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German Pages 356 Year 2000
OLIVER VORNDRAN
Die Entstehung der ukrainischen Verfassung
Veröffentlichungen des Osteuropa-Institutes München Reihe: Wirtschaft und Gesellschaft früher Schriften des Institutes zum Studium der Sowjetwirtschaft an der Hochschule für Sozialwissenschaften Wilhelmshaven
Herausgegeben von Prof. Dr. G. Hedtkamp Redaktion: Dr. H. Clement Heft 24
Die Entstehung der ukrainischen Verfassung Von
Oliver Vorndran
Duncker & Humblot · Berlin
Die Deutsche Bibliothek - CIP-Einheitsaufnahme Vorndran, Oliver: Die Entstehung der ukrainischen Verfassung / von Oliver Vorndran. - Berlin : Duncker und Humblot, 2000 (Veröffentlichungen des Osteuropa-Institutes München : Reihe: Wirtschaft und Gesellschaft ; H. 24) Zugl.: Freiburg (Breisgau), Univ., Diss., 1998 ISBN 3-428-09676-2
D 25 Alle Rechte vorbehalten © 2000 Duncker & Humblot GmbH, Berlin Fotoprint: Werner Hildebrand, Berlin Printed in Germany ISSN 0580-2008 ISBN 3-428-09676-2 Gedruckt auf alterungsbeständigem (säurefreiem) Papier
entsprechend ISO 9706 θ
Vorbemerkung An dieser Stelle möchte ich allen Dank sagen, die die Entstehung dieser Arbeit begleitet und unterstützt haben: Meinem Lehrer Prof. Dr. em. Wilhelm Hennis; meinen Eltern, die stets aushalfen, wenn es nötig war; dem Cusanuswerk für Ermutigung, Rat und finanzielle Hilfe; den unschätzbaren Freunden und Korrekturlesern Jörn Grävingholt und Andreas Hölting; Taras Kuzio, Kataryna Wolczuk und Stefanie Harter für ihre Anregungen während des Jahres am Centre for Russian and East European Studies der University of Birmingham; der Deutschen Botschaft und allen Bekannten in Kyjiv und der Ukraine für ihre Hilfe „vor Ort"; dem Osteuropa-Institut München für einen Druckkostenzuschuß und Kerstin Riedmüller für ihren fröhlichen Beistand zu jeder Zeit.
Köln, im Februar 1999
Oliver Vorndran
Inhaltsverzeichnis Vorbemerkung
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Inhaltsverzeichnis
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A. Einleitung
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B. Historische und regionale Bestimmungsfaktoren ukrainischer Politik... 24 I. Geschichte in Kürze II. Regionalisierung der Ukraine 1. Ethnische und sprachliche Diversität der Regionen 2. Demographische und wirtschaftliche Regionalisierung 3. Kulturelle und konfessionelle Vielfalt der Regionen C. Aufbruch und Umbruch I. Die „Sechziger" II. Die erstarkende Opposition III. Die Gründung der Bewegung „Ruch" IV. Die Entwicklung innerhalb der KPU D. Ein Staat im Werden I. Die Parlamentswahlen im Frühjahr 1990 1. Das Wahlrecht 2. Der Wahlkampf 3. Die Ergebnisse der Wahlen zum Obersten Sowjet im März 1990 II. Anfänge des Parlamentarismus III. Die Souveränitätserklärung 1. Demonstrationen und Hungerstreik zwingen Masol zum Rücktritt 2. Die innere Differenzierung der politischen Kräfte 3. Das Referendum über den Erhalt der Sowjetunion IV. Die Unabhängigkeit der Ukraine 1. Die Unabhängigkeitserklärung nach dem August-Putsch in Moskau
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Inhaltsverzeichnis
2. Der Präsidentschaftswahlkampf und das Referendum über die Unabhängigkeit der Ukraine 3. Die Neu-Formierung der Fraktionen im Parlament 4. Verfassungsberatungen und -änderungen 1991/92 5. Verpaßte Chancen V. Von Fokin zu Kuéma: Stabwechsel der Premierminister VI. „Konzept ohne Macht" und „Macht ohne Konzept" E. Die Parlamentswahlen 1994 I. Das Wahlgesetz 1. Mehrheitswahl oder Listenwahl? 2. Das Erfordernis der absoluten Mehrheit und der mehrheitlichen Wahlbeteiligung 3. Die Nominierung der Abgeordneten 4. Die Stellung und Rolle der Wahlkommissionen II. Der Parlamentswahlkampf 1994 1. Die Nominierung der Kandidaten 2. Wahlbündnisse 3. Der Wahlkampf III. Die Parlamentswahlen 1994/95 1. Wahlbeteiligung und Ergebnisse 2. Regionale Analyse der Ergebnisse 3. Die Bedeutung der Parlamentswahlen F. Die Parteien in der Ukraine I. Entstehung und Typen ukrainischer Parteien 1. Vorbemerkung: Bedingungen fur die Entstehung von Parteien 2. Die Entstehung der Parteien in der Ukraine 3. Ukrainische Parteien als „persönliche Parteien" II. Die Parteien in der Ukraine 1. Die Kommunistische Partei der Ukraine (KPU) 2. Die Bauern-Partei der Ukraine 3. Die Sozialistische Partei der Ukraine (SPU) 4. Die Partei der Demokratischen Wiedergeburt der Ukraine (PDWU) 5. Der Interregionale Reform-Block (IRB) 6. Die Liberale Partei der Ukraine (LPU) 7. Die Volksbewegung der Ukraine (Ruch) 8. Die Ukrainische Republikanische Partei (URP) 9. Die Demokratische Partei der Ukraine (DPU) 10. Die rechtsextremen Parteien UNA-UNSO und K U N
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Inhaltsverzeichnis
G. Die Bildung der 13. Verchovna Rada I. Bildung der Fraktionen 1. Grundlagen der Fraktionsbildung 2. Die Fraktionen a) Die Fraktion der Kommunisten b) Die Sozialistische Fraktion c) Die Gruppe „Agrarier der Ukraine" d) Die Interregionale Deputiertengruppe e) Die Gruppe „Einheit" f) Die Fraktion „Sozial-Markt Wahl" g) Die Gruppe „Unabhängige" h) Die Gruppe „Zentrum" i) Die Gruppe „Reformen" j) Die Fraktion „Ruch" k) Die Gruppe „Staatlichkeit" 3. Entwicklung der Fraktionsstärken 4. Andere Zusammenschlüsse von Abgeordneten II. Der Vorsitzende des Parlamentes 1. Die Wahl des Vorsitzenden 2. Die Kompetenzen des Parlaments Vorsitzenden 3. Rolle und Selbstverständnis Moroz' als Parlamentsvorsitzender III. Die Wahl der stellvertretenden Parlamentsvorsitzenden IV. Die Bildung der Ausschüsse V. Das Präsidium der Verchovna Rada VI. Stellung und Aufgaben des Abgeordneten 1. Die rechtliche Stellung des Abgeordneten 2. Die Bestätigung der Abgeordneten-Mandate a) Der Fall Hrin'ov b) Der Fall Kravòuk c) Der Fall Luk'janenko 3. „Generationswechsel" der Abgeordneten? VII. Die Arbeitsweise der 13. Verchovna Rada VIII. Funktionswandel des Parlamentes H. Die Präsidentschaftswahl 1994 I. Das Wahlgesetz II. Der Wahlkampf 1. Kuòmas Wahlkampf 2. Kravöuks Wahlkampf 3. Die Kandidaten der Linken 4. Die Reformer: Lanovyj und Pynzenyk
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Inhaltsverzeichnis
5. Die Außenseiter 6. Und die Nationaldemokraten? III. Die Rolle der Medien im Präsidentschaftswahlkampf IV. Die Ergebnisse der Präsidentschaftswahl V. Der Amtsantritt Kuömas J. Die Regierung zwischen Parlament und Präsident I. Der Kampf um die Exekutive zwischen Moroz und Kravöuk 1. Die Bestellung der Regierung Masol 2. Die Abschaffung der Vertreter des Präsidenten II. Kuömas Griff nach der Macht über die Exekutive III. Die Stellung des Präsidenten und sein Verhältnis zum Parlament.. IV. Ansätze einer Wirtschafts-Reform im Herbst 1994 1. Kuömas Reformprogramm 2. Preisliberalisierung 3. Beschleunigung der Land-Reform 4. Moroz' „Ja, aber"-Politik K. Das „Gesetz über die Macht"
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I. Das „Gesetz über die Macht" in erster Lesung 198 1. Der Inhalt des Entwurfes 199 2. Die Beratung in erster Lesung 202 II. Das „Gesetz über die Macht" vor der zweiten Lesung 204 1. Der Inhalt des zweiten Entwurfes 204 2. Beratungen im Vermittlungsausschuß 206 III. Der Politiker ist des Politikers Wolf 207 1. Masol gegen Kuöma 207 2. Die linken Fraktionen gegen die Regierung 209 3. Rechte und Zentristen gegen die Vorsitzenden der Rada 209 4. „Show-Down" 210 IV.Die Beratung des „Gesetzes über die Macht" in zweiter Lesung ... 213 V. Plebiszit und Verfassungsvereinbarung 217 1. Die neuen Machtverhältnisse nach dem Gesetz „Über die Staatsmacht und die lokale Selbstverwaltung in der Ukraine".. 221 2. Die Unterzeichnung 224 L. Die Neuordnung der politischen Gewalten I. Die Bildung der Regierung II. Entscheidungsstrukturen in der Exekutive 1. Die Stellung des Präsidenten der Ukraine 2. Struktur und Selbstverständnis der Präsidialverwaltung 3. Die Struktur der Regierung III. Der Premierminister - der Mann am kürzeren Hebel
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Inhaltsverzeichnis
IV. Beziehungen von Exekutive und Legislative 243 1. Das Regierungsprogramm 243 2. Die Entscheidung des Parlaments über die Anhebung des Subsistenzminimums 246 3. Institutionalisierung der Zusammenarbeit zwischen Exekutive und Legislative 250 a) Die „Tage der Regierung" 251 b) Gemeinsame Sitzungen der Präsidien von Parlament und Regierung 252 c) Der Stellvertreter des Präsidenten im Parlament 253 M. Der verfassunggebende Prozeß I. Der Entwurf der Expertenkommission II. Der Entwurf des Verfassungsausschusses III. Die Beratung der Verfassung in erster Lesung IV. Der Verfassungsentwurf des Ad-hoc-Komitees V. A u f dem Weg zur Verfassung VI. Die neue ukrainische Verfassung VII. Die entscheidenden Faktoren im verfassunggebenden Prozeß N. Schlußfolgerungen I. Die Rahmenbedingungen des verfassunggebenden Prozesses II. Drei Etappen bis zur Verfassung - Die Binnenstruktur des verfassunggebenden Prozesses III. Die politischen Grundfragen in der ukrainischen Verfassung IV. Ausblick Anhänge
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1. Edict by the President of Ukraine „On measures designed to restructure and ensure proper management in state executive" 327 2. Edict by the President of Ukraine „On management of regional executive bodies" 328 3. Dekret des Präsidenten über die Durchfuhrung eines Plebiszites zur Frage, ob die ukrainischen Bürger dem Parlament oder dem Präsident vertrauen 329 4. Resultate der Abstimmungen über die Resolution der Verchovna Rada über den Arbeitsbericht des Präsidiums am 7. April 1995 .... 330 5. Stimmverhalten der Deputierten nach Fraktionen bei der Abstimmung über die Verfassungsvereinbarung am 7. Juni 1995 .331 Literaturverzeichnis
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Personen- und Sachregister
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Α. Einleitung A m 28. Juni 1996 hat sich die Ukraine eine neue Verfassung gegeben. Die Abgeordneten des ukrainischen Parlaments erklärten den Tag in dem Bewußtsein zum nationalen Feiertag, eine Grundlage gemeinsamen (politischen) Lebens geschaffen zu haben, die den Schatten des Sozialismus abwerfen und den Keim eines neuen politischen Gemeinwesens bilden sollte. Die Bestimmungen zu den Staatssymbolen und zur Staatssprache gemeinsam mit den Formeln der Präambel suchten den Gehalt der ukrainischen Nation zu bestimmen, der seit der Erklärung der Unabhängigkeit fast fünf Jahre zuvor (am 24. August 1991) offen geblieben war. Mit der Formulierung der Grundund Menschenrechte und der Einsetzung eines Verfassungsgerichtes sollte die (west-)europäische Tradition des Rechtsstaates aufgenommen werden. Die umfangreichen sozialen Rechte ließen zugleich die Verwurzelung in einem sozialistisch-etatistischen Denken erkennen. Die politische Willensbildung im Verhältnis der Institutionen zueinander wurde neu geregelt und muß sich nun in der Praxis bewähren. Die Verabschiedung der Verfassung, deren Entstehung hier untersucht wird, ist nur der formale Abschluß der Bildung eines noch im Werden begriffenen, neuen Staates. Ob die Verfassung tatsächlich die - dem Sozialismus fremde normative Kraft entwickeln wird, dem Handeln der Politiker und Bürger Orientierung zu geben, liegt nicht an der geschriebenen Verfassung selbst. Der in dieser Arbeit geschilderte verfassunggebende Prozeß, der als Machtkampf die widerstreitenden Interessen und Überzeugungen offen zu Tage treten läßt, gewährt Einblick in die Strukturen, die der Verfassung vorausliegen und die nach deren Verabschiedung die Verfassungswirklichkeit prägen werden. Dies betrifft das Verhältnis der politischen Gruppen und Richtungen zueinander ebenso wie die politische Kultur und das Rechts Verständnis. Die Verfassunggebung kann zudem als Sonderfall der Gesetzgebung gesehen werden und dafür eine Anschauung bieten. Unter diesem doppelten Aspekt erschien es besonders lohnenswert, die Verfassunggebung der Ukraine zum Gegenstand dieser Arbeit zu machen. Der Annahme der Verfassung durch das Parlament am 28. Juni 1996 ging ein fünfjähriger, dreistufiger Prozeß voraus, in den ich hier zunächst in aller Kürze und groben Strichen einführen möchte. Die Notwendigkeit, eine neue Verfassung für die Ukraine zu verabschieden, ergab sich 1990/91 aus dem Zusammenbruch der Sowjetunion als Staat und des Kommunismus als System. Sowohl der Staat als Institution und die Nation als seine Legitimationsgrundlage mußten neu begründet werden. Die Erklärung
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Α. Einleitung
der Unabhängigkeit der Ukraine am 24. August 1991 hatte aber nicht zur Folge, daß sogleich die Verfassung der Ukrainischen Sozialistischen Sowjetrepublik (UkrSSR) vom 20. April 1978 außer Kraft trat. Sie galt trotz all ihrer Unzulänglichkeiten bis zum 28. Juni 1996 fort. Die zahlreichen Änderungen 1 der Verfassung zeigten aber, daß sie den wechselnden Umständen nicht mehr angemessen war und dauernd dem außerhalb des Rechtsbereich ablaufenden Strukturwandel des politischen und wirtschaftlichen Systems angepaßt werden mußte. Die Verabschiedung einer Verfassung galt auch als Desiderat der Staats- und Nation-Werdung der Ukraine, um die Legitimität des Staates gegenüber seinen Bürgern und den Nachbarstaaten - besonders Rußland - zu stärken. Dennoch kam es unter Präsident Kravöuk (1991-1994) nicht zur Verabschiedung einer Verfassung, weil den verschiedenen politischen Kräften dazu entweder der politische Wille oder die Macht fehlte. Präsident Kravéuk verfolgte während seiner Präsidentschaft eine Politik der Deeskalation und Vermittlung zwischen den ostukrainischen Kommunisten und den westukrainischen Nationalisten, um die Einheit des jungen Staates nicht zu gefährden. Dies schloß die Diskussion ideologischer Streitfragen, die schnelle Bestimmung des Gehalts der ukrainischen Nation, einen Machtkampf zwischen den Staatsorganen und folglich die Diskussion und Verabschiedung einer Verfassung aus. Auch die linksorientierte Nomenklatura im Parlament hatte kein Interesse an einer Neubestimmung der Machtverhältnisse, da sie fur sich den status quo als vorteilhaft empfand. Die Nationalisten als einzige Gruppe, die eine Verfassung verabschieden wollte, hatten nicht genug Macht, um dies durchzusetzen. Weil dennoch alle Gruppen erkannten, daß es prinzipiell einer neuen Verfassung bedurfte, wurde eine Verfassungskommission eingesetzt, Entwürfe ausgearbeitet, diese ins Parlament eingebracht und auch öffentlich diskutiert, doch die Verabschiedung eines Verfassungsentwurfes stand niemals ernsthaft in Aussicht. 2 Die oben dargelegte politische Situation änderte sich mit den Parlamentsund Präsidentschaftswahlen im Frühjahr und Sommer 1994 - dem Beginn der zweiten Phase der Verfassungsdiskussion - nur in einem Punkt. Der neue Präsident Leonid Kuöma hatte sein Amt mit dem Ziel angetreten, Wirtschaftsreformen durchzusetzen und hielt es dazu für nötig, seine präsidialen Kompetenzen durch ein Staatsorganisationsgesetz zu erweitern. Linke und Zentristen, die alte und neue Nomenklatura im ukrainischen Parlament, sahen weiterhin keine dringende Notwendigkeit, den verfassunggebenden Prozeß ernsthaft voranzubringen. Die reformorientierten Nationalisten hatten nur ein Viertel der Man-
1 U.a. die Streichung des „Art. 6" über die führende Rolle der kommunistischen Partei, die Einführung einer eigenen Armee, die Einführung des Präsidentenamtes u.v.m. 2 Juz'kov, 1996, S. 240.
Α. Einleitung
date errungen und blieben weiter ohne entscheidenden Einfluß. Um seine Reformbemühungen zu verfolgen, legte Kuöma Anfang Dezember 1994 den Entwurf eines Gesetzes „Über die Staatsmacht und die lokale Selbstverwaltung in der Ukraine" vor, der eine erhebliche Ausdehnung seiner Macht vorsah. Nach langen und harten Auseinandersetzungen und unter Androhung eines Plebiszites konnte Kuéma gegen den Widerstand der reformfeindlichen Kräfte im Parlament schließlich am 8. Juni 1995 eine überarbeitete Version seines Entwurfes, die „Verfassungsvereinbarung" durchsetzen. Dies leitete die dritte Phase der Verfassungsdiskussion ein. Die Verfassungsvereinbarung sah in den abschließenden Bestimmungen vor, daß innerhalb eines Jahres eine Verfassung verabschiedet werden sollte. Darauf konnte nun ernstlich gehofft werden, weil die Kompetenzen des Parlaments durch die Verfassungsvereinbarung beschränkt worden waren 3 und das Parlament den verfassunggebenden Prozeß nutzen konnte, um dem Präsidenten einige der Rechte wieder abzuringen. Zum ersten Mal seit 1991 hatte das Parlament selbst ein ernsthaftes Interesse daran, eine Verfassung zu verabschieden. Auch Präsident Kuòma hatte weiterhin ein Interesse an der Annahme der Verfassung. Er hatte zwar den vollständigen Einfluß auf die Exekutive gewonnen, war aber weiterhin von der Gesetzgebung des Parlaments abhängig, auf die er so gut wie keinen Einfluß hatte. Sein Ziel war, das Gewicht der Legislative im Gesetzgebungsprozeß zu schwächen. Damit hatten beide Verfassungsorgane ein von gegensätzlichen Zielen geprägtes Interesse am Zustandekommen der Verfassung. Zu diesem institutionellen Konflikt zwischen den Verfassungsorganen kam ein ideologischer Konflikt zwischen den politischen Kräften im Parlament hinzu, der unterschiedliche Vorstellungen über die Merkmale der ukrainischen Nation betraf. Lange Zeit schien es, daß diese Konflikte unüberwindbar waren. Erst ein vom Präsidenten angesetztes Referendum, das die Einflußmöglichkeiten und den Bestand des Parlaments gefährdete, führte dazu, daß die Abgeordneten den innerparlamentarischen, ideologischen Konflikt überwanden. Dies war die Voraussetzung fur die parlamentarische Verabschiedung der Verfassung und die Lösung des institutionellen Konfliktes im Sinne des Parlaments. Eine wirkliche Versöhnung der gegensätzlichen Standpunkte fand jedoch bei keinem der beiden Konflikte statt. Schon diese kurze Beschreibung reflektiert das dieser Arbeit zugrundeliegende Vorverständnis, die Anschauung des verfassunggebenden Prozesses und den damit verbundenen Wandel der politischen Institutionen. Vier grundlegende Faktoren prägten den verfassunggebenden Prozeß: die historischen Vorbedingungen, die Machtkonstellation der Beteiligten, die bestehenden politischen Institutionen und die Ziele der Akteure. 3 U.a. hatte der Präsident das Recht, die Regierung zu ernennen, ohne auf die Zustimmung des Parlaments angewiesen zu sein.
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Α. Einleitung
Hintergrund des verfassunggebenden Prozesses war die Geschichte der Ukraine und der Sowjetunion, die fast alle anderen Faktoren des Prozesses mindestens indirekt beeinflußte. 4 So konstituierte der Zusammenbruch der Sowjetunion als Staat und des Kommunismus als System vier politische Grundfragen, auf die die Verfassung eine Antwort finden mußte.5 Das Scheitern des Kommunismus als Ideologie bewirkte die Delegitimation der alten formaldemokratischen Institutionen, die durch die Ineffizienz bei der Entscheidungsfindung und -umsetzung noch verstärkt wurde. Dies erhöhte den Druck auf die Abschaffung des alten politischen Systems.6 Das geschichtliche Erbe stellte also einen ersten Faktor im verfassunggebenden Prozeß dar. Ein zweiter Faktor, die Machtkonstellation der am verfassunggebenden Prozeß beteiligten Akteure, wirkte sich direkt auf den verfassunggebenden Prozeß aus.7 Diese Machtkonstellation beruhte erstens auf den Ressourcen und Regeln der Institutionen (wie sie zu Beginn des Prozesses bestanden), zweitens auf der geschichtlich bedingten Elitenkonfiguration 8 und drittens auf dem Einfluß der öffentlichen Meinung. Die öffentliche Meinung fand ihren maßgeblichen Ausdruck in Wahlen und Meinungsumfragen. Medien, Parteien, Verbände und Vereinigungen waren in der Ukraine nicht entwickelt genug, um zur Bildung
4 Reißig, 1994, S. 327. 5 Diese vier Grundsatzfragen waren: Welche sollten die Grenzen der Ukraine sein? Welches politische, welches wirtschaftliche System wurde festgeschrieben? Welche war die außenpolitische Orientierung der Ukraine? (Vgl. Kap. Ν dieser Arbeit). 6 Vgl. die auf einer Institutionentheorie basierende Theorie institutionellen Wandels von Göhler (1996). Institutioneller Wandel wird durch ein Mißverhältnis von Macht und Repräsentation in zwei institutionellen Dimensionen motiviert. In der ersten Dimension, der Willensbeziehung (S. 30f.), muß sich institutionell vermittelte Macht (definiert nach Weber als Chance, den eigenen Willen gegen den Willen eines anderen auch bei Widerstreben durchzusetzen) durch Repräsentation legitimieren. Durch ein Mandat kann das Handeln des Machtinhabers den Bürgern zugerechnet werden. Das Verhältnis von Macht und Repräsentation ist stets prekär und „in der institutionellen Konfiguration die grundlegende Konstellation für die Bestimmung von Institutionenwandel" (S. 31). In der zweiten Dimension, der Symbolbeziehung (S. 3133), repräsentieren Institutionen grundlegende Werte und Ordnungsprinzipien. Auch diese müssen sich legitimieren, indem sie auf die (intransitive) Macht der Bürger zurückgeht, Werte und Ordnungsprinzipien zu generieren. Korrespondenz oder Diskrepanz von intransitiver Macht und symbolischer Repräsentation ist ein zweites Motiv für Institutionenwandel (S. 33). In den sozialistischen Regimen in Osteuropa bestand in beiden Dimensionen eine Differenz zwischen Macht und Repräsentation, die sich in der Phase der Liberalisierung manifestierte und in der Folge einen umfassenden Institutionenwandel motivierte. Verfassunggebende Prozesse waren ein Teilbereich des Institutionenwandels. 7 Elster, 1993, S.213f. 8 Pridham, 1994, S. 26f.
Α. Einleitung
der öffentlichen Meinung eigenständig beizutragen oder die ukrainische Bevölkerung für den verfassunggebenden Prozeß politisch zu mobilisieren. 9 Ein dritter, entscheidender Faktor im verfassunggebenden Prozeß bestand in den sich wandelnden Institutionen, die durch formelle und informelle Regeln das Verfahren der Verfassunggebung und die Einflußmöglichkeiten der Akteure mitbestimmten. Dies galt insbesondere für die Ukraine, da sich der Kampf um die Ablösung der Verfassung nicht durch Revolution (Ablösung außerhalb der Verfassungsordnung), sondern durch Reform (Ablösung innerhalb der Verfassungsordnung) vollzog. 10 Deshalb prägten die geltenden Regeln für die Verfassunggebung das strategische Verhalten der Beteiligten.11 Die Institutionen bildeten die Schnittstelle zwischen dem politischen System und dem individuellen Handeln des Politikers. 12 Die Bedeutung der Institutionen darf aber auch nicht überbewertet werden, da sie selbst Gegenstand des Wandels waren. Als Institutionen des alten Systems hatten sie ihre Legitimation weitgehend eingebüßt und und sollten ersetzt werden. Ihre Wirkung entfalteten die Institutionen deshalb vor allem dort, wo ein Konsens der Beteiligten über die Fortgeltung der Regeln bestand. War dies nicht der Fall, traten die Interessen und die Machtposition der Beteiligten in den Vordergrund. 13 Die Bedeutung der Institutionen für die Beschränkung individuellen Verhaltens muß also in den verschiedenen Phasen des Regimewechsels individuell nachgewiesen werden. Einen vierter Faktor stellten die Interessen und Überzeugungen (zusammengefaßt: die Präferenzen) der Akteure dar. Die empirische Analyse bietet ausreichend Belege dafür, daß die Präferenzen der Akteure im allgemeinen stabil und erkennbar waren, so daß sie als gegeben vorausgesetzt werden konnten. Des weiteren konnte angenommen werden, daß die Akteure zielgerichtet handelten und die Konsequenzen ihres Handelns hinreichend abschätzen konnten, um auf dieser Basis entscheiden zu können. Dies bedeutet aber noch nicht, daß das Handeln der Akteure und der Ausgang des verfassunggebenden Prozesses berechenbar gewesen wäre. 14 Sie mußten sich laufend an neue Situationen anpassen und befanden sich in einem Lernprozeß von Versuch und Irrtum, der zur Bildung neuer Verhaltensweisen führte. Nur in Ausnahmefällen verfügten die Akteure über kohärente Konzepte und langfristige Strategien. 15 Im allge-
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Wolczuk, 1997, S. 3.
10 Kraus, 1990, S. 194 11 Higley u.a., 1995, S. 4; Steinmo/Thelen, 1992, S. 7. 12 Reißig, 1994, S. 335. 13 Dies zeigt sich am deutlichsten bei der rechtswidrigen Änderung der alten Verfassung durch die Verfassungsvereinbarung. Siehe Abschnitt 10.5. dieser Arbeit. 14 Glaeßner, 1994, S. 159; O'Donnell/Schmitter, 1991, S. 4. 15 Glaeßner, 1994, S. 167; Offe, 1994, S. 58f. 2 Vorndran
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Α. Einleitung
meinen überwog situationsbedingtes Verhalten. 16 Deshalb müssen insgesamt die kreativen und innovativen Dimensionen des menschlichen Verhaltens herausgestellt werden. 17 Diese Arbeit folgt damit nicht dem Ansatz des New Institutionalism, der Institutionen als Focus fur die Analyse institutionellen Wandels benutzt.18
16 Das deutlichste Beispiel hierfür ist die Überwindung der ideologischen Gegensätze und die Verabschiedung der Verfassung am 27./28. Juni 1996 im Parlament nach der Ankündigung Kucmas, ein (rechtswidriges) Referendum über den Verfassungsentwurf des Verfassungsausschuß vom März 1996 durchzuführen (vgl. die Abschnitte M.II, bis M.V.). 1 7 Frentzel-Zagorska, 1993, S. 177; Kollmorgen, 1994, S. 390. Drei verschiedene Strömungen des New Institutionalism haben sich etabliert: rational choice institutionalism, soziologischer Institutionalismus und historischer Institutionalismus. Rational choice oder die „ökonomische Theorie der Politik" sieht den Politiker als „politischen Unternehmer", der seinen Eigennutzen bei knappen „Ressourcen" auf dem „politischen Markt" maximiert und die bestehenden Regeln (z.B. die Verfassung) als „Spielregeln" zu seinen Gunsten zu verändern sucht. Institutionen werden in dieser Sichtweise als Regeln verstanden, auf die sich die Akteure-zum gegenseitigen Nutzen geeinigt haben, um die „Transaktionskosten" zu senken. Institutionen erlauben es, Dilemmata kollektiven Handelns zu überwinden. (Hall/Taylor, 1996, S. 944f.) Dieser Ansatz kann vor allem dann hilfreich sein, wenn Verhandlungssituationen in einem relativ kurzen Zeithorizont analysiert werden sollen oder eine typische Situation der Spieltheorie auftritt. Bedingung dafür ist jedoch, daß die Entscheidungssituation, die Akteure, deren Handlungsmöglichkeiten und -ziele genau bestimmt werden können. (Ostrom, 1991, S. 240; Pappi, 1996, S. 238; Shepsle, 1995, S. 281) Letzteres ist in dieser Arbeit unternommen worden. Die Entscheidungssituationen erschienen aber nicht derart komplex oder deren Ergebnisse paradox, daß eine Anwendung der Spieltheorie einen Erkenntnisgewinn versprochen hätte. Soziologischer Institutionalismus versteht Institutionen (in einem sehr weiten Sinne) als kulturelle Phänomene, die auf „Praxis" oder einer „Logik der Angemessenheit" beruhen; Menschen verhalten sich demnach nicht nutzenmaximierend und rational, sondern bedürfnisbefriedigend und regelbefolgend. (March/Olsen, 1989, S. 160) Institutionen haben eine kognitive und symbolische Funktion, indem sie der sozialen Welt Sinn verleihen. Sie beeinflussen Verhalten durch die Prägung von Vorstellungen der Akteure und ihres Selbstverständnisses. (Hanley, 1997, S. 7) Da der soziologische Institutionalismus auf die kulturellen Vorbedingungen des Handelns, nicht aber auf das Handeln selbst abhebt (Hall/Taylor, 1996, S. 951,954), ist er für die Analyse des verfassunggebenden Prozesses hier nicht relevant. Die institutionelle Dimension der Symbolbeziehung in der Institutionentheorie Göhlers findet hier einen Anschluß. Der historische Institutionalismus betrachtet Institutionenwandel in einem längeren Zeithorizont. In der Analyse des Institutionenwandels geht er von den schon bestehenden Institutionen aus, die zumeist asymmetrische Machtverhältnisse strukturieren. (Hall/Taylor, 1996, S. 954f.; Schulze, 1997, S. 19,23) Durch die strukturierende Funktion der Institutionen werden andere Faktoren (Akteure, Interessen, Strategien, Machtverhältnisse) in einen Wirkungszusammenhang gestellt, in dem Institutionen nie die einzige Ursache darstellen. (Steinmo/Thelen, 1992, S. 12f.) Die Ablösung der alten Institutionen findet meistens in Krisen statt und ist mit einem Machtkampf verbunden, der die Interessen und Ideologien der Beteiligten besonders klar hervortreten läßt.
Α. Einleitung
Diese Arbeit stellt vielmehr das Handeln der Politiker in den Mittelpunkt, weil im verfassunggebenden Prozeß der Ukraine nicht die Institutionen, sondern die beteiligten Akteure das konstante Element waren. Der verfassunggebende Prozeß als Prozeß bewußter Konstruktion einer neuen Institution war nicht primär von den abzulösenden Institutionen, sondern vom Handeln der Politiker abhängig, die über die neue Verfassung zu entscheiden hatten. Dem ist die Tatsache nachrangig, daß die Ersetzung innerhalb der abzulösenden Verfassungsordnung stattfindet. In einem vereinfachten Schema (Abb. s. S. 20) läßt sich das dieser Arbeit zugrundeliegende Vorverständnis darstellen, um die angenommenen Wirkungsrichtungen zu verdeutlichen. Es soll an dieser Stelle betont werden, daß mit dem oben dargelegten Vorverständnis keine Theorie institutionellen Wandels vorgelegt werden soll. Die hier beschriebenen Faktoren sind Wirkungsmöglichkeiten, mit ihnen sind noch keine idealtypischen UrsacheWirkungs-Relationen beschrieben, aus denen sich das Ergebnis des verfassunggebenden Prozesses ableiten ließe. Eine solche Theorie zu modellieren, muß zwangsläufig an der Mannigfaltigkeit und Komplexität der Wirkungsbeziehungen scheitern. 19 Diese Arbeit ist vielmehr aus der Bemühung entstanden, die ukrainische Politik (im Sinne Max Webers) zu „verstehen". Max Webers „verstehende Soziologie" ist eine Wissenschaft vom einzelnen Menschen, bzw. von „sozialen Gebilden", wenn das Handeln des „sozialen Gebildes" als aufeinander bezogenes Handeln Einzelner gedeutet werden kann. Sie steht im Gegensatz zu einer Wissenschaft von der Gesellschaft als „System", das durch funktionelle
(Krasner, 1984, S. 234, 242) „Pfadabhängigkeit", „critical junctures" und „unintended consequences" sind die Stichworte, die mit dem Ansatz des historischen Institutionalismus verbunden werden. Pfadabhängigkeit bedeutet, daß aufgrund der historischen Umstände nicht jede denkbare politische Alternative in die Tat umgesetzt werden kann, daß es keine tabula rasa geben kann. Die bestehenden Institutionen erleichtern bestimmte historische Entwicklungsstränge und erschweren andere. Damit eng verbunden sind die Begriffe critical juncture, (eine Entscheidung, die meist nicht mehr rückgängig zu machen ist und dadurch die zukünftige Entwicklung beeinflußt) und unintended consequences (die Akteure haben wesentliche Konsequenzen ihrer Entscheidung nicht vorhergesehen oder konnten sie nicht vorhersehen). (Hall/Taylor, 1996, S. 941 f.) Der historische Institutionalismus will mittels induktiver empirischer Analyse die Strukturen der politischen Geschichte herausarbeiten. (Steinmo/Thelen, 1992, S. 11 f.) Hall/Taylor (1996, S. 954f) nennen deswegen den Ansatz neoWeberianisch. Das für diese Arbeit formulierte Vorverständnis unterscheidet sich vom Ansatz des historischen Institutionalismus nur in der Betonung der Handlungen der Individuen. Zu den Anforderungen an eine solche Theorie siehe Merkel, 1996, S. 32. Vgl. auchBeyme, 1996, S. 12.
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Α. Einleitung Kultur
Bürger Wahlen
Elitenkonfiguration
Umfragen
Machtkonstellation
ι
Institutioneller Wandel
Geschichte
Präferenzen (Interessen, Ideologie)
Σ
Handlung des Politikers
Politische Grundfragen
Abb.: Faktoren des institutionellen Wandels verstanden als Wirkungsmöglichkeiten
Zusammenhänge und Gesetze erklärt werden kann. Weber definiert „Verstehen" als emotionales Nacherleben oder intellektuelle Deutung sinnhaften Handelns. Er bezeichnet dies als eine Mehrleistung der deutenden Erklärung gegenüber der beobachtenden, an „Gesetzen" orientierten Erklärung: „Wir sind ja bei 'sozialen Gebilden' (im Gegensatz zu Organismen') in der Lage: über die bloße Feststellung von funktionalen Zusammenhängen und Regeln ('Gesetzen') hinaus etwas aller 'Naturwissenschaft' (im Sinn der Aufstellung von Kausalregeln fur Geschehnisse und Gebilde und der 'Erklärung' der Einzelgeschehnisse daraus) ewig Unzugängliches zu leisten: eben das ' Verstehen' des Verhaltens der beteiligten Einzelnen, während wir das Verhalten, z.B. von Zellen nicht 'verstehen', sondern nur funktionell erfassen und nach Regeln seines Ablaufs feststellen können." 20 Zwar, so schränkt Weber ein, hat die durch das „Verstehen" gewonnene Erklärung einen „hypothetischeren und fragmentarischeren Charakter" als die Erklärung von Geschehnissen durch Gesetze, aber die Erklärung durch „Verstehen" sei die sozialen Gebilden angemessene Methode.21 Deswegen wird für diese Arbeit ein induktiver Ansatz gewählt. Die in dieser Abeit wiedergegebene, durch das nacherlebende Verstehen gewonnene Erkenntnis ist deshalb notwendig die subjektive, dennoch nachvollziehbare Erkenntnis des Verfassers. 20 Weber, 1980, S. 7 [die bei Weber gesperrt gedruckten Wörter sind hier kursiv wiedergegeben]; vgl. Hennis, 1996, S. 4-9. 21 Weber, ebd.
Α. Einleitung
Dies gilt nicht nur für das Verständnis menschlicher Handlungen, sondern auch anderer individueller Erscheinungen: „die Kausalfrage ist, wo es sich um die Individualität einer Erscheinung handelt, nicht eine Frage nach Gesetzen, sondern nach konkreten kausalen Zusammenhängen, nicht eine Frage, welcher Formel die Erscheinung als Exemplar unterzuordnen, sondern die Frage, welcher individuellen Konstellation sie als Ergebnis zuzurechnen ist: sie ist Zurechnungsfrage" 22 Der 4Sozial'-Wissenschaftler muß also konkrete Erscheinungen konkreten Ursachen zurechnen, indem er Zusammenhänge feststellt und aus der unendlichen Mannigfaltigkeit der Ursachen die adäquat erscheinenden heraussucht. Auch dieses Zurechnungs-Urteil ist notwendig ein subjektives, wiederum aber nachvollziehbares. Von der Notwendigkeit der Zurechnung der Erscheinungen zu den Ursachen kann auch die Anwendung einer „objektiven" Theorie nicht befreien. Eine Theorie stellt eine idealtypische Ursache-Wirkung-Relation dar, die dem Zusammenhang von Erscheinung und Ursache adäquat sein kann, aber nicht muß. Das Urteil über die Adäquanz der Theorie muß der Wissenschaftler wiederum selbst und für jede Erscheinung neu treffen. Die Wahl dieses induktiven, individuellen und vom „Verstehen" geleiteten Ansatzes für diese Arbeit bedeutet aber nicht, daß keine Aussagen über generelle Tendenzen oder Strukturen der ukrainischen Politik im verfassunggebenden Prozeß gemacht werden können. Sie finden sich in den Schlußfolgerungen. Aus der Struktur des verfassunggebenden Prozesses ergibt sich der zeitliche Rahmen des behandelten Stoffes und die Gliederung dieser Arbeit, die der Frage nachgeht, welche Faktoren für die Annahme der Verfassung entscheidend waren. Gemäß dem oben formulierten Vorverständnis verstehe ich den verfassunggebenden Prozeß als Machtkampf zwischen widerstreitenden, institutionell strukturierten Gruppen. Nur die Akteure der Verfassungsorgane beeinflußten die Verfassunggebung wirkungsvoll. Deshalb beginne ich die Analyse der Machtkonstellation mit den Parlamentswahlen 1994 (Kapitel E) und dem sich anschließend in neuen Strukturen formierenden Parlament (Kapitel G). Die Beschreibung der Wahlen und des Parlaments ergänze ich durch eine Untersuchung über die Entwicklung der Parteien und ihre Rolle in den Wahlen (Kapitel F). Präsident Kucma legte die Grundlage seiner Macht durch den Gewinn der Präsidentschaftswahl (Kapitel H) und die anschliessende Regierungsumbildung (Kapitel J). Diese Vorgänge bilden die Voraussetzung, um die zweite Phase der Verfassungsentwicklung, den Kampf Kuömas für und den Kampf Moroz' gegen die Annahme einer VerfassungsVereinbarung darstellen zu können (Kapitel K). Damit traten die Handlungen der Politiker in den Vordergrund. Die Konsequenzen der Verfassungsvereinbarung für die Neuordnung der politischen Gewalten, die Beziehungen von Exekutive und Legislative 22 Weber, 1988, S. 178.
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Α. Einleitung
(Kapitel L) möchte ich aufzeichnen, bevor ich die dritte Phase der Verfassungsdiskussion, den eigentlichen verfassunggebenden Prozeß schildere und die neue Verfassung diskutiere (Kapitel M). In den Schlußfolgerungen sollen die Faktoren ftir die Entstehung und Annahme der Verfassung in einen umfassenderen Zusammenhang gestellt werden (Kapitel N). Den direkt auf die Verfassungsentstehung bezogenen Kapiteln stelle ich eine kurze allgemeine (Kapitel B) und zeithistorische (Kapitel C) Einfuhrung voran, in der die politischen Ereignisse von 1990 bis 1994 (Kapitel D) einen breiteren Raum einnehmen, weil der Aufstieg Kucmas und Moroz' in die höchsten Staatsämter ohne eine Erläuterung des Vorangegangenen unverständlich bliebe. Moroz war von seiner Wahl zum Parlamentsvorsitzenden der 13. Verchovna Rada Sprecher der linken Mehrheit der Abgeordneten im vorangegangenen Parlament; Kuéma war bereits als Premierminister der Ukraine 1992/93 hervorgetreten. W i l l man zudem vermeiden, nur die Verhältnisse westlicher Demokratien als Vergleichsmaßstab heranzuziehen und stattdessen auch einen immanenten Maßstab zu gewinnen, so bietet sich ein intertemporaler Vergleich zwischen der 12. (1990-94) und 13. (1994-98) Legislaturperiode an. Weil der Gegenstand dieser Arbeit - der verfassunggebende Prozeß in der Ukraine im besonderen, das politische System der Ukraine im allgemeinen ein junger Gegenstand ist, hat die veröffentlichte Literatur einen relativ beschränkten Umfang. Es gibt kaum mehr als ein halbes Dutzend Monographien zur Politik der Ukraine, die sich überwiegend mit Fragen des Nationalismus beschäftigen, 23 am Rande mit der Staatswerdung 24 und kaum mit Institutionen, dem wesentlichen Faktor für die Begründung der Machtkonstellation. Clems Buch über die Parteien 25 und Kuzios Monographie 26 sind die Ausnahme. Zum verfassunggebenden Prozeß gibt es nur die autobiographisch geprägten Aufzeichnungen von Het'man. 27 Unter den Monographien ist die Arbeit Motyls hervorzuheben, weil es ihm allein gelingt, eine schlüssige Interpretation der politischen Ereignisse in der Ukraine von 1991 bis 1994 vorzulegen. 28 Vergleichsweise zahlreicher sind dagegen die Aufsätze zum politischen System der Ukraine. 29 Hervorzuheben sind hier besonders die Arbeiten von Kataryna 23 Arel, Language and the Politics of Ethnicity: The Case of Ukraine, 1993; Wilson, Nationalism. A Minority Faith, 1996. Kuzio/Wilson, Ukraine: Perestroika to Independence, 1994; Motyl, Dilemmas of Independence: Ukraine after Totalitarianism, 1993. 25 Clem, The Life of the Parties: Party Activism in L'viv and Donetsk, Ukraine, 1996. 26 Diese bezieht sich nur in Teilen auf die Entwicklung der Institutionen: Kuzio, Ukraine under Kuchma, 1997. 27 Het'man, Jak pryjmalas' konstytucija Ukrajiny, 1996. 28 Motyl, 1993 (vgl. Fn. 24). 29 Vgl. den Nachweis im Literaturverzeichnis.
Α. Einleitung
Wolczuk, die am Centre for Russian and East European Studies der University of Birmingham ebenfalls über den verfassunggebenden Prozeß forscht. 30 Leider ist die erste deutsche Dissertation von Wittkowsky 31 erst nach Abschluß dieser Arbeit erschienen. Grundlage dieser Arbeit sind Meldungen von Nachrichtenagenturen (IntelNews und Interfax-Ukraine), die ich für die Zeit von den Parlamentswahlen 1994 bis zur Verabschiedung der Verfassung ausgewertet habe. Die Darstellung der Fakten durch die Nachrichtenagenturen erlaubten es, die politischen Ereignisse zu rekonstruieren, die Lektüre ukrainischer Zeitungen und Interviews ergänzten die Interpretation aus ukrainischer Sicht. Weiterhin wurden Materialien ukrainischer und internationaler Stiftungen aus Kyjiv herangezogen. Die vorliegende Arbeit ist die erste umfassende Darstellung des verfassunggebenden Prozesses und der Verfassungsorgane in der Ukraine. Sie stellt einen Ausgangspunkt für zukünftige Untersuchungen über die Entwicklungsgeschichte der politischen Institutionen, vergleichende Analysen zur Verfassunggebung in Osteuropa oder historisch begründete juristische Interpretationen der Verfassung dar. Diese Arbeit berücksichtigt hauptsächlich die politischen Entwicklungen bis zum 28. Juni 1996, dem Tag der Annahme der Verfassung, nur in einzelnen Ausnahmen darüber hinaus.
Wolczuk, The Politics of Constitution-Making in Ukraine, 1996; dies., In Pursuit of a Compromise: the New Ukrainian Constitution, 1997. 31 Wittkowsky, Fünf Jahre ohne Plan: Die Ukraine 1991-96, 1998.
Β. Historische und regionale Bestimmungsfaktoren ukrainischer Politik Die Ukraine ist 1991 aus der Ukrainischen Sozialistischen Sowjetrepublik hervorgegangen und besteht heute i n deren Grenzen. 1 Die Ukraine ist nach Rußland der größte Flächenstaat i n Europa, etwa doppelt so groß wie Deutschland u n d 10% größer als Frankreich. 2 Die Zahl der Einwohner (ca. 52,1 M i o . ) ist m i t der Frankreichs vergleichbar (55,9 M i o . ) . 3 Nachbarn der Ukraine sind i m Süden Rumänien und Moldavien, i m Westen Ungarn, die Slowakei und Polen, i m Norden und Osten Weißrußland und Rußland. I m Süden grenzen die Ukraine an das Schwarze und die Küsten der K r y m auch an das Asowsche Meer. 4 Das Land liegt am Schnittpunkt vieler alter Handelswege und geistiger Strömungen der westlichen (katholisch-lateinischen) und östlichen (orthodoxslawischen) Kulturkreise. 5 Das gegenwärtige politische Geschehen i n der Ukraine kann nicht verstanden werden, ohne die geographischen und historischen Voraussetzungen m i t
1 Der Grenzverlauf ist im wesentlichen unstrittig. Zwar ist mit Rußland noch kein Vertrag über die Details des Grenzverlaufes abgeschlossen worden, aber prinzipiell einigten sich die Ukraine und Rußland schon am 19. November 1990 (beim Besuch El'cins in Kyjiv) über die Unverletzlichkeit der Grenzen und den Verzicht auf gegenseitige Gebietsansprüche. (Solchanyk, 1991 f, S. 15) Nach zweijährigen Verhandlungen einigten sich die Ukraine und Weißrußland am 1. November 1995 auf einen genauen, in Karten festgehaltenen Grenzverlauf. (BBC, SU/2451,3.11.1995, S. D/1) Lediglich Rumänien erhebt noch Gebietsansprüche auf Teile der Regionen Cernivci, Odesa (ο. V., 1993, S. 22f.) und die Schlangeninsel, vor deren Küste lukrative Öl- und Gasvorkommen vermutet werden. Diese kleine Insel im Schwarzen Meer sei 1948 von den Sowjetbehörden unrechtmäßig an die Ukraine übertragen worden. Rumänien erwägt, vor dem Internationalen Gerichtshof in Den Haag Klage mit Anspruch auf Rückgabe zu erheben. Die Ukraine wies die Ansprüche wiederholt zurück. (OMRI DD, No. 237, Part II, 7.12.1995) 2 Clement u.a., 1994b, S. 46. 3 Kommission der Europäischen Gemeinschaften, Die Zwölfergemeinschaft: Schlüsselzahlen, in: Stichwort Europa, Nr. 6-7/1991, S. 6; Sablyja, 1995, S. 203. 4 Die Krym, eine vorher zur Russischen Sozialistischen Föderativen Sowjetrepublik gehörende Halbinsel zwischem Schwarzem und Asowschem Meer, kam 1954 als „Geschenk" der Völkerfreundschaft an die Ukraine zur Erinnerung an den 1654 geschlossenen Vertrag von Perejaslav zwischen dem Kossaken-Führer Chmel'nic'kyj und dem russischen Zaren, (ο. V., 1993, S. 4 u. 19) ^Dsjuba, 1993, S. 25.
I. Geschichte in Kürze
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einzubeziehen. Die Geschichte der Staatenlosigkeit6, die Hegemonie des großen Bruders Rußland und die aus unterschiedlichen kulturellen und politischen Einflüssen resultierende regionale Differenzierung der Ukraine sind allgegenwärtige Bestimmungsfaktoren der ukrainischen Innenpolitik. Sie sollen kurz in diesem Kapitel erläutert werden.
I. Geschichte in Kürze Ukrainische Geschichte beschreiben zu wollen ist problematisch. So stellte Mark von Hagen 1995 mindestens rhetorisch die Frage, ob die Ukraine überhaupt eine Geschichte habe.7 Ist die ukrainische Geschichte nur ein interpretatives Muster, ein Konstrukt, das auf empirisch wackligen Füßen ruht? Traditionell stützt sich Geschichtsschreibung entweder auf Staaten, politische Gemeinwesen, oder auf Dynastien, politische Familien. Eine ukrainische Geschichte kann darauf nicht zurückgreifen, weil Staat und Dynastien fehlen. Sie muß andere Kategorien entwickeln. Der große ukrainische Historiker Hrusevskyj (1866-1934) stützte sich auf die genetische Kontinuität des rusynischen, später ukrainisch genannten Volkes in der Nachfolge der Kiever Rus' was angesichts der großen Migrationswellen bis in die Zeit nach dem II. Weltkrieg problematisch ist. Hinter Orest Subtelnys wegweisendem Werk „Ukraine. A History" 8 steht das Konzept, die Geschichte der Ukraine als die Geschichte ihres heutigen Territoriums zu schreiben und damit die Vergangenheit nicht aus sich, sondern aus der Gegenwart heraus zu interpretieren. Das Fehlen eines ukrainischen Staates und ukrainischer Dynastien ernstzunehmen verweist auf die Möglichkeit, ukrainische Geschichte als National-Geschichte zu schreiben und mit dem Aufkeimen eines ukrainischen Nationalgefühls beginnen zu lassen, das die politische Gemeinschaft der Ukrainer von den umliegenden Gemeinschaften der Polen und Muskowiter (bzw. Russen) unterscheidet. Die Genese dieses Nationalgefühls ist wieder in sich problematisch, weist aber durch diese Problematik auf die Besonderheit einer ukrainischen Geschichte hin. Unzweifelhaft besteht heute ein ukrainisches nationales Bewußtsein, das den neuen Staat mitträgt und das nicht über Nacht entstanden ist. Die richtige Frage lautet also nicht, ob es eine ukrainische Geschichte überhaupt gibt, sondern seit wann es sie als nationale Geschichte gibt. Das Großreich der Kiever Rus', das sich in seiner Blütezeit von Novgorod bis zum Schwarzen Meer erstreckte, kann nach diesem Konzept noch nicht zur ukrainischen Geschichte gezählt werden. Aus den Fürstentümern der zerfallen6 Motyl, 1993, S. 23-29. 7 Von Hagen, 1995. 8 Subtelny, 2. Aufl. 1994.
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Β. Historische und regionale Bestimmungsfaktoren ukrainischer Politik
den Rus' gingen nicht nur die galizisch-wolhynischen, sondern auch die Smolensker und Moskowitischen Fürstentümer hervor, neue Keimzellen eigenständischer politischer Gemeinwesen und des späteren russischen Reiches. In der Kiever Rus' hatten die drei ost-slawischen Völker (Russen, Weißrussen, Ukrainer) zwar begonnen, sich auszudifferenzieren, aber noch nicht soweit, daß die Völker die Vielzahl der Stämme als prägende politische Einheiten des Reiches abgelöst hätten.9 Insofern ist ein Streit, wer - Russen, Weißrussen oder Ukrainer - das legitime Erbe der Kiever Rus' antreten darf, müßig. Von der Kiever Rus' über die Brücke der galizisch-wolhynischen Fürstentümer läßt sich ein vorsichtiger Anfang ukrainischer Geschichte erst in der Auflehnung der orthodoxen Magnaten und des Volkes der Rus' gegen die von Polen angestoßene Kirchen-Union von Brest (1596) ausmachen. Das Volk der Rus' und seine noch nicht polonisierte, großadlige Führungsschicht verbanden im 15. und 16. Jahrhundert ihre Kultur und den Ausdruck ihrer kollektiven Identität auf das engste mit der orthodoxen Kirche, die mit der Union von Brest ihre Eigenständigkeit verloren hätte. Die Union von Brest löste unmittelbar eine Flut polemischer, politisch-religiöser Schriften aus, die in der Konfrontation mit den Polen, ihrer Kultur und Kirche, zu einer Selbstvergewisserung der eigenen, ukrainischen Identität führte. Gleichzeitig mit dieser Entwicklung entstand im Grenzland zur Steppe der Stand der Kosaken. Die Kosaken rekrutierten sich zum größten Teil aus Bauern der westlichen Regionen, die sich nicht der entstehenden polnischen Leibeigenschaft unterwerfen wollten und nach Osten flohen. Den stetigen Angriffen der Tataren ausgesetzt, verstanden sie sich auch als Verteidiger des orthodoxen Glaubens gegen die muslimischen Tataren und das Osmanenreich. Aus diesem Grund trat 1615 die Führungsschicht der Kosaken (starsina) unter Het'man Sahajdaönyj geschlossen der Kyjiver Bruderschaft bei und gewährleistete 1620 die Sicherheit des Jerusalemer Patriarchen, der gegen den Willen der Polen in Kyjiv eine unabhängige orthodoxe Metropolie einsetzte. Im Osten wie im Westen war die proto-ukrainische Identität an die Orthodoxie geknüpft. Darüber hinaus behaupteten die Eliten, die genealogische Nachfolge der Rurikiden, also der Kiever Rus', zu verkörpern. 10 Hetman Chmelnic'kyj vermochte es 1648, die Ukrainer politisch zu vereinen. Die Etablierung der Selbst-Regierung des Hetmanats unter Chmelnickyj ist ein kraftvolles Erbe, ein Schlüssel-Element nationaler Geschichte und des
9 Kappeler, 1994, S. 38. Ein Zeugnis dieser Auffassung findet sich 1622 in den Erinnerungsversen (Verse na zalosnyj pohreb zacnoho rycera Petra KonaSevyöa Sahajdaönoho, hetmana vojska jeho korolevskoi milosti zaporozskoho) an Hetman Sahajdaönyj beim Direktor der Kiever Akademie, Kassian Sakovyö (zit. nach Michajlo Voznjak, 1975, Bd. II). Dort findet sich auch zum ersten Mal die Bezeichnung Ukraine.
I. Geschichte in Kürze
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nationalen Mythos, das bis heute fortwirkt. Da die Kosaken jedoch nicht in der Lage waren, Polen, Russen und Ottomanen gleichzeitig Widerstand zu leisten, schloß Hetman Chmelnic'kyj 1654 mit den orthodoxen Russen den Vertrag von Perejaslav, um die Autonomie der Kosaken zu sichern. Seit dem Vertrag von Perejaslav ist das ukrainische Schicksal eng mit der russischen Politik verbunden, die mit dem Waffenstillstand von Andrusovo zwischen Polen und Russen zu einer (dann 300 Jahre dauernden) Teilung des Landes in eine russische und eine polnisch-österreichische Einflußzone führte. Damit stand das Volk der Rus' unter der Herrschaft zweier fremder Reiche. Die Unterschiedlichkeit der beiden hegemonialen Reiche hat das Selbstverständnis der Ukrainer in den verschiedenen Regionen nachhaltig beeinflußt. Die ukrainischen Eliten lehnten sich an die neuen Herrscher an und verfolgten einen polnisch-westeuropäischen bzw. russisch-ostslawischen Kurs. Eine Renaissance erlebte das Ukrainische erst wieder im 19. Jahrhundert mit der aufkommenden Idee des Nationalismus, sowohl im inzwischen habsburgischen Galizien als auch im russischen Osten der Ukraine. Die kleine ukrainische Intelligenz in der russischen Ukraine begann sich für die Romantik und die Herderschen Ideen, für Geschichte, Folklore und die „natürliche" Volkssprache zu interessieren und entwickelte einen Konsens, was ukrainische Kultur bedeutete.11 Die Bemühungen der Charkiver Romantiker, die ukrainische Volkssprache zur Literatursprache zu erheben, vollendete 1840 mit durchschlagendem Erfolg der Dichter Taras Sevéenko.12 Im Ems-Ukaz von 1876 wurde aber das Ukrainische zu einem Dialekt des Russischen erklärt und der Druck sowie die Einfuhr ukrainischer Bücher verboten. 13 Im habsburgischen Galizien hatte es der oft ungebildete, rückständige und provinzielle Klerus der Unierten Kirche schwer, ähnliche kulturelle Leistungen hervorzubringen, auch wenn das Habsburger Reich größere politische Freiräume schuf als das Russische Reich. Die Ukrainer waren den Polen wirtschaftlich und kulturell unterlegen. Dennoch kam es gerade im Bereich der unierten Geistlichkeit zu ersten Äußerungen ukrainischer, nationaler Eigenständigkeit. 1848 bemühten sich auch die Ukrainer als nationale Gruppe erfolgreich um eine Vertretung im Landtag und im Wiener Reichstag. Unter dem Einfluß Sevòenkos und mit Hilfe der ostukrainischen Intelligenz erhielt die ukrainische Bewegung neuen Schwung. 1868 wurde die Gesellschaft Prosvita gegründet, die mit der Hilfe des Klerus und der Dorf-Lehrer nach und nach in ganz OstGalizien Lese-Räume und Büchereien einrichtete, die neben der Kirche zum Zentrum des dörflichen Lebens wurden und die Bauernschaft auch politisch
11 Subtelny, 1994, S. 255. 12 Ebd., S. 296-306. 13 Ebd., S. 283f.
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Β. Historische und regionale Bestimmungsfaktoren ukrainischer Politik
aktivierten. 14 Ab 1883 wurde Prosvita durch die Gründung von Genossenschaften auch wirtschaftlich aktiv mit dem Ziel, die wirtschaftliche Lage der Bauern durch den Handelsgewinn und preiswerte Kredite zu verbessern. Die von Genossenschaftszirkeln 1880 gegründete, ukrainische Zeitschrift Dilo erlangte weitgehenden Einfluß auf die öffentliche Meinung. Diese eindrucksvolle Selbstorganisation im Kampf mit der konkurrierenden polnischen Gesellschaft stieß aber auch an Grenzen und darf nicht darüber hinwegtäuschen, daß Analphabetismus weit verbreitet war und das nationale Bewußtsein der Bauernschaft gering war. Der von allen Seiten im Zeichen des Nationalismus geführte Erste Weltkrieg förderte das ukrainische nationale Bewußtsein, so daß die Ukrainer im Osten und Westen den Zusammenbruch 1917 zuerst des russischen, 1918 dann des habsburgischen Reiches nutzen wollten, um ihren eigenen Staat zu gründen. Durch ideologische Zerstrittenheit und mangelnde politische Erfahrung konnten Sie aber den Bolschewiki 1920 nichts entgegensetzen; Polen hielt Galizien weiterhin besetzt. Trotz der gewaltsamen Eroberung des Landes durch die Bolschewiki konnte sich die ukrainische Sprache und Kultur in den zwanziger Jahren relativ frei entfalten, und die lokalen politischen Ämter waren weitgehend durch Ukrainer besetzt. Da die Lebensbedingungen auf dem Land schlecht waren, strömten die Bauern in die Städte und überformten die dort dominierende russische Kultur. Zum ersten Mal wurde die ukrainische Kultur durch den Staat unterstützt, die Ukrainische Sowjetrepublik wurde eine klar definierte politische Einheit und besaß ihre eigene Verwaltung. Damit war ein ungekanntes Maß ukrainischer Staatsbildung erreicht. Diese wurde ergänzt durch die eigenständige Ukrainische Autokephale Orthodoxe Kirche, die sich von der konservativen russischorthodoxen Kirche losgesagt hatte und nun statt des Kirchenslawisch Ukrainisch als Kirchensprache einführte. Mit der Konsolidierung der Macht Stalins machte seine Industralisierungsund „Entkulakisierungs"-Politik auch ukrainischen Selbständigkeitsentwicklungen innerhalb der Sowjetunion ein Ende. Weil Stalin im Herbst 1932 die schlechte Ernte requirieren ließ, starben im darauffolgenden Winter - wie auch in anderen Teilen der Sowjetunion - mehrere Millionen Ukrainer. Die Hungersnot von 1932/33 wird heute von den Ukrainern als Höhepunkt der russischen Unterdrückung wahrgenommen. 15 In der Folge des Zweiten Weltkrieges kam auch Galizien unter sowjetische Herrschaft, und nach der Erziehungsreform 1959 setzte die Regierung in Mos-
Subtelny, 1994, S. 324. Nach unterschiedlichen Schätzungen starben durch die Hungersnot zwei bis sieben Millionen Menschen (Mace, 1984, S. 38-40; Motyl, 1993, S. 13f.).
II. Regionalisierung der Ukraine
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kau eine strenge Russifizierung durch. Der moderate ukrainische Parteiführer Petro Seiest' (1963-72), 16 unter dem sich in den sechziger Jahren Dissidentengruppen bilden konnten („Sistdesjatnyky,,), wurde 1972 durch den reaktionären Volodymyr Söerbic'kyj abgelöst, der die Russifizierung wieder intensivierte und erst 1989 auf den Druck Gorbaöevs hin zurücktrat. 17 Aufgrund der größeren politischen und kulturellen Freiheit in der West-Ukraine im 19. Jahrhundert ist das Nationalbewußtsein dort wesentlich stärker ausgeprägt als in den schon drei Jahrhunderte lang russifizierten und russisch besiedelten östlichen Gebieten.
I I . Regionalisierung der Ukraine Die heutige Ukraine ist durch eine hohe regionale Diversität geprägt, die sich nicht nur aus der Geschichte der Ukraine ergibt, sondern auch aus ethnischen, sprachlichen, religiösen, wirtschaftlichen und demographischen Verschiedenheiten. Unterschieden werden im allgemeinen die Regionen: Galizien und Westukraine, Zentralukraine, Donbas und Ostukraine, Südukraine (Novorossija) und die Krym. 1 8 Politisch-administrativ ist die Ukraine in die Autonome Republik der Krym, 24 Oblasti 19 und zwei oblast'-freie Städte, Kyjiv und Sevastopol', eingeteilt. Einen Sonderfall unter den Regionen der Ukraine stellt in fast jeder Beziehung die Krym dar. Die Krym gehört als Insel nicht zum ukrainischen Festland und ist die einzige Region, in der ethnische Russen die Mehrheit der Bevölkerung stellen. Da die Krym erst 1954 als „Geschenk der Völkerfreundschaft" von Rußland auf die Ukraine übertragen wurde, lassen sich dort Separationsbestrebungen leichter legitimieren als in anderen Regionen der Ukraine. Der Wunsch eines Teils der Krym-Politiker nach Wiederanschluß an Rußland wird
16 Kuzio/Wilson, 1994, S. 44-47. 17 Ebd., S. 4f. 18 Ott, 1995b, S. 106; Kuzio/Wilson, 1994, S. 31-34. „Western Ukraine is here defined as the oblasts of Lviv, Ivano-Frankivsk, and Ternopil (these three forming the region of Galicia), Volyn, Rivne, Transcarpathia, and Chernivtsi. Central Ukraine comprises the regions of Chmelnitskij, Vinnytsya, Zhytomir, Cherkasy, Kiev Oblast, Kirovohrad, Sumy, Poltava and Chernihiv. (...) Eastern Ukraine comprises Donetsk and Luhansk (the two together known as Donbas), Kharkiv, Dnepropetrovsk, and Zaporizhzhya. Southern Ukraine is made up of Odessa, Kherson, Mykolaiv, and Crimea (including Sevastopol). Kiev City constitutes a separate identity." (Arel/Wilson, 1994a, S. 7, Fn. 3) Die Einbeziehung der Krym in die Südukraine ist legitim mit Rücksicht auf das Wahlverhalten; in anderen Aspekten unterscheidet sich die Krym erheblich von der Ost- und Südukraine. 19 Oblasti sind sowjetische Verwaltungsgebiete, die eher mit den deutschen Kreisen als mit kleinen Bundesländern vergleichbar sind.
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Β. Historische und regionale Bestimmungsfaktoren ukrainischer Politik
von Teilen der russischen Führungsschicht mindestens verbal unterstützt. Zudem ist der wirtschaftlich begründete und ethnisch definierte Konflikt zwischen den Russen und Krimtataren der einzige akute ethnische Konflikt in der Ukraine - und bislang ungelöst. Den Separationsbestrebungen auf der Krym wurde von Kravöuk zu Beginn seiner Amtszeit wenig Widerstand entgegengesetzt. Entscheidungen des Obersten Sowjets der Krym über die Unabhängigkeit der Insel wurden jedoch wiederholt mit einem Veto des ukrainischen Parlamentes belegt. Präsident Kuöma verfolgte gegenüber der Krym einen unnachgiebigen Kurs und betonte stets die territoriale Integrität der Ukraine. Die Separationsbestrebungen auf der Krym wurden unter Ku&na auch mit einer Verminderung der Energie- und Wasserlieferungen vom ukrainischen Festland beantwortet, von denen die Krym abhängig ist. Die Bestimmung des Status der Krym als integraler Bestandteil der Ukraine und Autonome Republik durch die Verfassung vom 28. Juni 1996 scheint dem Konflikt die Schärfe genommen zu haben.20 Im folgenden sollen die allgemeineren Tendenzen der Regionalisierung dargestellt werden.
1. Ethnische und sprachliche Diversität der Regionen In der ukrainischen Bevölkerung können drei große ethnisch-linguistische Gruppen unterschieden werden. Etwa 40% der Bevölkerung sind ethnische Ukrainer, die Ukrainisch sprechen; ca. 33% sind ethnische Ukrainer, die aufgrund der Russifizierung der östlichen und südlichen Landesteile vorwiegend Russisch sprechen und ca. 21% sind russisch-sprachige Russen.21 Wie aufgrund der oben dargestellten Geschichte der Ukraine zu erwarten ist, ist der Anteil der ethnischen Russen und der russisch sprechenden Ukrainer in der Ost- und Südukraine weit höher als in der Zentral- und Westukraine. Diese regionale Differenzierung nach Ethnie und Sprache stellt eine latente Gefährdung der staatlichen Einheit der Ukraine dar. In der Politik der Bewegung zur Unterstützung der perestrojka, „Ruch", wurden Russen und andere Ethnien von Anfang an als legitime Mitglieder des ukrainischen Staatsvolkes erachtet. 22 Zwar wurde schon im Oktober 1989 ein Sprachengesetz verabschiedet, das am 1. Januar 1990 in Kraft trat und vorsah, daß sich Staatsangestellte innerhalb von drei bis fünf Jahren die zur Erfüllung Die Geschichte und Komplexität des Verhältnisses der Krym zum ukrainischen Staat und die damit verbundenen Auswirkungen auf das ukrainisch-russische Verhältnis gehen weit über den Rahmen dieser Darstellung hinaus. Siehe hierzu u.a. Sasse, 1996; Motyl, 1993, S. 1 Of., mit weiteren Nachweisen. 21 6% der Bevölkerung gehören anderen Ethnien und Sprachgruppen an. (Arel/ Khmelko, 1996, S. 86) 22 Lüdemann, 1993, S. 188.
II. Regionalisierung der Ukraine
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ihrer Amtspflichten notwendigen ukrainischen (oder russischen) Sprachkenntnisse anzueignen hätten. In den Bereichen Erziehung, Wissenschaft, Information und Kultur sollte innerhalb von zehn Jahren eine Umstellung stattfinden. 23 Zum Zeitpunkt der Verabschiedung des Gesetzes (noch vor der Souveränitätsund der Unabhängigkeitserklärung!) dürfte aber kaum jemand ernstlich die Umsetzung dieses Gesetzes erwartet haben. So wurde am 1. November 1991, auf dem Höhepunkt der Unabhängigkeitsbestrebungen, vom ukrainischen Parlament eine „Deklaration der Rechte der Nationalitäten" verabschiedet, die den freien Gebrauch des Russischen in der Ukraine zuläßt und administrativ-territorialen Gebieten erlaubt, der Sprache einer Minderheit den gleichen Status wie dem Ukrainischen zu geben.24 Das am 25. Juni 1992 verabschiedete Gesetz über nationale Minderheiten sieht zusätzlich das Recht vor, in den staatlichen Schulen in der Muttersprache unterrichtet zu werden. Eine Ukrainisierungspolitik in der Ost- und Südukraine hatte tatsächlich nicht stattgefunden. Während im Schuljahr 1988/89 der Anteil der in Russisch unterrichteten Schüler bei 51,8% und der ukrainisch unterrichteten Schüler bei 47,5% (in den oblast'-Zentren sogar nur 17,9%) lag, änderte sich dies im Schuljahr 1991/92 kaum. 50% der Schüler wurden russisch unterrichtet, 49,3% ukrainisch. In den oblast'-Zentren lag die Quote bei 25,1%. 25 Anfang 1995 wurde in 56% der Sekundärschulen auf Ukrainisch unterrichtet. 26 1992 gab es auf der Krym und in der Großstadt Dnipropetrovs'k (1,2 Mio. Einwohner) keine ukrainische Schule, in Donec'k (1,1 Mio EW) und Luhans'k je eine und in Charkiv (1,6 Mio. EW) und Odesa (1,1 Mio. EW) je zwei Schulen, die ukrainisch unterrichteten. Auf der Krym gab es 1992 keine ukrainischen Zeitungen, das Fernsehen sendete 10 Minuten und das Radio 20 Minuten wöchentlich [sie!] in ukrainischer Sprache. 27 Nicht die russisch sprechende, sondern die ukrainisch sprechende Bevölkerung wurde nach wie vor benachteiligt. Dennoch wurden von verschiedenen regionalen politischen Gruppierungen in der Ost- und Südukraine Ängste vor einer Ukrainisierung geschürt, um Forderungen nach doppelter (ukrainischer und russischer) Staatsbürgerschaft, einer föderalen Staatsform der Ukraine, engeren Beziehungen zu Rußland und einer weiteren Integration in die Gemeinschaft Unabhängiger Staaten (GUS) besser Nachdruck
23 Kuzio/Wilson, 1994, S. 117. 24 Von diesem Recht wird auch Gebrauch gemacht. So stimmte der Luhans'ker oblast'-Rat im Juni 1993 mit 73 gegen 14 Stimmen für Russisch als offizielle Staatssprache „neben" dem Ukrainischen. (Wilson, 1993, S. 12) 25 Solchanyk, 1993, S. 3f. 26 D. Mossienko, Hrushevsky Street News, in: Eastern Economist, Vol. 2, No. 4 (54), 20.2.1995, S. 23. 27 Solchanyk, 1993, S. 2-4.
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Β. Historische und regionale Bestimmungsfaktoren ukrainischer Politik
verleihen zu können. Diese Ängste entspringen der Tatsache, daß es für die Russen in der Ukraine vor wenigen Jahren noch unvorstellbar war, eine Minderheit zu sein.28 Der Status der Russen bis zur Unabhängigkeit der Ukraine war nicht der einer ethnischen Minderheit in der Ukraine, sondern der einer ethnischen Mehrheit in der Sowjetunion, und jeder Schritt in Richtung einer Gleichstellung des Ukrainischen wurde als Beschneidung ihrer Interessen empfunden. 29 Dennoch hat die „Sprachenfrage" bisher nicht zu ethnischen Spannungen innerhalb der Bevölkerung der Ostukraine oder zwischen den unterschiedlichen Regionen gefuhrt, weil durch die dreihundertjährige Geschichte der russischen Besiedlung der Ostukraine der Unterschied zwischen der russischen und der ukrainischen Kultur nicht mehr so groß ist und die Russen mit den lokalen Traditionen vertraut sind. 30 Vielmehr wird die „Sprachenfrage" teilweise von regionalen politischen Gruppen instrumentalisiert, um Bürger zu mobilisieren und daraus im innerukrainischen Verteilungskampf Vorteile zu ziehen.31 Schon der erste Präsident der Ukraine, Leonid Kravòuk, hatte auf die aktive Umsetzung des Sprachengesetzes von 1989 verzichtet, um regionalistische Strömungen in der Süd- und Ostukraine nicht zu stärken. Die Auseinandersetzung darum innerhalb der politischen Elite wurde weiter entschärft, als Präsident Ku£ma schon bald nach Beginn seiner Amtszeit davon abrückte, dem Russischen durch Gesetz den Status einer „offiziellen" Sprache geben zu wollen, wie er es im Präsidentschaftswahlkampf versprochen hatte. Dies beruhigte die Vertreter der West-Ukraine. Im allgemeinen betreibt Kuöma eine umsichtige, integrative Sprachenpolitik und vermeidet den Eindruck der „Ukrainisierung". Allerdings protestierten die Bürger der Ost- und Südukraine 1995 gegen die Entscheidung der Regierung, den russischen Sender ORT vom ersten auf den zweiten ukrainischen Fernsehkanal zu verlegen, was zur Folge hatte, daß ORT nicht mehr überall empfangen werden konnte. Kuöma wollte mit dieser Maßnahme den Einfluß der russischen Medien in der Ukraine verringern.
28 Solchanyk, 1993, S. lf. 29 Dsjuba, 1993, S. 19. Economist Intelligence Unit, Country Report Ukraine, 1992, No. 1, S. 73; Kuzio, 1992, S. 9. Die Spannungen werden auch dadurch gemildert, daß sich viele Bürger in der Ost- und Südukraine weder als Russen noch als Ukrainer, sondern als SowjetBürger verstehen, so noch 1994 39,5% der Bevölkerung in Dnipropetrovs'k und 45,4% in Donec'k. (Ryzhkov, 1994b, S. 19) 31 Den regionalen politischen Gruppen sind etwa zuzurechnen: die Volksbewegung des Donbas, das „Donbas Intermovement", die Demokratische Bewegung des Donbas, die Bewegung fiir die Wiedergeburt des Donbas, die Bewegung „Novorossija" und meist auch die lokalen und regionalen Gewerkschaftszweige in der Ost- und Südukraine. (Solchanyk, 1994a, S. 59f.; Wilson, 1993, S. 9-12)
II. Regionalisierung der Ukraine
33
Es wird jedoch erwartet, daß das Ukrainische auch ohne staatlichen Druck einen Aufschwung nimmt. Galt es zu Zeiten der Sowjetunion als rückständig und provinziell, Ukrainisch zu sprechen, kehrt sich heute der Trend um. Das Ukrainische wird zur Verkehrssprache in Politik und Wirtschaft. Deswegen achten Eltern zunehmend darauf, daß ihre Kinder in Ukrainisch unterrichtet werden. Allerdings ist dieser Trend in Kiev und der Zentral-Ukraine stärker als im Donbas und auf der Krym. 3 2
2. Demographische und wirtschaftliche Regionalisierung Die Bevölkerungsdichte in der Ukraine weist große Unterschiede auf. In den Oblasti Lemberg (L'viv), Kyjiv und Donec'k ist die Bevölkerungskonzentration am höchsten, mit einer weiteren deutlichen Konzentration in den fünf östlichsten Oblasti (zu Donec'k noch Luhans'k, Charkiv, Dnipropetrovs'k und Zaporizzja), in denen ein Drittel der ukrainischen Bevölkerung wohnt. Die hohe Einwohnerdichte und der hohe Verstädterungsgrad in den östlichen Oblasti weisen darauf hin, daß in dieser Region die Industrialisierung am ausgeprägtesten ist. Dies läßt sich mit den ehemals großen, heute aber weitgehend erschöpften Kohle-, Eisenerz- und anderen Erzvorkommen begründen, die zu einer Konzentration der Schwerindustrie im Donbas und des Maschinenbaus, der Chemie- und anderer Industrien in den angrenzenden Oblasti führten. Diese Industrien tragen überdurchschnittlich zum Bruttosozialprodukt, zum Steueraufkommen und zur Handelsbilanz der Ukraine bei. Deswegen sind die östlichen Oblasti in stärkerem Maße als die anderen Regionen an regionaler und lokaler Autonomie interessiert. 33 Aber auch der Kapitalstock dieser Industrien ist heute weitgehend veraltet und läßt nur in beschränktem Maße wettbewerbsfähige Produktion zu - sowohl im Verhältnis zu Rußland als auch im Rahmen der Weltwirtschaft. 34 Die Schwerindustrie wurde vor der Unabhängigkeit direkt von Moskau verwaltet und war in hohem Maße in die russische Wirtschaft integriert. 35 Als ehemals bevorzugtes Wirtschaftsgebiet bleibt besonders der Donbas von Kyjiver Subventionen abhängig und ist deshalb alleine nicht lebensfähig. 36 32 Hague/Rose/Bojcun, 1995, S. 422f.; Jackson, 1996, S. 10-12; Zienchuk, 1995, S. 87-89. 33 Bis in die 70er Jahre war die Ukraine Nettoexporteur von Mineralien und hatte eine positive Energiebilanz; in den 60er Jahren deckte die Ukraine ein Drittel des sowjetischen Erdgasbedarfs. (Clement u.a., 1994b, S. 62) 34 Während der 80er Jahre erreichten die Pro-Kopf-Investitionen in der Ukraine nur 62% des russischen Niveaus. (Clement u.a., 1994b, S. 63) 35 CSCE, 1994b, S. 8. 36 Birch/Zinko, 1996, S. 25; Wilson, 1993, S. 9. 3 Vorndran
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Β. Historische und regionale Bestimmungsfaktoren ukrainischer Politik
Im Gegensatz zu den ostukrainischen Regionen erhalten die westlichen und zentralen Regionen einen Großteil der nationalen Subventionen und wenden sich gegen eine größere Autonomie der Regionen oder gar eine Föderalisierung der Ukraine. Die Zentralukraine ist - mit Ausnahme des oblast' und der Stadt Kyjiv - durch eine geringe Bevölkerungsdichte, einen geringen Verstädterungsgrad und durch die Landwirtschaft geprägt. 37 In der Süd- und Westukraine findet sich eine relativ diversifizierte Industriestruktur, wobei im Westen des Landes auch der Dienstleistungssektor eine größere Rolle spielt. 38 Die unterschiedliche Wirtschaftsstruktur führte zur Bildung regional oder sektoral ausgerichteter Interessenvertretungen im ukrainischen Parlament, der Verchovna Rada. Die Interessen verschiedener Industriezweige der Ostukraine werden im ukrainischen Parlament durch die Fraktionen „Einheit" und „SozialMarkt-Wahl" vertreten. Die Fraktion „Einheit" besteht fast nur aus Abgeordneten des oblast' Dnipropetrovs'k, die Fraktionsmitglieder der „Sozial-MarktWahl" kommen überwiegend aus dem oblast' Donec'k. Die Interessen der Agrarindustrie werden durch die Fraktion der „Agrarier" wahrgenommen, während die Fraktionen „Ruch" und „Staatlichkeit" hauptsächlich aus Abgeordneten der West-Ukraine bestehen.39 1994 schienen die Wahlergebnisse, besonders die Stichwahl der Präsidentschaftswahlen, die Teilung des Landes in Ost und West zu bestätigen. Präsidentschaftskandidat Kravcuk konnte die Mehrheit in fast allen Oblasti westlich des Dniepr gewinnen, Kuéma dagegen die östlichen Oblasti. 40 Die Separationsbestrebungen der Krym erreichten ihren Höhepunkt und politikwissenschaftliche Untersuchungen betonten die Unterschiede zwischen den am meisten politisierten Regionen Galizien und Donbas. Diese Betrachtungsweise verleitete aber dazu, die Unterschiede zu stark zu betonen. Schon in den an den Donbas angrenzenden Oblasti Dnipropetrovs'k und Zaporizzja ist die pro-russische Orientierung weit weniger stark ausgeprägt. Ukrainische, russische und sowjetische Identitäten sind dort nahezu miteinander verschmolzen. 41 Hinzu kommt, daß die russophonen Ukrainer, die in diesen Regionen die Mehrheit der Bevölkerung stellen, weitgehend apolitisch und nur unter extremen Umständen mobilisierbar sind. Diese Regionen suchen auf nationaler Ebene ihre wirtschaftlichen Interessen durchzusetzen, bilden einen Puffer zwischen den ideologisch 37 Wegen der durchgängig geringen Niederschläge - mit Ausnahme der Karpaten -, die von Westen (ca. 600 mm/Jahr) nach Osten abnehmen (ca. 400 mm/Jahr), ist die Wasserversorgung für die Landwirtschaft ein Handicap. Erosion und andere Faktoren beeinträchtigen fortlaufend die natürliche, sehr hohe Fruchtbarkeit der SchwarzerdeBöden. (Clement u.a., 1994b, S. 51 f.) 3 8
Dazu grundlegend Clement u.a., 1994b, S. 43-81. 39 Siehe auch Abschnitt G.II.2. über die Fraktionen im ukrainischen Parlament. 4 0
Siehe dazu die Abschnitte E.III.2. und H.IV. 41 Jackson, 1996, S. 1.
35
II. Regionalisierung der Ukraine
mobilisierten Regionen und binden diese dadurch zusammen. Eine klare Bruchlinie zwischen der West- und der Ostukraine ist deswegen nicht auszumachen. Die Bindung der Regionen an den Staat bleibt trotzdem problematisch, da die Oblasti auch nach der neuen Verfassung keine institutionalisierten Mitspracherechte haben. Der Rat der Regionen beim Präsidenten, in dem die Leiter der oblast'-Verwaltungen vertreten sind, 42 hat nur den Einfluß, den der Präsident ihm zubilligt und könnte jederzeit aufgelöst werden. Die Integration der regionalen Interessen muß deshalb über die Abgeordneten im Parlament und die Integration regionaler Vertreter in die Regierung erfolgen. Letzteres ist von der Personalpolitik des Präsidenten und der Premierminister abhängig. Unter Kravcuk waren Vertreter verschiedener Regionen relativ gleichmäßig in der staatlichen Verwaltung repräsentiert. Unter Kucma dagegen besetzten Politiker aus dem oblast' Dnipropretrovs'k nach und nach alle führenden Positionen in der Regierung. 43 Die ungleichmäßige Bevölkerungsverteilung in der Ukraine hat Einfluß auf die politischen Verhältnisse und die Wahlergebnisse auf nationaler Ebene. Für die Mehrheitsverhältnisse im Parlament ist der Wahlausgang in der Zentralund Ostukraine weit entscheidender als die Ergebnisse in der West- und Südukraine, da im Zentrum und im Osten jeweils ein Drittel der Mandate vergeben wird. 44
Tabelle 1
Verteilung der Bevölkerung und Parlamentsmandate nach Regionen Region
Zahl der Einwohner
Anteil an der Gesamtbevölkerung der Ukraine
Anzahl der Parlamentsmandate
9,315 Mio.
17,8%
82
Zentralukraine
16,456 Mio.
31,5%
148
Ostukraine
17,389 Mio.
33,3%
152
8,163 Mio.
15,6%
68
Westukraine
Südukraine mit Krym
Zusammengestellt aus: Sablyja, 1995, S. 624.
42 Siehe Kapitel K, Fn. 2. 43 Siehe Kapitel L. 44 Siehe auch die Abschnitte E.III, und H.IV. zu den Ergebnissen der Parlamentsund Präsidentschaftswahlen 1990/91 und 1994.
36
Β. Historische und regionale Bestimmungsfaktoren ukrainischer Politik
3. Kulturelle und konfessionelle Vielfalt der Regionen Wer die heutige Ukraine von Kyjiv aus betrachtet und nach allen Seiten hin zu den Grenzen schaut, mag den Eindruck haben, sich auf einem „Karussell der Kulturen" wiederzufinden. Im Osten und Norden waren der slawische Einfluß und die Russisch-Orthodoxe Kirche von jeher dominant. Gerhard Simon schildert die russische Geschichte als eine Abfolge von politischen Ordnungen von Gemeineigentum und Patronalismus, in denen die Achtung des Menschen als eines Individuums mit eigenen, unveräußerlichen Rechten im Hintergrund stand. Im zaristischen Rußland hatte es immer nur einen Eigentümer gegeben, der gleichzeitig auch der politische Herrscher gewesen war: der Zar. Die russischen Oberschichten hatten nicht aus ständischen Rechten heraus an den Staatsangelegenheiten mitgewirkt, sondern als Beamte in der staatlichen Bürokratie. Die vor dem Ersten Weltkrieg entstehende bürgerliche Mittelschicht blieb zahlenmäßig schwach, da vier Fünftel der Bevölkerung weiter in den Dörfern lebten. Dort gab es kein Individualeigentum, die Dorfkultur war ganz auf Gemeineigentum abgestellt. Alle lebenswichtigen Entscheidungen wurden von einer Versammlung der Familienoberhäupter verbindlich getroffen. Weil Abweichungen von diesen Vereinbarungen die Existenz der Dorfgemeinschaft in Frage stellen konnten, entstand eine „Lehre von der Einheit des personalen Willens und des Kollektivwillens". 45 Zwar gab es ein Gewohnheitsrecht, aber keine Verfahren und Institutionen, um dieses durchsetzen zu können. „Die realen Machtverhältnisse wurden eher informell und personenbezogen geregelt als aufgrund formalisierter bürokratischer Prozeduren." 46 Dieses Muster der Konfliktbewältigung bot die Basis für die kommunistische Parteiideologie, die ebenfalls keine Rechtsstaatlichkeit kannte und die Einheit des Gemeinwesens als conditio sine qua non ansah. Dies ist mit ein Grund, warum im Osten der Ukraine der Widerstand gegen die Privatisierung der Betriebe (nicht aber der Wohnungen) größer ist als in der Westukraine. 47 Die in der Ost- und Südukraine dominante RussischOrthodoxe Kirche war als einzige der bedeutenden Kirchen in der Ukraine nicht durch die „atheistische" Sowjetunion verboten worden und stellte ein wichtiges Instrument der Russifizierung dar. 48 Im ehemals von Österreich und Polen beherrschten Galizien findet man entgegengesetzte Tendenzen. Der Einfluß der römisch- und griechisch-katholischen Kirche legte den Grund ftir einen Individualismus westeuropäischer Art. Die K.u.K.-Monarchie bot den Galiziern innerhalb einer beschränkten Selbst45 46 47 48
Simon, 1995, S. 35. Ebd., S. 37. Bekeskina, 1994, S. 10. Kuzio/Wilson, 1994, S. 35.
II. Regionalisierung der Ukraine
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regierung die Möglichkeit, bürokratische Verfahren einzuüben. Die kulturellen Wurzeln des Nationalismus sind deshalb in Galizien am stärksten verankert. Sie konnten durch den Kommunismus nur „privatisiert" und unterdrückt, nicht aber ausgelöscht werden. 49 Weil die ukrainische Nationalbewegung immer auch von den Kirchen mitgetragen wurde und die Priester Protagonisten der Nationalbewegung waren, verboten die Kommunisten schon 1930 die Ukrainische Autokephale Orthodoxe Kirche (Kyjiver Partriarchat) sowie nach dem Anschluß Galiziens 1946 die Griechisch-katholische Kirche. 50 Nach dem Wahlsieg der Nationaldemokraten bei den Wahlen 1990 zu den lokalen und regionalen Sowjets in Galizien übernahm die Griechisch-katholische Kirche dort fast alle Gotteshäuser. In der restlichen Ukraine gab es meist erbitterte Kämpfe, ob die russische oder die Autokephale Orthodoxe Kirche rechtmäßiger Besitzer sei.51 Während im Südwesten die ungarischen und rumänischen Minderheiten regional das kulturelle Kolorit beeinflussen, findet sich im Süden der Ukraine, und dort vor allen Dingen in Odesa, ein buntes Völkergemisch von (ehemals) Griechen, Türken, Juden, Rumänen, Russen, Ukrainern und anderen. Dieser Schmelztiegel förderte weltoffene Anschauungen und prägte den in der ganzen ehemaligen Sowjetunion berühmten Humor.
49 Kuzio/Wilson, 1994, S. 35. SOsolchanyk, 1991d, S. 22. 51 Ο. V , 1993, S. 27.
C. Aufbruch und Umbruch Die Unabhängigkeitsbewegung in der Ukraine hatte ihre Wurzeln in der Dissidentenbewegung der „Sechziger" („Sist'desjatnyky"). Die bekanntesten Führer der 1989 gegründeten Volksbewegung Ruch hatten sich schon dreißig Jahre zuvor für die (kulturelle) Unabhängigkeit der Ukraine eingesetzt. Insofern besteht über diese Zeit hinweg eine personelle Kontinuität. Dieses Kapitel zeichnet nach, wie die ehemaligen Dissidentenzirkel in der Phase der perestrojka an Popularität gewannen, die Volksbewegung Ruch gegründet und die Kommunistische Partei der Ukraine (KPU) dadurch unter Druck gesetzt wurde.
I. Die „Sechziger" Kleine Zirkel von Dissidenten und Intellektuellen hatten in den sechziger Jahren eine Phase „milderer Unterdrückung" unter dem Führer der Kommunistischen Partei (KP), Petro Seiest', genutzt, um die ukrainische Kultur zu pflegen und samisdat-Literatur zu veröffentlichen. 1 Ein Großteil der Dissidenten waren Intellektuelle bäuerlicher oder proletarischer Herkunft, die ihrer Klassenzugehörigkeit und zumeist ihrer Überzeugung nach sich der sowjetischen Ideologie verbunden fühlten. Dazu gehörten einige Führer der späteren „Volksbewegung für die Unterstützung der perestrojka" (Ruch), unter anderen Ivan Drac, die Gebrüder Mychajlo und Bohdan Horyn' und Levko Luk'janenko. Als Mitglieder der Intelligenz konnten sie Privilegien in Anspruch nehmen und fühlten sich doch gleichzeitig für Gesellschaft und Volk besonders verantwortlich. 2 Als Mitglieder der „Ukrainischen Arbeiter- und Bauernbewegung" forderten Levko Luk'janenko und Ivan Kandyba schon 1961 in Lemberg, „gemäß der Verfassungsgarantie eine selbständige Ukraine außerhalb der Sowjetunion zu schaffen ...". Für diese damals ungeheuerliche Forderung wurde gegen Luk'janenko die Todesstrafe verhängt (die später in 15 Jahre Arbeitslager umgewandelt wurde), Kandyba und andere Mitglieder der Bewegung erhielten Haftstrafen von 10 bis 15 Jahren.3 Diese Dissidenten-Zirkel waren nicht nur auf die
1 Zur Literatur der „Sechziger" vgl. Horbatsch, 1996. ^Dsjuba, 1993, S. 175. 3 Ebd., S. 171.
II. Die erstarkende Opposition
39
West-Ukraine beschränkt, wo es eine ausgeprägte national-ukrainische Tradition gab, sondern auch in der Ostukraine waren Gruppen aktiv. Als ein Bindeglied zwischen diesen regional zerstreuten und sozial unterschiedlich zusammengesetzten Gruppen fungierte zu dieser Zeit Vjaöeslav Cornovil (der heutige Vorsitzende der Partei Ruch), der aus Kyjiv kam, aber in die Heimatstadt seiner Ehefrau, nach Lemberg, zog.4 Die Verbindungen unter den Gruppen waren aber entschieden zu schwach, um die „fuhrende Rolle" der Kommunistischen Partei herausfordern zu können.5 Als 1972 der erzkonservative Volodimir Sòerbic'kyj die Leitung der KPU übernahm, verschärfte er die Verfolgung und Bestrafung der Dissidenten.6 Deren Aktivität bekam erst durch die Helsinki-Schlußakte 1975, der auch die Sowjetunion zugestimmt hatte, neuen Auftrieb. Dazu wurde 1976 die Ukrainische Helsinki-Gruppe gegründet, die sich nicht nur für Menschenrechte und Meinungsfreiheit einsetzte und Demokratie westlichen Typs propagierte, sondern auch eine Förderung der ukrainischen Sprache und Kultur verlangte. 7
I I . Die erstarkende Opposition Nachdem Gorbaòev an die Macht gekommen war, wurden Anfang 1987 viele politische Gefangene freigelassen. Dadurch wurde der Gründungsprozeß neuer oppositioneller Gruppen beschleunigt und verstärkt. 8 Die Nachfolgerin der Helsinki-Gruppe, die Ukrainische Helsinki-Union (UHU), und der Schriftstellerverband der Ukraine waren Ende der achtziger Jahre die Protagonisten der perestrojka in der Ukraine. Im August 1987 kündigte Cornovil in einem offenen Brief (in der Form eines samisdat) an Gorbaöev an, daß die schon von 1970 bis 1972 erschienene Zeitung „Ukrainischer Bote" {Ukrajins'kyj visnyk) wiedererscheinen und sich in den Dienst von perestrojka und glasnost' stellen werde. In diesem offenen Brief beschrieb Cornovil das Selbstverständnis der Dissidenten:
^Dsjuba, 1993, S. 177. 5 Kuzio/Wilson, 1994, S. 62. 6 Z u r Politik Söerbic'kyjs von 1972 bis 1989 siehe Kuzio/Wilson, 1994, S. 47-51. 7Glaeßner, 1994, S. 119; Kuzio/Wilson, 1994, S. 65. Auch die Mitglieder der Helsinki-Gruppe wurden hart verfolgt. Alla Horska soll von ihrem Schwiegervater ermordet worden sein, der dann angeblich Selbstmord beging. Das Mitglied Ivasjuk, ein populärer Komponist und Chanson-Sänger, kam bei einem „Unfall" ums Leben. Bei seiner Trauerfeier wurden die Gebrüder Vasyl' und Petro Siöko mit untergeschobenen „Beweisstücken" festgenommen und anschließend zu Haft verurteilt. (Lüdemann, 1993, S. 169) Anfang der achtziger Jahre hatte die Gruppe etwa 40 Mitglieder. Davon waren 22 im Arbeitslager oder Gefängnis, sechs Mitglieder wurden zur Emigration gezwungen. (Kuzio/Wilson, S. 57) 8 Haiduk, 1996, S. 191.
40
C. Aufbruch und Umbruch
„Wir, die Spitze des Eisberges, sind die individuellen Vertreter ... jener gesunden Kräfte, die nicht nur der Stagnation und der Bürokratisierung der sowjetischen Gesellschaft widerstanden, sondern in den nicht-russischen Republiken auch der großstaatlichen, chauvinistischen Politik der De-Nationalisierung ..." 9 Im März 1988 wurde die Ukrainische Helsinki-Union offiziell gegründet und der „Bote" ihr Organ. Noch aus dem Exil schrieb Levko Luk'janenko im Winter 1988 seinen programmatischen Essay „Was weiter?", worin er vor totaler Assimilation und Destruktion der ukrainischen Nation warnte. Die Aufgabe der UHU sah er in der Vermittlung der perestrojka zwischen Gorbacev (der KPdSU-Führung) und dem ukrainischen Volk unter Umgehung der Nomenklatura und Führung der ukrainischen KP, die sich gegen die perestrojka stellte.10 Um trotz der noch verbreiteten und weiterhin berechtigten Angst vor Repressionen eine breitere Unterstützung erhalten zu können, veröffentliche die UHU im Sommer eine „Deklaration der Prinzipien", die einen taktischen Kompromiß mit nicht zu weit gehenden Forderungen darstellte. Darin bezeichnete sich die UHU nicht als Oppositionspartei, sondern als eine Organisation, die die Massen zur Teilnahme an der Regierung und zur Selbstorganisation in Gruppen anrege. Viele der Prinzipien wurden später in das Wahlprogramm des „Demokratischen Blocks" bei den Parlamentswahlen 1990 und in die Souveränitätserklärung vom Juli 1990 aufgenommen. 11 Ebenfalls im Sommer 1988 kamen in Lemberg und Kyjiv erste „Volksfronten" zustande. In Lemberg versammelten sich im Juni und Juli bei verschiedenen Demonstrationen 20.000 bis 50.000 Menschen, darunter zum ersten Mal auch KP-Funktionäre der mittleren Ebene. Die Demonstranten forderten u.a. die Errichtung eines Denkmals in Erinnerung an den Nationalhelden Taras Sevéenko.12 Nach dem Einsatz von Truppen des Innenministeriums sank die Zahl der Demonstranten im August und September jedoch wieder auf drei- bis viertausend. In Kyjiv kamen im Juni 1988 zu einer Versammlung 500 Menschen zusammen.13
9 Aus dem Englischen zitiert nach Kuzio/Wilson, 1994, S. 66. 10 Ebd., S. 66f. 11 Ebd., S. 67f. 12 Mildner, 1994, S. 19. Taras Sevöenko wurde am 9.3.1814 in Morinzi (Gouvernement Kyjiv) geboren und von der Leibeigenschaft freigekauft. Er erhob die ukrainische Volkssprache zur Literatursprache und gilt als bedeutendster ukrainischer Dichter. 1847 wurde er wegen politischer Betätigung zu lebenslänglichem Straf- und Militärdienst verurteilt, 1857 begnadigt. 1861 starb Sevöenko in Petersburg. 13 Kuzio/Wilson, 1994, S. 77-79.
III. Die Gründung der Bewegung „Ruch"
41
I I I . Die Gründung der Bewegung „Ruch" Die nächste große Demonstration wurde von der Grüne-Welt-Vereinigung (Zelenyj Svit) fur den 13. November 1988 in Kyjiv vorbereitet. Die Katastrophe von Cornobyl' im April 1986 war der Katalysator für die Bildung vieler ökologisch und national ausgerichteter Gruppen, die erkannten, daß das Schicksal der Ukrainer in den Händen gleichgültiger Moskauer Politiker lag. Als Dachorganisation ftir diese Gruppen wurde 1987 die Grüne-Welt-Vereinigung gegründet, die im Januar 1988 Serhij Plaòynda zum Vorsitzenden wählte und am 29. März 1988 eine Konferenz mit der Schriftsteller-Union veranstaltete. A m 13. November 1988 kamen 10.000 Menschen in Kyjiv zusammen und harrten drei Stunden lang im Regen aus, um die Reden der Sprecher zu hören. 14 Im Anschluß an diese Demonstration schlossen sich die „Grüne Welt", die Schriftsteller-Union und das Sevòenko-Institut fur Literatur mit der Ukrainischen Helsinki-Union zu einer Volksfront zusammen, um künftige Aktionen zu koordinieren. Eine Initiativ-Gruppe unter der Leitung von Ivan Draö arbeitete ein Programm ftir die Volkfront aus. Das am 31. Januar 1989 auf einem Plenum der Schriftsteller-Union vorgestellte Programm stieß auf den entschiedenen Widerstand der KPU, da die fuhrende Rolle der KP nicht erwähnt war. Leonid Kravéuk, der damalige Sekretär für Ideologie, hielt eine Volksfront fur gänzlich unnötig, da ja die Partei die Umsetzung der perestrojka verfolge. Mit allen Mitteln versuchte die KP, die Veröffentlichung des Programms zu verhindern, doch eine Démarche der Schriftsteller bei Gorbacev bewirkte die Publikation in Literaturna Ukrajina am 16. Februar 1989. Dies war die Geburtsstunde für die Volksbewegung Ruch. Das Programm blieb vergleichsweise moderat, sprach aber von der fuhrenden Rolle der kommunistischen Partei in bewußter Unklarheit. Es definierte die Rolle von Ruch als Unterstützung des von der Partei initiierten Reformprozesses und Brücke zu den breiten Massen des Volkes und rief gleichzeitig auf zu einer Front unabhängiger Gruppen und Reformer innerhalb der Partei gegen die Parteiführung. Trotz einer breit angelegten Kampagne gegen das Programm und die Bewegung in den kommunistisch dominierten Massenmedien konnte Ruch die Meinungsfuhrerschaft in der öffentlichen Debatte erlangen und behaupten.15 Schon am 18. Dezember 1988 hatte die UHU beschlossen, zu den Wahlen zum sowjetischen Kongreß der Volksdeputierten im März 1989 demonstrativ selbst nicht anzutreten, weil eine freie Nominierung der Kandidaten und gleiche Voraussetzungen für den Wahlkampf nicht möglich waren. UHU unterstützte stattdessen andere, ihr nahestehende Kandidaten. In Wahlkreisen, wo es nur einen Kandidaten der KPU gab, rief sie zum Boykott auf. So betrug in 14 Kuzio/Wilson, 1994, S. 76f. 15 Ebd., S. 80-82.
42
C. Aufbruch und Umbruch
Drohobiö, in der Nähe von Lemberg, die Wahlbeteiligung nur 12%.16 Viele der hochrangigen KP-Vertreter mußten Niederlagen hinnehmen. So wurden von 15 Kandidaten der KP in sieben Wahlkreisen Kyjivs nur einer gewählt. Selbst die beiden Spitzenkandidaten, die ohne Gegenkandidat angetreten waren, wurden niedergestimmt, indem ihre Namen auf den Wahlzetteln durchgestrichen wurden und mehr Wähler gegen sie als für sie stimmten - eine legale Methode unter dem damaligen Wahlrecht. 17 Im Laufe des Jahres 1989 wurde die Stellung der KPU weiter untergraben. Vom 18. bis 24. Juli 1989 fanden im Donbas die ersten Massenstreiks seit den zwanziger Jahren statt. Auf dem Höhepunkt des Streiks waren 141 von 273 Bergwerken im Ausstand. Im Gegensatz zu den politischen Forderungen der Bergleute in der West-Ukraine forderten die ostukrainischen Streikenden wirtschaftliche Vorteile: höhere Gehälter, mehr Urlaub, mehr Seife und eine bessere Lebensmittelversorgung. Einer Politisierung standen sie ablehnend gegenüber. In der Folge der Streiks entstanden zahlreiche unabhängige Gewerkschaften und Streikkomitees, die teilweise miteinander konkurrierten. 18 Ebenfalls im Juli fand die oblast'-Konferenz von Ruch in Kyjiv statt, auf der Ivan Draö bekannt gab, daß Ruch allein im oblast' Kyjiv in 200 Gruppen 200.000 Mitglieder habe.19 Nach der Verabschiedung des Programms im Januar 1989, in dem zum ersten Mal von einer Volksbewegung die Rede gewesen war, und der Gründung der regionalen Zweige, trafen sich vom 8. bis 10. September 1989 1100 Delegierte, um die nationale Organisation von Ruch zu gründen. Von den Delegierten waren etwa die Hälfte West-Ukrainer, 35% kamen aus der ZentralUkraine und 15% aus dem Osten und Süden des Landes. 228 Delegierte waren Mitglieder der KPU. Ruch vereinte als Dachorganisation die unterschiedlichsten politischen Richtungen, von Nationalisten bis hin zu Kommunisten, deren Bindeglied lediglich die Idee einer unabhängigen Ukraine war. 20 Die wesentlichen Abschnitte der „Deklaration der Prinzipien" der Ukrainischen-HelsinkiUnion wurden in das neue Programm übernommen. Ruch sah sich selbst als ein Mittel zur Verwirklichung der perestrojka, wollte mit der KPU und der Regierung kooperieren, an den Wahlen teilnehmen sowie auf den Gesetzgebungsprozeß und die öffentliche Meinung Einfluß nehmen. Ruch sprach sich für die Wiederherstellung der ukrainischen Grenzen und eine souveräne Ukraine auf der Grundlage eines neuen Unions Vertrages aus.
16 Ebd., 1994, S. 92-94. l^Solchanyk, 1991d, S. 25. 18 Kuzio/Wilson, 1994, S. 105-109. 19 Ebd., S. 84. 20 Potichnyi, 1993, S. 203.
IV. Die Entwicklung innerhalb der KPU
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Als einziger hochrangiger Funktionär der KPU trat Kravéuk auf dem Kongreß von Ruch auf. Er begrüßte die Bewegung als Alliierte in der Umsetzung der perestrojka, warnte aber davor, die Auflösung der Sowjetunion zu propagieren. Die Tatsache allein, daß Ruch den Kongreß in Kyjiv abhalten konnte, signalisierte die Demonopolisierung des öffentlichen Diskurses. Mit seinem Auftritt auf dem Kongreß erkannte Kravcuk die Bewegung als politische Kraft an, auch wenn er überwiegend negativ zu ihrer Tätigkeit Stellung nahm.21 Kravöuks Versprechen, daß Ruch rechtzeitig vor den Parlamentswahlen im Frühling 1990 registriert würde, um an der Wahl teilnehmen zu können, wurde nicht eingelöst.22 Auch nach dem Gründungskongreß wurde Ruch noch heftig von der KPU kritisiert, Anzeichen für eine Zusammenarbeit wurden nicht sichtbar. Auf einer Demonstration in Lemberg am 5. Oktober 1989 ging die Polizei mit Gummigeschossen gegen Demonstranten vor, die die blau-gelbe ukrainische Nationalflagge trugen. Anschließend kritisierte die KP die Nachlässigkeit der lokalen Behörden gegenüber den „Nationalisten" und die Presse wegen tendenziöser Berichterstattung. 23
IV. Die Entwicklung innerhalb der KPU Nun sah auch Gorbaéev den Zeitpunkt für die Ablösung von Söerbic'kyj gekommen, der wie die restliche Führung der ukrainischen KP - vielleicht mit Ausnahme Kravöuks und einzelner anderer - die Zeichen von glasnost' und perestrojka noch nicht erkannt hatte sowie sich gegen Liberalisierung und Demokratisierung gestellt hatte. Zwar hatte schon Anfang des Jahres 1988 ein Prozeß der Selbstkritik eingesetzt, aber personelle Veränderungen waren damit bisher noch nicht verbunden gewesen.24 Zum ersten Mal wurde auf der Tagung der ukrainischen KP am 22. und 23. Januar 1988 Kritik an einer großen Anzahl von Politbüromitgliedern laut, die so bemerkenswert war, daß die Pravda sie veröffentlichte. Jakiv Pohrebnjak, Erster Parteisekretär im oblast' Lemberg, forderte von Sòerbic'kyj einen neuen Arbeitsstil: das KP-Sekretariat sollte sich auf Überwachungsfunktionen beschränken, das Politbüro auf Analysen und Entwicklungsaussichten. Weiter forderte Pohrebnjak, dem Ministerrat größere Verantwortung für die Wirtschaftspolitik zu geben.25
21 Szporluk, 1995, S. 174f. 22 Kuzio/Wilson, 1994, S. 113. 23 SBE: Radio Kiev D O M / M , 5.10.1989, 19.00 Uhr. 24 Von 1986 bis 1989 hatte es einen substanziellen Austausch von Kadern gegeben, der nach dem System der Nomenklatura vorgenommen wurde, sodaß die Parteiführung die Kontrolle über die Personalpolitik behielt. (Haiduk, 1996, S. 185f.) 25 SBE: F-565-567.
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C. Aufbruch und Umbruch
Auf dem Plenum der KPU im Oktober 1988 wurde immerhin offen über das Aufkommen nationalistischer Strömungen, den Gebrauch der ukrainischen Sprache und das Erstarken der Griechisch-katholischen Kirche diskutiert. 26 Söerbic'kyj bezeichnete bei dieser Gelegenheit die nationalistischen Strömungen als unreif und dem Sozialismus entgegengestellt.27 Zwei Monate später, am 28. Dezember 1988, kritisierte das Politbüro die eigenen Parteigremien, weil die Beschlüsse des 27. Parteikongresses der KPdSU zur Reform des politischen Systems und zur Demokratisierung von Partei und Gesellschaft nicht schnell genug umgesetzt würden. Der Hauptgrund dafür sei die mangelnde Kontrollmöglichkeit des Politbüros gegenüber den untergeordneten Parteigremien. 28 Daraus wurde deutlich, daß die KP Ende 1988 nicht nur die politische Initiative verloren hatte, sondern auch innerhalb der Partei keine vollständig einheitliche Handlungslinie mehr vorhanden war. Auf der Sitzung des Zentralkomitees am 28. September 1989 sicherte Gorbaöev durch seine persönliche Anwesenheit die Ablösung Sòerbic'kyjs durch Volodymyr Ivasko. Eine Woche zuvor, am 20. September, hatte Gorbaöev Söerbic'kyj seines Sitzes im Politbüro enthoben, als Gorbaöev ein Viertel der Mitglieder ausgewechselt hatte.
26 Die griechisch-katholische Kirche war damals mit vier Millionen Gläubigen wahrscheinlich die größte Untergrundkirche der Welt. Schon im Sommer 1988 wurde eine Wallfahrt nach Grusio, einem kleinen Dorf in Galizien, mit mehr als 100.000 Teilnehmern zu einer politischen Demonstration. Ein Jahr später nutzte die noch immer verbotene griechisch-katholische Kirche die Tausendjahr-Feiern der Christianisierung Rußlands, um ihre Legalisierung und die Einhaltung der Menschenrechte und der Religionsfreiheit einzufordern: „In Kiev geriet die Milleniums-Feier zu einer nationalen Kundgebung gegen das Sowjetregime." (Mildner, 1994, S. 19) 27 SBE: Bohdan Nahaylo, Ukrainian Party Plenum Attests to Persistence of Stagnation Amid Talk of Restructuring, München, 25.10.1988. 28 SBE: Radio Kiev DOM/M, Ukraine's Politburo Criticizes Party, Local, Economic Bodies, 29.12.1988.
D. Ein Staat im Werden Mit den Parlamentswahlen im Frühjahr 1990 begann ein neuer Abschnitt in der politischen Geschichte der Ukraine: der Übergang von der Liberalisierung zur Demokratisierung. 1 Trotz der erstarkenden Dissidenten- und Bürgerbewegungen seit Anfang 1987 - ein Prozeß, der nur mit Gorbaòev gegen die ukrainische KP möglich gewesen war - sah sich die KPU weiterhin als allein legitime Kraft, die die Herrschaft ausüben sollte. Die politischen Reformen sollten innerhalb der KPU durchgeführt und durch sie kontrolliert werden, in einem Reformprozeß „von oben".2 Anderen politischen Kräften wurde lediglich mehr Raum in der Öffentlichkeit zugestanden, aber nicht der legitime Anspruch, an der Macht teilzuhaben. Die nur vorsichtig geöffnete „Büchse der Pandora" sollte sich aber nicht mehr schließen lassen; die Bürgerbewegungen erreichten eine Teilhabe an der Macht. Die Demokratisierung begann mit den Parlaments, Regional- und Lokalwahlen im März 1990. Weitere Schritte auf dem Weg zu einer unabhängigen Ukraine markierten die Souveränitätserklärung im Juli 1990, die Unabhängigkeitserklärung im August 1991 und das Referendum über die Unabhängigkeit der Ukraine am 1. Dezember 1991. An diesem Tag wählten die Ukrainer zugleich ihren ersten Präsidenten, Leonid Krav&ik. In diesem Kapitel werden die politischen Ereignisse bis zum Ende der Amtszeit Kravöuks im Frühjahr 1994 analysiert.
1 Im „klassischen" Dreischritt der politischen Transitionstheorie (vgl. Kollmorgen, 1994, S. 284; O'Donnell/Schmitter, 1991, S. 7-11) schließt sich noch die Phase der Konsolidierung an. Liberalisierung meint die Ausdehnung des öffentlichen Raumes für die Aktivitäten der Opposition, Demokratisierung die Aufhebung des Machtmonopols und Konsolidierung die Festigung der neuen, demokratischen Regierungsform. Die Phase der Liberalisierung wird in dieser Arbeit im Abschnitt „Aufbruch und Umbruch" beschrieben. Die in diesem Kapitel dargestelle Phase der Demokratisierung umfaßt in der Ukraine die Zeit von den Parlamentswahlen 1990 bis zu den Parlamentswahlen 1994. Spätestens die Verabschiedung der ukrainischen Verfassung im Juni 1996 kann als Beginn der Konsolidierungsphase angesehen werden, deren Ende noch nicht abzusehen ist. Der transitorische Dreischritt ist ein Versuch der Periodisierung, der es erleichtert, die Ereignisse strukturiert zu erfassen. In der transformationstheoretischen Literatur finden sich nicht weniger als neun weitere Periodisierungen, die sich freilich alle in den Dreischritt einpassen lassen. (Agh, 1995, S. 7; Elster, 1993, S. 187-194; Glaeßner 1994, S. 143f., 148-153 u. 205; Kollmorgen, 1994, S. 385, Mildner, 1994, S. 16ff. [unter besonderer Berücksichtigung des ukrainischen Falls]; Pridham, 1994, S. 17-19; Rustow, 1970, S. 350-360; Szablowski/Derlien, 1993, S. 305; Waller, 1994, S. 45f. u. 53) 2ßrovkin, 1990, S. 16.
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D. Ein Staat im Werden
I. Die Parlamentswahlen im Frühjahr 1990 Nach dem Zyklus der Legislaturperiode setzte der Oberste Sowjet Wahlen fur die Sowjets aller Ebenen fur das Frühjahr 1990 an. Durch die Streichung des Art. 6 der auch in der Ukraine gültigen Verfassung der Sowjetunion wurde das Machtmonopol der kommunistischen Partei aufgehoben. Damit wurden auch andere Kandidaten und politische Kräfte zur Wahl zugelassen.3 Gleichzeitig wurde der Oberste Sowjet der Ukraine als höchstes legislatives Organ an die Stelle des Kongresses der Volksdeputierten der Union der Sozialistischen Sowjetrepubliken gesetzt. Die Anzahl der zu wählenden Abgeordneten des Obersten Sowjets wurde von 650 auf 450 reduziert und die Anzahl der Deputierten der Sowjets aller anderen Verwaltungsebenen von 500.000 auf 310.000 verringert. Ein Deputierter durfte nicht in mehr als zwei Sowjets gewählt werden, vorausgesetzt er war nicht schon Mitglied des Ministerrates oder eines Exekutivkomitees.4
1. Das Wahlrecht Das Mindestalter für die Ausübung des aktiven und des passiven Wahlrechtes betrug 18 Jahre. Wahlberechtigt war jeder Sowjetbürger, der sich zum Zeitpunkt der Wahl in der Ukraine aufhielt. 5 Das Wahlgesetz sah weiterhin die Vergabe von 25% der Sitze an (kommunistische) Organisationen vor, wobei der Komsomol (der Jugendverband der KPU) auf die ihm zustehenden 20 Parlamentssitze verzichtete. 6 Die für die Durchführung der Wahl zuständigen Wahlkommissionen wurden durch die entsprechenden Sowjets besetzt, de facto also mit Personal aus dem Parteiapparat. Weil die Zentrale Wahlkommission (ZWK) das neue Wahlgesetz erst verspätet publizierte und verteilte, fand es
3potichnyi, 1991, S lf.: Die Änderung der Verfassung der Sowjetunion erfolgte im März 1990. In der ukrainischen Verfassung wurde Art. 6 erst im Oktober 1990 gestrichen. 4potichnyi, 1990, S. 2. Das Regierungssystem bestand damals aus einer doppelten Vertikale: Die Sowjets, vom Obersten Sowjet angefangen, waren jeweils gegenüber dem zugeordneten Exekutivkomitee (das auf der Ebene des Obersten Sowjets Ministerrat hieß) und dem untergeordneten Sowjet weisungsbefugt. Zusätzlich hatten die Exekutivkomitees, vom Ministerrat angefangen, Weisungsbefugnis gegenüber dem Exekutivkomitee der nächstniedrigeren Verwaltungsebene. Diese Struktur war solange ohne Bedeutung, wie alle relevanten Entscheidungen in den Gremien der kommunistischen Partei getroffen wurden, nach denen sich sowohl die Sowjets als auch die Exekutivkomitees zu richten hatten. 5 Futeij, 1990, S. 211. So konnten u.a. auch 27.000 Sowjetsoldaten an den Wahlen teilnehmen, die gerade von der Tschechoslowakei nach Rußland verlegt wurden. 6 Kuzio/Wilson, 1994, S. 122f.
I. Die Parlamentswahlen im Frühjahr 1990
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entsprechend wenig Beachtung.7 Schon bei der Nominierung traten zahlreiche Schwierigkeiten auf. Für die Nominierung eines Kandidaten war eine Wählerversammlung erforderlich, die zuvor von der lokalen Wahlkommission genehmigt werden mußte. A u f der Versammlung selbst mußten mindestens 200 Teilnehmer mit Name, Adresse und Alter registriert werden, was teilweise so lange dauerte, daß sich manche Versammlung vor dem eigentlichen Beginn schon wieder verlief. Teilweise wurden die Versammlungen von den Wahlkommissionen während der Arbeitszeit angesetzt, teilweise der Termin kurzfristig vorverlegt, teilweise die schriftliche Bestätigung verweigert, um die Nominierung eines Kandidaten zu verhindern. Auch wegen „Formfehlern" wurde die Registrierung versagt. Deswegen erhielt die ZWK mehr als 800 schriftliche und 241 persönlich vorgetragene Beschwerden, denen aber nur teilweise nachgegangen wurde. 8
2. Der Wahlkampf Auf Initiative von Ruch hatten sich am 18. Dezember 1989 in Kyjiv 43 Gruppen und Organisationen zum „Demokratischen Block" zusammengeschlossen, um mit einem gemeinsamen Programm und gemeinsamen Kandidaten zur Wahl anzutreten. In diesem Programm forderte der Block die politische und wirtschaftliche Souveränität und die kulturelle Wiedergeburt der Ukraine, ein Mehrparteiensystem, die Möglichkeit des Privatbesitzes, die Gleichstellung staatlicher, kollektiver und privater Eigentumsformen, Religions- und Glaubensfreiheit sowie die Verabschiedung einer neuen Verfassung. 9 Ruch konnte an den Wahlen selbst nicht teilnehmen, da seine Statuten erst am 9. Februar 1990, lange nach dem Ende der Nominierungsfrist, registriert wurden. Die Kandidaten Ruchs traten deshalb innerhalb des Demokratischen Blocks an. Trotz der vereinbarten Koordination der Kandidaturen kam es vor, daß sich in einigen Wahlkreisen mehrere Kandidaten des Blocks zur Wahl stellten, weil dieser mehr eine lose Allianz denn ein festes Bündnis darstellte. 10 Wegen Obstruktionen durch die Wahlkoinmissionen konnte der Demokratische Block nur in 205 von 450 Wahlkreisen Kandidaten nominieren. Kandidaten der „Grünen Welt" und der Sevòenko-Gesellschaft wurden auf lokaler Ebene teilweise auf der Basis willkürlicher Entscheidungen abgelehnt. Besonders groß waren die Schwierigkeiten im Osten und Süden der Ukraine, wo nur in etwa einem Viertel aller Wahlkreise nicht-kommunistische Kandidaten antreten
7
Potichnyi, 1990, S. 3. 8 Futeij, 1990, S. 212; Mihalisko, 1990c, S. 22; Potichnyi, 1990, S. 4-8. 9 Mihalisko, 1990c, S. 21f.; Potichnyi, 1990, S. 16f. 10 Mihalisko, 1990c, S. 21 u. 23.
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D. Ein Staat im Werden
konnten. Von den insgesamt 3.653 Kandidaten waren nur 13,3% nicht Mitglied der Kommunistischen Partei. 11 Die heiße Phase des Wahlkampfs begann am 21. Januar 1990 mit einer 500 Kilometer langen Menschenkette von L'viv nach Kyjiv, die Ruch organisiert hatte, um der Gründung der Unabhängigen Ukrainischen Volksrepublik am 22. Januar 1918 zu gedenken. Mehrere hunderttausend Teilnehmer verdeutlichten in überwältigender Weise, wie sehr der Einfluß Ruchs gewachsen war. 12 Wegen der kommunistisch dominierten Medien lag die größte Stärke des Demokratischen Blocks in der Popularität seiner Kandidaten, zum Beispiel bekannter früherer Dissidenten,13 die lediglich in der Zeitung Literaturna Ukraina ein Sprachrohr fanden. 14 Die KPU konnte ihr Wahlprogramm in fast allen Zeitungen veröffentlichen und als Broschüre verteilen, während die parteilosen Kandidaten in den Massenmedien nicht erwähnt wurden. Auch hatten die Kandidaten der KP einen privilegierten Zugang zu den staatlichen Betrieben, wo während der Arbeitszeit zahlreiche Wahlversammlungen stattfanden. 15 Dennoch wichen die hochrangigen Kader der KPU, die in Städten der Westund Zentral-Ukraine ihre Parteiämter ausübten, für ihre Kandidatur auf ländliche Gebiete aus. Sie hatten ihr Schicksal oder das ihrer Parteigenossen im Gedächtnis, die bei der Wahl zum All-Unions Kongreß 1989 bittere Niederlagen hatten einstecken müssen. In den ländlichen Gebieten der Zentral-Ukraine hatte Ruch einen weniger großen Einfluß als in den Städten, weil die KolchosDirektoren ihre Stellung für politische Werbung ausnutzen konnten und das Wahlverhalten auf dem Lande konservativ ausgerichtet war. So lag die durchschnittliche Wahlbeteiligung in den Städten bei 70-72%, auf dem Lande in kommunistischer Tradition bei 95%. 16 In den Städten der Ost- und Südukraine traten vermehrt Industrielle für die KPU an. 17
3. Die Ergebnisse der Wahlen zum Obersten Sowjet im März 1990 Da die Ausgangsbedingungen des Demokratischen Blocks und der Kommunisten sehr unterschiedlich waren, führten die Wahlen nicht die Ablösung der 11
Arel, 1990, S. 115f.; Nahaylo/Mihalisko, 1990, S. 14. Allerdings waren auch Kandidaten des Demokratischen Blocks Mitglied der KPU, und Mitglieder der KPU traten mit eigenen Programmen an. (Marples, 1990c, S. 18) l^Nahaylo, 1990, S. 17. 13 Marples, 1990c, S. 18; Mihalisko, 1990c, S. 22. 14potichnyi, 1990, S. 17. 15 Mihalisko, 1990c, S. 22; Potichnyi, 1990, S. 10. 1 6
Arel, 1990, S. 117; insgesamt lag die Wahlbeteiligung bei 84,6%. (Potychnyi, 1990, S. 23) 17 Arel, 1990, S. 119 u. 123.
I. Die Parlamentswahlen im Frühjahr 1990
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Kommunisten von der Macht herbei. Der Demokratische Block konnte herausstellen, in den 205 Wahlkreisen, in denen es gelungen war, Kandidaten aufzustellen, immerhin 108 Mandate errungen zu haben, also mehr als die Hälfte. Von diesen stammten 79 aus den Hochburgen des Blocks in Galizien, den Oblasti Volyn und Rivne (an der Grenze zu Polen) sowie den Städten Kyjiv und Charkiv. 18 Dies zeigte die Schwäche des Blocks außerhalb seiner Hochburgen an. Demgegenüber gewannen die Kommunisten vor allem in den Städten der Südukraine und in den ländlichen Gebieten außerhalb der Westukraine und waren mit 240 errungenen Mandaten klar die numerischen Sieger. Die Kommunisten profitierten von der konservativen Einstellung der Landbevölkerung. Die Kandidaten Ruchs, meist städtische Intellektuelle, blieben den Bauern fremd. Zudem wurde Ruch weitgehend mit der Unierten Kirche in Zusammenhang gebracht, während die Bauern außerhalb der Westukraine überwiegend der orthodoxen Kirche angehören. 19 Die unabhängigen Kandidaten (die weder für die KP noch für den Demokratischen Blockes angetreten waren) waren vor allem in den industriell geprägten Städten der Ostukraine erfolgreich. Diese Kandidaten waren reformorientiert eingestellt, vertraten aber nicht die nationale Richtung des Demokratischen Blocks. 20 Gemäß diesen Wahlergebnissen bildeten sich im Obersten Sowjet drei Fraktionen: die Kommunisten mit 239 Abgeordneten, die sich „Block für eine souveräne sowjetische Ukraine" nannten und in der überwiegend Sekretäre der KP aller Ebenen, Mitglieder des Staatsapparats und Minister sowie Direktoren von Kolchosen und Sowchosen vertreten waren; die Fraktion des Demokratischen Blocks mit 122 Abgeordneten, die sich als Oppositionsfraktion den Namen „Volks-Rat" (Narodna Rada ) gab und in dem die Intelligenzija den größten Teil der Abgeordneten stellte; und 88 unabhängige Abgeordnete, vorwiegend Fabrik-Direktoren und Offiziere, die sich keinem der beiden Blöcke zurechneten. 21 Bei den gleichzeitig mit den Parlamentswahlen stattfindenden regionalen und lokalen Wahlen verlor die KPU in der Westukraine und einzelnen Städten ihr Machtmonopol und konnte dort in den Sowjets nur noch schwache Minderheiten behaupten. Damit kamen die Vertreter von Ruch zum ersten Mal in Machtpositionen und erlangten die damit verbundene Kontrolle über regionale 18 Kuzio/Wilson, 1994, S. 125. l ^ A r e l , 1990, S. 130. 20 Ebd., S. 129. 21 Ebd., S. 108-113; Kuzio/Wilson, 1994, S. 125f.; Marples, 1990d, S. 21f.; Danylo Yanevsky, The Election: The Parties Politic, in: EE, Vol. 1, No. 3, 14.2.1994, S. 5. Eine namentliche Aufführung der Abgeordneten mit Fraktionszugehörigkeit findet sich bei Arel, 1994, S. 144-149. 4 Vorndran
D. Ein Staat im Werden
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Medien und Betriebe. Dadurch erhielt die Volksbewegung einen weiteren Impuls, und viele der westukrainischen Mitglieder der KPU begannen, sich von ihrer konservativen Parteiführung zu distanzieren. In den übrigen Regionen konnte die KPU ihre Machtpositionen halten.22 Allerdings fungierten die Wahlen als Katalysator eines Führungswechsels innerhalb der KPU. Führungspositionen in Partei, Sowjets und Verwaltung übernahmen nun zunehmend solche Mitglieder, die der perestrojka gegenüber aufgeschlossen waren. In diesem Sinne hatte Gorbaöev schon vor der Wahl, im Februar 1990, sieben der 27 einflußreichen Ersten oblast'-Sekretäre abgelöst.23
I I . Anfänge des Parlamentarismus Nach den Parlamentswahlen 1990 wandelten sich Rolle und Funktion des Obersten Sowjets erheblich. Waren die Abgeordneten bisher zweimal im Jahr für je drei Tage zusammengekommen und hoben nach schönen Reden gemeinsam die Hand, um die Beschlüsse der Partei in Gesetzesform abzusegnen, beherrschten nun - zeitweise auch handfeste - Auseinandersetzungen das Bild. Bestimmt wurden diese Auseinandersetzungen durch die kommunistische Fraktion, die von Oleksandr Moroz geführt wurde, 24 und den „Volks-Rat", der gemeinsam von Ihor Juchnovs'kyj und seinen Stellvertretern Levko Luk'janenko, Oleksandr Jemec' und Dmytro Pavlyòko geleitet wurde. Les' Tanjuk wurde Sekretär des Volksrates. 25 Da das Parlament auf seine Rolle als Forum der politischen Auseinandersetzung organisatorisch nicht vorbereitet war, fehlte es an den grundlegenden Voraussetzungen für eine effiziente Arbeit der Ausschüsse und Fraktionen. So wurden den Fraktionen weder Büros noch Sekretariats-Personal, geschweige denn Mittel für Informationsbeschaffung zur Verfügung gestellt.26 Erster Vorsitzender des neuen Parlamentes wurde am 4. Juni 1990 Volodymyr Ivasko, der Vorsitzende der KPU, der Valentyna Sevöenka in diesem Amt ablöste.27 Dies stand ganz im Einklang mit dem Prinzip der perestrojka, daß die Macht von der Partei auf die Räte übergehen sollte.28 Trotz der Minder2 2
Kuzio/Wilson, 1994, S. 126. 3 Mihalisko, 1990c, S. 21; Timofeev, 1994, S. 90. 2 4 Bevor Moroz diese Aufgabe übernahm, war er Vorsitzender der LandwirtschaftsAbteilung des Kiever oblast'-Komitees gewesen. (Danylo Yanevsky, Parliamentary Factions in Ukraine. Part 1: A Historical Perspective, in: EE, Vol. 1, No. 31, 29.8.1994, S. 15) 2 5 Kuzio/Wilson, 1994, S 129. 2 6 Kuzio, 1994, S. 827. 2
2 2
? Kuzio/Wilson, 1994, S. 100. 8 Brovkin, 1990, S. 16.
II. Anfänge des Parlamentarismus
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heitenposition des Volks-Rates bot Ivasko den Führern der Opposition den Vorsitz in verschiedenen wichtigen Ausschüssen an (u.a. für Äußeres und für Wirtschaft). 29 Da die Vorsitzenden der Ausschüsse qua Amt Mitglieder des 27köpfigen Präsidiums wurden, das die Geschäfte des Parlamentes leitete und die Funktionen des Parlamentes ausübte, wenn dieses nicht tagte, nahm die Opposition auch auf das Verfahren der Beratungen Einfluß. 30 Durch kontinuierlichen Übertritt von kommunistischen Abgeordneten nahm die Fraktionsstärke des Volks-Rates weiter zu und erreichte Ende Juni 1990 140 Abgeordnete, davon etwa dreißig aus der Demokratischen Plattform der KPU. Da Ruch und der Demokratische Block nur eine Dachorganisation verschiedener Gruppen darstellten und der Volks-Rat nun auch Ex-Kommunisten aus dem Apparat in die Fraktion aufnahm, war hier der Keim für die spätere Differenzierung innerhalb des Volks-Rates und schließlich den Bruch der Fraktion angelegt. Die in den parlamentarischen Regularien unerfahrenen Abgeordneten des Volks-Rates wußten sich oft nur durch den Boykott von Abstimmungen und Auszug aus dem Parlament zu helfen, um ihren Meinungen Ausdruck zu verleihen, so etwa bei der Wahl Ivaskos zum Vorsitzenden des Parlamentes. Auch die Wiederwahl Vitalij Masols zum Vorsitzenden des Ministerrates traf auf Widerstand. Weil sich Masol weder für die Souveränität der Ukraine noch für Wirtschaftsreformen einsetzte, forderte die Opposition immer wieder seinen Rücktritt. Mehrere von ihm vorgeschlagene Minister wurden nicht bestätigt und mußten durch andere Kandidaten ersetzt werden. 31 Durch ihre größere Motivation, häufigere Anwesenheit im Plenum und intensivere Arbeit in den Ausschüssen konnten die Abgeordneten des VolksRates einen überproportionalen Einfluß auf die Entscheidungen des Obersten Sowjets ausüben. Die Abgeordneten der KPU gingen dagegen weiter ihren Aufgaben im Partei-Apparat oder in den Betrieben nach. An der numerischen Überlegenheit der Kommunisten bei den Abstimmungen änderte dies freilich nichts, so daß Maßnahmen, die den Interessen der Kommunisten zuwiderliefen, nicht durchgesetzt werden konnten. 32 Zusätzliche Unterstützung erfuhr der Volks-Rat durch die Stimmung in der Bevölkerung, die gegenüber der KPU zunehmend unfreundlicher wurde. Da alle Sitzungen des Parlamentes live übertragen wurden, war die KP zum ersten Mal in der Öffentlichkeit massiver Kritik ausgesetzt. Zugleich wurden die Füh-
29 Kuzio/Wilson, 1994, S. 129. ο . V., 1993, S. 6. Auch diese Funktion des Präsidiums als „Ersatzparlament" war ein Relikt aus kommunistischer Zeit. (Marples/Freeland, 1990, S. 23) 31 Marples, 1990b, S. 16f. 32 Kuzio/Wilson, 1994, S. 129; National Democratic Institute for International Affairs [NDI], 1994, S. 4.
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rer der Opposition auch der breiten Bevölkerung bekannt und konnten ein politisches Profil entwickeln. 33 Der Druck der öffentlichen Meinung wurde so stark, daß sich die KPU auf ihrem 28. Kongreß im Juni 1990 gezwungen sah, das Programm von Ruch quasi zu übernehmen. Dieses sah die Suprematie des ukrainischen über das sowjetische Recht und eine ukrainische Staatsbürgerschaft vor. 34 Zudem wurde Ivasko, vor allen Dingen von der Demokratischen Plattform innerhalb der KPU, für seinen konservativen Kurs hart kritisiert. 35 A m 11. Juli 1990 ließ sich Ivasko in Moskau auf dem 28. Kongreß der KPdSU zum stellvertretenden Generalsekretär der KPdSU (einer Position, die gerade erst geschaffen worden war) wählen. Weil Ivasko nur einen Monat nach seiner Wahl zum Vorsitzenden des Parlaments mit der Begründung zurücktrat, daß sein Programm der wirtschaftlichen, sozialen und kulturellen Wiedergeburt der Ukraine - so wie er sie verstehe - im Parlament zu wenig Unterstützung finde, fühlte sich die Partei betrogen. Ivasko hinterließ eine desorientierte und demoralisierte Partei. Die Lage spitzte sich weiter zu, weil die Bergarbeiter im Donbas am gleichen Tag (dem 11. Juli) in Streik traten und nicht nur - wie noch im Sommer '89 - soziale Verbesserungen forderten, sondern auch das Ende der Moskauer Verwaltung der Betriebe und den Ausschluß der KPU und der KomsomolKomitees aus den Betrieben. 36 Als das Parlament die 63 Abgeordneten, die in Moskau am Kongreß der KPdSU teilnahmen, aufgrund der angespannten Lage aufforderte, unverzüglich nach Kyjiv zurückzukehren, und dieser Aufforderung nur von einer handvoll Abgeordneten Folge geleistet wurde, beschlossen die in Kyjiv verbliebenen Abgeordneten in einer Trotzreaktion, die von den Nationaldemokraten lange propagierte Souveränitätserklärung zu verabschieden. 37
I I I . Die Souveränitätserklärung A m 16. Juli 1990 sprachen sich 355 Abgeordnete bei vier Gegenstimmen für eine Souveränitätserklärung aus, die aus fünf verschiedenen Vorschlägen hervorgegangen und am 14. Juli Artikel für Artikel diskutiert und angenommen worden war. 38 Dabei gab es nicht nur zwischen den Kommunisten und dem
33Kuzio, 1992, S. 13f. 3 4 Die Zahl der Mitglieder von Ruch stieg von 280.000 im September 1989 auf 600.000 im September 1990. (Solchanyk, 1991a, S. 23) 35 Mihalisko, 1990d, S. 23f. 36 Marples, 1990e, S. 24. 37 Mihalisko, 1990d, S. 23. 38 Göbner, 1991, S. 868; Kuzio/Wilson, 1994, S. 131; Mihalisko, 1990b, S. 17f.; Solchanyk, 1991a, S. 22.
III. Die Souveränitätserklärung
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Volks-Rat heftige Dispute, sondern es zeigte sich auch ein Gegensatz zwischen den Abgeordneten aus der Ost- und der Westukraine. Die beeindruckende Mehrheit erklärt sich aus der Einsicht, einen tragfähigen Kompromiß gefunden zu haben, und auch aus dem Ärger über die abwesenden Abgeordneten und den Egoismus Ivaskos, der seine eigene Karriere über den Dienst an der Ukraine stellte.39 Die Souveränitätserklärung enthält eine Präambel und 10 Artikel mit Vorschriften über die Suprematie des ukrainischen Rechts, die ökonomische und ökologische Unabhängigkeit, eigene Staatsfinanzen, Steuern und eine Nationalbank, eine ukrainische Staatsbürgerschaft, die Selbständigkeit in internationalen Beziehungen sowie den Aufbau einer eigenen Armee, innerer Sicherheitskräfte und eines Sicherheitsdienstes. 40 Wenn dieses Dokument zunächst mehr als Absichtserklärung und weniger als rechtlich bindendes Dokument erscheint,41 so wird darin doch nicht nur der feste Wille deutlich, das Schicksal in die eigenen Hände zu nehmen, sondern auch, diese Erklärung in die Tat umzusetzen.42 Im Laufe des Jahres 1990 wandelte sich die Kommunistische Partei der Ukraine von einem Vasallen Moskaus zu einer selbständigen Kraft, die die Interessen der Ukraine in den Blick nahm (darüber aber nicht die Interessen ihrer Nomenklatura vergaß), weil sie durch Ruch und die öffentliche Meinung dazu gezwungen wurde. Die Notwendigkeit, die eigene politische Meinung in den Parlamentsdebatten (z.B. zu den Ursachen und Folgen der atomaren Katastrophe von Cornobil') mit Argumenten belegen zu müssen, und die Übertragung dieser Debatten im Fernsehen forderten und förderten das Umdenken der Kommunisten. Schließlich zog der nationalistische Westen die ganze Nation mit und konnte erfolgreich vermitteln, daß die Ukraine mehr war als nur eine unter anderen Sowjetrepubliken. 43 Damit hatten die Kommunisten eine Schlacht verloren, aber nicht die Macht. Für den zurückgetretenen Ivasko wählten die kommunistischen Abgeordneten am 23. Juli 1990 den bisherigen Sekretär für Ideologie der KPU, Leonid Kravòuk, zum neuen Vorsitzenden des Obersten Sowjet. Wegen seiner Vergangenheit als Ideologie-Sekretär und der von ihm geleiteten Kampagne gegen Ruch boykottierten die Abgeordneten des Volks-Rates die Wahl KravCuks. Die überwältigende Zustimmung zur Souveränitätserklärung bedeutete noch lange keine Verständigung von Kommunisten und Nationaldemokraten. Zu den Stell-
39 Mihalisko, 1990b, S. 17f.; Shutak, 1990, S. 5. 40 Mihalisko, 1990b, S. 18. 41 Kuzio/Wilson, 1994, S. 131. 42 Mihalisko, 1990b, S. 18. 43 Marples, 1990a, S. 15f.
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Vertretern Kravöuks wurden Ivan PljuSé und Volodymyr Hryn'ov gewählt, letzterer war Mitglied der Demokratischen Plattform in der KPU. 44 Im September 1990 trat Kravöuk von seinem Amt als Zweiter Sekretär der KPU zurück, um sich ganz seiner Aufgabe als Parlamentssprecher widmen zu können.45
1. Demonstrationen und Hungerstreik zwingen Masol zum Rücktritt Die Verabschiedung der Souveränitätserklärung gab Ruch neuen Auftrieb. Nach der Sommerpause des Parlamentes, zu Beginn der zweiten Session, riefen Ruch und die „Vereinigung der demokratischen Sowjets und der demokratischen Blöcke in den Sowjets der Ukraine" zu einer Demonstration in Kyjiv am 30. September 1990 und einem eintägigen Generalstreik am 1. Oktober auf, um gegen die Unionsstrukturen und die Zusammensetzung des Parlamentes zu protestieren. Während der Demonstration, zu der 100.000 bis 120.000 Menschen nach Kyjiv kamen, wurden der Rücktritt Masols und Neuwahlen gefordert. Der Aufruf zum Generalstreik blieb allerdings weitgehend unbeachtet.46 Zur Fortfuhrung der Proteste begannen 150 Studenten aus Kyjiv und L'viv am 2. Oktober einen Hungerstreik auf dem zentralen Platz in Kyjiv (heute: Majdan Nezaleznesti - Platz der Unabhängigkeit). Die Studenten forderten den Rücktritt des Vorsitzenden des Ministerrats, Vitalij Masol, Neuwahlen, die Übertragung des KP- und Komsomol-Vermögens in Staatseigentum, die NichtUnterzeichnung eines neuen Unions-Vertrages und die Garantie, Wehrdienst nur innerhalb der Ukraine leisten zu müssen.47 Als dies weitgehend zugesagt wurde, beendeten die Studenten am 16. Oktober ihren Streik, der in der Bevölkerung große Zustimmung gefunden hatte. Daraufhin beschloß der Oberste Sowjet am 17. Oktober mit 314 Stimmen bei 323 anwesenden Abgeordneten: 48 • • • •
1991 ein Referendum über Neuwahlen durchzufuhren; bis Ende 1990 eine neues Gesetz über den Militär-Dienst zu verabschieden; im Dezember 1990 eine Kommission einzusetzen, die die Nationalisierung des KP- und Komsomol-Eigentums prüfen sollte; Premierminister Masol einem Mißtrauensvotum zu unterziehen;
44 Kuzio/Wilson, 1994, S. 129f. u. 153; Solchanyk, 1991d, S. 25. 45 Nahaylo/Mihalisko, 1990, S. 14. 46 Marples, 1990b, S. 16. Nach anderen Angaben kamen 15.000 bis 20.000 Demonstranten (Solchanyk, 1991d, S. 25) bzw. sogar 200.000 Demonstranten (Kuzio/Wilson, 1994, S. 153) nach Kyjiv. 47 Ebd. 48 Nahaylo/Mihalisko, 1990, S. 14.
III. Die Souveränitätserklärung
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bis zum 30. November 1990 die Verfassung mit der Souveränitätserklärung in Einklang zu bringen und von der Unterzeichnung eines neuen Unionsvertrages Abstand zu nehmen, solange noch keine neue ukrainische Verfassung verabschiedet war.
Damit schien die Opposition einen überwältigenden Erfolg errungen zu haben. Tatsächlich aber blieb vieles beim Alten, zumal das Versprechen eines Referendums über Neuwahlen nie eingelöst wurde. Die Gefahr des Machtverlustes war für die Kommunisten zu diesem Zeitpunkt zu groß, so daß sie die Auflösung des Parlamentes unterließen. Und der Druck der „Straße" konnte nicht nachhaltig genug sein, um langfristig den Lauf der Dinge gegen die kommunistische Parlamentsmehrheit zu bestimmen, weil es immer wieder konkreter Anlässe bedarf, um die Menschen für Demonstrationen und Kundgebungen zu mobilisieren. Die Ablösung Masols bereitete kein größeres Kopfzerbrechen. Mit der Souveränitätserklärung und dem ebenfalls im Juli 1990 verabschiedeten Gesetz über die wirtschaftliche Unabhängigkeit der Ukraine war die Regierung aufgefordert worden, ein Reformprogramm vorzulegen. Was Masol Anfang Oktober vortrug, war jedoch unangemessen und erweckte den Eindruck, daß er den ökonomischen „Imperialismus" Moskaus fortsetzen wollte, so daß sowohl die Kommunisten als auch die Opposition die Vorschläge zurückwiesen. 49 Die Demonstrationen kamen daher gelegen, um die kurze zweite Amtszeit Masols am 23. Oktober 1990 zu beenden.50 Noch am selben Tag wurde Vitold Fokin zum neuen Vorsitzenden des Ministerrats gewählt.51 Die kommunistische Parlamentsmehrheit hatte sich rasch vom Druck der Hungerstreiks erholt und ergriff Gegenmaßnahmen, um die Dominanz der nationalistischen politischen Gruppen in den Straßen zu mindern. So wurden eine erhöhte Präsenz der Miliz angeordnet, sozialistische Denkmäler geschützt und „faschistische" Denkmäler abgebaut. Das Versammlungs- und Demonstra-
49 Mihalisko, 1990a, S. 19. 50 ο . V , 1993, S. 8. 51 Kuzio/Wilson, 1994, S. 154. In einer Sitzung des Politbüros der KPU am 19.10.1990 soll Kravöuk anläßlich der Ablösung Masols gesagt haben: „Wir müssen dahin [auf das Amt des Ministerpräsidenten] eine Person setzen, die als wandelndes Ziel dienen kann, sogar wenn es eine solch widerliche Figur wie Juchnovs'kyj ist, die ein Aufheben macht wie ein Einfaltspinsel angesichts eines neuen Spielzeugs. Du wolltest Macht, du hast Macht bekommen, nimm sie: der Markt wird unpopulär sein, Arbeitslosigkeit wird beginnen und warum sollten wir dies alles auf uns selbst nehmen in dem Wissen, daß wir nicht damit umgehen können?" (Aus dem Englischen nach Vyacheslav Pikhovshek, A l l the Presidential Host or the Rigid Vertical Line of Executive Authority", in: Most, 4.-10.12.1995, No. 48, S. 1,4, zit. nach FBIS-Sov-95247-S, 26.12.1995, S. 73-76, hier S. 74).
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tionsrecht wurde verschärft. 52 Die „Gruppe der 239,, setzte im Parlament mit einer Änderung der Geschäftsordnung durch, daß sich nur noch die Hälfte der Abgeordneten registrieren lassen mußten, damit eine Sitzung des Obersten Sowjets stattfinden konnte. Damit wurde die von der Opposition ausgeübte Politik des „leeren Stuhls" unwirksam. 53 Den unrühmlichen Höhepunkt der Repressalien bildete am 17. November 1990 die Aufhebung der Immunität und Festnahme des nationalistischen Abgeordneten Stepan Chmara, der am Jahrestag der Oktober-Revolution (7. November) in einem Handgemenge einen Offizier angeblich attackiert hatte.54
2. Die innere Differenzierung der politischen Kräfte Im Herbst 1990 verloren sowohl der Volks-Rat als auch die kommunistische Fraktion allmählich ihren einheitlichen Charakter. Im Volks-Rat entwickelten sich drei Strömungen: die Abgeordneten der Demokratischen Plattform in der KPU (Souverän-Kommunisten), die Abgeordneten von Ruch (Nationaldemokraten) und ein rechter Flügel der Ukrainischen Republikanischen Partei 55 (Nationalisten). Ruch und die URP zerstritten sich zum einen über die Frage, ob man mit den Kommunisten, die ebenfalls für die Souveränität der Ukraine eintraten, außerhalb des Volks-Rates zusammen arbeiten solle. 56 Ruch sprach sich für eine Koordination aus, die URP wandte sich dagegen. Damit war ungeklärt, ob der Volks-Rat eine nationaldemokratische oder eine nationalistische Politik vertreten sollte. 57 Diese letzte Frage betraf die Souverän-Kommunisten im besonderen, da sie sich als Brücke zwischen dem nationaldemokratischen Galizien und der Ost-Ukraine verstanden, aber eine nationalistische Politik nur schwer mittragen konnten. Dabei wuchs die Zahl der Souverän-Kommunisten im Volks-Rat bald über die Zahl der Nationalisten hinaus.58 Wegen dieser inneren Differenzierung der Opposition ging der Einfluß von Ruch als
52 Kuzio/Wilson, 1994, S. 155; Solchanyk, 1991a, S. 24. 53 Solchanyk, 1991d, S. 26. 54 Solchanyk, 1991a, S. 23f. 55 Zur Gründung und Geschichte der Ukrainischen Republikanischen Partei (URP) siehe Abschnitt F.III, dieser Arbeit. 56 Kuzio, 1994, S. 23f. 57 Über diese Frage war die URP auch intern zerstritten. Levko Luk'janenko und die Gebrüder Horyn' suchten eine Kooperation mit den Reform-Kommunisten, während Stepan Chmara dies ablehnte. Zwar wurden im Vorfeld des zweiten Kongresses der URP im Juni 1991 die radikalen Nationalisten aus der Partei ausgeschlossen, aber Chmara wieder als stellvertretender Vorsitzender gewählt und damit das radikale Element dennoch gestärkt. (Kuzio/Wilson, 1994, S. 156) 58 Kuzio/Wilson, 1994, S. 144.
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einer Dachorganisation zurück, die es bislang vermocht hatte, die Aktivitäten der Opposition (auch organisatorisch) zu bündeln. 59 Mit ähnlichen Problemen hatten auch die Kommunisten zu kämpfen, unter denen die Hardliner unter der Führung von Stanislav Hurenko einen Verbleib der Ukraine innerhalb der Sowjetunion vertraten, während die Reform-Kommunisten mit Kravéuk an der Spitze für die Vorstellung einer souveränen Ukraine standen. Hurenko und Kravöuk stritten sich auch über die Frage, ob die wesentlichen politischen Entscheidungen in den Parteigremien gefällt und durch die Staatsorgane lediglich umgesetzt werden sollten (was den Vorstellungen des Parteivorsitzenden Hurenko entsprach) oder ob Parlament und Regierung die entscheidenden Organe sein sollten (was dem Parlamentsvorsitzenden Kravòuk vorschwebte). 60 Kuzio/Wilson erklären mit drei Argumenten die Entstehung der souveränkommunistischen Strömung: Um ein effizientes Management zu sichern, wurden die Kader schon seit den 70er Jahren mehr und mehr nach fachlicher Ausbildung denn nach ideologischer Ausrichtung ausgewählt. Im Bewußtsein ihrer Kompetenz versuchten diese, ihren persönlichen Entscheidungsspielraum zunehmend auszudehnen, insbesondere als die Steuerung der Wirtschaft von Moskau aus 1990/91 zusammenbrach. Während die Parteikader weiterhin auf Moskau ausgerichtet blieben, orientierten sich die staatlichen Eliten auf nationale Entscheidungsorgane und versuchten diese mit den notwendigen Kompetenzen auszustatten. Für diese Aufgabe fand Kravöuk in PljuSö und anderen Reform-Kommunisten sowie dem Volks-Rat ausreichend Verbündete, um die Entscheidungen des ParlamentsPräsidiums in diese Richtung zu leiten. Das kleinere Gremium des Präsidiums konnte sich erheblich rascher auf die neue Situation einstellen als die Abgeordneten in der Lage waren, sich zu organisieren. Weil über die Zuteilung von Ressourcen und Subventionen jetzt im Obersten Sowjet entschieden wurde, bildete sich innerhalb der Kommunisten die „industrielle Fraktion", der u.a. Volodymyr Jevtuchov, Leonid Kuòma und Volodymyr Sljednjev angehörten. 61 Durch die Verlagerung der Macht von der Partei auf den Obersten Sowjet, die gleichzeitig stattfindenden Wahlen (1990) auf nationaler Ebene und den Druck der Unabhängigkeitsbewegung konstituierte sich die öffentliche Meinung auf nationaler, ukrainischer Ebene. Deswegen mußten sich die Politiker auch in ihren Symbolen und ihrer Politik auf diese Ebene beziehen. Diese Tendenz wurde durch den Putsch im August 1991 nur noch verstärkt. 62
59 Ebd., S. 157. 60 Ebd., S. 152 u. 158f. 61 Diese wurden im Herbst 1992 auch Mitglieder der Regierung Kuöma. 62 Kuzio/Wilson, 1994, S. 163-165.
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3. Das Referendum über den Erhalt der Sowjetunion Nachdem der Vorsitzende des Parlamentes Kravöuk auf dem Plenum der KPU im Februar 1991 zum ersten Mal in einen offenen Streit mit Hurenko geraten war und innerhalb der KPU zum Fürsprecher für die Unabhängigkeit der Ukraine wurde, stellte das Referendum über den Erhalt der Sowjetunion, das Gorbaöev für den 17. März 1991 durchgesetzt hatte, einen weiteren Katalysator für die Spaltung der KPU dar. 63 Als es bei Debatten im ukrainischen Parlament darum ging, welche Frage in der Ukraine zur Abstimmung gestellt werden sollte, sprachen sich die konservativen Kommunisten um Hurenko für die von Gorbaöev vorgeschlagene Version aus: „Halten Sie es für notwendig, die UdSSR in der Form einer neuen Föderation zu erhalten, in der die Republiken gleich souverän sind und die Menschenrechte sowie die Freiheiten aller Nationalitäten in vollem Umfang garantiert sind?" 64 Das Präsidium des Obersten Sowjet, in dem auch die Nationaldemokraten vertreten waren, lehnte diesen Vorschlag dagegen als unklar und konfus ab. Er erhielt auch im Plenum mit 188 Stimmen nicht die nötige Mehrheit. Aber auch der Vorschlag des Präsidiums, der Frage GorbaCevs eine weitere Frage hinzuzufügen, erhielt nur 135 Stimmen und wurde ebenso niedergestimmt wie der Antrag, das Referendum gänzlich zu boykottieren. 65 In der Rolle eines Vermittlers zwischen der „Gruppe der 239,, und der Opposition schlug Kravöuk eine andere, ergänzende Frage vor: „Stimmen Sie zu, daß die Ukraine auf der Grundlage der Prinzipien der 'Deklaration der staatlichen Souveränität der Ukraine' Teil einer Union sowjetischer souveräner Staaten sein soll?" 66 Damit hatte Kravöuk einen für alle Seiten tragbaren Kompromiß gefunden, der am 27. Februar 1991 mit 277 gegen 32 Stimmen angenommen wurde. 67 Die drei Sowjets der Oblasti Galiziens (L'viv, Ternopil' und Ivano-Frankivs'k) entschieden eigenmächtig, gleichzeitig noch eine dritte Frage zur Abstimmung zu stellen, weil ihnen die beiden anderen Fragen nicht weit genug gingen. Diese lautete:
63 Ebd., S. 159. 64 Ebd. 65 Die Zusatzfrage sollte heißen: „Halten Sie es für notwendig, daß die Union der sowjetischen sozialistischen Republiken eine Union sowjetischer souveräner Staaten wird, in der jedes Volk über sein eigenes Schicksal selbst entscheidet?" (Aus dem Englischen nach Solchanyk, 1991c, S. 22) 66 Solchanyk, 1992a, S. 35. 67 Kuzio/Wilson, 1994, S. 159.
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„Möchten Sie, daß die Ukraine ein unabhängiger Staat ist, der alle Fragen der Innen- und Außenpolitik unabhängig entscheidet und für alle Bürger ohne Ansehen ihrer Zugehörigkeit zu einer Nation oder Religion gleiche Rechte garantiert?" 68 Im Vorfeld des Referendums riefen Ruch und der Volks-Rat dazu auf, die Frage Gorbaèevs zurückzuweisen und die Frage des Obersten Sowjets zu unterstützen. Die radikalere URP empfahl ihren Anhängern gar, beide Fragen zu verneinen, während die KPU intensiv für die Annahme der Gorbaöev-Frage warb. 69 Bei einer Wahlbeteiligung von 83% antworteten 70,5% auf die Frage Gorbaòevs mit „Ja", wobei in Galizien nur 9,3% bis 18,2% die Frage bejahten. Mit 80,18% fand die Frage des Obersten Sowjets eine um 10% höhere Zustimmung (während die Ergebnisse in Galizien mit 30,1% bis 52,1% wieder stark abwichen) und die Zusatzfrage in Galizien wurde von 88,43% der Wähler bejaht. Nur auf der Krym antworteten mehr Wähler auf die Frage Gorbaéevs mit „Ja" (87,6%) als auf die Frage des Obersten Sowjets (84,7%). 70 Wie sollten nun die Ergebnisse dieser Referenden interpretiert werden? Sollte die Sowjetunion erhalten bleiben? - Schließlich sprach sich eine Mehrheit dafür aus. Sollte die Ukraine auf die volle Wahrung ihrer Souveränität pochen und nur auf dieser Basis Mitglied einer neuen und anderen Union werden? - Auch dafür gab es eine, sogar größere, Mehrheit. Schließlich konnte sich Kravéuk mit der Ansicht durchsetzen, daß es gemäß der Souveränitätserklärung erst der Verabschiedung einer neuen ukrainischen Verfassung bedürfe, bevor die Ukraine an den Unions-Verhandlungen teilnehmen könne. Angesichts eines von der URP angedrohten Generalstreiks und neuer Studenten-Hungerstreiks votierten am 27. Juni 1991 345 Abgeordnete für die Verschiebung einer Beratung des im Entwurf vorliegenden Unions-Vertrages auf die nächste Parlaments-Session im Herbst 1991.71
68 Solchanyk, 1991b, S. 6. 69 Ebd. 70 Kuzio/Wilson, 1994, S. 161, mit den Einzelergebnissen aller Fragen für alle Oblasti; Solchanyk, 1991b, S. 6. 71 Kuzio/Wilson, 1994, S. 162; Solchanyk, 1991d, S. 26. Beim vorangegangenen „9+1 "-Gipfel (Unionsrepubliken plus Sowjetunion) hatte Kravöuk eine Politik des „leeren Stuhls" betrieben, weil er den Entwurf des Unionsvertrages als nicht im Interesse der Ukraine verstand. Er hielt sich lieber zu Gesprächen in Deutschland auf. (Solchanyk, 1992a, S. 36)
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IV. Die Unabhängigkeit der Ukraine 1. Die Unabhängigkeitserklärung nach dem August-Putsch in Moskau Bevor das ukrainische Parlament zu seiner Herbst-Session zusammentrat, versuchte ein „Notstands-Komitee" am 18. August 1991 in Moskau, die Macht an sich zu reißen, um eine Auflösung der Sowjetunion zu verhindern. Stattdessen wurde das Mißlingen des Putsches zum Katalysator der ukrainischen Unabhängigkeitserklärung. A m frühen Morgen des 19. August 1991 erfuhr Leonid Kravcuk, der als Parlamentssprecher das höchste Staatsamt in der Ukraine bekleidete, durch General Varennikov vom Putsch in Moskau. Während Vertreter von Ruch im Laufe des Tages den Putsch klar verurteilten und auch von Kravöuk eine klare Äußerung forderten, legte sich dieser nicht fest. Er zog sich hinter eine Erklärung des Präsidiums zurück, das am gleichen Tag von 18 bis 21 Uhr tagte und danach jedwede Gültigkeit der Entscheidungen des Moskauer „NotstandsKomitees" für die Ukraine zurückwies sowie bestätigte, daß die ukrainische Verfassung weiterhin in Kraft bleibe. Die Nationaldemokraten bezeichneten die Sitzung des Präsidiums, in der Kravöuk die Einberufung einer Sondersitzung des Obersten Sowjets blockiert hatte, als fruchtlos und turbulent. Sie kritisierten die Erklärung, weil sie so spät zustande gekommen und in moderatem Ton gehalten war. 72 Nach einer ganztägigen Sitzung des Präsidiums am 20. August stimmten 15 von 25 Mitgliedern für eine weitere Stellungnahme, die den Aufstand weder guthieß noch verurteilte. Die Souverän-Kommunisten tendierten zwar dazu, die Forderung der Nationaldemokraten nach einer Sondersitzung zu unterstützen, warteten aber wie Kravòuk das Ende des Aufstandes ab. Erst am 21. August, als das Scheitern des Putsches abzusehen war und die nötigen 150 Unterschriften für die Einberufung einer Sondersitzung des Obersten Sowjets schon gesammelt waren, ließ sich Kravöuk auf diese Forderung ein. A m 22. August terminierte das Präsidium die Sondersitzung mit 15 gegen elf Stimmen für den 24. August 1991.73 A m gleichen Tag, dem 22. August, erklärte Kravöuk, daß ihm am Morgen des ersten Putsch-Tages General Varennikov verdeutlicht habe: „Die Macht wurde durch das Notstands-Komitee übernommen, das das Land retten wird. [...] Die Armee hat ihre Befehle und wird handeln. Sollte die Armee die Information haben, daß die Situation die Einführung des Ausnahmezustandes erfordert, wird sie ihn einführen." 74
72 Kuzio/Wilson, 1994, S. 171f.; Solchanyk, 1991e, S. 48f. 73 Kuzio/Wilson, 1994, S. 173. 74 Übersetzung aus dem Englischen nach Solchanyk, 199le, S. 49.
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Daraus interpretierte Kravöuk: „Ich stand nach El'ein auf der schwarzen Liste - die Balten, El'cin und dann ich." 75 und erklärte damit seine zurückhaltenden Äußerungen. Die Kommunisten wahrten ihr Gesicht durch eine rasche Anpassung an die neue Situation. Kravöuk trat am 24. August von allen Ämtern in der KPU zurück, um Forderungen nach seinem Rücktritt als Parlamentspräsident zuvorzukommen, und trat am 27. August aus der Partei aus. Da gleichzeitig zwanzig Abgeordnete aus der „Gruppe der 239„ austraten, verlor diese ihre Mehrheit bei Abstimmungen im Parlament. 76 Auf einer Sitzung des Volks-Rates am 23. August hatten die nationaldemokratischen Abgeordneten erkannt, daß der Putsch eine einzigartige Gelegenheit war, die Unabhängigkeit der Ukraine zu erklären. Levko Luk'janenko wurde beauftragt, eine Erklärung zu entwerfen. Diese wurde noch am gleichen Tag vom Volks-Rat bestätigt und allen Deputierten vor der Sondersitzung des Plenums am 24. August zugeleitet.77 Als der stellvertretende Vorsitzende des Parlamentes, Ivan PljuSö, am 24. August als nächsten Tagesordnungspunkt der Sondersitzung die Unabhängigkeit der Ukraine ausrief, kam es zunächst zu einem Tumult, und Plju§ö ordnete eine zwanzigminütige Pause an. Darauf „stürmten" die Nationaldemokraten in den 3. Stock, die Kommunisten in einen Kino-Saal im Untergeschoß, wo sie sich in sehr emotionaler Athmosphäre berieten. Teilweise hatten die kommunistischen Abgeordneten Angst vor dem ukrainischen Nationalismus und noch mehr davor, außerhalb der Sowjetunion zu leben: „Ich sehe nicht ein, warum wir unabhängig sein sollten. Wir haben nichts Falsches getan." 78 Schließlich aber erklärte der Parteivorsitzende Stanislav Hurenko: „Heute werden wir für die ukrainische Unabhängigkeit stimmen. Wenn wir es nicht tun, sitzen wir in der Scheiße."79 Dies war eine klare Einsicht in die machtpolitischen Notwendigkeiten. Danach stimmten 346 für und vier Abgeordnete gegen die Unabhängigkeit der
75 Solchanyk, 199le, S. 49. 76 Kuzio/Wilson, 1994, S. 173. Nach Solchanyk (199le, S. 49) trat Kravöuk schon am 19.8.1991 aus der KPU aus. 77 The Ukrainian Weekly, Vol. 64, No. 33, 18.8.1996, S. 8. 78 Übersetzung aus dem Englischen nach Vorndran, 1994, S. 3. 79 Ebd.
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Ukraine, ihre Unteilbarkeit und die Unverletzlichkeit ihrer Grenzen. 80 In weiteren Abstimmungen am gleichen Tag wurden der KGB, das Innenministerium, die Medien und die Staatsanwaltschaft vom Einfluß durch die Partei „befreit"; die ukrainischen Einheiten der Sowjetarmee wurden unter ukrainisches Kommando gestellt und ein Verteidigungsministerium gebildet; schließlich wurde eine ukrainische Währung eingeführt. 81 Hurenko hatte es treffend formuliert: Wollten die ukrainischen Kommunisten einer Entmachtung entgehen, so mußten sie sich für die Unabhängigkeit der Ukraine einsetzen, weil sie weder dem innenpolitischen Druck der Nationaldemokraten gewachsen waren noch ein Moskauer Zwangsregime wünschten.82 Kennzeichen des innenpolitischen Drucks waren die Zwangsmaßnahmen gegen die KPU. A m 25. August 1991 fror das Parlament die Guthaben der Partei ein, am 26. August „suspendierte" es die Partei und am 30. August wurde die KPdSU verboten. 83 Schon am 24. August hatte Moroz die Mehrheit der KPU (die „Gruppe der 239,,) im Parlament „aufgelöst" und gleichzeitig die Gründung einer Nachfolge-Partei angekündigt - die spätere Sozialistische Partei der Ukraine (SPU). Am 18. September 1991 wurde ein Organisationskomitee gebildet und schon am 26. Oktober 1991 kamen 287 Delegierte zusammen, um die Partei zu gründen. 84 Moroz verzichtete auf die alten, hochrangigen Kommunisten als Aushängeschilder und setzte auf die mittlere Ebene der KPU als Rückgrat der neuen Partei, die eine „Politik des kleinen Mannes" verfolgen sollte. Auch verzichtete Moroz darauf, den Anspruch zu erheben, die SPU sei die offizielle Nachfolge-Partei der KPU. 8 5 Um in einer erneuten Notsituation handlungsfähiger zu sein, bat Kravöuk nach dem Putsch um das Recht - wie Él'cin in Rußland -, bis zu den Präsidentschaftswahlen als Parlamentspräsident Dekrete erlassen zu können. Trotz seiner zögerlichen Haltung während des Putsches, die auch vom stellvertretenden Parlamentsvorsitzenden Hryn'ov heftig kritisiert wurde, gewährte das Parlament dieses Recht. 86 Da sich nach dem Putsch in Moskau nun auch die Kommunisten für die Unabhängigkeit der Ukraine aussprachen, beschloß das Parlament, die Unabhängigkeit in einem Referendum bestätigen zu lassen und das
Ebd. Nach Kuzio/Wilson (1994, S. 174) stimmte gar nur ein Abgeordneter gegen den Antrag. 81 Kuzio/Wilson, 1994, S. 174. 82 Kuzio, 1991, S. 831. A m 20.12.1991 verfügte Kravéuk per Dekret (in seiner Eigenschaft als Präsident) die Übertragung des KPU-Eigentums an den Staat. (Kuzio/Wilson, 1994, S. 174f.) 8 4 Zu diesem Zeitpunkt gab die SPU an, 60.000 Mitglieder zu haben. (Kuzio/Wilson, 1994, S. 175) 85 Kuzio/Wilson, 1994, S. 176. 86 Solchanyk, 199le, S. 49f.
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Amt eines Präsidenten einzuführen. Das Referendum und die Wahl des ersten ukrainischen Präsidenten wurden für den 1. Dezember 1991 angesetzt.
2. Der Präsidentschaftswahlkampf und das Referendum über die Unabhängigkeit der Ukraine 95 (!) Kandidaten hätten 1991 zum Präsidentschaftswahlkampf antreten wollen, wäre für die Nominierung nicht die Sammlung von 100.000 Unterschriften nötig gewesen. Diese Hürde übersprangen nur sieben Kandidaten. Weil Landwirtschaftsminister Oleksandr Tkaöenko als einer der sieben zugunsten Kravcuks zurücktrat, verblieb Kravöuk als einziger Kandidat der KPU. Der Volks-Rat dagegen konnte sich nicht auf einen gemeinsamen Kandidaten einigen. Für die in ihm vertretene Ukrainische Republikanische Partei (URP) kandidierte Levko Luk'janenko, die Partei der Demokratischen Wiedergeburt sammelte gar für zwei Kandidaten erfolgreich Unterschriften: für Juchnovs'kyj als offiziellen Kandidaten und für den russischsprachigen Volodymyr Hryn'ov als „Joker". Beide Parteien hofften, durch ihre Präsidentschaftskampagne bei der Bevölkerung bekannter zu werden. Offizieller Kandidat für Ruch und aussichtsreichster Gegner Kravöuks war Vjaöeslav Cornovil. Doch führende Persönlichkeiten der Dachorganisation (so Ivan Drac und der Parteivorsitzende der URP, Mychajlo Horyn') unterstützten Luk'janenko. Cornovils Kampagne wurde entschieden geschwächt durch die Entscheidung des „Großen Rates" von Ruch am 1. September 1991, daß alle oblast'-Organisationen selbst entscheiden sollten, welchen Kandidaten sie unterstützten. So entschied sich die Donec'ker Organisation gar für Kravöuk. 87 Da Kravcuk schon vor der Kampagne der beliebteste Politiker in der Ukraine war, 88 er über den Partei- und Staatsapparat die Massenmedien kontrollierte 89 und er sich zudem noch des Programms von Ruch bediente, stand die Präsidentschaftskampagne unter seinem überragenden Einfluß. Als Mitglied der Nomenklatura stand Kravöuk zugleich für Kontinuität und Wandel, auf den vor allem die Ostukrainer ihre Hoffnungen setzen konnten.90 Weil das Referendum über die Unabhängigkeit der Ukraine am gleichen Tag wie die
87 Kuzio/Wilson, S. 185. 88 Solchanyk, 1991c, S. 21. 8 9 Kuzio/Wilson, 1994, S. 186: Kravöuk erhielt 62% der Sendezeit im staatlichen Fernsehen. Kravcuk's Wahlkampf stand unter dem Motto der vier „Ds": derzavnist' (Staatlichkeit), demokratizacija (Demokratisierung), dostatok (Wohlstand), dovira (Vertrauen). (Wolczuk, 1995, S. 19)
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Präsidentschaftswahl (dem 1. Dezember 1991) abgehalten wurde und die Unabhängigkeit das dominierende, wenn nicht gar einzige Wahlkampfthema war, hatte derjenige Kandidat den Vorteil, der schon beim Volk bekannt war und sich nicht über ein Programm profilieren mußte.91 Je näher der Termin der Präsidentschaftswahlen und des Referendums rückte, desto entschiedener lehnte Kravöuk die Erneuerung des Unions-Vertrages ab. So blieb er auch dem Treffen des sowjetischen Staatsrates am 25. November 1991 fern und erklärte, der Vertrag habe keine Zukunft. 92 Als Cornovil während des Wahlkampfs gefragt wurde, was der Unterschied zwischen seinem und dem Programm Kravöuks sei, antwortete er: „Keiner. Mit der Ausnahme, daß mein Programm dreißig Jahre alt ist, Kravòuks drei Wochen." 93 So war es für Kravcuk ein leichtes, schon im ersten Wahlgang das notwendige Quorum von mehr als 50% der abgegebenen Stimmen zu erhalten. Bei einer Wahlbeteiligung von 84,2% wählten 61,59% der Wähler Kravòuk, 23,3% der Stimmen gingen an Cornovil. Alle anderen Kandidaten bekamen weniger als 5% der Stimmen. 94 Außer in Galizien gewann Kravéuk in fast allen Oblasti mehr als die Hälfte der Stimmen. Die besten Ergebnisse erzielte er in den ländlichen Gebieten der Zentral-Ukraine. In den oblast'-Zentren, den großen Städten und Galizien erhielten seine Gegner größere Stimmenanteile. Cornovil erreichte in Galizien mit 57 bis 75% seine besten Ergebnisse, in der restlichen West-Ukraine und in Kyjiv erhielt er 25 bis 42%, in den anderen Oblasti 10 bis 20%. Bemerkenswert waren auch die Ergebnisse von Hryn'ov, der in den Oblasti Charkiv, Donec'k, Odesa und auf der Krym 8 bis 11% der Stimmen gewinnen konnte. 95 Erneut war den Nationaldemokraten die Machtübernahme mißlungen,96 wenn sie auch mit der überwältigenden Zustimmung zur Unabhängigkeit der Ukraine ihr primäres politisches Ziel erreichten. Dazu trug auch die kommunistische Nomenklatura bei, die dies mit wirtschaftlichen Versprechungen begründete und die Massenmedien zur Verbreitung dieser Meinung nutzen konnte. 97 Dabei lag die Zustimmungsrate im Westen (95%) und der ZentralUkraine (93%) nicht wesentlich über den Werten im Süden (90%) und Osten
91 Potychnyj, 1991a, S. 135. 92 Solchanyk, 1992a, S. 37. 93 Übersetzung aus dem Englischen nach Kuzio/Wilson, 1994, S. 62. 94 Eine Tabelle mit den Ergebnissen der Kandidaten für alle Oblasti findet sich bei Kuzio/Wilson, 1994, S. 187. 95 Kuzio/Wilson, 1994, S. 186-188. 96 w i e bei den Parlamentswahlen 1990 konnten sie nur etwa 30% der Wähler für sich mobilisieren (Kuzio, 1994, S. 828). 97 CSCE, 1994b, S. 5; Wasylyk, 1994a, S. 44.
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(85%). 98 Allein auf der Krym, einschließlich Sevastopol', befürworteten lediglich 54% der Wähler die Unabhängigkeit.99 Das Versprechen größeren Wohlstands in einer unabhängigen Ukraine, welches das Wahlverhalten besonders in der Ostukraine bestimmt hatte, wurde aber in den folgenden Jahren enttäuscht, so daß sich in späteren Meinungsumfragen ein weit geringerer Teil der Bevölkerung in der Ost-Ukraine für die Unabhängigkeit aussprach. 100 Nach dem Referendum war die Auflösung der Sowjetunion nicht mehr aufzuhalten. Als eines der ersten Länder erkannte Rußland die Ukraine als souveränen Staat an. Statt einer erneuerten Union wurde in Minsk am 7./8. Dezember 1991 die Gemeinschaft Unabhängiger Staaten unter Beteiligung von Rußland, der Ukraine und Weißrußland gegründet. Dieser Union sollten auch andere Staaten beitreten können. 101 Ebenfalls im Dezember 1991 wurde das ukrainische Parlament, der Oberste Sowjet, von russisch: Verchovnyj Sovet, in ukrainisch: Verchovna Rada, umbenannt.102
3. Die Neu-Formierung der Fraktionen im Parlament Die fortschreitende Differenzierung des politischen Spektrums vom Herbst 1991 bis zum Sommer 1992 führte zur Bildung neuer Fraktionen im Parlament. Nach der Parlamentswahl im März 1990 hatte eine Welle von Parteigründungen stattgefunden. Die Parteien wollten sich nun durch „ihre" Abgeordneten profilieren und bildeten neue Fraktionen. Weil die Abgeordneten aber nicht als Parteimitglieder gewählt wurden und ihre Karriere nicht oder nur unwesentlich mit der Partei verknüpft war, war die Disziplin der Fraktionen schwach. Nach dem Machtmonopol der KP sahen die Abgeordneten vielmehr eine Tugend darin, sich keiner Parteidisziplin unterzuordnen, sondern die dezidiert eigene Meinung zu vertreten: „... Abgeordnete 'vergessen' schlichtweg, daß sie sich einer Partei zurechnen, wenn sie im Parlament oder auf Versammlungen sprechen, oder wenn sie Artikel für die Zeitungen schreiben." 103 So kam es vor, daß sogar die Fraktionsführer wiederholt entgegen den zuvor gefaßten Beschlüssen der Fraktion abstimmten.104 Regelmäßig traf sich nur die Fraktion der Partei der Demokratischen Wiedergeburt der Ukraine (PDWU) 98 Martyniuk, 1992, S. 65. 99 Potichnyi, 1994, S. 20. 100 W i t t k o w s k i 1995a, S. 4. 101 102 103 104
Solchanyk, 1992a, S. 36 u. 38. NDI, 1994, S. 1. Übersetzung aus dem Englischen nach Kuzio, 1992, S. 14f. Kuzio, 1994, S. 826f.
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vor wichtigen Entscheidungen des Parlamentes, um ihren Abgeordneten Stimmempfehlungen mitzugeben. 105 Folgende Blöcke entwickelten sich im Laufe des Jahres 1992: Die extreme Rechte (mit der Ukrainischen Konservativ-Republikanischen Partei und der Ukrainischen Demokratischen Bauernpartei) war nur mit drei Abgeordneten vertreten und somit so gut wie ohne Einfluß. Der Volks-Rat spaltete sich in einen nationalistischen Flügel, dem die Ukrainischen Republikanische Partei und die Demokratische Partei der Ukraine angehörten, und einen nationaldemokratischen Flügel, den die Fraktion Ruch bildete. Die ehemals 110 bis 130 Mitglieder des Volks-Rates fanden keine gemeinsame Haltung zu der Frage, ob Kravöuk als Garant der Unabhängigkeit unterstützt werden solle - dies die Position der Nationalisten - oder ob eine Kooperation mit den Reform-Kommunisten weitere Fortschritte im Prozeß der Demokratisierung zumindest verlangsamten, wenn nicht verhinderten und deswegen eine Kooperation abzulehnen sei - so der Standpunkt Cornovils. 106 Die unterschiedlichen Ansichten führten die Bewegung Ruch auf dem 3. Kongreß Anfang März 1992 an den Rand einer Spaltung. Während die Position Cornovils auf dem Kongreß von der Mehrzahl der Delegierten unterstützt wurde, waren fast alle der Bewegung nahestehenden Abgeordneten und die Führung der Bewegung (u.a. Horyn' und Draö) anderer Meinung. Der Kongreß wählte daraufhin ein dreiköpfiges Kollegium als neue Führung, dem sowohl Cornovil als auch Horyn' und Draö angehörten. Da Horyn' aber schon im Mai zurücktrat, um Levko Luk'janenko als Führer der URP zu beerben, und Draò sich intensiv um die Beziehungen zu den Ukrainern im Ausland kümmerte, gewann Cornovil bald den entscheidenden Einfluß in der Bewegung. A m 2. August 1992 zogen sich die URP und die DPU aus der Bewegung Ruch zurück und schlossen sich zum „Kongreß der Nationaldemokratischen Kräfte" zusammen, um gemeinsam Präsident Kravöuk zu unterstützen. Danach konnte Cornovil auf dem 4. Kongreß von Ruch im Dezember 1992 durchsetzen, daß sich die Bewegung in eine Partei umwandelte, und wurde daraufhin als alleiniger Führer der Partei mit überwältigender Mehrheit gewählt. 107 Fortan zählten sich 42 Abgeordnete zu den Nationalisten, 46 zu Ruch. 108 Kravöuk beteiligte die Nationalisten und Ruch an der Macht und konnte sie so in ihrer Funktion als Opposition neutralisieren. Einige Oppositionsführer erhielten Ministerposten, die politisch von geringer Bedeutung waren (Umwelt, Kultur, Ausbildung) oder darauf abzielten, die Unterstützung der Emigranten 105 106 107 108
Kuzio, 1992, S. 14. NDI, S. 3. Solchanyk/Kuzio, 1993, S. 14f. ο . V., 1993, S. 7.
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zu gewinnen (Levko Luk'janenko wurde zum Botschafter in Kanada ernannt). Die Ernennung des Reformers Volodymyr Lanovyj zum Wirtschaftsminister diente weniger dazu, die Reformen voranzutreiben, als Kravòuks mangelnde wirtschaftliche Reformbereitschaft zu verschleiern, da Lanovyj im Kabinett keine Unterstützung besaß. Gleichzeitig wurden durch diese Ernennungen den Oppositionsparteien die fähigsten Leute entzogen.109 Nach dem Zerfall des Volks-Rates spielte Parlamentspräsident Plju§£ die beiden national orientierten Fraktionen gegeneinander aus, so daß sie sich nicht mehr gegen die Ex-Kommunisten durchsetzen konnten. Zudem verlor die Opposition durch die Spaltung die politische Initiative und konnte die Öffentlichkeit nicht mehr wie zuvor mobilisieren, was bisher die einzige Chance gewesen war, die numerische Überlegenheit der Ex-Kommunisten zu umgehen.110 Aber auch die „Gruppe der 239", die von Moroz nach dem Putsch offiziell aufgelöst worden war, fand nach dem Sieg Kravcuks nicht mehr zusammen. Preuß schreibt sogar: „Bis zum Putsch hatten die Kommunisten die Mehrheit im Parlament. Jetzt sitzen sie geduckt in ihren Sitzen und bestätigen per Knopfdruck jede Vereinbarung, die Krawtschuk mit der Opposition trifft." 111 Dies galt aber nur für Abstimmungen über Maßnahmen zur Staatsbildung, etwa die Einrichtung der ukrainischen Armee oder die Einführung neuer Staatssymbole, nicht aber für Entscheidungen über die Wirtschaftsreformen, die konkrete Interessen der Ex-Kommunisten berührten und deshalb auf den Sommer 1992 (und dann immer wieder) verschoben wurden. Die meisten „neuen" Staatsorgane wurden lediglich umbenannt, während in ihnen das alte Personal weiterhin bestimmend blieb. Der Parteiapparat konnte und sollte nicht durch eine professionelle Bürokratie ersetzt werden. 112 An die Stelle der „Gruppe 239" traten drei Gruppierungen: eine zentristische Gruppe mit etwa 50 bis 70 Abgeordneten, unter denen die 37 Anhänger der PDWU den größten Einfluß hatten; weiter eine Gruppe von loyalen Anhängern Kravcuks, die etwa 80-110 Abgeordnete umfaßte. Diese bildete den Kern der „Partei der Macht", die sich bewußt nicht als Partei etablierte, um schlechter angreifbar zu sein. 113 Beide Gruppen wurden zur Richtung der Zentristen gerechnet. Eine dritte Gruppe bildete sich um die Sozialistische Partei der Ukraine, die mit 38 Abgeordneten im Parlament vertreten war und zusammen
109 Kuzio, 1994, S. 837f. 110 Danylo Yanevsky, Parliamentary Factions in Ukraine. Part 1 : A Historical Perspective, in: EE, Vol. 1, No. 31, 29.8.1994, S. 15; NDI, 1994, S. 3. H l Preuß, 1991, S. 182. 112 Kuzio, 1992, S. 15; Kuzio/Wilson, 1994, S. 162 u. 178f. 113 NDI, 1994, S. 3.
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mit den Mitgliedern und Anhängern der „Agrarier" auf etwa 80-90 Stimmen zählen konnte. 114
4. Verfassungsberatungen und -änderungen 1991/92 Die Einfuhrung des Präsidentschaftsamtes zog weitere Änderungen in der Organisation des Staatsapparates nach sich. Per Dekret vom 12. Dezember 1991 ernannte sich Kravcuk in seiner Eigenschaft als Präsident zum obersten Befehlshaber der Streitkräfte. 115 Ebenfalls per Dekret richtete Kravòuk am 25. Januar 1992 einen Staatsrat mit vier Kollegien für Wirtschaft, Wissenschaft und Technik, Soziales und Rechtswesen sowie für Ausbildung ein. Dieser Staatsrat ging aus einem „runden Tisch" hervor, den Kravöuk früher im Januar unter Beteiligung von 40 Parteien und Bewegungen (darunter auch der SPU) einberufen hatte. Da die meisten dieser Parteien und Bewegungen nicht im Parlament vertreten waren, wünschten sie die Institutionalisierung des „runden Tisches". 116 Der Staatsrat erließ zwar Verordnungen, was durch die Verfassung in keiner Weise gedeckt war, konnte aber keinen wirklichen Einfluß, etwa auf die Gestaltung wirtschaftlicher Reformen, ausüben. Das Gremium stand der linken Mehrheit im Parlament und dem Massenmedienmonopol der Nomenklatura machtlos gegenüber. 117 Als Kravöuk im November 1992 ein Dekret über die Abgrenzung der legislativen von der exekutiven Gewalt vorlegte, das die Kompetenzen des Parlamentes beschnitt, löste das Parlament in einer Gegenreaktion den Staatsrat wieder auf. 118 Die Macht lag also weiterhin bei der linken Mehrheit des Parlamentes. Im März 1992 billigte das Parlament ein „Gesetz über die Stellvertreter des Präsidenten" in den Regionen (Oblasti), Städten und Gemeinden, die exekutive Funktionen übernahmen. Die Entscheidungen der präsidentiellen Stellvertreter waren bindend für die lokale Verwaltung, Betriebe, Organisationen, Institutionen und bürgerliche Vereinigungen. Sie waren berechtigt, jeden seines öffentlichen Amtes zu entlassen, der gegen die Verfassung oder die Dekrete des Präsidenten verstoßen hatte. Die Stellvertreter waren nur dem übergeordneten Stellvertreter oder dem Präsidenten direkt verantwortlich und hatten so mindestens
114 ο . V., 1993, S. 7. 115 Kuzio/Wilson, 1994, S. 181. 116 The Economist Intelligence Unit, Country Report Ukraine, 1992, Nr. 2, S. 52. Kravöuk ließ sich die Chance nicht entgehen, es allen recht machen zu können, die Parteiführer mit Posten zu versorgen und gleichzeitig die Illusion der Beteiligung an der Regierung zu erwecken, die den Machthunger der neuen Führer der Parteien und Bewegungen stillen konnte. 117 Mildner, 1994, S. 26. 118 Der Spiegel, Nr. 46, 1992, S. 217.
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de jure eine erhebliche Machtfülle. Die Nationalisten und Nationaldemokraten hatten diesem Gesetz zugestimmt, um die noch kommunistisch dominierten Räte und deren Exekutiv-Komitees zu umgehen und die Reformen voranzutreiben. Sie mußten jedoch bald feststellen, daß die Personalpolitik Kravöuks nicht ihren Vorstellungen entsprach. Von den 26 Stellvertretern des Präsidenten auf oblast'-Ebene waren zwölf frühere Vorsitzende von oblast'-Sowjets oder Exekutivkomitees, fünf stellvertretende oblast'-Vorsitzende und drei Vorsitzende von Stadt-Sowjets oder Stadtverwaltungen. Auf Stadt- und GemeindeEbene ernannte Kravöuk 482 weitere Stellvertreter. Durch die Regelung hatte sich wenig bis nichts an der Herrschaft der Ex-Kommunisten geändert: „Mr. Kravchuk is replacing elected regional councils with old communist apparatchiks. They have a new title ('prefects', not party secretaries) and a new allegiance (the president, not the politburo), but the faces are almost unchanged." 119 Des weiteren wurde 1992 ein Vorschlag zur Einrichtung eines Verfassungsgerichtes vorgelegt, der aber nicht verabschiedet wurde, weil sich die Fraktionen im Parlament nicht darauf einigen konnten, wer Mitglied des Verfassungsgerichtes werden sollte. 120 Die geschilderten Erweiterungen der präsidentiellen Macht de jure standen im Widerspruch zur Verfassungswirklichkeit. Präsident Kravöuk, der im Sommer 1991 eine Vermittlerrolle zwischen der KPU und der Opposition eingenommen hatte und so die Präsidentschaftswahlen gewinnen konnte, behielt diese Rolle auch in der Ausübung des Präsidentenamtes bei - um den Preis, auf ein eigenes politisches Programm zu verzichten. Er bemühte sich um den Ausbau seiner verfassungsmäßigen Rechte (ohne dabei das Verhältnis der Exekutive zur Legislative in klarer Weise regeln zu können), verzichtete aber darauf, eine neue Regierung an die Stelle der von Premierminister Fokin geführten zu setzen. Kravöuk übte sein Initiativrecht nur in geringem Umfang aus. So blieb die Regierung de facto ein Kind des Parlaments. Aus der Mitte des Parlamentes gingen auch die meisten Gesetzgebungsvorschläge hervor. 121
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Kuzio, 1992, S. 20. Später wurden die Stellvertreter durch Beschluß des Parlamentes der Regierung unterstellt, die vom Parlament abhängig war, so daß Kravöuks Einfluß auf die Durchsetzung seiner Dekrete verringert wurde. (Mildner, 1994, S. 26) 1 2 0 IntelNews, Vol. IV, No. 179, 30.6.1994, S. 6, mit ausführlicher Darstellung des Entwurfs. 121 Markov, 1993, S. 32-34.
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5. Verpaßte Chancen Im Sommer 1992 unternahmen Ruch und die „Neue Ukraine" zusammen mit zwanzig anderen Parteien den Versuch, die politische Initiative wiederzugewinnen, die sie Ende 1991 an die linke Mehrheit im Parlament verloren hatte. Mittels eines Referendums wollten sie Neuwahlen durchzusetzen, um selbst den politischen Kurs des Landes bestimmen zu können. Zwar hatte das Parlament nach den Streiks im Oktober 1990 beschlossen, 1991 ein solches Referendum durchzufuhren, und auch KravSuk kündigte in seiner Antrittsrede am 5. Dezember 1991 erneut an, das Parlament zur Verabschiedung eines neuen Mehr-Parteien-Wahlgesetzes zu drängen. Aber nichts geschah. Warum sollte auch die linke Mehrheit des Parlamentes ihre Selbstauflösung beschliessen, wenn die Aussicht auf Wiederwahl am ungünstigsten war? Lieber stimmten sie der Einführung nationaler Symbole zu, als ihre Ämter und den damit verbundenen wirtschaftlichen Einfluß aufzugeben. Weil die Aufbruchsstimmung unter den Ukrainern nachgelassen hatte und sie seit Anfang des Jahres 1992 mit ständig schlechteren Lebensbedingungen zu kämpfen hatten (für die sie die Reformer verantwortlich machten), gelang es Ruch und der „Neuen Ukraine" nur, 1.175.000 Unterschriften statt der für das Referendum notwendigen drei Millionen Unterschriften zu sammeln. Damit war der letzte Versuch der Nationaldemokraten, Neuwahlen zu erzwingen, gescheitert. Die beste Gelegenheit dazu war schon im Oktober 1990 verpaßt worden. 122
V. Von Fokin zu Kucma: Stabwechsel der Premierminister 123 Wegen der immer wieder vertagten Wirtschaftsreformen und der schlechten wirtschaftlichen Lage kritisierten Ruch, URP, DPU und die „Neue Ukraine" wiederholt die Regierung Fokin und auch den Kurs Kravöuks. Dies führte am 3. Juli 1992 zu einer scharfen parlamentarischen Auseinandersetzung. Die Parlamentarier setzten die Vertrauensfrage auf die Tagesordnung des Parlamentes und zwangen Fokin zu einer Stellungnahme. Fokin stellte den Abgeordneten aber lediglich ein Ultimatum, entweder die Politik der Regierung zu akzeptieren oder selbst die Verantwortung zu übernehmen. Nach der Rede verließen bis auf Lanovyj und Morozov 124 alle Minister demonstrativ das Plenum. Das Parlament verurteilte die Rede Fokins und das Ultimatum am 7. Juli 1992, dem letzten Sitzungstag der fünften Session, als Zeichen mangelnder Bereitschaft 122 The Economist Intelligence Unit, 1992a, S. 74 u. 77; Solchanyk/Kuzio, 1993, S. 14; Wilson, 1994, S. 10. 123 Die offizielle Bezeichnung des Amtes war „Vorsitzender des Ministerrates". 124 Zwei den Nationaldemokraten verbundene Minister: Lanovyj für Wirtschaft, Morozov für Verteidigung.
V. Von Fokin zu Kucma: Stabwechsel der Premierminister
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zur Kooperation und beauftragte Kravöuk, die Zusammensetzung der Regierung zu überprüfen. Daraufhin ersetzte Kravöuk den Wirtschaftsminister Lanovyj, der der Führer der Neuen Ukraine war, durch Valentyn Symonenko. Dann ging das Parlament in die Sommerpause. Nach Wiederaufnahme der Geschäfte am 15. September 1992 zeigte sich Symonenko unfähig, ein Wirtschaftsprogramm vorzulegen. Auch Premierminister Fokin erschien nicht vor dem Parlament, sondern ließ den Parlamentssprecher PljuSö verlesen, daß das Reformpaket dem Plenum am 28. September vorgelegt werde. Dazu kam es nicht mehr. 125 Nachdem der Entwurf Fokins Reformpaketes im Wirtschaftsausschuß kritisiert wurde, gab Kravöuk am 30. September 1992 in einer Rede vor dem Parlament den Rücktritt des Premierministers bekannt - damit der Rest des Kabinettes im Amt bleiben konnte. Das Parlament war mit dem Bauernopfer nicht zufrieden und stimmte mit 295 gegen 6 Stimmen für den Rücktritt des gesamten Kabinettes. 126 Damit verlor Kravöuk nicht nur seinen Vertrauten Fokin, sondern auch noch das Kabinett. Wie wenig Einfluß Kravöuk zu dieser Zeit im Parlament hatte, zeigt die Tatsache, daß der nach dem Rücktritt Fokins zum Interims-Premierminister ernannte Symonenko nicht zum Premierminister gewählt wurde. 127 Neuer Premierminister wurde stattdessen Leonid Kuöma, der spätere Präsident der Ukraine. Dieser war bis dato so unbekannt und wenig profiliert, daß keine Kritik gegen ihn vorgebracht werden konnte. Der Kandidat des Parlamentes, der für einen Machtzuwachs der Industriellen gegenüber den Bürokraten stand, erhielt bei seiner Wahl 316 Stimmen. Gegen ihn votierten 23 Abgeordnete. 128 In seiner Antrittsrede und in der Auswahl seines Kabinetts zeigte sich Kucma als entschiedener Reformer: „Meine Aufgabe ist es, das Fundament irreversibler Reformen zu legen. [...] Es gibt keinen anderen Weg als radikale Reformen." 129 In seiner Rede forderte er eine Stärkung der Exekutive, um die Reformprogramme auch umsetzen zu können, wobei er mit den kleinen und mittleren Unternehmen beginnen und enge wirtschaftliche Beziehungen zu Rußland aufrecht erhalten wollte. Die Nuklear-, Energie- und Militärindustrie sollten im
125 Solchanyk, 1992b, S. 1-3. 126 The Economist Intelligence Unit, Country Report Ukraine, 1992, No. 2, S. 44; NDI, 1994, S. 5. 127 Solchanyk, 1992b, S. 4. 128 Ebd., S. 5; The Economist Intelligence Unit, 1992d, S. 44f.; ο. V , 1993, S. 13. 129 Aus dem Englischen nach Mildner, 1994, S. 29.
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Staatsbesitz bleiben. 130 A m 18. November 1992 erhielt er vom Parlament für ein halbes Jahr Sondervollmachten zur Durchführung von Reformen, was gleichzeitig eine weitere Schwächung der Position Kravöuks bedeutete. Im Rahmen seiner Sondervollmachten konnte Kuöma Dekrete für Wirtschaftsreformen erlassen, die das Parlament nur innerhalb von 10 Tagen aufheben konnte. 131 In sein reformorientiertes Kabinett berief Kuòma Vertreter der Nationaldemokraten, 132 der Industrie 133 und der Agrar-Lobby. 134 Kuöma beschränkte sich darauf, die Spitze des Kabinettes auszuwechseln. 21 Minister blieben im Amt, darunter der Außen- und der Verteidigungsminister. Im Parlament wurde das Kabinett mit 296 gegen 62 Stimmen bestätigt.135 Die konservativen Parlamentarier verfolgten die Taktik, die Ernennung der Reformer nicht zu blockieren, um sie später verantwortlich machen zu können, gleichzeitig aber die Umsetzung des Reformprogramms und die damit verbundenen Preisliberalisierung zu verhindern. Kuömas Programm wurde von zwei Seiten unterlaufen: Die Wirtschaftsreformen wurden von den Ex-Kommunisten blockiert, die Versuche zur Erhaltung der wirtschaftlichen Beziehungen zur Rußland von den Nationalisten. Sein vielseitiger Ansatz und sein direkter Stil erhöhten zwar Kuòmas Ansehen in der Bevölkerung, aber seine Kritik an den Dogmen der Rechten und Linken führte zu weiterem Verlust von Unterstützung durch die Fraktionen. Auch der Präsident selbst, der den Popularitätsgewinn des Ministerpräsidenten mit Argusaugen betrachtete, fiel Kuöma mehrere Male in den Rücken und sprach sich wiederholt gegen die Privatisierung von Betrieben und Land aus. Dem wachsenden Widerstand im Parlament mußte Kuöma durch den Rücktritt des Ersten Vize-Premiers Juchnovs'kyj im März 1993 Tribut zollen; im April mußte auch Pynzenyk in seiner Funktion als Wirtschaftsminister zurücktreten (als Vize-Premier blieb er noch bis zum August 1993 im Amt). Obwohl diese Minister nicht für die schleppenden Reformen verantwortlich waren, führte die Bevölkerung die schlechte Wirtschaftslage auf die unzureichende Amtsführung der Reformer zurück. 136
130 Solchanyk, 1992b, S. 5. 131 Solchanyk, 1994b, S. 38. 132 ihor Juchnovs'kyj - früherer Führer des Volks-Rates - wurde Erster VizePremierminister; Viktor Pynzenyk wurde Vize-Premier für Reformen und Wirtschaftsminister. (Wilson, 1994, S. 6f.) 133 u.a. Vasyl' Jevtuchov, Vorsitzender der „Ukrainischen Union der Industriellen und Unternehmer". Später wurde Kucma selbst Vorsitzender der Union. (Ebd.) 134 Vize-Premierminister Volodymyr Dem'janov. (Ebd.) 135 Solchanyk, 1992b, S. 4; The Economist Intelligence Unit, Country Report Ukraine, 1992, No. 2, S. 45. 136 Solchanyk, 1994b, S. 38; Wilson, 1994, S. 7.
V. Von Fokin zu Kuöma: Stabwechsel der Premierminister
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Der Linken gelang es nicht nur, die Wirtschaftsreformen aufzuhalten, sondern sie erfuhr durch die Neugründung der KPU, die vom Donbas ihren Ausgang nahm, auch außerparlamentarisch eine Stärkung. Im Januar 1993 fand zunächst der 28. Kongreß der Komsomolzen statt. Im März und Juni 1993 gründeten 529 Delegierte aus allen Oblasti die KPU neu und wählten Petro Symonenko zum Vorsitzenden. Die KPU erklärte sich zur Rechtsnachfolgerin des ukrainischen Teils der KPdSU, verzichtete aber bis zur Registrierung durch das Justizministerium darauf, den 29. Kongreß abzuhalten.137 Mit der Wiederbelebung der KPU sah sich Cornovil zu einer politischen Kehrtwende gezwungen und erklärte am 27. Januar 1993, daß Ruch den bislang kritisierten Kravöuk unterstütze. Zusammen mit der URP und der DPU trat Ruch der , Anti-kommunistischen und anti-imperialen Front der Ukraine" bei. 138 Im Mai 1993 kam es zur offenen Konfrontation zwischen der Regierung Kuöma auf der einen und dem Parlament wie dem Präsidenten auf der anderen Seite. Kucma wurde die Verlängerung der Sondervollmachten für die Fortsetzung und Beschleunigung des Reformkurses sowie die Bestätigung einer straffen Geld- und Finanzpolitik verweigert. Das Parlament setzte im April beschlossene Dekrete der Regierung außer Kraft. Ein am 20. Mai 1993 eingereichtes Rücktrittsgesuch des Premierministers akzeptierte das Parlament jedoch nicht. 139 Als Präsident Kravöuk am 16. Juni 1993 per Dekret die Regierung seiner eigenen Kontrolle unterstellte, bot Kuöma zum zweiten Mal seinen Rücktritt an, der aber vom Parlament erneut abgelehnt wurde. Unter diesen Umständen sah sich Kravöuk gezwungen, sein Dekret zu annulieren. 140 Die am 7. Juni 1993 beginnenden mehrwöchigen Massen-Streiks im Donbas verschärften die politische Lage zusätzlich. Diesmal forderten die Bergleute nicht nur Lohnerhöhungen und Steuersenkungen, sondern auch die Ablösung der Regierung und Neuwahlen. Als die Einbeziehung von zwei Donec'ker Politikern in die Regierung, Jefim Svjahilskyj (als ersten stellvertretenden Premierminister) und Valentyn Landyk (als Vize-Premierminister für Außenwirtschaftspolitik) die Streiks nicht zum Ende bringen konnte, setzte das Parlament gemäß den Forderungen der Streikenden für den 26. September ein Referendum an, in dem nach dem Vertrauen der Bevölkerung in das Parlament und in den Präsidenten gefragt werden sollte. 141 Im Juli schließlich verließ Viktor Pynzenyk als einer der letzten reformorientierten Politiker das Kabinett, weil das Parlament jegliche Reformen blockiert hatte. Am 21. September 1993 nahm
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Wilson, 1993, S. 10; ders., 1994, S. 13. Solchanyk/Kuzio, 1993, S. 10. Mildner, 1994, S. 30. Mihalisko, 1993, S. 58.
141 Ebd., S. 54.
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das Parlament auch den Rücktritt Kuömas an. 142 Weil die Abgeordneten zurecht - ein desolates Ergebnis im Referendum erwarteten, nahmen sie das Ergebnis vorweg 143 und beschlossen am 24. September 1993 mit 243 gegen 39 Stimmen die Durchfuhrung von Neuwahlen fur das Parlament (am 27. März 1994) und das Amt des Präsidenten (am 26. Juni 1994). Dadurch gewannen die Abgeordneten Zeit, um ein neues Wahlgesetz auszuarbeiten. 144 Für viele Beobachter überraschend übernahm Kravöuk im September 1993 selbst die Führung der Regierung und besetzte den Posten des Premierministers nicht neu. Jefim Svjagilskyj, ein Planwirtschaftler der alten Schule, sollte nur als „amtierender" Premier dienen, ohne vom Parlament bestätigt zu werden. 145 Damit wollte Kravöuk die politische Initiative zurückgewinnen und sein im Vergleich zu Kuéma ramponiertes Ansehen aufpolieren. Seine Wirtschafts„Reformen" bestanden allerdings in der Wiedereinführung planwirtschaftlicher Elemente und erweiterter Preiskontrollen. 146 Wegen des katastrophalen Zustands der ukrainischen Wirtschaft ließ sich die Lage selbst kurzfristig durch solche Maßnahmen nicht mehr „stabilisieren". Der erhoffte Popularitätsgewinn trat nicht ein. Für eine zweite Amtszeit sprachen ihm die Wähler im Juni 1994 das Vertrauen nicht mehr aus.
VI. „Konzept ohne Macht" und „Macht ohne Konzept" Meiner Meinung nach beeinflußten in der Hauptsache zwei Faktoren die Staatswerdung der Ukraine während der Amtszeit Kravòuks. Der erste Faktor war die Entwicklung eines Konzeptes der ukrainischen Nation durch die Bewegung Ruch und den Präsidenten Kravöuk. Das Konzept der Nation wirkte als ideeller Faktor und beeinflußte die politischen Ereignisse, ohne gleichzeitig auf institutionell gefaßte Macht rekurrieren zu müssen. Dies war das „Konzept
142 Martyniuk, 1993, S. 36. 143 Bei einer (nicht repräsentativen) Umfrage in Kyjiv am 5.10.1993 wollten nur 7% dem Parlament das Vertrauen aussprechen, aber 81% ein neues wählen - obwohl sich nur 25% der Befragten von einem neuen Parlament eine Verbesserung der Lage erhofften, während 16% glaubten, die Lage würde sich durch ein neues Parlament noch verschlechtern. (Wasylyk, 1994b, S. 13) 144 Arel/Wilson, 1994b, S. 11; Bojcun, 1995, S. 230; Wilson, 1994, S. 8. 145 Wilson, 1994, S. 8; bei Wilson (1994, S. 9) findet sich eine vollständige Übersicht über die Zusammensetzung des Kabinetts; IntelNews, Vol. IV, No. 130, 12.5.1994, S. 1. 146 Markov, 1993, S. 35.
VI. „Konzept ohne Macht" und „Macht ohne Konzept"
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ohne Macht", der dynamische Faktor der Staatsbildung, der vor allem auf die Bildung der neuen Elemente der Staatlichkeit 147 Einfluß nahm. Der zweite Faktor waren die im Frühjahr 1990 auf verschiedenen Ebenen in die Institutionen gewählten Mitglieder der Nomenklatura (und im Westen der Ukraine die Mitglieder der Bewegung Ruch). Diese sahen sich überraschend vor die Aufgabe gestellt, aus eigener Initiative ein Land regieren zu sollen, ohne darauf vorbereitet zu sein. Dies war die reale „Macht ohne Konzept"; konzeptlos deshalb, weil mit dem Legitimationsverlust des Sozialismus keine richtungweisenden Normen mehr bestanden und das Verständnis von Demokratie und Marktwirtschaft noch nicht ausgebildet genug war, um konsensstiftend und handlungsleitend wirken zu können. Demokratie und Marktwirtschaft dienten in diesem ideologischen Vakuum als Etiketten für einen weiten Bereich von Vorstellungen. 148 Diese Orientierungslosigkeit war auch ein Merkmal der nationalen Führungsschicht, die es deswegen nicht vermochte, kohärente nationale Politiken zu entwerfen, geschweige denn durchzusetzen. Auf diesem Hintergrund ist es verständlich, daß die Sicht der Herrschenden (auf welcher Ebene und auf welche Art auch immer sie Herrschaft ausübten) auf ihren persönlichen Herrschaftsbereich beschränkt blieb und Wechselwirkungen mit anderen Herrschaftsbereichen weniger Beachtung fanden als in ausdifferenzierten institutionellen Systemen. Bestehende Institutionen und die Nomenklatura waren der konservative Faktor der Staatsbildung, das „Erbe" und die Grundlage, auf der die neue Ukraine gebaut werden mußte, weil es keine andere Grundlage gab. Die Ukraine erbte 1991 die Grenzen der Ukrainischen Sozialistischen Sowjetrepublik, die nationale Führungsschicht der Kommunistischen Partei und politische Institutionen, in denen bisher der Wille der Partei proklamiert wurde. Institutionen und Akteure waren nicht darauf ausgerichtet, selbst Entscheidungen zu treffen. Was die Ukraine von der Sowjetunion erbte, war die Hülle eines Staates, aber keine wirkliche politische Klasse, keine funktionsfähige Regierung und Staatsverwaltung und keine kohärente Gesellschaft: „Soviet rule, for all its vicissitudes, did endow Ukraine with a linguistically coherent population that resembled a nation, a set of political activists who resembled an elite, and an administration that resembled a state." 149 Überdies hatte die Ukraine, mindestens in den Augen des „großen Bruders" Rußland, die Berechtigung ihrer eigenständigen Existenz erst noch nachzuweisen. Warum sollte die ukrainische eine von der russischen unterschiedene
147 So zum Beispiel die Präsidialverwaltung, das Militär und Außenministerium unter eigener Flagge, die Nationalgarde, u.a. 148 Motyl, 1993, S. 77f. 149 Motyl, 1995, S. 105.
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Nation sein? Ruch war eine Bewegung zur Unterstützung der perestrojka gewesen, keine genuine Unabhängigkeitsbewegung und sie war nicht stark genug gewesen, die Sezession der Ukraine v o n der Sowjetunion zu erzwingen. 1 5 0 I n der Ukraine hatte weder eine Volksrevolution noch eine verhandelte Übernahme der Staatsgewalt stattgefunden. 151 Damit war die Ukraine vor die A u f gabe gestellt, eine N a t i o n zu schaffen, die den schon existierenden, wenn auch hohlen Staat legitimieren konnte. Aus mehreren Gründen sah Präsident Kravöuk i n der Bildung der Nation seine vorrangige Aufgabe. Kravòuks berufliche Laufbahn als Ideologe und K o m m u n i k a t o r befähigte ihn, eine neue politische Sprache zu entwickeln. Das A m t des Präsidenten erlaubte es ihm, dem neuen Konzept der Nation Autorität zu verleihen. A l s ehemaliger Chefideologe der K P U kannte Kravòuk die Argumente der Kommunisten u n d der Nationalisten gleich g u t . 1 5 2 Als die politischen Konzepte und staatlichen Symbole der Kommunisten bedeutungslos wurden, war er mehr als andere darauf vorbereitet, eine neue Sprache und neue Symbole zu entwikkeln, die den neuen Konzept der Nation entsprachen. Zudem konnte er die Wirkungsmächtigkeit des Nationalismus einschätzen, w e i l er i n seiner Jugend i m oblast' V o l y n den K a m p f der Organisation der Ukrainischen Nationalisten
150 Motyl, 1993, S. 49. 151 Sakwa, 1994, S. 52. 152 Von der Position des Vorsitzenden des oblast'-Exekutiv-Komitees in Cernivci stieg Kravöuk in den Apparat des Zentral-Komitees auf und rückte nach dem Sturz des ukrainischen Parteivorsitzenden Volodymyr Séerbits'kyj in den inneren Zirkel der ukrainischen Parteiführung auf. Dort vertrat er die perestrojka-Politik Gorbaöevs und stellte Kontakte zwischen der KPU und der Opposition her. Unter den Hardlinern der Kommunisten galt er bald als zu reformfreudig und erhielt 1990 den damals zweitrangigen Posten als Parlaments-Vorsitzender. Deshalb nahmen mit steigender Bedeutung des Parlamentes auch die innerparteilichen Stimmen zu, die seinen Rücktritt forderten. Kravöuk verstand es aber geschickt, wechselnde Koalitionen innerhalb der KPU zu seinen Zwecken zu nutzen. Zudem war er einer der ersten, die erkannten, daß die ukrainische Nomenklatura zur Durchsetzung ihrer Interessen Moskau nicht mehr brauchte. (Danylo Yanevskiy, Let Your People Go: A portrait of Leonid Kravchuk, in: EE, Vol. 1, No. 1,2.2.1994) Während der Massenhungerstreiks im Oktober 1990 war er der einzige hochrangige Kommunist, der mit den Studenten verhandelte. Dank seiner erfolgreichen Vermittlung zwischen den Streikenden und der Regierung stieg seine Popularität in der Bevölkerung. Das Verbot der KPU im August 1991 war - so Yanevskiy - eine persönliche Rache Kravöuks gegenüber den Hardlinern, die ihn zurückgesetzt hatten. Seinen Wandel vom Parteiideologen zum Verfechter der ukrainischen Unabhängigkeit im Präsidentschaftswahlkampf begründete er selbst so: „... eine Person, die ihre Ansichten mit wechselnden Lebensumständen ändert, steigt im Ansehen derer, die sie umgeben, wenn sie sie als einen Realisten einschätzen." (Aus dem Englischen nach Solchanyk, 1991d, S. 26) Dabei war es sicherlich sein Machtinstinkt, der ihn zum Realisten machte.
VI. „Konzept ohne Macht" und „Macht ohne Konzept"
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(OUN) und der „Ukrainischen Aufständischen Armee" mitverfolgt hatte. Kravcuk übernahm weitgehend das nationaldemokratische Konzept der Bewegung Ruch 153 und machte es zu einem Teil der Staatsdoktrin. Danach beruhte die Existenzberechtigung des Staates auf der ukrainischen Ethnie und Kultur, ohne die Nicht-Ukrainer aus der Gesellschaft auszuschliessen oder auch nur zu einer Assimilation zu zwingen. Bürger der Ukraine war, wer 1991 als Sowjet-Bürger in der Ukraine gewohnt hatte. Kravöuk sprach stets vom „Volk der Ukraine", nicht vom „ukrainischen Volk", um die ethnischen Russen und die russophonen Ukrainer in den Staat zu integrieren. 154 Eine die Vorstellung der Ost- und Westukrainer addierende und deshalb integrative Definition der ukrainischen Nation ist auch in der Präambel der ukrainischen Verfassung vom Juni 1996 erhalten. 155 Zur neuen politischen Sprache der Ukraine gehörte auch der Gebrauch des Dreizack als Staatswappen, der blau-gelben Staatsflagge und der ukrainischen Hymne, die Kravöuk mit der Autorität seines Amtes im öffentlichen Raum über die West-Ukraine hinaus - legitimierte. 156 Die Armee, die neu gebildeten Grenztruppen, die Institutionen der Außenpolitik (Botschaften und Vertretungen) und nicht zuletzt die Präsidialverwaltung selbst wurden zu Attributen des neuen Staates. Dies gab der zunächst nur symbolischen Autorität des vom Volk gewählten Präsidenten den notwendigen institutionellen Rahmen. Zur „Botschaft" vom neuen ukrainischen Staat gehörte weiterhin die Selbstdarstellung Kravöuks: „Finally, Kravchuk successfully portrayed himself as the defender of 'the people of Ukraine', the wise and calm patriarch able to heal wounds, unite the people and provide some sense of purpose." 157 Daß Kravöuk über der Bildung der Nation die Bildung des Staates und seiner Institutionen vernachlässigte, wird ihm von mancher Seite vorgeworfen. 158 Vielleicht scheute sich Kravöuk vor den Tücken der Staatswerdung, da dies der schwierigere Teil der Aufgabe war. Hier hatte er es mit bestehenden Institutionen und Eliten zu tun. Änderungen bedeuteten, bestehende Interessen zu verletzen und in handfeste Auseinandersetzungen hineingezogen zu werden. Dies konnte durchaus als eine Gefahr für den Prozeß der Nationen-Bildung, mindestens aber für das Selbstbild Kravöuks gesehen werden, da die notwendig zu führenden Auseinandersetzungen das Bild Kravöuks als versöhnender Vater 153 Wolczuk, 1995, S. 27f. 154 Motyl, 1995, S. 116. Dort heißt es: „Wir das ukrainische Volk - Bürger der Ukraine aller Nationalitäten, erheben unseren souveränen Willen ..." 156 Motyl, 1995, S. 112. 157 Ebd., S. 116. 158 Sochor, 1995, S. 212.
D. Ein Staat im Werden
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der Nation unglaubwürdig gemacht hätten. Motyl folgert, daß aufgrund dieser Umstände die Bildung der Nation Vorrang haben mußte vor der der Reform der Institutionen, um eben diese Reformen innerhalb eines als legitim existierend angesehenen Staates durchführen zu können und die dabei entstehenden Konflikte aushalten zu können. 159 Kravöuks Bemühungen um Klärung der Kompetenzen zwischen den Regierungsorganen waren jedenfalls halbherzig. Das Parlament hatte in diesen Fragen die Oberhand: es richtete die Institution der Stellvertreter des Präsidenten ein und schaffte sie wieder ab; es gab der Regierung (Kuöma) Sondervollmachten und entzog diese wieder; das Parlament entwarf Verfassungen und ließ diese öffentlich diskutieren, verabschiedete sie aber nicht. Die ungeklärten Kompetenzen zwischen Regierung, Parlament und Präsident führten im Kampf um konkrete politische Entscheidungen oft zu einer Pattsituation.160 Dies bedeutete nicht nur eine Verzögerung der Reformen, sondern auch, daß sich die Institutionen gegenseitig als legitime und unverzichtbare Faktoren der Politik anerkannten. Damit verbunden war eine Moderation der Mittel im Kampf um die politische Entscheidung und ein Grad an Kooperation, 161 der die Entwicklung komplexerer, zunächst noch informeller Spielregeln erlaubte. Die ungeklärten Kompetenzen und die daraus resultierenden Pattsituationen stabilisierten paradoxerweise die Legitimität der existierenden Institutionen. 162 Dies galt nicht nur für die Institutionen untereinander, sondern auch innerhalb des Parlamentes: „The left and the right, like the Rada and the President, had to agree to disagree, and, in doing so, to recognise each other as genuine partners with real roles to play in the political system." 163 Dieser Konsens sollte im Juni 1995 und auch 1996 die notwendige Voraussetzung sein, um sich auf neue Regeln des gegenseitigen Verhältnisses der
159 Motyl, 1993, S. 68-70. 1 „ P r e s i d e n t Kravchuk wanted to avoid the power struggles during the second half of 1993 when the Parliament, Cabinet and the President were pulling in various directions, and many edicts, decrees and laws were issued by all the three bodies which countered and contradicted each other on a variety of issues, but most detrimental in the economic sphere." (Zienchuk, 1995, S. 26) 161 Die Kooperation ging aber nicht soweit, die notwendigen materiellen Entscheidungen herbeizuführen. Statt Sachpolitik wurde symbolische und Personal-Politik betrieben. Als Reaktion auf den Streit der Bergarbeiter im Sommer 1993 wurden zwei Vertreter des Donbas in die Regierung berufen, ansonsten aber versuchten die Politiker, den Forderungen der Streikenden soweit wie möglich auszuweichen. Statt ein Referendum über das Vertrauen in Parlament und Präsident anzusetzen, einigte man sich lieber gleich auf Neuwahlen. (Polokhalo, 1993, S. 117) 162 Motyl, 1997, S. 440. 163 Motyl, 1996, S. 13.
VI. „Konzept ohne Macht" und „Macht ohne Konzept"
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Institutionen einigen zu können. Unter Kravöuk wurde der Konsens begründet, auf dem Kuöma die Auseinandersetzungen mit dem Parlament fuhren konnte: 164 „Seen in this light, Kravchuk's greatest achievement may be that he made Kuchma possible." 165 Die Möglichkeit eines friedlichen Machtwechsels hing auch damit zusammen, daß die Macht nur von einer Gruppe der ehemaligen Nomenklatura an die nächste Überging. Der Transfer der Macht von der Partei an den Staat, der Wechsel vom Nomenklatura-System zum formal offenen Kampf um politische Ämter, vom Sozialismus zur Demokratie von 1989 bis 1991 vollzog sich in der Ukraine ohne einen personellen Wechsel der Führungsschicht. Zunächst verloren die orthodoxen Kommunisten um Söerbyckyj und Hurenko die Macht an die Souveränkommunisten um Kravöuk. Diese 1990 gewählten Amtsinhaber sollten nun durch die Parlaments- und Präsidentschaftswahlen von einer neuen Gruppe herausgefordert werden, die zwar auch zur Nomenklatura gehört hatte, sich aber nicht dem politischen und wirtschaftlichen status quo verschrieb, sondern institutionelle Reformen forderte. Immer aber blieb die Macht in den Händen der ehemaligen Nomenklatura. 166
1 64 „Krawtschuks Leistungen bestanden vor allem in der Schaffung eines liberalen Klimas, in dem Konflikte und Differenzen friedlich gelöst werden konnten." (Osadczuk-Korab, 1996, S. 176) 165 Motyl, 1995, S. 120. 166 Motyl, 1997, S. 439.
E. Die Parlamentswahlen 1994 Die streikenden Arbeiter im Donbas hatten die Abgeordneten und den Präsidenten gezwungen, sich Neuwahlen zu stellen. Sie hatten damit erreicht, was die Studenten durch ihre Hungerstreiks und die Partei Ruch (zusammen mit der Partei der demokratischen Wiedergeburt der Ukraine) durch eine Unterschriftensammlung für ein Referendum (über die Durchfuhrung von Neuwahlen) nicht vermocht hatten. Dies zeigte, wie schwach die politischen Organisationen im Vergleich mit den Gewerkschaften und Streikkomitees waren. Es zeigte aber auch, daß die politische Führungsschicht nicht einfach über die organisierten Interessen der Bergarbeiter und der Kohleindustrie hinweggehen konnte.
I. Das Wahlgesetz Nach monatelangen und sehr kontroversen Beratungen verabschiedete das Parlament am 18. November 1993 mit den Stimmen der Linken und Zentristen das Wahlgesetz für die vorzeitig angesetzten Parlamentswahlen.1 Es sah die Wahl der Abgeordneten in 450 Ein-Mann-Wahlkreisen vor. 2 Die Abgeordneten mußten, um gewählt zu sein, im ersten Wahlgang oder in der Stichwahl die absolute Mehrheit der abgegebenen Stimmen auf sich vereinigen. 3 Die Nationaldemokraten hatten vorgeschlagen, die Hälfte (225) der Abgeordneten über Parteilisten und die andere Hälfte durch Mehrheitswahl zu bestimmen. Dieser Vorschlag war aber mit 199 Stimmen abgelehnt worden. Weil die Nationaldemokraten glaubten, durch das reine Mehrheitswahlrecht übervorteilt zu werden, verließen sie bei der Abstimmung darüber aus Protest
1 Law of Ukraine „On Elections of Peoples' Deputies of Ukraine", Übersetzung ins Englische durch das International Republican Institute, in: International Foundation for Electoral Systems (IFES), Elections in Ukraine, Kiev 1994, S. 141-147; Kuzio, 1997, S. 11. 2 „Elections shall be in 450 single mandate constituencies on the basis of absolute majority." (Art. 1 III) 3 „ I f more than two candidates for deputy were nominated in a constituency and no one was elected, the constituency electoral commission shall decide to repeat voting in the constituency for the two candidates who received the most votes." (Art. 46 I)
I. Das Wahlgesetz
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den Saal, so daß mit 245 gegen 8 Stimmen ein scheinbar einmütiges Abstimmungsergebnis zustande kam. 4
1. Mehrheitswahl oder Listenwahl? Die größte Kontroverse bei der Ausarbeitung des Wahlgesetzes betraf die Entscheidung über das Wahlprinzip - Mehrheitswahl oder Listenwahl? Die Nationaldemokraten sprachen sich für die Einfuhrung der Listenwahl mit einem - nationalen - Wahlkreis aus. Die Hälfte der Abgeordneten sollte über dieses Prinzip gewählt werden. Sie hofften, daß dadurch die Entwicklung der wenig konsolidierten Parteiensystems gestärkt würde. 5 Sie wollten von der Stimmenkumulation in Gebieten profitieren, in denen sie bei Mehrheitswahl keine Chance hatten, Kandidaten durchzubringen. 6 Dank der Listenwahl sollten auch solche Kandidaten eine Chance haben, die in den Wahlkreisen noch nicht so bekannt waren - im Gegensatz zu ihren Konkurrenten, welche die Bevölkerung aufgrund ihrer Positionen und Ämter (Vorsitzende der Sowjets und Exekutivkomitees, Fabrikdirektoren und Kolchosvorsitzende) in der kommunistischen Vergangenheit kannte.7 Zudem, so argumentierten die Nationaldemokraten, verlagere sich die Diskussion über Personen auf die Diskussion der unterschiedlichen Parteiprogramme und werde dadurch versachlicht. Auch stünden nicht die lokalen und regionalen, sondern die nationalen Fragen und Interessen im Mittelpunkt. Die stärkere Strukturierung der Fraktionen im Par-
4 CSCE, 1994a, S. 6; Martyniuk, 1993, S. 36; SBE: Interfax, 19.11.93; Wasylyk, 1994b, S.12-14. 5 Vgl. Duverger, 1959, S. 327f.; vgl. Ziemer, 1996, S. 164f. ^Arel/Wilson, 1994a, S. 11. Arel/Wilson vermuteten, daß der Anteil der Sitze der Nationaldemokraten bei einem proportionalen Wahlsystem steigen würde, weil dann die Stimmen für Ruch im bevölkerungsreichen Osten der Ukraine nicht verloren gingen und etwa 40 Sitzen entsprächen. Birch (1997) zeigt aber in einer Analyse der abgegebenen Stimmen auf der Basis des ersten Wahlgangs der Parlamentswahlen 1994, daß die Vergabe der Sitze durch das Mehrheitswahlrecht in etwa proportional zur Zahl der abgegebenen Stimmen ist. Sie erklärt dies dadurch, daß eine Verzerrung der Sitzverteilung nicht zu erwarten ist, wenn die cleavages in der Wählerschaft geographisch bestimmt sind, wie dies in der Ukraine der Fall ist. Zudem ist die Stimmabgabe nach Parteien nur ein untergeordneter Faktor bei der Stimmabgabe gewesen. (Birch, 1997, S. 5f.) Die Einführung eines gemischten Wahlsystems, in dem die Hälfte der Sitze über nationale Parteilisten und die andere Hälfte durch Mehrheitswahl bestimmt würden - wie dies seit 1994 im Parlament diskutiert wird - hätte eine ähnliche Sitzverteilung bewirkt und die Stimmenverteilung annähernd widergespiegelt. (Ebd., S. 8, 10)
7 Wasylyk, 1994b, S. 13. 6 Vorndran
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lament nach Parteien fördere die Verantwortlichkeit der Parteien für die Regierung. 8 Die kommunistische und zentristische Nomenklatura wollten dagegen die Vorteile einer personenzentrierten Wahl nutzen und äußerten Genugtuung über die Verabschiedung des Wahlgesetzes.9 Sie konnten sich individuell von der kommunistischen Ideologie und Partei distanzieren, so wie sie dies in ihrem Wahlkreis für angebracht hielten, zogen aber alle Vorteile aus ihrem Status als „lokale Größe" und ihrer beruflichen Position, die sie auch im Wahlkampf einsetzen konnten. 10 Dadurch, daß die Mehrheitswahl mit einer Stichwahl verknüpft war, wurde auch die Entwicklung von deutlichen politischen Alternativen verlangsamt. Bei Mehrheitswahl mit nur einem Wahlgang bilden sich normalerweise zwei Lager heraus, um die Siegchancen der politischen Richtung bzw. ihres Kandidaten zu erhöhen. Durch die Stichwahl wurde die frühe Polarisierung vermieden, und es ergaben sich nur vorübergehende und variable Koalitionen. 11 Generell haben Wahlsysteme eine doppelte Aufgabe: Sie sollen gleichzeitig die Regierbarkeit (die Entstehung von handlungsfähigen Mehrheiten im Parlament) und die Repräsentation (der Interessen) der Bevölkerung gewährleisten. 12 Das Mehrheitswahlrecht mit Stichwahlen hat nicht dazu geführt, daß eine handlungsfähige Mehrheit im Parlament entstanden ist. Die Bildung der Fraktionen im Parlament ist immer noch nicht zur Ruhe gekommen. Zwar bildeten sich neun Fraktionen relativ schnell, um auf die Vergabe von Ämtern in der Verchovna Rada Einfluß nehmen zu können, aber auch nach der Bildung zweier weiterer Fraktionen im Laufe des Jahres 1995 blieben immer noch ca. 10 der Abgeordneten fraktionslos. Die Fraktionen haben keine Koalition gebildet, die die Regierung und die daraus folgende Verantwortung hätte übernehmen wollen. 13 Für die Sicherung der staatlichen Einheit der 1994 noch jungen und zerbrechlich erscheinenden Ukraine wäre eine Betonung der nationalen gegenüber den regionalen Interessen, und damit korrelierend die Verhältniswahl, sicherlich die angemessenere Lösung gewesen. Gegen die Verhältniswahl spricht allerdings, daß große Teile der Bevölkerung überhaupt eine Abneigung gegen Parteien haben und daß die direkte Verantwortlichkeit der Abgeordneten gegenüber ihren Wählern verloren geht. In der Ukraine wird bereits seit 1994 die Einführung eines gemischten Wahlsystems diskutiert, in dem die eine ^ SBE: Interfax, 19.11.93; The Democratic Elections in Ukraine Observation and Coordination Centre [DEC], 1994, S. 6f. 9CSCE, 1994a, S. 10. lOcrawford/Lijphart, 1995, S. 182; Geddes, 1995, S. 261. 11 Duverger, 1959, S. 307. 12 Ziemer, 1995, S. 6. 13 Siehe Kapitel G dieser Arbeit.
I. Das Wahlgesetz
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Hälfte der 450 Abgeordneten durch nationale Parteilisten bestimmt wird und die andere Hälfte durch Mehrheitswahl in Ein-Mann-Wahlkreisen. 14 Es ist zu erwarten, daß ein gemischtes Wahlsystem vor den nächsten Parlamentswahlen 1998 angenommen wird, da keine der größeren Parteien dadurch nennenswerte Nachteile erleidet. 15 Dieses Wahlsystem könnte die Vorteile des proportionalen und des Mehrheitswahlsystems in sich vereinigen, in dem es die Entwicklung der Parteien fördert und zugleich die direkte Rückbindung eines Teils der Deputierten an die Bevölkerung ermöglicht.
2. Das Erfordernis der absoluten Mehrheit und der mehrheitlichen Wahlbeteiligung Die Wahl in einem Wahlkreis war nur gültig, 1. wenn sich mehr als 50% der Wahlberechtigten an der Wahl beteiligten und 2. der Kandidat die absolute Mehrheit der abgegebenen Stimmen auf sich vereinigte. 16 Wegen der ersten Bedingung waren die Wahlen in 20 Wahlkreisen ungültig, obwohl die durchschnittliche Wahlbeteiligung im ersten Wahlgang 74,8% und in der Stichwahl 66,9% betrug. Wegen der zweiten Bedingung waren die Wahlen in weiteren 92 Wahlkreisen ungültig. Eine weitere Vorschrift des Wahlrechts sah vor, daß die Wähler bis auf den Namen des gewählten Kandidaten alle anderen Namen mit einem waagerechten Strich durchstreichen mußten, damit die Stimme gültig war. 17 Da einige Wähler diese Vorschrift nicht genau beachteten, waren durchschnittlich 5-10% der abgegebenen Stimmen ungültig. 18 Lag ein Kandidat in der Stichwahl nur knapp vor seinem Konkurrenten, z.B. mit 2%, und die Anzahl der ungültigen Stimmen lag bei 5%, so galt der Kandidat als nicht gewählt. De facto mußten die Kandidaten also nicht nur gegen die Konkurrenten, sondern auch gegen die Falschwähler antreten. Zudem konnten die Wähler gegen beide (oder alle) Kandidaten stimmen, indem sie alle Namen auf dem Wahlzettel durchstrichen. Angesichts dessen, so urteilt Ziemer, können die Vorschriften des ukrainischen Wahlrechts „in den
l^Svitlana Pysarenko, Paraliö parlamentu likujut' ... zakonom, in: Holos Ukrajiny, 5.9.1995, S. 5. 15 Birch, 1997, S. 10; Vladimir Kacman, Esli ne udastsja Verchovnyj Sovet prinjat' Konstituciju, nado ego „podkupit", in: KV, 18.101995, S. 4. „ A candidate for deputy shall be deemed elected if the candidate receives more than half of the votes of the electors who participated in the voting, but not less than 25% of the total number of electors put on the list of voters of the given constituency." (Art. 43 IV) 17 Kuzio, 1997, S. 13. 18 Arel/Wilson, 1994a, S. 9. Das Erfordernis der absoluten Mehrheit war bei den Parlaments wählen 1990 noch nicht zu erfüllen gewesen.
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Augen der Bevölkerung die neuen Verfassungsinstitutionen und insbesondere das Parlament als den Repräsentanten der Volkssouveränität nur deligitimieren." 19 Bedenklich stimmt auch, daß ein Teil des Wahlvolks, obwohl es an der Wahl teilgenommen hat, ohne Repräsentation im Parlament bleibt und die Wahl nicht als Sanktionsmittel zur Kontrolle der Abgeordneten und des Parlaments einsetzen kann.
3. Die Nominierung der Abgeordneten Die Nominierung der Abgeordneten durchläuft zwei Schritte. In einem ersten Schritt wurden die Kandidaten in unterschiedlichen Verfahren durch Wählergruppen, Arbeitskollektive oder Parteien vorgeschlagen (Art. 7; Art.2326). Im zweiten Schritt mußten alle Kandidaten 300 Unterschriften sammeln und fünf Mindestlöhne hinterlegen, um zur Wahl antreten zu dürfen (23 IX). Der „parteienfeindliche" Impetus des Wahlgesetzes spiegelt sich in den Bestimmungen zur Nominierung wieder. Ein Kandidat, der sich durch eine Partei vorschlagen lassen möchte, muß ein wesentlich aufwendigeres Verfahren durchlaufen als im Vorschlagsverfahren der Wählergruppen und Arbeitskollektive. Die Nominierung durch ein Arbeiterkollektiv wurde durch Beschluß einer Arbeiterversammlung vollzogen, der keinen weiteren formellen Anforderungen genügen mußte. Für diese Art der Nominierung war nur ein Schriftstück, eben der Antrag, notwendig. 20 Auch die Nominierung durch eine Wählergruppe war einfach. Zehn Personen, die in einem Wahlkreis wohnten, galten als Wählergruppe, die einen Kandidaten nominieren konnte. Sie hatten für die Nominierung acht Dokumente vorzubereiten. 21 Sehr viel aufwendiger war die Nominierung eines Kandidaten durch seine Partei. Wollten Parteien Kandidaten nominieren, mußten sie sich auf nationaler Ebene durch die Zentrale Wahlkommission und zusätzlich durch die Wahlkreiskommission registrieren lassen. Sodann hatten sie auf oblast'-Ebene einen Nominierungskongreß zu veranstalten, auf dem mehr als zwei Drittel der Mitglieder der Partei (wenn die Partei im oblast' weniger als 100 Mitglieder hat) oder zwei Drittel der Delegierten (wenn die Partei im oblast' mehr als 100 Mitglieder hat), mindestens aber 50 Delegierte, anwesend sein mußten. Von dieser Versammlung mußte ein Protokoll angefer-
19 Ziemer, 1995, S. 9. 20 „ i n order for a workers' collective to nominate a candidate for deputy an application on behalf of the collective must be signed by a person authorised for that by a meeting for the conference, which nominates a candidate." (Art. 23 VII) 21 European Union Observer Centre, 1994, S. 2.
I. Das Wahlgesetz
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tigt und dieser zusätzlich eine Liste mit den ersten 100 Parteimitgliedern beigefügt werden. 22 Dieses Verfahren hatte mehrere Nachteile: 1. Die Nominierung fand nicht auf der Ebene des Wahlkreises statt, sondern auf der des oblast', die vier bis 47 Wahlkreise zusammenfaßt und somit wählerfern ist; 2. Für die Durchführung der Parteiversammlung bedurfte es einer umfangreichen Organisation, um die Teilnahme einer ausreichenden Anzahl von Parteimitgliedern oder Delegierten sicherzustellen; 3. Die Durchführung der Versammlung bedeutete für die Partei und die Mitglieder einen erhöhten finanziellen und zeitlichen Aufwand; 4. Durch die genau vorgeschriebenen Verfahrensvorschriften war die Wahrscheinlichkeit von (Form-) Fehlern bei der Nominierung und der anschließende Ausschluß des Kandidaten von der Wahl viel größer als bei der Nominierung durch ein Arbeiterkollektiv. 23 Bei der Nominierung durch eine Partei mußten 36 (!) Schriftstücke vorgelegt werden. 24 So ist es nicht weiter verwunderlich, daß bei der Parlamentswahl 1994 von den 6488 Kandidaten nur 694 (10,7%) von Parteien nominiert wurden (obwohl insgesamt 1568 Kandidaten Mitglied einer Partei waren, d.h. 24,1% 25 ), aber 1771 (23,3%) von Arbeiter-Kollektiven und 4023 (62%) von Wählergruppen. 26
22 Art. 23 V. 23 DEC, 1994, S. 8. 24 European Union Observer Centre, 1994, S. 2. 25 IntelNews, Vol. IV, Nr. 81, 23.3.1994, S. 4. 26 Ukrajinska Perspektyva, 1995, S. 5. Nach anderen Angaben (IntelNews, Vol. 4, Nr. 81, 25.3.1994, S. 3; CSCE, 1994a, S. 13) kandidierten „nur" 5833 Kandidaten. Bei der vierten Wahlrunde im Dezember 1995 kandidierten in 45 Wahlkreisen insgesamt 382 Kandidaten. Von diesen wurden 228 durch Wählergruppen vorgeschlagen, 80 durch Arbeiterkollektive und 74 durch Parteien. Der Anteil der durch Parteien nominierten Kandidaten stieg damit auf 19,4%. Die meisten Kandidaten nominierte die KPU (29), gefolgt von der Christlich-Demokratischen Partei und der Bauern-Partei (je 13), der SPU (8) und Ruch (7). Vier Kandidaten wurden von anderen Parteien nominiert. 118 weitere Kandidaten, die durch Wählergruppen oder Arbeiterkollektive nominiert wurden, gehörten einer Partei an. 190 Kandidaten waren parteilos. [Interfax, 4.11.1995, Nr. 2, S. lf.; ebd., 15.11.1995, Nr. 1, S. 6f.; KV, 16.11.1995, S. 3] Dies bedeutet, daß der Anteil der parteilosen Kandidaten von 75,9% im ersten Wahlgang auf 49,7% beim vierten Wahlgang gesunken war. Dies kann als Tendenz einer steigenden Bedeutung der Parteien bei Wahlen gedeutet werden, die in der fünften Wahlrunde im April 1996 bestätigt wurde. Für die fünfte Wahlrunde am 7.4.1996 traten in 31 Wahlkreisen 154 Kandidaten an. Von diesen wurden 86 durch Wählergruppen, 49 durch Parteien und 19 durch Arbeiterkollektive nominiert. Der Anteil der durch Parteien nominierten Kandidaten stieg erneut, nun auf 31,8%. Wieder waren die meisten Kandidaten Mitglied der KPU (21), gefolgt von der URP und Ruch (je 10), der Christlich-Demokratischen Partei (8), der SPU (7) und dem Kongreß ukrainischer Nationalisten (4). Weitere sechs Kandidaten gehörten fünf verschiedenen Parteien an. Der Anteil der parteilosen Kandidaten betrug
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Die Parteimitglieder nutzten „der Einfachheit halber" auch die anderen Nominierungsverfahren. Von den 29 zur Wahl zugelassenen Parteien nominierten nur 21 Kandidaten ftir die Wahl. 27 Das sehr einfache Verfahren für die Nominierung von Kandidaten durch Wählergruppen und Arbeiter-Kollektive führte dazu, daß sich in den Wahlkreisen teilweise mehr als dreißig Kandidaten für einen Sitz im Parlament bewarben. Da sich deren auf einfachste Schlagworte reduzierte Programme oft nur allzu sehr glichen, konnten die Wähler, die zum ersten Mal in ihrem Leben an einer pluralistischen Parlamentswahl teilnahmen, kaum eine rationale Wahl treffen. Dies wiederum bedeutete einen weiteren Vorteil für diejenigen Kandidaten, die den Wählern schon vor dem Wahlkampf bekannt waren, also über eine etablierte Machtbasis verfugten. 28
4. Die Stellung und Rolle der Wahlkommissionen Ganz allgemein gesagt, kommt den Wahlkommissionen die Aufgabe zu, die Parlamentswahlen durchzuführen und zu kontrollieren. Dazu sieht das Wahlgesetz ein dreistufiges System auf nationaler, Wahlkreis- und Wahlbezirks-Ebene vor. Die Aufgaben der Kommissionen umfassen die Zulassung von Parteien und Kandidaten zu den Wahlen, 29 die Verwaltung der für die Durchführung der Wahl nötigen Gelder, 30 den Zugang zu den Medien und den Druck von Wahlplakaten,31 die Auszählung und Bekanntgabe der Ergebnisse 32 und nicht zuletzt die Beratung und „Lösung" von Beschwerden aller Beteiligten (Wählern, Kandidaten, Parteien, etc.) 33 . Besonders dieser letzte Punkt wurde von Beteiligten kritisiert, weil die Wahlkommissionen nur einem Bruchteil von Beschwerden nachgegangen sind, die Selbstkontrolle der Kommissionen also nur mangelhaft funktioniert hat. 34 Da erst die Instanzen der Wahlkommissionen durchlaufen
im April 1996 57,1%, wieder deutlich weniger als in der ersten Wahlrunde. (Interfax, 5.3.1996, 21.00 Uhr, S. 2; IntelNews, 7.4.1996, S. 1) 27 CSCE, 1994a, S. 12. Nach IntelNews (Vol. IV, Nr. 83, 25.3.1994, S. 1) nominierten sogar nur 18 Parteien Kandidaten. 28 CSCE, 1994a, S. 11. 29 Art. 14 V I I Nr. 10 u. 15 V N r . 5. 30 Art. 14 VI. 31 Art. 33 1 u. 34. 32 Art. 14 V I I Nr. 11, 15 V Nr. 8 u. 16 III Nr. 6. 33 Art. 14 V I I Nr. 14, 15 V Nr. 10 u. 16 III Nr. 7. 34 DEC, 1994, S. 15f.
I. Das Wahlgesetz
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werden mußten,35 um den Rechtsweg zu beschreiten, war die Zeit bis zur Wahl zu kurz, um auf diesem Weg Recht durchzusetzen. Der häufigste Verstoß gegen das Wahlgesetz war die Überziehung des geringen Wahlkampfkostenbudgets bzw. der Gebrauch von Transportmitteln, Büros, Kommunikationsmitteln und Angestellten, die den Kandidaten fur die Ausübung ihres öffentlichen Amtes oder ihres Berufes überlassen worden waren. 36 Daneben gab es aber auch Fälle von unmittelbarer Gewaltanwendung, die sich meist gegen Kandidaten und Parteien aus dem nationalistischen und nationaldemokratischen Spektrum richtete. So wurde der Wahlkampfleiter von Ruch entführt. Sein Schicksal blieb ungeklärt. Eine Mitarbeiterin von Ruch in Vinnycja wurde ohne Anklage zwei Wochen lang im Gefängnis festgehalten und erlitt Verletzungen durch Zwangsernährung während ihres Hungerstreiks, mit dem sie gegen den Arrest protestierte. In mehrere oblast'-Büros von Ruch wurde eingebrochen. 37 In Cherson wurde ein Kandidat vor einem geplanten Fernsehauftritt so brutal niedergeschlagen, daß er mit ernsthaften Verletzungen ins Krankenhaus eingeliefert werden mußte.38 Schließlich wurden bei einer Durchsuchung des Büros der UNA/UNSO in Lemberg 30 Mitglieder der Organisationen festgenommen, darunter auch Kandidaten der Partei, die Immunität genossen.39 Die Sowjets der entsprechenden Ebene bestimmten die Zusammensetzung der Wahlkommissionen.40 Dabei nutzten die Vorsitzenden der Sowjets ihr Vorschlagsrecht, um ihre politischen Interessen auch durch die Besetzung der Wahlkommission zu verfolgen, da die Wahlkommission relativ kurz vor der Wahl bestellt wurde 41 und der Sowjet die Zusammensetzung der Kommission „nur" bestätigen mußte - wobei der Vorsitzende meist über eine (relativ loyale) Mehrheit verfügte. So war bei der Parlamentswahl 1994 kein Vertreter der 35 Art. 18 1. 36 CSCE, 1994a, S. 15. Dieser Vorwurf wurde auch Michajlo Kosiv gemacht. Er soll vom Stellvertreter des Präsidenten im oblast' L'viv, Orest Horadnik, mit Autos und Benzin unterstützt worden sein. Kandidaten aus dem Wahlbezirk Pustomitivs'kij forderten die Wahlkommission auf, die Kandidatur Kosivs zurückzuziehen. (IntelNews, Vol. IV, Nr. 69, 11.3.1994, S. 3) Dem ist die Wahlkommission nicht nachgekommen. 37 CSCE, 1994a, S. 13. 38 IntelNews, Vol. IV, Nr. 100, 11.4.1994, S. 2. 39 SBE: Interfax, 16.2.1994. „The Central Electoral Commission ... shall be established no later than 120 days prior to election day." (Art. 14 I) „The Central Electoral Commission shall be approved by the Supreme Council of Ukraine on the submission from the Chairman of the Supreme Council..." (Art. 14 II) „The Chairman, Deputy Chairman, Secretary or members of the commission can be dismissed by the body which approved them, according to the body's own initiative, or for violation of requirements of electoral legislation." (Art. 19 III) 41 Art. 141.
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Nationaldemokraten Mitglied der Zentralen Wahlkommission auf nationaler Ebene. Der Vorsitzende der Zentralen Wahlkommission, Ivan Émec', war vorher Staatsanwalt, stellvertretender Minister und Berater des Kyjiver Zweigs der Kommunistischen Partei und dadurch als loyaler Vertreter des ehemals Kommunistischen Staates ausgewiesen.42 Dies war umso schwerwiegender, als Kandidaten wie Parteien wegen der Aufgabenfiille der Wahlkommissionen auf deren Wohlwollen angewiesen waren. Die beteiligten Kandidaten, Parteien, Arbeiter-Kollektive und Wählergruppen - oder ihre Vertreter - hatten das Recht, an den Sitzungen der Kommission teilzunehmen und das Wort zu ergreifen. So bestand in den Sitzungen der Kommissionen ein gewisser Rechtfertigungszwang für Entscheidungen, der als Gegengewicht zur politisch einseitigen Besetzung wirken konnte.43
I I . Der Parlamentswahlkampf 1994 Die Ukrainer hatten 1994 ein „Superwahljahr". Nicht nur die Abgeordneten der Verchovna Rada und der Präsident standen zur Wahl, sondern auch die Sowjets auf oblast'- und Gemeinde-Ebene sowie deren Vorsitzende. Bei allen diesen Wahlen waren überwiegend zwei (oder sogar mehr) Wahlgänge nötig, um die Amtsinhaber zu bestimmen.44 Da die Parlaments-, Gebiets- und Gemeindewahlen die ersten freien Wahlen in der Geschichte der Ukraine waren und sich die Wähler nur zum geringsten Teil an einen Kandidaten oder eine Partei gebunden fühlten, hätte man - gemessen an westlichen Maßstäben einen besonders intensiven Wahlkampf um den hohen Anteil an „Wechselwählern" erwarten können. Die Mobilität der Wähler wurde durch die programmatische „Mobilität" der Parteien und Kandidaten ergänzt, die sich nicht durch ihr Programm in ihren Entscheidungen festlegen ließen. Die Wahlen in der Ukraine waren also in ganz besonderem Maße „offen". 45 Ebenfalls war - nach westlichen Maßstäben - verwunderlich, daß sich nur 144 Abgeordnete der letzten Verchovna Rada wieder um einen Parlamentssitz bewarben. Durch das Ausscheiden der alten Garde der Kommunisten, die einsahen, daß ihre Zeit abgelaufen war, läßt sich dieses Phänomen nicht allein erklären. 46 Entscheidend mag gewesen sein, daß die Mitglieder der Nomenklatura nicht bereit waren, sich dem Wettbewerb um die politischen Ämter zu 4 2
CSCE, 1994a, S. 10; European Union Observer Centre, 1994, S. 3. 43 Art. 6 III u. 14 IV. 44 Swaritsch, 1995a, S. 7. 45 Geddes, 1995, S. 252. 46 Weitere Gründe werden in der Literatur nicht genannt. CSCE, 1994a, S. 14; European Union Observer Center, 1994, S. 15; Wasylyk, 1994a, S. 45.
II. Der Parlamentswahlkampf 1994
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stellen. Ungleich war auch die regionale Verteilung der Kandidaturen. Nur 14,5% der Kandidaten traten in den ländlichen Regionen an, obwohl dort ein Drittel der Wahlberechtigten lebt. 47 Dies mag erklärt werden durch die geringere Präsenz der (national-)demokratischen Parteien, deren Aktivisten meist in den Städten lebten und deshalb überwiegend dort kandidierten. Das Feld wurde weitgehend der dominanten KPU oder der ex-kommunistischen Nomenklatura überlassen, die von dem traditionellen Wahlverhalten auf dem Lande weiterhin profitierten und „neue" Kandidaten von einer Kandidatur abschreckten. Durch diese geographische Verteilung der Kandidaten wurde die Unübersichtlichkeit (und entsprechend der Aufwand, um sich zu informieren) für die Wähler in den Städten (wo die Wahlbeteiligung von jeher geringer war) noch größer; der Anreiz, zur Wahl zu gehen, vergleichsweise geringer.
1. Die Nominierung der Kandidaten Viele der 6488 Kandidaten zogen das Nominierungsverfahren über die Arbeiter-Kollektive oder die Wählergruppen der Nominierung durch Parteien wegen des aufwendigeren Verfahrens vor. 48 Von den 1568 Kandidaten, die Mitglied einer Partei waren, gehörten an: 388 241 180 137 622
(24,7%) (15,4%) (11,5%) (8,7%) (39,7%)
der KPU, Ruch, der Sozialistischen Partei der Ukraine (SPU) und der Ukrainischen Republikanischen Partei (URP) anderen Parteien. 49
Anhand dieser Zahlen wird deutlich, daß nur die Nachfolgeparteien der KP und die beiden größten Parteien in der West-Ukraine (Ruch und die URP) einen bedeutenden Einfluß auf die Nominierung der Kandidaten hatten. Auch läßt sich ablesen, daß keine Partei in der Lage war, in allen Wahlkreisen einen Kandidaten aufzustellen. Schon die zweitstärkste Partei (Ruch) erreichte nur etwas mehr als die Hälfte aller 450 Wahlkreise. Die Parteien waren (und sind) also - vielleicht mit Ausnahme der KPU - nicht nationale, sondern regionale
47 CSCE, 1994a, S. 14. 48 Interview mit Dmytro Ponamaréuk (der diese Praxis auch für Ruch bestätigte) am 18.4.1994. 49 IntelNews, Vol. IV, Nr. 81, 23.3.1994, S. 4. Nach anderen Quellen hat die Liberale Partei 215 Kandidaten aufgestellt (davon 160 durch Wählergruppen und 55 durch die Partei; IntelNews, Vol. IV, Nr. 65, 7.3.1994, S. 3; nach IntelNews [Vol. IV, Nr. 83, 25.3.1994, S. 2] hat die Liberale Partei nur 20 Kandidaten nominiert), Ruch fast 300 Kandidaten. (Interview mit Dmytro Ponamarcuk, Presse-Sekretär der Partei Ruch, am 18.4.1995)
90
. D e Parlamentswahl
1994
Parteien: KPU und SPU mit Schwerpunkt in der Ostukraine, Ruch und URP mit Schwerpunkt in der Westukraine. Die Generalsekretärin der URP, Tamara Prosjanyk, berichtete, daß alle Kandidaten der URP durch die Partei aufgestellt worden seien. In jedem oblast' habe die oblast'-Organisation zuerst die Gemeinde (rajon)-Organisationen gebeten, Kandidaten zu nennen, die dann von der oblast'-Organisation auf ihre Fähigkeiten hin beurteilt worden seien. Im oblast' Kyjiv-Stadt hätten aber nur vier rajony Kandidaten vorgeschlagen. 14 weitere Kandidaten seien von der oblast'-Organisation vorgeschlagen worden, so daß die URP in 18 von 23 Wahlkreisen der Stadt-Kyjiv vertreten war. Die restlichen fünf rajony seien „nicht so wichtig" gewesen. Die Kandidaten seien nicht zwangsläufig durch die Partei, sondern auch über Arbeiter-Kollektive und Wählergruppen nominiert worden. 50 Zieht man in Betracht, daß Kyjiv eine der Hochburgen der URP darstellte und daß die URP eine der am besten organisierten Parteien in der Ukraine war, so war die organisatorische Schwäche auf rajon-Ebene so „erschreckend" wie symptomatisch. Über eine gut ausgebaute Organisation verfugten die Parteien meist nur auf der oblast'-Ebene, die innerhalb der Parteien die einflußreichste zu sein schien. Auch die Kandidaten von Ruch hatten sich nicht auf einem nationalen Wahlkongreß getroffen, sondern auf der Ebene des oblast'. 51
2. Wahlbündnisse Wahlbündnisse spielten bei den Parlamentswahlen 1994 keine große Rolle. Zwar vereinbarten die KPU, die SPU und die Bauernpartei der Ukraine, sich zu einem Wahlblock zusammenzuschließen. Dies bedeutete aber höchstens, daß die Aufstellung von Kandidaten in manchen Wahlkreisen abgesprochen wurde. Ein gemeinsames Wahlprogramm oder eine Wahlkampfstrategie gab es nicht. Wenn schon die parteiinternen Strukturen wenig organisiert waren, war dies auch nicht zu erwarten. 52 Im Wahlbündnis der Nationaldemokraten, genannt „Wahl 4 94", hatten sich Ruch, die Demokratische Partei, die URP, die allukrainische Ruch (ein konservativer Flügel, der sich von Ruch abgespalten hatte), die Partei der Demokratischen Wiedergeburt der Ukraine (PDWU), die Demokratische Bauernpartei, die Christlich-Demokratische Partei, der Kongress der ukrainischen Nationalisten (KUN) und die „Grünen" schon am 9. September 1993 zusammengeschlossen. Die Aufnahme des K U N führte aber gleich zur
Interview mit Tamara Prosjanyk am 16.4.1995. 51 Interview mit Dmytro Ponamaröuk, Presse-Sekretär der Partei Ruch, am 18.4.1995 52 IntelNews, Vol. IV, Nr. 83, 25.3.1994, S. 1.
II. Der Parlamentswahlkampf 1994
91
Austrittsdrohung der PDWU, was die Spannungen innerhalb des Blockes widerspiegelte. 53 Auch dieses Bündnis sollte dazu dienen, Kandidaturen, Programme und Wahlaktivitäten zu koordinieren, hat diese Zwecke aber nicht erfüllt. Die persönlichen Ambitionen der Kandidaten hatten eine Koordination der Nominierung oft unmöglich gemacht. So scheiterten überregionale Gespräche zwischen Ruch und der URP und teilweise auch regionale Verhandlungen der nationaldemokratischen Parteien. 54 Andererseits gelang es Ruch, der URP und der Gesellschaft Prosvita für die Nachwahlen im Dezember 1995 in der Stadt und im oblast' Kyjiv gemeinsame Kandidaten zu nominieren. 55 Eine neue Form eines Wahlbündnisses - nicht auf der Basis von Parteien, sondern auf der Basis einer Fraktion - bildeten 21 Kandidaten für die Wahlen im Dezember 1995, die im Falle ihrer Wahl der Reform-Fraktion beitreten wollten. Sie schlossen sich im Wahlblock „Wir" zusammen.56 Regional beschränkte Wahlbündnisse unter den Linken und den Nationaldemokraten kamen häufig vor den Stichwahlen zustande, wenn die Konkurrenz zwischen den Parteien einer Richtung in den Wahlkreisen nicht mehr bestand.57 Wo es ihm möglich war, verfolgte der Interregionale Reformblock (IRB, die bürgerliche Verinigung 58 des ehemaligen Vize-Parlamentesvorsitzenden Hryn'ov und des ehemaligen Premierministers Kuöma) für die Stichwahlen eine ausgeprägte Bündnisstrategie. Die Blöcke „Dnipropetrovs'ks Wahl" und „Charkivs Wahl" unterstützten jeweils die Kandidaten des IRB. 59 Eine Kooperation des IRB mit der Partei der Demokratischen Wiedergeburt wurde diskutiert, kam aber nicht zustande.60
53 Frankfurter Allgemeine Zeitung, 13.12.1993; Eastern Economist, 14.2.1994, S. 5 u. 13. 5 4 IntelNews, Vol. IV, Nr. 67, 9.3.1994, S. 3; Interview mit Tamara Prosjanyk, ebd.; Swaritsch, 1995a, S. 8. 5 5 Ο. V., Sozdan novyj izbiratel'nyj blok 'Ukrajina-Kyjiv', in: KV, 21.10.1995, S. 3. 56 IntelNews, Vol. V, Nr. 311, 16.11.1995, S. 4; Interfax, 15.11.1995, Nr. 1,S. lf. 57 IntelNews, Vol. IV, Nr. 88, 30.3.94, S. 8; ebd., Nr. 99, 10.4.1994, S. 2; ebd., Nr. 123,5.5.1994, S. 4. 58 Der IRB ließ sich erst nach den Parlamentswahlen 1994 als Partei registrieren. 59 IntelNews, Vol. IV, Nr. 89, 31.3.1994, S. 2; ebd., Nr. 91, 2.4.1994, S. 2. 60 Der Vorsitzende der PDWU, Filenko, schlug den Parteimitgliedern auf dem Kongreß der Partei am 6. Februar 1994 eine Kooperation mit dem IRB vor, konnte dies aber nicht durchsetzen. (IntelNews, Nr. 37, 7.2.1994, S. 3)
92
. Die Parlamentswahlen 1994
3. Der Wahlkampf Nachdem die Registrierung der Kandidaten am 12. Januar 1994 abgeschlossen war, konnten die Kandidaten mit dem Wahlkampf beginnen. Im Vergleich zu 1990 verlief der Parlamentswahlkampf 1994 ruhig. 61 Dies war sicherlich bedingt durch die schlechte finanzielle Lage vieler Kandidaten und Parteien, die oft kein Geld hatten, um aufwendige Wahlwerbung zu betreiben; zudem war auch die gesetzlich zugelassene Summe fur die Wahlkampfaktivitäten lächerlich gering. Zwar behauptete der Presse-Sekretär von Ruch, daß die Kandidaten der Partei mit Geld für Flugblätter, Benzin und andere Wahlkampfausgaben sowie durch gemeinsame Veranstaltungen mit den Parteiführern unterstützt worden seien, der Vorsitzende des Kulturausschusses, Michajlo Kosiv, erwähnte aber, daß Helfer der Partei ihn nur durch das Kleben der offiziellen Wahlplakate unterstützt hätten.62 Die 2000 Wahlplakate, die den Kandidaten von den Wahlkommissionen zur Verfügung gestellt wurden, hatten lediglich Format Din A 4 und zeigten in Einheitsgrau das Foto und das Programm des Kandidaten, das meist zu klein gedruckt und viel zu lang gehalten war, als daß es zum Lesen angeregt hätte.63 Hauptgrund für die wenig sichtbare Wahlwerbung war, daß die Kandidaten selten eine klare Botschaft hatten, die mitzuteilen gewesen wäre, und nur wenig Phantasie entwickelten, wie diese Botschaft die Wähler erreichen sollte. 64 Treffen mit den Wählern waren die bevorzugte Art der Wahlwerbung. 65 So bestritt Kosiv in der Wahlkampfzeit täglich drei bis vier, manchmal gar fünf Veranstaltunge, die seine Helfer für ihn organisiert hatten. A u f den Versammlungen wurde Kosiv von Anhängern seiner Partei unterstützt, indem ihre Anwesenheit Schutz vor Provokationen bot. Er bezeichnete den Wahlkampf wegen ständiger verbaler Angriffe unter den Kandidaten als „unzivilisiert" und glaubte, daß den Wahlkampfauseinandersetzungen die Spitze genommen werde, wenn nicht Kandidaten, sondern Parteien gewählt würden. 66
61
CSCE, 1994a, S. 8 u. 15; NDI, 1994, S. 8. Wasylyk, 1994b, S. 12. Interviews mit Dmytro Ponamaròuk (18.4.1994) und Michajlo Kosiv (3.5.1994). 63 Die Plakate wiesen teilweise grammatische und Tipp-Fehler auf. In einem Fall wurde sogar der Name des Kandidaten „vergessen". (IntelNews, Vol. IV, Nr. 82, 24.3.1994, S. 5) 64 Timofeev/Wade, 1994. 65 CSCE, 1994a, S. 15. 66 Interview am 3.5.1995: Michajlo Kosiv, obwohl Mitglied der Partei Ruch, wurde auch von der URP in seinem Wahlkreis als „einzig möglicher" Kandidat unterstützt. So waren auch seine Wahlhelfer Mitglieder der URP. Die oblast'Organisation der URP dagegen bekämpfte die Kandidatur Kosivs und schloß die Wahlhelfer aus der URP aus, die daraufhin bei Ruch eintraten. 6 2
II. Der Parlamentswahlkampf 1994
93
Die Sendezeit fur Wahlwerbung wurde von der Zentralen Wahlkommission festgelegt. Vom 12. bis 27. Januar hatte jede Partei im Fernsehen 10 Minuten Sendezeit, um sich und ihr Programm vorzustellen. 67 Vom 7. Februar bis zum 27. März 1994 wurden weitere 21 Stunden Wahlprogramm im Fernsehen und 10 Stunden im Radio mit Debatten der Parteirepräsentanten ausgestrahlt. In diesen Sendungen durften aber nur solche Parteivertreter auftreten, die nicht Kandidaten für das Parlament waren, damit Parteienkandidaten gegenüber den Konkurrenten keinen Vorteil hatten.68 Auf der Ebene der Wahlkreise sollten insgesamt 2 Stunden Sendezeit im Fernsehen reichen, um alle Kandidaten (gleich wie viele in diesem Wahlkreis kandidierten) vorzustellen. Die regionalen Fernsehsender erreichten allerdings nur etwa 10% der ukrainischen Bevölkerung. 69 Bei Auftritten im Fernsehen stellten sich die Kandidaten nicht mit ihrem politischen Programm vor, sondern erzählten ihre Vita, plauderten von ihren Hobbys, ihrer Liebe zu Hunden oder Katzen oder lasen Gedichte vor, in denen die Schönheit der Ukraine gepriesen wurde. Weil das Niveau dieser Sendungen derart schlecht war, schalteten die Ukrainer das Fernsehen lieber aus oder um, statt sich fur ihre Abgeordneten weiter zu interessieren. 70 Nach Beobachtung der KSZE-Delegation war die Berichterstattung in den regionalen Medien ausgewogen. Lediglich die Sendezeiten in Radio und Fernsehen wurden insgesamt als zu kurz beurteilt. 71 Zwar wurden die („demokratischen") Parteien durch westliche Organisationen beraten, aber die Umsetzung der vorgeschlagenen Wahlkampfmethoden stieß auf Schwierigkeiten. Die Verteilung von Hochglanzbroschüren ließ die Wähler vermuten, daß dahinter nur das Geld der Mafia stecken konnte. Auch Telefon-Aktionen waren ineffektiv, da nur 27% der Bevölkerung mit einem Telefon ausgestattet waren. 72 Furore machte dagegen der Wahlkampfgag des jungen Kandidaten Jevgenij Sulima, der an der Universität von Dnipropetrovs'k Kondome mit der Aufschrift Triff die sichere Wahl und Kalender mit einem Foto von sich verteilen ließ. 73
67 Die Zentrale Wahlkommission stellte Parteien, die für die Wahl registriert waren, aber keine Kandidaten aufgestellt hatten (wie die Freie Bauern-Partei der Ukraine und die Partei der Slawischen Einheit) keine Sendezeit zur Verfügung. (IntelNews, Vol. IV, Nr. 57, 27.2.1994, S. 2) 68 Auch Abgeordnete, die sich um eine Wiederwahl bemühten, durften nicht im nationalen, sondern nur im regionalen Fernsehen auftreten, damit die anderen Kandidaten nicht übervorteilt wurden. (IntelNews, Vol. IV, Nr. 58, 28.2.1994, S. 1) 69 Bojcun, 1994, S. 234; CSCE, 1994a, S. 8. 70 Ο. V., Reproduktion der ukrainischen Nomenklatura, in: Neue Zürcher Zeitung, 24.3.1994. 71 CSCE, 1994a, S. 15. 72 IntelNews, Vol. IV, Nr. 68, 10.3.1994, S. 3. 73 Ebd., Nr. 100, 11.4.1994, S. 2.
94
. Die Parlamentswahlen 1994
I I I . Die Parlamentswahlen 1994/95 1. Wahlbeteiligung und Ergebnisse Auch im April 1996 waren die Parlamentswahlen, die am 27. März 1994 begonnen hatten, immer noch nicht beendet, weil auch nach dem fünften Wahlgang (jeweils mit Stichwahl) immer noch nicht alle 450 Abgeordneten der Verchovna Rada gewählt worden waren. Dies war nicht etwa eine Konsequenz ausgeprägter Wahlmüdigkeit und -enthaltung, sondern des (oben erläuterten) Wahlrechtes. Die hohe Wahlbeteiligung von 74,8% im ersten Wahlgang und 66,9% in der Stichwahl ermöglichte es - entgegen allen Unkenrufe - 338 Abgeordnete zu wählen und ein neues Parlament einzusetzen.74 Nur in 20 Wahlkreisen war die Wahlbeteiligung geringer als 50%, in weiteren 92 Wahlkreisen scheiterte die Wahl in der Stichwahl, weil die Abgeordneten nicht die absolute Mehrheit der abgegebenen Stimmen erhielten. 75 Im zweiten und dritten Wahlgang (jeweils mit Stichwahlen) konnten bis zum 4. Dezember 1994 weitere 67 Abgeordnete gewählt werden, so daß 405 Sitze im Parlament vergeben waren. 76 Um die wahlmüden Ukrainer nicht weiter zu strapazieren, beschlossen Parlament und Zentrale Wahlkommission ein einjähriges Moratorium, bevor am 10. und 24. Dezember 1995 die Wahlen mit dem vierten Wahlgang (samt Stichwahl) fortgesetzt wurden. 77 Dennoch war die Wahlbeteiligung im Schnitt nicht höher als 46,08%.78 Im ersten Wahlgang dieses vierten Durchgangs konnten weitere sieben Abgeordnete einen Sitz 74 Ott, 1995b, S. 102. Ein neues Parlament ist nur dann beschlußfähig, wenn mehr als 300 Abgeordnete (2/3 der Mitglieder des Parlamentes) gewählt sind. (Art. 2.2.4. der GO der VR; vgl. Kap. G, Fn. 11) 75 IntelNews, Vol. IV, Nr. 102, 13.4.1994, S. 4. 76 Im einzelnen wurden gewählt: Im zweiten Wahlgang im ersten Durchgang (am 24.7.1994) 20 Abgeordnete und in den Stichwahlen weitere 40 Abgeordnete (12 Abgordnete am 31.7.1994, 27 Abgeordnete am 7.8.1994, und bei einer Nachwahl wegen Ausscheiden eines gewählten Abgeordneten am 25.9.1994 einer, Leonid Kravöuk). Im dritten Wahlgang im ersten Durchgang (am 20.11.1994 und in einer am gleichen Tag angesetzten Nachwahl) 10 Abgeordnete und in der Stichwahl (am 4.12.1994) ein weiterer Abgeordneter. (IFES, 1994a, S. 20-24) Die Differenz zwischen den neugewählten Abgeordneten (70) und der Zunahme der Abgeordeten in Parlament (67) ergibt sich aus der Nicht-Anerkennung von drei Mandaten durch das Parlament. 77 Am 7.3.1996 beschloß die Verchovna Rada eine Änderung des Wahlgesetzes, nach der die Wahlen in einem Wahlkreis ein Jahr lang ausgesetzt werden, wenn bei zwei aufeinanderfolgenden Wahlen die Wahlbeteiligung unter 50% lag. (Oleksandr Yurchuk, HSN: On the Books, in: EE, Vol. 3, Nr. 7 (111), 11.3.1996, S. 28) 78 in elf Wahlkreisen wurden für den 24. Dezember 1995 Stichwahlen angesetzt, in 27 Wahlkreisen war die Wahlbeteiligung geringer als 50%. Dort wird ein fünfter Wahlgang notwendig. (OMRI DD, Nr. 240, Part II, 12.12.1995; ebd., Nr. 249, Part II, 27.12.1995; KV, 12.12.1995, S. 3)
III. Die Parlamentswahlen 1994/
95
gewinnen, darunter der damals amtierende Premierminister Maröuk, der damalige Premierminister der Krym, Anatolij Franöuk, und sein Sohn Ihor. Im ersten Wahlgang und der Stichwahl wurden im Dezember 1995 14 Sitze vergeben. Davon gingen sieben an Fabrikdirektoren, fünf an professionelle Politiker, einer an einen KPU-Funktionär und einer an den Vorsitzenden einer Jugendorganisation.79 Dies zeigt, daß die Kandidaten in den Nachwahlen nur noch dann eine Chance hatten, ihre Mitbewerber und vor allem die Wahlmüdigkeit zu überwinden, wenn sie bereits bekannte Politiker waren oder über ein großzügiges Wahlkampfbudget verfugten. Bei der fünften Wahlrunde am 7. April 1996 mit Stichwahlen am 21. April in 32 Wahlkreisen konnten noch einmal 8 Abgeordnete gewählt werden. In allen anderen Wahlkreisen lag die Wahlbeteiligung unter 50% der Wahlberechtigten. Die durchschnittliche Wahlbeteiligung sank weiter auf knapp 37%. 80 Nach Aussage der Kandidaten selbst war bei den allgemeinen Wahlen die Persönlichkeit des Kandidaten ausschlaggebender für den Wahlerfolg als sein Programm, als das Budget, das für den Wahlkampf zur Verfügung stand, und als die Partei, der der Kandidat angehörte. 81 Für einen erfolgreichen Wahlkampf mußte man aber mit etwa 3000$ Wahlkampfkosten rechnen, dem 15fachen der 200$, mit denen der Staat jeden Kandidaten unterstützte. 82 Auch die Mitgliedschaft in einer Partei ist nicht unerheblich für den Wahlerfolg. Nur 24,2% der Kandidaten gehörten einer Partei an, aber 51,8% der im ersten Wahlgang gewählten Abgeordneten. Auf die Frage, worauf die Wähler bei ihrer Wahlentscheidung besonders achteten, antworteten bei einer Umfrage im oblast' Mykolajiv 50% der Befragten, kein besonderes Kriterium zu haben. Bei der anderen Hälfte der Wähler spielte für 48% das Programm die entscheidende Rolle, für 18% die Parteimitgliedschaft, für 15% die persönlichen Attribute des Kandidaten und für 10% seine berufliche Stellung.83
79 Birch, 1996, S. 281; IntelNews, Vol. V, Nr. 350, 28.12.1995, S. 4. 80 Council of Advisers to the Parliament of Ukraine, Update on Ukraine, April 1996, S. If. 81 Interview mit Michajlo Kosiv am 3.5.1995, Tamara Prosjanyk am 16.5.1995; Hieb Horodniéenko, Ivan Emec: „Cem bol'se pered nosom izbiratelej pomachivat' banknotami, tem bystree oni ot tebja otvernutsja", in: KV, 16.11.1995, S. 3. 82 IntelNews, 29.3.1996, S. 5. 83 IntelNews, Vol. IV, Nr. 114, 25.4.1994, S. 2. Wenn programmatische Fragen in Betracht gezogen wurden, war das wichtigste Wahlthema die wirtschaftliche Lage (für 71% der Wähler), gefolgt von den Beziehungen zu Rußland (47%) und der Kriminalität (43%). (Arel/Wilson, 1994a, S. 6; Wasylyk, 1994a, S. 46). Bei einer Umfrage in Lemberg gaben 32% der Befragten an, daß die Parteizugehörigkeit keine Rolle bei der Wahl des Kandidaten spielen werde. (IntelNews, Vol. IV, Nr. 50, 20.2.1994, S. 3).
96
. Die Parlamentswahlen 1994
Die Einschätzung der Befragten, welches Kriterium wahlentscheidend war, unterschied sich also deutlich von der Einschätzung der Politiker. Wie wenig die Wähler über Parteien und Programme informiert waren, zeigte eine Umfrage im Februar 1994, bei der eine fiktive (!) „Partei für Gerechtigkeit und Ordnung" in der Gunst der Befragten an vierter Stelle lag. Offenbar könnte der Name einer Partei schon wahlentscheidend sein (- wenn nach Listen gewählt würde). 84 Die Einschätzung der Politiker scheint also die treffendere gewesen zu sein. Die Tabelle auf der nächsten Seite zeigt, wie viele Abgeordnete von welchen Parteien einen Sitz erringen konnten. Aus der Tabelle wird deutlich, daß die Masse der Abgeordneten, die in den Nachwahlen einen Sitz errangen, als Parteilose kandidiert hatten. Wie sich weiter unten in der Analyse der Fraktionen und des Stimmverhaltens zeigen wird, ergab sich dennoch ein „Rechts-Ruck" im Kräfteverhältnis des Parlamentes, da die parteilosen Abgeordeten sich tendenziell zentristischen und nationaldemokratischen Fraktionen zuordneten.
84 NDI, 1994, S. 8.
III. Die Parlamentswahlen 1994/95
97
Tabelle 2
Verteilung der Parlamentssitze nach Parteien nach dem ersten Wahlganga)
nach dem dritten Wahlgangb)
nach dem vierten
parteilose Abgeordnete
163
228
203
KPU
86
90
100
SPU
14
14
15
Zahl der Abgeordneten Partei
Wahlgangc)
Bauern-Partei
18
19
34
Interregionaler Reform-
4
k.A.
k.A.
k.A.
k.A.
1
4
4
6
Bürgerkongreß
2
2
1
Sozial-Demokratische Partei
2
2
1
Block Partei der ökonomischen Wiedergeburt der Krym Partei der Demokratischen Wiedergeburt
Arbeits-Partei Liberale Partei der Ukraine Christlich-Demokratische Partei
4
5
6
k.A.
k.A.
8
1
1
1
Demokratische Partei
2
2
2
Ruch
20
20
24
Republikanische Partei
8
11
9
Ukrainische Konservative
1
2
1
Kongreß der ukrainischen Nationalisten
5
5
3
Ukrainische Nationale Versammlung
3
k.A.
2
Organisation der ukrainischen Nationalisten
k.A.
k.A.
1
Gesamte Anzahl
338
405
k.A.
Republikanische Partei
k.A. = keine Angabe Quellen: a) O.A., 1994, S. 10; b) IFES, 1994a, S. 27; c) Birch, 1996, S. 282.
7 Vorndran
98
. Die Parlamentswahlen 1994
2. Regionale Analyse der Ergebnisse Die Ergebnisse des ersten Wahlganges von 1994 unterscheiden sich in der Analyse nach Regionen nur wenig von den Ergebnissen der Wahl 1990:85 Den Nationaldemokraten war es wieder nicht gelungen, über ihre Hochburgen in der Westukraine und in Kyjiv hinaus wesentlich an Stimmen zu gewinnen. 86 Lediglich in den größeren Städten der Zentral-Ukraine (Cerkasy, Poltava, Kirovohrad) erreichten sie leichte Zugewinne. In den Dörfern und kleinen Städten dominierten dagegen die Kandidaten der KPU oder der Bauern-Partei und mit diesen sympathisierende Unabhängige. Von den 116 gewählten Abgeordneten aus ländlichen Gegenden außerhalb der Westukraine sind nur 10 den Nationaldemokraten zuzurechnen, aber 70 den linken Parteien. Noch aussichtsloser war der Wahlkampf für die Nationaldemokraten in der Ost- und Südukraine, wo nur einer ihrer Kandidaten einen Sitz gewinnen konnte. Im oblast' Dnipropetrovs'k schafften es immerhin 14 Kandidaten bis in die Stichwahlen. Er- und entmutigend zugleich erschienen die Ergebnisse in Kyjiv: alle fünf gewählten Abgeordneten kamen von den Nationaldemokraten, aber weitere 18 Wahlbezirke blieben wegen der sehr geringen Wahlbeteiligung in der Hauptstadt ohne Vertretung im Parlament, was die Stellung der Nationaldemokraten im Parlament schwächte.87 Auch imdritten Wahlgang im Dezember 1994 wurde in Kyjiv nur ein weiterer Abgeordneter gewählt.88 So stark wie die Nationalisten in der Westukraine erschienen die Kommunisten im Osten und besonders im Donbas. Die KPU gewann dort in 38 von 66 Wahlkreisen, die SPU in weiteren drei Wahlkreisen. Für die SPU schien dies ein schwaches Ergebnis. In den ländlichen Gebieten des oblast' Charkiv gewannen die Kommunisten fünf Sitze, Mitglieder der Nomenklatura weitere neun. 89 In den fünf östlichen und den angrenzenden vier südöstlichen Oblasti gewann die KPU insgesamt zwei Drittel aller ihrer Sitze. Auch auf der Krym konnte die KP der Krym (ein Teil der KPU) fünf von elf gewählten Abgeordneten stellen. Fünf weitere Wahlkreise der Krym gingen an Unabhängige und
85 Eine Auflistung aller Abgeordneter mit Angaben zu Beruf, Parteizugehörigkeit und Art der Nominierung bietet IFES, 1994a. 86 in der Westukraine gingen nur drei der 54 Sitze nicht an die Rechte, so daß der Wahlkampf nahezu ausschließlich zwischen den Nationaldemokraten (Ruch, URP) und den Nationalisten (UNA/UNSO, Kongreß der ukrainischen Nationalisten) stattfand. Dabei waren die Nationalisten besonders in den ländlichen Gegenden und in den ehemals polnisch regierten Oblasti Rivne und Volyn erfolgreich. (Arel/Wilson, 1994a, S. 15) 87 Arel/Wilson, 1994a, S. 11-15. 88 IFES, 1994a, S. 25. 89 IntelNews, Vol. IV, Nr. 94, 5.4.1994, S. 4.
III. Die Parlamentswahlen 1994/95
99
nur einer an einen Kandidaten des Interregionalen Reform-Blocks. 90 Die Erfolge im bevölkerungsreichen Osten der Ukraine und in den ländlichen Gebieten der Zentral-Ukraine begründeten die starke Stellung der Linken im Parlament. Arel/Wilson erklären den Wahlerfolg der Linken mit der fortschreitenden Verschlechterung der wirtschaftlichen Lage und dem hohen Anteil der Arbeiter in der Ostukraine, die aufgrund ihrer relativ geringen Bildung fur die einfachen, nostalgischen und pro-russischen Parolen der Kommunisten empfänglich waren. 91 Insgesamt erhielt die Linke (Kommunisten, SPU und Bauern-Partei) etwa 15 Millionen Stimmen, was 60% der abgegebenen Stimmen entsprach. 92 Die liberalen Kandidaten, insbesondere des Interregionalen Reform-Blocks, konnten nur in Charkiv, Dnipropetrovs'k und Odesa Teilerfolge erzielen, wo insgesamt 27 unabhängige Kandidaten Sitze gewannen, die einem losen Bündnis zugerechnet werden, das weitgehend auf lokalen Vereinigungen von Unternehmern beruht. 93 Der Ausgang der Parlamentswahlen wurde auch als eine Niederlage Präsident Krav&iks interpretiert, da die „Partei der Macht" nicht so viele Parlamentssitze wie erwartet gewinnen konnte und die Wahlbeteiligung groß genug war, damit ein neues Parlament zusammentreten konnte. Wäre dies nicht der Fall gewesen, so hatte Kravöuk angekündigt, hätte er ein präsidentielles System einfuhren wollen und die Verschiebung der Präsidentschaftswahlen durchsetzen können. 94 Nun war das Parlament nach den Wahlen mit neuer Legitimität ausgestattet, da genug Abgeordnete gewählt worden waren, damit das Parlament beschlußfähig war.
3. Die Bedeutung der Parlamentswahlen Die Parlamentswahlen 1994 waren die ersten Wahlen nach dem Zusammenbruch des Kommunismus und der Auflösung der Sowjetunion im Herbst 1991 und stellen somit einen Meilenstein im Transformationsprozeß der Ukraine dar: Gelingt die Durchführung freier und fairer Wahlen, eventuell mit der Folge eines friedlichen Wechsels der Führungsschicht, so ist dies die erste gelungene Prüfung einer jungen Demokratie. Nach allgemeiner Ansicht konnte der Ukraine dieses Zeugnis ausgestellt werden. Die Verletzungen des Wahlrechts
90 Arel/Wilson, 1994a, S. 13-15; Bojcun, 1995, S. 242. 91 Arel/Wilson, 1994a, S. 14. 92 IntelNews, Vol. IV, Nr. 186, 7.7.1994, S. 5. 93 Arel/Wilson, 1994a, S. 12f.; IntelNews, Vol. IV, Nr. 109, 20.4.1994, S. 5. 94 CSCE, 1994a, S. 28.
100
. Die Parlamentswahlen 1994
waren nicht derart gravierend, daß dies das Gesamtergebnis signifikant beeinträchtigt hätte. Herauszustellen ist dabei, daß sich der Charakter der Wahlen von 1990 und in den Jahrzehnten zuvor vom Charakter der Wahl 1994 grundlegend unterschied. Dieser Unterschied lag im Wettbewerb um die politische Führung - den es 1990 erst in Ansätzen gab - weniger im Charakter der Institutionen, deren Ämter besetzt werden sollten. Denn abgesehen von der Zulassung des Wettbewerbs blieben die Regeln und Institutionen weitgehend unverändert. Das im Herbst 1993 verabschiedete Wahlgesetz unterschied sich nur wenig von seinem sozialistischen Vorgänger und auch die Einfuhrung des Präsidentenamtes veränderte die verfassungsrechtlichen Kompetenzen des Parlamentes während der Amtszeit Kravchuks eher graduell als qualitativ. Es ist daher sinnvoll zu fragen, ob die Wahlen 1994 schon die Funktionen demokratischer Wahlen erfüllten, die Auswahl der Führungsschicht und die Politiken beeinflußten und das Handeln der Politiker kontrolliert und das politische System als Ganzes legitimiert werden konnten. Es ist unzweifelhaft, daß die Parlamentswahlen zur grundlegenden Erneuerung der politischen Führungsschicht beitrugen. Von den 144 Parlamentariern der 12. Legislaturperiode von 1990 bis 1994 wurden nur 56 wiedergewählt. Dies bedeutete, daß allein nach dem ersten Wahlgang 282 neue Abgeordnete in das Parlament einzogen. Die meisten wechselten den Bereich ihrer leitenden Tätigkeit. Bisher waren sie als Manager privater oder staatlicher Unternehmen, als Leiter von landwirtschaftlichen Betrieben und in Regierung, Verwaltung und Sowjets oder im Erziehungswesen tätig. 95 Somit fand ein Austausch der Führungsschicht sowohl zwischen Zentrum und den Regionen als auch zwischen den politischen, wirtschaftlichen und wissenschaftlichen Führungsbereichen statt. Die Wähler machten tatsächlich von der Möglichkeit Gebrauch, die Führungsschicht auszuwählen und beeinflußten darüber auch die Gestaltung der Politik, soweit sie in der Gestaltungsmacht des Parlamentes lag und liegt. 96 Ob die Politiker durch die Wahlen kontrolliert werden konnten, ist fraglich. Da sich nur ein Drittel der Abgeordneten zur Wiederwahl stellte, die Bindungen zwischen den Politikern und Wählern als schwach galten und auch unabhängige Medien sich zunächst etablieren mußte, war für die meisten Parlamentarier das eigene Gewissen eine wichtigere Instanz als die Präferenzen der Wähler. Entsprechend verbreitet war die Einstellung unter der Wählerschaft, daß die Politiker nur an sich selbst dachten und ihre eigenen Interessen vertra95 Diese stellten nach der dritten Wahlrunde 270 von 394 gewählten Abgeordneten. (Ukrayinska Perspektyva, 1995, S. 19) 96 Als wesentlicher zweiter Faktor der Politik-Gestaltung muß der Einfluß des Präsidenten berücksichtigt werden. Aber auch für die Präsidentschaftswahl 1994 gilt, daß die Bürger über die Wahl der Person die Politik beeinflussen konnten.
III. Die Parlamentswahlen 1994/95
101
ten. Wenn die Kontrollfunktion durch Wahlen nur mangelhaft erfüllt wird, leidet darunter auch die Legitimationsfunktion der Wahlen. Zwar geht dann immer noch der politische Wille vom Volke aus, aber nur in einem einmaligen Akt „delegativer" Demokratie. Wahlen können dann als manipulativer Mechanismus verstanden werden, um den Politikern eine formale Legitimation zu verschaffen. 97 Umfragen haben aber gezeigt, daß die ukrainischen Bürger glauben, daß Politiker durch Wahlen zur Verantwortung gezogen werden können und die Politik durch Wahlen beeinflußt werden kann. Umfrageergebnisse zeigen eine größere Ähnlichkeit in der Einstellung zu Wahlen zwischen ukrainischen und britischen Wählern als zwischen ukrainischen und russischen Wählern. Ukrainer messen Wahlen erheblich mehr Bedeutung zu als Russen.98
9 7
DeBardeleben/Pammett, 1996, S. 366. Ebd., S. 371 f. Die Umfrage wurde allerdings nur in der West- und Südukraine durchgeführt, nicht in der Ostukraine, wo die Einstellungen ukrainischer Wähler den russischen ähnlicher sein könnte.
F. Die Parteien in der Ukraine Erster Zweck der Parteien in den Augen ihrer Führer, Mitglieder und Wähler - so die einhellige Le/jrmeinung - ist die Ergreifung der Macht durch die Aufstellung von Kandidaten in Wahlen.1 Die Kategorie, nach der sie zu beurteilen sind, ist dagegen ihre Fähigkeit, ein politisches Gemeinwesen zu regieren. 2 In Erfüllung dieses Zweckes erbringen sie mehrere Leistungen, die für eine funktionsfähige Demokratie nötig sind: Sie aggregieren Interessen, strukturieren die öffentliche Meinung, integrieren die Bürger in und mobilisieren sie für den politischen Prozeß, stellen durch ihre Programme politische Alternativen bereit, rekrutieren die politische Führung und organisieren die Regierung. 3 Soweit jedenfalls die Theorie. In der ukrainischen Praxis junger Parteien in einer jungen Demokratie mögen die Parteien nach der Macht streben, dienen darin aber in erster Linie ihren Führern, weniger den Mitgliedern oder Wählern. Ein politisches Gemeinwesen zu regieren oder die für die Demokratie wichtigen Leistungen zu erfüllen, sind sie weitgehend außerstande.
I. Entstehung und Typen ukrainischer Parteien In diesem Abschnitt möchte ich zunächst kurz darstellen, welche allgemeinen Varianten der Parteienentstehung in der Literatur unterschieden werden und welche Auswirkungen dies auf den Typus der Partei haben kann. Sodann werde ich dies auf die spezifische Entstehung der Parteien in der Ukraine anwenden und im folgenden die ukrainischen Parteien dem Typus der „persönlichen Partei" zuordnen.
1. Vorbemerkung: Bedingungen für die Entstehung von Parteien Für die Entstehung von Parteien können generell zwei Grundbedingungen unterschieden werden: erstens die Liberalisierung der Gesellschaft (durch die Aufgabe des Glaubens an die Notwendigkeit eines Gemeinwesens einheitlicher
1
Steininger, 1984, S. 71; Lewis, 1993, S. 8. ^Hennis, 1977, S. 156. 3 Lewis, 1993, S. 7f.
I. Entstehung und Typen ukrainischer Parteien
103
Weltanschauung) und die Annahme eines Konsenses des agree to disagree * und zweitens die Ausweitung des Wahlrechtes. Die Ausweitung des Wahlrechtes auf neue Wählerschichten zwingt die Abgeordneten, ihre Unterstützung zu organisieren, um ausreichend Stimmen zu erhalten.5 Die zu diesem Zweck ins Leben gerufenen Wahlkomitees sollen die neuen Politiker (deren Aufstieg durch die Ausweitung des passiven Wahlrechts auf neue Schichten bewirkt wurde) bekannt machen, damit sie bei den Wählern mit der alten Führungsschicht in Wettbewerb treten können.6 Dieser Prozeß ist auch in der Ukraine abgelaufen: Mit der Politik der perestrojka begann eine Phase der Liberalisierung, die zur Aufgabe des verordneten Weltbildes des Kommunismus führte. Dies erlaubte die Pluralisierung öffentlich vertretener Anschauungen. Sodann wurde das Wahlrecht erweitert. Zwar wurde das Wahlrecht nicht quantitativ erweitert - weil es auch vor 1990 ein allgemeines Wahlrecht gegeben hatte -, doch wurde das Wahlrecht qualitativ erweitert - weil zum ersten Mal eine Auswahl unter verschiedenen Kandidaten und Programmen bestand. Es gab zum ersten Mal die Möglichkeit, eine neue politische Führungsschicht in die Ämter zu wählen. Nun ist aber für die Entstehung von Parteien von Bedeutung, wie das Wahlrecht ausgeweitet wird. Wird das Wahlrecht auf neue Klassen ausgedehnt, so entstehen wahrscheinlich klassen-orientierte oder stark an Interessengruppen gebundene Parteien. Wird das Wahlrecht dagegen allgemein erweitert - und dies war in der Ukraine der Fall: das Wahlrecht aller Ukrainer wurde qualitativ aufgewertet - so sind Parteien zu erwarten, die versuchen werden, in allen Zielgruppen Wähler zu gewinnen. Dies ist umso wahrscheinlicher, als es in der Ukraine durch die Atomisierung der Gesellschaft in der Folge des totalitaristischen Kommunismus und aufgrund der Monopolisierung der Interessenvermittlung durch die KPU nur sehr vereinzelt gut organisierte, soziale Interessengruppen und Massenorganisationen gab.7 Dies bedeutet, daß die Parteien nicht auf Interessengruppen zurückgreifen können, um Unterstützung für ihre Ziele zu gewinnen. Der Theorie der Parteienentstehung folgend, war die Entstehung von Parteien außerhalb des Parlamentes über Interessengruppen in der Ukraine also
4Sartori, 1992, S. 13. 5 McKenzie, 1955, S. 6-9. 6Duverger, 1959, S. 5. 7Glaeßner, 1994, S. 95; Stepanenko, 1993, S. 19. Eine Ausnahme stellen die Streikkomitees der Bergarbeiter dar. Nur begrenzt mobilisieren lassen sich Rentner und Lehrer. Dies bedeutet nicht, daß Vertreter besonders industrieller Interessen keinen Zugang zu Entscheidungsträgern in der nationalen Exekutive hätten, wie Kubicek (1996, S. 32-36) herausstellt. Zur Zeit dominieren personalisierte Netzwerke, nicht strukturierter Wettbewerb von Interessenorganisationen den Lobbyismus.
104
. Die Parteien in der Ukraine
unwahrscheinlich. Wahrscheinlicher ist die Entstehung von Parteien innerhalb des Parlamentes durch Abgeordnete, die sich im Parlament zu Gruppen zusammenschließen, um ihre persönlichen Interessen besser wahrnehmen zu können. Die Wahlkomitees als Keimzellen der lokalen Parteiorganisationen sollten dann im Prozeß der Parteienentstehung indirekt über die Abgeordneten miteinander verbunden werden.
2. Die Entstehung der Parteien in der Ukraine Die Theorie der Parteienentstehung auf dem Hintergrund der Parlamentarisierung der westeuropäischen Staaten vom späten 18. bis zur Mitte des 20. Jahrhunderts ist also auf die Formierung des ukrainischen Parteiensystems seit 1989 nicht ohne weiteres übertragbar. In der Ukraine lassen sich vielmehr drei Typen der Parteienentstehung unterscheiden, die mit den Typen der westeuropäischen Parteigenese nicht kongruent sind. Zum ersten Typus gehören die Parteien, die als Nachfolgeparteien der KPU entstanden sind: die KPU selbst, die Sozialistische Partei der Ukraine (SPU) und die Bauern-Partei. Verstünde man die KPU vor 1989 als Massenorganisation der Arbeiter-Interessen, könnte man ihr eine ähnliche Bedeutung für die Entstehung der Nachfolgeparteien zumessen, wie sie die Gewerkschaften in Westeuropa für die sozialistischen Parteien (z.B. die SPD in Deutschland, die Labour Party in Großbritannien) hatten. Der Vergleich hinkt auf den ersten Blick. Die KPU war das Instrument einer autoritären Herrschaft der Nomenklatura, nicht die Interessenvertretung einer von der Bourgeoisie unterdrückten Arbeiterschaft. Die KPU entstand nicht außerhalb des politischen Systems und mußte die Zulassung zum Parlament erzwingen, sie war das System. Auch in den Konsequenzen für die organisatorische Struktur der Nachfolgeparteien KPU lassen sich nicht durchgängig Parallelen zu den westeuropäischen Parteien in ihrer Frühphase ziehen. Nur die KPU ist heute noch eine hoch-zentralisierte Partei mit straffer Parteiorganisation. Für die SPU gilt dies nur eingeschränkt, dort ist es vor allem der Parteivorsitzende Moroz, der als unverzichtbare Führerfigur die Partei zusammenhält. Die Bauern-Partei dagegen war anfangs ganz auf die Bauern-Union der Ukraine als organisatorisches Gerüst angewiesen. Zum zweiten Typus zählen Parteien, die im Zusammenhang mit der Massenbewegung Ruch entstanden sind. Dazu gehörten die Partei Ruch als direkte Nachfolgepartei, die Ukrainische Republikanische Partei (URP), die Demokratische Partei der Ukraine (DPU) und andere. Die Bewegung Ruch entstand aus politischen Gruppen, die bemüht waren, die ukrainische Kultur zu fordern, um sie für die Legitimation eines eigenen Staates zu benutzen. Ziel dieser kulturellen Gruppen mit politischem Anspruch war ein unabhängiger Staat, der eine
I. Entstehung und Typen ukrainischer Parteien
105
Selbstregierung ermöglichte. Diese Clubs waren untereinander lose verbunden in der Volksbewegung Ruch. Die Entstehung dieser Parteien könnte mit der Entstehung der parlamentarischen Parteien westlichen Zuschnitts verglichen werden. Dieser Typ zeichnet sich dadurch aus, daß sich als Unabhängige gewählte Abgeordnete (der gleichen Regionen, mit gleichen Interessen oder Anschauungen) im Parlament zusammenschließen, um miteinander besser ihre Ziele durchsetzen zu können. Über die Abgeordneten werden deren Wahlkomitees (als Keimzellen der lokalen Parteigliederungen) indirekt miteinander verbunden. Der Akt der Parteigründung als solcher wird vollzogen, wenn die persönlichen Beziehungen der Abgeordneten institutionell über die Partei abgesichert werden. In einer zweiten Phase werden die Abgeordneten bemüht sein, über die Partei überall dort Wahlkomitees zu gründen, wo die Partei noch nicht mit Kandidaten vertreten ist. Dies geht einher mit dem Aufbau eines Parteistabes und der zunehmenden Bedeutung der Partei. 8 Für die aus der Bewegung Ruch entstandenen Parteien gilt aber, daß diese bereits vor der Bildung von Fraktionen, außerhalb, nicht innerhalb des Parlamentes entstanden. Die URP ging aus der Dissidentenvereinigung der Ukrainischen-Helsinki-Union hervor. Die DPU bildete sich aus einer Fraktion innerhalb der Bewegung Ruch. Die Partei Ruch entstand, als Cornovil darauf drängte, die außerparlamentarische Bewegung zu einer parlamentarischen Partei umzuformen. Als diese Parteien zwischen 1990 und 1992 entstanden, gehörten die Abgeordneten dieser Richtung noch der gemeinsamen Fraktion Narodna Rada an. Nach den Parlamentswahlen 1994 wurden die Fraktionen Ruch und Staatlichkeit9 auf der Grundlage der Parteimitglieder gegründet, nicht die Parteien auf der Grundlage der Fraktionen. Dem dritten Typus der Parteienentstehung sind die meisten anderen Parteien zuzuordnen, so z.B. die Liberale Partei der Ukraine (LPU), die Partei der demokratischen Wiedergeburt (PDWU) und der Interregionale Reform-Block (IRB). Diese Parteien entstanden aus bürgerlichen Vereinigungen oder Interessenverbänden (aber nicht: Massenorganisationen) und haben damit ihren Ursprung gleichfalls außerhalb des Parlamentes. Diese Parteien sind meistens relativ schwach organisiert, haben noch stärker als andere Parteien regionale Schwerpunkte und die Politik der Parteiführung hat nur einen begrenzten Einfluß auf die Entscheidungen der lokalen Parteiorganisationen. Zwei Fraktionen lassen sich auf nach dem dritten Typus entstandene Parteien zurückführen: die Interregionale Deputierten Gruppe auf den IRB und die Fraktion „Sozial-Markt 8 Duverger, 1959, S. 7f. 9 In der Fraktion Staatlichkeit bilden die Abgeordneten der URP den Kern der Fraktion, der durch andere Abgeordnete ergänzt wird. Der Fraktionsvorsitzende gehört nicht der URP an.
106
. Die Parteien in der Ukraine
Wahl" auf die LPU. Zu beiden Fraktionen gehören aber auch Abgeordnete anderer Parteien und parteilose Abgeordnete. Wie eine Partei entstanden ist, hat entscheidenden Einfluß auf ihren Erfolg, ausgedrückt in Mitgliederzahlen und der Zahl der Abgeordneten. Die KPU und die Bauern-Partei, weniger die SPU, profitieren auch 1996 noch von ehemals kommunistischen Strukturen und Netzwerken: Verbindungen zu Unternehmern und Massenmedien sowie Ämter in lokalen und regionalen Verwaltungen waren bedeutende Ressourcen im Kampf um Stimmen und Einfluß. Dies gilt auch für die Parteien Ruch und URP in den Gebieten, wo die Bewegung Ruch 1989-1991 die dominante politische Kraft darstellte. 10 Der deutlich höhere Organisationsgrad und die deutliche ideologische Identifikation müssen als Hauptgründe gelten, warum die Partei am jeweiligen Ende des politischen Spektrums (KPU, Ruch) bei den Parlamentswahlen 1994 am erfolgreichsten war. Dieser Vorsprung auf dem Gebiet der Organisation gegenüber den Parteien des dritten Typus scheint mit dem Aufkommen der LPU und der VolksDemokratischen Partei seit Anfang 1996 langsam zu schwinden. Der westliche Parteientypus der „parlamentarischen" Partei kommt in der Ukraine nicht vor. Die nicht auf Parteien beruhenden Fraktionen (Zentrum, Reformen, Einheit, Unabhängige) waren bisher nicht in der Lage und haben auch kaum den Versuch unternommen, Parteien zu gründen. Allein die Fraktion „Reformen" bildete beim vierten Durchgang der Parlamentswahlen im Dezember 1995 einen Wahlblock, um Kandidaten zu unterstützen, die im Falle der Wahl der Fraktion beitreten wollten. 11
3. Ukrainische Parteien als „persönliche Parteien" Die Entstehung der Parteien war auch in der Ukraine an den Bedeutungszuwachs des Parlamentes gebunden.12 Die Sowjets, vom Obersten Sowjet bis zu den Gemeinde-Sowjets, waren der erste und zunächst einzige Ort, an dem die Parteien ihren Einfluß geltend machen konnten, wenn sie es vermochten, die Regierung zu stellen oder ihre Bildung zu lenken.13 Deshalb ist es umso bemerkenswerter, daß im ukrainischen Parlament die Parteien hinter die Fraktionen zurücktraten. Sie konnten nicht genügend Einfluß auf die Karriere des einzelnen Politikers ausüben, indem sie den Erfolg seiner Kandidatur (mit-)bestimmten - wie im englischen Zweiparteiensystem oder bei Listen-
lOciem, 1996, S. 97. 11 Siehe Abschnitt 5.2.2. 12 Duverger, 1959, S. 2; Jäger, 1971, S. 17. 13 Ott, 1995a, S. 23.
I. Entstehung und Typen ukrainischer Parteien
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wähl. 14 Nur 163 von 338 Abgeordneten gehörten nach dem ersten Durchgang der Parlamentswahl 1994 einer Partei an. Deshalb gingen zunächst nur drei Fraktionen (die der Kommunisten, der Sozialisten und von Ruch) auf Parteien zurück. Die nach dem zweiten und dritten Typus neugegründeten Parteien entsprachen dem Typus der „persönlichen Partei". In ihr waren die persönlichen Bindungen zwischen den Führern, vielleicht auch ein gemeinsames Interesse, dominant, nicht aber „Prinzipien" oder die Umsetzung eines Programms. 15 Die Programme glichen sich oft und hatten eher deklaratorischen Charakter denn den einer konkreten Handlungsrichtlinie. 16 Die überregionale Parteistruktur griff nicht (oder kaum) in die Organisation des Wahlkampfes ein (wie an dem Parlamentswahlkampf 1994 deutlich wurde) und auch nicht in das von den lokalen Führern vertretene Programm. 17 Ein Beispiel hierfür war die Entscheidung des Großen Rates von Ruch, den Partei-Gliederungen im Präsidentschaftswahlkampf 1990 die Entscheidung zu überlassen, welchen Kandidaten sie unterstützen wollten - obwohl mit Cornovil ein Partei-Kandidat zur Präsidentschaftswahl antrat. 18 Diese Art der „Programmlosigkeit" wurde im Laufe der 13. Legislaturperiode seit 1994 nur teilweise überwunden. Zwar stellen KPU und Ruch deutliche politische Alternativen dar, aber die zentristischen Parteien lassen sich von ihrem Programm her nur schwierig unterscheiden. Die Folgerung Clems, daß die ukrainischen Parteien das Stadium der „Proto-Partei" überwunden hätten, da sie begonnen hätten, sich auf soziale Gruppen zu beziehen und sich ideologisch zu differenzieren, kann nicht vorbehaltlos unterstützt werden. 19 Parteien sind durchaus noch nicht in der Lage, die cleavages zwischen Masse und Eliten sowie zwischen Regionen zu überwinden. Die Dominanz der persönlichen Beziehungen unter den Abgeordneten über Konfliktlinien sozialer Interessengruppen erklärt, warum die Parteien zunächst nicht gesellschaftliche Interessen(-konflikte), sondern die internen Spaltungen
14 Geddes, 1995, S. 269. 15 Haungs, 1992, S. 581. 16 Kuzio/Wilson, 1994, S. 150. 17 Haungs, 1992, S. 575. 18 Vgl. Abschnitt D.IV.2. dieser Arbeit. l^Clem, 1996, S. 182. Clems Dissertation ist die erste detaillierte Studie ukrainischer Parteien. Diese leidet allerdings darunter, daß lediglich die Parteienstrukturen in L'viv und Donec'k untersucht werden, d.h. in zwei Städten der beiden Regionen - Galizien und Donbas - der Ukraine, die sich ideologisch am meisten unterscheiden und in größerem Maße politisiert sind als alle anderen ländlichen Regionen und Städte der Ukraine, die zwischen L ' v i v im Westen und Donec'k im Osten liegen. Dies bedeutet, daß die Clem'sehen Schlußfolgerungen nicht ohne weiteres verallgemeinert und auf die anderen Regionen der Ukraine übertragen werden können.
108
. Die Parteien in der Ukraine
der Intelligenzija und Nomenklatura repräsentierten. 20 Nur der Nomenklatura und den neuen Industriellen gelingt die Durchsetzung ihrer Interessen, was sich auch in der Fraktionsstruktur des Parlamentes widerspiegelt. Politische Führer gründen lieber eine eigene Partei, wenn sie ein Amt anstreben, als sich in einer anderen Partei nach oben zu kämpfen, weil bei den Parteien nicht ein gemeinsames Programm im Vordergrund steht und das Wahlrecht keine nationale Organisation der Parteien erfordert. 21 Pohorelova beschreibt die Funktion der Parteien schlicht als „... to promote specific people to higher political positions ...". 22 Die Rückbindung der Politiker an die Wähler durch direkten Kontakt, die öffentliche Meinung oder Parteien ist nur gering ausgeprägt. Deswegen wird auch von einem „schwebenden" Parteiensystem gesprochen, das erscheint, als sei es den Wählern aufgesetzt oder übergestülpt. Die Beschreibung der politischen Landschaft gelingt leichter durch Personen denn durch Parteien oder Programme. Deswegen werde ich mich in der Darstellung der Parteien auf deren Geschichte und Führer konzentrieren, während die Beschreibung der „Programme" auf zwei Kernfragen beschränkt werden soll: Welche Haltung nehmen die Führer ein im Bezug auf das Verhältnis der Ukraine zu Rußland und wie stehen sie zur Einführung marktwirtschaftlicher Reformen? 23 Diese beiden Fragen standen bei der Parlamentswahl 1994 im Vordergrund und markieren gleichzeitig dauernde Konfliktlinien in der ukrainischen Politik seit 1991. Der Prozeß der Parteienentstehung steht in der Ukraine noch ganz am Anfang. Die Abgeordneten kandidieren oft als Unabhängige, ordnen sich im Parlament einer Fraktion zu, aber nicht unter. Die Abgeordneten wechseln, unabhängig davon ob sie einer Partei angehören oder nicht, die Fraktionen inmitten der Legislaturperiode; die Bildung neuer Fraktionen im Verlauf einer Legislaturperiode ist eher die Regel als die Ausnahme. Abgeordnete konnten in der 12. Verchovna Rada (1990-1994) sogar mehreren Fraktionen angehören, bis dies nach den Parlamentswahlen 1994 verboten wurde. Unter diesen Um-
20ßojcun, 1995, S. 240. 21 Geddes, 1995, S. 250. 22 Iryna Pohorelova, Fantasy on the Theme of Elections, in: EE, Vol. 2, Nr. 2, 6.2.1995, S. 16. 23 Potichnyis Analyse der Parteien (vgl. Potichnyi, 1994, S. 9-12 u. 28-33) nach neun verschiedenen Konfliktlinien ist deswegen wenig erhellend. Die Analyse läßt die Diskrepanz zwischen Programm und tatsächlichem Handeln der Partei außer Acht. Diese Diskrepanz ist in der Ukraine beträchtlich, weil in den Programmen nur allgemeine Ziele wie „Unabhängigkeit", „Demokratie" und „Marktwirtschaft" festgeschrieben sind und es an konkreten Konzepten zur Umsetzung mangelt. (Kuzio, 1994, S.831) Potychnyis Analyse vernachlässigt auch den Zwang zu Koalitionen und den ganz geringen Einfluß der Parteien auf parlamentarische Enscheidungen.
II. Die Parteien in der Ukraine
109
ständen ist die Entstehung von Parteien über Fraktionen erheblich erschwert. Ursächlich dafür ist vor allem das Wahlrecht, das unabhängige Kandidaturen bevorzugt. Seit der frühen Gründungsphase der Parteien von 1990 bis 1992 konnten die meisten Parteien ihre Organisationsstrukturen sicherlich verbessern. Dennoch verfügen auch 1996 nur die großen Parteien über Büros in allen Oblasti und selbst diese nur in ihren Hochburgen über Gliederungen auf rajon-Ebene. 24 Durch die Einführung eines gemischten Wahlsystems (mit Elementen der Mehrheits- und der Verhältniswahl) bei der nächsten Parlamentswahl werden die Parteien gezwungen sein, ihre Organisation zu verbessern, um im ganzen Land und auch außerhalb der Städte ihr Wählerpotential ansprechen zu können. Dennoch kann man nur mit einem langsam wachsenden Einfluß der Parteien rechnen.
I I . Die Parteien in der Ukraine In der Ukraine sind bis 1996 ca. 40 Parteien gegründet worden. Der Prozeß der Parteienformation hat sich soweit stabilisiert, daß sich die wichtigsten Parteien mit nationaler Bedeutung beschreiben lassen. Will man die Parteien in ein links-rechts Schema einordnen, um einen grob vereinfachten Überblick zu gewinnen, so soll „links" eine sozialistische, pro-russische oder Rußland-orientierte Ansicht bedeuten, „rechts" eine marktorientierte, nationalistische Haltung. 25 Entgegen ihrer allgemeinen Orientierung nehmen die Parteien in Einzelfragen nicht selten andere Positionen ein. Die wichtigsten linken Parteien wären demnach die Kommunistische Partei der Ukraine (KPU), die Sozialistischen Partei der Ukraine (SPU) und die Bauern-Partei der Ukraine (BPU). Als links-zentristische (pro-russische, marktorientierte) Parteien lassen sich die Partei der Demokratischen Wiedergeburt der Ukraine (PDWU) und deren Nachfolge-Partei, die Volks-Demokratische Partei der Ukraine (VDPU), die Liberale Partei der Ukraine (LPU) und der Interregionale Reform-Block (IRB) einordnen. Eine rechtszentristische Stellung (marktorientierte, nationaldemokratisch) nehmen die Volksbewegung der Ukraine (Ruch), die Demokratische Partei der Ukraine (DPU) und die Ukrainische Republikanische Partei (URP) ein. Zu den nationalistischen Parteien gehören die Ukrainische Konservative Republikanische Partei (UKRP), der Kongreß der ukrainischen Nationalisten (KUN) und die rechts-extreme Ukrainische Nationale Versammlung (UNA) mit ihrer waffentragenden Schwester-Organisation Ukrainische Nationale Selbstverteidigung (UNSO). 24 Kuzio, 1994, S. 826. 25 Vgl. Chudowsky, 1996, S. 338f.
. Die Parteien in der Ukraine Tabelle 3
Ukrainische Parteien und ihre Führer nach Mitgliederstärke Partei
Anzahl der Mitglieder Chto je Chto (1996)
nach:
Zerkalo NedeW)
Ott
Kuzio
(1995)
(1993)
120.000
140.000
150.000
k.A.
k.A.
72.051
2.000
1,6 Mio.
Ruch
60.000
50.000
60.000
50.000
Partei der ökonomischen Wiedergeburt (der Krym)
32.000
34.000
k.A.
10.000
Sozialistische Partei
29.370
29.000
90.000
29.000
Liberale Partei
27.700
k.A.
14.000
30.000
3O.OOO> und Oblasti war das Geflecht der staatlichen und der Selbst-Verwaltung komplizierter. Die Räte der rajony und Oblasti waren Organe der Selbst-Verwaltung, die gemeinsame Interessen der in diesen Gebieten bestehenden Kommunen vertraten (Art. 140 IV). Die lokalen Räte bildeten die Räte der rajony, die rajon-Räte die Räte der Oblasti. 88 Die Vorsitzenden der oblast'- und rajon-Räte wurden von den Räten - also indirekt - gewählt und leiteten deren Exekutiv-Apparat (Art. 141 IV). Die Aufgabe dieser Räte war es (nach Art. 143 II): •
Programme sozioökonomischer und kultureller Entwicklung des Gebiets zu verabschieden und deren Umsetzung zu überwachen;
87 Letztere Variante könnte bei sinkendem nationalen Steueraufkommen dazu führen, daß die Kommunen Aufgaben der staatlichen Verwaltung mitfinanzieren müßten. 88 Das Prinzip der Bildung bleibt dabei unklar, d.h., ob die Vorsitzenden der Räte der nächstniedrigeren Ebene das Gebiet repräsentieren oder ein anderer Vertreter.
286
•
•
Μ . Der verfassunggebende Prozeß
die Haushalte des Gebiets zu verabschieden und deren Umsetzung zu überwachen (wobei die Haushaltsmittel aus Mitteln des Staatshaushaltes und vereinbarten Mitteln der Kommunen bestehen); andere Fragen im Rahmen der gesetzlichen Kompetenzen zu lösen.
Aus der Vorschrift über die staatlichen Verwaltungen folgte (Art. 119, Nr. 3-5), daß die Beschlüsse der Räte nicht durch deren Exekutiv-Apparate, sondern durch die staatlichen Verwaltungen ausgeführt werden sollten. Dem entsprach, daß die staatlichen Verwaltungen den Räten verantwortlich waren, wenn sie Aufgaben ausführten, die von den Räten an die Verwaltungen delegiert wurden (Art. 118 VI). Die Verantwortlichkeit der staatlichen Verwaltung konnte durch ein Mißtrauensvotum des entsprechenden Rates gegenüber dem Leiter der Verwaltung eingefordert werden. Sprach der Rat dem VerwaltungsLeiter das Mißtrauen aus, so konnte der Präsident diesen entlassen. Sprachen zwei Drittel der Ratsmitglieder dem Verwaltungsleiter das Mißtrauen aus, so mußte er vom Präsidenten entlassen werden (Art. 118 IX,X). Nach dem Entwurf hätte also auf der Ebene der Kommunen eine parallele staatliche und Kommunal-Verwaltung bestanden. Auf den Ebenen darüber bestand dagegen nur die staatliche Verwaltung, die den Repräsentanten der Kommunen politisch partiell verantwortlich war. Eine eigene politische Autorität hatten aber nur die Selbst-Verwaltungen auf der Ebene der Kommunen, nicht dagegen die staatlichen Verwaltungen auf rajon- und oblast'-Ebene. Letztere dienten der Umsetzung der Regierungspolitik oder der Kommunalpolitik. Dies kam auch in der Besetzung der Ämter zum Ausdruck. Die Ratsvorsitzenden der Kommunen waren von der Bevölkerung direkt gewählte Politiker, während die Leiter der Staatsverwaltungen auf der Ebene der rajony und Oblasti vom Präsidenten ernannte Beamte waren. Neu gefaßt wurden auch einige Artikel über die Autonome Republik Krym (Abschnitt X), insbesondere über die Kompetenzen und Gesetzgebungsbefugnisse. Art. 137 enumerierte die Sachgebiete, die die Autonome Republik selbst normativ regeln durfte. Darunter fielen Landwirtschaft und Forsten, Landmelioration und Bergbau, Öffentliche Arbeiten, Handwerk und Kleinhandel sowie Philantropie, Städte- und Wohnungsbau, Tourismus, Hotelund Ausstellungswesen, kulturelle Einrichtungen, historische und KulturStätten, Öffentlicher Verkehr, Straßenbau und Wasserversorgung, Jagen und Fischen, Sanitäre Einrichtungen und Krankenhäuser. Zudem lag es in der Kompetenz der Autonomen Republik, 89 Wahlen auszurufen und die Besetzung der Wahlkommission der Krym zu bestätigen, örtliche Referenden durchzuführen, das Eigentum der Autonomen Republik zu
Ohne daß genauer geregelt war, welche Institution diese Rechte ausüben durfte. Dies blieb wohl der Verfassung der Krym vorbehalten.
IV. Der Verfassungsentwurf des Ad-hoc-Komitees
287
verwalten, den Haushalt der Krym auf der Basis einer einheitlichen Steuer- und Haushaltspolitik der Ukraine zu beschließen und umzusetzen; Programme sozioökonomischer und kultureller Entwicklung, rationeller Ressourcennutzung und des Umweltschutzes im Rahmen nationaler Programme zu entwickeln, zu beschließen und umzusetzen; Orte als Kurorte und deren Schutzzonen zu bestimmen; die Rechte und Freiheiten der Bürger und die öffentliche Ordnung zu schützen; die Funktion und Entwicklung der Staatssprache und nationaler Sprachen und Kulturen zu sichern; an Repatriierungsprogrammen teilzunehmen und die Einführung des Kriegsrechts oder ökologischen Ausnahmezustands zu initiieren. Außerdem hätten andere Kompetenzen auf die Autonome Republik der Krym übertragen werden können (Art. 138). Damit umfaßten die Kompetenzen der Krym nur unwesentlich größere Kompetenzen als die der Selbstverwaltung und der oblast'-Verwaltung zusammengenommen. Die Krym war in das Rechts- und Gerichtssystem der Ukraine eingegliedert, konnte nur in begrenztem Umfang Steuern erheben und eine eigene Wirtschaftspolitik betreiben. Nur die Kompetenzen für normative Regelungen in Landwirtschaft und Forsten gingen über die Kompetenzen anderer ukrainischer Gebiete hinaus. Die Aufgaben des Wohnungsbaus, des öffentlichen Verkehrs, Straßenbau, Wasserversorgung und Kultur gehörten sonst auch in den Aufgabenbereich der Kommunen. Zumal mußte die Gesetzgebung der Krym auch in diesen Bereichen mit den nationalen normativen Bestimmungen kongruent sein. Der Status der Krym als Autonome Republik und die Verabschiedung einer eigenen Verfassung hätten deshalb mehr als symbolischer Akt verstanden werden müssen denn als echte Dezentralisierung von Kompetenzen. Wie sich dies auf Dauer mit einer eigenen politischen Identität der Krym vertragen hätte, die durch den Status als Autonome Republik mit eigener Verfassung weiterhin möglich war, hätte abgewartet werden müssen. Nach dem Entwurf des Ad-hoc-Komitees bildeten drei Institutionen das Rechtsverfolgungs- und Gerichtssystem: die Staatsanwaltschaft (Abschnitt VII), die Gerichtsbarkeit (Abschnitt VIII) und das Verfassungsgericht (Abschnitt XII). Die Vorschriften über die Staatsanwaltschaft waren in nur drei Artikeln (Art. 121-123) zusammengefaßt. Ihre Aufgabe war eine dreifache: sie sollte erstens die Interessen des Staates und der Bürger vor Gericht vertreten und zweitens die Legalität der Maßnahmen bei der Ermittlung von Straftaten und bei der Durchführung von Straf- und Zwangsmaßnahmen überwachen. Drittens hatte sie die Rolle des staatlichen Klägers an den Gerichten. Der Staatsanwaltschaft selbst kam aber keine Aufgaben mehr in der Ermittlung zu, wie dies in den sozialistischen Regierungssystemen der Fall gewesen war. Die Artikel über die Gerichtsbarkeit (Art. 124-131) waren gegenüber dem Entwurf der Verfassungskommission fast vollständig neu und wesentlich aus-
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Μ . Der verfassunggebende Prozeß
fuhrlicher gefaßt worden. Danach durften nur die ordentlichen Gerichte und das Verfassungsgericht im Namen der Ukraine Recht sprechen, außerordentliche Gerichte (wie Kriegs- und Militärgerichte) durften nicht eingerichtet werden (Art. 124f.). Die hauptberuflichen Richter waren unabhängig, genossen Immunität und durften keine andere berufliche oder politische Tätigkeit ausüben (Art. 126f.). Richter wurden zunächst vom Präsidenten für fünf Jahre ernannt und dann durch Wahl des Volks-Rates auf Lebenszeit in ihrem Amt bestätigt (Art. 130). Ein „Rat der Magistratur" 90 (Art. 131) hatte die Aufgabe • Vorschläge für die Ernennung und Entlassungen von Richtern vorzulegen, • Entscheidungen über die Unvereinbarkeit des Rechtsamtes von Richtern und Staatsanwälten mit anderen Tätigkeiten zu treffen und • Disziplinarmaßnahmen zu treffen. Damit hatte der Rat der Magistratur einen bedeutenden Einfluß auf die Personalpolitik des Rechtswesens. In ihm waren die verschiedenen Organe der Rechtspflege repräsentiert. Der Oberste Gerichtshof, der Präsident der Ukraine, die Versammlung der Richter der Ukraine, die Versammlung der Rechtsanwälte und die Versammlung der Vertreter der Rechtslehre ernannten je drei Mitglieder des Rates der Magistratur sowie die gesamtukrainische Konferenz der Staatsanwälte zwei Mitglieder. Der Vorsitzende des Obersten Gerichtshofes, der Generalstaatsanwalt und der Justiz-Minister gehörten dem Rat der Magistratur qua Amt an. Die Vorschriften über das dritte Rechtsorgan, das Verfassungsgericht (Art. 147-153), wurden nur geringfügig geändert. Die Regelungen zur Änderung der Verfassung (Abschnitt XIII, Art. 154159) wurden ebenfalls nur unwesentlich geändert. Art. 158 I hielt nun fest, daß ein Vorschlag zur Änderung der Verfassung, der nicht angenommmen wurde, erst ein Jahr nach Ablehnung des Vorschlags wieder eingebracht werden durfte. Gänzlich unverändert blieben schließlich die Schlußbestimmungen des Abschnitts X I V (Art. 160f.). Größere Aufmerksamkeit sollte zuletzt den Übergangsbestimmungen (Abschnitt XV, Nr. 1-13) zukommen. Diese enthielten u.a. eine Bestandsgarantie für den Volks-Rat und den Präsidenten, die nach Annahme der Verfassung erst im Frühjahr 1998, bzw. im Herbst 1999, d.h. nach dem regulären Ende der Legislaturperiode wiedergewählt werden sollten. Diese beiden Vorschriften sollten die Annahme der Verfassung insofern erleichtern, als sie die bestehenden Machtverhältnisse schützten (Nr. 2f.). Diesem Zweck konnte auch die Bestimmung dienen, daß der Präsident das selbständige Dekretrecht auf dem Gebiet wirtschaftlicher Fragen bis zur nächsten Wahl behielt (s.o.; XV, Nr. 4).
90
Rada Mahistratury.
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V· Auf dem Weg zur Verfassung A m 4. Juni 1996 wurde nicht nur der Verfassungsentwurf in erster Lesung verabschiedet. Ebenfalls am 4. Juni reichten 170 Abgeordneten offiziell einen Antrag zur Durchfuhrung eines Mißtrauensvotums gegen Moroz ein. Die Geschäftsordnung verlangte, daß am nächsten Tag das Parlament mit der Mehrheit der abgegebenen Stimmen entschied, ob das Mißtrauensvotum auf die Tagesordnung gesetzt werde. Von den 371 registrierten Abgeordneten stimmten 169 dafür, 168 dagegen und 12 Deputierte enthielten sich. Da die zwölf Enthaltungen bei den abgegebenen Stimmen mitgezählt wurden, hatte der Antrag nicht die notwendige Mehrheit von 175 Stimmen erreicht. 91 Damit war das Mißtrauensvotum schon im Vorverfahren gescheitert, und die linken Fraktionen brachen in anhaltenden Applaus aus. Neben den Kommunisten, Sozialisten und Agrariern hatte auch die Mehrheit der Fraktionsmitglieder der »Agrarier fur Reformen" und der „Unabhängigen" nicht für die Ablösung Moroz gestimmt. 92 Die Abstimmungen über den Verfassungsentwurf in erster Lesung und über den Mißtrauensantrag gegen Moroz zeigten, daß Kuöma und die rechten sowie zentristischen Fraktionen in keinem Fall mehr als 260 Stimmen mobilisieren konnten. Dies reichte für eine Verabschiedung der Verfassung, die mindestens 300 Stimmen erforderte, nicht aus. Auch war die sich stabilisierende Koalition von 170 Abgeordneten zu klein, um die Leitung der Verhandlungen im Parlament übernehmen zu können. Damit schien die Durchführung des Referendums mehr und mehr zur Gewißheit zu werden. A m 6. Juni 1996 nahm das Ad-hoc-Komitee seine Arbeit wieder auf, um die Anregungen der Abgeordneten aus der ersten Lesung in den Entwurf einzuarbeiten und diesen für die zweite Lesung vorzubereiten. Der Vorsitzende Syrota gab bekannt, daß man trotz der 3000 Änderungsvorschläge jetzt nur noch am Detail arbeiten würde. 93 Die linken Fraktionen hatten vorgeschlagen, Änderungen am Verfassungsentwurf in zweiter Lesung in Durchbrechung der Geschäftsordnung mit einfacher Mehrheit zu beschließen und erst in der abschließenden dritten Lesung mit verfassungsändernder Mehrheit. Dagegen wandten sich die rechten und zentristischen Fraktionen, da sie im Ad-hocKomitee die Mehrheit hatten, während die linken Fraktionen in der Plenarsitzung die Beratungen leichter beeinflussen konnten.94
91 Art. 3.2.3 der Geschäftsordnung der Verchovna Rada. 92 Interfax, 5.6.1996, Nr. 2, S. 3; IntelNews, 6.6.1996, S. 1. 93 Ebd., 6.6.1996, Nr. 1, S. 1; Ol'ha Öernaja, Glava soglacitel'noj komissii podelil'sjas pressoj „uspokoitel'nymi kapljami", in: KV, 14.6.1996, S. 3. 94 Marta Kolomayets, Few Believe Draft Constitution Will Be Adopted In Next Reading, in: The Ukrainian Weekly, Vol. 64, Nr. 24, 16.6.1996, S. 1. 19 Vorndran
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Μ . Der verfassunggebende Prozeß
In einer erneuten Wendung gab Kuöma am 13. Juni bekannt, daß er eine Verabschiedung der Verfassung durch die Verchovna Rada befürworte, da dies nur die Verfassung einer Übergangsperiode sei. Zudem sei die Annahme in einem Referendum riskant und koste die Gesellschaft viel Geld. Diese Ansicht wurde vom Berater des Präsidenten, Serhij Telesun, wiederholt, als das Adhoc-Komitee den Verfassungsentwurf für die zweite Lesung überarbeitet hatte.95 Das Ad-hoc-Komitee hatte die Überarbeitung des Entwurfs am 15. Juni 1996 abgeschlossen. Syrota gab bekannt, daß nur solche Vorschläge der linken Fraktionen aufgenommen worden seien, die nicht die grundlegenden Bestimmungen betrafen. Kommunisten und Sozialisten lehnten den nur „kosmetisch" geänderten Entwurf erneut ab. Der Entwurf wurde den Deputierten am 18. Juni zugeleitet.96 A m 19. Juni diskutierte die Verchovna Rada die Verfahrensregeln der Debatte. Rechte und zentristische Fraktionen schlugen vor, daß der Entwurf als Ganzer diskutiert werden und somit eine Änderung einzelner Artikel ausgeschlossen sein sollte. Dies hätte die Diskussion beschleunigt, aber sicherlich nicht zur Zustimmung der linken Fraktionen und zur Verabschiedung der Verfassung geführt. Die linken Fraktionen forderten die Diskussion aller einzelnen Artikel. Schließlich einigte man sich darauf, die Artikel einzeln zu diskutieren und mit verfassungsändernder Mehrheit von 301 Stimmen anzunehmen. Die Debatte sollte am 21. Juni beginnen.97 Ein Antrag der Kommunisten auf Vertagung bis zum 9. Juli, um sich mit dem Entwurf bekannt zu machen, wurde abgelehnt. Planmäßig begann am 21. Juni 1996 die zweite Lesung des Verfassungsentwurfs des Ad-hoc-Komitees. Mit 326 gegen 21 Stimmen wurde der Name des zu beratenden Gesetzes auf „Die Verfassung der Ukraine" festgelegt. Damit allerdings war der übergreifende Konsens beinahe schon erschöpft. Weder die Formulierung „Wir, das ukrainische Volk - ukrainische Bürger aller Nationalitäten" noch „das ukrainische Volk" fanden als Definition des „Volkes" eine Mehrheit. Die Formel, daß die Verfassung angenommen werde „auf der Basis der jahrhundertelangen Geschichte der ukrainischen Staatsbildung und seines Rechtes zur Selbstbestimmung" wurde nicht angenommen, weil sie angeblich
95 Interfax, 13.6.1996, Nr. 1, S. 1; ebd., 14.6.1996, Nr. 3, S. 1. Vladimir Kacman, Sergej Telesun: ZaSöitniki social'noj spravedlivosti mogut sékonomit' narodnye den'gi", in: K V , 20.6.1996, S. 3. 96 IntelNews, 17.6.1996, S. 4; Interfax, 19.6.1996, Nr. 1, S. 1. 97 Interfax, 19.6.1996, Nr. 2, S. 1; ebd., Nr. 3, S. lf. In Anbetracht des sich abzeichnenden Zeitdrucks wollten die Deputierten täglich außer sonntags von 10-19 Uhr die Verfassung debattieren. Für dieses Verfahren stimmten 218 gegen 80 Abgeordnete bei 11 Enthaltungen.
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die Selbstbestimmung der nicht-ethnischen Ukrainer ausschließe. Die Parlamentarier waren nicht in der Lage, sich auf den Namen ihres Parlamentes zu einigen,98 den Status der Sprachen zu bestimmen99 und zu entscheiden, ob die Ukraine ein unitarischer Staat 100 sein soll. Angenommen wurden die Artikel, daß die Ukraine eine Republik war und daß es nur eine Staatsbürgerschaft geben sollte. Die angebliche Finesse Moroz', daß man den letzten Satz der Präambel („Der Oberste Rat der Ukraine ... nimmt diese Verfassung - das Grundgesetz der Ukraine an.") nicht annehmen könne, da damit bereits die gesamte Verfassung angenommen sei, bewirkte eine vierzigminütige Blockade der Rednertribüne durch die Abgeordneten der Fraktion Ruch. 101 Nach diesem chaotischen und fast ergebnislosen ersten Tag der zweiten Lesung sagte der Vize-Premier Oleksandr Jemec' voraus, daß die Verchovna Rada niemals die Verfassung annehmen werde. A m Abend des gleichen Tages traf sich Präsident Kuöma mit allen Fraktionen außer den Kommunisten und Sozialisten. Es wurde erwogen, wie beim Verfassungsvertrag Unterschriften der Deputierten zu sammeln, um den Präsidenten zur Ausrufung eines Referendums aufzufordern. Die Sammlung der Unterschriften begann gleich am nächsten Tag. Es hieß, daß der Präsident schon am 24. oder 25. Juni ein entsprechendes Dekret erlassen könne. 102 A m 22. Juni traf sich Kuöma auch mit dem Parlamentsvorsitzenden Moroz und sagte diesem zu, mit der Unterzeichnung des Dekretes bis zur Rückkehr von seiner Polen-Reise am 26. Juni 1996 zu warten. In einer am gleichen Tag ausgestrahlten Fernsehsendung sagte Kuöma, daß das Schicksal der Verfassung noch vor dem 25. Juni 1996 entschieden werde. Zugleich erinnerte er daran, daß nicht nur der Entwurf des Ad-hoc-Komitees die Zustimmung des Parlamentes erhalten habe, sondern im März auch der Entwurf des Verfassungsausschuß. Kuöma betonte, daß er persönlich den Entwurf der „Experten" im Verfassungsausschuß dem Entwurf der „Politiker" im Ad-hoc-Komitee vorziehe. 103 Moroz mußte nun erkennen, daß er nicht nur den Einfluß auf die inhaltlichen Beratungen in der Vorbereitung des Verfassungsentwurfs verloren hatte, sondern auch, daß ihm fast keine Zeit mehr blieb, um in den Plenarsitzungen durch geschickte Verhandlungsführung eine Korrektur zu erreichen. Unterdessen
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„Volks-Rat" oder „Oberster Rat". 99 Ein Vorschlag, daß Ukrainisch die Staatssprache ist, fand 247 Stimmen. Ein Vorschlag, daß Russisch auch „offizielle" Sprache ist, fand mit 244 Stimmen eine ähnliche Mehrheit. 100 Aber auch eine „föderale" Regelung fand keinen Konsens. 101 Interfax, 21.6.1996, Nr. 1,S. 1 ; ebd., Nr. 2, S. 1; ebd., Nr. 3, S. 6. 102 IntelNews, 21.6.1996, S. 1; ebd., 22.6.1996, S. 3. 103 Interfax, 22.6.1996, o. Nr., S. 2f.
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hatten schon 220 Abgeordnete den Aufruf an den Präsidenten unterschrieben, um ihn zur Durchfuhrung des Referendums aufzufordern. 104 A m 24. Juni 1996 setzte das Parlament seine Beratungen fort. Die Deputierten nahmen acht Artikel ganz und zwei weitere teilweise an. Als sich keine Mehrheit fand, um die Staatssymbole in der Verfassung zu definieren, verliessen die Fraktionen Ruch, „Staatlichkeit" und „Reformen" den Saal. Die Fraktionen verlangten, daß am 25. Juni über die Verfassung als Ganzes abgestimmt werde. 105 Die Plenarsitzung wurde auf den nächsten Morgen vertagt und eine Sitzung des Fraktionsrates einberufen. Moroz kritisierte das Verhalten der rechten Fraktionen, die seiner Meinung nach die Durchführung des Referendums provozieren wollten. Vize-Premierminister Jemec' kündigte an, daß der Präsident am 26. Juni den verfassunggebenden Prozeß „beschleunigen" werde. 106 A m 25. Juni 1996 nahm die Verchovna Rada 28 Artikel an, darunter die bisher umstrittenen Vorschriften der Präambel und über die Stationierung fremder Truppen in der Ukraine. Als die Artikel 10 (über die Bestimmung des Status der Sprachen), 13 (über die Eigentumsformen) und 20 (über die Staatssymbole) wieder ohne Mehrheit blieben, weigerten sich Ruch und Staatlichkeit, weiter an den Abstimmungen teilzunehmen. Der Vorsitzende Ruchs, Cornovil, nannte die Bemühungen des Parlamentes eine „Imitation von Arbeit". Erneut tagte der Fraktionsrat, um die Fortsetzung der Beratungen zu ermöglichen. Am gleichen Tag beschloß das Kabinett, den Präsidenten zu bitten, für den 25. September 1996 ein Referendum anzusetzen.107 Das Parlament setzte am 26. Juni seine Beratungen fort und verabschiedete 16 weitere Artikel, bis die Fraktionen Ruch, Staatlichkeit und Reformen erneut ihre Mitarbeit verweigerten, da die Artikel 10, 13 und 20 immer noch nicht angenommen worden waren. 108 Wie angekündigt und scheinbar unvermeidlich unterzeichnete Präsident Kuöma am 26. Juni 1996 ein Dekret, mit dem er die Durchführung des Verfassungsreferendums für den 25. September festlegte. Tabaönik teilte mit, daß mehr als die Hälfte der Abgeordneten den Präsidenten darum gebeten habe. Auch der Nationale Sicherheitsrat und der Rat der Regionen hatten Kuöma die Unterzeichnung des Dekretes empfohlen. 109 Kuöma bezeichnete das Referen104 IntelNews, 25.6.1996, S. 1. 105 Die gelb-blaue Flagge fand nur die Zustimmung von 202 Abgeordneten, 122 stimmten dagegen. Für das Staatswappen stimmten 193 Deputierte, dagegen 118 (Interfax, 24.6.1996, Nr. 3, S. 1). 106 Interfax, 24.6.1996, Nr. 2, S. 2. 107 Ebd., 25.6.1996, Nr. 1, S. 2; ebd., Nr. 2, S. 3; IntelNews, 26.6.1996, S. 1. 108 Interfax, 26.6.1996, Nr. 3, S. 7f. 109 IntelNews, 27.6.1996, S. 1.
V. A u f dem Weg zur Verfassung
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dum als einen Schritt, zu dem ihn das Parlament gezwungen habe, da es entweder nicht genug Weisheit oder Willen gehabt habe, um die Verfassung zu verabschieden. Zur Überraschung und zum Ärgernis der Abgeordneten wollte der Präsident jedoch nicht den Verfassungsentwurf des Ad-hoc-Komitees durch das Referendum bestätigen lassen, den das Parlament in erster Lesung verabschiedet hatte, sondern den Zwei-Kammer-Entwurf des Verfassungsausschuß vom April. Tabaönik behauptete, dieser sei genauso legitim wie der Entwurf des ad-hoc-Ausschuß, da der Verfassungsausschuß durch eine Entscheidung der Verchovna Rada gebildet worden sei und in ihm alle Gewalten vertreten waren. Dies trifft jedoch nicht zu. Rechtlich gesehen hatte Kuöma nur die Möglichkeit, den Entwurf des Ad-hoc-Komitees zur Entscheidung zu stellen. In der Präambel des Dekrets kritisierte Kuöma, daß die Beratung der Verfassung nach der Vorlage durch den Verfassungsausschuß im Ad-hoc-Komitee erfolgt sei. In diesem Gremium sei nur eine Partei der Verfassungsvereinbarung, das Parlament, nicht aber der Präsident vertreten gewesen.110 Damit diskreditierte Kuöma die Arbeit des Ad-hoc-Komitees, die er bisher als konstruktiv gewürdigt hatte und unterschlug, daß er durch die Treffen mit den Fraktionen Einfluß auf die Beratungen genommen hatte. Dies bedeutete nichts anderes, als die eigenen Alliierten im Parlament vor den Kopf zu stoßen und gegen sich aufzubringen. Die Abgeordneten sahen in der Entscheidung des Präsidenten, den Entwurf des Verfassungsausschuß im Referendum zur Abstimmung zu stellen, einen Verstoß gegen die Verfassungsvereinbarung, die eindeutig regelte, daß das Parlament dem Text des Entwurfs zugestimmt haben mußte. Im März 1996 hatten die Deputierten lediglich beschlossen, den Text des Verfassungsausschuß als Grundlage weiterer Beratungen zu akzeptieren - wie sonst hätten die taktischen Winkelzüge der letzten drei Monate erklärt werden sollen? Nur der Text des Ad-hoc-Komitees hatte die Zustimmung des Parlamentes, und das Dekret des Präsidenten wurde folgerichtig als rechtswidrig angesehen. Bei einem Treffen mit den Fraktionsvorsitzenden von zehn Fraktionen am Abend des 26. Juni behielt sich Kuöma vor, den Text des Dekretes zu ändern und den Entwurf des Ad-hoc-Komitees zur Abstimmung zu stellen, wenn die Parlamentarier einige Bedingungen erfüllten. Sie sollten bis zum Abend des 28. Juni 1996 einige Vorschläge des Präsidenten in die Verfassung einarbeiten, die die Binnenstruktur der Exekutive, die Möglichkeit des Privateigentums an Land, den Status der Sprachen und die Definition der Staatssymbole betrafen. Vize-Premier Oleksandr Jemec' kommentierte, daß der Präsident genug getan habe, um eine Einigung zu erreichen. Vjaöeslav Cornovil hielt es aber für unmöglich, die Zustimmung des Parlamentes für die Forderungen des Präsiden-
110 Interfax, 27.6.1996, Nr. 3, S. lf.
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ten zu erhalten. Der Vertreter des Präsidenten im Parlament, Viktor Musijaka, trat aus Protest gegen das Dekret des Präsidenten von seinem Amt zurück. 111 Mit dem Erlaß des Dekretes hatte Präsident Kuöma das gesamte Parlament gegen sich aufgebracht. Noch am Abend des 26. Juni 1996 hatte Moroz Gegenmaßnahmen angekündigt. Er sagte, wenn eine Gewalt ihre Kompetenzen überschreite, werde sie von der anderen Gewalt daran gehindert. A m Morgen des 27. Juni mußte er aber zunächst die Fraktionen Ruch und Staatlichkeit überzeugen, weiter an den Beratungen teilzunehmen. Um das Referendum Kuömas zu unterstützen und Beratungen des Parlamentes zu verhindern, hatten sie sich zunächst nicht für die Plenarsitzung registriert, folgten dann aber der Aufforderung Moroz' und registrierten sich für die Sitzung. In geschlossener Plenarsitzung entschieden die Deputierten, die Verfassung selbst zu verabschieden, um wieder Einfluß auf die Gestaltung der Verfassung zu gewinnen. Sie wollten mit der artikelweisen Beratung fortfahren und diese erst beenden, wenn die Verfassung verabschiedet war. Dazu setzten sie fünf Arbeitsgruppen zu den strittigsten Punkten ein, in denen jeweils alle Fraktionen vertreten waren. 112 Die Ergebnisse der Arbeitsgruppen sollten in einer speziellen Arbeitsgruppe zusammengefaßt und dem Plenum um 15 Uhr vorgestellt werden. Aber erst gegen 18 Uhr nahm das Parlament die Beratungen im Plenum wieder auf, und die sehr emotional verlaufenden Auseinandersetzungen ließen nicht erwarten, daß das Parlament in der Lage sein würde, die Verfassung jemals zu verabschieden. 113 A m Abend des 27. Juni 1996 trat Kucma im Fernsehen auf und bestätigte öffentlich seine Entscheidung, ein Verfassungsreferendum durchzuführen. Dies erhöhte den Druck auf das Parlament, zu einer Einigung zu kommen. Zugleich wies er die Mitglieder der Regierung mit Parlamentsmandat intern an, den Beratungen fernzubleiben. Kuöma wollte damit verhindern, daß eine verfassungsändernde Mehrheit zustande käme. Als die Anweisung des Präsidenten im Parlament bekannt wurde, bewirkte sie eine Trotzreaktion der Abgeordneten, die nun beschlossen, die ganze Nacht hindurch weiter zu beraten. Der „Ausschuß für die Geschäftsordnung und die Ethik der Abgeordneten" wurde beauftragt, eine Resolution auszuarbeiten, die den Ausschluß der Regierungsmitglieder mit Parlamentsmandat aus der Verchovna Rada vorsah. 114
H l Ebd., 26.6.1996, Nr. 2, S. 3; ebd., 27.6.1996, Nr. 1, S. 1-3; IntelNews, 26.6.1996, S. 1. 112 D i e s betraf die Vorschriften zu den Eigentumsformen, den Staatssymbolen, dem Status der Sprachen, dem Status der Krym und die Machtverteilung zwischen Exekutive und Legislative. 113 Interfax, 27.6.1996, Nr. 2, S. 6; IntelNews, 28.6.1996, S. 1. 1 I n t e r v i e w mit Bohdan Radejko, Parliamentary Development Project, Kyjiv, am 23.8.1996.
V. Auf dem Weg zur Verfassung
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Die Beratungen schritten nun zügig voran. Bis 21.40 Uhr waren die Präambel, das Kapitel 1 (allerdings ohne die Vorschriften über die Staatssymbole) und das Kapitel 2 verabschiedet. Um 22 Uhr hatte man sich auch auf die Vorschriften des Kapitel 3 geeinigt, bis 23.30 Uhr auf 84 von 161 Artikeln. Im Morgengrauen ließ Moroz erneut die Beschlußfähigkeit überprüfen, weil einige Minister-Abgeordnete fehlten. Die meisten hatten jedoch die Anweisung Kuömas ignoriert und waren in die Verchovna Rada zurückgekommen. Der Präsident selbst war nicht anwesend. Kuömas loyaler Premierminister Lazarenko wurde am Morgen des 28. Juni 1996 bei einer Pressekonferenz in Cerkasy von den Entwicklungen in der Hauptstadt überrascht. Den schwierigsten und erst zuletzt vereinbarten Punkt in der Debatte bildete die Definition der Staatssymbole. Erst am 28. Juni um sieben Uhr morgens wurde der Kompromiß ausgearbeitet und verabschiedet. 115 Noch einmal zweieinhalb Stunden später war es soweit: A m 28. Juni 1996 um 9.28 Uhr stimmten in Anwesenheit Kuömas 315 Abgeordnete für die Annahme der Verfassung. 36 Deputierte votierten gegen den Verfassungsentwurf, 12 enthielten sich und 30 registrierte Deputierte nahmen nicht an der Abstimmung teil. 116 Unmittelbar nach dem Votum ergriff Kuöma das Wort, um sich bei den Deputierten für ihre Leistung zu bedanken und sich zugleich zu entschuldigen: „Ich möchte mich auch bei Ihnen entschuldigen, daß es Zeiten gab, in denen ich Sie nicht völlig korrekt für Ihre Aufgabe motiviert habe. [Kuöma wird durch gutmütiges Lachen unterbrochen.] Ich muß zugeben, Sie haben eine starke Verfassung, alle von Ihnen [erneut Lachen] und daß Sie es verdienen, weiterhin Deputierte genannt zu werden. Heute kann niemand in der Ukraine mehr sagen, wir hätten ein ineffektives Parlament." 117 Nachdem Kuöma seine kurze Rede mit den pathetischen Worten „... für die Weisheit, für die Freiheit, für die Tatsache, daß wird sind. Ich wünsche uns allen das Beste für die schwierigen Zeiten vor uns und, noch einmal, Ich danke Ihnen!" 118 beendet hatte, grüßte ihn das Parlament mit stehenden Ovationen. Auch Moroz bedankte sich bei allen, die am verfassunggebenden Prozeß beteiligt waren, selbst wenn sie am Ende mit „nein" gestimmt hatten. Alle Deputierten hätten zum Schutz der Interessen von Staat und Gesellschaft gearbeitet: 115 Interfax, 27.6.1996, Urgent Nr. 1 u. 4; Marta Kolomayets, New Constitution changes political landscape, in: The Ukrainian Weekly, Vol. 64, Nr. 27, 7.7.1996, S. 1,4. 116 Eine Tabelle mit dem Abstimmungsergebnis nach Fraktionen ist abgedruckt in Anhang 6. 117 Aus dem Englischen nach The First Microphone: Leonid Kuchma, in: EE, Vol. 3, Nr. 23 (127), 1.7.1996, S. 4. 118 Ebd.
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Μ . Der verfassunggebende Prozeß
„Hier im Saal der Verchovna Rada wurde die jüngste Geschichte eines Staates geschaffen, der eine eigene Verfassung haben [und] auf der Basis von Demokratie und Parlamentarismus stehen wird." 1 1 9 Daraufhin symbolisierten Kuöma und Moroz die gewonnene Einheit der zuvor zerstrittenen Gewalten mit einer herzlichen Umarmung. Unmittelbar danach erklärten die Abgeordneten den 28. Juni zum „Tag der Verfassung" und staatlichen Feiertag und hoben das Dekret des Präsidenten über das Referendum auf. In einer anschließenden Pressekonferenz erklärte Kuöma, daß nicht die Entscheidung selbst, aber die Vereinigung des Parlamentes für ein gemeinsames Ziel die Hauptsache gewesen sei. Das Parlament und seine Führung hätten den Mut gehabt, die Fronten zu überschreiten. Er entschuldigte sich bei den Kommunisten, die er so scharf kritisiert hatte und stellte heraus, daß er nun genau sagen könne, daß sie die Kommunistische Partei der Ukraine seien, das Wort „Ukraine" betonend. Die Verfassung sei dank der Weisheit, der Toleranz und des politischen Willens von Oleksandr Moroz zustande gekommen. Jeder sei ein Gewinner, alle in der Ukraine hätten gewonnen.120 Der Vorsitzende Ruchs, Cornovil, schrieb der Annahme der Verfassung die gleiche Bedeutung zu wie der Unabhängigkeitserklärung der Ukraine fünf Jahre zuvor. Die Übergangsperiode sei nun zu Ende. 121 Justizminister Holovatij begrüßte, daß die Ukraine mit dieser Verfassung für immer die Idee des „liberalen Autoritarismus" aufgegeben habe, die in vielen Ländern der ehemaligen Sowjetunion praktiziert werde. 122 Die Legitimität der neuen Verfassung wurde nur von einem Teil der Kommunisten angezweifelt, die sich darauf beriefen, in der Nacht vom 27. auf den 28. Juni unter extremem Druck gestanden zu haben. 35 der 36 Abgeordneten, die am 28. Juni gegen die Verfassung gestimmt hatten, gehörten der Kommunistischen Fraktion an.
VI. Die neue ukrainische Verfassung Vergleicht man die verabschiedete Version der Verfassung mit dem in erster Lesung bestätigten Entwurf des Ad-hoc-Komitees, so fällt auf, daß der Entwurf nur noch in ganz geringem Maße geändert wurde. Allein die umstrittenen ideologischen Artikel des Abschnittes über die Allgemeinen Bestimmungen (Abschnitt I) wurden noch signifikant geändert. Ansonsten blieb der Entwurf fast vollständig erhalten, insbesondere die Bestimmungen über das Verhältnis von 119 Interfax, 28.6.1996, o. N r , S. 3. 120 Ebd., 28.6.1996, Nr. 2, S. 1. 121 Ebd., Nr. 3, S. 2. 122 IntelNews, 3.7.1996, S. 3.
VI. Die neue ukrainische Verfassung
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Exekutive und Legislative in den Abschnitten IV bis VI. Es ist also ein Mythos, daß die Verfassung in der „letzten Nacht" verabschiedet worden ist: auf die entscheidenden Änderungen hatten sich die im Ad-hoc-Komitee mitarbeitenden Fraktionen schon vor der ersten Lesung geeinigt. Die Verabschiedung der Verfassung ist nicht aufgrund tiefgreifender Interessenunterschiede über die Machtstruktur der Institutionen verzögert worden, sondern aufgrund der ideologischen Divergenzen zwischen den Linken (Kommunisten, Sozialisten) und der Rechten (Nationalisten und Nationaldemokraten). Der erste Streitpunkt, enthalten im ersten Satz der Präambel, war die Definition des ukrainischen Volkes bzw. des Volkes der Ukraine. 123 Die beschlossene Formel lautet nun „Die Verchovna Rada im Namen des ukrainischen Volkes - Bürger der Ukraine aller Nationalitäten [Hervorhebung von mir, O.V.] drückt den souveränen Willen der Nation aus, ,.." 124 . Diese Formel erscheint mehr als Addition divergierender Auffassungen über die Nation denn als versöhnender Kompromiß. Die Linke hatte die etatistische Version „das Volk der Ukraine", die Rechte die ethnische Variante „das ukrainische Volk" als Definitionen vorgeschlagen. Die Formulierung in der neuen Verfassung entspricht der ukrainischen Verfassungswirklichkeit, die ein Paradox der ukrainischen Nation widerspiegelt: Die Ukraine kann gegenüber Rußland ihre Existenzberechtigung am einfachsten aus der ethnischen und kulturellen Eigenständigkeit des ukrainischen Volkes ableiten, verfolgte aber stets eine andere Ethnien integrierende Nationalitäten- und Nationalstaatspolitik. Die gefundene Formel drückt auch aus, daß es in dieser Frage keine voluntaristische „Lösung" geben kann - die eine oder andere Variante bevorzugend -, ohne die Einheit des Staates zu gefährden. Gelingt es dem ukrainischen Volk in Anerkennung dieser Realität und Paradoxie miteinander zu leben, dann kann diese additive Definition der ukrainischen Nation durchaus zu einer Erfolgsformel werden. Ein weiterer, in der Präambel enthaltener Streitpunkt war die Frage, vor welcher Autorität die Verfassungsgeber sich bei der Verabschiedung der Verfassung verantwortlich fühlen sollten. Der Entwurf des Ad-hoc-Komitees nannte die „vergangenen, gegenwärtigen und künftigen Generationen" als Referenz. Die Nationaldemokraten wollten dieser Formulierung die Verantwortung „vor Gott" hinzufügen, stießen dabei aber auf den Widerstand der Kommunisten. Auch hier wurde eine additive Kompromißformel gefunden, die als dritte Instanz „das Gewissen" der Verfassungsgeber einführt. 125
123 Siehe die Bemerkungen zur ersten Sitzung des Verfassungsausschuß nach der Sommerpause im Herbst 1995 in Abschnitt M.I. 1 2 4
Präambel, Abs. 1 u. 2. 125 Ebd., Abs. 7.
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Μ . Der verfassunggebende Prozeß
Der zweite große Streitpunkt betraf die Staatssprache, geregelt in Art. 10. Dieser Artikel wurde, bis auf den ersten Satz, vollständig neu gefaßt. In Art. 10 I des Entwurfes des Ad-hoc-Komitees hieß es, daß „die staatliche (offizielle) Sprache in der Ukraine die ukrainische Sprache ist". In der neuen Fassung des ersten Satzes wurde das Adjektiv in Klammern „(offizielle)" fallen gelassen und damit die Eindeutigkeit der Regelung gestärkt, da die alte Fassung an den möglichen Status des Russischen als „offizielle" Sprache erinnerte. Wichtiger sind jedoch die Änderungen in den nachfolgenden Absätzen. In der Fassung des Ad-hoc-Komitees hieß es, daß Staatsorgane und -Organisationen eine andere Sprache als das Ukrainische benutzen können, wenn die Mehrheit der Bevölkerung in einer kompakten Siedlung dazu ihre Zustimmung gibt. Diese Regelung ist gestrichen worden. Stattdessen folgt in Art. 10 der Auftrag an den Staat, die umfassende Entwicklung und den Gebrauch der ukrainischen Sprache in allen Bereichen der Gesellschaft und auf dem gesamten Staatsgebiet zu fördern. Dieses Gebot wird auch dadurch nicht gemildert, daß Abs. 3 des gleichen Artikels „die unbeschränkte Entwicklung, den Gebrauch und den Schutz des Russischen, anderer Sprachen nationaler Minderheiten" garantiert. Dies besagt nur, daß den Bürgern der Gebrauch anderer Sprachen erlaubt ist, aber nicht, daß ihnen aus dem Gebrauch der anderen Sprache keine Nachteile entstehen dürfen 126 oder daß der Gebrauch anderer Sprachen gefördert wird. Der Gebrauch anderer Sprachen wird damit aus dem öffentlichen in den privaten Bereich verwiesen. Ein neuer Akzent wurde auch durch Abs. 4 gesetzt, der den Staat auffordert, „das Lernen von Sprachen internationaler Kommunikation" zu ermöglichen. Damit ist nun nicht mehr wie noch zu sowjetischen Zeiten das Russische gemeint, sondern in erster Linie Englisch, vielleicht noch Deutsch. Der dritte große Streitpunkt betraf die Frage des Privateigentums, im speziellen den Landbesitz. Kommunisten und Sozialisten hatten immer wieder herausgestellt, daß die Behandlung von Grund und Boden als „Ware" Verrat an der ukrainischen Nation sei und deren Ausverkauf darstelle. Dieser „Verrat an der Nation" wird nun in Art. 14 I I erlaubt und geschützt: „Das Eigentum an Grund und Boden ist garantiert", heißt es dort schlicht. In Übereinstimmung mit dem Gesetz können nun Bürger, juristische Personen und der Staat die Eigentumsrechte wahrnehmen. 127 Dabei gebietet Art. 13 IV die Gleichheit der Eigentumsrechte unabhängig vom Status des Eigentümers (als Bürger, juristi126 Beispielsweise bei der Einstellung in den öffentlichen Dienst. 127 Aus der Formulierung des Artikels geht nicht hervor, ob auch Ausländer Grund und Boden erwerben dürfen. Der Begriff Bürger weist daraufhin, daß zunächst ukrainische Bürger gemeint sind. Als Staat kommt nur der ukrainische Staat in Betracht. Allein der Begriff, juristische Personen" erhält keine solche Einschränkung.
VI. Die neue ukrainische Verfassung
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sehe Person oder Staat). Grund und Boden genießt aber nach Art. 14 I eine besondere verfassungsrechtliche Wertschätzung. Dort heißt es, daß Land ein „wesentliches nationales Gut" ist und den speziellen Schutz des Staates erhält. Ohne Konkretisierung durch Gesetz bleibt dieser Verfassungssatz allerdings eine Leerformel. Den Auffassungen der Linken wird nur symbolisch Tribut gezollt. Eine direktere Wirkung könnte vielmehr Art. 13 I I I entfalten, der die Sozialbindung des Eigentums postuliert: „Eigentum sollte nicht zum Nachteil des Individuums oder der Gesellschaft genutzt werden." Diese Verpflichtung war wie die Regelungen des Art. 14 im Entwurf des Ad-hoc-Komitees noch nicht enthalten. Genauso heftig umstritten wie die Definition des Volkes, der Staatssprache sowie des Besitzes von Grund und Boden war die Festlegung der Staatssymbole in der Verfassung. Die Linke wollte die konkrete Beschreibung der Flagge, des Wappens und der Hymne vermeiden und durch Gesetz regeln. Die Nationalisten bestanden auf dem Verfassungsrang der Staatssymbole. Wie bei der Definition der Nation wurde auch für die Festlegung der Staatssymbole ein Kompromiß gefunden, der hauptsächlich die Anschauung der Nationalisten reflektiert, aber dennoch der Linken entgegenkommt. Die Verfassungsgeber legten im Art. 20 endgültig nur fest, daß die Staatsflagge je einen blauen und gelben waagerechten Streifen hat und daß Kyjiv die Hauptstadt der Ukraine ist. Die Bestimmung des Staatswappens und der Hymne überließen sie dagegen einfach-gesetzlicher Regelung, die aber mit 2/3 Mehrheit zu treffen ist. Darüber hinaus wurde festgelegt, daß das Staatswappen Volodymyr des Großen (der Dreizack) das zentrale Element des Staatswappens der Ukraine sein soll (Art. 20 IV). Die Hymne soll auf der Melodie der alten Hymne Verbyc'kijs („Noch ist die Ukraine nicht gestorben") beruhen, aber einen neuen Text erhalten (Art. 20 V). Die weiteren Änderungen in der Verfassung gegenüber dem Entwurf des Ad-hoc-Komitees griffen nicht mehr in die Substanz der Verfassung, ihre Struktur und die Balance der Gewalten ein. Auf zwei wichtige Änderungen muß dennoch hingewiesen werden. Erstens wurde Art. 22 über die Garantie der Grundrechte und -freiheiten um einen dritten Absatz ergänzt. Dieser verbietet es, bei der Annahme oder Änderung von Gesetzen die gegenwärtig bestehenden Rechte und Freiheiten einzuschränken. Dies wirft die Frage auf, ob zukünftige Gesetze individuelle Freiheiten nur noch erweitern dürfen und wem gegenüber - dem Staat und/oder anderen Bürgern - diese Regelung anzuwenden ist. 128
128 Die sonstigen Änderungen und besonders Ergänzungen im Grundrechtsteil der Verfassung betreffen zumeist die Betonung der Pflichten des Individuums gegenüber dem Staat und den Mitbürgern. Art. 23 I betont nicht nur das Recht des Individuums auf freie Entfaltung, sondern auch die Pflicht gegenüber der Gesellschaft, in der sich der
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Μ . Der verfassunggebende Prozeß
Die zweite wesentliche Änderung ist außenpolitischer Natur. So verbietet Art. 17 V I I die Stationierung ausländischer Militärbasen auf dem Staatsgebiet der Ukraine. Diese Regelung ist direkt gegen die Präsenz des russischen Teils der Schwarzmeerflotte in Sevastopol' gerichtet. Die Rigidität dieser Vorschrift, die zu ernsthaften Konflikten mit Rußland hätte fuhren können, wird durch Nr. 14 der Übergangsbestimmungen (Abschnitt XV) gemildert. Danach können bestehende Militär-Basen fur die zeitweilige Stationierung fremder Truppen genutzt werden, wenn durch internationalen Vertrag Pachtbedingungen geregelt wurden, die durch die Verchovna Rada ratifiziert wurden. Die Kombination dieser Vorschriften solte die ukrainische Exekutive unter stärkeren Druck setzen, einen Vertrag mit Rußland auszuhandeln und gab ihr zugleich Druckmittel gegenüber Rußland in die Hand, da die Stationierung der russischen Truppen in Sevastopol' mit der Verabschiedung der Verfassung iiiegalisiert wird. Für die legale Stationierung bedürfen die Russen eines Vertrages, der nur dann zustande kommt, wenn die ukrainische Regierung und das Parlament den Bedingungen zustimmt. 129 Welche politischen Richtungen konnten ihre Vorstellungen in der Verfassung verwirklichen? Vier Beteiligte und Gruppen können im verfassunggebenden Prozeß unterschieden werden: der Präsident und drei „ideologische Richtungen" im Parlament, ganz grob gesagt: Rechte, Linke und Zentristen. Hinsichtlich der oben diskutierten ideologischen Fragen, deren „Lösung" bis zum Schluß aufgeschoben wurde, konnten die rechten Fraktionen ihre Auffassung weitgehend durchsetzen. Die Auffassung der rechten Fraktionen wurden mehr oder weniger vom Präsidenten und den zentristischen Fraktionen im Parlament geteilt. So wurde die Linke von allen Seiten unter Druck gesetzt, diesen Regelungen zuzustimmen, um den Bestand und den Einfluß des Parlaments zu erhalten. Als Gegenleistung kamen Rechte und Zentristen der Linken bei den einzelnen Artikeln mal mehr, mal weniger entgegen. Es heißt, die Zustimmung zum Sprachenartikel wurde dadurch erreicht, daß der Krym (formal) der Status einer Autonomen Republik zugestanden wurde. In der Frage des Eigentums an Grund und Boden, bei den Staatssymbolen und bei der Staatssprache konnten sich aber Rechte und Zentristen klar durchsetzen. Dadurch wurde der ethnisch
einzelne frei und umfassend entfalten kann. Es wird also die Sozialität des Individuums betont. Der neue Abs. 2 des Art. 51 verpflichtet die Eltern, ihre Kinder bis zur Reife zu unterstützen. Ebenso werden Kinder verpflichtet, für ihre arbeitsunfähigen Eltern zu sorgen. Eine Mitwirkungspflicht des Individuums gegenüber dem Staat wurde in Art. 67 II eingeführt. Danach haben alle Bürger für das vorangegangene Jahr gegenüber dem Steuerbeamten ihres Wohnortes eine Finanz- und Einkommenserklärung abzugeben. 129 Der russische und der ukrainisch Präsident unterzeichneten am 31.5.1997 einen Vertrag über Freundschaft und Zusammenarbeit, der entsprechende Pachtvereinbarungen enthielt.
VII. Die entscheidenden Faktoren im verfassunggebenden Prozeß
301
fundierte Anteil am Verständnis der Nation gestärkt, der etatistische geschwächt, auch wenn dies nicht direkt aus der Definition der Nation in der Präambel hervorgeht. Die Linke konnte als ihren Verdienst ausweisen, die Festlegung eines umfassenden Katalogs sozialer Rechte durchgesetzt zu haben. Dies widersprach aber nicht den Interessen der anderen Beteiligten, da der Katalog der sozialen Grundrechte in den Augen der Bevölkerung die Legitimation des Staates als Fürsorgestaat (in sozialistischer Tradition) stärkt. Bei der Festlegung der Regierungsstruktur verlief die Konfliktlinie nicht zwischen den parlamentarischen Richtungen, sondern zwischen dem Parlament und dem Präsidenten. Die Vorstellung der Linken, das Amt des Präsidenten ganz abzuschaffen, konnte sich dabei ebensowenig durchsetzen wie die Idee eines Zwei-Kammer-Parlamentes, die vom Präsidenten propagiert wurde. Zu eindeutig lief der letztere Vorschlag auf eine Paralyse der Legislative und ein Übergewicht des Präsidenten hinauslaufen. Somit waren es Rechte und Zentristen, die in den Verhandlungen des Ad-hoc-Komitees die Gestaltungsmacht für die Struktur der Gewaltenteilung hatten. Insgesamt bedeutet die Form der verabschiedeten Verfassung eine eindeutige Abkehr vom sozialistischen Regierungssystem. Sowohl die politische Dominanz der Räte als auch die Planwirtschaft als Wirtschaftssystem sind abgeschafft worden. Durch die Betonung des Nationalen, das Gleichgewicht der Macht zwischen Parlament und Präsident sowie den demokratischen und rechtstaatlichen Charakter des verfassunggebenden Prozesses hat sich die Ukraine von Rußland abgesetzt und sich zugleich dem Westen zugewandt. Mit der neuen Verfassung kann die Ukraine nicht mehr als einer der drei slawischen Brüderstaaten, im Verein mit Rußland und Weißrußland gesehen werden.
V I I . Die entscheidenden Faktoren im verfassunggebenden Prozeß „Nichts weniger als ein Wunder" ist die unmöglich erscheinende Verabschiedung der Verfassung durch das Parlament im Herbst 1995 genannt worden. Die Diskussion um die Verfassungsvereinbarung hatte die tiefgehenden ideologischen Gräben im Parlament deutlich aufgezeigt, und kein Mittel schien sichtbar, um diese Gräben zu überwinden. Welche Faktoren machten es möglich, daß die Verfassung dennoch durch das Parlament angenommen wurde? Erstens: Die Verchovna Rada hatte nach der Unterzeichnung der Verfassungsvereinbarung ein eigenes Interesse an der Verabschiedung der Verfassung. Als Präsident Kuöma im Herbst 1994 die Diskussion des „Gesetzes über die Macht" initiierte, hatte nur er, nicht aber das Parlament, ein Interesse an der
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Μ . Der verfassunggebende Prozeß
präzisen Festlegung der Kompetenzen der Gewalten. Präsident Kucma war daran interessiert, politische und wirtschaftliche Reformen so schnell und so wirkungsvoll wie möglich zu beginnen und umzusetzen, weil er nur fur diesen Fall auf eine Wiederwahl und zweite Amtszeit hoffen konnte. Das Parlament und insbesondere dessen linke Mehrheit unter der Führung des Parlamentssprechers Oleksandr Moroz dagegen war an der Beibehaltung des status quo gelegen. Erst durch die Bedrohung seiner Existenz mittels des Plebiszites war das Parlament im Juni 1995 bereit gewesen, einer neuen Machtverteilung zuzustimmen. Das „Gesetz über die Macht" ermöglichte es dem Präsidenten, ohne Rücksicht auf das Parlament die Regierung zu bilden und seine Politik umzusetzen. Es ermöglichte ihm zudem, mindestens theoretisch, die Regional- und Kommunalverwaltungen zu kontrollieren, die sich seit 1990 weitgehend einer Aufsicht entzogen hatten. Diese neue Machtverteilung änderte die institutionellen Interessen der Beteiligten. Der Präsident wollte die für ihn vorteilhafte Lage dauerhaft in einer Verfassung festschreiben und eventuell den Einfluß des Parlamentes noch weiter beschneiden. Ansatzpunkt war diesmal nicht der Einfluß auf die Exekutive, sondern der Einfluß auf die gesetzgebende Tätigkeit. Kucma erhoffte sich von einem Zwei-Kammer-Parlament, daß er über den Einfluß des Senates die erforderliche Reformgesetzgebung erhalten konnte. Die Parlamentarier waren dagegen daran interessiert, die Kontrolle über die Exekutive auf nationaler, regionaler und kommunaler Ebene wiederzugewinnen. Damit hatten, wenn auch unter diametral unterschiedlichen Vorzeichen, zum ersten Mal beide Gewalten ein Interesse an der Verabschiedung einer Verfassung. Durch die konfligierenden Interessen wurde die erste, institutionelle Konfliktlinie des verfassunggebenden Prozesses bestimmt. Die zweite, ideologische Konfliktlinie verlief quer durch das Parlament. Die linken Fraktionen (Kommunisten, Sozialisten, Bauernpartei) bevorzugten politisch ein Rätesystem mit der Verchovna Rada als höchster Instanz und wirtschaftlich die Fortfuhrung einer sozialistischen Staatswirtschaft. Die rechten Fraktionen und, etwas anders akzentuiert, die zentristischen Fraktionen sprachen sich für eine parlamentarisch-präsidentielle Republik und eine noch zu entwickelnde Form des Kapitalismus auf der Basis von Privateigentum aus. Da die linken Fraktionen mit ca. 130 Abgeordneten gegenüber den mindestens 170 Deputierten der Rechten und Zentristen in der Minderheit waren, spielte der Führer der Linken, Moroz, auf Zeit. Er hoffte, daß sich die Verhandlungen im Parlament festrennen würden, um dann zum rechten Zeitpunkt durch geschicktes Taktieren, Winkelzüge der Geschäftsordnung und überzeugende Vermittlungsvorschläge in aufgeregten Debatten soweit wie möglich seine eigene, pragmatisch-linke Position durchsetzen zu können. Dieser Versuch Moroz' mißlang, weil er durch seine Taktik die rechten und zentristischen Fraktionen gegen sich aufbrachte. Moroz wurde zu ihrem
VII. Die entscheidenden Faktoren im verfassunggebenden Prozeß
303
gemeinsamen Gegner und bildete somit den Kitt für eine Koalition gegen ihn. Präsident Kuöma unterstützte diesen Prozeß und die sich in der Schlichtungskommission und im Ad-hoc-Komitee zusammenschließenden Fraktionen. Kuöma wollte mit dieser Taktik das Parlament spalten und dann selbst als Sieger aus dem Verfassungskampf hervorgehen. Die neun rechten und zentristischen Fraktionen, teilweise unterstützt auch durch die Mitarbeit der Bauernpartei, entwickelten aber Stärke aus sich heraus. Sie verfügten über genug Abgeordnete, um die Verabschiedung des Verfassungsentwurfs in erster Lesung mit absoluter Mehrheit gegenüber Moroz realistisch androhen zu können. Schließlich half Kuöma mit seinen Minister-Deputierten aus, um diese Drohung Wirklichkeit werden zu lassen. Dabei waren die Fraktionen stark genug, um gegenüber Kuöma ein Ein-Kammer-Parlament durchzusetzen. Dies war die Kernforderung des Parlamentes gegenüber dem Präsidenten. Die rechten und zentristischen Fraktionen in Gestalt des Ad-hoc-Komitees konnten sich also bis zur ersten Lesung in beiden Konfliktlinien durchsetzen. Danach waren sie auf die Hilfe der Linken angewiesen, um eine verfassungsändernde Mehrheit zu erreichen, oder auf die Hilfe Kuömas. Schließlich kamen ihnen beide Parteien zu Hilfe: Moroz, der (ab dem 21. Juni durch die bevorstehende Ankündigung des Referendums) unter enormem Zeitdruck versuchte zu retten, was zu retten war und die Verhandlungen im Parlament vorantrieb; Kuöma, der durch die Wahl des Zwei-Kammer-Entwurfs des Verfassungsausschuß für das Referendum das Parlament gegen sich aufbrachte und damit gegen sich vereinigte. In dieser gespannten Situation führte nicht zuletzt auch der Einfluß und die Fähigkeit Einzelner zur Verabschiedung der Verfassung. Oleksandr Moroz ließ keine Pausen in der Plenarsitzung zu, dirigierte die Debatten und Entscheidungen diesmal zielgerichtet und bewegte die polarisierten Fraktionen zu Kompromissen. Michajlo Syrota, der schon in den Monaten zuvor eine Schlüsselrolle im Ad-hoc-Komitee gespielt hatte, las 16 Stunden lang auf dem Podium Korrektur, revidierte Artikel und schlug Alternativen vor, ohne von den Prinzipien des Verfassungsentwurfs abzuweichen. Jevhen Maröuk war es, der die Kommunisten überzeugen konnte, für die Staatssymbole zu votieren, wenn dafür die National-Demokraten einer Autonomen Republik der Krym zustimmen würden. 130 Letzten Endes aber muß der politische Wille Kuömas, für politische und rechtliche Reformen eine rechtliche Grundlage in Form einer Verfassung zu bekommen, als die entscheidende Ursache für die Verabschiedung der Verfas-
130 Marta Kolomayets, Parliament adopts constitution in marathon session, in: The Ukrainian Weekly, Vol. 64, Nr. 26, S. 1,4.
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Μ . Der verfassunggebende Prozeß
sung gelten. 131 Kuöma war es, der das „Gesetz über die Macht" durchgesetzt hatte und damit das Interesse des Parlamentes an einer Verfassung bewirkte. 132 Kuöma ermutigte und unterstützte die Fraktionen im Ad-hoc-Komitee, die Ausarbeitung des Verfassungsentwurfs voranzutreiben. Und schließlich war es Kuöma, der mit der Ankündigung des Referendums über den „falschen" Verfassungsentwurf die Entschlossenheit des Parlamentes herausforderte, die Verfassung selbst zu verabschieden. Die Redlichkeit der Motive Kuömas können dabei durchaus in Zweifel gestellt werden. Die Kommentatoren sind sich einig, daß Kuöma keineswegs nur die Arbeit des Parlamentes stimulieren wollte, sondern nach der Macht griff und das Parlament, so gut es ging, ausschalten wollte. 133 Diese Interpretation wird am nachhaltigsten unterstützt durch die Tatsache, daß Kuöma die Minister-Abgeordneten anwies, den Beratungen in der Nacht vom 27. auf den 28. Juni fernzubleiben. Für seinen Machthunger spricht, daß er rechtswidrig den Entwurf des Verfassungsausschuß für das Referendum wählte, statt den Entwurf des Ad-hoc-Komitees, dem das Parlament zugestimmt hatte. Kuöma hatte nicht damit gerechnet, daß die Fraktionen Ruch und Staatlichkeit sich wieder an den Beratungen beteiligen würden und auch nicht damit, daß sich die ideologischen Gräben eine Nacht lang würden überbrücken lassen. Kuöma hatte hoch gepokert - und verloren. Zu den Gewinnern zählten dagegen die zentristischen Fraktionen, deren wirtschaftliche und politische Vorstellungen voll in die Verfassung einflössen und die rechten Fraktionen, die die Normierung der Staatssymbole in der Verfassung erreichten sowie Moroz, der wie ein Phönix aus der Asche stieg. Am 5. Juni sah er sich noch einem Mißtrauensvotum gegenüber und schon am
131 So auch Wolczuk, 1996a, S. 15: „Undoubtedly, the President's determination to clarify power relations and to strengthen the Presidency was a catalyst in pushing the whole process forward." 132 Kuchma selbst hatte bei der Vorstellung des Verfassungsentwurfs am 20. März 1996 im Parlament gesagt: „Es ist mehr als offensichtlich, daß die energische Arbeit am Verfassungsentwurf durch die Unterzeichnung der Verfassungsvereinbarung unterstützt wurde, weil diese die Bildung angemessener Umstände als einen Imperativ anerkannte, um die Verfassungsprozeß zu beschleunigen und ihn zu einem erfolgreichen Ende zu bringen." (Aus dem Englischen nach Kuchma Addresses Supreme Council, zit. nach FBIS-Sov-96-057, 22.3.1996, S. 52-56) 133 Iryna Pohorilova, A Constitution Is Born, in: EE, Vol. 3, Nr. 23 (127), 1.7.1996, S. 1 : „The decision of the President to call a constitutional referendum only took place when the Verkhovna Rada had already proved that it was capable of passing the constitution." Olga Ansimova, IntelNews, 8.7.1996, S. 2: „The justification for the referendum was the 'incapability of Parliament', which shows Kuchma was not interested in the Constitution's adoption by the Rada." Die gleiche Meinung vertritt Bohdan Radejko. (Interview mit Bohdan Radejko, Parliamentary Development Project, 5.6.1995)
VII. Die entscheidenden Faktoren im verfassunggebenden Prozeß
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28. Juni galt er als einer der entscheidenden Männer, die die Verfassung ermöglicht hatten. Michajlo Syrota, der als Vorsitzender des Ad-hoc-Komitees in allen Phasen für die Verabschiedung der Verfassung gearbeitet hatte, kommt dieser Verdienst jedoch mindestens genauso zu.
20 Vorndran
Ν . Schlußfolgerungen Dieses abschließenden Kapitels soll aufzeigen, daß die allgemeinen politischen Strukturen in der Ukraine, die sich im Transformationsprozeß und durch die Transformation von der alten zur neuen Ordnung entwickelten, die Binnenstruktur des verfassunggebenden Prozesses und seine Ergebnisse strukturierten. Bei der Analyse der allgemeinen politischen Strukturen in der Ukraine gehe ich von Strukturproblemen der Transformation aus, die im Fall der Ukraine zur Identifikation von vier Akteursgruppen und vier politischen Grundfragen fuhrt. Dies stellte die Rahmenbedingungen ftir den verfassunggebenden Prozeß dar. Anhand der Interessen der politischen Gruppierungen soll die Binnenstruktur des verfassunggebenden Prozessses herausgearbeitet werden. Dabei wähle ich das persönliche Interesse des Politikers als analytische Kategorie, weil es zentrales Element der Handlungsmotivation ist. Je nach Persönlichkeit des Politikers standen im ukrainischen Fall die eigene Wohlfahrt (Ausnutzung des politischen Amtes ftir persönliche wirtschaftliche Vorteile, Schutz vor strafrechtlicher Verfolgung, Macht- und Prestigegewinn) oder die Verwirklichung der ideologischen Überzeugung (z.B. die Definition bestimmter Staatssymbole in der Verfassung) im Vordergrund. Zum Schluß wird untersucht, ob und wie die politischen Grundfragen durch die Verfassung beantwortet worden sind.
I. Die Rahmenbedingungen des verfassunggebenden Prozesses Die Nachfolgestaaten der Sowjetunion sahen sich nach deren Zusammenbruch vor drei Hauptaufgaben gestellt, die aus Strukturproblemen der Transformation resultierten. 1 Sie mußten erstens ihre Grenzen bestimmen, um ihre Integrität herzustellen, zweitens sich eine neue politische Verfassung geben und drittens die Anpassung der Wirtschaftsordnung an neue soziale Herausforderungen und den kapitalistischen Wettbewerb erlauben.2 Aus diesen drei Aufgaben folgten die drei grundlegenden politischen Fragen, die sich dem neuen
1 Vgl. Offe, 1994, S.58ff. Diese sehr vorsichtige Formulierung berücksichtigt, daß Marktwirtschaft als politische Zielvorstellung des neuen Wirtschaftssystems umstritten sein kann (und in der Ukraine auch ist) und, selbst wenn über die Zielvorstellung Einigkeit besteht, der Transformationsprozeß dennoch scheitern kann. 2
I. Die Rahmenbedingungen des verfassunggebenden Prozesses
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ukrainischen Staat seit der Entstehung eines spezifischen politischen Raumes3 in den Grenzen der Ukrainischen Sozialistischen Sowjetrepublik stellten. Erstens: sollte die Ukraine ein unabhängiger Staat sein, und welche Variante des Nationalismus4 sollte die Staatsdoktrin dominieren? Zweitens: Sollte die Ukraine eine Rätedemokratie bleiben oder eine semi-präsidentielle Republik werden? Drittens: Nach welchen Prinzipien sollten das Wirtschaftssystem gestaltet sein?5 Die Regionalisierung der Ukraine mit den politischen Polen Galizien (stellvertretend fur die West-Ukraine) und Donbas (stellvertretend für die OstUkraine) bewirkte, daß kein Konsens über Antworten auf die oben angeführten politischen Grundfragen unter der ukrainischen Bevölkerung und, dies widerspiegelnd, unter der politischen Führungsschicht bestand. Vereinfachend dargestellt, dominierte in der West-Ukraine die Vorstellung, die Ukraine zu einem unabhängigen, demokratischen, semi-präsidentiellen und marktwirtschaftlichen Staat werden zu lassen. In der Ost-Ukraine wurden dagegen eine Union mit Rußland, die Beibehaltung des Rätesystems und wirtschaftlicher Staatsdirigismus stark vertreten. Aus diesen unterschiedlichen Vorstellungen resultierte eine vierte (geo-) politische Grundfrage, die zwischen Ost- und West-Ukrainern umstritten war: welches Verhältnis sollte die Ukraine zu Rußland anstreben? Sollte die Ukraine eigene Interessen entwickeln und diese in einer möglichst gleichberechtigten Partnerschaft vertreten, oder bestand zwischen der Ukraine und Rußland eine natürliche Union und Interessenidentität? Die ideologische Regionalisierung der Ukraine führte also dazu, daß aus den Aufgaben für die Nachfolgestaaten der Sowjetunion die politischen Grundfragen der Ukraine wurden. Anhand dieser vier Grundfragen lassen sich in der Ukraine vier politische Gruppierungen oder Richtungen6 identifizieren, die sich durch bestimmte politische Optionen während des Regimewechsels definierten: Hardliner, „Softli-
3 Dieser politische Raum entstand durch die öffentlichen Aktionen der Bewegung Ruch in Verbindung mit den Wahlen zum sowjetischen Volksdeputiertenkongreß 1989, den nationalen, regionalen und lokalen Wahlen im Frühjahr 1990 und dem Referendum über die ukrainische Unabhängigkeit am 1. Dezember 1991. 4 Sollte der ukrainische Nationalismus auf der ukrainischen Ethnie oder auf der Loyalität zum ukrainischen Staat basieren? 5 Sollten Sozialismus und Planwirtschaft oder Privateigentum und Marktwirtschaft die Leitbilder sein? 6 Die Begriffe „Gruppierung" und „Richtung" sollen verdeutlichen, daß es sich nicht um organisierte, geschlossene Gruppen mit einem kohärenten Programm handelt. Vielmehr gab es innerhalb aller politischen Gruppierungen und Richtungen unterschiedliche Gruppen und divergierende Anschauungen.
308
Ν. Schlußfolgerungen
ner gegen Reformen", „Softliner für Reformen" und Nationalisten.7 Diese Gruppierungen möchte ich im folgenden kennzeichnen: 1. Die Hardliner lassen sich im ukrainischen Fall am besten mit dem Begriff der „orthodoxen Kommunisten" beschreiben. Etwa seit 1989 bildete sich innerhalb der alten Kommunistischen Partei der Ukraine eine Gruppe von Mitgliedern, die sich gegen die Auflösung der Sowjetunion wandte, gegen die Unabhängigkeit der Ukraine stimmte und mit der Bewegung Ruch nicht kooperieren wollte. Bis Mitte 1991 wurde diese Gruppe vom damaligen Parteivorsitzenden der KPU, Stanislav Hurenko, geführt. Seit der Unabhängigkeitserklärung am 24. August 1991 und der überwältigenden Zustimmung der Bevölkerung zur ukrainischen Unabhängigkeit im Referendum vom 1. Dezember 1991 verlor diese Gruppe viel von ihrem Einfluß innerhalb der KPU. Während der Präsidentschaft Kravöuks und mit dem Elitenwechsel unter den Abgeordneten nach den Parlamentswahlen 1994 verringerte sich die Zahl der Anhänger dieser politischen Richtung stetig. Im Juli 1995 bildeten die Hardliner die Abgeordneten-Vereinigung Sojus, in der dreißig bis vierzig Abgeordnete verschiedener Fraktionen und Gruppen vertreten waren. 8 Die meisten dieser Abgeordneten weigerten sich nach der Verabschiedung der neuen Verfassung, den Eid auf die Verfassung abzulegen, die ihren politischen Vorstellungen widersprach. 9 2. Die „Softliner gegen Reformen": Die Mitglieder dieser Gruppierung wurden in der 12. Verchovna Rada (1990-1994) Nationalkommunisten genannt. Die Auflösung der Sowjetunion und das Ende des Machtmonopols der kommunistischen Partei erschien ihnen unvermeidlich und persönlich vorteilhaft, da eine unabhängige Ukraine ihnen neue politische und wirtschaftliche Möglichkeiten bot. Als Mitglieder der Nomenklatura saßen sie an den Schalthebeln
^O'Donnell/Schmitter definieren „Hardliner" als „those who ... believe that the perpetuation of authoritarian rule is possible and desirable..." und „Softliner" durch „their increasing awareness that the regime they helped to implant... will have to make use, in the foreseeable future, of some degree or some form of electoral legitimation." (O'Donnell/Schmitter, 1991, S. 16) Für die Ukraine ist zusätzlich die Unterscheidung der Softliner für und gegen Reform notwendig. Beide Gruppen gehörten dem alten, autoritären Regime an. Die Softliner gegen Reform wollten die vorhandenen sowjetischen Strukturen nutzen, die ja formal-demokratisch strukturiert waren, um einen Elitenwechsel weitgehend zu vermeiden. Die Softliner für Reformen sahen nicht nur die Notwendigkeit von Wahlen für ihre Legitimation, sondern auch die Nützlichkeit eines Wandels der politischen Institutionen. Die vierte Gruppe, die Nationalisten, unterscheidet sich von allen drei anderen Gruppen, da sie nicht dem alten Regime angehörten. 8IntelNews, Vol. V, No. 198, 23.7.1995, S. 4; ebd., No. 274, 8.10.1995, S. 6. ^ Vgl. Taras Kuzio, Loyalty and Disloyalty to the Ukrainian State: Who Refused to Take the Oath of Loyalty in the Ukrainian Parliament?, Manuskript 1996.
I. Die Rahmenbedingungen des verfassunggebenden Prozesses
309
der Macht und konnten in ihrem Sinne „Reformen" gestalten oder verhindern. In der 12. Verchovna Rada organisierten sie sich in der „Gruppe 239„, so benannt nach der Anzahl ihrer Mitglieder, und stellten die Mehrheit der Abgeordneten. Der ehemalige Vorsitzende dieser im August 1991 formell aufgelösten Gruppe, Oleksandr Moroz, wurde nach den Parlamentswahlen 1994 Vorsitzender des Parlaments. Nach den Parlamentswahlen 1994 entschieden sich die Softliner gegen Reformen meist fur eine Mitgliedschaft in der kommunistischen oder sozialistischen Fraktion oder schlossen sich den Agrariern an. 3. Die „Softliner für Reformen": Der idealtypische Vertreter dieser Gruppe war Mitglied des Komsomol und setzte sich für die Reform der politischen und wirtschaftlichen Strukturen ein, da ihm so ein schnellerer Aufstieg möglich war als innerhalb der alten Strukturen. Weil die Komsomol-Mitglieder noch nicht zu den entscheidenden Schlüsselpositionen Zugang hatten, brauchten sie größere Freiheiten, um ihre Vorstellungen verwirklichen zu können. Sie zogen im allgemeinen marktwirtschaftliche den staats-dirigistischen Strukturen vor. Den Softlinern für Reformen gelang es, verschiedene regionale Netzwerke zu etablieren, 10 aber wegen konfligierender (wirtschaftlicher) Interessen bildeten sie nicht eine gemeinsame, sondern verschiedene zentristische Fraktionen im Parlament. Außerhalb des Parlamentes kann die Ukrainische Union der Industriellen und Unternehmer als eine Kerngruppe der Softliner für Reformen angsehen werden. Die Softliner für Reformen sind offen für eine extensive Kooperation mit Rußland, solange dies nicht die Unabhängigkeit der ukrainischen von der russischen Wirtschaft gefährdet. 4. Die Nationaldemokraten und Nationalisten bilden die vierte politische Richtung. Sie sind aus der Bewegung Ruch hervorgegangen. Den Nationalisten gelang es von 1989 bis 1991 durch Massenaktionen die politische Agenda zu bestimmen, da sie als einzige ein Konzept und eine Legitimationsgrundlage für den neuen Staat anbieten konnten. Nach der Erlangung der Unabhängigkeit spaltete sich die Bewegung Ruch in verschiedene Parteien auf. Der Einfluß der Nationalisten nahm ab, da sie nach der Durchsetzung der Unabhängigkeit der Ukraine die Bevölkerung nicht mehr für Massenaktionen mobilisieren konnten und sie bei Parlaments- und Präsidentschaftswahlen nie mehr als 25-30% der Stimmen erhielten. Deshalb konnten sie weder den Präsidenten stellen, noch das Geschehen im Parlament wirkungsvoll beeinflussen. Die Nationaldemokraten schlossen sich nach den Parlamentswahlen 1994 in der Fraktion Ruch zusammen, die Nationalisten in der Gruppe Staatlichkeit. Im allgemeinen befürworteten die Nationalisten politische und wirtschaftliche Reformen. Eine Kooperation mit Rußland lehnten sie ab, da sie befürchteten, daß Rußland die Ukraine erneut dominieren könnte.
z. B. in Dnipropetrov'sk, Donets'k oder Charkiv.
310
Ν. Schlußfolgerungen
Tabelle 6 Optionen der Gruppierungen in bezug auf die politischen Grundfragen Grundfrage politische^. Gruppierung Hardliner (orthodoxe Kommunisten)
Unabhängigkeit)
gegen RäteParlamentarismus
Privateigentum, Marktwirtschaft
gegen Kooperation mit Rußland
-
-
-
-
Softliner gegen Reformen (Sozialisten, Agrarier)
+
-
-
-
Softliner für Reformen (Zentristen)
+
+
+
-
Nationalisten
+
+
+
+
„+": spricht sich aus für; „-": spricht sich aus gegen a) Zur Frage nach der Unabhängigkeit müßte auch die Frage nach der Art des Nationalismus hinzugefügt werden. Letztere ist aber zu komplex, um in einem +/- Schema dargestellt werden zu können.
Die politischen Grundfragen und Gruppierungen hatten eine unterschiedlich große Bedeutung fur die ukrainische Politik. Seit 1989 sind die Softliner für und gegen Reformen die dominierenden politischen Gruppen. Die Bestimmung des Typs des politischen Regimes und der Wirtschaftsordnung sind die dominierenden Grundfragen in der Ukraine. Die Softliner für und gegen Reformen vertraten die dominanten politischen Richtungen, weil die orthodoxen Kommunisten und die Nationalisten aus unterschiedlichen Gründen von der Staatsführung und den höchsten politischen Ämtern ausgeschlossen waren. Nach dem Putsch im August 1991 in Moskau und während der Präsidentschaftswahlkampagne im Herbst 1991 (die zugleich eine Kampagne für die ukrainische Unabhängigkeit war) wurde deutlich, daß nur solche Kandidaten in führende Staatsämter11 gewählt werden konnten, die
11 Die führenden Staatsämter sind der Präsident und der Vorsitzende des Parlamentes. Den dritten Platz nimmt der Premierminister ein, der jedoch weniger Einfluß hat, weil seine Einsetzung und Entlassung vom Präsidenten und vom Parlament abhängig ist.
II. Drei Etappen bis zur Verfassung
311
sich für die Unabhängigkeit der Ukraine aussprachen. Dies bestätigte das ukrainische Volk in den Parlaments- und Präsidentschaftswahlen 1994, und die neue ukrainische Verfassung besiegelte es erneut. 12 Dies bedeutet, daß mit großer Wahrscheinlichkeit auch in der Zukunft kein orthodoxer Kommunist zum ukrainischen Präsidenten oder Vorsitzenden der Verchovna Rada gewählt werden wird. Der Ausschluß von den höchsten Staatsämtern gilt auch für die Nationalisten, aber aus anderem Grund. Die Nationalisten finden ihre Wählerschaft hauptsächlich in der West-Ukraine, wo ein geringerer Anteil der Bürger (etwa ein Fünftel der Gesamtbevölkerung) wohnt als in der dichter besiedelten OstUkraine. Deswegen konnten sich die Kandidaten der West-Ukraine, Cornovil 1991 und Kravcuk 1994,13 nicht gegenüber den Kandidaten aus der OstUkraine durchsetzen. Auch im Parlament verfügten die Nationalisten über zuwenig Deputierte, um die Wahl eines ihrer Vertreter zum Vorsitzenden durchsetzen zu können. Es konnten sich also nur die Softliner für und gegen Reformen erfolgreich um die höchsten Staatsämter bemühen, die anderen politischen Richtungen bildeten das „Fußvolk" dieser dominierenden politischen Gruppierungen. Aufgrund ihrer politischen Überzeugungen unterstützten in der Regel die Kommunisten die Softliner gegen Reformen und die Nationalisten die Softliner für Reformen. Die beiden Gruppen der Softliner trugen die dominanten politischen Konflikte aus. Sie vertraten unterschiedliche Auffassungen zu den Grundfragen bezüglich des Regimetyps und der Wirtschaftsordnung, wodurch diese zwei Grundfragen zugleich die dominanten Konflikte in der ukrainischen Politik waren. In der Tabelle auf der vorigen Seite habe ich dies durch den inneren Kasten gekennzeichnet.
I I . Drei Etappen bis zur Verfassung die Binnenstruktur des verfassunggebenden Prozesses Die Binnenstruktur des verfassunggebenden Prozesses leitete sich ab von (sich wandelnden) außen- und regionalpolitischen Rahmenbedingungen, den Interessen der beteiligten Führungsgruppen (die den oben dargestellten vier Gruppen entsprachen), die in diesem Abschnitt erläutert und durch weitere,
12 Art. 1 V U legt fest, daß die Ukraine ein souveräner und unabhängiger Staat ist. Es ist Aufgabe des Präsidenten, die Souveränität der Ukraine zu garantieren (Art. 102 II VU). 13 Kravöuk gewann 1991 als Kandidat der Ost-Ukraine und Vertreter der Nationalkommunisten die Präsidentschaftswahlen. Während seiner Präsidentschaft wechselte seine Wählerbasis. 1994 wurde Kravöuk von den West-Ukrainern gewählt, sein Konkurrent Kuöma von den Ost-Ukrainern.
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Ν. Schlußfolgerungen
kontingente Faktoren ergänzt wurden. Wie schon in der Einleitung zu dieser Arbeit vorangeschickt, ist es zweckmäßig, den verfassunggebenden Prozeß in der Ukraine in drei Phasen einzuteilen. Die erste Phase dauerte vom Referendum über die ukrainische Unabhängigkeit und der Wahl Leonid Kravöuks zum Präsidenten am 1. Dezember 1991 bis zur Präsidentschaftswahl 1994. Leitfrage dieses Abschnitts soll sein, warum in dieser Zeit keine Verfassung verabschiedet wurde, obwohl offensichtlich war, daß die neu entstandenen politischen Grundfragen eine Antwort verlangten. Die zweite Phase reichte von den Parlaments- und Präsidentschaftswahlen 1994 bis zur Unterzeichnung der Verfassungsvereinbarung am 8. Juni 1996. Fraglich war nun, warum der 1994 gewählte Präsident Kuöma, anders als (Ex-)Präsident Kravöuk, ein Interesse an einer Neuregelung der Kompetenzen zwischen Parlament und Präsident hatte. Wie konnte er sein Anliegen gegen das Parlament durchsetzen, so daß die Verfassungsvereinbarung unterzeichnet wurde? Die dritte Phase umfaßte den Zeitraum von der VerfassungsVereinbarung bis zur Annahme der Verfassung: gab es nun einen nationalen Konsens, der die Verabschiedung der Verfassung möglich machte? Zurück zur ersten Phase: Das Referendum über die Unabhängigkeit der Ukraine zeigte lediglich, daß die Bevölkerung innerhalb der Grenzen der Ukrainischen Sozialistischen Sowjetrepublik nicht länger zur Sowjetunion gehören, sondern in einem eigenen Staat leben wollte. Damit wurde der formale Schlußstein für die Bildung des neuen Staates gesetzt, die erste der von Offe erkannten Aufgaben vorläufig gelöst. Ungeklärt blieb jedoch, auf welcher Grundlage dieser Staat bestehen sollte. Die sozialistische Verfassung von 1978 konnte darauf keine Antwort mehr geben, nach dem die kommunistische Ideologie diskreditiert war, das Machtmonopol der KPU nicht länger bestand, sich real-demokratische Verfahren durchgesetzt hatten und dem rein parlamentarischen System ein Präsident aufgepfropft worden war. Die Notwendigkeit einer neuen Verfassung war offensichtlich. Dem Desiderat einer neuen Verfassung standen jedoch drei Faktoren entgegen: 1. Nach dem Referendum über die Unabhängigkeit war die Integrität der Ukraine rein formal, weil dieser Staat noch keine Identität hatte. Geschichtlich bedingt bedeutete nur in der West-Ukraine die Zustimmung zur Unabhängigkeit der Ukraine zugleich auch die Identifikation der Bevölkerung mit ukrainischer Geschichte, Sprache und Kultur als möglichen neuen Elementen einer wieder zu belebenden ukrainischen Nation. In der Ost-Ukraine stimmte die Bevölkerung für die Unabhängigkeit, weil die Nomenklatura es ihr empfohlen hatte und die Bevölkerung sich eine bessere wirtschaftliche Zukunft als in einer Union mit Rußland versprach. Die National-Bewegung Ruch war nur in der West-Ukraine verwurzelt, während in der Ost-Ukraine die Unabhängigkeit nicht zugleich eine Absage an den Sozialismus und eine Abwendung von Rußland bedeutete. Zudem hatte die Ukraine als Staat kein tragfähiges histori-
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sches Vorbild, keinen direkten Vorläufer, an dem sich alle Teile der Bevölkerung orientieren konnten oder wollten. Die regionale Polarität der Vorstellungen wurde auch von den Deputierten der 12. Verchovna Rada repräsentiert, so daß es unmöglich erschien, einen Verfassungskonsens zu erreichen. Unter diesen Umständen durch einen verfassunggebenden Prozeß einen Konflikt über die politischen Grundfragen hervorzurufen, bedeutete die Einheit des Staates zu riskieren. 2. Präsident Kravöuk war 1991 - vor allem von den Ost-Ukrainern - ins Amt gewählt worden, weil er zuvor im Amt des Parlamentsvorsitzenden als Vermittler zwischen den politischen Richtungen aufgetreten war. Als Vertreter der Nomenklatura und Verfechter der ukrainischen Unabhängigkeit symbolisierte er den Übergang vom alten zum neuen Regime und galt der Bevölkerung als Garant für Stabilität. Sein Selbstverständnis als Vermittler und „Vater der Nation" hielt Kravöuk davon ab, die Verabschiedung einer Verfassung energisch voranzutreiben. In dieser frühen Phase der ukrainischen Staatswerdung hätte dies bedeutet, zwischen den west- oder ostukrainischen Staatsvorstellungen wählen zu müssen und dadurch die Einheit des Staates zu gefährden. Kravöuk konnte es sich nicht leisten, mit der Nomenklatura über die Reform der Institutionen in Konflikt zu geraten, weil diese ihm gerade zum Gewinn der Präsidentschaft verholfen hatte und er auch während seiner Präsidentschaft von ihr abhängig war. Das Präsidentenamt war das herausragende Symbol eines neuen Staates, aber noch keine Quelle der Macht, die andere herausfordern konnte. Eine grundlegende Neugestaltung des politischen Systems, d.h. der Machtverhältnisse, auf Initiative des Präsidenten war somit ausgeschlossen. Kravöuks Stärke war nicht die Reform der Institutionen - die Änderung des Bestehenden (darin war er vom Parlament abhängig) -, sondern die Entwicklung eines Konzeptes der ukrainischen Nation - der Schaffung neuer staatlicher Elemente.14 Er übernahm weitgehend das Programm der Bewegung Ruch, benutzte die neuen staatlichen Symbole (z.B. die gelb-blaue Flagge) und propagierte diese im öffentlichen Raum mit der Autorität des Präsidentenamtes. Dadurch gelang es ihm, die Einheit des Staates zu stärken, ohne die Verabschiedung der Verfassung betreiben zu müssen, was viel stärker das Trennende zwischen den ukrainischen Staatsbürgern hervorgebracht hätte. Die Verabschiedung einer neuen Verfassung lag nicht im Interesse des Präsidenten Kravöuk. 3. Auch im Parlament gab es keine Mehrheit, die an der Verabschiedung einer neuen Verfassung interessiert war. Die orthodoxen Kommunisten und die Softliner gegen Reformen hatten die Mehrheit der Sitze in der 1990 gewählten, 14 Dazu gehörte die Schaffung neuer staatlicher Institutionen wie der Präsidial Verwaltung, der Botschaften und der National-Garde, aber auch die Einführung einer ukrainischen Übergangswährung, des Karbovanec'.
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Ν. Schlußfolgerungen
12. Verchovna Rada. Viele Abgeordnete dieser beiden Gruppen waren zugleich Betriebsdirektoren oder Verwaltungsleiter in Rajony oder Oblasti und deswegen nicht an einer Änderung der Machtverhältnisse interessiert. Als Abgeordnete in Kyjiv konnten sie die Zuweisungen des Staatshaushaltes an die Gebietskörperschaften und Betriebe so beeinflussen, daß auch ihr persönlicher Wohlstand gesichert war. Da die Plünderung des Staatseigentums gerade erst begonnen hatte, trat auch der Verteilungskampf innerhalb dieser Gruppen und zwischen verschiedenen Regionen noch nicht so augenfällig zu Tage wie im Kampf der regionalen „Clans" um die nationale Macht nach den Parlamentswahlen 1994. Von den individuellen Interessen der Abgeordneten abgesehen, waren die nationale und die regionalen Führungsschichten in der Ukraine nicht darauf vorbereitet, das Land eigenständig zu regieren, nachdem jahrzehntelang die Weisungen aus Moskau gekommen waren. Es fehlten das Wissen und die Erfahrung, um für einzelne Politikbereiche Konzepte zu entwickeln oder gar eine kohärente Verfassung zu entwerfen. Zwar wurde die alte Verfassung von 1978 in vielen Einzelpunkten geändert, um sie den neuen Gegebenheiten anzupassen, aber dies war Flickschusterei. Auch hatte eine Verfassungskommission unter Präsident Kravöuk und dem Vorsitzenden des Parlamentes Pljusö einen Verfassungsentwurf ausgearbeit, der öffentlich diskutiert worden war. Es fehlte aber der politische Wille, den Entwurf zu verabschieden. Die Nationalisten im Parlament hätten gerne eine neue politische Ordnung eingeführt, um ihre Vorstellungen vom ukrainischen Staat umzusetzen und die Nomenklatura zu entmachten, aber sie hatten dazu nicht genug Einfluß und Stimmen im Parlament. So zeigt die Analyse der ersten Phase des verfassunggebenden Prozesses, daß es in der Bevölkerung und auch unter der politischen Führungsschicht keinen Konsens als Grundlage für eine Verfassungsdiskussion gab. Zudem hatten weder Präsident Kravöuk noch die Mehrheit der Deputierten ein Interesse an der Verabschiedung einer Verfassung. Dies erklärt, warum von der ukrainischen Unabhängigkeit bis zu den Parlaments- und Präsidentschaftswahlen 1994 keine Verfassung angenommen wurde. Zu Beginn der zweiten Phase des verfassunggebenden Prozesses, nach den Parlaments- und Präsidentschaftswahlen 1994, hatte sich die Lage nur unwesentlich geändert: die Mehrheitsverhältnisse zwischen den politischen Richtungen in der 13. Verchovna Rada unterschieden sich zu Anfang der Legislaturperiode nicht wesentlich von denen der vorangegangenen Legislaturperiode. Die verfassungsmäßige Grundlage für das Verhältnis zwischen Parlament und Präsident war ebenfalls gleich geblieben. Wie konnte der neue Präsident Kuöma dennoch die Annahme der Verfassungsvereinbarung erreichen? Wieder lassen sich drei Gründe anführen: 1. Unabhängigkeit und Einheit der Ukraine waren immer noch nicht selbstverständlich, aber in den Jahren von 1991 bis 1994 wesentlich gefestigt wor-
II. Drei Etappen bis zur Verfassung
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den. Dazu trugen die Tatsache der dauernden Existenz dieses Staates und die Bemühungen Kravöuks um die Konsolidierung der Staatswerdung bei. Die internationale Staatengemeinschaft hatte die Ukraine anerkannt und diplomatische Beziehungen aufgenommen. Staatsbesuche des amerikanischen Präsidenten Clinton hoben nicht nur das Selbstbewußtsein der Ukrainer, sondern zeigten auch den Russen, daß sie die Ukraine als unabhängigen Staat anerkennen mußten. Es bestand zwar weiterhin eine politische Polarisierung zwischen Galizien und dem Donbas, aber es gab keine deutliche Scheidelinie zwischen West und Ost in der Zentralukraine, die zur Bruchstelle werden konnte. Eine Bedrohung für die Einheit der Ukraine ging vor allem vom Separatismus auf der Krym aus, der von Kravöuk nicht eingedämmt worden war. Anders als Kravöuk machte Kucma bald nach seinem Amtsantritt deutlich, daß die Krym zur Ukraine gehörte und er sich einer Loslösung vehement entgegensetzen werde. Ebenso nahm Kuöma mit Rußland Verhandlungen auf, um die bilateralen Probleme zu lösen und einen Freundschaftsvertrag abzuschließen. Dadurch wollte er die ukrainische Unabhängigkeit gegenüber Rußland stärken und innenpolitischen Spielraum gewinnen. Somit erlaubten die außen- und regionalpolitischen Umstände 1994 eher einen Verfassungskonflikt als 1991. 2. Während der frühere Parteipolitiker und -ideologe Kravcuk die Entwicklung der ideellen Elemente der ukrainischen Nation zu seiner Priorität machte, setzte der ehemalige Manager des Maschinenbau- und Raketenkonzerns Juzmas, Kuöma, auf die Restrukturierung der Wirtschaft. Dies ließ sich Kuömas Meinung nach aber nur durch eine Stärkung der Exekutive erreichen. Die Exekutive sollte vom Parlament unabhängiger werden und ihre Anweisungen sollten in den Regionen durchgesetzt werden können. Dies hatte Kuöma schon während seiner Wahlkampagne immer wieder hervorgehoben. In einem ersten Schritt unterstellte er sich in Absprache mit dem Vorsitzenden des Parlaments und dem Premierminister am 8. August 1994, in der Sommerpause des Parlaments, per Dekret die Regierung. Damit verringerte er den Einfluß des Parlaments zu seinen Gunsten. Die Regierung wurde nunmehr de facto vom Präsidenten ernannt und entlassen, nicht mehr vom Parlament wie noch unter Kravöuk. Die Regierung hatte in der Folge kein eigenes Gewicht mehr im Dreieck von Parlament, Regierung und Präsident und trat in der von Kuöma angestoßenen Debatte über institutionelle Reformen nicht mehr als eigenständiger Akteur auf. Kuöma war nicht Ideologe, sondern „Macher", suchte Macht um der wirtschaftlichen Restrukturierung willen und wählte für die seiner Meinung nach notwendige Reform der Institutionen (besonders der Exekutive) den Ansatz einer „kleinen Verfassung", in der Form des Gesetzes „Über die Staatsmacht und die lokale Selbstverwaltung in der Ukraine". Dieses Gesetz sollte verfassungsändernde Wirkung haben und Kuömas Vorstellungen von einer vom Parlament unabhängigen Exekutive rechtlich absichern. Für Kuömas Zwecke war
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Ν. Schlußfolgerungen
diese „kleine Verfassung" ausreichend. Er vermied damit die Untiefen einer Diskussion über die Definition der ukrainischen Nation, über den Status der Sprachen, über die Festlegung der Staatssymbole usw, welche die Verabschiedung einer Verfassung erfordert hätte. Deswegen beinhaltete der Gesetzentwurf z.B. auch keinen Grundrechtskatalog. Kuöma ging damit den ideologischen Auseinandersetzungen zwischen Kommunisten und Nationalisten aus dem Weg, die eine Annahme der Verfassung erschwert hätten. Er unterschied sich also von Kravöuk erstens darin, daß er auf der Basis seines frischen Mandats bereit war, für eine institutionelle Reform Konflikte hervorzurufen und zweitens, daß er nicht mehr anstrebte als eine Reform der Institutionen. 3. Auch nach den Parlamentswahlen im Frühling 1994 blieben die orthodoxen Kommunisten zusammen mit den Softlinern gegen Reform (zusammengefaßt in den „linken" Fraktionen der Kommunisten, Sozialisten und Agrarier) die stärkste und homogenste Gruppe im Parlament. Nach der ersten Wahlrunde konnten die beiden politischen Richtungen 169 von 335 vergebenen Sitzen erringen. 15 Die linken Fraktionen setzten sich weiterhin für den Fortbestand einer Räterepublik und Staatseigentum an Produktionsmitteln ein und standen in Opposition zum Präsidenten. Den nationalistischen Fraktionen Ruch und Staatlichkeit ordneten sich 53 Abgeordnete zu, die die Initiative Kuömas als Chance sahen, den Einfluß der Linken zu verringern. Die restlichen 113 Deputierten blieben fraktionslos oder wurden Mitglieder der zentristischen Fraktionen. 16 Das Mehrheitsverhältnis änderte sich graduell mit den Nachwahlen im Sommer und Herbst des Jahres 1994, als die Zentristen die meisten der 70 vergebenen Sitze gewinnen konnten. Die zentristischen Abgeordneten gaben ihre Zustimmung zum Verfassungsvertrag, weil sie ebenso wie die Nationalisten den Einfluß der Linken beschneiden wollten und zudem die Bedienung ihrer (wirtschaftlichen) Interessen von Kuöma erwarteten. Kuöma konnte aber im Parlament erst eine Mehrheit für die institutionellen Reformen finden, als nach der Androhung eines Plebiszites auch ein Teil der
15 in weiteren 115 der insgesamt 450 Wahlkreise waren die Wahlen zunächst ungültig. (Serhiy Hubin, Up the down staircase, in: EE, Vol. 1, No. 23, 13.6.1994, S. 5) 16 In diesem Zusammenhang verliert der idealtypische Begriff Softliner für Reformen seine Klarheit, weil sich der eliten- und transitionstheoretische Begriff auf die Phase des Regimewechsels, d.h. auf die Phase der Liberalisierung und Demokratisierung, bezieht. (Vgl. Kollmorgen, 1994, S. 384) Mit den Parlamentswahlen 1994 ist in der Ukraine die Phase der Demokratisierung weitgehend abgeschlossen, und die Phase der Konsolidierung beginnt mit dem ersten friedlichen und demokratischen Regierungswechsel - auch wenn zu diesem Zeitpunkt noch keine Verfassung verabschiedet worden war. An der Stelle des Begriffs Softliner für Reformen verwende ich im folgenden den Begriff der „Zentristen", der seit den Parlamentswahlen 1994 und der sich anschließenden Fraktionsbildung in der Literatur gebräuchlicher wird. Dies bezeichnet das politische Spektrum zwischen der „Linken" und den „Nationalisten", das sich durch eine Mannigfaltigkeit der Meinungen auszeichnet.
II. Drei Etappen bis zur Verfassung
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linken Abgeordneten für den Verfassungsvertrag stimmte. Die Bevölkerung sollte in dem Plebiszit zum Ausdruck bringen, ob sie dem Präsidenten oder dem Parlament größeres Vertrauen entgegenbringt. Da Meinungsumfragen eine sichere Mehrheit für den Präsidenten verhießen und die Parlamentarier fürchteten, daß das Parlament aufgelöst werde, lenkten auch die linken Abgeordneten ein und stimmten der Verfassungsvereinbarung zwischen Parlament und Präsident unter der Bedingung zu, daß die Verfassungsvereinbarung übergangsweise für ein Jahr gelten solle. In dieser Zeit sollte eine Verfassung ausgearbeitet werden. Dies schien den Abgeordneten geeignet, die Auflösung des Parlaments durch den Präsidenten zu verhindern und ihr Mandat zu retten. Obwohl die Ausgangslage der ersten und zweiten Phase des verfassunggebenden Prozesses ähnlich war, riskierte Präsident Kuöma den Konflikt mit dem Parlament. Dieser Initiative schlossen sich die nationalistischen und zentristischen Deputierten freiwillig, die linken Abgeordneten zum Teil und gezwungenermaßen an, so daß Kucma eine institutionelle Reform durchsetzen konnte, die ihm größeren Einfluß auf die Exekutive sicherte. In der dritten Phase änderten sich erneut die Voraussetzungen für den verfassunggebenden Prozeß. 1. Die außen- und regionalpolitischen Bedingungen spielten im dritten Abschnitt des verfassunggebenden Prozesses keine wesentliche Rolle. Außenpolitisch war die Unabhängigkeit der Ukraine inzwischen eine anerkannte Tatsache, auch wenn sich Teile der russischen politischen Führungsschicht immer wieder dahingehend äußerten, daß Sevastopol' 1956 nicht wie die Krym an die Ukraine übertragen worden sei und deswegen weiterhin zu Rußland gehöre. 17 Dies war aber nicht die offizielle Politik der russischen Regierung und des russischen Präsidenten Èl'cin. Zudem hatte der ukrainische Premierminister Maröuk 1994/95 in Verhandlungen mit Rußland und durch die Hilfe des Internationalen Währungsfonds erreicht, daß die Schulden für die russischen Gaslieferungen weitgehend bedient worden waren. Nur die Terminierung der russischen Präsidentschaftswahlen spielte in den verfassunggebenden Prozeß hinein. Die linken Fraktionen im ukrainischen Parlament erhofften sich Unterstützung von ihren russischen Kollegen und steigende Popularität, falls der kommunistische Kandidat Anfang Juli 1996 in der Stichwahl zum russischen Präsidenten gewählt werden sollte. Deswegen wollte die Linke die Verabschiedung der ukrainischen Verfassung herauszögern. Das Gegenteil war für die Zentristen, Nationalisten und den ukrainischen Präsidenten der Fall. Sie wollten die Verabschiedung der ukrainischen Verfassung möglichst vor der Wahl des russischen Präsidenten erreichen.
17 So der Moskauer Bürgermeister Luzkov und der Nationalist Zirinovskij laut Frankfurter Allgemeine Zeitung, Nr. 124,2.6.1997, S. 1.
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Ν. Schlußfolgerungen
Regionalpolitisch bestanden die unterschiedlichen politischen Auffassungen der Bevölkerung in der West- und Ost-Ukraine fort und wurden durch deren Deputierte in der Verchovna Rada repräsentiert. Dies erschwerte die Einigung in zentralen ideologischen Bereichen der Verfassung erheblich, etwa bei der Definition der Staatssymbole und des Status der Sprachen, auch bei den Bestimmungen über die Eigentumsformen an Produktionsmitteln und die Möglichkeit des Privateigentums an Grund und Boden. Diese ideologischen Fragen waren Kompromissen nur sehr eingeschränkt zugänglich, und die Deputierten konnten sich erst unter dem Druck eines vom Präsidenten angesetzten Referendums in den Debatten vom 27. auf den 28. Juni 1996 auf konsensfähige Formulierungen einigen. 2. Präsident Kuöma wollte die dritte Phase des verfassunggebenden Prozesses nutzen, um die für ihn vorteilhaften Regelungen der Verfassungsvereinbarung in dauerndes Verfassungsrecht fortzuschreiben. Die Verfassungsvereinbarung erlaubte ihm nur den Zugriff auf die Exekutive, hauptsächlich durch Personalentscheidungen. Zusätzlich strebte Kuöma an, durch ein Zwei-KammerParlament die Gesetzgebungsverfahren schwieriger zu gestalten und dadurch die Gestaltungsmöglichkeiten der Legislative einzugrenzen. Dies hätte bei fortgesetztem Dekretrecht des Präsidenten einen größeren politischen Spielraum für Kuöma bedeutet. Diese Auffassung spiegelte der erste, im November 1995 fertiggestellte Verfassungsentwurf einer dem Präsidenten gewogenen Expertengruppe wieder. Kuöma wollte seine Machtposition durch die Verabschiedung der Verfassung festigen und ausbauen. Sein konkretes Interesse war die Einführung eines Zwei-Kammer-Parlamentes. Deshalb war es wiederum Kucma, der im Herbst 1995 die Initiative ergriff, und die Ausarbeitung der Verfassung vorantrieb. 3. In der dritten Phase des verfassunggebenden Prozesses änderte sich das Interesse des Parlamentes als Ganzes an der Verabschiedung einer Verfassung grundlegend. In der zweiten Phase hatten nur die Zentristen und Nationalisten eine Neuregelung der institutionellen Kompetenzen für notwendig befunden. In der dritten Phase erkannten auch die linken Fraktionen diese Notwendigkeit, da durch die Verfassungsvereinbarung die Kompetenzen des Parlamentes beschnitten worden waren und sie die Regelungen der Verfassungsvereinbarung nur als Übergangslösung anerkannt hatten. Damit bestand zum ersten Mal die Situation, daß alle Teilnehmer am verfassunggebenden Prozeß, der Präsident und alle Kräfte im Parlament, an der Verabschiedung der Verfassung interessiert waren. Dies allein garantierte aber noch nicht den erfolgreichen Abschluß des Prozesses, da die Beteiligten unterschiedliche Interessen hatten. Für eine Einigung war aufgrund der verfassungsrechtlichen Regelungen die Zustimmung aller politischen Kräfte unter Einschluß der Kommunisten notwendig. Zwei Konfliktlinien verhinderten die Verabschiedung der Verfassung zunächst: Eine erste institutionelle Konfliktlinie verlief zwischen Parlament
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und Präsident, da zehn der zwölf Fraktionen im Parlament sich gegen den Vorschlag des Präsidenten wandten, ein Zwei-Kammer-Parlament einzuführen. 18 Die zweite, ideologische (oben unter 1. beschriebene) Konfliktlinie verlief zwischen den linken Fraktionen einerseits und den zentristischen und nationalistischen Fraktionen andererseits. Die Verabschiedung der Verfassung gelang schließlich durch eine Abfolge wechselnder Koalitionen. Die Verzögerungs- und Verhinderungstaktik des Parlamentspräsidenten Moroz als Vertreter der linken Fraktionen ärgerte Zentristen und Nationalisten so sehr, daß sie sich in einer Schlichtungskommission zusammenschlossen, um auf der Basis des Entwurfs des Verfassungsausschuß den Verfassungsentwurf zu überarbeiten und mehrheitsfähig zu machen. Dies wurde von Präsident Kuöma zunächst unterstützt, da Moroz dadurch die Kontrolle über den verfassunggebenden Prozeß in den Beratungen des Parlamentes verlor. Die effektive Arbeit der Schlichtungskommission, später des Ad-hocKomitees, war ein Novum in der ukrainischen Politik. Zum ersten Mal handelten die Vorsitzenden der Fraktionen Beschlüsse aus und forderten für diese erfolgreich Fraktionsdisziplin ein. Die wichtigsten Ergebnisse der Arbeit im Ad-hoc-Komitee waren die Streichung des Zwei-Kammer-Parlaments aus dem Entwurf des Verfassungsausschuß gegen die Interessen Kucmas und die Annahme des Entwurfs in erster Lesung gegen den Widerstand der Kommunisten und Sozialisten. Damit hatten sich die zehn im Ad-hoc-Komitee kooperierenden Fraktionen in beiden Konfliktlinien bis zur ersten Lesung durchsetzen können. Dies setzte Moroz unter Druck, weil der Entwurf ohne die Zustimmung der Kommunisten und Sozialisten ausgearbeitet worden war und deren Forderungen nicht berücksichtigte, aber nach der ersten Lesung dem Volk in einem Referendum zur Zustimmung vorgelegt werden konnte. Moroz Ziel mußte es nun sein, ein Referendum zu verhindern und einen Verfassungskompromiß in der Verchovna Rada zu finden. Präsident Kuöma mußte dagegen nach einem Ausweg suchen, um vielleicht doch noch ein Zwei-Kammer-Parlament durchsetzen zu können. Da die zweite Lesung im Parlament sehr schleppend verlief und niemand erwartete, daß die Verchovna Rada die Verfassung bald verabschieden konnte, dekretierte Kuöma am 26. Juni 1996 mit Blick auf die bald folgenden russischen Präsidentschaftswahlen ein Verfassungsreferendum für den 25. September auf der Grundlage des Entwurfs des Verfassungsausschuß vom März mit einem Zwei-Kammer-Parlament. Damit bewirkte er eine Trotzreaktion im Parlament. Die Fraktionen, die bisher mit seinen Stellvertretern im
Die Fraktionen Ruch und „Staatlichkeit" unterstützten als einzige den Präsidenten, da dieser im Gegenzug versprach, die Festlegung der Staatsymbole in der Verfassung durchzusetzen.
Ν. Schlußfolgerungen
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Ad-hoc-Komitee zusammengearbeitet hatten, wandten sich gegen ihn, und die linken Fraktionen suchten zu retten, was zu retten war. Die institutionelle Konfliktlinie dominierte nach der Ankündigung des Referendums die ideologische Konfliktlinie. Deshalb konnten in der Nacht vom 27. auf den 28. Juni auch für die sehr umstrittenen ideologischen Fragen Antworten gefunden und die Verfassung verabschiedet werden. In einer Tabelle läßt sich das Interesse der Verfassungsorgane an der Verabschiedung einer Verfassung bzw. an der Neuregelung der institutionellen Kompetenzen wie folgt zusammenfassen und veranschaulichen: Tabelle 7 Interesse der Verfassungsorgane an der Verabschiedung einer Verfassung ^^^^^^
Phase
Verfassungsorgair^—^^^
1. Phase:
2. Phase:
3. Phase:
1991-1994
1994/95
1995/96
Präsident
-
+
+
Parlament als Ganzes
-
-
+
Orthodoxe Kommunisten und Softliner gegen Reformen
-
-
+
Softliner für Reformen
0
0
+
Nationalisten
+
+
+
keine neue Verfassung
Verfassungsvereinbarung
Verfassung
Ergebnis des verfassunggebenden Prozesses „ + " hat Interesse „o"keine eindeutige Aussage möglich „ - " hat kein Interesse
I I I . Die politischen Grundfragen in der ukrainischen Verfassung Nach der Darstellung der Gesamtstruktur der ukrainischen Politik und der Binnenstruktur des verfassunggebenden Prozesses soll nun untersucht werden, ob und wie die ukrainische Verfassung die politischen Grundfragen beantwortet hat. Die erste Grundfrage betraf die Existenz der Ukraine als unabhängigen Staat und die Fundierung des Staates durch eine Form des Nationalismus. Mit der Verabschiedung der Verfassung ist die Existenz der Ukraine, ihre Unabhängig-
III. Die politischen Grundfragen in der ukrainischen Verfassung
321
keit und Integrität weiter gestärkt worden. Artikel 1 V U besagt, daß die Ukraine ein souveräner und unabhängiger Staat ist. Die Unabhängigkeit der Ukraine wurde von der ukrainischen und auch russischen Öffentlichkeit nicht mehr in Frage gestellt, sie war nicht länger ein Problem an sich. Dies galt aber noch nicht in gleichem Maße für die Integrität des Staates, insbesondere die Zugehörigkeit der Krym und der russischen Flottenbasis Sevastopol' zur Ukraine. Artikel 2 der Verfassung regelt zwar, daß die Ukraine in ihren bestehenden (die Krym und Sevastopol' einschließenden) Grenzen unteilbar und unverletzlich ist, aber diese Überzeugung wird nicht von allen Teilen der Führungsschicht auf der Krym und in Moskau geteilt. Zudem ist die Formulierung „Die Ukraine ist ein unitarischer Staat" (Art. 2 I I VU) nur bedingt richtig. Zwar besitzt die Krym keine weitgehenden Autonomie-Rechte, aber die Ukraine muß als unitarischer Staat 'mit einer autonomen Republik' angesehen werden. Dies zeigt die Regelung, daß sich die Krym eine Verfassung geben darf, die von der Verchovna Rada gebilligt werden muß. Durch das Recht auf eine eigene Verfassung der Krym wurde das von den restlichen Oblasti unterschiedene politische Bewußtsein der Bevölkerung der Halbinsel kenntlich gemacht. Die von Teilen der russischen Führungsschicht bestrittene Zugehörigkeit Sevastopol's zur Ukraine wurde durch den Freundschaftsvertrag vom 31. Mai 1997 zwischen der Ukraine und Rußland bestätigt. Rußland muß jetzt die Flottenbasis in Sevastopol' pachten, und die Ukraine konnte durchsetzen, einen Teil der Basis für die eigene Flotte zu nutzen. Auf die ukrainische Nation und die spezifische Form eines Nationalismus wird in der Präambel und den Artikeln 10, 11 und 20 V U Bezug genommen. In der Präambel wird das Selbstbestimmungsrecht des ukrainischen Volkes auf die jahrhundertelange Geschichte der ukrainischen Staatswerdung und die sich verwirklichende ukrainische Nation zurückgeführt. Damit wird impliziert, daß die Unabhängigkeit des Staates gerechtfertigt ist durch die Existenz einer spezifisch ukrainischen (im Gegensatz etwa zu einer slawischen) Nation und Geschichte. In diesem Sinne hebt Artikel 11 hervor, daß der Staat die Konsolidierung und Entwicklung der ukrainischen Nation, ihres historischen Bewußtseins, der Traditionen und der Kultur ermöglichen soll. Die besondere Förderungswürdigkeit der Nationswerdung zeigt an, daß dieser Prozeß der Unterstützung bedarf, daß er weder unproblematisch noch abgeschlossen ist. Zwar bestimmt der gleiche Artikel 11, daß auch die ethnischen, kulturellen, sprachlichen und religiösen Eigenheiten aller anderen eingeborenen Völker und nationalen Minderheiten in der Ukraine in ihrer Entwicklung unterstützt werden sollen, aber die ukrainische Nation wird unübersehbar herausgestellt. Das gleiche gilt für die Förderung der Sprachen. Das Ukrainische ist alleinige Staatssprache ohne Ausnahme auch in den Gebieten, in denen die Mehrheit der Bevölkerung Russisch spricht. Bis zur Verabschiedung der Verfassung konnte nach den geltenden Gesetzen auch eine andere als die ukrainische Sprache Amtssprache (im Unterschied zur Staatssprache) sein, wenn die Mehrheit der 21 Vorndran
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Ν. Schlußfolgerungen
Bevölkerung in einem Verwaltungsgebiet dem zustimmte. Nach der neuen Verfassung wird der Gebrauch des Ukrainischen in allen Bereichen der Gesellschaft und auf dem gesamten Staatsgebiet aktiv unterstützt, während der Gebrauch anderer Sprachen lediglich toleriert wird. Die bei den Artikeln zur Förderung der ukrainischen Nation und Sprache wird auch bei der Bestimmung der Staatssymbole in Artikel 20 V U die sowjetische Vergangenheit zurückgelassen. Die neuen Staatssymbole, die auf historische ukrainische Vorbilder zurückgehen und schon seit der Unabhängigkeit 1991 benutzt wurden, stehen für die Identität des Staates mit einer ukrainischen Nation. Die Verfassung benennt als konstituierenden Elemente der ukrainischen Nation Geschichte, Sprache und Kultur, nicht aber ein ethnisches Element. Dies ermöglicht es auch den nicht ethnisch-ukrainischen Staatsbürgern, sich als Ukrainer zu fühlen und sich loyal zu diesem Staat zu bekennen. Dieses Bekenntnis fordert eine gewisse Anpassungsleistung, die nicht sofort, aber über die Zeit hinweg wenigstens graduell erbracht werden muß. 19 In der neuen ukrainischen Verfassung ist damit die erste Grundfrage weitgehend beantwortet worden. Die Unabhängigkeit der Ukraine wurde besiegelt und eine Form des kulturellen Nationalismus (im Unterschied zu einem ethnischen Nationalismus) als Teil der Staatsdoktrin festgelegt. Die zweite Grundfrage betraf den Regimetyp. Mit der Verabschiedung der Verfassung wurde die sowjetische Spielart des Räte-Parlamentarismus zu Grabe getragen. Die doppelte Vertikale von Legislative und Exekutive und damit die doppelte Verantwortlichkeit der Verwaltungen gegenüber der höheren Verwaltung und dem Rat der gleichen Ebene wurde durch das semi-präsidentielle System abgeschafft. Die jeweils höhere Verwaltungsebene ist nun gegenüber der nachgeordneten weisungsberechtigt, nicht aber die Räte untereinander in einer (nicht mehr existierenden) Hierarchie. Auf der nationalen Ebene ist offen, wie sich das Machtverhältnis im Dreieck von Präsident, Regierung und Parlament entwickeln wird, da Parlament und Präsident bei der Bestellung der Regierung zusammenarbeiten müssen. Merkmale eines kommunistischen Herrschaftssystems sind nicht wieder aufgenommen worden, sondern es werden demokratische Prinzipien garantiert. Die Verfassung fordert vom Gesetzgeber, daß er Ausführungsgesetze zu verschiedenen Bereichen der Institutionenordnung, z.B. zum Verfassungsgesetz sowie zur staatlichen und lokalen Selbstverwaltung, erläßt. Dies stellt aber nicht den Regimetyp in Frage, der in der Verfassung hinreichend bestimmt ist. Die dritte Grundfrage umfaßte den Bereich der Wirtschaftsordnung. Die ukrainische Verfassung legt eine Wirtschaftsordnung nicht explizit fest. In
19 Schon 1996 war zu beobachten, daß auch russisch sprechende Eltern ihre Kinder mehr und mehr in Schulen mit ukrainischer Unterrichtssprache einschulten. (Arel, 1996)
III. Die politischen Grundfragen in der ukrainischen Verfassung
323
einer Synopse der in der Spannung von freier Marktwirtschaft und Sozialstaat stehenden Verfassungsregeln, scheint das Prädikat „soziale Marktwirtschaft" das angemessenste zu sein. Einerseits garantiert die Verfassung das Recht auf Eigentum, auch an Land (Art. 13, 41), und das Recht dieses zu besitzen, zu nutzen und über es zu verfügen. Das Eigentumsrecht ist unverletzlich (Art. 41 IV). Enteignungen dürfen nur gemäß gesellschaftlichen Notwendigkeiten, nach den gesetzlichen Regelungen und bei voller Entschädigung vorgenommen werden (Art. 41 V bis VI). Alle Eigentumsformen sind vor dem Gesetz gleich (Art. 13 IV). Ebenso schützt die Verfassung in besonderer Weise das Recht auf Ausübung einer Wirtschaftstätigkeit, den Wettbewerb und den Schutz der Verbraucher (Art. 42). Damit sind wesentliche Elemente einer marktwirtschaftlichen Ordnung verfassungsrechtlich garantiert. Andererseits betont die ukrainische Verfassung den sozialen Bezug des Individuums und die soziale Bindung des Eigentums. Schon in Art. 1 wird die Ukraine als Sozialstaat definiert. Art. 23 betont den Zusammenhang zwischen der freien Entwicklung der Persönlichkeit und den Pflichten des Einzelnen gegenüber der Gesellschaft. Art. 13 IV regelt, daß der Schutz aller Formen des Eigentums gleichberechtigt neben dem Schutz der sozialen Orientierung der Wirtschaft steht. Die Verfassung legt fest: „Eigentum verpflichtet" (Art. 13 III). Es soll nicht zum Nachteil des Individuums oder der Gesellschaft genutzt werden (Art. 13 III). Diese Regelungen betonen den sozialen Charakter nicht nur des staatlichen, sondern auch des Privateigentums. Weitere Eingriffe des Staates in das Wirtschaftsleben ergeben sich aus den staatlichen Aufgaben, die in den sozialen Grundrechten festgelegt sind, so etwa durch eine soziale Pflichtversicherung (Art. 46 II), durch das Recht auf Wohnen zu „erschwinglichen Preisen" für Bürger, die sozialen Schutzes bedürfen (Art. 47 II), oder durch die kostenlose medizinische Fürsorge in staatlichen und kommunalen Einrichtungen (Art. 49 II). Insgesamt geben die Verfassungsregeln dem Gesetzgeber nicht vor, eine konkrete Wirtschaftsordnung zu verwirklichen. Damit bleibt genug Konfliktstoff für die Auseinandersetzungen zwischen den politichen Richtungen in der Verchovna Rada. Rechtlich ausgeschlossen sind aber die Rückkehr zu einer sozialistischen Staatswirtschaft ohne Privateigentum an Produktionsmitteln und eine vollständige Deregulierung im Sinne einer freien Marktwirtschaft. Ob der ukrainische Staat die Auswüchse des Kapitalismus durch die Gewährung sozialen Schutzes tatsächlich begrenzen kann, steht auf einem anderen Blatt. Die dritte Grundfrage ist in der Verfassung nicht abschließend geregelt, schränkt aber den Gestaltungsspielraum des Gesetzgebers, freilich nicht ohne ein großzügiges Ermessen zu belassen, ein. Die vierte politische Grundfrage betraf die außenpolitische Orientierung der Ukraine, insbesondere ihr Verhältnis zu Rußland. Art. 17 regelt generell, daß der Schutz der Souveränität und der territorialen Integrität sowie die Sicherung der wirtschaftlichen und Informations-Sicherheit die wichtigsten Funktionen
324
Ν. Schlußfolgerungen
des Staates sind (Art. 17 I). Dieser Absatz bestimmt das Verhältnis der Ukraine zu allen Nachbarstaaten. Weitere Aussagen über die außenpolitische Orientierung, z.B. über den Beitritt zu Bündnissen, trifft die Verfassung nicht. Weiter besagt Art. 17 VI, daß keine fremden militärischen Basen auf dem Territorium der Ukraine errichtet werden dürfen. Dies richtet sich direkt gegen die Stationierung des russischen Teils der Schwarz-Meer-Flotte in Sevastopol', die nach diesem Artikel sofort abziehen müßte. Die Vorschrift wird jedoch durch eine Ausnahme in den Übergangsbestimmungen gemildert (Kapitel V, Nr. 14), nach der bestehende Basen auf der Basis von zeitlich beschränkten Pachtverträgen weiterbenutzt werden dürfen. 20 Weitere Probleme im Verhältnis zu Rußland betrafen den Status der russischen Sprache in der Ukraine und eine doppelte Staatsbürgerschaft der ethnischen Russen. In beiden Fällen ist gegen die russischen Interessen entschieden worden. Staatssprache ist allein das Ukrainische (Art. 10), und eine doppelte Staatsbürgerschaft für die Bürger der Ukraine ist ausgeschlossen worden (Art. 4). Die Verfassung betont also die Eigenständigkeit der Ukraine, ohne sich außenpolitisch festzulegen. Das zukünftige Verhältnis der Ukraine zu Rußland wird weitgehend durch die Außenwirtschaftspolitik bestimmt werden, deren Prinzipien in der Verfassung nicht festgelegt wurden, um außenpolitischen Spielraum zu bewahren.
IV. Ausblick Die Verabschiedung der Verfassung war ein Meilenstein auf dem Weg zur Konsolidierung des ukrainischen Staates, der Nation und der Demokratie. Wichtiger als die Papierform wird jedoch die Entwicklung der Verfassungswirklichkeit sein, insbesondere ob sich eine Kultur der Rechtstaatlichkeit wird entwickeln können, die der Verfassung reales Gewicht gibt. Eine Tendenz zeigt sich darin, daß rechtliche Argumentationen im verfassunggebenden Prozeß eine Rolle gespielt haben, so zum Beispiel in den Diskussionen um die Ansetzung des Plebiszites 1995 oder des Referendums 1996. Genauso auffällig ist aber, daß sich der Präsident in beiden Fällen über das geltende Recht hinweggesetzt hat und es der Verchovna Rada zukam, die Legitimität des Verfahrens wiederherzustellen. Dies bedeutet wiederum nicht, daß man sich auf das rechtliche Gewissen des Parlamentes auch in Zukunft verlassen kann. Es mag aber hoffnungsvoll stimmen, daß die politischen Gewalten in wichtigen Auseinandersetzungen eine einvernehmliche, wenn auch nicht immer rechtlich einwandfreie Lösung gesucht haben. Dies ist ein bedeutsames Element der ukrainischen politischen Kultur. 20 Die Ukraine hat mit Rußland einen solchen Passus in Verbindung mit dem Freundschaftsvertrag vom 31.5.1997 vereinbart. (Frankfurter Allgemeine Zeitung, Neue Freundschaft zwischen Rußland und der Ukraine, Nr. 124, 2.6.1997, S. 1)
IV. Ausblick
325
Ein Ausblick auf die zukünftigen Strukturen der ukrainischen Politik ist ein gewagtes Unterfangen. Die oben erläuterten Schlußfolgerungen legen nahe, daß auch in Zukunft die Softliner für und gegen Reformen die dominanten Kräfte in der ukrainischen Politik bleiben werden. Es ist zu erwarten, daß die orthodoxen Kommunisten und die Nationalisten auch zukünftig von den höchsten Staatsämtern ausgeschlossen bleiben werden, wenn nicht miserable wirtschaftliche Umstände eine soziale Revolte hervorrufen, die zu einer grundlegenden Revision der politischen Strukturen (vielleicht nur unterhalb der Verfassungsebene) führt. Welche Grundfragen werden in Zukunft für die alltägliche Politik relevant sein? Die Frage nach der Unabhängigkeit der Ukraine wird spätestens seit der Verabschiedung der Verfassung nicht mehr kontrovers diskutiert. Auch wenn die wirtschaftlichen Hoffnungen der ostukrainischen Bevölkerungen enttäuscht worden sind, herrscht zu dieser Frage ein breiter Konsens. Ein ähnlich klarer Konsens besteht nicht zur Frage des Nationalismus, obwohl sich die Form des kulturellen Nationalismus durchzusetzen scheint und auch in der Ost-Ukraine an Unterstützung gewinnt. In diesem Rahmen wird und kann die konkrete Sprachen-, Kultur- und Bildungspolitik zwischen den politischen Richtungen umstritten sein, ohne die Einheit der Ukraine zu gefährden. Somit hat auch der Streit um die Form des Nationalismus an Relevanz verloren. Dies läßt den weiteren Schluß zu, daß die Nationalisten an Einfluß verlieren könnten, weil ihre wichtigsten politischen Aussagen keine große aktuelle Bedeutung haben werden. Auch die zweite Grundfrage (zur Form des Regierungssystems) wird nach der Verabschiedung der Gesetze, die zur Ausgestaltung der Verfassung notwendig sind (z.B. über das Verfassungsgericht und die lokale Selbstverwaltung) an Bedeutung verlieren. Änderungen am Regierungssystem werden nicht mehr ideologisch begründet werden, sondern (wie unter dem Deckmantel der Ideologie auch bisher schon) reine Machtfragen sein. Es ist zu vermuten, daß der Präsident in der ukrainischen Politik an Gewicht verliert, wenn parlamentarische Reformen zu effektiveren Strukturen führen und das Parlament größeren Einfluß auf die Bestellung und Tätigkeit der Regierung ausübt. Die Verfassung läßt dazu genug Raum. Ohne Zweifel wird die Ausgestaltung der Wirtschaftsordnung zukünftig die ukrainische Politik dominieren. Die Verfassung läßt in diesem Bereich einen weiten Spielraum. Diese Frage ist für die Bevölkerung die drängendste.21 Hier treffen zudem die unterschiedlichen Interessen der verschiedenen politischen Richtungen und zusätzlich verschiedener regionaler Gruppen direkt aufeinander. Die unverblümt offenen oder verdeckten persönlichen wirtschaftlichen Interessen der Mitglieder der Exekutive und Legislative sind in der Ukraine derart dominant, daß Politik nicht viel anderes zu sein scheint, als die Verfol21 Chudowsky, 1996, S. 335.
326
Ν. Schlußfolgerungen
gung von Wirtschaftsinteressen mit anderen Mitteln. Dies kann zur Gefahr für die innere Einheit der Ukraine werden, wenn die Führungsschicht einer Region die nationale Politik dominiert und ein Ausgleich zwischen den Regionen nicht mehr stattfindet. Daran kann auch eine Verfassung nichts ändern. Mit dieser dritten Grundfrage eng verbunden ist die Frage nach der zukünftigen geopolitischen Ausrichtung der Ukraine. Da Rußland selbst große wirtschaftliche Probleme und die Ukraine folglich nichts oder nicht viel von seinem großen, aber nicht übermächtigen Nachbarn zu erwarten hat, erscheint eine verstärkte Ausrichtung nach Westen plausibel. Dieses Konzept hat Präsident Kuöma seit Beginn seiner Amtszeit vertreten, allerdings ohne die Türen nach Osten zu schließen.
Anhänge Anhang 1 Edict by the President of Ukraine „On measures designed to restructure and ensure proper management in state executive"1 With the purpose to make management of state executive more efficient, to enhance responsibility and role of state machinery in advancing economic reforms and establishment of market relations, in accordance with items 33.1 and 7.31 of the articles 114-5, and 117 of the Constitution of Ukraine I rule: 1. President of Ukraine, having been empowered to lead the Cabinet of Ministers of Ukraine, sets major avenues of its activities and the urgent questions to be dealt with at first hand. 2. The most urgent issues related to economic reforms, forming market relations and social defence of the man shall be resolved by the Cabinet of Ministers of Ukraine with the direct participation of the President of Ukraine; agenda of the Cabinet of Ministers' sessions shall be approved by the President of Ukraine; draft edicts by the President of Ukraine on key issues related to economic reform, and public defence shall be drawn up with the obligatory participation of the Cabinet of Ministers of Ukraine; any regulations for ministries and other state executive bodies whose heads included in the Cabinet of Ministers shall be approved by the President of Ukraine save for the cases mentioned by the Law; heads of Ukraine's state committees, and other bodies subordinate to the Cabinet of Ministers, deputy ministers and other heads of central executive bodies shall be appointed to their posts and dismissed from their offices by the President of Ukraine;
President of Ukraine,
Leonid Kuchma.
1 Interfax, 9.8.1994, 13.30 Uhr, S. If.
Anhänge
328
Anhang 2 Edict by the President of Ukraine „On management of regional executive bodies"2 »· ··
1. Chairmen of regional, city, district and village assemblies shall be in charge of exercising the power that they and they-led executive bodies had been delegated to.
2. ... 3. Chairmen of regional, Kiev and Sevastopol city and the executive committees that they lead when dealing with all the questions related to the state executive power shall be subordinate to the President of Ukraine; when dealing with all the questions related to the state executive power, chairmen of city, district and village assemblies and their executive committees are subordinate to chairmen of regional, Kiev and Sevastopol city assemblies and through them - to the President of Ukraine.
President of Ukraine,
Leonid Kuchma."
2Interfax, 9.8.1994, 13.30 Uhr, S. 2
Anhang 3
329
Anhang 3 Dekret des Präsidenten über die Durchführung eines Plebiszites zur Frage, ob die ukrainischen Bürger dem Parlament oder dem Präsident vertrauen 3 „... I decree: 1. To conduct on June 28, 1995 a plebiscite on the issue of Ukrainians' citizens' confidence in the President of Ukraine and the Parliament of Ukraine. 2. To put onto plebiscite ballots the following question: 4 1 have confidence in the President of Ukraine' Ί have confidence in the Parliament of Ukraine'. 3. To set up the order of voting as follows: In case of expressing confidence in the President of Ukraine, the words Τ have confidence in the Parliament of Ukraine' shall be crossed out; in case of expressing confidence in the Parliament of Ukraine, the words Ί have confidence in the President of Ukraine' shall be crossed out. The ballots in which the both or neither of the two versions are crossed out will not be taken into account during counting the votes. 9. The Cabinet of Ministers of Ukraine shall provide financing of the plebiscite at the expense of Cabinet of Ministers reserve fund assets. The President of Ukraine, L. Kuöma."
3 IntelNews, No. 148, 2.6.1995, S. 5f.
Anhänge
330
Anhang 4 Tabelle 8 Resultate der Abstimmungen über die Resolution der Verchovna Rada über den Arbeitsbericht des Präsidiums am 7. April 1995 4
ιStimmverhalten ηfür" Fraktion
„gegen"
„Enthaltung"
nicht abgestimmt
abwesend
Anzahl der Fraktionsmitglieder
>v
Kommunisten
80
-
-
2
1
89
Sozialisten
25
-
-
2
1
28
Agrarier der Ukraine
42
-
-
1
5
48
Unabhängige
25
-
-
1
3
29
IDG
17
1
1
6
5
30
Einheit
21
2
2
2
4
31
Zentrum
13
1
6
3
10
33
Reformen
1
24
1
2
8
36
Ruch
-
23
-
6
-
29
Staatlichkeit
2
15
1
6
5
29
Fraktionslose
-
3
1
6
5
15
226
69
12
37
53
397
Gesamt
4
Roman Kul'éinskij, Verchovnyj sovet opredelil svoj cvet. Nakonec-to, in: KV, 15.4.1995
Anhänge
331
Anhang 5 Tabelle 9 Stimmverhalten der Deputierten nach Fraktionen bei der Abstimmung über die Verfassungsvereinbarung am 7. Juni 1995 5 ^
Stimmverhalten
„Für"
„ Gegen "
„Enthaltung"
Fraktion
nicht abgestimmt
Fraktionslose
14
4
0
3
Kommunisten
3
64
4
6
Sozialisten
5
8
3
2
Bauernpartei
20
1
0
1
Agrarier für Reformen
23
0
0
0
Unabhängige
22
1
0
0
Einheit
26
0
0
2
Zentrum
23
0
0
1
IDG
24
0
1
2
Reformen
28
1
0
2
Ruch
26
0
0
1
Staatlichkeit
26
2
0
0
240
81
8
20
Gesamt
5
IntelNews, emv, 8.6.1995, S. 2.
Literaturverzeichnis In diesem Literaturverzeichnis sind nicht erfaßt die Quellen von Zeitungen sowie a) Interfax-Ukraine, b) IntelNews, c) BBC Summary of World Broadcast, Third Series, Part 1 : Former USSR (zit. als BBC), d) Eastern Economist (zit. als: EE), e) Kievskie Vedomosti (zit. als KV), f) Vseukrainskie Vedomosti (zit. als VV), g) Radio Free Europe/Radio Liberty: Slavic, Baltiv and Eurasian Archive (zit. als SBE), h) Open Media Research Institute, Daily Digest (zit. als OMRI DD), deren genaue Herkunft wegen des meist nur einmaligen Zitats in den Fußnoten angegeben wird.
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Christlich-Demokratische Partei der Ukraine 90, 97, 110, 272 Dekret 11, 62, 68f., 72f., 138, 184f., 188f., 192, 194-196, 200f., 205, 209,218, 220, 222f, 232, 235f., 241,247, 253f., 257, 259, 261f., 279, 291-294, 296,315 Demokratische Bauernpartei 90 Demokratische Partei der Ukraine 8, 66, 70, 73, 90, 97, 104f., 109f., 116, 120, 123, 142, 173, 179, 265,268, 272 Demokratische Plattform 51 f., 54, 56, 115 Demokratischer Block 40, 47-49 Demokratisierung 43-45,63,66,316 Dissidenten 38f,45,48, 122, 159, 241 Djuba, Anatolij 230 Dnipropetrovs'k 32-34, 91, 93, 98f., 114, 117, 135, 229, 234, 242f., 249 Docenko, Ivan 186 D'omin, Oleh 116, 148f., 195, 211 Donbas 29, 32-34, 42, 52, 73, 78, 80, 98, 107, U l f . , 307, 315 Donec'k 31-34, 63f., 73, 107, 118f., 135,249 Dorosenko, Michajlo 208 Drac, Ivan 38, 41f., 63, 66, 120f, 123 Durdynec', Vasyl' 127f., 137, 142, 148, 228, 230 Exekutive 9f., 15,21,69,71, 103, 121, 130, 132, 135, 143, 154, 169, 171 f., 180f., 184-186, 188f., 192,
348
Personen- und Sachregister
198, 200, 203, 205, 208, 214, 217, 219, 222, 226f., 231-233, 235f., 238, 242f., 245, 248, 250, 252, 254, 259, 261 f., 266, 272, 278f.,281, 283, 293f, 297, 300,302,315, 317f., 322, 325 Expertenkommission (zur Ausarbeitung eines Verfassungsentwurfs) 10, 255-257, 262f., 266f. Filenko, Volodymyr 91, 115f. Föderation 58,249 Fokin, Vitold 8,55,69-71 Fraktionsrat 292 Franòuk, Anatolij 95 Führungsschicht 26f., 30, 32, 57, 75, 77, 79f.,99f., 103, 107, 123, 138, 178, 242f., 307, 314, 317, 321, 326
Gorbaòev, Michail 29, 58f., 76 Griechisch-katholische Kirche 37, 44, 171 Gruppe der 239 56, 58, 61 f., 67, 113, 142, 146, 309 Hal'öins'kyj, Anatolij 115, 208, 233 Het'man, Vadym 22, 26, 136 Hmyrja, Serhij 276 Hoher Schiedsgerichtshof 143 Holos Ukrajiny 83, 116, 143, 176, 244, 248f., 278 Horbulin, Volodymyr 233-235, 237, 242, 277 Horyn', Michajlo 123,139,229 Hrusevskyj, Mychajlo 25 Hryn'ov, Volodymyr 54,62-64,91,
166 Galizien 27-29, 34, 36, 44, 49, 56, 59, 64, 107, 113, 124, 178,307,315 Gemeinschaft Unabhängiger Staaten (GUS) 31,65, 114, 132,237 Generalstaatsanwalt 125, 143, 155, 159, 200-202, 204, 222f., 242, 262, 280, 283, 288 Geschäftsordnung der Verchovna Rada 56, 127-129, 143f, 151, 153, 155, 158, 160, 199,210, 277, 289, 294, 302 Gesetz der Ukraine 10, 15, 198, 202, 221,315 Gesetz über die Macht 10, 188, 192, 198, 202, 204, 206,211,213,215, 217, 219, 221, 224, 226f., 232, 238, 248, 250, 254f., 284, 302, 304 Gesetz über die Stellvertreter des Präsidenten 10, 68, 78, 87, 138, 149,253 Gesetzgebung 13,15,42,146,151, 162, 199, 223, 232, 236, 248-250, 257, 259, 266, 280f., 287, 318 Gewerkschaft 42, 80, 104, 123, 173, 189, 249, 279
Hryvnja 191 Hurejev, Vasyl' 228 Hurenko, Stanislav 57f., 61 f., 79, 308 Hyin, Viktor 236 Initiativrecht 69,219,258,266 Intelligenzija 49, 108 Interregionale Deputierten-Gruppe 131, 134f., 138, 141f, 146, 149f., 157, 170, 182, 190, 192, 203,209, 212, 215, 217, 228, 246, 269, 272, 276 Interregionale Reformblock 8, 91, 105, 109, 115, 117f. Interregionaler Reformblock 99, 116, 158 ivasko, Volodymyr 44, 50, 52f. Jarosyns'kyj, Bohdan 123,139,262 Jechanurov, Jurij 116 Jel'jaSkeviö, Oleksandr 138 Jemec', Oleksandr 50, 115, 230, 252, 272, 275,291-293 Jevtuchov, Volodymyr 57
Personen- und Sachregister Juchnovs'kyj, Ihor 50, 55, 63, 72, 139, 273 Judikative 143f., 201, 215, 256, 262f. Kandyba, Ivan 38 Karasyk, Jurij 208 Karpov, Oleksandr 134, 142, 209 KGB 62, 186f. KieverRus' 25f. Kinach, Anatolij 228f. Kirovohrad 29, 98, 176 Kommunismus 13, 16, 37, 99, 103, 128, 190 Kommunistische Partei der Sowjetunion 40, 44, 52, 62, 73, 111 Kommunistische Partei der Ukraine 7f., 38-46, 48-56, 58f., 61-63, 65, 69, 73, 76, 85, 89f, 95, 97f., 103f., 106f., 109, 111-115, 118, 120, 123, 128, 130-132, 145, 172f, 178, 264f., 268, 271, 274, 296, 308, 312 Komsomol 46,52,54,309 Kongress der ukrainischen Nationalisten 8,90, 109, 124, 126, 139, 142, 149, 155 Konstitutionelle Demokratische Partei
Krimtataren 30 Krym 24, 29-31, 33-35, 59, 64f., 95, 97f., 110, 116, 119, 176, 178, 199, 202, 206, 215, 238, 242, 258, 260, 262, 267, 278, 283, 286f., 294, 300, 303,315,317, 321 Kudjukin, Pavlo 157f. Kuras, Ivan 228,272 Kusnar'ov, Jevhen 115 Kuöma, Leonid 8-10, 14f, 18,21f, 30,32, 34f., 57, 70-74, 78f.,91, 112, 115-117, 121, 133f., 138, 145f., 149, 158, 167-171, 173, 175-181, 183-196, 198,202-209, 211-216, 218, 220, 222, 226-230, 232-243, 245, 247, 250, 252f., 256f., 262-266, 269f., 272, 274277, 279, 282, 289-296, 301-304, 31 lf., 314-319, 326 Kuznjecov, Volodymyr 234, 240 Kyjiv 5, 23f., 26, 29, 33f., 36, 39-43, 47, 49, 52, 54, 64, 74, 90f., 98, 113f, 118-120, 122f, 125, 161, 163, 168, 174, 230, 232, 249, 258, 271,294, 299,314
118, 173 Kontrollfunktion 101 Koordinations-Rat der Verchovna
Land-Reform 10, 192, 194 Landyk, Valentyn 73, 136 Lanovyj, Volodymyr 9, 67, 70, 119,
Rada 130, 152-154,209 Koréynskyj, Dmytro 125 Kosaken 26f.
138, 167, 170, 172f., 175 f. Lavrynovyö, Oleksandr 138, 229f. Lazarenko, Pavlo 135f., 228-230, 239, 242, 295 Legislative 10, 15,21,69, 128, 132, 143, 190, 198, 217, 226f., 243, 250, 252, 254, 257, 262f., 266, 275, 278f, 281, 294, 297, 301, 318, 322, 325
Kosiv, Michajlo 87, 92, 95, 132, 139,
228 Kostenko, Jurij 148 Kravöenko, Jurij 230 Kravöuk 14, 30, 32, 34f., 41,43, 45, 53, 55, 57-64, 66-74, 76-79, 94, 99, 111, 121, 123f., 135, 137, 144147, 155f., 158f, 167-171, 173179, 181f, 184, 188f., 233, 243, 308,311-316
Legislaturperiode 22,46, 100, 107f., 127f., 145 f., 148, 152f., 155, 160, 163f., 182, 199, 206, 279, 288,314 Legitimation 17, 20, 75, 101, 104, 181,301,308
350
Personen- und Sachregister
Liberale Partei der Ukraine (LPU) 8, 97, 105, 109, 118,272 Liberalisierung 16,43,45, 102f., 191, 316 Literaturna Ukraina 48 Lokale Selbstverwaltung 15, 132f., 135, 151, 184, 198f., 201f., 206, 214, 221, 223, 253, 259, 261f., 265, 267, 270, 278, 284f., 287, 315, 322, 325 Luk'janenko, Levko 38,40,56,61, 63, 66f., 121-123, 139, 155f., 159f., 175 L'viv 22, 33, 38, 4 0 , 4 2 f , 48, 54, 58, 87, 95, 107, 112, 123 Mandats-Kommission 128, 157-159 Maréenko, Volodymyr 114, 133 Maröuk, Jevhen 95, 136, 147, 187f., 207-209, 211, 226-230, 232f., 237-247, 250, 252, 270, 272, 303, 317 Markulov, Ibrahim 118 Marmazov, Jevhen 132,148 Masol, Vitalij 7, 9f., 51, 54f., 128, 136, 142, 168, 180-185, 187-190, 194, 207f., 211,230, 232, 238 Matvijenko, Anatolij 115f. Medien 9, 16, 23, 31f., 41, 48, 50, 62-65, 68, 86, 92f., 100, 106, 112, 126, 132, 143, 150, 153, 166, 168, 171 f., 174-176, 259 Mehrheitswahl 8,80-82 MeSöerjakov, Valerij 157 Minister 49, 51, 70, 72, 88, 116, 137, 167, 183, 185-189, 194, 204, 208, 211, 222, 227f, 230f., 235-238, 241, 251 f., 259, 270, 277, 281, 283f., 288, 295, 303f., 326 Ministerrat 43, 46, 67, 71-74, 116, 144f., 155, 184-188, 193, 200, 204, 207-209, 211, 222, 227, 229-231, 235-238, 240-242, 244f., 252, 259,
261,272, 279, 281 f., 284, 292 Mißtrauensvotum 54, 147, 200f., 204, 209-211, 221 f., 226, 259, 271, 282, 286, 289, 304 Mitjukov, Ihor 211,229 Moisejenko, Vladimir 158 Moroz, Oleksandr 9f., 21 f., 50, 62, 67, 104, 113f., 128, 133, 142, 144150, 156-159, 165, 167f., 172f., 176f., 180-184, 188, 190f., 193196, 202-204, 206f., 209f, 212216,218, 220, 225f., 233, 239, 244f., 247-250, 252, 254, 256, 262-266, 268-271, 273, 275-277, 289, 291 f., 294—296, 302-304, 309, 319 Morozov, Kostjantin 70, 228 Muchin, Volodymyr 132 Murachovskij, Anatolij 236 Musijaka, Viktor 138,147,149, 253f, 294 Narodna Rada (Volks-Rat) 49-51,53, 56f., 59, 61, 63, 66f., 72, 105, 139, 279-281, 283f., 288, 291 Nation 13-15, 40, 53, 59, 74, 76f., 126, 160, 179, 189, 210f., 232, 241, 256, 278, 297-299, 301, 312f., 315f., 321 f., 324 Nationalbank 53, 143, 191, 193, 199201, 204, 206, 208, 222f., 241, 259, 280f., 283 Nationaldemokraten 9, 37, 52f., 56, 58, 60-62, 64, 69f., 72, 80f., 88, 90f., 98, 128, 131, 136, 148f, 156, 164, 170f, 175, 179, 204, 210, 214, 256, 266, 297, 309 Nationaler Sicherheits-Rat 234f. Nationalismus 22, 27f., 37, 61, 76, 307,310,320-322,325 Neue Ukraine 70, 115-117, 234 New Institutionalism 18
Personen- und Sachregister Nomenklatura 14,40, 43, 53, 63f., 68, 75f., 79, 82, 89, 93,98, 104, 108, 111, 124, 175, 183,237, 308,312314 Nominierung (des Abgeordneten ftir eine Wahl) 8,41,47,63,84-86, 89,91,98, 148, 157, 166, 181,221 Oberster Sowjet 30,46, 50f., 54, 56, 59f., 65, 143, 154, 157, 161, 184, 200f., 221 Oblast' 29, 31, 33-35,42f., 49f., 58f., 63f., 68, 73, 76, 84f., 87, 90-92, 95, 98, 109, 111-115, 117-119, 122f., 125, 135, 137, 155f., 160, 166f., 170, 173, 176-178, 183f., 191, 198f., 202, 219, 224, 228f, 237, 242, 258, 260f, 265, 267, 271f, 284-286,314, 321 Odesa 24, 31, 37, 64, 99, 117f., 157, 176 Öffentliche Meinung 16, 28, 42, 52f., 57, 102, 108, 112 Olijnyk, Borys 132,172 Opposition 7, 39, 45, 51 f., 55f., 58, 66f., 69, 76, 120f, 136, 153, 164, 190, 194,212, 220, 228f.,316 Organisation der Ukrainischen Nationalisten (OUN) 76f., 126 Orthodoxie 24, 26, 111 Osyka, Serhij 230 Panasovs'kyj, Oleh 157 Parlament 7,9-11, 13-15, 18, 21 f., 31, 34f., 50-52, 56-58, 60-62, 65, 67-74, 76, 78-82, 84, 86, 88, 93f., 98-100, 104-106, 108, 111-113, 116f., 122, 124, 127, 129f., 132134, 136-139, 142-150, 152-165, 170, 175f, 179-182, 184, 186-191, 193-196, 198-206, 208, 210-215, 217-224, 226-228, 231 f., 237, 239, 243-250, 252-257, 260, 262-265, 267-275, 277, 279, 281-284, 289,
292-296, 300-304, 309-320, 322, 325 Parlamentarismus 7, 50, 296, 322 Parlamentswahl 7f., 21, 23, 40,43, 45f., 49f, 64f, 80f., 83, 85-88, 9092, 94, 99f., 105-109, 112, 115, 117-119, 121f., 124f., 127, 157, 161, 166, 175, 181, 183, 190, 259, 308f., 314, 316 Partei der Demokratischen Wiedergeburt der Ukraine (PDWU) 8,63, 65,67, 90f., 97, 105, 109f., 115f., 120,135, 173 Partei der freien Bauern der Ukraine 115 Partei der Grünen, Zelenij Svit 110 Partei der Macht 67, 99, 116, 168 Partei der ökonomischen Wiedergeburt der Krym 97, 119 Parteiensystem 81, 104, 108, 128 Pavlovs'kyj, Michajlo 142 Pavlyöko, Dmytro 50, 123, 171 Perejaslav, Vertrag von 24, 27 Perestrojka 30, 3 8 ^ 3 , 50, 76, 103,
122 Pidpalov, Leonid 263 Plaöynda, Serhij 41 Plebiszit 10, 204, 214-220, 317 PljuSÖ, Ivan 54, 57, 61, 67, 71, 127, 136, 142, 144-146, 167, 171, 174f, 314 Plural isierung 103 Pohrebnjak, Jakiv 43 Polen 24-28, 36, 49, 164, 291, 307 Politbüro 43f., 55, 152 Poltava 29,98, 117, 176 Ponamaròuk, Dmytro 89f., 92, 122, 139 Porovs'kyj, Mykola 123 Präambel (der Verfassung) 13, 53, 77, 256f., 278, 291-293, 295, 297, 301, 321
352
Personen- und Sachregister
Präsident 9, 11, 14f., 21, 30, 32, 34f., 62f., 66, 68f., 71-73, 76, 78, 88, 99f., 107, 115, 117, 133f, 137, 139, 145, 167-170, 175f., 178, 180-185, 188f, 198-207, 209-219, 221-224, 226-229, 231 f., 234, 236-239, 241-243, 245, 250, 252-257, 259, 261 f., 265, 268f, 272f., 276f., 279, 281-284, 286, 288, 291-293, 295, 300-303, 308, 310-315,317-320, 322,324-326 Präsidentschaftswahl 7,9, 14,21,32, 34f., 62-64, 69, 76, 79, 99f, 107, 111, 115, 117, 121, 137, 146, 166f, 170f., 173, 175f., 181, 183f.,233f, 260, 268, 309, 31 lf., 314, 317, 319 Präsidialsystem 116, 189 Präsidial Verwaltung 10, 75, 77, 116, 185, 190f., 198,214, 226f.,231236, 239f., 242f., 253, 268, 275, 313 Präsidium der Verchovna Rada 9, 11, 51, 57f., 60, 115f., 127f., 130, 136, 143, 152-155, 161, 163, 176, 182, 193, 195, 203, 209f., 216, 218-220, 237, 252, 269, 273f, 276 Präsidium des Kabinetts 237 Preisliberalisierung 10,72, 192f.,209, 232 Premierminister 8, 10, 22, 35, 54, 6973,95, 116, 135-138, 167-169, 182-184, 187-189, 200, 205, 207, 211, 222, 226-234, 236-243, 247, 259, 267f, 272, 275, 280, 282-284, 292, 295,310,315,317 Privateigentum 112-114,116,172, 262, 293,298,302,307,310,318, 323 Privatisierung 36, 72, 112, 117, 121, 124, 132, 135, 173, 177, 187, 191193, 195f., 242, 245,253,265 Progressive Sozialistische Partei 114 Prosjanyk, Tamara 90f., 95, 123, 139
Prosvita, Gesellschaft 27, 91, 179 Pustovojtenko, Valerij 116, 186, 238240, 242 Pynzenyk, Viktor 9, 72f., 116, 119, 138, 170, 173f., 187-189, 191, 194, 207-209, 211, 227-230, 236, 240 Radöenko, Volodymyr 186,230 Rajon 90, 109, 111, 123, 156,261, 267, 284-286 Rat der Magistratur 288 Rat der Regionen 35, 198, 218, 272, 292 Razumkov, Oleksandr 115,233,242 Rechnungshof 280 Referendum 7, 15, 18, 45, 54, 58f., 63,65,70, 73,78, 80, 153, 155, 205, 214f., 219, 222, 255-258, 263f., 266, 268f., 271f., 274f., 277, 279, 285f., 290, 292-294, 296, 303f., 307f., 312, 319 Regierung 9 f , 15, 26, 28, 32, 35, 40, 42, 55, 57, 68-70, 73-76, 78, 82, 100, 102, 106, 118, 121, 125, 128, 133, 136, 144f., 152, 156, 164f., 170, 180f., 183-185, 188-191, 193f., 196, 198-201,204-211,213, 216, 221 f., 226-232, 234-240, 243-254, 257, 259, 261, 265, 267f., 270, 272, 274, 282f, 294, 300, 302, 315,317, 322,325 Regionalisierung 7, 24-27, 29f., 3236, 50, 68, 89, 98, 100, 105, 107, 135, 140, 173, 178, 183, 198,218, 224, 228, 243, 245, 249, 260, 272, 292, 314f., 326 Resolution 11,127-129,153-155, 162, 165, 168, 209f., 212, 217, 243f., 246-248, 251, 267, 277, 294 Revolution 17,56 Ruch, Bewegung zur Unterstützung der Perestrojka 7-9, 30, 34, 38f., 41-43, 47-49, 51-54, 56, 59f., 63,
Personen- und Sachregister 66, 70, 73-77, 80f, 85, 87, 89f, 92, 97f, 104-107, 109f., 115, 120-124, 128f., 131 f., 138f., 141f., 148-150, 155, 160, 170, 175, 179, 182, 190, 192f., 197, 203, 209, 212f., 215, 217f., 227, 262, 265, 269, 272, 291 f., 294, 304, 307-309, 312f., 316,319 Rußland 14, 24-27, 29-33, 36f., 46, 62, 65, 71f., 75, 77, 95, 101, 108f., 114, 117, 124, 130f., 169, 171, 177f., 187, 192, 238f, 242, 269, 297, 300f, 307, 309f, 312, 315, 317, 321, 323f., 326 Sabluk, Petro 187,211,228,230 Sahajdaényj, Petro 26 Salij, Ivan 236 Samofalov, Hennadij 134 Samoplavs'kyj, Valerij 187 Sejko, Petro 146,161 Seiest', Petro 29, 38 Sevöenka, Valentyna 50 Sevòenko, Taras 27, 40f., 47 Sistdesjatnyky 29 Schlichtungskommission 272-274, 303,319 Smarov, Valerij 186,230 Spek, Roman 137, 194, 209, 211, 228-230, 236, 240 Söerban', Volodymyr 119,135,147 Söerbic'kyj, Volodymyr 29, 39, 43f. Session der Verchovna Rada 54, 59f., 70, 151, 156, 161, 163,248, 268,
282 Sevastopol' 29,65,258,317,321, 324 Simferopol 119 Sljednjev, Volodymyr 57 Soboljev, Serhij 138,277 Soskin, Oleh 119 Souveränität 47, 51, 56, 58f., 124, 169, 200, 261,278,283,311,323
Souveränitätserklärung 7, 40, 45, 5255,59, 120 Sowjetunion 7, 13, 16, 28, 32f., 3639, 43,46, 57-61, 65, 75f., 99, 112f., 115, 121, 132, 178f,255, 265,296, 306-308,312 Sozial-Demokratische Partei der Ukraine 97, 110 Sozialistische Partei der Ukraine (SPU) 8, 62, 67f., 85, 89f., 97f., 104, 106, 109, 111, 113f., 128, 132f., 145, 173 Sozial-Markt Wahl, Gruppe 106, 131, 135, 137, 141 Staatlichkeit, Gruppe 9, 34, 63, 75, 105, 131, 137, 139, 141, 145, 150, 155, 160, 179, 182, 190, 192, 197, 203, 209, 212f., 215, 217f., 246, 264, 269, 272f., 292, 294, 304, 309, 316,319 Staatsoberhaupt 121, 200, 222, 261, 283 Staatsrat 68 Staatssprache 13, 31, 112f., 115-117, 257, 278, 287, 291, 298-300, 321, 324 Staatssymbole 13, 67, 262, 265f., 278, 292-295, 299f., 303f, 306, 316, 318, 322 Staatswerdung 22, 74, 77, 257, 270, 313,315,321 Stalin, Iosif 28 Stesenko, Oleksandr 132,214 Stec'ko, Jaroslava 126 Stichwahl 34, 80, 82f., 94, 157, 167, 170, 172f., 176, 178, 180, 183,317 Stretoviö, Volodymyr 152 Sulima, Jevgenij 93 Svjahilskyj, Jefim 73 Symonenko, Petro 73, 111, 128, 132, 172, 208,264 Symonenko, Valentyn 71, 136
354
Personen- und Sachregister
Syrota, Michajlo 137, 273, 276, 289f., 303, 305 Tabaönyk, Dmytro 168,233 Talaneuk, Petro 167,174 Tanjuk, Les' 50 Tatarynov, Anatolij 149 Telesun, Serhij 290 Ternopir 58, 123, 137 Tkaéenko, Oleksandr 63, 148f., 182, 184, 195,202, 208,210,217 Transformationsprozeß 99, 306 Cerep, Valerij 148,209,228 Öerkasy 98,219,295 Cornovil, Vjaòeslav 39, 63f., 66, 73, 105, 107, 121 f., 124, 128, 138, 142, 148, 166, 171, 178, 190, 268, 292f, 296,311 Cy2, Ivan 132, 248f., 263 Tyma, Jurij 142 Udovenko, Gennadij 186 Ukrainische Autokephale Orthodoxe Kirche 28, 37 Ukrainische Helsinki-Gruppe 39 Ukrainische Helsinki-Union 39f. Ukrainische Konservative Republikanische Partei 97, 109f., 123 Ukrainische Nationale Selbstverteidigung (UNSO) 87, 98, 109, 124f. Ukrainische Nationale Versammlung (UNA) 87, 97f., 109f., 124f., 142 Ukrainische Republikanische Partei (URP) 8,56,63,89, 104, 109f., 122, 272 Ukrainische Sozialistische Sowjetrepublik 28, 265 Unabhängigkeitserklärung 13f., 31, 45,60, 123, 163,257, 296, 308 Union von Brest 26 Unionsvertrag 42, 54f., 59, 64
Varennikov, General 60 Vascuk, Kateryna 142 Vasjura, Ivan 157 Vasylysyn, Andrij 186 Verchovna Rada 8f., 11, 22, 34, 65, 82, 88, 94, 108, 113, 116f., 125, 127f., 135, 137f, 141, 143f., 147, 149-152, 154, 156f., 161, 163, 174, 176, 182, 185f., 192, 194, 196, 199, 203,205,207, 209f., 214f., 218, 221-223, 226f., 229, 232-234, 239, 243, 246, 248, 250f., 253-255, 264, 267, 269-274, 276f, 289-297, 300-302, 308, 311, 313f., 318f., 321, 323f. Verfassung 11,13-19,21,23,30,35, 45-47, 55, 59f., 68, 77, 127f., 131, 133, 137, 143f., 147, 151-156, 165, 170, 179-181, 188f, 199-202, 205f., 214f., 217, 219, 221-224, 230, 232, 241, 248, 255-258, 260264, 267-272, 274-276, 278-280, 283, 286-297, 299-304, 306, 308, 311-320, 322-325 Verfassungsausschuß 11, 18,215, 255-257, 262-266, 268f., 272-274, 291, 293, 297, 303f, 319 Verfassungsgebender Prozeß 14-17, 19, 2 I f , 131,264, 270, 272, 277, 292, 295, 301, 312f, 317-319, 324 Verfassungsgericht 13,69, 143f., 189, 199-201, 205, 215, 221f.,261f., 278, 280, 282f., 287f., 325 Verfassungsvereinbarung 10f., 15, 17, 21, 114, 133, 143, 147, 153, 155, 215, 217, 219-221, 223f.,226f., 248, 255f., 268, 275, 277, 293, 301, 304, 312, 314, 317f. Verhältniswahl 8, 81 f., 107, 109 Verwaltung 28, 35, 50, 52, 68, 86, 100, 106, 119, 143, 165, 184f, 198f., 201 f., 206, 222f, 229, 233,
Personen- und Sachregister 237, 242, 244, 253, 261, 272, 280, 284-287, 322 Veto 30, 184, 195, 200f., 205, 218, 222f., 253, 281, 283 Vitovyö, Oleh 124 Vitrenko, Natalija 114, 133, 159, 209, 244 Vize-Premierminister 72f., 116, 137, 227-231, 236-238, 240, 251, 261, 272, 275, 292 Volks-Demokratische Partei der Ukraine (VDPU) 109, 116 Vorsitzender der Verchovna Rada 9, 22, 57f., 61 f., 113, 127, 129f., 133, 138, 142-149, 152-154, 163, 181, 188, 190, 199, 209f., 221, 226f, 250, 255,291,310,313 Wahlbeteiligung 8, 42, 48, 59, 64, 83, 89, 94, 98f, 122, 167 Wahlblock 90, 106 Wahlbündnis 8, 90f, 138 Wahlgesetz 8f., 46, 74, 80, 86f., 100, 155, 157, 166, 176
Wahlkampf 7-9,41, 47, 63, 82, 86, 88, 92, 95,98, 118, 136, 166f., 170-172, 174, 177f., 183 Wahlkommission 8, 46f., 84, 86f., 92-94, 154, 157-159, 166f., 172, 176, 179, 200, 205, 221, 260, 265, 280, 283, 286 Wahlkreis 42, 47, 49, 80-86, 89-95, 98, 117, 122, 130, 134, 155, 161, 239 Wahlrecht 7,42, 46, 83, 99, 103, 108f, 146, 154, 156, 160, 200, 221, 261,279 Weißrußland 24, 26, 65, 169, 301 Zajec', Ivan 262 Zaporizzja 33f., 135, 189 Zelenyj Svit 41 Zentrale Wahlkommission 46, 88, 93 f., 157-159, 166, 172, 176, 179, 200, 205, 221, 260, 265, 280, 283 Zlenko, Anatolij 186 Zubec', Michajlo 230 Zvjahil's'kyj, Juchym 137,183