Die Dämonie der Macht: Betrachtungen über Geschichte und Wesen des Machtproblems im politischen Denken der Neuzeit [6. Aufl. Reprint 2019] 9783486775914, 9783486775907


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German Pages 215 [216] Year 1948

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INHALT
VORREDE
EINLEITUNG
I. KAPITEL: DAS GEISTIGE ERBE
II. KAPITEL: MACHIAVELLI ALS WEGEBAHNER DES MODERNEN KONTINENTALEN MACHTSTAATES
III. KAPITEL: MORUS ALS IDEOLOGE DES ENGLISCH-INSULAREN WOHLFAHRTSSTAATES
IV. KAPITEL: GESCHICHTLICHE AUSWIRKUNG DES GEGENSATZES
V. SCHLUSSBETRACHTUNG: VERSUCH EINER THEORETISCHEN ÜBERWINDUNG DES GEGENSATZES
ANMERKUNGEN
ANHANG: ZUM STREIT UM DIE DEUTUNG DER „UTOPIA"
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Die Dämonie der Macht: Betrachtungen über Geschichte und Wesen des Machtproblems im politischen Denken der Neuzeit [6. Aufl. Reprint 2019]
 9783486775914, 9783486775907

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GERHARD

RITTER

DIE DÄMONIE DER MACHT BETRACHTUNGEN WESEN

DES

ÜBER

GESCHICHTE

MACHTPROBLEMS

IM P O L I T I S C H E N DER

DENKEN

NEUZEIT

6. Auflage

LEIBNIZ VERLAG

1948

MÜNCHEN

B I S H E R R. O L D E N B O U R G V E R L A G

UND

Sechste umgearbeitete Auflage des Buches »MACHTSTAAT UND UTOPIE«

Copyright 1948 by Leibniz Verlag (bisher R. Oldenbourg Verlag) München. Veröffentlicht unter -der ZulassungsnummerUS-E-179 derNachrichtenkontroWeder Militärregierung (Dr. Manfred Schröter und Dr. Rudolf C. Oldenbourg) Auflage 5000. Druck und Buchbinder R. Oldenbourg, Graph. Betriebe G m b H . München

Einbandentwurf: R. H. Stöcker.

INHALT EINLEITUNG: Staates

Die Renaissance

als Geburtsstunde

des

modernen

I. KAPITEL: DAS GEISTIGE ERBE, Klassisches Hellenentum. — Sophistische Auflösung der athenischen Staatsideale. — Hellenistisch-römische Staatsphilosophie. — Die große Wendung durch das Christentum: die dämonische Engelmacht. — Augustin und das Mittelalter. — Zerfall der mittelalterlichen Staatsethik. n. KAPITEL: MACHIAVELLI ALS WEGEBAHNER DES MODERNEN KONTINENTALEN MACHTSTAATES Kein bloßes Wiederaufleben antiker Staatsideen: das neue Menschenbild. — Neuartiger Heroismus. — Gottverlassenheit des politischen Kämpfers. — Entdeckung der Dämonie der Macht. — Elastische Ethik des Kampfes. — Ergebnis einer geistesgeschichtlichen Ubergangsepoche. — Zweite Schicht des machiavellistischen Denkens: die Macht als ordnendes und aufbauendes Prinzip. — Staatsmacht und Religion. — Ansatz zu totalitärer Staatsauffassung. — Die Virtù als politischer Mythos. — Ethik des politischen Aktivismus. — Auioritatsbildung nur durch politische Taten. — Machiavellismus als Politik der Krisenzeiten. — Machtbildung, noch nicht politische Gemeinschaftsbildung. — Bleibender Gewinn der Einsichten Machiavellis. m . KAPITEL: MORUS ALS IDEOLOGE DES ENGLISCH-INSULAREN WOHLFAHRTSSTAATES Gegensatz des italienischen und des nordischen Humanismus. — Rationalisiertes Christentum des Erasmus. — Sein Pazifismus. — Keine Vorstellung von der echten Problematik der Macht. — Polltische Ethik des neutralen Kleinstaates. — Größere Lebensnähe des Morus. — Streitfragen der Utopiaforschung. — Sinn des Dialogs Morus-Hythlodäus. — Kritik an der feudalen Gesellschaft und Politik. Unbedingte Ernsthaftigkeit dieser Kritik. — Ist auch das positive Reformprogramm ernsthaft gemeint? — Kein „Ministerprogramm". — Kein emsthafter Glaube an kommunistische Sozialreform. Ausklang in Resignation und Skepsis. — Innere Zwiespältigkeit des Monis. — Die Utopia als romantischer Wunschtraum. — Darin eingebettete Ideale des sozialen Wohlfahrtsstaates. — Das Machtproblem in der Utopia, — Insulare, nicht Isolierte Politik. — Wirtschaftliche statt kriegerischer Machtausdehnong. — Uberseeische statt kontinentaler Eroberungen. — Moralisierung statt Entdämonisierung der Macht. — Bündnispolitik der Utopier. — Ihre Kriegspolitik. — Fragwürdige Hdmanisierung des Krieges. — Moralistische, nicht nationalistische Grundhaltung. — Moralismus und Liberalismus.

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IV. KAPITEL: GESCHICHTLICHE AUSWIRKUNG DES GEGENSATZES 90 Zwei Grundrichtungen modernen politischen Denkens: insulare und kontinentale. — Moralismus der englischen Politik. — Insulare Methoden der englischen Außenpolitik. — Veränderung, aber nicht Preisgabe in der jüngsten Generation. — Innerpolitische Ideale Utopien-Englands. — Versteifung und Vertiefung ihres Gegensatzes zum deutschen Staatsdenken durch das Puritanertum. — Durchdringen des humanitären Elements seit dem 18. Jahrhundert. — Weltwirkung der englischen Humanitätsiderfe seit der Aufklärungsepoche. — Nachwirkung Machiavellis in der Politik und politischen Theorie des Festlandes. — Entwicklung der Lehre von der Staatsräson. — Politische Ethik des deutschen Luthertums. — Wiederaufleben christlicher Herrscherideale des Mittelalters in Deutschland. — Frankreich und die Zähmung der politischen Dämonie durch die Idee des modernen Rechtsstaates. — Ihr Zusammenbruch in der großen Revolution. — Napoleon als uomo virtuoso. '— Restawationsversuche des 19. Jahrhunderts. — Ihr Versagen in Frankreich: innere Annäherung ~ der beiden Westvölker. — Restauration und christlicher Monarchismus in Mitteleuropa. — Der deutsche liberale „Kulturstaat" des 19. Jahrhunderts und seine geistigen Wurzeln. — Wiederentdeckung Machiavellis durch den deutschen und italienischen Nationalismus. — Fichte über Machiavelli. — Treitschke und die Idealisierung der Macht im deutschen Historismus. — Äußerste Steigerung des Gegensatzes zwischen kontinentaler und insularer Politik in der Epoche der Weltkriege. — Er beherrscht die Vorgeschichte und den Ausbruch des ersten Weltkriegs. — Sieg der insularen Ideologie in Versailles und Genf. — Erster Rückschlag in Italien: der Neo-Machiavellismus Mussolinis. Die deutsche Nachahmung durch Hitler. — Deren besondere Gefährlichkeit. — Neudeutscher Nationalismus und Militarismus als äußerste Verkrampfungen der „kontinentalen" Ideologie. — Die Dämonie des zweiten Weltkriegs. — Der Ausgang: höchste Steigerung des insularen „Moralismus". — Th. Morus und der Nürnberger Prozeß. V. SCHLUSSBETRACHTUNG: VERSUCH EINER THEORETISCHEN ÜBERWINDUNG DES GEGENSATZES ANMERKUNGEN ANHANG: ZUM STREIT UM DIE DEUTUNG DER „UTOPIA"

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VORREDE

Die 6. Auflage dieses Buches ist ein im wesentlichen unveränderter Neudruck der 5. Auflage (Lizenzausgabe des Verlags Heinrich F. C. Hannsmann, Stuttgart 1947). Die Vorrede wird aus dieser Ausgabe unverändert wiederholt. Das Buch erschien zum erstenmal 1940 im Verlag R. Öldepbourg in München unter dem Titel „Machtstaat und Utopie. Vom Streit um die Dämonie der Macht seit Machiavelli und Morus", die 2.—4. Auflage ebendort 1940/43 unter demselben Titel. Dieser war indessen Tarnung, da seine ursprünglich mit dem VerlegeT verabredete Fassung (wie sie jetzt im Haupttitel erscheint) nach der Meinung erfahrener Publizisten das Buch ebenso wie seinen Verfasser mit den nationalsozialistischen Machthabern sofort in Konflikt gebracht hätte. „Machtstaat und Utopie" — das legte die Vermutung nahe, der Verfasser betrachte alle Politik als „utopisch", die nicht brutale „Machtpolitik" im Stil des Machiavelli wäre. Meine Absicht, auf diese Weise das Propagandaministerium irrezuführen, wurde zunächst auch voll erreicht; das Buch blieb unbehelligt; erst nach dem Ausverkauf der 3.—4. Auflage 1943 wurden weitere Auflagen nicht mehr zugelassen. Das deutsche Lesepublikum, längst daran gewöhnt, „zwischen dein Zeilen" zu lesen, begriff in seiner Mehrzahl — wie ich aus zahllosen Zuschriften entnehmen durfte — recht wohl, daß hier nicht von einer Verherrlichung, sondern in Wahrheit von einer Entlarvung politischer Dämonie die Rede war. Eben um dieser Entlarvung willen, die man in weiten Kreisen geradezu als erlösend empfand, weckte die Schrift ein so ungewöhnlich lebhaftes Echo, besonders unter Lesern, die zur politischen Opposition gehörten; 7

noch in den Gefängniskellern der Gestapo im Winter 1944/45 ist mir diese Tatsache überraschend* deutlich entgegengetreten. Aber freilich: man spielt nicht ungestraft Verstecken, wenn man vor die Öffentlichkeit tritt. Was im Inland höchstens hier und da Verwirrung schuf, hat sich im Ausland geradezu verhängnisvoll ausgewirkt. Hier war man von vornherein geneigt, jeden deutschen Historiker, der unter dem Naziregiment scheinbar unangefochten wirken durfte, für einen Propheten des, Machiavellismus, zum mindesten aber für einen geschworenen „Nationalisten" oder „Militaristen" im Stil Heinrich v. Treitschkes zu halten. Von den wirklichen Nöten und der schweren Verantwortung eines Wissenschaftlers, der ein so heißes Eisen wie das Machtproblem überhaupt öffentlich anzupacken wagte — im Hitlerreich und gerade auf der Höhe seiner Machtentfaltung im Kriege! —, machte man sich draußen gar keine Vorstellung. So kam es, daß ich von einem skandinavischen Pazifisten kurzab als heuchlerischer Propagandist des Hitlertums, unter der Maske scheinbar objektiver Wissenschaftlichkeit, angeprangert, aber auch von deutschen Emigranten in der Schweiz als Machiavellist mißverstanden wurde — zum mindesten als „verschämter", mit „eingeklemmtem Schuldgefühl" (Gustav Roepke) oder auch als „desillusionierter Exidealist", der „doch immer wieder vor den letzten Konsequenzen seiner Lehre feige und intellektuell unredlich zurückscheut" (K. Thieme). Für Mißverständnisse dieser Art bin» ich gewissermaßen dankbar gewesen, solange sie mir halfen, den Tarnungsschleier zu verstärken, den ich für die damaligen Machthaber brauchte. Aber es wird nun höchste Zeit, daß der Schleier fällt, und so freue ich mich, der Regsamkeit des Verlages H. Hannsmann und dem freundlichen Entgegenkommen R. Oldenbourgs eine Neuauflage zu verdanken, in der ich zum ersten Male meine ganze, unverhüllte Meinung sagen kann. Denn natürlich ist es nicht nur der zweideutige Titel gewesen, der jene Mißverständnisse veranlaßt hat. Es war vielmehr das Mißliche, daß meine historische Darstellung auf einer staatstheoretischen Überzeugung beruhte, die ich nicht ganz frei und offen entwickeln konnte, ohne sofort' aufs schärfste mit dem damals in Deutschland herrschende^ System 8

zusammenzustoßen. Sie findet ihr politisches Ideal weder auf dem Wege Machiavellis (der „reinen Machtpolitik"), noch auf dem des Erasmus oder Th. Morus (eines rein humanitären, aber „utopischen" Moralismus) erreichbar, sondern sucht sich über diese Gegensätze (die sich weithin, aber nicht durchweg mit dem Widerspiel „kontinentaler" und „insularer" Form der Machtpolitik dedien) durch eine lebendige Synthese zij erheben — eine Synthese, die sich zwar historisch anschaulich machen läßt (aus der Analyse wahrhaft bedeutender praktischer Staatsmannschaft), die aber ihrem Wesen nach einer streng rationalen Formulierung, d. h. einer Formulierung in eindeutigen politischen Rezepten widerstrebt. Um es mit drei Worten hier Schon anzudeuten: das Ideal der Staatsmannschaft, das mir vorschwebt, ist ein zwar kampfbereiter, aber von der sittlichen Vernunft gelenkter Machtgebrauch, d. h. eine Politik, die als höchstes und eigentliches Ziel eine vernünftige, nach sittlichen Grundsätzen geordnete und darum dauerhafte Gemeinschaftsordnung anstrebt, die sich aber der Verstrickung alles menschlichen Daseins in rational unauflösbare Interessengegensätze und der sittlichen Unzulänglichkeit des Menschenwesens (einer Folge unserer rätselvollen Doppelnatur) nüchtern und ohne Illusionen bewußt ist. Andeutungsweise habe ich davon schon in der ersten Auflage (S. 90 u. ö.) gesprochen, aber die politische Konsequenz aus dieser Grundanschauung durfte ich nicht offen ziehen: die Ablehnung der nationalsozialistischen Ideologie, in der die Macht zur rohen Gewalt, die Kampfbereitschaft zum „ewigen Kämpfertum" verzerrt, der sittliche Ordnungsgedanke vom beherrschenden Endziel zum bloßen Hilfsmittel (oder gar Propagandaschlagwort) der Machtpolitik erniedrigt, das gesunde Verhältnis von Politik und Kriegführung bewußt auf den Kopf gestellt wurde — so daß hier Machiavellis Grundgedanken nicht nur einseitig betont, sondern krampfhaft übersteigert erscheinen. Diese Konsequenz mußte ich den Leser selber ziehen lassen. Ich suchte ihm zu helfen, indem ich am Schluß von der unerhörten, auch Machiavelli noch unbekannten Anmaßung des totalitären Staates sprach, das natürliche Gewissen der Menschen selber zu verbiegen, durch planmäßige und gewaltsame Umerziehung ganzer Völker von bürgerlicher zu rein kämpferischer (sog. „hero9

ischer") Sittlichkeit, Aber ich mußte das in so vorsichtigen (tausendmal überlegten) Wendungen tun, "daß es wiederum mißverstanden werden konnte: als wollte ich"rühmend sa^en, der die Menschheit seit Jahrhunderten quälende Zwiespalt zwischen „Politik und Moral" sei nun glücklich überwunden. Auch die (sehr wichtige) Ergänzung des Schlußpassus in der 2. Auflage, die erläuternden Hinweise der letzten Anmerkung uind der allerletzte Satz des Buches („diese Schrift wirft überhaupt bewußt mehr Fragen auf, als sie zu beantworten vermag") haben midi vor diesem Mißverständnis nicht geschützt — wenigstens nicht in den Augen ausländischer Leser, die nicht wie die deutschen auf solche leisen Winke zu achten gewöhnt waren. Erst in der 3. Auflage bin ich einen Schritt weiter gegangen: ich fügte anhangsweise eine Auseinandersetzung' mit meinen Kritikern hinzu, besonders mit dem Staatsrechtler Ernst' R. Huber, die ich dazu benutzte, um meine historischen Darlegungen durch eine staatstheoretische Betrachtung zu ergänzen, die als Antwort auf die jeden Leser quälende Frage gedacht war: für welche der beiden Grundformen neuzeitlichen politischen Denkens er sich nun selbst entscheiden solle: ob für die Ideale des Machiavelli oder des Morus oder für keine" von beiden. Es versteht sich, daß diese Antwort jetzt in den Hauptteil des ^Textes hineingearbeitet werden mußte. Die enge Verbindung von historischer und systematischer Betrachtungsweise, die so entsteht, lag von vornherein in meiner Absicht. Zum Schluß noch ein paar Worte über die Entstehungsgeschichte meines Buches, um die Eigentümlichkeit seiner Anlage zu erklären. Das Ganze steht, wie ich schon im Vorwort zur ersten Auflage bemerkte, im Zusammenhang weiter reichender universalhistorischer Studien, die zum Ziel haben, in vergleichend-historischer Betrachtung das Wesen des modernen europäischen Staates zu ergründen, insbesondere das wechselnde Verhältnis zwischen Individuum und politisier Gemeinschaft in den neueren Jahrhunderten, jedoch unter Gegenüberstellung des neuzeitlichen Staates zum mittelalterlichen und antiken. Den konkreten Anstoß zur Behandlung des hier erörterten Teilproblems bot eine Vortragseinladung der Uni10

versität Rom, die anfangs 1939 an mich erging. Ich wollte dort über Machiavelli und Morus als erste repräsentative Vertreter der beiden Grundtyp'en moderner Machtpolitik sprechen: des kontinentalen und des insularen. Der Vortrag kam trotz wiederholter Einladung nicht zustande, weil die NS-Parteibehörden (wegen meines unabhängigen Auftretens auf dem Internationalen HistorikerkongreßJn Zürich 1938) ein Verbot meiner Auslandreisen durchsetzten. Ich nahm das -zum Anlaß, meine Gedanken und Studienergebnisse in Buchform zu veröffentlichen. Es handelte sich also zunächst nur um den Anteil humanistischer Staatstheorien der Hochrenaissance an der Genesis des politischen Denkens der Neuzeit. Die Fragestellung war aber von vornherein aus der Besinnung auf den welthistorischen Standort unserer eigenen Zeit entsprungen und mußte deshalb den Verlauf ihrer Fäden bis zur "Gegenwart hin verfolgen. Daraus erwuchs das IV. Kapitel, in dem die Gegensätzlichkeit „kontinentaler" und' „insularer" Methoden der Außenpolitik im Mittelpunkt steht. Wie weit diese Gegenüberstellung als „idealtypisch" und Zeitlos, wie weit sie als Schilderung historischer, europäischer Wirklichkeit zu verstehen sei, darüber habe ich mich schon im Vorwort zur ersten Auflage ausgesprochen. Vielleicht ist es für uns Deutsche heute, nach dem zweiten Weltkrieg, doch nicht mehr ganz so schwer wie nach dem ersten, über alle Bitterkeit der Besiegten hinweg zu einer ruhig-sachlichen Würdigung des deutsch-englischen Verhältnisses zu gelangen und damit auch die Gegensätzlichkeit kontinentaler und insularer Denkweise so aufzufassen, wie sie in diesem Buch von Anfang an gemeint war: als eine natürliche und historische Gegebenheit, die man kennen muß, um sich überhaupt gegenseitig zu verstehen. Was ist nicht alles an antienglischen Propagandaschlagworten inzwischen als hohles Gerede entlarvt worden: vom unkriegerischen „Krämergeist"' des „Händlervolkes" bis zur „natürlichen Treulosigkeit", dem „pharisäischen Hochmut" und dem weltbedrohenden * Herrschaftsdrang des „stolzen Albion"! Jeder Deutsche spürt heute mehr oder weniger deutlich, wie wenig ihm solche Vorwürfe noch ziemen nach allem, was seither geschehen ist. Mehr noch: er spürt, daß die ganze Zukunft abendländischer Kultur an der Überwindung alter Gegensätze zwischen der Mitte und dem 11

Westen Europas hängt. Ja, er blickt vielfach nicht ohne Neid und Bewunderung auf die offenkundige Tatsache, daß England es verstanden hat, ein Weltreich aufzurichten, ohne sich damit in der Welt verhaßt zu machen — ein Weltreich vielmehr, das noch immer besteht dank der Bande moralischen Zutrauens und wirtschaftlichen Interesses ohne Waffengewalt. Die besonderen Vorzüge „insularer" Methoden der großen Politik, die ich während des Krieges und unter dem Naziregiment nicht offen nennen durfte, braucht man heute dem deutschen Leser kaum erst darzulegfen. In einer so veränderten Atmosphäre wird der Sinn meines Buches hoffentlich richtig .verstanden werden: Brücken des-Verstehens zu schlagen, nicht Gegensätze aufzureißen. Wahres Verstehen setzt freilich Gegenseitigkeit voraus. Es würde midi glücklich machen, auch für die natürlichen und geschichtlichen Voraussetzungen kontinentalen, insbesondere deutschen Staatsdenkens, von denen hier viel zu reden sein wird, auf der anderen Seite Verständnis zu finden. Freiburg i. Br. Gerhard

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Rittet.

EINLEITUNG

Wer die große Zeitenwende vom späten Mittelalter zum 16. Jahrhundert mit einem Schlagwort bezeichnen will, pflegt immer noch den viel mißbrauchten Burckhardtschen Begriff des „Individualismus" zur Kennzeichnung der neu heraufkommenden Epoche zu verwenden. Aber was im Munde des schweizerischen Bildungsaristokraten und liberalen „Individualisten" seinen klar bestimmten Sinn hatte: die Frontstellung der modernen „Persönlichkeit", die aus dem Reichtum höchsteigener „Bildung" leben will, gegen die einengenden und übergreifenden Lebnsmächte der Kirche, des Staates, der gesellschaftlichen Konvention — das ist heute eine vieldeutige und darum vielfach verwirrende Redensart geworden. Von echten Emanzipationsbedürfnissen einer neuen Gesellschaft, von individualistischer Sprengung „geistiger Konventionen" kann man doch eigentlich nur im Blick auf eine ziemlich schmale Bildungsschicht Italiens seit dem Tre- oder Quattrocento und auf gewisse Erscheinungen im Bereich der weltlichen Kunst und schönen Literatur reden. Der Individualismus des „politisch^ indifferenten Privatmenschen" ist nicht einmal das Kennzeichen des florentinischen Humanismus in seiner Blütezeit gewesen! Im übrigen hat das 16. Jahrhundert (das ja nicht bloß die große Säkularisationsbewegung der Renaissance, sondern zugleich Reformation und Restauration der alten Kirche umfaßt!) wohl viele alte „Konventionen" zerstört, aber ebenso viele neu geschaffen oder verstärkt. Klarer als durch den vieldeutigen und blassen Begriff des „Individualismus" läßt sich die geschichtliche Zeitenwende als Ganzes durch eine höchst konkrete' Erscheinung kennzeichnen, die in allen Hauptläijdern 13

Europas das Ende des Mittelalters anzeigt: durch das Aufr treten des modernen Staates. Wie im Mittelalter alles Leben gleichsam im Schatten der großen Kathedralen sich vollzieht und übertönt wird vom Klang der Kirchenglocken, so in den neueren Jahrhunderten — von Epoche zu Epoche immer stärker — vom Waffenlärm der großen Politik. Der religiöse Fanatismus der Kreuzzugsepoche wird abgelöst durch die fanatische Leidenschaft politischer Ideen- und Machtkämpfe. An Stelle der Kirche wird der Staat mehr und mehr die recht eigentlich lebenbestimmende Macht. Er wird der europäischen Menschheit so sehr zum Schicksal, daß er zuletzt keine grundsätzliche Abgrenzung irgendeiner Sphäre privaten Daseins von seinem Machtbereich mehr anerkennt. Wie diese Entwicklung anhob: mit der Zusammenballung nationaler Machtstaaten "im Westen Europas und mit ihren Wettkämpfen um die Herrschaft über Italien, ist oft geschildert worden. Epochemachend (im eigentlichen Sinn) wurden diese Vorgänge aber .erst dadurch, daß an ihnen der europäischen Menschheit ein neuer Sinn für das Wesen des Politischen aufging. Die politischen Denker der Renaissance — unter ihnen als führende Geister Machiavelli und Morus, die beiden Gegenpole modernen europäischen Staatsdenkens — haben in das Licht klaren Bewußtseins gehoben, was das eigentlich neue Erlebnis der Zeit war und was die älteren Zeitgenossen (wie etwa der Ritter Commines) nur erst dämmernd erfaßt hatten: die Dämonie der Macht. Machiavelli war ihr so tief verfallen, daß er einem Freunde gelegentlich eingestand, er liebe den Staat mehr als seine eigene Seele. Um die . Bedeutung dieses Erlebnisses voll zu erfassen, wird es nötig sein, uns zunächst in raschem Überblick das geistige Erbe vor Augen zu führen, mit dem die politische Theorie des 16. Jahrhunderts an ihre Aufgaben herantrat.

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I DAS G E I S T I G E ERBE

Wo immer in der Geschichte die Menschen etwas vom Dämonischen der Macht verspüren, brauchen sie diese nicht gleich als böse schlechthin (im Sinn J. Burckhardts und Schlossers (1)) zu empfinden. Das dämonische ist nicht reine Negation des Guten; es ist nicht die Sphäre des völligen Dunkels im Gegensatz zum Licht, sondern des Zwielichts, der Mehrdeutigkeit, des Ungewissen, des zutiefst, Unheimlichen (2). Dämonie ist Besessenheit. Und die Dämonie der Macht ist nichts anderes als jene Besessenheit des Willens, ohne die kein großes Machtgebilde zustande kommt, die aber gleichzeitig gefährlich zerstörerische Kräfte in sich schließt. Daß politischer Aufbau fast nie ohne große Zerstörungen menschlich-sittlicher Werte mög^ lieh ist, daß Macht so oft wider Recht steht, daß im Machtwillen des politischen Kämpfers höchste Selbstlosigkeit (im Dienst etwa für eine Idee) sich notwendig mit höchster Selbstsucht verbindet, wenn sie Erfolg haben soll — das gehört zur Dämonie der Macht. Irgendein Bewußtsein von dieser unheimlichen Zweideutigkeit und- Gefährlichkeit der Macht hat die europäische Menschheit wohl zu allen Zeiten besessen. Aber es trat in den verschiedenen Epochen mit sehr unterschiedlicher Klarheit ans Licht und war oft lange Zeit durch moralische Illusionen stark verdunkelt. Was Machiavelli vom Dämonischen der Macht gesehen hat, bedeutete schon eine wirkliche Neuentdeckung — nicht bloß gegenüber dem Mittelalter. Denn auch die Antike hat davon noch nicht allzuviel gewußt. Wie die Hellenen ihren Staat verstanden, dafür ist wohl das großartigste Zeugnis die Orestie des Äschylus. Schwerlich 15

gibt es eine zweite Dichtung der Weltliteratur, die uns so unmittelbar und so tief hineinblicken läßt in die dämonischen Mächte, von denen der kämpfende Mensch besessen ist und durch sein Erdendasein gejagt wird, wie diese Trilogie. Aber am Schluß löst sich die scheinbar hoffnungslose Tragik seiner Verstrickung in Leidenschaften, Schuld und Schicksal durch den Schiedsspruch des athenischen Areopags: die Polis, im Schutz ihrer lichten Göttin Athene, nimmt den Gehetzten in ihre, befriedete Ordnung auf und bannt die zerstörerische Wut der Eumeniden; .das helle, klare Recht ihres Nomos jagt die dumpfe Wut der Blutrache in finstere Erdhöhlen zurück. In der späteren, klassischen Staatsphilosophie der Athener sind die Dämonen der—Frühzeit vollends gebannt. Sogar die verklärte Götterwelt des Homer ist schon im Verblassen, und siegreich tritt die Vernunft als gestaltendes Weltprinzip ihre Herrschaft an. Der Staat ist ein Vernunftgebilde, alle politische Theorie ein Bestandteil vernünftiger Ethik geworden. Denn alles höhere sittliche Leben gilt als' gebunden an das Dasein einer staatlich organisierten Gemeinschaft, die ursprünglich und grundsätzlich alles zugleich in sich umfaßt: Religions-, Sippen-, Rechts- und Wirtschaftsgemeinschaft. Demgemäß ist die höchste Aufgabe des Staates die Erziehung seiner Bürger zur „Rechtschaffenheit" (dixaioavvij im weiteren Sinn) — zu jener „Tugend" des Staatsbüfgers, die vor allem Einordnung in die innerhalb der Gemeinschaft der Polis gültigen sittlichen Anschauungen des Nomos bedeutet und als Grundtugend allen anderen Tugenden des Griechen vorangeht: der Weisheit oder auch Gottesfurcht, Mannhaftigkeit, maßvoller Besonnenheit und Gerechtigkeit (im engeren Sinn), die „jeden das Seine" tun und haben läßt. Als künstliche Organisation zur Wiedererweckung und planmäßigen Züchtung solcher. Tugenden hat Plato seinen Idealstaat aufgebaut; als eine „moralische Anstalt" also — nur daß seine „Tugend" (oder besser: Tüchtigkeit, ¿QiTr)) nicht humanitäre bürgerliche Privatmoral im Stil des 18, Jahrhunderts ist, sondern den heroischen Stil des klassischen Hellenentums zeigt; vor allem: die von solchem Gemeinschaftsgeist getragene Polis ist nicht nur um der sittlichen Vollkommenheit ihrer einzelnen Mitglieder willen da, sondern um ihrer selbst willen: als eine Verwirklichung des Schönen und Guten von 16

höchstem geschichtlichem Rang (3). Nur unter dieser Voraussetzung ist denn auch der Satz des Aristoteles verständlich: „daß die geistige Tüchtigkeit (a^erij), wenn ihr die Mittel beschieden sind, auch vorzugsweise befähigt ist, andere niederzuringen, und auf der siegreichen Seite immer ein Überschuß von etwas Gutem zu finden ist; demnach scheint die Macht (Gewalt, ßCa) nicht ohne Tugend (dofrr/) zu sein (4)". Nichts zeigt deutlicher als dieser Satz, wie weit das klassische Hellenentum davon entfernt war, die Macht an sich als gefährlich (für die öffentliche und private Sicherheit) oder gar als „böse" schlechthin zu empfinden. Natürlich weiß auch schon Aristoteles, der große Kenner griechischer Wirklichkeit, von den Tatsächlichkeiten roher, ideen- und rechtloser Gewalt. Er gibt eine Schilderung der Tyrannis und der Kunstmittel zu ihrer Selbsterhaltung, die später Machiavelli als unmittelbare Vorlage für das berüchtigte 18. Kapitel seines Principe benützt hat: für jene Kunstlehre politischer Heuchelei, die dem Gewaltmenschen empfiehlt, seine wahre Natur unter der Maske des Biedermannes zu verstecken. Aber für den antiken Philosophen geht es gar nicht darum, irgendwelche Praktiken raffinierten politischen Verbrechertums zu ersinnen; im Gegenteil; er sucht dem Tyrannen klarzumachen, daß er nur darin auf Dauer seiner Herrschaft hoffen kann, wenn er sich „seinen Untertanen nicht als Tyrannen, sondern als Hausvater und König erweist, nicht als Usurpator, sondern als Verwalter ihrer Habe, als einen Mann, der im Leben das Maß, nicht das Übermaße verfolgt", nicht (wie zu Anfang seiner Herrschaft) seinen eigenen Vorteil, sondern das sittlich Gute, und so eine Atmosphäre des Vertrauens statt des allgemeinen gegenseitigen Mißtrauens und knechtischer Unterwürfigkeit erzeugt. So wird zuletzt „sein Charakter eine Verfassung erhalten, dank deren er entweder tugendhaft oder halb tugendhaft, oder doch nicht schlecht, sondern nur halb schlecht ist (5)". Machiavelli dagegen „wagt zu behaupten", daß „Milde und Treue, Menschlichkeit, Redlichkeit und Frömmigkeit" geradezu „schädlich sind, wenn man sie besitzt und stets ausübt, und -nützlich, wenn man sie zur Schau trägt"; der wahre Politiker muß, „wenn es nötig ist, imstande sein, sie in ihr Gegenteil zu verkehren"; er soll sich zwar „von Güte nicht entfernen, sofern es möglich ist, aber 2

Bitter. Dämonie

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nötigenfalls verstehen, sich auf das Böse einzulassen". Mit anderen Worten: die sittliche N o r m e s t hier keine allgemein bindende Vorschrift mehr, ihre Innehaltung eine Frage bloßer Zweckmäßigkeit, dem höheren Ziel einer Selbstbehauptung der Macht unbedingt untergeordnet. Für Aristoteles dagegen ist der Tyrann, der die sittliche Norm außer acht läßt, ein Ausnahmefall, eine Abnormität, ein Produkt der Hybris, die das rechte Maß, die rechte „Mitte" (fifaoTtjc) (6) überschreitet. Was den Staat im Normalfall begründet, ist nicht Gewalt, sondern der dem Menschen als „geselliges Lebewesen" eigene Sinn f ü r Gut und Bös, f ü r Gerecht und Ungerecht,-aus dem alle höhere Gemeinschaft erwächst (7). Und so kämpft auch der platonische Sokrates mit erbittertem Eifer gegen die sophistische Behauptung, die sogenannte „Gerechtigkeit" sei ,,nichts anderes als der Vorteil des Stärkeren", das Gerede von öffentlicher Sittlichkeit nichts weiter als eine ideologische Verbrämung der nackten Gewalt (8). Freilich zeigt nun die Tatsache dieses sophistischen Widerspruchs, daß der Glaube an die Polis als höchste sittliche Gemeinschaft, an die natürliche Harmonie von Gerechtigkeit und Gewalt am Ausgang der klassischen Epoche Athens in Wahrheit längst erschüttert war. Indem der Staat zum Spielball wüster Parteikämpfe, zum Machtinstrument gewissenloser Demagogen wird (9), wächst auch das Mißtrauen gegen den Anspruch öffentlicher Gewalt, Quell und Ursprung aller wahren Gerechtigkeit, Hüter der öffentlichen Sittlichkeit zu sein. Die Sophisten verkünden offen das Naturrecht des Stärkeren, der rücksichtslos seinen egoistischen Trieben folgt. D a ß es im Kampf der Staaten untereinander eine Naturnotwendigkeit (yvaswgavayx(tcc)gibt, welche die stärkere Macht zu unaufhaltsamer Selbsterweiterung drängt und ihren natürlichen Vorteil über den Schwächeren ausbeuten heißt, ohne Rücksicht auf Recht oder Unrecht — das hat auch Thukydides in seinem berühmten Gespräch der Athener mit den Meliern (Buch V, 85—112) dargelegt (10). Aber die Athener, die er diesen Standpunkt verfechten läßt, sind fest überzeugt, mit der Macht auch die Gunst der Götter und die gesunde Vernunft auf ihrer Seite zu haben. Im Kampf um seine äußere Machtstellung erscheint also der Staat dem realistischen Historiker nicht mehr 18

als Hüter der Gerechtigkeit; hier geht oft Gewalt vor Recht. Aber das macht ihn noch lange nicht zum Dämon der Ungerechtigkeit; er wirkt als bloße Naturkraft, und die Götter — seine Götter! — sind ihm hold, solange er nicht (wie in dem von Alkibiades angezettelten sizilischen Eroberungskrieg) der Hybris verfällt und das vernünftige Maß, seine Kräfte überschätzend, vergißt. Was bloße Naturkraft bleibt; ist ethisch gewissermaßen neutral. Und sofern das sittliche Empfinden des einzelnen sich gebunden weiß an die konkrete staatliche Gemeinschaft, der (er angehört, wird ihm auch das Verhältnis von Macht und Recht nicht leicht zu einem tiefer aufwühlenden Problem (11). Mit vollendet kühler Sachlichkeit läßt Thukydides die Athener und Melier darüber streiten. Nun hat freilich schon in der späthellenischen Zeit die Loslösung der Religion und Sittlichkeit von jeder Bindung an den Staat, die Ausbildung einer rein privaten Ethik des Individuums und einer universalen Menschheitsreligion begonnen. Aber mit dem Verfall der griechischen Freistaaten hat sich das unmittelbare Interesse der Gebildeten am konkreten Staatsleben überhaupt verflüchtigt. Der stoische Weise ist Kosmopolit. Er empfindet sich keinem engeren Vaterland mehr verbunden und erhebt sich zu dem Gedanken eines überstaatlichen, alle Völker verbindenden Vernunftreiches, in dem Gerechtigkeit und allgemeine Menschenliebe walten sollen. Obendrein ist diesem Ideal jede unmittelbar politische Stoßkraft dadurch genommen, daß es zurückverlegt wird in ein „Goldenes Zeitalter" ferner Vergangenheit, praktisch unerreichbar für die Gegenwart. Die epikureische Schule aber sucht mit ihrer Lehre vom Staatsvertrag, den die Menschen zu ihrem eigenen, wohlverstandenen Nutzen schließen, das egoistische Glücksstreben der Individuen mit den Anforderungen staatlicher Macht harmonisch zu versöhnen. Das Unheimliche, Unmenschliche, das politische Machtkämpfe annehmen können, wird durch diese ungeschichtliche Spekulation nur verdeckt. Auf die Renaissanceliteratur des 16. Jahrhunderts, insbesondere auf Morus und Machiavelli, hat diese spätantike Ideenwelt hauptsächlich durch Vermittlung des Cicero gewirkt. Die politische Wirklichkeit, mit der sich dieser römische Rhetor und Konsul herumzuschlagen hatte, übertraf an wilder Furcht2*

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barkeit ihrer Machtkämpfe sicherlich bei weitem alles, was Machiavelli im Italien seiner Zeit erlebt und gesehen hat. Aber in den theoretischen Schriften Ciceros würde man vergeblich einen Widerhall davon suchen. In seiner Morallehre beklagt er wohl einmal die grausame Zerstörung von Korinth durch die römischen Eroberer oder die Verstümmelung der besiegten Ägineten durch ihre athenischen Besiegei und bedauert; daß so oft die Staaten durch den Schein des Nützlichen zur Ungerechtigkeit verleitet werden (12). Aber er ist weit entfernt davon, solche unmenschliche Härte fjir einen unvermeidlichen Wesenszug politischen Kämpfertums zu halten. Im Gegenteil hält er es für ausgemacht, daß nichts Unmoralisches und insbesondere keiile Grausamkeit wirklich nützlich sein könne,' selbst dann nicht, wenn sie scheinbar Vorteil bringt.. ,,Denn Grausamkeit", so meint er, „ist der Natur des Menschen, von welcher wir nie abweichen dürfen, im höchsten Grade zuwider"; und eine Gesinnung, die fähig ist, das Unmoralische für nützlich zu halten, erscheint ihm sogar schon an und, für sich als wesentlicher Nachteil im politischen. Kampfe. Die. ganze Ausführung zeigt, daß hier ein literarisch Gebildeter fremde Bücherweisheit harmlos wiederholt, nicht aber ein handelnder Staatsmann aus eigener Erfahrung spricht. Als Moralphilosoph ist Cicero kaum mehr als ein eklektischer Nachahmer griechischer Lehrer; seine Originalität als politischer Schriftsteller liegt nur darin, wie er die theoretischen Erörterungen der Griechen über den besten Staat auf die historische Verfassung der Römerrepublik anzuwenden und diese (mit betontem Stolz) als Idealverfassung zu verklären verstand (13). Sein Lebenskampf als Rhetor und Schriftsteller ' galt der Wiedererweckung altrepublikanischer Staatsbürgertugend (virtus), wie sie im alten Rom einst lebendig gewesen war — darin ahmte er das Vorbild Piatos nach, nahm aber gleichzeitig politische Parolen des augusteischen Zeitalters vorweg. Ünd so hat er an den späteren Humanismus als geistiges Erbe der antiken Staatenwelt die Überzeugung weitergegeben, daß äußere Kraft und innere Gesundheit jedes Staates zuletzt abhängt von dem Lebendigsefn echten Gemeinsinns in seiner Bürgerschaft. In seiner ehrlichen Begeisterung für historische Idealbilder dieser Art scheint er gar nicht gemerkt zu haben (trotz bitterer 20

praktischer Erfahrungen auf dem Forum), wie hoffnungslos jeder Versuch ist, mit bloßer Moralpredigt den Dämonen politischen Ehrgeizes und Machthungers zu Leibe zu gehen. Die antike Staatsethik besaß zur Eindämmung so unheimlicher Gewalten vor allem das Tugendideal der. „maßvollen Besonnenheit^'ffftH/ipoctVi?),die sich der- dämonischen Besessenheit des kämpferischen Manriestums ^ntgegenwirft — _ ein wahrer und tiefer, in gewissem Sinn unsterblicher, aber zugleich doch echt hellenischer Bildungsbegriff, dessen ursprünglich lebendige Wirkung mit der griechischen Bildung selbst versunken ist. Die Stoiker setzten ein natürliches Recht, das allen Menschen eingeboren sei, an die Stelle der normgebenden dtxatoavvtj der alten Polis.' Aber die Vorstellung vom angeborenen Hechtssrnn aller Menschen führt (wie das Beispiel Ciceros zeigt) eher zu theoretischer Verharmlosung politischer Machtkämpfe als zu tieferer Erkenntnis ihrer Dämonien. Das spätantike Naturrecht hat nicht, wie das moderne des 17. Jahrhunderts, als revolutionäres Kampfmittel zur Eindämmung politischer Gewaltherrschaft und zur Aufrichtung einer Sicherungszone individueller Freiheitsrechte gegen sie gedient. Es ist vielmehr von der Rechtswissenschaft deT Kaiserzeit dazu verwendet worden, die mehr oder weniger „totalitären" Machtansprüche der absoluten Monarchie theoretisch zu begründen (lex regia). In der politischen Wirklichkeit hat es nicht viele Epochen europäischer Geschichte gegeben, in denen sich das Dämonische politischer Machtkämpfe in so nackter Häßlichkeit offenbarte wie im Rom des ersten Jahrhunderts christlicher Zeitrechnung. Die Geschichtschreibung des Tacitus (die aber auf Machiavelli und Morus noch nicht sehr stark gewirkt hat!) ist ganz erfüllt davon. Hier steht zum erstenmal die Dämonie der Macht im Mittelpunkt einer literarischen Darstellung großen Stils. Sie wird erfühlt, mit allen Mitteln einer raffinierten literarischen Kunst spürbar, greifbar gemacht. Aber sie ist noch nicht, oder doch nur in gelegentlichen Sentenzen,, Gegenstand theoretischer Reflexion; im ganzen erscheint sie (wie auch sonst in der antiken Literatur) mehr als Ausfluß zufälliger Charaktereigenschaften der handelnden Personen denn als Wesensmerkmal politischen Kämpfertums. Und so führt denn auch hier die antike Literatur noch nicht 21

an den eigentlichen Kern des Problems, so wie es der modernen Welt seit Machiavelli sich darstellt, heran. In seiner ganzen Abgründigkeit konnte das Problem auch noch gar nicht sichtbar wetden auf dem Boden einer geistigen Welt, die mit ihrep höchsten Werten ganz im Diesseits verhaftet blieb. Solange der natürliche Geltungsdrang des Menschen — der weitaus stärkste seiner Urtriebe — unbefangene Anerkennung fand in einer Ethik des Heroismus, die nur das „Maßhalten" als Schranke empfahl, erschienen Macht und Größe des Staates, Glanz und Ruhm der starken Persönlichkeit als höchste Lebenswerte schlechthin. Hemmungsloses Machtstreben des Gewaltmenschen (oder auch der von Demagogen aufgereizten Volksgemeinde) konnte als unbesonnenes Wagnis, wohl gar als titanenhafter Trotz gegen das Schicksal und die kosmische Weltordnung empfunden werden, aber noch nicht als widergöttlich, satanisch. Erst das Christentum wußte von einem Gott, dessen unendliche Erhabenheit über aller Kreatur keinerlei irdische Halbgötter mehr neben sich duldet, vor dem auch die höchste .menschliche Gewalt zu Staub versinkt, vor dessen Majestät aller Strahlenglanz der Cäsaren und Weltherrscher zu armselig flackerndem Schein verblaßt. Dieser Gott triumphierte über alle antiken Götter, weil er der erste war, der' die Menschen von Menschenfurcht befreite. Die antiken Götter konnten den Mächtigen dieser Erde je nachdem hilfreich oder auch neidisch und eifersüchtig sich zeigen. Der christliche Gott fordert Rechenschaft von ihnen, er ruft sie zur Verantwortung vor sein Angesicht. Das war eine Wandlung von unabsehbaren geschichtlichen Folgen; sie hat das politische Denken des Abendlandes für immer umgestaltet. Denn sie hat die Existenz des abendländischen Menschen gespalten, hat sie „doppelpolig" gemacht. Neben, ja vor den Staat und seine irdische Gemeinschaft tritt jetzt die Gemeinschaft der Heiligen, die höchste Vollendung alles irdischen Gemeinschaftslebens überhaupt: Gottesreich, civitas dei, Jüngerschaft und mystische Körperschaft des erhöhten Herrn, corpus Christi, eirl Reich der Liebe, das keiner Gewalt bedarf — eine Sphäre übersinnlicher Freiheit, in die kein bewaffneter Arm irdischer Machthaber hinaufreicht. Solange sie ihren Charakter als reine Geistesgemeinschaft be22

wahrt, beansprucht sie keinerlei Vormundschaft über den irdischen Staat, läßt ihn in seiner Sphäre gelten, mitsamt seinen Herrschäftsansprüchen und seiner harten Zwangsgewalt. „Gebt dem Kaiser, was des Kaisers, und Gott, was Gottes ist", befiehlt Christus. Und sein größter Apostel lehrt mit Strenge: „Jedermann sei Untertan der obrigkeitlichen Gewalt; denn es gibt keine solche Gewalt außer im Auftrag Gottes; wo solche Gewalten'sind, sind sie von Gott angeordnet" (Rom. 13). Die irdischen Machthaber stehen nach Paulus im Dienste Gottes mit dem Auftrag, das Gute zu schützen, das Böse zli strafen und somit äußere Ordnung unter den Menschen zu stiften. Sie dürfen als solche» unbedingten Gehorsam fordern. Aber freilich: so stolz sie sich gebärden — zuletzt sind sie doch dem Einen, Allmächtigen Untertan, dem „alles unter dem Himmel und auf der Erde, das Sichtbare und Unsichtbare, Throne und Herrschaften und Gewalten und Mächte gehorchen müssen" (Kol. 1, 16). Von irgendwelcher Gottähplichkeit der Machthaber und Heroen ist trotz aller Gehorsamspredigt keine Rede mehr; im Gegenteil: eher schon erinnern die „Mächte" (igovcfai, uQ%ai) dieses irdischen Äons an jene dunklen Engelgewalten (14), die als „Mächte der Finsternis" und „Geistwesen der Bosheit" zwischen Himmel und Erde sich umtreiben (Eph. 6, 12.). Denn auch der Engel kann abfallen von Gott; dann wird er zum Satan, zur Macht der Finsternis. Der römische Staat Domitians, der die Christen verfolgt, erscheint in der Apokalypse als das Tier aus dem Abgrund, der große Drachen, der Antichrist — der fürchterlichste aller Feinde Gottes, der sein Maul in frevelhafter Selbstverherrlichung nur zur Lästerung wider Gott öffnet; der in ohnmächtiger Wut gegen die Heiligen rast, die er doch nicht mehr dem Strahlenreich jener Ewigkeit entreißen Rann, in der sie geborgen sind. Die Dämonie der irdischen Macht, die ihrem ewigen Auftrag untreu werden und dann satanischer Verderbnis anheimfallen kann — das ist eine ganz neue Vision, von deren Schrecken aller schöne Glanz der antiken Polis, der natürlichen Hüterin von Vernunft und Gerechtigkeit, verdunkelt wird. Die sittliche Rangordnung des irdischen Staates ist damit plötzlich zweifelhaft, zweideutig geworden. Er kann zum Satan entarten — wenn er wider Gott und seine Heiligen frevelt 23

Dann gilt es: „Gott mehr gehorchen als den Menschen" (Apostelgesch. 5, 29). Zum Glück für die Welt ist das freilich nur ein Grenzfall. Die strenge Gehorsamspredigt des Paulus hat das Christentum davor bewahrt, die Welt der irdischen Macht ausschließlich mit den Augen des apokalyptischen Enthusiasmus zu betrachten — wenngleich dieser Enthusiasmus seither in tausend Formen des Schwärmertums immer und immer wieder durchgebrochen , ist (15). Die Christenverfolgungen nehmen schließlich ein Ende»' Und die unsichtbare Geistesgemeinschaft der Heiligen, je mehr sie die ganze römische Welt durchdringt, nimmt immer stärker die Züge einer sichtbaren, mit irdischen Machtmitteln verfestigten Rechtsgemeinschaft an. Sie wird zur organisierten, hierarchisch verfaßtön römischen Weltkirche. Diese Weltkirche verständigt sich mit den irdischen Machthabern des Imperiums. Die Cäsaren werden Christen und als solche irdisches Haupt der Kirche. Sie können diese Machtstellung aber nur im Osten dauernd behaupten, während sich im Westen ein neuer, geistlicher Weltherrscher ihnen gegenüberstellt, die Doppelpoligkeit abendländischer Existenz damit aufs allersichtbarste symbolisierend. Diese geistliche Hierarchie überdauert alle Völkerstürme, unter denen der römische Kaiserstaat zusammenbricht. Was neu an irdischen Gewalten emporkommt, muß sich nun doch — bald mehr, bald weniger — eine Art von Aufsichtsrecht geistlicher Machthaber gefallen lassen. Die pämonie irdischer Macht wird durch Bannsprüche Üristlicher Oberpriester gezähmt. Die Herrscher der neu heraufziehenden christlich-germanischen Ära sahen sich einer mit höchstem Ernst gestellten sittlich-religiösen Forderung gegenüber: Frieden und Gerechtigkeit zu wahren. Sie ist in der Formulierung, die Augustin ihr gab, keineswegs neutestamentlichen yrsprungs, "sondern ein Produkt jenes „christlichen N'aturrechtes" der Frühzeit, in dem sich die christlichen Ideen bereits mit solchen der spätantiken Philosophie mischten (16). „Remota justitia quid sunt regna nisi magna latrocinia?" (Wenn die Gerechtigkeit fehlt, was sind dann die Reiche anders als große Räubereien?) Dieses großartig-schroffe Urteil Augustins steht keineswegs im Widerspruch zu den Idealen" antiker Staatsphilosophie; ja es erscheint zunächst nur als negative Folgerung aus ihren positiven For24

derungen; aber es wendet sich gleichzeitig gegen, jede Politik, die ihre Machtziele ohne Rücksicht auf Recht und Billigkeit als rein naturhafte „Lebensnotwendigkeiten" verfolgt. Das hieße für Augustin: menschliche, also widergöttliche Selbstgerechtigkeit. Für ihn wie für das theologische Denken des ganzen Mittelalters führt der christliche Herrscher sein Amt nicht im Dienst seiner Eigenliebe, sondern ausschließlich im Dienste Gottes, zum Wohle seiner Untergebenen, nicht in Herrschgier und Ruhmsucht, sondern in Demut und Gehorsam gegen den göttlichen Willen, immer dessen bewußt, daß er nur ein Mensch ist; er wird seine Leidenschaften zähmen, piit Milde und strenger Rechtlichkeit regieren, Kriege riur zur Erlangung eines wahren, echten Friedens und nur um gerechter Ursachen willen (z. B. als heiligen Krieg zur Unterwerfung der Ketzer und Schismatiker oder zur Bestrafung und Abwehr offenbaren Unrechts) unternehmen. Handelt er anders, so ist er nicht König, sondern Tyrann, d. h. ein Gefolgsmann nicht Gottes, sondern des Satans (17). „Nichts ist schlimmer als das Glück der Frevler." Damit sind dem natürlichen Machttrieb so enge Schranken gesetzt, daß er grundsätzlich überhaupt als legitimes Motiv politischen Handelns ausscheidet. Ein neues Herrscherideal bildet sich so aus, auf das dann auch germanische Vorstellungen entscheidend mit eingewirkt haben: VOT allem der Gedanke eines Ewigen Rechts, das dein Staat übergeordnet ist (als eine Art von sittlicher Weltordnung), dessen Verwirklichung und Sicherung er zu dienen hat, und die persönliche Treupflicht des Herrschers gegen seine Gefolgsleute. So entwickelt sich die christlich-germanische Monarchie des Mittelalters: kirchlich geweiht, halbpriesterlich, durch altes Herkommen und feudale Treupflichten auf allen Seiten eingeengt, schließlich noch in ein System kirchlich-weltlicher Einheit des christlichen Abendlandes sich einfügend — sicherlich eine der merkwürdigsten Staatsformen der Weltgeschichte. In der Theorie ist niemals und nirgends die Dämonie der Macht mit solcher Energie bekämpft worden wie hier. In der politischen Wirklichkeit hat es bekanntlich an wilden, maßlos blutigen Machtkämpfen und an brutalen Gewaltmenschen im christlichen Mittelalter so wenig gefehlt wie zu anderen Zeiten. Daraus aber auf eine völlige Ohnmacht der politischen Theorie und 25

der christlichen Predigt zu schließen, wäre voreilig — schon darum, weil niemand ermessen kann, welches Maß unmenschlicher Barbarei die europäische Welt ohne diese Predigt erlebt hätte. Vor allem aber darum, weil die Reaktion der Menschen auf Gewalttaten und Rechtsbrüche im Mittelalter eine andere war als jemals früher oder später. In einer Staatenwelt, deren inneres Band nichts anderes war als persönliche Gefolgschaftstreue der Vasallen, in der diese ein förmliches Recht auf Absetzung „ungetreuer", „Fechtloser" und „eidbrüchiger" Herrscher beanspruchten und ausübten, in der auch der König sich kirchlicher Bußpflicht unterwarf, konnte weder eine Tyrannis antiken Stils noch irgendwelche herrscherliche Willkür und Despotie neuzeitlicher Art sich entwickeln. Der Geist des Kampfes selbst, der Begriff kämpferischer Tugend — für altgermanisches Denken der höchsten Tugend überhaupt — gestaltete sich unter dem Einfluß des Christentums und des feudalen Gefolgschaftswesens um: das Ideal der Ritterlichkeit bildete sich aus, das neben Tapferkeit und hochgesinntem Mut auch die Tugenden der mäze, erbaermde, staete, triuwe, kiusche, der sittlichen Zucht und Ehre umschließt — sicherlich eine der größten geistigen Schöpfungen des Mittelalters (18). Sie wirkte auch in den neueren Jahrhunderten noch lange nach — ebenso lange wie die Gemeinsamkeit der großen Völkerfamilie des Mittelalters, des „christlichen Abendlandes", auf der alles moderne Völkerrecht, aber auch die praktische Gestaltung der europäischen Staatenordnung auf immer neuen europäischen Friedenskongressen beruht (19). Erst die Säkularisation des modernen Denkens, die Technisierung der Welt, die damit zusammenhängende Totalteierung des Krieges und vor allem die Politisierung ganzer Völker im Zeitalter der Massendemokratie mit ihrem proletarischen Völkerhaß hat Ritterlichkeit und abendländisches Denken hinschwinden lassen. An der Möglichkeit ihrer Wiederbelebung hängt heute die Zukunft der europäischen Kultur. Das Verblassen der politischen Ideale des Mittelalters begann freilich schon sehr früh. Schon bald nach der Höhe des 13. Jahrhunderts geriet das ganze System abendländisch-christlicher Einheitskultur in offensichtlichen Verfall. Von allen 26

möglichen Punkten aus läßt sich da^ deutlich auch in der Entwicklung der politischen Theorien verfolgen. Etwa in der Lehre vom „Gerechten Krieg"; sie wird unsicher, sie sucht sich durch immer weitergehende scholastische Distinktionen und kasuistisch konstruierte Ausnahmen vom Sittengesetz der politischen Wirklichkeit anzupassen, um nicht zur weltfremden Spekulation zu werden. Oder in der — immer breiter anschwellenden — Literatur der sog. „Fürstenspiegel". Hier erstarrt das Idealbild des christlichen Fürsten und Landesvaters zur seelenlosen, schematisch immef wiederholten Maske; aus dem mahnenden Bußprediger, der den Machthatjkrn ihre Sünden vorhält, wird nur allzuoft ein liebedienerisch verlogener Höfling, der jede politische Gewalttat zu beschönigen weiß (20). Oder endlich in dem Eindringen spätantiker Lehren von Naturrecht und Staatsvertrag, mit deren Hilfe alle möglichen revolutionären Theorien entwickelt, zuletzt sogar, politische Mordtaten gerechtfertigt werden (21); sie können aber ebensogut zur juristischen Begründung von Vertrags- und Rechtsbrüchen durch die neu aufsteigende absolute Fürstengewalt Verwendung finden, deren Machtinteresse sich jetzt selbst ohne weiteres mit der Publica utilitas, dem „gemeinen Nutzen", gleichsetzt. Alle diese politischen Theorien sind zuletzt nichts anderes als der Spiegel politischer Wirklichkeit. An allen Fronten beginnt der Machthunger der großen Potentateil die Schranken zu durchbrechen, die christliche Ethik und germanische Rechtsauffassung aufgerichtet hatten. Am frühesten und entschiedensten in Italien, wo einst der Kampf zwischen dem weltlichen und geistlichen Haupt des christlichen Abendlandes ausgetragen war und ein politisches Chaos hinterlassen hatte. Das politische Abenteurertum, das hier emporkommt, ständig durch seine Rivalen am Leben bedroht, kennt keine andere politische Moral als das Faustrecht des Stärkeren. Hier bricht die neue Zeit wie mit einem Schlage herein. langsamer, für das Bewußtsein der Zeitgenossen weniger spürbar, dämmert sie in den großen Monarchien des Westens herauf: in Frankreich vor allem und England. Wohl spürt schon der Chronist Ludwigs XI., der Ritter Commines, das unritterliche Wesen, die rücksichtslose Härte, Grausamkeit, Tücke und Rechtlosigkeit der neu heraufkommenden 'Machtpolitik und gibt sie dem Schwinden echten 27

christlichen Glaubens schuld; aber den tieferen Zusammenhang der Dinge durchschaut er nicftt. Etwas deutlicher sieht ein ausländischer Beobachter, der Engländer Fortescue, daß sich in Frankreich ein neuartiges System der Zwangsherrschaft entwickelt hat; er nennt es Tyrannei und Räuberei und stellt ihm die verfassungsmäßig gesicherte Freiheit der englischen Untertanen voll Stolz gegenüber (22). Im Gegensatz dazu rühmt aber noch 1516 Claudius de Seyssel, Kronrat und Diplomat König, Ludwigs XII., einer der tätigsten Vermittler italienischer Bildung nach Frankreich, daß in der französischen Monarchie ein ideales Gleichgewicht von Macht und Recht bestehe (23). Und im Vergleich mit der Rechtlosigkeit italienischer Tyrannenstaaten findet auch Machiavelli, daß der Untertan des' Königs von Frankreich „sicher und zufrieden leben" könne, weil er seinen König „an zahllose Gesetze gebunden" sieht (24). Nicht die neue absolute Monarchie der westeuropäischen Großstaaten, sondern die traditionslose Kleinstaatenwelt Italiens war der Schauplatz, auf dem sich der Florentiner wirklich auskannte und seine Erfahrungen sammelte. Von hier aus aber eröffneten sich ihm Tiefblicke in das Wesen des politischen Machtkampfes, neben denen das meiste von der theologischen Schriftstellerei des Mittelalters „de regianine principum" wie bloßes Gerede wohlmeinender Dilettanten erscheint'.

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II MACHIAVELLI ALS

WEGBAHNER

DES

MODERNEN

KONTINENTALEN

MACHTSTAATES

„Viele haben sich Republiken oder Fürstentümer ausgemalt, von deren Existenz man nie etwas gesehen oder vernommen hat." „Mir schien es richtiger, midi an die tatsächliche Gestalt der Dinge zu halten als'an ein Phantasiebild" (1). Nicht einen utopischen Idealstaat (wie gleichzeitig Thomas Morus), sondern die politische Wirklichkeit will Machiavelli erfassen. Darin hat man von jeher, das Neue seiner Weltbetrachtung im Gegensatz zu den spekulativen Staatstheorien des Mittelalters gesehen. Aber sie ist neu auch gegenüber den großen Realisten des Altertums, den Historikern, die er als seine Hauptquellen benutzt. Er sieht die Wirklichkeit anders als sie. Er sieht einen inneren Zusammenhang, von dem sie nichts oder nur wenig wußten. Von Schreckenstaten wilder Machtgier, von Grausamkeit, Tücke, Verrat als Begleiterscheinungen großer Politik hat man schon immer gewußt. Neu ist diei Erkenntnis, daß dieses alles unabtrennbar zum Wesen des politischen Machtkampfes gehört — dafß der ¿¡chatten jeder irdischen Größe um so dunkler wird, je 'heller'die Sonne des Erfolges scheint. Mit höchster Schlichtheit hat Machiavelli diese Einsicht formuliert: ,,Zwischen dem Leben, wie es ist, und dem, wie es sein sollte, ist ein so gewaltiger Unterschied, daß der, welcher das aufgibt, was man tut, für daS, was man tun sollte, eher seinen Untergang als seine Erhaltung bewirkt; ein Mensch, der in allem nur das Gute tun wollte, müßte zugrunde gehen unter so vielen, die nicht gut sind. Daher muß ein Fürst, der 29

sieb behaupten will, aüch imstande sein, nicht gut zu handeln, um das Gute zu tun und zu lassen, je nachdem es der. Zwang der Lage (la necessità) erfordert (2)." Der „Zwang der Lage" und die Natur des Mediums, in dem sich alle Politik bewegt: die bösartige Natur des Menschengeschlechts — das ist das Entscheidende. Ein neues, der antiken Staatsphilosophie fremdes Menschenbild taucht hier auf und wird in geschichtlichen Visionen von größter Mächtigkeit vorgeführt. „Von den Menschen läßt sich im allgemeinen so viel sagen, daß sie undankbar, wankelmütig und heuchlerisch sind, voll Angst vor Gefahr, voll Gier nach Gewinn.. Solange sie von dir Vorteil ziehen, sind sie dein mit Leib und Seele; sie sind bereit, dir ihr Blut, ihre Habe, ihr Leben, ihre Kinder zu opfern — solange die Not fern ist. Kommt sie aber heran, so wenden sie den Rücken ünd empören sich." Wer sich auf ihre Versprèchungen verläßt, ist also verloren. „ D a s Band der Liebe ist die Dankbarkeit, und da die Menschen erbärmlich sind, zerreißen sie es bei jeder Gelegenheit um ihres eigenen Vorteils willen; das Band der Furcht aber ist die Angst vor Strafe, die den Menschen nie verläßt." Darum ist es besser für den Herrscher, sich gefürchtet als geliebt zu machen (3). Die Menschen beurteilen den Mächtigen, der ja keinen Richter über sich hat, immer nur nach dem Erfolg. „Jeder sieht, was er (der Machthaber) zu sein scheint, nur wenige rühren an sein wahres Wesen, und diese wenigen wagen nicht der Meinung der vielen entgegenzutreten, die obendrein die Majestät des Staates auf ihrer Seite haben." „fein Fürst braucht nur zu siegen und seine Herrschaft zu behaupten, so werden seine Mittel immer für ehrenvoll gehalten und von jedem gepriesen werden. Denn der Pöbel ist immer eingenommen vom Augenschein und vom Erfolg, und in der Welt gibt eis nur Pöbel; die wenigsten halten stand, wenn sie nicht genügend Rückhalt finden (4)." „Von den Menschen läßt sich nun einmal nur Schlechtes erwarten, wenn sie nicht zum Guten gezwungen sind." „Der Ordner eines Staatswesens und der Gesetzgeber muß also davon ausgehen, daß alle Menschen böse sind und stets ihrer bösen Gemütsart folgen, sobald sie Gelegenheit dazu haben." Etwas Gutes tun sie nur aus Not. „Sobald ihnen aber freie Wahl bleibt und sie tun können, was sie wollen, gerät alles drunter und drüber (5)." 30

Schon Guicciardini, der korrekte Humanist, hat diesen Sätzen widersprochen. In der Tat: welcher Schriftsteller des klassischen Altertums hätte jemals eine solche Ketzerei schreiben können? Machiavelli hebt seine „Betrachtungen über Livius" damit an, daß er die Torheit der Menschen seiner Zeit beklagt, die zwar in Fragen der Kunst, der Medizin, der Rechtswissenschaft immerfort auf das klassische Altertum zurückgreifen, dagegen es versäumen, die Alten sich auch in der Staatskunst zum Muster zu nehmen. Aber hier wird ganz deutlich, daß er die alte Geschichte nicht im Sinne der Alten sich auslegt (6). Wo ist das vernunftbegabte, von Natur zu geselliger Vereinigung strebende Menschenwesen geblieben, auf das Sokrates, Plato, Aristoteles ihre Staatskonstruktionen gebaut hatten? Wo der von eingeborenem Rechtssinn erfüllte, vor „unnatürlicher" Grausamkeit zurückscheuende Staatsbürger des Cicero? Wo der Grundsatz altrömischen Rechts: quisque praesumitur bonus? Wir sehen Geschöpfe vor uns, die eher Bestien als Menschen (im Sinn des antiken Menschenbildes) gleichen, Wesen, die man durch Furcht und Schrecken im Zaun halten muß. Sowenig sie dem Homo sapiens der Antike gleichen, sosehr scheinen sie dem unerlösten „natürlichen" Menschen des christlichen Weltbildes ähnlich zu sehen (7), den nicht die Vernunft und angeborene Tugend, sondern die blinde Leidenschaft, vor allem'die „Erbsünde" unüberwindlicher Selbstsucht beherrscht. Vom Christentum ist nun freilich Machiavelli in einem vielzitierten Kapitel seiner „Discorsi" ziemlich unverhüllt abgerückt. Er wirft ihm vor, die Freiheitsliebe und das Kraftbewußtsein der Menschen verringert zu haben, indem es Demut, Entsagung und Verachtung des Irdischen predigt, statt zu kühnen und kraftvollen Taten anzustacheln. „Diese Lebensweise scheint die Welt\ schwach gemacht und sie den Bösewichtern zur Beute gegeben zu haben" — was freilich wohl mehr der mißbräuchlichen Auslegung christlicher Religion durch erbärmliche Müßiggänger als ihr selbst schuld zu geben sei (8). So scheint er zur heroischen Tugendlehre der Alten zurückzustreben. Aber von der christlichen Vergangenheit kommt er doch nicht los (9). D a s unbefangene und ruhige Selbstvertrauen der Antike auf die vernünftige und im Grunde tugendhafte Natur des Menschen ist 31

nicht wiederzugewinnen, nachdem einmal seine satanische Verderbtheit durchschaut ist (10). Aber auch der politische Heroismus, den Machiavelli predigt, ist durchaus unantik. Er zeigt nicht die wohlausgewogene Mischung von mannhaft klarer Entschlossenheit mit ruhiger Mäßigung, weiser Überlegung und gerechtem Sinn, die Plato als Heldenideal vorschwebt; er ist nicht „Tugend der vernünftigen Einsicht", sondern ein leidenschaftlicher Macht- und Kampfwille, der aus irrationalen Tiefen hervorbricht. Ein wildes, trotziges Sichaufbäumen wider das Schicksal, wider Fortuna, wider den blinden Zufall, der alle Berechnungen menschlicher Vernunft doch immer wieder über den Haufen wirft: „Ich halte dafür, daß es besser ist, ungestüm zu handeln als bedächtig. Denn Fortuna ist ein Weib, und wer sie bezwingen will, muß sie schlagen un\ä stoßen. Auch zeigt die Erfahrung, daß sie sich leichter von solchen besiegen läßt als von denen»} die kaltblütig zu Werke gehen. Und als Weib ist sie stets den Jünglingen hold, weil sie unbedenklicher und gewalttätiger sind und ihr dreister befehlen (11)." Nichts ist Machiavelli verhaßter als die von Cicero und den Alten so viel gerühmte goldene Mittelstraße"« pr glaubt auch nicht, daß ,der politische Aktivist sie jemals wirklich einhalten wird. „Die Mittelstraße kann man nicht gerade einhalten, denn sie ist gegen unsere Natur ( 1 2 ) . " Vor allem: sie führt immer ins Verderben, wenn man sie einschlägt, um (etwa aus moralischen Bedenken) klaren und ganzen Entschlüssen auszuweichen. Nichts ist verderblicher als halbe Entschlüsse. „Wer sich zum Alleinherrscher aufwirft - und den Brutus .nicht tötet, oder wer einen Freistaat gründet und die Söhne des Brutus nicht hinrichtet, wird sich nicht lange halten (13)/' Die Florentiner machten einen unverzeihlichen Fehler, als sie das aufständische Arezzo nicht völlig zerstörten, sondern nur die Rädelsführer teils hinrichteten, teils verbannten. Der Tyrann von Perugia, Giovanni Pagolo, war ein Tor, als er Papst Julius II., seinen Gegner, der sich unvorsichtig in seine Gewalt begeben hatte, nicht ohne •weiteres umbrachte und das Kardinalskollegium seiner Schätze beraubte — „eine Tat, bei der jedermann seinen Mut bewundert und durch die er sich unsterblich gemacht hätte ( 1 4 ) " . Die Menschen verstehen eben selten, ganz gut oder ganz böse zu 32

sein; und dochtann auch in einer schlechten Handlung heroische Größe liegen^ wenn sie nur von großer Entschlossenheit zeugt. Im politischen Daseinskampf muß man immer ein rechter Freund oder ein rechter Feind sein, aber nicht neutral bleiben; denn Neutralität ist immer ein Zeichen von Schwäche. Gewiß: das Parteinehmen ist gefährlich. Aber Politik treiben heißt immer in der Gefahr leben; man hat immer nur zwischen dem größeren oder kleineren Übel die Wahl (15). „Es ist eine unumstößliche Wahrheit, die die ganze Geschichte bezeugt, daß die Menschen Fortuna zwar befördern, nicht aber aufhalten können. Sie können, ihre Fäden spinnen, nicht aber zerreißen. Gleichwohl dürfen sie-sich ihr nicht überlassen. Da sie ihre Absicht nicht kennen und da sie krumme und unbekannte Wege geht, müssen sie immer hoffen und im Hoffen, sich nie ergeben, in keiner Lage und in keiner Not (16)." Wo ist jemals in der antiken Philosophie das Wesen der Politik mit solcher Schroffheit als totales Kämpfertum definiert worden, das dem Freund-Feind-Verhältnis alle moralischen und menschlichenJRücksichten unterordnet? Die Leidenschaft dieses Kämpfertums ist mitbedingt durch seine geschichtliche Lage. Es ist eine recht eigentlich gottverlassene Welt, in der sich die politischen Gedanken des Florentiners ruhelos suchend bewegen. Gott hat aufgehört, die Welt nach verborgenen Plänen seiner Weisheit zu lenken; sie ist sich selbst und der Herrschaft dunkler Naturgewalten überlassen. Der politisch Handelnde-daif nicht mehr auf göttliche Hilfe bauen — anders als die Heroen des Altertums, die den Schutz ihrer Götter anriefen und die Orakel befragten, ehe sie ein großes Wagnis unternahmen (wie Machiavelli sehr wohl weiß). Damit ist es jetzt vorbei. Fast zynisch redet Machiavelli davon: „Castruccio Castracani pflegte zu sagen, daß Gott die starken Menschen liebe, denn man sehe ja, daß er immer die Schwachen durch die Starken züchtige." Und auch seine Propheten haben immer nur dann etwas durchgesetzt, wenn sie bewaffnet waren. So steht der politische Kämpfer einsam den drohenden Gefahren gegenüber, ganz auf die Kraft des eigenen Willens angewiesen. Sollte er da nicht zu allen Waffen greifen, guten oder bösen, die er nur finden,kann, wenn die Notwendigkeit (necessità) ihn zwingt (17)? Wer sich behaupten will, kann gar nicht 8

Ritter, Dämonie,

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anders. „Wo es um das Sein oder Nichtsein des Vaterlandes geht, gibt es kein Bedenken, ob gerecht oder ungerecht, mild oder grausam, löblich oder schimpflich; man muß jede ändere Rücksicht wegschieben und durchaus dem Entschluß folgen, der ihm das Leben rettet und die Freiheit erhält (18)." Die Tücke des Schicksals und die Bosheit der Menschen können Lagen schaffen, in denen die einfache Notwendigkeit der Selbstbehauptung allen moralischen Rücksichten vorgeht. Die Unsicherheit eines Schicksals, das blind, tückisch und unberechenbar über uns waltet, und die grenzenlose Selbstsucht und Erbärmlichkeit des Menschengeschlechtes — das sind die entscheidenden Voraussetzungen, auf denen die politiche Gedankenwelt des sogenannten „Machiavellismus" beruht. Gegenüber seiner jahrhundertelangen Vfirunglimpfung hat man neuerdings darauf hingewiesen, daß es dem Machiavelli ursprünglich und eigentlich gar nicht auf moralische Fragen, sondern auf die (moralisch gewissermaßen neutrale) Technik des politischen Handelns angekommen sei. „Er fragt (zunächst wenigstens) nicht nach dem Sinn und Recht der Ziele, die die politisch Handelnden sich setzen, nicht nach ihrem Wert und R a n g . . . die Regeln, die er aufstellt, sind in reiner Form ,hypothetische-Imperative'. Sie sagen aus, wie verfahren werden muß, wenn A, B oder C allen Ernstes gewollt wird (19)." Das ist sicher richtig gesehen. Indessen: gibt es überhaupt eine so abstrakte, von allem Moralischen absehende reine „Technik des Politischen"? Das lebendige Material politischen Handelns ist doch nicht Stein oder Holz, sondern der lebendige Mensch — also ein moralisch so oder so empfindendes und entsprechend heftig reagierendes Wesen; danach müssen sich nicht nur die politischen Ziele, sondern ganz ebenso (oder gar noch mehr) die Mittel, die technischen Methoden des Handelnden richten. Und so muß denn im Mittelpunkt jeder Deutung des Machiavelli sein Bild vom Menschen stehen, das wir schon kennen (20). Seine politische Technik ist auf Menschen berechnet, die als Masse fefge, gedankenlos unäieicht zu täuschen, als einzelne grenzenlos selbstsüchtig, zu allem Bösen geneigt und nur durch Not oder Gewalt zum Guten zu bringen sind. Vor allem denken sie sehr wenig nach, haben ein erstaunlich jiurzes Gedächtnis und ein merkwürdig schwaches und un34

sicheres moralisches Empfinden. Man kann ihnen schon die ungeheuerlichsten Greueltaten zumuten — sie werden alles hinnehmen, wenn sie nur den Erfolg bewundern können und durch täglich spürbare Wohltaten und Vorteile der tyrannischen Herrschaft für sie gewonnen werden. Darum empfiehlt Machiavelli: Grausamkeiten und Gewalttaten „alle auf einmal zu begehen, damit sie weiniger empfunden werden und dadurch weniger erbittern, Wohltaten dagegen nach und nach zu erweisen, damit sie nachhaltiger "wirken (21)". Was sich sonst noch alles an praktischen Ratschlägen für die Machthaber aus Machiavellis Vordersätzen ergibt, ist bekannt und soll hier nicht noch einmal im einzelnen erörtert werden. Es sind die berüchtigten Methoden der bewußten Heuchelei, der grausamen Härte unter der Maske der Leutseligkeit, Friedfertigkeit und Menschenliebe, der Hinterlist und Tücke, des Betrugs und Verrats in jeder Form, die den Namen des Florentiner Humanisten in Verruf gebracht haben, obwohl er sie ganz gewiß nicht selbst erfunden oder gar angewendet, sondern nur aus der Geschichte abgelesen hat. Man hat ihn damit zu entschuldigen versucht, daß er einer politischen Wirklichkeit von ungewöhnlicher Verworfenheit gegenübergestanden habe, und hat in diesem Sinn auch wohl von einem florentinischen „Machiavellismus vor Machiavelli" gesprochen (22). Man hät seine politische Lehre eine „pathologische Methode" für politische Ausnahmezustände genannt (23), und Ranke hat die berühmt gewordene Formulierung gebraucht: „Machiavelli suchte die Heilung«Italiens; doch der Zustand desselben schien ihm so verzweifelt, daß er kühn genug war, ihm Gift zu verschreiben." Schließlich hat Meinecke auch die literarische Neigung des temperamentvolfen Florentiners zu kühn>-paradoxen Formulierungen, zu eindrucksvollen. Übertreibungen. in Rechnung gestellt (24). Alles das ist sicherlich bedeutsam; aber im Grunde bedarf Machiavelli gar keiner Entschuldigung, sondern verdient das höchste Lob dafür, daß er das Dämonische der Macht mit so rücksichtsloser Klarheit ans. Licht gestellt, d. h. entlarvt hat. Denn was nützt aller gute Wille in der Politik, wenn man die Wirklichkeit nicht kennt? Wäre die politische Welt wirklich so, wie Machiavelli sie sieht: beherrscht von tückischer Laune des Schicksals und von der Erbärmlichkeit der Mens»

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sehen, dann bliebe in der Tat nur die Konsequenz, aus der er selbst seine Forderungen begründet (25): daß sich in einer solchen Welt die Macht gar nicht anders erringen und behaupten läßt als mit rücksichtslosem Einsatz aller verfügbaren Mittel, ohne viel nach Gut und Böse zu fragen. Was man einwenden kann, ist nur die Frage: ob er die politische Wirklichkeit ganz richtig sieht. Erschreckend wirkt an seinen Schriften (und zwar an allen, nicht bloß am „Principe" und den „Discorsi'.'!) vorzüglich eins: daß er für das moralische Empfinden der Menschen, für ihre natürliche Reaktion auf Bestialitäten, auf tyrannischen Machtgebrauch, grobe Lügen und öffentliche" Korruption, für ihre natürliche Freiheitsliebe und ihr moralisches Sauberkeitsbedürfnis so -gut wie gar kein Organ zu besitzen scheint. Nun haben wir ja in den letzten Jahren reichlich Gelegenheit gehabt, seine düstersten Schilderurigen bestätigt, ja noch weit übertroffen zu sehen. Die Ohnmacht des Moralischen ist iitf öffentlichen Leben offenbar noch viel ärger, als das hinter uns liegende bürgerliche Zeitalter sich eingestehen mochte, und eben dies gibt den Äußerungen des Machiavelli heute eine ganz neue Aktualität. Dennoch sträubt sich alles in uns, diese Einsichten fatalistisch und resigniert hinzunehmen oder gar, wie der Florentiner, mit einer gewissen spielerischen Freude am Gewagten davon zu reden: wir möchten unter keinen Umständen auf den' Versuch verzichten, trotz allem eine gesunde, sittlich vernünftige Gemeinschaftsordnung unter den Menschen aufzubauen, und wir möchten darum das Vertrauen nicht aufgeben, daß es dennoch so etwas gibt wie einen moralischen Baugrund, auf den man sich einigermaßen verlassen kann. Zum mindesten, meinen wir, gibt es Unterschiede in den verschiedenen Epochen, Ländern. Völkern, gesellschaftlichen Schichten, je nach der Wirksamkeit kirchlichreligiöser Erziehung auf die Menschen (weit weniger nach dem sogenannten „kulturellen Hochstand"!), je nach dem Druck ihrer wirtschaftlichen Lage und je nach politischer Gewohnheit und Herkommen. Solche Unterschiede übersieht Machiavelli nicht ganz; er weiß, daß die Tyrannis in einem freiheitgewohnten Volke schwerer zu errichten und zu behaupte^ ist als auf altmonarchischem Boden, daß je nach den Zeitverhältnissen (qualitä 36

dei tempi) bald die eine, bald die andere politische Methode besser zum Ziel fühjt: bald mehr die stürmische Tollkühnheit, bald mehr das vorsichtige Zaudern, bald mehr Gewalt, bald mehr List (26). Immerhin: im ganzen erscheint seine Anschauung von der Unveränderlichkeit der menschlichen Natur uns Heutigen, die wir an die Individualisierung moderner Geschichtsbetrachtung gewöhnt sind, zu starr . (27), zu einseitig aus der Erfahrung der eigenen Umgebung und römisch-antiker Historie abstrahiert. Der christlich-germanische Mensch mit seinem starken Rechtsempfinden und seiner christlichen Volkssitte, die im Norden noch lange weiterlebte, taucht (wie wir noch sehen werden) nur ganz am Rande i e r machiavellistischen Weltsicht auf. Aber sofern das nackte, naturhafte Menschenbildnis Machiavellis sich unter allen Formen der Zivilisation wiederfindet, nur durch einen mehr oder weniger dünnen Firnis sogenannter Kultur überdeckt, behält seine Einsicht in das Wesen des echten Machtkampfes überzeitliche Gültigkeit. Tatsächlich geht es da, wo ernsthaft um die Macht gekämpft wird, nicht anders zu: vor dem Willen zum .Erfolg (nicht bloß zur Selbstbehauptung, nicht bloß vor dem sogenannten Lebensinteresse!) fallen moralische Grundsätze, Überzeugungen, laut verkündete Ideale meist sehr rasch zu Boden — oder sie werden „angepaßt". Ohne Stütze durch" ein reales Machtinteresse hat sich noch kein Ideal auf die Dauer als lebensfähig im Bereich der großen Politik erwiesen. Ebendies ist das „dämonische" Wesen der Macht: daß sie auch da, wo mit wirklichem Ernst für ein ideales Ziel gestritten wird, auf die Dauer nur dem Erfolg gewährt, der zugleich mit höchster Vitalität für sein selbstisches Interesse, für die Durchsetzung seines Eigenwillens streitet, der seinen eigenen Geltungswillen ganz unmittelbar mit dem Einsatz für seine Sache verbindet. Indem er alles, was ihm auf dem Weg zum Erfolg widerstrebt, zum „Feirid" erklärt und dieses Freund-Feind-Verhältnis über alle anderen Wertungen stellt (28), verliert für ihn auch das Moralische seine autonome und unbedingte Gültigkeit. . Für solchen naturhaften Machtwillen gibt es praktisch nur eine Grenze: den realen Mißerfolg durch den Widerstand fremder moralischer Kräfte. Da alle politische Autorität zuletzt auf moralischen Faktoren, auf dem natürlichen Zutrauen der Men37

sehen ruht, liegt hier auch für die stärkste Gewalt eine Schranke ihrer Willkür. Sie wird immer sehr weit dehnbar, aber je nach dem geistigen Zustand eines Volkes doch mehr oder weniger deutlich zu spüren sein. Irgendwo beginnt mit dem politischen auch der moralische Widerwille stärker zu werden als die natürliche Feigheit; irgendwo beginnt das allgemeine Mißtrauen so groß zu werden, daß es alle Gemeinschaft im Innern zerstört und (durch den Verlust jeder „Reputation") auch außenpolitische Erfolge unmöglich macht, ja wohl gar (wie im Fall Napoleons und vollends Hitlers) den allgemeinen Widerstand wachruft. Audi Machiavelli weiß davon: er warnt seinen Principe davor, durch maßlose Eroberungssucht die Welt gegen sich aufzubringen, durch ein Übermaß von Grausamkeit sich verhaßt zu machen und dadurch sich selbst in unabsehbare Gefahren zu stürzen. Er betrachtet solche freiwillige Selbstbeschränkung des Gewalthabers als reine Klugheitsregel. Aber genügt bloße Klugheit, um die Grenze mit Sicherheit zu erkennen, wo das Unmoralische, statt vorteilhaft zu sein, gefährlich wird? Wird der Gewaltmensch, der mit den sittlichen Begriffen der Menschen nur noch zu spielen gewöhnt ist, immer imstande sein, die politische Wirkung seiner Taten auf das moralische Empfinden der anderen im voraus zu erkennen? Gehört es nicht wesentlich mit zur „Dämonie" der Macht, daß wer sie besitzt, von ihr wie besessen ist? Daß der Rausch des Erfolges den Machthaber zu verblenden, ihn über die Grenzen des Menschlichen selbst hinauszuredßen droht? Die Geschichte des französischen Königtums nach der Bartholomäusnacht oder die Katastrophe des Hitlerreiches werden als Beispiele genügen, um diese Gefahr anschaulich zu machen.Machiavelli selbst hat sie noch nicht tiefer bewegt. Er empfiehlt ganz unbefangen ein geschicktes Spiel zwischen Moral und Unmoral. „Man muß wissen, daß es zweierlei Kampfesweisen gibt: die eine mit den Gesetzen, die andere mit der Gewalt. Jene ist den Menschen eigentümlich, diese den Tieren. Aber weil die erste oft nicht ausreicht, muß man zur zweiten greifen. Deswegen muß sich ein Fürst gut darauf verstehen, bald das Tier, bald den Menschen herauszukehren (29)." Das ist keine heidnisch-antike Moralität (30), sondern 38

der Anfang modernen politischen Denkens: ein elastisches Ausweichen aus den Bahnen strenger Moralität, sobald es das Gebot der Machterhaltung fordert oder zu fordern scheint. Man kann es naiven Amoralismus nennen: „naiv" deshalb, weil dieser echte Italiener von irgendwelchen „tragischen Konflikten" in der Seele des Handelnden gar nichts weiß oder spürt und sich dadurch sehr merkwürdig unterscheidet vom Empfinden derjenigen Europäer, in denen das_ Mittelalter oder die große christlich-humanitäre Bewegung des 18. Jahrhunderts nachwirkt. Aber es ist kein Immoralismus; denn unserem Florentiner fehlt keineswegs das Bewußtsein für das sittlich Gefährliche seiner Sätze. Ebendies macht die Lektüre seiner Schriften so aufregend, oft beklemmend: daß er die Unterscheidung zwischen Gut und Böse, zwischen dem politischen Verbrecher und dem echten geschichtlichen Helden ausdrücklich festhält — und daß er dann doch wieder imstande ist, ein so verworfenes Ungeheuer wie den Papstsohn Cesare Borgia wegen seiner brutalen Energie (die er auch wohl grandezza dell'anima oder fortezza d'anima nennt) zu bewundern oder den Verbrecher Agathokles fast in einem Atem zu verabscheuen und hoch zu rühmen (31). Ebendeshalb, eben wegen dieser unlöslichen und unheimlichen Verstrickung des Großen mit dem Gemeinen, der höchsten Leistung mit der höchsten sittlichen Verworfenheit, hat die Welt der großen Politik ihren geheimnisvollen, bannenden Reiz für Machiavelli. Und eben wegen dieser flimmernden Zweideutigkeit seiner Urteile wirkt seine Haltung zwiespältigmodern, obwohl sie von ihm selbst sicherlich gar nicht als innere Zwiespältigkeit empfunden worden ist. Historisch betrachtet, erscheint sie als ein Symptom der geistesgeschichtlichen Lage jener Übergangsepoche, in der sich Machiavelli vorfindet. Der antike Glaube an die Macht der Vernunft über das Menschengeschlecht ist verloren. Die wilde, hemmungslose Gewalt der Leidenschaften, der Urtrieb menschlicher Selbstslicht ist in seiner politischen Bedeutung erkannt. Der neue Vernunftoptimismus späterer Zeiten, der Glaube an den beständigen Aufstieg menschlicher Kultur, an die fortschreitende Zähmung wilder Instinkte durch Aufklärung — eine Spätfrucht säkularisierten Vorsehungsglaubcns und christlicher Liebesethik — liegt noch in weiter Ferne. Nördlich der 39

Alpen bereitet er sich freilich schon damals vor' in der Ideenwelt des Erasmus und Morus, in die wir später hineinschauen werden; aber im geistigen Umkreis des Italieners kann davon die Rede nicht sein. Hier ist die christliche Botschaft als Ganzes klanglos geworden. „Wir Italiener", sagt Machiavelli, „haben es in erster Linie der Kirche und den Priestern zu danken, daß wir gottlos und schlecht geworden sind (32)." Der Glaube an die geoffenbarten Gebote Gettes ist also erstorben, ein neuer Vernunftglaube noch nicht erwacht, und so schwankt die moralische Erwägung hin qnd her zwischen bloßer rationaler Erwägung des Zweckmäßigen und dem instinktiven Bedürfnis nach einer festen Orientierung des Willens nach höheren, über den ewigen Wechsel politischer Nahziele hinausweisenden Lebenswerten. Machiavelli ist ein viel zu aktiver Geist, als daß er in t r ü b resignierter Betrachtung dieser tief verderbten Welt verharren könnte. An die Stelle der verblaßten Civitas.dei tritt'ihm als neue, Leben und Hoffnung spendende Gemeinschaft der säkularisierte Staat. Er wird gleichsafti zum irdischen Gott erhoben. An Stelle des' offenbarten göttlichen Gebotes soll staatliches Zwangsgebot die selbstsüchtigen Bestien zu gesitteten, geselligen Menschen umwandeln. Die Tugend, die in verderbten Völkern gänzlich erstorben scheint, soll durch den Zwang des Gesetzes, vor allem des Strafgesetzes, neu erzeugt werden. Wir stoßen damit auf die zweite Schicht der politischen Ideen Machiavellis: auf seinen idealistischen Glauben an die Macht als ordnendes und aufbauendes Prinzip. So merkwürdig es klingt: dieselbe politische Macht, deren moralzerstörender Charakter soeben durchschaut ist, wird nun doch wieder berufen zur moralischen Erziehung des Menschengeschlechts — gerade so wie in der Republik Piatos, der ja auch ein erlöschendes Gemeinbewußtsein (der athenischen Polis) mit künstlichen Mitteln restaurieren wollte (33). Derselbe Principe, der genötigt ist, sich den verderbten sittlichen Anschauungen seiner Gefolgschaft anzupassen, ist zum moralischen Erzieher seines Volkes bestimmt! Ohne Zweifel ein logischer Saltomortale, aber sachlich durchaus konsequent: die' natürliche und notwendige Folge eben des Dämonisch-Zweideutigen aller Politik (34)! Der Mittelbegriff, mit dessen Hilfe Machia40

velli diesen kühnen Sprung über die Antinomie hinweg vollbringt, ist der Zentralbegriff seines politischen Denkens überhaupt: die Virtù. Er geht irgendwie (durch Vermittlung italienischen Sprachgebrauchs und älterer humanistischer Überlieferung) auf den vieldeutigen altrömischen Virtus-Begriff zurück (35), kompliziert ihn aber noch aus der Gespaltenheit modernen moralischen Empfindens heraus. Im Blick auf den einzelnen bedeutet er ganz allgemein: politische Fähigkeit, eine rein naturhafte Verbindung von Willensstärke und Klugheit: geschmeidige, tigerhafte Kraft, wie sie (nach Dante) auch dem Satan eignet; der Besitz dieser Viftù befähigt den geschichtlichen Helden, sich bis zu einem gewissen Grade von der Fortuna und ihrer Willkür unabhängig zu machen — aber nicht, wie bei den Stoikern, durch stolze Selbstgenügsamkeit des tugendhaften und seines inneren Reichtums gewissen Mannes, sondern durch zähen, erbitterten Kampf gegen das Schicksal. Diese Art von Virtù ist rein kämpferische „Tüchtigkeit" — die Tugend des bloßen Aktivisten: organisierte Kraft, noch nicht „sittliche Vernunft"; ihr Symbol ist eine Verbindung von Löwe und Fuchs. Machiavelli ist sich aber klar darüber, daß politische Macht, die nur durch persönliche Tüchtigkeit des einzelnen im Kampf wider das Schicksal erstritten wird, selten von Dauer sein kann. Und da ihn nun, im Blick auf die Gegenwart Italiens, als Patrioten und Politiker, keine Frage stärker beschäftigt als die: wie man den ewig wechselnden Eintagsgebilden dieser Kleinstaatenwelt wahre Größe und Dauer verschaffen könne (36), so bedarf er noch einer anderen Art von Virtù, die festere Bande schmiedet als der Terror der nackten Gewalt. Er findet sie (ähnlich wie schon Cicero) in dem Gemeingeist der altrömischen Republik, zumal in ihrer älteren, besseren Zeit (37). Da sei es nun vorzüglich die Religion gewesen, „die zum Gehorsam im Heere, zur Eintracht im Volke, zur Erhaltung der Sittlichkeit und zur Beschämung der Bösen beitrug". Ihre Erhaltung und Pflege gilt deshalb dem Machiavelli der Discorsi als unentbehrliche Grundlage jeder gesunden Staatsordnung, ihr Verfall als der Anfang alles Verderbens (38). Seinen eigenen, irreligiös gewordenen Landsleuten wirft er den höchsten Grad sittlicher Verderbnis vor und führt ihnen als Musterbeispiel die deutschen Städte 41

vor Augen, wie er sie auf deutsch-schweizerischem Gebiet kennengelernt hatte: hier sei noch wahre Rechtschaffenhedt, Frömmigkeit und Redlichkeit lebendig; diesen Tugenden verdankten sie denn auch die Erhaltung ihrer altererbten Freiheit (39). Aus solchen Sätzen scheint plötzlich ein ganz anderer Machiavelli zu uns zu reden als der Verfasser des Principe, der Lobredner eines Cesare Borgia und Castruccio Castracani, der mit soviel Freude an moralischen Gewagtheiten die Methoden nackter Machtpolitik auseinandersetzt und mit so zynischer Offenheit den Glauben an göttliche Vorsehung als Selbstbetrug entlarvt. Es gibt Stellen in den „Discorsi", deren sittliches Pathos in der Verdammung „der Gottlosen und Gewaltmenschen", im Lob der friedlichen Völkerhirten nicht allzu weit hinter den Moralpredigern des Spätmittelalters zurückbleibt (40). Und wer möchte die Möglichkeit gänzlich ausschließen, daß diesem helläugigen Italiener die Berührung mit dem so andersartigen deutschen Wesen des Reformationsjahrhunderts irgendwann einmal zum echten Erlebnis geworden war, ja daß es ihnj so etwas wie Sehnsucht nach einer primitiveren, aber moralisch reineren älteren Kulturstufe geweckt hätte? Zuweilen klingt die Vorstellung auf von jeinem Goldenen Zeitalter der Völker, in dem noch die Religion eine Art von „zukunftsträchtigem Anfangszustand bildete, in dem Kultur, politische Ordnung, staatliche Kraftentfaltung gleichsam eingehüllt sind (41)". Sieht man indessen genauer zu, so zeigt sich bald, daß Machiavelli vom Wesen der Religion sehr merkwürdige Vorstellungen hat: sie ist im Grunde doch nichts anderes als ein klug ersonnencr Volksbctrug, den die politischen und militärischen Führer benutzen, um das abergläubische Volk in Gehorsam zu erhalten, die Soldaten durch Orakelsprüche mit Siegeszuversicht zu erfüllen, den eigenen Befehlen und Gesetzen überirdisches Ansehen zu,verleihen (42). Nirgends tritt das rationalistische Element des machiavcllistischen Denkens unverhüllter und kaliler zutage als in seiner Auseinandersetzung über den Ursprung von Religion und Sittlichkeit. Allen Ernstes führt er das sittliche Bewußtsein selbst auf staatliche Zwangsmaßnahmen zurück: aus der Gesetzgebung der ältesten staatlichen Machthaber, welche Dankbarkeit belohnten, Undankbar42

keit straften, soll „der Begriff des Edlen und Guten im Gegensatz zum Schädlichen und Bösen" entsprungen sein. Deshalb sind denn auch die Fürsten allein für die Sünden ihrer Völker verantwortlich (43). So betrachtet, erscheint die Dämonie der Macht durch die Ausführungen über altrömische Virtù nicht gemildert, sondern (vom Standpunkt der überlieferten abendländisch-christlichen Anschauungen) erst recht ins Unheimliche gesteigert. Denn es zeigt sieb, daß der grenzenlose Machtdrang des neuen Staates auch vor den höchsten und innerlichsten Bezirken der geistigen Welt nicht haltmachen wird : die Religion sinkt zu einem bloßen Werkzeug staatlichen Machtwillens, die Sittlichkeit zu einem bloßen Produkt staatlicher Zwangsgebote herab. Was gut und was böse ist, erfahren die Menschen also nicht aus der göttlichen Offenbarung und nicht aus der Stimme ihres Gewissens, die unmittelbar ins Transzendente hinüberweist, sondern aus den Strafandrohungen staatlicher Gesetze. Es ist die radikalste Umkehrung christlich-germanischer Staatsvorstellungen des Mittelalters, die sich denken läßt: die Staatsgewalt nicht Dienerin der offenbarten Religion und des souveränen Rechts, sondern umgekehrt die Religion ein Werkzeug der Politik, das sittliche Bewußtsein — und damit zugleich das Rechtsbewußtsein, die Idee der Gerechtigkeit — abhängig von der positiven Rechtssatzung politischer Machthaber, grundsätzlich also ihrer Willkür ausgeliefert. Die alte Doppelpoligkeit der geistigen Existenz des christlich-abendländischcn Menschen ist im Grundsatz aufgehoben: er findet sich nicht mehr als Mitglied einer höheren, rein geistigen Gemeinschaft, der Kirche, vor, die neben und über dem Staat waltend ihn unmittelbar mit dem Transzendenten verknüpft (und damit aller Menschenfurcht enthebt), sondern er sieht nur noch die Staatsgewalt über sich und besitzt gegen deren Machtgebot nicht einmal den Appell an die Freiheit des Gewissens. Es gibt grundsätzlich nur noch eine Staatsreligion und eine Staatsmoral (44). Schwerlich ist sich Machiavelli aller dieser Konsequenzen seiner Sätze schon bewußt gewesen. Lebte er doch in einer Umwelt, deren sittliches Bewußtsein praktisch ja immer noch durch die Predigt der christlichen Kirche mitbestimmt wurde! Das mindert die Bedeutsamkeit sciuer Lehre vom sittlichen Primat 43

des Politischen nicht; aber er selbst wollte zunächst nur dem sinnlosen Ringen um die Macht, das er rings um sich sah, einen höheren Sinn geben, indem er dem Staat, der unter Führung eines echten geschichtlichen Helden (uomo virtuoso) steht, die Fähigkeit zuschrieb, seine Bürger, auch wenn ihre Sitten verderbt sind, zu neuer Virtù zu erziehen. Ein solcher Held schafft Ordnung aus dem Chaos, er vollbringt (wenn auch unter Umständen mit rohesten Gewaltmethoden) die Regeneration gesunkener Völker zu neuer staatlicher Kraft. D a ß auch für Italien ein solcher Retter erstehen möchte, war der glühendste Wunschtraum des Florentiners. Dieser leidenschaftliche Patriotismus* hat ihm von jeher die Sympathie und Bewunderung auch solcher Betrachter eingetragen, denen die zynische Offenheit seiner Technik der Macht eigentlich Widerwillen erweckte (45). Das berühmte Schlußkapitel des „Principe" mit seinem Aufruf an die Medici, ein italienisches Volksheer zu schaffen und mit ihm Italien von den „Barbaren" zujjefreien, ist durchaus nicht (wie man zeitweise gemeint hat) ein unorganischer Anhang an diese Schrift, sondern steht im engsten Zusammenhang mit immer wiederkehrenden Grundgedanken seines gesamten Schrifttums (46). In alledem erhebt sich Machiavelli weit über eine bloße Kunstlehre des Machtkampfes und der Tyrannei. Er entwickelt einen politischen Mythos, indem er die Virtù als geheimnisvolle, staatenbildende Kraft von Volk zu Volk wandern, von Zeit zu Zeit sich immer wieder in einem genialen politischen Führer verdichten läßt: wo sie auftaucht, ganze Völker ergreift, blühen die Staaten auf zu großer Macht, wo sie versiegt, zerfällt die öffentliche Ordnung und mit ihr Religion und Sitte, versinken die Völker in haltloser, erbärmlicher Schwäche. Fast könnte es scheinen, als ob die Erzeugung von Virtù der eigentliche Zweck des Staates wäre (47). Aber genau besehen, ist es eher umgekehrt: nur wo sich Virtù findet, kommt ein wirklich lebendiges Staatswesen zustande. Die Frage nach dem Staatszweck hat den Machiavelli offenbar gar nicht beschäftigt; er war kein politisierender Theoretiker, sondern ein Politiker, der seine praktischen Erfahrungen mit historischer Anschauung zu einer Theorie des Handelns verschmolz. Das Problem, wie sich politische Machtgebilde von wirklicher Dauer 44

und Größe errichten lassen, war zuletzt das einzige, das ihn in der Tiefe bewegte. Die Antwort'lautet: es geht nicht ohne (ursprüngliche oder abgeleitete) Virtù. Diese Virtù aber ist keine „Tugend", die sich mit anderen zu einem System bürgerlicher Moral zusammenfügen ließe. Sie hängt i n , ihren Ursprüngen mit dem, was man Religion und Sittlichkeit nennt, wohl irgendwie zusammen. Aber im Kern ihres Wesens ist sie nichts anderes als der politische Machtwille selbst: geballte Energie des Handelns, herrscherliche Kraft; sie steht außerhalb und oberhalb aller bürgerlichen Tugenden, die sie nötigenfalls erzwingt, ja erst erschafft,— ähnlich wie f ü r Plato die ÖIXAIOßVVTJ, die Rechtschaffenheit des TTOICTIJC, des Genossen der Polis, einen Ober- und Inbegriff aller anderen staatsbürgerlichen Tugenden darstellt. Es liegt nur an dem fließend-unbestimmten, ja flimmernden Charakter des Virtù-Begriffes, daß er das Dämonische der Macht zu verklären oder doch zu verhüllen scheint. Man muß diesem politischen Mythos schon sehr dicht auf den Leib rücken, um sein eigentliches Wesen zu erkennen. Fragt man, wie sich Machiavelli denn nun konkret die erziehlichen Aufgaben des Staates vorstellt, so kann über die Antwort kein Zweifrf sein: er soll seine Bürger zu Mannhaftigkeit, Wehrhaftigkeit, Tapferkeit erziehen — zu den kämpferischen Tugenden also des politischen Aktivisten, nicht zu Verträglichkeit, gegenseitiger Hilfsbereitschaft, gerechtem Sinn, den Tugenden der sogenannten bürgerlichen Moral. Auf dem Wege über die römische Virtus hat sich die dtxatoavrTJ des Griechen zur Virtù, zu kämpferischer Lebensenergie umgewandelt, der rechtliche Sinn des Hellenen zur Kampfgesinnung des modernen Aktivisten und Militaristen — eine folgenreiche Wandlung (48)! Daß Rechtlichkeit, selbstlose Dienstbereitschaft, redlicher Fleiß, Liebe zum Nächsten und andere „bürgerliche" Tugenden auch in der Gesellschaft Italiens noch nicht ganz ausgestorben sind, sondern darin irgendwie weiterleben als trümmerhaftes Erbe des christlichen Mittelalters und so das Gemeinschaftsleben trotz aller Verderbnis erträglich machen, hat Machiavelli vielleicht stillschweigend vorausgesetzt; aber ausgesprochen hat er es nirgends; und von staatlicher Erziehung zu solcher Tugend ist mit keinem Wort die Rede. Um so aus45

führlicher wird (besonders im zweiten Buch der „Discprsi") vom Machtkampf der Staaten.und v^on der Kriegführung gehandelt, und hier geht dem Machiavelli so recht das Herz auf. In der Schilderung der klügsten Methoden des gegenseitigen Uberlistens, der Kunst der Bündnisse, der Einleitung und Durchführung von Kriegen, vor allem aber der besten Kriegsrüstung ist er recht eigentlich in seinem Element. Daß Söldnerheere nichts taugen, daß nicht Geld, sondern gute Soldaten der Nerv des Krieges sind, daß nur Volksheere ein brauchbares Machtinstrument bilden — diese Einsichten wird er nicht müde, immer vün neuem zu wiederholen. Ihnen hat er eine eigene, berühmte Schrift gewidmet; als florentinischer Staatssekretär hat er auf nichts so große Mühe verwandt wie auf die Organisation einer Nationalmiliz, mit der er einen zukunftsreichen Gedanken als erster aufstellte und zu verwirklichen suchte. Indem er so den Machtkampf in den Mittelpunkt alles politischen Geschehens rückte und den Krieg als die Stunde der Bewährung echter Virtù-feierte, schuf er den Prototyp jener modernen kontinentalen Staatslehre, die heute (unter dem Einfluß angelsächsischen Denkens) als ,.militaristisch" in Verruf geraten ist: eine politische Theorie, die den Bedürfnissen der neu heraufkommenden großen nationalen Machtstaaten des europäischen Festlandes aufs beste entsprach. Denn hier, wo die Machtinteressen auf engem Raum überall aufeinanderstießen, sollte der Streit um die Lebensräume der Nationen kein Ende mehr nehmen; hier sollte aber auch grenzenloser Ehrgeiz der Mächtigen und imperialistischer Drang des jeweils Stärksten zur Hegemonie unablässig neue Kriege erzeugen. Dieser Zukunft ist Machiavelli mit ganzer Seele zugewandt. Zwar versichert er mehrfach, daß ihm die Staatengründer einer fernen Vorzeit, wie Moses, Cyrus, Romulus, Theseus, Lykurg und ähnliche, die durch gute Gesetze und religiöse Ordnungen ihre Reiche begründeten, viel lieber seien als die Eroberer und Gewaltmenschen wie Alexander und Cäsar (49). Aber das ist nur eine konventionelle Wendung; in Wahrheit sind jene Gestalten längst mythisch geworden; ihre Zeit ist schon unendlich lange abgelaufen. Für die verderbte Gegenwart bedarf es anderer Männer: genialer Kraftnaturen, wie Cesare Borgia, die auch in einer verdorbenen Zeit neue Staaten 46

zu gründen und für sie die „Fundamente, die andere legen, ehe sie Fürst werden, nachträglich zu errichten verstehen". Machiavelli ist überzeugt, daß die t,Lust und Notwendigkeit des Eroberns" unausrottbar in jedem starken und selbstbewußten Staatswesen steckt —.und zwar nicht nur in despotisch regierten, sondern ganz ebenso in den freien Völkern. Er kennt die Gefahr, daß gerade solche Völker sich durch die Leidenschaft demagogisch aufgewühlter Massen zu den unsinnigsten Abenteuern hinreißen lassen, und ist (im Gegensatz zu fast allen seinen Nachfolgern) weit entfernt davon, Machtund Eroberungsgier für eine besondere Eigentümlichkeit der „Tyrannen" zu halten. Anderseits redet er aber auch, wie schon Thukydides, von dem „naturnotwendigen" Machtdrang starker Staaten. „Unmöglich", schreibt er, „kann es einer Republik gelingen, immer ruhig zu bleiben, sich ihrer Freiheit zu erfreuen und in ihren engen Grenzen zu erhalten." Die kleinen Republiken der deutschen Reichsstädte bilden nur scheinbar eine Ausnahme; sie erhalten sich dank ihrer hochgesteigerten Wehrhaftigkeit (50), können dies aber nur deshalb, weil sie den Kaiser als Schiedsrichter und Schirmherrn über sich haben. Solche Verhältnisse kommen sonst nirgends vor; „man muß sich also entweder durch Bündnisse oder auf die Art der Römer vergrößern. Wer anders handelt, sucht nicht sein Leben, sondern seinen Tod und Untergang (51)." Am Römerrcich, dessen Größe ihn begeistert, hat unser Autor die besten Methoden studiert, um feindliche Koalitionen zu sprengen, fremde Provinzen zu erobern und zu sichern, ein System indirekter Herrschaft auszubreiten, den inneren Zusammenhang eines weitgedehnten Reiches zu festigen. Der Krieg erscheint ihm nicht (wie der Fürstenspiegelliteratur des Mittelalters und den christlich gestimmten Humanisten erasmischer Richtung) als notwendiges Übel, sondern als Höhepunkt glanzvoller Machtentfaltung und Bewährung. Er bringt die großen Talente ans Licht,'die in Friedenszeiten verkümmern (52); und im Grunde sind Kampf und Not (necessità) die Erzeuger aller Tugend. Man soll also Kriege nur ja nicht aufschieben, sondern immer den anderen zuvorkommen (53). Mit alledem soll keineswegs einer zügellos-brutalen Machtgier (brutta cupidità di regnare) das Wort geredet sein. Wir hörten 47

schon: Machiavelli gibt Klugheitsregeln: nur das Erreichbare zu erstreben, nicht übermütig zu werden, den Gegner nicht -unnötig zu reizen, bei den Unterworfenen sich nicht verhaßt zu machen u. dgl. m. Immer wieder spricht er von den „guten Gesetzen", durch welche die Herrschaft gesichert werden müsse. Aber was der Inhalt dieser Gesetze sein, wie eine haltbare und gesunde Rechtsordnung aussehen müßte — davon weiß er nicht viel zu berichten. E r empfiehlt schonsame Bewahrung alten Herkommens, wo es möglich ist, um die Untertanen nicht gegen sich aufzubringen, strenge Strafgesetze und Sicherung gegen Verschwörungen ( 5 4 ) , Wachsamkeit, nötigenfalls- rücksichtslose Härte des Herrschers gegen wirkliche • und mögliche Rivalen — das ist so ziemlich alles. Nur ganz gelegentlich ist davon die Rede, der Fürst solle sich als Freund des V e r dienstes zeigen, die Meister einer Kunst ehren, die Bürger ermutigen, daß sie ruhig ihren Geschäften nachgehen, ohne Angst, ihres Wohlstandes beraubt zu w e r d e t die Wirtschaft des Landes fördern, das Volk öfters durch Feste und Schauspiele unterhalten und sich bei den Feiern der Zünfte leutselig zeigen ( 5 5 ) . D a s alles sind Mittel, um die Herrschaft eines Emporkömmlings leichter erträglich zu machen, nicht aber Ordnungen, die dem Staatswesen festen inneren Bestand geben. So sehr Machiavelli in der Theorie die „weisen Gesetzgeber" des Altertums preist — was ihn wirklich beschäftigt, ist doch immer nur der Kampf um die Eroberung und Behauptung der Macht. Seine Politik ist durchaus eine Kunst des Aktuellen, des jederzeit Vordringlichen, des historischen M o ments, nicht der Dauer. Darum gründet sich auch die Autorität seines Fürsten, des modernen Fürsten, nicht mehr auf geschichtliches Herkommen, nicht auf altererbten Respekt vor dem geheiligten Namen einer gottbegnadeten Monarchie oder auf persönliche Anhänglichkeit einer feudalen Gefolgschaft. „ D i e Menschen werden von der Gegenwart viel stärker beeinflußt als von der Vergangenheit." D i e Herrschaft eines Emporkömmlings, der die von Machiavelli empfohlenen Mittel der Machtbehauptung zu gebrauchen versteht, ist viel besser gesichert als irgendeine Erbmonarchie ( 5 6 ) . Erbliche Würde bedeutet wenig im Vergleich mit der Autorität, die ungewöhnliche Taten verleihen. „Nichts 48

erwirkr einem Fürsten so viel Achtiing wie große Unternehmungen Und aufsehenerregende Taten." Vor allem kämpferische Leistungen wecken Bewunderung und Beifall bei den Menschen. Darum ist es für einen Neuling, der emporkommen will, geradezu ein Geschenk der Fortuna, die ihn groß machen will, wenn sie ihm Feinde erstehen und sich gegen ihn erheben läßt, um ihm so Gelegenheit zu geben, sie zu überwinden und auf der Leiter, die seine Feinde ihm halten, höher zu klimmen. Der rechte politische Kämpe braucht immer. Feinde'; wer klug ist und groß werden will, schafft sich darum mit List irgendwelche Feindschaften, um durch ihre Überwältigung -den eigenen Glanz zu vergrößern. Die Masse jubelt ipimer den kühnsten Entschlüssen zu; nichts ist leichter, als sie für tollkühne Abenteuer zu gewinnen. „Wo das Volk etwas zu sagen hat, wird es immer darauf eingehen, und die Andersdenkenden werden kein Mitt6l dagegen haben/' Ihre Ratschläge, auch wenn sie Heil und Gewinn bringen, werden leicht als feige oder verräterisch gelten (57). Nicht die Zeiten friedlicher Ordnung sind es also, f ü r die Machiavellis Ratschläge in erster Linie bestimmt sind, sondern die Krisenzeiten: gefahrvolle Perioden des Verfalls, der politischen und moralischen Auflösung oder der Gründung neuer Staatsgewalten. In solchen Zeiten müssen alle Freiheitswünsche des Republikaners zurücktreten hinter der eisernen Notwendigkeit, zuerst einmal eine starke, leistungsfähige Autorität zu schaffen, der man die Regeneration des gesunkenen Staates und Volkes anvertrauen, die Herstellung einer dauerhaften Ordnung zutrauen kann. Aber droht von dem ewigen Kämpfertum, von dem rücksichtslosen Aktivismus, den Machiavelli a u f r u f t und zu züchten empfiehlt, nicht die Gefahr einer unerträglichen Tyrannei? Der florentinische Republikaner fürchtet, haßt und verwünscht die Tyrannei. Sehnsüchtig blickt er zurück auf die verfassungsmäßig so wohl gesicherte Freiheit 'des alten Roms, über die Alpen hinüber auf die wehrhafte Freiheit der deutschen Städte, auf Frankreich mit seiner gesetzlich beschränkten Monarchie, in der die Parlamcntshöfe jeder Willkür des Herrschers und der Feudalaristokratie in den Arm fallen (58). Er weiß, daß Völker wie Fürsten nur dann von Ausschreitungen blinder Willkür zurückzuhalten sind, wenn die 4

Ritter, Dämonie

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Gesetze sie beschränken. „Ein Fürst, der tun kann, was er will, ist toll, und ein Volk, das tun kann, was es will, ist nicht weise (59)." Er weiß auch, daß die Freiheit, einmal verloren, nur schwer wieder zu gewinnen ist, weil ein Staat, der frei wird, sich wohl Feinde, aber keine Freunde im Inneren erwirbt. Zu Feinden werden alle, die von der tyrannischen Regierung Vorteile hatten und von den Reichtümern des Fürsten zehrten — also seine engere Gefolgschaft. „Da diese Quelle mit dem Sturz des Tyrannen versiegt, können sie nicht zufrieden leben und müssen allesamt versuchen, die Tyrannenherrschaft wieder einzuführen, um wieder zu Ansehen zu gelangen (60)." Machiavelli sieht das; aber wie man nun Freiheit sichern könne, ohne die so nötige starke Autoritär des- Herrschers zu gefährden, dafür hat er kein eigenes Rezept außer allgemeinen Hinweisen auf das altrömische Tribunenamt (61) Er hat auch ein dunkles Gefühl dafür (62), daß nur da, wo freiwillige Hingabe für den Staatsich zum Opfer drängt, auf politische Höchstleistungen zu rechnen ist Ebendarum fordert er das Volksheer statt der Söldnertruppen und rät den Fürsten, sich nicht beim Volk verhaßt zu machen, sondern sich womöglich dessen Anhänglichkeit zu erwerben. In solchen Gedankengängen kann er sich (mit der Lebhaftigkeit seines südlichen Temperaments) bis zu der Behauptung versteigen (die seiner sonstigen Haltung klar widerspricht), daß die Staaten nach geschichtlicher Erfahrung niemals an Größe und Reichtum wachsen könnten, wenn sie nicht frei wären. Nicht das Wohl des einzelnen sei es, was die Staaten groß macht, sondern das Gemeinwohl, für das nur in Republiken ernstlich gesorgt werde Sobald die Tyrannei in einem Staate emporkommt, geht er nicht mehr vorwärts, sondern zurück oder bleibt mindestens stehen. Denn der Tyrann, der sich zur Macht emporschwingt, denkt zuletzt doch immer nur an sich selbst (63) Sind auch die Fürsten im Erlassen von Gesetzen, in der Begründung von Staaten, der Errichtung und Neuordnung von Verfassungen überlegen. =o sind es die freien Völker m der Erhaltung von Einrichtungen (64). Aber hinter solchen Sätzen steht nicht der klare Begriff vom Wesen politischer Gemeinschaft eines Volkes, den wir Heutigen dahinter vermuten mochten. Wenn der Italiener das Leben der deutschen Reichsstädte schildert, so zeigt er nicht das geringste 50

Verständnis für das Wesen des genossenschaftlichen Geistes, der ihre Eigenart ausmacht; die pünktliche Steuerzahlung ihrer Bürger, die er am meisten bestaunt, führt er ausschließlich auf ihre religiöse Scheu vor dem Eidbruch zurück. Wenn es einem Fürsten gelingt, das Volk für seine Herrschaft zu gewinnen, so immer nur dadurch, daß er es in seinen Interessen „zufriedenstellt", d. h. er muß die Menschen davon überzeugen, daß sein Regiment für sie von Vorteil ist. Und wie begründet er" den Satz, daß in Republiken das „Gemeinwohl" am besten gedeiht? „Es sind so viele, die bei seiner Förderung gewinnen, daß sie es auch gegen den Willen der wenigen, die darunter leiden, durchsetzen können ( 6 5 ) . " Mit einem „Volkss t a a t " in unserem Sinn hat also das republikanische Gemeinwesen "Machiavellis nichts zu tun. Es lebt nicht von einem Gemeingeist, einem Bewußtsein innerer Gemeinschaft, die durch das Blutserbe begründet und durch gemeinsames Schicksal zusammengehämmert, durch gemeinsam vergossenes Blut, durch die ganze große, erhebende und leidensvolle Geschichte einer Nation unlösbar zusammengekittet ist. Machiavellis praktische Versuche, ein florentinisches Volksheer zu schaffen, sind daran gescheitert, daß bloße Zwangsaushebung und militärischer Druck noch keine Vaterlandsliebe und kriegerische Gesinnung erzeugen können. Aber er kennt nun einmal nur die mechanischen Mittel. Wohl möchte er — mit dem gesamten florentinischen Humanismus seit Salutati und Bruni ( 6 6 ) — den Staatsgeist der altrömischen und althellenischen Polis erneuern; aber weil davon in der politischen Wirklichkeit seiner Vaterstadt so blutwenig zu finden ist, fehlt ihm die unmittelbare Anschauung vom Wesen dieses Gemeinschaftsgeistes: sie bleibt literarisch vermittelt, so daß er sich einbilden kann, solche Gesinnung ließe sich künstlich erzeugen durch Zwang und militärische Organisation — genau so wie seine Epigonen im 20. Jahrhundert! Der Zwingherr verderbter Republiken zur Virtù, von dem er träumt und schwärmt, war gewiß nur als Nothelfer in Ausnahmezeiten gedacht. Aber praktisch hat die Lehre vom Principe dem absolutistischen Fürstenstaat des 16. und 17. Jahrhunderts, der bürokratisch organisierten Militärmonarchie des^ Festlandes den Weg bereiten helfen ( 6 7 ) . Noch nicht dem modernen Nationalstaat — sofern sich dieser als „Volksgemein4*

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-schaft" versteht. Was ihm als Schöpfung des Grau Ingegno vorschwebt, ist nicht Volks-, sondern eher Obrigkeitsstaat — jedenfalls eine politische Autorität, die mehr auf den Terror als auf den Enthusiasmus sich stützt. Aber es ist zugleich und vor allem ein nationaler Machtstaat — und eben dieses Ideal verbindet den Machiavelli trotz aller Andersartigkeit mit der nationalen Bewegung des 19. Jahrhunderts. Er ist kein Vorläufer demokratischer Volkstumsideen. Aber er ist der erste Nationalist und Militarist des modernen Europa. Eben daher stammt denn auch die besondere Verehrung, die das faschistische Italien ihm entgegenbrachte. Über die gefährliche Einseitigkeit dieser Staatslehre bedarf es heute keiner Worte mehr. Aber auch die Einseitigkeit kann ein historisches Verdienst sein, wenn sie vorher unbekannte oder nur mangelhaft bekannte Wahrheiten ans Licht rückt. Was Machiavelli neu entdeckt hat, war die wesenhafte Dämonie der Macht. Es bedurfte W9M schon einer so einseitigen Blickrichtung auf die kämpferische Seite des Politischen, um bis in die letzten Tiefen dieses Abgrunds einzudringen. Für die Staatenwelt Italiens (und des europäischen Kontinents überhaupt) wurde dabeinoch eine weitere Einsicht freigelegt: in den engen Zusammenhang zwischen Freiheit und Macht. Machiavelli zuerst hat die eiserne Lehre gepredigt, daß ohne realen, materiellen Machtbesitz und ohne stete Kampfbereitschaft kein Staat sich unabhängig im Gedränge seiner Nachbarn behaupten kann. Das war gewiß keine Neuentdeckung; aber es rückte doch so etwas wie ein Wesensgesetz kontinentaler Politik ins allgemeine Bewußtsein. Nicht nur Italien hat seine Geltung jahrhundertelang an sich erfahren: sie bestätigte sich überall auf dem Boden unseres kampferschüttcrten Erdteils. So wurde denn die Kampfrüstung, das Heer, geradezu der Ausgangspunkt moderner Großstaatbildung auf dem europäischen Festland, und kriegerischer Triumph erschien zeitweise als höchstes Ziel für den Ehrgeiz seiner Fürsten. Zum Glück für Europa wurde indessen der Gang seines Schicksals und die Entwicklung des modernen Staatsdenkens nicht ausschließlich von den Großmächten des Festlands her bestimmt. 52

m MORUS ALS IDEOLOGE DES

ENGLISCH-INSULANEN

WOHLFAHRTSSTAATES

In demselben Jahr 1516, in dem Machiavelli sein Buch vom Fürsten in endgültiger Fassung dem Mediceerprinzen Lorenzo widmete und Claude de Seyssel seine Darstellung der ständisch beschränkten Monarchie Frankreichs verfaßte, erschien der große Fürstenspiegel (Institutio principis Christiani) des Holländers Erasmus und die Utopia seines Freundes, des Engländers Thomas Morus. In ihnen wird die Dämonie der Macht von einer ganz anderen Seite aus beleuchtet: aus einer Sicht des Menschen und der menschlichen Gesellschaft, die sich in schärfsten Gegensatz stellt zu der Weltansicht des Italieners. Diese Gegensätzlichkeit, von der jene Autoren noch nichts wußten, da sie sich gegenseitig nicht kannten, die sich aber seither durch die Jahrhunderte in mannigfacher Abwandlung fortgeerbt hat, gehört zu den konstituierenden Merkmalen modernen politischen Denkens überhaupt. Fragt man nach ihren realpolitischen Voraussetzungen, so zeigt sich ein tiefgehender Strukturunterschied innerhalb der europäischen Staatenwelt, den wir am einfachsten als Gegensatz des insularen und des kontinentalen Typus bezeichnen. Nördlich der Alpen hat sich die literarische Bewegung des Humanismus anders entwickelt als in Italien. Hier im Süden hatte die neuentdeckte Schönheit und Größe der antiken Kultur die Augen der Staunenden so geblendet, daß ihnen daneben das ganze mittelalterliche Kultursystem zu bloßem Schatten verdämmert war, das Christentum selbst seinen Absolutheits53

ansprach nicht mehr behaupten konnte. D e r Weg dieser Geistesrichtung f ü h r t e nicht aus der Kirche, wohl aber aus dem Kirchenglauben heraus: zu einem „Neuheidentum", das wir als geistige Voraussetzung f ü r das Werk des Machiavelli in seiner Eigenart und seinen Grenzen schon kennen. Nördlich der Alpen stieß d£r Humanismus, als er herüberkam, auf eine Innigkeit und Leidenschaft des kirchlich-religiösen Empfindens, die ihn zwang, mehr und mehr die Reform der christlichen Kirche und ihrer Lehre in den Mittelpunkt seiner Interessen zu rücken. Der Weltruhm des Erasmus beruhte wesentlich darauf, d a ß er die neue Bildung mit dem kirchlich-religiösen R e f o r m eifer der Zeit verband. Die humanistische K a m p f p a r o l e : „ Z u rück zu den A l t e n ! " deutete er ins Christliche um und stellte das Idealbild eines ursprünglichen, echten, mit den edelsten Geistern der Antike nicht streitenden,, sondern wetteifernden Christentums, einer Humanitas Christiana äuf. Hieronymus und der Scipionenkreis, wie ihn Cicero schildert, gaben das Vorbild dieses neuen Menschentums: hochgebildet sollte es sein, von allen guten Geistern antiker Philosophie beschwingt, von Idealen der Gerechtigkeit, Mäßigung, Liebe zu allem Schönen und Guten erfüllt, aber erst von der Liebesethik der Bergpredigt zu höchster Vollendung gesteigert. Erasmus p r o testiert durchaus nicht gegen die Erbsündenlehre des christlichen Dogmas als solche; er übernimmt sie wie selbstverständlich (1). Aber sie bedeutet ihm praktisch nicht viel; denn wichtiger ist ihm zu wissen, daß der Mensch ursprünglich von Gott gut und rein geschaffen ist und daß es eine Möglichkeit gibt, diese gute N a t u r durch eine Wiedergeburt (renascentia) wiederherzustellen. Diese Wiedergeburt aber geschieht nicht durch einen transzendentalen Erlösungsvorgang, sondern durch einen Gesinnungswandel vermöge der recht gepredigten Lehre Christi. „ W a s ist die Philosophie Christi, die er selbst .renascentia' nennt, anderes als eine Wiederherstellung der gut erschaffenen N a t u r ? Schließlich, obschon niemand uns diese so unbedingt und wirksam gelehrt hat wie Christus, sehr viel ist doch auch in den heidnischen Büchern zu finden, was damit übereinstimmt." Weit e n t f e r n t davon, an die völlige Verderbtheit des menschlichen Willens zu glauben, hat er es u n t e r nommen, gegen Luther die Freiheit seiner Entschließung zum 54

Guten zu verteidigen. Mit alledem setzte er den großen Rationalisierungsprozeß nur fort, den schon die Scholastik des Mittelalters mit ihrer Umschmelzung christlicher Ideen in aristotelische Begriffsformen begonnen hatte. Aus dem urchristlichen, radikalen Gegensatz zwischen Natur und Gnade, den dann die HochschoTastik zu einem Stufenbau umgewandelt hatte, wurde bei ihm (ähnlich wie schon im Spätmittelalter) (2) ein friedliches Nebeneinander auf gleicher Ebene, ein mechanisches Zusammenwirken ohne spürbaren Gegensatz. Aus diesem frommen Rationalismus, der an die ursprüngliche, nur vorübergehend getrübte und jederzeit durch moralische Aufklärung wiederherstellbare Güte der Menschennatur glaubt, erwachsen natürlich völlig andersartige Vorstellungen vom menschlichen Zusammenleben, als wir sie bei Machiavelli vorfanden. Der»Mensch ist von Natur (im Gegensatz zu den meisten Tieren) ohne Waffen; er ist also nicht für die Feindschaft, sondern für die Freundschaft geschaffen. Er ist ein von Natur geselliges Wesen; seine geistigen Gaben, die ihn vom Tier unterscheiden, lassen ihm ein Leben in geistiger Arbeit als höchstes der Güter erscheinen. Nichts aber ist der Blüte wahrer Geisteskultur hinderlicher als Tumult der Waffen, Kriegslärm und Streit, nichts förderlicher als eine befriedete Welt (tranquillitas mundi). Die Natur selbst weist den Menschen auf Verträglichkeit hin: kämpfen doch nicht einmal die Tiere derselben Gattung untereinander; wie sollte da nicht auch der Mensch seinesgleichen als Gattungswesen achten? Der Krieg ist etwas Unnatürliches, eine Entartungserscheinung; sie erklärt sich ursprünglich aus dem Zwang des Kampfes mit wilden Tieren; daraus entstand die Gewohnheit, auch friedliche Tiere zu jagen und das Fleisch ticrischcr Leichen zu essen; dies alles hat den von Natur friedlichen Menschen verderbt und schließlich selbst zur kriegerischen Bestie entarten lassen. Aber seine Vernunft lehrt ihn, daß Friede ernährt, Unfriede verzehrt: daß Kriege nicht nur Verderbnis aller Sittlichkeit und Zerstörung aller materiellen Wohlfahrt bedeuten, sondern obendrein praktisch zwecklos sind, da sie immer viel größeren Schaden als Nutzen bringen (3). Mit dieser vernünftigen Einsicht stimmt das Liebesgebot Jesu in der Bergpredigt voll übercin. Für den Christen gibt es keinen „gerechten 55

Krieg", wie die Fürstenspiegel der Scholastik fälschlich behaupten. Die göttliche Moral Jesu weiß nichts davon, und seiner Predigt sollen wir ohne Einschränkung folgen. So wird — entgegen allen Umdeutungen und Verwässerungen biblischer Lehre durch die Sophisten der späteren Jahrhunderte — das reine, ursprüngliche, echte Christentum wieder zu Ehren kommen. Jesu göttliche Moralpredigt wird ja auch durch die großen Tugendlehrer des Altertums bestätigt: durch Cicero, die Stoiker, vor allem durch den göttlichen Plato mit seiner sokratischen Lehre vom Erwerb der Tugend durch wahre Einsicht, vom Aufbau des Staates auf Mäßigung der Leidenschaften und auf die Gerechtigkeit als oberstes Prinzip. Wer solchen Grundsätzen widerstrebt, ist nicht ein wahrer Herrscher, sondern ein Tyrann. Erasmus sucht alles zusammen, was ihm die antike und neuere Literatur an Schmähungen und abschreckenden Bildern der Tyrannis bot, um darin seinen Haß — den Haß des Geistesmenschen, des Bildungsaristokraten — auf die rohe Gewalt der Machtmenschen zu entladen 14). Der enge Zusammenhang dieser Gedankenwelt mit der Tyrannenlehre des christlichen Mittelalters ist ebenso deutlich wie ihr schwärmerischer Radikalismus, der sich gegen alles zur .Wehr setzt, was ihm an der offiziellen Kirchenlehre als Kompromiß erscheint (5). Aber dieser Radikalismus wirkt doch nicht allzu überzeugend. Er stammt nicht aus der letzten Tiefe eines echten, weltüberwindenden Glaubens, sondern aus den seelischen Bedürfnissen eines zart besaiteten Schöngeistes, der die Welt nicht kennt, die er zu schöner Harmonie gestalten möchte. Es ist nicht nur ein "Mangel an juristischer Begriffsschärfe, an klaren, greifbaren Vorschlägen zur Schaffung neuer Institutionen, was die „Friedensklagen" und Weltfriedenspläne des Erasmus so litcratenhaft erscheinen läßt (6). Entscheidend ist vielmehr, daß von der Ebene eines letztlich optimistischen Glaubens an die Menschheit die wahre Dämonie der Macht gar nicht sichtbar werden konnte. Der Moralprediger malt das Teuflische roher Gewalt, zumal im Kriege, mit den grellsten Farben an die Wand; sein wortreiches Pathos findet immer neue Wendungen, um die Leidenschaften des Ehrgeizes, der Macht- und Ruhmbegier zu verdammen. Aber er sieht in die eigentliche Tiefe des Dämonischen gar nicht hinein: in die 56

unlösbare Verstrickung des Guten mit dem Bösen, in den innereH Zusammenhang zwischen legitimer' Herrschaftsgewalt, ohne die keine feste Ordnung menschlicher Dinge und damit auch kein Friede möglich ist, und rechtloser Willkür; zwischen edelster, selbstloser Hingabe f ü r den Staat, f ü r die Sache der höchsten irdischen Gemeinschaft, und schamloser Selbstsucht im Kampf um die Macht; Zwischen Beugung, Verwüstung, Zerstörung und schöpferischer Neugestaltung des Rechtes. Vor allem ahnt er nichts von der grundlegenden Tatsache: daß im echten politischen Kampf nur selten klares Recht gegen klares Unrecht, zumeist einfach Lebensanspruch gegen Lebensanspruch steht, und daß über das „Recht" solcher Ansprüche meistens nur der Erfolg entscheidet, dem das sittliche Urteil der Menschen nachzuhinken pflegt. Sein Denken ist nicht, wie das Machiavellis, an den großen Historikern des Altertums geschult. Und seine politischen Vorstellungen sind stark durch niederländische Eindrücke mit bestimmt (7). Eine Politik f r i e d licher Verständigung nach außen, sorgsamer Wohlfahrts- und Kulturpflege Aach innen unter Schonung altererbter Freiheiten — das waren auch die ewig wiederholten Forderungen der niederländischen Stände an ihre burgundischen Herzöge. Sie entsprachen dem natürlichen Interesse ihres kleinstaatlichen Zwischenvolkes an der Grenze romanischer und germanischer Kultur. Wie hätte man in diesen locker organisierten Provinzen und städtischen Zwergrepubliken Verständnis aufbringen sollen f ü r den immanenten Macht- und Lebensdrang großer Staaten, -für die naturbedingten Interessengegensätze der europäischen Nationen oder gar für das (wirkliche oder eingebildete) Glück, das der Starke von Macht, Sieg und kriegerischem Ruhm erwartet? Auf die großen Machthaber Europas hat das patriarchalische Fürstenbild des Erasmus sicherlich nur geringen oder gar keinen Eindruck gemacht; seine praktische Wirkung beschränkte sich auf die europäische Kleinstaatenwelt, die abseits der großen Machtkämpfe in Ruhe und Sicherheit leben wollte; auf die Friedensfreunde und Neutralitätspolitiker des Schweizerbundcs, auf das humanistisch gebildete Patriziat der niederländischen Stadtrepubliken und auf die gelehrten Räte deutscher kleinstaatlicher Fürstenhöfe (8), die ja ebendamals vom blutigen Fehdewesen des Spätmittelalters 57

zu einer Außenpolitik friedseliger Rechtshändel übergingen. Schon der Franzose Budäus, ein treuer Freund und Bewunderer des Erasmus, der für Franz I. eine Art von Fürstenspiegel schrieb, hat diesem ausdrücklich das Recht zugestanden, das Fell des Löwen mit dem des Fuchses zu vertauschen, wenn das Bedürfnis seiner nationalen Machtpolitik es erfordere. Wer mit den praktischen Aufgaben großer Politik in Berührung kam, konnte unmöglich bei dem extremen Moralismus und Pazifismus eines Erasmus stehenbleiben (9) — oder er mußte zum Utopisten werden. Der Mann aber, dem Europa den Begriff und die neue Literaturgattung der politischen „Utopie" verdankt, der englische Staatskanzler Thomas Morus, war (wie sich noch zeigen wird) durchaus kein Utopist. Die innerste politische Gesinnung dieses merkwürdigen Mannes und den vielumstrittenen letzten Sinn seiner „Utopia" zu ergründen, ist darum so schwer, weil er mittenmne steht zwischen dem Typus des freischaffenden humanistischen Schriftstellers von der Art des Erasmus und dem des praktisch handelndan, für seine Worte ebenso wie für seine Taten verantwortlichen Staatsmannes. Thomas Morus war noch nicht Staatskanzler von England, sondern Londoner Richter und Vertreter Londons im englischen Unterhaus, als er seine berühmteste Schrift verfaßte und in Druck gab; aber die entscheidenden Anregungen dazu sammelte er auf einer Gesandtschaft, die ihn im Auftrag des Königs nach den Niederlanden führte, und bald nach der Rückkehr, noch während der Niederschrift des Buches, erreichte ihn der erste Antrag des Hofes, gegen eine Jahrespension dauernd in königliche Dienste zu treten. Morus besaß also noch durchaus die Freiheit, seine politischen Ideen ohne höfische Rücksichtcn zu entwickeln; aber er blickte doch schon zu tief in das innere Getriebe praktischer Politik hinein und war mit den politischen Problemen seines englischen Vaterlandes überhaupt viel zu eng, verbunden, als daß er über politische Fragen so wie Erasmus hätte reden können: als vaterlandsloscr Kosmopolit und als ein Mann der Schreibstube, der unbekümmert um reale Gegebenheiten seine Theorien entwickelt. Gleichwohl hat die gesamte ältere Morus-Literatur seinen „Staatsroman" als einfaches Bekenntnis eines humanistischen Bildungsidealisten ohne unmittelbar praktisch-poli58

tische Zielsetzung aufgefaßt, entstanden aus einer Renaissance platonischer Idealbilder, so wie die Friedensschriften des Erasmus aus einer Renaissance spätantiker und urchristlicher Ideale entstanden waren. Erst Hermann Oncken (in seiner Einleitung zu meiner Übersetzung der „Utopia" [10]) hat den Versuch unternommen, zwar nicht die Kernstücke der Schilderung Utopiens, wohl aber cfen ersten einführenden Hauptteil des Ganzen und gewisse (nach seiner Vermutung später entstandene) Partien des zweiten als „Programmschrift eines Mannes" zu deuten, „der jeden Tag englischer Minister werden kann". Die (auch schon von Früheren bemerkten) nationalenglischen Züge des „Staatsromans" rückten dadurch in eine ganz neuartige, scharfe Beleuchtung. Demgegenüber hat spätere Kritik (sicherlich nicht ohne Grund) darauf hingewiesen (11), daß die skrupulöse, überzarte und in sich selbst zurückgezogene Persönlichkeit des Morus zum Staatsmann überhaupt nicht geschaffen war; daß er sich nur höchst ungern, ja widerwillig in die Staatsgeschäfte hat hineinziehen lassen, als Kanzler niemals eine eigentlich politische Figur gewesen ist und somit schwerlich seine Bekenntnisschrift durch Erwägungen politischen Ehrgeizes hat beeinflussen lassen; schließlich noch: daß der Kern seiner Überzeugungen ein unerschütterliches katholisches Christentum gewesen sei, eine mittelalterliche Jenseitsgläubigkeit, die ihn wohl zu lächelnder, resignierter Überlegenheit über die Welt (und damit zum Spiel der Utopie), aber niemals zu realpolitischen Kompromissen mit der „politischen Wirklichkeit" im Stil Machiavellis.. befähigte. Auch die meisten englischen Biographen (und nicht bloß die katholisch-konfessioncll gefärbten Heiligenviteri!) neigen dazu, stärker als die frühere Forschung das Fortwirken mittelalterlicher Ideen im Geist des Morus zu betonen. Man sucht sein Lebenswerk vor allem vom Ausklang tier, von seinem Tod als Märtyrer der alten Kirche her zu verstehen (12). Eine solche Deutung wird leicht dazu iühren, die Gcschichte vom Inselvolk der Utopier, mit seiner heidnischen Vernunftreligion und seinen humanen Sitten, nicht allzu ernst zu nehmen. Sie erscheint dann nicht so sehr als Bekenntnis letzter politischer Überzeugungen wie als heiteres Spiel des Geistes (13): eine Art Umkehrung des erasmischen „Narrenlobes" (Encomion Moriae). Während dort die Pointe 59

in der paradoxen Behauptung liegt, nicht die Vernunft, sondern die „Narrheit" blinder Triebe und Leidensehaften sei der wahre Quell alles Glücks und aller irdischen Größe, wird hier umgekehrt die nüchternste, bis ins Groteske durchgeführte Rationalisierung des Lebens f ü r den sichersten Weg zu Glück und Wohlfahrt d^r Völker erklärt. Dies alles in der doppelten Absicht: den Leser durch eine Häufung überraschender, unwahrscheinlicher und paradoxer Behauptungen und Mitteilungen zum Lachen zu bringen, gleichzeitig aber der eigenen Umwelt (ähnlich wie im Encomion Moriae) gleichsam den Narrenspiegel vorzuhalten: so vernünftig und menschlich geht es bei diesen Heiden zu, die ohne göttliche Offenbarung auf ihren bloßen Mutterwitz sich verlassen müssen — und wie sieht es bei uns, den Christen, aus, die doch das Liebesgebot der Bergpredigt kennen?! Also eine Mischung zwischen bloß scheinbarem Ernst und ernsthaft gemeinter Satire (14) — durchaus im S t i | des 16. Jahrhunderts, dessen barocke Art von Humor dem modernen Empfinden so fremd geworden ist, daß er oft gar nicht mehr verstanden wird,- zugleich aber entsprechend der persönlichen Eigenart dieses typischen Engländers, der einmal von sich selber sagte: wenn er es scherzhaft meine, pflege er ein so ernsthaftes Gesicht zu machen, daß die Leute oft im Zweifel wären, ob er nicht im Spaß rede, wenn er es ernst meinte. Mit alledem ist eine Vertiefung unseres Morus-Verständnisses erreicht, die uns davor behütet, in der primitiven Art der älteren Ausleger die „Utopia" einfach als ein pathetisches Bekenntnis politischer Überzeugungen, als ,,Idealstaat" im Sinn der platonischen Republik zu betrachten. Dieses merkwürdige Buch ist viel hintergründiger, als es sich gibt. Aber ebendarum wäre es auch wieder voreilig, in ihm weiter nichts als ein unverbindliches literarisches Spiel zu sehen. Gewiß, man sieht oft nicht, wo der Spaß aufhört und der Ernst anfängt; und das Beunruhigende — zugleich unerhört Reizvolle — der Darstellung ist, daß es der Autor selbst nicht, immer genau zu wissen scheint. Aber hier und da bricht ein Ton von so jähem, leidenschaftlichem, ja verzweifeltem Ernst hervor, daß man schon taub sein muß, um ihn zu überhören. Und könnte es nicht sein, daß dieses beständige Schwanken zwischen Ernst und Scherz nur ein Symptom geheimer innerer Unsicher60

heit eines Mannes wäre, der in unüberbrückbare Abgründe blickt? Sehen wir zu! Der erste Hauptteil, eine groß angelegte Einleitung zu dem eigentlichen Bericht über den utopischen Idealstaat, bringt in der Hauptsache einen Dialog des Morus mit dem fingierten Berichterstatter, dem Weltreisenden Raphael Hythlodäus, einem entschiedenen Pazifisten, der hier sogleich eine äußerst scharfe Kritik an. den politischen und sozialen Zuständen des christlichen Europas entwickelt. E s liegt nahe, in dieser Unterhaltung einen Nachhall von wirklichen Gesprächen zu vermuten, die der Verfasser mit seinem Freunde Erasmus zu eben der Zeit hatte, von der diese Einleitung spricht: während seiner niederländischen Gesandtschaft 1515. Eben damals saß der Rotterdamer über seiner Institutio principis Christiani — wie hätten nicht deren Grundgedanken in den Deklamationen des Hythlodäus widerklingen sollen! (15). Gleichwohl ist ein tiefer Unterschied überall*spürbar: was Hythlodäus an Kritik vorträgt, ist niemals bloße Gesinnungspredigt wie bei Erasmus, sondern — f a s t in jedem Satz — das Ergebnis sehr konkreter Erfahrungen mit der englischen Gesellschaft und Politik, wie sie dem Londoner Richter und Parlamentsmitglied Morus sein Beruf täglich vor Augen führte (16). Und der Kritik sind praktische Reformvorschläge vor allem zur Humanisierung des Strafrechtes beigefügt, wie sie dem Stubengelehrten Erasmus gänzlich fernlagen. In der Grundgesinnung freilich stimmen Raphael Hythlodäus und Erasmus übercin: in der Empörung über die Willkür, gedankenlose Eitelkeit, Ruhmsucht, Habgier, Brutalität des feudalen Herrschertums. Aber während die Kritik des Erasmus, im Stil der mittelalterlichen Bußspiegel, sich unmittelbar an die Fürsten wendet und ihnen strafend ihre Pflichten gegen ihre Völker vorhält, gibt Raphael statt eines „Fürstenspiegels" eine ganz umfassende Kritik der feudalen Gesellschaftsvcrfassung. Die Sünden der Fürsten erscheinen nur als natürliches Endprodukt sozialer Verhältnisse, in denen Selbstsucht und Ungerechtigkeit überall, oben wie unten, regieren. T ) a s Idealbild eines christlichen Herrschers in der seit Augustin herkömmlichen Weise auszumalen, wird gar nicht erst der Versuch gemacht. Wozu auch? Der Schaden sitzt ja nicht im bösen Willen 61

der Regierenden, sondern in den sittlichen Zuständen der ganzen Gesellschaft. Morus hat sie gründlich kennengelernt: die unersättliche Selbstsucht dieses Adels, der seine bäuerlichen Pächter bis aufs Blut schindet, um mit einem ganzen Schwärm tagediebender Trabanten ein faules Drohnendasein zu führen; der seine Gefolgsleute, sobald sie unbequem werden, auf die Straße wirft, wo sie elend verkommen oder in ihrer Not ein Räuberdasein führen, das man dann mit den härtesten Strafen verfolgt. Die Bestialität der Berufssoldaten, die im Kriege das Land verwüsten, im Frieden alle Landstraßen unsicher machen, sich hochmütig über alle bürgerliche Ordnung hinwegsetzen und den friedlichen Handwerker und Bauern als Menschen zweiter Ordnung behandeln; sind sie aber im Kriege verstümmelt, so werden sie als Bettler zur größten Landplage. D i e schamlose Auswucherung des kleinen Landmannes durch den Egoismus der großen Grundbesitzer, die zur Vergrößerung ihrer Schafweiden ein Dorf nach dem anderen veröden, fruchtbares Ackerland in Wiesen und Parks verwandeln, die vertriebenen Bauern aber zu Vagabunden werden lassen, die zum Stehlen einfach gezwungen sind; gleichwohl läßt man sie dafür, wenn sie gefaßt werden, die viel zu grausame Strafe des Gehängtwerdens erleiden. Endlich die Ausbeutung des ganzen Volkes durch das Oligopol der Viehbesitzer, die künstlich die Viehpreise hochhalten und die Nachzucht abstoppen — erweist das alles nicht diesen ganzen Feudaladel als eine organisierte Räuberbande? Und sind nicht alle Stände Englands von unsinniger Verschwendungssucht erfaßt, von Hurerei, vom S a u f und Spielteufel besessen — wirft das nicht alles täglich neue Elendsexistenzen auf die Straße? Schreit die Summe dieses Jammers nicht nach Reformgesetzen, nach Ordnung der Wirtschaft, Besserung des Strafrechts, der Volkserziehung, des Armenwesens? Aber was treibt man statt dessen an den Höfen des Königs? Niemand kümmert sich um den Notstand des Landes, am wenigsten die feilen, aufgeblasenen, auf ihre Aftejweisheit stolzen Höflinge, die den Herrscher umgeben, jedem seiner Einfälle schmeicheln, vor allem aber seiner Ruhmsucht gefällig sind. Denn die Könige selbst gelüstet es meistens mehr nach Kriegsruhm als nach den Künsten des Friedens. „Ihr Sinn steht 62

viel mehr danach, durch Recht oder Unrecht sich neue Reiche zu erwerben, als das Erworbene gut zu verwalten ( 1 7 ) . " Raphael beschreibt höchst anschaulich, mit genauester Kenntnis der diplomatischen Lage um 1 5 1 5 , eine Beratung des G e heimkabinetts am französischen Hofe: wie da lauter R ä n k e und tückische Machenschaften beraten werden, um womöglich ganz Italien und Burgund unter die Herrschaft der Krone zu bringen, Frankreichs Gegner untereinander zu entzweien und zu lähmen. Hätte Raphael selbst in diesem Conseil mitzureden, e f würde dem König raten, „lieber daheim zu bleiben, Frankreich allein sei fast schon zu groß, um von einem einzigen Herrscher gut verwaltet zu werden, der König solle doch nicht glauben, er müsse noch auf Vergrößerung sinnen". Statt Kriege für elenden Ruhm zu führen und darüber die öffentliche Moral und Landeswohlfahrt zu verderben, „möge der König lieber sein ererbtes Reich pflegen und fördern nach bestem Vermögen, es so blühend wie möglich gestalten, seine Untertanen lieben und sich von ihnen lieben lassen, mit ihnen in Gemeinschaft leben, ein mildes Regiment führen und andere Reiche in Frieden lassen ( 1 8 ) " . Also ein Programm friedlich-humanitärer Wohlfahrtspflege statt kriegerisch-erobernder Machtpolitik! Aber eine solche Stimme klingt fremd und seltsam an den Höfen der Könige, deren Berater sich am größten dünken, wenn sie nur immer neue Mittel ersinnen, um Geld in die ewig unersättlichen Kriegskassen der Fürsten zu bringen: durch betrügerische Manöver mit Erhöhung und Senkung des Geldwertes, fingierten Kriegssteuern, Häufung von Geldstrafen für alle möglichen Taten und Unterlassungen, die man künstlich zu „Staatsverbrechen" stempelt, durch Gesetze, deren Umgehung man gleichzeitig denen ermöglicht, die ihren Dispens recht teuer zu erkaufen bereit sind — alles dies natürlich unter stets wiederholter heuchlerischer Berufung auf das „Wohl des Volk e s " ; ferner durch systematische Korruption der Justiz, die man unter politischen Terror setzt und zugunsten der Machthaber jede gesetzliche Bestimmung zu überspringen oder zu umgehen zwingt. Gilt es doch (unausgesprochen) als Grundsatz einer solchen Staatsweisheit, daß ein Herrscher gar nicht Unrecht tun kann, weil er immer recht hat, weil im Grunde alles Eigentum der Untertanen ihm gehört, „jeder einzelne also nur 63

so viel sein eigen nennen darf, als die Gnade des Königs ihm noch nicht weggenommen hat" — daß die Regierten „nicht übermütig werden dürfen durch Reichtum und äußere Unabhängigkeit, die beide nicht gerade dazu dienen, eine harte und ungerechte Herrschaft geduldig ertragen zu lassen", während hingegen Armut und Elend das Gemüt abstumpft und die Regierten alles von oben her, von der Gnade der Machthaber, erwarten läßt. In allen diesen Anklagen schimmern natürlich literarische Vorbilder mit durch: das von Erasmus soeben modernisierte Schreckbild des mittelalterlichen Tyrannen, der. alle Rechtsschranken überspringt, oder die Verherrlichung des echt englischen Herrschertums durch John Fortescue, das seinen Stolz darein setzt, über freie und reiche Leute zu herrschen, im Gegensatz zur Tyrannei der französischen Könige, die das Volksvermögen für ihre Machtzwecke mißbrauchen und ihre Untertanen ins äußerste Elend herabbringen (19). Aber als Ganzes entstammen diese Betrachtungen doch nicht der Lektüre fremder Schriften, sondern — das spürt jeder, der sie auf sich wirken läßt — einem ganz ursprünglichen, echten Erlebnis. Es ist nicht der Humanist, sondern der Londoner Richter, der Vertreter einer neuen, bürgerlichen Weltsicht, der hier zu uns redet: bis zum Rande erfüllt von Erbitterung gegen die feudale Gesellschaft, die noch immer den Hof beherrscht und das öffentliche Leben des Landes bestimmt. Von Erbitterung zugleich gegen die Gewaltmethoden des neuen königlichen Absolutismus, wie er unter den ersten Tudors aufkommt: der sich rücksichtslos hinwegsetzt über die Schranken geheiligten Rechtes, wo das Interesse der fürstlichen Macht es zu erfordern scheint. Es ist in allererster Linie die Idee des Rechts, der Gerechtigkeit, und zwar der Gerechtigkeit für alle Stände, was den Morus zu seiner Opposition treibt — er ist Jurist, nicht Politiker und nicht Moraltheologc. Und in dieser Haltung ist er sich treu geblieben bis ans bittere Ende. Denn auch seinen Märtyrertod hat er als Vorkämpfer für die Freiheitsrechte der alten Kirche und ihrer Hierarchie, nicht eigentlich für das katholische Dogma als solches erlitten (20). Die Leidenschaft dieses Kämpfertums für das „Ewige Recht" (im Sinn des Mittelalters) reißt ihn zuweilen zu beinahe revo64

lutionär klingenden Wendungen fort: „Sollte wirklich ein K ö n i g . . . seinen Untertanen so verhaßt sein, daß er sie nicht anders in Ordnung halten kann, als indem er mit Mißhandlungen, Ausplünderung und Vergewaltigung gegen sie wirkt und sie an den Bettelstab bringt — wahrhaftig, dinn sollte er doch lieber auf die Krone verzichten, als sie mit solchen Künsten behaupten: die mögen ihm den Namen der Herrschaft retten — ihre Majestät verliert er ganz gewiß." „Als einzelner in Vergnügen und Genüssen schwimmen, während ringsherum alle anderen zu stöhnen und zu jammern haben, das heißt nicht König, sondern Kerkermeister sein." „Wer keine andere Methode kennt, das Leben der Staatsbürger ins rechte Geleis zu bringen, als durch Vernichtung aller Lebenswerte, soll ruhig eingestehen, daß er nicht über freie Menschen zu herrschen versteht (21)." Aber ist nun Morus wirklich ein Revolutionär, ein schwärmerischer Idealist, der nur seine Rechtsidee kennt, nur von der Wohlfahrt, den Rechten, der Freiheit des einzelnen weiß und nichts ahnt von dem unaufhebbaren Widerstreit zwischen den Lebensansprüchen der einzelnen und denen der staatlichen Gemeinschaft, nichts von den inneren Nöten und Grausamkeiten des echten politischen Kampfes.— nichts von der eigentlichen Dämonie der Macht?. Hält er die menschliche Natur für so edel, verträglich, wohlgesinnt, daß er ernstlich an die Möglichkeit einer Gemeinschaftsordnung glaubt, in der es weder Kriege noch schwere Opfer für den Staat noch harte Gegensätze zwischen Armut und Reichtum zu geben braucht? Ist er ein pazifistischer Schwärmer im Stil des Erasmus? Ist seine „Utopia" ein ernsthaft gemeintes Programm politischer und sozialer Reform (22)? Höchst aufschlußreich ist hierfür der weitere Verlauf des Gesprächs, das Morus sich selber mit Raphael Hythlodäus führen läßt. Dieser lehnt radikal jeden Eintritt in irgendein Hofamt ab mit der Begründung: er besitze gar nicht den Beruf zum praktischen Politiker, und hätte er auch die Gabe dazu, so würde er doch nur stocktauben Ohren predigen; solange die Machthaber nicht selbst Philosophen wären, würden sie niemals den Ratschlägen philosophierender Ratgeber folgen. Dagegen wendet nun Morus ein: natürlich dürfe man praktischen Staatsmännern nicht mit rein akademischen Spekulationen 5

Eitter, Dämonie

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(philosophia scholastica) kommen, die keine Aussicht auf Verwirklichung hätten; wohl aber gäbe es „eine andere, mehr weltläufige Art von Philosophie (philosophia civilior), die den Schauplatz ihres Auftretens kennt, sich ihm anzupassen und ihre R o l l e . . . gefällig zu spielen weiß". Man müsse den Menschen nicht ungewohnte, radikale Reformen mit Gewalt aufdrängen wollen, „sondern es lieber auf Umwegen versuchen, sich bemühen, nach besten Kräften alles recht geschickt zu behandeln und was man nicht zum Guten wenden kann, wenigstens vor dem Schlimmsten zu bewahren". Morus läßt sich hier also selber die Rolle des Opportunisten spielen, der seine Grundsätze opfert, um „doch wenigstens etwas zu erreichen", der durch seine Mitarbeit in den Staatsgeschäften „noch Schlimmeres" verhüten möchte. Eine Rolle, die er dann freilich als englischer Staatskanzler keineswegs durchgehalten hat! Gleichwohl sieht hier Hermann Oncken den entscheidenden Ansatzpunkt f ü r das Verständnis der „Utopia": sie ist (nach ihm) nicht als „philosophia scholastica", als radikale Ideologie zu verstehen, s o n d e r n — i n überarbeiteter Gestalt — als „praktisch-politischer Traktat" eines Realpolitikers, der den Schauplatz seines Auftretens kennt und sich darauf einzurichten weiß (23). Und sicher lieh: nimmt man die Einwendungen des fingierten Morus zusammen mit den Bemühungen des wirklichen, seiner „Utopia" eine günstige Aufnahme bei praktischen Staatsmännern und insbesondere beim Kanzler Wolsey zu sichern (24), so entsteht der Eindruck, daß jene opportunistisch klingenden Wendungen für unseren Humanisten mehr bedeutet haben müssen als ein bloßes literarisches Kunstmittel zur „Retardierung" und Steigerung des Dialogs (25): daß sie sehr ernsthafte Erwägungen eines Mannes darstellen, der zwischen dem natürlichen Drang nach äußerer Unabhängigkeit und dem Bewußtsein einer Pflicht, sich für das Staatswohl zu opfern, eben damals noch hin- und herschwankte. Auf„ den unbefangenen Leser indessen werden (und sollen wohl auch) die Argumente Raphaels den weitaus stärkeren Eindruck machen. Mit einer ganzen Flut von Betrachtungen wendet er sich gegen jede opportunistische Abschwächung seiner Grundsätze. Sie werden mit einer Leidenschaft vorgetragen, die jeden Zweifel an ihrer Echthcit ausschließt. Sich 66

anpassen — das heißt: während ich die Unvernunft anderer Leute heilen will, mit ihnen selber toll werden. Die Wahrheit kann nur entweder ganz oder gar nicht gesagt werden. Wer vertuschen hilft, macht sich selber zum Mitschuldigen. Er deckt nur mit seinem guten Namen die bösen Geschäfte anderer Leute, und statt „Schlimmeres zu verhüten", wird er nur selber noch in den Strom des Übels hineingezogen (26). Lauter Äußerungen mannhafter Festigkeit, die zu ihren Grundsätzen steht und sich weder durch irgendwelche Machtgelüste noch durch die scheinbare Vernünftigkeit „realpolitischer" Haltung verführen läßt. Aber auf welches Endziel ist denn nun diese Politik des „Alles oder Nichts" eigentlich ausgerichtet? Glaubt Raphael-Morus etwa, durch fortgesetzte Predigt seiner Grundsätze die Gewaltherrscher doch noch zu frommen Völkerhirten im Stil des Erasmus bekehren zu können? Mit keinem Wort ist davon die Rede. Im Gegenteil: Raphael hält jeden Versuch dieser Art f ü r hoffnungslos. Oder denkt er daran, ihre Untertanen gegen sie aufzuwiegeln und so auf revolutionärem Wege die Durchsetzung von Reformen zu erzwingen? Das wäre schon deshalb sinnlos, weil ja der Sitz des Übels gar nicht bloß an den Höfen, sondern in der Gesellschaft selber sitzt. RaphaelMorus ist kein weltfremder Schwärmer. Er kennt die Welt, i r weiß auch als katholischer Christ, daß die Menschen nun einmal von der Selbstsucht besessen sind und von ihr so leicht nicht loskommen. Er erlebt alle Tage die „unzähligen, stets von neuem entstehenden und niemals endenden Streitigkeiten um Hab und G u t " und sieht, daß es nicht möglich ist, die Menschen jemals zufriedenzustellen, „so viele Gesetze auch Tag für Tag erlassen werden" zur Regelung des Privateigentums. Es gibt keine wirkliche Gerechtigkeit auf dieser Erde — es sei denn, daß man den Unterschied zwischen Reich und Arm überhaupt aufgeben und damit die Hauptquelle "•aller Ungerechtigkeit verstopfen könnte. Schon Plato hat gesehen, „daß nur ein'einziger Weg zum Wohl des Staates führt: die Verkündigung der Gleichheit des Besitzes, die doch wohl niemals durchgeführt werden kann, wo die einzelnen noch Privateigentum besitzen. Denn solange jeder auf Grund gewisser Rechtsansprüche, soviel er nur kann, an sich zieht, mag die Menge der vorhandenen Güter noch so groß sein, sie wird doch nur 5'

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unter wenige aufgeteilt, und für die übrigen bleibt Not und Entbehrung". Die Mächtigen werden immer herrschen, und die Schwachen unterdrücken und ausbeuten. Solange das Eigentum bestehen bleibt, werden auf dem weitaus größten und dem weitaus besten Teil der Menschheit (den anspruchslosen, fleißigen, schlichten Männern der Werkeltagsarbeit) „Armut, Plackerei und Sorgen als eine unentrinnbare Bürde weiter lasten; sie mag — das gebe ich zu — ein wenig erleichtert werden können; sie gänzlich zu beseitigen — behaupte ich — ist unmöglich". Man könnte ja ganz gewiß durch staatliche Reformen ein Höchstmaß von Besitz festlegen oder die Macht des Fürsten ebenso wie die des Volkes in feste gesetzliche Schranken zu bannen, aus der Verteilung der Stäatsämter jeden Privategoismus auszuschalten versuchen. Aber das alles wären doch nur Linderungsmittel, die der eigentlichen Krankheit niemals auf den Grund kämen; und „während man auf der einen Seite zu heilen sucht, verschlimmert man die Wunde auf der anderen (27)." Darum also das Radikalmittel der Beseitigung alles Eigentums — darum die Ausmalung eines „kommunistisch" organisierten Idealstaates! Also gäbe es doch ein Heilmittel für alle sozialen Übel der Menschheit — ein politisches Mittel, eine Technik sozialer Organisation, die den menschlichen Egoismus zu beseitigen oder unschädlich zu machen imstande ist? Ja — aber wo? Nur auf der glücklichen Insel „Nirgendwo". In einer Welt, wie sie im christlichen Europa leider unbekannt ist: unter Menschen, die nicht mehr hemmungslos ihren sinnlichen Trieben und Leidenschaften folgen, sondern ihrer gesunden Vernunft. In einer geistigen Umwelt, ^wo die natürliche Selbstsucht sich zu höherer Einsicht in das wahrhaft Nützliche und Schöne verklärt; wo also das Gemeinwohl über den Privatvorteil geht; wo die Gebote der Religion und die natürliche Vernunft wieder (oder vielmehr: noch) in schönem Einklang miteinander stehen, wie einst bei den Hellenen Piatos. Kann aber diese Welt im christlichen Europa jemals Wirklichkeit jverden? Raphael selbst würde es als unerhört und unschicklich betrachten, eine solche Utopie an europäischen Fürstenhöfen vorzutragen (28). Der fingierte Morus äußert die stärksten Bedenken: „Es ist ausgeschlossen, daß alle Verhältnisse gut 68

sind, solange nicht alle Menschen gut sind, worauf wir ja wohl noch eine hübsche Reihe von Jahren werden warten müssen (29)." Gütergemeinschaft und allgemeine Gleichheit der Stände — das hält er nicht für eine heilsame; sondern für eine radikal zerstörerische Lebensordnung. Sie würde zum Ersticken jeden Fleißes, zu allgemeiner Faulheit und Korruption führen; Mord und Aufruhr würden sich erheben, weil jeder zur Selbsthilfe greifen würde, um Selbsterworbenes zu schützen; jeder Respekt vor der Obrigkeit, ja jede Autorität überhaupt würde dahinsinken, sobald allgemeine Gleichheit herrscht. Trotzdem: wie unendlich verlockend ist es, sich einmal auszumalen, wie die Welt aussehen könnte, wenn die Menschen so vernünftig und selbstlos wären — wie sie nun einmal nicht sind! Morus kann der Versuchung nicht widerstehen; er läßt nicht nach mit Bitten, bis Raphael ihm eine genaue Schilderung jenes glücklichen „Utopien" gibt, das er auf seinen Weltreisen irgendwo in fernen Meeren gefunden haben will. Und er erlebt als Ausklang dieser Erzählung einen wahrhaft dithyrambischen Ausbruch begeisterten Lobes dieser paradiesischen Welt, begleitet von neuen, noch gesteigerten Ausbrüchen des Hasses wider die Verderbnis des alten Europa, seiner Völker, seiner Staaten, seiner Gewalthaber. Alle diese Staaten, heißt es jetzt geradezu, sind „nichts anderes, so wahr mir Gott helfe, als eine Art Verschwörung der Reichen", die das staatliche Gesetz als Werkzeug ihrer Klassenherrschaft mißbrauchen. Läßt sich das ändern? Die Frage wird noch einmal aufgerührt. „Ich möchte gar nicht daran zweifeln", sagt Raphael, „daß schon längst die ganze Welt zu der Gesetzgebung des Utopierstaates bekehrt worden wäre, wenn nicht ein teuflisches Laster dagegen ankämpfte: das Haupt und der Ursprung alles Unheils, die Hoffart (superbia); sonst hätte vernünftige Einsicht in den eigenen Vorteil eines jeden lcichtlich die Welt bekehrt oder auch die Autorität Christi, unseres Heilandes, der in seiner tiefen Weisheit wohl wissen mußte, was das Beste sei (30)." Menschliche Vernunft und Liebesgebot der Bergpredigt (die Philosophia Christi des Erasmus!) stimmen also darin überein, daß sie den Egoismus bekämpfen. Aber die Hoffahrt, der Ehrgeiz, die Herrschsucht, die nicht zufrieden ist, ehe sie fremdes Unglück zum eigenen Vorteil ausgebeutet hat, 69

die sich sonnen will im Glanz ihres Triumphes über das Elend der Mitmenschen, ist stärker als Vernunft und Religion. „Sie hat sich allzu tief in das Menschenherz eingefressen, als daß sie sich ohne weiteres wieder herausreißen ließe." Nur den Utopiern ist es gelungen, alle diese Laster mitsamt ihren Wurzeln auszurotten; darauf beruht das Glück und der Erfolg ihres Reiches. Das klingt wenig hoffnungsvoll f ü r die europäische Menschheit. Und in deutlicher Resignation schließt Morus das ganze Werk ab. Die Erzählung Raphaels hat ihn in tiefes Sinnen gestürzt. Gar zu fremdartig will ihm die Lebensweise der Utopier erscheinen: die Art ihrer Kriegführung, ihr Gottesdienst, ihre Religion, vor allem doch „die eigentliche Grundlage ihrer Verfassung", die Gemeinsamkeit eines Lebens ohne Eigentum. „Wird doch schon durch diese eine Verfassungsbestimmung aller Adel, alle Pracht, aller Glanz, alle Würde und Majestät, also nach der landläufigen Ansicht alle wahre Zierde und aller Schmuck des staatlichen Lebens von Grund auf umgestürzt." Morus selbst empfindet also deutlich das Klosterhafte seines Idealstaates (31), der in der Tat mehr an die Vita contemplativa jener weltfernen Einsiedeleien erinnert, die sich der Humanismus so gern als idealen Sitz seiner Kolloquien erträumte, als an das Leben der wirklichen Staaten, an die Schauplätze kämpferischer Energien, die Stätten politischer Triumphe und Leiden. Und so klingt denn auch das Ganze nicht in einem politischen Weckruf (oder gar Programm) aus, sondern — ganz unverbindlich und literatenhaft — in einer sinnenden, zweifelnden Erwägung: „Ich bemerkte, wir würden wohl noch später Zeit finden, über dieses Thema tiefer nachzudenken und ausführlicher darüber zu sprechen. Möchte es doch einmal dazu kommen! Bis dahin kann ich gewiß nicht allem zustimmen, was Raphael sagte (übrigens ohne Zweifel ein höchst gebildeter und weltkundiger Mann!), indessen gestehe ich doch ohne weiteres, daß es in der Verfassung der Utopier sehr vieles gibt, was ich in unseren Staaten eingeführt sehen möchte. Freilich ist das mehr Wunsch als Hoffnung." Dieser Schluß macht vollends deutlich, daß der Verfasser der „Utopia" trotz aller radikalen Gesten seines Raphael nicht als schwärmcrischer Ideologe, nicht als blinder Revolutionär 70

verstanden sein will. Als praktisch Handelnder hat er immer auf der konservativen Seite gestanden, den kirchlichen Aufruhr in Deutschland als wilde, maßlose Barbarei gehaßt, Luther als einen tobenden Trunkenbold beschimpft (32), den großen Tumult der englischen Kirchenreform nach Kräften bekämpft, sich in seinen Streitschriften schützend vor das bedrohte Kirchengut gestellt und schließlich noch im Kerker, in seiner letzten großen Schrift vom „Trost gegen Trübsal" so ausführlich und unzweideutig das Recht des Privateigentums gegen kommunistische Ideen verteidigt (33), daß man deutlich sieht: eine kommunistische Gesellschaftsverfassung als solche, als bloße Änderung der äußeren Organisation würde nach seiner Meinung die Welt nur ins Chaos stürzen, ohne irgend etwas zu bessern. Warum entrollt er aber dann überhaupt dieses Idealbild eines Wohlfahrtsstaates, an dessen Verwirklichung er doch nicht zu glauben scheint? Verständlich erscheint seine Haltung nur aus einer tiefen inneren Zwiespältigkeit seines Geistes heraus. Auf der einen Seite steht der katholische Christ, eine „Anima naturaliter Christiana", tief durchdrungen von der Sündhaftigkeit des Menschengeschlechts, lange schwankend zwischen geistlichem und weltlichem Beruf, eng befreundet mit den Karthäusern, dem bußeifrigsten aller spätmittelalterlichen Orden, den schärfsten Gegnern des staatlichen Kirchenregiments, in deren Londoner Kloster er vier Jahre als junger Mensch gehaust hat, deren asketische Bußübungen er sein ganzes Leben lang heimlich fortsetzte — trotz der epikureischen Abneigung seiner Utopier gegen unnütze Selbstquälerei und der leisen Ironie, mit der sie den frommen Eifer ihrer Mönchsorden betrachten (34), trotz der reichen Aufgeschlossenheit seines im Grunde heiteren, weltfrohcn Geistes für die Freuden und Schönheiten des irdischen Daseins, inmitten einer großen, glücklichen Familie, inmitten einer heiteren Geselligkeit, deren lebensvolle Ailmut, deren Schwelgen in alle Genüssen des Geistes, in allen Schätzen der Literatur und Kunst der Renaissance das Entzücken und die Bewunderung der Zeitgenossen hervorrief. Die bildungsfrohe, aber tiefreligiöse Seele dieses Christen empört sich über die schmähliche Herrschaft des Unrechtes und der Gewalt in seiner scheinchristlichen, in Wahrheit von den Dä71

monen des Ehrgeizes, der Selbstsucht und Machtgier umgetriebenen Umwelt. Er wird sich niemals damit abfinden, daß Menschengebot über göttliches Gebot gehen soll ( 3 5 ) ; ihm ist es eine Selbstverständlichkeit, daß die Kirche und ihre priesterliche Hierarchie frei, selbständig, unabhängig neben der Staatsgewalt steht, durch unüberschreitbare Rechtsschranken vor deren Machtgebot geschützt. An der irdischen Erscheinung dieser Kirche, an der Menschlichkeit ihrer Amtsträger übt er viel spöttische Kritik im Stil seines Freundes Erasmus (36). Aber darin bewahrt er viel reiner als dieser die ursprünglich christliche Haltung: daß er die sündhafte Verderbnis der menschlichen Natur, die dämonische Gewalt der Superbia als „Haupt und Ursprung alles Unheils" immer vor Augen hat. Nur daß diese Grundhaltung sein Denken nicht mehr ausschließlich bestimmt! Die Jenseitsstimmung des christlichen Mittelalters wird überglänzt durch einen hellen Schein von Diesseitsfreudigkeit. Die sprichwörtliche Heiterkeit des Thomas Morus stammt nicht bloß aus Diesseitsüberwindung, sondern (in einer s o höchst seltenen, vielleicht einzigartigen Verbindung) zugleich aus gesteigertem Diesseitsgenuß. In die düsteren Zweifel des mittelalterlichen Christen an den sittlichen Fähigkeiten menschlicher Vernunft und menschlichen Willens fällt ein neues, freundliches Licht a^s der Welt des antiken Idealismus. D a s verklärte Menschenbild des Plato und seines Epigonen Cicero läßt ein längst versunkenes Goldenes Zeitalter ahnen, ein Zeitalter schöner Harmonie aller schaffenden Kräfte, wo Vernunft und Religion ohne Widerspruch einander ergänzten als Antriebe sittlichen Handelns, wo der Staat noch eine wirkliche sittliche Gemeinschaft, nicht bloß eine Zwangsanstalt, nicht bloß ein Werkzeug brutalen Machtwillens bildete, wo die Staatsbürger wie in einer großen Familie miteinander lebten, einander vertrauend, nicht fürchtend und hassend, geführt von den y-nloiy-aya^oi, den Höchstgcbildeten und Edelsten des Volkes. Und sollte es denn s o ganz unmöglich sein, dieses Idealbild menschlicher Gemeinschaft mit der christlichen Weltansicht zu vereinigen? Hat nicht Freund Erasmus gezeigt, daß die Liebesethik der Bergpredigt, die Philosophia Christi, in allem Wesentlichen mit den Morallehren des platonischen Sokrates zusammenstimmt? Hat nicht auch Christus (ähnlich wie 72

Plato) eine gemeinschaftliche („kommunistische") Lebensführung seiner Jünger gutgeheißen, und „ist diese nicht nöch heute in den Kreisen der editesten Christen (der Klosterleute) üblich ( 3 7 ) ? " Thomas Morus wagt es, sich die alte echte Volksgemeinschaft des Goldenen Zeitalters bis in alle Einzelheiten auszumalen. In Utopia, auf einer abgelegenen Insel des Weltmeeres, läßt er sie von Urzeiten her unmittelbar, und unverderbt durch europäische Einflüsse, bis in die Gegenwart hineinragen (38). Die Sprache der Utopier läßt darauf schließen, daß sie direkt von den Griechen abstammen (39). Und der freudige Eifer, mit dem sie das Christentum aufnehmen (das Raphael Hythlodäus zu ihnen gebracht hat),, bestätigt aufs schönste, daß die Lehre Christi nur eine Überhöhung, nicht aber einen Gegensatz zur Philosophie der Alten darstellt. Durchaus im Sinn der mittelalterlichen Stufentheorie wird das Verhältnis von vorchristlicher, „natürlicher" menschlicher Weisheit und christlicher Offenbarung aufgefaßt (40). Den politisch wichtigsten Unterschied der antiken Religionen gegenüber der christlichen hat er nicht einmal bemerkt: die folgenreiche Tatsache, daß die Götter von Althellas Götter der Polis, des Staates sind, daß ein eigener Priesterstand fehlt. Ganz unbefangen gönnt er den utopischen Staatspriestern dieselbe Unabhängikeit von der Staatsgewalt, wie die katholische Hierarchie sie besaß. Und statt der unlösbar engen Gebundenheit des platonischen Menschen in den Nomos und Glauben der Gemeinschaft steigert er die Gewissensfreiheit der Utopier bis zu einer ziemlich weitgehenden staatlichen Toleranz — nicht ahnend, daß er damit die scheinbar so harmonische Einheit der antiken Polis in ihrem Kern zerstört. Tief befriedigt von dieser schönen, erträumten Harmonie des antiken und christlichen Geistes hat Morus zunächst das zweite Buch seiner „Utopia", die Schilderung der glücklichen Insel, entworfen: in einer Fülle genialer Einfälle, die heute noch ohne rechte Ordnung neben- und durcheinander daliegen, nicht ohne Überschneidungen und Wiederholungen (41), als Ganzes eine sprühend geistvolle Satire auf die eigene Zeit und Umgebung, im einzelnen voller Anspielungen, versteckter Bosheiten, auch wohl bewußt grotesker Züge, die den Leser zum 73

Narren halten sollen. Nach dem Zeugnis des Erasmus hat er längere Zeit und in Muße daran gearbeitet. Erst als das Ganze nun so abgerundet vor ihm lag, wird ihm der abgrundtiefe Gegensatz dieser Idealwelt zur eigenen Umgebung (der ja freilich von Anfang an das Grundthema gebildet hatte) mit schmerzlicher Klarheit und voller Wucht zum Bewußtsein gekommen sein. Aus der heiteren Satire wurde nun erst die bitterernste, ja fast verzweifelte Anklage gegen Gesellschaft und Staat Englands, die wir kennen. Sie ist (wieder nach dem Zeugnis des Erasmus) mit fliegender Feder - niedergeschrieben — wohl als Ergebnis der Gespräche mit seinen Freunden auf seiner niederländischen Gesandtschaft („per occasionem") (42). Jetzt erst wurde auch die Frage wirklich brennend, die wir ihn schon erörtern hörten: ob irgendeine Hoffnung bestünde, die Ideale des utopischen Wohlfahrtsstaates auf europäischem Boden zu verwirklichen. Der Versuch, sie zu beantworten, machte uns die ganze innere. Unsicherheit und Zwiespältigkeit des Mannes offenbar. Und doch war seine Resignation keine vollständige. Nicht die Hoffnung, aber den Wunsch wollte er festhalten, es möchte wenigstens ein Teil der utopischen Einrichtungen in Europa Nachahmung finden. Die Satire ist mehr als ein bloßes Satyrspiel: sie enthält Wunschträume ihres Verfassers. Vor allem die Herrschaft der literarisch Gebildeten, der „Philosophen" im Staate. Sie werden nicht als eine Klasse abgesondert (denn sie ergänzen sich fortwährend durch Aufstieg von unten her), aber doch als eine Elite der intellektuell Begabtesten und sittlich Reifsten aus der Masse deutlich herausgehoben. Es sind die aQictToi des Plato, eine Schicht von Edelmenschen, unter denen es keinen niederen Ehrgeiz und keine Leidenschaft gibt. Aus ihr allein können die höchsten Staatsbeamten — Gesandte, Priester, Traniboren (Senatoren), schließlich die Fürsten selber — durch Wahl hervorgehen (43). Sodann die eifersüchtige Wahrung der Freiheitsrechte des Volkes gegen Willkür und Tyrannei der Herrschenden: durch häufigen Amtswcchsel, Verbot aller nichtöffentlichen Beratung über politische Dinge, aller Parteibildung, die der Freiheit gefährlich werden könnte, häufige Volksbefragung durch die unteren Amtsstellen. Besserung der Lage des gemeinen Mannes durch streng gerechte, 74

gleichmäßige Verteilung der Konsumtionsgüter, starke Beschränkung der Arbeitszeit, großartige öffentliche Wohlfahrtseinrichtungen und Bildungsanstalten, milde Strafjustiz, Abschaffung aller ständischen Unterschiede vor dem Gesetz. Wohl gibt es einen unfreien Sklavenstand aus Verbrechern und Kriegsgefangenen, aber der ist nicht erblich, wirkt also nicht klassenbildend (44), ebensowenig wie die Sonderstellung der literarisch Gebildeten. Alles in allem ein ganzes System rationaler Verfassungsbestimmungen (45), deren Einzelheiten viel zu sehr das Gepräge freier, zum Teil sogar scherzhaft-satirischer Erfindung tragen, als daß sie als Vorbild europäischer Staatsverfassung ernsthaft in Betracht kommen könnten; aber die Zielsetzung des Ganzen ist unbedingt ernsthaft gemeint: ein Volk, in dem die Entwicklung selbstsüchtiger Triebe durch Erziehung und soziale Einrichtungen nach Kräften (und nicht ohne harten staatlichen Zwang) niedergehalten wird, und ein Staat, der unter Verzicht auf äußere Machtziele (soweit das überhaupt möglich ist) allein für die Pflege geistiger und leiblicher Wohlfahrt bestimmt erscheint (46). Unter Verzicht auf äußere Machtziele — abef ist das praktisch überhaupt denkbar? Kann es einen Staat geben, der ohne immer erneuten Machtkampf auch nur seinen äußeren Bestand zu sichern vermöchte? Nichts beweist besser die Ernsthaftigkeit der „Utopia" des Morus als die Tatsache, daß er dem Machtproblem nicht, wie sein Freund Erasmus, ausgewichen, sondern ernsthaft zu Leibe gegeangen ist (47). Und erst in der Auseinandersetzung mit ihm enthüllt sich die eigentliche Problematik seines politischen Denkens; erst von hier aus fällt auch auf die Dämonie des modernen Machtstaates neues Licht. Das Land Utopia ist eine Insel, und so trägt die Politik des utopischen Staates ausgesprochen insularen Charakter. Ausgezeichnete Häfen erleichtern den Verkehr mit der Umwelt; aber alle diese Häfen sind von Natur oder durch starke Befestigungen so vortrefflich gedeckt, daß es nicht allzu schwer ist, sie gegen die Landung feindlicher Streitkräfte zu schützen. Utopia liegt also nicht, wie die Staaten des europäischen Festlandes, mitten im Gedränge miteinander rivalisierender politischer Kräfte. Es ist nicht beständig von großen äußeren Gefahren umringt. Es braucht nicht den Hauptteil seiner staat75

liehen Energie auf, militärische - Rüstungen zu verwenden; es ist aber auch der Versuchung erobernder Machtpolitik einigermaßen entrückt — wenigstens der Eroberungspolitik im kontinentalen Stil. Denn die Grenzen seines unmittelbaren Machtbereiches sind durch die Natur selbst eindeutig abgesteckt; darüber hinaus kann es nur noch in, mittelbarer Form Herrschaft ausüben: durch Erwerb von Kolonien oder durch wirtschaftliche Macht. Alle diese Voraussetzungen braucht Morus, um einleuchtend zu machen, daß die Pflege innerer Wohlfahrt natürlicherweise im Mittelpunkt der Politik Utppiens steht — anders als in den feudalen Monarchien des europäischen Festlandes (48). Die Utopier haben es leichter als andere Völker, sich frei zu halten vom Vorwurf selbstsüchtiger und roh-gewaltsamer Machtpolitik. Daß der Engländer Morus bei alledem sein eigenes Vaterland im Auge hat, versteht sich von selbst. Aber sowenig wie Britannien ist Utopia vollständig von der übrigen Staatenwelt isoliert. Auch ihm droht immer — wenn auch in abgeschwächtem Maß — die Gefahr feindlicher Einfälle. Deshalb sind die Städte des Landes und seine Küsten stark befestigt (eine Mahnung für England?); deshalb wird das Volk beständig, vor allem an den Feiertagen, mit militärischen Übungen beschäftigt, wird ein gewaltiger Kriegsschajtz unterhalten, um immer für den Notfall gerüstet zu sein. Eine vollständige Isolierung seiner Insel von ihrer Umwelt konnte Morus schon darum nicht brauchen, weil es ihm ja gerade darauf ankam, die Methoden einer vernünftigen Außenpolitik — im Gegensatz zur Unvernunft feudaler Herrscher Europas — an einem Lehrbeispiel vorzuführen. Wie sieht nun diese musterhafte Außenpolitik aus? Grundsätzlich will sie alle Fehler vermeiden, die Morus so hart an den politischen Methoden der europäischen Höfe getadelt hat. Vor allem also: keine Eroberungen, keine selbstsüchtige Unterdrückung der Freiheit anderer Völker, soweit als irgend möglich schiedlich-friedliche Verhandlungen an der Stelle roher Gewalt. Warum sollten die Utopier auch erobern und fremde Freiheit unterdrücken wollen? Diese glückliche Insel hat genug an ihren eigenen Lebensräumen. Sie ist wirtschaftlich fast völlig autark; außer Eisen, das die Insulaner wegen spärlichen Vorkommens einführen müssen (ähnlich wie das England des 76

16. Jahrhunderts), trägt der Boden ihres Landes alles, was sie brauchen, im Uberfluß. An Getreide, Honig, ^ o l l e , Leinen, Holz, Farben, Fellen, Wachs, Talg, Leder, Vieh erzeugen sie einen riesigen Überschuß, den sie ausführen, sobald der eigene Bedarf für zwei Jahre eingedeckt ist. Der überseeische Exporthandel ist also die wichtigste Form, in der sie mit dem Ausland in Verbindung treten. Er führt zu einar stark aktiven Handelsbilanz, die eine Ansammlung großer Mengen von Silber und Gold (als internationales Zahlungsmittel) in ihrem Lande zur Folge hat. Liegt darin nicht die Versuchung zu einer Anhäufung wirtschaftlicher Macht, die erdrückend werden könnte? Und birgt andauernd steigender Reichtum nicht die Gefahr sittlicher Verderbnis in sich? Gewiß! Aber die Utopier tun alles, um solchen, Gefahren vorzubeugen. Um Gold und Silber verächtlich zu machen, wird es von der staatlichen Propaganda für nutz- und wertlos, die Verwendung von Gold- und Edelsteinen zum Schmuck des Daseins für eine lächerliche Torheit erklärt; man fertigt die Nachttöpfe und die Sklavenketten aus Gold an und verwendet die Perlen und Diamanten als Kinderspielzeug -— was bei der Begegnung mit Ausländern zu .höchst ergötzlichen Szenen führt. In ihrer Ausmalung läßt Morus die ganze Kunst seiner Satire funkeln -— aber redet er hier nun im Ernst oder im Schcrz? Können die Utopier Gold für wertlos halten, wenn es doch internationales Zahlungsmittel ist? In Wahrheit vcrdeckt dieser Humor doch nur eine heimliche Verlegenheit; denn wie könnte Morus leugnen, daß blühender Rcichtum des Volkes sich auf den Lebensstandard jedes einzelnen auswirken, müheloser Erwerb die patriarchalische Einfachheit der Sitten verderben muß, die er selbst seinen Utopiern erhalten möchte — trotz alles verfeinerten Lebensgenusses ihrer Bildungsaristokratie? Aber er hat ja noch ein weiteres, viel wirksameres Gegenmittel: die Beseitigung des Privateigentums. Aller Gewinn aus dem Exporthandel fällt dem Staate zu, und der sorgt dafür, daß erstens möglichst wenig Edel metall nach Utopien gelangt, zweitens möglichst viel davon im Staatsschatz aufgestapelt wird. Ein Siebentel des Exports schenkt Utopia den Armen des Käuferlandes, den Rest verkauft man zu mäßigem Preise, legt den Erlös teilweise in Einfuhrwaren an, führt das Nötigste dem eigenen Staatsschatz in 77

Barmitteln (also in Gold oder Silber) zu, läßt aber das meiste auf Kredit im Ausland stehen, und zwar in der Form von Anleihen an ausländische Städte, für deren Verzinsung jeweils" die betreffende Stadt zu sorgen hat. Die Zinsen schließlich fordern die Utopier nur in Ausnahmefällen ein: nämlich nur dann, wenn sie Geld für Darlehen an andere Völker brauchen oder im Kriegsfall, um damit ausländische Söldner zu bezahlen oder um ihre Feinde mit viel Geld „zu erkaufen oder gegeneinander zu hetzen, sei es durch Verrat oder auch durch Entzweiung". Schon hier wird die Hilflosigkeit und Aussichtslosigkeit — man könnte sagen: das Utopische — dieses Versuches sichtbar, eine Außenpolitik zu konstruieren, die ohne den Begriff der Macht und des Machtkampfes auskommt. Um wirtschaftliche Rivalitäten und Machtkämpfe zu vermeiden, gibt Morus seinen Inselbewohnern von vornherein eine unbestreitbare wirtschaftliche Überlegenheit über ihre Nachbarn. Aber er scheint gar nicht zu bemerken (denn an der Ehrlichkeit seines Vorhabens ist nicht zu zweifeln) (49), daß er sie damit in eine Machtposition versetzt, die nicht nur von den anderen als höchst bedrohlich empfunden werden, sondern zum Mißbrauch geradezu auffordern muß. Wenn das ganze Ausland ringsum an die Utopier verschuldet ist und diese Verschuldung ununterbrochen wächst — welche Garantie haben dann diese zinspflichtigen Völker, daß man in Amaurotum, der Inselhauptstadt, diese ihre Zwangslage niemals ausnutzen, mäßige Verkaufspreise innehalten, die (an sich schon unwahrscheinlich humane) Verschenkung von Exportwaren.an ihre Armen fortsetzen wird (ganz abgesehen davon, daß keine selbstbewußte Nation sich gern etwas schenken läßt)? Offenbar müssen sie utopische Waren kaufen — denn warum sollten sie sich sonst freiwillig verschulden? Sie sind also hilflos der Übermacht der Insulaner ausgeliefert. Morus würde antworten: die Utopier legen gar keinen Wert auf Macht- und Geldgewinn; also werden sie immer human bleiben. Aber warum in aller Welt treiben sie dann Export — wenn nicht entweder aus wirtschaftlicher Not, oder aber (gewollt oder ungewollt) zum Erwerb finanzieller und damit politischer Macht? Und ist das keine Machtpolitik, wenn man um der eigenen Sicherheit willen die Machthaber 78

fremder Völker mit Gold erkauft, zum Verrat an der eigenen Nation treibt oder untereinander entzweit? Aber es wird sich noch viel deutlicher zeigen, daß-der Dämonie der Macht durch keine noch so ehrliche Bemühung des Moralisten auszuweichen ist. Die blühende Wohlfahrt der Insel kann unter Umständen zur Übervölkerung führen (50). Dann reicht ihr Lebensraum nicht mehr aus. Man muß „auf dem nächstgelegenen Festlande überall da, wo die Eingeborenen Überfluß an Ackerland haben und die Bodenkultur brachliegt, eine Kolonie gründen". Die Eingeborenen werden hinzugezogen, wenn sie in Gemeinschaft mit den Utopiern leben wollen; sie verschmelzen dann mit ihnen zu einem Volk. „Wer sich dagegen weigert, nach ihren Gesetzen zu leben, den vertreiben sie aus den Grenzen, die sie sich selber stecken. Gegen den Widerstrebenden führen sie Krieg. Denn sie halten es für einen sehr gerechten Grund zum Kriege, wenn irgendein Volk ein Stück Boden selber nicht nützt, sondern gleichsam zwecklos und leer besetzt hält, sich aber doch weigert, die Nutzung und den Besitz anderen zu überlassen, die nach dem Willen der Natur dort ihre Nahrung ziehen sollten." Oncken hat es wahrscheinlich gemacht, daß dem Morus hier die Kämpfe um die Eroberung und Besiedlung Irlands vor Augen standen; was er empfiehlt, scheint ziemlich genau mit gewissen Vorschlägen zur irischen Politik zusammenzustimmen, die eben damals am englischen Hofe erörtert wurden. Unsere „Utopia" stünde dann am Anfang einer langen Kette von Staatsschriften, in denen der moderne englische Imperialismus, wie er in Jahrhunderten langsam erwuchs, seine theoretische Rechtfertigung fand. Neuere englische Forschungen haben gezeigt, daß der Londoner Richter persönlich an einem Kolonisationsunternehmen beteiligt war, das sein Schwager John Rasteil scchs Monate nach der Veröffentlichung der „Utopia" begonnen hat, um- eine englische Handelsstation auf der (von John Cabot erst kürzlich entdeckten) Küste von Neufundland zu begründen und den Franzosen dort ihren Handel mit Fischen, Holz, Teer und Pech abzujagen (51). Das würde dann Morus' besonderes Interesse für kolonisatorische Unternehmen erklären. Hat er in seiner „Utopia" nicht an Irland, sondern an Neufundland gedacht, so würde diese Wendung weniger stark mit Erinne79

rungen der Nachlebenden an greuelvolle Herrschaftsmethoden der Engländer belastet sein. Übrigens wird man sich hüten müssen, unseren Autor ohne weiteres als Propheten der späteren englischen Expansionspolitik über See anzusprechen: diese Wendung britischer Politik, die erst beinahe hundert Jahre später beginnt, konnte er sowenig ahnen wie seine Zeitgenossen; und mit Recht wendet sein englischer Biograph (52) hier ein, daß Morus ja nicht daran denkt, irgendein Monopol für kolonisatorische Unternehmungen Englands anzumelden, sondö'rn allen europäischen Völkern empfiehlt, ihren Eroberungsdrang lieber auf unbesiedelte überseeische Räume als gegeneinander zu richten. Trotz alledem ist es höchst bemerkenswert, daß dem Engländer Morus die Eroberungspolitik jenseits des Meeres, auf „jungfräulichem Boden", auch wenn sie kriegerische Gewaltmethoden braucht, nicht nur weniger verwerflich erscheint als die Eroberungszüge kontinentalen Stils, sondern geradezu „sehr gerecht" und „von dem Willen der Natur gefordert". Ganz deutlich bemüht er sdch (wie auch andere seiner Zeitgenossen), den Ehrgeiz seines Monarchen von aussichtslosen Abenteuern auf dem Festlandc abzulenken und auf überseeische Unternehmungen hinzuweisen (was nur ganz vorübergehend 1251 gelungen ist). Instinktiv scheint er schon die Vorstellung zu teilen, die dann später in England sich allgemein durchgesetzt hat: daß die Sphäre strengen Völkerrechtes sich auf das europäische Staatensystem beschränkt, jenseits der europäischen Grenzen, in der unendlichen und unheimlichen Weite der Ozeane und ihrer neucntdeckten westlichen Randländer dagegen die „Freiheit des Meeres" beginnt, d. h. das Naturrecht der reinen Gewalt allein noch Geltung besitzt (53). Aber da ist nun charakteristisch, daß er von nackter Gewaltanwendung nicht sprechen kann, ohne sie scglcich (so würden wir sagen) „moralisch zu verbrämen". Er konstruiert ein Naturgesetz, das verlangt, unbenutzter Boden irgendwo in der Welt dürfe nicht dauernd brachliegen; die Gerechtigkeit fordere, daß er denen zuteil wird, die seiner bedürfen (oder zu bedürfen glauben). Und wer dieser gerechten Forderung widerstrebt, zieht den Krieg als gerechte Strafe auf sich herab. Damit ist bereits der Punkt bezeichnet, von dem aus be80

trachtet der innere Zusammenhang der Gedanken des Morus über die Macht am besten verständlich wird. Wir sahen, wie seine Kritik an der feudalen Gesellschaft und ihren Monarchien vom Ideal der sozialen Gerechtigkeit ausging. Nicht anders steht es mit seinem Ideal „gerechter" Außenpolitik. Für ihn, den Juristen, ist der Einsatz staatlicher Macht immer nur da moralisch gerechtfertigt, wo er als Vollstreckung eines Rechtsurteils erscheint (oder doch wahrscheinlich gemacht werden kann). Der politische Machtkampf ist immer Kampf ums Recht. Die Dämonie der Macht versteckt ihr wahres Antlitz hinter der Maske der Gerechtigkeit; die um ihre Macht kämpfenden Utopier treten nicht als Anwälte in eigener Sache," sondern als Richter auf. Von der politischen Naturlehre Machiavellis her gesehen, wird ihre Sache dadurch nicht besser, sondern schlimmer: sie erscheinen den Machiavellisten als Heuchler und Pharisäer — als Raubtiere im Fell des unschuldigen Lammes. Aber für Morus stellt sich der Sachverhalt völlig anders dar. Für ihn ist die Überzeugung von der moralischen und kulturellen Überlegenheit seines utopischen Insclvolkes über alle Nachbarn, die nicht nach gleichen freiheitlichen und gerechten Grundsätzen regiert werden, selbstverständliche Voraussetzung aller moralisch-politischen Erwägung. Sie wirkt sich zunächst darin aus, daß die Insulaner es als ihre besondere Aufgabe betrachten, andere Völker vom Joch der Sklaverei zu befreien. Aus Dankbarkeit erbitten sich die Befreiten, aber auch andere Nationen, die den bewunderten inneren Einrichtungen des Insclvolkes nacheifern möchten, von ihnen ihre Behörden: utopische Beamte, die teils alljährlich, teils alle fünf Jahre ins Ausland gehen und dort die Regierung führen. Morus ist überzeugt, daß die Fremden eine glücklichere Wahl gar nicht treffen könnten; dürfen sie doch so darauf rechnen, stets Männer von makelloser Selbstlosigkeit, Unbestechlichkeit und Gerechtigkeit zu Regenten zu erhalten. Ebenso selbstverständlich ist ihm freilich, daß diese von utopischen Beamten regierten Reiche als „Freunde" und „Bundesgenossen" stets an der Seite des Inselreichcs stehen werden. Man braucht die Reinheit seines Eifers für die missionarische Ausbreitung insularer Ideen durchaus nicht zu bezweifeln, um dennoch herauszuspüren, daß 6

Ritter, Damomo

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diese Methoden, in praktische Politik umgesetzt, vom Imperialismus moderner Weltreiche nicht mehr ztf unterscheiden sein würden (54). Statt Unterdrückung Freundschaft und Bündnis, aber in der Form wirtschaftlicher und politischer Gefolgschaft — das ist nun einmal der natürliche Weg zur Macht für einen Inselstaat, dem seine geographische Lage den Weg der kriegerischen Eroberung und Behauptung fremder Länder erschwert. Ebendiese Lage läßt es auch als unratsam erscheinen, sich durch förmliche Bündnisse in fremde Händel hineinziehen zu lassen, ohne Not feste Verpflichtungen für andere zu übernehmen. Die Utopier schließen niemals geschriebene Bündnisse, sie ziehen ihre Splendid isolation weit vor; denn sie wissen sich ja auf andere Weise gedeckt. Aber sie begründen ihre Zurückhaltung moralisch: man kennt die ständigen Wortbrüche und Rechtsverdrehungen, die das übliche System kontinentaler Bündnisse zur Folge hat (hier findet die Ironie des Morus, mit Seitenblicken auf bekannte Zeitereignisse, ein besonders dankbares F e l d ) — Utopien wird sich von solcher Korruption unbedingt fernhalten. Und ist nicht die Gemeinschaft der Menschennatur, ist nicht gegenseitiges Wohlwollen a l l e r Völker eine viel bessere Sicherung des Friedens als zweiseitige Verträge, bei denen doch nur immer der eine den anderen zu übervorteilen hofft? Haben nicht solche Bündnisse immer Gegenbündnisse zur Folge, und glauben sich nicht deshalb die Völker zu gegenseitiger Feindschaft verpflichtet, sofern sie nicht gerade ein Bündnis zur Verträglichkeit nötigt? Die Überzeugung von der eigenen moralischen Überlegenheit bestimmt schließlich auch die Kriegspolitik Utopiens. Es wäre ein Mißverständnis, den Morus für einen unbedingten Pazifisten im Stil des Erasmus zu halten. Sein utopisches Volk ist wehrhaft — in deutlichem Anklang &n das Vorbild des platonischen „Staates", aber auch, wie es scheint, an die Schilderung klassischer Autoren von der Tapferkeit unserer germanischen Vorfahren. Die utopischen Bürger würden es für schimpflich halten, sich an das Leben zu klammern, wenn die Ehre gebietet, es aufs Spiel zu setzen. Sie üben • sich ständig in den Waffen, halten eigens für die Reitausbildung der Jünglinge feurige Streitrosse, lernen bewaffnet zu schwimmen, sind Meister im Erfinden von Kriegsmaschinen, bilden sogar die S2

Frauen militärisch aus. Dringt der Krieg ins eigene Land vor, so gilt allgemeine Wehrpflicht, der sich niemand, auch der Feigling nicht, entziehen kann. Nur für Kriege jenseits der Grenzen gilt der Grundsatz freiwilliger Meldung der Staatsbürger. Ausführlich und mit sichtlichem militärischem Interesse malt sich Morus die Kampfestechnik seiner Idealbürger aus. Seine Schilderung gipfelt in einem Schlachtengemälde antiken Stils: wie die eigentliche Stärke der Front nicht vorzeitig vergeudet, sondern unter Bereithaltung von Reserven erst langsam entwickelt, dann aber zähe und bis zum Siege durchgehalten wird; wie die Frauen mit in der Front stehen, jeden Krieger seine Angehörigen umgeben, keiner den anderen im Stich läßt; wie die Priester den Kampfesmut entflammen und den göttlichen Segen auf das Heer herabflehen; wie eine Schar auserwählter Jünglinge immer von neuem in keilförmiger Ordnung gegen den feindlichen Führer anstürmt; wie schließlich jede Schlacht „in langem und verlustreichem Ringen bis zur Vernichtung durchgefochten wird". Offenbar liegt dem Morus viel daran, der herkömmlichen Kampfesweise der Feudalheere mit ihren oft so schauspielerhaften Einzelkämpfen das Bild eines echten Volkskrieges gegenüberzustellen, in dem man nur um ernsthafte Entscheidungen ringt (55). Aus diesen Schilderungen spricht ein Geist antikisch-hcroischer Entschlossenheit zu uns, der in der Radikalität seiner Volksbewaffnungspläne den Machiavelli noch übertrifft. Aber in seltsamem Gegensatz dazu steht nun das verquälte Bemühen des Autors, auch die Kriegführung, diese urtümlichvitalste Äußerung staatlichen Machtwillens, in ein rationales System politischer Humanität hineinzupressen. Es ist natürlich und vernünftig, daß er seine Häufigkeit zu beschränken, seine Leidenschaften und Schrecken zu mildern, die Herrschaft ruhiger Staatsräson auch in Kriegszeiten möglichst zu sichern sucht. Aber er begnügt sich damit nicht. Er kann den Krieg nicht anders denn als Werkzeug strafender Gerechtigkeit verstehen — ihn unbefangen als naturhaftes Ringen gegensätzlicher Kräfte anerkennen, hieße zugeben, daß menschliche Vernunft und Moral außerstande sind, das brodelnde Chaos irdischer Leidenschaften zu wirklich harmonischer Ordnung zu fügen; es hieße zugleich: die Utopicr, dieses Vernunftvolk x«// 6*

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¿'§oxrtv, grundsätzlich auf eine Stufe mit seinen Gegnern stellen. Diese Idealmenschen verabscheuen also, trotz ihres militärischen Eifers und ihrer unbedingten Bereitschaft zur Verteidigung des vaterländischen Bodens, den Krieg aufs höchste als etwas Bestialisches und halten kriegerische Ruhmsucht nicht f ü r menschenwürdig. Immerhin erkennen - sie (abweichend von Erasmus) in gewissen Fällen den Krieg a k gerecht und notwendig an. Zunächst den Verteidigungskrieg zum Schutz des eigenen Bodens, den sie aber grundsätzlich als Präventivkrieg jenseits der Landesgrenzen und immer nur mit eigenen Kräften führen. Sodann den Hilfsktieg für ihre Freunde, die bedroht sind, den Kolonialkrieg gegen Eingeborene, die sich gegen die fremde Herrschaft sträuben, und den Befreiungskrieg, den sie für solche Völker unternehmen, die von Tyrannei oder Sklaverei bedrückt sind — ihnen helfen sie „allein aus Menschenliebe", erwarten aber natürlich dafür Dankbarkeit und die praktische Betätigung von „Freundschaft" in der schon erörterten Weise. Außerdem führen sie auch Rachekriege für ihre „Freunde", wenn sie vorher um Rat gefragt sind, und den Kriegsgrund gebilligt haben, besonders in solchen Fällen, in denen die Handelsinteressen der Verbündeten schwer geschädigt worden sind; dann scheuen sie auch großes Blutvergießen nicht, um den Triumph oder gar die Herrschaft ihrer „Freunde" über andere Völker zu sichern. Selbsterlittene Kränkung rächen sie weniger schwer, falls es dabei bloß um Hab und Gut, nicht um Leib und Leben utopische^ Staatsbürger ging. Im ersten Fall begnügen sie sich mit wirtschaftlichen Sanktionen, wie Abbruch des Handelsverkehrs; im zweiten verlangen sie sofortige Auslieferung der Schuldigen (wer das ist, wird durch ihre eigenen Gesandten festgestellt) und bestrafen diese mit Tod oder Sklaverei. Im Fall der Widersetzlichkeit erklären sie „auf der Spelle" den Krieg. Man sieht sogleich, daß diese Liste berechtigter Kriegsursachen erheblich über die (meistens ziemlich primitiven) Lehren der spätmittelaltcrlichcn Theologen vom •,,gerechten" Krieg hinausgeht. Offensichtlich ist Morus bemüht, dem verschärften Nationalstolz der modernen Völker entgegenzukommen, zugleich aber die ritterlichen und dynastischen Ehrbegriffe feudaler 81

Herrscher durch eine mehr bürgerlich-rationale Auffassung zu verdrängen: bürgerliche Handelsinteressen und die Ehre und Rechte jedes einzelnen Volksgenossen im Ausland sollen dem Staat ebenso wichtig oder vielmehr wichtiger sein als dynastischer Ehrgeiz, für den in diesem System überhaupt keine Stelle mehr bleibt. Aber was ist damit mehr erreicht, als daß nun das Machtinteresse und^ der Geltungsdrang ganzer Völker an die Stelle der Hausmachtinteressen fürstlicher Familien rückt? Kann man zweifeln, daß aüch hier wieder dem imperialistischen Machtdrang des utopischen Inselvolkes — bewußt oder unbewußt — Tor und Tür geöffnet wird? Fragwürdiger ist noch der Versuch, die Methoden des Krieges durch Rationalisierung humaner zu gestalten. Es kommt nicht so sehr darauf an, das Blutvergießen überhaupt nach Möglichkeit einzuschränken, als vor allem das kostbare Blut der Bürger von Utopia, dieses hochgebildeten Edelvolkes, zu schonen. Man wird also versuchen, den Feind durch Listen und Ränke statt durch blutige Schlachten zu besiegen. Daß die Utopier nur einen solchen Sieg (als Sieg des Geistes über rohe animalische Kraft) durch Triumphzüge und Denkmäler feiern, gehört wohl zu den bewußt grotesken Zügen des Buches, die man "nicht allzu ernst nehmen darf. Aber wie erreichen sie ihr Ziel? Vor allem durch Propaganda in Feindesland. Sofort nach Kriegsausbruch versprechen sie gewaltige Belohnungen dem, der den gegnerischen Fürsten aus dem Wege räumt, weitere stattliche Preise dem-i der andere führende Politiker beseitigt, besonders solche, die als Kriegstreiber bekannt sind. Wer solche Geächtete lebend zu ihnen bringt, erhält die doppelte Prämie. Ebenso hetzen sie auch die Geächteten selber gegeneinander auf. Sic stiften so im feindlichen Lager die größte Verwirrung, gegenseitiges Mißtrauen, Verrat und Angeberei auf ailen Seiten. Ihr riesiger Goldbesitz ermöglicht es ihnen, Belohnungen von unbegrenzter Höhe, dazu reichen Landbesitz an sicherem Ort, in befreundeten, neutralen Ländern, den Verrätern zu versprechen. Morus fühlt selbst, daß ihn hier der hitzige Eifer, eine,,humane'-™ d. h. Menschenblut ersparende Methode der Kriegführung zu ersinnen, zu moralisch höchst bedenklichen Folgerungen getrieben hat. Er erwartet den Widerspruch aller ritterlich Emp85

findenden — hat er ihn etwa mit bewußter, grotesker Übertreibung herausgefordert? Aber er pocht auf seine humanen Beweggründe: besser der Tod weniger einzelner als das Menschenschlachten ganzer Heere! Ja, er steigert sich in beinahe trotzigem Eigensinn zu noch größeren Gewagtheiten hinauf: schließlich erscheint jedes Mittel ,,machiavellistischer" Verschlagenheit recht, das geeignet sein mag, den Krieg auf möglichst billige Weise zu gewinnen. Helfen Bestechungen nichts, so erregen dieUtopier Thronwirren oder Parteiungen im Feindesland; sie stacheln die Nachbarn des gegnerischen Staates auf und hetzen sie in den Kampf, „indem sie irgendeinen alten Rechtsanspruch ausgraben, um den ja Könige niemals verlegen sind". Haben sie diesen Hilfe versprochen, so führen sie ihnen fortlaufend Hilfsgelder zu, aber nur sehr ungern und sparsam Hilfskräfte aus ihren eigenen Bürgern. Muß schon kriegerische Hilfe geleistet werden, so mietet man „überall in der Welt Söldner" und schickt sie an die Front; dazu eignet sich vor allem das rohe Bergvolk der Zapoleten (dabei ist offenbar an die schweizerischen Reisläufer gedacht) — gesinnungslose Mordknechte, um die es nicht schade ist. Diese setzt man immer an den gefährlichsten Stellen ein; je mehr davon umkommen, um so besser ist es. Man spart dadurch Soldzahlungen und befreit obendrein „den Erdball von diesem Abschaum der Menschheit" (dem schon längst die moralische Entrüstung des Morus galt). Neben diesen Söldlingen verwenden sie die Truppen der Nation, für die gekämpft wird, und ihrer anderen Freunde — erst an letzter Stelle utopisches Kricgsvolk. Denn dieser Einsatz ist so kostbar, daß er nur im äußersten Notfall verantwortet werden kann. Wie sollte man auch die hochgebildeten Bürger Utopiens der Gefahr aussetzen, bei jeder möglichen Gelegenheit sich herumschlagen zu müssen mit der verruchten, geistig minderwertigen Soldateska, mit der die Festlandstaaten ihre Kriege zu führen pflegen! Sic stehen auf einer anderen, höheren Ebene, und wenn sie schon zu Felde ziehen müssen, so vertreten sie die Sache einer höheren Gerechtigkeit. Ihr Feldzug ist ein Strafakt am Feinde. Dem entspricht es, daß die Eroberung feindlicher Städte mit Versklavung der Verteidiger, Erwürgen der „Rädelsführer", die schuld sind an Verzögerung der Übergabe, und Belohnung der Bürger endet, die zur Kapitu86

lation geraten haben. Kriegsgefangene werden überhaupt immer unter die Sklaven und Verbrecher gesteckt, die Zwangsarbeit in Utopien leisten müssen — freilich immer noch ein besseres Los, als es die Kriegführung der Renaissance mit ihren grausigen Metzeleien gefangener Gegner sonst kannte. Schließlich zahlt der Besiegte als Strafe auch einen Stattlichen Tribut, und erfolgreiche Kriege haben seit langem die Utopier zu einem der reichsten Völker gemacht, das aus vielen Nationen seine Abgaben und Einkünfte aus Landgütern bezieht. Damit rundet sich das Bild utopischer Machtpolitik im Frieden und im Krieg. Um der Ansicht seines Urhebers gerecht zu werden, muß man sich fast gewaltsam daran erinnern, daß er von einem erträumten Idealvolk und nicht unmittelbar von England spricht: es ist nicht der Dünkel eines modernen Nationalisten, sondern die altväterische Starrheit eines echten Moralisten, was ihn gegen die Nichtutopier so unbillig und unrittevlich werden läßt (56). Er sieht einfach nicht, daß in der geschichtlichen Wirklichkeit nur sehr selten das Recht ganz eindeutig auf einer Seite liegt — auch nicht im Kampf des Kulturmenschen gegen die Barbaren. Vielleicht versteht man ihn leichter, wenn man die Kriege der Utopier ganz wörtlich so auffaßt, wie sie zunächst sicherlich gemeint sind: als Kämpfe eines hochzivilisierten („weißen") Volkes gegen Halb- oder Ganzwilde in fremden Erdteilen. Nur daß Morus ganz und gar nicht an Wertunterschiede der Rassen, sondern ausschließlich an solche der Bildungshöhe und moralischen Vollkommenheit denkt. Der heutige Europäer, der eine lange Kolonialgeschichte hinter sich hat und dessen politisches Denken (leider) mehr zu biologischer als zu moralischer Betrachtung neigt, wird wahrscheinlich ohne viel Zögern bereit sein, die Anwendung der „utopischen" Karnpfmethoden gegen „rassisch minderwertige" Völker von niederer Kulturstufe (etwa in Zentralafrika) gutzuheißen; warum empfindet er es dann als Überheblichkeit,'wenn die Utopier das barbarische Wesen ihrer Nachbarn verachten und sich weigern, sie als ebenbürtig zu behandeln? Vor allem wohl deshalb, weil immerfort die Gleichsetzung Englands mit Utopien und der europäischen Kulturnationcn mit den Nachbarvölkern der Utopier sich aufdrängt. Und sofern Morus diese Gleichsetzung selbst herausfordert, ist er auch schuld daran, S7

wenn er nicht als reiner und abstrakter Moralist, sondern als moderner Nationalist von großer Selbstüberhebung verstanden wird. Dazu kommt noch ein Zweites. Machiavelli hatte klar gesehen, daß dämonische, d. h. über alle moralischen Rücksichten sich hinwegsetzende Machttriebe nicht nur in den großen Gewaltmenschen, sondern ganz ebenso in den Völkern lebendig sind und nur durch Demagogen geweckt zu werden brauchen, um fessellos hervorzubrechen. Die Tyrannenlehre des Mittelalters und des Erasmus wußte davon noch nichts; die Ideale christlichen Regiments wurden ausschließlich den Herrschern gepredigt; unmittelbar an ihr Gewissen, ihr menschliches Empfinden richtete sich der Friedensappell. In dieser Vorstellungswelt bleibt auch Morus befangen, und sie hat noch durch Jahrhunderte (wie wir sehen werden) in ganz Europa fortgewirkt. Daß kriegerischer Ehrgeiz und Eroberungssucht ein ewig wiederkehrendes Laster tyrannischer Herrscher sei, steht ihm (und dem Erasmus) ebenso fest wie die friedliche, verträgliche Natur freier Völker. Das ist ein fester Glaubenssatz mittelalterlichhumanistischer Tyrannenlehre, und er wird später (wie noch zu zeigen ist) eines der wirksamsten Propagandamittel englischliberaler Politik werden. Weil also die Utopier unter freier Verfassung leben, glaubt Morus ganz sicher zu sein, daß sie auch in ihrer Außenpolitik stets der Moral und der Vernunft folgen werden. Hier eröffnet sich der Ausblick auf eine ideengeschichtlichc Entwicklung, an deren Ende die Nation, das im Staat geeinte Volk, zu einem so hohen sittlichen Wert aufsteigen wird, daß jeglicher Machtgebrauch dadurch gerechtfertigt erscheint, wenn er nur in ihrem Namen erfolgt. Der Wille und das Machtinteresse der frei geeinten Nation werden jeden Makel dämonisch-machiavellistischen Machtgebrauches zu dcckcn vermögen. Vom Endziel dieser Entwicklung ist Morus freilich noch sehr weit entfernt; aber auch der friedliche Wohlfahrtsstaat der Utopier erweist sich bei näherer Betrachtung als ein echter Macht- und Herrschaftsstaat; in seiner Außenpolitik kehren alle Züge jener Dämonie wieder, die unser Humanist in ehrlichem Bemühen versucht hatte, durch eine vernunftgemäße Staats- und Sozialordnung zu bannen. Wenn diesmal auch der 88

Dämon sein Gorgonenhaupt unter einem dichten Schleier moralischer Ideologien verbirgt: anmutiger wird das Antlitz dadurch nicht. Und wer den Schleier lüftet, wird davor gewiß nicht weniger tief erschrecken als vor dem Anblick jenes harten, aber männlich klaren und aufrichtigen Bildes politischer Wirklichkeit, das Machiavelli uns vor Augen stellt.

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IV GESCHICHTLICHE DES

AUSWIRKUNG

PEGENSATZES

Was ist das allgemeine Ergebnis unserer vergleichend-historischen Betrachtung? Es gibt für den nachmittelalterlichen Menschen, der um die geheime Dämonie der Macht weiß, zwei Grundformen möglichen Verhaltens: entweder er erkennt sie mehr oder weniger offen an, er bejaht den unaufhebbar naturhaften Charakter des echten politischen Kampfes — und ist dann immer in Gefahr, auf der Stufe des rein Tierhaften, des „Löwen" und Fuchses" steckenzubleiben. Das ist der Typus des reinen „Machiavellisten". Oder aber: er verhüllt sich dem Anblick dieser oft schauerlichen Wirklichkeit durch Illusionen, indem er versucht, das rein vitale Aufeinanderstoßen gegensätzlicher Machtinteressen in einen Rechtsprozeß umzudeuten, die kämpfenden Gewalten moralisch gegeneinander abzuwerten — wobei er nur allzu leicht zum Pharisäer wird. So bildet sich der Typus des „Utopisten" und „Moralisten" (wie wir ihn der Kürze halber mit einem freilich nicht ganz eindeutigen Namen bezeichnen wollen) — eben jener Typus, den wir in Erasmus und Morus kennenlernten. Die Tugend des Machiavellisten ist der heroische Kampfeswille, der keiner Gefahr ausweicht und oft auch da noch das Schicksal meistert, wo alles verloren scheint. Anderseits verbindet sich mit der schwärmerischen Ideologie des Moralisten häufig (so auch bei Th. Morus) ein ehrliches Streben nach Ethisierung und Entdämonisierung der Macht, ein unermüdliches, durch keine Enttäuschung zu lähmendes Kämpfen f ü r die Humanität, das auch nicht ohne geschichtliche Verdienste ist: ohne solche Bemühung hätte es nie ein modernes Völkerrecht, nie eine Überwindung mittel90

alterlicher Barbarei in der Strafjustiz, wohl auch nie eine ernsthafte Reform sozialer Ungerechtigkeiten und Mißstände gegeben. Wirklich fruchtbar und von Dauer ist das freilich alles nur, wenn es mit klarer Einsicht in die politische Wirklichkeit, wie Machiavelli sie kennen lehrt, sich verbindet. Nur da, wo man illusionslos in die Abgründe dämonischer Kräfte zu blicken vermag, in die jeder echte Machtkampf den Handelnden verstrickt, selber ergriffen von starker Leidenschaft, und dennoch alles aufbietet, den zerstörerischen Kräften Schranken zu setzen, das Menschliche vom Dämonischen nicht überwältigen zu lassen, Vernunft, Recht und Sittlichkeit mitten im Sturm der Leidenschaften zu Gehör zu bringen — nur da wird die höchste Stufe echter Staatsmannschaft erreicht. Aber eine so bewußt paradoxe Haltung gelingt nur selten — schon deshalb, weil nichts schwerer ist, als ohne Illusionen kämpfen. So treten Machiavellismus und Moralismus doch immer wieder als die beiden Haupttypen politischen Denkens hervor: nicht ausschließend natürlich, kaum irgendwo in reiner, extremer Form, aber doch in einer grundsätzlichen Richtungsverschiedenheit, die sich auch in gewissen praktischen Auswirkungen auf die Politik der modernen Staatenwelt verfolgen läßt. Dabei lag es in der Natur der Dinge begründet, daß die humanitäre Richtung (im Sinn des Erasmus und Morus) vorwiegend in denjenigen Ländern ihren Nährboden fand, die sich nach Möglichkeit abseits von dem Getümmel der großen nationalen Machtkämpfe zu halten wünschten. Von der Nachwirkung erasmischer Ideen in der Zwischenzone zwischen deutschem und gallischem Volkstum, in den niederländischen und schweizerischen Freistaaten, war schon die Rede. Diese ehemals reichsdeutschen Gebiete waren seit ihrem Ausscheiden aus dem Reichsverband gewissermaßen zu Nebenräumen der großen Politik geworden und bemühten sich um eine gesicherte Neutralität auf dem Festland. Dieses Endziel ihrer Freiheitskämpfe wurde von den Niederlanden freilich erst am Ende eines achtjährigen Ringens mit der habsburgischen Weltmacht und auch dann noch lange nicht vollkommen erreicht.- Aber je mehr sich diese Republik zu einem See- und Kolonialstaat entwickelte, der seine eigentlichen Machtziele jenseits der Meere suchte, um so mehr näherte er sich in seiner Grundhaltung dem Typus 91

insularer Politik, wie ihn England im Konzert der europäischen Mächte führend vertrat und deren entscheidende Grundzüge wir schon von Morus her kennen. Hugo Grotius, der Begründer des modernen Völkerrechts, war zugleich und vor allem Anwalt des Anspruchs der niederländischen Staaten auf freien Zugang ihres Handels zu allen. überseeischen Kolonien. Und seine B e mühung, das ewige Ringen der großen Festlandmächte um kriegerische Entscheidungen durch eine Politik friedlicher Verständigung zu ersetzen, war niederländisch und erasmisch zugleich. Noch viel deutlicher und unmittelbarer indessen läßt sich der Zusammenhang zwischen Erasmus-Morus und der englischen Machtpolitik der neueren Jahrhunderte aufweisen. Die Onckensche Deutung der „ U t o p i a " als „Programmschrift eines Mannes, der jeden Tag englischer Minister werden k a n n " , ist weit überspitzt, weil politischer Ehrgeiz der Natur des .zartsinnigen Humanisten doch wohl fernlag. Aber gerade wenn wir seine Schrift als reines, von Nebenabsichten gänzlich freies Produkt moralisch-politischen Nachsinnens auffassen, wird um so deutlicher, wie anders sich doch die Welt großer Politik vom Boden der englischen Insel als vom Boden des Festlandes gesehen ausnimmt. D e r nüchterne Moralismus, mit dem Morus die Ruhm- und Ehrbegriffe des feudalen Kämpfertums kritisierte — aus einem durchaus bürgerlichen Empfinden heraus — , hat sich später, mit dem Auftreten des Puritanertums, nur noch gesteigert. Und das moralische Selbstbewußtsein, mit dem die Utopier sich über ihre festländischen Nachbarn erheben, mit dem sie es ablehnen, andere Völker im Kriege als gleichwertige Gegner zu behandeln, Verbündete oder festländische Söldlinge im Kampf vorschickcn, um das kostbare eigene Blut zu schonen — das alles nimmt sich bereits wie eine Vorwegnahme späterer englischer Ideologien aus: von dem Erwähltsein des angelsächsischen Inselvolkes, von seiner Kulturmission als Vorkämpfer der Freiheit und Zivilisation in aller Welt. Wir Deutschen haben uns seit dem ersten Weltkrieg allzusehr daran gewöhnt, solche Stimmen mit dem Puritanertum der Zeit Cromwells in Verbindung zu bringen und insbesondere ihr (häufig spürbares) halbtheologisches Pathos von daher zu verstehen (1). Sicherlich hat das Puritanertum (von dem noch zu reden sein wird) das Selbstbewußtsein und die politischen 92

Ideale der Engländer in sehr eigentümlicher Weise versteift und gefärbt; aber ihr moralisch-religiöses Sendungsbewußtsein selbst ist viel älteren Ursprungs, wie uns die Erscheinung des Morus zeigt. Sie führt uns auch über die nationalistische Redensart vom angeblich angeborenen „Hochmut" des englischen Nationalcharakters - (2) hinaus und weist uns auf die natürlichen Gegebenheiten der englischen Lage hin, die alles viel einleuchtender erklären. Wir wollen uns bemühen, davon ohne jedes nationale Vorurteil zu reden. Der Humanist Morus hat seine „Utopia" wohl auch als Engländer, aber in erster Linie doch als christlicher Humanist, als Mitglied einer abendländischen Völkergemeinsphaft schreiben wollen. Seine politische Haltung erschien uns schon aus dem Zusammenhang seiner halb christlichen, halb rationalen Moralbegriffe verständlich: als eine Verkennung der kämpferischen Wesenszüge aller Politik, wie sie dem Moralisten erasmischer Färbung naheliegt. Aber daß nun die Neigung zu solcher Einseitigkeit, zum Umdeuten des Machtkampfes in einen Rechtsprozeß, in der englischen Politik gleichsam erblich werden konnte, das hängt sicherlich mit dem insularen Standpunkt englischer Weltbetrachtung zusammen. Wer sich in der Lage befindet, den meisten großen Machtkämpfen nur von außen zuschauen zu können, allenfalls als Schiedsrichter (oder auch als tertius gaudens) d a n n aufzutreten, der wird nicht leicht in das innere Verständnis ihrer Gegensätzlichkeiten eindringen. Weil er den Zwang des Kämpfenmüssens nicht ständig am eigenen Leibe verspürt, wird er in seiner gesicherten Neutralität zur moralischen Selbstüberhebung neigen — dies um so meHr, wenn er seine Kräfte statt für den Krieg für die innere Landeswohlfahrt aufwenden kann. Wer dagegen die eigenen Macht- und Lebensansprüche immer wieder mit denen des Nächbarn zusammenstoßen «sieht, dem ist auch die unausweichliche Drangsal des echten politischen Lebenskampfes stets gegenwärtig, und er wird darum eher geneigt sein, mit der moralischen Beurteilung zurückzuhalten. Anderseits bedarf es jedesmal eines gesteigerten Aufwandes moralischer Entrüstung, sobald es gilt, das Inselvolk aus seiner gesicherten Isolierung in Kämpfe hineinzutreiben, die sich als machtpolitisch notwendig erweisen — schon deshalb, weil die öffentliche Mei93

iiung in diesem freien Volke politisch viel mehr bedeutet als in "den Monarchien des Festlandes. Aber die englischen Regierungen waren zunächst in der glücklichen Lage, nur selten einen unmittelbaren Zwang zu kriegerischem Eingreifen in die Festlandshändel zu verspüren. Wie lange hat sich sogar auf dem Höhepunkt konfessioneller Kämpfe in Westeuropa die Königin Elisabeth sträuben können, der spanischen Weltmacht und der katholischen Reaktion offen den Krieg anzusagen! Und welche Stürme moralischer, religiöser und patriotischer Erregung kamen ihr zu Hilfe, als schließlich die große Armada Philipps II. ihrerseits den Angriff wagte! Unter ihren nächsten Nachfolgern konnte die englische Politik sich noch stärker von den Festlandshändeln zurückhalten und statt dessen alle überschüssigen Kräfte der Nation an die Begründung von überseeischen Kolonien setzen —• ganz wie es Morus empfohlen hatte. Das Machtmittel zur Behauptung dieses Besitzes, die Flotte, lag gleichsam nur am Rande des englischen Lebens: ein Kampfmittel, dessen Vorhandensein sich nicht jedermann täglich aufdrängt, dessen Einsatz sich nicht vor aller Augen abspielt, dessen innere Struktur (halb Kriegs-, halb Handelsflotte!) dem seefahrenden Kaufmann unmittelbar verständlich, dessen wirtschaftliche Nützlichkeit, ja Unentbehrlichkeit ihm sehr spürbar ist, dessen Aufbau und Unterhaltung das innere Staatsleben entfernt nicht so tiefgehend beeinflußt wie jene stehenden Landheere, zu deren Unterhalt die Verwaltung dpr großen festländischen Militärmonarchien völlig neugestaltet werden mußte. Ein altes Lied der Tudorzeit läßt erkennen, wie klar man sich dieses Unterschiedes in England bewußt war: Was kümmert uns der rohe Soldat — Er ruiniert nur das Land! Da loben wir unser, Matrosenvolk, Das ist der erhaltende Stand. Das Insclreich konnte ohne stehendes Landheer und damit ohne den festländischen „Militarismus" noch lange auskommen; die Episode der Cromwellschen Militärdiktatur hat die Abneigung des freiheitlicbenden Engländers dagegen noch verschärft. Daran änderte sich auch nicht viel, als England seit dem holländischen Seekrieg und den Kämpfen wider die 94

französische Hegemonie machtpolitisch immer stärker über seine Grenzen hinausgriff: die indirekten Herrschaftsmethoden des Finanz- und Handelskapitalismus, das SYStem der Subsidienzahlungen an festländische Bundesgenossen, im äußersten Notfall die Anwerbung von Söldnern genügten vollauf, und so blieb den Insulanern immer das Gefühl erhalten, einem weit friedliebenderen Staate anzugehören als die vom kriegerischen Absolutismus unterjochten Völker des Festlandes. Dies um so mehr, als sie die unaufhaltsame Expansion ihres überseeischen Besitzes im Lichte einer angelsächsischen Wehmission (für die Ausbreitung christlich-abendländischer Kultur) zu betrachten sich gewöhnten und die teilweise mehr kaufmännischen als kriegerischen Methoden ihrer Kolonialpolitik, besonders die friedliche Besiedelung des nordamerikanischen Erdteiles, in selbstgefälligen Gegensatz stellten zu der gewaltsamen und grausamen Eroberung Mexiko-Perus durch die Spanier, wobei sie die freiheitliche Verfassung ihrer nordamerikanischen Kolonialstaaten rühmend verglichen mit dem bürokratischen und staatsmonopolistischen System der spanisch-portugiesischen Kronkolonien. So wurden auch die großen überseeischen Machtkämpfe des 18. Jahrhunderts ideologisch verklärt. Auf dem europäischen Festland trat England seit Wilhelm III. immer wieder in der Rolle des Vorkämpfers für die Freiheit kontinentaler Staaten gegen drohende Übermacht großer Militärdespoten auf: zuerst gegen Ludwig XIV., dann für das kleine Preußen gegen die übermächtige russisch-habsburgisch-französische Koalition, später gegen die Eroberungsgelüste der Jakobiner und gegen Napoleon. Die raubartigen Überfälle Bonapartes, dieses neuen, welterobernden Casars, auf seine festländischen Nachbarn haben das englische Volk zu höchster moralischer Entrüstung entflammt. Die Zähigkeit seines Widerstandes dagegen durch lange Jahrzehnte ließ die Engländer in den Augen der unterdrückten festländischen Nationen nicht ohne Grund in der Gloriole der Vorkämpfer für Recht und Freiheit erscheinen. Die Tatsache, daß sie sich an den Kämpfen des Festlandes doch nur in beschränktem Umfang unmittelbar beteiligt, in der Hauptsache aber ihr Kolonialreich, ihre See- und Handelsherrschaft gewaltig verstärkt hatten, trat hinter dem euro95

päischen Enderfolg stark zurück. Die Befreiung tyrannisierter Völker betrachtete auch die englische Politik der Restaurationsepoche, unter den Russell und Palmerston, als ihre besondere Mission — auch jetzt natürlich nicht, ohne ihren nationalen Vorteil zu wahren. Aber die äußere .Saturiertheit des Weltreiches ließ europäische Machtkämpfe zu dessen weiterer Ausdehnung nunmehr als unerwünscht und unnötig erscheinen. Die Vorstellung bildete sich heraus, daß die Welt im ganzen und großen befriedigend verteilt sei, besonders auf dem europäischen FestlancT, wo ja der Wiener Kongreß 1814/15 ein wohlabgewogenes Gleichgewicht der Kräfte hergestellt hatte; was hier noch an Gegensätzlichkeit der Interessen weiterbestünde oder neu auftauchen sollte, müsse sich grundsätzlich durch friedliche Verständigung (am besten unter Beteiligung aller europäischen Hauptstaaten) statt durch Machtkampf bereinigen lassen. Nicht überall war das freilich möglich, am wenigsten in dem ewig unruhigen, von der Wiener Friedensakte kaum berührten Südosten; hier hat denn auch die englische Macht mehrmals kriegerisch eingegriffen, sei es zugunsten der freiheitsdurstigen Balkanvölker, sei es zur Eindämmung des russischen Ehrgeizes. Im übrigen wünschte man kriegerische Zusammenstöße möglichst auf die Kolonialgebiete jenseits des Meeres (die alte Sphäre jenseits des europäischen Vökerrechts) zu beschränken. Und auch da wuchs den Briten das weitaus meiste wie von selber zu — zum Teil aus wirtschaftlichen Unternehmungen, die mehr auf private als auf staatliche Initiative zurückgingen, sich aber glcichwohl auch politisch sehr reich verzinsten. Nur selten bedurfte es noch (wie etwa in China) blutiger Gewalt. Im allgemeinen war der herrschende Liberalismus des 19. Jahrhunderts von imperialistischer Eroberungssucht so weit entfernt, daß er ohne allzuviel Widerstreben die Zügel der Kolonialherrschaft, wo ihre Handhabung unbequem wurde, zu lockern bereit war, ja sogar die Preisgabe des ganzen Kolonialreiches diskutierte. Es hat Zeiten gegeben — unter Gladstone —, wo die christlich-humanitäre Scheu vor kriegerischer 'Gewaltanwendung allen Ernstes f ü r den Kolonialbesitz dieses Reiches gefährlich wurde. Sie reizte die Rivalen, aber auch die Unterworfenen, zur Ausnützung ihrer offenbaren Schwäche (3). 56

Eben damals ist die Gegensätzlichkeit zwischen den Methoden kontinentaler und insularer Politik auf einen ersten Höhepunkt gestiegen. Einem , Gladstone trat Bismarck gegenüber — dem christlich-humanitären Liberalen von -der Art des Morus ein christlich-konservativer Monarchist festländischen, preußischen Stils (4). Den Gegensatz ihrer politischen Methoden hat Bismarcks Sohn, Graf Herbert, einmal- sehr treffend einem englischen Publizisten gegenüber bezeichnet. „England", sagte er, „könne noch am ersten Fehler begehen; bei seiner insularen Lage sei es den Folgen derselben nicht so unmittelbar ausgesetzt wie eine der Kontinentalmächte, vor allem wir. Die deutsche Regierung habe ein feines Ohr und sei gewohnt, auch halbe Worte zu verstehen und ihre Entschließungen rasch zu fassen." Man sieht, was dem festländischen Diplomaten als „Fehler", als Schwäche erscheint: die traditionelle" Schwerfälligkeit, Langsamkeit, Halbheit englischer außenpolitischer Entschließungen. Sie läßt sich in der diplomatischen Geschichte der neueren Jahrhunderte immer wieder verfolgen. Ihre Ursachen im einzelnen sind deutlich zu erkennen: die vprnehme Lässigkeit, mit der ein Regiment adliger Amateurpolitiker seine Geschäfte betreibt, oft gesteigert zu dem berühmten englischen „Phlegma", die Vielköpfigkeit und innere Verwicklung englischer Kabinette mit ihrem Gegeneinander von Cliquen, Parteiungen, Vetternschaften, vor allem doch: der Primat der Innen- über die Außenpolitik, die niemals entschlossen handeln kann, ehe sie nicht die öffentliche Meinung und die großen Parteien des Landes hinter sich gebracht hat. Während in den militärisch-bürokratisch organisierten Nationalstaaten des Festlandes die politische Initiative fast immer bei den Regierungen liegt, ist es auf der Insel meist umgekehrt: die Stimmungen, Wünsche, Interessen des Landes geben den Anstoß, oft den Ausschlag; die private Initiative wagemutiger einzelner, wikinghafter Unternehmer, hat insbesondere die koloniale Expansion in Gang gebracht. Was die Wohlfahrt, insbesondere der materielle Wohlstand des Landes erfordert, danach wird zuerst gefragt; dann erst: was dem englischen Namen Reputation verschafft. Genau so hatte es sich schon Morus gcdacht. Aber die Folge ist: daß unendliche Schwankunken und Verzögerungen unvermeidlich sind. Der Engländer gilt 7

Ritter,

Dämonie

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den festländischen Staatsmännern als schwerfälliger und unsicherer Bundesgenosse; man fürchtet immer, daß er zu spät kommt oder einen im entscheidenden Augenblick im Stiche läßt. Man weiß (vor allem aus den Erfahrungen des spanischen Erbfolge- und des Siebenjährigen Krieges), daß er am liebsten die Kontinentalen sich selbst überläßt, daß er niemals eher und niemals länger dabei sein wird, als die dringende Not, das eigene Interesse der Insel erfordert. Das erwirbt ihm den Ruf der Unzuverlässigkeit; es erscheint vom Standpunkt kontinentaler Politik überdies als Fehler. Die Geschichte der englischen Außenpolitik ist eine Geschichte sehr vieler verpaßter Gelegenheiten. Aber auch das liegt im Stil einer rein insularen Politik, die keine allzu großen Gefahren läuft, auch wenn sie einmal eine Gelegenheit versäumt. Ihre natürliche Stärke ist die Zähigkeit der Tradition und das Abwartenkönnen, nicht die schnelle Tat, die stete Einsatzbereitschaft. Wie der Seemann seine Segel einzieht, sobald Sturm droht, und besser Wetter abwartet, ehe er seine Fahrt fortsetzt, so der englische Staatsmann. Er arbeitet mit anderen Mitteln als der Staatsmann des Kontinents, zumal Mitteleuropas, für den alles auf raschen Entschluß, klaren Blick, schnelles Zupacken ankommt — der selten warten darf, will er den rechten Augenblick nicht versäumen, in dem er noch handeln kann. Die englische Politik kann warten; sie hält sich gern die Hände frei, bis ihre Stunde reift. Sie nimmt es in Kauf, daß ihre nüchtern rechnende, wägende, lauernde Art den Kontinentalen als schwächlich, unritterlicb, vielleicht sogar ehrlos erscheint. Ihre Ehrbegriffe sind eben andere — wie uns wiederum schon die „Utopia" des Morus zeigte. Erst in den letzten Menschenaltern haben sich die natürlichen Voraussetzungen dieser Politik verschoben. Die starke Verknappung kolonialer Expansionsräume, während gleichzeitig gefährliche Wirtschafts- und Handelskonkurrenten emporwuchsen, setzte der Lässigkeit des herkömmlichen kolonialpolitischen Betriebes ein Ende. Die ,,imperialistische" Bewegung des Jahrhundertendes forderte stärkere Aktivität der Außenpolitik, festeren Zusammenschluß des Weltreiches; sie brachte den Insulanern zum Bewußtsein, daß ihre äußere Lage längst nicht mehr so gesichert war wie früher. Die vornehm98

lässige Politik der alten Adelsregierungen wurde vorwärts gestoßen von einem neuen rücksichtslosen Geschlecht politischer Geschäftsmänner, die dem praktischen Erwerbsleben der City entstammten und die auch demagogische Kampfmethoden nicht verschmähten. Männer wie Ceci] Rhodes, der südafrikanische Großunternehmer, und Joe Chamberlain, der Kolonialminister des Jahrhundertendes, repräsentieren diesen neuartigen Typus. Der Burenkrieg war die erste Frucht dieses Geistes. Er wurde mit Kampfmethoden geführt, wie man sie in Kolonialkriegen gegen halbwilde „Eingeborene" schon lange gewöhnt war, richtete sich aber diesmal gegen ein Kulturvolk europäischen Ursprungs und erinnert in dieser Gleichstellung des weißen Gegners mit den Barbaren wiederum an die Kriegsweise Utopiens. Aber die Vorstellung, als wäre England seit dem Burenkrieg zu einer grundsätzlich neuen Methode kriegerischer Gewalt- und Eroberungspolitik übergegangen, verzerrt das wahre Bild der Dinge, ja stellt sie auf den Kopf. Das britische Empire, statt zu einem geschlossenen „Weltreich" mit zentral gesteuerter Außenpolitik und Wehrkraft zusammenzuwachsen, hat sich trotz der beiden Weltkriege und des in ihnen gemeinsam vergossenen Blutes unaufhaltsam weiter aufgelockert und stellt heute kaum noch mehr als einen losen Freundschaftsbund .selbständiger Dominien dar (für den man den Namen „Commonwealth" statt „Empire" vorzieht). Überdies ist bemerkenswert, mit welchcr Zähigkeit die englische Politik selbst auf dem Höhepunkt jenes bewußt gewordenen und offen gepredigten „Imperialismus" an ihren alten Idealen (und Ideologien) der Freiheit festhielt. Der klassische Ausdruck dafür ist die amtliche geheime Denkschrift vom 1. Januar 1907, in der Mr. Eyre Crowe, damals senior clerk des British foreign office, zum erstenmal die Grundlinien jener Politik umriß, die dann später in den Weltkrieg hineingeführt hat. Seine geographische Lage, so hieß es dort, zwingt England, die unbedingte Seeherrsebaft zur Sicherung seiner Macht zu behaupten. Eine solche Vorherrschaft auf dem Meere ist den anderen Nationen aber nur dadurch erträglich zu machen, daß England zugleich die Freiheit der Welt beschützt. Von jeher hat es darin seine Mission gesehen. „Die nationale Politik des Insel- und Seestaates muß darauf gerichtet sein, mit den allgemeinen WünT

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sehen und den der ganzen Menschheit gemeinsamen Idealen zu harmonieren, und im besonderen muß sie eng übereinstimmen mit den wichtigsten Lebensinteressen der Mehrheit der anderen Nationen, oder doch möglichst vieler von ihnen. Nun ist aber das wichtigste Interesse aller Staaten die Wahrung ihrer nationalen Unabhängigkeit. Folglich hat England mehr als irgendeine Nicht-Inselmacht ein unmittelbares und positives Interesse an der Aufrechterhaltung der Unabhängigkeit der Völker, muß also der natürliche Feind jedes Landes sein, das die Unabhängigkeit der anderen bedroht, und der natürliche Beschützer der schwächeren Gemeinwesen," Indem es diese Grundsätze befolgt, hat Großbritannien erreicht, daß die Völker der Erde lieber seine Seeherrschaft als die irgendeines anderen Staates ertragen. Gefahr für die Freiheit droht den Völkern immer nur von den großen Militärstaaten des Festlandes — eine Gefahr, die England durch Erwecken feindlicher Koalitionen, durchlSicherung also des europäischen Gleichgewichtes, zu beschwören sich bemühen muß. Da gegenwärtig Deutschland vermöge seiner physischen, militärischen und wirtschaftlichen K r a f t und durch seinen Ehrgeiz die größte Gefahr auf dem Kontinent für die Freiheit seiner Nachbarn bildet (Eyre Crowe bietet alles auf, um den unwiderstehlichen Drang Deutschlands zur Hegemonie und „Weltmacht" zu beweisen), muß England notwendigerweise Deutschlands Feind werden (5). So spitzte sich, am Ende einer langen Entwicklung, die alte Gegensätzlichkeit zwischen insularer und kontinentaler Politik zu einer erbitterten englisch-deutschen Feindschaft zu — ein höchst folgenrcichcs Ereignis, auf das wir später noch einmal zurückkommen müssen, fm ersten Weltkrieg, der am Ende dieser Entwicklung stand, schien es zeitweilig, als ob die Vorzugsstellung der Insel zu Ende wäre und als ob ihre maritime Isolierung sogar zu einer tödlichen Gefahr werden könnte; im deutschen Lager jedenfalls schmeichelte man sich mit der Hoffnung, diesen mächtigen, ungreifbaren Gegner durch eine Hungerblockade mit Hilfe neuartiger Angriffswaffen zur See, der Tauchboote, in die Knie zwingen zu können. Im zweiten Weltkrieg stand England ganz nahe vor der Invasion —• für einige Monate fast schutzlos gegenüber feindlichen Landungs100

truppen; später drohte von neuem die Hungerblockade, dazu kam der Luftkrieg, der nun wirklich die Insel zu einer Art von Kriegsgebiet machte und größere Zerstörungen anrichtete, als man sie auf der Insel jemals erlebt hatte. Was ist damals nicht alles auf deutscher Seite geredet und geschrieben worden, um das Ende der insularen Sonderstellung Englands zu verkünden — und nicht nur von Zeitungsleuten, sondern auch von gelehrten Publizisten und Historikern, oft mit großem Aufwand von Scharfsinn! Zuletzt blieb doch alles bloßes Gerede: die Invasion kam niemals zustande, die Blockade mißlang abermals, die Bedrohung aus der Luft wurde niemals tödlich. Neuartig und völlig unerwartet war freilich schon im ersten Weltkrieg die ungeheure Energie des Kämpfens, die rücksichtslose Härte, mit der diesmal der Krieg in das Leben jedes einzelnen Engländers hineingriff. Die Einführung der allgemeinen Wehrpflicht und die gewaltigen Opfer der Nation an Menschenleben und Sachwerten mit allen ihren politischen, wirtschaftlichen und sozialen Auswirkungen haben das Leben Englands gründlich umgestaltet. Aber den insularen Stil seiner Außenpolitik hat wenigstens der erste Weltkrieg noch nicht verwandelt; die sofortige totale Abrüstung nach seinem Ende war dafür symptomatisch. Was die Aufgabe einer militärischen Dauerbesetzung Deutschlands künftig daran ändern wird, bleibt abzuwarten. Darin jedenfalls sind die angelsächsischen Politiker ihrer alten Tradition treu geblieben: daß sie dem politischen Machtkampf grundsätzlich als „Moralisten" statt als „Machiavellisten" gegenüberstehen. Der Schuldspruch von Versailles und das Militärtribunal von Nürnberg werden uns in diesem Zusammenhang noch beschäftigen. Außenpolitisch betrachtet, könnten wir nach alledem den Morus fast einen Propheten nennen; dagegen stimmt sein Bild von der inneren Verfassung Utopicns weit schlechtcr zur englischen Wirklichkeit. Die feudale Gesellschaftsordnung Englands unterschied sich zwar in vielen, politisch sehr wesentlichen Zügen von der des Festlandes: ihre Aristokratie war nach unten, nach dem Bürgertum hin, nicht so starr abgegrenzt wie die deutsche Adelskaste, besaß also ein hohes Maß von Regenerationsfähigkeit und näherte sich auch in ihren Lebensformen schon früh dem patrizischen Bürgertum, zumal das 101

Heerwesen und der Offiziersberuf hier keine Rolle spielten; der englische Adel wurde auch nicht, wie der französische im Zeitalter des fürstlichen Absolutismus, ausgeschaltet aus der praktischen Mitarbeit an der Staatsverwaltung und damit zum bloßen Drohnendasein verdammt; er verfiel nicht in zuchtlose Anarchie wie der polnische und sank auch nicht in jene seltsame Zwitterstellung zwischen serviler Hof- und Staatsdienerschaft und ländlicher Herrenstellung herab wie der russische. Aber gerade die Züge harten Eigennutzes und Klassengeistes, die Morus an der Feudalgesellsehaft seines Landes zu tadeln hatte, sind ihr jahrhundertelang geblieben, und niemand könnte behaupten, daß seine Ideale einer klassenlosen Gesellschaft ohne Privateigentum oder eines politischen Vorrangs der literarisch Gebildeten irgendwelchen Widerhall im Lande gefunden hätten. Nicht einmal die Errichtung strenger Rechtsschranken zur Eindämmung der Tyrannei und Sicherung der inneren Freiheit vor fürstlicher Willkür — die dringendste seiner Forderungen! — hat er selbst oder sein Jahrhundert erlebt. Im Gegenteil: der launenhafte dynastische Ehrgeiz der Tudors, den er so scharf kritisierte, hat ihn selbst als eines der ersten Opfer vernichtet. Heinrich VIII., auf dessen Regierung er große Hoffnungen gesetzt hatte, erwies sich als einer der brutalsten Tyrannen, welche die neuere Geschichte kennt, und selten hat die Verkoppelung echter Staatsräson mit schamloser Selbstsucht solche»Orgien gefeiert wie an seinem Hofe. Er vergewaltigte die Gewissen seiner Untertanen in einer beständig wechselnden Religionspolitik so lange, bis niemand mehr geheuchelte von echter Überzeugung, Religion von Politik zu unterscheiden vermochte. Aber er verstand es gleichzeitig, durch Aufruf aller Instinkte niederer Selbstsucht den politisch führenden Teil der Nation im Kampf um den "Besitz und die Freiheit der anglikanischen Kirche auf seine Seite zu bringen. Und auf dem einmal eingeschlagenen Wege harten obrigkeitlichen Zwangs ohne Schonung der Gewissen mußten Heinrichs nächste Nachfolger wohl oder übel fortfahren — zum Unglück Englands abwechselnd erst in der protestantischen, dann wieder in der katholischen Richtung. Erst das entschieden weltliche, religiös ziemlich indifferente Regiment Elisabeths versuchte (wenigstens anfangs) so etwas wie Toleranz im uto102

pischen Stil — wie denn , überhaupt die Regierung dieser Königin den Idealen des utopischen Wohlfahrtsstaates wohl von allen Tudors noch am nächsten kam. Der Ehrgeiz dieser Frau ging nicht auf Schlachtenruhm und Glanz der Waffen, nicht auf die Mehrung fürstlicher Hausmacht und ein furchterregendes Ansehen unter den Dynastien Europas aus, sondern ausschließlich auf die Sicherung nationaler Unabhängigkeit ihres Inselreiches, und sie suchte diese nicht durch Krieg, sondern durch Verlockung fremder Höfe zu Freundschaften und Bündnissen zu erreichen. Im Innern suchte ihr Absolutismus weniger zu schrecken als zu versöhnen, weniger Furcht zu erregen als die Liebe der Untertanen zu gewinnen, deren Wohlstand weniger auszubeuten als durch eine eifrig betriebene Wirtschaftsfürsorge zu fördern — ebendarum ist sie bis heute die populärste, am meisten als „englisch" empfundene Herrschergestalt ihres Volkes geblieben. Und ohne Zweifel verkörpert sie sowohl gegenüber dem Feudalismus des Mittelalters wie gegenüber dem kriegerischen Absolutismus der Festlandsstaaten einen neuen, eigenartigen Typus moderner Monarchie. Dennoch entging auch ihr Regiment zuletzt nicht dem Schicksal, als tyrannisch empfunden zu werden, vor allem deshalb, weil sie auf die Dauer weder dem fanatischen religiösen Eifer der Puritaner noch den gesteigerten Geltungsansprüchen ihrer selbstbewußten Stände genug tat. Immer leidenschaftlicher hat sich das religiöse Gewissen der englischen Nation aufgelehnt gegen das von Heinrich VIII. begründete Staatskirchenregiment. Es versank zuletzt im Strudel der großen Revolution, und mit ihm die alte Machtstellung der englischen Könige. Was über sie triumphierte, war ein radikales religiöses Schwärmertum, das sich zwar nur kurze Zeit an der Macht hat behaupten können, das aber gleichwohl für unseren Zusammenhang höchst bedeutsame Spuren im politischen Denken Englands hinterlassen hat. Denn es hat das moralischreligiöse Sendungsbewußtsein der Insulaner, das wir schon bei Morus fanden, in einer ganz bestimmten Richtung fortgebildet. Man macht sich das am besten am Gegensatz der englischpuritanischen Staatsauffassung zur politischen Vorstellungswelt des deutschen Luthertums klar. Luther verzichtet durchaus nicht grundsätzlich darauf, die 103

Welt mit Hilfe christlicher Prinzipien sittlich vernünftig zu gestalten (wir werden davon noch hören). Aber er denkt äußerst nüchtern über die sittliche Fähigkeit des Menschen, ein wahrhaft ideales „christliches Staatswesen", eine Gemeinschaftsordnung zwischen den Individuen und zwischen den Staaten und Völkern aufzurichten, in der Kampf, Haß, Ehrgeiz und Gewalt keine Rolle mehr spielen können. Den Glauben englisch-an^erikanischer Pazifisten, durch eine League- to enforce peace den Krieg aus der Welt zu schaffen, würde er für bloße Schwärmerei halten. Das Reich Gottes, die ideale Liebesgemeinschaft der Jünger Christi, ist nicht von dieser Welt. Keine bestimmte Form weltlicher Ordnung darf sich rühmen, von Gott besonders legitimiert zu sein, keine.hat das Recht, sich allein „christlich" zu nennen, „göttliches Recht" für sich in Anspruch zu nehmen; denn die Geschichte dieser Welt ist eine Sphäre trüber Zweideutigkeit, nicht der klaren Offenbarung Gottes. Wie aber nun Morus dem kämpferischen Ethos des Machiavelli seinen grundsätzlich friedfertigen Vernunftstaat entgegensetzt, so stellt der Kalvinismus in seiner späteren Fortbildung durch die Puritaner und kalvinischen Sekten der lutherischen Nüchternheit sein konkretes Ideal vom „christlichen Staat" gegenüber, der lutherischen Neigung zu politischer Passivität eine aufs höchste gesteigerte Aktivität. Kalvin selbst hat freilich über die Möglichkeit einer „christlichen Politik" wohl ebenso nüchtern geurteilt wie der deutsche Reformator. Aber das hat seine leidenschaftlich aktive Natur nicht gehindert, in weitem Umfang auch politische Waffen zu benützen, um den Sieg seiner Kirche in Genf zu erzwingen, ihre Herrschaft zu sichern und diesen Freistaat zu einer Art von „Gottesstadt", d. h. zu einem großen Klosterbezirk zu machen. Seine Anhänger vollends in Frankreich, Schottland und England, fast von Anfang an gezwungen, mit politischen Waffen um ihr Leben und um die Existenz ihrer Gemeinden zu kämpfen, haben sich schließlich immer tiefer in den Glauben eingelebt, daß es ihre Pflicht sei, christliche Staatswesen mit Waffengewalt zu begründen und die Herrschaft Gottes selbst als politische Herrschaft zu sichern. Ihr Kampf gegen die „Tyrannei" der französischen und schottischen Könige konnte ihnen die Staatsform der absoluten Monarchie schlechthin als unchristlichen Despotismus, die Frei1C4

heit aristokratisch-bürgerlicher Stände dagegen als gottgewollt erscheinen lassen. Schließlich haben die kalvinischen Schwärmer und Sektierer des 17. Jahrhunderts im Namen Gottes dem König von England wegen seiner^ absolutistischen Neigungen den Kopf abgeschlagen, die Herrschaft des Parlaments und dann das „Commonwealth" Oliver Cromwells als eine Art von christlichem Gottesreich auf Erden begründet. Dem englischen Volk aber wurde so der bis heute nachwirkende Glaube eingeimpft, daß es nur eine wahre Form des christlichen Staates gäbe: die Demokratie, beruhend auf gleichen politischen Rechten aller und auf sorgfältig gesicherten individuellen Freiheitsrechten jedes Staatsbürgers. Denn nur so könne Gewissensund Glaubensfreiheit gesichert, vor allem aber der Staat zu einer christlich-humanen Politik von der öffentlichen Meinung seiner Bürger gezwungen werden. Alle Gewalt- und Eroberungspolitik, alle Verletzung der Humanität und des Rechtes gehf für dieses Denken ausschließlich von den „Despoten" aus, während die freien Völker davor durch die christliche Gesinnung ihrer Mehrheiten geschützt sind. Sichert die innere Freiheit der Völker, und ihr sichert den Weltfrieden! — das ist zum festen Glaubenssatz geworden. Wieder sind es, wie schon in der „Utopia" des Morus, ganz bestimmte freiheitliche Staatsformen, die das Überwiegen edler humanitärer (und zugleich christlicher) Gesinnung in einem Volke sichern sollen. Es ist deshalb auch kein Zufall, daß die „Utopia" ihre ersten Nachahmer und begeisterten Anhänger unter den englischen Puritanern gefunden hat. Wie die Utopier ihre Kriege niemals aus machtpolitischem Ehrgeiz führen, sondern nur, um die Erhaltung des Rechtes in der Welt zu sichern, so zieht der englische und amerikanische Puritaner immer nur ins Feld, um gottlose Despotie auszurotten und christlich-humanitäre, freiheitliche Grundsätze zu verfechten. Der Krieg ist moralischreligiös nur als Kreuzzug zu rechtfertigen, und der Zweifel des lutherischen Deutschen, ob wirklich die demokratisch-liberale Staatsform die Völker mit Sicherheit vor machtpolitischcm Ehrgeiz schützt (ein Zweifel, der sich immerhin auf mancherlei praktische Erfahrungen berufen kann!), ist dem echten puritanischen Denken ganz unverständlich — ebenso wie der lutherische Untertanengehorsam ihm unbegreiflich ist, der von 105

keiner göttlichen Sanktion irgendeiner bestimmten Staatsform etwas weiß, und der auch einer unchristlichen, vielleicht sogar widerchristlichen Obrigkeit schlichten Gehorsam leistet, solange sie ihm nicht an sein Heiligstes rührt.. So hat die politisch-religiöse Revolution des 1 7 . Jahrhunderts den Gegensatz zwischen insularem und kontinentalem (jedenfalls deutschem) Denken noch erheblich vertieft; zugleich hat sie doch noch einiges nachgeholt von der Verwirklichung jener innerpolitischen Ideale, die einst Morus gepredigt hatte. Aber freilich: von einer Beseitigung der Klassenunterschiede war weder in .der ersten Revolution (von 1 6 4 9 ) noch vollends in der zweiten, unblutigen (von 1 6 8 8 ) jemals die Rede. Vielmehr ist gerade nach dem endgültigen Sturz der Stuarts von den siegreichen adelig-bürgerlichen Ständen eine echte Klassenherrschaft errichtet und immer weiter ausgebaut worden — bis zu fast völliger Vernichtung des von Morus verteidigten englischen Bauernstandes. Aber dem stolzen Bewußtsein der Insulaner, weit besser als die großen Monarchien des Kontinents die Freiheit und Gerechtigkeit gesichert zu haben, hat das nicht den geringsten Eintrag getan. Sie fühlten sich dieser Staatenwelt auch moralisch überlegen — weil es ihnen gelungen war, die ,,Despotie" der Stuarts zu stürzen und die altererbten Privilegien ihrer Stände nicht nur zu sichern gegen das Machtbedürfnis ihrer Monarchen, sondern allmählich zu einer vollständigen Beherrschung der Staatsmaschine auszubauen. Nach alledem ist auch innenpolitisch ein eigener, insularer, von kontinentalen Denkgewohnheiten weit abweichender Lebensstil gefunden worden; ja gerade auf diesem Gebiet war es für Kontinentale und Insulaner immer besonders schwer, sich gegenseitig zu verstehen. D i e immer erneuten, verfehlten Versuche kontinentaler Völker bzw. Parteien, gewisse englische Verfassungseinrichtungen einfach auf das Festland zu übernehmen, beweisen es ebenso Wie die Schwierigkeit, dem Insulaner begreiflich zu machen, daß und warum das Problem staatlicher Autoritätsbildung, einer gegen innere Lähmungen gesicherten, zu rascher Aktion befähigten Staatsleitung für die Kontinentalstaaten so viel dringlicher ist als für sie selbst. Nur einmal, in der schwersten Krisis des englischen Verfas106

sungslebens, hat man das auch drüben begriffen: in der Epoche des großen Ständekampfes, der zuletzt zum Kampf zwischen Monarchie und Republik sich steigerte. In den A n f ä n g e n dieser W i r r e n hat Franzis Bacon eine s t a r k e Krongewalt; gestützt auf ein tüchtiges Volksheer und eine machtvolle Kriegsflotte, gefordert; mit ihrer Hilfe sollte England sich zum Herrn der Meere machen und den Ausbau seiner Kolonien im Z u s a m m e n hang einer planmäßigen staatlichen Machtpolitik betreiben. Bacon steht schon ganz deutlich unter dem Einfluß Machiavellis, der damals auch noch andere Bewunderer in England f a n d (6). Auf dem Höhepunkt der Krisis schrieb Thomas Hobbes seinen berühmten „Leviathan", das Hauptwerk der naturrechtlichen Schule zur Verteidigung einer s t a r k e n Staatsautorität. Sein Titel läßt vermuten, daß hier eine neuartige Schau dessen gewonnen sei, was wir als die „ D ä m o n i e der Macht" schon kennen. D a s ist n u n freilich eine Täuschung; das Bild vom „ L e v i a t h a n " hat hier keinen echten Symbolgehalt, s o n dern erweist sich als bloße literarische Spielerei (7). Wohl aber ist hier ein volles Verständnis erreicht f ü r die Notwendigkeit einer w a h r h a f t souveränen Staatsgewalt, die den wirren, zerstörenden Kampf der Parteien (insbesondere der Religionsparteien) durch ihr Machtwort schlichtet, den „Kampf aller gegen alle" beendet und eine feste, klare O r d n u n g stiftet. D a ß dieser D e n k e r auch — ganz unenglisch — den Machtkampf zwischen den Staaten als Naturvorgang s t a t t als Rechtsprozeß begriff (8), n ä h e r t ihn erst recht dem kontinentalen Denken an. Aber seine Erscheinung blieb eine seltene Ausnahme. Die Staatsphilosophie des Hobbes hat nur auf dem Festland tieferen Eindruck gemacht und ist dort als Rechtfertigung des absoluten F ü r s t e n s t a a t e s mit seiner mechanisch-bürokratischen Verwaltungsmaschinerie dankbar begrüßt worden. Noch Friedrich der Große hat Hobbessche Gedanken, wie sie durch Pufendorf und Thomasius in das deutsche Rechtsdenken eingedrungen waren, zur Begründung seiner herrscherlichen Rechte mitbenutzt, In England selbst versank die A u t o r i t ä t des Hobbes mitsamt dem restaurierten Königtum der Stuarts, dem sie gedient hatte. Hier breitete sich unter dem parlamentarischen Regiment des 18. J a h r h u n d e r t s die neue liberale und humanitäre 1C7

Staatsphilosophie der Aufklärung aus, als deren führender Philosoph John Locke bald europäisches Ansehen gewann. Sie ist ideengeschichtlich als eine Spätfrucht derselben geistigen Bewegung zu betrachten, der schon Erasmus und Morus angehörten — nur daß der fromme Rationalismus dieser nordischen Humanisten jetzt vollends vom christlichen Dogma losgelöst wurde und nicht mehr auf katholischer, sondern auf radikal protestantischer Grundlage ruhte. Sicherung der „Freiheitsrechte" des Individuums, vor allem der vielumkämpften Gewissens- und Denkfreiheit gegen staatlichen Zwang, humanitäre Handhabung der Gesetze, insbesondere Reform einer „barbarischen" Strafjustiz, Befreiung der unteren Volksschichten aus drückender sozialer Abhängigkeit, Pflege des Refchtes und der inneren Wohlfahrt als wichtigste Staatsaufgaben, Teilung der Gewalten zum Schutz der Regierten vor tyrannischer Willkür der Regierenden — das sind die neuen politischen Schlagworts des „aufgeklärten" Jahrhunderts. England hatte die Führung in dieser Bewegung der Geister, Frankreich strebte ihm • eifrig nach. Die Tatsache, daß unterdessen die englische Adelsklasse ihre Übermacht in Staat und Wirtschaft erst vollends zu einer einseitigen Herrschaft ausbaute, das Massenelend eines Industrieproletariats, das in schreiendem Widerspruch zu den Idealen christlicher Humanität seit der Mitte des „aufgeklärten" Jahrhunderts heranwuchs, durch viele Generationen aller sozialen und politischen Menschenrechte beraubt — das alles wurde auf dem Festlande kaum bemerkt. Die große liberale Bewegung englischen Ursprungs hatte längst auf festländischem Boden revolutionäre Wirkungen ausgelöst, ehe sie in England selbst (nun aber stark ins Demokratische verfärbt und mit französischem Ideengut versetzt) den alten Adelsstaat zu bürgerlichen Reformen zwang. Dann freilich hat dieser Staat eine ganz wunderbare Fähigkeit bewiesen, ohne revolutionäre Erschütterung, in immer erneut ansetzender organischer Reformarbeit, in beständigem Kampf, aber auch beständig neuem Ausgleich gegensätzlicher Interessen und Ideologien, immer auf Grund einer freien parlamentarischen Diskussion der öffentlichen Anliegen, seine politische und gesellschaftliche Verfassung fortzubilden und so auch die schlimmen Folgen jahrhundertelanger Klassenherr108

schaft der Besitzenden allmählich zu überwinden. Der Eindruck dieses Erfolges, noch verstärkt durch die Kurist, mit der die britische Politik ihr Weltreich zum lose föderierten „Commonwealth" umzubauen verstand (ohne es als Machtstütze zu verlieren), war außerordentlich. Und so ist die Ideologie des Liberalismus; zu deren Vorläufern auch Thomus Morus gehört, bis heute das eigentliche^Wahrzeichen-— und zugleich eine der stärksten geistigen Waffen — englisch-insularer Politik geblieben. Man kann deutlich sehen, wie sie auch der sozialistischen Strömung, die heute, nach dem zweiten Weltkrieg, alle Welt überflutet, eine eigene, von den Denkformen und Methoden der größten Kontinentalmacht Eurasiens stark abweichende, ja ihnen grundsätzlich widerstrebende Färbung gibt. Über die Nachwirkung Machiavellis in der kontinentalen Staatenwelt müssen wir uns notgedrungen noch kürzer f a s s e n — weil sie die ganze neuere Geschichte Europas erfüllt (9). Es gibt gar keine Machtkämpfe großer oder kleiner Staaten, in denen nicht, bewußt oder unbewußt, irgendwelche „machiavellistische" Kampfmethoden verwendet würden—einfach deshalb, weil l^lachiavclli die naturgemäße Technik des politischen Kampfes entdeckt hatte: eine Entdeckung, -deren Wert durch die Einseitigkeit und Überspitzung seiner politischen Theorie nicht aufgehoben wird. Was aber war die Politik der großen kontinentalen Staaten des und 17. Jahrhunderts anderes als ein fortgesetzter Kampf? Die neue Fürstenlehre brachte nur zum Bewußtsein, was in der politischen Praxis längst ausgeübt wurde. Aber das dämonische Antlitz der Macht, das sie zum erstenmal unverhüllt zeigte, weckte gleichwohl Entsetzen und Widerspruch. Jeder, dem davor schauderte, richtete seine Empörung gegen Machiavelli. Und so hängt ein großer Teil der politischen Ideengeschichte des neuen Europa an der Auseinandersetzung mit ihm. Keiner, der jetzt noch über Staatskunst schrieb, konnte an ihm vorübergehen. Mehr noch: der Kampf um die Lösung des von ihm aufgerissenen Machtproblems hat die Verfassungsgeschichte der großen kontinentalen Staaten bis auf unsere Epoche erfüllt. Zunächst sind seine Bücher, besonders der „Principe", als eine rationale Technik der Machterobcrung, -ausweitung und -behauptung eifrig studiert worden: von praktischen Staats109

männern, besonders Diplomaten, wie von politisierenden Schriftstellern und Geschäftemachern aller Art. Man hat daraus — in vielfältigen Abwandlungen — eine Ragione di stato, französisch: Raison d'état, entwickelt, die dann sogar von der schwerfälligen Schulweisheit deutscher Publizisten des 17. Jahrhunderts als Lehre von den Arcana rerum publicarum traktiert wurde. Weniger tiefen Eindruck scheint der Teil machiavellistischer Schriften gemacht zu haben, der ihrem Verfasser weitaus am meisten am Herzen lag: der Virtù-Mythos mit seinem Idealbild kraftvoller Herrscherpersönlichkeiten, die neue Staaten ruhmvoll gründen oder erweitern, gesunkene Völker aus der Verderbnis zu neuer Größe emporführen. Solche Ideen entsprachen dem Menschenideal der italienischen Renaissance, deren Blüte schon im Todesjahr Machiavellis, mit der Zerstörung Roms (1527), zu verwelken begann. Das neu»heraufziehende Zeitalter religiöser Restauration beschäftigte sich dafür um so mehr mit der Haltung Machiavellis gegenüber Kirche und Religion. Von kirchlicher Seite erfolgte der erste, erbitterte Widerspruch. Sehr begreiflicherweise! Erhob er doch den Staat zur höchsten Gemeinschaft auf Erden schlechthin, den Willen des politischen Machthabers sogar zur Quelle von Sittlichkeit und Religion, die nur noch als Hilfsmittel politischer Herrschaft Beachtung fanden; und schließlich begnügte er sich nicht mit den schärfsten Angriffen auf die politische Herrschaft der alten Kirche und auf die Unwürdigkeit ihrer Priester, sondern warf dem Christentum selber vor, es habe durch seine Ethik der Demut und Liebe „die Welt schwach gemacht und den Bösewichtern zur Beute gegeben". Vor allem: die radikale Irreligiosität seines Denkens setzte ohne eigentliche Polemik, wie selbstverständlich, ein ganz neues System rein säkularer Werte an die Stelle der alten, und seine Wertschätzung der Religion als politisches Machtmittel war fast das Ärgste: denn so betrachtet, erschien die geheuchelte Religion ebenso wertvoll wie die echte. Von der Anbetung des christlichen Gottes wurde man fast unvermerkt zur Anbetung irdischer Macht und Größe geführt. Es war selbstverständlich, daß die christlichen Kirchen sich gegen solche Lehren mit größter Energie zur Wehr setzten. Das Rom der Renaissancepäpste freilich ließ (1532) den Druck dieser Schriften, sogar unter päpstlichem Druckprivileg, 110

zu. Aber die Gegenreformation setzte sie auf den Index verbotener Bücher' und eröffnete unter jesuitischer Führung eine ganze Flut von Angriffen auch auf die Persönlichkeit des Verfassers, dessen Name nun erst in Verruf geriet. Aber konnte eine Kirche wie die des römischen Papsttums, die sich in der modernen politischen Welt als öffentliche Macht behaupten und zu neuer Geltung emporbringen wollte, die Anwendung machiavellistischer Kampfmittel gänzlich entbehren? Bald genug entstand eine ganze Flut von Schriften, in denen Jesuitenzöglinge, Beichtväter und Räte italienischer Fürstenhöfe den Versuch machten, die klugen Herrschaftsregeln Machiavellis aus dem Ganzen seines Systems herauszuziehen, sie dadurch gewissermaßen zu entgiften und auch für eine kirchlich devote Regierung verwendbar zu machen (10). Die Brücke zur Herstellung der Harmonie bot hier wie von selbst die relative Anerkennung des „Naturrechtes" durch die Kirche, wie sie schon im Mittelalter herkömmlich geworden war: im Bereich des natürlichen Lebenskampfes sind Mittel der Gewalt und Überlistung einmal unvermeidlich; auch die gesunde Vernunft und ein höheres sittliches Ziel können sie gebieten; doch ist die rohe Gewalt nicht das letzte Wort einer wahren Staatskunst, die vielmehr höheren Zwecken, vor allem der Ehre Gottes und seiner Kirche zu dienen hat. Scholastische Distinktionen einer kasuistischen Ethik hatten den Widerspruch zwischen Moral und Politik zu überbrücken: nur wenn klare Notwendigkeit dazu zwingt und das öffentliche Wohl (nicht aber das persönliche Interesse) es fordert, darf der Fürst die Grenze des strengen Rechtes überschreiten usw. So fanden die Fürstenspiegel des späten Mittelalters ihre Fortsetzung in einer Literatur, die dem natürlichen Machtstreben noch weitere Zugeständnisse machte als jene, aber die wahre Dämonie der Macht ebensowenig sah — oder vielmehr nicht sehen wollte und darum verhüllte. Eine solche Haltung war der Ethik protestantischer Kirchen deshalb nicht möglich, weil die Reformation Luthers sich jeder auch nur teilweisen Anerkennung eines „christlichen Naturrechtes" widersetzt. Es wird gut sein, etwas näher darauf einzugehen, denn jahrhundertelang war die Politik der deutschen Landesfürsten vom Geist der Reformation bestimmt und nahm Iii

hier zwischen machiavellistischer Staatsräson und erasmischinsularer Friedensideologie eine höchst eigentümliche Mittelstellung ein. Für Luther steht alles menschliche Handeln, religiös betrachtet, "unter dem Gericht Gottes, sogar unser sittliches Streben, das aus eigener Kraft niemals zum Ziel gelangt und unfähig ist, sich von Eigenliebe und Selbstsucht gänzlich loszulösen. Es gibt also keine Möglichkeit der Verklärung und Rechtfertigung unsittlicher Gewaltanwendung durch einen höheren, „heiligen" Zweck — am wenigsten durch politische Vorteile, die sie der Kirche sichern soll. Denn die Kirche als politische Macht ist für Luther nur eine Hure des Satans. Von dem natürlichen Menschen und seinem Machtstreben ist nichts anderes als Bosheit zu erwarten — er mag moralische Vorwände gebrauchen, soviel er will (11). (Die Machtpolitik der Utopier würde also für lutherisches Denken nur eine Bestätigung dieses allgemeinen Urteils bedeuten, und der vielberufene „jesuitische" Grundsatz, daß der Zweck die Mittel heiligen könne, erscheint hier vollends als satanische Heuchelei.) Die Selbstsucht der natürlichen Menschen ist so groß, das praktische Vermögen des in ihnen lebenden sittlichen Bewußtseins so gering, daß sie ohne härtesten äußeren Zwang überhaupt nicht in Ordnung zu halten sind. Echte Gemeinschaft, die keines Zwanges bedarf, gibt es nur im Kreise der wahren Jünger Christi, die sogar in der sichtbaren Kirche eine Minderheit bilden, in der Welt aber nur ein kleiner verlorener Haufe sind unter der Masse der Nicht- und Scheinchristen. Jeder« Gedanke daran, diese Gemeinschaft, das Reich der Gotteskinder, als eine sichtbare Herrschaft über die Welt (in der Art der mittelalterlichen Wcltkirche) aufzurichten, wohl gar mit Zwangsgewalt ausgestattet, wäre eitel Heuchelei oder schwärmerhafter Aberwitz. „Welt bleibt Welt." Darum hat Gott das Schwert der weltlichen Obrigkeit eingesetzt, als ein Amt der „Henker, Büttel, Richter, Herren oder Fürsten" — „auf daß ja die nötige Gewalt nicht vcracht' und matt würde oder unterginge, denn die Welt kann und mag ihrer nicht entraten". Diese Gewalt bedarf des Schwertes, um die Bösen zu strafen und die Guten zu schützen^sie wird aber unter" Umständen auch Krieg führen müssen, um sich selbst und ihr Reich im Kampf mit anderen Gewalthabern zu beschirmen. Denn ein Herr und Fürst ist 112

nicht eine Person für sich selbst, sondern für andere, daß er ihnen diene, sie schütze und verteidige. In solchem Fall soll er sich männlich und tapfer erweisen und kräftig dreinhauen, soviel er vermag. „Denn die Hand, die solch Schwert führet und würget, ist auch als denn nicht mehr Menschenhand, sondern Gottes Hand, und nicht der Mensch, sondern Gott hänget, rädert, enthäuptet, würget und krieget. Es sind alles seine Werke und seine Gerichte ( 1 2 ) . " Der harte Klang solcher Formulierungen und insbesondere die maßlose Heftigkeit, mit der Luther im Bauernkrieg die Landesfürsten aufgerufen hat, gegen die Aufrührer zu wüten, hat vielfach dazu verführt, den Reformator als Befreier des weltlichen Staates von den Fesseln christlicher Ethik zu betrachten und sogar von einer „unbewußten gemeinsamen Arbeit Machiavellis und Luthers an der Emanzipation des S t a a t e s " zu sprechen (13). Ernst Troeltsch hat dem lutherischen Christen, und insbesondere dem lutherischen Fürsten, eine „doppelte M o r a l " zugeschrieben: neben der rein persönlichen Ethik der strengen Liebesgesinnung eine Moral des weltlichen Amtes, die grundsätzlich die Ordnung des weltlichen Wesens der natürlichen Vernunft überläßt und somit „eine Steigerung der Souveränität und Autarkie der Staatsidee und einen Schritt zur Verdiesseitigung des Staates, zur Anerkennung eines natürlich ihm eignenden und keiner kirchlichen Weihe bedürfenden ethischen Wertes" bedeutet. Daran ist so viel richtig: daß der lutherische Protestantismus von einer kirchlichen Aufsicht über die weltlichen Staatsgeschäfte so wenig weiß wie von der Tätigkeit politisierender Beichtväter an Fürstenhöfen; S a d i e des Predigers ist es, Gottes Gebot und Gnade zu verkündigen, nicht aber politische Geschäfte zu lehren. „Wyr leren itzt nicht, wie eyn weltlicher fürst leben solle, sondern wie eyn weltlicher fürst eyn Christen seyn solle, das er auch gen hymcl kome." „Darumb weyß ich keyn recht eym fürsten für zu schreyben, sondern will nur seyn hertz unterrichten, wie das soll gesynnet und geschickt seyn yn allen rechten, rethen, urteylen und handeln ( 1 4 ) . " Nicht das politische Handeln also, sondern nur die dahinter stehende ethische Gesinnung ist es, an die er sich wendet. Diese aber wird so nachdrücklich wie nur möglich auf die Liebesethik der Bergpredigt 8

E i t t e r , Dämonie

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verpflichtet: nie das Seine zu suchen, „sondern nur das recht und gewalt helfen handhaben, da mitt die bößen gezwungen werden". Was aber das Recht in jedem einzelnen Falle sei, das entscheidet nicht die Lehre des Theologen und steht auch nicht immer geschrieben zu lesen — weder in der Bibel noch ,,in der Juristen Bücher" —, sondern das zu finden ist Sache des natürlichen, in allen Menschen lebendigen Gewissens. Eines Gewissens, das als „natürlich Recht" sogar bei den Heiden (aber dort sehr abgeblaßt und unsicher) zu finden ist, 'und das sich inhaltlich bestimmt durch den klaren Wortlaut der biblischen Zehn Gebote und das damit eng zusammengehörende Liebesund Billigkeitsgebot der Bergpredigt (15). „Denn die natur leret, wie die liebe thut, das ich thun soll, was ich p y r wollt gethan haben." Selbstlos zu handeln, nicht eigensüchtig, und in jedem Augenblick eingedenk der Verantwortung vor Gott, also ohne Selbstüberhebung, immer bußbereit — das ist die ganze Summe christlicher Ethik, nach der auch der christliche Fürst zu handeln hat. Eine „Emanzipation" des weltlichen Staates von kirchlichen Vorschriften mag man das immerhin nennen, eine Emanzipation von der christlichen Religion, eine neue „Autonomie des Politischen", eine selbstherrliche „Autarkie der Staatsidee" ganz gewiß nicht — eine „Anerkennung seines natürlichen ethischen Wertes" jedenfalls nur sehr bedingt. Luther ist sich völlig klar darüber, daß die Forderung völlig selbstloser Gesinnung für den politischen Machthaber praktisch unerfüllbar ist; daß die Zumutung, nicht für sich selbst, sondern nur für die anderen „dem Übel zu widerstehen",'niemals „unrecht Gut zu suchen" und „für meyne sach des schwerds brauchen, der meynung, das ich nicht damit das meyne suchte, sondern das das übel gestrafft würde", ein „seltzam und ferlich wunder" ist: daß sie eine offenbare Paradoxie bedeutet (16). Auch er ahnt etwas von der natürlichen Dämonie der Macht. Er weiß (und betont es immer wieder), daß die Politik ein gefährliches Handwerk ist und ein christlich gesinnter Fürst ein selten „wiltpret ym Hymel". Aber das macht ihn in seiner Forderung nicht ir^e. Es fällt ihm nicht ein, neben der persönlichen Liebespflicht des Christen noch eine zweite „doppelte Moral" des Amtsträgers anzuerkennen, die ihn ungestraft dem politischen 114

Eigennutz (etwa in der Form der „ S t a a t s r ä s o n " ) zu folgen erlaubt. „Denn verflucht und verdampf ist alles leben, das yhm selb zu nutz und zu gut gelebt und gesucht wird, verflucht aHe werde, die nit yn der liebe gehen ( 1 7 ) . " Allen Ernstes erwartet er von dem christlichen Fürsten, daß er sich bemüht, immer n u r um der Sache willen, immer nur im Dienst seines obrigkeitlichen Auftrages, nicht aber um seines Ruhmes, „umb seiner schönen gelben H a a r e willen" politisch zu handeln. Luther ist freilich (wir hörten es schon) kein christlicher Pazifist im Stil des Erasmus, des Morus oder jener kalvinischen Sektierer, die an die Möglichkeit glauben, das GottesTeich (bzw. Vernunftreich) eines ewigen Friedens mit menschlichen Mitteln zu verwirklichen. Aber seine Mahnung, der irdischen Wirklichkeit „mit männlichen Augen" ins Antlitz zu blicken und wenn nötig „seinen Harnisch zu bewähren", bedeutet nichts weniger als eine Verherrlichung des Krieges und der Gewalt. Die sittlich indifferente Bewunderung Machiavellis und der modernen Welt f ü r die Größe hemmungslosen Machtstrebens ist ihm, dem religiösen Propheten, gänzlich fremd. Von einer Verherrlichung des Krieges ist er so weit entfernt, daß er es sogar dem einzelnen Gefolgsmann (er denkt vor allem an adelige Lehnsträger, aber wohl auch an den Soldknecht) aufs Gewissen gelegt hat, genau zu prüfen, ob die Sache des Kriegsherrn, dem er dient, auch eine gerechte Sache sei, und ihn ermahnt, im Falle eines ungerechten Krieges die Gefolgschaft aufzukündigen. Daß jeder andere Krieg als ein solcher der Notwehr Satanswerk sei, ist ihm ebenso selbstverständlich wie jedem mittelalterlichen Theologen. „Denn weltliche öberkeit ist nicht eingesetzt von Gott, das sie solle fride brechen und kriege anfahen, sondern dazu, das sie den fride handhabe und den kriegen were (18)." Aber wie kann er überhaupt solche Forderungen aufstellen, wie kann er einen Fürstenspiegel f ü r christliche Regenten schreiben, wenn er doch so tief von der völligen Verderbtheit des menschlichen Geschlechtes überzeugt ist? Sieht er nicht, wie Machiavelli, daß unter lauter Schurken zuletzt nur ein Schurke Meister bleiben kann — oder doch nur jemand, der jeden Augenblick den Schurkcn zu spielen versteht? Ahnt er nichts von der unheilvollen Verstrickung außenpolitischer 8*

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Interessenkonflikte, die es oft so schwer, ja unmöglich macht, das wirkliche „Recht" auch nur zu ermitteln, zumal dann, wenn alle Beteiligten sich bemühen, es nach Kräften zu verdunkeln, oder von der Tatsache, daß geschriebenes Recht zu Unrecht werden kann, gegen das echtes Rechtsempfinden vergeblich ankämpft, solange ihm keine äußere Gewalt zu Hilfe komirft — weil menschliche Einsicht und guter Wille allein nicht ausreichen, um die Inhaber der Macht zu freiwilligem .Verzicht auf ihren nächsten Vorteil zu bewegen? In der Tat hat der deutsche Theologe vom Wesen des echten Machtkonfliktes unter Staaten durchaus keine Vorstellung; was er vom „gerechten" und „ungerechten" Krieg sagt, verharrt durchaus im Geleise der mittelalterlichen (durch Augustin bestimmten) Lehren darüber und erinnert in dem Bemühen, den „gerechten" Krieg als Handhabung des Schwertes zur Bestrafung von Unrecht (nach Rom. 13) zu verstehen, nicht zufällig an die moralisierende Deutung des englischen Katholiken Morus: hier gab es eben gemeinchristliche Vorstellungen, die überall wieder durchschlugen (19). Aber nicht in dieser Lehre steckt seine Originalität, sondern in seiner nüchternen Sicht der politischen Wirklichkeit, die ebenso weit entfernt bleibt von den Illusionen christlicher Schwarmgeister und erasmischer Utopisten wie von der Menschenverachtung und sittlichen Indifferenz des Zynikers Machiavelli. Luther bildet sich nicht ein, die Welt wirklich ändern zu können, sondern schreibt und predigt nur als Seelsorger für die wenigen, die ernstlich guten Willens sind „und gerne yhr gewissen wolten bewaren". Aber er weiß und vertraut, daß es Menschen guten Willens wirklich gibt; darum soll sein Fürst auch nicht etwa als bloßer Henker, „Stockmcistcr" und Despot regieren. Die Menschen, die er zu betreuen hat, sind zwar Sünder vor Gott, aber deshalb, menschlich gesprochen, noch lange keine Schurken. Das lutherisch-christliche Menschenbild hat zwar eine gewisse Ähnlichkeit mit dem Machiavellis — aber es ist davon doch abgrundtief geschieden. Gewiß ist die Selbstsucht, offen oder versteckt, bewußt oder unbewußt, das Grundmotiv alles ihres Handelns; und die natürliche Vernunft ist ohnmächtig, dieser Erbsünde jemals so Herr zu werden, daß der Sünder mit seinem sittlichen Bemühen — und sei es noch so redlich — vor Gott 116

gerechtfertigt werden könnte. Denn vor der Heiligkeit dieses Gottes verblaßt alle menschliche Bemühung zu erbärmlichem Schein. Das demütigt den natürlichen Stolz des Menschen. Aber es enthebt ihn nicht im geringsten der Pflicht, auf die Stimme des natürlichen Gewissens zu hören, das Gott in ihm angelegt und durch seine klaren Gebote erst ganz offenbar gemacht hat. Diese Regung zum Guten fehlt nirgends — weder bei Christen noch bei Nichtchristen. Und sie ist es, an die nun der christliche Herrscher, Gesetzgeber und Richter anzuknüpfen hat. Mit anderen Worten: der natürliche Mensch ist aus der Gnade gefallen; er wird von seinen selbstsüchtigen Trieben beherrscht; aber er hat das sittliche Bewußtsein bei alledem nicht verloren; es bedarf nur der Klärung, Festigung, Erziehung durch das offenbarte göttliche Gebot. Die Menschen sind allzumal Sünder; aber sie sind keine Bestien, sondern erziehbar — zwar niemals zu sittlicher Vollkommenheit, aber doch zu einem Zustand, in dem statt des allgemeinen Kampfes eine feste Rechtsordnung herrscht. Wären sie nicht erziehbar, so hätte Luther keine Volkskirche gegründet, sondern sich mit einem bloßen Konventikel begnügt. Eine feste Rechtsordnung herzustellen, die Guten zu schützen, die Bösen zu strafen und die Menschen zur Gemeinschaft des Rechtes zu erziehen, ist die Aufgabe weltlicher Obrigkeit. Ist sie eine christliche Obrigkeit, so wird sie sich auch der christlichen Predigt und Lehre annehmen, sie rein halten helfen, Kirchen und Schulen aufrichten und durch sie das Volk unter die Wirkung des Wortes Gottes stellen. Die Frucht wird nicht etwa sein, daß aus dem „großen hauffen" nun eine Gemeinschaft von Heiligen wird; aber es ist schon viel, wenn unter der Masse eine echte Gemeinschaft wächst. Im übrigen hat das Schwert dafür zu sorgen, daß die Frommen nicht zum Rpub der Gottlosen werden. Vom Geist dieser Lehre hat der protestantische Fürstenstaat Deutschlands jahrhundertelang gelebt. Er war (ähnlich wie der katholische seit der Gegenreformation) vor allem Erziehungsstaat: ein christlicher Polizeistaat, der sich bewußt war, daß über allem äußeren Machtstreben die Fürsorge für das geistliche Heil, für die Handhabung einer harten und handfesten Justiz und für die materielle Wohlfahrt der Regierten zu stehen habe. So hat er das deutsche Volk, insbesondere das 117

Bürger- und Bauerntum, zu einer strengen, unpolitischen Rechtlichkeit, Arbeitsamkeit und Ehrbarkeit erzogen. Die außenpolitische Ohnmacht der meisten deutschen Kleinstaaten, die Gemeinschaft des Reichsverbandes, der sie alle unter die Lehnshoheit des Kaisers stellte, das Gleichgewicht ihrer Kräfte hat wesentlich dazu mitgeholfen, außenpolitischen Ehrgeiz zu dämpfen, das Patriarchalische ihrer Lebensform auf lange Zeit zu konservieren. Von Machtkämpfen im Inneren, vergleichbar den Parteikämpfen italienischer Stadtstaaten in der Renaissance, konnte schon gar keine Rede sein. Je länger, je deutlicher triumphierte vielmehr die historisch verwurzelte, gläubig verehrte Autorität „angestammter Fürstenhäuser" über allen Widerstand ständischer Privilegierter, wo er sich regte. Dabei allerdings haben deutsche Hofjuristen auch die neue italienische Lehre von der Ragione di stato dankbar benutzt, um die Durchbrechung alter, lähmender Privilegien beim Neubau des absolutistischen Staates aus den Bedürfnissen höherer Staatsweisheit zu begründen. Aber immer hielten sie daran fest, daß politische Notwendigkeit nur das positive Staatsrecht, historisch ererbte Privilegien und Gesetze durchbrechen dürfe, nicht auch die Schranken des göttlichen und natürlichen Rechtes. An diese blieb der Fürst in seinem Gewissen streng gebunden; Religion und Sittlichkeit blieben grundsätzlich von der neuen „Staatsräson" unberührt. Und so wurde noch einmal wie im Mittelalter — ja noch viel mehr als damals — die christliche, von Idealen des Friedens, der Gerechtigkeit und der Religionspflege regierte Monarchie historische Wirklichkeit. Aber diesmal in einer Staatenwelt, deren äußere Ohnmacht es zweifelhaft erscheinen ließ, ob hier überhaupt von echten Staaten, von ephter Machtbildung, die Rede sein könne. Schon der Dreißigjährige Krieg machte diese Ohnmacht vor aller Welt offenbar. Eins ist sicher: die eigentlichen Probleme der Macht sind hier gar nicht erst in Erscheinung getreten. Diese ganze Kleinstaatenwelt war ein Ausnahmezustand — wie es Machiavelli schon von der Scheinfreiheit altdeutscher Stadtrepubliken gesagt hatte. Die Dämonie der Macht offenbart sich nur da, wo nicht hoffnungslose Ohnmacht herrscht. Überdies war die Gesinnungspredigt Luthers genau so wie die der mittelalterlichen Fürstenspiegler aus118

schließlich an die Person des Herrschers gerichtet. Der Fürst als christliche Obrigkeit stand ihm allein vor Augen — noch nicht das Abstraktum „Staat" oder gar die Volksgemeinschaft, moderner Nationalstaaten mit ihren gewaltigen Machttrieben und Leidenschaften der Masse. Und so blieb die geschichtliche Wirkung dieser Predigt eng begrenzt: auf den Absolutismus kleinstaatlicher deutscher Höfe, und auch da nur so lange, als die religiösen Antriebe noch alles Leben beherrschten. Für die von Machiavelli' aufgerührte Frage nach dem Wesen kämpfe-1 rischer Machtpolitik bietet das Stilleben dieser deutschen Kleinstaaten kein geeignetes Bepbachtungsfeld. Eine Erscheinung freilich fällt aus diesem Rahmen völlig heraus:die ebenso rätselhafte wie einsame Gestalt Friedrichs II. von Preußen, des ersten Machtpolitikers von großem Stil, den die deutsche Fürstengeschichte seit dem Mittelalter kennt. Die lutherische Tradition mit ihren moralisch-religiösen Schranken des Machtgebraudis, die noch in seinem Vater sehr lebendig war, scheint jäh erloschen. An ihre Stelle ist ein humanitärer Moralismus im Stil der westeuropäischen Aufklärung getreten, der aber mit einem dämonisch zu nennenden persönlichen Ehrgeiz in Konflikt gerät. So wird der Widerstreit zwischen „moralistischer" und machiavellistischer Denkweise im politischen Bewußtsein dieses Herrschers — ein seltsames Schaupiel! ganz persönlich lebendig. Das Ideal eines humanitären Friedenskönigs ist kräftig genug wirksam, um als sehr ernste moralischpolitische Verpflichtung empfunden zu werden; ja, es wird von dem jungen Kronprinzen in einer kritischen Auseinandersetzung mit Machiavelli (die ganz unmittelbar an den Ideenkreis der „Utopia" gemahnt) als förmliches Regierungsprogramm eines neuen, aufgeklärten und friedfertigen Absolutismus öffentlich verkündet. Aber kaum auf den Thron gelangt, wird der Philosoph von Sanssouci sogleich von der Dämonie der Macht gepackt und zu einem kriegerischen Abenteuer hingerissen, an dessen Folgen er sein ganzes Leben lang zu tragen hat. Seiner innersten Neigung nach Bildungsmensch, seinem immer wieder verkündeten Ideal nach Friedensfürst, Hüter des Rechts und der Wohlfahrt, erwirbt er seinen historischen Ruhm als Heerführer und Soldatenkönig an der Spitze eines Staates, der als „bewaffnetes Feldlager mitten im Frieden" gilt, als die ein119

seitigste Steigerung militärischer Kräfteballung in £anz Europa. Wie sich das eine mit dem anderen vereinigen läßt, kriegerisches Machtstreben und humanitäre Wohlfahrtspolitik, Caesar und Mark Aurel als Vorbilder — das ist Friedrichs persönlichstes Geheimnis und die Kernfrage seiner ganzen Staatsmannschaft. Ihre Lösung steckt in dem Begriff der reinen Staatsvernunft (Staatsräson), die den Dämon der Macht zu höheren sittlichen Zwecken zu zähmen weiß. Doch genügt es, an dieser Stelle das Problem (das uns später noch in der Schlußbetrachtung beschäftigen wird) kurz anzudeuten (20); denn die Erscheinung Friedrichs ist in Deutschland völlig isoliert geblieben und steht am Ende einer versinkenden, nicht am Anfang einer aufgehenden Epoche. Der aufgeklärte Absolutismus entwickelte sich au£ deutschem Boden nicht im friderizianischen, d. h, in heroisch-kämpferischem Stil, sondern als säkularisierte Spätform des alten landesväterlichen Regiments, das jetzt in der Beglückung seiner Untertanen durch zweckmäßige Verwaltungsreformen seine Hauptaufgabe erblickte und dem deutschen Landesfürstentum der Rokokozeit sein charakteristisches Gepräge verlieh — auch in Preußen unter Friedrich Wilhelm III.! Ein Jahrzehnt nach dem Tode Friedrichs II. war die Militärmacht Preußens bereits in vollem Verfall. In Westeuropa aber war unterdessen ein neues, revolutionäres Staatsideal aufgekommen, das dem politischen Denken des Kontinents eine völlig neue Wendung gab.

Diese Wendung ging von Frankreich aus, dessen innere Geschichte aber schon seit dem 16. Jahrhundert für unser Problem höchst bedeutsam ist, vermöge der Radikalität ihrer politischen Ideenbildung. Der Machiavcllismus, als Politik des brutalen, gewissenlosen Gewaltgebrauchs verstanden, hat hier seinen ersten weltgeschichtlichen Triumph gefeiert: in der Bartholomäusnacht, dieser planmäßig und kaltherzig organisierten Massenschlächterei französischer Edelleute und Bürger durch ihren Landesherrn. Katharina von Mcdici, die Hauptschuldige, hat zwar keineswegs nach Rezepten Machiavellis gehandelt, wie die Zeitgenossen ihr vorwarfen, sondern aus einer Mischung von weiblicher Furchtsamkeit mit blinder, kopfloser Eifersucht, 120

die von der kühlen Rationalität des florentinischen Humanisten sehr weit entfernt blieb, Aber mit diesen rein persönlichen und irrationalen Motiven verband sich doch auch ein Stück kalter S t a a t s r ä s o n : der Drang zur Selbstbehauptung der Krone über ihren allzu mächtigen Vasallen. Und daß hier unter der Maske des kirchlichen Eifers ein nackter, gewissenloser Despotismus den Sieg gesucht hatte, daß der religiöse Fanatismus der M a s s e von kaltherzigen Bestien ausgenützt war zum Kampf um die Macht, das ließ sich mit Händen greifen. Es stellte ganz Europa die von Machiavelli entdeckte Dämonie der Macht grauenhaft deutlich vor Augen. Nicht nur das christliche Gewissen, sondern zugleich alles, was noch an ritterlichem Empfinden und adlig-ständischem Selbstbewußtsein lebendig geblieben war in Frankreich, empörte sich wider diese Tyrannei. Und die Frage: welche Mittel sich finden ließen, um den Dämon der Macht zu zähmen, um die Freiheit, die Menschenwürde, di^ Lebensrechte der Regierten zu schützen vor rechtloser Willkür der Machthaber, wurde seither erst recht zu einem Grundthema der neueren, vor allem der französischen Geschichte. Die besondere Aufgabe des kontinentalen Machtstaates war offenbar, gesicherte Freiheit mit starker, überlegener Autorität der Führung zu vereinigen. Ebendiese Aufgabe befriedigend zu lösen, erwies sich die verfassungsrechtliche Kampfliteratur der Hugenottenpartei, der sogenannten Monarchomachen, von vornherein als ungeeignet. Unmittelbar aus dem Erlebnis der Bartholomäusnacht 'entsprungen, verteidigte sie einseitig die Rechte der Stände auf Mitregierung, und zwar mit den erneuerten, halb theologischen, halb juristischen Waffen der spätmittelalterlichen Tyrannenlehrc. Daß aber mit einem Wiederaufleben altständischer Machtansprüche der inneren Zerrissenheit Frankreichs nicht geholfen war, zeigte die Fortsetzung des Bürgerkrieges in den nächsten Jahrzehnten, Im Gegenteil: jetzt erst vollends brachte die Wut des Parteikampfes die Monarchie und das Land an den Rand des Abgrundes. Die monarchomachischen Freiheitsideale haben nicht auf festländischem Boden, sondern in England, wo sie von den radikalen Kalvinisten des 17. Jahrhunderts ergriffen und zur Revolutionstheorie fortgebildet wurden, ihre eigentliche historische Wirkung ausgeübt. 121

Statt dessen hat iri Frankreich die neubefesfigte, praktisch überkonfessionelle Monarchie des Bourbonen Heinrich IV, am Ende des Reformationsjahrhunderts die Grundlagen moderner kontinentaler Staatsbildung geschaffen. Ihre theoretische Rechtfertigung findet sie in der Publizistik des Johannes Bodinus, mit dem die Geschichte des neuzeitlichen kontinentalen Staatsrechts eigentlich erst beginnt, zugleich aber eine uralte Tradition des französischen Juristenstandes sich fortsetzt, der von jeher (wie auch Machiavelli wußte) als Hüter eines rechtlichen und gesetzlichen Regimentes der Krone hervorgetreten war. Oberster Grundsatz ist hier: die Unteilbarkeit der staatlichen Souveränität. Die Führung des Staates kann imlfter nur von einer Stelle ausgehen, und diese Führung muß nach außen wie nach innen vollständig unabhängig sein: von anderen Gewalten ebensowohl wie von der lähmenden Fessel veralteter Gesetze. Im festländischen Staat, der- jeden Augenblick neuen Kämpfen ausgesetzt sein kann, gibt es keine leistungsfähige Regierung ohne einheitliche' Befehlsgewalt. Das Bild, in dem sich Bodin diese Sachlage veranschaulicht, entspringt aus dem Bewußtsein steter Kampfbereitschaft: wie könnte der Steuermann sein Schiff sicher durch gefährliche Stürme führen, wenn er nicht das Steuerruder je nach Wind und Wellen frei herumwerfen darf? Man sieht den Steuermann des Bodinus ebenso beständig mit Wind und Wellen kämpfen wie den Uomo virtuoso Machiavellds mit Fortuna und ihren Launen. Der Fürst als Lenker des Staates ist also frei von lähmenden Fesseln; er ist Schöpfer, nicht Sklave des Gesetzes. Aber diese Freiheit bedeutet nicht etwa Freiheit zur Willkür. Er räumt seinen Ständen keinen Anteil an der Souveränität ein; aber er benutzt gern ihren Rat, ihre Unterstützung, ihre freiwillige Hingabe für das Staatswohl. Er ist ihnen keine Rechenschaft schuldig; er duldet keinen menschlichen Richter über sich. Aber er handelt darum doch nicht ohne Verantwortung. Die Fessel der Gesetze, der Privilegien ist abgestreift; aber nicht die Bindung an das Recht. Der Staat Bodins ist nicht wie der Machiavellis bloße Ballung von Macht, sondern grundsätzlich Rechtsstaat. Denn das Recht ist nicht staatlichen, sondeni göttlichen und natürlichen Ursprungs. Es ist somit aller menschlichen Willkür entrückt. Es steht über dem Souverän — nicht als 122

straf drohende Zwangsgewalt, aber als sittlich verpflichtende Norm, welche rohe Gewalttaten im Stil der Bartholomäusnacht ausschließt. Bodinus entwickelt sehr strenge Ansichten über die .Pflicht der Vertragstreue, er verwirft eine Politik des schrankenlosen Ehrgeizes und der rechtlosen Eroberung. Er verpflichtet den Herrscher auch auf Treu und Glauben im Verhältnis zu seinen Untertanen, auf Innehaltung seiner eigenen Gesetze, sofern nicht das öffentliche Wohl eindeutig ihre Durchbrechung fordert; die Grundsätze persönlicher Freiheit der Staatsbürger und des Privateigentums gelten ihm als unverletzlich, ebenso jene positiven „Grundgesetze", wie das Erbrecht der Dynastie, auf denen die Monarchie selbst beruht. Nur der rechtlich gesinnte Herrscher genießt echte Autorität; und wenn es auch kein gesetzliches Widerstandsrecht der Untertanen gibt, so löst doch der Tyrann, der seine Souveränität mißbraucht, selbst die moralischen Bande ihres Gehorsams auf, die allein den inneren Zusammenhalt des Staatsganzen sichern. Aber wer garantiert nun die Innehaltung aller dieser Pflichten durch den Souverän? Offenbar nichts anderes als dessen eigene Rechtlichkeit. Die Rechtslehre Bodins ist ein erster großartiger Versuch, Autorität und Freiheit miteinander zu versöhnen, und zwar so, daß echte Autorität unbedingt gesichert bleibt. Es war schon ein Verdienst, ebendies als Zentralproblem des festländischen Staates zu erkennen und seine Lösung mit juristischen statt mit theologischen Mitteln zu versuchen. Der Gegensatz zwischen Machiavellismus und Moralismus, zwischen rein kämpferischem Aktivismus und illusionärem Pazifismus, zwischen blinder Vergötterung und ebenso blinder Verkennung der Macht schien überwunden zu werden durch ein neues, höheres Ideal: durch die Idee des souveränen Rechtsstaates. Dieser erste Versuch hat sich höchst fruchtbar ausgewirkt: er ist durch die folgenden Jahrhunderte hindurch mit immer feineren juristischen Mitteln wiederholt forden, hat eine unermeßliche Fülle juristischer und politischer Denkarbeit ausgelöst.1 Aber das Gelingen einer solchen Lösung, wie Bodinus sie bot, hing offenbar davon ab, daß der Glaube an die unbedingte, über alle menschliche Willkür erhabene Geltung der „Gebote Gottes und der Natur" unerschüttert blieb. Solange dieser Glaube religiös verankert war, durfte er als eine feste 123

Größe in die politische Rechnung eingesetzt werden. Aber würde das immer so bleiben? Und war dieser Glaube in allen Fällen stark genug, um der Dämonie der Macht ernsthaft zu widerstehen? Die Erinnerung an die Bartholomäusnacht blieb ein böses Menetekel, und die außenpolitischen Erfahrungen des letzten Jahrhunderts konnten auch nicht eben zuversichtlich stimmen. Dennoch: ganz ist die Stimme des Bodinus mit ihrer Mahnung zur Mäßigung,'zur Innehaltung der „alten Grundgesetze der Monarchie" (lois fondamentales) im Frankreich der Königszeit nicht wieder verhallt. Allzu fest war die Tradition der Kronjuristen und Parlamentshöfe, .denen die förmliche Überwachung einer streng „gesetzlichen" Regierungsweise oblag, gesichert, als daß die Selbstherrlichkeit irgendeines Monarchen sie gänzlich zu mißachten gewagt hätte. Selbst am Hofe Ludwigs XIV., auf dem Höhepunkt seiner Regierung, hielt Bossuet, der Lobredner der absolutistischen Monarchie, seinem Fürsten die Verantwortung des Herrschers vor Gott, seine Bindung an göttliches und natürliches Recht, an die „Grundgesetze", an Vernunft- und Moralgebot mit nicht geringerem Eifer vor als irgendein Hofprediger sonst an protestantischen oder katholischen Fürstenhöfen (20). Ein zweiter Mahner war Fenelon, Erzieher der Söhne des Dauphin und politischer Gegner Bossuets; er entwarf in seinem utopischen Staatsroman „Telemaque" für seine Zöglinge ein Idealbild humanitärer Friedensund Wohlfahrtspflicht, das in scharfem und bewußtem Gegensatz zu der kriegerischen Eroberungspolitik eines Louvois und des Königs selber stand; das Buch hat durch das ganze 18. Jahrhundert als ein Paradestück der liberal-humanitären Bewegung gedient und noch auf die Gesinnung des jungen Kronprinzen Friedrich von Preußen stark eingewirkt. Der Zögling Fenelons, der Herzog von Bourgogne, sammelte als Thronfolger in den Spätjahren Ludwigs XIV. eine ganze Gruppe oppositioneller Reformer um sich, darunter manche Vertreter altständischcr Ansichten, aber auch so bedeutende staatsmännische Köpfe wie den Marschall Vauban, die eine weise Selbstbeschränkung königlicher Macht und Einstellung der ewigen Kriege forderten. Gewiß: solche kritischen Stimmen konnten erst laut werden, als die Kehrseite einer einseitig-übertriebenen 124

Machtpolitik, die innere Verelendung des Landes, schon deutlich vor aller Augen lag und nun der lang unterdrückte Haß des altständischen Adels gegen das absolutistische Regiment sich wieder regte. Aber eine Politik der Mäßigung, der Vernunft, der Beherrschung ungezügelter Machttriebe hatte schon Kardinal Richelieu, der Begründer des Absolutismus und größte Gegner altständischer Anmaßungen, in seinem politischen Testament für Ludwig XIII. dringend empfohlen. Als führender Minister einer nationalen Großmacht hatte er die kleinen Künste machiavellistiseher Schlauköpfe, wie sie an den Fürstenhöfen Italiens umliefen, ausdrücklich abgelehnt. „Die Reputation ist so wichtig für einen großen Fürsten", schrieb er. „daß kein Vorteil den Verlust ausgleichen könnte, den er erlitte, wenn er Verpflichtungen, für die er sein Wort und seine Ehre verpfändet hat, nicht nachkäme (21)." Darin klang wohl die christliche und ritterliche Überlieferung der Feudalzeit noch nach; aber auch die moderne Raison d'état, wie Richelieu sie verstand, wollte nicht Werkzeug, sondern Schranke dämonischer Machttriebe sein. Und unverkennbar flaute die wilde Dämonie wenigstens der inneren Machtkämpfe Frankreichs ab, je mehr sich die Autorität der Monarchie befestigte. Mehr und mehr trat an die Stelle bunter Willkür der Rechtsverhältnisse, wie sie das Mittelalter hinterlassen hatte, ein klares, zu rationaler Einheit und Zweckmäßigkeit sich formendes staatliches Recht. Die Macht des Staates wurde immer deutlicher als segensreiche Ordnungsmacht empfunden und ausgestaltet; von der zügellosen Wildheit, mit der einst die politischen Emporkömmlinge im Italien Machiavellis um .die Macht gekämpft hatten, war man am Ende des 17. Jahrhunderts doch schon ziemlich weit entfernt. Und selbst die Kriege der großen Potentaten verloren wenigstens einen Teil ihres Schreckens, seit die kühle Staatsräson der Kabinette sich Vorteile und Gefahren jedes kriegerischen Unternehmens sorgsam zu berechnen begann. Seit dem Ende des großen spanischen Erbfolgekrieges ließ auch ihre Häufigkeit (infolge allgemeiner Erschöpfung) etwas nach. Das Jahrhundert der „Vernunft" brach an: einer mit durchaus religiöser Inbrunst verehrten, bald auch (von England her) mit humanitären Ideen versetzten Vernunft, die den unablässigen Fortschritt mensch125

lieber Wohlfahrt auf ihre Fahnen schrieb. Die Stelle des göttlichen Gebots vertrat jetzt immer ausschließlicher das „natürliche Recht", das Vernunftrecht, und versprach die Dämonie der Macht zu überwinden. Der Glaube an die ursprüngliche Güte der Menschennatur weckte die kühnsten Hoffnungen f ü r eine nahe Zukunft, in der die Vernunft durch Aufklärung so weit erstarkt sein würde, daß sie die wilden Machttriebe einer roheren Vergangenheit endgültig zu besiegen vermöchte. Auch wer an der Vernünftigkeit und Beiehrbarkeit der Völker, der Massen zweifelte, setzte doch große Hoffnungen auf die Einsicht aufgeklärter Regenten, von denen er ein wohltätiges Regiment der Vernunft erwartete. Kronprinz Friedrich von Preußen gab diesen Hoffnungen kurz vor seinem Regierungsantritt sehr schwungvollen und.beredten Ausdruck in seinem „Antimachiavell", in dem er verächtlich von jenen schurkenhaften Principini eines barbarischen Zeitalters sprach, an denen der italienische Humanist gemeint habe das Wesen der Staatskunst studieren zu können. Er selbst glaubte sich durch die Legitimität seines Königtums vor dem Bedürfnis und der Versuchung so verworfener politischer Methoden geschützt. — Nach dem für Frankreich unglücklichen Ausgang des Siebenjährigen Krieges schien auch dort das frühere Gloirebedürfnis endgültig friedlichen Stimmungen zu weichen. „Ein König, der auf Eroberungen aus ist", schrieb Vergenncs, der Außenminister Ludwigs XVI., „würde ohne Zweifel die gegenwärtige Lage unseres Landes zu bedauern haben; aber ein bürgerlich gesinnter König (rod citoyen) schätzt sich glücklich, sich in äußeren Umständen zu finden, die seinen friedlichen und wohlwollenden Absichten so günstig sind (22)." Durfte man da nicht hoffen, die Sonne der Vernunft habe die finsteren Dämonen des Ehrgeizes endgültig besiegt? Aber alle optimistischen Hoffnungen auf ein neues Zeitalter des friedlichen Völkerglücks brachen in dem Augenblick zusammen, als man nun in Frankreich daran ging, das neue Vernunftreich unter Zerstörung auch der letzten Überreste der „barbarischen" feudalen Epoche zu verwirklichen. Freiheit und Gerechtigkeit wollte die große Revolution an die Stelle von Tyrannei und Gewalt setzen; mit dem Ehrgeiz und den feudalen Ehrbegriffen der absoluten Herrscher sollte die wichtigste Ur126

sache der Kriege fortfallen, die allgemeine Verbrüderung der frei gewordenen Menschep die natürliche Folge sein. „Die f r a n zösische Nation verzichtet darauf, irgendeinen Krieg zu Eroberungszwecken zu unternehmen; sie wird niemals ihre Kräfte gegen die Freiheit irgendeines Volkes gebrauchen", dekretierte die Nationalversammlung feierlich am 22. Mai 1790. Zwei Jahre darauf begann die Gironde ihren „Kreuzzug f ü r die Freiheit" gegen das alte Europa, der eine endlose Kette von Kriegen und Eroberungen einleitete. Das souveräne Volk, dessen demagogische Führer die alten Machthaber vernichtet hatten, zeigte sich unendlich viel ehrgeiziger als alle seine früheren Monarchen. Die Gloire der Krone war von Söldnerheeren bescheidenen Umfangs erfochten worden; für die Gloire der Nation erhob sich das ganze Volk und brachte jedes Opfer. Im Innern waltete die Schreckensherrschaft der Danton, Robespierre, Marat — Gestalten, in denen die Dämonie der Macht selbst Fleisch und Blut geworden schien. Vor dem Terror, vor der „machiavellistischen" Grausamkeit ihrer Gewalttaten verblaßte alles, was man von der „Despotie" des Ancien régime jemals, erlebt hatte. Es zeigte sich, daß die Politisierung der Massen erst recht zur Dämonisierung des Politischen führen kann; denn das Dämonische haftet ja.nicht an der Staatsform, sondern am kämpferischen Wesen der Macht. Und wenn die alte Monarchie in ihren Willkürakten noch beschränkt wurde: durch uraltes Herkommen, das die obersten Staatsgerichtshöfe überwachten, durch gewisse Reste altständischer Einrichtungen und durch tausend Rücksichten auf die Wünsche und Bedürfnisse der altfeudalen Gesellschaft und ihrer Korporationen — für die neuen, populären Staatsgewaltigen gab es überhaupt keine Schranke der Willkür mehr. Denn welche Autorität sollte wohl dem entgegentreten, der sich auf die oberste, ja einzige jetzt noch anerkannte Autorität, auf den „Volkswillen", berufen konnte? Wer diese Vollmacht besaß, dessen Wille galt nun vollends absolut. Das blieb auch so (ja es wurde erst vollends klar), als die revolutionären Schcingrößen im Strudel wilder Empörung über ihre Schandtaten wieder versanken und nun für Frankreich ein Retter aus dem Chaos erstand — ein Befreier, der in jedem Zuge dem gewalttätigen Uomo virtuoso Machiavellis glich: die großartige Condottieregestalt Bonapartes. Der Typus 127

des rücksichtslosen Aktivisten, der sich durch „große Unternehmungen und aufsehenerregende Taten" emporbringt; der seine Autorität nicht auf altes Herkommen gründet, sondern ausschließlich auf den sichtbaren Erfolg, dem ja (nach Machiavelli) die Masse immer zujubelt. Der Typus des Helden, der eine ganze Nation zum Einsatz für die äußere Macht des Staates zwingt; der sie aus tiefem moralischem Verfall, heillosem innerem Hader zu neuer Geschlossenheit und Größe emporführt, alle kriegerischen Tugenden weckt, Religion und Kirche nur noch als Hilfsmittel staatlicher Autorität gelten läßt. In dieser Herrschergestalt faßt sich gleichsam alles zusammen, was an kämpferischer Virtù in der festländischen Staatenwelt bis dahin sichtbar geworden war; sie erscheint wie eine Erfüllung der Visionen Machiavellis. Und der zähe Kampf Englands mit dem Beherrscher des ganzen Kontinents erscheint wie ein Wettringen zweier feindlicher Prinzipien. Aber auch die unbändige Kraft des Korsen erlag schließlich der Dämonie ihrer eigenen Macht. Der Mißbrauch der Ideale nationaler Freiheit und Größe, die Frankreich zur Hegemonie emporgetragen hatten, zur Verhüllung nackten, selbstsüchtigen Machtgenusses rief zuletzt geheimen Widerspruch innerhalb der eigenen Nation, vor allem aber die Empörung der unterdrückten Völker wach. Erst unter der Herrschaft des Korsen erwachten sie zu vollem Bewußtsein ihrer nationalen Geltungs- und Freiheitsansprüche. Das Ende war Napoleons Sturz und die Wiederherstellung der alten bourbonischen Monarchie durch die Siegermächte. Diese künstliche Restauration einer historischen Erscheinung von vorgestern hat nun freilich ein halbes Menschenalter nicht überdauert. Zur Niederhaltung des einmal erwachten politischen Selbstbewußtseins der Regierten war die Autorität dieser Schemmonarchie viel zu schwach. Indessen die wilde Leidenschaft des politischen Kämpfertums, das einst ganz Europa erschüttert hatte, ist doch auch nicht wiedergekehrt. Im Laufe eines Jahrhunderts ist sie allmählich verraucht, zum mindesten verblaßt. Eine ganze Reihe von weiteren fehlgeschlagenen oder nur halb gelungenen Revolutionen und Staatsstreichen hat den französischen Bürger schließlich ernüchtert. Nach und nach verloren 128

die politischen Programme und Schlagworte aller Parteien ihren ursprünglichen Glanz; denn sie hatten alle nacheinander Gelegenheit, sich durch praktische Fehlleistungen zu kompromittieren. Man wurde mißtrauisch gegen die Fähigkeit menschlicher Vernunft, Ideallösungen der gesellschaftlichen Probleme zu finden und mit staatlicher Gewalt durchzusetzen. Nirgends ist das hybride Unternehmen der großen Revolution bitterer kritisiert worden als in Frankreich selbst. Man hat hier allzu reichliche Erfahrungen gesammelt mit der Dämonie staatlicher Macht, als daß man noch so leicht wie früher von der selbstlosen Idealität, von der unbestechlichen Tugend seiner Machthaber zu überzeugen wäre. So ist der Durchschnittsfranzose skeptisch gegen den Staat überhaupt geworden. Das hat dem Eindringen englischer liberaler Ideen den Weg bereitet. Der französische Demokratismus nahm immer mehr von der liberalen Farbe an, während gleichzeitig der englische Liberalismus (im Zeitalter allmählichen Ausbaus einer modernen bürokratischen Staatsverwaltung seit 1832, die den alten Adelsstaat nach dem Vorbild kontinentaler Staatswesen umgestaltete), sich stark ins Französisch-Demokratische verfärbte. Die beiden westeuropäischen Großstaaten wurden einander ähnlicher; „westeuropäisches Denken" wurde allmählich ein fester politischer Begriff. Dazu trug nicht wenig bei, daß Frankreich auch außenpolitisch schwere Enttäuschungen erlebte, die sein altererbtes kontinentales Hegemoniestreben nachgerade als utopisch erscheinen ließen. Die Niederlage von 1814/15 war das Werk des ganzen verbündeten Europa gewesen; die noch viel schwerere von 1870/71 verdankte man dem inzwischen gewaltig verstärkten deutschen Nachbarn allein. Die Folge war, daß neue Rcvanchestimmungen und müde Resignation lange miteinander kämpften. Es war ein sehr kluger Schachzug Bismarcks, daß er den Franzosen half, ihre Enttäuschung zu überwinden, indem er ihnen den Erwerb großer überseeischer Kolonien erleichterte. Er lenkte sie dadurch bewußt von Mitteleuropa, vom Ehrgeiz kontinentaler Machtkämpfe ab. Zugleich machte er sie zu Rivalen Englands und zog aus der so zeitweise entstehenden kolonialen Eifersucht großen politischen Nutzen. Was er nicht voraussehen konnte, war die Möglichkeit, daß Frankreich diese Rivalität durch friedliche ~ Verständigung mit dem saturierten 9

Ritter,

Dämonie

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englischen Empire beilegen und gemeinsam mit diesem, das Deutschlands wachsende Macht ebenfalls fürchtete, eines Tages sich gegen uns wenden könnte. Und doch waren es gerade seine kolonialpolitischen Erfolge, die das erschütterte Selbstvertrauen Frankreichs noch einmal hoben und so die Mächtekonstelktion von 1914, die große Allianz des ersten Weltkrieges, mit heraufführen halfen. Das Ende war das Versailler Vertragswerk und die Erneuerung des altfranzösischen Allianzsystems zur Niederhaltung Mitteleuropas — aber in modernisierter Form. Sie erfolgte diesmal unter dem Schlagwort der „Sicherheit Frankreichs", nachdem dessen Boden die ganzen Kriegsjahre über (anders als im 17. Jahrhundert!) der Schauplatz des blutigen Ringens gewesen war. Um diese Sicherheit zu verstärken, hat sich später die Republik ihren Ostwall geschaffen und sich damit noch stärker dem Typus der englischen Inselmacht angenähert. Ohne seine Maginotlinie, ohne Verstärkung seiner schwindenden Volkskraft aus dem weiten Kolonialreich, ohne ein starkes maritimes Aufgebot zur Sicherung der Mittelmeerverbindungen, ohne Allianz mit England wäre Frankreich außerstande gewesen, seine europäische Großmachtstellung zu behaupten. Kein Wunder, daß auch seine politische Ideologie sich nun ganz dem „insularen" Typus angeschlossen hat. In Mitteleuropa war man nach dem Sturz des revolutionären bonapartischen Kaisertums eifrig bemüht, wieder in die Bahnen der kühl-rationalen Kabinettspolitik des 18. Jahrhunderts einzulenken. Metternichs Restaurationspolitik kannte im Grunde nur ein Ziel: die dämonischen Gewalten der Tiefe, welche die Revolution ans Licht gerufen hatte, wieder abzusperren von der Macht, um die Wiederkehr so gewaltiger Explosionen nationalen Machtwillens für immer zu verhüten. Sie nahm damit eine sehr alte Tradition wieder auf; denn schon immer hatten die absolut regierenden Fürsten des Festlandes und ihre Räte die politische Technik Machiavellis vor allem so verstanden: daß sie lehre, Verschwörungen und Aufstände niederzuhalten, der fürstlichen Herrschaft den Alleinbesitz der Macht zu sichern. Diese alten Künste „machiavellistischer" Kabinettspolitik wurden jetzt wieder hervorgeholt. Zugleich aber versuchte man, vor allem in Deutschland, die christlichen Staatsideale des Mittelalters und der Reformations130

zeit zu erneuern. Das patriarchalisch-ständische Regiment der alten Zeit ließ sich freilich nicht einfach wiederherstellen — öder doch nur in einigen Kleinstaaten, und auch da nur recht unvollkommen; denn allzu tief hatten Revolution und Empire auch den deutschen Boden umgepflügt. Aber wenigstens die christliche Monarchie von ehedem, die halb historische, halb religiöse Verehrung der „angestammten Fürstenhäuser" sollte wieder aufleben und der aufgeklärten, vernünftigen Regierungskunst fürstlicher Dynastien ihr altes Monopol sichern. So wurde der neugeprägte Begriff der „Legitimität" als Schutzmittel gegen die Revolution in Umlauf gebracht; in den romantischen Stimmungen der Zeit und in einem Lande, dessen historische Tradition niemals völlig abgerissen war, fand er starken Widerhall. Auch die liberale Bewegung, die trotz aller Abwehrmaßnahmen von Westeuropa her eindrang, hat den Glauben an die historische Autorität der deutschen Monarchien niemals ernstlich zu erschüttern vermocht. So dämonische Leidenschaften wie die große Französische Revolution hat keine ihrer deutschen Nachahmungen im vorigen Jahrhundert aufgerührt. Vollends seit der Begründung moderner Volksvertretungen und monarchisch-konstitutioneller Verfassungen in allen deutschen Staaten, zuletzt auch im neugeschaffenen Reich, schien ein leidlich befriedigendes Gleichgewicht zwischen Autorität und Freiheit hergestellt. Die Epoche von 1815 bis 1914 ist — alles in allem — das friedlichste aller Jahrhunderte der neueren deutschen Geschichte (und Europas) gewesen, mit der Folge eines unvergleichlichen Aufschwungs materieller Wohlfahrt und zivilisatorischen Fortschritts. Im Gegensatz zu Frankreich ging die Politisierung des deutschen Volkes zwar nicht ohne revolutionäre Erschütterungen, aber doch in weit ruhigerem Tempo vor sich; sie führte nicht zu jenem Machtrausch fanatisierter Massen, dessen Schrecken Europa nach 1792 erlebt hatte. Dazu trug nicht wenig bei, daß auch die Überlieferung christlicher Frömmigkeit in Deutschland, trotz Aufklärung und Rationalismus, noch immer eine sehr lebendige Macht geblieben war. Der alte protestantische Untertanengehorsam war praktisch kaum erschüttert. Wie eng sich christliche Frömmigkeit mit den nationalen Stimmungen und Leidenschaften der neuen Zeit verbinden konnte, zeigen Erscheinungen wie 131

Joseph Görres, der Freiherr vom Stein und E. M. Arndt, zeigt vor allem der Verlauf der Freiheitskriege'von 1813 bis 1815 und ihre Wirkung auf das deutsche Geistesleben. Jetzt erst recht wurde sich der deutsche Geist seiner religiösen Eigenart im Gegensatz gegen das „ungläubige Welschtum", gegen den Rationalismus der Franzosen bewußt. Vor allem in der deutschen Burschenschaft ging das neu erwachende Nationalbewußtsein eine sehr enge Verbindung ein mit einer neubelebten protestantischen Frömmigkeit. In den ,, christlich-deutschen" Tischgesellschaften der Berliner Romantiker, an denen sich begabte Söhne des preußischen Adels, junge Offiziere und Juristen, eifrig beteiligten, wurde eine ebenso betont christliche wie nationaldeutsche Haltung gepflegt; aus diesem Kreise gingen die späteren Führer der preußisch-konservativen Partei hervor. Daß ihre Religiosität, die ursprünglich mehr pietistische Züge trug, sich mehr und mehr zu einer streng rechtgläubigen lutherischen Kirchlichkeit entwickelte, entsprach durchaus dem Zug der Zeit, der Restaurationsepoche, die ein unerwartet kräftiges Neuerwachen kirchlicher Gläubigkeit auf protestantischer wie auf katholischer Seite erlebte. Damit war (vor allem auf seiten der Protestanten) eine Neubelebung monarchischer/ Staatsideen, in betontem Gegensatz zur liberalen Zeitströmung, eng verbunden. Die g^oße Masse des gebildeten deutschen Bürgertums wurde nun freilich von dieser religiösen Erweckungsbewegung nicht erfaßt. Sie folgte dem Gestirn der neuen idealistischen Philosophie, das über der geistigen Welt des Liberalismus leuchtete. Aber geradezu christentumsfeindlich, wie der französischeRationalismus der vorangehenden Epochc, war auch diese säkularisierte deutsche Bildung nicht. Unter Führung der Philosophen des Idealismus und der Historiker der ersten Jahrhunderthälfte npigte sie (von seltenen Ausnahmen, wie etwa Wilhelm von Humboldt, abgesehen) viel eher zu einer Aussöhnung als zur Betonung der Gegensätzlichkeit zwischen menschlicher Vernunft und offenbarter Religion, zwischen neuhumanistischklassizistischen und christlich-protestantischen Ideen. Auf einer ungeklärten Verbindung von humanistischen und idealistischchristlichen Traditionen beruhte die Bildung des gesamten deutschen Bürgertums im 19. Jahrhundert. 132

Das, alles war auch politisch unmittelbar wichtig. Zunächst wurde dadurch verhindert, daß die neuen Ideale von nationaler Einheit und Größe, die im deutschen Bürgertum seit dem Erlebnis der Freiheitskriege aufkamen und sich zu einer politischen Nationalbewegung von immer stärker anschwellender Mächtigkeit sammelten, zu einer so radikalen Säkularisierung des deutschen öffentlichen Lebens führten wie im Frankreich der großen Revolution. Der Glaube an die Nation hatte dort schon sehr früh den Glauben an Gott verdrängt oder doch in den Schatten gerückt. Der moderne Nationalstaat war dort schon sehr bald zum Herrn, ja zum Feind der christlichen Kirchen geworden. In der Zeit der Jakobiner hatte er. zum erstenmal seine Autorität auch als Quell aller wahren Sittlichkeit und Religion durchzusetzen versucht. Die politische Tugend des Republikaners hatte keine christlichen Tugendideale mehr neben sich gelten lassen. Erst spät, und nicht ohne starke Einwirkung englisch-liberaler'Ideen, hat der französische Staat seinen Anspruch auf totale Beherrschung der Geister und seinen „laizistischen" Kampf gegen die Kirche eingestellt oder doch stark eingeschränkt. Im Deutschland des 19. Jahrhunderts blieben solche Totalitätsansprüche unbekannt. Ohne Zweifel hätte man sie hier als unberechtigt, ja als dämonische Hybris empfunden und verworfen. Dem deutschen liberalen Nationalismus wäre ein nationaler Machtstaat, der alles Leben, auch das geistige, insbesondere das religiöse, zu beherrschen beanspruchte, unheimlich und zuwider gewesen. Auf der anderen Seite wollte er doch auch von einer christlichen Kirche als öffentlicher Macht, als Hüterin der öffentlichen Sittlichkeit nichts mehr wissen; er verwies sie auf den engen Bereich der privaten Erbauung ihrer Gläubigen und sah nicht ohne Befriedi'gung^ daß deren Zahl langsam zusammenschrumpfte, während gleichzeitig die Masse der Bevölkerung rapide anstieg. Der national-liberale Bürger, dem die „Kultur" als Endprodukt einer langen geistesgeschichtlichen Entwicklung die Stelle der Religion vertrat, sah immer weitere Zweige der öffentlichen Erziehung, der Wissenschaftspflegc, der Betreuung geistigen Lebens überhaupt, der sozialen und charitativen Fürsorge aus den Händen der Kirche in die des Staates übergehen. Er vertraute darauf, daß der moderne Machtstaat, als „Rechtsstaat" 133

in allen seinen Handlungen unter öffentliche Kontrolle gestellt, im Begriff sei, sich mehr und mehr zu einem „Kulturstaat" zu wandeln, der u. a. auch berufen und imstande sei, die ehemalige Rolle der Kirchen als Erzieher des Volkes, als Hüter und Betreuer geistigen Lebens immer ausschließlicher zu übernehmen. Schon die Rechtsphilosophie Hegels hatte den Staat als „die Wirklichkeit der sittlichen Idee" gefeiert. Er sei „göttlicher Wille als gegenwärtiger, sich zu wirklicher Gestalt und Organisation einer Welt entfaltender Geist", sei „Einbildung der Vernunft in die Realität, woran die ganze Weltgeschichte gearbeitet und durch welche Arbeit die gebildete Menschheit die Wirklichkeit und das Bewußtsein des vernünftigen Daseins, der Staatseinrichtungen und der Gesetze gewonnen hat". Wohl habe es „geschichtliche Zeiten und Zustände der Barbarei gegeben, wo alles höhere Geistige in der Kirche seinen Sitz hatte und der Staat nur ein weltliches Regiment der Gewalttätigkeit, der Willkür und der Leidenschaft war". Aber diese Zeiten gehörten der Geschichte an. „Die Entwicklung der Idee hat vielmehr dies als Wahrheit erwiesen, daß der Geist, als frei und vernünftig, an sich sittlich ist, und die wahrhafte Idee die wirkliche Vernünftigkeit, und diese ist es, welche als Staat existiert." Das Staatsgesetz ist für das denkende Bewußtsein sittliche Wahrheit; während die Kirche in Fragen des Sittlichen und des Rechtes nur subjektive Meinungen, Glauben, Überzeugungen bietet, hat der Staat vielmehr das Wissen davon: „in seinem Prinzip bleibt wesentlich der Inhalt nicht in der Form des Gefühls und Glaubens stehen, sondern gehört dem bestimmten Gedanken an (23)". Von irgendwelcher Dämonie der Macht war in dieser idealistischen Staatsphilosophie nichts mehr zu spüren. Ihr moralischer Optimismus erinnerte wieder stark (und nicht zufällig!) an die Staatsgläubigkeit althellenischer Denker. Um ihre historische Bedeutung ganz zu erfassen, tut man gut, ihre soeben zitierten Sätze zu vergleichen mit der tiefsinnigen Einleitung, die der Historiker Fr. Chr. Dahlmann seiner 1835 erschienenen „Politik" voranschickte. Da ist das Fortwirken der protestantisch-christlichen Ideenwelt sehr viel stärker spürbar, weshalb denn auch das Bewußtsein von der möglichen Dämonie der 134

politischen Macht noch deutlich nachzittert. Dahlmann weiß noch von dem dunklen Rätsel, „wie es denn gekommen sei, daß die Menschheit von Anfang her so schief gegen das Licht steht, daß sie bei jedem Schritte einen langen Schatten wirft, warum es unmöglich ist, die Lehren der Religion in ihrer ungetrübten Reinheit als Anforderung in den Menschenstaat einzuführen" und „warum, was die höchsten Beziehungen angeht, eines gut sein kann (dem Sittengesetz des Individuums entsprechend), ein anderes aber recht (dem Gebot des Staates entsprechend)". Für ihn „tritt deshalb der Staat als solcher nicht' an die Stelle der göttlichen, unbedingt zu befolgenden Ordnung, und es kann die Vorschrift nicht vor der Wahrheit bestehen, daß die äußere Pflicht vor der sittlichen erfüllt werden müsse; wiewohl nichts auf der Erde der göttlichen Ordnung so nahesteht als die Staatsordnung". Aber nicht solchen Betrachtungen, die schon bald nach der Jahrhundertmitte altfränkisch wirkten, sondern der heidnischoptimistischen Staatsgläubigkeit Hegels gehörte die Zukunft. Die gesamte deutsche Bildungswelt sah das Werden ihres nationalen Staates so tief eingebettet in den Strom einer glücklichen Aufwärtsentwicklung menschlicher Kultur, daß sie von einem naturbedingten Gegensatz zwischen Politik und Moral, zwischen Macht und Recht nicht mehr viel empfand. Mit größtem Vertrauen blickte nicht nur das höhere deutsche Beamtentum (das man auf preußischen Hochschulen im Geiste Hegels erzog), sondern (trotz aller Unzufriedenheit und Nörgelei im einzenen) der deutsche Durchschnittsbürgcr zur Macht des militärischbürokratisch organisierten, aber von der öffentlichen Meinung kontrollierten Staates auf. Seine höhere geistige Rechtfertigung erhielt dieses Vertrauen durch die Arbeit der deutschen Historiker, voran Rankes, der mit seiner Staats- und Geschichtsauffassung das deutsche historische Denken bis heute richtungweisend bestimmt hat. Schon in seinem „Politischen Gespräch" von 1836 stellt er sich in bewußten Gegensatz zur westeuropäischen Lehre vom Ursprung des Staates aus einem Staatsvertrag (24). Denn nicht so sehr auf die Sicherung der inneren Freiheit wie auf die äußere Unabhängigkeit der Nation kommt es dem Historiker an, in dessen Denken das Erlebnis der Freiheitskriege noch deutlich nachzittert. Der Staat ist 135

nicht bloße Ordnungsmacht, nicht bloßes Hilfsmittel zur Überwindung der Anarchie und Lebenssicherung der einzelnen, sondern ein „ursprüngliches", „real-geistiges" Wesen, unableitbar aus „Rücksichten des Privatlebens", überhaupt aus allgemeinen Prinzipien, etwa des Rechts; er ist vor allem Kräfteballung, entspringend aus rein geschichtlicher Zufälligkeit, je nach „Natur der Dinge und Gelegenheit, Genius und Glück", steigert sich aber in seinen höchsten Ersdieinungsformen zu mehr als bloß physischer Gewalt, nämlich zur „moralischen Energie", die das ganze innere Leben eines Volkstums in sich aufnimmt. Als nationaler Machtstaat wird er zur wichtigsten „Modifikation des nationalen Daseins", gewinnt er „geistige, lebenhervorbringende, schöpferische Kräfte", ja, selber ideenhaften Charakter, wird so zur „geistigen Wesenheit, originalen Schöpfung des Menschengeistes — man darf sagen, zum Gedanken Gottes". Das große Drama der Weltgeschichte, das sich der äußeren Betrachtung als eine Kette ewig" fortgesetzter Machtkämpfe darstellt, erscheint der tieferen Betrachtung als „Wettstreit moralischer Energien" — ein Wettstreit, der die höhere Gemeinschaft der Völker und Staaten nicht aufhebt, aber das Abendland zu einer Vielheit sich selbst behauptender nationaler Individualitäten gestaltet. Kampf, nicht Vertrag steht am Anfang jeder staatlichen Neubildung; ja, das Leben jedes Staates wird recht eigentlich bestimmt von dem „Moment, in welchem die äußere Unabhängigkeit erkämpft und in Besitz gebracht ist". Denn „das Maß der Unabhängigkeit gibt einem Staate seine Stellung in der Welt; es legt ihfh zugleich die Notwendigkeit auf, alle inneren Verhältnisse zu dem Zweck einzurichten, sich zu behaupten". Das ist die Lehre vom sog. „Primat der Außenpolitik" — ein tiefsinniger, die Geschichtswissenschaft stark anregender Gedanke, der aber so nur auf kontinentalem Boden möglich war und in besonders prägnanter Form den Gegensatz festländischen, politischen Denkens zum insularen erkennen läßt. Ranke war politisch ein gemäßigter Konservativer. Aber auch die kleindeutsch-liberale Schule, politisch aktiver als der Altmeister deutscher Historie, teilte sein loyales Vertrauen zur Macht. .Er tritt sogar noch verstärkt in den Schriften der Historiker und Volkswirte der Bis136

marckzeit, etwa bei Heinrich v. Sybel, J. G. Droysen oder Gustav v. Schmoller zutage. Sie wqllen „Realpolitiker", nicht Utopisten sein und betonen darum besonders stark den Machtcharakter aller wahren Politik. „Das dem Staat Wesentliche", sagt Droysen in seinen Vorlesungen über „Historik", „ist die Idee der M a c h t . . . Er ist der Herr, um die Macht zu haben. Das ist die Summe aller Politik". Aber damit soll nicht etwa die Herrschaft der rohen Gewalt proklamiert werden. Denn nur auf niedrigen Entwicklungsstufen ist der Staat wesentlich nur Gewalt und Willkür. „Aber sein Fortschreiten ist, daß er das Wesen der Macht tiefer, wahrer, sittlicher zu fassen lernt, daß er endlich in dem freien Willen der Menschen, in ihrer Freiheit, Hingebung,, Begeisterung, in der höchsten Entwicklung alles Guten, Edlen, Geistigen die wahre Macht erkennt und zu organisieren lernt." So erscheint der liberale Staat als Gipfel einer Entwicklung, in der sich die Macht fortschreitend entdämonisiert, bis sie zuletzt nicht mehr als Herrschaft über die „sittlichen Sphären" der Gesellschaft auftritt, sondern diese frei walten läßt und sich darauf beschränkt, den „Ausgleicher" zwischen ihnen zu spielen und „rastlos zwischen ihnen hin und her zu parlamentieren" (25). Einem solchen parlamdntierenden, statt rücksichtslos gebietenden Staat darf man freilich ruhig vertrauen. Und dieses Vertrauen wächst erst recht, als das alte Elend der deutschen Vielstaaterei endlich überwunden, das bismarckische Reich als Bund der deutschen Obrigkeiten begründet wird. Indem sich jetzt die nationale Idee mit der von Hegel gepriesenen Staatsvernunft verschmilzt, schwindet auch der letzte Rest von Widerwillen und Besorgnis vor dem Dämonischen der Macht, wie es sich in den liberalen Nationalisten eine Zeitlang, während des preußischen Verfassungskonfliktes, gegenüber Bismarck, dem großen Machtmenschen und „Rechtsbrecher", geregt hatte. Seltsam fremdartig, ganz und gar unzeitgemäß erscheint in den Jahren nach der Reichsgründung die skeptisch-kühle, ja ablehnende Haltung des großen Schweizer Historikers Jakob Burckhardt gegenüber dem „siegesdeutschen" Selbstbewußtsein seiner Fachgenossen im Reich und dem bismarckisch gewordenen Nationalismus überhaupt. Seine Sorge für die Zukunft europäischer Kultur, die er von der 137

Dämonie des Politischen im Zeitalter einer kommenden Massendemokratie schwer bedroht glaubte, hat er damals nur in Privatbriefen an seine vertrautesten Freunde ausgesprochen (26). Noch viel zeitfremder, wie der Nachhall einer längst versunkenen Epoche, erklang die Stimme des romantischen Legitimisten E. L. von Gerlach, des „Rundschauers" der „Kreuzzeitung", in den Siegesjubel von 1866 und 1871 hinein: bittere Klagen eines prinzipienfesten Moralisten über die „gott- und rechtlose Raubgier" der neuen Zeit, über den „frevelhaften großen Abenteurer", der rücksichtslos über seine eigenen, so oft feierlich verkündeten Grundsätze christlich-monarchischer Politik hinwegschreitet, der keine Lüge, keinen Vertragsbruch, keine Zerstörung fremder Rechte, kein Bündnis mit den illegitimen Mächten der Revolution, keine Schädigung kirchlicher und monarchischer Autorität scheut — dem es nur um die Macht, um nichts als die Macht zu tun ist. Gerlach mußte erleben, daß sogar der engste Kreis seiner christlich-konservativen Freunde und Gesinnungsgenossen von ihm abfiel; daß auch sie nur allzu rasch das Lebensbedürfnis Preußens nach Raumerweiterung, seine „innere Tendenz zum Wachstum", seine „Mission zur Führung des Gesamtvaterlandes" entdeckten; daß sie alle Kriegsschuld einseitig bei den Österreichern und das Bündnis mit der revolutionären Regierung Italiens keineswegs mehr anstößig fanden; daß auch sie mit einem Male bemerkten, rücksichtslos-kämpferischer Machtgebrauch gehöre zum Wesen aller echten und zumal der preußischen Politik, und ohne Rechtsbruch sei nun einmal keine schöpferische Neugestaltung der Staatenwelt möglich. Der große Enderfolg, die gewaltige Machterweiterung Preußens und dann vollends die nationale Einigung, deckte alle Anklagen wegen Rechtsbruchs, Gewaltsamkeit, Unwahrhaftigkeit der bismarckischen Politik zu (27). Nur im Kreise der großdeutsch-katholischen Opposition wurden sie hartnäckig festgehalten. Die Konservativen fügten sich, vergaßen ihre christlich-legitimistischen Grundsätze und wandelten sich zu einer halb wirtschaftlich orientierten Agrarpartei um. Die Liberalen aber lernten von dem gefeierten Reichsgründer opportunistische „Realpolitik". Das „dämonische" Wesen bismarckischer Machtpolitik haben 138

nun freilich alle Parteien, Liberale wie Konservative, auch nach der Reichsgründung ausgiebig an sich selber erfahren müssen. Aber das waren Parteisorgen, nicht Sorgen der Nation. Der deutsche Durchschnittsbürger, der die Tagespolitik seinen Abgeordneten und Zeitungsleuten überließ, stellte sich über alle Parteien hinweg mehr und mehr mit starkem Vertrauen hinter den Kanzler als den großen Führer Deutschlands. Vor allem vertraute er seiner Außenpolitik, die seit der Reichsgründung ein sehr friedliches Aussehen gewann und von einer „ D ä m o n i e " (trotz aller Kühnheit) kaum noch etwas erkennen ließ. D a s Bild des „Gewaltmenschen" der sechziger Jahre verschob sich: an die. Stelle trat ein lutherisch-christlicher, d . h . seiner Verantwortung vor dem christlichen Gott bewußter Staatsmann, der jeder Versuchung zu „Präventivkriegen", überhaupt jeder Überspannung außenpolitischer Machtziele widerstand (28). Der bismarckische Nationalstaat erklärte sich selbst für „ s a t u r i e r t " in seinem äußeren Machtbesitz; E r oberungsziele entwickelte er nur noch jenseits der Meere, und auch diese erst spät und in bescheidenem Umfang. Freilich mußte er zur Verteidigung seiner äußeren Machtstellung immer stark gerüstet sein. D a s Gefühl des äußeren Bedrohtseins, das Bewußtsein vom Primat der Außenpolitik als Grundgesetz alles kontinentalen Staatslebens ging also niemals verloren, verstärkte sich in den letzten Jahrzehnten vor dem Weltkrieg sogar immer mehr. Aber niemand als höchstens eine kleine Gruppe „extremer Nationalisten" dachte daran, einen Krieg, wenn es wirklich ernst damit werden sollte (und er erschien doch immer noch in unglaubhaft weiter Ferne!), anders denn als reinen Verteidigungskrieg zu führen. Und auch im Innern schien die Dämonie des echten Machtkampfes endgültig gebannt: durch eine starke obrigkeitliche Autorität, durch intensive Pflege wirtschaftlicher Wohlfahrt, die überwältigend schncll zunahm, durch immer sorgfältiger und vielseitiger ausgebaute soziale Reformen; das Gespenst der roten Revolution, das Bismarck so oft heraufbeschworen hatte, verlor allmählich seine Schrccken, seit die Machtkämpfe der Parteien und Klassen sich zu bloßen Redcturnicren in der wohlabgezirkelten parlamentarischen Arena verliefen. Vor allem: trotz aller Opposition der Parteien gegen die monarchische Führung, 139

trdtz aller Unzufriedenheit und (zuweilen bloß gespielten) „Reichsverdrossenheit" behielten sie doch alle das Bewußtsein, ein festes Da^h klarer Rechtsordnungen über dem Kopf zu haben. D e r ' technisch-juristische Ausbau des „Rechtsstaates" mit seinen vielen Sicherungen formaler „Legalität" war nirgends weiter getrieben als bei uns. Aus dieser allgemeinen Lage Deutschlands im 19. Jahrhundert ist auch die Beurteilung Machiavellis durch die deutsche Nationalbewegung zu verstehen. Zunächst hat seine Lehre von der Notwendigkeit der Macht als Voraussetzung aller nationalen Freiheit und Größe geradezu als Erlösung aus den kosmopolitischen Träumereien des 18. Jahrhunderts gewirkt — ganz ähnlich, wie in der Nationalbewegung der Italiener des Risorgimento. Deutsche und Italiener, die beiden schicksalverwandten Völker der Festlandsmitte, hatten jahrhundertelang unter der Übermacht der westeuropäischen Großmächte und unter ihrer eigenen trostlosen politischen Zersplitterung gelitten. Wer aus der Ohnmacht emporstrebt zu neuer politischer Geltung, wird das, was ihm fehlt, die Macht, als ideales Ziel seiner Sehnsucht weit inbrünstiger umfassen als der, dem ihr langgewohnter Besitz eine Selbstverständlichkeit geworden ist. So kam es, daß selbst. für die friedlich gesinnten, zu politischer Ehrbarkeit und strenger Rechtlichkeit erzogenen Deutschen des beginnenden 19. Jahrhunderts der Machiavellismus seine alten Schrecken verlor. Indem sie sich von der früheren Gemeinsamkeit westeuropäischer Aufklärungsidcen lossagten, näherten sie sich wie von selbst der Ideenwelt des alten Italieners. Unter dem Druck der napoleonischen Fremdherrschaft erwachte ein neuer kämpferischer Geist, der sich auch auf Machiavelli als frühesten Zeugen nationalen Freiheitsdranges der Unterdrückten besann. Das Buch vom „Principe" erlebte eine Art von Renaissance: Hegel und Fichte, die damals führenden Philosophen, haben seine kämpferische Staatsidee für Deutschland gleichsam neu entdeckt. Freilich wurde diese sogleich abgewandelt und ,in ihrer Tragweite in einer Weise eingeschränkt, die auch für den späteren deutschen Liberalismus charakteristisch geblieben ist. Wenn die deutschen Liberalen des vorigen Jahrhunderts sich auf Machiavelli beriefen, so dachtcn sie — aus der be140

sonderen deutschen Lage jener Epoche heraus — immer nur an die Machtkämpfe der großen Nationalstaaten untereinander (insbesondere an die Kämpfe Deutschlands um seine Freiheit und Machtstellung in Europa), nicht an die Anwendung machiavellistischer Mittel im innerpolitischen Ringen um die Macht. Hier, meinten sie, sei strenge Rechtlichkeit Pflicht und werde von der öffentlichen Meinung unbedingt gefordert (29). Wie hat sich der Liberalismus der sechziger Jahre sittlich entrüstet über die „machiavellistische" Politik Bismarcks, des rücksichtslosen Aktivisten — solange er noch mit ihm als dem Führer altpreußischer Reaktion im Kampfe lag! Der Zustand, wie ihn die Renaissancestaaten Italiens gezeigt hatten: das beständige, wilde Ringen der Parteicliquen um die Macht, der beständige Kampf auf Leben und Tod, in dem alle Mittel erlaubt sind, schien in der gesicherten Ordnung des modernen, nationalen monarchischen Rechtsstaates für immer überwunden. Gerade so hat schon J. G. Fichte, der Prophet des kommenden deutschen Nationalismus, auf Machiavelli zurückgeblickt. Im Innern der Staaten, meint er, herrscht nun schon seit Jahrhunderten gesicherter Friede: „Die Fürsten sind im Frieden mit den Völkern und bedürfen in dieser Rücksicht gegen sie keiner Politik und keines anderen Mittels, sie zu zähmen, als eben des Gesetzes selber; und so ist denn dieser Teil der Lehren des Machiavelli, wie man ein widerstrebendes Volk unter das Joch der Gesetze erst beugen solle, für unser Zeitalter erledigt (30)." 'Nur für den Kampf der Staaten untereinander, die ja keine richterliche Gewalt über sich kennen, habe Machiavelli auch für unsere Zeit das wahre Gesetz der Macht entdeckt. Hier könne es niemals eine gesetzliche Abgrenzung gegenseitiger Rcchte geben, hier könne man nicht auf gegenseitigen guten Willen zahlen. „Überdies will jede Nation das ihr eigentümliche Gute so weit verbreiten, als sie irgend kann, und so viel an ihr liegt, das ganze Menschengeschlecht sich einverleiben, zufolge eines von Gott eingepflanzten Triebes, auf welchem die Gemeinschaft der Völker, ihre gegenseitige Reibung aneinander und ihre Fortbildung beruht." Indem aber nun andere Völker dasselbe wollen, geraten sie notwendig in Streit miteinander. „Und da die Kriegsübung nicht ausgehen darf, wenn die Menschheit nicht erschlaffen und 141

für den späterhin doch wieder möglichen Krieg verderben soll, so haben wir ja noch selbst in Europa, noch mehr aber in den andern Weltteilen, Barbaren genug, welche doch über kurz oder lang mit Zwang dem Reich der Kultur werden einverleibt werden müssen. In Kämpfen mit diesen stähle sich die europäische Jugend." Das alles war, trotz des Anscheins abstrakter Deduktion aus rein philosophischen Vordersätzen, aus der Notlage eines Deutschen geschrieben, der (im Frühjahr 1807!) sein Vaterland von fremder Gewalt erwürgt sieht und nun seine Landsleute aufruft, sich zu ermannen und weltbürgerliche Träume, die das politische Handeln lähmen, von sich abzuschütteln. Eben darum erscheint es uns als eines der frühesten Zeugnisse erwachenden nationalen Machtwillens. Aber was sind das für gefährliche Sätze! Der Keim des ganzen späteren „Militarismus" steckt darin. Dabei gehört es sehr wesentlich zum Charakter dieses frühen deutschen Nationalismus, daß er ( u n í wie er) sein Machtverlangen vor sich selbst sittlich zu rechtfertigen sucht: durch Berufung auf eine göttliche Kulturmission des eigenen Volkes — darin nicht unähnlich dem Imperialismus der Briten. Zu dem naiven Amoralismus des echten Machiavelli findet auch der Deutsche nicht mehr zurück. Ihm ist die Verklärung und sittliche Rechtfertigung der Macht durch den Inhalt der von ihr getragenen und geschützten nationalen Kultur unentbehrlich geworden — die ursprüngliche, reine N a h r haftigkeit des Machtwillens, wie Machiavelli ihn noch sehen konnte (dann freilich auch wieder durch seinen Virtu-Mythos verdeckte), würde ihm unerträglich sein; darum wird sie durch Idealisierung verhüllt. Sehr begreiflich; denn die Philosophie des deutschen Idealismus ist eine Spätfrucht rationalisierter christlicher Theologie. Sie ist von dem Heidentum des Renaissancemenschen sehr weit entfernt. Aber die Folge ist, daß der deutsche Philosoph nun auch die letzten Tiefen des von Machiavelli aufgerührten Problems nicht mehr erblickt. Die eigentliche Dämonie der Macht im Sinne Machiavellis hat sich ihm nicht erschlossen. Denn sie wird von der neu ausstrahlenden Idee der Nationalität, in'der sich Macht- und Kulturwille ZJJ einer unlöslichen Einheit verschmelzen, überglänzt. An die Stelle des „ S t a a t e s " mit seiner harten, brutalen Macht rückt 142

Fichte das „Vaterland", die politisch geeinte Nation. Die Nation aber ist ihm ganz unmittelbar eime Erscheinung des Göttlichen in der Welt, cter Ewigkeit in der Zeit. Im Volke ist „Göttliches erschienen, und das Ursprüngliche hat dasselbe gewürdigt, es zu seiner Hülle und zu seinem unmittelbaren Verflößungsmittel in die Welt zu machen". So werden „Volk und Vaterland zum Träger und Unterpfand der irdischen Ewigkeit" ( 3 1 ) — sie erhalten eine sittliche Würde von so hoch gesteigertem Rang, daß um dieses höchsten Endzwecks willen auch das Dämonische der politischen Machtkämpfe seinen Schrecken verliert. Dasselbe gilt von seinen geistigen Nachfahren im späteren deutschen Liberalismus und Nationalismus, bis hin zu' dem größten Epigonen des deutschen Idealismus, dem Historiker Heinrich v. Treitschke. Auch dieser bewundert Machiavelli: „Es wird immer Machiavellis Ruhm bleiben, daß er den Staat auf eigene Füße gestellt und in seiner Sittlichkeit von der Kirche freigemacht hat, und dann vor allem, daß er zum erstenmal klar ausgesprochen hat: der Staat ist Macht." „Denn das ist die Wahrheit; und wer nicht männlich genug ist, dieser Wahrheit ins Gesicht zu sehen, der soll seine Hände lassen von der Politik." Leider ist nur Machiavelli auf halbem Wege vom Mittelalter zur Neuzeit stehengeblieben. „Wenn er verb e l l t , den Staat von dc^Kirche l o s z u r e i ß e n , . . . kommt er doch nicht von der Vorstellung los, daß die Sittlichkeit überhaupt eine kirchliche ist, und indem er den Staat von der Kirche losreißt, reißt er ihn los vom Sittengesetz überhaupt." Das führt zu einer „tiefen Unsittlichkeit" seiner Staatslehre. „Nicht daß er gegen die Mittel der Macht völlig gleichgültig ist, widert uns an, sondern daß sich alles darum dreht, wie man die höchste Macht erwirbt und bewahrt, daß aber diese Macht selber für ihn gar keinen Inhalt hat. Daß die erworbene Macht sich rechtfertigen muß, indem sie verwendet wird für die höchsten sittlichen Güter der Menschheit, davon findet sich bei ihm keine Spur ( 3 2 ) . " Man sieht: für Treitschke ist es ebenso selbstverständlich, daß der Staat Macht ist („zum ersten Macht, zum zweiten Macht und zum dritten nochmals Macht", wie es an anderer Stelle heißt), wie daß er seine Kräfte für die „höchsten sitt143

liehen Güter der Menschheit" einsetzen kann und muß. Gleich darauf wird nun freilich mit Nachdruck versichert, daß „höchstes Gebot für den Staat immer sei, sich selbst und seine Macht zu behaupten": „das ist für ihn absolut sittlich." „Für seine Macht zu sorgen ist die höchste sittliche Pflicht des Staates." Während das Individuum sich für eine höhere Idee freiwillig oplfern kann, kennt der Staat nichts Höheres über sich; darum ist die Erhaltung seiner Macht schlechthin seine „höchste sittliche Pflicht" (33). Jeder Verstoß gegen das allgemeine Moralgebot gilt als gerechtfertigt, wenn es um dieses obersten Zweckes willen notwendig ist. Aber wie ist das nun zu verstehen? Soll der sittliche Zweck die unsittlichen Mittel zu heiligen vermögen? Würde Treitschke das nicht selbst als jesuitische Moral verdammen? Und wie kann die Machtbehauptung eines einzelnen Staates als „höchste sittliche Pflicht" gelten, wenn es doch „höchste sittliche Güter der Menschheit" gibt, die offenbar über dem einzelnen Staat und seinen Machtinteressen stehen, da sie es ja, sind, denen der Staat nach Treitschkes Meinung zu dienen hat? Hier liegt eine Unklarheit, ja Verworrenheit seines politischen Denkens offen zutage. Der Idealismus des Liberalen, noch aus christlichen und humanitären Überlieferungen stammend, hält fest an dem Glauben an höchste Menschheitsideale, an die kein Machtinteresse irdischer Staaten zu rühren vermag. Auf der anderen Seite drängt ihn seine enthusiastische Begeisterung für nationale Freiheit und Größe dazu, jede geistige Schranke aus dem Wege zu räumen, die dem Aufstieg Deutschlands zur Großmacht hinderlich werden könnte. Und als Historiker findet er die Einsicht des Machiavelli tausendfach bestätigt, daß der Besitz von Macht die erste notwendige Voraussetzung für die Behauptung nationaler Freiheit ist; ja er kann sich (auf Grund seiner Kenntnis der Geschichte) eine rechte, dauerhafte Blüte nationaler Kultur nur im Schutz eines mächtigen Nationalstaates vorstellen. So fließt ihm Geistiges und Politisches, Sittlichkeit und wehrhaftes Kämpfertum im Idealbegriff der Nation ununterscheidbar zusammen. Die Idee der Nation (bzw. des nationalen Machtstaates) steigt selbst zum Rang „der höchsten sittlichen Güter der Menschheit" auf. Der Widerstreit zwischen nationalem Machtinteresse und sitt144

lichem Bewußtsein des einzelnen erscheint nicht mehr als echter Pflichtenkonflikt. Und doch möchte der Liberale den Staat mit seinen Machtbedürfnissen nicht schlechthin zum Herrn über das geistige Leben, über Moral und Riecht, über das sittliche Empfinden, über die Gesinnung seiner Staatsbürger werden lassen. Ausdrücklich lehnt er es ab, ihn im Sinne Hegels als „Verwirklichung der sittlichen Idee" anzuerkennen. Die Staatsbürger sollen der Macht gehorchen — ihre Gesinnung geht den Staat nichts an. Wenn der Staat so denken wollte wie die Kirche, „wenn er etwa von seinen Soldaten noch mehr verlangen wollte als die Erfüllung der militärischen Pflichten, so wäre das unerträglich. Der Staat sagt: mir ist es ganz einerlei, was ihr dabei denkt, aber gehorchen sollt ihr" (34). Es ist also ausdrücklich erlaubt, das Handeln des Staates am Maßstabe individueller Sittlichkeit zu messen. Staatliches Handeln und sittliches Empfinden der Staatsbürger sind keineswegs zur Deckung gebracht. Dann aber besteht die „Dämonie der Macht" in Wahrheit noch weiter. Der Weg bleibt offen, auf dem die sittliche Überzeugung des einzelnen mit dem Machtinteresse des Staates in schwersten Konflikt kommen kann. Für Heinrich von Treitschke ist diese Tatsache schon dadurch verdeckt, daß er in einem innenpolitisch befriedeten, konstitutionell verfestigten nationalen Rechtsstaat lebt. Der unheimliche Ernst der von Machiavelli aufgerissenen Problematik der Macht ist stark verblaßt, seit diese Macht nicht mehr als Werkzeug für den Ehrgeiz eines einzelnen, eines Gewaltmenschen und Tyrannen, sondern als Schutzpanzer für die Selbstbehauptung einer Nation erscheint. Im Licht des „nationalen Lebensinteresses" beginnt die Dämonie der Macht gleichsam zu bloßem Nebelgewölk zu zerfließen. Die Erinnerung an die Schreckcnsjahre der jakobinischen Gewaltherrschaft, die einst unter Berufung auf den Willen der Nation, im Namen des Volkes und im Dienst der patriotischen Tugenden Zehntausende auf dem Schafott hingeschlachtct und ganz Europa in Brand gesteckt hatte, liegt für den Historiker deutscher Freiheit weit dahinten. Denn die Revolution ist in Europa längst gezähmt. Auch die Sorge, daß der hemmungslose Machttrieb eines einzelnen imstande sein könnte, die nationale Idee und den Glauben an „die höchsten sittlichen Güter der Mcnsch10

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heit" selber sich dienstbar zu machen als bloßes Werkzeug, Propagandamittel und Verkleidung seines persönlidhen Ehrgeizes, bedrückt ihn nicht. Denn der Korse Bonaparte, der« Frankreich nicht seine Mutter, sondern seine Mätresse genannt und in ihrem Namen die nationale Freiheit f a s t aller Völker des europäischen Festlandes unterdrückt hatte, ist längst durch die nationale Erhebung Deutschlands widerlegt. Im konstitutionellen Rechtsstaat ist der Herrscher nur noch oberster Funktionär des staatlichen Organismus und damit des nationalen Willens, nicht selbstherrlicher Souverän — also aller Versuchung zum Mißbrauch der Macht (wie es scheint) entrückt.

Seitdem ist ein politisches Erdbeben über Europa hinweggegangen, wie es dieser alte Erdteil seit der Völkerwanderung nicht mehr erlebt hatte. Und nicht wie damals: im Lauf von Jahrhunderten, sondern binnen eines einzigen Menschenalters ist alles zusammengestürzt, was ehedem abendländische Ordnung hieß. Wir, die Überlebenden, suchen uns mühsam in unseren Trümmern zu orientieren und festzustellen, was etwa noch in diesem wüsten Schutthaufen als Restbestand ehemaliger Größe und Schönheit erhalten geblieben ist, als gute alte Tradition, die wir als Baustein f ü r eine — vielleicht, aber wer weiß es? — bessere Zukunft verwerten könnten; indem wir solche tragfähigen Elemente der Vergangenheit auszusondern uns mühen aus der M a s s e zerbröckelten, als minderwertig erwiesenen oder an sich zwar wertvollen, aber hoffnungslos zerstörten Erbgutes, tun wir das Beste, was der Historiker heute noch allenfalls leisten kann. Freilich nur dann, wenn er ein leidlich sicheres Augenmaß für das wirklich Wertvolle besitzt und nicht selbst in der allgemeinen geistigsittlichen Ratlosigkeit steckenbleibt. Wir stehen am Ende einer dreißigjährigen Kriegsperiode und wissen noch nicht recht, ob sie wirklich zu Ende ist. Sie hat die Dämonie der Macht in s o schrcckensvoller Weise offenbart, wie es sich das friedliche 19. Jahrhundert niemals hätte träumen lassen, ja wie sie in der Geschichte des Abendlandes überhaupt noch nicht gesehen wurde. Zugleich hat sie aber den tiefen Zwiespalt politischen Denkens, den unsere Darstellung 146

in der Geschichte der abendländischen Staatsideale verfolgte, auf eine wahrhaft verhängnisvolle Weise noch mehr vertieft; denn er hat jetzt — zum ersten Male in der Geschichte des Abendlandes — in einen offenen, blutigen Konflikt hineingeführt. Der erste Weltkrieg ist zwar nicht aus dieser Gegensätzlichkeit entsprungen,, aber seine Vorgeschichte ist ohne ihr Mitwirken gar. nicht zu verstehen. Auf Schritt und Tritt läßt sich in ihr das gegenseitige Mißverstehen zwischen englisch-insularer und kontinental-deutscher Politik verfolgen. Von England her gesehen, erscheint alles, was die deutsche Politik unter Wilhelm II. tut, als Teil eines großen, langfristigen Angriffsplanes zur Eroberung der Hegemonie: ihre hastige und gewaltsame Aufrüstung, besonders zur See, ihre Opposition gegen das Haäger Schiedsgericht und die Abrüstungskonferenzen, ihr beständiges Auftrumpfen und Säbelrasseln bei jeder Meinungsverschiedenheit, ihre ewig neuen Kolonialwünsche. In Berlin dagegen fühlt man sich beständig in der Defensive, von Jahr zu Jahr mehr beängstigt von der Gefahr eines Zweifrontenkrieges angesichts des enormen Rüstungsstandes der kontinentalen, seit 1 8 9 4 alliierten Großmächte in Ost und West; man muß im Konfliktsfall ihrem Angriff unter allen Umständen zuvorkommen, um nicht einfach erdrückt zu werden, und ersinnt immer neue Generalstabspläne, wie sich eine solche Gefahr durch rasches, kräftiges Zuschlagen beschwören läßt, im Notfall sogar unter Verletzung des Völkerrechts; man ist mißtrauisch, ja verängstigt, und übertrumpft die eigene Unsicherheit durch chauvinistische Gasten und prahlerische Reden. Alle Bemühungen englischer Diplomatie um eine Weltorganisation des Friedens, alle ihre Vorschläge zur vertraglichen Beschränkung der Seerüstung hält man für Hinterlist, weil man die englische Politik sich nach dem Muster kontinentaler Verhältnisse deutet: als wesentlich kämpferisch, immer en vedette, immer auf schnelle Wendungen des Schicksals gefaßt, statt so wie sie wirklich war: wesentlich friedfertig, eher phlegmatisch als aktivistisch, auf Erleichterung der Militärlast bedacht zugunsten innerer Wohlfahrtsausgaben im Zeitalter zunehmender sozialer Spannungen. Aus demselben Mißverständnis erwächst die vielberufene Theorie der „Einkreisung": man deutet als Kriegsbündnis, was England 10'

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nur als friedliches Agreement mit den großen Kolonialmächten, als gegenseitige Abgrenzung außereuropäischer Interessensphären versteht, allenfalls als diplomatisches Druckmittel in der Form einer vorsichtig formulierten, formell nicht bindenden Deckungszusage an Frankreich, das beständig für seine „Sicherheit" fürchtet und durch solche Zusagen von neuen Seitensprüngen in der ägyptischen und anderen Überseefragen abgehalten werden soll. Umgekehrt hat man in London niemals wirklich begriffen, was die Lage der Deutschen von der eigenen unterschied: den Zwang zu steter Wachsamkeit, das Mißtrauen gegen alle bloß diplomatischen oder rechtlichen, nicht materiellen Sicherungen und Stützen der Macht, die daraus folgende Neigung zu kämpferischen Gesten, zu „machiavellistischer" Deutung des diplomatischen Spiels, zum beständigen Wittern von „Hintergedanken" an Stelle des • schlichten Vertrauens (Baron Holstein!).und vor allem die „militaristische" Denkweise, das heißt den Vorrang militärtechnischer vor den politischmoralischen Erwägungen. Audi dafür, auch für dieses Mißverstehen, ist jene große Denkschrift Sir Eyre Crowes von 1907 ein klassisches Zeugnis; aber man könnte eine Fülle von Quellenbelegen dafür anführen und aus dem diplomatischen Schriftwechsel genau verfolgen, wie in London ein höchst einseitiges Bild der deutschen Politik und ihrer letzten Absichten — schon seit den Tagen Salisburys • und Bismarcks! — entstand und sich allmählich verfestigte, ebenso auf deutscher Seite ein schiefes, zwischen Mißtrauen und Mißachtung unsicher schwankendes Bild der englischen Diplomatie. Wie sehr das alles in der öffentlichen Meinung beider Länder widerklang, aber stark vergröbert, demagogisch übertrieben, ,hinausgeschrien mit größter Lautstärke, ist den Mitlebenden der letzten „Vorkricgsjahre" noch in schmerzlicher Erinnerung. Das Ende war die Katastrophe des ersten Weltkriegs, dessen Ausbruch den Gegensatz zwischen „insularem" und „kontinentalem" Stil der Machtpolitik in äußerster Steigerung zeigt. Die deutsche Politik scheint nur noch von einem Gedanken besessen: wie sie die rechtzeitige Durchführung des großen strategischen Plans sichern kann, der die Rettung bringen soll vor dem zahlenmäßigen Übergewicht der kontinentalen Mächte, sobald der seit vierzig Jahren befürchtete Zweifrontenkrieg 148

nun wirklich losbricht. Auf keinen Fall darf Deutschland ohne Rückendeckung im Osten bleiben, wenn es seinen westlichen Nachbarn strategisch überrumpeln will; darum erhält Österreich-Ungarn seine Blankovollmacht zur Niederwerfung Serbiens — aus lauter Furcht, es könnte auch noch abfallen und uns allein lassen in hoffnungsloser Isolierung. Darum schlägt man los, sobald Rußland zu mobilisieren beginnt, ohne die Wirkung der letzten englischen Vermittlungsaktion oder wenigstens die Kriegserklärung der anderen abzuwarten — aus lauter Furcht, es würde sonst zu spät werden, und lädt damit das Odium des Angreifers und „Friedensbrechers" auf,sich; darum durchbricht man den Schutzzaun der belgischen Neutralität, setzt sich damit völkerrechtlich in schweres Unrecht und gibt der englischen Kriegspartei Oberwasser. Kurzum: das politische Denken ist nicht nur kämpferisch im Sinn der kontinentalen Tradition, sonde'rn hat geradezu abgedankt und ist durch rein militärtechnische Überlegungen ersetzt. U&gekehrt bietet England alles auf, durch Vermittlungsvorschläge den Frieden zu erhalten und zögert seine Entscheidung zwischen den kontinentalen Parteien sehr lange hinaus — zu lange nach der späteren Meinung englischer Minister; denn politisch entsteht so auf deutscher Seite die Illusion, England werde auch diesmal dem Streit fernbleiben, und militärisch kommt die englische Expeditionsarmee beinahe zu spät, um Frankreichs Schicksal noch retten zu können. Aber schließlich ist es doch nicht zu spät; denn der große deutsche Feldzugsplan führt zu einem Fehlschlag, und die Sicherheit des Inselreiches ist trotó der deutschen Flottenrüstung nicht ernstlich bedroht. England darf hoffen, ihn im ganzen nach dem Rezept der" Utopier (und noch der napoleonischen Epoche!) durchführen zu können: wesentlich mit den Kräften der festländischen Bundesgenossen, denen das Inselreich mit Subsidien aller Art zu Hilfe kommt. Diese Hoffnung hat nun freilich getrogen. Der große Krieg 1914/18 zeigte — höchst unerwartet — einen ganz neuen Stil. Selbst die Koalition der stärksten Militärmächte des Festlandes erwies sich als zu schwach, um mit diesem Widerpart fertig zu werden. Nach und nach bot man Italien, Japan, alle Hilfsmächte des Empire, zuletzt noch Amerika, ja die ganze Welt gegen ihn auf. Diesmal mußten die Insulaner doch selbst, in 149

wirklichem Volksaufgebot, auf das Festland hinüber und dort wahre Ströme von Blut vergießen. Um so größer war die Erbitterung gegen den „Friedensbrecher" — um so größer auch die Neigung, diesen Krieg nach moralischen, statt politischen Gesichtspunkten zu beurteilen. An seinem Ende stand ein Friedenskongreß, der zum ersten Male sich selbst als „Welttribunal" verstand. Alle früheren Kongresse ähnlicher Art: von Münster und Osnabrück, von Utrecht und Rastatt, von Wien 1814/15 waren, als rein europäische Diplomatenversammlungen, von den Traditionen festländischer Höfe beherrscht. Ihre äußere Form war bestimmt worden durch die übernationale Gemeinsamkeit der europäischen Adelsgesellschaft, die sich hier traf und höchst erfreut war, alte Verbindungen wieder anzuknüpfen. Der Rastatter Kongreß hätte mit einer freundschaftlichen Umarmung der beiden Feldherren begonnen, die elf Jahre im Kampf gegeneinander gestanden hatten: des Herzogs von Villars und des Prinzen Eugen von Savoyen. In den Wiener Salons 1814/15 hatte Talleyrand eine Hauptrollegespielt: derselbe Talleyrand, den man als früheren Außenminister und Vertrauten des eben geschlagenen Militärdespoten Napoleon kannte; der Friede aber, den die von diesem Despoten befreiten Mächte mit Frankreich schlössen, war sprichwörtlich geworden durch seine Versöhnlichkeit und Milde. Das vom Mittelalter her ererbte Bewußtsein einer übernationalen Gemeinschaft des „christlichen Abendlandes", hatte auf allen diesen Kongressen nachgewirkt — besonders lebendig in Wien, bis in die Formulierung der Verträge und in die Kommentare der Wiener Publizisten hinein. Diesmal, in Versailles 1918/19, war alles ganz anders. Hier gaben nicht die kontinentalen Traditionen den Ton an, sondern die der insularen Mächte: neben England vor allem Amerika, die junge Kolonialmacht, die jetzt zum ersten Male schicksalbestimmcnd auf europäischem Boden auftrat. Hier aber war das „insulare" Denken und Empfinden nun vollends ins Überseeische gesteigert: die Politik der Zurückhaltung gegenüber kontinentalen Machthändeln zum vollen „Isolationismus", die juristisch-moralische Auffassung des politischen Kampfes zu puritanischen Kreuzzugstimmungen. Der Besiegte wurde zu ernsthaften Verhandlungen gar nicht erst zugelassen, sondern hatte vor dem Welttribunal zu er150

scheinen, ein ihm vorgelegtes Schuldbekenntnis zu unterschreiben u n d einen Friedensvertrag hinzunehmen, der auf „Wiedergutmachung" des angerichteten Schadens und auf künftige Unschädlichkeit des entwaffneten Deutschlands abzielte. Gleichzeitig wurde aber der Versuch gemacht, mit Hilfe eines riesigen Apparates von „Nichtangriffspakten", internationalen Schiedsgerichten und Völkerbundsorganisationen die angelsächsisch-insularen Grundsätze großer Politik endgültig durchzusetzen, ja darüber hinaus, soweit möglich, den Krieg als Mittel der Machtpolitik überhaupt auszuschalten und so gewissermaßen über die „ U t o p i a " des Morus hinaus zu dem erasmischen Ideal einer organisatorisch gesicherten Tranquillitas mundi fortzuschreiten. In der Tat hatten sich die Schrecken und Verwüstungen des Krieges inzwischen so unermeßlich gesteigert, daß die Argumente des Erasmus gegen die Sinnlosigkeit kriegerischer Unternehmungen ein gh,nz neues Gewicht gewonnen hatten. Alles,, was deutsche Philosophen, Historiker und Militärs des 19. Jahrhunderts, in bewußter Erneuerung machiavellistischer Gedankengänge und im Zuge der großen Nationalbewegung ihrer Epoche, zum Lobe kriegerischer Virtù vorgebracht hatten, schien durch .die schrecklichen Erfahrungen des ersten „totalen" Krieges mit seiner raffinierten Tötungstechnik überholt. D u r f t e man nicht hoffen, wenn nicht die Dämonie der Macht überhaupt, so doch wenigstens die Dämonie des Krieges durch eine organisierte Abrüstung aus der zivilisierten Welt zu schaffen? Daran, daß diese Hoffnung sich allzubald als „ U t o p i e " erwies, ist nicht zuletzt eine neue, unheilvolle Verschärfung der Gegensätzlichkeit zwischen „insularem" und „kontinentalem" Denken schuld. Sie ging ursprünglich nicht (was allzu leicht vergessen wird) von Deutschland aus, wo es vielmehr eine Zeitlang schien, als ob sich eine gewisse Annäherung an angelsächsisches Denken durchsetzen würde — zum mindesten die Einsicht, daß Deutschland allein auf dem Wege friedlicher Verständigungsbereitschaft im Stil der Angelsachsen hoffen dürfe, die Fesseln des Versailler Vertrages allmählich zu lockern. Jeder erfolgreiche Schritt auf diesem Wege, der von der Ruhrbesetzung nach Genf und L o c a m o führte, half dazu, den Deutschen die Vorzüge der „insularen" Methode der Agreements an Stelle 151

der „kontinentalen" des rasdien Zuschlagens zu veranschaulichen. Der Münchener Putschversuch Adolf Hitlers und Ludendorffs im November 1923 erschien den weitaus meisten Deutschen keineswegs als heroische Tat, sondern als ebenso lächerliches wie verwerfliches Abenteuer von Radauhelden. Aber er hatte sein Vorbild im Marsch Mussolinis auf Rom (28. Oktober 1922), der immerhin tiefen Eindruck machte. Was hier in Italien vor sich ging, war nichts Geringeres als eine ganz neuartige Staatsgründung politischer Aktivisten, die ganz allein auf ihren kämpferischen Willen und auf den Eindruck äußeren Erfolgs auf die Menge vertrauten — genau so, wie es Machiavelli gelehrt hatte. Und dieser Erfolg blieb nicht aus — hilflos eTlag das liberale Bürgertum und die marxistische Arbeiterschaft der brutalen Energie, mit der die Schwarzhemden ihren Terror ausübten; hilflos erwies sich aber auch der Völkerbund gegenüber den brutalen Methoden faschistischer Außenpolitik, die unbekümmert um alle moralische Reputation ihrem Sacro egoismo folgte. Die Eroberung Abessiniens und der Sieg des von Mussolini (in einem Versteckspiel von satanischer Gerissenheit) unterstützten Francoregiments in Spanien erschütterten ernstlich den Glauben der Welt an jene „utopistischen" Prinzipien, auf die man den Frieden von 1919 hatte gründen wollen. Ja, diese Erfolge drohten die Weltfriedensorganisation geradezu lächerlich zu machen — eine Gefahr, die niemand tiefer empfand als England, dessen ganze Autorität in der Welt, zumal in den Dominions, auf dem Glauben an seine pazifistische Weltmission beruhte. Und doch war das alles nur der erste Akt eines schauerlichen Dramas, dessen entscheidende Wendung sich unterdessen auf deutschem Boden vorbereitete. Wir brauchen nur anzudeuten, weshalb die neue machiavellistische Bewegung hier so viel gefährlicher wurde als im Vaterland Machiavellis. Zunächst deshalb, weil sie hier nicht nur auf unbefriedigten Ehrgeiz, sondern auf sehr viel Erbitterung über den Ausgang des letzten Krieges und über den Schuldspruch von Versailles stieß — eine Erbitterung, die jedem Demagogen eine bequeme Handhabe bot, zumal in wirtschaftlichen Krisenzeiten, um die Masse für sich zu gewinnen. Aber es ging hier nicht nur um Demagogie, auch nicht nur um verwundetes Ehrgefühl und trotziges ¡52

Sichverkrampfen auf nationale Geltungsansprüche. Anders als in Italien, wo die faschistische Predigt heroischer Lebensgesinnung immer etwas von künstlicher, literatenhafter Madie behielt — fast möchte man sagen; etwas Opernhaftes (wie denn ihr Herold d'Annunzio eine typische Dekadenzerscheinung darstellt, eine Bühnenfigur, die ohne bengalische Beleuchtungseffekte und gespreizte Gesten nicht glaubhaft wirkt) —, gewann der Neu-Machiavellismus auf deutschem Boden einen fürchterlichen Ernst. Vor allem, seit die Bewegung über die Münchener Atmosphäre nach Norddeutschland, nach Preußen vordrang, den Stil der Münchener fiierkellerszenen abstreifte und ein so stramm militärisches Auftreten pflegte, daß darüber sogar das Peinliche des Theaterputsches vom November 1923 vergessen wurde. Der Nationalsozialismus wurde für Millionen Deutscher, und darunter für sehr viele gutgläubige Idealisten, wirklich so etwas wie eine Weltanschauung, eine Art von Religionsersatz. Fragt man, wie das möglich war, so wird man tief in die Geistesgeschichte des 19. Jahrhunderts hineingeführt: in die (schon oben erörterte) Loslösung des deutschen Staatsdenk?ns vom westeuropäisch-insularen, die von Fichte und Hegel über Ranke und seine Schule bis zu Heinrich von Treitschke führt; aber auch in die allgemeine Ideenentwicklung dieses Jahrhunderts, das mit seiner rasch fortschreitenden Säkularisierung alles Denkens eine starke seelische Verarmung, eine Verkümmerung gleichsam des metaphysischen Organs erlebt hatte, wie man sie immer in Spätzeiten alter Kulturen findet. Dabei war es das Besondere der abendländisch-europäischen Entwicklung, daß in ihr seit dem Ausgang des Mittelalters die Idee der Nation als Geistes-, Willens- und Schicksalsgemeinschaft sich nur immer schärfer ausgeprägt hatte — nicht ohne inneren Zusammenhang mit den konfessionellen Kämpfen des 16. und 17. Jahrhunderts (35). Einen gewaltigen neuen Antrieb hatte sie durch die große Französische Revolution empfangen mit ihrer Idee der inneren „Föderation", d. h. der allgemeinen Brüderschaft eines politisierten Volkes, und durch die Erhebung der spanischen, russischen und deutschen Nation gegen das lEmpire Napoleons. Im Gefolge dieser Erhebung bot sich die nationale Idee, romantisch verklärt, als eine Art von Reli153

gionsersatz an: die Nation, schon von Fichte als „Hülle und unmittelbares Verflößungsmittel des Ewigen in die Welt" gepriesen, wurde zum Höchstwert schlechthin, d. h. sie wurde anbetungswürdig wie Gott. Gewiß: das war nicht nur in Deutschland so. Von einer Selbstvergötzung der Nation kann man überall sprechen, wo die Volonté générale Rousseaus, der mythische „Volkswille" des Jakobinertums, als Ausfluß der absoluten Vernunft betrachtet und somit auch zur obersten Rechtsinstanz erhoben wird. Aber die Deutschen erlebten das alles doch mit besonderer Inbrunst, als es -ihnen jetzt vom Nationalsozialismus gepredigt wurde, und ihr Nationalismus hatte überhaupt von Anfang an einen besonders scharf kämpferischen Zug getragen. Was an der'Predigt von der „neuen Volksgemeinschaft" bestach, war nicht nur die Überwindung jener vielberufenen Parteiaersplitterung, die sich als Erbe einer wirrenreichen Nationalgeschichte darstellt (36), sondern vor allem die Überbrückung alter verhärteter Klassengegensätze und das Versprechen einer Lösung jener sozialen Probleme des kapitalistischen Zeitalters, die man in Deutschland (nicht ohne Grund) besonders schwer empfand. Ein scharf kämpferischer Zug aber hatte dem neudeutschen Nationalismus deshalb von jeher angehaftet, weil er im Befreiungskampf gegen das napolconische Universalreich überhaupt erst entstanden war. Der Einfluß ostmärkischen Grenzdeutschtums mit seinen ewigen slawisch-deutschen Reibungen (dem Adolf Hitler selbst entstammte) und zuletzt das Erlebnis von Versailles hatten ihn neuerlich noch verstärkt. Und so fanden die Haß- und Kampfreden des geschickten Agitators willige Ohren, trotz der Aignscligkcit ihres geistigen Gehalts. Vielen Angehörigen der Bildungsschicht genügte die bloße Tatsache, daß er zur Überwindung der tiefen Mutlosigkeit aufrief, unter der so viele Deutsche nach dem erschütternden Ende des ersten Weltkriegs litten. Das „Deutschland erwache!", einst ein Kampfruf der Freiwilligen von 1813, brachte in ihnen die Erinnerung an die großenZeiten der deutschen Naüonalbewcgung wieder zum Aufklingen und erzeugte die Illusion, deren idealistische Tradition könnte in dieser neuen Massenbewegung noch einmal lebendig werden. Die breite Menge aber des kleinbürgerlichen Anhangs, das typische Massenmenschentum der neuen Zeit, folgte einfach 154

— soweit es nicht durch hemmungslose Versprechungen materieller Wohlfahrt verlockt wurde — dem Trommelwirbel und den flatternden Fahnen einer Bewegung, die sehr bewußt und geschickt an das soldatische Empfinden des Durchschnittsdeutschen appellierte; denn mit dem Klang der Militärmärsche war nun einmal die Erinnerung an alle Zeiten des Aufstieges und Glanzes deutscher Macht, aber auch äußerer Wohlfahrt verbunden, während Abrüstung u n i wirtschaftlicher Niedergang ebenso eng zusammenzugehören schienen. Diesen Aufruf soldatischer Instinkte, die Militarisierung der Massen, die Gestaltung der „neuen Volksgemeinschaft" als „Kameradschaft der Kombattanten" hat Hitler, der als vaterländischer Agitator im Dienst der Reichswehr anfing, im einzelnen den Faschisten nachgemacht — schon das Braunhemd und die altrömische Geste des angeblich „deutschen Grußes" verraten es: deutsch war daran nur die „zackige", d. h. preußisch-militärische Form der Ausführung. Und über Mussolini reicht die Verbindungskette bis auf Machiavelli zurück: es ging zuletzt um nichts anderes als um die Erweckung kämpferischer Tüchtigkeit, politisch-kriegerischer Kraft, Virtù in einem Volk, das durch Schwäche „verderbt" (corrotto) sein sollte. Von einer bewußten Wiederbelebung machiavellistischcr Ideen wird man allerdings auf deutschem Boden wohl nicht sprechen können. Was dem Virtù-Begriff des Nationalsozialismus fehlte, war vor allem jener Beigeschmack politischer Schlauheit, der dem Denken des alten Italieners anhaftete; er wurde durch die preußisch-soldatische Tugend des blinden Gehorsams, der „unbedingten Einsatzbereitschaft" ersetzt. Überdies wurde er ergänzt durch einen mehr oder weniger starken Zusatz sozialethischer Gesinnung des „Volksgenossen", die sich aus dem neuen, Machiavelli noch unbekannten Ideal einer bewußten, zu höchster Intensität gesteigerten „Volksgemeinschaft" ergab. Aber auch dieses sozialethische Moment blieb zuletzt doch untergeordnet den Bedürfnissen der Macht: grundsätzlich sollte es kein Eigenleben der „Gesellschaft" außerhalb des Staates geben: keine Sozialethik, die nicht zugleich und vor allem der Machtbildung und Propaganda der herrschenden Partei diente, keinen Moralkodex, der absolute Geltung besäße gegenüber dem Interesse der Machtpolitik; kein göttliches Recht, das man 155

anrufen dürfte gegen den Willen des obersten Machthabers, des „Führers" (Duce). Und so erscheint die Einseitigkeit des kämpferischen Tugendbegriffs trotz aller Ansätze zu einer Sozialethik im Nationalsozialismus noch viel ärger als in der Virtù-Lehre des Machiavelli. Nicht genug damit, daß nur noch kämpferische Haltung, soldatische Disziplin, „Einsatzbereitschaft" und „heroische Gesinnung" als sittliches Ideal gerühmt wurde — die sozialen Tugenden der Nächstenliebe und Humanität, der Wahrhaftigkeit und Pietät, der Versöhnlichkeit und Selbstverleugnung, aber auch des trotzigen Freiheitssinnes und der strengen Rechtlichkeit wurden als Ideale eines längst verflossenen, „bürgerlich-liberalistischen" Zeitalters verhöhnt oder mit der „artfremden" Religion des Christentums 'zusammen abgelehnt. (Freilich nur dann, wenn man solcher Tugenden nicht gerade bedurfte, um irgendein soziales Hilfswerk propagandistisch zu begründen.) Von solchef offenen Verhöhnung wenigstens hatte Machiavelli noch nichts gewußt (abgesehen von vereinzelten Bemerkungen über das Christentum); das stammte aus dem Erbe eines trivialisierten Nietzschekultes, wie er sich auch schon in Italien ausgebildet hatte. Wichtiger noch — und zuletzt entscheidend — war ein zweiter Unterschied. Audi Machiavelli hatte sein Volk zu der ihm fehlenden Virtù künstlich erziehen wollen: durch Einführung einer Art von allgemeiner Wehrpflicht nach altrömischem Vorbild. Hitler übertrumpfte das weit: durch eine Militarisierung des ganzen deutschen Lebens. Daß er von vornherein im Bunde stand mit gewissen aktivistischen Elementen der Reichswehr, deren heimliche Aufrüstung ohne völkerrechtliche Hemmungen unterstützte, ja noch weit übersteigerte, die allgemeine Wehrpflicht des Kaiserreichs nicht nur erneuerte, sondern noch wesentlich verschärfte und durch seine Parteitruppen ergänzte — das alles war nur der Anfang. Viel wichtiger war der terroristische Druck, der gleichsam das ganze Leben der Nation in den Dienst der Militarisierung stellte: in Presse, Rundfunk und Film, einer unermeßlichen literarischen Propaganda aller Art, der gesamten Jugenderziehung von den Kindergärten bis zu den Schulen und militarisierten Jugendverbänden, mit allen Hilfsmitteln moderner Propagandatcchnik und Massenorganisation. Machiavellis naive 156

Vorstellung, der Ursprung unserer Moralbegriffe sei aus der Gesetzgebung der staatlichen Machthaber abzuleiten, schien plötzlich wieder aufzuleben und eine höchst unheimliche praktische Bedeutung zu gewinnen. Denn kaum war dieser Massenagitator zur Macht gekommen, als er sich anmaßte, nicht nur den äußeren Gehorsam der Staatsbürger gegen das Gesetz zu fordern, sondern über ihr sittliches Empfinden selbst zu verfügen. Der deutsche Mensch sollte „heroisch" erzogen, d. h. er sollte in seinem innerlichsten Heiligtum, in seinem Gewissen so zurechtgebogen werden, wie es der Machtpolitik des Gewalthabers am willkommensten war. Wer sich nicht fügte, wer nicht die vorgeschriebene „heroische", d. h. einseitig kämpferische Gesinnung zeigte, sah sich in einem öffentlichen Amt, ja zuletzt in den meisten Lebensstellungen bedroht, unter Umständen mit öffentlicher Entehrung, Freiheitsentziehung und Schlimmerem bestraft. Der „totale" Staat, der so entstand, läßt sich als Gipfel und Endpunkt einer Entwicklung auffassen, die vom christlichen Mittelalter mit seiner Doppelpoligkeit alles abendländischen Lebens hinwegführt in das moderne Heidentum hinein. Es gibt da grundsätzlich keinen Raum mehr außerhalb der staatlichen Gemeinschaft, in dem der Mensch auf eigene Verantwortung dasteht vor seinem Gott, keine unpolitische Gemeinschaft der Gewissensüberzeugung und des religiösen Glaubens. Vorläufig sind zwar die christlichen Kirchen noch geduldet — aus äußeren Gründen; aber sie dürfen es schon jetzt nicht mehr wagen, die Grundsätze ihrer Liebesethik laut hineinzurufen in das öffentliche Leben -— sie werden mehr und mehr in ein Winkeldasein gedrängt. Im politischen Bereich gilt keine Liebesethik mehr, sondern nur noch die Moral des rücksichtslosesten Kämpfertums. Die Dämonie des Politischen, von Machiavelli einst mit so großer Klarheit ans Licht gestellt, schreckt die neuen Machthaber nicht mehr; denn sie scheint überwunden durch die Verabsolutierung einer rein kämpferischen Moral. Sittliches und politisches Bewußtsein wird ununterscheidbar in eines vermengt (37); es entsteht jene fürchterliche Begriffsverwirrung, die den äußeren Machtcrfolg mit dem sittlichen Recht, blinden Fanatismus des Machtwillens mit Staatsräson und schöpfe157

rischer Energie verwechselt und jeden moralischen Maßstab zur Beurteilung politischen Handelns verliert. Eine Verwirrung, die unser Volk zeitweise in einen Zustand blinden Taumels versetzt hat und an deren Folgen wir noch lange werden zu tragen haben. So wurde die Dämonie der Macht, statt zu verschwinden, in Wahrheit übersteigert zu voller Satanie: Hitler selbst hat das Dämonische seirfer Erscheinung zu tarnen versucht durch Verkleidung in die Uniform des Altpreußentums. Er gab sich selbst — in einer berühmten Theater: szene — als Nachfahr Friedrichs des Großen, seine nationalsozialistische Haßpredigt als Erneuerung des „Geistes von Potsdam". Damit hatte er einen merkwürdig großen Erfolg, gerade auch im Ausland, das ihm bis heute diese Lüge glaubt. In Wahrheit fehlte ihm alles, was für die geistige Erscheinung Friedrichs II. charakteristisch ist: die bewußte Doppelpoligkeit von Machtstreben und Friedensordnung, von kämpferischem Ehrgeiz und Idealen der Wohlfahrtspolitik, aber auch ihre Überwindung durch eine höchst nüchterne, verantwortungsbewußte Staatsräson, die aus der Erfahrung lernt, wo die äußeren Grenzen ihres Machtbereichs liegen und die sich im Innern selbst begrenzt: durch feste Schranken des Rechts und der Toleranz. Freilich gab es nun auch ein Preußentum der Epigonen, der reinen Militärtechniker vom Schlage Ludendorffs, denen bloße Energie den Geist, blinde Disziplin die sittliche Verantwortung vertreten mußte. Was die Welt in Gefahr brachte, war das Bündnis Hitlers mit diesen Elementen, war vor allem die Tatsache, daß dieser unheimliche Mensch das Präzisionsinstrument der preußisch-deutschen Wehrmacht in die Hand bekam und damit sein dämonisches Spiel begann. Denn in seinen Händen wurde der kämpferische Stil „kontinentaler" Machtpolitik zum gewissenlosen, abenteuernden Draufgängertum. Das war um so gefährlicher, als auf' der anderen Seite, im Bereich der angelsächsisch-insularen Tradition, trotz aller Erfahrungen mit Mussolini noch immer ein ebenso extremer Friedenswille herrschte. Die Westmächte versäumten es, rechtzeitig zuzuschlagen, als Hitler seine ersten Rechtsbrüche wagte — zunächst noch zitternd vor erregter Spannung, ob seine 158

dreiste Herausforderung, in militärisch völlig ungesicherter Lage, ihm Kopf und Kragen kosten würde, dann aber immer sicherer gemacht durch die Erfahrung, daß man auf der andern Seite nicht über papierene Proteste hinausgelangte. Für den Mitlebenden war es ein tief beängstigendes Schauspiel zu sehen, wie hier' zunächst die kecke Aktivität des Kontinentalpolitikers, zu offener Verhöhnung des Völkerrechts übersteigert, triumphierte über die schwerfällige Bedachtsamkeit der angelsächsischen Pazifisten, deren Entschlußkraft wie gelähmt schien durch die Erinnerung an das unheilvolle Erbe von Versailles. Beängstigend war es vor allem deshalb, weil jeder Tief erblickende voraussah, wie das Ganze enden mußte: in einer neuen Weltkatastrophe, bei der die Kriegsschuld diesmal ganz eindeutig, unbezweifelbar und ausschließlich auf der deutschen Seite liegen würde. Niemals wird der Verfasser die tiefe Verzweiflung vergessen, die ihn im Frühjahr 1939 bei der Nachricht von der Besetzung Prags durch deutsche Truppen überfiel: nun also hatte der Satan sein Spiel wirklich gewonnen — nun war der ganze Sinn deutscher Geschichte endgültig verfälscht! Bis dahin hatte immer noch eine letzte, schwache Hoffnung bestanden, nach der Anerkennung des 1938 Geschehenen im Münchener Abkommen möchte es einen Halt geben auf der Bahn des Unheils. Hielt Deutschland fest an dem laut proklamierten Grundsatz, nicht über die Grenzen deutschen Volkstums hinauszustreben, so konnte das 1919 so sinnlos erscheinende Ringen des ersten Weltkrieges nachträglich doch noch •einen tieferen Sinn gewinnen: die große Neuordnung Ost- und Südosteuropas, in Versailles begonnen, hatte dann 1938 ihren Abschluß gefunden, die so oft angemeldeten Ansprüche der Deutschen auf „nationale Selbstbestimmung" und nationalen Zusammenschluß waren dann ebenso erfüllt wie die der Westund Südslawen — freilich durch eine rechtlos-rohe, aber doch nachträglich von Europa legitimierte Gewalttat. Vor allem: Deutschland war zum ersten Male seit dem ausgehenden Mittelalter vom Doppeldruck der Zweifrontenbildung in Ost und West erlöst, jede Gefahr von Osten her bei einiger Klugheit und Mäßigung der deutschen S,taatsführung praktisch beseitigt; die Bahn schien freigemacht für ein friedliches Sicheinfügen in die neue Weltordnung. Deutschland hatte jetzt die große 159

Chance, der Welt zu beweisen, daß seine kampfbereite Haltung nicht mehr war als Entschlossenheit zur Selbstbehauptung im Rang der großen Nationen, nicht grundsätzliches Kämpfertum und dicht Eroberungslust. Das war 1938. Klarblickende Männer haben freilich schon damals nicht daran gezweifelt, daß Deutschlands böser Dämon diese Chance verfehlen würde. In der Leitung der Wehrmacht, wo man von Hitlers weiteren Plänen manches wußte, hat man schon damals an seine gewaltsame Beseitigung gedacht und fand sich durch das Münchener Abkommen in gewissen Staatsstreichplänen gestört. In der Tat: die Dynamik der nationalsozialistischen Bewegung kannte kein Halt außer in der Katastrophe; mit irgendwelcher Staatskunst, mit kontinentaler Staatsräson hatte dieses Amokläufertum nichts mehr zu tun. Die Inszenierung des zweiten Weltkrieges fällt aus jedem Vergleich mit früheren Kriegsausbrüchen, innerhalb wie außerhalb der deutschen Geschichte, heraus. ^Hier kann nicht mehr von politischer Verantwortung, von einer „Kriegsschuld" im früheren Sinne gesprochen werden: hier waltete einfach das Verbrechertum. Die Quittung empfing Deutschland in der Form des Nürnberger Prozesses vor dem Internationalen Militärtribunal. Soll man sein Wirken einen letzten, äußersten Triumph jenes politischen „Moralismus" nennen, dessen Vorform wir in der „Utopia" des Thomas Morus kennenlernten? Wir zögern, es zu tun, weil in dieser Gerichtsverhandlung das Kriminelle (im gemeinen Sinn des Worts) und das Politische fast ununterscheidbar durcheinandergingen. Aber sicher ist, daß hier ein geschichtlicher Zusammenhang besteht. Hat sich der Machiavellismus in der Erscheinung Hitlers gleichsam selbst überschlagen, so hat in der Anklagerede Justice Jacksons das rein juristische Verständnis politischer Verantwortung nach der Art des Morus einen äußersten Gipfel erreicht. Und wenn «s Hitler darauf anlegte, mit alten Mitteln äußerer Gewalt, ja des Terrors das deutsche Volk zu einer Nation fanatischer „Militaristen" zu erziehen, so hat jetzt der umgekehrte Erziehungsprozeß begonnen: die Deutschen sollen jede Erinnerung an ihre soldatische Vergangenheit auslöschen und zu absoluten „Pazifisten" werden, weil die Welt sich von ihnen bedroht fühlt und diese Bedrohung nicht länger ertragen will. 160

So steigerte sich der Gegensatz, von dem hier fortdauernd die Rede war, in seinem Endstadium zum förmlichen Vernichtungskampf.

Blicken wir von diesem Endpunkt noch einmal zurück auf die vier Jahrhunderte europäischer Geschichte, die unsere Darstellung durchlaufen hat, so spüren wir ganz unmittelbar, daß wir heute an einer totalen Wende des Weges stehen. Diese vier Jahrhunderte zeigten ein gleichberechtigtes und einigermaßen gleichgewichtiges Nebeneinander von jeweils mehreren, zumeist vier oder fünf Großmächten, die gemeinsam die Welt beherrschten. Damit ist es (nach der Überzeugung des Verfassers) ein für allemal zu Ende. Die Zukunft der Welt, soweit unser Auge ihr Dunkel zu durchdringen vermag, wird nur noch von zwei Weltmächten (bzw. Mächtegruppen) allerersten Ranges bestimmt werden: von den kombinierten angelsächsischen Seemächten und von der russischen Kontinentalmacht, die ein Sechstel der Erde umspannt. Die natürliche Gegensätzlichkeit „insularer" und „kontinentaler" politischer Methoden und Ideale tritt damit in ein neues, ein planetarisches Stadium. Vor allem aber ist die Aufgabe des alten Europa damit total verändert. Sie kann sinngemäß nur noch darin bestehen, zwischen diesen beiden Mächtegruppen einen Mittelbereich zu bilden, der den Frieden der Welt nach Kräften erleichtern und sichern hilft. Soll das mit Erfolg geschehen, so muß Europa alle seine bisherigen nationalen Gegensätze und Spannungen praktisch zu überwinden suchen. Das gegenseitige Sichverstehen muß an die Stelle des Sichbekämpfens treten, nachdem der Nationalismus sich in zwei Weltkriegen selber überschlagen — und damit gleichsanl ad absurdum geführt hat. Nur so darf Europa als Ganzes hoffen, weltgeschichtlich noch einmal eine heilsame Rolle zu spielen. Das bedeutet unter anderem, daß in diesem Raum das Prinzip der „kämpferischen Machtballung" einen gründlich veränderten Sinn gewinnen und das Prinzip der „friedlichen Dauerordnung" weit mehr als in der Vergangenheit an die erste Stelle rücken muß. Diese Einsicht ändert aber nichts am Ergebnis und an der praktischen Bedeutung unserer historischen Strukturanalyse. Denn nur auf ihrem 11

Ritter, Damoiiie

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Wege, nur durch ein tieferes Eindringen in das Wesen abendländischer Staatsbildung und Politik, ist es möglich, zu einer gerechten Beurteilung europäischer Vergangenheit mit ihren beständigen Machtkämpfen zu gelangen, zugleich aber die alten europäischen Gegensätzlichkeiten, von denen hier so viel die Redfe war, durch gegenseitiges Verstehen wenigstens aufzulockern.

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V SCHLUSSBETBACHTUNG: VERSUCH EINER THEORETISCHEN DES

ÜBERWINDUNG

GEGENSATZES

Neuzeit im Bewußtsein der europäischen Menschheit aufbrach, schreit nach einer Lösung. Wir brauchen eine Theorie der Macht, die über den ewigen Gegensatz zwischen machiavellistischem und erasmischem, kontinentalem und insularem Denken hinausführt, indem sie dem berechtigten Anliegen beider Seiten gerecht wird: dem Bedürfnis der menschlichen Gesellschaft nach friedlicher Dauerordnung, gesichertem Recht, aber auch dem Bedürfnis des Staates nach freiem Spielraum zur Entfaltung kämpferischer Energie, weil ohne sie keine Selbstbehauptung irgendeiner öffentlichen Autorität praktisch möglich ist. Es wäre in der Tat unerträglich, müßten wir aus unseren historischen Betrachtungen den Schluß ziehen, es gäbe nur die eine Alternative: „Entweder sich durch die Annahme einer harmlos idyllischen Harmonie von Macht und Gerechtigkeit zu betrügen (in der Art des Th. Morus), oder vor dem ungeordneten Chaos einer Welt, in der die Dämonie der Macht und die Ohnmacht des sittlichen Prinzips sich unvereinbar entgegenstehen, zu resignieren (1)." An der Überwindung dieser Alternative zu arbeiten, eine _4ieue Lösung des modernen Machtproblems zu suchen, gehört sicherlich zu den dringensten Aufgaben, vor die Historie, Philosophie und Staatswissenschaft unserer Tage gestellt sind. Ohne ein wirklich befriedigendes, System politischer Ethik wird keine Form staatlicher Machtentfaltung auf die Dauer die Menschheit von ihrem Existenzrecht überzeugen und sich damit mehr als eine bloß ii*

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äußerliche Anerkennung verschaffen könneij. Was der einzelne Historiker dazu beitragen kann, ist nur ein bescheidener Versuch des Durchdenkens, Weiterdenkens, Zuendedenkens geschichtlicher Traditionen, wie sie in seinen Quellen vor ihm erscheinen, und eines beständigen Vergleichs politischer Theorie mit der Wirklichkeit. Aber ohne einen solchen Versuch könnte eine historische Behandlung des Machtproblems am Ende nur beunruhigend und verwirrend statt fördernd wirken..

Kämpferische Machtballung und friedliche, rechtstiftende Dauerordnung bilden in der historischen Wirklichkeit keine Alternative, sondern gehören immer zusammen: beide sind wesensnotwendige Bestandteile jeder echten Staatsbildung. Aber sie stehen gleichwohl nicht im Verhältnis einer „idyllischen Harmonie" zueinander, sondern in kontradiktatorischem Gegensatz: das eine Wesenselement hebt (in gewissem Sinn) das andere geradezu auf. Wer Friede, Recht und Ordnung sucht, will den Streit aus der Welt schaffen; wer mit Waffengewalt um die Macht kämpft, zerstört mehr oder weniger rücksichtslos — je nach dem Grad des eigenen Bedrohtseins — die friedliche Rechtsordnung und setzt die Gebote sog. „bürgerlicher" Moral, ohne deren Geltung docl^ keine dauerhafte, edite Gemeinschaft unter den Menschen möglich ist, für die Kämpfenden außer Kraft. Ebendies ist das tief Beunruhigende, zugleich freilich 'auch das lockend Geheimnisvolle im Wesen der Politik: daß sie nichts Eindeutiges, sondern etwas Zweideutiges ist. Man kann es auch das „Dämonische" nennen, sofern Dämonie nicht Bosheit schlechthin, sondern moralisches Zwielicht ist; nur erschöpft sich freilich der Begriff des Dämonischen darin nicht, sondern umfaßt zugleich jene unheimliche Besessenheit des Willens, die bis zu zerstörerischer Verblendung geht. Jedenfalls ist aber die Macht, auch die kämpfende Macht, nicht „böse" schlechthin, wie J. Burckhardt meinte; es gibt vielmehr eine eigene Ethik des Kämpferischen, die sich ganz und gar nicht bagatellisieren läßt, sondern sehr ernst genommen werden muß. Es gibt echte kämpferische,soldatischeTugenden,derenInbegriff durchavdqtia, Virtus, Virtù keineswegs erschöpft wird. Auch die Leidenschaft 164

des Kämpfens entspringt durchaus nicht blöß naturhaftem Geltungsdrang, krampfhafter Angst des Sichbehauptenmüssens um jeden Preis, Ruhmsucht, Ehrgeiz niederer Art; es gibt auch im Kampf um die politische Macht einen Ehrgeiz höchsten Ranges: echten Schöpfungsdrang, der zu selbstloser Hingabe des Lebens im Dienst für eine große Sache führen kann. Diese Hingabe verliert ihren sittlichen Rang noch keineswegs dadurch, daß der Kämpfende (wie es wohl bei allen großen Staatsmännern der Geschichte geschah) die Sache des Staates zu seiner eigenen macht, mit und in seinem Staat sich selber zur Macht emporbringen will. Denn ist nicht Selbstbehauptung der Persönlichkeit ebenso eine sittliche Pflicht wie Selbsthingabe für die Gemeinschaft — sofern es nur dabei um einen echten Auftrag geht, den das Individuum innerhalb der Gemeinschaft zu erfüllen hat, nicht aber um seine zufällige Subjektivität? Wohl lauert dicht hinter jeder Selbstbehauptung der moralischen Persönlichkeit, die für die Erfüllung ihrer Sendung kämpft, die Gefahr einer Verzerrung des Selbstbewußtseins zur Selbstvergötzung, zur blinden Besessenheit, die sich in keine höhere Gemeinschaftsordnung mehr fügt, weil sie nur noch sich selber kennt und ihre Sendung, ihre „Idee", als bloßes Aushängeschild mißbraucht. Und es leuchtet ein, daß diese Gefahr in den großen Machtkämpfen der Staaten, die keine souveräne Obergewalt mehr in Schranken irgendwelcher Gemeinschaftsordnung halten kann, erst recht zu voller Dämonie sich steigert. Aber das ändert nichts daran, daß kämpferische Selbstbehauptung sowohl des Individuums in der Gesellschaft wie des Staates in der Völkergemeinschaft nicht ohne weiteres als bloß „naturhaft", d. h. als vor- oder außermoralische Erscheinungsform der reinen- Vitalität, oder gar als moralische Fehlleistung abgewertet werden darf. Es gibt auch eine Selbstbehauptung als echte moralische Pflicht. Nach alledem ist es grundsatzlich falsch, immer nur von einer „Natur- und Nachtseite" des Politischen zu sprechen, wenn man an die kämpferische Machtballung denkt, oder „Politik" (d. h. politischen Machtkampf) und „Moral" einander als ausschließende Gegensätze gegenüberzustellen. Sie bilden gar kein echtes Gegensatzpaar. Der Gegensatz, der hier gemeint ist, liegt in Wahrheit tiefer: in der antinomischen Struktur, im 165

Doppelsinn des Politischen selbst. Es äst ein heute weit verbreitetes Vorurteil, das „Politische" einfach mit dem „Kämpferischen" gleichzusetzen. Das „Politische" kann nur so verstanden werden, daß es alle Lebensäußerungen des Staates umfaßt. Nun gehört zum Wesen des Staates ganz gewiß die Ballung von Macht, die sich kaum je ohne Kampf vollziehen wird. Aber das Wesen der Macht ist nicht das Kämpfen als solches, sondern höchstens die Fähigkeit und Bereitschaft dazu. Das Wesen der Macht ist der Besitz erhöhter Chancen, den eigenen Willen gegen alle Widerstände fremden Willens durchzusetzen. Je größer die Machtballung ist, desto weniger bedarf es dazu erst des Kämpfens und der Anwendung physischer Gewalt. Und so entsteht die sittliche Forderung ap den Staat als den stärksten aller Machtträger, seine Macht nicht zu fortgesetzt weiterer Steigerung seines Machtbesitzes in fortgesetzt neuen Kämpfen zu gebrauchen, sondern vor allem zur Begründung und Sicherung einer festen Dauerordnung, in Form einer Rechtsordnung, die das Chaos der ewigen Machtkämpfe zur Ruhe, die zahllosen Interessengegensätze zwischen den Individuen, Klassen, zuletzt auch Völkern und Staaten zum Ausgleich zwingt. So betrachtet erscheint der Staat nicht als kämpferische, sondern als friede- und ordnungstiftende Gewalt, als „Ordnungsmacht". Und diese Seife seines Wesens gewinnt für das Bewußtsein der Kulturmenschheit eine so überragende Bedeutung, daß wir keine Häufung physischer Gewaltmittel als „Staat" anzuerkennen vermögen, die nicht als Ordnungsmacht sich bewährt. So wenig wie ein wehrloser, also als Ganzes kampfunfähiger Menschenhaufen staatliche Gemeinschaft bildet (er ist bloßes Chaos, allenfalls „bürgerliche Gesellschaft"), so wenig kann rechtlose Gewaltsamkeit irgendwelche staatliche Autorität beanspruchen: sie ist bloße Räuberei. Das hat nicht erst Augustin gelehrt, sondern das gehört zum ältesten Erbgut menschlicher Gesittung überhaupt und so auch zu den Kernsätzen antiker Staatsphilosophie. Schon Plato wollte einen wehrhaften Staat — aber er stellte ihn unter die Herrschaft der „Philosophen", d. h. unter das Gebot des „rechtlichen Sinnes", der für ihn den Inbegriff aller staatsbürgerlichen Tugenden bildete. Nun sind aber Friede und Gerechtigkeit nur denkbar in 166

einer menschlichen Gemeinschaft, deren moralische Grundlage sich nicht auf die sittlichen Werte des Kämpfertums beschränkt, sondern alle Tugenden der Soziabilität, des selbstlosen Altruismus mit umfaßt. Nicht als ob es irgendeine Friedensordnung, irgendeine Gemeinschaft von wahrer Lebendigkeit, von sittlichem Rang geben könnte, die der inneren Spannungen und damit des lebenzeugenden Kampfes entbehrte! Völlig kampflose Ruhe (ob nun durch Zwangsgebot künstlich erzeugt oder durch spannungslose Egalität aller Individuen bedingt) müßte zu toter Bewegungslosigkeit, zu 'unfruchtbarer Erstarrung führen. Aber es ist ein fundamentaler Unterschied: ob es sich um lebensteigernden Wettkampf (Parallelkampf) benachbarter oder um lebenzerstörenden Verhichtungskampf einander feindlicher Kräfte handelt. Jener kann nur da stattfinden, wo über allem Kampf eine gemeinsame, Rechtsschranken setzende, Versöhnung stiftende Ordnung waltet und ihre sittliche Autorität behält — wo der Wille zur Gemeinschaft statt zum Chaos, zum Frieden an Stelle ewiger Feindschaft auch im Kampfe bestehen bleibt (wie etwa in einer gesunden Wirtschaftsordnung, die auf dem Prinzip des freien Leistungswettkampfes beruht). Ebendies ist im Bereich politischer Machtkämpfe nur beschränkt der Fall. Wer um die politische Macht kämpft, denkt weniger daran, wie er die andern durch sachliche Leistung übertreffen, als wie er sie beherrschen, ihnen seinen Willen aufzwingen kann. Uiid weil in demselben politischen Raum zuletzt immer nur einer gebieten kann, erhält das politische Machtstreben so oft den Charakter der Ausschließlichkeit. Wer um die Macht kämpft, will einen andern daraus verdrängen; er wird ihn also nicht nur zu übertrumpfen, sondern auf alle Weise seiner Machtmittel zu berauben suchen: er will ihn moralisch, wenn möglich auch physisch überwältigen, unter Umständen vernichten; politische Feindschaft hat immer die Neigung, sich zu totaler Feindschaft auszuwachsen. So wird der politische Wettkampf zum Vernichtungskampf, und damit gewinnt auch die Ethik des politischen Kämpfertums ihr besonderes Gesicht. Sicherlich kann auch ein Vernichtungskampf unter ethischem Vorzeichen vor sich gehen: etwa im Namen der Freiheit gegen rechtlose, wahre sittliche Gemeinschaft zerstörende Tyrannei oder zur Beseitigung eines veralteten, gesunde Kräfte lähmenden, 167

aber auf keinem Wege friedlicher Verständigung zu bessernden Rechtszustandes. Aber wie ungeheuer schwer, ja unmöglich ist es oft, mit Sicherheit zu bestimmen, ob ein echter, sittlich begründeter Anspruch der Kämpfenden besteht, wie weit er reicht, wo die Grenze zwischen Recht und Unrecht, zwischen wirklicher Sendung und bloßer Anmaßung, zwischen wahrem und falschem Ehrgeiz, zwischen Einsicht und Verblendung, ruhiger Besinnung und wilder Besessenheit verläuft! Die unendliche Komplexität des politischen Lebens, die oft grenzenlose Verworrenheit der darin miteinander ringenden Geltungsansprüche macht es selbst dem rückschauenden Historiker oft unmöglich, über „Recht" »und „Unrecht" sicher zu urteilen — er folgt dann oft mehr seinen politischen Sympathien als rationaler Einsicht oder (noch häufiger): er wägt einfach nach dem politischen Erfolg und wird so zum bloßen Claqueur der Weltgeschichte. Er vertraut nämlich darauf, daß im Kampf selbst wohl schon zutage gekommen sein -werde, wer die besseren Lebens- und Machtansprüche besaß — offenbar ein (trotz Hegel!) naives Vorurteil, das durch ungezählte geschichtliche Fälle zu widerlegen ist, i n denen rohe physische Übermacht die bessere Sache überwand und vielleicht endgültig vernichtete. Die theologische Ethik und Geschichtschreibung älterer Zeiten hielt sich gewöhnlich an den Maßstab des positiven Rechts, um den „gerechten" Krieg und Machtkampf vom ungerechten zu unterscheiden, oder sie betrachtete Angriff schlechthin als Schuld, Verteidigung als erlaubt, geriet aber damit in tausend Nöte angesichts zweifelhafter Grenzfälle, aus denen auch keine Kunst kasuistischer Distinktionen sie zu retten vermochte. Denn allzu oft versagt die Wegweisung des positiven Rechts — sei es nun, weil eine veraltete, längst zu Unrecht und Tyrannei gewordene Rechtsordnung gewaltsam zerstört werden muß (vgl. etwa den Ursprung des nordamerikanischen Freiheitskrieges oder des sog. Sezessionskrieges!), sei es deshalb, weil gar nicht klares Recht gegen klares Unrecht, sondern zunächst einfach Lebensanspruch gegen Lebensanspruch oder auch Verblendung und Anmaßung gegen ebensoviel Verblendung auf der anderen Seite steht. Erst nach dem Kampf kann sich dann zeigen, ob der Sieger auch seinen Waffenerfolg moralisch verdient, indem er eine bessere (oder zum mindesten gleichwertige) 168

politischen Ordnung an die Stelle der zerstörten setzt. Eine andere sittliche Rechtfertigung solcher Vernichtungskämpfe gibt es im Grunde nicht (2). Noch schwerer als die Zuschauer und historischen Betrachter politischer Kämpfe haben es natürlich die Kämpfenden selbst, den echten vom falschen Geltungsanspruch, die wahre politische Sendung von der bloß subjektiven Anmaßung zu unterscheiden. So treten denn gewöhnlich beide Kampfparteien mit absolutem Geltungsanspruch auf, der ihnen den Blick für die relativen Rechtsansprüche, für die politische Mission ihres Konkurrenten und Gegners völlig verhüllt. In diesem Sinn darf man sagen: der Machtkampf macht blind; er ist eben deshalb auch mehr Sache der Willensmenschen als der reflektierenden Naturen, der sog. „Intellektuellen". Es ist nicht unmöglich, aber sehr schwer, in ihm Besonnenheit und Augenmaß zu bewahren. Um so schwerer, je mehr der Machtkampf zum physischen Gewaltkampf, zum Ringen auf Leben und Tod, zum Kriege wird. Wer in solche Kämpfe gerät, darf zuletzt nur auf den praktischen Erfolg seiner Kampfhandlungen blicken oder er wird unterliegen, unter Umständen vernichtet werden. Wo er sich behindert sieht in der Ausnützung aller Gewinnchancen, darf er auch das Durchbrechen jener Schranken „bürgerlicher Sittlichkeit" nicht scheuen, von deren Geltung doch die Möglichkeit jeder friedlichen Gemeinschaftsordnung abhängt. So entsteht eine echte Antinomie zwischen Kampfmoral und bürgerlicher, d. h. jener Moral, welche die gewaltsam zerstörerischen Kräfte aus dem Leben der Gemeinschaft ausschließen will. Diese Antinomie ist von jeher zum Stachel unendlicher sittlicher Verwirrung und zum Anstoß ebenso unendlicher theoretischer Diskussionen geworden. Von jeher hat der menschliche Geist versucht, sie zu verharmlosen oder su verleugnen, indem er entweder die eine oder die andere Seite des Politischen allein für wesenhaft erklärte, der anderen ihr Daseinsrecht bestritt oder sie doch in den Schatten rückte. Die Gcschichte der Staatstheorien ist voll von solchen Ausweichversuchen. Die einen erklären den Staat seinem Wesen nach für eine Rechtsordnung, das Kämpferische der Macht, sofern es Recht und Ordnung zerstörende Wirkungen hat, für eine Entartungserscheinung, für tyrannische 169

Willkür oder Anarchie. Das sind die Utopisten der Rechtsidee. Ihnen kann die wahre Dämonie der Macht einfach verborgen bleiben (so etwa den Klassikern der althellenischen Staatsphilosophie) ; es kann aber auch sein, daß sie sich dieser Dämonie zwar bewußt sind, ihrer aber Herr zu werden meinen, indem sie den Machtkampf in einen Rechtsprozeß umzudeuten versuchen — womit sie ihn verfälschen und erst recht zu dämonischer Zweideutigkeit steigern. Dies ist der Fall des Thomas Morus. Auf der anderen Seite stehen die radikalen „Machiavellisten", die nur das Kämpferische gelten lassen, das Politische schlechthin mit dem Freund-Feindverhältnis gleichsetzen, alle Geltung „bürgerlicher" Moral in dieser Sphäre bestreiten und damit zuletzt den Sinn des Staates als recht- und ordnungsetzende, wahre Gemeinschaft stiftende Macht zerstören oder doch gefährden. Machiavelli selbst ist nicht ganz so weit gegangen. Wohl hat er die harmonisierenden und idealisierenden Staatsbegriffe des Mittelalters und der vorchristlichen Antike zerstört, indem er die Unentbehrlichkeit des Machtkampfes für die Bildung und Behauptung staatlicher Autorität nachwies, das Wesen kämpferischer Ethik (die Virtù und alles, was damit zusammenhängt) in Wiederanknüpfung an antike Tugendideale gleichsam neuentdeckte und ihren Gegensatz zu den Geboten der sog. bürgerlichen Moral mit erbarmungsloser Klarheit zum Bewußtsein brachte. Gleichwohl hat auch er einen Begriff davon, daß es neben der rein kämpferischen auch ordnungstiftende Aufgaben des Staates gibt: eine Virtù ordinata weiser Gesetzgeber und einen republikanischen Staatsgeist unverdorbener Völker, der wenigstens in seinen Ursprüngen mit Religion und bürgerlicher Sittlichkeit irgendwie zusammenhängt. Aber wie ich früher nachgewiesen habe, darf man die Bedeutung dieser bloß dämmernden Einsicht im Zusammenhang seines politischen Systems nicht überschätzen; im wesentlichen läuft doch auch der politische Gemeinsinn der Völker und die Tätigkeit ihrer Gesetzgeber wieder nur auf Kampfbereitschaft und Erziehung zu kämpferischer Tüchtigkeit hinaus. So stehen sich also in der Tat Morus und Machiavelli als Vertreter der „zwei Grundtypen moderner Staatsauffassung" (wie ich im Vorwort zur 1. Auflage sagte) gegenüber. Aber ihr Gegensatz enthüllt sich jetzt als begründet in einer wesen170

haften Antinomie des Politischen, deren Anerkennung beide — jeder auf seine Art — auszuweichen versuchen. Wer ihre Einseitigkeit vermeiden will, wer sowohl den Machtkampf wie die Friedensordnung als wesenhafte Aufgabe des Staates anerkennt, sieht sich doch genötigt, ihre schroffe Gegensätzlichkeit (die Machiavelli mit unwiderleglicher Klarheit erwiesen hat) einzuräumen. Aber der für rationales Denken zunächst unlösbar erscheinende Gegensatz kann und muß dennoch im konkreten Handeln des Staatsmannes praktisch überwunden werden. Wie das zu geschehen hat, wurde bereits zu Anfang des 4. Kapitels angedeutet, wo von der „höchsten Stufe echter Staatsmannschaft" die Rede ist, die es versteht, „illusionslos in die Abgründe dämonischer Kräfte zu blicken, selber ergriffen von starker Leidenschaft (des Kämpfens) und dennoch alles aufbietet, den zerstörerischen Kräften Schranken zu setzen, das Menschliche vom Dämonischen nicht überwältigen zu lassen, Vernunft, Recht und Sittlichkeit mitten im Sturm der Leidenschaften zu Gehör zu bringen". Es ist aber eine der wichtigsten und dankbarsten Aufgaben des Historikers, diese „höchste Stufe echter Staatsmanschaft" an historischen Beispielen näher zu erläutern und anschaulich zu machen. Es geht um das Geheimnis wahrhaft verantwortungsbewußten politischen Handelns; um die Fähigkeit, schon im Kämpfen selbst die neue Dauerordnung, die daraus folgen soll, vorauszudenken; um die sittliche Rechtfertigung des Machtkampfes aus der Verpflichtung, eine veraltete Rechtsordnung durch eine bessere neue zu ersetzen; um die Bewährung der Staatsräson nicht als bloße Staatsklugheit, sondern als ein Stück sittlicher Vernunft; um die Selbstbeschränkung des kämpferischen Willens, die daraus folgt, so daß schließlich die Einheit des sittlichen Bewußtseins trotz aller Antinomie der praktisch-politischen Aufgaben erhalten'' bleibt. Denn sobald der Machtkampf als bloßes Mittel zur Herstellung und Sicherung einer beständigen und darum dauerhaften Rechtsordnung aufgefaßt wird, erhält diese den höheren sittlichen Rang; das kämpferische Element des Politischen verliert seinen Rang als Selbstzweck; die ethischen Normen des Kämpfertums, sofern sie der geselligen Moral widerstreiten, werden zur Moral des bloßen „Ausnahmezustandes". Das ist frcilich keine reinliche theoretische Lösung; aber sie 171

ist praktisch von größter Bedeutung. Eine wirklich rationale Auflösung jener praktischen Antinomie gibt es nicht: es bleibt nun einmal dabei, daß die Mittel des Machtkampfes dfem Wesen der Rechtsordnung, die erstrebt wird, weithin widerstreiten. Wir können die antinomische Struktur unseres politischen D a seins nicht einfach dadurch überwinden, daß wir Machtkampf und Friedensordnung theoretisch in ein Verhältnis von Mittel und Zweck setzen. E s bleibt immer die Not des praktisch Sichentscheidenmüssens zwischen zwei Aufgaben, die einander widersprechen können und die doch beide gleich unaufgebbar sind — jeder der unzähligen Konflikte zwischen Staats- und Heerführung in der Geschichte, "der tiefere Gründe hat als bloße Kompetenzstreitigkeiten, zeugt davon; aber darüber hinaus rührt jede politische Kampfmaßnahme, welche die Normen bürgerlicher Sittlichkeit durchstößt oder die an irgendeinem Punkt das positive Recht verletzt, an dieses Problem. Immer wieder drängt d a s praktische Lebensbedürfnis der politischen Gemeinschaft an diesem oder jenem Punkt über solche Schranken hinaus; denn alles positive Recht ist bis zu einem gewissen Grade zeitbedingt und nicht immer ohne Gewaltsamkeit zu verändern. D a s sittliche Recht des politischen Machtkampfes ist also nicht unbedingt abhängig von der Erweisbarkeit positiver Rechtsansprüche, und die Durchführung des politischen Kampfes ist nicht einfach regelbar nach den Normen friedlichen sozialen Zusammenlebens. Aber auch dann, wenn positives Recht und bürgerliche Moral durchbrochen werden, kommt praktisch alles darauf an, daß nicht sittliche Willkür herrscht, sondern das Bewußtsein von der Ordnungsaufgabe als letzter und höchster Staatsaufgabe erhalten bleibt; daß der Kampf niemals als Selbstzweck erscheint, sondern letztlich eben doch als Mittel zur Herstellung einer gesunden und dauerhaften Neuordnung; daß der um die Macht Kämpfende nicht in subjektiver Willkür aus einem sozusagen rein privaten Geltungsbedürfnis streitet, sondern im Dienst einer echten Berufung; daß in den Streitenden, welche die Schranken geselliger Moral überschreiten, das Bewußtsein ihrer Ausnahmesituation erhalten bleibt, nicht aber ihr sittliches Bewußtsein überhaupt zerstört wird. Kein großer politischer Machtkampf ist jemals ohne Kampfeszorn und gegenseitigen Haß durchgefochten worden; aber wo über sol172

chem Haß die Möglichkeit zu friedlichem Zusammenleben, gegenseitiger Verständigung, Wiederaufbau einer Dauerordnung überhaupt verlorengeht, verewigt sich der Kampf und wird die Macht zum Fluch statt zum Mittel der Bändigung des Chaos. Eben darum ist auch die möglichst klare und scharfe Unterscheidung zwischen Krieg und Frieden ein ganz dringendes Erfordernis des Völkerrechts; alles kommt darauf an, daß die Grenze zwischen beiden, der Ausnahmecharakter des Krieges, im öffentlichen Bewußtsein lebendig erhalten, nicht aber verwischt wird. Gewiß gehört das Kämpfen mit letzter Leidenschaft des Einsatzes wesensnotwendig zum politischen Handwerk. Die kämpferische Einsatzbereitschaft und Einsatzfähigkeit (die Virtù des Machiavelli) ist als ein echter sittlicher Wert zu verstehen. Aber sie ist nicht letzter und höchster Wert, oder doch nur in Krisenzeiten; und sie ist sittlich wertvoll überhaupt nur da, wo sie die Soziabilität als solche nicht ausschließt. Das sind nun freilich theoretisch überaus schwierige, scheinbar fließende Grenzbestimmungen, und so pflegt die politische Theorie zwischen moralisierender Kritik und resignierender oder auch verherrlichender Bejahung des Machtkampfes, zwischen „utopistischer'" und „machiavellistischer" Betrachtung hin- und herzuschwanken. Allenfalls wird auch von den Machiavellisten empfohlen, die moralische „Reputation" (wie Richelieu das nennt) als politisches Machtmittel nicht zu unterschätzen. Wer aber resigniert, liefert die Welt dem Chaos aus; und wer eine rechtliche Legitimation im Sinne des positiven Rechts für alle politischen Aktionen schlechthin verlangt, fordert die moralische Heuchelei geradezu heraus. Politische Machtkämpfe lassen sich nun einmal nicht als Rechtsprozesse führen, und wer seinen Kampf mit dem Anspruch unternimmt, als Hüter d?s öffentlichen Rechts zu handeln, ist immer in Gefahr, als Richter in eigener Sache zu erscheinen. Nichts steigert die Dämonie der Kampfesleidenschaften mehr als die moralische Herabsetzung des Gegners, den man zum Feind der öffentlichen Ordnung erklärt; und ein Friedensschluß, der nicht als Aussöhnung gleichgestellter Parteien, sondern als Rache- und Strafakt an dem Besiegten vollzogen wird, trägt gerade am wenigsten Gewähr der Dauer in sich. Das ist ein Erfahrungssatz, der als' 173

theoretische Wahrheit schon seit langem in der internationalen Diskussion anerkannt wird. Zum Unglück Europas steht seiner praktischen Anwendung nicht nur die Entfesselung maßloser Leidenschaften und maßloser Leiden, wie sie der moderne Totalkrieg über ganze Völker bringt, entgegen, sondern fast noch mehr die Tatsache, daß politische Taten gemeiner Verbrecher nicht mehr unter das Völkerrecht, sondern unter das Strafrecht fallen. Doch Ist das Auftreten von Kriminellen und Irrsinnigen auf der Bühne hoher Politik eine so große Seltenheit in der Geschichte des Abendlandes, daß man sie wohl als Ausnahme betrachten darf. Nicht dadurch also wird die Dämonie der Macht praktisch bezwungen, daß der verantwortungsbewußte Staatsmann seine kämpferische Haltung moralisch zu bemänteln weiß, sondern allein dadurch, daß er auch mitten in der Hitze des Kampfes nicht die Aufgaben friedlicher Dauerordnung vergißt, im Innersten sich des rein agonalen Kernes aller politischen Machtkämpfe bewußt bleibt, demgemäß einen kühlen Kopf behält und wahre Staatsräson (im Sinn klarer Ratio und sittlicher Vernunft zugleich) an Stelle verblendeter Leidenschaft walten läßt. Er muß die größten Gegensätze in sich vereinen: leidenschaftlich sein und doch besonnen, ganz erfüllt vom Glauben an seine Sendung und dennoch ihrer Grenzen sich bewußt; er muß sich Verstecken können gegen seine Feinde und doch zuletzt zur Aussöhnung, wo sie vernünftigerweise möglich ist, sich bereit halten. Wahrlich eine seltene Vereinigung widerstreitender Fähigkeiten! Und doch ist sie die unentbehrliche Voraussetzung wahrer geschichtlicher Größe. Denn wo nun im konkreten Fall die Grenze der Zerstörung, die jeder große Machtkampf anrichtet, zu suchen ist, dafür gibt es keine allgemeine Regel, sondern darüber entscheidet ausschließlich die praktische Staatsvernunft, entscheidet Einsicht und Gewissen des Handelnden. Je nach dem Gesamthabitus der staatsmännischen Persönlichkeit und je nach 'dem politischen Bedürfnis seiner Zeit und seiner Umwelt wird die Entscheidung entweder mehr im Sinne des kämpferischen oder mehr des ordnungstiftenden Elementes ausfallen. Nur das eine läßt sich allgemein sagen: daß eine monumentale, wirklich dauerhafte geschichtliche Leistung nur da erreicht wird, wo beide Aufgaben 174

ganz ernst genommen werden, d. h. wo schöpferische, kampfbereite Energie sich in den Dienst einer gesunden Rechts- und Friedensordnung stellt und eben in diesem Dienst das kämpferische Element zu beschränken sich müht. Napoleon, der hemmungslose Aktivist, erscheint von hier aus ebensowenig als ideales Vorbild wie sein Gegenpol Metternich, der Staatsmann des reinen Beharrens. Aber ideale Vorbilder gibt es überhaupt sehr wenig — in der Politik wohl noch weniger als sonst im Leben. Denn es gehört auch mit zur Dämonie der Macht, daß ihr Besitz die größte aller Versuchungen des Menschen ist. Sie kann ebenso dazu verführen, das Leben zugunsten des strengen Rechts wie das Recht zugunsten des Lebens und seiner ewig neuen Ansprüche zu vergewaltigen. Überdies: was im sittlichen Leben der Einzelpersönlichkeit immer das Schwerste ist: der beständige, rational gar nicht auflösbare Konflikt zwischen den Pflichten der Selbstbehauptung und denen des Selbstverzichtes im Dienst der Gemeinschaft, wiederholt sich im Leben des Staates nur auf höherer Stufe. Wie der Geltungsdrang zur Hybris verführen kann und die Hitze der Kampfesleidenschaft die Vernunft verdunkeln, so vermag die Größe der Verantwortung auch wohl einen starken Willen zu lähmen. Das Seltenste ist immer die reine Staatsvernunft. Auch solche geschichtliche Einsicht (die man wohl die Quintessenz dieses Buches nennen könnte) ist gefährlich. Nachdem ein allzu blindes Vertrauen zum Staat, die Folge der nationalpolitischen Erziehung eines Jahrhunderts, uns Deutsche verführt hat, einem Dämon nachzulaufen bis in den Abgrund des äußersten Verderbens, droht nun im Rückschlag dagegen ein ebenso grenzenloses Mißtrauen, eine allgemeine Abkehr von der Politik. Aber die Politik wird deshalb nicht aufhören, und die Dämonen werden in ihr um so leichteres Spiel haben, je mißtrauischer und ängstlicher die Masse der Nation die Augen und die Herzen davor verschließt. Überdies droht eine neue Illusion, wo das Gerede vom „Führerstaat" durch neue poli-r tische Schlagworte verdrängt wird: die Illusion von der natürlichen Güte des Volkes, der breiten Masse, der man nur ihren Willen lassen müsse — was dann zu zuchtloser Beliebigkeit an Stelle einer vernünftigen Ordnung verführen kann. So schwer wie es für den Staatsmann ist, den schmalen Mittelweg 175

reiner Staatsvernunft innezuhalten, so schwer ist es für den Staatsbürger, zwischen Mißtrauen und Vertrauen das rechte Verhältnis zu seinem Staat zu finden. Im ganzen ist die Historie heute wohl mehr dazu berufen, Ernüchterung als Begeisterung zu predigen. Sie soll durch nüchterne Einsicht Illusionen zerstören. Aber wir dürfen uns dadurch um keinen Preis abschrecken lassen von verantwortlicher Mitarbeit an der Gestaltung des öffentlichen Wesens. Die geschichtliche Einsicht, daß es praktisch keine Staatsvernunft gibt, die klar und stark genug wäre, um zerstörerische Leidenschaften völlig niederzuhalten, und praktisch keine Gemeinschaftsordnung, die allen Forderungen wahrer Gerechtigkeit genügen könnte — diese Erkenntnis ist zuletzt nichts weiter als ein Stück jener Erfahrung von der Unzulänglichkeit des Menschlichen überhaupt, die unser ganzes irdisches Leben überschattet. Nur wird uns freilich nirgends so deutlich bewußt wie in den großen politischen Machtkämpfen, daß um die Seele des Menschen Gott und der Satan beständig miteinander ringen. Denn nirgends offenbart sich so schreckensvoll wie hier die unheimliche Verstrickung von Schuld und Schicjksal, von abgrundtiefer Bosheit und höchstem Edelsinn, in der alles menschliche Handeln sich bewegt. Das dämonische Antlitz der Macht — wir wiederholen es — gleicht dem Gorgonenhaupt,, das menschliche Gesichter zu Masken und Fratzen erstarren läßt. Aber auch dieser — immerfort sich erneuernde — grauenvolle Anblick darf uns nicht lähmen. Statt ihm mit mutloser oder zynischer Resignation zu begegnen, müssen wir ihm mit kalter Entschlossenheit — und dennoch heißen Herzens — entgegentreten: mit dem Einsatz aller höheren Geistes- und Willenskräfte, um wider allen Augenschein dem Dämon ein Stück vernünftiger Weltordnung abzutrotzen.

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ANMERKUNGEN I Anm. Nr. Zu Seite 1 Burckhardt, Weltgeschlditlldie Betrachtungen, herausgegeben von Oeri 1 9 1 8 ' , 33 15 Vgl. dazu etwa: P. Tillich, P a s Dämonische. Tübingen (Mohr) 1926 15 2 3 D e r Kanon der vier bürgerlichen Haupttugenden, deren Summe „rechtlicher Sinn" (ursprünglich: Legalität) darstellt, ist altgriechisches Traditionsgut und findet sich schon bei Aschylus. Der 1944 erschienene II. Band von W. Jaegets Paideia entwickelt sehr eindrucksvoll (und fast als Hauptgedanken), daß Politik im Sinne des Sokrates-Plato einen durchaus moralisch-pädagogischen Sinn h a t : sie ist ihrem Ideal nach geradezu identisch mit Paideiai Weckung der Tugend ( = Bewußtsein des Guten) ist der eigentliche Sinn der Staatskunst. Freilich ist sich Plato des Utopischen dieser Forderung im Grunde bewußt. Gemessen an seinen Idealen erscheinen auch die großen athenischen Staatsmänner wie Perikles und Gorgias als bloße Stümper, die das eigentliche Ziel verfehlten. Am Schluß des Gorgias findet sich sogat so etwas wie ein Bewußtsein von der „Dämonie der Macht": in der Schilderung des Hades, in dem die meisten der Verdammten politische Machthaber sind, die schlimmsten aller Frevler. Aber was dieses Bewußtsein von dem des Machiavelli charakteristisch unterscheidet, ist das Fehlen der Vorstellung, daß Machtbesitz mehr ist als Versuchung — nämlich Zwang zum Abweichen des politischen Kämpfers von der bürgerlichen Norm. Für Plato ist die Vorstellung unvollziehbar, daß Macht als solche böse sei, und gehört die Gerechtigkeit ebenso zur „ N a t u r " des Menschen wie sein Machttrieb . . . . 17 4

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Aristoteles, ' Politik I, 6 (1255 a ) : oit, jolmov nva äoenj rvy/avovoa %OQtjyias xccl ßta^eo&cu T)ii'KLTU UII.'KK*/(;, xal JONV ael TU XQttmiv tv 17leQO/jj o.yadoi rivog, tuffre doxeiv fii] avtv Kpfnjs «V«M TTjV ßCav Politik V. 10—11; bes. 1315 b Politik V, 9 (1309 b). Es entspricht dieser Auffassung, wenn Konig Kreon in der Antigone des Sophokles mit seinem Verbot, den Vaterlandsverräter zu bestatten, zuletzt doch als hybrider Frevler gegen das Gebot der Götter erscheint. Der Gedanke, daß hinter seinem Gebot eine echte Staatsnotwendigkeit stehen könnte, findet sich in der Dichtung selbst nirgends klar ausgesprochen; jede solche Deutung des Konflikts erscheint als Modernisierung. Daß Kreon nicht wahres, sondern falsches Recht gegen echtes vertritt, ist auch das Ergebnis der Untersuchung von R. Bultmann, Polis und Hades in der Antigone des Sophokles. (Theol. Aufsätze

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f. K. Barth, 1936.) S. 81 ff Politik I, 2 (1253 a) Politeia, Buch I. Vgl. auch die Reden des Polos im Gorgias über

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Kitter, Dämonie

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das politisch erfolgreiche Verbrechertum und vor allem die Gestalt des Kallikles ebendort Eine höchst "eindrucksvolle Schilderung dieser unheilvollen Entwicklung gibt Thukydides im III. Buch, 82—84, anschließend an die Parteikämpfe in Korkyra während des Peloponnesischen Krieges. Mit erbarmungslosem Realismus wird hier der Krieg als Zerstörer des Nomos, der öffentlichen Sittlichkeit, geschildert. Er erzeugt in den Städten Griechenlands eine Parteiwut, welche die tollkühne Leidenschaftlichkeit, die Hybris, über Besonnenheit, Ehrbarkeit, Gerechtigkeit, Treue, Wahrhaftigkeit siegen läßt. Statt der Gemeinschaft des Rechts bildet sich eine Gemeinschaft des Verbrechens; Rachedurst ertötet nachbarlichen Bürgersinn; unter politischen Vorwänden schämt sich keiner, Ehre und Gut des Mitbürgers zu rauben; kein Eid wird mehr ernst genommen; Rechtschaffenheit und einfältige Redlichkeit wird als Torheit verlacht, Frömmigkeit (evaißeta) mißachtet; Ehrgeiz und maßlose Herrschsucht triumphieren. Und zwar sind es gerade die sittlich und geistig Minderwertigen (