung, in der das existierende Reich als nicht mehr entwicklungsfähig eingeschätzt und statt dessen mit sittlicher Größe argumentiert wurde. Diese wohnt - wie es Friedrich Schiller ausgedrückt hat- "in der Kultur und im Charakter der Nation" und ist "von ihren politischen Schicksalen unabhängig." 26 Im Gegensatz zu Schiller und vielen anderen hat Hegel sich nicht in diese Kulturnation geflüchtet, sondern 1802 sogar einen Verfassungsentwurf für Deutschland ausgearbeitet. Ihm ging es ganz im Sinne des aufgeklärten Kosmopolitanismus und anknüpfend an die Gedanken des jüngeren Mosers einer-, der Französischen Revolution andererseits darum, das deutsche Volk wieder in eine engere Verbindung mit Kaiser und Reich zu bringen.27 Damit steht Hegel auch in der Tradition der späten Reichsreform, die sich um Stärkung des sog. Dritten Deutschland bemühte, also vor allem die Zusammenarbeit der mittleren Reichsstände zwischen Österreich und Preußen forcieren wollte. Diese Projekte sind im Fürstenbund zwar augenfällig gescheitert, doch hat es immer wieder neue Anläufe zur Bildung einer dritten Macht und damit zur Weiterentwicklung des Dualismus zu einem A.B.C.-Triumvirat gegeben- ABC steht dabei für Austria, Borussia und Corpus Principium Germanorum. 28 Das petrifizierte Reichsverfassungssystem ließ derartige Konstruktionen jedoch nicht mehr zu. Erst nachdem Preußen 1795 mit dem Sonderfrieden von Luneville den Reichsverbund faktisch verlassen hatte, war eine neue "offene" Situation entstanden: Sie wurde im Reichsdeputationshauptschluß zunächst aber nur zur Vergrößerung der Territorialstaaten auf Kosten der Reichskirche und der Reichsstädte genutzt. Napoleon wollte jedoch deutlich mehr - die völlige Zerschlagung des Reichsverbandes.
21 Dazu zusammenfassend MöUer, Fürstenstaat, S. 43-58; Hagen Schulze, Der Weg zum Nationalstaat. Die deutsche Nationalbewegung vom 18. Jahrhundert bis zur Reichsgründung, München 1985; s. 58-70.
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