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German Pages 520 Year 1999
CHRISTIAN HANKE
Die Deutschlandpolitik der Evangelischen Kirche in Deutschland von 1945 bis 1990
SCHRIFTENREIHE DER GESELLSCHAFT FÜR DEUTSCHLANDFORSCHUNG BAND 68
Die Deutschlandpolitik der Evangelischen Kirche in Deutschland von 1945 bis 1990 Eine politikwissenschaftliche Untersuchung unter besonderer Berücksichtigung des kirchlichen Demokratie-, Gesellschafts- und Staatsverständnisses
Von
Christian Hanke
Duncker & Humblot · Berlin
Die Deutsche Bibliothek- CIP-Einheitsaufnahme Hanke, Christian: Die Deutschlandpolitik der Evangelischen Kirche in Deutschland von 1945 bis 1990 I von Christian Hanke. - Berlin : Duncker und Humblot, 1999 (Schriftenreihe der Gesellschaft für Deutschlandforschung ; Bd. 68) Zugl.: Berlin, Freie Univ., Diss., 1997 ISBN 3-428-09453-0
D 188 Alle Rechte vorbehalten Humblot GmbH, Berlin Fotoprint: Color-Druck Dorfi GmbH, Berlin Printed in Germany
© 1999 Duncker &
ISSN 0935-5774 ISBN 3-428-09453-0 Gedruckt auf alterungsbeständigem (säurefreiem) Papier entsprechend ISO 97069
In Erinnerung
Gertrud und Paui Krawczyk In Dankbarkeit
Brunhiide und Norbert Hanke In Liebe
Diane und Kyra Hanke
Inhaltsübersiebt A. Kirche und Deutschlandpolitik ..................................................................... 17 B. Einleitung ..................................................................................................... 20 C. Evangelische Kirche und Deutschland - Traditionslinien und Ausgangsbedingungen ................................................................................................. 22 D. Deutschlandpolitische Orientierungen 1945 bis 1949 .................................. 50 E. Kirchliche Deutschlandpolitik in den 50er Jahren bis zum Mauerbau ....... 107 F. Kirchliche Deutschlandpolitik vom Mauerbau bis zum Beginn der neuen Ost- und Deutschlandpolitik ....................................................................... 187 G. Kirchliche Deutschlandpolitik in den 70er und 80er Jahren ...................... 239 H. Evangelische Kirche und die Einheit Deutschlands ................................... 430 I. Zusammenfassung der Untersuchungsergebnisse ........................................ 456
J. Schlußbemerkung ........................................................................................ 459 Literaturnachweise .......................................................................................... 460 Sachwortverzeichnis ....................................................................................... 498
Inhaltsverzeichnis A. Kirche und Deutschlandpolitik ..................................................................... 17 B. Einleitung ..................................................................................................... 20 C. Evangelische Kirche und Deutschland - Traditionslinien und Ausgangsbedingungen ................................................................................................. 22 I. Territorialisierung und Kaiserreich ............................................................ 22 II. Thron und Altar ........................................................................................ 27 111. Nation, Nationalgedanke und Volkskirche ............................................. 28 IV. Erfahrungen und Positionen in der Weimarer Republik und im Nationalsozialismus ........................................................................................ 32 V. Ausgangsbedingungen der Evangelischen Kirche im Jahre 1945 ........... .44 VI. Zusammenfassung ................................................................................... 47 D. Deutschlandpolitische Orientierungen 1945 bis 1949 .................................. 50 I. Stichworte zur deutschlandpolitischen Entwicklung .................................. 50 II. Das Verhältnis der Evangelischen Kirche zu den Siegermächten und zur Ökumene ............................................................................................ 63 I. Deutschlandpolitische Wirkungsmöglichkeiten der Evangelischen Kirche in den Besatzungszonen ......................................................... 63 2. Die Bedeutung der Ökumene ftlr die Rolle der Evangelischen Kirche im Nachkriegsdeutschland ........................................................... 69 111. Die Gründung der EKD und die Beziehungen zu beiden deutschen Staaten .................................................................................................... 73 1. Die Gründung der EKD ...................................................................... 74 2. Die Beziehungen der EKD zu beiden deutschen Staaten ................... 78 IV. Die Evangelische Kircheangesichts der Spaltung Deutschlands und der Gründung zweier deutscher Staaten.................................................. 80 I. Spaltung Deutschlands und echter Friede .......................................... 80 2. Kirche und die Gründungzweier deutscher Staaten ........................... 86
Inhaltsverzeichnis
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V. Schuldeingeständnis der Evangelischen Kirche und das Konzept der Rechristianisierung................................................................................... 90 I. Stuttgarter Erklärung und Darmstädter Wort ..................................... 90 2. Das Konzept der Rechristianisierung ................................................. 93 VI. Die Flüchtlings- und Vertriebenenfrage als praktische Deutschlandpolitik der Evangelischen Kirche ............................................................ 96 VII. Zusammenfassung ............................................................................... 102 E. Kirchliche Deutschlandpolitik in den 50er Jahren bis zum Mauerbau ....... I 07 I. Stichworte zur deutschlandpolitischen Entwicklung................................ l 08 II. Zur Rolle der Evangelischen Kirche in den Anfangsjahren der beiden deutschen Staaten ................................................................................... I 12 I. Rolle der Evangelischen Kirche in der Bundesrepublik Deutschland .................................................................................................. ll3 2. Rolle der Evangelischen Kirche in der Deutschen Demokratischen Republik .......................................................................................... 114 111. Voten der Evangelischen Kirche zur Einheit Deutschlands .................. ll6 I. Die deutsche Frage auf den EKD-Synoden und anderen öffentlichen Kundgebungen ...................................................................... 116 2. Die Wiederaufrüstungsdebatte und das Problem der Westintegration der Bundesrepublik ................................................................... 123 3. Das kirchliche Engagement fiir die Wiedervereinigung bei den Außenministerkonferenzen .............................................................. 134 4. Die Kirchentage als gesamtdeutsche Bewegung .............................. 137 IV. Stellung der Kirche zu Demokratie und Staatstheorie als Grundlage ihrer Deutschlandpolitik ....................................................................... 145 I. Kirchliches Demokratieverständnis seit der Reformation ................ 146 2. Evangelische Theologie und Demokratie und Staatstheorie in den filnfziger Jahren ............................................................................... 149 a) Walter Künneth ......................................................................... 153 b) Karl Barth ................................................................................. 158 c) Arthur Rich ............................................................................... 161 3. Kirche und Demokratie in den filnfziger Jahren ............................... 164 4. Demokratietheorie und Deutschlandpolitik der Kirche .................... 166
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Inhaltsverzeichnis V. Kirche und gesellschaftliche Entwicklung in beiden deutschen Staaten .......................................................................................................... 168 I. Der Militärseelsorgevertrag ............................................................. 168 2. Veränderte Kirchenpolitik der DDR-Regierung .............................. 170 3. Die Diskussion um eine neue kirchliche Standortbestimmung ....... 173 VI. Der Mauerbau ....................................................................................... 176 VII. Zusammenfassung .............................................................................. 181
F. Kirchliche Deutschlandpolitik vom Mauerbau bis zum Beginn der neuen Ost- und Deutschlandpolitik ...................................................................... 187 I. Stichworte zur deutschlandpolitischen Entwicklung .............................. 187 II. Deutschlandpolitik als Friedenspolitik .................................................. 191 111. Die "Handreichung zur Friedensfrage" ................................................ 193 IV. Die Handreichung "Zum Friedensdienst der Kirche" ........................... 196 V. Versöhnung mit dem Osten als Neuanfang der Deutschlandpolitik ...... 198 1. Die Ostdenkschrift ........................................................................... 200 2. Versöhnung als zentraler Gedanke .................................................. 204 3. Die innerkirchliche und politische Diskussion um die Ostdenkschrift .............................................................................................. 209 4. Die "Notgemeinschaft evangelischer Deutscher" ............................ 214 5. Wirkungen der Ostdenkschrift ......................................................... 216 VI. Berliner Passierschein-Abkommen und kirchliche Deutschlandpolitik ......................................................................................................... 218 VII. Die Studie "Friedensaufgaben der Deutschen" ................................... 223 VIII. Festhalten an der Einheit der EKD und die Gründung des Kirchenbundes ................................................................................................ 229 I. Das Festhalten an der Einheit der EKD ........................................... 229 2. Die Gründung des Bundes der Evangelischen Kirchen in der DDR ................................................................................................ 231 3. Innerkirchliche Bedeutung der Kirchenbundgründung und die "besondere Gemeinschaft" .............................................................. 233 IX. Zusammenfassung ................................................................................ 235 G. Kirchliche Deutschlandpolitik in den 70er und 80er Jahren ..................... 239
Inhaltsverzeichnis
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I. Stichworte zur deutschlandpolitischen Entwicklung ................................ 240 II. Kirche und gesellschaftliche Entwicklung in beiden deutschen Staaten ........................................................................................................... 245
I. Der Kirchenbund in den 70er und 80er Jahren ................................. 245 a) Die Reaktion der DDR-Regierung auf die Gründung des Kirchenbundes ............................................................................... 246 b) Die Positionsbeschreibung des Kirchenbundes: Kirche im Sozialismus ............................................................................... 249 c) Annäherung zwischen Kirche und Staat in der DDR ................ 255 d) Das Staat-Kirche-Verhältnis am Ausgang der 80er Jahre ......... 261 e) Kirche im Sozialismus in der Diskussion .................................. 266
f) Zwischen Kooperation und Konfrontation ................................ 280 2. Die EKD in den 70er und 80er Jahren ............................................. 281 a) Beginn einerneuen Phase der Kirchenpolitik ........................... 282 b) Annäherung an die pluralistische Demokratie .......................... 284 c) Die Denkschriften der EKD ...................................................... 288 111. Entspannungspolitik als kirchlicher Handlungsrahmen im Ost-WestKonflikt ................................................................................................. 304 I. Ostverträge und Grundlagenvertrag ................................................. 305 2. Der KSZE-Prozeß und die Menschenrechte ..................................... 307 3. Kirchliche Friedensdiskussionen-Sicherheitspartnerschaft und Deutschlandpolitik ........................................................................... 311 IV. Kirche und innerdeutsche Beziehungen .... ............................................ 314 I. Deutschlandpolitik auf den Kirchentagen in den siebziger und achtziger Jahren ............................................................................... 315 2. Gemeinsame Worte der Evangelischen Kirche in beiden deutschen Staaten als Beitrag zum Zusammenhalt der Nation ................ 328 3. Evangelische Kirche und deutsch-deutsches Verhältnis ................... 340 V. Stellung der EKD zu Demokratie und Staatstheorie .............................. 344 l . Demokratie und christliche Ethik ..................................................... 345 2. Demokratie und protestantische Staats- und Gesellschaftstheorie .... 349 3. Die Demokratisierungsdebatte und die Kirche ................................. 353 4. Das Problem der innerkirchlichen Demokratie ................................ 355
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Inhaltsverzeichnis
5. Kirchliche Stellungnahmen zum Problem der Demokratie seit 1945 ................................................................................................. 366 6. Die Demokratie-Denkschrift von 1985 ........................................... 377 7. Politologische Wertung des Verhältnisses der Kirche zur pluralistischen Demokratie ........................................................................ 40 I VI. Zusammenfassung ................................................................................ 426 H. Evangelische Kirche und die Einheit Deutschlands .................................. 430 I. Stichworte zur deutschlandpolitischen Entwicklung .............................. 430 II. Kirche und Umbruch in der DDR .......................................................... 435 1. Die Haltung der evangelischen Kirchen in der DDR im Krisenjahr 1989 ................................................................................................. 435 2. Die "protestantische Revolution" in der DDR ................................. 438 III. Kirchliche Positionen zur Gestaltung der Deutschlandpolitik im Krisenjahr 1989 ......................................................................................... 441 IV. Kirchliche Deutschlandpolitik und Wiedervereinigung- Die Loccumer Erklärung ...................................................................................... 444 V. Von der Trennung zur neuen Einheit der EKD ..................................... 452 VI. Zusammenfassung ................................................................................ 454 I. Zusammenfassung der Untersuchungsergebnisse ....................................... 456
J. Schlußbemerkung ....................................................................................... 459 Literaturnachweise ........................................................................................ 460 I. Periodika ................................................................................................. 460 II. Nachschlagewerke und Handbücher ..................................................... 460 III. Monographien, Sammelbände ............................................................. 461 IV. Aufsätze ............................................................................................... 474 Sachwortverzeichnis ...................................................................................... 498
Abkürzungsverzeichnis I. Allgemein ACK AGCK APU ASF B'90 BEK BK BRD CDU CFK
csu
DA DC DDR DEK DEKT DJ DKP DSU EAC EG EKD(EKiD) EKiBB EKU ena epd ERP EVG FDGO FDJ FDP IFM JCS
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Arbeitsgemeinschaft christlicher Kirchen in Deutschland Arbeitsgemeinschaft christlicher Kirchen in der DDR Evangelische Kirche der altpreußischen Union Aktion Sühnezeichen/Friedensdienste Bündnis 90 Bund evangelischer Kirchen in der DDR Bekennende Kirche Bundesrepublik Deutschland Christlich-Demokratische Union Christliche Friedenskonferenz, Prag Christlich-Soziale Union Demokratischer Aufbruch Deutsche Christen Deutsche Demokratische Republik Deutsche Evangelische Kirche Deutscher Evangelischer Kirchentag Demokratie Jetzt Deutsche Kommunistische Partei Deutsche Soziale Union European Advisory Commission Europäische Gemeinschaft Evangelische Kirche in Deutschland Evangelische Kirche in Berlin-Brandenburg Evangelische Kirche der Union Evangelischer Nachrichtendienst in der DDR, Berlin (Ost) Evangelischer Pressedienst, Frankfurt am Main European Recovery Program (Marshallplan) Europäische Verteidigungsgemeinschaft Freiheitlich-demokratische Grundordnung Freie Deutsche Jugend Freie Demokratische Partei Initiative Frieden und Menschenrechte Joint Chiefs of StatT Konferenz Europäischer Kirchen
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KKL KNA KPdSU KSZE
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Abkürzungsverzeichnis Konferenz der Evangelischen Kirchenleitungen im Gebiet der DDR Katholische Nachrichtenagentur, Bonn Kommunistische Partei der Sowjetuion Konferenz fiir Zusammenarbeit und Sicherheit in Europa Lutherischer Weltbund Mutual Balanced Force Reductions (Beiderseitige ausgewogene Truppenverminderungen) North Atlantic Treaty Organization (Nordaltlantische Verteidigungsorganisation) Neues Deutschland (Zentralorgan der SED) Neues Forum Nationaldemokratische Partei Deutschlands Nationalsozialismus Office Military Government ofthe United States Ökumenischer Rat der Kirchen Potsdamer Abkommen Rote Armee Fraktion Strategie Arms Limitation Treaty (Vertrag über die Begrenzung der strategischen Rüstung) Sowjetisch besetzte Zone (Sowjetische Besatzungszone) Sozialdemokratische Partei in der DDR Sozialistische Einheitspartei Deutschlands Sozialistische Einheitspartei Westberlins Sowjetische Militäradministration in Deutschland Sozialdemokratische Partei Deutschlands Strategie Arms Reduction Talks (Gespräche über die Verminderung nuklear-strategischer Waffen) Union der sozialistischen Sowjetrepubliken United States of America (Vereinigte Staaten von Amerika) United Nations Organization (Vereinte Nationen) Vereinigte Evangelisch-Lutherische Kirche in Deutschland Vereinigte Evangelisch-Lutherische Kirche in der DDR Weißenseer Blätter Westeuropäische Union Zentralkommitee der SED
Abkürzungsverzeichnis
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II. Zeitschriften APUZ BzK DA
epd-Dok EvKomm IWK KiS KJdEKD
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Aus Politik und Zeitgeschichte. Beilage zur Wochenzeitung "Das Parlament" Beiträge zur Konfliktforschung. Psychopolitische Aspekte Deutschland Archiv. Zeitschrift für Fragen der DDR und der Deutschlandpolitik, ab: 1991 : Deutschland Archiv. Zeitschrift für das vereinigte Deutschland epd-Dokumentation Evangelische Kommentare Internationale wissenschaftliche Korrespondenz zur Geschichte der deutschen Arbeiterbewegung Kirche im Sozialismus. Materialien zu Entwicklungen in der DDR, ab 1990: Übergänge Kirchliches Jahrbuch der EKD Kirchliche Zeitgeschichte Lutherische Monatshefte Die Neue Gesellschaft/Frankfurter Hefte Neue Politische Literatur Recht in Ost und West. Zeitschrift für Rechtsvergleichung und innerdeutsche Rechtsprobleme Vierteljahrshefte für Zeitgeschichte Woche im Bundestag, Bonn Zeitschrift für evangelische Ethik Zeitschrift für evangelisches Kirchenrecht Zeitschrift für Politik Zeitschrift für Parlamentsfragen Zeitschrift für Theologie und Kirche
A. Kirche und Deutschlandpolitik Die Evangelische Kirche in Deutschland war von den deutschlandpolitischen Entwicklungen seit dem Zusammenbruch 1945 nicht nur organisatorisch betroffen, sondern viele Felder ihrer Arbeit waren mit dem Problem des Verhältnisses der beiden deutschen Staaten zueinander verwoben. Selbst nach der Trennung der EKD 1969 spielte sie in der Bundesrepublik und in der DDR als selbständige Großorganisationen besondere Rollen in den unterschiedlichen politisch-gesellschaftlichen Systemen, die aber durch das kirchliche Festhalten an einer "besonderen Gemeinschaft" der evangelischen Christenheit in Deutschland bei aller Eigenständigkeil aufeinander bezogen blieben. Fragt man nach den Grundzügen der Deutschlandpolitik der Evangelischen Kirche in Deutschland, so wird man nicht nur das praktische Handeln und Reden der Kirche, sondern auch die geistesgeschichtlichen Grundlagen und schließlich die Rückwirkungen auf den Bestand der deutschen Kulturnation und auf die Handlungen der beiden deutschen Staaten in den Blick nehmen müssen. Die Frage "nach Volk, Nation und Vaterland [erweist sich] als ein wichtiger Schlüssel im kirchlichen Selbstverständnis und im kirchenpolitischen Handeln."1 Nur auf der Grundlage der geistesgeschichtlichen Tradition im deutschen Protestantismus ist kirchliche Deutschlandpolitik nach dem Ende des II. Weltkrieges verstehbar. Dies bezieht sich nicht nur auf die Tatsache, daß die Kirche in der Nachkriegsgeschichte Deutschlands an der Einheit der deutschen Nation und des deutschen Volkes festgehalten hat, sondern eben auch auf das politische und gesellschaftliche Selbstverständnis der Evangelischen Kirche in Deutschland gegenüber Staat und Gesellschaft. Auch in der Politikwissenschaft ist es allgemein akzeptierte Tatsache, daß die Kirchen eine herausragende politische Stellung im gesellschaftlich-politischen System einnehmen. Um so erstaunlicher ist es, daß mit wenigen Ausnahmen einzelner Politologen in der poIitikwissenschaftlichen Forschung die Kirchen weitgehend unbeachtet bleiben. Es wird weder nach der politischen Theorie noch nach der konkreten Einflußnahme der Kirchen auf politische Entscheidungen gefragt. In der juristischen Fachwissenschaft nimmt das Thema des Staatskirchenrechtes und des Verhältnisses zwischen Staat und Kirche ein breites Feld ein. Während auch Soziologie und Zeitgeschichte sich in den letzten Jahren vermehrt des Themas Kirchen/Religion annehmen, ist die "politische Rolle der Kirchen auf weiten 1
Wilkens 1970, S. 299.
2 Hanke
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A. Kirche und Deutschlandpolitik
Strecken eine Terra incognita."2 Die Frage nach dem Verhältnis von Kirchen und politischem System umfaßt zahlreiche Sektoren des Gesamtgeflechts ihrer Beziehungen. Welchen Einfluß hat die Kirche und welche Rolle spielt sie? In welchem Umfang werden kirchliche Stellungnahmen von der Öffentlichkeit oder gesellschaftlich-politischen Gruppen rezipiert? Läßt sich politische Macht der Kirchen im parlamentarischen System nachweisen?3 Welche Demokratieund Staatstheorie liegt dem kirchlichen Handeln zugrunde? Welche sachliche Qualität haben kirchliche Beiträge im gesellschaftlichen Diskurs über politische Ziele und Grundwerte? Welchen Zusammenhang haben politische Positionen der Kirche mit der soziologischen Struktur ihrer Mitglieder und Funktionsträger? Diese und eine Reihe weiterer Fragestellungen4 bezeichnen das eigentliche Aufgabenfeld, wenn die bundesrepublikanische Politikwissenschaft sich kontinuierlicher als bisher mit dem Problemkomplex Kirche und politisches System beschäftigen und hier zu dem gleichen Erkenntnisstand durchdringen will, wie es ihr beispielsweise im Bereich der Parteien- und Gewerkschaftsforschung bereits gelungen ist. Die Veröffentlichungen zur kirchlichen Zeitgeschichte, die einen beträchtlichen Umfang angenommen haben, konzentrieren sich vor allem auf die Zeit des Kirchenkampfes während des Nationalsozialismus in Deutschland. Während es in den letzten Jahren auch bessere Darstellungen und Dokumentensammlungen der unmittelbaren Nachkriegszeit gibt, sind die fiinfziger und darauffolgenden Jahre kaum dargestellt. Die Kirchenpolitik der SED/DDR ist hingegen bereits teilweise untersucht. 5 Die kirchliche Zeitgeschichtsschreibung ist jedoch unter politikwissenschaftlichen Gesichtspunkten nur eingeschränkt nutzbar, da sie sich vor allem als "Hausgeschichtsschreibung"6 präsentiert. Eine weitere Schwierigkeit ergibt sich fiir das Verhältnis von Politikwissenschaft und Theologie. 7 Fragt man beispielsweise vom systemtheoretischen Standpunkt aus, so wird die Leistung der Theologie und Religion vor allem danach beurteilt, in welchem Maße sie das Subsystem Kirche in der Gesellschaft stabilisiert. Unter ideologiekritischer Sicht wird es andererseits nicht schwer fallen, den deutschen Protestantismus mit dem Verdikt restaurativer Tendenzen zu belegen. Nähert man sich jedoch dem Thema Kirche im politischen und gesellschaftlichen System unter dem Blickwinkel einer normativen Politikwissenschaft8, die mit ihrer neopluralistischen Theorie unter anderem auch einen BeiWewer 1988, S. 221. Siehe hierzu als ersten Überblick: Wewer 1989a. 4 Vgl. Norden 1971, S. 532. Wewer 1989b. 5 Henkys konnte Mitte der siebziger Jahre auch hier noch eine eklatante Forschungslücke konstatieren: Henkys, Reinhard: Überwiegend Fehlanzeige. Kirche und Religion in der DDR-Forschung; in: KiS, 5/1977, S. 15-17. 6 Vgl. Vol/nhals 1990, hier S. 176. 7 Siehe hierzu: Zilleßen 1970, S. 39 ff. 8 Siehe zu den Kirchen im System des gesellschaftlichen Pluralismus: Hafner 1985, S. 117 ff. Auch: Meyer-Teschendor/1919. 2
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A. Kirche und Deutschlandpolitik
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trag zum Erhalt und zur Weiterentwicklung freiheitlicher, demokratischer Systeme liefern will, so wird man nicht nur positivistisch Probleme der Machtorganisation, Machtverteilung und des Machterwerbs erörtern, sondern sich auch um die sozialethischen Beiträge der Theologie und Kirche gegenüber der demokratisch verfaßten Gesellschaft kümmern. Der Dreh- und Angelpunkt sind hier die gesellschaftlichen Grundwerte, also die grundlegenden ethischen Orientierungen einer Gesellschaft und die darauf aufbauenden sittlichen Ansprüche der Politik. Der Anknüpfungspunkt zur Deutschlandpolitik liegt auf der Hand, denn die deutsche Frage war nie ein ausschließlich völkerrechtliches oder machtpolitisches Problem. Nach dem Beitrag der Evangelischen Kirche in Deutschland zum gesellschaftlichen Diskurs über deutschlandpolitische Zielsetzungen im Zeitraum von 1945 bis 1990 zu fragen, ist die P.ufgabe der hier vorliegenden Arbeit. Schließlich: Ist Deutschlandpolitikforschung als Gebiet der politikwissenschaftlichen Deutschlandforschung nach der Vereinigung der beiden deutschen Staaten nicht obsolet geworden?9 Sicherlich ist richtig, daß - seit zahlreiche, früher nicht zugängliche Archive geöffnet werden - es für die Zeitgeschichtsschreibung ein weites Bearbeitungsfeld gibt. Für die Politikwissenschaft hingegen ist die deutschlandpolitische Beratungsfunktion der Politik hinsichtlich der Existenz zweier deutscher Staaten entfallen. Aber es eröffnen sich neue Perspektiven. Die Deutschlandpolitik der Evangelischen Kirche kann nicht nur Teil der Analyse des politischen Selbstverständnisses der Kirche sein, sondern auch ein tieferes Verständnis der gesellschaftlichen Rolle der Kirche in Deutschland geben. Besonderes Interesse hat dabei, wie sich der deutsche Protestantismus, dessen Traditionswahrung und Zusammengehörigkeitsgeftlhl im Nachkriegsdeutschland außerordentlich stark war, in zwei unterschiedlichen politischen Systemen verhalten hat. 10 Hier gab es nicht nur eine Korrekturfunktion kirchlicher Anschauungen und Vorstellungen in der Kirche selbst, sondern möglicherweise auch Erfahrungstatbestände, die die künftige Rolle der Evangelischen Kirche im politischen System Deutschlands bestimmen. Das politikwissenschaftliche Interesse an den Kirchen rechtfertigt die Darstellung und Analyse der Deutschlandpolitik der EKD.
9
Siehe hierzu: Bleek 1993, S. 158 ff. Siehe hierzu auch: Pe/inka 1989, S. 88-98.
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B. Einleitung Deutschlandpolitik der Evangelischen Kirche in Deutschland kann Unterschiedliches meinen. Daher ist eine Präzisierung der Fragestellung nötig. Als zentrale Leitfragen der Untersuchung sind festzuhalten: • Welche praktische Deutschlandpolitik mit welchen Zielen verfolgte die Evangelische Kirche seit 1945 bis zur Wiederherstellung der staatlichen Einheit Deutschlands? • Welche Position bezog die Evangelische Kirche zum Problem der staatlichen Einheit Deutschlands und welche Traditionen wirkten hier? • Wie ist der Beitrag der Evangelische Kirche in beiden deutschen Staaten zum Zusammenhalt der deutschen Nation zu bewerten? • Welchen Einfluß hatte die Evangelische Kirche auf die Deutschlandpolitik der beiden Regierungen und die Beziehungen der beiden deutschen Staaten zueinander? Die Forschungsliteratur zur "deutschen Frage" und zur Beziehung der beiden deutschen Staaten zueinander ist so umfangreich geworden, daß der Überblick nur schwer zu wahren ist. Interessant ist aber, daß Einzeluntersuchungen zur Deutschlandpolitik der Evangelische Kirche rar sind. Obwohl die Quellenlage schon in den letzten Jahrzehnten dank vieler kirchlicher Archive und anderer Publikationen gut war und sich nun nach der Auflösung der DDR durch die Freigabe weiterer kirchlicher und staatlicher Dokumente verbessert, gibt es erst aus neuerer Zeit zusammenfassende Einzeluntersuchungen, die sich explizit mit deutschlandpolitischen Positionen der Kirche - vor allem in den 50er Jahren auseinandersetzen. Ein generalisierender Überblick über die Deutschlandpolitik der Evangelischen Kirche in Deutschland fehlt bisher. Die Grundzüge der Deutschlandpolitik der Evangelischen Kirche in Deutschland herauszuarbeiten, erfordert zunächst einige Begriffsklärungen. 11 • Grundzüge implizieren eine zeithistorische Darstellungsweise, in der es um grundlegende Tendenzen und nicht um detaillierte Einzelprobleme geht. Die am zeithistorischen Ablauf orientierte Darstellung kann allerdings nicht auf
11 Siehe hierzu auch: Berschin, Helmut: Deutschlandbegriff im sprachlichen Wandel; in: Handbuch zur deutschen Einheit 1993, S. 139-148.
B. Einleitung
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systematisierende Aspekte verzichten, um die Fragestellung nicht lediglich protokollarisch zu erörtern. • Der Begriff der Deutschlandpolitik ist vielfarbig schillernd. Zunächst bezeichnet Deutschlandpolitik die Politik der Siegermächte des II. Weltkrieges gegenüber Deutschland nach dem Zusammenbruch des nationalsozialistischen Staates. Mit Gründung der beiden deutschen Staaten wurde hier der Bedeutungsgehalt auf das internationale Staatensystem unter den Zeichen des Ost-West-Gegensatzes verschoben. Aus nationaler Sicht hingegen bezeichnete Deutschlandpolitik in den ersten beiden Jahrzehnten - auch seitens der DDR mitgetragen - vor allem die Frage nach der Herstellung der staatlichen Einheit. War auch gleichzeitig schon immer die Frage nach konkretem politischen Handeln, um das Verhältnis zwischen beiden Staaten erträglich zu gestalten, in diesem Bedeutungsgehalt angelegt, so verlagerte sich seit den sechziger Jahren nach dem Bau der Mauer der Akzent zumindestens auf westdeutscher Seite, ohne den Anspruch auf "Wiedervereinigung" aufzugeben, eindeutig auf die Politikfelder, die auf ein geregeltes und kooperatives Nebeneinander der beiden deutschen Staaten und den Erhalt der deutschen Nation zielten. Deutschlandpolitik wurde dadurch auch zum Spezialfall der Entspannungspolitik im Rahmen des Ost-West-Konfliktes. • Evangelische Kirche in Deutschland meint vor allem die EKD und seit der organisatorischen Trennung auch den Kirchenbund in der DDR, also die kirchlichen Spitzenorganisationen mit qualifiziertem Öffentlichkeitsanspruch, ohne dabei allerdings Initiativen von einzelnen Landeskirchen, kirchlichen Gruppen und Gruppierungen oder einzelnen Persönlichkeiten bei besonderer Bedeutung unberücksichtigt zu lassen. Das Thema fordert überwiegend eine zeithistorische Darstellungsweise, die durch systematische Betrachtungen ergänzt und abgerundet wird. Die einzelnen Zeitabschnitte orientieren sich an besonderen geschichtlichen Daten, die gewisse Einschnitte in der deutschlandpolitischen oder kirchlichen Entwicklung markieren. Wenn auch die Auswahl und der Umfang diskussionsflihig sind, stellen sie dennoch unterschiedliche Tendenzen in der Deutschlandpolitik der Evangelischen Kirche in Deutschland dar. In der Untersuchung werden die ftlr das Thema relevanten Aufsätze und Monographien berücksichtigt, wobei es ein erklärliches Übergewicht bundesrepublikanischer Autoren gibt. Darüber hinaus wird auf die Analyse offizieller Dokumente wie Stellungnahmen, Denkschriften oder Worte zurückgegriffen, wie sie vor allem regelmäßig im "Kirchlichen Jahrbuch der EKD" dokumentiert werden. Damit ist allerdings die Gefahr verbunden, die Selektionskriterien aus den Quellen des Jahrbuches unreflektiert zu übernehmen, da die Untersuchung nicht auf weitere Archiv- und Aktenmaterialien zurückgreift. Angesichts der Aufgabenstellung, Grundzüge der Deutschlandpolitik darzustellen, kann jedoch die Gefahr als bedeutungslos eingeschätzt werden.
C. Evangelische Kirche und Deutschland Traditionslinien und Ausgangsbedingungen Um sich angemessen dem Thema der Deutschlandpolitik der Evangelischen Kirche in den Jahren von 1945 bis 1990 annähern zu können, ist es notwendig, sich bestimmte Traditionslinien zu vergegenwärtigen, ohne die das Verständnis der Ausgangsbedingungen nach dem II. Weltkrieg und der konkreten Handlungen und Reflexionen der Kirche in den Nachkriegsjahren nur unzureichend geweckt werden kann. Das Staatsverständnis und gesellschaftliche Selbstverständnis der Evangelischen Kirche ist historisch gewachsen, und zwar in einem unmittelbaren Zusammenhang mit politisch-gesellschaftlichen Entwicklungen in Deutschland. Hierbei bildeten sich Denk- und Verhaltenstraditionen aus, die nicht nur spezifisch das Verhältnis des Protestantismus zur als Obrigkeit verstandenen jeweiligen Regierung betrafen, sondern denen auch eine eigentümliche Vorstellung von Volk und Nation zugrunde lag. Diese Traditionen waren im Ausgangsjahr 1945 nicht nur als Orientierungsrahmen bei kirchlichen Funktionsträgem sowie dem "Kirchenvolk" präsent, sondern haben ihre Wirkung zumindest auf nicht unwesentliche Teile des deutschen Protestantismus bis heute nicht verloren.
I. Territorialisierung und Kaiserreich Mit der Publikation der 95 Thesen durch Martin Luther im Jahre 1517 begann der historische Prozeß der Reformation. War die Reformation zuerst nur auf die Beseitigung von innerkirchlichen Mißständen angelegt, so fiihrte sie 1519 nach Luthers Leipziger Deputation zum Bruch mit der Papstkirche. 12 Dieser konfessionelle Bruch wurde vom deutschen Landesfilrstenturn instrumentalisiert im Streit gegen das sich universal verstehende deutsche Kaisertum. Die erstarkenden deutschen Landesfilrsten schlossen sich in konfessionellen Bünden zusammen und nahmen damit entscheidenden Einfluß auf die Durchsetzung der Reformation. 13 Es kam zum Aufbau von protestantischen Landeskir12 Luthers Bruch mit der Papstkirche wurde symbolisch an seiner Verbrennung der Bannandrohungsbulle "Exsurge Domini" am 10. Dezember 1520 deutlich. 13 Vgl. dazu: Lexikon der deutschen Geschichte, Stichwort: Reformation, S. 987. Siehe auch: Mahrenholz 1969, S. 14 ff. Kirche und Staat 1966, S. 36 ff.
I. Territorialisierung und Kaiserreich
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chen 14, die mit ihren unterschiedlichen religiösen Bekenntnisständen und Selbstverständnissen noch heute entscheidend die Pluralität des deutschen Protestantismus prägen. Die Phase der - zum Teil kriegerischen - konfessionellen Auseinandersetzungen in Deutschland, mit ihrem Höhepunkt im Schmalkaldischen Krieg 1546/47 des mit dem Papst verbündeten Kaisers gegen die "Ketzer", endete mit dem Augsburger Religionsfrieden 15 im Jahre 1555. In diesem Dokument wurden die Protestanten nach jahrzehntelangem Ringen reichsrechtlich anerkannt und den Landesfürsten das Recht zugesprochen, frei über die Religionszugehörigkeit ihrer Untertanen zu entscheiden. 16 Dieses "Kirchenregiment" des Landesherren, das das Recht zum Erlaß von Kirchenordnungen und das Recht der geistlichen Jurisdiktion umschloß, führte zur Etablierung der protestantischen Landeskirchen, die ihre Abhängigkeit von Rom mit der von ihren Landesherren erkauften. 17 Der Westfälische Friede von 1648 bestätigte den als Provisorium angelegten Augsburger Religionsfrieden 18, obwohl das "Jus reformandi" durch die Einführung des Normaljahres, die Festschreibung des konfessionellen Zustandes bezogen auf das Jahr 1624, eingeschränkt wurde. 19 Damit wurde dem Landesherren die Verfügung über die Religionszugehörigkeit seiner Untertanen genommen. Die Territorialisierung der protestantischen Kirche wurde aller-
14 Siehe: Kantzenbach, Friedrich Wilhelm: Die kirchenbildende Kraft der deutschen Reformation (von 1530 bis 1648); in: Die Evangelisch-Lutherische Kirche. Vergangenheit und Gegenwart, Vilmos Vajta (Hg.), Die Kirchen der Welt (Bd. XV), Stuttgart 1977, s. 42-63. 15 Vgl. dazu: Lexikon der deutschen Geschichte, Stichwort: Augsburger Religionsfriede, S. 68. Vgl. auch: Wörterbuch der Kirchengeschichte, Stichwort: Augsburger Religionsfriede, S. 97 f. Siehe auch: Dumas, Andre: Die Radikalität der Reformation. Ethische Dimensionen des Augsburger Bekenntnisses; in: LM, 1980, S. 323-326. Pannenberg, Woljhart: Anerkennung aus dem Vatikan? Über die Katholizität des Augsburger Bekenntnisses; in: LM, 1976, S. 696-697. Huber 1987, S. 70 f. 16 Der Greifswalder Kanonist Stephani prägte im Zusammenhang mit diesem Recht die Formel "cuius regio, eius religio" (Wessen Gebiet, dessen Glaube.). 17 Zur Entwicklung der Landeskirchen: Maurer, Wilhelm: Die Entstehung des Landeskirchenturns in der Reformation; in: Staat und Kirche im Wandel der Jahrhunderte, Walther Peter Fuchs (Hg.), Stuttgart!Berlin!Köln!Mainz 1966, S. 69-78. Müller 1988, S. I ff. Neuser, Wilhelm H. : Kirche und Staat in der Reformationszeit; in: Kirche und Staat. Festschrift für Bischof D. Hermann Kunst D. D. zum 60. Geburtstag am 21. Januar 1967, Kurt Aland/Wilhelm Schneemeteher (Hg.), Berlin 1967, S. 50-78. 18 Der Westtalische Friede regelte das Nebeneinander von evangelischem und katholischem Bekenntnis reichskirchenrechtlich selbst nur provisorisch, da nach wie vor die Erwartung wirkte, daß die Glaubensspaltung durch "Gottes Gnade" überwunden werden würde. Vgl. Mahrenholz 1969, S. 15 f. 19 Vgl. auch: Wörterbuch der Kirchengeschichte, Stichwort: Westtalischer Friede, s. 629 f.
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C. Evangelische Kirche und Deutschland
dings erneut festgeschrieben. 20 Die durch den Westtalischen Frieden begründete "Religionslandkarte" wirkt bis heute fast unverändert nach, auch wenn in der Folge des Reichsdeputationshauptschlusses von 1803 mit seiner Säkularisierung und territorialen Umorganisation mit wenigen norddeutschen Ausnahmen konfessionell gemischte deutsche Länder entstanden. 21 Im 19. Jahrhundert wurde das Luthertum 22 zunehmend mit dem Deutschtum in Verbindung gebracht. Diese Verbindung mit der nationalen Bewegung wurde zum erstenmal deutlich am Wartburgfest vom 18. Oktober 1817 anläßtich des 300. Jahrestages des Thesenanschlages, auf dem ein Zusammenhang zwischen Reformation und den Befreiungskriegen gegen Napoleon mit ihren unerfüllten nationalen Hoffnungen hergestellt wurde. 23 Die nationale Bewegung fiihrte im Bereich der Kirche zur erweiterten Identifikation mit dem monarchisch-nationalen Staat. Der Revolution von 1848 stand die Kirche ähnlich wie den Auswirkungen und Ideen der Französischen Revolution von 1789 skeptisch bis ablehnend gegenüber, obwohl sich hier auch Anflinge eines Einflusses des Liberalismus auf die Gestaltung des Verhältnisses von Kirche und Staat beobachten Iassen. 24 Das Scheitern der Paulskirchen-Bewegung mit ihrer liberalen Verfassungsvorstellung der Trennung von Kirche und Staae5 manifestierte jedoch den politischen Konservatismus der Evangelischen Kirche26 , der durch seine enge Verbindung von sozialem Feudalismus und politischem Absolutismus charakterisiert werden kann. 27 Die Evangelische Kirche erkannte daher auch durch ihre Abhängigkeit von den staatlich-politischen Gegebenheiten und die idealistische Bindung an den vorindustriellen Staat und seinen Institutionen nicht die Dimension der sich seit Mitte des 19. Jahrhunderts in Deutschland stellenden sozialen Frage28 • Dies 20 Zur Identität von Staatsgrenzen und landeskirchlichen Grenzen von der Reformation bis zum 19. Jahrhundert siehe: Müller 1988, S. I tf. 21 Vgl. Mahrenholz 1969, S. 17 f. 22 Zum deutschen Luthertum siehe: Kupisch 1955, S. 70 ff. 23 Siehe zur Bedeutung des Wartburgfestes für die entstehende deutsche nationale Bewegung: Schulze 1986, S. 71 tf. Vgl. auch das ebenda abgedruckte Dokument: "Aus der Festrede des Studenten Heinrich Anninius Riemann auf dem Wartburgfest am 18. Oktober 1817", S. 144-146. Als Überblick siehe: Jacobs 1970. 24 Vgl. Müller 1988, S. 15 tf. Daiber 1981, S. 453 f. Siehe auch: Kantzenbach, Friedrich Wi/helm: Luthertum und Politik im 19. Jahrhundert I; in: LM, 1965, S. 478488. ders.: Johann von Hofmann und der politische Liberalismus. Luthertum und Politik im 19. Jahrhundert II; in: LM, 1965, S. 587-593. 25 Siehe hierzu: Mahrenholz 1969, S. 20 f. 26 Vgl. Kupisch 1955, S. 66 ff. Siehe auch: Zilleßen 1971, S. 85 ff. 27 Vgl. Besson 1966, S. 203. Zilleßen 1971, S. 39 tf. 28 Zur sozialen Frage im 19. Jahrhundert: Brakelmann, Günter: Die soziale Frage des 19. Jahrhunderts, 5. Aufl., Witten 1975. Kouri, E. I.: Der deutsche Protestantismus und die soziale Frage 1870-1919, Berlin/New York 1984. Kupisch, Kar/: Kirche und soziale
I. Territorialisierung und Kaiserreich
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kann unter anderem darauf zurückgefiihrt werden, daß im deutschen Protestantismus der lutherische Flügel dominierte, der aufgrund der scharfen Betonung der Sündhaftigkeit des Menschen ein überhöhtes Obrigkeitsdenken ausbildet hatte. Damit fokussierte sich der Blick auf das "Schwertamt" des Staates als Ordnungsgarant in der sündigen Welt. Verstärkt wurde diese Anschauung durch die im 19. Jahrhundert wirkmächtige Staatsphilosophie Hegels, der im Staat die Verwirklichung der sittlichen Idee postulierte und daraus eine staatliche Omnipotenz ableitete?9 Hierdurch wurden theologische Ansatzpunkte zu einer eigenen Gesellschaftslehre überlagert. Die Evangelische Kirche blieb daher nur karitativ, ohne zugleich gesellschaftliche Grundfragen zu stellen.30 Die Entfremdung von den unter den sozialen und politischen Bedingungen Leidenden war die Folge. 31 "Die evangelische Kirche wurde[ ... ] eine Kirche ohne Arbeiterschaft."32 Damit verlor die Kirche jedoch den Kontakt zu dem im industriellen Deutschland des 19. Jahrhunderts anteilig immer stärker werdenden Teil des Volkes. Die Reichsgründung von 1870/71 wurde vom Protestantismus nicht nur positiv aufgenommen, sondern ausdrücklich als Jahrhundertereignis begrüßt. 33 Die Redewendung "Von Luther zu Bismarck" wurde geflügeltes Wort. So erklärte der damalige Metzer Divisionspfarrer Alfred Stoecker: "Das heilige Evangelische Reich deutscher Nation vollendet sich [... ]. In dem Sinne erkennen wir die Spur Gottes von 1517-1871."34 Bei der überwiegenden Zahl der protestantischen Theologen war die Auffassung Allgemeingut, daß Gott sich in der preußisch-deutschen Geschichte am deutschen Volk und Vaterland "verherrlicht" hat und die Kaiserproklamation am 18. Januar 1871 unter geschichtstheologischer Perspektive den gottgeordneten Abschluß dieser Entwicklung
Frage im 19. Jahrhundert= Theologische Studien, Heft 73, Zürich 1963. Kretschmar, Gottfried: Der Evangelisch-Soziale Kongreß. Der Protestantismus und die soziale Frage, Stuttgart 1972. Karrenberg, Friedrich: Geschichte der sozialen Ideen im deutschen Protestantismus; in: Geschichte der sozialen Ideen in Deutschland, Helga Grebing (Hg.), München 1969, S. 561-694. 29 Zur kirchlichen Rezeption Hegels siehe unter anderem: Kupisch 1975, S. 25 ff. Kupisch 1955, S. 43 tf. 30 Vgl. dazu: Jasper 1983, S. 27. Siehe auch: Mahrenholz 1969, S. II f. 31 Der Mahnruf des Begründers der "Inneren Mission", Johann Hinrich Wiehern, "Suchen die Proletarier nicht mehr die Kirche, so muß die Kirche anfangen, die Proletarier zu suchen." ist besonders in den lutherischen Kirchen kaum auf fruchtbaren Boden gefallen. Siehe hierzu: Kupisch !955, S. 38 tf. 32 Jasper 1983, S. 27. Siehe hierzu auch: Grate, Heiner: Sozialdemokratie und Religion 1863-1875, Tübingen 1968. Kupisch 1975, S. 62 tf. 33 Vgl. Brakelmann, Günter: Reichsgründung und kirchlicher Protestantismus 1871, Manuskript. 34 Zitiert nach: Kupisch 1975, S. 50.
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bildete. 35 Der neue und seit langem herbeigesehnte deutsche Nationalstaat fiihrte zur Identifikation der Evangelischen Kirche mit Kaiserreich und Vaterland.36 Die Rede vom "protestantischen Kaiserreich" wurde gängig. Dies wurde um so mehr dadurch begünstigt, als im Bismarckschen Kaiserreich sich nicht nur der Kaiser, sondern fast alle Landesfiirsten bewußt protestantisch verstanden. Der Protestantismus war quasi die Staatsreligion des kaiserlichen Deutschlands. 37 Ein Höhepunkt der Identifizierung der Kirche mit dem nunmehr kaiserlichen deutschen Staat wurde im I. Weltkrieg erreicht. Die Evangelische Kirche sah im Weltkrieg, dem eine sittliche Qualität zugesprochen wurde, einen Kampf um den Erhalt des deutschen Kaisertums und damit auch ein Ringen um ihre bisherige Existenz im Schutz des Herrscherhauses und Staates. 38 Zur Illustration seien hier repräsentativ Ausschnitte aus der Rede des Kirchentagspräsidenten Reinhard Moeller beim l. Deutschen Evangelischen Kirchentag in Dresden am I. September 1919 wiedergegeben, die nicht nur deutliche Rückschlüsse auf die Haltung der Evangelischen Kirche im I. Weltkrieg ermöglichen, sondern zugleich paradigmatisch auf das Verhältnis zur ersten deutschen Republik verweisen, die dem Sturz des Kaisertums folgte: "In schwerer ernster Zeit tritt der erste Deutsche Evangelische Kirchentag zusammen. In einem Weltkrieg ohnegleichen, nach einem mehr als vierjährigen heldenmütigen Ringen ohnegleichen, gegen eine ganze Welt von Feinden ist unser Volk zusammengebrochen. Die Herrlichkeit des deutschen Kaiserreiches, der Traum unserer Väter, der Stolz jedes Deutschen ist dahin. Mit ihr der hohe Träger der deutschen Macht, der Herrscher und das Herrscherhaus, das wir als Bannerträger deutscher Größe so innig liebten und verehrten. Dem furchtbaren Krieg hat ein furchtbarer Friede kaum ein Ende gesetzt. Ein Friede von harter Grausamkeit der Feinde und aufgezwungen, um uns beides zu bringen: Ein Ende mit Schrecken und einen Schrecken ohne Ende, um uns nahezu alles zu nehmen, was uns aufrichten könnte, um unser Volk, wenn möglich, politisch, wirtschaftlich und geistig zu zerstören, mit der Wehr ihm auch die Ehre zu nehmen. [...)In diesen Zusammenbruch ist die evangelische Kirche der deutschen Reformation tief hineingezogen. In den evangelischen Kirchen unseres Vaterlandes bestanden seit den Tagen der Reformation die engsten Zusammenhänge mit den öffentlichen Gewalten des Staates. Wir können nicht anders als hier feierlich bezeugen, welcher reiche Segen von den bisherigen engen Zusammenhängen von Staat und Kirche auf beide - auf den Staat und die Kirche - und durch beide auf Volk und Vaterland ausgegangen ist. Und wir können weiter nicht anders, als in tiefem Schmerz feierlich bezeugen, wie die Kirchen unseres Vaterlandes ihren fürstlichen Schirmherren, mit ihren Geschlechtern vielfach durch eine viel-
Vgl. Brake/mann 1971, S. 12. Siehe hierzu: Ti/gner 1970. 37 Vgl. Huber, Ernst Rudo/f Dokumente zur deutschen Verfassungsgeschichte, Bd. 2, 1964, s. 407. 38 Zur evangelischen Theologie und Kirche beim Ausbruch des ersten Weltkrieges siehe: Huber 1973, S. 135 ff. 35
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II. Thron und Altar
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hundertjährige Geschichte verwachsen, tiefen Dank schulden, und wie dieser tiefempfundene Dank im evangelischen Volke unvergeßlich fortleben wird." 39
In den pathetischen Fonnulierungen der Rede wird deutlich, daß die alte Fonnel des "Bündnisses von Thron und Altar" metaphysisch gesteigert wurde auf eine Verbindung von "Religion und Nation". 40 Dieses nationalprotestantische Denken hatte bereits im 19. Jahrhundert seinen krassesten Ausdruck in der Rede vom "deutschen Gott" gefunden und erwies sich fiir die geistige Lage der Evangelischen Kirche in der Zeit der Weimarer Republik als kritisch und ermöglichte den "Deutschen Christen" (DC) ab 1933 eine nahtlose Anknüpfung an bereits vorhandene Denktraditionen im deutschen Protestantismus.
II. Thron und Altar Die konfessionelle Festlegung der einzelnen deutschen Staaten durch die reichskirchenrechtlichen Regelungen des Westtalischen Friedens schrieb nicht nur die Territorialisierung der einzelnen evangelischen Landeskirchen fort, sondern ließ allgemein die jeweils herrschende Konfession zur Staatseinrichtung avancieren. Damit wurde der Grundstein gelegt fiir ein Staatskirchentum, das sich vor allem an der Leistung der Religion fiir die staatliche Ordnung orientierte. Da die evangelischen Landeskirchen im Gegensatz zur Katholischen Kirche über keine landesübergreifenden Strukturen und Zusammenhalte verfUgten, waren sie dieser Entwicklung besonders ausgeliefert. Deutlicher Ausdruck dieser Lage war die vorherrschende Meinung in der damaligen Rechtslehre, nach der der Landesherr die Rechte in der Form des Summepiskopats auszuüben habe, die bis zur Reformation von den Bischöfen wahrgenommen wurden. 41 Der deutsche Protestantismus konkretisierte sich somit im unterschiedlich ausgestalteten Staatskirchenturn der jeweiligen Territorialstaaten.42 Ansätze der Reformation, eine von der politischen Gewalt unabhängige Kirchenverfassung mit am Modell der mittelalterlichen Stadt orientierten Mitwirkungsmöglichkeiten der Gemeinde zu etablieren, versandeten mit der Folge einer weitgehenden Distanzlosigkeit der Kirche zum Staat.43 39 Zitiert nach: Denzier 1984, Band 2, S. 13/14. Siehe auch: Kupisch 1968. Mehnert, Gottfried: Die politischen Strömungen im deutschen Protestantismus von der Julikrise 1917 bis zum Herbst 1919, DUsseldorf 1959. Jacke, Jochen: Kirche zwischen Monarchie und Republik. Der preußische Protestantismus nach dem Zusammenbruch 1918, Harnburg 1976. 40 Vgl. Huber 1979, S. 154 f. 41 Siehe hierzu auch: Hecke/, Martin: Staat und Kirche nach den Lehren der evangelischen Juristen Deutschlands in der ersten Hälfte des 17. Jahrhunderts, TUbingen 1968. 42 Vgl. Mahrenholz 1969, S. 16 f. 43 Vgl. Huber 1979, S. 150 f.
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Diese politisch-rechtlichen Voraussetzungen förderten eine besondere Entwicklung des Protestantismus in Deutschland: nämlich die enge Verbindung zwischen "Thron und Altar". 44 Der Landesherr leitete die Kirche, die dadurch in die landesherrliche Politik eingebunden wurde. Theologisch begünstigt wurde diese Entwicklung - die Unterordnung der Kirche unter die Staatsräson durch eine spezielle Interpretation der Zwei-Reiche-Lehre Luthers mit einer strikten Trennung von Gottesreich und Weltreich. Der Staat wurde als Notverordnung Gottes angesehen, in der der Obrigkeit eine gewisse Selbständigkeit zugewiesen wurde. "Da die Obrigkeit als christliche Obrigkeit verstanden wurde [... ],war Gehorsam und Vertrauen erste Pflicht." 45 Die Konsequenz dieser Einstellung war, daß die Kirche - denn die Schule war selbstverständlich dem christlichen Menschenbild verpflichtet - sich auf die Erziehung frommer Untertanen beschränkte, die sich der gottgewollten Obrigkeit unterordnen sollten. Ferner fiihrte diese Auffassung von Obrigkeit fast zwangsläufig zu einer starken Identifizierung mit der Monarchie und dem feudalen Gesellschaftssystem.46
III. Nation, Nationalgedanke und Volkskirche Die Entfaltung des deutschen Nationgedankens fiel historisch mit der politischen Entwicklung zum deutschen Nationalstaat auseinander. Daher war das Bewußtsein von der deutschen Nation lange Zeit unpolitischer Natur. Damit konnte sich das deutsche Nationbewußtsein im Vergleich zu anderen europäischen Staaten besonders idealisieren und einen pseudoreligiösen Wert annehmen. Der Prozeß der Säkularisation begünstigte diese Ausformung, als nach dem Wegfall des Gottesgnadentums des Absolutismus' die Nation als divinisierter Orientierungspunkt aufgerichtet wurde. 47
44 Vgl. Jasper 1983, S. 26. Mahrenholz 1969, S. 14 ff. Natürlich gab es im deutschen Protestantismus auch andere Strömungen, die aber in der Minderheit blieben. Als Beispiel siehe: Kandler. Karl-Hermann: Vision einer radikalen Umgestaltung. Thomas Müntzer vertrat den "linken Flügel" der Reformation; in: LM, 1988, S. 269-271. Die in der französischen Sprache altbekannte Formulierung von "Thron und Altar" wurde wohl zuerst von Mettemich als Ordnungsprinzip der Restauration in der nachnapoleonischen Zeit eingefiihrt. Vgl. Mahrenholz 1969, S. 18 f. Anders Kupisch 1975, S. 36. Die Formulierung als polemisches Schlagwort führt er auf den französischen Revolutionär Abbe Royon zurück, der sie 1790 in der Blatt "L'ami du roi" gebrauchte. Zum Zeitalter der Restauration siehe Kupisch 1975, S. 8 ff. 45 Jasper 1983, S. 28. 46 Vgl. Jasper 1983, S. 26/27. 47 In diesem Sinne: Wittram, Reinhard: Nationalismus und Säkularisation, Lüneburg 1949.
III. Nation, Nationalgedanke und Volkskirche
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Die theologisch-religiöse Überhöhung des Nationbegriffes läßt sich jedoch nicht -wie es die deutschprotestantische Forschung des 19. Jahrhunderts versuchte- auf Luther (auch wenn er nationale Stimmungen aufgriff) zurückfUhren, da er diesen rein ständisch im Sinne einer fast vollständigen Identität von Adel und Nation gebrauchte und ihm keinen eigenen theologischen Rang einräumte.48 Ebenso verhielt es sich im lutherischen Sprachgebrauch mit dem Begriff des Volkes, der lediglich den Stand der Regierten, der Untertanen, bezeichnete. Insgesamt läßt sich festhalten, daß Luther "dem deutschen Nationgedanken keine neuen Motive zugefUhrt [hat]. Er hat die Größen Volk, Nation und Vaterland auch nicht von ferne theologisch oder religiös überhöht."49 Aber bereits der ältere Melanchthon interpretierte die lutherische Zwei-Reiche-Lehre so um, daß Kirche und Staat zwei aufeinander bezogene und zusammengehörige Teile eines von Gott gesetzten Systems wurden. Daraus entwickelte sich in der Folge des Naturrechtsdenkens des 17. Jahrhunderts eine Auffassung eines christlichen Staates und Ständewesens, dem eine eigentümliche Abneigung gegen das zum Chaos strebende Volk zu eigen war und das Nation vor allem mit den mit ständischen Privilegien ausgestatteten Menschen, die zur Führung und Herrschaft berufen waren, identifizierte. Mit dem Aufkommen der Emanzipations- und Freiheitsbestrebungen des Bürgertums verschob sich dann der Bedeutungsgehalt des Nationgedankens dahin, "an die Stelle des göttlich-rechtlichen Herrschaftssystems das aus dem seelischen Erleben und den geschichtlichen Erfahrungen heraus entstandene Volks- und Nationbewußtsein zu setzen, unter Beibehaltung des fiirstlichen Regiments."50 Damit wurde der Weg geebnet, unter Nation das ganzheitliche Wesen des gesamten Volkes zu verstehen, auch wenn in der politischen Realität Staatsvolk der einzelnen deutschen Länder und Kulturvolk auseinanderfielen. Unter dem maßgeblichen Einfluß des Pietismus wurde der Nationbegriff religiös aufgeladen, indem das Ideal der christlichen Gemeinde auf das Volk als geschichtliche Einheit und geistbestimmter Organismus transponiert wurde. Das Volk als Nation verkörperte nun als Geschichtsgröße wesentliche Teile eines verborgenen Planes Gottes fiir die Welt. War der nun gewonnene religiöse Volksbegriff im 18. Jahrhundert noch kosmopolitisch orientiert, verstärkte sich zu Beginn des 19. Jahrhunderts eine bereits vorhandene Tendenz, zwischen den verschiedenen Nationen Wertabstufungen vorzunehmen und so einen exklusiven Nationalismus zu begründen, der die Ansicht vortrug, "daß Gottes Wesen nur durch den Volksgeist erfahren wurde und sich so die Absolutheit der Gotteserfahrung auf das volkhafte Erleben übertrug. "51 Vgl. Jacobs 1970, S. 58 ff. 1970, S. 69. 50 Jacobs 1970, S. 93. 51 Jacobs 1970, S. 100.
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49 Jacobs
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Seine weit über das 19. Jahrhundert hinausgehende Prägung erhielt das deutsche Nationaldenken durch den deutschen Idealismus und die Romantik. In Reaktion auf die Französische Revolution und die napoleonische Besetzung Deutschlands bildete sich in Zusammenhang mit den Befreiungskriegen ein exklusiver Nationalismus in der politischen Romantik heraus, der jeglichen kosmopolitischen Zug verlor und statt dessen den Volksbegriff geschichtsmetaphysisch überhöhte: "Das Volk war nicht die Summe der Bürger, sondern eine geschichtsmetaphysische Substanz." 52 Den besonders von Fichte und von Heget inspirierten geschichtsteleologischen Nationgedanken hat vor allem Schleiermacher in seinen patriotischen Predigten in der protestantischen Theologie verfestigt, indem er die Zusammenführung von Volksgeist und göttlichem Willen, von Geschichte und Offenbarung auf der Grundlage eines organistischen Volksbegriffes verfestigte. 53 Mit der religiösen Aufladung des Volksbegriffes ging im Zeitalter der Restauration in Deutschland die begriffliche Fundierung des "christlichen Staates" einher, der in Preußen unter Friedrich Wilhelm IV. modellhaft ausgeformt werden sollte und der den christlichen Glauben zur bestimmenden Kraft der Politik machen sollte. Der Staatstheoretiker Friedrich Julius Stahl formulierte in seiner 1847 erschienenen Schrift "Der Christliche Staat" folgenden Anspruch: "Das Wesen des christlichen Staates ist die Ordnung des öffentlichen Zustandes, wie ein christliches Volk sie als Anforderung erkennt und wie sie aus dem Geiste eines christlichen Volkes hervorgeht" 54 • In dieser Beschreibung der Substanz des "christlichen Staates" fmden sich bereits schon bekannte Elemente: die Identifizierung des Volkes mit der christlichen Gemeinde, der im Volksgeist erkennbare Wille Gottes sowie die Ordnungsfunktion der Religion für das öffentliche Leben. Interessant ist dabei jedoch nicht nur die Auffassung, daß der Staat funktionell über seine Ordnungsleistung für die Nation definiert wird, sondern daß sich das staatliche Handeln an christlichen Wertsetzungen orientieren soll. Damit erhält die Kirche und Theologie eine exklusive Stellung nicht nur hinsichtlich der sittlichen Wegweisung und Festigung der Nation, sondern auch gegenüber den christlichen Grundlagen der Staatseinrichtungen und deren Handeln. Mit einer derartigen Staatstheorie konnten nicht nur liberale Ansprüche abgewehrt werden, sondern gleichzeitig das Beziehungsgeflecht zwischen Nation, Staat und Christentum als untrennbar zusammengehörig metaphysisch fundiert und geschichtstheologisch ausgedeutet werden. Vom geschichtstheologischen Ansatz aus war es nur noch ein kleiner Schritt, bis im deutschen Nationalprotestantismus ab 1870 die ZusammengehöJacobs 1970, S. I02. Vgl. Jacobs 1970, S. 106 f. Siehe auch: Kupisch 1975, S. 15 ff. Beckmann 1970, S. 214 ff. 54 Zitiert nach: Schoeps 1966, S. 158. 52 53
III. Nation, Nationalgedanke und Volkskirche
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rigkeit von Deutschtum und reformatorischem Christentum kirchlich und theologisch behauptet und mit einem deutschen Sendungsbewußtsein verbunden wurde. Der chauvinistische Impetus dieser These wurde symbolisch deutlich an dem deutschen Soldatenruf des deutsch-französischen Krieges 1870/71 "Gott mit uns", der dem mittlerweile etablierten christlich-germanischen Nationalethos sichtbaren Ausdruck verlieh. 55 Mit dieser Grundhaltung begrüßte dann auch die überwiegende Mehrheit des Protestantismus den I. Weltkrieg als Rettung für das gefährdete Vaterland und die bedrohte deutsche Nation: "Da kam der Retter, der Reformator mit dem furchtbaren Antlitz: der Krieg."56 Dabei ist die Beobachtung interessant, daß es bei den kirchlich-theologischen Stellungnahmen, die den Krieg als Rettung und Befreiung feierten, eine Verschiebung der Argumentation gab, die nicht mehr das "Bündnis von Thron und Altar" in den Vordergrund stellte, sondern auf den Zusammenhang von deutschem Nationalbewußtsein und christlichem Glauben abhob. 57 In zahlreichen Kriegspredigten wurden dem Volkstum (und damit insbesondere dem Deutschtum) Schöpfungs- und Offenbarungsqualitäten zugesprochen. Da dem Krieg eine die Sittlichkeit steigemde Eigenschaft zuerkannt wurde, konnte der I. Weltkrieg unter kulturprotestantischer Argumentation als sittlich-religiöse Erneuerung des deutschen Volkes gefeiert werden. 58 Der Protestantismus wurde in dieser "Kriegstheologie" geradezu zum Wahrer und Erneuerer des nationaldeutschen Kulturstaates, auch wenn es im einzelnen erhebliche Unterschiede in den Standpunkten der einzelnen theologischen Richtungen gab. Vertreter des Kulturprotestantismus begriffen den Krieg als Offenbarung, während orthodoxe Lutheraner in ihm eher ein BuBgericht sahen. 59 Geeint blieben sie jedoch in der Grundüberzeugung, daß der Krieg die Deutschen ihrem sittlichen Ziel in der Geschichte näher bringen würde, da die geistigen Bindungen des Menschen im Sinne einer Kulturerneuerung geläutert würden und die oft kirchlicherseits beklagten materialistischen und egoistischen Orientierungen überwunden würden. Die gerade im Kulturprotestantismus anzutreffende Identifizierung von Nation als sittlicher Gemeinschaft und dem Reich Gottes als diesseitig erreichbarem Ziel60 hat zu einem Höhepunkt des metaphysisch-idealistischen Nationbegriffes in Deutschland geführt.
Vgl. Ti/gner 1970, S. 138 ff. KJdEKD, 1915, S. 140. 57 Vgl. Huber 1973, S. 135. 58 Huber hat diese kulturprotestantische Argumentation beispielhaft an den Schriften des damals bedeutenden Kirchenhistorikers Karl Ho II aufgezeigt. Vgl. Huber 1973, S. 160 ff. 59 Vgl. Huber 1973, S. 152 ff. 60 Vgl. Huber 1973, S. 215 f. 55
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Gerade die Volksorganistische Vorstellung der Nation mit ihren stark ausgeprägten religiösen Elementen beförderte nicht nur die Vorstellung einer völkischen Religiosität späterer Jahrzehnte, sondern implizierte eine metaphysische Aufladung des Begriffes der Volkskirche, die unmittelbar mit dem deutschen Nationgedanken in Zusammenhang stand. Der Begriff der Volkskirche meinte im deutschen Protestantismus des ausgehenden 19. Jahrhunderts61 vor allem die Konzeption einer deutschen Nationalkirche, in der die Identität von Kirche und Volk unter dem Vorzeichen der nationalen Einigung erstrebt wurde. Der Gebrauch der Worte christlich, deutsch und national wurde auch im kirchlichen 62 Raum fast synonym.
IV. Erfahrungen und Positionen in der Weimarer Republik und im Nationalsozialismus Die Evangelische Kirche mußte sich aufgrund ihres Selbstverständnisses, das eng mit den politischen, rechtlichen und kulturellen Strukturen des Kaiserreiches verbunden war, als eine der Hauptverliererinnen der militärischen Niederlage und der erfolgten Revolution mit der Etablierung einer Republik begreifen, da der Schutz des Landesherren und des Kaisers (als preußischer König) entfiel und die- gemäßigte- Trennung von Staat und Kirche erfolgte.63 Bereits im Januar 1919 fand ein Treffen zwischen Vertretern des Vernauensrates der Evangelischen Kirche und der vorläufigen Regierung statt, in dem von Friedrich Ebert64 die Zusage gegeben wurde, daß grundsätzlich die Rechte der Kirche nicht angetastet würden und insbesondere die staatliche Erhebung der Kirchensteuer gesichert bliebe. 65 Die Kirche sollte auch in der neuen Repu61 Zu den volkskirchlichen Konzeptionen zu Beginn des 19. Jahrhunderts bei Schleiermacher und Wichern siehe: Hauschild, Wolf-Dieter: Volkskirche und Demokratie. Evangelisches Kirchenverständnis und demokratisches Prinzip im 20. Jahrhundert; in: Kirche und Demokratie, Dieter Oberndörfer/Karl Schmitt (Hg.), Paderborn 1983, S. 3349. 62 Vgl. Huber, Wolfgang: Welche Volkskirche meinen wir? Über Herkunft und Zukunft eines Begriffs; in: LM, 1975, S. 481-486, hier S. 482. 63 Vgl. Kirche und Staat 1966, S. 124 f. Siehe auch: Greschat, Martin: Der deutsche Protestantismus im Revolutionsjahr 1918/19, Witten 1974. Huber 1987, S. 70 f. 64 Zum Verhältnis von Sozialdemokratie und Protestantismus in den Anfllngen der Weimarer Republik siehe: Möller 1984, S. 17 ff. 65 Vgl. Kupisch 1915, S. 80 f. Eine interessante Detailstudie der Zeit von 1918 bis 1919 über die Diskussionen um die Trennung von Kirche und Staat, die gerade von Teilen der Linken mit einem kirchenfeindlichen Radikalismus gefordert wurde, und die kirchlichen Reaktionen darauf, die insgesamt die kirchliche Abneigung gegen die demokratische Republik verstärkten, gibt am Beispiel der APU als der maßgebenden Landeskirche im deutschen Protestantismus: Jacke, Jochen: Kirche zwischen Monarchie
IV. Erfahrungen und Positionen
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blik als wichtige moralische Kraft weiter wirken können. Obwohl die Regelungen der Weimarer Verfassung der Kirche tatsächlich sehr entge~enkamen66, blieb ein tiefes Mißtrauen "in einer Art bewaffneter Neutralität"6 gegenüber der Republik, das teilweise in Republikfeindlichkeit umschlug. So fiel unter anderem die Dolchstoßlegende im kirchlichen Bereich auf fruchtbaren Boden und der Versailler Friedensvertrag wurde mit erheblicher Gegenwehr aufgenommen.68 Die kirchlichen Kreise, die sich fUr die Friedensförderung einsetzten, blieben in der Evangelischen Kirche Minorität.69 Damit korrespondiert die Beobachtung, daß der deutsche Protestantismus gegenüber den Diskussionen und gesellschaftspolitischen Forderungen der ökumenischen Bewegung (wie beispielsweise auf der Stockholmer Weltkirchenkonferenz 1925) immun blieb. 70 Die Identitätskrise der Evangelischen Kirche, die durch die Trennung von Kirche und Staat sowie durch den Wegfall des Kaisertums hervorgerufen wurde, fUhrte zu dem Versuch, eine nationale Konzeption des protestantischen
und Republik. Der preußische Protestantismus nach dem Zusammenbruch 1918, Harnburg 1976, insbesondere S. 41 fT. 66 Die Weimarer Verfassung schrieb zwar in Artikel 137 die Trennung von Staat und Kirche fest ("Es besteht keine Staatskirche"), doch erhielt die Kirche in den Artikeln 135 bis 141 den Status einer öffentlich-rechtlichen Körperschaft mit Steuerprivileg und dem Recht eigenständiger Verwaltung. Ferner erlaubte Artikel 147 (konfessionelle) Privatschulen und Artikel 149 schulischen Religionsunterricht Siehe auch: Weber, Werner: Das kirchenpolitische System der Weimarer Reichsverfassung im Rückblick (1968); in: ders.: Staat und Kirche in der Gegenwart. Rechtswissenschaftliche Beiträge aus vier Jahrzehnten, Tübingen 1978, S. 311-324. Tanner, Klaus: Die fromme Verstaatlichung des Gewissens. Zur Auseinandersetzung um die Legitimität der Weimarer Reichsverfassung in der Staatsrechtswissenschaft und Theologie der zwanziger Jahre, Göttingen 1989. Schmidt-Eichstaedt 1975, S. 35 ff. Kirche und Staat 1966, S. 123 ff. 67 Kupisch 1975, S. 81. 68 Vgl. Denzier 1984, Band l, S. 18 f. Siehe auch: Christ, Herbert: Der politische Protestantismus in der Weimarer Republik, Bonn 1967. Dahm, Kar/ Wi/he/m: Pfarrer und Politik. Soziale Position und politische Mentalität des deutschen evangelischen Pfarrerstandes zwischen 1918 und 1933, Köln/Opladen 1965. Wright, Jonathan R. C.: 'Über den Parteien'. Die politische Haltung der evangelischen Kirchenilihrer 1918-1933, Göttingen 1977. 69 Vgl. dazu: Conway, John S.: Resisting Militarism. The Peace Movement in the German Evangelical Church during the Weimar Republic; in: KZG, 1991, S. 29-45. Grotefeld, Stefan: Friedensfi>rderung durch internationale Freundschaftsarbeit der Kirchen von 1919 bis 1933. Das Beispiel der dt. Weltbundvereinigung; in: KZG, 1991, S. 46-72. Großes publizistisches Echo fand in der Weimarer Republik der Fall des Pfarrers Dehn, der aufgrund eines am Neuen Testament orientierten Vortrages "Der Christ und der Krieg" erst innerkirchlich gemaßregelt wurde und dann einer Hetzkampagne der Rechtspresse ausgesetzt wurde. Vgl. Kupisch 1975, S. 92 f. 70 Vgl. Mahrenholz 1969, S. 59. Zur Konferenz siehe auch: Reckmann 1970, s. 220 f. 3 Hanke
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Selbstverständnisses in Wiederaufnahme des Volkstumsgedankens71 zu entwickeln. Die noch aus dem Kaiserreich hergebrachte Vorstellung, daß "Volksgemeinschaft und Kirchengemeinschaft (... ] durchweg [zusammen]fallen"72, war ungebrochen. Otto Dibelius73 veröffentlichte 1926 in seinem Buch "Das Jahrhundert der Kirche" 74 ein darauf aufbauendes Konzept einer "Volkskirche"75. Zum einen sollte die Kirche in ihrem Handeln und in ihrer Predigt eine Hinwendung an das Volk vornehmen. Dies war unter anderem auch ein Zugeständnis an demokratische Elemente, die sich zum Teil in den Wahlbestimmungen der in den zwanziger Jahren neu verabschiedeten Kirchenordnungen niederschlugen. Allerdings wurden althergebrachte adlige Patronatsrechte beibehalten.76 Zum anderen bedeutete der Begriff "Volkskirche" eine "deutlich implizierte Zuwendung zur Nationalkirche" 77, die besonders in der nationalen Sendung der Kirche gegenüber den nach dem I. Weltkrieg abgetrennten Kirchengebieten zum Ausdruck kam. "An die Stelle der alten Verbindung von Thron und Altar trat die von Volk und Kirche." 78 Insgesamt kennzeichnete die Identitätskrise der Evangelischen Kirche eine gewisse Demokratiefremdheit Dies war einerseits durch das althergebrachte lutherische Denken beeintlußt, das skeptisch der demokratischen Beteiligung "kleiner Leute" an der Regierungsbildung gegenüberstand und den Begriff der Obrigkeit stark metaphysisch interpretierte. Andererseits hätte ein vorbehaltloses Anerkennen der Republik und ihrer Verfassung auch eine Billigung des politischen Mandats der (sozialdemokratischen) Arbeiterbewegung bedeutet. 79 Diese Annäherung zur Arbeiterbewegung vollzog jedoch nur die kleine MinSiehe hierzu auch: Herbert 1985, S. 14 ff. Pfannkuche 1926, S. 17. 73 Zur Bedeutung der Person Dibelius für den deutschen Protestantismus siehe den Aufsatz von: Slupperich 1986. 74 Dibelius, Otto: Das Jahrhundert der Kirche, Berlin 1926. 75 Zum Themenkreis Volkskirche siehe unter anderem: Hauschild, Wolf-Dieter: Volkskirche und Demokratie. Evangelisches Kirchenverständnis und demokratisches Prinzip im 20. Jahrhundert; in: Kirche und Demokratie, Dieter Oberndörfer/Karl Schmitt (Hg.), Paderborn 1983, S. 33-49. Huber, Wolfgang: Welche Volkskirche meinen wir? Über Herkunft und Zukunft eines Begriffs; in: LM, 1975, S. 481-486. Rendtorff, Trutz: Volkskirche in Deutschland; in: Nordische und deutsche Kirchen im 20. Jahrhundert. Referate auf der Internationalen Arbeitstagung in Sandbjerg/Dänemark 1981, Carsten Nicolaisen (Hg.), Göttingen 1982, S. 290-317. Meier, Kurt: Die zeitgeschichtliche Bedeutung volkskirchlicher Konzeptionen im deutschen Protestantismus zwischen 1918 und 1945; in: Nordische und deutsche Kirchen im 20. Jahrhundert. Referate auf der Internationalen Arbeitstagung in Sandbjerg!Dänemark 1981, Carsten Nicolaisen (Hg.), Göttingen 1982, S. 165-197. Kupisch 1915, S. 80 ff. 76 Vgl. dazu: Jasper 1983, S. 29. 77 Jasper 1983, S. 29. 78 Kupisch 1975, S. 92. 79 Vgl. Möller 1984, S. 17 ff. 71
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derheit der religiösen Sozialisten. 80 Hinzu kam die nicht unwesentliche Tatsache, daß die Evangelische Kirche das demokratische System als Symptom der Modeme identifizierte, der sie selbst mit großem Unbehagen begegnete.81 Zwar formulierte die Kirche die Losung, über den Parteien zu stehen82, doch die erdrückende Mehrheit der evangelischen Kirchenilihrer und Pfarrer, die sich sozial in hohem Maße aus dem Offiziers- und Adelsstand rekrutierte83 , sah ihre politische Vertretung vor allem in den Rechtsparteien und hier besonders bei den Deutsch-Nationalen.84 Der deutsche Protestantismus konnte während der Weimarer Republik als antirepublikanischer Block gekennzeichnet werden. Erst in der Zeit des Nationalsozialismus setzte "ein innerer Differenzierungsprozeß zwischen obrigkeitsstaatlichen und einer in ersten Ansätzen demokratischen Richtung ein, der weitreichende Wirkungen fiir die Zeit nach 1945 hatte." 85 Die nationale Konzeption der Volkskirche verbunden mit der Demokratiefremdheit überwand die Tradition der Verbindung von "Thron und Altar" in den zwanziger Jahren jedoch nicht. Dies um so mehr, als die evangelische Theologie auch in dieser Zeit keine Ethik der politischen Form und damit auch keine Kriterien zur Beurteilung politischer Herrschaft entwickelte.86 Die volkskirchliche Konzeption der Evangelischen Kirche in der Weimarer Republik als Ersatz fiir die früher bestehende "Staatskirche" fiihrte die Kirche zu ihrer selbst defmierten Aufgabe, die Nation gegenüber der Politik des (demokratischen) Staates verteidigen zu müssen87, der als Bedrohung der kulturellen Tradition Deutschlands empfunden wurde. Einer politischen Bewegung, die von sich behauptete, gerade die angenommene Dissonanz zwischen Nation und Staat zugunsten einer neuen nationalen Einheit zu überwinden, konnte daher der Protestantismus kaum kri-
Siehe unter anderem: Auftermair 1919. Kupisch 1975, S. 89 ff. Vgl. dazu: Graf, Friedrich Wilhelm: Schmerz der Modeme, Wille zur Ganzheit. Protestantismus 1914- und was davon geblieben ist; in: LM, 1989, S. 458-463. 82 Siehe hierzu: Wright, Jonathan R. C.: 'Über den Parteien'. Die politische Haltung derevangelischen Kirchenfllhrer 1918-1933, Göttingen 1977. 83 Vgl. Kühn/1985, S. 126. Siehe auch: Ba/zer, Friedrich-Martin: Kirche und Klassenbindung in der Weimarer Republik; in: Kirche und K1assenbindung. Studien zur Situation der Kirchen in der Bundesrepublik Deutschland, Yorick Spiegel (Hg.), Frankfurt am Main 1974, S. 45-65. 84 Vgl. dazu: Jasper 1983, S. 28/29. Äußerst aufschlußreich: Dahm, Kar/ Wi/helm: Pfarrer und Politik. Soziale Position und politische Mentalität des deutschen evangelischen Pfarrerstandes zwischen 1918 und 1933, Köln/Opladen 1965. 85 Pereis 1981, S. 153. 86 Vgl. Huber 1987, S. 70. 87 Vgl. Wo/fl970, S. 174 f. 80 81
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tisch gegenübertreten. Diese Tatbestände machten "den Protestantismus anpassungsbereit an den Nationalsozialismus". 88 Im Jahre 1933 gab es keine einheitliche Organisation des deutschen Protestantismus, sondern immer noch 28 selbständige Landeskirchen. Doch gab es die einzelnen Evangelischen Landeskirchen verbindende Grundideen: Vaterlandsliebe, Volkstumsideologie und Obrigkeitsgehorsam. 89 Während die protestantischen Volkstumsvorstellungen dem nationalsozialistischen Gedanken der Volksgemeinschaft nahe kamen 90, offenbarte die Nichtablehnung des Nationalsozialismus - verbunden mit der Unterordnung unter die Obrigkeit - die bei der Mehrheit der Protestanten ungebrochene Sehnsucht nach einem starken, erneuerten Staat.91 So hieß es in einem Wahlaufruf des Präsidiums des Evangelischen Bundes vom 16. Februar 1933: "Laßt [... ] alle Bedenken fahren und kämpft durch eure Stimme mit dafiir, daß die nationale gegenrevolutionäre Bewegung auf gesetzlichem Wege zum Siege kommt.[ ... ] Es geht um Deutschlands Rettung.'.n Die nationalsozialistische Postulierung einer "nationalen Erneuerung" fiel in der Evangelischen Kirche auf fruchtbaren Boden und fiihrte zu dem Bemühen, diese nach kirchlicher Eigenart mitzugestalten. Dies hieß, nach dem Dienst der Kirche fiir Volk und Staat im Zeichen des "nationalen Umbruches" zu fragen. Dieses Gedankengut griff die evangelische Bewegung der "Deutschen Christen" (DC) auf. Diese "Glaubensbewegung", der rund 20% der evangelischen Pfarrer und eine größere Zahl protestantischer Laien angehörte93, wurde von den Nationalsozialisten als Instrument zur Durchsetzung ihrer Ziele im Raum der Kirche benutzt. Das Ziel Hitlers in der Anfangsphase des sogenannten III. Reiches war die Schaffung einer Reichskirche mittels eines Reichsbi88 Jasper 1983, S. 30. Allgemein zur Rolle der Evangelischen Kirche im Nationalsozialismus siehe unter anderem: Scholder, Klaus: Die Kirchen und das Dritte Reich, 2 Bde., Frankfurt am Main/Berlin 1986. Röhm 1982. Scholder, Klaus: Politik und Kirchenpolitik im Dritten Reich. Die kirchenpolitische Wende in Deutschland 1936/37; in: Kirche und Demokratie, Dieter Oberndörfer!Karl Schmitt (Hg.), Paderborn 1983, S. 107-121. Schofder 1971. Nowak 1987. Kirche und Staat 1966, S. 123 ff. Kupisch 1975, S. 93 ff. Herbert 1985. Mahrenholz 1969, S. 47 ff. 89 Vgl. Denzier 1984, Band I, S. 19. 90 Vgl. Denzier 1984, Band I, S. 20. Otto Dibelius schrieb in seinem Buch (siehe Fn. 74) 1926 (S. 232 f.): "Zunächst ist klar, daß eine evangelische Kirche dasjenige freudig bejaht, das die Grundlage jedes gesunden und einheitlichen Staatswesen ist. Das ist das Volkstum. [...] In ein Volk wird der Mensch hineingeboren. Der Volksgemeinschaft verdankt er, was er ist und hat. Der Volksgemeinschaft ist er verpflichtet durch das Gebot der Nächstenliebe. Denn der Bruder im eigenen Volke ist uns immer der Nächste!" 91 Vgl. zum obrigkeitsstaatliehen Denken: Jasper 1983, S. 30. 92 Oberhessische Zeitung vom 17. Februar 1933. Hier zitiert nach: Kühn/ 1985, s. 127. 93 Vgl. Denzier 1984, Band I,$. 34.
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schofs.94 Die Evangelischen Kirchen schlossen sich am 11. Juli 1933 zur "Deutschen Evangelischen Kirche" (DEK) zusammen, deren Verfassung am Führerprinzip orientiert war und dem Reichsbischof erhebliche Kompetenzen gab. 95 Allerdings blieben die Landeskirchen selbständig. Die Gleichschaltung der Evangelischen Kirchen schien perfekt, als die Deutschen Christen in den Kirchenwahlen am 23. Juli 1933 die Mehrheit kirchlicher Positionen besetzen konnten. Doch gleichzeitig mit dieser Entwicklung formierte sich innerkirchlicher Widerstand. Träger dieses Widerstandes waren die, später so genannten, "intakten" Landeskirchen, in denen die Deutschen Christen nicht die Mehrheit erringen konnten96, und der Pfarrernotbund, der unter anderem auf Initiative von Martin Niemöller im September 1933 entstand. Anlaß dieser innerkirchlichen Opposition war einerseits das rigorose Agieren im nationalsozialistischen Sinne der zentralen Kirchenbehörden unter Reichsbischof Ludwig Müller und andererseits schließlich die Einfiihrung des "Arierparagraphen" des nationalsozialistischen Beamtenrechts in kirchliches Recht, das Pfarrern jüdischer Abstammung die Tätigkeit in kirchlichen Ämtern verbot. 97 In vielen Gemeinden der Evangelischen Kirchen hatte in der Auseinandersetzung mit der nationalsozialistischen Kirchenpolitik ein Nachdenken über die Rolle und den Auftrag der Kirche begonnen. Initiiert wurde diese Diskussion vor allem durch den Schweizer Theologieprofessor Kar! Barth mit seiner im Sommer 1933 erschienen Schrift "Theologische Existenz heute". 98 Die Rückbesinnung auf die Heilige Schrift und das Bekenntnis verbunden mit einer Beschreibung des Verhältnisses der Kirche zum Staat erreichte seinen Höhepunkt auf der ersten Reichsbekenntnissynode in Barmen (29.-31. Mai 1934), auf der
94 Wemer Koch unterscheidet drei Phasen der Hitlerischen Kirchenpolitik: I. 1933/34: Versuch der Gleichschaltung (durch Reichskirche), 2. 1935/36: Durchsetzung des Machtanspruchs des totalen Staates durch indirekte Staatskontrolle (Finanzabteilungen, Beschlußstelle für Rechtsangelegenheiten), 3. ab 1937: Durchsetzung des Machtanspruches des totalen Staates durch direkte Staatskontrolle (Erlasse, Beamteneid für Pastoren). 95 Vgl. Henkys 1987, S. 47. KJdEKD 1945-1948, S. 414 ff. Müller 1988, S. 132 ff. 96 Dies waren die (lutherischen) Landeskirchen Hannover, Bayern und Württemberg. Vgl. u. a. Röhm 1982, S. 83; Greschat 1983, S. 267. 97 Zum "Arierparagraphen" und in diesem Zusammenhang der Tätigkeit des Pfarrernotbundes siehe Röhm 1982, S. 48. Siehe auch: Meier, Kurt: Evangelische Kirche und "Endlösung der Judenfrage"; in: Kirche und Nationalsozialismus, Wolfgang Stegemann (Hg.), 2. Aufl., Stuttgart/Berlin/Köln 1992, S. 77-93. Norden, Günther van: Die evangelische Kirche und die Juden im "Dritten Reich; in: KZG, 1989, S. 38-49. Ringshausen, Gerhard: Die lutherische "Zweireichelehre" und der Widerstand im Dritten Reich. Zu D. Bonhoeffers Aufsatz "Die Kirche vor der Judenfrage", 15. April 1933; in: KZG, 1988, S. 215-244. 98 Vgl. Röhm 1982, S. 48.
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sich Vertreter lutherischer, refonnierter und unierter Kirchen trafen. Aus dem Zusammenschluß dieser verschiedenen bekennenden Gruppen entstand die Bekennende Kirche. Die "Theologische Erklärung zur gegenwärtigen Lage der Deutschen Evangelischen Kirche", die die Banner Synode verabschiedete, bildete das theologische Grundsatzpapier der Bekennenden Kirche. 99 In sechs Thesen, die nach dem Schema Schriftwort, Auslegung und Verwerfung konzipiert wurden, wurde die Irrlehre der Deutschen Christen und der Totalitätsanspruch des NSStaates zurückgewiesen. In der Banner Erklärung wurde darüber hinaus ein neues Staatsverständnis deutlich. In These 3 wurde die Auffassung verworfen, daß die Kirche Instrument - organisatorisch wie inhaltlich - politischer oder weltanschaulicher Überzeugungen sein kann. These 5 weist den Totalitätsanspruch des NS-Staates zurück. Der Staat wird zwar als göttliche Anordnung begriffen, aber nur im Rahmen der Rechts- und Friedenssicherung nach Maßgabe menschlicher Einsicht. These 2 offenbart eine christliche Verantwortungsethik, die sich in dem bisherigen Verständnis der Zwei-Reiche-Lehre Luthers in dieser Deutlichkeit nicht fand: Es gibt fiir einen Christen keinen Lebensbereich, in dem nicht Jesus Christus der Herr wäre. 100 Diese Thesen entwickelten ein neues protestantisches Staatsverständnis. Die Trennung von Kirche und Staat wurde nun auch kirchlicherseits manifestiert. Dies schloß dann auch die theoretische Möglichkeit kirchlichen Widerstandes gegen die eigentlich von Gott gesetzte Obrigkeit mit ein, wenn sie entgegen den zentralen Prinzipien der Rechts- und Friedenssicherung handelte. 101 Ferner wurde ein neuartiges öffentliches Mandat der Kirche - denn einerseits vertritt der Staat nicht automatisch kirchliche Interessen und andererseits gibt es keine
99 Zur Erklärung und deren Wirkungsgeschichte gibt es eine umfangreiche Literatur. Pars pro toto: Die lutherischen Kirchen und die Bekenntnissynode von Barmen. Referate des Internationalen Symposiums auf der Reisenburg 1984, Wolf-Dieter Hauschild/Georg Kretschmar/Carsten Nicolaisen (Hg.), Göttingen 1984. KJdEKD 1984, S, 255 ff. Huber, Wolfgang: Konsequenzen sind noch zu ziehen. Zur Aktualität derBarmer Theologischen Erklärung; in: LM, 1974, S. 298-301. Zeddies. Helmut: Ein Ausdruck gemeinsamen Bekennens. Zum Stellenwert der Barmer Theologischen Erklärung; in: LM, 1984, S. 547-551. lsermann, Gerhard: Barmen - Bekenntnis oder Episode? Zur Literatur über dieBarmer Theologische Erklärung; in: LM, 1984, S. 90-91. Zur verfassungsrechtlichen Bedeutung der Barmer Theologischen Erklärung für die EKD, BEK und die einzelnen Landeskirchen siehe: KJdEKD, 1984, S. 257 ff. 100 Zur Barmer Erklärung siehe: Die Barmer Theologische Erklärung, insbesondere S. 30-40. In These 2 wird die Handschrift Barths sichtbar, der im Gegensatz zu Luther sein Modell der "Königsherrschaft Jesu", d. h. die Geltung der Lehre Jesu für alle Lebenszusammenhänge, entwickelte. Damit wird auch ein Mitspracherecht der Kirche in weltlichen Angelegenheiten begründet. 101 Vgl. auch: Huber, Wolfgang: Gebot für den Staat. Zur Aktualität des Barmer Bekenntnisses; in: EvKomm, 1984, S. 67-70.
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Bereiche, die christlicher Verantwortung entzogen sind- konstruiert: Religion ist keine Privatsache. 102 Die bereits im protestantischen Denken weit verbreitete Ideologie der Schöpfungsordnungen verbunden mit einer romantisch-idealistischen Metaphysik des Volkes trieb während der Zeit des Nationalsozialismus neue Blüten. Die kirchliche Diskussion gruppierte sich im großen und ganzen um die Pole der Anhänger der Theologie der Schöpfungsordnungen, zu denen insbesondere die "Deutschen Christen" gehörten, und die Vertreter der Bekennenden Kirche, die in der Barmer Erklärung neue Ansätze hinsichtlich des Problemkreises Volk, Staat und Nation vorgezeichnet hatten, ohne dabei zu verkennen, daß im Detail die Grenzen jedoch durchaus fließend waren und die einzelnen theologischen Richtungen differenzierter und komplexer. In der nationalprotestantischen Anschauung war bereits der Zusammenklang von Christentum und Deutschtum vorgeprägt "Dieser 'Pastorennationalismus' kommt hier erst von dem Zeitpunkt in Betracht, in dem er sich im Rausche des Nationalsozialismus entsprechend zu ideologisieren beginnt und die Komponenten Volk, Volkstum, Volkheit oder Nation, Antibolschewismus und den wieder erwachten latenten Antisemitismus miteinander verknüpft. " 103 Die Vorstellung des Zusammenhangs zwischen Volk und Glaube der Bewegung der "Deutschen Christen" fand ihren extremsten Ausdruck in der Forderung nach einem "bejahenden artgemäßen Christusglauben, wie er deutschem Luthergeist und heldischer Frömmigkeit entspricht", wie er im vierten Leitsatz der "Zehn Richtlinien der Glaubensbewegung 'Deutsche Christen"' 104 niedergelegt wurde. Dieser Leitsatz implizierte nicht nur antijüdische Vorbehalte, sondern griff auch Denkfiguren des Nationalprotestantismus früherer Jahrzehnte auf. Deutschtum und protestantisches Christentum wurden als untrennbar zusammengehörig begriffen. Insofern kann man die DC unter dem Aspekt der Sehnsucht nach christlicher Erneuerung der Nation als "nationalistisch-religiöse Erweckungsbewegung" 105 ansehen. Andererseits darf nicht verkannt werden, daß es eine deutliche Annäherung im Sprachgebrauch an nationalsozialistisches Gedankengut gab und damit die Theologie, insbesondere die Richtung, die sich an dem Weltbild der Schöpfungsordnungen orientierte, dem Nationalsozialismus im Namen der Sache des Volkes kirchliche Absolution erteilte. Der Opportunismus zahlreicher Kirchenftlhrer und Theologen gegenüber dem Nationalsozialismus läßt sich unter anderem auch auf die fatale Fehleinschätzung zurückfUhren, daß sich diese Weltanschauung "ebenso mit der Gottlosigkeit wie Vgl. Jasper 1983, S. 30 f. Wolf1910, S. 174. 104 Die Kirche und das Dritte Reich. Fragen und Forderungen deutscher Theologen, 2. Bde., 1932; hier Bd. II, S. 16 ff. I~ . Vgl. Wo/f1910, S. 179. 102 103
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mit dem Gottglauben verbinden" 106 könne. Grundlage der kirchlichen Bejahung -insbesondere auch bei Vertretern der Lutheraner- der nationalsozialistischen Machtübernahme als historische Chance fiir die Erneuerung der deutschen Nation war eine unreflektierte Theorie des Volksnomos und die Vorstellung einer "volksdeutschen Sendung" der Kirche, die (wie schon im 19. Jahrhundert unter Rückgriff auf Luther) eine besondere Berufung des deutschen Wesens in der Welt behauptete. Der Nationalsozialismus wurde als Instrument angesehen, eine einheitliche deutsche Volkskirche zu schaffen nach dem Grundsatz: Ein Volk, ein Reich, ein Glaube. 107 Die protestantische Metaphysik des Volksnomos verleitete dabei zu der Gleichsetzung von nationalsozialistischem Führerstaat und Volkstum, die erst im Laufe der Jahreaufgrund der im Nationalsozialismus gewonnenen kirchlichen Erfahrungen bei vielen Kirchenfuhrern zurückgenommen wurde. Der "Pfarrernationalismus" in der Evangelischen Kirche, der sich seit dem
19. Jahrhundert ausgeprägt hatte, fand dauerhafter seine Basis in der "Jungre-
formatorischen Bewegung", die sich im Mai 1933 als Abspaltung der DC gebildet hatte. Sie betonte von Anfang an stärker die Freiheit der Kirche, nicht jedoch ohne dabei anilinglich den Nationalsozialismus als Erneuerer des Staates zu bejahen. "Der tragende Gedanke ist auch die Schöpfungsordnung, im besonderen verknüpft mit der neulutherischen Staatstheorie. Man bejahte den Nationalsozialismus weithin im Rahmen einer Metaphysik des Reiches, aber ohne extreme Volkstumsideologie." 108 Ziel dieser nationalkonservativen Bewegung109 war eine "evangelische Kirche deutscher Nation", die durch eine Art nationaler Reformation entstehen sollte, wobei das Pathos der Freiheitskriege aufgenommen und wiederbelebt wurde. In dem grundlegenden programmatischen Sammelband der Jungreformatorischen, "Die Nation vor Gott" 110, wurde bei allen Differenzierungen im einzelnen unter weitgehender schöpfungsordnungsideologisch motivierter positiver Wertung der Eigenständigkeil des Staates der althergebrachte Zusammenhang zwischen Volkstum und Christentum, Nation und Evangelium, Kirche und Staat herausgearbeitet, jedoch im großen und ganzen ohne Rückgriff auf rassentheoretische Gesichtspunkte, die vielmehr zunehmend kritisiert wurden. 106 So das Votum des Theologen J. Hempel aus dem Jahre 1932. Zitiert nach: Wolf 1970, s. 177. 107 Vgl. Wolf1970, S. 187. 108 Wolfl970, S. 190. 109 Dieser Gruppe gehörten zunächst Kirchenilihrer und Theologen an, die auch nach 1945 wesentliche Funktionen in der Evangelischen Kirche einnahmen. Zum Beispiel: Walter Künneth, Heinz-Dietrich Wendland, Hanns Lilje, Martin Niemöller. Vgl. Wolf 1970, s. 190. 110 Die Nation vor Gott. Zur Botschaft der Kirche im Dritten Reich, Walter Künneth!Helmut Schreiner (Hg.), Berlin 1933 (5. Aufl. 1937). Siehe dazu auch: Beckmann 1970, s. 224 ff.
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Primäres Motiv der Banner Bekenntnisbewegung ist der Erhalt der biblischen Botschaft, die Treue zu Schrift und Bekenntnis. Diese innerkirchliche Opposition ist gegen die kirchenpolitisch bestimmende Fraktion der DC gerichtet, die den Arierparagraphen des nationalsozialistischen Beamtenrechtes im Herbst 1933 in die Kirchenverfassung der neu gebildeten "Deutschen Evangelischen Kirche" einfUhren wollte. Dies verweist auf den schwierigen Problemkomplex des Verhältnisses des Protestantismus zum Judentum, der hier nicht weiter erörtert werden kann. 111 Wichtig ist jedoch, daß zumindest von Teilen der Bekennenden Kirche in dieser Frage zwischen christlicher Gemeinde und Volk, zwischen Kirche und Staat unterschieden wurde.112 Die Banner Theologische Erklärung vom Mai 1934 vollzog dann weitergehend den Bruch mit der Idee des Volksnomos, mit dem ordnungstheologisch der Zusammenhang zwischen Volk und Rasse legitimiert werden sollte. Der vom I 9. Jahrhundert überkommene deutsche Nationalprotestantismus mit seiner Vorstellung der Zusammengehörigkeit von Deutschtum und evangelischem Christentum, der seine Ausgangsbasis von der neulutherischen Lehre von den Schöpfungsordnungen genommen hatte, wurde theologisch im Sinne eines Bekenntnisses erstmalig verworfen. Gerade auch die V. These der Erklärung befreite die protestantische Staatstheorie von jeglicher Metaphysik, indem sie nüchtern nach der Schrift die Aufgabe des Staates in der Friedenswahrung und Rechtserhaltung sah, die er aufgrund menschlicher Vernunft in der noch nicht erlösten Welt zu befolgen habe. Neulutherischen Phantasien einer Gleichsetzung von Gottesreich auf Erden und im Christentum erneuerter deutscher Nation wurde damit die theologische Grundlage entzogen. Mit der Banner Erklärung kam die Kirche vielmehr in die Position, dem Staat auch kritisch gegenüberstehen zu können. Die Denkschrift der zweiten Vorläufigen Leitung der DEK an Hitler aus dem Jahre 1936 konnte von daher deutliche Kritik an der nationalsozialistischen Weltanschau-
111 Siehe hierzu unter anderem: Faß/er, Manfred: Die Bekennende Kirche ist nicht frei von Schuld. Interview mit Klaus Herrmann anläßlich der Jahrestagung der Arbeitsgemeinschaft Kirche und Judentum in der DDR; in: KiS, 5/1985, S. 206-207. Stegemann, Ekkehard: Die Stellung Martin Luthers und der Evangelischen Christen zum Judentum; in: Kirche und Nationalsozialismus, Wolfgang Stegemann (Hg.), 2. Aufl., Stuttgart!Berlin!Köln 1992, S. 121-138. Harling, Otto von: Kirche und Israel; in: KJdEKD, 1953, S. 285-335. Meier, Kurt: Evangelische Kirche und "Endlösung der Judenfrage"; in: Kirche und Nationalsozialismus, Wolfgang Stegemann (Hg.), 2. Aufl., Stuttgart!Berlin!Köln 1992, S. 77-93. Stegemann, Wolfgang: Christliche Judenfeindschaft und Neues Testament; in: Kirche und Nationalsozialismus, Wolfgang Stegemann (Hg.), 2. Aufl., Stuttgart!Berlin!Köln 1992, S. 139-170. Kaiser, Jochen-Christoph: Protestantismus, Diakonie und "Judenfrage" 1933-1941; in: VfZ, 1989, S. 673 ff. 112 Selbst große Teile der Bekennenden Kirche versuchten einer prinzipiellen Stellungnahme zur "Judenfrage" auszuweichen, blieben stark der christlichen Judenmission verhaftet und verharrten auch teilweise bis nach 1945 in einer ambivalenten Haltung gegenüber dem Judentum. Vgl. u. a.: Wolfl970, S. 192 ff.
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ung formulieren 113, indem sie gegen die Gleichschaltung aller Lebensbereiche protestierte und auf die Gefahr der "Entchristlichung" durch die umfassende nationalsozialistische Ausformung des gesellschaftlichen und politischen Lebens hinwies. In der Sorge um das Menschsein, das deutsche Volk und den Staat konnten Teile des Protestantismus entgegen dem früher vorherrschenden Obrigkeitsgehorsam dem totalen Machtanspruch des nationalsozialistischen Führerstaates unter Berufung auf Recht und Frieden entgegentreten. Insgesamt sollte die kirchliche Weltanschauungskritik gegenüber dem Nationalsozialismus in seiner Widerstandsfunktion nicht unterschätzt werden. 114 Sie hat neben anderem maßgeblich dazu beigetragen, daß die Kirche nach 1945 den Ruf einer moralisch integer gebliebenen Kraft genoß. Die kirchlichen Erfahrungen im nationalsozialistischen Staat führten weite Teile des Protestantismus in eine Haltung zunehmender Distanz. Dies zeigte sich entscheidend in der Bewertung der Kriegsgefahr und des Krieges selbst, die sich charakteristisch vom Jubel im I. Weltkrieg unterschied. In der Tschechienkrise vom Herbst 1938, die erstmals die wachsende Kriegsgefahr Deutschlands vor aller Augen fiihrte, veröffentlichte die Bekennende Kirche eine Gebetsliturgie, die ein BuBgebet war und der jedes nationale Pathos fehlte. 115 Es wurde um die Abwendung des Krieges gebetet zum Schutz des Volkes. Ausführungen zur Steigerung der Sittlichkeit der Nation durch den Krieg sucht man vergebens. 116 Die Beurteilung des II. Weltkrieges durch die Evangelische Kirche war nicht nur schwieriger, weil die Einheit der Nation im Kriege in den Vordergrund rückte, sondern da es zwischen Kirche und nationalsozialistischem Staat auch das Band der gemeinsamen Ablehnung des Bolschewismus gab, in dem eine massive Bedrohung der christlichen Kultur des Abendlandes gesehen wurde. Dennoch ist festzuhalten, daß die Kriegspredigten und kirchlichen Stellungnahmen sich im Durchschnitt charakteristisch vom Pathos des "Pastorennationalismus" mit seiner "Kriegstheologie" des I. Weltkrieges und der napoleonischen Freiheitskriege unterschied. 117 Der überwiegende Teil des deutschen Protestantismus betete kaum für den Sieg des sogenannten Dritten Reiches, sondern vor allem für einen gerechten Frieden. Mit zunehmender Dauer des Krieges war ferner zu beobachten, daß die ordnungstheologischen Überhöhungen der Begriffe Volk, Nation und Vaterland auf der Grundlage der 113 Dokumentiert in: Dokumente des Kirchenkampfes ll. I. Teil, Kurt Dietrich Schmidt (Hg.), Göttingen 1964, S. 695 ff. Siehe auch: Greschat, Martin: Denkschrift an Hitler; in: EvKomm, 1986, S. 249. Zur Bedeutung der Denkschrift siehe auch: Braune 1976, S. 155 f. Schulze 1972, S. 17 f. 114 Siehe hierzu: Nowak 1987, S. 356 ff. Nowak 1985, S. 171. 115 Vgl. Wolf1910, S. 199 f. 116 Siehe hierzu: Niemöller, Wilhelm: Ein Gebet flir den Frieden; in: Evangelische Theologie, 1950/1951, S. 175 ff. 117 Vgl. Wolfl910, S. 200 ff. Röhm/Thierfelder 1981, S. 110 f.
IV. Erfahrungen und Positionen
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Volksnomostheorie und damit auch national-christliche Positionen im kirchlichen Raum zunehmend an Einfluß und Bedeutung verloren. 118 Der kirchliche Widerstand 119 der Bekennenden Kirche sowie der "intakten" Landeskirchen gegen den nationalsozialistischen Staat blieb allerdings meist darauf beschränkt, die kirchliche Organisation vor dem Einfluß der Deutschen Christen in der Art einer antihäretischen Frontstellung und den Eingriffen des NS-Staates zu schützen und den Opfern der staatlichen Politik zu helfen. Dem Weg in den aktiven politischen Widerstand 120 stand auch die Mehrheit derbekennenden Christen sehr distanziert gegenüber aufgrund der nach wie vor wirkenden alten lutherischen Tradition des Obrigkeitsgehorsams. 12 1 Insgesamt wird man wohl feststellen müssen, daß das evangelische Christentum in Deutschland aufgrund der aus dem 19. Jahrhundert überkommenen nationalVgl. Wolfl970, S. 206. Als allgemeinen Überblick: Nowak I 987. Siehe zur nach wie vor aktuellen Diskussion auch: Hürten, Heinz: Zehn Thesen eines profanen Historikers zur Diskussion um den Widerstand der Kirchen in der nationalsozialistischen Zeit; in: KZG, 1988, S. 116-117. Norden, Günther van: Sieben Thesen eines profanen Historikers zur Diskussion um den Widerstand der Kirchen in der nationalsozialistischen Zeit. Eine Ergänzung zu Heinz Hürten; in: KZG, 1989, S. 291-293. Norden, Günther van: Widerstand im deutschen Protestantismus 1933-1945; in: Der deutsche Widerstand 1933-1945, Klaus Jürgen Müller (Hg.), Paderborn 1986, S. 108-134. Schmidt, Kurt Dietrich: Der Widerstand der Kirche im Dritten Reich; in: LM, 1962, S. 366-370. Zahlreiche Buchbesprechungen zum Thema bei: Wewer 1988, 207 ff. Zur Interpretation des kirchlichen Widerstandes gegen den Nationalsozialismus aus Sicht des Rates der EKiD nach 1945: Fischer 1970, S. 43 ff. 120 Siehe dazu: Nowak. Kurt: Kirche und Widerstand gegen den Nationalsozialismus 1933-1945 in Deutschland; in: Nordische und deutsche Kirchen im 20. Jahrhundert. Referate auf der Internationalen Arbeitstagung in Sandbjerg/Dänemark 1981, Carsten Nicolaisen (Hg.), Göttingen 1982, S. 228-270. Nowak. Kurt: Protestantischer Widerstand im Dritten Reich. Bericht über den Stand der historischen Forschung; in: LM, 1985, s. 171-174. 121 Vgl. Denzier 1984, Band I, S. 98 f. Einen anderen Weg ging beispielsweise Dietrich Bonhoetfer, der damit in der Evangelischen Kirche in Deutschland eine Denktradition begründete. Siehe: Leibholz, Gerhard: Dietrich Bonhoetfer als ein Vermächtnis des 20. Juli 1944; in: Kirche und Staat. Fritz Eckert zum 65. Geburtstag, Herbert Schamheck (Hg.), Berlin 1976, S. 129-144. Dress, Walter: Widerstandsrecht und Christenpflicht bei Dietrich Bonhoetfer. Im Jahr der zwanzigsten Wiederkehr des 20. Juli 1944; in: LM, 1964, S. 198-209. Walther, Christian: Freiheit wagen, um Freiheit zu gewinnen. Dietrich Bonhoetfer zum politischen Widerstand; in: LM, 1984, S. 318-319. Thadden, Rudo/fvon: Dietrich Bonhoeffer und der deutsche Nachkriegsprotestantismus; in: Kirchen in der Nachkriegszeit. Vier zeitgeschichtliche Beiträge von Armin Boyens u.a., Göttingen 1979, S. 125--138. Für den Bereich der DDR: Rein, Gerhard: "Kirche für andere" in der DDR. Gespräch mit dem Erfurter Propst Heino Falcke zur Bedeutung Bonhoeffers fllr den Weg der Kirche; in: KiS, 2/1986, S. 59-63. Schönherr, Albrecht: Im Sozialismus glauben lernen. Impulse aus der Theologie Bonhoeffers für Christen in der DDR; in: EvKomm, 1973, S. 392-396. Schönherr, Albrecht: Wirklichkeit ernstgenommen. Die Bedeutung Dietrich Bonhoeffers für das Christsein in der DDR. Vortrag in der Leipziger Nikolaikirche am 16. März 1977; in: KiS, 4/1977, S. 3-8. 118
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C. Evangelische Kirche und Deutschland
völkischen Denktraditionen gegen den Nationalsozialismus zumindestens anfangs kaum widerstandsfähig war, ohne dabei zu verkennen, daß die Widerstandswirklichkeit im sogenannten III. Reich vielfaltig und graduiert war. 122 Im Rahmen der zeitgeschichtlichen Bedingtheilen muß gleichwohl erkannt werden, daß beginnend mit der Barmer Theologischen Erklärung weitreichende Denkansätze initiiert wurden, die die Elemente Volk, Nation und Staat einer kritischen Sicht unterzogen und so langfristig eine neue, mit der alten Tradition brechende sozialethische Positionsbestimmung des deutschen Protestantismus ermöglichten.
V. Ausgangsbedingungen der Evangelischen Kirche im Jahre 1945 Ganz im Gegensatz zum kirchlichen Bewußtsein nach der Niederlage Deutschlands im I. Weltkrieg ftihrte der Zusammenbruch des nationalsozialistischen Staates 1945 nicht zu einer Identitätskrise der Evangelischen Kirche. Sie gehörte nicht nur zu den wenigen Organisationen, die den NS-Staat überlebten, sondern konnte gerade auch durch die innerkirchliche Bewegung der Bekennenden Kirche und in den intakten Landeskirchen mehr oder weniger unbelastetes Führungspersonal 123 vorweisen. Damit waren organisatorisch wie personell die Bedingungen gegeben, Standortbestimmungen der Evangelischen Kirche in Deutschland vorzunehmen, die sich entweder an neuen Ideen und Konzepten orientierten oder auf alten Traditionsbestand zurückgriffen. 124 Die Institutionen der Evangelischen Kirche hatten den Zusammenbruch der nationalsozialistischen Herrschaft am 8. Mai 1945 überlebt beziehungsweise
122 Interessante biographische Fallbeispiele insbesondere aus dem deutschen Luthertum, die den kirchlichen Widerstand und theologische Positionen differenziert aufzeigen, bringt: Nowak 1982. 123 Siehe in diesem Zusammenhang auch: Vollnhals, C/emens: Entnazifizierung und Selbstreinigung im Urteil der evangelischen Kirche. Dokumente und Reflexionen 19451949, München 1989. Vollnhals, Clemens: Evangelische Kirche und Entnazifizierung 1945-1949. Die Last der nationalsozialistischen Vergangenheit, München 1989. 124 Die unterschiedlichen Vorstellungen von einzelnen KirchenfUhrern über die Rolle der Evangelischen Kirche im Nachkriegsdeutschland finden sich als Dokumente in: Kirche nach der Kapitulation, 1989 und 1990. Zur Frage eines Neuanfangs aus kirchlicher Sicht siehe: Ulrich, Hans G. : Neuanfang in der Verkündigung? Kirche nach 1945 in theologischer Perspektive; in: KZG, 1989, S. 276-283. Li/je, Hanns I Niemöller, Martin : Die Suche nach neuen Werten. Wie nachhaltig war der "Geist von 1945"?; in: LM, 1975, S. 242-244. Thadden-Trieg/aff, Reinold von: Warum kam so wenig heraus? Herbe Bilanz der Nachkriegszeit; in: LM, 1971, S. 538-539.
V. Ausgangsbedingungen der Evangelischen Kirche
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konnten die kirchlichen Strukturen relativ schnell rekonstruiert werden. 125 Die Evangelische Kirche war zu ihrem großen Vorteil bei den Siegermächten des II. Weltkrieges auch nicht diskreditiert, da sie durch die Bekennende Kirche als einzige Großorganisation Widerstand gegen den NS-Staat geleistet hatte. 126 Hinzu kam, daß sie nach 1945 im Rahmen der ökumenischen Bewegung zügig von internationaler Hilfe und ausländischen Kontakten profitieren konnte. 127 Relativ rasch konnten sich die evangelischen Landeskirchen wieder überregional betätigen. Sie waren, zumindest in den Westzonen, deutscher Ansprechpartner der Alliierten, die auch bereit waren, Probleme in Zusammenarbeit mit kirchlichen Organisationen anzugehen. 128 "Dies wiederum hob das Ansehen der Kirchen in der deutschen Öffentlichkeit beträchtlich. Sie erschienen jetzt als die Garanten von Kontinuität und Ordnung inmitten eines allgemeinen inneren und äußeren Chaos." 129 Günstig wurde das öffentliche Handlungspotential der Kirche auch dadurch beeinflußt, daß sich breite Schichten der Bevölkerung in der Nachkriegszeit wieder zum christlichen Glauben hingezogen filhlten und Ori• 130 entterung erwarteten. Die Evangelische Kirche hatte in den Nachkriegsjahren eine sehr privilegierte Stellung. Das kirchliche Vermögen blieb erhalten, das Gemeindeleben wurde nicht durch Versammlungsverbote eingeschränkt und kirchliche Funk125 Zur Ausgangslage der Evangelischen Kirche nach der Kapitulation siehe auch: Kirche nach der Kapitulation 1989, S. 8 ff. KJdEKD 1945-1948, S. 108 ff. KJdEKD 1950, S. 372 ff. Huber 1973, S. 7 ff. Kupisch 1975, S. 127 ff. Mahrenholz 1969, S. 61 ff. Friebel 1992, S. 23 ff. Möller 1984, S. 29 ff. Maltmann 1984, S. II ff. Zum Aufbau der Pressearbeit nach dem Zusammenbruch siehe: KJdEKD 1949, S. 435 ff. 126 Vgl. dazu: Dokument 139, 16. Juli 1945: Heinrich Albertz an die Interalliierte Kommission: Denkschrift über die Gewaltmaßnahmen des Dritten Reiches gegen die Evangelische Kirche; in: Kirche nach der Kapitulation. Das Jahr 1945 - eine Dokumentation, Gerhard Besier u. a. (Hg.), Band 2: Auf dem Weg nach Treysa, Stuttgart!Berlin!Köln 1990, S. 129-134. 127 Vgl. hierzu: Besier, Gerhard: Ökumenische Mission in Nachkriegsdeutschland. Die Berichte von Stewart W. Herman über die Verhältnisse in der evangelischen Kirche 1945/46. I. Teil; in: KZG, 1988, S. I 5 1-187. Kirche nach der Kapitulation 1989, S. 17 ff. KJdEKD 1945-48, S. 399 ff. [Bericht über die ausländischen Spenden und deren- überwiegend sozialpolitische- Verwendung]. Siehe auch: Vo/lnhals, Clemens: Die evangelische Kirche nach dem Zusammenbruch. Berichte ausländischer Beobachter aus dem Jahre 1945, Göttingen 1988. 128 Zur Kirchenpolitik der Besatzungsmächte siehe: Thierfelder, Jörg: Die Kirchenpolitik der Besatzungsmacht Frankreich und die Situation der evangelischen Kirche in der französischen Zone; in: KZG, 1989, S. 221-238. Onnasch, Martin: Die Situation der Kirchen in der sowjetischen Besatzungszone 1945-1949; in: KZG, 1989, S. 210-220. Boyens, Armin: Die Kirchenpolitik der amerikanischen Besatzungsmacht in Deutschland von 1944 bis 1946; in: Kirchen in der Nachkriegszeit. Vier zeitgeschichtliche Beiträge von Armin Boyens u.a., Göttingen 1979, S. 7-57. Müller 1988, S. 192 ff. Kirche nach der Kapitulation 1989, S. I 0 ff. Huber 1983, S. 45 ff. 129 Greschat 1983, S. 265. Vgl. hierzu auch Kleßmann 1984, S. 59 ff. 130 V gl. Möller 1984, S. 30 f.
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C. Evangelische Kirche und Deutschland
tionsträger besaßen Reisemöglichkeiten. 131 Die personelle und institutionelle Erneuerung bzw. Wiederherstellung blieb weitgehend der Kirche selbst überlassen.132 Bei der Behebung der sozialen Probleme im Nachkriegsdeutschland kam der Kirche mit ihrer diakonischen Arbeit eine besonders einflußreiche Rolle zu. 133 Aber die Kirche war nicht nur in vielen Bereichen Gesprächspartner der alliierten Siegermächte und nahm Einfluß auf politische Sachfragen 134, sondern sie war auch die einzige deutsche Großorganisation (neben der Katholischen Kirche), die über internationale Kontakte in Rahmen der Ökumenischen Bewegung verfugte. 135 Der Umstand, daß die kirchliche Tätigkeit anfangs auf die jeweilige Besatzungszone beschränkt blieb, förderte die erneute Herausbildung von selbständigen und selbstbewußten Landeskirchen. 136 Die Landeskirchen bildeten bald "die eigentlichen Zentren und dann auch die entscheidenden Machtfaktoren in der evangelischen Kirche in Deutschland." 137 Diese Entwicklung komplizierte die Neuordnung des Zusammenschlusses aller evangelischen Kirchen in Deutschland. Die Landeskirchen waren um die Wahrung ihrer Eigeninteressen bemüht, die oftmals ein Spiegelbild der innerkirchlichen Gegensätze darstellten.l38 Die 1933 gegründete DEK war durch ihre Rolle im nationalsozialistischen Staat diskreditiert. Die Landeskirchen, die nicht geneigt waren, Kompetenzen an eine gemeinsame Dachorganisation abzugeben, konnten sich organisatorisch als selbständige Einheiten stabilisieren. SetOrdert wurde dieses Denken durch 131 Vgl. Kleßmann 1984, S. 61. 132 Vgl. Henkys 1987, S. 52. 133 Vgl. Kleßmann 1984, S. 61. Siehe auch: Foss 1986. Zum Wiederaufbau der kirchlichen Dienste und Werke: KJdEKD 1945-1948, S. 228 ff. 134 Vgl. Jasper, Gotthard: Die Schulreformdiskussion in Württemberg-Baden 19471950 und der Einfluß der Kirchen; in: Tradition und Reform in der deutschen Politik. Gedenkschrift filr Waldemar Besson, Gotthard Jasper (Hg.), München 1976, S. 255285. Jochmann, Werner: Evangelische Kirche und politische Neuorientierung in Deutschland 1945; in: Deutschland in der Weltpolitik des 19. und 20. Jahrhunderts. Fritz Fischer zum 65. Geburtstag, Imanuel Geiss!Bemd Jürgen Wendt (Hg.), Düsseldorf 1973, S. 545-562. Rendtorff, Trutz: Protestantismus zwischen Kirche und Christentum. Die Bedeutung protestantischer Traditionen filr die Entstehung der Bundesrepublik Deutschland; in: Beiträge zum Kontinuitätsproblem, Werner Conze/M. Rainer Lepsius (Hg.), Stuttgart 1983, S, 410-440. 135 Vgl. Greschat 1983, S. 271. Diese Kontakte wurden allerdings teilweise auch ausgenutzt, um ehemaligen Nationalsozialisten außer Landes zu helfen. Siehe: Klee 1992. Kritisch dazu: Stupperich 1990. 136 Zum Wiederaufbau der Evangelischen Landeskirchen siehe: KJdEKD 1945-1948, S. 110 ff. und 125 ff. Kirche nach der Kapitulation 1989, S. 21 ff. 137 Greschat 1983, S. 266. Zur Frage der durch die politischen Verhältnisse bedingten Organisationsänderungen siehe: Deutschland heute, S. 662 f. 138 Vgl. Greschat 1983, S. 267.
VI. Zusammenfassung
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das Aufbrechen alter konfessioneller Gegensätze zwischen Lutheranern, Refonnierten und Unierten. Dominierend war der spannungsreiche Konflikt zwischen den Lutheranern auf der einen Seite und der Altpreußischen Union (APU) auf der anderen. 139 Ergänzt und variiert wurden diese innerkirchlichen Gegensätze durch die zum Teil sehr unterschiedlichen Erfahrungen der Evangelischen Kirchen im sogenannten Ill. Reich. In den "intakten" Landeskirchen gab es andere Interpretationen des Kirchenkampfes als in den zerstörten Kirchen, in denen nun die Bruderräte als Leitungsorgane die Bekennende Kirche repräsentierten. 140 Das Fortleben und erneute Aktivieren alter, bekenntnisbestimmter Traditionen fand später im Jahre 1948 einen organisatorischen Ausdruck in der Gründung der Vereinigten Evangelisch-lutherischen Kirche Deutschlands (VELKD), die die Mehrzahl der lutherischen Landeskirchen als Bundeskirche umschloß. Als Folge dieser Gründung entstand dann auch die Evangelische Kirche der Union (EKU) als Nachfolgebund der APU im Jahre 1951. Das Barmer Bekenntnis erwies sich als nicht tauglich, um die theologische Grundlage eines gesamtkirchlichen Zusammenschlusses zu bilden. 141
VI. Zusammenfassung Begann die Entwicklung des Protestantismus mit einer innerkirchlichen Protestbewegung, so fiihrte sie alsbald zur Kirchenspaltung. Aufgrund der machtpolitischen Verhältnisse in Deutschland gerieten die evangelischen Landeskirchen bald in Abhängigkeit der einzelnen deutschen Landesfilrsten. Theologisch wurde dieses Verhältnis nicht nur durch eine spezielle Interpretation des Lutherischen Obrigkeitsbegriffes legitimiert, sondern es erfolgte eine starke Orientierung auf den monarchischen Staat, der in der Fonnel "Thron und Altar" kulminierte. Diese Fixierung auf feudale Strukturen entfremdete die evangelischen Landeskirchen im 19. Jahrhundert zunehmend von der gesellschaftlichen Entwicklung, als Deutschland sich auf den Weg machte, ein moderner Industriestaat zu werden. Zwar handelte die Evangelische Kirche angesichts der sich immer stärker stellenden sozialen Frage karitativ, doch blieb sie überholten poli-
Vgl. Greschat 1983, S. 267. Vgl. Greschat 1983, S. 267. 141 Vgl. hierzu Henkys 1987, S. 56 f. Zur Wirkungsgeschichte von "Barmen" nach 1945 vor allem in den lutherischen Kirchen siehe: Die lutherischen Kirchen und die Bekenntnissynode von Barmen. Referate des Internationalen Symposiums auf der Reisenburg 1984, Wolf-Dieter Hauschild/Georg Kretschmar/Carsten Nicolaisen (Hg.), Göttingen 1984, S. 363 ff. Zur Gründung der EKD siehe S. 74 ff. 139
140
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C. Evangelische Kirche und Deutschland
tisch-staatlichen Vorstellungen verhaftet. Diese alten Traditionsbestände belasteten nach dem Zusammenbruch des Kaiserreiches das Verhältnis zur Weimarer Republik außerordentlich. Die im evangelischen Raum vorhandene Demokratiefremdheit und die alte Sehnsucht nach einem starken Staat machten den Protestantismus anpassungsbereit an den nationalsozialistischen Staat. Selbst die von ihrer Quantität nicht unwesentliche innerkirchliche Bewegung der Bekennenden Kirche, die sich vor allem gegen die Ansprüche des Nationalsozialismus in bezug auf das religiöse Bekenntnis richtete, gelangte nicht zu einem umfassenden neuen Staatsverständnis, obwohl gerade mit dem Barmer Bekenntnis erste grundlegende Prinzipien vorgelegt wurden. Die Kenntnis der kirchlichen Standortbestimmungen zum Staat und zur Gesellschaft ist wesentlich, um das Agieren der Kirche nach 1945 zu verstehen und gleichzeitig die Fortentwicklung der Evangelischen Kirche in politisch-gesellschaftlichen Fragen deutlicher hervortreten zu lassen. Volk und Nation sah die evangelische Theologie unter Einfluß romantischidealistischer Vorstellungen im 19. Jahrhundert als organologische Einheit und als solche vor allem im Staat repräsentiert. Daher wurde das Kaiserreich 1871 als lange herbeigesehnter deutscher Nationalstaat emphatisch begrüßt. Dies war bereits sichtbarer Ausdruck des sich seit Ende des 18. Jahrhunderts zunehmend national orientierenden Protestantismus, der dann in der Formel "Christentum und Deutschtum" kulminierte. Die neulutherische Theologie der Schöpfungsordnungen, verbunden mit einem geschichtstheologisch motivierten deutschen Sendungsbewußtsein, begünstigte dabei die Divinisierung der deutschen Nation. Das Bündnis von Thron und Altar wurde in eine ordnungstheologisch legitimierte Verbindung von Religion und Nation transponiert. Das Selbstverständnis des Protestantismus, Garant und Sprecher der deutschen Nation zu sein, setzte sich in der Weimarer Republik fort, und zwar unter dem äußerst problematischen Vorzeichen einer Demokratiefremdheit und einer weitverbreiteten Sehnsucht nach einem erneuerten und starken nationalen Staat. Von daher waren weite Teile des Protestantismus gegenüber dem Nationalsozialismus anpassungsbereit. Dies um so mehr, als die evangelische Theologie die politische Form des Staats- und Gesellschaftssystems bis dahin nicht zu ihrem Thema gemacht hatte. Erst durch die innerkirchliche Oppositionsbewegung der Bekennenden Kirche wurden auf der Grundlage der konkreten Erfahrungen im nationalsozialistischen Führerstaat erste Ansätze fiir eine kirchlich-theologische Neuorientierung in bezugauf den Problemkomplex von Volk, Nation und Staat geschaffen. Nach dem Zusammenbruch des Nationalsozialismus im Jahre 1945 gewannen die Kirchen schnell eine privilegierte Stellung im Nachkriegsdeutschland. Sie nahmen in ihrem Reden und Handeln eine Art Stellvertretung für noch nicht politisch legitimierte Repräsentanten des deutschen Volkes ein. Da sie als gesellschaftliche Großorganisationen den Nationalsozialismus relativ unbeschadet überstanden hatten, verftlgten sie nicht nur über eine intakte Organisa-
VI. Zusammenfassung
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tion und Führungspersonal, sondern konnten unmittelbar auf theologische Traditionen und historische Erfahrungen zurückgreifen. Die Reflexion und Beurteilung ihrer eigenen Denktraditionen und ihrer theologisch-ethischen Vorstellungswelt blieb ihnen ohne weiteren äußeren Druck selbst überlassen. Die auch nach der Barmer Theologischen Erklärung in der Nachkriegszeit nicht zu überwindenden konfessionellen Gegensätze im deutschen Protestantismus waren ein beredtes Zeichen dieser unterschiedlichen Traditionsbestände. Der Zusammenbruch des Jahres 1945 war filr die Evangelische Kirche kein Neuanfang am Nullpunkt. 142
142 Als Überblick zur Geschichte siehe auch: Kirche und Staat. Von der Mitte des 15. Jahrhunderts bis zur Gegenwart, Heribert Raab (Hg.), dtv-dokumente, Bd. 238/39, Berlin 1966. Mahrenholz 1969, S. 31 ff. Kupisch 1955. Huber 1979, S. 150 ff.
4 Hanke
D. Deutschlandpolitische Orientierungen 1945 bis 1949 Der Zeitraum 1945 bis 1949 umfaßt die ersten Nachkriegsjahre vom Zusammenbruch des Nationalsozialismus bis zur Gründung zweier deutscher Staaten. Im folgenden wird untersucht, welche Rolle die evangelischen Landeskirchen sowie die spätere EKD in den einzelnen Besatzungszonen unter deutschlandpolitischen Gesichtspunkten spielten. Dabei ist die Gründung der EKD als gesamtdeutscher kirchlicher Zusammenschluß nicht nur ftir den deutschen Protestantismus von Bedeutung gewesen, sondern wirkte deutschlandpolitisch über viele Jahrzehnte. Besonders beachtenswert ist, welchen Einfluß die Ökumenische Bewegung auf die EKD nahm und wie dieser das kirchliche Handeln strukturierte. Die Evangelische Kirche engagierte sich von Anfang an ftir die Einheit Deutschlands und gegen die Spaltung des deutschen Volkes. Von besonderem Interesse sind die Beweggründe, die hier eine Rolle spielten, die Forderungen, die erhoben wurden, sowie, wie sich die EKD angesichts der Gründung der Bundesrepublik Deutschland und der Deutschen Demokratischen Republik verhielt und diesen Vorgang bewertete. Dabei zeigt sich, daß sich die kirchlichen Stellungnahmen zur Einheit Deutschlands und zum OstWest-Gegensatz nur auf der Grundlage der kirchlichen Traditionsbestände zum Problemkreis Volk, Nation und Vaterland und dem Konzept der "Rechristianisierung" der deutschen Gesellschaft angemessen verstehen lassen. Abschließend wird als praktischer deutschlandpolitischer Beitrag der EKD das kirchliche Handeln in bezugauf die Vertriebenen- und Flüchtlingsfrage dargestellt.
I. Stichworte zur deutschlandpolitischen Entwicklung Die bedingungslose Kapitulation Deutschlands am 8. Mai 1945 mußte nicht zwangsläufig auf die Teilung Deutschlands hinauslaufen. Eine planmäßige Vorgehensweise der Siegermächte, die auf die Spaltung in zwei deutsche Staaten zielte, kann nicht gradlinig unterstellt werden, auch wenn auf den interalliierten Konferenzen von Teheran, Jalta und Potsdam die Frage der Aufteilung Deutschlands 143 immer wieder billigend erörtert wurde. 144 Es setzte sich aber in 143 Siehe hierzu: Weidenfeld, Werner: Jalta und die Teilung Deutschlands. Schicksalsfrage ftlr Europa, Andemach!Rhein I %9, S. 46 ff. Meissner, Boris: Jalta und die Teilung Europas; in: BzK, 2/1985; S. 85 ff. Kuppe, Johannes: Jalta; in: DA, 111985,
I. Stichworte zur deutschlandpolitischen Entwicklung
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den Planungen eher eine Tendenz zum Erhalt der deutschen Einheit durch. 145 Die Aufgabe dieser Tendenz ist jedoch im Kern auf das Auseinanderbrechen der Anti-Hitler-Koalition und den Beginn des Ost-West-Gegensatzes in den ersten Nachkriegsjahren und besonders deutlich ab 1947 zurückzufiihren. Mit der bedingungslosen Kapitulation befanden sich nicht nur - als Tatbestand in der europäischen Geschichte einmalig- alle Angehörigen der deutschen Wehrmacht in Kriegsgefangenschaft, sondern es gab auch keine deutsche Regierung mehr. Faktisch bestand Deutschland als Staat nicht mehr. Die Oberbefehlshaber der einzelnen Besatzungsarmeen übernahmen in ihren jeweiligen Besatzungszonen die politische Gewalt. Damit war die absolute Verfilgungsgewalt über Deutschland als eines der zentralen Kriegsziele der Alliierten erreicht worden. Die Forderung nach totaler Kapitulation ("unconditional surrender") war eine Konsequenz der Auffassung, daß der II. Weltkrieg ein Weltanschauungskrieg war, in dem der Nationalsozialismus die Weltfriedensordnung tödlich geflihrdete. Das deutschlandpolitische Programm der Siegermächte sah von daher nicht nur die Entwaffnung, Zerstörung der Rüstungsindustrie, umfangreiche Reparationsleistungen, Bestrafung der Kriegsverbrecher, Entfernung von Nationalsozialisten aus dem öffentlichen Leben, Anerkennung der Gebietsansprüche der Sowjetunion und Polens sowie die Vertreibung von Millionen Deutschen aus den Ostgebieten vor, sondern setzte sich auch die Umerziehung des deutschen Volkes zur Demokratie zum Ziel. Auf ihren Konferenzen in Teheran und Jalta hatten die "Großen Drei" sich auch mit der Frage der staatlichen Einheit Deutschlands beschäftigt. Grundsätzlich einigten sie sich auf die Zerstückelung in mehrere Einzelstaaten, ohne jedoch einen konkreten Teilungsplan zu entwickeln. Roosevelt favorisierte eine S. II ff. Gram/, Hermann: Zwischen Jalta und Potsdam. Zur amerikanischen Deutschlandplanung im Frühjahr 1945; in: VfZ, 1976, S. 308-323. Foschepoth, Josef Die britische Deutschlandpolitik zwischen Jalta und Potsdam; in: VfZ, 1982, S. 675-714. Hacker, Jens: Zur Interpretation des Potsdamer Abkommens; in: DA, 2/1968, S. 135 ff. Deuerlein, Ernst: Die Verabschiedung der Deutschland-Bestimmungen des Potsdamer Abkommens; in: DA, 7/1970, S. 673 ff. Hacker, Jens: Das Potsdamer Abkommen vom 2. August 1945; in: APUZ, 3111970, S. 3 ff. Faust, Fritz: Die wirtschaftliche und politische Einheit Deutschlands. Zum dreißigsten Jahrestag des Potsdamer Abkommens; in: APUZ, 31/1975, S. 3 ff. Deuerlein, Ernst: Auslegung und Vollzug des Potsdamer Abkommens; in: Potsdam und die deutsche Frage, Köln 1970, 35 ff. Fischer, Alexander: Antifaschismus und Demokratie. Zur Deutschlandplanung der UdSSR in den Jahren 1943-1945; in: Potsdam und die deutsche Frage, Köln 1970, S. 5 ff. Gram/, Hermann: Grundstein der Nachkriegsordnung: Die Potsdamer Konferenz; in: Deutschland nach dem Kriege. Teilung, Entwicklungen in der SBZ/DDR, Einheit der Nation, Gesamtdeutsches Institut (Hg.}, Bonn o. J. (1990), S. 16 ff. Wettig, Gerhard: Berlin in den interalliierten Vereinbarungen der Kriegszeit und im Potsdamer Abkommen; in: Potsdam und die deutsche Frage, Köln 1970, S. 93 ff. 144 Vgl. Gram/1989, S. 35. 145 Vgl. Gram/, Hermann: Die Alliierten und die Teilung Deutschlands. Konflikte und Entscheidungen 1941-1948, Frankfurt am Main 1985, S. 31 ff. und S. 51 ff. 4*
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D. Deutschlandpolitische Orientierungen 1945 bis 1949
Fünfteilung Deutschlands, während Churchill an eine Zweiteilung in einen norddeutsch-preußischen und einen süddeutschen Staat dachte. Stalin neigte mehr dem Plan Roosevelts zu. 146 In Jalta wurde beschlossen, das Prinzip des "dismemberment of Germany" in die EAC-Urkunde 147 aufzunehmen. Diese Bestimmung erhielt aber nie praktische Bedeutung, da sie aus dem Kapitulationsdokument gestrichen wurde, nachdem Stalin sich unmittelbar nach Kriegsende gegen eine Zerstückelung Deutschlands aussprach. 148 In den als Berliner Erklärungen 149 bekannt gewordenen Deklarationen vom 5. Juni 1945 kehrten alle alliierten Siegermächte zum Grundsatz der staatlichen Einheit zurück. Im Abschnitt 2 der zweiten Erklärung der Alliierten ("Feststellungen seitens der Regierungen [... ] über das Kontrollverfahren in Deutschland") hieß es: "Der Kontrollrat [ ... ] trägt fiir eine angemessene Einheitlichkeit des Vorgehens der einzelnen Oberbefehlshaber in ihren entsprechenden Besatzungszonen Sorge und trifft im gegenseitigen Einvernehmen Entscheidungen über alle Deutschland als Ganzes [Hervorhb. d. Verf.] betreffenden wesentlichen Fragen." 150 In dieser Formulierung schlug sich eine Deutschlandkonzeption der Siegermächte nieder, die nicht auf die Zerstückelung Deutschlands zielte. Diese Deutung wird durch die Tatsache erhärtet, daß die Aufteilung des verbliebenen deutschen Staatsgebietes in vier Besatzungszonen, die auch in einer Proklamation 151 geregelt wurde, lediglich "Besatzungszwecken" dienen sollte. So ist es auch nicht verwunderlich, daß auf der Konferenz von Potsdam vom 17. Juli bis 2. August 1945 die Teilung Deutschlands nicht mehr auf der Tagesordnung stand und man hier vom Gedanken der staatlichen Einheit ausging. So waren die politischen Grundsätze der "Mitteilung über die Dreimächtekonferenz von Berlin" vom 2. August 1945 152 auf "Deutschland als Ganzes" 153 beVgl. hierzu: Hansen 1966, S. 15/16. EAC = European Advisory Commission. Die Europäische Beratungskommission, auf der Moskauer Außenministerkonferenz 1943 gegründet, wurde mit der Aufgabe betraut, eine gemeinsame Deutschlandplanung der Alliierten zu entwickeln. Am 25. Juli 1944 verabschiedete die EAC den Urkundenentwurf über die "Bedingungslose Kapitulation Deutschlands". Zur kirchenpolitischen Arbeit der EAC siehe insbesondere: Vollnhals 1988, S. XIV tT. 148 So sagte Stalin in einer Ansprache an das sowjetische Volk vom 9. Mai 1945: "Die deutschen Truppen kapitulieren. Die Sowjetunion feiert den Sieg, wenn sie .~ich auch nicht anschickt, Deutschland zu zerstückeln oder zu vernichten." (Stalin, J.: Uber den Großen Vaterländischen Krieg der Sowjetunion, 3. Ausgabe, Moskau 1946, S. 21.) 149 Siehe hierzu: Zieger, Gott.fried: Berliner Erklärung und Potsdamer Abkommen Auswirkungen auf den Fortbestand Deutschlands; in: Europäische Aspekte der deutschen Frage, Dieter Blumenwitz (Hg.), Bonn 1985, S. 13 tT. 150 Die Erklärung ist dokumentiert in: Marienfeld 1964, S. 228 f. 151 Die Erklärung ist dokumentiert in: Marienfold 1964, S. 230. 152 Dokumentiert in: Potsdamer Abkommen 1910, S. 55 - 73. Ihre Ergebnisse faßte die Konferenz von Potsdam in einem Protokoll ("Protocol of Proceedings) zusammen. Eine Kurzfassung davon wurde in einem Kommunique, das in der Regel als "Potsdamer 146 147
I. Stichworte zur deutschlandpolitischen Entwicklung
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zogen, und es wurde festgelegt, daß "die Behandlung der deutschen Bevölkerung in ganz Deutschland gleich sein" 154 solle, soweit dies praktisch durchsetzbar sei. Die Siegermächte des zweiten Weltkrieges trafen auf der Potsdamer Konferenz weitreichende Vereinbarungen über die wirtschaftliche Zukunft Deutschlands. Eine der zentralen Absprachen sah vor, Deutschland während der Besatzungszeit als "wirtschaftliche Einheit zu betrachten." 155 Die Behandlung als einheitliches Wirtschaftsgebiet sollte unter anderem die Vorbedingung zur späteren staatlichen Einheit darstellen. Die Siegermächte waren aber von unterschiedlichen Interessen geleitet, die sich zwar formal in den Bestimmungen der Drei-Mächte-Konferenz trafen, die aber in der praktischen Durchfiihrung zur unterschiedlichen Behandlung der Besatzungszonen fiihrte. Diese Entwicklung wurde durch die Konstruktion des Systems der Kontrolle und Verwaltung Deutschlands während der Besatzungszeit durch die Siegermächte forciert, denn dieses System war auf Interessengleichheit ausgelegt und nicht in der Lage, die Gleichbehandlung der Besatzungszonen bei Interessenungleichheit zu garantieren. Dieser Mangel und der global entstehende Ost-West-Gegensatz führten zum Zerfall der deutschen Wirtschaftseinheit als Vorbote der späteren staatlichen Teilung. Trotz des "weitgehend destruktiven Charakters" 156 der verschiedenen Regelungen der wirtschaftlichen Grundsätze 157 ist das Bemühen erAbkommen" tituliert wird, veröffentlicht. Die im Amtsblatt des Kontrollrates veröffentlichte Übersetzung trägt den Titel "Mitteilung über die Drei-Mächte-Konferenz von Berlin". Der Begriff "Potsdamer Abkommen" (PA) bezieht sich im folgenden auf diese Mitteilung. 153 PA III. A. I. 154 PA 111. A. 2. 155 Potsdamer Abkommen, 111. B 14. In der Übersetzung der sowjetischen "Mitteilung über die Berliner Konferenz der drei Mächte", dokumentiert in: Fischer I 968, S. 396, lautet Punkt I4: "Während der Besatzungszeit ist Deutschland als eine wirtschaftliche Einheit zu betrachten. 3 [...]" Bei Marienfold 1964, S. 278, lautet die entsprechende Passage: "Während der Dauer der Besetzung soll ganz Deutschland als eine wirtschaftliche Einheit behandelt werden." Bei Deuerlein 1970a, S. 186, der die amerikanische Fassung des Protokolls wiedergibt, heißt es: "Während der Besatzungszeit soll Deutschland als eine einzige wirtschaftliche Einheit behandelt werden." 156 Marienfeld 1964, S. 279. 157 In Kapitel III Abschnitt B des Potsdamer Abkommens wurden die wirtschaftlichen Grundsätze der Alliierten festgelegt. Unter Punkt 14 wurde festgeschrieben, daß Deutschland während der Besatzungszeit "als eine wirtschaftliche Einheit zu betrachten" sei. Um dieses Ziel zu verwirklichen, sollten gemeinsame Richtlinien erstellt werden hinsichtlich: a) der Erzeugung und der Verteilung der Produkte der Bergbau- und der verarbeitenden Industrie; b) der Landwirtschaft, Forstwirtschaft und der Fischerei; c) der Löhne, Preise und der Rationierung; d) des Import- und Exportprogramms filr Deutschland als Ganzes;
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kennbar, die Linie der politischen Grundsätze fortzusetzen und Deutschland als einheitliches Wirtschaftsgebiet zu behandeln. Es darf aber nicht übersehen werden, daß die Verwirklichung dieser Bestimmungen der Verantwortung des Kontrollrates unterlag, dessen Funktionsflihigkeit von der Interessengleichheit der Siegermächte abhing. Ferner waren die gemeinsamen Richtlinien derart gefaßt, daß sie einen breiten Interpretationsspielraum zuließen und unterschiedliche Durchführungen rechtfertigten. 158 Neben diesen Problemen und angelegten Bruchstellen kam hinzu, daß das Potsdamer Abkommen in einer wichtigen Frage das Prinzip der wirtschaftlichen Einheit durchbrach, nämlich in der Frage der Reparationen. Zum einen bezog sich die Wirtschaftseinheit Deutschlands nicht auf die Gebiete jenseits der Oder-Neiße-Linie, die aus dem Besatzungsstatut herausgenommen wurden. 159 Zum anderen einigte man sich darauf, das Reparationsproblem auf zonaler Basis zu regeln. Die UdSSR sollte ihre Reparationsansprüche aus der sowjetisch besetzten Zone befriedigen. Die USA, Großbritannien und andere berechtigte Länder sollten ihre Ansprüche aus den "westlichen Zonen" 160 befriedigen. Darüber hinaus sollten auch Reparationsleistungen aus den Westzonen an die UdSSR gehen, zum Teil auf Gegenleistungen (beispielsweise Nahrungsmittellieferungen) beruhend. Obwohl hier nicht an "separate Zonenwirtschaftsordnungen" 161 gedacht wurde, der Grundsatz der wirtschaftlichen Einheit nicht aufgehoben wurde, erscheint die wirtschaftliche und politische Spaltung vorgezeichnet, da hier zwei Reparationszonen festgelegt wurden und das "ausgeglichene Wirtschaftsleben in ganz Deutschland" 162 abhängig war von der Interessengleichheit der Alliierten im Kontrollrat. Dem Artikel 14 des Potsdamer Abkommens ist "stets große Beachtung geschenkt worden. Er gilt als eine Schlüsselbestimmung, deren Kenntnis zum Verständnis der politischen und wirtschaftlichen Grundsätze unerläßlich ist." 163 Die politischen und wirtschaftlichen Grundsätze beruhen auf einem Memorandum ("Economic Unit"), das der amerikanische Präsident Truman in der ersten
e) der Währung und des Bankwesens, der zentralen Besteuerung und der Zölle; f) der Reparationen und der Beseitigung des militärischen Industriepotentials; g) des Transport- und Verkehrswesens. Bei der DurchfUhrung sollte gegebenenfalls auf örtliche Gegebenheiten Rücksicht genommen werden. 158 Vgl. Marienfeld 1964, S. 279. 159 Vgl. PA VI. und IX. 160 PA II. 3. 161 Deuerlein 1970b, S. 117. 162 PA 111. B. 15. c). 163 Deuerlein 1970b, S. 116- 117. Der politische Berater des amerikanischen Oberbefehlshaber, Robert Murphy, vertrat in seinen 1964 veröffentlichten Erinnerungen die Auffassung, daß die Vereinbarung der wirtschaftlichen Einheit die wichtigste Passage des Potsdamer Abkommens war. Vgl. Deuerlein 1970b, S. 117/118.
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Plenarsitzung der Konferenz von Potsdam einbrachte. 164 Das amerikanische Gutachten wurde von den Regierungschefs zunächst an die Außenminister weitergegeben, die einen Ausschuß fUr Wirtschafts- und Reparationsfragen einsetzten. Dieser hatte die Aufgabe, auf der Grundlage des Memorandums einen Vorschlag für die wirtschaftlichen Grundsätze und Reparationsfragen zu entwickeln. Im Verlauf der Konferenz wurden zahlreiche Änderungen am Memorandum vorgenommen. Deramerikanische Vorschlag orientierte sich bereits an der Einheit Deutschlands, was wohl darin begründet lag, daß nach dem Präsidentenwechsel in den USA das Außenministerium und das Kriegsministerium sowie die Vereinigten Stabschefs ihren Konzeptionen gegenüber dem außenpolitisch noch unerfahrenen Präsidenten Truman mehr Gehör verschaffen konnten. Die Konzeptionen dieser Gruppe waren im Gegensatz zu anderen amerikanischen Überlegungen auf die Einheit Deutschlands gerichtet. 165 In den "Richtlinien filr die amerikanische Delegation" bei der Potsdamer Konferenz hieß es: "In der amerikanischen Besatzungszone herrscht Lebensmittelknappheit und fast völliger Mangel an Kohle und anderen wichtigen Industriematerialien. Ihre Verwaltung als geschlossene wirtschaftliche Einheit wäre völlig undurchführbar. Die britische Zone hat noch größeren Lebensmittelmangel, [...] Die russische Zone besitzt einen Überschuß an Lebensmitteln [... ]." 166 Man befürchtete ferner, daß eine Zergliederung Deutschlands sich schädlich für die wirtschaftliche Sanierung Europas überhaupt auswirken würde. Es wurde gar ein "wirtschaftlicher Rückfall" Europas befürchtet. 167 Aber nicht nur wirtschaftliche Fragen spielten in den amerikanischen Überlegungen eine Rolle. So wurde in einer Denkschrift des Gemeinsamen Beraterausschusses der Vereinigten Stabschefs vom Juni 1945 die Auffassung vertreten, daß eine Aufteilung Deutschlands nicht die Vernichtung des aggressiven deutschen Nationalismus bewirken würde. Darüber hinaus "würde die Errichtung mehrerer kleiner Staaten in Mitteleuropa dazu angetan sein, einen noch größeren Raum filr Rivalitäten und politische Ränke unter den europäischen Mächten zu schaffen" 168• Neben das Prinzip der Wirtschaftseinheit trat also sehr deutlich auch die Forderung nach dem Erhalt der Staatlichen-Einheit. Nach den heutigen Erkenntnissen waren aber diese Positionen nicht entwickelt worden, um den sowjetischen Einfluß in Europa einzugrenzen oder um mit der 164 Das Memorandum ist auszugsweise dokumentiert in: Marienfold 1964, S. 264266 und S. 272-273. Vgl. auch Deuerlein 1970a, S. 95 ff. 165 Vgl. Marienfeld 1964, S. 265 f. Über den Streit zwischen den Anhängern der Einheit Deutschlands und den Befürwortern der Zerstückelung in der amerikanischen Administration vgl. Hansen 1966, S. 15 ff. 166 Zitiert nach: Deuerlein 1970a, S. 89. 167 Diese Gedankengänge finden sich u.a. in der Denkschrift des Gemeinsamen Beraterausschusses. Vgl. Deuerlein 1970a, S. 92 ff. 168 Zitiert nach: Deuerlein 1970a, S. 90.
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Sowjetunion in die Auseinandersetzung um Interessensphären einzutreten 169, sondern vielmehr war der amerikanischen Administration daran gelegen, das Ziel einer gemeinsam mit der UdSSR zu verwirklichenden Friedenssicherung zu erreichen. 170 Anders hingegen verhielt sich die britische Regierung unter Churchill. Churchill war im Gegensatz zu den Vereinigten Staaten sehr früh bereit, klare Abmachungen über Interessenssphären mit der Sowjetunion zu treffen, da er die UdSSR als Bedrohung seiner kontinentalen Pläne empfand. "Hatte zunächst die Ausdehnung des nationalsozialistischen Deutschlands das nach britischen Vorstellungen notwendige Gleichgewicht in Europa völlig zerstört, so wurde mit dem Zusammenbruch des Dritten Reiches das Machtvakuum in Mitteleuropa und der damit filr Churchill drohende 'Einfall der Kommunisten' aus der Sowjetunion zur Gefahr der britischen Balancepolitik." 171 Ziel der britischen Politik war es, den Einfluß der Sowjetunion zurückzudrängen. Dies bezog sich vor allem auf Deutschland und insbesondere auf Polen, dessentwegen Großbritannien in den Krieg eingetreten war. Daher waren das Prinzip der staatlichen und zunächst wirtschaftlichen Einheit Deutschlands geeignete Mittel dieser Zielsetzung. Frankreich war nicht an der Potsdamer Konferenz der Siegermächte beteiligt worden, wurde aber aufgefordert, dem Abkommen nachträglich beizutreten. Die französische Regierung bezog unmittelbar nach der Konferenz in sechs Noten vom 7. August 1945 zu dem Potsdamer Abkommen Stellung und machte mehrere Vorbehalte geltend. Der Inhalt dieser Noten 172 spiegelte die französische deutschlandpolitische Konzeption wider, die maßgeblich durch de Gaulies geprägt wurde. Es wurde eine staatenbundähnliche Aufteilung des Deutschen Reiches unter weitgehenden Gebietsverlusten im Westen favorisiert173 mit dem Ziel einer ökonomischen und machtpolitischen Schwächung Deutschlands und einer endgültigen Ausschaltung der deutschen Bedrohung gegenüber Frankreich. 174 Ferner wollte man sich die Wirtschaft Deutschlands in einem nicht unerheblichen Maße filr den Aufbau des eigenen Landes nutzbar machen. 169 Vgl. Czempiel, Ernst-Otto/ Schweitzer, Carl-Christoph: Weltpolitik der USA nach 1945. Einführung und Dokumente, Bonn 1984, S. 26. 170 Vgl. ebenda, S. 23. 171 Antoni 1985, S. 27. 172 Vgl. Faust 1959, S. 61 ff. 173 "Diesmal geht es darum, uns für immer die elementare Sicherheit zu verschaffen, die die Natur selbst an die Ufer des Rheins verlegt hat", sagte Charles de Gaulies im Herbst 1944 als Chef der Provisorischen Französischen Regierung. Zitiert nach: Weisenfeld, Ernst: Welches Deutschland soll es sein? Frankreich und die deutsche Einheit seit 1945, München 1986, S. 13. 174 Vgl. Antoni 1985, S. 29 f.
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Stalins deutschlandpolitische Konzeption auf der Potsdamer Konferenz wird in der westlichen Literatur überwiegend so eingeschätzt, daß er versuchte, "die kommunistische Expansion auf ganz Deutschland ausdehnen zu können, er behielt aber neben dieser "maximalen Variante" auch die "minimale Variante" im Auge, nämlich den Ausbau der SBZ zu einer sozialistischen Basis, von der heraus im geeigneten Moment der politische Vorstoß nach Westdeutschland unternommen werden konnte." 175 Diese These wird durch Stalin selbst gestützt, der wenige Wochen vor Kriegsende zu einer Delegation jugoslawischer Kommunisten sagte: "Dieser Krieg ist nicht wie in der Vergangenheit; wer immer ein Gebiet besetzt, erlegt ihm auch sein eigenes gesellschaftliches System auf. Jeder führt sein eigenes System ein, so weit seine Armee vordringen kann. Es kann gar nicht anders sein." 176 Aufgrund dieser sowjetischen Haltung ist es verständlich, warum die UdSSR die staatliche Einheit Deutschlands befürwortete und insbesondere dem wirtschaftlichen Grundsatz der wirtschaftlichen Einheit zustimmte, andererseits aber den Versuch unternahm, eben diesen Grundsatz des einheitlichen Wirtschaftsgebietes durch den Zusatz "gemäß der eingehenden vom Kontrollrat zu erlassenden Anweisungen" einzuschränken. Hierdurch sollte die Durchführung im Einzelfall von der Entscheidung des Kontrollrates und damit von der sowjetischen Zustimmung abhängig gemacht werden. 177 Die Sowjetunion konnte zwar zum Verzicht dieses Zusatzes im Verlauf der Verhandlungen bewegt werden, doch wurde später das Prinzip der Wirtschaftseinheit auf Druck Stalins in der Reparationsfrage durchbrochen. Die oben beschriebenen Interessenlagen der Siegermächte machen deutlich, daß es sehr verschiedene deutschlandpolitische Konzepte gab, die auch unterschiedlich politisch motiviert waren. Daher ist es nicht verwunderlich, daß die Arbeit im Kontrollrat über kurz oder lang zu schwerwiegenden Konflikten führen mußte. Diese Konflikte konnten aber auf friedlichem Wege nur "gelöst" werden, wenn die für "Deutschland als Ganzes" verantwortlichen Alliierten sich auf die Verwaltung und Gestaltung ihrer Besatzungszonen zurückzogen. Diese Lage mußte sich zuerst auf dem wirtschaftlichen Gebiet auswirken, da hier die tagespolitischen Probleme lagen. Die wirtschaftliche Einheit Deutschlands konnte nur so lange bestehen, wie keine Interessengegensätze aufbrachen. Daß diese aufbrechen würden, war zahlreichen Beobachtern der Konferenz von Potsdam klar. So äußerte sich der Konferenzbeobachter Georg F. Kennan vernichtend über das Potsdamer Abkommen: "Die Idee, Deutschland gemeinsam mit den Russen regieren zu wollen, ist ein Wahn." 178 Die Grund175 Hart/ 1967, S. 177. Andere Autoren interpretieren die sowjetische Strategie auf der Grundlage der hohen Sicherheitsinteressen der UdSSR. Vgl. z.B. Antoni 1985, S. 23. 176 Zitiert nach: Deuerlein 1970b, S. 119. 177 Vgl. Marienfeld 1964, S. 274 f. 178 Zitiert nach: Deuer/ein 1970b, S. 120.
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D. Deutschlandpolitische Orientierungen 1945 bis 1949
züge des künftigen Staatsaufbaus Deutschlands stellten sich die Besatzungsmächte unterschiedlich vor. Frankreich wünschte aufgrund seiner Sicherheitsinteressen einen losen Staatenbund. Die britische Militärregierung orientierte sich bei ihren Überlegungen an den Weimarer Staatsaufbau, obwohl es zwischenzeitlich auch die Überlegung gab, die britisch besetzte Zone nach englischem Vorbild in Grafschaften unter einheitlicher Verwaltung aufzulösen. Die USA betrieben konsequent die Bildung eines förderativen Staatswesens nach eigenem Vorbild. In ihrer Zone schuf sie drei Länder, deren gemeinsame Angelegenheiten von einem Länderrat wahrgenommen wurden. In der SBZ wurden von der Sowjetunion zielstrebig fünf Länder gebildet, die schon am 9. Juli 1945 vorläufige Regierungen erhielten. Im Februar 1947 wurde mit dem Aufbau einer gemeinsamen zentralen Verwaltung begonnen. 179 Die unterschiedlichen Konzeptionen und Interessen führten zu der Unfähigkeit der Siegermächte, sich über eine gemeinsame Deutschlandpolitik zu verständigen. Äußeres Zeichen dafür war das Scheitern der zweiten Sitzungsperiode der 2. Ratstagung der Pariser Außenministerkonferenz am 12. Juli 1946. Während die USA wegen des drohenden Wirtschaftschaos die Vereinigung der vier Besatzungszonen vorgeschlagen hatte und für die Vorbereitung eines Friedensvertrages mit Deutschland plädierten, forderte die UdSSR Reparationen in Höhe von 10 Mrd. US-Dollar und die Teilnahme an der internationalen Kontrolle des Ruhrgebietes. Frankreich lehnte eine Zentralisierung der deutschen Verwaltung ab. 180 Neben politischen Überlegungen - Friedensvertrag, Organisation einer zentralen Verwaltung- beherrschten also auch wirtschaftliche Probleme -Verwirklichung der Wirtschaftseinheit, Reparationen- diese entscheidende Außenministerkonferenz. Die Frage, ob nun die wirtschaftliche Auseinanderentwicklung zur politischen Spaltung oder umgekehrt geführt hat, ist jedoch kaum zu beantworten. 181 Aber es ist festzuhalten, daß die wirtschaftlichen Konflikte und Probleme im Vordergrund der ersten Jahre der alliierten Nachkriegspolitik in Deutschland standen und daß die "separate Entwicklung im östlichen und im westlichen Besatzungsgebiet [... ] nach der reparationspolitischen Teilung Deutschlands kaum noch aufzuhalten" 182 war. Im Potsdamer Abkommen waren die Grundsätze der alliierten Wirtschaftspolitik festgelegt worden. Eine Konkretisierung erfuhren diese allgemeinen Vereinbarungen im Industrieplan (Plan für Reparationen und den Nachkriegsstand der deutschen Wirtschaft) des Kontrollrates vom 28. März 1946. Dieser 179 Zu den verschiedenen Konzeptionen vgl. Kistler, Helmut: Die Bundesrepublik Deutschland. Vorgeschichte und Geschichte 1945- 1983, Bonn 1985, S. 38 f. 180 Vgl. Rexin 1978, S. 30 f. 181 Vgl. Leptin, Gerd: Die deutsche Wirtschaft nach 1945. Ein Ost- West-Vergleich, Opladen 1970; 3. Aufl., 1980, S. 9. 182 Gram/1989, S. 43.
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Plan schrieb die Entwicklung der Produktionskapazitäten in Deutschland bis 1949 fest. Er ging davon aus, "daß Deutschland als ein einziges wirtschaftliches Ganzes betrachtet werden wird." 183 Eine Reihe von Industriezweigen wurden als Kriegsindustrie verboten. Für die verbleibenden Industrien wurden zum Teil mengen- oder wertmäßige Beschränkungen verfUgt. Das Ausmaß der bis 1948 vorgesehenen Demontagen richtete sich nach der Differenz zwischen tatsächlicher und geplanter Produktionskapazität. Der Industrieplan sollte als Grundlage der Reparationspolitik dienen. 184 Doch gerade bei den Reparationen ergaben sich Unstimmigkeiten bei der Planausfiihrung. Die Sowjetunion forderte eine Erhöhung der Gesamtkapazitäten, um auch Reparationsleistungen aus der laufenden Produktion zu ermöglichen. Die Westmächte stimmten dieser Forderung nicht zu, da das Industriepotential in der SBZ schon unter den Planansatz durch starke Demontagen gefallen war. Die Lage verschärfte sich, als am 25. Mai 1946 die amerikanische Militärregierung die Reparationslieferungen aus ihrer Zone an die UdSSR einstellte und zur Begründung ausfiihrte, daß die Sowjetunion ihren in Potsdam vereinbarten Gegenleistungen nicht nachgekommen sei und daher eine einheitliche Behandlung des deutschen Wirtschaftsgebietes nicht mehr gewährleistet sei. "Das offenkundig gewordene Scheitern des ersten Industrieplans im Sommer 1946 darf man somit als das Ende einer gemeinsamen Politik der drei Siegerstaaten gegenüber Deutschland betrachten." 185 Dies um so mehr als die Pariser Außenministerkonferenz keine Lösung der entstandenen Konflikte brachte. Dieses Scheitern filhrte dazu, daß sich die Wirtschaftspolitik und in Folge davon die Sozial- und Gesellschaftspolitik in den Westzonen und der SBZ noch rascher auseinander entwickelte. Am 20. Juli 1946 erklärte der amerikanische Militärgouverneur vor dem Kontrollrat: "Die Regierung der Vereinigten Staaten ist der Auffassung, daß keine Zone in Deutschland in der Lage ist, sich selbst zu erhalten. Die Behandlung von zwei oder mehr Zonen als wirtschaftliche Einheit würde die Lage in den jeweiligen Besatzungszonen verbessern. [... ] Die Vereinigten Staaten beabsichtigen nicht, durch diesen Vorschlag Deutschland zu teilen. Es ist vielmehr ihr Ziel, die Behandlung Deutschlands als wirtschaftliche Einheit zu beschleunigen."186 Nur die britische Regierung ließ erklären, daß sie ihre Militärregierung ermächtigt habe, die Vereinigung ihres Gebietes mit der amerikanischen Zone in die Wege zu leiten. Am I. Januar 1947 wurde aufgrundeines Abkommens vom 2. Dezember 1946 die britische und amerikanische Zone als "Bizone" zu einem Vereinigten Wirtschaftsgebiet zusammengeschlossen. Die endgültige wirtschaftliche Spaltung deutete sich an, auch wenn die "amerikanische 183 Der Alliierte Kontrollrat in Deutschland, Sammelheft 2, Berlin 1946, S. 58. 184 Zum Industrieplan vgl. Böhme 1969, S. 36 f. 185 Böhme 1969, S. 37. 186 Zitiert aus: Die deutsche Frage 1982, S. 79.
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D. Deutschlandpolitische Orientierungen 1945 bis 1949
Initiative zur Zonenfusion im Sommer 1946 [... ] aber noch keine Absage an eine gesamtdeutsche Lösung [war]. Politische Intentionen fur einen Weststaat gab es zu dieser Zeit weder bei General Clay noch bei Minister Bymes, auch wenn deren Hoffnung auf Kompromisse mit der Sowjetunion nahe dem Nullpunkt angelangt war." 187 Doch im Herbst des gleichen Jahres hatte sich der deutschlandpolitische Standpunkt der USA geändert. Außenminister Bymes erklärte am 6. September 1946 in Stuttgart: "Die Vereinigten Staaten sind der festen Überzeugung, daß Deutschland als Wirtschaftseinheit verwaltet werden muß [... ] Wir treten fur die wirtschaftliche Vereinigung Deutschlands ein. Wenn eine völlige Vereinigung nicht erreicht werden kann, werden wir alles tun, was in unseren Kräften steht, um eine größtmögliche Vereinigung zu sichem." 188 Hier wurde der amerikanische Wille betont, sich notfalls auch von den Vereinbarungen der Potsdamer Konferenz zu lösen und die (wirtschaftliche) Einheit Deutschlands in den Hintergrund treten zu lassen. Begünstigt wurde diese Entwicklung dadurch, daß die USA ein neues Europa-Konzepe 89 entwickelten, welches durch die Rede des amerikanischen Außenministers Marshall am 5. Juni 1947 in der Harvard University offiziell eingeleitet wurde. 190 Es sah ein amerikanisches Hilfsprogramm fur die europäischen Staaten vor und bedeutete praktisch auch das Einbringen der deutschen Wirtschaftskraft fur den Aufbau Europas. Diesem Konzept stand aber unter anderem der Industrieplan aus dem Jahre 1946 entgegen. Daher wurde ein neuer Industrieplan auf der Grundlage der Direktive der Joint Chiefs of StatT (JCS) vom Juli 1947 entwickelt, der am 26. August 1947 fur das Vereinigte Wirtschaftsgebiet verkündet wurde. Obwohl die prinzipiellen Ziele des alten Planes erhalten blieben, wurde damit faktisch eine eigenständige westliche Wirtschaftspolitik, insbesondere in der Frage der Reparationen und Demontagen, eingeleitet. 191 Fortgesetzt wurde diese Entwicklung durch den anlaufenden Marshall-Plan, der am 22. September 1947 die Zustimmung der westeuropäischen Länder erhalten hatte. Den drei Westzonen 192 und
187 Benz. Wolfgang: Von der Besatzungsherrschaft zur Bundesrepublik. Stationen einer Staatsgründung 1946 - 1949, Frankfurt am Main 1984, S. 40. 188 Zitiert aus: Die deutsche Frage 1982, S. 77. 189 Vgl. Böhme 1969, S. 46. 190 Die Rede ist auszugsweise dokumentiert in: Steininger 1983, Bd. 1, S. 241 f. 19 1 Vgl. Böhme 1969, S. 46. 192 Die französische Deutschlandpolitik in ihrer Besatzungszone unterschied sich erheblich von der der USA und Großbritannien. Erhebliche Demontagen und die Vorbehalte gegen eine deutsche Zentralverwaltung waren Grundlinien der französischen Politik bis 1948. Mit der Marshallplan-Hilfe geriet Frankreich jedoch zunehmend ab 1947/48 unter politischen und wirtschaftlichen Druck und in Abhängigkeit zur USA, so daß sich die französische Regierung zu einem Kurswechsel ihrer Deutschlandpolitik gezwungen sah. Den Abschluß dieser Neuorientierung bildete der Zusammenschluß der
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später der Bundesrepublik Deutschland flossen vom 3. April 1948 bis zum 31. Dezember 1952 insgesamt 1585 Mio. US-Dollar, das waren über 10% der gesamten ERP-Hilfe der USA, zu. 193 Die Stabilisierung der westdeutschen Wirtschaft und die endgültige Spaltung des deutschen Wirtschaftsgebietes erfolgte am 20. Juni 1948 mit der Währungsneuordnung, die in ihren Grundzügen von den Amerikanern entworfen worden war 194 und der die Sowjetunion fiir ihre Besatzungszone nicht zustimmte. Damit war fiir die sowjetische Seite der Vorwand geliefert, über (West-) Berlin eine wirtschaftliche Blockade zu verhängen, die im Kern jedoch darauf zielte, das ganze Berlin als Hauptstadt in die SBZ zu integrieren. 195 Dem vorausgegangen waren die Kontroversen zwischen der Sowjetunion und den Westmächten auf der Londoner Außenministerkonferenz, die vom 25. November bis zum 15. Dezember 1947 tagte. Man konnte sich erwartungsgemäß auf keine einheitliche Deutschlandpolitik verständigen. Dies lag unter anderem am englischen Standpunkt. In einem streng geheimen Memorandum des britischen Außenministers Ernest Bevin vom 22. November 1947 hieß es: "1. 'Wirtschaftseinheit' kann überhaupt nur sinnvoll sein, wenn politische Garantien hinzukommen [... ] 10. [... ] Auf jeden Fall ist die wirtschaftliche Spaltung Deutschlands politisch weniger gellihrlieh als eine deutsche Einheit, die es den Russen erlaubt, nicht nur auf die Wirtschaft, sondern auch auf die Verwaltung und Politik Einfluß zu nehmen und sie zu untergraben." 196 Dieses Dokument der britischen Politik der Eindämmung 197 des sowjetischen Einflusses hat sein amerikanisches Pendant in der Rede des Präsidenten Truman vor dem Kongreß am 12. März 1947 (Truman-Doktrin): "In einer Anzahl von Ländern sind den Völkern kürzlich gegen ihren Willen totalitäre Regimes aufgezwungen worden. [...] Ich bin der Ansicht, daß es die Politik der Vereinigten Staaten sein muß, die freien Völker zu unterstützen, die sich der Unterwerfung durch bewaffnete Minderheiten oder durch Druck von außen widersetzen. [... ] Ich bin der Ansicht, daß unsere Hilfe in erster Linie in Form wirtschaftlicher und fmanzieller Unterstützung gegeben werden sollte, die fiir eine wirtschaftliche Stabilität und geordnete politische Vorgänge wesentlich ist." 198
französischen Zone mit der Bizone zur "Trizone" am I. April 1949. Vgl. Kleßmann 1984, s. 104 f. 193 Vgl. Die deutsche Frage 1982, S. 140 f. 194 Zur wirtschaftlichen Funktion der Währungsrefonn siehe: Böhme 1969, S. 47 f. 195 Vgl. Gram/1989, S. 45. 196 Zitiert aus: Steininger 1983, Bd. I, S. 242 f. 197 Siehe zur britischen Politik der Eindämmung: Kleßmann 1984, S. 23 ff. 198 Zitiert aus: Steininger 1983, Bd. I, S. 239.
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D. Deutschlandpolitische Orientierungen 1945 bis 1949
Ab dem 23. Februar 1948 tagte die in London zusammengetretene SechsMächte-Konferenz199, die sich am 6. März am Ende ihrer ersten Session darauf einigte, die drei Westzonen voll in das europäische Autbau~rogramm einzubeziehen und einen förderativen Staat entstehen zu lassen. 2 Die Sowjetunion protestierte entschieden gegen diese Beschlüsse. Einen letzten Versuch, die Pläne der Westmächte zu verhindern, unternahm die UdSSR, in dem sie am 20. März 1948 den alliierten Kontrollrat verließ und die Vier-Mächte-Administration in Deutschland fiir beendet erklärte. 201 Die wirtschaftliche und politische Spaltung war vollzogen. Das Ziel der wirtschaftlichen und staatlichen Einheit Deutschlands, in Potsdam festgeschrieben und der Verantwortung des Kontrollrates übergeben, war endgültig zerbrochen. Rückblickend läßt sich festhalten, daß der Westen anilinglich kein einheitliches Konzept fiir Deutschland hatte. "Ausgangspunkt der westlichen Maßnahmen [... ] [war] die Erkenntnis, daß die eigenen Vorstellungen einer Kooperation aller Siegermächte nicht mehr zutreffend waren. Sie [...] [bildeten] insofern zunächst lediglich einen Reflex auf die sowjetischen Handlungen, ohne daß bereits eigene Zielalternativen erkennbar gewesen wären. Es ist dabei eben auch zu bedenken, daß gemeinsame Grundlage einer Neuorientierung im Westen nur eine Abwehrstellung gegenüber dem Osten war. "202 Die Beschlüsse der Konferenz von Potsdam kamen den sowjetischen Auffassungen über den gegenüber Deutschland einzuschlagenden Weg entgegen. Eine Einschätzung der sowjetischen Politik fiihrt allerdings zu der Erkenntnis, daß die "Absicht, die politischen und gesellschaftlichen Verhältnisse in ganz Deutschland grundlegend umzugestalten, [... ] in der sowjetischen Deutschlandkonzeption zur Zeit der Konferenz von Jalta und auch noch in den anschließenden Monaten nur eine ergänzende Rolle gespielt zu haben" 203 scheint. Im Vordergrund standen die Überlegungen zur Deindustrialisierung und Demontage Deutschlands aus Sicherheitsgründen und Reparationszwecken. Um ihre, auch von den Westmächten anerkannten, Reparationsbedürfnisse zu befriedigen, war der UdSSR an der wirtschaftlichen Einheit Deutschlands gelegen. Konnte sie so zum Beispiel hoffen, an der alliierten Kontrolle des Ruhrgebietes beteiligt zu werden. Doch gerade die Bemühungen der Sowjetunion, ihre Reparationsansprüche umfassend zu verwirklichen, fiihrten zu Vorbehalten bei den Westmächten und zum späteren Auseinanderbrechen der gemeinsamen alliierten Deutschlandpolitik. Natürlich filhrte die politische Umgestaltung in der SBZ und in den osteuropäischen Ländern, die die Sowjetunion seit Anfang 1946 verstärkt betrieb, zu Teilnehmer waren die drei Westtnächte und die Benelux-Staaten. V gl. Rexin 1978, S. 42 f. 201 Vgl. Rexin 1978, S. 43. 202 Böhme 1969, S. 44. 203 Tyre/1 1985, S. 37. 199
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II. Das Verhältnis der Evangelischen Kirche
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Mißtrauen bei den Amerikanern und den Briten. So reifte bei ihnen die Auffassung, daß eine gemeinsame Deutschlandkonzeption mit der UdSSR nicht mehr umzusetzen sei. Diese Kontroversen brachen erstmalig mit aller Deutlichkeit auf der Pariser Außenministerkonferenz auf- zehn Monate nach der Konferenz von Potsdam - und fiihrten vier Jahre nach Kriegsende zur Gründung zweier Staaten in Deutschland.
II. Das Verhältnis der Evangelischen Kirche zu den Siegermächten und zur Ökumene Für die kirchliche Organisation der Evangelischen Kirche in Deutschland gab es keine "Stunde Null". 204 Zum einen war die kirchliche Organisation auch nach dem Zusammenbruch des Nationalsozialismus erhalten und intakt geblieben. Zum anderen gab es bei den Siegermächten schon während des Krieges detaillierte Überlegungen, wie mit den deutschen Kirchen in der Zeit der Besetzung nach der totalen Kapitulation umzugehen sei. Die durchaus unterschiedlichen Konzeptionen und die jeweilige praktische Kirchenpolitik in den Besatzungszonen fiihrten in den Jahren 1945 bis 1949 zu bedeutenden Konsequenzen hinsichtlich der Stellung der Kirchen in der deutschen Gesellschaft und in der Ökumenischen Bewegung. Es gibt jedoch einen weiteren bedeutenden Aspekt fiir das Verhältnis zwischen Evangelischer Kirche und dem deutschen Volk. Die Siegermächte hatten auf der Potsdamer Konferenz die Demokratisierung, Entnazifizierung und Entmilitarisierung Deutschlands beschlossen. Dem lag die Grundprämisse in Anbetracht der Exzesse des Nationalsozialismus' zugrunde, daß das deutsche Volk "umerzogen" werden müsse. Die Frage der "Reeducation"205 stieß jedoch bei den Kirchen nicht nur auf Ablehnung, sondern mußte gleichzeitig mit ihren Vorstellungen und ihrem selbsterhobenen Anspruch einer Rechristianisierung des deutschen Volkes kollidieren. 206
1. Deutschlandpolitische Wirkungsmöglichkeiten der Evangelischen Kirche in den Besatzungszonen Die amerikanischen Planungen fiir den Umgang mit den Kirchen im besetzten Deutschland waren unzureichend. Die eigentliche Besatzungspolitik mit ih-
Vgl. Boyens 1979, S. 30. Kleßmann 1984, S. 59 ff. Siehe hierzu: Kleßmann 1984, S. 92 ff. 206 Vgl. Spotts 1976, S. 55 f. 204 205
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D. Deutschlandpolitische Orientierungen 1945 bis 1949
ren kirchenpolitischen Zielvorstellungen war nicht frei von Widersprüchen. 207 Der Leitgedanke der kirchenpolitischen Planungen während der Kriegszeit war die möglichst weitgehende Restauration der Verhältnisse der Weimarer Republik.208 Darüber hinaus sollte die Entscheidung über das Verhältnis von Staat und Kirche dem deutschen Volk überlassen bleiben. Jedoch gab es auf der amerikanischen Seite gegenüber dem deutschen Protestantismus erhebliche Vorbehalte hinsichtlich der angestrebten Demokratisierung Deutschlands, da die nationale und teilweise nationalistische Tradition der evangelischen Kirchen - auch der Bekennenden Kirche mit ihrer teilweise starken antibolschewistischen Einstellung- in Deutschland kritisch bewertet wurden. 209 Daraus entwickelte sich bei einigen amerikanischen Kirchenbeamten in der Besatzungszone die Vorstellung, daß die Kirchen als Deckmantel für nationalistische und militaristische Strömungen agieren würden. Die antikommunistische Orientierung zahlreicher Kirchenführer nährte diese Vorbehalte, da die Amerikaner anfänglich anders als die Briten prosowjetisch eingestellt waren. Erst der Beginn des Kalten Krieges210 ließ die vorgefaßten Einstellungen der Kriegszeit verblassen.211 Die amerikanischen Richtlinien für das Agieren im Kontrollrat hinsichtlich der Behandlung der Kirchen schwankte, nachdem die Idee eines Reichskirchenministeriums fallen gelassen worden war, zwischen den Polen der Nichteinmischung in innerkirchliche Angelegenheiten einerseits und andererseits der strikten Überwachung der kirchlichen Organisation.212 Bemerkenswert ist, daß die Planer der amerikanischen Kirchenpolitik bis Anfang 1945 keinen Kontakt mit dem Ökumenischen Rat der Kirchen in Genf gesucht hatten213 und daher weder von der fachlichen Kompetenz des ÖRK partizipieren konnten, noch über die Form und den Inhalt der anvisierten Hilfeleistung der Ökumene für die Evangelische Kirche in Deutschland informiert waren. Diese Tatsache belegt, daß die amerikanische Kirchenpolitik ohne Bezug zu der realen Lage der Kirchen in Deutschland konzipiert worden war. Die Haltung der Militärregierung, die von wenig Verständnis geprägt war, wurde dabei nicht unerheblich durch die amerikanische Tradition der strikten Trennung von Kirche und Staat 207 Siehe hierzu vor allem: Boyens 1979, hier insbesondere S. 8 ff. Auch: Kirche nach der Kapitulation 1989, S. I 0 ff. 208 Vgl. Vo/lnhals 1988, S. XIII. 209 Der Leiter des Referates für religiöse Angelegenheiten (Religious Affairs Branch) der OS-Besatzungsarmee und später der OS-Militärregierung für Deutschland, Marshall M. Knappen, exemplifizierte dieses Problem in seinem Historical Report aus dem Jahre 1946 unter der Überschrift "The problern of German nationalism an the German Evangelical Church" an Martin Niemöller und seiner Vergangenheit als kaiserlicher Marineoffizier. Siehe dazu auch: Vollnha/s 1988, S. XXIV ff. 210 Zum Begriffund zur Begriffsgeschichte siehe: Kleßmann 1984, S. 177 ff. 211 Vgl. Spotts 1976, S. 71 f. 212 Vgl. Spotts 1976, S. 50 ff. 213 Vgl. Boyens 1979, S. 23 f.
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bestimmt und erschwerte dadurch beträchtlich die Beziehungen zu den deutschen Kirchen. Das Office Military Govemment of the United States (OMGUS) verfolgte im Rahmen seiner vier "D" - Demilitarisierung, Demontage, Denazifizierung und Demokratisierung - auch das Ziel des demokratischen Aufbaus der kirchlichen Organisation. In diesem Sinne genehmigte das Washingtoner Außenministerium am 21. Juli 1945 auch die Durchfilhrung der Kirchenfilhrerkonferenz in Treysa. Damit erhielt die sich bildende EKD ihre regierungsamtliche Anerkennung. Dies hatte weitreichende Konsequenzen, weil dadurch die Kirche nicht nur bei der deutschen Bevölkerung als die Sprecherio des deutschen Volkes angesehen wurde, sondern nun auch bei der amerikanischen Besatzungsmacht in dieser Rolle bestätigt worden war. Die Versuche der US-Beamten des OMGUS, lenkend und kontrollierend in die Personalpolitik der Evangelischen Kirche einzugreifen, scheiterte letztendlich an dem wachsenden Selbstbewußtsein der Kirche sowie an der massiven Unterstützung durch die Ökumenische Bewegung. 214 Die Kirchenfilhrer thematisierten in ihrem gestiegenen Selbstbewußtsein auch Probleme im Nachkriegsdeutschland, die nach Ansicht der amerikanischen Vertreter nicht Sache der Kirche waren. So wurden kirchliche Bittschreiben von den US-Kirchenbeamten nicht an Regierungsbehörden weitergeleitet oder Verweise filr öffentliche kirchliche Kritik an der Politik der Alliierten erteilt. 215 Hier bahnten sich zahlreiche Konfliktlinien zwischen der Evangelischen Kirche und der Besatzungsmacht an, die über die Kriegsgefangenen- und Intemiertenfrage, über Fragen der wirtschaftlichen Entwicklung bis hin zum heiklen Thema der Entnazifizierung und ihrer Durchfilhrung reichten. 216 Gerade die Frage der Entnazifizierung filhrte zu nachhaltigen Verstimmungen zwischen OMGUS und den Kirchen, da es insbesondere beim Umgang mit kirchlichen Amtsträgem, die Mitglied in der NSDAP gewesen waren ("Pg-Pfarrer"), zu Meinungsverschiedenheiten kam. 217 In dieser Frage bleibt festzuhalten, daß zweifellos "OMGUS sich gegenüber den Kirchen bei der Kraftprobe in Sachen Entnazifizierung nicht als der Stärkere erwiesen"218 hat. Auch in bezugauf andere kirchliche Stellungnahmen zu politischsozialen Fragen konnten sich die Kirchen gegenüber der Militärregierung, die ihrerseits in hohem Maße auf die amerikanische Öffentlichkeit Rücksicht nehmen mußte219, oftmals durchsetzen mit RUckendeckung der Ökumene. Die spä214 Vgl. Boyens 1979, S. 38 f. 215 Vgl. Spotts 1976, S. 70 f. 216 Vgl. Boyens 1979, S. 39 ff. Spotts 1976, S. 79 ff. 217 Siehe zur Entnazifizierungsproblematik aus kirchlicher Sicht: KJdEKD, 1945-48,
S.186ff. 218 Boyens 1979, S. 57 f. Allerdings kann auch keine Rede davon sein, daß die evangelischen Landeskirchen das Problem der Entfernung von Anhängern des Nationalsozialismus aus dem kirchlichen Apparat überzeugend gelöst hätten. 219 Siehe hierzu: Vollnhals 1988, S. XLII f. 5 Hanke
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tere generelle Zurückhaltung der amerikanischen Besatzungsbehörden gegenüber dem Handeln der Kirchen in dem Bestreben, die Militärregierung aus kirchlichen Angelegenheiten weitestgehend herauszuhalten, hat deren Ansehen und Einfluß im Ergebnis gestärkt. Dies wurde verstärkt durch die Möglichkeit der Kirchen, zu aktuellen politischen Themen auch gegenüber der Besatzungsmacht kritisch Stellung zu beziehen, auch wenn es anfanglieh von Seiten der Militärbehörden Reglementierungsversuche gegeben hatte. Die amerikanische Kirchenpolitik der Nachkriegszeit konstituierte in der deutschen Gesellschaft die Sprecher- und Vertreterrolle der Kirchen für das deutsche Volk. So untergrub sie sich selbst durch die kirchliche Kritik in politisch-sozialen Fragen und die kirchliche Interessenvertretung im Namen des deutschen Volkes die eigenen Zielvorstellungen ihrer Besatzungspolitik. 220 Anders als die Amerikaner setzten die Briten nach ersten Erfahrungen im besetzten Deutschland Heeresgeistliche für Fragen der kirchlichen Organisation ein, indem sie die Militärseelsorge mit der Abteilung für religiöse Angelegenheiten koordinierten?21 Die britischen Verbindungsmänner zu den deutschen Kirchen hatten darüber hinaus die Möglichkeit, auch den britischen Kirchenführern zu berichten, die wiederum einen guten Kontakt zum Stab des Oberbefehlshaber der englischen Besatzungszone hielten. Durch diese Rückkoppelung konnte in einem erheblich stärkeren Maße eine an den wirklichen Verhältnissen orientierte Kirchenpolitik verfolgt werden sowie intensiver Kontakt zu deutschen Kirchenführern hergestellt werden. 222 "Die Grundlage der britischen Politik war einfach: vollständige Nichteinmischung in kirchliche Angelegenheiten. Die Briten mit ihrer anglikanischen Tradition einer Staatskirche [ ...] konnten erfassen, was die traditionsgemäß enge Beziehung zwischen Kirche und Staat in Deutschland praktisch bedeutete. "223 Das führte dazu, daß die evangelischen Kirchen, die während der Besatzungszeit gute Kontakte zur Militärregierung hatten224, in der britischen Besatzungszone am freiesten und unzensiert ihre Stellungnahmen zu öffentlichen Problemen formulieren konnten. In der französischen Besatzungszone gab es von Anfan§ an ein hohes Maß an Kooperation mit den deutschen evangelischen Kirchen. 2 5 Dies ist vor allem auf das Wirken des reformierten Feldbischofs der französischen Besatzungsar-
Vgl. Spotts 1976, S. 78. Vgl. Boyens 1979, S. 27 f. 222 Vgl. Kirche nach der Kapitulation 1989, S. 12 f. 223 Spotts 1976, S. 57. 224 Zu den Problemen und Konflikten der Katholischen Kirche siehe: Spotts 1976, S. 57 ff. Allgemein: Hürten 1989. 225 Zu den Problemen und Konflikten der Katholischen Kirche siehe: Spotts 1976, s. 65 ff. 220
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mee in Deutschland, Marcel Sturm226, zurückzufiihren, der zusätzlich als Vertreter der französischen Kirche der reformierten Kirchenleitung in Frankreich verantwortlich war. Die Regelung der kirchlichen Angelegenheiten im Nachkriegsdeutschland konnte von daher auf viel Verständnis und Unterstützung rechnen. Besondere Bedeutung erlangte fiir die kirchenpolitische Praxis in ganz Deutschland der Umstand, daß Sturm nicht nur engen Kontakt zum ÖRK hielt, sondern durch seine Aktivitäten die ökumenische Wiederaufbauhilfe sowie die Annäherung zwischen französischen und deutschem Volk entschieden beilirderte.227 Da die französische Besatzungsmacht über keinerlei Planungen 228 ftlr eine Kirchenpolitik in ihrer Zone - zwischen Übereignung einer eigenen Zone auf der Konferenz von Jalta und dem Einmarsch der Besatzungsarmee lagen nur sechs Wochen- verfiigten, orientierte sich die französische Militärregierung anfiinglich an der vom amerikanischen Präsidenten Eisenhower verkündeten Direktive JCS 1143, die freie Religionsausübung und Nichteinmischung in kirchliche Angelegenheiten garantierte, wobei die Franzosen - anders als die Amerikaner- von Anfang an das Gewicht eindeutig auf Nichteinmischung legten. Die Kirchen wurden daher im Vergleich zur deutschen Zivilbevölkerung äußerst freundlich behandelt. Besonders der württembergische Landesbischof Wurm erfreute sich aufgrund seines mutigen Eintretens in der Zeit des Nationalsozialismus' hoher Wertschätzung, die ihn in die Lage versetzte, als Sprecher der deutschen Bevölkerung gegenüber der französischen Besatzungsmacht zu fungieren, obwohl die Protestanten in der Besatzungszone zahlenmäßig in der Minderheit waren. 229 Die einzelnen Landeskirchen benannten Bevollmächtige bei den von den Franzosen geschaffenen Militärregierungen der Länder Saarland und Rheinland-Hessen-Nassau ihrer Besatzungszone. Der Beitrag der Kirchen fiir die Entwicklung im Nachkriegsdeutschland wurde vor allem darin gesehen, "etwas zur moralischen Erneuerung des deutschen Volkes beizutragen. "230 Kritik an Entscheidungen der Militärregierung sowie der Alliierten im allgemeinen waren den Kirchen jedoch in der Öffentlichkeit nicht erlaubt. Zum Teil erhebliche Konflikte entwickelten sich zwischen Kirche und Militärregierung in den Fragen der kirchlichen Entnazifizierung, der Schulreform sowie in der Saarfrage. Gerade die Saarpolitik der französischen Regierung, die das Saarland als autonomes, jedoch wirtschaftlich an Frankreich angeschlossenes Land behandelte, fllhrte zu Spannungen, da die Protestanten nicht daran dachten, sich zu einer eigenständigen Kirche des Saarlandes zusammenzuschließen, Zur Person siehe: Thierfelder 1989, S. 228 ff. Vgl. Boyens 1979, S. 28 f. Thierfolder 1989, S. 229 f. Kirche nach der Kapitulation 1989, S. 14 f. 228 V gl. Valinhals 1988, S. XIX f. Kirche nach der Kapitulation 1989, S. l3 f. 229 V gl. Thierfelder 1989, S. 223 f. 230 So eine Stellungnahme der Militärregierung fllr die französische Vertretung beim Kontrollrat vom Januar 1947. Zitiert nach: Thierfelder 1989, S. 225. 226 227
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sondern die Saargemeinden ihre Bindungen zu der rheinischen und der pfälzischen Kirche nicht lockerten und damit die französische Saarpolitik auch unter deutschlandpolitischen Gesichtspunkten nicht anerkannten. Unter massiver Einwirkung von Sturm konnten die Kirchen jedoch in dieser Frage ihre Position gegenüber der Militärregierung behaupten. 231 Angesichts des bisherigen Forschungsstandes über die Kirchenpolitik in der französischen Besatzungszone kann festgehalten werden: "Für eine Gesamtbilanz der Kirchenpolitik der französischen Besatzungsmacht scheint es noch zu fiiih zu sein. [... ] So viel ist aber auf jeden Fall zu sagen: Die Franzosen vertraten im Grundsatz eine Politik der Nichteinmischung, auch wenn sie immer wieder in die kirchlichen Verhältnisse eingriffen, und zwar dann, wenn sie die eigenen Interessen tangiert sahen. "232 Die Strategie der sowjetischen Besatzungspolitik in der SBZ unterschied sich entscheidend von der in den drei westlichen Zonen. Schon mit dem Befehl Nr. 2 vom 10. Juni I 945 der Sowjetischen Militäradministration in Deutschland, die die Exekutivbehörde des Oberbefehlshabers der sowjetischen Besatzungstruppen war, wurde die Bildung von Parteien und Gewerkschaften erlaubt. Schon fiiih wurden also politische Vertreter des deutschen Volkes an der Neuorganisation Deutschlands - allerdings unter den Bedingungen einer hervorgehobenen Rolle der KPD/SED - beteiligt. In dieses Konzept der fiiihzeitigen politischen Beteiligung Deutscher am Prozeß der Neuordnung im Nachkriegsdeutschland wurden ebenfalls die evangelischen Landeskirchen, die auch in der SBZ ihre volkskirchlichen und kirchenorganisatorischen Strukturen erhalten und stabilisieren konnten 233 , eingebunden. 234 Sie erhielten die Möglichkeit, in vielfältiger Weise ihr Wort in der Öffentlichkeit zu erheben und in Organisationen wie dem Kulturbund oder der "Freien Deutschen Jugend" (FDJ) auf allen Ebenen mitzuarbeiten. 235 Erst der Beginn des Kalten Krieges und die Umgestaltung der SED in eine "Partei neuen Typs" fiihrte zu einem Distanzierungsprozeß, der an der kirchlichen Beurteilung der Volkskon~reßbewegung, die anfangs positiv aufgenommen worden war, sichtbar wurde. 2 6 Damit waren die Konfliktlinien der filnfziger Jahre im Staat-Kirche-Verhältnis in der DDR vorgezeichnet, da die Kirchen offiziell immer stärker als Vertreter einer bürgerlichen Weltanschauung identifiziert wurden. 237 Gleichzeitig wurden die ostdeutschen evangelischen Kirchen zunehmend in ihren Vorbehalten gegenüber Vgl. Thierfelder 1989, S. 234 ff. Thierfelder 1989, S. 238. 233 Vgl. Nowak/990, S. 43 f. 234 Vgl. Kirche nach der Kapitulation 1989, S. 15 ff. 235 Vgl. Onnasch 1989, S. 218. Nowak 1990, S. 48 ff. 236 Vgl. Nowak 1990, S. 50 f. 237 Vgl. Nowak 1990, S. 49 f.
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einer sich kommunistisch verstehenden Regierung bestätigt. Waren also die Kirchen in den ersten Jahren nach 1945 in der SBZ in der Vertretung der Interessen des deutschen Volkes in einer Konkurrenzsituation mit anderen politischen Parteien und Verbänden, in denen ebenfalls Deutsche mit auch unterschiedlichen Positionen mitarbeiteten, so wurde die Kirche durch die immer stärker dominierende Rolle der SED und die politische Gleichschaltung in der SBZ/DDR ab 1947 immer mehr in die Rolle gedrängt, sich kritisch gegenüber den politischen Entwicklungen zu verhalten, wobei sie angesichts der Regierungen in den einzelnen Ländern der SBZ schwerlich die Möglichkeit hatte, politischsoziale Forderungen im Namen des deutschen Volkes -wie in den westlichen Besatzungszonen- vorzutragen. Statt dessen sahen sich die Kirchen zunehmend veranlaßt, "erneut ein zeugnisbereites, bekennendes Reden und Handeln der Christen zu fordern" 238 , um in ihrem Selbstverständnis in Anbetracht der Erfahrungen mit dem nationalsozialistischen Staat nicht noch einmal Schuld auf sich laden zu wollen. Im Kern wurde über die gesellschaftliche Leitkultur gerungen, indem sich Christentum und Marxismus-Leninismus mit ihrem Anspruch auf das Weltanschauungsmonopol gegenüberstanden. 239 Der Appell an die Standhaftigkeit und Treue des einzelnen Christenmenschen, der dann in den fünfziger Jahren zunehmend eindringlicher wurde, konnte dieser neuartigen Situation jedoch nicht gerecht werden, da die Konflikte tiefer wurden und die Kirche keine offensive und konstruktive Strategie gegenüber der staatlichgesellschaftlichen Entwicklung in der DDR formulieren konnte. Dieser sich verschärfende weltanschauliche Gegensatz hat mit Sicherheit vorhandene Gemeinsamkeiten in der nationalen Option zwischen der Evangelischen Kirche und der SED in den vierziger und fiinfziger Jahren gänzlich unproduktiv werden lassen.
2. Die Bedeutung der Ökumene für die Rolle der Evangelischen Kirche im Nachkriegsdeutschland In der Ökumenischen Bewegung, verstanden als überkonfessionelle kirchliche Einheitsbewegung unter Nichtbeteiligung des römischen Katholizismus, waren die Begriffe Volk, Nation und Vaterland lange Zeit unstrittig und feste Bezugsgrößen gerade in bezug auf die innere und äußere Mission. Auf der Edinburgher Missionskonferenz von 1910, der im eigentlichen Sinne er~ten internationalen Konferenz der Ökumene, wurde das Thema des Nationalismus lediglich unter dem Aspekt der Chance fiir die christliche Mission behandelt. 240
Onnasch 1989, S. 220. V gl. Nowak !990, S. 51 f. 240 ' / gl. Heckmann 1970, S. 216 f. 238 239
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Auf der Stockholmer Weltkonferenz im Jahre 1925 waren die Aussagen-trotz der einschneidenden Erfahrungen des I. Weltkrieges- zum Problemkomplex Volk, Nation und Vaterland unpräzise. Ohne inhaltliche Bestimmung der Begriffe stellte man lediglich als christliche Haltungen diejenigen heraus, "die von völkischer Selbstvergötterung eben soweit entfernt sind wie von einem matten Kosmopolitismus, dem jedes Land gleichviel bedeutet. "241 Andererseits wurde in Stockholm auch das Konzept eines "christlichen Internationalismus"' entwickelt, das von Beginn an große Hoffuungen in den Völkerbund als internationale Friedensordnung setzte.242 Erst im Zeichen des Faschismus' und Nationalsozialismus' in Europa stellte die Oxforder Konferenz im Jahre 1937, an der im übrigen keine deutsche Delegation teilnehmen konnte, die Frage nach "Kirche, Volk und Staat", in deren Beantwortung Deutschland im Mittelpunkt der Diskussionen stand. Zentraler Ertrag war, daß der "totale Staat" mit seinem ausschließlichen Anspruch auf den Menschen und die Gesellschaft als unchristlich abgelehnt wurde. 243 Als Ergebnis der Weltkonferenz in bezugauf die Klärung der Begriffe Volk und Nation läßt sich jedoch insgesamt festhalten: "Man hat in Oxford den Theorien der deutschen Ordnungstheologie zu weit nachgegeben, als daß man ihren Folgen noch durchschlagend hätte begegnen können. "244 Der Einfluß der völkischen Ordnungstheologie auf die Ökumenische Bewegung wurde auch in den folgenden Jahren nicht überwunden. Der Problemkomplex Nation, Volk und Staat wurde weder auf den Weltkonferenzen der Nachkriegszeit - als offensichtlich diskussionsunwürdig - behandelt, noch in den filnfziger Jahren einer neuen Klärung unterzogen. Die Diskussion begann erst Anfang der sechziger Jahre im Zusammenhang mit einer neuen Positionsbestimmung gegenüber den Entwicklungsländern, die sich als eigene Nationen von den ehemaligen Kolonialmächten lösten. Statt dessen entwickelte die Amsterdamer Weltkirchenkonferenz im Jahre 1948 unter Einfluß des OstWest-Konfliktes ein neuartiges Konzept. Auf der Vollversammlung 1948 stießen die unterschiedlichen Anschauungen - von der Öffentlichkeit weit beachtet- aufeinander, indem sich filr die westliche Position John Forster Dulles und filr die prokommunistische Joseph L. Hromadka vor den Delegierten gegenüberstanden.245 Die Versammlung distanzierte sich von beiden Weltanschauungen, um Handlungsfreiheit im aufkeimenden Kalten Krieg zu bewahren, und entwickelte ihre Konzeption einer "verantwortlichen Gesellschaft": "Eine verantwortliche Gesellschaft ist eine solche, in der die Freiheit die Freiheit von Menschen ist, die sich filr Gerechtigkeit und öffentliche Ordnung verantwort241
So in der Botschaft der Weltkirchenkonferenz an die Christenheit. Zitiert nach:
Heckmann 1970, S. 221.
Vgl. Hoyens 1992, S. 20 f. Siehe hierzu: Hoyens 1992, S. 22 ff. 244 Heckmann 1970, S. 223. 245 Vgl. Hoyens 1992, S. 26 f. Siehe auch: Krumwiede 1967, S. 165. 242 243
II. Das Verhältnis der Evangelischen Kirche
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lieh wissen und in der jene, die politische Autorität oder wirtschaftliche Macht besitzen, zu Gott und den Menschen, deren Wohlfahrt davon abhängt, für ihre Ausübung verantwortlich sind." 246 Damit wurde zwar die weltweite Verantwortung des Christentums angesichts einer zunehmend säkularisierten Welt im Sinne einer christlichen Gesellschaftslehre neu definiert, jedoch die Frage nach der Bedeutung und dem Verhältnis von Nation, Volk und Staat schien mit dem ordnungstheologisch motivierten Ergebnissen der Oxforder Konferenz erledigt. Der Vorläufige Ausschuß des Ökumenischen Rates setzte sich in einer Stellungnahme zur Weltlage Anfang 1946 gegenüber den Siegermächten des II. Weltkrieges für eine gemäßigte Besatzungspolitik in Deutschland ein in der Überzeugung, daß es "eine wechselseitige Abhängigkeit zwischen sozialer und internationaler Ordnung" gebe. Von daher könne es keine Gerechtigkeit und Barmherzigkeit geben, wenn die Sieger "ihre früheren Feinde des Lebensnotwendigen berauben oder ihre Bevölkerung massenweise austreiben und auf solche oder andere Weise Rache üben, so kann das nur zu neuem Unheil führen. Für die Beziehungen der Völker untereinander muß ein neuer Anfang gefunden werden." 247 Unter dem Neuanfang verstand der Weltkirchenrat in seiner Resolution die Schaffung einer weltumspannenden Gemeinschaft freier Völker. Der im Aufbau begriffene ÖRK hatte während des II. Weltkrieges mit seinem Studienstab intensiv an der Frage gearbeitet, wie ein gerechter und dauerhafter Frieden aussehen könne und welche Verantwortung dabei die Kirchen für die internationale Ordnung haben. Anders als im I. Weltkrieg machten sich also im großen und ganzen die Mitgliedskirchen nicht die nationalistischen Kriegsziele ihrer Staaten zu eigen, sondern konzipierten in Theorie und Praxis eine Weltfriedensordnung unter christlichen Prämissen.248 So konnte die Amsterdarner Konferenz der Ökumene 1948 in bezug auf die deutsche Frage erklären: "Wir fühlen uns auch verpflichtet, die Regierungen der Siegermächte des Zweiten Weltkriegs dazu aufzurufen, daß sie mit den besiegten Nationen so schnell wie möglich einen gerechten Frieden schließen und ihnen gestatten, ihr politisches und wirtschaftliches Leben filr friedliche Zwecke wieder aufzubauen, die Kriegsgefangenen alsbald in die Heimat zu entlassen und alle Maßnahmen zur politischen Bereinigung sowie die Prozesse gegen die Kriegsverbrecher unverzüglich zum Ende zu bringen."249 Wie bereits die Analyse der Kirchenpolitik der Besatzungsmächte in ihren Zonen zeigte, kann der Einfluß und die Unterstützung der Ökumenischen Bewegung, die bereits wenige Wochen nach der Kapitulation einsetzte und auf Planungen und Überlegungen im ÖKR während
Beckmann 1970, S. 228. Boyens 1992, S. 28. Menn, Wilhelm : Die ökumenische Bewegung 1932-1948; in: KJdEKD, 1945-48, S. 239-320, hier S. 287. 248 Vgl. Boyens 1992, S. 25. 249 KJdEKD, 1945-1948, S. 314. 246 247
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D. Deutschlandpolitische Orientierungen 1945 bis 1949
der Kriegszeit fußte 250, fiir das Werden der EKD und ihres zunehmenden Selbstbewußtseins in Fragen der Vertretung der Interessen des deutschen Volkes nicht unterschätzt werden. Hier spielte die Gründung des Hilfswerkes der EKD und deren Unterstützung durch die Ökumene eine zentrale Rolle. Die Berichte der Kundschafter des ÖRK über die Kirchen und die Lage in Deutschland haben maßgeblich das Deutschlandbild des Auslandes und ihrer Regierungen geprägt und damit nachhaltigen Einfluß auf die Politik der (westlichen) Besatzungsmächte in Deutschland gehabt. 251 In einer Kundgebung der Landessynode der Evangelisch-Lutherischen Kirche in Bayern in Ansbach im Juli 1946 wurde klar das Selbstverständnis der Kirche gegenüber den Siegermächten des II. Weltkrieges formuliert: "In Ausübung des Trostamtes hat die Kirche auch Fürsprecherio und Anwalt unseres Volkes zu sein bei denen, die jetzt über unseres Volkes Schicksal bestimmen."252 Diesem Anspruch kam die Evangelische Kirche in den vier Besatzungszonen - massiv materiell und ideell unterstützt durch die Ökumenische Bewegung - nach. In diese Rolle kam sie aber nicht nur durch die drängende soziale und wirtschaftliche Not im Nachkriegsdeutschland, sondern ihr lag auch ein kirchliches Selbstbewußtsein zugrunde, das auf eine Christianisierung der deutschen Gesellschaft zielte und damit der Kirche eine hervorgehobene Funktion im öffentlichen und staatlichen Leben geben sollte. Die Einbindung der Evangelischen Kirche durch die Alliierten in den Wiederaufbau Deutschlands konnte dieses Selbstverständnis nur verstärken, wenn nicht gar übersteigern.253 Dabei ist aber fiir die weitere Entwicklung der EKD bestimmend, daß die Evangelische Kirche in den Westzonen produktiv mitarbeiten konnte, hingegen in der SBZ zunehmend unter Druck geriet und eher in eine Oppositionsrolle gegenüber der Obrigkeit gedrängt wurde.
250 Vgl. Boyens 1979, S. 23 f. Schon im Vorlauf der Gründung des ÖR.K trafen sich kirchliche Führer der Weltchristenheit im Juli 1943 zu einem "International Round Table of Christian Leaders" in Princeton, auf dem Leitlinien zur Umerziehung der deutschen Nation unter Beteiligung und Einwirkung der Weltchristenheit sowie der deutschen Kirchen nach den Maßstäben der Toleranz und Vergebung entwickelt wurden. In einer Erklärung hieß es, um Ordnung und Stabilität in Deutschland nach dem Krieg wieder zu etablieren, "the United Nationsand their governments [... ] will do weil to recognize the great assitance which the German churches can give." Zitiert nach: Besier 1988, s. 152. 251 Vgl. Boyens 1979, S. 42 ff. 252 Kundgebung der Landessynode der Evang.-Luth. Kirche in Bayern in Ansbach. 9.-13. Juli 1946; in: KJdEKD, 1945-48, S. 47-51, hier S. 48/49. 253 Vgl. Nowak 1990, S. 44 f.
111. Die Gründung der EKD
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111. Die Gründung der EKD und die Beziehungen zu beiden deutseben Staaten Daß sich kurz nach Kriegsende eine Dachorganisation der Evangelischen Kirchen in Deutschland herausbilden konnte, ist im Rückblick erstaunlich?54 Der Vorläufer, die 1933 gegründete DEK, war durch ihren instrumentalen Charakter zur Durchsetzung nationalsozialistischer Interessen diskreditiert. Die Stabilisierung der alten landeskirchlichen Struktur sowie die erneut aufbrechenden konfessionellen Gegensätze und die unterschiedlichen Erfahrungen des Kirchenkampfes in den intakten und zerstörten Kirchen machten einen gesamtkirchlichen Zusammenschluß eher unwahrscheinlich. Die dennoch erfolgreiche Gründung wird wohl vor allem auf das Wirken des württembergischen Landesbischofs, D. Theophil Wurm, zurückzuführen sein. Wurm galt als der anerkannte Sprecher der Evangelischen Kirche und betrieb seit 1941 sein innerkirchliches Einigungswerk. 255 Hinzu kam ferner sicherlich die grundlegende Erfahrung, daß nach jahrhundertelanger Spaltung die verschiedenen Landeskirchen durch die Barmer Erklärung und den Kirchenkampf Gemeinsamkeiten in Frontstellung zum Staat entdeckt hatten. Schließlich unterstützte auch die Ökumenische Bewegung nachhaltig den Einigungsprozeß des deutschen Protestantismus. 256 Die EKD war nach ihrer Gründung über lange Jahre eine gesamtdeutsche Organisation, die von beiden deutschen Staaten als Repräsentantin der Evangelischen Kirchen in Deutschland anerkannt wurde. Erst in den sechziger Jahren kam es unter dem Druck des sich verschärfenden Ost-West-Gegensatzes, einer veränderten DDR-Kirchenpolitik und der Erkenntnis der zunehmenden eigenen Handlungsunfähigkeit vor allem gegenüber der DDR-Regierung zur Trennung der EKD. Sie ermöglichte neben allen negativen Auswirkungen aber auch neue Rollenbestimmungen der evangelischen Kirchenorganisationen in beiden deutschen Staaten, die sich nach wie vor in einer "besonderen Gemeinschaft" verbunden fühlten.
Vgl. Henkys 1987, S. 50. Vgl. Greschat 1983, S. 268. Kirche nach der Kapitulation 1989, S. 27 ff. und 37 ff. Herber/ 1985, S. 247 ff. Thierfelder, lörg: Das Kirchliche Einigungswerk des württembergischen Landesbischofs Theophil Wurm, Göttingen 1975. Nowak. Kurt: Kirche und Widerstand gegen den Nationalsozialismus 1933-1945 in Deutschland; in: Nordische und deutsche Kirchen im 20. Jahrhundert. Referate auf der Internationalen Arbeitstagung in Sandbjerg!Dänemark 1981, Carsten Nicolaisen (Hg.), Göttingen 1982, S. 228-270, hier S. 238 ff. 256 Vgl. Vollnhals 1988, S. XXXVIII ff. Kirche nach der Kapitulation 1989, S. 17 ff. 254 255
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D. Deutschlandpolitische Orientierungen 1945 bis 1949
I. Die Gründung der EKD
Vom 27. bis 31. August 1945, vier Monate nach Kriegsende, tagte in Treysa auf Einladung des Landesbischofs Wurm die Kirchenfiihrerkonferenz.257 Die Beratungen sollten dazu dienen, sich über die Neugestaltung der kirchlichen Verhältnisse abzustimmen. Auf der Tagesordnung stand auch die Frage, ob und wie es einen gesamtkirchlichen Zusammenschluß geben könne. Die Realisierung des Zusammenschlusses hing aber von zwei einflußreichen innerkirchlichen Gruppierungen ab: Einerseits vom 1934 entstandenen Reichsbruderrat und andererseits vom 1936 gegründeten Lutherrat. 258 Der Reichsbruderrat traf sich zur Vorbereitung der Kirchenkonferenz in Treysa vom 21. bis 23. August 1945 in Frankfurt. Sehr schnell mußte er feststellen, daß seine bruderrätliche Leitungsstruktur, wie sie die zweite Bekenntnissynode in Dahlem (19 ./20. Oktober 1934) unter Berufung auf das kirchliche Notrecht259 entwickelt hatte, fiir die Neugestaltung der kirchlichen Organisation keine Mehrheit mehr finden würde. Teile der Bruderräte hatten bereits kompromißbereit in Leitungsfunktionen der entstehenden Landeskirchen mitgearbeitet, andere neigten eher zu konfessionell bestimmten Organisationsformen. Dem Reichsbruderrat konnte es daher nur noch darum gehen, den letzten verbliebenen Einfluß auf die Evangelische Kirche nicht zu verlieren. 260 Der Lutherrat, der eine vergleichsweise viel stärkere Position hatte 261 , traf sich ebenfalls zur Vorbereitung der Kirchenkonferenz vom 24. bis 26. August 1945 in Treysa. In seinem Kreis wurde die Gründung einer lutherisch geprägten Konfessionskirche in Deutschland favorisiert. 262 In der Kirchenfiihrerver257 Zu Treysa 1945 siehe: Brunotte 1954, S. 3 ff. Brunotte 1977, S. 98 ff. KJdEKD 1945-1948, S. 8 ff. Möller 1984, S. 29 ff. Tyra 1989. Fischer 1970, S. 47 ff. Friebel 1992, S. 86 ff. Foss 1986, S. 35 ff. Besier, Gerhard: Auf dem Weg nach Treysa 1945. Weichenstellungen in der evangelischen Kirche nach der Kapitulation; in : LM, 1985, S. 306-308. Hauschild. Wolf-Dieter: Herausgefordert durch das Chaos. Die Kirchenversammlung in Treysa 1945.; in: LM, 1985, S. 364-367. 258 Vgl. Greschat 1983, S. 268. Siehe auch: Nowak, Kurt: Die Banner Bekenntnissynode und der lutherische Einigungsprozeß von den zwanziger Jahren bis zur Gründung des Lotherrats ( 1936); in: Die lutherischen Kirchen und die Bekenntnissynode von Bannen. Referate des Internationalen Symposiums auf der Reisenburg 1984, WolfDieter Hauschild/Georg Kretschmar/Carsten Nicolaisen (Hg.), Göttingen 1984, S. 237250. 259 Zur Dahlemer Bekenntnissynode siehe: Wir verwerfen die falsche Lehre, S. 96 ff. 260 Vgl. dazu: Greschat 1983, S. 268. Siehe auch: KJdEKD 1945-1948, S. 2 ff. 261 Im Lotherrat waren die Kirchen von Hannover, Bayern, Württemberg sowie die Landesbruderräte von Mecklenburg, Sachsen und Thüringen zusammengeschlossen. Seine starke Position war neben dem Aspekt der "intakten Kirchen" durch die Zerstörung der APU begründet. 262 Vgl. Greschat 1983, S. 269. Siehe auch: KJdEKD 1945-1948, S. 7 ff. und 446 ff.
III. Die Gründung der EKD
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sammlung gelang es dennoch, zu einem vorläufigen Zusammenschluß zu kommen, ohne den Reichsbruderrat auszugrenzen. Mit dieser Entscheidung war der Weg vorgezeichnet, der am 13. Juli 1948 zur Annahme der Grundordnung auf der Eisenacher Kirchenversammlung und damit zur endgültigen Gründung der EKD fiihrte. 263 Die 1948 in Eisenach endgültig gegründete EKD war jedoch keine Union. Nach der Grundordnung264 ist sie ein "Bund lutherischer, reformierter und unierter Kirchen, in welchem die bestehende Gemeinschaft der deutschen evangelischen Christenheit sichtbar wird. "265 Theologisch und kirchenrechtlich ist sie keine Kirche. Die EKD hat auch keinen eigenen Bekenntnisstand. Allerdings gewinnt die EKD ihre innere Spannung durch die historisch gewachsene enge Zusammenarbeit zwischen Reformierten und Lutheranern. Innerkirchlich hat die EKD sehr geringe Befugnisse. Kirchengesetze sind von der Zustimmung der Gliedkirchen abhängig und verbindliche theologische Grundsätze können von ihr nicht geregelt werden. Die Hauptaufgaben liegen in der Vertretung der Evangelische Kirche in Deutschland gegenüber dem Staat und der Öffentlichkeit sowie im besonderen in der ökumenischen Zusammenarbeit, wozu auch die Mitarbeit in der "Arbeitsgemeinschaft christlicher Kirchen in Deutschland" (ACK) gehört. Ferner hat sie eine Beratungs- und Kommunikationsfunktion zwischen den einzelnen Gliedkirchen. Zu ihren Aufgaben zählt weiter die Begleitung der großen kirchlichen Werke und Verbände (z.B. Innere Mission, Evangelisches Hilfswerk bzw. Diakonisches Werk). 266 Organe der EKD sind der Rat, der von der Synode und der Kirchenkonferenz auf sechs Jahre gewählt wird, die Kirchenkonferenz, in der die Gliedkirchen jeweils eine Stimme haben, und die in der Regel jährlich tagende Synode. Amtsstellen der EKD sind die Kirchenkanzlei sowie das Kirchliche Außenamt. Bis 1969 gehörten der EKD 28 Gliedkirchen an (13 lutherische, 2 reformierte, 263 Zum verfahrensmäßigen Ablauf der Vorbereitung der Gründung siehe: Die Evangelische Kirche in Deutschland 1969, S. 4 f. Allgemein zur Eisenacher Gründungsversammlung siehe: Brunotte 1954, S. 67 tT. Brunotte 1977, S. 133 tT. Brunotte, Heinz: 20 Jahre Evangelische Kirche in Deutschland. Ein Rückblick auf Eisenach 1948; in: LM, 1968, S. 315-321. Wilkens, Erwin: Von Treysa 1945 bis Eisenach 1948; in: ZevKR, 1982, S. 296-303. Smith-von Osten, Annemarie: Von Treysa 1945 bis Eisenach 1948. Zur Geschichte der Grundordnung der Evangelischen Kirche in Deutschland, Göttingen 1981. Brunner, Peter: Eisenach 1948, in: ZevKR, 1953/54, S. 126-163. KJdEKD 19451948, S. 94 tT. 264 Zur Grundordnung siehe: Brunotte 1954. Brunotte 1977. 265 Die Evangelische Kirche in Deutschland 1969, S. 5. Zur Gründung siehe auch: Wilkens, Erwin: Einheit aus der theologischen Mitte. Vor vierzig Jahren wurde die VELKD in Eisenach gegründet; in: LM, 1988, S. 439-442. Brunotte, Heinz: 20 Jahre Evangelische Kirche in Deutschland. Ein Rückblick auf Eisenach 1948; in: LM, 1968, S. 315-321. Wilkens 1982. Zum Selbstverständnis ab 1991 siehe: S. 76. 266 Zu dem oben gesagten vgl. Die Evangelische Kirche in Deutschland 1969, S. 6.
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D. Deutschlandpolitische Orientierungen 1945 bis 1949
12 unierte Landeskirchen und die EKU), sowie durch besondere Verträge geregelt die Evangelische Bruderunität in Deutschland und der Bund evangelischreformierter Kirchen. 1969 waren schätzungsweise 29,2 Millionen evangelische Christen in der EKD zusammengesch1ossen. 267 Im Juni 1991 stellte die Evangelische Kirche in Deutschland ihre seit 1969 getrennte organisatorische Einheit wieder her. Seither gehören der EKD wieder die acht Landeskirchen auf dem Gebiet der früheren DDR an. Nach formal getrennten Abstimmungen nahmen im Februar 1991 die Synode der EKD und des BEK mit dem "Kirchengesetz zur Regelung von Fragen im Zusammenhang mit der Herstellung der Einheit der EKD" 268 die rechtlichen Voraussetzungen für die Neuvereinigung an. Im Juni 1991 konnte sich die gesamtdeutsche EKDSynode konstituieren als Organ der 24 Landeskirchen, der insgesamt rund 30 Millionen evangelischer Christen angehören. Das Kirchengesetz drückt auch ein neues Selbstverständnis der EKD aus. So wurde auf Wunsch des BEK die Grundordnung derart geändert, daß die EKD nunmehr kein Bund, sondern verstärkend eine Gemeinschaft lutherischer, reformierter und unierter Kirchen ist. Die bisherige Organisationsstruktur der EKD wurde mit Synode, Rat und Kirchenkonferenz beibehalten. Zur Zeit hat die EKD-Synode, die selbst sieben ständige Ausschüsse für ihre Sacharbeit unterhält, 160 Mitglieder, von denen 134 durch die Synoden der Landeskirchen gewählt werden und 26 vom Rat berufen werden. Synode und Kirchenkonferenz wählen den Rat auf sechs Jahre. Der Rat besteht aus 19 Mitgliedern, wobei der Präses der Synode automatisch Mitglied ist. Der Ratsvorsitzende und sein Stellvertreter werden von Synode und Kirchenkonferenz aus dem Kreis der Ratsmitglieder gewählt. Die Geschäfte des Rates werden vom Kirchenamt der EKD geführt, das drei Hauptabteilungen sowie ein Außenamt in Berlin um faßt. Der Rat selbst kann zur Unterstützung seiner Arbeit Bevollmächtigte, Beauftragte, Kammern und Kommissionen für bestimmte Sachgebiete einrichten oder berufen. Die EKD wird bei der Bundesregierung sowie bei Parteien und anderen gesellschaftlichen Gruppen durch einen Bevollmächtigten der EKD am Sitz der Bundesrepublik Deutschland vertreten. In der Kirchenkonferenz der EKD, die von den einzelnen Kirchenleitungen der Landeskirchen gebildet wird, haben Kirchen mit mehr als zwei Millionen Mitgliedern zwei Stimmen, die anderen eine. Über die Kirchenkonferenz können die Landeskirchenleitungen direkt Einfluß nehmen auf die Arbeit der EKD. Vorsitzender der Kirchenkonferenz ist stets der Ratsvorsitzende. Das Oberrechnungsprüfungsamt der EKD stellt ein unabhängiges Rechnungsprüfungsamt dar. Die schwache innerkirchliche Stellung der EKD ist vor allem auf die im Lutherrat zusammengeschlossenen Landeskirchen zurückzuführen, die nicht auf 267 268
Vgl. Die Evangelische Kirche in Deutschland 1969, S. 6-8. Vgl. epd-Dok, 32/1991 , S. 74-79.
lll. Die Gründung der EKD
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die Gründung einer lutherischen Bundeskirche verzichteten. Schon 1945 hatte die Lutheraner in Treysa die Vereinigung zu einer größeren Kirche beschlossen, die am 8. Juli 1948 mit der Gründung der VELKD269 als Bundeskirche mit gemeinsamer Bekenntnisgrundlage Realität wurde. Ihre Hauptarbeit besteht in den theologischen, liturgischen und innerkirchlichen Aufgaben, die nicht von der EKD geregelt werden können. Ihre Organe sind die Bischofskonferenz, die Kirchenleitung und die Generalsynode. Verwaltet wird die VELKD vom Lutherischen Kirchenamt. 270 Neben der VELKD existiert noch als einflußreicher Zusammenschluß die EKU 271 • Die EKU wurde abschließend durch die Verabschiedung ihrer Ordnung am 20. Februar 1950 gegründet. Sie umschließt die nach der Abtrennung der kirchlichen Ostgebiete übriggebliebenen sieben Provinzialkirchen272, in denen es eine Verwaltungsunion der lutherischen, reformierten und unierten Gemeinden gibt. Ihre Organe sind der Rat und die Synode. Die Kirchenkanzlei ist die Amtsstelle der EKU. Die EKU ist selbst Gliedkirche der EKD. 273 Die Gründung der EKD bedeutete den ersten funktionsfähigen Zusammenschluß der Evangelischen Kirchen in Deutschland seit der Reformation. Die EKD, die von Anfang an die Mitarbeit in der ökumenischen Bewegung suchte, konnte zahlreiche Aufgaben, die vorher von einzelnen Landeskirchen oder kirchlichen Zusammenschlüssen wahrgenommen wurden, an sich ziehen. Zu den wichtigsten gehört die Leitung der kirchlichen Werke und Verbände274 und die Außenvertretung der Evangelische Kirche in Deutschland, die sich in den Anfangsjahren an die Siegermächte richtete und die später die Funktion der
269 Der VELKD gehörten elf lutherische Landeskirchen an (ohne Württemberg und Oldenburg). 270 Vgl. dazu: Die Evangelische Kirche in Deutschland 1969, S. 10. 271 Die EKU führte bis zu ihrer Umbenennung am I. April 1954 den Namen "Evangelische Kirche der altpreußischen Union" (APU). Die einst einflußreiche APU hatte durch den Verlust der Ostkirchen erheblich an Gewicht verloren. Vgl. Friebel 1992, s. 27 tT. 272 Zu diesen Provinzialkirchen gehörten ursprünglich alle Landeskirchen der vor 1866 zu Preußen gehörenden Provinzen. Die nach 1866 zu Preußen gekommenen Provinzen (Schleswig-Holstein, Hannover, Kurhessen, Nassau, Frankfurt am Main) behielten ihre eigene landeskirchliche Struktur. 273 Vgl. dazu: Die Evangelische Kirche in Deutschland 1969, S. 9. Neben der VELKD und EKU wäre auch noch der von einem Moderamen geleitete Reformierte Bund zu nennen, der jedoch nur eine freie Vereinigung von reformierten Gemeinden und den beiden reformierten Landeskirchen darstellt (vgl. ebenda, S. 10). 274 Neben der Inneren Mission ist besonders das 1948 gegründete Hilfswerk der EKD zu nennen. In den sechziger Jahren wurden beide zum Diakonischen Werk zusammengeschlossen. Zu den einzelnen Werken und Verbänden (Stand 1969) siehe: Die Evangelische Kirche in Deutschland 1969, S. 10-12.
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D. Deutschlandpolitische Orientierungen 1945 bis 1949
Vertretung kirchlicher Interessen gegenüber dem Staat und der Öffentlichkeit übernahm. 275 Die Geschichte des Zusammenschlusses macht aber auch die Grenzen der EKD deutlich. Die Gründungen der VELKD und der EKU waren nicht kirchenrechtlich notwendig, sondern hatten ihre Ursache in theologischen und bekenntnisbedingten Unterschieden. Diese innerkirchlichen Gegensätze bilden den Hintergrund zur Beurteilung der Handlungs- und Entscheidungsspielräume der EKD. Die Einheit der EKD ist nicht als einheitliche Kirche zu verstehen, sondern erweist sich als Zusammenschluß der evangelischen Landeskirchen auf föderativer Grundlage. 2. Die Beziehungen der EKD zu beiden deutschen Staaten Deutschlandpolitisch erhielt der endgültige gesamtkirchliche Zusammenschluß jedoch besondere Bedeutung. Einen Monat nach der Währungsreform und zwei Wochen nach der Westzonenkonferenz in Frankfurt am Main, die zur Bildung des Parlamentarischen Rates fiihrte, hatte sich die EKD als gesamtdeutsche Organisation, der die Landeskirchen aus allen vier Besatzungszonen angehörten, gebildet. Rechnet man die VELKD und die EKU hinzu, so existierten drei gesamtdeutsche kirchliche Organisationen. Die EKD stand damit in einem unmittelbaren Verhältnis zu den beiden deutschen Staaten, denen gegenüber sie die Belange ihrer Gliedkirchen vertreten sollte und wollte. Die EKD sah sich in den Anfangsjahren durch die Teilung Deutschlands und die Entstehung zweier deutscher Staaten nicht behindert. So konnte sie beispielsweise ihre Synode abwechselnd in Ost- und Westdeutschland abhalten. Doch blieb die Frage, wie sie mit der Zweistaatlichkeit, das heißt mit zwei deutschen und zudem noch unterschiedlichen Obrigkeiten umgehen sollte. Der Rat der EKD ging in dieser Frage pragmatisch vor und ernannte Bevollmächtigte bei den Regierungen der Bundesrepublik Deutschland und der Deutschen Demokratischen Republik. Das Festhalten an der Einheit der EKD angesichts der staatlichen Teilung Deutschlands war jedoch nicht nur durch die historischkulturelle Gemeinschaft der evangelischen Kirchen in Ost und West bestimmt, sondern auch durch die Vorstellung einer Klammerfunktion fiir die staatlich zerrissene deutsche Kulturnation. Diese Vorstellung war weniger politisch begründet im Sinne einer Vorbereitung zur Wiedervereinigung, sondern fußte in der traditionellen Verbindung von deutschem Protestantismus und deutschem Volk. Allerdings mit einerneuen Graduierung: Der Name "Evangelische Kirche in Deutschland" war gerade eine Absage an alte Forderungen nach einer
275
Vgl. dazu: Henkys 1987, S. 50.
111. Die Gründung der EKD
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evangelischen Nationalkirche. 276 Andererseits war der Begriff Deutschland schon bei der Gründung der EKD Programm und wurde es erst recht nach der Gründung zweier deutscher Staaten. Deutschland war filr die Kirche kein völkerrechtlicher Begriff, wohl aber ein kulturgeschichtlicher Orientierungspunkt sowie das politische Handlungsfeld. Hier lagen aber auch in späterer Zeit die Gefahren des Handlungsspielraumes der Kirche, deren organisatorischer wie ideeller Zusammenhalt in eine fatale Nähe zum politischen Streit über Deutschlandpolitik und Wiedervereinigung geriet. 277 Dies lag neben anderem jedoch auch darin begründet, daß die EKD zu lange die grundlegende Entscheidung, wie sie ihre kirchliche Gemeinschaft in Ost und West praktisch leben wollte, hinausschob und statt dessen rein pragmatisch vorging. Obwohl innerkirchlich der Wiedervereinigungsgedanke unstrittig war, vertrat die EKD nicht den Alleinvertretungsanspruch der Bundesregierung und verfolgte auch keine rechtsdogmatische Argumentation in der deutschen Frage. 278 Dennoch kann nicht unerwähnt bleiben, daß diesem pragmatischen Handeln in einem Spannungsverhältnis das Konzept einer Rechristianisierung der Gesellschaft gegenüberstand. Innerkirchlich, im Westen wie im Osten, gab es eine Präferenz filr das westlich-demokratische Gesellschaftsmodell verbunden mit der Vorstellung einer christlichen Demokratie. Diese Präferenz mußte zwangsläufig, um es vorsichtig auszudrücken, zu einer Distanz zur gesellschaftlichen und politischen Entwicklung in der DDR fiihren. 279 Mit anderen Worten wurden die Kriterien zur Beurteilung der Entwicklung in der DDR zunehmend aus den Maßstäben der rechtsstaatliehen Demokratievorstellung in der Bundesrepublik gewonnen. Die Phase des "Kalten Krieges" verschärfte dieses Analyse-Konzept noch. Konkret bedeutete dies, daß sich die EKD, in denen die Kirchen aus Ost und West mitarbeiteten, bei der Gestaltung der Bundesrepublik einbrachte und am politischen Dialog mitwirkte, während sie in der DDR in eine Abwehrhaltung geriet, um kirchliche Rechte und Interessen zu wahren. "Die EKD-Praxis dokumentierte: Der Westen war die Norm, der Osten der Sonderfall. "280 Trotz dieser inneren Spannung gelang es der EKD bis 1957, von beiden deutschen Staaten als gesamtkirchliche Organisation mit einem gewissen politischen Mandat anerkannt zu bleiben.
Siehe hierzu: Brunotte 1954, S. 20. Vgl. Wilkens 1970, S. 290 f. 278 Vgl. dazu: Henkys 1987, S. 60 ff. 279 Vgl. dazu: Henkys 1987, S. 60. Siehe auch Jasper 1983, S. 34 f. 280 Henkys 1987, S. 62.
276 277
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D. Deutschlandpolitische Orientierungen 1945 bis 1949
IV. Die Evangelische Kircheangesichts der Spaltung Deutschlands und der Gründungzweier deutscher Staaten Nichts konnte dem deutschen Volk die militärische Niederlage deutlicher machen als die totale Kapitulation und die vollständige Besetzung Deutschlands durch die Siegermächte, die die ausschließliche politische Gewalt übernahmen. Von daher ist auch verständlich, daß neben den sozialen und wirtschaftlichen Nöten die Frage nach einem gerechten Frieden die Evangelische Kirche zu Stellungnahmen herausforderte. In dem Maße, wie sich der OstWest-Konflikt verstärkte und die Spaltung Deutschlands immer greifbarer wurde, mußte sich die Kirche auch angesichts des Kampfes der westlichen und östlichen Weltanschauung miteinander in Wahrnehmung ihres selbstdefinierten "Wächteramtes" öffentlich verhalten. 1. Spaltung Deutschlands und echter Friede
Die Mitarbeit der EKD in der Ökumene fiihrte schnell zu der Frage, welches Verhältnis die Evangelische Kirche zu den Freikirchen in Deutschland, die Mitglied im Ökumenischen Weltrat der Kirchen waren, suchen sollte. Dies um so mehr, als einen großen Anteil der kirchlichen Wiederaufbauhilfe die nordamerikanischen Freikirchen beisteuerten, deren Schwesterkirchen in Deutschland jedoch nur eine geringe Bedeutung spielten. Unter Initiative der Kirchenkanzlei des Rates der EKD kam es daher am I 0. März 1948 zu einer - angesichts der bisherigen Kirchengeschichte - unerwartet schnellen Gründung der "Arbeitsgemeinschaft christlicher Kirchen in Deutschland"281 , die die weltökumenische Zusammenarbeit auf nationaler Ebene konkretisierte und auch bewußt die Vertretung gemeinsamer Interessen nach außen wahrnehmen sollte. Schon am Tag ihrer Gründung wendete sich die Arbeitsgemeinschaft an die Öffentlichkeit mit einem "Wort christlicher Kirchen in Deutschland fiir einen rechten Frieden und gegen die Zerreißung des deutschen Volkes" 282 , das unter anderem im Amtsblatt der EKD veröffentlicht wurde. 283 In dem Wort wird die Grenzlinie zwischen den westlichen und der östlichen Besatzungszone angesichts der politischen Entwicklungen als zunehmende Belastung fiir die innere und äußere Gesundung des deutschen Volkes bezeichnet. Diese Tatsache bedrohe den Frieden und steigere die Gefahr eines Krieges, in Anbetracht des-
281 Siehe hierzu: Har/ing, Otto von: Die Arbeitsgemeinschaft Christlicher Kirchen in Deutschland; in: KJdEKD, 1955, S. 357-381. 282 KJdEKD, 1945-48, S. 183-185. Auch dokumentiert in: KJdEKD, 1955, S. 373374. 283 Amtsblatt der Evangelischen Kirche in Deutschland, 2. Jg., Nr. 6, Sp. 13/14.
IV. Die Evangelische Kircheangesichts der Spaltung
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sen die Kirche insbesondere aufgrund der Erfahrungen des vergangeneo Weltkrieges die Deutschen mahnen muß, von falschen Machtidealen abzulassen und echte Friedensgesinnung zu zeigen. An die auswärtigen Mächte gerichtet erklärt das Wort: "Frieden kann nur dort sein, wo die Völker die Verhältnisse, unter denen sie leben, als gerecht und gesund oder doch wenigstens als erträglich empfinden. Kein Volk der Erde aber kann jemals zur Ruhe kommen, wenn mitten durch sein Land eine willkürliche Grenze gezogen wird durch ein Diktat auswärtiger Mächte." 284 Europa könne so lange nicht zur Ruhe kommen, wie einem Volk, "das eine gemeinsame Sprache spricht, das eine gemeinsame Geschichte und Kultur hat" 285, verwehrt wird, die zerstörte Gemeinschaft wiederzuerlangen. Hinzu tritt, daß die unnatürlichen Verhältnisse die sittliche Haltung der deutschen Bevölkerung untergraben. Diese Gefahr fiir den sittlichen Zustand und das moralische Niveau des deutschen Volkes kann ebenfalls nur durch einen echten Frieden bezwungen werden, der die gewaltsame Aufspaltung Deutschlands verhindert. "Daß unserem Volk seine natürliche und geschichtliche Gemeinschaft ungeteilt erhalten bleibe, darum bitten wir um des Friedenswillen und um der sittlichen Gesundung unseres Volkes willen." 286 In dem Wort der Arbeitsgemeinschaft fällt zum einen der kirchlich hergestellte Zusammenhang von staatlicher Einheit und Sittlichkeit des deutschen Volkes auf, zum anderen ist hervorhebenswert, daß der Volksbegriff nicht metaphysisch aufgeladen ist, sondern auf gemeinsame Sprache, Geschichte und Kultur im Sinne einer Kulturnation als Determinanten zurückgefiihrt wird. Dazu steht in einem gewissen Spannungsverhältnis in Anbetracht der historischen Entwicklung die Forderung nach Erhalt beziehungsweise Wiederherstellung der "natürlichen und geschichtlichen Gemeinschaft", da das deutsche Volk -und dies auch nicht im umfassendsten Sinne - in seiner gesamten Geschichte nur in einer relativ kurzen Zeitspanne staatlich geeint war. Hier scheinen jedoch nicht nur schöpfungsordnungstheologische Deutungsmuster durch, sondern diese Auffassung ist ebenfalls eine Widerspiegelung der eigenen Erfahrungen der Kirchenfiihrer, die aus eigener Anschauung auch nur ein staatlich geeintes Deutschland kannten. Das Wort, in dem sich die in der Arbeitsgemeinschaft vertretenen Kirchen zum Sprecher und Fürsprecher des deutschen Volkes begreifen, ist frei von einzelnen, weltanschaulich motivierten politischen Forderungen. Beachtenswert bleibt auch, daß sich die zentrale und aus Sicht der Kirchen friedenserhaltende und -schaffende Forderung nach staatlicher Einheit des deutschen Volkes in der Mitte Europas ausschließlich auf die Territorien der Besatzungszonen beschränkt.
KJdEKD, 1945-48, S. 184. KJdEKD, 1945-48, S. 184. 286 KJdEKD, 1945-48, S. 184. 284
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D. Deutschlandpolitische Orientierungen 1945 bis 1949
Die Eisenacher Kirchenführerversarnmlung, die zur endgültigen Annahme der Grundordnung der EKD führte, verabschiedete mit dem Datum vom 13. Juli 1948 ein "Wort der Evangelischen Kirche in Deutschland zum Frieden"287 . In der Sorge um Schaffung und Erhalt von echtem Frieden erklärte die Evangelische Kirche für das deutsche Volk: "Für uns ist der Kriegszustand mit den anderen Völkern beendet, auch wenn man uns den Frieden noch nicht gewährt hat. Wir sehen in den Angehörigen einer anderen Nation, welche es auch sei, nicht mehr Feinde, sondern Brüder und Schwestern, mit denen wir gemeinsam vor Gott stehen." 288 Von diesem Standpunkt aus werden die deutschen Volksgenossen aufgefordert, sich an keiner Propaganda zu beteiligen, die die Feindschaft zwischen den Staaten schürt oder einen neuen Krieg vorbereitet. Das Wort der EKD, in eine Zeitgeschichte hinein gesprochen, in der die internationalen politischen Fronten sich dramatisch verhärteten, hatte eine deutlich dämpfende Absicht. Zentraler Gedanke ist Versöhnung, die auf der Gemeinsamkeit der Verantwortung vor Gott ruht. Der Rat der EKD war in seiner eigenen Wahrnehmung und seines eigenen Selbstverständnisses "in manchen Fragen durch die Lage unseres Volkes berufen, als Anwalt des Volkes denen gegenüber aufzutreten, unter deren Macht unser Volk gegeben ist." 289 In dieser selbstverstandenen Verantwortung für das deutsche Volk führte der Rat zum Osterfest 1949 in der Paulskirche in Frankfurt am Main eine weitbeachtete Kundgebung durch, in der es um das Wort der Kirche zum Frieden ging. Drei der exponiertesten Vertreter des deutschen Protestantismus - Dibelius, Niemöller und Lilje - legten in ihren Reden die Forderungen und Ansichten der Evangelischen Kirche dar. 290 Dibelius legte in seiner Predigt "Deutschland und der Friede der Welt" dar, daß die zentrale Frage der Welt sei, wie endlich wirklicher Friede werde. Die Rolle der Evangelischen Kirche in Deutschland sei dabei beschränkt, da zum einen Deutschland weltpolitisch keine Rolle mehr spielen werde und zum anderen die Kirche selbst nur auf das Instrument von Worten zurückgreifen könne. Hier aber habe die EKD bereits deutlich ausgesprochen, daß für das deutsche Volk der Krieg zu Ende sei und daß es keine Freund- oder Feindstaaten mehr kenne, sondern nur noch Brtlder und Schwestern vor dem Herren. Dibelius ftlhrt die Ursache von Kriegen zurück auf ein System von Machtstaaten, die angetrieben durch wirtschaftliche Interessen, danach streben, ihren Macht- und Einflußbereich auf Kosten anderer auszudehnen. Hinter diesem Streben der Wirtschaft, das sich in der staatlichen Außenpolitik konkretisiert, "steht die Diesseitsgesinnung eines Jahrhunderts, dem der materielle Wohlstand zu dem KJdEKD, 1945-48, S. 185-186. KJdEKD, 1945-48, S. 185. 289 KJdEKD, 1949, S. 34. 290 Siehe hierzu auch: Noormann 1985, Bd. I, S. 227 ff. 287 288
IV. Die Evangelische Kircheangesichts der Spaltung
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einzigen Ziel geworden ist, für das es lebt. Und solange es bei dieser Einstellung und bei dieser Lebensordnung der Menschheit bleibt, wird niemals Friede werden." 291 Friede kann von daher nur durch ein radikales Umdenken in allen Fragen erreicht werden, wobei alleiniger Orientierungspunkt nur die Wirklichkeit Gottes sein kann. in Gewißheit seines Wirkens kann das deutsche Volk sicher sein, "daß er uns führen wird zu einem großen heiligen Ziel, das Gott in seiner vergebenden Barmherzigkeit für uns bereit hat. "292 Bemerkenswert ist der Versuch von Dibelius, eine politische Analyse der Grundlage der Unfriedfertigkeit der Gegenwart zu liefern. Die Rückführung nationaler Außenpolitik auf wirtschaftliche Interessen ist ein nicht unfruchtbarer Ansatz. Er eignet sich jedoch vor allem als Erklärungsmuster für die Zeit des Imperialismus und verkennt die qualitativ neue Rolle, die Ideologien im 20. Jahrhundert in bezug auf Kriegsausbrüche und -führungen gespielt haben. Auch wenn der I. Weltkrieg aus deutscher Sicht wirtschaftliche Interessen verfolgte, so wird doch deutlich, wie wenig kritisch dieser Analyseansatz hinsichtlich der kirchlichen Legitimationsversuche des Krieges als Kampf des deutschen Volkes für seine Kultur gegenüber einer feindseligen Welt war. Die geschichtstheologische Bestimmung einer besonderen Rolle der deutschen Nation schimmert bei Dibelius in der Hoffnung auf ein großes heiliges Ziel für Deutschland noch immer durch. Wichtiger ist jedoch der argumentative Dreiklang von Friede, Erneuerung der sittlichen Grundlagen und Orientierung auf den Glauben. Diese an sich moraltheologische Argumentation abstrahiert nicht nur von realen politischen Bedingungen und Konstellationen, sondern begreift das Volk als einheitlichen Organismus, der der Führung der Kirche als moralisch wegweisender Instanz bedarf, um schädlicher Einflüsse weltlicher Mächte zu wehren. Der moralisch-religiös aufgeladene Friedensbegriff ist für praktische Politik nicht operationalisierbar. Niemöller stellte in seinem Vortrag "Weltweite Christenheit und die Versöhnung" die Frage nach den Wirkungsmöglichkeiten der Kirche ftlr den Frieden in den Vordergrund. Die Katastrophe des II. Weltkrieges mit ihren Kettenreaktionen auch nach Kriegsende stelle an die Kirchen die Anforderung, sich aktiv für den Frieden einzusetzen. Dies stoße angesichts der realen Möglichkeiten der Einflußnahme auf Entscheidungen der politischen Mächte schnell an Grenzen, dennoch sei das Wort der Amsterdamer Weltkirchenkonferenz "Krieg soll nach Gottes Willen nicht sein" das erstrangige Leitthema kirchlichen Handeins in dieser Frage gewesen. Von besonderer Bedeutung seien dabei die Kontakte und Diskussionen im Rahmen der ökumenischen Bewegung gewesen, die der Welt signalisiert hätten, daß Versöhnung und ehrliche Aussprache auch zwischen fiilher sich feindselig gegenüberstehenden Völkern möglich sei. Diese 291 292
6*
KJdEKD, 1949, S. 36. KJdEKD, 1949, S. 35.
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D. Deutschlandpolitische Orientierungen 1945 bis 1949
christliche Solidarität und Bruderschaft könne ermuntern, auch an die Einsicht der weltlichen Mächte und Gewalten zu appellieren. "Wir vertrauen, daß die Kirchen in der Welt bei ihren Regierungen tun, was sie nur vermögen, um der Welt und damit uns Frieden zu schaffen, und daß sie ihnen bezeugen, daß ein Friede ohne Bereitschaft zur Versöhnung eine Utopie ist und bleibt."293 Niemöller stellt die Kirchen nicht nur in eine aktive politische Verantwortung für den Frieden in der Welt, sondern hebt den Gedanken der Versöhnung in den Mittelpunkt kirchlichen Handeins und Redens. Der Bezug zu den signalhaften Diskussionen in der Ökumene der deutschen Vertreter mit Angehörigen anderen Nationen macht deutlich, daß es sich hier nicht nur um eine moralische Kategorie handelt, die scharfe und kontroverse Auseinandersetzungen meiden will, sondern um eine ethische Grundorientierung, die es allein ermöglicht, zu einem friedensfördernden Ausgleich zu kommen. Den Kirchen und insbesondere der EKD kommt in diesem Konzept die Aufgabe zu, gegenüber staatlichpolitischen Entscheidungen und Diskussionen sich kritisch zu verhalten und der nationalen Perspektive eine weltweite, auf Versöhnung zielende gegenüberzustellen. Ganz andere Töne schlug Lilje in seiner Ansprache "Die Kirche in der Friedlosigkeit unseres Volkes" an. Er stellte apodiktisch fest: "Der Augenblick ist gekommen, mit der Liquidation unserer Vergangenheit zu einem wirklichen Abschluß zu kommen. [... ] Wir haben von Gott eine Frist bekommen für die Klärung unserer eigenen Vergangenheit. Nach menschlichem Urteil ist diese Frist vorbei. Wir sollten mit der Klärung der Vergangenheit in der Weise Schluß machen, daß wir allen, die redlichen Willens sind, eine Chance geben. "294 Gerade dem Christen sei es möglich, durch die Vergebung der Sünden das Vergangene abzuschließen und sich entschlossen der Zukunft zuzuwenden. Der Kirche komme hier die Aufgabe zu, "zu einer Stätte brennender, tatkräftiger Liebe und williger Opferbereitschaft"295 zu werden. Vier Jahre nach Kriegsende und nach den erschreckenden Ergebnissen der Nürnberger Kriegsverbrecherprozesse ist es erstaunlich, mit welcher Leichtigkeit einer der profiliertesten Kirchenführer des deutschen Protestantismus den Schlußstrich unter die deutsche Vergangenheit fordert mit dem Ziel, Deutschland unbelastet in die Zukunft zu ftlhren. Auch wenn Lilje "rechte Wiedergutmachung" einfordert, kann der Gegensatz zum Versöhnungsgedanken bei Niemöller nicht tiefer sein. Lilje, immerhin stellvertretender Vorsitzender des Rates der EKD, kann mit seiner Position als Vertreter von Teilen des deutschen Protestantismus gelten, die jegliche Schuldfrage des deutschen Volkes negierten und von daher in ungebrochener Tradition an frühere deutsche Geschichte anknüpfen wollten. KJdEKD, 1949, S. 38. KJdEKD, 1949, S. 38. 295 KJdEKD, 1949, S. 40.
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IV. Die Evangelische Kircheangesichts der Spaltung
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Auf der Eisenacher Kirchenfiihrerversammlung der EKD wurde ein "Wort zur deutschen Not" verabschiedet, in dem entschieden gegen eine endgültige Aufspaltung Deutschlands Position bezogen wurde, da sie zu einer weiteren Verelendung und sittlichen Bindungslosigkeit des deutschen Volkes fuhren würde: "Wir beschwören alle, die es angeht, jedem Versuch einer solchen Aufspaltung entschieden und beharrlich entgegenzutreten und immer wieder darauf zu dringen, daß dem deutschen Volk nicht durch unmögliche Grenzziehung die Lebensgrundlagen genommen werden." 296 Dabei ist jedoch zu beachten, daß es im Rat der EKD wiederholt Diskussionen über die Einheit Deutschlands und deren Gefahrdung gegeben hatte, in denen durchaus divergierende Positionen von den einzelnen Ratsmitgliedern bezogen wurden. In den Gesprächsaufzeichnungen Gustav Heinemanns297 von der Ratssitzung am 14. Januar 1948 in Frankfurt am Main, die nach dem Scheitern der Londoner Außenministerkonferenz tagte, wird die Bandbreite der sehr unterschiedlichen Einschätzungen deutlich. Dibelius sah kirchliche und deutsche Einheit zusammen und beschwor die Kriegsgefahr angesichts einer Teilung, da dann der Osten und der Westen Deutschland nur als Aufmarschgelände benutzen würden. Hinzu kam fiir ihn die Überlegung, daß der Osten nicht vergessen werden dürfe und daher das Festhalten an der Einheit unabdingbar sei. Niemöller hingegen äußerte sich skeptisch, ob die Kirche überhaupt zur Einheitsfrage sprechen könne und verwies auf andere historische Staatsteilungen. Er sah in der Teilung Deutschlands eher eine unabwendbare Folge des Gerichts Gottes über das deutsche Volk, die zu ertragen sei. Schließlich gab er auch zu bedenken, daß die Einheit den Krieg bedeuten könne. Der Kirchenjurist Rudolf Smend plädierte fiir die Einheit, da einerseits die Gemeinden davon redeten und andererseits der Eiserne Vorhang einer Renazifizierung Vorschub leiste. Der bayerische Landesbischof Meiser hingegen gab zu bedenken, daß eine Einheit Deutschlands, die aus dem Osten und von der SED komme, wohl nicht befiirwortet werden könne. Dibelius und Heinemann befanden sich auf dieser Ratssitzung mit ihrem Plädoyer fiir ein aktives politisches Engagement der Evangelischen Kirche fiir die deutsche Einheit in der Minderheit. 298 Dies bedeutet jedoch nicht, daß bei der Mehrheit die Einheit nicht gewünscht wurde, sondern dem Konflikt lag eine unterschiedliche Auffassung über das politische Mandat der Kirche zugrunde. Dibelius nahm in Anspruch, daß die Kirche in bezug auf Grundanliegen des deutschen Volkes auch politisch sprechen dürfe. Niemöller hingegen sah die kirchliche Aufgabe
KJdEKD, 1945-48, S. 186. Dokumentiert in: Lotz 1992, S. 56 f. 298 Vgl. Lotz 1992, S. 57.
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nur darin, universell auf der Grundlage des Evangeliums das Wort zu erheben und sich nicht um politische Systeme zu kümmern. 299
2. Kirche und die Gründungzweier deutscher Staaten Programmatische Äußerungen zu konkreten deutschlandpolitischen Entwicklungen und Diskussionen in den Westzonen und der Ostzone gab es von der Evangelischen Kirche in den Anfangsjahren nicht. Sie beschränkte sich auf die allgemeine Proklamation der Erhaltung der staatlichen Einheit Deutschlands, um die Zerrissenheit des deutschen Volkes zu überwinden. In der Diskussion um die politisch-staatliche Gestaltung Nachkriegsdeutschlands versuchte die Kirche neutral zu bleiben. Um so bemerkenswerter war darum in diesem Zusammenhang das "Wort der Arbeitsgemeinschaft christlicher Kirchen in Deutschland zum Kampf der politischen Systeme und Mächte"300 vom 29. April 1949, in dem eine kirchliche Stellungnahme zu den weltanschaulichen Gegensätzen im Rahmen des Ost-West-Konfliktes formuliert wurde. In der kirchlichen Wahrnehmung stehen sich die Ideologie der Freiheit und die Ideologie der Gesellschaft diametral gegenüber. Beide würden volle Hingabe beanspruchen und daher den Charakter von "religiösen Heilslehren" annehmen. Dem stellt die Kirche das Wort gegenüber, daß nicht "ein falsches Evangelium der Freiheit und nicht ein falsches Evangelium der Gesellschaft[... ] den totalen Anspruch aufuns Menschen erheben [darf], sondern Gott allein" 301 • Die Frage des rechten Verhältnisses zwischen Freiheit und Gesellschaft werde nur durch das Evangelium recht beantwortet und erst im Reiche Gottes erfiillt. Daher könne das Ziel in der Welt nur darin bestehen, "daß jeweils eine rechte erträgliche Mitte zwischen Willkür und Tyrannei gefunden und beachtet werde, nicht aber haben wir filr den Götzen Freiheit gegen den Götzen Gesellschaft oder umgekehrt zu kämpfen"302 • Das Wort, das in der Arbeitsgemeinschaft vor seiner Verabschiedung mehrmals diskutiert wurde und in erster Linie an die christlichen Gemeindeglieder im Sinne einer Selbstbesinnung gerichtet war303 , offenbart in seiner holzschnittartigen Gegenüberstellung von Freiheit und Gesellschaft das Bemühen der Kirche um eine Art negativer Äquidistanz gegenüber der westlichen und östlichen gesellschaftspolitischen Diskussion. Hier 299 Die Einschätzung von Lotz 1992, S. 57, daß die Mehrheit nicht bereit war, die "Kirche vor einen nationalistischen Wagen" zu spannen, ist überzogen, da die kirchliche Diskussion über die Einheit Deutschlands im großen und ganzen zwar nationale, jedoch keine nationalistischen Töne anschlug und immer den europäischen Kontext suchte. 300 KJdEKD, 1955, S. 376. 301 KJdEKD, 1955, S. 376. 302 KJdEKD, 1955, S. 376. 303 Vgl. KJdEKD, 1955, S. 367.
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folgte die Arbeitsgemeinschaft christlicher Kirchen den Diskussionen auf der Amsterdamer Weltkirchenkonferenz des Jahres 1948. 304 Die Naivität der Argumentation wird weder der konzeptionellen Erörterung der politischen Neuordnungsvorstellungen im Nachkriegsdeutschland gerecht, noch eignete sie sich, problemangemessen und differenziert zwischen westlichen und östlichen Gesellschaftsmodellen zu unterscheiden. Dies überrascht um so mehr, als die Arbeitsgemeinschaft gerade auf die Erfahrungen der Mitgliedskirchen im Ökumenischen Weltkirchenrat mit den westlichen Demokratiemodellen hätten zurückgreifen können, um zu einer abgewogeneren Einschätzung des Zusammenhanges von Freiheit und Gesellschaft zu gelangen. Die Konzentration des Wortes auf die ausschließliche Christianisierung der Gesellschaft, der die Balancierung zwischen Individuum und Gesellschaft zudem nur im Reich Gottes gelingen kann, offenbart die völlig unpolitische Argumentation der Kirchen, die in letzter Konsequenz zur lnkommunikabilität angesichts der faktischen politischen Entwicklungen fUhrt. Das kirchliche Problemverständnis bleibt auf dem abstrakten Niveau der Einheit des Volkes, das sich in seinen Werten am Evangelium zu orientieren habe, stehen. Die Frage nach der politischen Form des Staatswesen ist demgegenüber nachrangig und schwankt lediglich zwischen den Polen Willkür und Tyrannei. Das Wort der Arbeitsgemeinschaft dokumentiert daher - auch filr die Evangelische Kirche in Deutschland - die politische Abstinenz und sachliche Inkompetenz offizieller kirchlicher Stellungnahmen in bezug auf konkrete deutschlandpolitische Entwicklungen und Positionen. Die von der SED initiierte Volkskongreßbewegung stellte auch an die Evangelische Kirche die Frage, ob sie in ihrer Verantwortung filr die Deutschlandpolitik daran teilnehmen sollte oder nicht. Nachdem ein Vorschlag von Dibelius, einen eigenen Kirchentag einzuberufen, der sich aktiv gegen die Teilung Deutschlands einsetzen sollte, im Rat keine Mehrheit gefunden hatte, entschlossen sich die in der SBZ amtierenden lutherischen Bischöfe Mitzenheim und Beste, an dem "Volkskongreß filr Einheit und gerechten Frieden" am 6./7. Dezember 1947 teilzunehmen. 305 Dies war nicht nur ein deutliches Signal ftlr das hohe Engagement der Evangelischen Kirche in der Deutschlandfrage, sondern gleichzeitig auch Ausdruck der Sorge der östlichen Landeskirchen, vom Westen in dieser Frage nicht mehr genügend Unterstützung zu erhalten.306 Hier wirkte stark das Scheitern der Ministerpräsidentenkonferenz vom Juni 1947 nach, an der deutlich geworden war, daß selbst bei den handelnden deutschen Siehe S. 70. Die unierten ostdeutschen Kirchen lehnten eine Teilnahme ab. Dies mag als Hinweis auf das unterschiedliche Staats- und Obrigkeitsverständnis zwischen Lutheranern und Unierten gewertet werden. Vgl. Nowak 1990, S. 57. Siehe auch: Lotz 1992, s. 126 ff. 306 Vgl. Friebe/1992, S. 358. 304
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Politikern die gesamtdeutschen Orientierungen im Vergleich zu anderen Fragen nachrangig geworden waren und die Bereitschaft wuchs, die - wenn auch nur vorläufig gedachte - Spaltung Deutschlands in zwei Staaten hinzunehmen. Wenn auch die EKD im allgemeinen zu konkreten deutschlandpolitischen Konzepten und Entscheidungen schwieg und sich auf die pauschale Forderung nach Einheit des deutschen Volkes beschränkte, reagierten vier der acht ostzonalen Landeskirchen negativ auf den Vorschlag der SED, das vom zweiten Volkskongreß vorgeschlagene "Volksbegehren fiir Einheit und gerechten Frieden" zu unterstützen. Nicht, weil man gegen die Einheit war, sondern gegen die konkrete Einheitspolitik, wie sie in der SBZ durch die marxistisch-leninistische Umgestaltung sowie durch die Verfassungsarbeiten des aus der Volkskongreßbewegung hervorgegangenen "Deutschen Volksrates" betrieben wurde.307 Hier zeigte sich erstmals eine kritische Haltung zur Deutschlandpolitik in einer offiziellen kirchlichen Stellungnahme, die die Gefahr der Teilung Deutschlands nicht mehr pauschal der Uneinigkeit der Siegermächte zuwies, und die andererseits nicht mehr bereit war, den nationalen Gedanken aus dem gesellschaftspolitischen Kontext zu lösen. Am Abschluß der Deutschen Evangelischen Woche vom 27. Juli bis l. August 1949 in Hannover stand die Konstituierung des "Deutschen Evangelischen Kirchentages" als feste Einrichtung der protestantischen Laienbewegung. 308 Auf der Abschlußkundgebung wurde ein "Wort zur Bundestagswahl" verabschiedet. Eingangs wurde festgestellt, daß es noch schwieriger Schritte und einer geistigen Wandlung bedürfe, damit "unser Volk den weiten Weg von der totalen Kapitulation zur Wiederherstellung seiner Freiheit gehen" 309 könne. Daher sieht der Kirchentag mit besonderem Schmerz, daß sich nur ein Teil des deutschen Volkes eine politische Vertretung geben kann. Das Wort schließt mit der Aufforderung an die evangelischen Christen, "Persönlichkeiten zu wählen, die sich unserem ganzen Volk verpflichtet fiihlen" 310• In einer "Bitte um einen gerechten Frieden" wandte sich der Kirchentag auch an die internationale Öffentlichkeit, um deutlich zu machen, daß die gegenwärtigen politischen Entwicklungen den Frieden ferner rücken als je zuvor und daß das deutsche Volk "sich in seiner Zerrissenheit nach einer gemeinsamen Ordnung des Rechts und der Freiheit sehnt. "311
Vgl. Friebe/1992, S. 360. Onnasch 1989, S. 218 f. Nowak 1990, S. 55 ff. Damit war im deutschen Protestantismus etwas qualitativ Neues entstanden, denn der frühere Deutsche Evangelische Kirchentag war eine verfassungsmäßige Organisation des Kirchenbundes von 1922 und damit eher der späteren EKD-Synode vergleich307 308
bar.
309
310 311
Wort zur Bundestagswahl; in: KJdEKD, 1949, S. 69. KJdEKD, 1949, S. 69. Bitte um einen gerechten Frieden; in: KJdEKD, 1949, S. 69/70, hier S. 69.
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Nachdem die Bundesregierung der Bundesrepublik Deutschland erstmalig gebildet worden war und es eine provisorische Regierung der Deutschen Demokratischen Republik gab, äußerte sich der Rat der EKD in einem Wort. Er beklagte die Zerrissenheit Deutschlands in zwei Teile, "die aus der Uneinigkeit der Besatzungsmächte entstanden ist. "312 In der Verantwortung fiir die evangelische Christenheit im Osten und im Westen Deutschlands mahnte der Rat: "Trotz aller Entscheidungen der weltlichen Mächte, die über uns herrschen, bleiben wir ein Volk und sind darum zu brüderlicher Gemeinschaft miteinander und zu brüderlicher Achtung voreinander verpflichtet." 313 Die Zerrissenheit des deutschen Volkes kann nur durch die Rückkehr zu Gottes Geboten überwunden werden. In diesem Sinne erwartete der Rat von den beiden deutschen Regierungen, "daß sie alles daransetzen, dem deutschen Volk eine neue Einheit seiner staatlichen Ordnung wiederzugeben." 314 Das Wort der EKD zur Gründung der beiden deutschen Staaten konzentrierte sich nur auf die Frage der Wiedervereinigung. Die Verantwortung fiir die Teilung Deutschlands wurde den Besatzungsmächten gegeben. Auf die politischen Diskussionen in der deutschen Öffentlichkeit über die Zukunft Deutschlands - insbesondere in den deutschen Parteien- wurde kein bezuggenommen und dies, obwohl im Westen wie im Osten erheblich über diese Frage gestritten wurde. In dem Wort wird offiziell keine Wertung der beiden deutschen Regierungen und der Legitimität ihrer Bildung - immerhin wurde die Regierung der DDR ohne vorangegangene Wahlen gebildet - vorgenommen. Vielmehr wurden beide Regierungen als Obrigkeit anerkannt. Oberstes Ziel beider deutscher Regierungen sollte nach kirchlichem Willen die Schaffung der staatlichen Einheit des deutschen Volkes sein, wobei das Wort des Rates keinerlei Aussagen über das künftige Gesellschafts- und Staatssystem macht. Das vorsichtig abgefaßte Wort mit seiner Konzentration auf die Forderung nach Wiedervereinigung des zerrissenen deutschen Volkes war ein Kompromiß einer äußerst kontrovers gefiihrten Diskussion im Rat der EKD. Die Kontroverse hatte sich schon an dem Wort zur Bundestagswahl zwischen östlichen und westlichen Kirchenvertretern entwickelt in der Frage des Obrigkeitscharakters der ostdeutschen Regierung, die gerade von Otto Dibelius abweisend beantwortet wurde. 315 In der Erklärung des Rates setzte sich jedoch die Auffassung durch, daß beide Regierungen in der Verantwortung ftlr die Einheit Deutschlands stünden. Konsequenz dieser Auffassung war, daß die EKD bereits am 29. November 1949 "Bevollmächtigte der EKiD" bei den beiden deutschen Regierungen berief, um unter anderem Einfluß auf die Gestaltung der Politik in beiden deutschen Staaten zu gewinnen.
KJdEKD, 1949, S. 46. KJdEKD, 1949, S. 46. 314 KJdEKD, 1949, S. 47. 315 Vgl. Friebe/1992, S. 362 ff. 312 313
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V. Schuldeingeständnis der Evangelischen Kirche und das Konzept der Rechristianisierung Deutschlandpolitisch von außerordentlicher Bedeutung im in- wie im Ausland war die Stuttgarter Schulderklärung der Evangelischen Kirche im Jahre 1945. Die innerkirchliche Diskussion um die Frage der Schuld des deutschen Volkes an den Verbrechen des Nationalsozialismus offenbarte jedoch auch die traditionsgeschichtliche Gebundenheit der Mehrzahl der evangelischen Kirchenfiihrer. Eine überkommene Vorstellung vom Volk und der Nation beiOrderte dartiber hinaus die Entwicklung eines Konzeptes der "Rechristianisierung" der deutschen Gesellschaft mit weitreichenden Konsequenzen fiir das kirchliche Handeln und Denken.
1. Stuttgarter Erklärung und Darmstädter Wort Am 19. Oktober 1945 wandte sich die "Evangelische Kirche in Deutschland" als vorläufiger gesamtkirchlicher Zusammenschluß in Stuttgart mit einer Erklärung des Rates der EKD an die (deutsche und) internationale Öffentlichkeit.316 Die "Stuttgarter Erklärung" 317 sprach von einer Solidarität der Schuld mit dem deutschen Volk. Zwar habe die Kirche gegen den nationalsozialistischen Geist gekämpft, doch wird die Selbstanklage erhoben, dies nicht im ausreichenden Maße getan zu haben. Doch nun solle ein neuer kirchlicher Anfang folgen, bei dem eine Reinigung von glaubensfremden Einflüssen miteingeschlossen ist. Die Kirche wird als Werkzeug Gottes gesehen, um seinem Willen auch im ganzen Volk Geltung zu verschaffen. Hervorgehoben wird die Verbundenheit mit den Kirchen der ökumenischen Gemeinschaft. 318 Der Kernsatz der Erklärung lautete: "Durch uns ist unendliches Leid über viele Völker und Länder gebracht worden [...] wir klagen uns an, daß wir nicht mutiger bekannt[ ... ] und nicht brennender geliebt haben." 319
316 Henkys (1987, S. 53) stellt heraus, daß die Erklärung in erster Linie an ausländische Kirchenvertreter gerichtet war und in Deutschland zunächst nicht veröffentlicht wurde. Sie stellt keinen an die Gemeinden gerichteten Bußruf dar. 317 Dokumentiert in: Denzier 1984, Band 2, S. 254. KJdEKD 1945-1948, S. 26 f. 318 Vgl. Denzier 1984, Band 2, S. 254. Siehe auch: Herbert, Kar/: Ein aufgenötigtes Bekenntnis? Die Rolle der Ökumene in Stuttgart; in: EvKomm, 1985, S. 564-567. 319 KJdEKD 1945-1948, S. 26. Zur aktuellen Diskussion um das Schuldbekenntnis siehe: Tödt, Heinz Eduard: Schuldbekenntnis als neuer Anfang. Zur Stuttgarter Erklärung nach vierzig Jahren; in: LM, 1985, S. 508-511. Weeber, Rudolf: Das erste Wort der Buße. Zur Stuttgarter Schulderklärung; in: EvKomm, 1985, S. 562-564. Besier, Gerhard I Sauter, Gerhard: Wie Christen ihre Schuld bekennen. Die Stuttgarter Erklärung 1945, Göttingen 1985. Beintker 1989. Besier 199lb. Sauter 1991. Im Zeichen der
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Diese Schulderklärung war bald innerkirchlich heftig umstritten. Der Text wurde unterschiedlich gedeutet, indem man die Akzente unterschiedlich setzte. So wurde entweder das Schuldanerkenntnis hervorgehoben, oder man konzentrierte sich auf den Neuanfang, oder es wurde der kirchliche Widerstand betont.320 Insbesondere die lutherischen Landeskirchen raubten dem Stuttgarter Schuldbekenntnis mit seinem Ansatz der kirchlichen Selbstbesinnung die Stoßkraft. So erklärte beispielsweise der Hannoveranisehe Oberlandeskirchenrat (und spätere Landesbischof) Hanns Lilje 321 in einem als Flugblatt veröffentlichten Brief vom November 1945, daß die Erklärung "niemals fiir die Öffentlichkeit bestimmt gewesen" und nicht so aufzufassen sei, als ob "das deutsche Volk sich als schuldig an diesem Krieg und seinen Greueln bekenne."322 Damit war die Frage der Kollektivschuld der Deutschen in die kirchliche Diskussion eingefiihrt. Niemöller forderte eine deutliche Rede der Kirche, in der sie unmißverständlich auch von ihrer Schuld reden sollte. Der EKD-Ratsvorsitzende Wurm hingegen sah die Schuld nur bei fuhrenden Leuten und Fanatikern im nationalsozialistischen Staat. 323 Damit blieb die Stuttgarter Erklärung in ihrem Bedeutungsgehalt in dieser Frage durchaus ambivalent und offenbarte die Geisteswelt zahlreicher Kirchenfuhrer, in der der Nationalsozialismus ein dämonisches Phänomen blieb, dem das deutsche Volk quasi hilflos ausgeliefert war. 324 Trotz der Kritik und der unterschiedlichen Interpretationen blieb der Gehalt der Erklärung bestehen: Das Schuldeingeständnis des deutschen Volkes und der Evangelischen Kirche, die Verbundenheit mit der Ökumenischen Bewegung und der besondere Auftrag der Kirche bei der Neugestaltung. Allerdings enthielt das "Stuttgarter Schuldbekenntnis" keine politische Analyse und die "innenpolitische Konkretion blieb einzelnen Personen und Gruppen überlassen, zu denen die kirchliche Institution bald deutlich auf Distanz ging. Dies zeigte
Schuld. 40 Jahre Stuttgarter Schuldbekenntnis. Eine Dokumentation, Martin Greschat (Hg.), Neukirchen 1985. 320 Vgl. Greschat 1983, S. 271. Zur Rezeption der Schulderklärung siehe auch: Friebel 1992, S. 90 ff. und 101 ff. Fischer 1970, S. 31 ff. und 436 ff. Fass 1986, S. 47 ff. Sauter, Gerhard: Versäumnis und Schuld der Vergangenheit. Stuttgarter Erklärung und Darmstädter Wort schufen neues Vertrauen; in: LM, 1985, S. 464-467. Kirche nach der Kapitulation 1990, S. 18 ff. KJdEKD 1985, S. 117 ff. 321 Lilje selbst hatte 1941 den Krieg ideologisch legitimiert in seinem in Berlin erschienenden Buch "Der Krieg als geistige Leistung". Siehe hierzu: Pereis 1981, Fußnote 10. 322 Zitiert nach: Pereis 1981, Fußnote II. 323 Vgl. Latz 1992, S. 36. Zur unterschiedlichen Interpretation des Nationalsozialismus siehe auch: Noormann 1985, Bd. 1, S. 91 ff. 324 Zur unmittelbaren Wirkungsgeschichte der Stuttgarter Erklärung im kirchlichen Raum siehe: Noormann 1985, Bd. I, S. 53 ff.
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sich schon I 947, als der Bruderrat der Bekennenden Kirche sein Darmstädter Wort "zum politischen Weg unseres Volkes" veröffentlichte."325 Der ehemalige Reichsbruderrae 26 hatte nach 1945 keine kirchenleitenden Funktionen beansprucht, doch sah er fiir sich die Aufgabe, den von Kar! Barth geprägten Flügel der Bekennenden Kirche weiterhin zu repräsentieren. 327 In diesem Sinne war das Darmstädter Wort vom 8. August 1947 der Versuch, die Stuttgarter Erklärung weiter zu entwickeln und die zweite These des Barmer Bekenntnisses zu aktualisieren. Das Wort des Bruderrates328 stellte in seinen sieben Thesen unter anderem fest, daß es irrig gewesen sei, den Traum einer deutschen Sendung zu träumen. Angeprangert wurde der Versuch, eine "christliche Front" gegen gesellschaftliche Reformen zu errichten und damit das Recht auf Revolutionen zu verneinen. Es wurde betont, daß die marxistische Lehre die Kirche an die Realität des Diesseits hätte gemahnen müssen. Ferner wurde der kulturkämpferischen Parole "Christentum und abendländische Kultur" eine Absage erteilt. Schließlich erinnerte das Darmstädter Wort an die Verantwortung, "die alle und jeder einzelne von uns fiir den Aufbau eines besseren deutschen Staatswesens tragen, das dem Recht, der Wohlfahrt und dem inneren Frieden und der Versöhnung der Völker dient." 329 Zusammenfassend läßt sich herausstellen, daß auch das Darmstädter Wort zur verantwortlichen Mitarbeit der Kirche und jedes einzelnen Christen aufrief, aber insofern über die Stuttgarter Erklärung hinausging, als es eine Analyse kirchlichen Verhaltens und Schuldigseins versuchte und die Freiheit von allen innerweltlichen Normen und Weltanschauungen postulierte. Es gab eine heftige innerkirchliche Kritik an dem Wort der Bruderräte. 330 Dies zeigte einerseits, wie wenig diese Konkretion der Mehrheit der evangelischen Christen nahe kam, und andererseits die Vorboten des Kalten Krieges, indem der Kommunismus dämonisiert anstatt sachangemessen beurteilt wurde. Trotzdem blieben Teile der bruderrätlichen Minderheit weiter entschiedene Anhänger des Konzeptes der "Brückenbildung" zwischen Ost und West. 331 Bei aller innerkirchlichen Kritik an der Äußerung der Bruderräte kann die These Henkys 1987, S. 54. Vgl. Mochalski, Herbert: Der Bruderrat der evangelischen Kirche in Deutschland 1945-1951; in: Bekennende Kirche. Martin Niemöller zum 60. Geburtstag, München 1952, s. 159-163. 327 Henkys 1987, S. 54. 328 Dokumentiert in: Denzier 1984, Band 2, S. 256 f. KJdEKD 1945-1948, S. 220 f. 329 Denzier 1984, Band 2, S. 257. 330 Zur Diskussion um das Darmstädter Wort siehe: Möller 1984, S. 45 ff. Fischer 1970, S.59ff. Pereis 1981, S.l57f. Friebel 1992, S. ll4ff. Mayer, Rainer: Vermächtnis der Bekennenden Kirche. Das Darmstädter Wort heute; in: EvKomm, 1987, S. 639-642. 331 Vgl. Greschat 1983, S. 277 f. 325
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zur Wirkungsgeschichte des Dannstädter Wortes von Joachim Pereis abschließend zustimmend zur Kenntnis genommen werden, daß das Wort einen "radikale[n] Revisionsprozeß der theologischen und damit auch politischen Vorstellungswelt gewichtiger Gruppen des Protestantismus eingeleitet" 332 hat. In Bezug auf den Problemkreis Volk, Nation und Vaterland stellt das Dannstädter Wort, auch wenn es in den folgenden Jahren im Raum der Evangelischen Kirche angefeindet und unterdrückt wurde, einen entscheidenden Anfang der Revision der nationalprotestantischen Tradition dar, indem der Volksbegriff entmythologisiert wurde und die Gefahr des kulturprotestantischen Konservatismus' benannt wurde. 333
2. Das Konzept der Rechristianisierung Die Stuttgarter Erklärung verdeutlichte, daß die Evangelische Kirche grundsätzlich entschlossen war, Verantwortung zu übernehmen und das öffentliche Leben mitzugestalten. Die Erfahrungen des Kirchenkampfes hatten sich durchgesetzt. Religion als Privatsache war ebensowenig verantwortbar wie eine unpolitische Kirche. Prinzipiell gab es damit keine Vorbehalte mehr gegenüber der Demokratie. 334 Dennoch wurde der Staat nicht funktional, sondern weiterhin lediglich metaphysisch als göttliche Anordnung begriffen. 335 Die Folge dieses neuen, sich etablierenden Politik- und Staatsverständnisses war, daß viele Protestanten sich in Parteien engagierten und es zur Gründung der sich als konfessionsübergreifenden Volkspartei verstehenden CDU kam. 336 Ausdruck der Förderung der politisch-gesellschaftlichen Diskussion im Raum der Kirche war unter anderem auch das Entstehen der Evangelischen Akademien337 und der Beginn der Kirchentagsbewegung338 . Pereis 1981, S. 158. Vgl. Woifl970, S. 207 f. JJ 4 Karl Barth ging in seinem Aufsatz "Christengemeinde und Bürgergemeinde" sogar von einer Affinität zwischen Christentum und Demokratie aus. Auch lutherische Theologen hegten keine Vorbehalte gegen ein demokratisches Staatswesen. Vgl. Jasper 1983, S. 32. 335 Vgl. Henkys 1987, S. 55. 336 Zur Bedeutung der Gründung siehe Schönbohm 1979, insbesondere S. 40 ff. Siehe auch zur Gründung der CSU: Gutjahr-Löser 1979, insbesondere S. 46 f. 337 Vgl. Henkys 1987, S. 55. Zu den Akademien siehe auch: Denkschrift eines vom Rat der Evangelischen Kirche in Deutschland eingesetzten Ausschusses: "Der Dienst der Evangelischen Akademien im Rahmen der kirchlichen Gesarntaufgabe"; in: ZEE, 1963, S. 375-384. Greiffenhagen, Martin: Salz der Erde. Zur Situation der Evangelischen Akademien nach vierzig Jahren; in: EvKomm, 1987, S. 502-506. Heinemann, Gustav W: Eine Brücke über Abgründen. Zu den Evangelischen Akademien; in: LM, 1971, S. 38-40. Heinemann, Gustav W: Evangelische Akademien heute; in: Kirche in diesen Jahren. Ein Bericht. Präses Professor D. Dr. Joachim Beckmann zum 70. Ge332 333
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Grundlage dieses kirchlichen politischen Engagements war aber das bei der Mehrheit der Funktionsträger vertretene Konzept einer Rechristianisierung. Dieses Konzept basierte auf einer spezifischen Interpretation des NS-Staates. Mit seiner Infragestellung aller moralischen Werte erschien er als Produkt des Zerfalls, der Modernisierung und Säkularisierung. Damit wurde der Nationalsozialismus in den universalen Prozeß der Moderne gestellt und als Abfall des christlichen Abendlandes von seinen Werten gedeutet. Damit konnte natürlich auch die Schuldfrage des deutschen Volkes entlastend beantwortet werden. 339 Die Säkularismusthese enthielt weiterhin als Anlage auch die Möglichkeit der Aktualisierung in bezugauf den Kommunismus. 340 Diesem Verfall der moralischen Basis wurde die Rückbesinnung auf christliche Werte gegenübergestellt. Darauf basierend wurde dann die Vorstellung einer "christlichen Demokratie" entwickelt. Die demokratische Erneuerung des Staates war nur vorstellbar durch eine eindeutige Verankerung in den Geboten Gottes. Um dies zu verwirklichen, "bedurfte die Gesellschaft notwendig der kritischen Begleitung sowie der autoritativen Weisungen seitens der Kirche." 341 Die Vorstellung einer Rechristianisierung der Gesellschaft stand dabei in einem engen Zusammenhang mit der kirchlichen Interpretation des Säkularisierungsprozesses in der Moderne. 342 Die Entwicklung zur modernen Demokratie
burtstag, Karl Immer (Hg.), Neukirchen-VIuyn 1971, S. 61-66. Karrenberg, Friedrich: Zur Kritik an den evangelischen Akademien; in: ZEE, 1959, S. 376-381. May, Hans: Für ein neues Orientierungssystem. Die Aufgaben evangelischer Akademien heute; in: LM, 1983, S. 362-366. Storck. Hans: Forum oder Parteilichkeit. Zur theologischen Funktion Evangelischer Akademien; in: LM, 1976, S. 322-323. Weissgerber, Hans: Modellfall Evangelische Akademie; in: LM, 1966, S. 6-10. Zehn Jahre Evangelische Akademien in Deutschland; in: Das Parlament, Nr. 42 vom 19. Oktober 1955, S. 7-16. 338 Zum Kirchentag siehe: Duchrow, Ulrich: Kirchentag mit neuer Öffentlichkeit. Versuch einer Kommunikation von unten; in: EvKomm, 1972, S. 402-405. Giesen, Heinrich: Kirchentag zu dieser Zeit; in: LM, 1963, S. 273-275. Kortzfleisch, Siegfried von: Den Laien Selbstbewußtsein gegeben. Deutscher Evangelischer Kirchentag ist vierzig Jahre alt; in: LM, 1989, S. 241-243. Hören- handeln- hoffen. 30 Jahre Deutscher Evangelischer Kirchentag, Carola Wolf/Hans Hermann Walz (Hg.), Stuttgart!Berlin 1979. Feige, Andreas I Zigann, Herbert: Der Kirchentag als offener Ort filr die Suche nach Sinn: Paradigma für eine neue Art von Kirchlichkeit? Eine soziologische Interpretation empirischer Ergebnisse; in: Unterwegs fiir die Volkskirche. Festschrift fiir Dieter Stoodt zum 60. Geburtstag, Wilhelm-Ludwig Federlin!Edmund Weber (Hg.), Frankfurt am Main/Bem/New York 1987, S. 155-171. 339 Vgl. Noormann 1985, Bd. I, S. 46 ff. 340 Vgl. Jasper 1983, S. 35. Jasper weist mit Recht daraufhin, daß diese Interpretation den Nationalsozialismus auf eine rein religiös-moralische Dimension reduziert und somit konkrete gesellschaftliche und ökonomische Faktoren außer acht läßt. (ebenda) 341 Greschat 1983, S. 273. 342 Greschat, Martin: "Rechristianisierung" und "Säkularisierung". Anmerkungen zu einem europäischen interkonfessionellen Interpretationsmodell; in: Christentum und politische Verantwortung. Kirchen im Nachkriegsdeutschland, Jochen-Christoph Kai-
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wurde von Theologie und Kirche seit Jahrhunderten als Versuch der "utopischen Vollendung der Säkularisation"343 betrachtet. Daher konnte zwischen Demokratie und christlicher Gesellschaftsauffassung nur ein eminenter Gegensatz gesehen werden, so lange die Säkularisation nicht positiv als Freiheit des Christentums gegenüber institutionellen und sozialen Bewegungen begriffen werden konnte. Die kirchliche Demokratietheorie konnte somit die demokratische Staatsform nur auf der Grundlage eines christlichen Fundamentes anerkennen, um so ein Korrektiv gegen den seit der Aufklärung fortschreitenden und aus Sicht der Kirche ablehnend bewerteten Prozeß der Rationalisierung der säkularen Welt zu installieren. Erst als der Segen der Säkularisation 344 fiir die Kirche im fortschreitenden Diskussionsprozeß erkannt wurde, konnte die Frage nach der sozialen Verantwortung der Kirche in der säkularisierten Gesellschaft345 neu gestellt werden und ein fortschrittliches Verhältnis zur pluralistischen Demokratie entwickelt werden. Die Konsequenz des Konzeptes der Rechristianisierung war jedoch nicht nur eine entschiedene Abwehrhaltung gegenüber dem Sozialismus und Kommunismus, da hier die Kirche selbst bedroht schien, und trotz parteipolitischer Neutralität eine besondere Nähe zur CDU/CSU, sondern auch der Rückfall in alte Vorstellungen: Kirche -als Staatskirche- und Staat regieren gemeinsam die Untertanen auf der Grundlage verbindlicher christlicher Rechtfertigung. Diese Auffassung stand im krassen Widerspruch beziehungsweise Spannungsverhältnis zu der Vorstellung eines demokratischen Staates, der durch weltanschauliche Neutralität Wertepluralismus und pragmatischen Kompromiß bei politischen Gegensätzen garantierten muß.
ser/Anselm Doering-Manteuffel (Hg.), Stuttgart!Berlin!Köln 1990, S. 1-24. Siehe auch: Küenzlen 1992. 343 Besson 1966, S. 202. 344 Vgl. Rothermundt, Jörg: Der Segen der Säkularisation; in: LM, 1969, S. 556-561. Siehe auch zur Neubewertung des Säkularisationsprozesses: Foerster, Heinrich: Säkularisierung- Verhängnis oder Chance?; in: LM, 1966, S. 448-452. Niebuhr, Reinhold: Demokratie, Säkularismus und Christentum (1956); in: Kirche und moderne Demokratie, Theodor Strohm!Heinz-Dietrich Wendland (Hg.), Darmstadt 1973, S. 132-138. Gablentz 1965. Heun, Werner: Aspekte der Säkularisierungsdebatte, in: ZevKR, 1985, S. 202-216. Säkularisierung. Wege der Forschung, Bd. 424, Heinz-Horst Schrey (Hg.), Darmstadt 1981. 345 Vgl. Soziale Verantwortung in der säkularisierten Gesellschaft. Schlußbericht des vom Sozialausschuß der Evangelischen Kirche von Westfalen eingesetzten Ausschusses "Verantwortliche Gesellschaft" (Vorsitzender: Prof. D. Dr. H.-D. Wendland); in: ZEE, 1963, s. 65-103.
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VI. Die Flüchtlings- und Vertriebenenfrage als praktische Deutschlandpolitik der Evangelischen Kirche Die Flüchtlings- und Vertriebenenfrage entwickelte sich zu einem der bedrängendsten Probleme im Nachkriegsdeutschland.346 Im Sommer 1945 richtete der Rat der EKD eine Eingabe an den Alliierten Kontrollrat und die UNO, in der eine menschenwürdige Regelung der beabsichtigten Evakuierung Millionen Deutscher aus Ost- und Südosteuropa gefordert wurde. In der Sorge, daß hunderttausende von "Volksgenossen" an Unterernährung sterben würden, da Deutschland sich in seinen gegenwärtigen Grenzen nicht selbst ernähren könne, wurden zwei Problemlösungsmöglichkeiten geboten: "Entweder muß von der Evakuierung der Deutschen aus den östlichen Ländern Abstand genommen und diesen Deutschen die Möglichkeit gegeben werden, in ihrer alten Heimat zu bleiben und dort als loyale Staatsbürger ihren Lebensunterhalt zu verdienen oder es müssen die jetzt von Deutschland abgetrennten landwirtschaftlichen Überschußgebiete ganz oder wenigstens teilweise zurückgegeben werden. "347 Nur so könne auch Deutschland im Bemühen um Frieden Gerechtigkeit und Menschenliebe widerfahren. Die Forderung nach Rückgabe der deutschen Ostgebiete taucht noch einmal in einer Erklärung des Rates der EKD vom 27. März 1947 anläß1ich der Moskauer Außenministerkonferenz auf, da ansonsten "unser Volk in der Enge seines Landes ersticken und sterben muß."348 Im späteren Reden und Handeln der Evangelischen Kirche in Deutschland wurde jedoch diese Position nicht mehr weiter vertreten, sondern die konkreten Probleme der Vertriebenen und Flüchtlinge angesichts der Umsiedlung aus ihrer Heimat und der Ansiedlung in den Besatzungszonen rückten ins Zentrum. Die Evangelische Kirche engagierte sich ununterbrochen mit zahlreichen Eingaben, Worten und Kundgebungen filr die Deutschen in den abgetrennten 346 Als Überblick siehe: Henke, Josef Flucht und Vertreibung der Deutschen aus ihrer Heimat im Osten und Südosten 1944-1947; in: APUZ, 23/1985, S. 15 ff. Schieder, Theodor: Die Vertreibung der Deutschen aus dem Osten als wissenschaftliches Problem; in: VfZ, 1960, S. 1-16. Beneke, Ju/iane I Doetzer, Oliver I Knoch, Habbo I Matthiesen, Helge I Motte, Jan: Die "Flüchtlingsgesellschaft" in Westdeutschland: Integration von 12 Millionen Zuwanderern - Scheitern oder Erfolg?; in: SOWI. Sozialwissenschaftliche Informationen für Unterricht und Studium, 3/1992, S. 151 ff. Bauer, Franz J.: Zwischen "Wunder" und Strukturzwang. Zur Integration der Flüchtlinge und Vertriebenen in der Bundesrepublik Deutschland; in: APUZ, 32/1987, S. 21 ff. Lüttinger, Paul: Integration der Vertriebenen. Eine empirische Analyse, Frankfurt am Main/New York 1989. Sywottek, Arnold: Flüchtlingseingliederung in Westdeutschland. Stand und Probleme der Forschung; in: APUZ, 51/1989, S. 38 ff. Zayas, Alfred M. de: Die AngloAmerikaner und die Vertreibung der Deutschen. Vorgeschichte, Verlauf, Folgen, 3. Aufl., München 1985. 347 K.JdEKD, 1945-1948, S. 162-163, hier S. 163. 348 Zitiert nach Nowak 1990, S. 56.
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deutschen Ostgebieten. Dabei stand der Zusammenhalt des deutschen Volkes im Vordergrund. So formulierte die Landessynode der Evangelisch-Lutherischen Kirche in Bayern in einer Kundgebung vom Juli 1946 in Ansbach: "Um ihres Trostamtes willen mahnt die Kirche: Vergeßt Eure Brüder und Schwestern im Osten nicht! Sie gehören zu uns wie wir zu ihnen; sie sind Fleisch von unserem Fleisch und Blut von unserem Blut." 349 Die konkrete kirchenorganisatorische Reaktion auf das Schicksal der ostdeutschen Kirchen war die auf der Treysaer Kirchenführerkonferenz im August 1945 beschlossene Gründung des "Kirchendienstes Ost", das als Sekretariat beim Berliner Bischof Otto Dibelius angebunden war. 350 Die zweifache Aufgabenstellung bestand darin, zum einen den aus dem Ostraum stammenden kirchlichen Amtsträgem und deren Angehörigen zu helfen und zum anderen die evangelischen Restgemeinden in den polnisch verwalteten Gebieten zu betreuen. Ziel der Arbeit war vor allem Information und Beratung sowie der "Ruf zur Einkehr und zum Glauben- mit aller Absage auch an bloß sentimentale Erinnerungen oder falsche Hoffuungen, an unchristliche Vergeltungsgedanken, an Klagen und Anklagen, an Selbstrechtfertigung oder Resignation. "351 Im Sommer 1946 wurde der "Ostkirchenausschuß" mit Unterausschüssen in den einzelnen Landeskirchen gegründet. Er hatte die Aufgabe, die Ostkirche und ihre Pfarrer gegenüber den westlichen Landeskirchen zu vertreten.352 Im Rahmen dieser Ostkirchenarbeit setzten sich beide Institutionen aktiv für die in den Ostgebieten verbliebenen Deutschen gegenüber den Alliierten ein und forderten unter Berufung auf das Potsdamer Abkommen insbesondere die ordnungsgemäße und humanitäre Evakuierung der deutschen Bevölkerung.353 Die erste wirkliche Synode der Evangelischen Kirche in Deutschland in der Geschichte des deutschen Protestantismus trat im Januar 1949 in Bethel zusammen. Als einzige Kundgebung verabschiedete sie ein vom Bruderrat der EKD vorbereitetes "Wort zur Flüchtlingsfrage" 354 • Das Wort wandte sich nicht nur an die "vertriebenen Brüder und Schwestern", sondern auch an die internationalen Hilfswerke, ausländische Regierungen und die Besatzungsmächte. Einleitend wird das Schicksal der vertriebenen Deutschen in Zusammenhang gestellt mit den Vertreibungen, die vorher durch Deutsche an den europäischen Nationen sowie an Angehörigen des eigenen Volkes- namentlich der jüdischen 349 Kundgebung der Landessynode der Evang.-Luth. Kirche in Bayern in Ansbach. 9.-13. Juli 1946; in: KJdEKD, 1945-1948, S. 47-51, hier S. 49. 350 Siehe hierzu: Kruska, Hara/d: Zehn Jahre Kirchendienst Ost; in: KJdEKD, 1954, s. 198-228. 351 KJdEKD, 1954, S. 201. 352 Vgl. KJdEKD, 1954, S. 205. 353 Siehe hierzu unter anderem: Eingabe von Bischof Dibelius an den Alliierten Kontrollrat vom 6.11.1945; in: KJdEKD, 1954, S. 210-211. 354 KJdEKD, 1949, S. 14-16.
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Bevölkerung - verübt wurden, um dann zur Umkehr aufzurufen "und den Frieden Gottes und die Versöhnung mit den Menschen {zu] suchen."355 Jedem Vergeltungsdrang und jeder Hoffnung auf einen neuen Krieg, der von der Not befreien soll, wird eine deutliche Absage erteilt. Statt dessen wird in dem Bewußtsein der Übereinstimmung mit der ökumenischen Bewegung um einen rechten Frieden gebeten, "der den Menschen das Leben läßt, [... ] die Möglichkeit zum Wiederaufbau [gibt], [... ] dem Heimatlosen eine Heimat [verheißt]"356. Adressiert an die deutschen Flüchtlinge und Vertriebenen in Ost und West formuliert das Wort: "Gott hat euch Leib und Leben nicht bewahrt, damit ihr eure Tage in Trauern und Grämen um Verlorenes verbringt, sondern vorwärtsschaut und im Vertrauen auf Gottes gnädige Führung in der Gewißheit lebt, daß Gott mit euch noch etwas vorhat." Dieses eindringliche und doch abgewogene Wort der ersten Synode der EKD stellt die Lage der deutschen Bevölkerung nicht als schicksalsgegeben hin, sondern fiihrt es auf das Handeln Deutschlands während des Nationalsozialismus' und des Krieges zurück. Gedanken an Vergeltung oder Wiederaufrichtung der nationalen Größe Deutschlands werden strikt abgelehnt. Die Ausruhrungen des Wortes gruppieren sich statt dessen um die zentralen Begriffe Frieden, Versöhnung und Gerechtigkeit. Mit keinem Satz wird die Rückgabe der abgetrennten deutschen Gebiete gefordert. Hingegen durchzieht das Wort das Bemühen, die Vertriebenen und Flüchtlinge auf der Grundlage sozialer Gerechtigkeit in der Gesellschaft heimisch zu machen. Deutlicher und ausfiihrlicher beschäftigte sich ein Sendschreiben des Bruderrates der EKD an die Christenheit der Welt zur Flüchtlingsnot in Deutschland auch aus dem Januar 1949. Angesichts der großen menschlichen Not durch das Flüchtlingsproblem warnt das Sendschreiben die Christenheit der Welt vor der fortschreitenden Proletarisierung in Deutschland, die aufgrundder inneren Entwurzelung der Menschen Nihilismus und Radikalisierung jedweder Art heraufbeschwört. "Die Flüchtlingsfrage ist zu einer Lebensfrage unseres Volkes geworden." 357 Der Bruderrat ermahnt nicht nur Einheimische und Flüchtlinge, in den Gemeinden einander zu achten, zu helfen und darauf hinzuarbeiten, eine Gemeinde zu werden, sondern stellt angesichts des Flüchtlingsproblems die Christenheit und die Obrigkeiten unter Gottes Gebot: "Das Flüchtlingsgeschehen stellt an alle die Frage nach Recht und Gerechtigkeit. Böses mit Bösem zu vergelten oder in einem Kriege die Lösung des Flüchtlingsproblems zu sehen, hieße das Flüchtlingselend in der Welt nur vergrößern. "358 355 KJdEKD, 1949, S. 15. 356 KJdEKD, 1949, S. 15. 357 Sendschreiben an die Christenheit zur Flüchtlingsnot; KJdEKD, 1949, S. 83-87,
hier S. 83/84. 358 KJdEKD, 1949, S. 86.
VI. Die Flüchtlings- und Vertriebenenfrage
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Statt dessen muß an einem echten Frieden gearbeitet werden, der die wirtschaftlichen Möglichkeiten in Deutschland zur Überwindung der Flüchtlingsnot schafft, so wie es die Weltkirchenkonferenz in Amsterdam sich bereits zur Aufgabe gemacht hat. Angesichts der massenhaften Vertreibung und der großen Flüchtlingsströme359 wurde das Hilfswerk der Evangelischen Kirche in Deutschland im August 1945 in Treysa gegründet. 360 Ziel war, die große menschliche Not in Deutschland wirksam mit kirchlichen Hilfeleistungen zu lindern. So wurde unter anderem die "Gemeinnützige Siedlungsgesellschaft des Hilfswerks m.b.H." gegründet, um den Flüchtlingen und Vertriebenen den Bau eigener Siedlungen zu ermöglichen. Besondere Bedeutung kam dem Hilfswerk dadurch zu, daß es nicht nur intensiv mit dem Wiederaufbauausschuß des Weltrates der Kirchen zusammenarbeitete - Eugen Gerstenmaier war der deutsche Vertreter im sogenannten Board of Manager- und Hilfeleistungen für Deutschland exklusiv koordinierte, sondern daß in der umgekehrten Richtung die Ökumenische Bewegung und damit auch das Ausland über das Hilfswerk authentische Berichte über die soziale und wirtschaftliche Lage in Deutschland erhielt. Im internationalen Agieren wurde auch die übergeordnete Intention der Kirchenführer und Theologen des Hilfswerkes der EKD deutlich, die darin bestand, "gerade Deutschland als christliche Nation innerhalb der abendländischen Kulturgemeinsamkeit [zu] retten." 361 Dieses Bemühen war wesentlich geprägt durch die Angst, daß der Kommunismus unter der Ägide der Sowjetunion sich bis nach Mitteleuropa ausweiten würde. Das unter maßgeblicher Mitwirkung von Gerstenmaier entwickelte Konzept der "politischen Diakonie", das in den Anfangsjahren bestimmend war für die Tätigkeit des Hilfswerkes, versuchte gerade eine Christianisierung der Gesellschaft und Politik, indem die Kirche mit ihren an christlicher Gerechtigkeit orientierten Werten aktiven Einfluß auf die Neuordnung der wirtschaftlichen, sozialen und gesellschaftlichen Verhältnisse im Nachkriegsdeutschland nehmen sollte und tatsächlich nahm. "Niemand komme und sage, das geht die Kirche gar nicht an." 362 Die politische 359 Das Kieler Institut ftlr Weltwirtschaft schätzte im März 1946 in einem Flüchtlingsgutachten die Zahl der deutschen Flüchtlinge und Vertriebenen aus den Ostgebieten auf 13.936.000. Vgl. Foss 1986, S. 65 f. 360 Siehe hierzu: Si/ex, Kar/: Das Hilfswerk der evangelischen Kirchen in Deutschland; in: KJdEKD, 1945-1948, S. 389-413. Foss 1986. Wischnath, Johannes Michael: Kirche in Aktion. Das Evangelische Hilfswerk und sein Verhältnis zu Kirche und Innerer Mission, Göttingen 1986. Der erste Leiter des Hilfswerkes, der es maßgeblich prägte, wurde Eugen Gerstenmaier. 1957 wurde das Hilfswerk mit der Inneren Mission zum Diakonischen Werk zusammengeschlossen. 361 Foss 1986, S. 85. 362 So Eugen Gerstenmaier in: Mitteilungen des Hilfswerkes der EKD, 5/1947, Sp. 74.
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Diakonie zielte nicht nur darauf, die Kirche nicht aus der Verantwortung fiir die politische Gestaltung Deutschlands zu lassen, sondern sie war gleichzeitig gegen jegliche sozialistischen oder marxistischen Vorstellungen gerichtet. Gerstenmaier, der als Anhänger der Theologie der Schöpfungsordnungen im sogenannten 111. Reich mit zwei bezeichnenden Werken hervorgetreten war363 , fiihrte mit seinem Konzept eine Spielart der Identifizierung des Volkes als gottgewollte Größe in der Schöpfung mit der christlichen Gemeinde fort. Von daher wird verständlich, daß das Hilfswerk in den Anfangsjahren von einer "gesamtgesellschaftlichen Verantwortung" der Kirche auf der Grundlage einer Rechristianisierung als unbedingte Forderung des moralischen Wiederaufbaus fiir die Neugestaltung im Nachkriegsdeutschland ausging.364 Mit dem Scheitern der Ministerpräsidentenkonferenz des Jahres 1947 änderte sich auch die innerdeutsche Qualität der Arbeit des Hilfswerkes. Zwischen den Hauptbüros in der sowjetisch besetzten Zone (SBZ) und denen in den westlichen Besatzungszonen wurden Patenschaften gebildet, die auch nach der Gründung der beiden deutschen Staaten bestehen blieben und so zumindestens den kirchlichen Einheitsanspruch dokumentierten. Die politische Entwicklung in der DDR fiihrte zu einer weiteren Intensivierung der Arbeit, zumal hier der Vertriebenenanteil mit 25% an der Gesamtbevölkerung erheblich höher lag als in der Bundesrepublik mit 17%. Bedeutsam war, daß die EKD als gesamtdeutsche Organisation mit ihrem Hilfswerk allein "noch intensiven Kontakt zur Bevölkerung der DDR [hatte], und es scheint fast so, als sei gerade ihr kirchlicher Apparat in der DDR nicht selten der organisatorische Halt fiir diejenigen gewesen, die die Entwicklung der DDR nicht bejahten."365 Das durch diesen Umstand eine Westorientierung der DDR-Kirchen befördert wurde, ist nicht abzuweisen, auch wenn im kirchlichen Bewußtsein die Brückenfunktion zwischen den beiden unterschiedlichen Gesellschafts- und Staatssystemen in Deutschland im Vordergrund stand. 366 So erklärte der Berliner Generalsuperintendent Friedrich-Wilhelm Krummacher in seinem Barmer Vortrag "Was kann der Westen fiir den Osten tun?": "Wir können helfen, Brücken zu schlagen: In der einen Gemeinde unseres Herrn Jesus Christus gibt es keinen eisernen Vorhang. "367 Das Hilfswerk gründete nach Herkunftsländern gegliederte "Hilfskomitees". Die Arbeit in diesen Komitees war bestimmt durch den Geist zur Flüchtlings363 Gerstenmaier, Eugen: Kirche, Volk und Staat, 1937. Gerstenmaier, Eugen: Die Kirche und die Schöpfung, 1938. 364 Vgl. Foss 1986, S. 105 f. 365 Degen, Johannes: Diakonie und Restauration. Kritik am sozialen Protestantismus der BRD, Neuwied/Darmstadt 1975, S. 68. 366 Andererseits gab es keine kirchliche Stellungnahme, die sich beispielsweise mit dem Konzept Joachim Kaisers, Deutschland zu einer Brücke zwischen Ost und West werden zu lassen, auseinandersetzte. Vgl. Friebe/1992, S. 360. 367 Mitteilungen des Hilfswer~s der EKD, 47/1951 , Sp. 6.
VI. Die Flüchtlings- und Vertriebenenfrage
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und Vertriebenenfrage, der auch in den kirchlichen Worten der ersten Nachkriegsjahre seinen Niederschlag gefunden hatte. Er fiihrte auch direkt zur "Charta der deutschen Heimatvertriebenen" vom 5. August 1950368 , in der im "Bewußtsein ihrer Verantwortung vor Gott und den Menschen, im Bewußtsein ihrer Zugehörigkeit zum christlich-abendländischen Kulturkreis, im Bewußtsein ihres deutschen Volkstums und in der Erkenntnis der gemeinsamen Aufgabe aller europäischen Völker" auf Rache und Vergeltung verzichtet und andererseits gefordert wurde, "daß das Recht auf die Heimat als eines der von Gott geschenkten Grundrechte der Menschheit anerkannt und verwirklicht wird."369 Mit ähnlichem Inhalt erneuerte eine Entschließung des ersten Kongresses der ostdeutschen Landsmannschaften am 22. März 1964 den Geist der Charta von 1950. Bedeutsam war daran, daß diese "Erklärung[ ...} eine viel zu wenig beachtete Konkretisierung sowohl des Verzichts auf Rache als auch des Bekenntnisses einer europäischen Zukunft durch Überwindung der Idee des Nationalstaates" 370 beinhaltete. In der Diskussion um die Vertreibung setzte die Evangelische Kirche die Maßstäbe, die sich um die Begriffe der Versöhnung und der Menschenrechte gruppierten und die von den Vertriebenenverbänden mit ihrer starken Bindung an die Ostkirchen übernommen wurden. Dieser Einfluß der Kirche, der jeglichen nationalen Tönen abhold war, ist in seiner Bedeutung fiir die Integration der Vertriebenen in die deutsche Gesellschaft nicht zu unterschätzen 371 , auch wenn es in der Geschichte der Vertriebenenverbände immer wieder zu Entgleisungen und Stilbrüchen kam.372 In Bezug auf den äußeren Frieden konnte daher der Ostkirchenausschuß der Evangelischen Kirche in Deutschland 1965 mit einer hohen Legitimationsbasis fordern, daß ein "dauerhafter Friede zwischen den Staaten [... ] nicht nur des guten Willens und der 368 Vgl. Artikel "Flüchtlinge und Vertriebene"; in: Evangelisches Staatslexikon, Hennann Kunst/Roman Herzog!Wilhelm Sehneerneicher (Hg.), 2. Aufl., Stuttgart/Berlin 1975, S. 7011702. 369 Charta der deutschen Heimatvertriebenen; in: Deutsche Heimat im Osten, Kar! Page! (Hg.), Berlin 1951, S. 115-116. 370 Bismarck, Phitipp von: Der Beitrag der Vertriebenen zur Friedenspolitik; in: Kirche im Spannungsfeld der Politik. Festschrift ftlr Bischof D. Hennann Kunst D. D. zum 70. Geburtstag am 21. Januar 1977, Paul Collmer!Hennann Kalinna!Lothar Wiedemann (Hg.), Göttingen 1977, S. 269-275, hier S. 272. Bismarck kritisiert jedoch, daß dieser Beitrag der Vertriebenen von den evangelischen Kirchen nur unzureichend gewürdigt wurde. 371 Siehe hierzu auch: Rudolph. Hartmut: Evangelische Kirche und Vertriebene 1945 bis 1972. Band ll: Kirche in der neuen Heimat. Vertriebenenseelsorge - politische Diakonie- das Erbe der Ostkirchen, Göttingen 1985. 372 Siehe hierzu unter anderem: Coulmas, Peter: Die Vertriebenen und die Bundesrepublik; in: moderne weit. Zeitschrift fllr vergleichende Geistesgeschichte und sozialwissenschaftliche Forschung, 1/1964, S. 3 ff. Beske, Hans: Avantgarde oder Revanchisten? Entwicklungen im Raum der Vertriebenen- und Flüchtlingsverbände; in: moderne weit. Zeitschrift fllr vergleichende Geistesgeschichte und sozialwissenschaftliche Forschung, 1/1964, s. 53 ff.
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Bereitschaft der Völker [bedarf], sondern auch anerkannter Verträge auf der Grundlage des Rechts." 373 Diese durchaus nicht nur außenpolitisch, sondern auch innenpolitisch gemeinte Forderung bereitete die fUr die politische Entwicklung und fUr den gesellschaftlichen Diskurs außerordentlich Impulse gebende "Ostdenkschrift" der EKD vor. Andererseits zeigte sich jedoch auch in den Diskussionen um die Ostdenkschrift und im Vorlauf um das Tübinger Memorandum, daß der Gedanke der Versöhnung als Basis einer neuen Friedensordnung und Zukunft Europas, wie er sich noch Anfang der fUnfziger Jahre präsentierte, im Verlauf der Zeit durch die Mehrzahl der Aktivisten der Vertriebenenverbände nachteilig überlagert wurde durch die Forderung, daß das Recht nur durch die Verwirklichung des "Rechtes auf Heimat" der Vertriebenen in den Grenzen des Deutschen Reiches des Jahres 1937 wiederhergestellt werden könne. 374 Die Position der EKD gegenüber dieser Entwicklung war durchaus ambivalent. Während gerade in den Ostkirchen und im OstkirchenausschuB das "Recht auf Heimat" theologisch legitimiert und überhöht wurde, wurde in offiziellen Stellungnahmen der Evangelischen Kirche nur unklar von Opfern 375 gesprochen, die das deutsche Volk fUr eine europäische Friedensordnung auf der Grundlage der Versöhnung bringen müsse. Von daher wird deutlicher, warum die Frage der deutschen Ostgebiete und der Zukunft der Vertriebenen in den sechziger Jahren auch eine so starke innerkirchliche Dimension erhielt.376
VII. Zusammenfassung Das Eintreten der Evangelischen Kirche fUr die Einheit Deutschlands hat, trotz des FehJens programmatischer Aussagen in den kirchlichen Stellungnahmen Uber eine detaillierte deutschlandpolitische Planung, durchaus keine deklamatorischen Charakter. In der Kirche wurde ungebrochen an die Volksidee der Weimarer Republik angeknüpft. 377 Andererseits sahen viele Menschen im Nachkriegsdeutschland "in den Kirchen eine Gewähr fUr die Fortdauer der nationalen Einheit und Zusammengehörigkeit. "378 Um die ganzheitliche Wesen373 Ostkirchenausschuß: An die evangelischen Vertriebenen. Ein Wort zum zwanzigsten Jahre nach der Vertreibung; in: LM, 1965, S. 232. 374 Vgl. Huber 1973, S. 384 ff. Huber macht in diesem Zusammenhang auch auf die eigentümliche Entwicklung aufmerksam, daß es in den fllnfziger Jahren in den Vertriebenenverbänden eine zunehmende Verknüpfung der Heimattradition mit einer antikommunistischen Kreuzzugsideologie gab. 375 Vgl. beispielsweise S. 131. 376 Siehe: S. 200 ff. 377 Vgl. Sontheimer 1970, S. 303 f. 378 Huber 1979, S. 162.
VII. Zusammenfassung
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heit des Volkes -und damit im übrigen auch die der Evangelischen Kirche in Deutschland- zu erhalten, konnte ernsthaft nur die Forderung nach einem einheitlichen Staat mit einheitlichen sozialen und wirtschaftlichen Bedingungen gestellt werden. Dabei muß jedoch festgehalten werden, daß es in der Evangelischen Kirche nach 1945 keine tiefgehende Reflexion über die Begriffe Volk, Nation und Vaterland gab und statt dessen an alte, ordnungstheologisch bestimmte Traditionsbestände angeknüpft wurde. 379 Das Engagement der Kirche für die Einheit der deutschen Nation ist wesentlich auf die Traditionsgeschichte des Protestantismus zurückzufuhren, das heißt, auf die geschichtstheologische Fixierung auf die Nationalstaatsidee und damit zusammenhängend auf eine spezifische Interpretationslinie der Funktion der Volkskirche. Dieses Gedankengut lebte bei der Mehrzahl der evangelischen Kirchenfuhrerauch nach der Zäsur des Jahres 1945 fort. Diese Entwicklung wurde befördert durch die ethischen Vorstellungen, die in der Ökumenischen Bewegung zu diesem Problemkomplex - unter wesentlichem Einfluß der deutschen nationalprotestantischen Theologie - entwickelt worden waren. Jedoch kann nicht die Rede davon sein, daß nach den Erfahrungen in der Zeit des Nationalsozialismus im deutschen Protestantismus der alte Pfarrernationalismus wieder auflebte. Die EKD äußerte sich nicht nationalistisch, sondern suchte im Rahmen der Ökumene die nationalen Interessen des deutschen Volkes zu artikulieren. Die politische Form des deutschen Staatswesens war hingegen fur die Evangelische Kirche in ihren Diskussionen nachrangig. Die protestantische Staatstheorie um faßte nur wenige und unter politikwissenschaftlichen Gesichtspunkten begrifflich unklare Grundforderungen an die Staatsaufgaben. Diese unpräzise Theorie, die das in Barmen in Ansätzen neu definierte Staatsverständnis nicht weiter entfaltete, fuhrte die Kirche unter anderem auch dazu, im Ost-West-Gegensatz mit seinem Streit um das östliche oder westliche Gesellschaftsmodell eine Position zu beziehen, die beide Modelle als totale Weltanschauungen denunzierte und dagegen ein christliches Gesellschaftsmodell setzte, das nicht nur mit einem umfangreichen Rechristianisierungskonzept der Kirche verbunden wurde, sondern ideengeschichtlich auf der Identifizierung des Volkes mit der christlichen Gemeinde fußte. Die Erfahrungen in der Nachkriegszeit in den einzelnen Besatzungszonen sowie die antibolschewistischen Traditionsbestlinde aus der Zeit der Weimarer Republik und des nationalsozialistischen Staates bellirderten jedoch im Grundsatz eine Westorientierung der Kirchenfuhrer der EKD.380 Die Einheit der deutschen Nation in der Tradition des christlichen Abendlandes schien im Westen besser aufgehoben, denn die Umsetzung des Konzeptes einer Rechristianisierung unter einer kommunistischen Herrschaft im Osten war Vgl. Willums 1970, S. 285 f. Gegenüber den westlichen Besatzungsmächten wurde von verschiedenen Kirchenfilhrem wiederholt ins Gespräch gebracht, daß die Kirche auch die Funktion eines Bollwerkes gegen den Bolschewismus wahrnehmen könne. Vgl. Lotz 1992, S. 168. 379 380
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schwer vorstellbar. Dennoch würde es zu kurz greifen, die kirchliche Deutschlandpolitik und die Äußerungen zur nationalen Frage in der Nachkriegszeit auf die Fonnel "Freiheit vor Einheit"381 bringen zu wollen. 382 Die Evangelische Kirche hat seit dem Zusammenbruch des nationalsozialistischen Staates gegen die Zerreißung des deutschen Volkes angeredet. Im Vordergrund stand dabei die Auffassung, daß das Volk eine historisch gewachsene Gemeinschaft mit gemeinsamer sittlicher Grundlage sei. In Fragen der Sittlichkeit erhob die Kirche den Anspruch, maßgeblicher Orientierungspunkt und Deutungsinstanz der Gesellschaft zu sein. Ihr entwickeltes Konzept der "Rechristianisierung" war jedoch auch in einen weltweiten Zusammenhang gestellt. Hier gab es ebenfalls entschiedene Berührungspunkte mit der Ökumenischen Bewegung und ihrer Forderung nach einem rechten, wirklichen Frieden. Die internationale Friedensordnung schien fiir die Ökumene nur durch eine Besinnung auf das Christentum und seine Werte erreichbar. In diesen Überlegungen spielten die Begriffe Gerechtigkeit, Vergebung und Versöhnung eine zentrale Rolle. Transponiert auf die Verhältnisse in Deutschland nach dem Kriege fiihrte dies zu einer kirchlichen Argumentation, die sich gegen eine Aufspaltung des Staatsgebietes wendete, die sich fiir Versöhnung zwischen den ehemaligen Feindstaaten einsetzte und die sich um eine gerechte, ausgleichende und vennittelnde Politik gegenüber Deutschland bemühte. Bedeutsam für die Nachkriegsgeschichte ist dabei auch, daß die Evangelische Kirche in ihren Stellungnahmen keinen revanchistischen Standpunkt gegenüber den ehemaligen Ostgebieten des Deutschen Reiches einnahm, sondern unter dem Aspekt der Versöhnung sich von Anfang an fiir Humanität und Ausgleich einsetzte, ohne dabei sich nicht auch entschieden fiir die Angelegenheiten der Vertriebenen und Flüchtlinge zu engagieren. Die praktische Deutschlandpolitik der EKD war vor allem darauf gerichtet, angesichts der sozialen und wirtschaftlichen Not in den ersten Nachkriegsjahren nicht nur aktive Aufbauhilfe zu leisten, sondern auch gegenüber den Besatzungsmächten und dem Ausland die Interessen des deutschen Volkes zu vertreten. Diese Interessenvertretung, die von der Kirche wie selbstverständlich wahrgenommen und auch gegenüber den deutschen politischen Kräften beansprucht wurde, wurde verstärkt durch das hohe Ansehen, das die Kirche bei den Besatzungsmächten genoß, durch die massive Unterstützung durch die Ökumenische Bewegung sowie durch die kirchliche Selbstwahrnehmung, daß die Gesundung des deutschen Volkes und die Wiederherstellung eines deutschen Staates nur durch eine Orientierung auf das Christentum gelingen kann. In diesem Rahmen verfolgte die kirchliche Aufbauhilfe - vor allem durch das Hilfswerk der EKD - nicht nur das Ziel, die wirtschaftliche Notlage zu überwinden, 381 382
In diesem Sinne: Noormann 1985, Bd. I, S. 215 ff. Siehe hierzu auch: Zimmermann 1982.
VII. Zusammenfassung
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sondern gleichwohl auch die Hebung des sittlichen und moralischen Potentials des deutschen Volkes auf der Grundlage christlicher Werte. Die evangelischen Kirchen konnten sich nach ihrem Zusammenschluß in der EKD, die auch 1949 als gesamtdeutsche Organisation fortbestand, durchaus auf der Grundlage ihres Selbstverständnisses und ihrer geistesgeschichtlichen Tradition als Wahrer der deutschen Kulturnation verstehen.383 In diesem Sinne hatten die Bevollmächtigten der EKD bei den deutschen Regierungen nicht nur die Aufgabe, rein kirchliche Anliegen zu vertreten, sondern auch den Auftrag, die deutschen Regierungen an ihre Verantwortung fiir die Einheit des deutschen Volkes zu erinnern.384 Die hervorgehobene Rolle der Kirchen im Nachkriegsdeutschland ließen diese im Bewußtsein der Menschen neben dem Staat, mit dem man auf der Grundlage gleichberechtifter Partnerschaft zusammenarbeiten wollte, als Hoheitsmächte erscheinen?8 Deutschlandpolitisch bedeutete dies unter anderem auch, daß die Evangelische Kirche mit ihren Forderungen eine orientierende Funktion in der Gesellschaft wahrnahm, die weithin beachtet wurde. Dem beginnenden Ost-West-Konflikt hatte die Evangelische Kirche in der theoretischen Diskussion kaum etwas entgegenzusetzen. Mit ihrer rein moraltheologischen Argumentation, die fiir die Maßstäbe der nationalen wie internationalen Politik lediglich auf die Orientierung auf christliche Werte rekurrierte, konnte sie die realen politischen Prozesse und Konstellationen nicht adäquat erfassen. Dies ist vor allem darauf zurückzufiihren, daß es im Protestantismus, zumal im deutschen, noch keine entwickelte sozialethische Diskussion über den Zusammenhang von Gesellschaft, Individuum und Staat gab, die problemangemessen Kriterien zur Beurteilung unterschiedlicher Staats- und Gesellschaftssysteme hätte geben können. Die relativierende Mittelposition, die die Kirche im "Kampf der politischen Systeme und Mächte" in der Frage nach dem rechten Verhältnis von Freiheit und Gesellschaft einnahm, verstärkt den Eindruck, daß es der Evangelischen Kirche in ihren deutschlandpolitischen Orientierungen vor allem um eine nicht geteilte deutsche Gesellschaft in einem einheitlichen Staatswesen ging, in der die Kirche frei die Rolle der zentralen Interpretationsinstitution hinsichtlich der gesellschaftlich gültigen Werte wahrnehmen sollte und in der die Frage nach der politischen Form nachrangig war, da sie nach kirchlichem Verständnis im Reich der Welt sowieso nur zwischen den Polen Tyrannei und Willkür oszillieren würde. Andererseits erlaubte das 383
Vgl. Friebe/1992, S. 356.
Zu oberflächlich argumentiert aber Latz 1992, S. 176 f., wenn er behauptet, daß die EKD nach anflinglich starken Engagement ftir die deutsche Einheit sich zurückzog, als die Teilung immer wahrscheinlicher wurde, und später die Deutschlandpolitik bereitwillig den deutschen Regierungen überließ. Das Gegenteil ist der Fall, auch wenn die offiziellen kirchlichen Stellungnahmen aufgrund des unzureichenden sozialethischen Ansatzes sich auf Allgemeinplätzen bewegten. 385 Vgl. Huber 1979, S. 163 f. 384
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Modell der "verantwortlichen Gesellschaft", so unzureichend es auch in der zweiten Hälfte der vierziger Jahre in der Ökumenischen Bewegung sozialethisch begründet und entfaltet wurde, einen eigenständigen kirchlichen Ansatz, der die Dialogfähigkeit gegenüber den unterschiedlichen politischen Weltanschauungen offen hielt. Diese prinzipielle Offenheit zeigte sich im besonderen daran, daß sich im Rat der EKD auch die Position durchsetzte, angesichts der Gründungzweier deutscher Staaten auch die Regierung in der DDR als Obrigkeit im christlichen Sinne anzuerkennen. Generell ist das Bemühen der Evangelischen Kirche erkennbar, sich nicht in politische Konflikte einspannen zu Iassen386 und unbeirrt die Idee eines universellen Christentums im Sinne Niemöllers 387 weiterzuverfolgen.
386 So lehnte es beispielsweise Grüber für die Kirche ab, amerikanische Spenden über die kirchliche Organisation in der DDR verteilen zu lassen. Vgl. Lotz 1992, S. 162. 387 Vgl. S. 80 tf. Siehe hierzu auch: Lotz 1992, S. 141 f.
E. Kirchliche Deutschlandpolitik in den 50er Jahren bis zum Mauerbau Die kirchliche Deutschlandpolitik in den fiinfziger Jahren stand unter dem Zeichen der Gründung zweier deutscher Staaten im Jahre 1949 und der Manifestierung der Teilung Deutschlands durch das einschneidende Erlebnis des Mauerbaus in Berlin des Jahres 1961. Dabei waren die Jahre 1955/56 eine besondere historische Wendemarke in der deutschen Nachkriegsgeschichte. Beide deutschen Staaten erhielten nicht nur ihre Souveränität, sondern wurden mit ihren unterschiedlichen gesellschaftlich-politischen Systemen in die beiden sich im Ost-West-Konflikt diametral entgegenstehenden Militär- und Wirtschaftsblöcke integriert. In der Darstellung und Analyse der kirchlichen Deutschlandpolitik in den fiinfziger Jahren wird unter anderem danach gefragt: • Auf welche Art und Weise nahm die EKD mit ihren Landeskirchen und kirchlichen Zusammenschlüssen Anteil am gesellschaftlichen Leben und der politischen Entwicklung in beiden deutschen Staaten? • Wie wurde das Thema der Wiedervereinigung von der Evangelischen Kirche in Deutschland behandelt? • Konnte die Evangelische Kirche angesichts der Wiederbewaffnung und Blockintegration der Bundesrepublik Deutschland und der Deutschen Demokratischen Republik eigene deutschlandpolitische Impulse geben? • Welche konkreten Beiträge lieferte die Evangelische Kirche zum Zusammenhalt der deutschen Nation? • Welche deutschlandpolitische Linie verfolgte die Evangelische Kirche im Zeichen des Mauerbaus, der die offensichtlich endgültige Teilung Deutschlands symbolisierte? Von besonderem Interesse ist in diesem Gesamtzusammenhang die Frage nach der protestantischen Staatsethik und Demokratietheorie dieser Jahre, um auch unter politikwissenschaftlichen Gesichtspunkten das politiktheoretische Fundament kirchlicher Deutschlandpolitik deutlicher hervortreten zu lassen.
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E. Kirchliche Deutschlandpolitik in den 50er Jahren
I. Stichworte zur deutschlandpolitischen Entwicklung In der Zeit von der Gründung der Bundesrepublik Deutschland und der Deutschen Demokratischen Republik 1949 bis zu den Souveränitätserklärungen der Siegermächte des li. Weltkrieges 1955 wurden beide deutsche Staaten wirtschaftlich und militärisch in die jeweils von den USA und der Sowjetunion machtpolitisch gefiihrten Blöcke eingebunden. Die Verantwortung fiir "Deutschland als Ganzes" 388 blieb jedoch -bis zur staatlichen Einheit 1990weiterhin bei den ehemaligen Alliierten. Das Verhalten des Westens während und nach dem Arbeiteraufstand am 17. Juni 1953 389 in der DDR hatte bereits gezeigt, daß Deutschland zur Pufferzone im Ost-West-Konflikt geworden war und an der Nahtstelle der westlichen und östlichen Interessenssphäre lag. Da die Besatzungsmächte sich im Kalten Krieg390 auf die Verantwortung fiir ihre jeweiligen deutschen Gebiete zurückzogen, gab es keine realistische Perspektive fiir eine baldige Wiedervereinigung. 391 Dies um so mehr, als sich einerseits in beiden deutschen Staaten äußerst unterschiedliche Wirtschafts-, Gesellschafts- und Staatssysteme entwickelten und andererseits die atomare Aufrüstung nicht nur die Kriegsgefahr erhöhte, sondern Krieg als Atomkrieg die gesamte Zivilisation bedroht und zerstört hätte. Unter diesen Vorzeichen wurde die deutsche Frage zu einem untergeordneten Aspekt des Ost-West-Konfliktes. Dies zeigte bereits deutlich die Außenministerkonferenz in Berlin im Jahre 1954. 392 Die Gipfelkonferenz in Genf 1955, die erste nach der Potsdamer Kon388 Siehe: Czaplinski: Das Problem der Souveränität der Bundesrepublik Deutschland im Zusammenhang mit den Rechten und Verantwortlichkeilen der Vier Mächte für Deutschland als Ganzes; in: ROW, 1987, S. 146 ff. Siehe allgemein: Knappe 1993b. 389 Siehe: Die Deutschlandfrage vom 17. Juni 1953 bis zu den Genfer Viermächtekonferenzen von 1955; in: DA, 5/1992, S. 557 ff. Bust-Bartels, Axel: Der Arbeiteraufstand am 17. Juni 1953. Ursachen, Verlauf und gesellschaftspolitische Ziele; in: APUZ, 25/ 1980, S. 24 ff. Spittmann, llse: Der 17. Juni 1953; in : Deutschland nach dem Kriege. Teilung, Entwicklungen in der SBZ/DDR, Einheit der Nation, Gesamtdeutsches Institut (Hg.), Bonn o. J. (1990), S. 119 ff. Weich/ein, Siegfried: Der 17. Juni 1953 in der deutschen Geschichte. Ein Tagungsbericht; in: IWK, 211993, S. 229 ff. Der Aufstand vom 17. Juni 1953, Bundesministerium für innerdeutsche Beziehungen (Hg.), Bonn 1983. 17. Juni 1953 - Arbeiteraufstand in der DDR, Ilse Spittmann!Karl Wilhelm Fricke (Hg.), Köln 1982. 390 Siehe: Schröder, Hans-Jürgen: Zur Genesis des Kalten Krieges; in: NPL, 1976, S. 488 ff. 39 1 Siehe: Hillgruber, Andreas: Die Forderung nach der Deutschen Einheit im Spannungsfeld der Weltpolitik nach 1949; in: Einheit - Freiheit - Selbstbestimmung. Die Deutsche Frage im historisch-politischen Bewußtsein, Karl-Ernst Jeismann (Hg.), Bonn 1987, S. 215 ff. Wehner, Gerd: Die Deutschlandpolitik der Westalliierten von 1945 bis 1955; in: APUZ, 51/1989, S. 3 ff. 392 Vgl. Rupieper, Hermann-Josef Die Berliner Außenministerkonferenz von 1954. Ein Höhepunkt der Ost-West-Propaganda oder die letzte Möglichkeit zur Schaffung der deutschen Einheit?; in: Vtz, 1986, S. 427 ff.
I. Stichworte zur deutschlandpolitischen Entwicklung
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ferenz, belegte in ihren Ergebnissen den Willen der Siegermächte USA, Sowjetunion, Großbritannien und Frankreich gegenüber Deutschland am Status quo festzuhalten, obwohl die Außenminister beauftragt wurden, an der Frage der Wiedervereinigung weiterzuarbeiten.393 Die darauf folgende Außenministerkonferenz scheiterte jedoch daran, daß die sowjetische Seite der Vorstellung einer mechanischen Zusammenfiihrung beider deutscher Staaten widersprach und ihrerseits eine "Zwei-Staaten-Theorie" proklamierte. 394 Modifiziert wurde diese sowjetische Auffassung in der Berlin-Krise des Jahres 1958 dadurch, daß fiir die Sowjetunion nun West-Berlin eine "besondere politische Einheit" darstellte.395 Die Genfer Außenministerkonferenz 1959, an der auch Vertreter beider deutschen Staaten als Beobachter teilnehmen durften, verlief ergebnislos bis auf den Umstand, daß die Westmächte faktisch bereit waren, das Berlin-Problem und das Deutschland-Problem getrennt zu betrachten. 1960/61 wurde die deutschlandpolitische Situation dadurch verschärft, daß Chruschtschow erneut einen Separatfrieden mit der DDR ankündigte, der auch die Verantwortung fiir den Zugang nach West-Berlin übertragen werden sollte. Der US-Präsident Kennedy reagierte am 25. Juli 1961 in einer Fernsehansprache396 darauf mit der Formulierung seiner drei "Essentials": Präsenz in WestBerlin, Freiheit der Zugangswege und Lebenstahigkeit der West-Berliner Bevölkerung. Trotz dieser scheinbar harten Positionen der USA war auch klar, daß die Sowjetunion jenseits dieser unabdingbaren Voraussetzungen fiir die DDR und Ost-Berlin Handlungsfreiheit gewonnen hatte. Der Bau der Berliner Mauer am 13. August 1961 397 mußte unter diesen Vorzeichen keinen militärischen Konflikt heraufbeschwören, sondern manifestierte lediglich die Aufteilung Deutschlands in die beiden einander gegenüberstehenden lnteressenssphären. Die Deutschlandpolitik der DDR unter der Führung der SED bezog in den fiinfziger Jahren zwei verschiedene Positionen. Bis zur Souveränität im Jahre 1955 galt die Forderung nach baldiger Wiedervereinigung der deutschen Na393 Siehe: Kaschkat, Hannes: Die Deutschlandfrage im Jahre 1955 - Souveränität, Bündnis, Genfer Konferenz; in: DA, 111985, S. 76 ff. 394 Vgl. Knappe 1993b, S. 216 f. 395 Siehe: Dülffer, Jost: Berlin-Politik zwischen zweiter Berlin-Krise und Viermächte-Abkommen; in: NPL, 1975, S. 225 ff. Küsters, Hanns Jürgen: Konrad Adenauer und Willy Brandtin der Berlin-Krise 1958-1963; in: VfZ, 1992, S. 483 ff. Winters, PeterJochen: Vor 30 Jahren: Chruschtschows Berlin-U1timatum; in: DA, 10/ 1988, s. 1058 ff. 396 Vgl. Aus der Rundfunk- und Fernsehansprache des OS-Präsidenten Kennedy, 25. Juli 1961; in: Das Mauerbuch. Texte und Bilder aus Deutschland von 1945 bis heute, Manfred Hammer u.a. (Hg.), 3. Aufl., Berlin 1986. 397 Siehe: Ferraris, Luigi Vittorio Graf 13. August 1961: Der Berliner Mauerbau; in: Deutschland nach dem Kriege. Teilung, Entwicklungen in der SBZ/DDR, Einheit der Nation, Gesamtdeutsches Institut (Hg.), Bonn o. J. (1990), S. 125 ff.
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E. Kirchliche Deutschlandpolitik in den 50er Jahren
tion in einem deutschen Staat unter dem Slogan "Deutsche an einen Tisch!". 398 Mit der schrittweisen Veränderung der sowjetischen Deutschlandpolitik orientierte sich die DDR an der Auffassung, daß die einheitliche deutsche Nation sich in zwei deutschen Staaten konkretisieren würde. Formal wurde der Anspruch auf Wiedervereinigung jedoch aufrechterhalten. 399 Mit der Übernahme der Zweistaatlichkeitsthese der Sowjetunion begann die DDR-Außenpolitik sich von gesamtdeutschen Positionen zu lösen und vor allem nach internationaler Anerkennung der Eigenstaatlichkeit zu streben. Auf dieser Grundlage unterbreitete bereits 1955 Walter Ulbricht seinen Konföderationsplan, der die Annäherung der beiden deutschen Staaten auf föderativer Grundlage als Voraussetzung einer späteren Vereinigung vorsah. 400 Die damit verbundenen Forderungen zielten auf eine Herauslösung der Bundesrepublik aus dem Westen und waren von daher fiir die Bundesregierung, selbst als der Ministerrat der DDR den Gedanken der Konföderation abgeschwächt neu formulierte, nicht annehmbar. Die massive Fluchtbewegung aus der DDR veranlaßte die DDRFührung nach der fiir sie unfruchtbaren Berlin-Krise zum Bau der Mauer in Berlin im August 1961, um den letzten noch ungehinderten Grenzübergang nach der Abriegelung der Grenzen im Jahre 1952 effektiv zu verschließen. Diese massive Abgrenzungspolitik der DDR, die keine ernsthafte Reaktion der Westmächte zu fUrchten brauchte, zementierte die deutsche Teilung, da sich nun die DDR innenpolitisch stabilisieren konnte. Die SED hielt jedoch auch nach dem Mauerbau an ihren Konföderationsplänen und in ihrem Parteiprogramm von 1963 an die Wiederherstellung der nationalen Einheit Deutschlands fest. Neben diesen verbalen Bekundungen wurde fiir das konkrete Verhältnis der beiden deutschen Staaten zueinander die Formel der "friedlichen Koexi40I • 402 stenz" gefunden und propagiert.
Vgl. Kuppe 1993, S. 183 f. DDR-Handbuch 1985, S. 283 f. Siehe: Zieger, Gottfried: Die Haltung von SED und DDR zur Einheit Deutschlands 1949-1987, Köln 1988. 400 Siehe: Küsters. Hanns Jürgen: Wiedervereinigung durch Konföderation? Die informellen Unterredungen zwischen Bundesminister Fritz SchäfTer, NYA-General Vincenz Müller und Sowjetbotschafter Georgij Maksimowitsch Puschkin 1955/56; in: Vfl, 1992, S. 107 ff. Knappe 1993a, S. 186 f. DDR-Handbuch 1985, S. 284 f. 401 Siehe: Flechtheim, Ossip K.: Grundlagen der friedlichen Koexistenz; in: Gewerkschaftliche Monatshefte, 1011965, S. 577 ff. Harten, Wolfgang: Wandlungen der Koexistenz· über Mauerbau zur Invasion; in: DA, 1/ 1969, S. 28 ff. Reinhardt, Helmut: Koexistenz in Deutschland?; in: DA, 7/1969, S. 790 ff. Voslenskij, Michael: DDR und friedliche Koexistenz; in: DA, 10/1975, S. 1030 fT. 13. Oktober 1967. DDR-Staatsratsvorsitzender Ulbricht: Zu Fragen der friedlichen Koexistenz zwischen beiden deutschen Staaten; in: Texte zur Deutsch1andpolitik. Reihe I, Band 2, 1967/68, Bundesministerium ftir innerdeutsche Beziehungen (Hg.), Bonn 1968, S. 44 ff. 402 Vgl. Schweizer. Roland W. : Wandlungen im Selbstverständnis der DDR • Aspekte der nationalen Frage 1961-1969; in: DA, 10/1985, S. 1071 ff. 398 399
I. Stichworte zur deutschlandpolitischen Entwicklung
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Die Bundesregierungen unter dem ersten Bundeskanzler Konrad Adenauer verfolgten stringent den Kurs der Westintegration der Bundesrepublik Deutschland, der relativ schnell zur Souveränität und Gleichberechtigung sowie militärischen Integration in den Westen fiihrte. 403 Die Wiedervereinigung Deutschlands wurde aber unter diesem Kurs der Stärke des Westens und der Eindämmung ("Rollback") des Einflusses der Sowjetunion angesichts des sich verschärfenden Ost-West-Gegensatzes zunehmend in weite Feme gerückt, denn alle operativen außenpolitischen Initiativen der Bundesregierung zielten auf Westpolitik. Dem lag mit die Anschauung zugrunde, daß eine freiheitliche und wirtschaftlich starke Bundesrepublik eine Sogwirkung auf die DDR ausüben werde, der sie sich langfristig nicht entziehen könne. 404 Innenpolitisch wurde diese Politik vor allem von der Sozialdemokratie heftig kritisiert, die ihrerseits 1959 einen Vorstoß mit ihrem "Deutschlandplan" untemahm405 , der ein zwar blockfreies, aber in ein kollektives Sicherheitssystem eingebundenes vereinigtes Deutschland anvisierte, aber die dann Anfang der sechziger Jahre mit der Bundestagsrede Herbert Wehners vom 30. Juni 1960 das Konzept der Westintegration auch als Basis einer späteren Wiedervereinigung akzeptierte. 406 Die heutige zeitgeschichtliche Forschung ist sich mehrheitlich darin einig, daß andere deutschlandpolitische Alternativen wohl kaum Aussicht auf Erfolg gehabt hätten, auch wenn es aus neuererZeitwieder eine - zum Teil hoch spekulative Diskussion über mögliche Wiedervereinigungschancen fiir ein neutrales Deutschland hinsichtlich der Stalin-Note aus dem Jahre 1952 gab. 407 Trotz der Westintegration hielt die Bundesregierung an der Verpflichtung des Grundgesetzes fest, die Wiedervereinigung auf der Grundlage des Selbstbestimmungsrechtes des deutschen Volkes als politisches Ziel herbeizufiihren. 408 Allerdings
Vgl. Knappe 1993a, S. 205 f. Vgl. Hacke 1989, S. 537. Siehe auch: Knappe 1993b, S. 212 ff. 405 Siehe: Knappe 1993a, S. 202 f. 406 Vgl. Kuppe 1993, S. 187. 407 Siehe: Wettig, Gerhard: Die sowjetische Deutschland-Note vom 10. März 1952 Wiedervereinigungsangebot oder Propagandaaktion?; in: DA, 2/1982, S. 130 ff. Steininger, Rolf Eine Chance zur Wiedervereinigung? Die Stalin-Note vom 10. März 1952. Darstellung und Dokumentation auf der Grundlage unveröffentlichter britischer und amerikanischer Akten [Rezension]; in: DA, 9/1986, S. 1005 ff. Weber, Jürgen : Das sowjetische Wiedervereinigungsangebot vom 10. März 1952. Versäumte Chance oder trügerische Hoffnung?; in: APUZ, 50/1969, S. 3 ff. Zickenheimer, Georg-Wilhelm: Versäumte Chance?! Kritische Anmerkungen zu Jürgen Weber: Das sowjetische Wiedervereinigungsangehol vom 10. März 1952; in: APUZ, 40/1970, S. 35 ff. Weber, Jürgen: Zu den kritischen Anmerkungen Georg-Wilhelm Zickenheimers; in: APUZ, 40/ 1970, S. 37 ff. Meyer-Landrut, Nikolaus: Frankreich und die deutsche Einheit. Die Haltung der französischen Regierung und Öffentlichkeit zu den Stalin-Noten 1952, München 1988. 408 Zur Diskussion der Deutschlandpolitik Konrad Adenauers siehe: Foschepoth, Josef Westintegration statt Wiedervereinigung: Adenauers Deutschlandpolitik 1949403
404
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E. Kirchliche Deutschlandpolitik in den 50er Jahren
betrachtete die Bundesregierung die Bundesrepublik Deutschland als einzig legitimen und demokratischen Nachfolger des untergegangenen Deutschen Reiches.409 Diese Sicht ftlhrte zum Alleinvertretungsanspruch, der die Sprecherrolle ftlr das gesamte deutsche Volk gegenüber der internationalen Welt bei der Bundesregierung sah. Der Alleinvertretungsanspruch zog die sogenannte "Hallstein-Doktrin"410 des gleichnamigen Staatssekretärs des Auswärtigen Amtes nach sich, derzufolge die Bundesrepublik jede diplomatische Beziehung zu jedem Staat abbrechen würde, der seinerseits diplomatische Beziehungen zur DDR aufnehmen würde. Die Sowjetunion als Siegermacht des II. Weltkrieges wurde pragmatisch als Sonderfall behandelt. So gelang es zwar der Bundesregierung, die DDR über ein Jahrzehnt außenpolitisch zu isolieren, doch andererseits engte die dogmatische Doktrin die Flexibilität der Politik enorm ein. Zu den großen deutschlandpolitischen Erfolgen der Bundesregierung in den ftlnfziger Jahren zählte neben der Rückkehr der letzten deutschen Kriegsgefangenen aus der Sowjetunion im Jahre 1955411 auch die Rückkehr des Saarlandes 1957 zum Gebiet der Bundesrepublik Deutschland. Hinsichtlich der Wiedervereinigung Deutschlands konnten trotz - oder gerade wegen - der HaBsteinDoktrin keine Fortschritte erzielt werden. Das Verhalten der Westmächte anläßlich des Mauerbaues 1961 schließlich mußte zur völligen Desillusionierung der politischen Kräfte in der Bundesrepublik ftlhren und leitete als Reaktion darauf eine grundsätzliche - wenn auch gleichwohl anflinglich zaghafte - Neuorientierung in der Deutschlandpolitik der Bundesregierung und bei den politischen Parteien mit ihren deutschlandpolitischen Konzepten ein.
II. Zur Rolle der Evangelischen Kirche in den Anfangsjahren der beiden deutschen Staaten Seide deutsche Verfassungen von 1949 ermöglichten der Kirche nicht nur eine eigenständige Rolle im jeweiligen Gesellschaftssystem, sondern gaben ihr 1955; in: Adenauerund die Deutsche Frage, Josef Foschepoth (Hg.), Göttingen 1988, S. 29 tf. Repgen, Konrad: Konrad Adenauer und die Wiedervereinigung Deutschlands in einem freien Vereinten Europa; in: Heimat und Nation. Zur Geschichte und Identität der Deutschen, Klaus Weigelt (Hg.), Mainz 1984, S. 302 tf. 409 Zur Rechtslage aus bundesrepublikanischer Sicht siehe: Blumenwitz, Dieter: Was ist Deutschland? Staats- und völkerrechtliche Grundsätze zur deutschen Frage und ihre Konsequenzen für die deutsche Ostpolitik, Bonn 1982. 410 Siehe: Mischnick, Wolfgang: Der Alleinvertretungsanspruch; in: DA, 1/1968, S. 30 tf. 411 Siehe: Steinbach. Peter: Deutsche Kriegsgefangene in der Sowjetunion. Ein Beitrag zur deutsch-sowjetischen Beziehungsgeschichte; in: APUZ, 24/1991, S. 37 tf. Foschepoth, Josef Adenauers Moskaureise 1955; in: APUZ, 22/1986, S. 30 tf.
II. Zur Rolle der Evangelischen Kirche in den Anfangsjahren
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auch rechtliche Mitwirkungsmöglichkeiten. Aufgrund der unterschiedlichen Gesellschafts- und Staatssysteme, die sich in der Bundesrepublik Deutschland und der Deutschen Demokratischen Republik zusehends herausbildeten, nahm die Stellung und Rolle der Evangelischen Kirche in beiden deutschen Staaten schon in den Anfangsjahren eine sehr unterschiedliche Entwicklung. Versuchte die EKD im Westen das Konzept einer "christlichen Demokratie" zu befördern, geriet sie im Osten schon in den Anfangsjahren zunehmend unter Druck und in eine Art Oppositionsrolle.
1. Rolle der Evangelischen Kirche in der Bundesrepublik Deutschland Die Evangelische Kirche konnte eine besondere Stellung im politisch-gesellschaftlichen System schon in der Gründungsphase der Bundesrepublik Deutschland behaupten. Nicht nur über die ihr nahestehenden Parteien übte sie politischen Einfluß aus, sondern sie trug eine Fülle von kirchlichen Worten, Erklärungen und Verlautbarungen zu zahlreichen Fragen und Problemen der Zeit bei. Die Evangelische Kirche erwies sich auch als mächtige "pressure group" bei den Beratungen des Grundgesetzes im Parlamentarischen Rat. 412 Der Artikel 140 des Grundgesetzes verfUgte, daß die Bestimmungen der Artikel 136, 137, 138, 139 und 141 der Weimarer Verfassung auch ftlr die Bundesrepublik gelten. 413 Artikel 7 GG erhob den Religionsunterricht zum ordentlichen Lehrfach und gewährte auch die Möglichkeit, Bekenntnis- oder Weltanschauungsschulen zu gründen. 414 Glaubens- und Gewissensfreiheit flossen in den Grundrechtskatalog des Grundgesetzes mit ein. In den ftlnfziger Jahren konnte die Evangelische Kirche ihre Position noch stärken. Die konfessionelle Presse wurde ausgebaut, und in den Rundfunkprogrammen und bei der Kontrolle des öffentlich-rechtlichen Rundfunks wurde die Kirche institutionell bete1.1.1gt.415 Die Evangelische Kirche brachte auch zahlreiche kirchliche Stellungnahmen in die politische Diskussion in der Bundesrepublik ein. Allerdings zahlte die 412 Siehe: Benz 1984, S. 204. Dittmann, Knud: Adenauerund die deutsche Wiedervereinigung. Die politische Diskussion des Jahres 1952 [Rezension]; in: DA, 1/1983, S. 100 ff. 413 Weimarer Verfassung: Artikel 136: Religion und Staatsbürgerliche Stellung; Artikel 137: Religionsgesellschaften; Artikel 138: Staatsleistungen, Eigentum; Artikel 139: Sonntag, Feiertage; Artikel 141: Seelsorge im Heer und in Anstalten. Siehe auch Fn. 66. 414 Vgl. Greschat 1983, S. 278. ln der schulischen Erziehung wurde ein wichtiges Instrument zur Rechristianisierung gesehen. Daher nahm die Kirche auch erheblichen Einfluß auf die grundgesetzliehen Formulierungen in Bezug auf das Schulwesen. Vgl. dazu: Jasper 1983, S. 38 f. 415 Vgl. Henlcys 1987, S. 64.
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E. Kirchliche Deutschlandpolitik in den 50er Jahren
Kirche fiir den Versuch der Durchsetzung ihres Konzeptes der Rechristianisierung "mit einem faktischen Realitätsverlust angesichts der komplizierten Bedingungen und Erfordernisse einer modernen Industriegesellschaft und mit der grundsätzlichen Ausgrenzung aller Sinndeutungen und Weltanschauungen, die sich dem eigenen Modell der christlichen Gesellschaftsordnung nicht integrieren ließen." 416 Gab es damit eine Nähe zur CDU/CSU, blieb jedoch das Verhältnis zur SPD als Vertreterio der Arbeiterschaft zugleich gestört, obwohl die religionskritische Polemik von der Sozialdemokratie zurückgenommen worden war. 417 Jedoch gab es auch eine innerkirchliche Opposition um Karl Barth und Helmut Gollwitzer zu dieser Grundhaltung der Kirche, die die im Kirchenkampf gewonnene Distanz zwischen Staat und Kirche gefahrdet sah. 418 2. Rolle der Evangelischen Kirche in der Deutschen Demokratischen Republik Auch in der späteren DDR erfolgte die Reorganisation der alten Landeskirchen.419 Die Sowjetische Militäradministration in Deutschland behinderte die Reorganisation nicht. 420 Die Länderverfassungen enthielten an Weimar angelehnte Abschnitte über die "Religionsgesellschaften".4 2 1 Die erste DDR-Verfassung aus dem Jahre 1949 regelte in einem eigenen Abschnitt in den Artikeln 41 bis 48 in starker, teilweise wörtlicher Anlehnung an die Verfassung von 1919 die Rechte der Religionsgesellschaften. 422 Glaubens- und Gewissensfreiheit Greschat 1983, S. 276. Vgl. Möller 1984, S. 131 ff. Heimerl 1990. Siehe auch: Huber 1983, S. 278 ff. Wewer 1988, S. 216 f. Lutz, Hans: Kirche und Sozialdemokratie; in: ZfP, 8. Jg. NF Heft 4/1961, S. 312-320. Strohm, Theodor: Kirche und demokratischer Sozialismus. Studien zur Theorie und Praxis politischer Kommunikation, München 1968. 418 Vgl. Jasper 1983, S. 43 f. 419 Vgl. Seidel, Jürgen: "Neubeginn in der Kirche?". Die evangelischen Landes- und Provinzialkirchen in der SBZ/DDR im gesellschaftspolitischen Kontext der Nachkriegszeit (1945-1953), Göttingen 1989. Maser 1989, S. 22 ff. Nowak, Kurt: Christentum in politischer Verantwortung. Zum Protestantismus in der Sowjetischen Besatzungszone (1945-1949); in: Christentum und politische Verantwortung. Kirchen im Nachkriegsdeutschland, Jochen-Christoph Kaiser/Anseim Doering-Manteuffel (Hg.), Stuttgart/Berlin!Köln 1990, S. 42-62. KJdEKD 1950, S. 110 ff. Friebe/1992, S. 23 ff. 420 Vgl. Luchterhandt 1982, S. 7. 421 Zur Diskussion um die Länderverfassungen siehe: Friebe/ 1992, S. 37 ff. Braas, Gerhard: Die Entstehung der Länderverfassungen in der sowjetischen Besatzungszone Deutschlands 1946/47, Köln 1987. 422 DDR-Verfassung in der Fassung von 1949; Artikel 41 : Glaubens- und Gewissensfreiheit; Artikel 42: Religion und private oder staatsbürgerliche Rechte; Artikel ~3 : Religionsgemeinschaften; Artikel 44: Erteilung von Religionsunterricht; Artikel 45: Offentliche Leistung, Eigentum; Artikel 46: Seelsorge in Anstalten; Artikel 47: Austritt; Artikel48: Religionsmündigkeit 416 417
II. Zur Rolle der Evangelischen Kirche in den Anfangsjahren
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wurden garantiert. Die Religionsgesellschaften blieben Körperschaften des öffentlichen Rechts. Kirchensteuern konnten aufgrund der staatlichen Steuerlisten erhoben werden. Die Erteilung von Religionsunterricht in den Schulen, die Seelsorge in Anstalten und das Eigentum der Kirchen wurden gewährleistet. Der Kirche wurde in Artikel 41 (2) sogar ausdrücklich das Recht zugesprochen, "zu den Lebensfragen des Volkes von ihrem Standpunkt aus Stellung zu nehmen", eine verfassungsrechtliche Besonderheit, da hier der Kirche ein politisches Mandat zuerkannt wurde. In der Phase der sogenannten "antifaschistisch-demokratischen Umwälzung" behielt die Kirche einen Sonderstatus. So wurde beispielsweise kirchlicher Grund- und Waldbesitz nicht der Bodenreform (VO vom September 1945) unterworfen.423 Auch das kirchliche Arbeitsrecht wurde nicht aufgehoben, und die theologische Ausbildung an den alten Universitäten blieb erhalten. 424 Mit der 2. Parteikonferenz der SED, auf der der "Aufbau des Sozialismus" beschlossen wurde, wandelte sich die staatliche Kirchenpolitik. Ziel war nun die Beseitigung kirchlicher Rechtspositionen und die Bekämpfung des gesellschaftlichen Einflusses der Evangelischen Kirche. Der Katalog der Maßnahmen reichte von Veranstaltungsverboten (besonders gegen die "Jungen Gemeinden") und Berufsverboten über die Einschränkung des Religionsunterrichtes bis hin zur Verhaftungswelle 1952/53, die vor allem die Studentengemeinden . . I"tmeren . dtsztp so IIte.425 Der von der SED proklamierte "Neue Kurs" als Reaktion auf die Unruhen im Juni 1953 brachte eine Rücknahme der bisherigen Gangart. Doch schon 1954 erfolgte mit der Einfiihrung der Jugendweihe, die durch ihre militant atheistische Tendenz von den Kirchen als Drohung und Bedrohung empfunden wurde, eine erneute Verschärfung der Beziehungen.426 Die äußerst gespannten Beziehungen zwischen Kirche und Staat wurden besonders deutlich an dem im Februar 1956 veröffentlichten Memorandum der DDR-Regierung zum Verhältnis zwischen Staat und Kirche. In dieser Schrift wurden kirchliche Repräsentanten verdächtigt, gemeinsam mit politischen Kräften in der Bundesrepublik die DDR zu untergraben. 427
423 Siehe zur Haltung der Evangelischen Kirche zur Bodenreform: Friebel I 992, S. 505 ff. Siehe auch: Granzow I 95 I . 424 Vgl. DDR-Handbuch 1985, Band I, S. 721. 425 Vgl. dazu: Luchterhandt 1982, S. 8 f. Siehe auch: N.N. : Die Verfolgung der Jungen Gemeinde im Frühjahr 1953; in: DA, 6/1983, S. 624-634. Maser 1989, S. 49 ff. 426 Vgl. dazu: Urban 1984, insbesondere S. 61 ff. und 121 ff. Siehe dazu auch Dähn I 982, S. 52 ff. 427 Vgl. Luchterhandt 1982, S. l 1/12.
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E. Kirchliche Deutschlandpolitik in den SOer Jahren
Die Ost-West-Konfrontation schlug voll auf die Lage der Evangelischen Kirchen in der DDR durch. Hatten sie in der zweiten Hälfte der vierziger Jahre noch eine hervorgehobene Stellung, schien sie in den funfziger Jahren im Kampf um das Überleben ihrer volkskirchlichen Strukturen. Das auch in kirchlichen Kreisen in der DDR diskutierte Konzept der Rechristianisierung verstärkte noch die Abwehrhaltung gegenüber der gesellschaftlichen Entwicklung in dem sich als sozialistisch verstehenden Staat.
111. Voten der Evangelischen Kirche zur Einheit Deutschlands Das Thema der Wiedervereinigung der beiden deutschen Staaten blieb fur die Evangelische Kirche in den funfziger Jahren in vielen Stellungnahmen und öffentlichen Kundgebungen beherrschend. Allerdings zeigte sich im Rahmen der Wiederaufrüstungsdebatte schnell, daß nicht nur die Einheit des deutschen Volkes, sondern auch die Einheit des deutschen Protestantismus bedroht war. Wenn sich auch zusehends die Kraft der EKD erschöpfte, offizielle Impulse auf die Deutschlandpolitik der beiden deutschen Regierungen und der Siegermächte des II. Weltkrieges zu geben, so blieb die Klammerfunktion der Evangelischen Kirche fur die deutsche Nation insbesondere durch die Kirchentagsbewegung außerordentlich stark. 1. Die deutsche Frage auf den EKD-Synoden und anderen
öffentlichen Kundgebungen
Die Botschaft der Synode der EKD von Berlin-Weißensee im April 1950 "Was kann die Kirche fur den Frieden tun?" 428 brandmarkte die politische Teilung Deutschlands als Gefahrenherd fur den Weltfrieden. Statt Versöhnung und Ausgleich würden durch den Eisernen Vorhang Haß und Feindseligkeit regieren, die den Menschen schaden. Entspannungs- und deutschlandpolitisch forderte daher die Synode in ihrem Appell die Besatzungsmächte auf: "Beseitigt endlich die Zonengrenze zwischen Ost und West, die unser Volk zerreißt und den Frieden der Welt geflihrdet. [ ...] Sorgt dafur, daß die Grenzen der Staaten nicht länger Mauem bleiben zwischen nationalen und ideologischen Machtsphären!"429 Deutlicher als in späteren Erklärungen sprach sich die Evangelische Kirche auch gegen eine Remilitarisierung Deutschlands im Osten wie im Westen aus. Die Kirche bezog also nicht nur gegen einen irregeleiteten Natio-
428 Siehe: KJdEKD, 1950, S. 7-10. 429 KJdEKD, 1950, S. 9/10.
111. Voten der Evangelischen Kirche zur Einheit Deutschlands
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nalismus Stellung, sondern versuchte, über die ideologischen Auseinandersetzungen hinweg die Einheit des deutschen Volkes zu bewahren. Dies aber mit einer speziellen Wahrnehmung und einem durchaus politischen Impetus, denn der Rat der EKD beschloß im Vorlauf zur Synode eine Erklärung als Reaktion auf heftig umstrittene Thesen Martin Niemöllers zur Friedenspolitik, die die grundlegenden Gedanken des Wortes zum Frieden bildeten: "I. Würde und Freiheit des Menschen sind nach christlicher Lehre unantastbar. Auch die Einheit des deutschen Volkes, unter deren Verlust wir heute mit unserem ganzen Volke schwer leiden, darf nicht mit der Preisgabe dieser Würde und dieser Freiheit erkauft werden. 2. Die Evangelische Kirche in Deutschland kann den infolge der Politik der Besatzungsmächte entstandenen Eisernen Vorhang nicht anerkennen. Er stellt eine ständige Bedrohung des Friedens und damit der Freiheit der Menschen und Völker dar."430 Mit dieser Erklärung, deren erster Punkt stark an den ersten Artikel des Grundgesetzes erinnerte und der Formel "Freiheit vor Einheit" Vorschub zu leisten schien, wies die EKD und später die Synode entschieden die theologischen Äußerungen von Niemöller zurück, denen zufolge, vor die Alternative zwischen dauerhafter Spaltung und Wiedervereinigung gestellt, "die Deutschen es vorziehen [würden], das Risiko des Kommunismus einzugehen. Sie würden glauben, daß sie unter diesen Umständen mehr Aussicht auf ein Weiterleben als Nation hätten."431 Zwar hoffte Niemöller auf einen dritten Weg zur Wiedervereinigung, wie ein UNO-Mandat filr Deutschland, doch löste die Setzung der Einheit der Nation als letzten politischen Wert heftigen Widerspruch aus. Im Kern der Diskussion ging es dabei, wie auch das Wort der Synode zeigte, nicht um eine blinde Orientierung nach Westen, sondern man versuchte den Gedanken des Rechts und des Rechtsstaates, der in Barmen angesichts eines totalen Staates entwickelt worden war, in Zusammenhang mit der nationalen Frage zu stellen. Damit erhielt auf kirchlicher Seite der politische gegenüber dem rein völkischen Aspekt der Wiedervereinigung an Gewicht. Auf der letzten Gesamttagung der EKD-Synode auf dem Territorium der DDR in Elbingerode im Herbst 1952 setzte sich die Evangelische kirehe angesichts der kurz bevorstehenden Entscheidung der Bundesregierung über die Aufstellung deutscher bewaffneter Streitkräfte filr Verständigung und gegen die Spaltung ein, indem sie in ihrer Kundgebung erklärte, "keinen Weg, der zur Verständigung fUhren könnte, unbeschritten zu lassen und keine weiteren Tatsachen zu schaffen, durch die die Zerreißung unseres Volkes mit ihren unheilvollen Folgen filr die ganze Welt aufunabsehbare Zeit zu erstarren droht"432 • In 430 KJdEKD, 1950, S. 4. Siehe auch: Botschaft des Rates der EKD zum Frieden; in: KJdEKD, 1950, S. 27. 431 KJdEKD, 1949, S. 240. 432 KJdEKD, 1952, S. 83.
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der Sorge um den Frieden und den Zusammenhalt der deutschen Nation richtete die Synode darüber hinaus in Stellvertretung fiir das deutsche Volk eine Eingabe an die vier Großmächte. In der Eingabe bat die Synode die Siegermächte des II. Weltkrieges, den Weg zur Wiedervereinigung möglichst bald freizugeben, um so die Verhältnisse in Deutschland friedlich regeln zu können. Alles andere würde weitere Verfeindung und sittlichen Verfall bedeuten. Ein geteiltes Deutschland würde ein Gefahrenherd fiir den Frieden der Welt werden. 433 Nach 1945 hatten sich im Raum der Evangelischen Kirche an den Universitäten zahlreiche Evangelische Studentengemeinden mit eigenen, auch überregionalen Strukturen gebildet.434 Zu diesen Strukturen gehörte auch der Deutsche Evangelische Studententag. Auf seiner dritten Tagung im August 1954 beschäftigte er sich mit dem Thema "Das Reich Gottes und das Reich der Deutschen", um die Frage des heutigen Bedeutungsgehaltes des Vaterlandes zwischen Studenten aus Ost und West zu diskutieren.435 Die Tagung, an der 1.200 Teilnehmer der jungen Nachkriegsgeneration mitarbeiteten, wurde innerkirchlich mit ihren Arbeitsergebnissen weit beachtet und verunsicherte nicht unerheblich Vertreter der älteren Generation, denen schon die Frage nach der Heiligkeit des Vaterlandes, wie sie im Begfeitheft der Tagung gestellt wurde, als Zeichen des Nihilismus erschien. 436 Tatsächlich gab es in den vier Hauptreferaten sowie in den Diskussionen darüber eine kritische Auseinandersetzung mit der nationalprotestantischen Tradition und der Theologie der Schöpfungsordnungen. Der Historiker Wittram erklärte die alte Idee des Reiches mit seinem säkularisierten Sendungsbewußtsein fiir diskreditiert und hob hervor, daß die Geschichte der Nationen verwoben ist mit der europäischen Kultur und nicht fiir sich alleine steht. Auch der Staatsgedanke, so Wittram, habe sich entscheidend verändert und sei nicht mehr mit der traditionellen neulutherischen Lehre von der Obrigkeit zu fassen: "Wir müssen heute leben ohne eine 'vorgegebene Obrigkeit'. Es gibt keinen Herrschaftsfaktor mehr, der nicht von der Volkssouveränität ausginge. Das aber hat zur Folge, daß der Staat, gleichgültig wie er sich nennt, nicht mehr in erster Linie die über uns schwebende Gewalt, sondern die uns anvertraute Verantwortung ist."437 Der Historiker Gerhard Ritter stellte - unter Einfluß des Gerichtsgedankens Gottes über Deutschland - apodiktisch Vgl. KJdEKD, 1952, S. 87/88. Siehe: Ordnung der Evangelischen Studentengemeinden in Deutschland; in: KJdEKD, 1945-1948, S. 229 ff. 435 Siehe: Der Deutsche Evangelische Studententag in Heide/berg; in: KJdEKD, 1954, S. 43 ff. 436 Siehe den abschließenden Gesamtbericht des Generalsekretärs der Evangelischen Studentengemeinden Horst Bannach in: KJdEKD, 1954, S. 52-55. 437 Prof Wittram: Das Reich der Deutschen - ein alter Traum oder ein neues Ziel?; in: KJdEKD, 1954, S. 44-45, hier S. 44. 433
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fest, daß es deutsche Machtpolitik jetzt und künftig nicht mehr geben könne. "Damit wird auch unsere Aufgabe verändert. Die Aufgabe unseres Patriotismus kann nicht mehr sein: Stolz auf nationale Größe, auf kriegerischen Ruhm, auf Macht und Geltung in der Welt. Es hat keinen Sinn, sich gegen diese Einsicht zur Wehr zu setzen. Gott hat es so gewollt. [... ] Deutschland hat eine Aufgabe überhaupt nur noch im Ganzen einer europäischen Gemeinschaft."438 Hier liege auch die zentrale nationale Aufgabe der Christen, Deutschland zu einem Vorkämpfer der europäischen Gemeinschaft der Völker und Nationen zu machen. Der Theologe Erwin Krämer setzte sich auf dem Studententag kritisch mit dem Volksbegriff auseinander und stellte vom theologischen Standpunkt fest, "daß Volk nicht eine Schöpfungsordnung Gottes ist. [... ] Volk ist immer im Präsens da. Es ist eine Gemeinschaft von Menschen, die miteinander im Präsens, in ihrer Gegenwart stehen. [... ]Nun vom Christlichen her gesehen: Volk ist sozusagen der geometrische Ort, wo die Gebote Gottes zu tun sind. Volk: das sind die Nächsten, die wir haben, zwar nicht grundsätzlich, aber praktisch."439 Von daher sollte die Rede von der Wiedervereinigung ohne metaphysische Erhöhung und ohne Rückenschaudem erfolgen, sondern sollte ihr Augenmerk auf die praktische und menschliche Zusammenfiihrung der deutschen Nation über Grenzen hinweg richten. Der Theologe Zahmt schließlich erklärte der bisherigen nationalprotestantischen Tradition des Zusammendenkens von Nation und Religion - und damit auch von Deutschtum und Christentum- eine klare Absage: "Das Kreuz Jesu Christi bedeutet das Ende jeder sichtbaren Analogie zwischen Gott und der Geschichte und damit das Ende aller Nationalreligion. Der Gott, der sich in Christus offenbart, ist nicht eine Projektion oder Ausweitung nationaler Ideale, nicht eine komplementäre Ergänzung der Nation" 440 • Sei der Begriff der Nation bisher mit einem chauvinistischen Impetus gebraucht worden, so könne Nation im christlichen Gebrauch nur eine Richtschnur des Handeins in den Ordnungen der Welt darstellen, die aber nicht als statisches System zu verstehen seien, sondern selbst veränderliche historische Größen darstellten. Der Staat, so Zahmt abschließend, sei zwar von Gott gesetzt, um die Welt nicht dem Chaos zu überantworten, doch ist er nicht um seiner selbst willen, sondern alleinig um der Menschen willen da, die nicht zum bloßen Material der Staatserhaltung werden dürften. Dem Heidelberger Studententag kommt nicht nur das Verdienst zu, auf hohem Niveau den Problemkomplex von Volk, Nation und Vaterland aus evangelischer Sicht erörtert zu haben und dabei kritisch den Traditionsbestand im deutschen Protestantismus hinterfragt 438 Prof Gerhard Ritter: Was heißt Bekenntnis zur geschichtlichen Vergangenheit?; in: KJdEKD, 1954, S. 45-46, hier S 45. 439 Dr. Erwin Krämer: Welchen Zusammenhang haben Nationalbewußtsein und Antisemitismus?; in: KJdEKD, 1954, S. 47-49, hier S. 47. 440 Dr. H. Zahrnt: Welchen Einfluß hat der Glaube an Jesus Christus auf die nationale Hoffnung?; in: KJdEKD, 1954, S. 49-52, hier S. 49.
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zu haben, sondern er nahm neun Jahre nach dem Zusammenbruch des Nationalsozialismus vor allem stellvertretend fiir die EKD Begriffsklärungen und Positionsbestimmungen vor, die Synode und Rat bei ihrem Eintreten fiir die Einheit des deutschen Volkes längst hätten ausruhrlieh reflektieren müssen. Statt dessen beherrschte die protestantische Theologie der fiinfziger Jahre nach wie vor die Vorstellung von Schöpfungsordnungen, die nur leicht durch die ökumenische Erfahrung modifiziert war. 441 Die Begriffe Nation und Volk wurden in Verlautbarungen der EKD benutzt, ohne daß sie - wie auf dem Studententag - ernsthaft und systematisch traditionsgeschichtlich befragt worden waren. Die Synode der EKD im Jahre 1954 in Berlin-Spandau kam in dem Bericht ihres Ost-West-Ausschusses deutschlandpolitisch auch nicht über ein Wort des Bedauerns über den Verlauf der Berliner Außenministerkonferenz hinaus und wiederholte lediglich die Forderungen von Elbingerode. 442 Die außerordentliche EKD-Synode in Berlin im Juni 1956 wurde auf Drängen der östlichen Mitgliedskirchen der EKD einberufen, da sie unter zunehmenden Druck der DDR-Regierung gerieten, die eine "Loyalitätserklärung" der Kirchen angesichts der Verhandlungen über den Militärseelsorgevertrag gegenüber der Deutschen Demokratischen Republik wünschte und durch Repressionen im kirchlichen Leben diesem Wunsch Nachdruck verlieh. 443 Damit wurde nicht nur die Einheit der EKD ernsthaft in Frage gestellt, sondern die Synode mußte sich auch über den Auftrag der Kirche im geteilten Deutschland verständigen. Sie tat es nach einem herausragenden Referat von Günter Jacob zum Thema "Der Raum fiir das Evangelium in Ost und West", in welchem er eine Rückbesinnung der Kirche und ihres Auftrages auf das Evangelium ohne Bindung an eine bestimmte Gesellschaftsordnung oder Gesellschaftsschicht forderte444 , mit drei deutschlandpolitisch wichtigen Erklärungen. In einer "Theologischen Erklärung" im Sinne einer Lehrerklärung der EKD sollte die auf das Evangelium gegründete Legitimität des kirchlichen Engagements fiir die Wiedervereinigung Deutschlands nachgewiesen werden: "Das Evangelium ist nicht dazu da, um uns Deutschen die politische Wiedervereinigung zu schaffen; es öffnet uns aber das Ohr fiir den Notschrei der Opfer der Trennung und gibt uns die Freiheit, ihre Überwindung von Gottes Gnade zu erbitten, fiir sie zu arbeiten und alles zu unterlassen, was sie hindert. "445 Diese Erklärung wurde als wichtigstes Arbeitsergebnis der Synode angesehen, das eine längst überflillige Klärung herbeigefUhrt habe. Aus heutiger Sicht bleibt jedoch nicht nur die 441 Siehe zur "Theologie der Ordnungen" und deren Wirkung in den flinfziger Jahren die referierende Übersicht bei: Fischer 1970, S. 101-118. 442 Vgl. Beschluß der Synode zum Bericht des Ost-West-Ausschusses; in: KJdEKD, 1954, s. 6/7. 443 Vgl. S. 115 f. 444 Vgl. KJdEKD, 1956, S. 9-16. 445 Theologische Erklärung der Synode; in: KJdEKD, 1956, S. 17I 18, hier S. 18.
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Frage, ob das Instrument einer theologischen Erklärung - man denke an Barmen - nicht überdimensioniert war, sondern auch, ob die inhaltliche Substanz der Erklärung mit gutem Recht eine theologische Standpunktklärung zum deutschlandpolitischen Engagement der EKD war, oder ob hier nicht vielmehr auf der Grundlage einer nationalprotestantisch beziehungsweise ordnungstheologisch geprägten Vorstellung vom Volk ein nachträglicher theologischer Überbau geliefert wurde. Deutlich wurde jedoch an der Erklärung vor allem der gefühlsmäßige Wille, die besondere Verbundenheit der evangelischen Christenheit in Ost- und Westdeutschland zu bekräftigen. Dies wurde in der zweiten Erklärung der Synode zur Einheit der Evangelischen Kirche in Deutschland konkret aufgegriffen, indem festgestellt wurde: "Im Bewußtsein unserer Gemeinden ist die Einheit der Evangelischen Kirche in Deutschland vorhanden und lebendig. [... ] Es bestätigt sich, daß alle Grenzziehungen solche Einheit nicht aufbeben können."446 In der dritten Erklärung der Synode versuchte die EKD ihrer selbstverstandenen Verantwortung für die Wiedervereinigung Deutschlands gerecht zu werden. Im Synodenbeschluß zur "Einheit des Volkes" wird vorausgeschickt, daß die Kirche stellvertretend für das deutsche Volk spricht: "Wir Christen aus Ost und West des einen deutschen Volkes [... ] treten im Namen unserer Gemeinden in Ost und West stellvertretend für alle, die gleichgültig oder vertrotzt oder verängstigt schweigen, für die Wiedervereinigung unseres Vaterlandes ein."447 Im Beschluß wird hervorgehoben, daß die herrschende politische Ordnung in Deutschland nur ein Provisorium sei, das nicht verfestigt werden dürfe, und die gesamte deutsche Bevölkerung auf der Grundlage des Völkerrechtes durch freie Wahlen, die nach Ansicht der Synode auch unter den jetzigen politischen Bedingungen möglich seien, seine Selbstbestimmung wahrnehmen solle. Hier dürfe es keine Erstarrung geben, sondern Christen und Politiker seien im besonderen Maße aufgerufen, Offenheit für neue Wege zu zeigen. Im einzelnen forderte der Synodalbeschluß als praktische erste deutschlandpolitische Schritte die Beendigung der feindlichen Propaganda, das Verbot von Bespitzelung und Sabotage, die Amnestierung der politischen Gefangenen sowie freien Reiseverkehr und Literaturaustausch. Die letzte umfassende Entschließung der Synode in den fünfziger Jahren zur Wiedervereinigung ging in ihren konkreten Forderungen weit über bisherige Stellungnahmen hinaus und konzentrierte ihren Blick auf die beiden deutschen Regierungen.448 Zu einer Entschärfung der Situation der Gliedkirchen der EKD in der DDR konnten die deutschlandpolitischen Positionen allerdings nicht beitragen, da sie eine deutliche Kritik gegenüber dem gesellschaftspolitischen Agie446 Die Einheit der Evangelischen Kirche in Deutschland (Synodalbeschluß); in: KJdEKD, 1956, S. 19/20, hier S. 19. 447 Einheit des Volkes (Synodalbeschluß); in: KJdEKD, 1956, S. 21/22, hier S. 2 1. 448 Siehe auch: Beschluß der Synode über die Entsendung einer Delegation nach Bonn und Pankow; in: KJdEKD, 19, S. 21/22.
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ren der DDR-Regierung enthielten.449 Kritikwürdig ist jedoch die Feststellung von Erwin Wilkens: "Noch die letzte ausfuhrliehe Entschließung der Synode der EKD zur Einheit des Volkes vom 29. Juni 1956 liest sich wie eine Entschließung der Mehrheit des Deutschen Bundestages. Kirchliche Erklärungen aber haben nicht die Aufgabe, politische Ziele der Staatsführung zu sanktionieren, sondern kritisch zu befragen."450 Sicherlich richtig ist, daß die Kritikfähigkeit der Synode gegenüber ihren eigenen deutschlandpolitischen Positionen nicht sehr entwickelt war. Weder die deutschlandpolitischen Begrifflichkeilen wurden durch die "Theologische Erklärung" geklärt, noch wirkte das Referat von Jacob mit seinen wegweisenden Thesen in dem Maße, wie es wünschenswert gewesen wäre. Diese neue Positionsbestimmung wurde erst wirklich fruchtbar in den Diskussionen um die Einheit der EKD in den sechziger Jahren nach dem einschneidenden Erlebnis des Mauerbaus. Das Eintreten der Synode filr die deutsche Wiedervereinigung entsprang jedoch nicht einer opportunistischen Anlehnung an die westdeutsche Regierungspolitik, sondern fußte in der geschichtlichen Werdung und Erfahrung der Einheit des deutschen Protestantismus über alle bestehenden konfessionellen Unterschiede hinweg, die letztendlich nur durch die Überwindung der Teilung des deutschen Volkes bewahrt zu werden schien. Daß angesichts der konkreten Erfahrungen der Gemeinden in der DDR im Synodalbeschluß freie Wahlen und das Selbstbestimmungsrecht des gesamten deutschen Volkes - beide deutsche Staaten wurden kirchlicherseits als Provisorien begriffen! - eingefordert wurden, kann nicht ernsthaft als Vorwurf einer bedingungslosen Westbindung der EKD aufgestellt werden. Ein facettenreicheres Bild ergibt sich jedoch bei der Analyse der friedenspolitischen Diskussionen auf den EKD-Synoden nach den Pariser Verträgen 1955 und der Wiederbewaffnung in beiden deutschen Staaten mit der Gefahr einer atomaren Ausrüstung der Armeen. Hier waren die Synodalen gefordert, nicht nur abstrakt den Gedanken der Wiedervereinigung zu formulieren, sondern konkret Stellung zu beziehen zu politischen Entscheidungen, die nicht nur die christliche Ethik betrafen, sondern im gleichen Maße auch die Chancen einer Überwindung der Trennung des deutschen Volkes. Die Diskussionen um die Wiederaufrüstung und die Westintegration der Bundesrepublik Deutschland durch die Bundesregierung stellten die EKD nicht nur innerkirchlich vor schwere Probleme, sondern ließen auch die unterschiedlichen deutschlandpolitischen Standpunkte von Vertretern des deutschen Protestantismus deutlicher hervortreten, die nicht mehr nur wie die Synode der EKU im Jahre 1955 allge-
449 Vgl. Bericht zur gegenwärtigen Lage der ev. Kirche in der DDR; in: KJdEKD, 1956, S. 23-25. Schreiben des stellv. Ministerpräsidenten Nuschlre an Propst Grüber vom II. Juli zu den Ergebnissen der Synode; in: ebenda, S. 26/28. 450 Willrens 1970, S. 292.
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mein feststellen konnten, daß "die Wiedervereinigung eine sittliche Notwendigkeit [ist], derer sich auch die evangelische Kirche annehmen muß."451
2. Die Wiederaufrüstungsdebatte und das Problem der Westintegration der Bundesrepublik Die Diskussion um die Wiederaufrüstung der Bundesrepublik Deutschland belastete die EKD innerkirchlich schwer. Zehn Tage nach dem Interview Adenauers, in dem er die Schaffung einer "starken deutschen Verteidigungskraft" überlegenswert fand452 , veröffentlichte der Rat der EKD am 27. August 1950 während des Essener Kirchentages das "Wort des Rates der EKiD zur Wiederaufrüstung".453 In ihm hieß es unter anderem: "[ ... ] Die Vorgänge im fernen Osten haben gezeigt, daß der Friede durch nichts so sehr bedroht wird, als wenn man ein Land durch willkürliche Grenzziehung in zwei Teile aufgespaltet hält. [... ] Einer Remilitarisierung Deutschlands können wir das Wort nicht reden, weder was den Westen noch was den Osten anbelangt. Die Pflicht der Kirche kann es immer nur sein, die schwergerüsteten Mächte der Welt wieder und wieder zu bitten, dem heillosen Wettrüsten ein Ende zu machen und friedliche Wege zur Lösung der politischen Probleme zu suchen. [... ] Deutsche Brüder und Schwestern: Redet Gutes voneinander, auch über den Eisernen Vorhang hinweg! Vertraut einander und haltet Gemeinschaft miteinander! Daß Deutsche jemals aufDeutsche schießen, muß undenkbar bleiben." Unter dem Eindruck des Korea-Krieges454 hatte ein Nachdenken über einen möglichen Sicherheitsbeitrag der Bundesrepublik eingesetzt. Die EKD stellte sich in ihrem Wort gegen jegliche Wiederbewaffnungspläne aus Ost und West unter Berufung auf die Paradoxie solcher Vorstellungen aufgrund der nationalen Gemeinschaft der Deutschen. Ihre Aufgabe sah sie in Abrüstungsappellen. Dieses Wort konnte aber nicht als allgemeingültige kirchliche Positionsbestimmung zur Wiederaufrüstungsfrage gelten. Der Streit darüber entflammte erst. Verallgemeinemd kann man von einer Auseinandersetzung zwischen den bruderrätlich und den lutherisch geprägten Flügeln in der EKD um das richtige Verhältnis von Politik und Kirche reden.
451 Wort zur Wiedervereinigung unseres Volki!s; in: KJdEKD, 1955, S. 1851186, hier S. 185. 452 Vgl. Li/ge 1981, S. 92 f. 453 KJdEKD, 1950, S. 165/166. Dokumentiert in: Evangelische Kirche in Deutschland und die Wiederaufrüstungsdiskussion in der Bundesrepublik 1950-1955, S. 27-29. 454 Zur Bedeutung des Korea-Krieges für die EKD siehe: Lotz 1992, S. 63 f. Auch: KJdEKD, 1951, S. 241 ff.
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Der Bruderrat der EKD und Vertreter kirchlicher Bruderschaften meldeten sich zu Wort455 und lehnten entschieden die Wiederaufrüstung ab. Die Vertreter kirchlicher Bruderschaften fonnulierten in ihrer weit beachteten, aber auch heftig kritisierten "Handreichung an die Gemeinden zur Wiederaufrüstung" folgende Position zur Aufrüstung im Ost-West-Gegensatz: "Zwei Großmächte rüsten widereinander um des Gegensatzes ihrer Meinungen über Gerechtigkeit und Freiheit willen. Dieser Gegensatz hat unser Volk in zwei Teile zerrissen, die nun durch die Rüstung zu zwei Heerlagern gemacht werden sollen.[ ...] Wir Deutschen müssen uns aus dem Konflikt der Weltmächte heraushalten. Wir dürfen nicht filr die eine oder andere Seite Partei nehmen. [...] Wir lehnen eine Remilitarisierung Deutschlands ab, weil wir im Glauben an Jesus Christus weder von fremden Militännächten noch von irgendeiner militärischen Macht Hilfe filr unser Volk erhoffen. "456 Diese Theorie des "Dritten Weges" Deutschlands zwischen Ost und West, hoch moralisch begründet und äußerst reduktiv in ihrer außenpolitischen Analyse, sah schließlich noch zur Erringung der Einheit des deutschen Volkes in der Garantie der Rechtsordnung und der Schaffung sozialer Ordnung "die wirksamsten Mittel, vielleicht die einzig wirksamen Mittel zur Überwindung des Bolschewismus. "457 Briefe Martin Niemöllers und der Bruderschaften458 gegen die Wiederaufrüstungspläne ließen Bundeskanzler Adenauer genauso kalt459 wie der Rücktritt seines Innenministers Gustav W. Heinemann, der die Politik der Bundesregierung aus klar analysierten Sicherheitsinteressen Deutschlands nicht mehr mittragen wollte.460 Der Widerstand gegen die Wiederaufrüstung fonnierte sich vor allem um die Personen Karl Barth, Martin Niemöller und Gustav W. Heinemann. Gerade die durch Karl Barth461 und den Kirchenkampf geprägten Pastoren und Theologen vertraten die Auffassung, daß die Kirche zu konkreten politischen Fragen das Wort er455 Genannt seien hier das "Wort des Bruderrates der EKiD zur Wiederaufrüstung" (Darrnstadt, 29. September 1950) und die "Denkschrift von Vertretern kirchlicher Bruderschaften an die Gemeinden zur Wiederaufrüstung" (Darrnstadt, 4. Oktober 1950). Dokumentiert in: Evangelische Kirche in Deutschland und die Wiederaufrüstungsdiskussion in der Bundesrepublik 1950-1955, S. 35-37 bzw. S. 38-43 (Auszüge). Siehe auch: KJdEKD, 1950, S. 160fT. 456 Handreichung an die Gemeinden zur Wiederaufrüstung; in: KJdEKD, 1950, S. 169-174, hier S. 169/ 170/ 171. 457 Handreichung an die Gemeinden zur Wiederaufrüstung; in: KJdEKD, 1950, S. 169-174, hier S. 173. 458 Siehe: Offener Brief D. Martin Niemöllers an Bundeskanzler Dr. Adenauer; in: KJdEKD, 1950, S. 174 f. Offener Brief von Vertretern der Bruderschaften der Bekennenden Kirche an den Bundeskanzler; in: ebenda, S. 176 f. 459 Vgl. Präses Wilm an den Bundeskanzler; in: KJdEKD, 1950, S. 177 f. 460 Vgl. "Deutsche Sicherheit" (Erklärung von Dr. Heinemann); in: KJdEKD, 1950, s. 179-186 461 Vgl. Brief Kar/ Barths zur Frage der Wiederaufrüstung Westdeutschland; in: KJdEKD, 19, S. 214fT.
III. Voten der Evangelischen Kirche zur Einheit Deutschlands
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greifen sollte bis hin zum Widerstand gegen politische Entscheidungen, die mit kirchlichen Interessen und Zielen nicht vereinbar seien. 462 Gegen die Einstellung und gegen die schriftlichen Voten vor allem Niemöllers regte sich Widerstand in den lutherischen Landeskirchen. In einer "Erklärung des Landeskirchenrates der Evangelisch-Lutherischen Kirche in Bayern" vom 24. Oktober 1950 hieß es: "Kirchenpräsident D. Niemöller hat sich in der letzten Zeit in verschiedenen Erklärungen zur politischen Lage geäußert. Wir müssen es vor unseren Gemeinden in aller Öffentlichkeit aussprechen, daß diese Äußerungen nicht im Auftrag und nicht im Sinn unserer Kirche geschehen sind. [...] Die Kirche hat das Wort Gottes zu verkündigen in seinem ganzen Ernst und in seinem ganzen Trost. Es kann wohl in bestimmten Stunden die Kirche gezwungen sein, vom Wort Gottes her ein kritisches Wort zur Politik oder zur Staatsfiihrung zu sagen. Aber dabei hat sie das Amt zu achten, das Gott der Obrigkeit gegeben hat."463 Und in einer "Stellungnahme des Theologischen Konventes der Bekenntnisgemeinschaft der Evangelisch-lutherischen Landeskirche Hannover" vom 30. November 1950 heißt es: "Der lutherische Widerspruch gegen die Haltung D. Niemöllers und seiner Freunde in der Frage der deutschen Wiederaufrüstung ergeht weder aus persönlichen noch aus politischen Gründen. Er betrifft auch nicht in erster Linie die formale Seite der hier gefiihrten Diskussion. Es geht hier vielmehr um eine verschiedene Beurteilung der Beteiligung der Kirche an der politischen Willensbildung und Gestaltung überhaupt. Dieser Dissensus ist aber schließlich nur ein Symptom fiir eine tiefgreifende und in großer Breite sich auswirkende theologische Grundkontroverse."464 Natürlich handelte es sich hier auch um eine politische Auseinandersetzung. Festgehalten kann aber werden, daß der auch in Barmen nicht gelöste Konflikt zwischen der Zwei-Reiche-Lehre und der Lehre der Königsherrschaft Christi465 in der Frage nach dem Verhältnis zwischen einerseits der Kirche und andererseits dem Staat und der Politik am aktuellen Wiederbewaffuungsstreit in aller Schärfe aufbrach. Im Verlauf der Diskussion verstärkten sich die Polarisierungen zwischen den Flügeln. Die EKD befand sich in einer ersten schweren 462 Vgl. dazu: Evangelische Kirche in Deutschland und die Wiederaufrüstungsdiskussion in der Bundesrepublik 1950-1955, S. 17. 463 Dokumentiert in: Evangelische Kirche in Deutschland und die Wiederaufrüstungsdiskussion in der Bundesrepublik 1950-1955, S. 68. Auch die Landessynode der Evangelisch-Lutherischen Kirche in Hannover schlug beispielsweise in einer Erklärung den gleichen Tenor an. Vgl. ebenda, S. 69. 464 Dokumentiert in: Evangelische Kirche in Deutschland und die Wiederaufrüstungsdiskussion in der Bundesrepublik 1950-1955, S. 72-76. 465 In diesem Zusammenhang ist auf die kurze Charakteristik beider Lehren in: Evangelische Kirche in Deutschland und die Wiederaufrüstungsdiskussion in der Bundesrepublik 1950-1955, S. 16-17, zu verweisen.
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Krise, zumal sich "vornehmlich unter den durch die VELKD repräsentierten Kräften bald die Bereitschaft ab[zeichnete], über die Auseinandersetzung um die Wiederaufrüstungspolitik die Einheit der EKD zur Disposition zu stellen. "466 Daß die Einheit der EKD nicht zerfiel, ist nicht auf die Lösung, sondern auf die Verdrängung dieses Konfliktes zurückzufiihren, da die politische Wirklichkeit durch die Beschlüsse des Bundestages und das Handeln der Bundesregierung die Wiederaufrüstungsdebatte überholte. 467 Der EKD-Synode verblieb 1958 nicht anderes, als in ihrer sogenannten "Ohnmachtsformel" die bestehenden Gegensätze in der Beurteilung der atomaren Waffen und den daraus hergeleiteten Konsequenzen festzustellen: "Wir bleiben unter dem Evangelium zusammen und mühen uns um die Überwindung dieser Gegensätze."468 In den Synoden von Berlin-Weißensee bis Elbingerode gab es erregte und zum Teil heftige Diskussionen über das Problem der Wiederbewaffnung des deutschen Volkes und über die Frage, welche politischen Aufgaben der Kirche zur Sicherung des Friedens zukommen sollten. 469 Die Synoden faßten in ihren Beschlüssen jeweils das zusammen, was als gemeinsame Überzeugung gelten konnte. Das anfanglieh klare Votum gegen die Remilitarisierung Deutschlands wurde jedoch dadurch immer brüchiger, als es zwischen verschiedenen theologischen Flügeln innerhalb der EKD zu einer Kontroverse über den konkreten friedenspolitischen Beitrag der Kirche kam. Während die einen auch politische Aktionen befiirworteten, überantworteten die anderen die politische Entscheidung in dieser Frage der staatlichen Obrigkeit. Dieser Prozeß filhrte nicht nur zu erheblichen Spannungen in der EKD, sondern ließ die öffentlichen Erklärungen der EKD zur Wiederaufrüstung der Bundesrepublik Deutschland immer unverbindlicher werden470 und stärkte damit im Endeffekt die Politik der Bundesregierung unter Adenauer. Dabei gab es entschiedene Unterschiede in den deutschlandpolitischen Konzeptionen zwischen Bundesregierung und EKD, die in einem Gespräch zwischen Bundeskanzler Adenauer mit evangelischen KirchenfUhrern am 5. November in Königswinter deutlich hervortraten. Adenauer legte sein Konzept einer Wiedervereinigung dar, das auf der Annahme beruhte, daß der Weg zu einem Gesamtdeutschland nur über eine Integration Westdeutschlands in eine starke westeuropäische Verteidigungsgemeinschaft fiihren könnte, um die Sowjetunion an den Verhandlungstisch zu bringen. Der deutsche Wehrbeitrag sei auch erforderlich, um das europäische Engagement der USA zu erhalten. Gesamtdeutsche Wahlen befiirwortete er, jedoch keine Ver466 Evangelische Kirche in Deutschland und die Wiederaufrüstungsdiskussion in der Bundesrepublik 1950-1955, S. 19. 467 In diesem Sinne auch: Evangelische Kirche in Deutschland und die Wiederaufrüstungsdiskussion in der Bundesrepublik 1950-1955, S. 20. 468 Zitiert nach: Henkys 1987, S. 68. 469 Vgl. Friebel 1992, S. 362 ff. und S. 419 ff. 470 Vgl. Latz 1992, S. 85 f.
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handJungen mit der Regierung der DDR, da diese nicht demokratisch legitimiert sei. Im übrigen sei ein gesamtdeutsches Gespräch während der Verhandlungen mit den westlichen Alliierten nicht hilfreich, da es im Westen Irritationen hervorrufen würde. Demgegenüber erklärte Dibelius fiir den Rat der EKD, daß die Wiedervereinigung Deutschlands vordringlichstes Ziel sei, um einen Unruheherd in Mitteleuropa zu vermeiden. Die Frage der demokratischen Legitimation der DDR-Regierung dürfe kein Hinderungsgrund ftir gesamtdeutsche Gespräche sein, da ja auch die Alliierten Verbindung aufgenommen hätten. Statt die militärische Westintegration voranzutreiben, solle die Bundesregierung sich stärker fiir die Wiedervereinigung einsetzen. In Anlehnung an ein Wort Bodelschwinghs erklärte Dibelius in bezug auf den Prozeß der Wiederherstellung der Einheit Deutschlands: "Nicht so langsam, sie sterben sonst darüber." Darüber hinaus wurde von evangelischer Seite gefordert, daß die Bundesregierung ernsthafter als bisher den Willen zeigen solle, gesamtdeutsche Wahlen durchzufiihren. 471 Dieses Gespräch war jedoch keine offizielle Zusammenkunft, sondern diente lediglich dem informellen Meinungsaustausch. Im öffentlichen Wirken der EKD gab es hingegen vermehrt Anzeichen eines Rückzuges aus der politischen Verantwortung der Kirche. 472 Bezeichnend ist, daß es keine kirchliche Stellungnahme zur Stalin-Note im Jahr 1952 gab und eine Moskau-Reise Martin Niemöllers473 nicht als Chance fiir Sondierungsgespräche gewertet wurde, sondern zu einer erbitterten innerkirchlichen und öffentlichen Kontroverse hinsichtlich einer "politisierenden Kirche" fiihrte. Regierungskritische Beiträge in der Frage der Wiederaufrüstung und Wiedervereinigung wurden nicht von Organen der EKD, sondern nur noch von Einzelpersönlichkeiten und Gruppen aus dem Raum der Evangelischen Kirche vorgetragen, die dann auch häufig in der bundesrepublikanischen Öffentlichkeit Diffamierungen ausgesetzt waren. In diesen Kreisen gab es jedoch ein klare Analyse des Zusammenhanges zwischen Wiederaufrüstung und Wiedervereinigung. So hieß es in einem von einer größeren Anzahl evangelischer Pfarrer unterzeichnetem Aufruf zu Beginn des Jahres 1953, daß ein bundesrepublikanischer Wehrbeitrag "eine Verschärfung der Lage im Osten und zum mindesten eine unabsehbare Verzögerung, wenn nicht gar die Verhinderung der friedlichen Wiedervereinigung mit unseren Brüdern in der Ostzone" 474 bedeuten würde. Anfang der fiinfziger Jahre entwickelte sich - in dem Ausmaß fiir den Protestantismus durchaus neuartig - eine christliche Friedensbewegung, in der Vertreter der Evangelischen wie Katholischen Kirche mitwirkten. Als ein Grundsatzdokument dieser Bewegung kann der Aufruf "Was haben wir Chris471 Vgl. Das Königswinter-Gespräch Adenauers mit den Kirchenfohrern; in: KJdEKD, 1951, S. 175-181. 472 Siehe auch: Friebel 1992, S. 392 ff. 473 Siehe: KJdEKD, 1952, S. 6 ff. 474 Aufrufan die evangelische Christenheit; in: KJdEKD, 1953, S. 32/33, hier S. 32.
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ten in Westdeutschland heute fiir die Erhaltung des Friedens zu tun?" gelten, der nicht nur die sich verschärfende Kriegsgefahr durch die beabsichtigte Ratifizierung der Verträge (Deutschland-Vertrag und EVG-Vertrag) hinsichtlich des westdeutschen Wehrbeitrages entschieden geißelte, sondern immer wieder den Gedanken der Versöhnung auf der Grundlage von Verhandlungen zur Geltung brachte. Von diesen Positionen ausgehend, wurde die Politik der Bundesregierung und der sie tragenden Parteien kritisch hinterfragt: "Wir fragen unsere Politiker: Ihr behauptet, die Ratifizierung der Verträge würde uns der Wiedervereinigung näherbringen. (Wir wissen, daß die Wiedervereinigung nur entweder das Ergebnis von Verhandlungen oder das Ergebnis eines Krieges sein kann. Wir wissen, daß nach einer Ratifizierung voraussichtlich nur mehr verhandelt werden könnte, wenn die Sowjetunion - was kein ernstzunehmender Politiker erwarten wird- bereit wäre, pfandlos Ostdeutschland herauszugeben.) Warum begründet Ihr Eure angebliche Überzeugung nicht? Warum verlangt Ihr statt dessen, wie einst der sogenannte Führer, daß man Eurer Politik Vertrauen und Glauben schenkt und sich zu ihr bekennt?" 475 Bei allen polemischen Tönen bleibt festzuhalten, daß in diesem Aufruf der Zusammenhang zwischen Wiederaufrüstung und Wiedervereinigung klar auch unter außenpolitischen Gesichtspunkten gesehen wurde. Natürlich blieb diese Positionen nicht unwidersprochen und der Evangelische Arbeitskreis der CDU trug bedenkenswerte Argumente gegen eine Neutralisierung Deutschlands und für die Sicherheitsinteressen durch eine eigene westdeutsche Verteidigungsbereitschaft vor, die dann "einen Damm aufrichten [würde], der dem kalten und heißen Krieg Einhalt gebietet und dadurch die unerläßliche Voraussetzung schafft für eine erfolgreiche Viennächtekonferenz über die Wiedervereinigung Deutschlands."476 Dennoch bleibt festzuhalten, daß der christliche Aufruf näher an den Positionen war, die in der EKD in allgemeinen Erklärungen und Stellungnahmen zur Wiedervereinigung immer wieder vorgetragen worden waren: Vorrang der Einheit des deutschen Volkes, Versöhnung, Verhandlungen und Venninderung der Kriegsgefahr. Die EKD selbst konnte im Verlauf der Diskussionen immer weniger ein solch verbindliches Wort sprechen, wie es noch die Rheinische Landessynode im November 1950 tun konnte, als sie in einem Beschluß feststellen konnte, daß die Einheit als hohes Gut durch die Wiederaufrüstung extrem gefährdet sei. 477 Zusammenfassend bleibt die Erkenntnis, daß es in der EKD
475 Was haben wir Christen in Westdeutschland heutefor die Erhaltung des Friedens zu tun?; in: KJdEKD, 1953, S. 34-38, hier S. 37. Der Aufruf wurde evangelischerseits unter anderem unterzeichnet von Martin Niemöller, Präses Wilm, Prof. Hans Joachim !wand und Prof. Wolf. 476 Vgl. Entschließungen des Evangelischen Arbeitskreises der CDU; in: KJdEKD, 1953, S. 38-40, hier S. 39. 477 Siehe: Wort der Rheinischen Landessynode zum Frieden und zur Wiederaufrüstung; in: KJdEKD, 1950, S. 224 ff.
111. Voten der Evangelischen Kirche zur Einheit Deutschlands
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selbst keine eindeutige Position gegen eine Wiederbewaffnung und Integration Westdeutschlands in das westeuropäische Verteidigungssystem gab.478 Dabei ist in unserem Zusammenhang weniger wichtig, ob diese Strategie der Bundesregierung zustimmungsfähig war oder nicht, sondern daß die Westintegration und eine erfolgversprechende Wiedervereinigungspolitik unter der Rahmenbedingung des Kalten Krieges einander ausschlossen und die Evangelische Kirche in Deutschland zwar vehement an der Wiedervereinigung als vorrangigem politischen Ziel festhielt, aber in der praktischen politischen Verantwortung sich immer mehr auf "deutschlandpolitische Allgemeinplätze" 479 zurückzog und als kirchlichen Beitrag nur noch den Appell an das Gewissen der verantwortlichen Politiker lieferte, bei allen Entscheidungen die Frage der nationalen Einheit zu bedenken. Diese deutschlandpolitische Unverbindlichkeit der EKD wurde dann nochmals besonders deutlich nach der Unterzeichnung der Pariser Verträge 1955, die den Deutschland-Vertrag neu abfaßten und die Bundesrepublik in die WEU und NATO aufnahmen. Es gab zwar zahlreiche Aktivitäten einzelner kirchlicher Gruppen gegen die NATO-Mitgliedschaft und fiir einen Vorrang der Wiedervereinigung vor der Westintegration480, doch der Rat und die Synode der EKD konnten sich zu keiner eindeutigen Position durchringen. In dem als "Bremer Erklärung" bekannt gewordenen Dokument aus dem Raum der Bremischen Kirche konnte aufgerufen werden, "der Aufrüstung in beiden Teilen Deutschlands und der Einbeziehung der beiden deutschen Teilstaaten in gegeneinander gerichtete Militärbündnisse zu widerstehen. Es ist Illusion, zu glauben, daß die Wiedervereinigung unseres Volkes in Frieden und Freiheit auf diesem Wege zu erreichen ist."481 Daß hier jedoch nur eine Richtung innerhalb der EKD sprach, wurde deutlich auf einer Tagung in Bad Bol!, auf der profilierte Vertreter des deutschen Protestantismus über die Wiederbewaffnung diskutiert hatten: "Wir alle wollen die Wiedervereinigung. Wir sind uns nur über die Erreichung dieses Zieles fiir unser deutsches Volk nicht einig."482 Auch als die Sowjetunion angesichtsder Unterzeichnung der Pariser Verträge im Oktober 1954 und Januar 1955 in Aussicht stellte, die Frage gesamtdeutscher Wahlen nochmals zu prüfen und noch ungenützte Möglichkeiten der Wiedervereinigung Deutschlands auszuloten, reagierte die EKD nicht offiziell. Statt dessen unterstützten profilierte Vertreter des deutschen Protestantismus am 29. Januar 1955 in der Frankfurter Paulskirche das "Deutsche Manifest", das den Vorrang 478 Vgl. Henkys 1987, S. 67 f. Siehe auch: Vogel, Johanna: Die Haltung der Evangelischen Kirche in den Auseinandersetzungen um die Wiederbewaffnung der Bundesrepublik 1949-1956, Göttingen 1978.
Friebe/1992, S. 430. Siehe: KJdEKD, 1954, S. 75 ff. KJdEKD, 1955, S. 4 ff. 481 KJdEKD, 1955, S. 5. 482 KJdEKD, 1955, S. 6. 479 480
9 Hanke
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E. Kirchliche Deutschlandpolitik in den 50er Jahren
der Wiedervereinigung vor Wiederbewaffnung und militärischer Blockbindung forderte: "Die Verständigung über eine Viermächte-Vereinbarung zur Wiedervereinigung muß vor der militärischen Blockbildung den Vorrang haben. Es können und müssen die Bedingungen gefunden werden, die fiir Deutschland und seine Nachbarn annehmbar sind, um durch Deutschlands Wiedervereinigung das friedliche Zusammenleben der Nationen Europas zu sichern. Das deutsche Volk hat ein Recht auf seine Wiedervereinigung!" 483 Diese deutlichen Worte des Manifestes lagen in ihren Kernforderungen durchaus auf der Linie bisheriger Verlautbarungen der EKD zur Wiedervereinigung. Der Rat der EKD reagierte jedoch auf die bundesrepublikanische und innerkirchliche Diskussion um die Pariser Verträge äußerst zurückhaltend und wenig verbindlich. Der Rat der EKD veröffentlichte auf einstimmigen Antrag der Kirchenkonferenz auf seiner Frankfurter Tagung am 2./3. Februar 1955 die Erklärung "Um die Wiedervereinigung des deutschen Volkes". In ihr wird festgestellt, daß die Kirche die Wiedervereinigung Deutschlands wünscht, aber sich nicht berufen fiihlt, ein bestimmtes Votum zu den Pariser Verträgen zu geben. "Es handelt sich hier um Fragen der politischen Einsicht und der politischen Verantwortung, die nach unserer gemeinsamen Überzeugung von dem an Gott gebundenen Gewissen entschieden werden müssen."484 Gegenüber dem bisherigen vehementen Einsatz filr die Vereinigung des deutschen Volkes konnte diese offizielle Erklärung des Rates der EKD nur enttäuschend wirken, da jegliche Verantwortung filr die Wiedervereinigung kirchlicherseits abgelegt und durch die mangelnde politische Kritikflihigkeit der Erklärung faktisch die Politik der Bundesregierung legitimiert wurde.485 Das eindeutige Wort von 1950 gegen die Remilitarisierung Deutschlands war jetzt nicht mehr möglich. 486 Diese Grundtendenz der mangelnden Kritikflihigkeit gegenüber der westdeutschen Regierung in den öffentlichen Stellungnahmen der EKD zur Deutschlandpolitik setzte sich bis in die Sechziger Jahre fort, ohne daß es hier neue Impulse gab. Bezeichnend filr diese Entwicklung ist beispielsweise der Appell der evangelischen Bischöfe an die deutschen Regierungen und Siegermächte des II. Weltkrieges vom Januar 1959, in der angesichts von beabsichtigten Friedensvertragsverhandlungen lediglich dazu aufgerufen wurde, die Schicksale der Menschen im zerspaltenen Deutschland nicht zu vergessen.487 Einen anderen Weg ging die EKU, die
483 Das deutsche Manifest; in: KJdEKD, 1955, S. 14-15, hier S. 15. Siehe auch: Kundgebung in der Pau/skirche zu Frankfurt a. M. am 29.1 .1955, Rede von Prof. Gollwitzer; in: ebenda, S. 11-14. 484 KJdEKD, 1955, S. 15. 485 Zur innerkirchlichen Kritik an dieser Erklärung siehe: KJdEKD, 1955, S. 28 ff. Siehe auch: Friebe/1992, S. 435. 486 Vgl. S. 123. 487 Appell der Bisehöft 'Vergeßt den Menschen nicht' vom 27.1.1959; in: KJdEKD, 1959, s. 77.
111. Voten der Evangelischen Kirche zur Einheit Deutschlands
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durchaus noch in der Lage war, eigene deutschlandpolitische Akzente zu setzen.488 In einem "Notwort"489 der ersten Tagung der 2. Generalsynode im Februar 1959 in Berlin-Spandau versuchte die EKU angesichts der Not und Gefahr der Spaltung des deutschen Volkes und der geteilten Hauptstadt nicht "bestimmte politische Wege im Namen Gottes zu proklamieren", sondern bat "folgende Einsichten und Vorschläge mit uns in dem Ernst zu bedenken, den die Not gebietet" 490. Die Synode der EKU erinnert einleitend an die Schuld des deutschen Volkes und lehnt von daher jeden Nationalismus ab. Deutschland dürfe keine Machtpolitik mehr treiben, sondern müsse einen Beitrag zur Versöhnung leisten. Auf dieser Grundlage dürfe das "deutsche Volk [... ] in seinen beiden staatlichen Bereichen bei dem kalten Krieg nicht mitmachen", sondern müsse sich darüber klar werden, daß die Wiedervereinigung und der Frieden nur dann zu erreichen ist, wenn die Deutschen "selbst zu Opfern bereit sind, die auch einem neuen Zusammenleben der Völker dienen."491 An die Siegermächte des II. Weltkrieges richtete die EKU die Bitten, Deutschland nicht mehr als militärisches Vorfeld zu behandeln, die Politik der Abschreckung zu beenden, "dem deutschen Volk zum Frieden und zur Wiedervereinigung zu helfen" auf der Grundlage des Selbstbestimmungsrechtes und schließlich als Voraussetzung eines Friedensvertrages schon jetzt wieder eine gegenseitige und gesicherte Kommunikation aller Menschen im deutschen Vaterland herzustellen. "Der staatspolitischen Wiedervereinigung, deren Wege aufzuweisen nicht Sache der Synode ist, müßte die menschliche Wiedervereinigung vorangehen." 492 Neben diesem Notwort suchte die Synode der EKU auf ihrer Tagung auch nach Möglichkeiten eines "Notdienstes" der Kirche und beauftragte die Kirchenleitung, nach "weiteren Wegen zu suchen, auf denen die Evangelische Kirchen in der gegenwärtigen Situation des geteilten Deutschland einen bescheidenen Dienst der Vermittlung tun könne."493 Das moderate und dennoch engagierte Notwort, das den deutschen Regierungen und den Vier Mächten übergeben wurde, fand insbesondere in ostdeutschen Landeskirchen Zustimmung.494 Im westlichen Bereich der EKD gab es jedoch Kritik und Distanz zu dem Vorstoß der EKU. Daß im Notwort auch die atomare Aufrüstung Deutschlands abgelehnt wurde, nahm das vom Landesbischof Lilje herausgegebene "Sonntagsblatt" zum Anlaß, den 488 Siehe zur besonderen deutschlandpolitischen Rolle der EKU: Friebel 1992, S. 453 ff. 489 'Notwort' der Synode der EKU; in: KJdEKD, 1959, S. 282-283. 490 K.JdEKD, 1959, S. 282. 491 K.JdEKD, 1959, S. 283. 492 K.JdEKD, !959, S. 283. 493 K.JdEKD, !959, S. 283. 494 Siehe die Entschließungen der Evangelischen Kirche Anhalts, der Pommersehen Evangelischen Kirche und der Evangelischen Kirche in Berlin-Brandenburg: K.JdEKD, 1959, s. 79.
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E. Kirchliche Deutschlandpolitik in den 50er Jahren
Vorwurf zu erheben, daß die EKU-Erklärung ein weiteres Zeichen "der ständig wachsenden Uneinigkeit des deutschen Protestantismus"495 sei und einen zusätzlichen "Beitrag zur fortschreitenden Diskreditierung der christlichen Verkündigung in Deutschland"496 geliefert habe, denn mit der aus christlichem Gewissen erhobenen Forderung nach einseitiger atomarer Abrüstung Deutschlands habe die EKU eine nicht ernstzunehmende, weil unrealistische politische Position bezogen, die der Kirche nicht anstehe. Noch ablehnender äußerte sich der Rheinische Konvent in einer Stellungnahme, indem er das kirchliche Engagement filr die Wiedervereinigung Deutschlands darauf beschränkte, die Einheit der kirchlichen Organisation zu wahren: "Der beste politische Dienst, den die Kirche der Union über ihren eigentlichen Verkündigungsauftrag hinaus ftir die Erhaltung der äußeren und inneren Einheit des deutschen Volkes tun kann, ist die Existenz und Erhaltung dieser Kirche. "497 Diese Kontroverse um das Notwort der EKU, das in der Tradition deutschlandpolitischer Stellungnahmen der EKD Ende der vierziger und Anfang der fiinfziger Jahre stand, ist nicht nur ein Spiegelbild unterschiedlicher kirchlicher Auffassungen über das politische Engagement der Kirche, sondern ebenfalls Ausruck des unterschiedlichen deutschlandpolitischen Einsatzes ostdeutscher und westdeutscher Landeskirchen. Während die EKD und vor allem die VELKD immer ausgewogenere und unbestimmtere Stellungnahmen zur Wiedervereinigung veröffentlichten und damit mittelbar die Politik der Bundesregierung unkritisch unterstützten, ließ die EKU nicht in ihrem Bemühen nach, nach konkreten Möglichkeiten der Versöhnung und Vermittlung zu suchen und hier der Kirche eine eigene Rolle in Wahrnehmung einer wohlverstandenen öffentlichen Verantwortung, die über moralische Appelle hinausging, zuzuweisen. Diese unterschiedliche deutschlandpolitische Verantwortung war auch schon auf der EKD-Synode in Berlin 1958 deutlich geworden, als im Rahmen der Atomdebatte vor allem Synodale ostdeutscher Landeskirchen sich konstruktiv mit dem Plan des polnischen Außenministers A. Rapacki vom Oktober 1957 auseinandersetzten, der eine atomwaffenfreie Zone in Mitteleuropa vorgeschlagen hatte, die beide deutsche Staaten, die CSSR und Polen umfassen sollte.498 Die Mehrheit der Synodalen jedoch wollte nicht den Gedanken einer Neutralisierung Deutschlands prüfen und folgte in den nächsten Jahren eher der Argumentation Eugen Gerstenrnaiers, der in den Pariser Verträgen die Voraussetzung fUr die Sicherheit Deutschlands und Berlins sah und scharf Helmut Gollwitzer, der in diesen Verträgen den Sündenfall in der deutschen Nachkriegsgeschichte sah, öffentlich 495
Stellungnahme des "Sonntagsblattes" zum Notwort; in: KJdEKD, 1959, S. 79-80,
hier S. 80. 496
KJdEKD, 1959, S. 80.
Stellungnahme des Rheinisclten Konvents zum Notwort; in: KJdEKD, 1959, S. 80-81, hier S. 81. 497 498
Vgl. Bayer 1990, S. 342 f.
111. Voten der Evangelischen Kirche zur Einheit Deutschlands
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und innerkirchlich kritisierte. 499 Ungeachtet der außenpolitischen Entwicklung war es schon allein aufgrund dieser innerkirchlichen Disposition nicht verwunderlich, daß auf der letzten gesamtdeutschen Synode vor dem Mauerbau in Berlin 1961 in bezug auf die Annäherung der beiden deutschen Staaten Resignation vorherrschte und das Heil nur noch in der Ost und West übergreifenden Einheit der EKD gesehen wurde. 500 Die Evangelische Kirche in Deutschland konnte in der zweiten Hälfte der fünfziger Jahre auch deshalb kaum noch eine eigene deutschlandpolitische Position entwickeln, weil mittlerweile die parteipolitische Diskussion in Westdeutschland zwischen Bundesregierung und Opposition im Bundestag auch innerkirchlich dominierte und zum Orientierungspunkt der Auseinandersetzung wurde. Hinzu kam, daß die Unterschiede zwischen der Auffassung der CDU sowie dem Handeln der von Adenauer geführten Bundesregierung auf der einen Seite und der politischen Opposition auf der anderen Seite in der kirchlichen Diskussion von Teilen der Kirchenführer als Entscheidungen der Obrigkeit und der Kritik daran wahrgenommen wurden. Mit der noch weit verbreiteten traditionellen Obrigkeitsauffassung des deutschen Protestantismus und der Tendenz der Westorientierung der EKD war damit die Auseinandersetzungsfähigkeit über politische Fragen im Raum der Evangelischen Kirche begrenzt und gerade vom lutherischen Flügel wurde "kirchliche Neutralität"501 gefordert. Die Erfahrungen, die die EKD in ihrer schwierigen Debatte über die Frage der atomaren Bewaffnung der Bundeswehr führte 502, bestätigte mit ihrer "Ohnmachtsformel"503 die mangelhafte innerkirchliche Dialogflihigkeit. Sie verdeutlichte aber auch, daß die Einheit der EKD und damit des deutschen Protestantismus zerbrechlich war. Einheit um der Einheit willen war kein unverrückbares Ziel, sondern ein auch über theologische und politische Unterschiede hinweg zu bewahrendes Gut. Die Möglichkeit der Evangelischen Kirche, moralisch-autoritative Weisungen im Rahmen des Rechristianisierungskonzeptes gegenüber der Gesellschaft und dem Staat zu formulieren, hatte sich durch die Diskussionen zur Wiederbewaffnung er-
499 Siehe zu dieser Kontroverse: Bayer 1990, S. 344 ff. Die Idee eines wiedervereinigten Deutschlands im Rahmen einer atomwaffenfreie Zone beherrschte die kirchliche Diskussion dessen ungeachtet nicht unwesentlich weiter. Siehe zum Beispiel das Arbeitsergebnis einer Tagung christlicher Persönlichkeiten aus Ost und West in Weimar am 24. Juni 1959: Entschließung einer Tagung 'Neues Ethos und Friedensordnung'; in: KJdEKD, 1959, S. 84-85. Gerade auch Vertreter der ostdeutschen Landeskirchen setzten sich für diesen Plan ein: Aufruf von Pfarrern und Theologieprofessoren anläßlich der Genfor Konferenz; in: ebenda, S. 83-84. 500 Vgl. Bayer 1990, S. 347 f. 501 Vgl. Aufsatz von H. Thielicke in der 'Evangelischen Verantwortung': Kirchlicher Neutralismus; in: KJdEKD, 1955, S. 7 ff. 502 Siehe: KJdEKD, 1957, S. 72 ff. KJdEKD, 1958, S. 18 ff., S. 46 ff. und S. 67 ff. Auch: Rupp 1970. 503 Vgl. S. 126.
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E. Kirchliche Deutschlandpolitik in den 50er Jahren
schöpft. Da es aber noch keine neue, gesicherte Plattform kirchlichen Engagements gegenüber Staat und Gesellschaft gab, konnte die EKD nur noch in einem allgemeinen und über der politischen Ebene stehenden Sinne das Postulat der Wiedervereinigung als einem wichtigen Ziel der Evangelischen Kirche aufrechterhalten, ohne selbst noch konkrete Impulse geben zu können.
3. Das kirchliche Engagement für die Wiedervereinigung bei den Außenministerkonferenzen Die Evangelische Kirche in Deutschland setzte sich schon gegenüber den Besatzungsmächten504 und später im Rahmen der Außenministerkonferenzen der vier Siegermächte des II. Weltkrieges in Appellen und Stellungnahmen für die Wiedervereinigung Deutschlands ein. So forderte die EKD-Synode in Elbingerode I 952 in einem Schreiben an die vier Besatzungsmächte diese dazu auf, "die Voraussetzung einer friedlichen Gestaltung der deutschen Verhältnisse dadurch zu sichern, daß sie durch baldige Besprechungen den Weg zu einer Wiedervereinigung Deutschlands freigeben". 505 An die Hohen Kommissare der vier Besatzungsmächte trat der Ratsvorsitzende Dibelius506 im Namen der EKD und stellvertretend fiir das deutsche Volk in diesem Sinne in einem Brief vom 26. Juni 1953 unter dem Eindruck des Arbeiteraufstandes in der DDR mit der Bitte heran, sich in ihren Beratungen fiir die Einheit Deutschlands einzusetzen: "Die Evangelische Kirche in Deutschland hat wieder und wieder ihrem dringenden Wunsch nach baldiger Wiedervereinigung unseres Vaterlandes Ausdruck gegeben, und zwar nicht aus politischen Gründen -denn das Politische liegt jenseits ihres Auftrages -, sondern um der Menschen willen, fiir deren inneres und sittliches Leben sie eine Verantwortung trägt." 507 Um sittliches Chaos in Deutschland zu verhindem und ein Zeichen der Verständigung zu setzen, sollte durch die vier Siegermächte die Wiedervereinigung verwirklicht werden. Als ein halbes Jahr später in Berlin im Januar/Februar 1954 die Viermächtekonferenz tagte, gab es anfänglich nur wenig Einsatz der EKD508, obwohl gerade hier auf dem Höhepunkt der Ost-West-Propaganda509 ein vermit504 Vgl. das Kaeitel "II. Das Verhältnis der Evangelischen Kirche zu den Siegermächten und zur Okumene", S. 63 ff. Zur Rolle des Hilfswerkes im Vorlauf der Moskauer Außenministerkonferenz 1947 siehe: F oss 1986, S. I 21 ff. 505 Zitiert nach: Wilkens 1970, S. 291. 506 Zur Rolle von Dibelius als Bischof von Berlin-Brandenburg anläßlich der Londoner Außenministerkonferenz siehe: Nowak 1990, S. 57. 507 Brief des Ratsvorsitzenden an die vier Hohen Kommissare betr. die Wiedervereinigung Deutschlands; in: KJdEKD, 1953, S. 13-14, hier S. 13. Siehe auch: Antwort der Hohen Kommissare der drei westlichen Besatzungsmächte; in: ebenda, S. 14/ 15. 508 Vgl. KJdEKD, 1954, S. 56. 509 Vgl. S. 108.
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teindes Wort hilfreich gewesen wäre. So sah sich stellvertretend der Bruderrat der EKD genötigt, sich in einem Schreiben gegenüber den Schwesterkirchen in den USA, Frankreich, Großbritannien und der Sowjetunion um Fürbitte für die Wiedervereinigung des deutschen Volkes zu bemühen. Der Rat und die Kirchenkonferenz der EKD veröffentlichten erst gegen Ende der Berliner Außenministerkonferenz auf ihrer Tagung am 11./12. Februar eine Eingabe an die vier Außenminister, in der sie die Wiedervereinigung zur Sicherung des Friedens in Abstimmung mit den Sicherheitsinteressen der Nachbarstaaten und auf der Grundlage freier gesamtdeutscher Wahlen einforderten. 510 Die Ergebnislosigkeit der Konferenz führte auch in der Evangelischen Kirche zur Resignation und zum Rückzug auf den Zusammenhalt der Christen in Ost und West. 511 Inwieweit die kirchliche Diskussion im Vorlauf der Viermächtekonferenz bereits durch die politische Auseinandersetzung über die Wiederbewaffnung Westdeutschlands polarisiert war, zeigte die scharfe innerkirchliche Kontroverse um Martin Niemöller, der anläßlich der Berliner Außenministerkonferenz Aufrüstung um des Friedenswillen entschieden abgelehnt hatte. 512 Weitaus mehr Einsatz zeigte die Evangelische Kirche in Deutschland gegenüber den beiden Genfer Konferenzen der vier Siegermächte im Jahre 1955. Es wurden zahlreiche Eingaben und Telegramme an die führenden Staatsmänner gerichtet513 und in Ost- und Westdeutschland riefman zu flächendeckenden Fürbittgottesdiensten "Wir bitten um die Wiedervereinigung!" auf. Dabei ging es in diesen Versammlungen nicht um die Erörterung des politischen Weges zur Wiedervereinigung, sondern "nur der Ruf, ja der Schrei nach Wiedervereinigung, vor allem auch im Namen unserer Brüder drüben, sollte so laut und so eindringlich sein, daß er bis nach Genf dringen möge." 514 Beispielhaft für die deutschlandpolitische Haltung und Ambition der Evangelischen Kirche war eine Ansprache des Professors Martin Fischer, die er auf Kundgebungen in Harnburg und Dortmund hielt: "Auf die Großmächte zu hoffen, die in Genf versammelt sind, wäre wohl ein unbegründetes Unternehmen, aber auf Gott, [... ]das hat Sinn."515 Dem lag die Vorstellung zugrunde, daß die Wiederverei510 Siehe: Telegramm des Rates der EKD an die vier Außenminister; in: KJdEKD, 1954, S. 58. Eingabe der Kirchenkonferenz der EKD an die Außenminister; in: ebenda, S. 58. 511 Vgl. Ansprache des Bischofs D. Dibelius in der Berliner Marienkirche nach Ausgang der Konferenz; in: KJdEKD, 1954, S. 59-60. 512 Siehe: Artikel in "Christ und Welt" gegen eine Rede Martin Niemöllers: Kann man darüber schweigen?; in: KJdEKD, 1954, S. 60-61. Eingabe eines westf. Kreises an die Synode der EKD; in: ebenda, S. 61-62. 513 Siehe KJdEKD, 1955, S. 63 ff. 514 Aufruf des Präses der westfälischen Kirche; in: KJdEKD, 1955, S. 63-64, hier s. 64. 515 Ansprache von Prof Martin Fischer in Dortmund und Hamburg; in: KJdEKD, 1955, S. 65-70, hier S. 65.
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E. Kirchliche Deutschlandpolitik in den 50er Jahren
nigung durchaus im Sinne Gottes sei, da sie die menschliche Not in Deutschland beheben würde: "Um lebendige Menschen geht es, mehr als um die Wiedervereinigung als solche."516 Politisch deutlicher wurde die Ostkirchenkonferenz in ihrer "Entschließung an die Außenminister in Genf' vom 12. Oktober 1955. Auch hier wird die Wiedervereinigung um der Menschen in Deutschland und um des Friedens in Europa willen gefordert. Doch wird gegenüber den Außenministern ebenfalls betont, daß es dem deutschen Volk möglich gemacht werden müsse, sein Selbstbestimmungsrecht auch wahrzunehmen. Dem abträglich sei jedoch, "wenn die von je einem Teile Deutschlands eingegangenen Bindungen von vomherein als unabdingbar filr das ganze Deutschland gemacht werden; wenn bestimmte politische und gesellschaftliche Zustände in je einem Teil unseres Vaterlandes der freien Rechtsentscheidung des gesamten Volkes entzogen werden sollen. Wir würden unsere Verantwortung verletzten, wenn wir nicht in dieser ernsten Stunde bitten wollten: Geben Sie dem deutschen Volk das Recht, in einem wiedervereinigten Deutschland sein Leben selbst zu gestalten."517 Mit dieser Entschließung zeigten die ostdeutschen Landeskirchen ein eigenes deutschlandpolitisches Profil, das sich vom rein sittlich begründeten Anspruch auf Einheit des deutschen Volkes der EKD unterschied und gesellschaftspolitische Entscheidungen in einem Gesamtdeutschland vom demokratischen Willensbildungsprozeß des vereinigten deutschen Volkes abhängig machte. Die VELKD blieb demgegenüber einem von politischen Überlegungen frei gehaltenen Wiedervereinigungsanspruch auf ihrer Weimarer Tagung im April 1955 treu. "Es ist nicht Aufgabe kirchlicher Organe, politische Entscheidungen zu treffen, aber es ist die Aufgabe der Christenheit, die Gewissen zu schärfen. [... ] Die Kirche bittet alle Verantwortlichen, unserem deutschen Volk endlich die Wiedervereinigung zu ermöglichen."518 Der offizielle Beitrag der EKD zur Genfer Außenministerkonferenz des Jahres 1959 ging über den Appell, die Menschen im geteilten Deutschland nicht zu vergessen, nicht hinaus.519 Auch hier wurde substantiell nur außerhalb der offiziellen Organe der EKD ein Impuls gebender deutschlandpolitischer Beitrag versucht. In der DDR beheimatete Pfarrer und Theologieprofessoren richteten an alle Christen in Deutschland und an die deutschen Vertreter der Außenministerkonferenz einen Aufruf, der unter anderem die beiden deutschen Regierungen dazu aufforderte, "die Wiedervereinigung ihres Landes unter dem Aspekt der Erhaltung des Friedens als nationale Aufgabe beider deutscher Staaten in Angriff zu nehmen" und "vor allem anderen die verschiedenen Pläne ftlr eine atomwaffenfreie Zone 516
517
KJdEKD, 1955, S. 70.
Entschließung der Kirchlichen Ostkonferenz an die Außenminister in Genf, in:
KJdEKD, 1955, S. 70-71 , hier S. 71. 518
Wort an die Verantwortlichen der Welt; in: KJdEKD, 1955, S. 178/179, hier
s. 179. 519
Vgl. S. 130. KJdEKD, 1959, S. 148/149.
111. Voten der Evangelischen Kirche zur Einheit Deutschlands
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in Mitteleuropa zu unterstützen." 520 Das Scheitern der Genfer Außenministerkonferenz kam wohl für die mehr westlich orientierte EKD nicht überraschend und bestätigte den kirchlichen Eindruck, den auch der ÖRK gewonnen hatte: "Die Berlin-Krise und die langwierigen Verhandlungen zwischen den Außenministern in Genf haben den Eindruck bestätigt, daß die Sowjetunion um die fOrmliehe Anerkennung und die Konsolidierung ihres gegenwärtigen Einflußbereiches in Europa bemüht ist, während die Westmächte an der Wiedervereinigung und dem Selbstbestimmungsrecht der Völker Mitteleuropas festhalten. Diese Bestrebungen schließen sich gegenseitig aus." 521 Kirchliche Deutschlandpolitik befand sich mit dieser Grundhaltung in der Sackgasse und konnte sich nur noch darauf konzentrieren, die Friedenssicherung in Mitteleuropa durch abrüstungspolitische Schritte zwischen den Weltmächten zu befördern und allgemein am Ziel der Wiedervereinigung, die immer unwahrscheinlicher wurde, festzuhalten. So erklärte die Landessynode der Evangelisch-Lutherischen Landeskirche Sachsens im März 1960 unter Bezugnahme auf Entschließungen der EKD-Synode vom Februar des gleichen Jahres anläßlich der in Genf tagenden Abrüstungskonferenz der Weltmächte: "Sie erwartet von den im Gang befindlichen und bevorstehenden internationalen Verhandlungen Ergebnisse, die der Erhaltung des Friedens in der Welt dienen und unser Volk dem Tag seiner Wiedervereinigung näherbringen." 522
4. Die Kirchentage als gesamtdeutsche Bewegung Schon der erste Kirchentag im Jahre 1949 hatte sich entschieden gegen die Zerreißung des deutschen Volkes ausgesprochen und in der "Bitte um einen gerechten Frieden" gegenüber der internationalen Öffentlichkeit an der staatlichen Einheit Deutschlands festgehalten. 523 Der Kirchentag in Essen im August 1950 mit über 150.000 Teilnehmern an der Abschlußveranstaltung stand unter dem Motto "Rettet den Menschen".524 In einer der vier Arbeitsgruppen wurde speziell am Thema des Rechtes des Menschen auf Heimat gearbeitet. Das Arbeitsergebnis appellierte nicht nur an die internationale Öffentlichkeit, wirksame Beiträge zur Flüchtlingsnot zu leisten, sondern bat eindringlich die Heimatver-
520 Aufruf von Pfarrern und Theologieprofessoren anläßtich der Genfer Konferenz; in: KJdEKD, 1959, S. 83-84, hier S. 84. 52 1 Stellungnahme der "Kommission der Kirchenfor Internationale Angelegenheiten" des ÖRK zur politischen Lage nach der Genfer Außenministerkonferenz; in: KJdEKD, 1959, S. 316/317, hier S. 316. 522 Entschließung der Landessynode der Evangelisch-Lutherischen Landeskirche Sachsens; in: KJdEKD, 1960, S. 106. 523 Vgl. S. 88. 524 Siehe: KJdEKD, 1950, S. 13 ff.
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E. Kirchliche Deutschlandpolitik in den 50er Jahren
triebenen: Verzichtet "auf Rache und Vergeltung, wie die Charta der deutschen Heimatvertriebenen es tut." 525 Deutschlandpolitische Forderungen nach Wiedervereinigung wurden in offiziellen Stellungnahmen nicht ausdrUcklieh erhoben, doch die Atmosphäre des Kirchentages gab eindringlich das Signal, daß sich hier das deutsche Volk jenseits der staatlichen Entwicklung wie selbstverständlich auf einem gesamtdeutschen Treffen über die gesellschaftlichen und sozialen Nöte in Deutschland ausgetauscht hatte. Ein noch größeres Echo - national wie international - erhielt die protestantische Laienbewegung mit ihrem Kirchentag in Berlin im Juli 1951, an dessen Abschlußveranstaltung über 300.000 Menschen teilnahmen. 526 Der Leitspruch "Wir sind doch Brüder" war nicht nur christlich, sondern in hohem Maße auch deutschlandpolitisch gemeint. Der Kirchentag wollte sich zwar nicht zum Instrument eines politischen Kreuzzuges fiir die eine oder andere Seite im OstWest-Konflikt machen lassen, doch verstand er sich jenseits der sich konträr gegenüberstehenden Machtsysteme nicht nur als Zeichen der untrennbaren Einheit der EKD, sondern auch des deutschen Volkes.527 Die Tatsache, daß der Kirchentag im geteilten Berlin stattfinden konnte, bestärkte zusätzlich den Gedanken der Einheit der deutschen Nation. So erklärte der Kirchentagspräsident von Thadden-Trieglaff in seinem Bericht über den Berliner Kirchentag: "[ ... ] die Schranken fielen, die Mauem zerbröckelten und das getrennte Volk strömte über die Grenze, indem es alle Hindernisse hinwegschwemmte und die Kluft überbrückte. Es war, als ob keine Unterschiede mehr bestünden. Einfach durch das Zustandekommen dieser elementaren Wiedervereinigung gelang dem Kirchentag etwas, was auf politischer Ebene offenbar gänzlich unmöglich war. "528 Die psychologische Wirkung, die auf die Öffentlichkeit in beiden deutschen Staaten ausging, darf nicht unterschätzt werden. Die Evangelische Kirche hatte praktisch bewiesen, daß sietrotzdes sich verschärfenden Kalten Krieges Wahrerinder Einheit des deutschen Volkes war. Der Stuttgarter Kirchentag im August 1952 konnte den Optimismus des Jahres davor nicht mehr weitertragen, da die 20.000 Teilnehmer aus der DDR nach den Grenzmaßnahmen an der Demarkationslinie wegen der Verweigerung von Reisepässen nicht teilnehmen konnten. Im Mittelpunkt der Diskussionen auf dem Kirchentag stand die Frage des Verhältnisses zwischen Kirche und Politik, die auf den politischen Feldern Wehrbeitrag der Bundesrepublik, Friedenssicherung und Wiedervereinigung Deutschlands thematisiert wurde. Die deutschlandpolitische Grundhaltung der Mehrheit des Kirchentages zur Frage der KJdEKD, 1950, S. 19. Siehe: KJdEKD, 1951 , S. 24 ff. 527 Vgl. die Abschlußrede des Kirchentagspräsidenten von Thadden-Trieglaff in: KJdEKD, 1951, S. 29 f. 528 KJdEKD, 1951, S. 38/39. 525
526
III. Voten der Evangelischen Kirche zur Einheit Deutschlands
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Wiedervereinigung gab wohl der Bundestagspräsident Hermann Ehlers529 wider, als er in einer seiner Vortragsthesen formulierte: "Die Wiederherstellung der Einheit Deutschlands ist zwar nicht ein Satz der christlichen Verkündigung, wohl aber eine Pflicht um des Nächsten willen. "530 Staatliche Einheit als Pflicht der Nächstenliebe war eine durchaus diskussionswürdige These, da sie auf der Grundlage einer westlichen Orientierung zu stehen schien. Spektakulär war in diesem Zusammenhang, daß Martin Niemöller dem Kirchentag demonstrativ fern geblieben war, um damit zum Ausdruck zu bringen, daß sich seiner Meinung nach das Kirchentagspräsidium zu wenig filr eine Teilnahme von Besuchern aus der DDR eingesetzt habe und der Kirchentag zudem Gefahr laufe, sich zu sehr westlich auszurichten.531 Mit dem Kirchentag in Harnburg im August 1953 sah die Situation anders aus. Diesmal konnten zahlreiche Gemeindevertreter aus der DDR teilnehmen und das Erscheinungsbild des Kirchentages entscheidend mitprägen. 532 Den Schwerpunkt der Diskussionen bildete wiederum die Arbeitsgruppe Politik und Kirche, in der Martin Niemöller ein weit beachtetes und intensiv diskutiertes Referat über das Thema "Unser Volk unter den Völkern" hielt. In der Entschließung der betreffenden Arbeitsgruppe wurde als roter Faden der Diskussionen festgehalten: "An allen Tagen war von der Wiedervereinigung als unserer nächsten völkischen Aufgabe die Rede. "533 Andererseits hatten die Erörterungen auch deutlich gemacht, daß die ostdeutschen Gemeindevertreter wesentlich daran interessiert waren, die Frage zu klären, wann in der DDR das Bekennen des christlichen Glaubens notwendig sei. Psychologisch wurde auf dem Kirchentag also auch bewußt, daß es gegenüber dem Staats- und Gesellschaftssystem der DDR um die Treue zum christlichen Glauben als letzte Bastion ging, hingegen in bezug auf die Bundesrepublik um die rechten Maßstäbe der konkreten Mitarbeit. Die Erfahrungen an der Basis der Gemeinden und des öffentlichen Lebens ließen das Festhalten an der Wiedervereinigung zunehmend als Verbesserung der Lebensumstände auf dem Gebiet der DDR erscheinen und die Verhältnisse in der Bundesrepublik als Chance christlicher Mitwirkung begreifen. Der Kirchentag selbst nahm filr die Vertreter aus der DDR - nach den einschneidenden Erfahrungen des Arbeiteraufstandes vom Juni des gleichen Jahres - die Funktion eines Trost spendenden Bandes der deutschen evangelischen Christenheit an: "Wir reden noch eine Sprache! Wir verstehen
529 Siehe: Meier, Andreas: Gesamtdeutsche Überzeugungen des Bundestagspräsidenten Oberkirchenrat Hermann Ehlers. Eine deutschlandpolitische Alternative?; in: Politik und Kultur, 5/1988, S. 24-45. 530 KJdEKD, 1952, S. 60. 531 Vgl. KJdEKD, 1952, S. 76/77. 532 Vgl. KJdEKD, 1953, S. 15 ff. 533 Vgl. KJdEKD, 1953, S. 17.
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uns noch! Wir sind noch Brüder!"534 Überraschenderweise konnte der Kirchentag im darauffolgenden Jahr zum erstenmal in der DDR stattfinden. Im Juli 1954 versammelten sich in Leipzig so viele Dauerteilnehmer wie noch nie. Der Kirchentag sah exponiert seine Klammerfunktion zwischen evangelischen Christen in Ost und West. Doch hinsichtlich einer Wiedervereinigung Deutschlands wurden die Töne zunehmend resignativer. Im Wort des Kirchentages wurde die Linie angesichts der politischen Trennung formuliert: "Ob wir im Osten und im Westen bald vereinigt werden, weiß kein Mensch. Vielleicht liegt ein langer und harter Weg vor uns. Es besteht Gefahr, daß die einen erschöpft zusammenbrechen und die anderen sich selbst sichern. Wir dürfen und wollen das nicht! Wir halten aneinander fest, denn der Friede Christi unter uns übt seine Macht aus" 535 . Andererseits sprach Klaus von Bismarck in seinem Vortrag "Die Freiheit des Christen zum Halten und Hergeben" den vieldiskutierten Gedanken an, der die Christen in beiden deutschen Staaten aufforderte, sich nicht aus der Politik herauszuhalten oder als letzte Hoffnung die Wiedervereinigung anzuvisieren, sondern Verantwortung fiir die jeweilige politische Ordnung wahrzunehmen: "Aber wir wagen es euch zu sagen: Auch wenn man fiir Augenblicke die ganze Nähe und den Schmerz des Getrenntseins spürt, so kann man doch nicht ständig zwischen den Ordnungen stehen. Die Schwermut der Wurzellosigkeit würde uns überwinden."536 Dieser Aufruf zur verantwortlichen und kritischen Mitarbeit in der Gesellschaft des jeweiligen deutschen Staates war darum bemüht, im Westen nicht nur das Heil zu erblicken, sondern vom Standpunkt christlicher Freiheit her jenseits der weltanschaulichen Kämpfe mitzuarbeiten und nicht nur unversöhnlich zu erdulden. Auf dem Kirchentag wurde spürbar, daß man sich defensiv auf die längere Existenz zweier deutscher Staaten einrichtete, ohne von der Einheit zu lassen, deren Bewahrung vor allem in der gemeinsamen Gesprächssituation bei allen unterschiedlichen Anforderungen der einzelnen vor Ort gesehen wurde. Diese Grundhaltung konnte jedoch der Kirchentag in Frankfurt im August 1956, nachdem ein Jahr zuvor keiner stattgefunden hatte, nicht durchhalten, da sich die politischen Auseinandersetzungen durch die deutschlandpolitischen Entwicklungen beZÜglich der Friedensfrage und des Wehrbeitrages sowie
534 Gruß und Dank der Teilnehmer aus der DDR (Ofensetzmeister Cieslak-Seifhennersdorf); in: KJdEKD, 1953, S. 29. Vgl. auch die Abschlußrede des Kirchentagspräsidenten von Thadden-Tieglatf in: ebenda, S. 27/28. 535 KJdEKD, 1954, S. 37. Siehe auch: K/eßmann, Christoph: Ein Kirchentag der Kontraste. SED-Dokumente zum Leipziger Kirchentag von 1954; in: KZG, 1991, s. 533-550. 536 Bismarck, Klaus von: Die Freiheit des Christen zum Halten und Hergeben; in: KJdEKD, 1954, S. 21-28, hier S. 28.
Ili. Voten der Evangelischen Kirche zur Einheit Deutschlands
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durch den Aufstand in Ungam 537 verschärften und die Gesprächsoffenheit der einzelnen Arbeitsgruppen mit ihren kritischen Beiträgen zugleich von staatlichen Funktionsträgem aus der DDR als Agitation gegenüber dem sich sozialistisch verstehenden Staat verstanden wurden. Die Diskussionen in der Arbeitsgruppe "Volk und Politik" hatten der stellvertretende Ministerpräsident Otto Nuschke und der Volkskammerpräsident Dieckrnann als Provokation empfunden und in einem Brief an Probst Heinrich Grüber wurde die Loyalität der evangelischen Christen in der DDR gegenüber ihrem Staat ernsthaft in Zweifel gezogen. 538 Von daher mutet es anachronistisch an, wenn im Wort des Kirchentages die Diskussionen zusammenfassend festgestellt wurde: "Zu der ersehnten Wiedervereinigung haben wir neue Zuversicht gewonnen." 539 Diese Zuversicht gründete sich lediglich in der von den Teilnehmern gewonnenen Vorstellung, daß der deutsche Protestantismus auch in der deutschen Frage mit der opferbereiten Handlungsmaxime der Versöhnung über die weltanschaulichen Grenzen hinweg wirken könne. Die praktische Schwierigkeit dieser Strategie im Ost-West-Gegensatz wurde dann ein Jahr später deutlich, als der in Thüringen geplante Kirchentag nicht durchgeführt werden konnte. Der DDR-Innenminister hatte die Durchführung des Kirchentages an Bedingungen geknüpft, die vom Präsidialrat nicht angenommen werden konnten, wenn man eine einseitige politische Festlegung vermeiden wollte: Verurteilung der in Augen der DDR friedensfeindlichen NATO-Politik und des Militärseelsorgevertrages, öffentliche Mißbilligung der Vorgänge auf dem Kirchentag in Frankfurt sowie die umfangreiche Möglichkeit, in den Arbeitsgruppen die Friedenspolitik der DDR-Regierung darzustelIen.540 Auch wenn die Verbundenheit der evangelischen Christen in Ost und West durch eine Reihe von Gemeinde-, Kreis- und Landeskirchentagen, die unter dem Motto des eigentlich geplanten Kirchentages standen, dokumentiert und im Herbsttreffen der Kirchentagsbewegung des gleichen Jahres unter Teilnahme von 3.000 Delegierten aus Ost- und Westdeutschland zusammengefaßt wurden, stand der Kirchentag als gesamtdeutsche organisatorische Einrichtung mit seiner dialogischen Funktion zwischen Ost und West, um die er sich bei aller Kritik im einzelnen stets bemühte, in Frage.
537 Siehe: Aufruf des ÖRK an die Mitgliedskirchen anläßtich der Vorgänge in Ungarn; in: KJdEKD, 1958, S. 343 f. 538 Vgl. Schreiben des stellv. Ministerpräsidenten Nuschke an Propst Grüber zu den Ergebnissen der Synode; in: IUdEKD, 1956, S. 26. 539 KJdEKD, 1956, S. 132. 540 Vgl. Schreiben von Dr. Nuschke an Kirchentagspräsident Dr. von ThaddenTrieglajfvom 6. 4. 1957; in: KJdEKD, 1957, S. 160. Antwort des Präsidialrates des Kirchentages vom 8. 4. 1957, ebenda, S. 161 f. Verlautbarung des Kirchentagspräsidiums vom 16. 4. 1957, ebenda, S. 163.
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E. Kirchliche Deutschlandpolitik in den 50er Jahren
Der neunte Kirchentag in München im August 1959, an der nur wenige Teilnehmer aus dem Gebiet der DDR aufgrund restriktiver Maßnahmen bei der Vergabe von Passierscheinen teilnehmen konnten, zeigte, daß "sein gesamtkirchlicher Charakter im Blick auf die deutsche evangelische Christenheit und seine Funktion als Klammer zwischen den Christen in Ost und West unseres Vaterlandes dieses Mal nur unzureichend zur Darstellung gebracht werden" 541 konnte. Die DDR-Presse bezichtigte den Kirchentag, rein westlich orientiert zu sein und vorbehaltlos die NATO-Politik der Bundesregierung zu unterstützen. In einer Verlautbarung an die Gemeinden in der DDR bezog die Kirchenkanzlei der EKD gegen die Vorwürfe Stellung und versichertetrotz aller Schwierigkeiten und Beschränkungen die Grenzen überschreitende Gemeinschaft im deutschen Protestantismus: "Denn wir sind in Ost und West das eine Volk Gottes. "542 Der zehnte Deutsche Evangelische Kirchentag in Berlin fand wenige Wochen vor dem Bau der Mauer statt und wurde der letzte gesamtdeutsche über viele Jahrzehnte. Schon die Auswahl des Tagungsortes Berlin hatte mannigfache Schwierigkeiten provoziert, da die DDR-Regierung dies als provokativen Akt wertete und die Tagung in Ost-Berlin nicht genehmigte, jedoch ihre wohlwollende Prüfung einer anderen auf DDR-Gebiet liegenden Tagungsstätte zusagte. In die kirchliche Diskussion um eine Verlegung des Veranstaltungsortes griff die bayerische Kirchenleitung stellvertretend für viele Christen ein, indem sie weiterhin für Berlin plädierte und gegenüber den Vorwürfen aus der DDR - in Erinnerung an ähnliche Diskussionen anläßtich des Münchener Kirchentages- feststellte: "Auch das Münchner Kirchentagstreffen hat gezeigt, daß der Deutsche Evangelische Kirchentag keine politischen Absichten hat. "543 Nach langen Verhandlungen und Erörterungen zwischen Kirche und DDR-Regierung fiel die Entscheidung nicht für Leipzig, das ins Gespräch gebracht worden war, sondern doch für Berlin. Daraufbin verfügte der Polizeipräsident von Ost-Berlin ein Verbot des Kirchentages im "demokratischen Sektor" mit der Begründung, daß diese kirchliche Einrichtung dem Kalten Krieg dienen würde. 544 Probst Heinrich Grüber, ehemaliger Bevollmächtigter der EKD bei der Regierung der DDR sowie nicht zuletzt durch seine Standhaftigkeit während der Zeit des Nationalsozialismus profilierter und anerkannter evangelischer Kirchenmann, reagierte auf dieses Verbot mit seiner Begründung mit einem scharfen Antwortbrief an den Polizeipräsidenten, der auch der Öffentlichkeit übergeben wurde. Grüber versicherte, "daß wir uns nie an einer Sache beteiligen werden, die nur im entferntesten einer kalten Kriegsstimmung Vorschub leistet. Sie KJdEKD, 1959, S. 54. KJdEKD, 1959, S. 55. 543 KJdEKD, 1961, S. 44. 544 Vg1. Erlaß des Ostberliner Polizeipräsidenten; in: KJdEKD, 1961, S. 46/47. 541
542
111. Voten der Evangelischen Kirche zur Einheit Deutschlands
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können nicht den Erweis bringen, daß wir auch nur ein einziges Mal dieses Anliegen der Verständigung und Versöhnung nicht nur der beiden Teile Deutschlands, sondern der ganzen Welt, verleugnet oder vergessen haben." Als deutschlandpolitische Intention der Organisatoren der Kirchentagsbewegung stellte er des weiteren heraus: "Was die Regierung der Deutschen Demokratischen Republik in ihren Verlautbarungen immer theoretisch fordert, das wollen wir praktisch durchfUhren. Wir sind Männer, die bereit sind, fiir diese, ihre Überzeugung, der Wiedervereinigung und dem Frieden zu dienen, jedes Opfer zu bringen, wie wir ja auch in der Vergangenheit unsere Einsatz- und Opferbereitschaft unter Beweis gestellt haben." 545 Die Auseinandersetzung um den Berliner Kirchentag machte nochmals kirchliche Intentionen in zweierlei Hinsicht deutlich. Zum einen verstanden die evangelischen Christen ihr Engagement in der Kirchentagsbewegung als unpolitisch. Im Zentrum sollte das Wort Gottes stehen, von dem aus allerdings auch konkrete Probleme erörtert werden sollten, jedoch ohne zu konkreten Handlungsanweisungen fiir den einzelnen kommen zu wollen. Zum anderen wurde der Kirchentag nicht nur als Klammer der evangelischen Christen beziehungsweise des deutschen Volkes zwischen Ost und West gesehen, sondern ebenfalls als wichtiges Instrument zur Herbeifiihrung der Wiedervereinigung und Sicherung des Friedens, wobei die zentralen Begriffe Verständigung und Versöhnung lauteten. Die Spannung, die im Versuch lag, unpolitisch Deutschlandpolitik zu machen, ist unübersehbar. Die Widersprüchlichkeit dieser Position liegt wohl vor allem darin begründet, daß es noch keinen hinreichenden Ansatz im Protestantismus gab, kirchlich-theologisches Engagement in eine realistische Relation zu politischen Prozessen und Vorgängen zu setzen. Die Kirchentagsbewegung, die von Laien getragen wurde, stellte in den ftlnfziger Jahren in besonderem Maße eine gesamtdeutsche Einrichtung dar. Die Kirchentage im Sinne einer Volksversammlung546 des deutschen Protestantismus trugen maßgeblich zum Bewußtsein der Zusammengehörigkeit des deutschen Volkes bei. So stand der Berliner Kirchentag im Jahre 1951 unter dem Motto "Wir sind doch Brüder". Der Kirchentag 1954 in Leipzig mit rund 650.000 Abschlußteilnehmern dokumentierte ebenfalls in eindrucksvoller Weise den Zusammenhalt der evangelischen Christenheit in beiden deutschen Staaten und stellte angesichts des Kalten Krieges im internationalen und deutschlandpolitischen Raum ein politisches Ereignis erster Ordnung dar. 547 An den Kirchentagen nahmen auch Politiker aus beiden deutschen Staaten teil,
545 Briefvon Propst D. Grüberanden Ostberliner Polizeipräsidenten; in: KJdEKD, 1961, S. 47-48, hier S. 48. 546 Vgl. Henkys 1987, S. 61 f. 547 Vgl. die Einschätzung des Gründers des Deutschen Evangelischen Kirchentages, Reinhold von Thadden-Trieglaff, in: KJdEKD, 1951, S. 38.
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zwischen denen es ansonsten keine gemeinsame Gesprächsplattfonn mehr gab. Dies fiihrte jedoch, nachdem die DDR nach ihrer Souveränität auf Anerkennung im Rahmen der Zweistaatlichkeitsthese pochte und von ihrer bisherigen deutschlandpolitischen Strategie "Deutsche an einen Tisch!" abrückte, zu Problemen. Deutliches Zeichen und Vorspiel der Schwierigkeiten war der Eklat auf dem Kirchentag in Frankfurt am Main 1957 mit dem stellvertretenden Vorsitzenden des Ministerrates der DDR Otto Nuschke. Der Berliner Kirchentag 1961 kurz vor dem Mauerbau-bereits durch DDR-Behörden äußerst stark behindert - stellte das letzte große gesamtdeutsche Treffen fiir mehrere Jahrzehnte dar. Die kirchliche Verbindung von einerseits Deutschland- und Wiedervereinigungspolitik und andererseits den Gedanken von Versöhnung und Verständigung, die sich wie ein roter Faden durch die Kirchentage von 1949 bis 1961 zog, hob sich nicht nur entschieden von der Politik der beiden deutschen Regierungen ab, sondern lieferte schon frühzeitig das Fundament, auf dem dann nach dem Bau der Mauer eine deutschlandpolitische Neubesinnung in der Politik stattfinden konnte, auch wenn sie in der zweiten Hälfte der fiinfziger Jahre als gescheitert anzusehen ist. "Die Kirchentage hatten versucht, den Zusammenhalt der Nation unpolitisch zu artikulieren, und das bedeutete im Effekt eine Parteinahme fiir das westliche Modell zur Wiedervereinigung."548 Solange diese These nicht als Schuldvorwurf gemeint ist, ist ihr zuzustimmen. Daß es von der Tendenz her offensichtlich eine westliche Orientierung bei der Mehrheit der Teilnehmer des Kirchentages gab, wird man wohl kaum - wie es eine gängige Interpretationsrichtung fonnuliert - mit den Begriffen "reaktionär" oder "restaurativ" belegen können, wenn man sich gleichzeitig die gesellschaftspolitischen Entwicklungen in der DDR, die die Gemeindemitglieder aus Ostdeutschland hautnah miterlebten, sowie die Praxis der DDR-Behörden allein bei der Erteilung von Passierscheinen vor Augen fiihrt. Vielmehr versuchten die Kirchentage im großen und ganzen die Rolle eines moderaten Vennittlers zu übernehmen. Nach dem Mauerbau nahm die Diskussion über die nationale Einheit auf den Kirchentagen ab. Sie lebte erst wieder in den achtziger Jahren im Zeichen der Friedensbewegung auf und versuchte erneut, in einer Art Stellvertreterrolle den nationalen Dialog zu fiihren. 549
Henkys 1987, S. 62. Vgl. KJdEKD, 1985, S. 225 ff. (Kirchentag 1985). Siehe auch: Deutsches Gespräch 1985. 548
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IV. Stellung der Kirche zu Demokratie und Staatstheorie
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IV. Stellung der Kirche zu Demokratie und Staatstheorie als Grundlage ihrer Deutschlandpolitik Die Stellung der EKD zum Problemfeld der Demokratie läßt sich abseits der theologischen Diskussionen handlungsorientiert und authentisch an den kirchlichen Stellungnahmen wie Worten, Denkschriften, Studien, Handreichungen und Erklärungen des Rates, Äußerungen einzelner Kirchenführer sowie Voten und Beschlüssen der Synode nachzeichnen und bewerten. Das Bild bliebe allerdings unvollständig, würden nicht auch wichtige Stellungnahmen der konfessionellen Zusammenschlüsse innerhalb der EKD sowie der einzelnen Landeskirchen berücksichtigt. Eine umfassende Darstellung, Systematisierung und Analyse kirchlicher Stellungnahmen zum Thema Demokratie kann aufgrund der großen Materialfülle an dieser Stelle nicht vorgenommen werden. 550 Die folgenden Ausführungen haben daher Stichprobencharakter, die dennoch Tendenzen verdeutlichen können, um die politik- und gesellschaftstheoretischen Grundlagen kirchlicher Deutschlandpolitik zu veranschaulichen. Nach 1945 lassen sich unzählige Äußerungen kirchlicher Vertreter und Gremien nachweisen, die die Demokratie bejahten und autoritäre Staats- und Gesellschaftssysteme ablehnten. Dieser Unterschied im Verhalten der Evangelischen Kirche in Deutschland im Vergleich zum Agieren in der Weimarer Republik nach 1918 kennzeichnete Ansätze einer Neubesinnung, wie sie in der Stuttgarter Schulderklärung besonders deutlich wurden. 551 Andererseits dürfen gerade die Demokratie bejahenden Voten in den 50er Jahren nicht überschätzt werden, da nicht nur der eigentliche Demokratiebegriff konturenlos552 blieb, sondern auch der Ost-West-Gegensatz seinen Einfluß geltend machte. Die Tatsache, daß die EKD keine Erklärung zur Verabschiedung des Grundgesetzesm (wie auch zur Inkraftsetzung der ersten, formal ebenfalls demokratischen Verfassung der
55° Für die SOer und 60er Jahre gibt einen kurzen Überblick: Zilleßen 1912. Siehe auch Zilleßen 1971, S. 226 tf. 551 Vgl. dazu: Fischer 1970, S. 28 tf. 552 Vgl. auch: Tödt 1981, S. 443. 553 Das Jahrbuch der EKD filr das Jahr 1949 dokumentiert nur an zwei Stellen kirchliche Stellungnahmen, die indirekt Bezug nehmen auf die neue demokratische Ordnung. Zum einen eine Entschließung der Kirchenkonferenz der EKD, in der die einzelnen Christen zur politischen Mitarbeit in Parlamenten, Parteien und öffentlichen Ämtern aufgefordert werden (Siehe ebenda, S. 31.). Zum anderen ein Wort des Deutschen Evangelischen Kirchentages in Hannover zur bevorstehenden Bundestagswahl, in dem betont wird, daß die Christen im Dienst am deutschen Volk die Verantwortung filr den Neubau des staatlichen Lebens auf sich nehmen und inmitten eines politischen Übergangszustandes, der noch einer geistigen Wandlung bedarf, als evangelische Christen zur Wahl gehen (Siehe ebenda, S. 69.).
10 Hanke
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E. Kirchliche Deutschlandpolitik in den 50er Jahren
DDR) abgab, hat ihren Grund auch darin, "daß die Gleichgültigkeit gegenüber der politischen Form den Protestantismus weiter begleitete. "554 Bisher gibt es keine eingehende und umfangreiche politikwissenschaftliche Untersuchung der theologisch-kirchlichen Theoriebildung zum Problemkomplex Demokratie. Lediglich eine theologische Darstellung, die den Diskussionsstand bis Anfang der sechziger Jahre wiedergibt, liegt vor. 555 Sie hat jedoch eher den Charakter eines kommentierten Literaturberichtes. In den vergangeneo Jahren erschienen einzelne Untersuchungen zum Problemfeld Kirche und Demokratie. Eine umfassende politikwissenschaftliche Gesamtdarstellung des Demokratieproblems und seiner Entwicklung in der Evangelischen Kirche in Deutschland seit I945 bis heute steht jedoch bisher noch aus.
1. Kirchliches Demokratieverständnis seit der Reformation Ein Schlüssel fiir das schwierige Verhältnis der deutschen Evangelischen Kirche zur Demokratie ist das von Melanchthon zum Augsburger Reichstag 1530556 formulierte "Augsburger Bekenntnis" (Confessio Augustana)557, in dem festgehalten wurde, daß "alle Obrigkeit in der Welt und geordnete Regiment und Gesetze gute Ordnung, von Gott geschaffen und gesetzt"558 sind. Hiermit wurde eine evangelische Staatsethik begründet, die jeder politischen Gewalt unabhängig von ihrer Staatsverfassung Gehorsam abverlangte. Mit anderen Worten wurde die Staatsform nicht zum Thema theologischer Reflexion gemacht. Auch der Calvinismus mit seiner Identifizierung der christlichen mit der politischen Gemeinde kann nur schwer für eine kirchliche Demokratietradition geltend gemacht werden, da die konkrete Ausgestaltung des Stadtstaates in Genf das Wesen einer theokratischen Oligarchie hatte, die mit ihren "Ordonnances ecclesiastiques" aus dem Jahre 1541 die Gemeinde der "Erwählten" strukturierte. Die Reform der Kirche durch den Protestantismus mit dem Credo, daß nur Gott den Menschen rechtfertigen kann und somit jeder einzelne Mensch unmittelbar zu Gott ist, führte zu keiner theologischen Ausweitung dieser Gleichheit auf die politische Sphäre.
Huber 1987, S. 71. Fischer 1970. Siehe dazu auch die berechtigte Kritik von Heinz Brunotte in seiner Buchrezension in: ZevKR, 1971, S. 435-442. Ähnlich auch: Norden 1971, S. 538/539. 556 Siehe zum Augsburger Religionsfrieden auch S. 22 f. 557 Vgl. auch: Wallmann 1985, S. 78 ff. Zur heutigen Bedeutung des Augsburger Bekenntnis (vor allem fllr die lutherischen Kirchen) siehe die Darstellung der Jubiläumsfeierlichkeiten zum 450. Jahrestag der Confessio Augustana im Jahre 1980 in: KJdEKD 1980, S. 21-35. 558 Zitiert nach: Huber 1987, 70. 554 555
s:
IV. Stellung der Kirche zu Demokratie und Staatstheorie
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Nicht die Theologie, sondern die Philosophie wurde zum Wegbereiter der modernen Demokratievorstellungen. Der Rationalismus der Aufklärung anerkannte die Gleichheit aller vernunftbegabten Menschen und bildete damit die ideelle Grundlage der Französischen Revolution und der nordamerikanischen Unabhängigkeitserklärung, die dem Emanzipationswillen des Bürgertums kraftvollen Nachdruck verliehen. Die Philosophie der Aufklärung war aber auch für die Theologie der Evangelischen Kirche sichtbarer Ausdruck der Selbstüberhöhung des Menschen und damit der Säkularisation. Die politische Philosophie des Rationalismus mußte daher um so mehr auf die Ablehnung der Kirche stoßen. Insgesamt betrachtet kann gelten, daß "überall dort aber, wo keine Revolution stattfand, (... ] die für das ancien regimecharakteristische Verbindung von sozialem Feudalismus und politischen Absolutismus auch für die politische Haltung der Kirchen im 19. Jahrhundert bestimmend"559 blieb. Erschwerend kommt hinzu, daß die konservative Staatsauffassung der Evangelischen Kirche in Deutschland des 19. Jahrhunderts weniger von der Lutherischen Zwei-Reiche-Lehre als vielmehr von der Hegeischen Staatsmetaphysik geprägt wurde, die die Verwirklichung des objektiven Geistes und des sittlich Guten im Staate postulierte. Einer Verklärung oder Mißdeutung der Lutherischen "Obrigkeit" im Deutschen Idealismus war damit Haus und Tor geöffnet. Die historisch gewachsene, enge Verbindung zwischen Thron und Altar in Deutschland erhielt hier den philosophischen Überbau. Alle Bestrebungen, die im 19. Jahrhundert zu einem System christlicher Demokratie strebten, standen von daher im scharfen Gegensatz zu den wirkkräftigsten kirchlichen Positionen, die christliche Politik nur im Rahmen des überkommenen vorindustriellen Staates verwirklicht sehen konnten.560 Die Evangelische Kirche stand im großen und ganzen gesehen der Weimarer Demokratie hilflos und distanziert gegenüber und konnte den Verlust des Kaiserreiches nicht bewältigen. Der Protestantismus bildete mit wenigen Ausnahmen einen "antirepublikanischen Block"56 \ der nicht in der Lage war, seine alten Auffassungen von Staat und Obrigkeit produktiv in Hinblick auf das demokratische System der Weimarer Verfassung zu aktualisieren. Hier zeigt sich deutlich die Historizität der bisherigen Politischen Ethik der Evangelischen Kirche, denn in bezug zur Weimarer Demokratie kann das Defizit festgestellt werden, daß "der Protestantismus( ... ] keine Ethik der politischen Form entwikkelt (hatte], er hatte die Frage nach der Form politischer Herrschaft nicht zum Thema gemacht. "562 Zentrale politische Kategorien wie Gewaltenteilung, SouBesson 1966, S. 203. Vgl. Besson 1966, S. 202. 561 Pereis 1981, S. 153. 562 Huber 1987, S. 70. 559 560
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E. Kirchliche Deutschlandpolitik in den 50er Jahren
veränität, Mehrheitsentscheidung und Parlamentarismus waren in der protestantischen Staatsethik noch nicht wahrgenommen worden. Damit konnte die Kirche ähnlich wie im 19. Jahrhundert aber auch keine positiven Impulse in die politischen und gesellschaftlichen Emanzipationsbestrebungen geben. Die erste deutsche Demokratie blieb mit dem Makel der Säkularisierung behaftet und provozierte eher Visionen des Untergangs des christlichen Abendlandes. Eine Diskussion über "Grundwerte" in beziehungsweise einer Wertebindung der Demokratie fand mit wenigen Ausnahmen von christlicher oder kirchlicher Seite nicht statt. Somit verstärkten die protestantischen Theologen vielmehr das allgemeine Krisenbewußtsein in den zwanziger Jahren, als daß sie zu einer Festigung rationaler Politik in der Weimarer Republik beitrugen, indem sie keine demokratiebezogene Sozialethik entwickelten.~63 Der Übergang von der Weimarer Republik zum nationalsozialistischen Führerstaat stieß bei vielen Protestanten auf Zustimmung, da das ungeliebte demokratische System mit seinen krisenhaften Symptomen zugunsten eines angeblich starken Staates verlassen wurde. 564 Die auch in kirchlichen Kreisen nachwirkende idealistische Staatsauffassung schien nun nach dem untergegangenen Kaiserreich ihre erneute Konkretisierung zu erfahren. Mit dem einsetzenden Kirchenkampf nach 1933 veränderte sich allerdings in Teilen des Protestantismus die evangelische Ethik des Politischen. Die Barmer Bekenntnissynode entwickelte auch erste Ansätze einer Staatsethik, die meßbare und geforderte Kategorien der Staatsaufgaben enthielt, indem nach These 5 dem Staat die Aufgabe zufiel, ftlr Recht und Frieden zu sorgen. Mit Barmen wurde eine folgenreiche Wandlung der evangelischen politischen Ethik eingeleitet, denn der Staat konnte nun auch der Kritik unterzogen werden, wenn er diese politischen Minimalforderungen nicht erfiillte. Allerdings zeigte sich bald, daß die kirchliche Opposition gegen den Nationalsozialismus und die daraus gezogenen politischen Konsequenzen nicht einheitlich waren. In Flügeln der Bekennenden Kirche war man eher bereit, den staatlichen und gesellschaftlichen Bereich christlichen Wert- und Urteilsentscheidungen zu unterwerfen als in den sogenannten "intakten" Landeskirchen. Dieser innerkirchliche Differenzierungsprozeß zwischen einer weiterhin obrigkeitsstaatlich geprägten und einer im Keim demokratiefreundlichen Strömung bezeichnete den Anfang eines einschneidenden politischen Richtungswandels im deutschen Protestantismus~ 65 und hatte
563 Bisher ist das kirchliche Demokratieverständnis in der Weimarer Republik beispielsweise im Vergleich zum Kirchenkampf im Nationalsoziali~mus weitgehend unerforscht. In neuerer Zeit greift dieses Thema auf: lnacker, Michael J: Kirche und Demokratie. Das kirchliche und christliche Demokratieverständnis in der Republik von Weimar, Magisterschrift Bonn 1988. 564 Vgl. dazu Huber 1987, S. 71. 565 Vgl. Pereis 1981, S. 155. Huber 1987, S. 71.
IV. Stellung der Kirche zu Demokratie und Staatstheorie
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grundlegende Bedeutung auch ftir die Entwicklung der sozialethischen Diskussion innerhalb der Evangelischen Kirche in Deutschland nach 1945. Trotz der Erfahrungen des Kirchenkampfes und der sich in Teilen des Protestantismus entwickelnden Aufgeschlossenheit gegenüber dem politischen System der Demokratie war also das Verhältnis der Evangelischen Kirche bis zum Jahre 1945 zu dieser Staatsform "weit stärker durch das Gefilhl der Fremdheit und den beiderseitigen Willen zur Distanz bestimmt gewesen."566 Auch nach dem Zusammenbruch des nationalsozialistischen Systems wurde das demokratische Verantwortungsbewußtsein der Kirche dadurch relativiert, daß bei vielen Kirchenführern der Nationalsozialismus "dämonologisch" als Produkt des Zerfalls aller moralischen Werte gedeutet wurde. 567 Diese Geschichtsdeutung beförderte das Konzept einer Rechristianisierung, in der das demokratische System der Bundesrepublik Deutschland einseitig verengt wurde auf die Vorstellung einer "christlichen Demokratie", in der Kirche und Staat auf der Grundlage einer engen und gegenseitigen Partnerschaft die Geschicke des Volkes lenkten. 568 Die späte Annäherung an die pluralistische Demokratie in den sechziger und besonders in den siebziger Jahren wurde vor allem möglich • durch die Wahrnehmung gravierender innerkirchlicher Gegensätze, wie sie in der Wiederaufrüstungsdebatte zu Tage traten, und der daraus resultierenden Erkenntnis der innerkirchlichen Pluralität; • durch die zunehmende Profliierung der CDU/CSU und auch der SPD als Volksparteien, die Antworten der Kirche auf die Wandlungen in der bundesrepublikanischen Parteiendemokratie forderten; • und schließlich durch die seit den sechziger Jahren beginnende gesellschaftliche Demokratisierungsdebatte, die den Blick dahingehend erweiterte, in der Demokratie nicht mehr nur eine Staats-, sondern auch eine Gesellschaftsform zu sehen.
2. Evangelische Theologie und Demokratie und Staatstheorie in den mnfziger Jahren Das Verhältnis der evangelischen Theologie in Deutschland zum Demokratieproblem bietet ein verwirrendes und vielfiiltiges Bild. Dabei ist davon auszugehen, daß in der Diskussion der filnfziger Jahre mehr einzelne Theologen im Vordergrund stehen denn einzelne theologische Richtungen. Die Gemeinsamkeit der Bemühungen ist aber darin erkennbar, daß das Verhältnis der freiheitliBesson 1966, S. 202. Vgl. Fischer 1910, S. 41 ff. 568 Vgl. auch Kapitel: "Stuttgarter Erklärung und Darmstädter Wort", S. 90 f.
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E. Kirchliche Deutschlandpolitik in den 50er Jahren
chen und rechtsstaatliehen Demokratie zu den Grundlagen des christlichen Glaubens Gegenstand der theologischen Reflexion wurde. 569 Als erster hat Rudolf Smend eindringlich auf das Mißverhältnis der Kirche in Deutschland zur modernen Demokratie aufmerksam gemacht570, und 1956 konnte der Theologe Wolfgang Trillhaas noch feststellen, daß fiir die lutherische Theologie "bis zur Stunde die Demokratie das eigentlich unbewältigte Thema darstellt" 571 • Dieser Befund, der schon damals so nicht für alle Lutheraner oder nur fiir sie galt, ist heute nicht mehr zutreffend. Aber die protestantische Theologie in Deutschland ist zwar generell zu einer kritisch-solidarischen Haltung gegenüber der Demokratie vorgedrungen, hat sich bisher jedoch nur mit Aspekten der Demokratietheorie befaßt, ohne zu einer abgewogenen und gesicherten Gesamteinschätzung und ethischen Fundierung zu kommen. "Darin liegt das Problematische, eine gewisse Unsicherheit Hinterlassende dieses kirchen- und theologiegeschichtlichen Vorganges. "572 Das Neue Testament enthält keine defmitive Staats- oder Staatsforrnenlehre. Der grundsätzliche eschatologische Vorbehalt der Welt, wie er im Glauben an die Erlösung durch Jesu deutlich wird, relativiert im Vergleich zum Alten Testament zusätzlich die weltlichen und staatlichen Strukturen als etwas nur Vorläufiges. Damit wird prinzipiell jeder staatlichen Ordnung ein Absolutheitsanspruch abgesprochen. Mit dieser Grundhaltung verbindet sich zwar für den Christen keine beliebige Verfiigbarkeit über die weltliche Ordnung oder Absenz von ihr, aber der Staat ist keine metaphysische oder natürliche Größe, sondern wird in seiner Geschichtlichkeit und damit auch Begrenztheit und Wandelbarkeit wahrgenommen. 573 Die Obrigkeit ist zwar von Gott gesetzt574, doch wird ihr als Zweck das Wohl der Menschen auferlegt575 . Das Menschenbild des Neuen Testamentes ist hingegen nichts Abstraktes, sondern meint den konkreten und einzelnen Menschen, der von Gott trotz seiner Sündhaftigkeit geliebt wird. Die Liebe Gottes zu dem einzelnen Menschen aber ist das eigentliche Thema des neuen Bundes und verpflichtet den Menschen selbst zur Liebe
Vgl. Kirche und moderne Demokratie 1973, S. X. Smend, Rudolf. Protestantismus und Demokratie ( 1932/1955); in: Kirche und moderne Demokratie, Theodor Strohm!Heinz-Dietrich Wendland (Hg.), Darmstadt 1973, s. l-13. 571 Zitiert nach: Kirche und moderne Demokratie 1973, S. X. Siehe weitere ähnliche Resultate von Ernst Wolfund Helmut Thielicke bei: Fischer 1970, S. 24. 572 Tödt 1981, S. 445. 573 Vgl. Apg 5,29: "Man muß Gon mehr gehorchen als den Menschen." 574 Vgl. Römer 13, I: "Jedermann sei untertan der Obrigkeit, die Gewalt über ihn hat. Denn es ist keine Obrigkeit ohne von Gott; wo aber Obrigkeit ist, die ist von Gott verordnet." 575 Vgl. Römer 13,4: "Denn sie (die Obrigkeit] ist Gottes Dienerin dir zugut." 569 570
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seines Nächsten, die Dienst am anderen bedeutet. 576 Diese Grundtendenzen, die das Neue Testament vorgibt, sind von der Theologie im einzelnen zu untersuchen. So ist beispielsweise das Wohl der Menschen genauso interpretationsbedürftig wie die Grenzen des Staates oder wie die Frage nach der politischen Ethik, also dem Dienst am Nächsten im politischen Gemeinwesen. Als wohl in unserem Zusammenhang schwierigster und umstrittenster, weil historisch auch belasteter, Problembereich kann die Frage gelten, ob auch eine theologische Staatsformenlehre möglich und erforderlich sei. Unbestritten ist hingegen, daß die Kirche und die Theologie aufgrund ihrer Anthropologie und weltlichen Distanz einen wichtigen Beitrag gegen die Ideologisierung einer Staatsform leisten können. Eine Typisierung einzelner theologischer Richtungen zum Demokratiethema in Deutschland (bzw. die die deutsche Diskussion beeinflußt haben) ist schwierig, da sich die einzelnen Theologen innerhalb verschiedener "Schulen" in ihren Schlußfolgerungen, selbst wenn sie von ähnlichen Ansätzen ausgehen, zum Teil stark unterscheiden. Idealtypisch läßt sich eine Zuordnung zwischen einerseits lutherischem und andererseits christologischem Ansatz vornehmen. Auch ist es im allgemeinen unzutreffend, verallgemeinernd von beispielsweise den "Lutheranern" zu reden und diese Formulierung mit dem stereotypen Beigeschmack "restaurativer Tendenzen"577 unter Berufung auf eine- so nicht zutreffende - obrigkeitshörige Traditionslinie im deutschen Luthertum zu belegen, auch wenn sie im Einzelfall zutreffen mag. Hinzu kommt als Schwierigkeit, daß die theologischen Grundrichtungen in den fünfziger und sechziger Jahren in Deutschland, gemessen an der kirchlichen und öffentlichen Publizität, ausgeprägter waren als in den folgenden Jahrzehnten. Dies ist wohl vor allem damit zu begründen, daß das Demokratieproblem und damit auch die politische Ethik aus christlicher Sicht einen hohen grundsätzlichen Diskussions- und Klärungsbedarf hatten, die dann durch zunehmende Verständigung und Erkenntnis in prinzipiellen Fragen die intellektuellen Ressourcen auf andere Einzelthemen lenken konnte und insgesamt der Debatte ihre zum Teil radikalisierte Polarisierung, wie sie unter anderem in der Wiederaufrüstungsdiskussion zutage trat, nahm. Als idealisierter Haupttyp ist zum einen der lutherische Ansatz der ZweiReiche-Lehre zu nennen. Ihm sind Theologen wie Paul Althaus, Walter Künneth, Wolfgang Trillhaas und Helmut Thielicke zuzuordnen. Ausgangspunkt dieser (neu)lutherischen politischen Ethik ist der Begriff der "Ordnungen", die aus biblischer Sicht die Weltwirklichkeit strukturieren. Die "Ordnungen", die 576 Vgl. zu dem ganzen Abschnitt u. a.: Artikel "Demokratie"; in: Evangelisches Staatslexikon, Hermann Kunst/Roman Herzog!Wilhelm Sehneerneicher (Hg.), 2. Aufl., Stuttgart/Berlin 1975, S. 362-374, hier insbesondere S. 371. 577 Wie es beispielsweise von vomherein Fischer 1970 macht.
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theologisch als Schöpfungsordnungen, Notordnungen oder Erhaltungsordnungen interpretiert werden 578, werden als "lebensnotwendig"579 eingeschätzt und formen daher auch grundlegend die Anschauung der Demokratie. Während Künneth580 eine Metaphysik eines theonomen Staates entwickelt, die sich auf das traditionell verstandene lutherische Obrigkeitsdenken bezieht, und von daher moderne Strukturen und Chancen des demokratischen Rechts- und Verfassungsstaates nur marginal miteinbezogen werden, erkennt Thielicke581 in der Demokratie vor allem ein Instrument der Herrschaftsbegrenzung durch Kontrollfunktionen, obwohl auch er wie viele konservative lutherische Theologen besonders vor der Verabsolutierung dieser Staatsform wamt. 582 Vor allem Trillhaas583 negiert die oftmals postulierte Demokratieunfähigkeit des Menschen und "sieht bei aller Kritik doch in der Demokratie ein fruchtbares Konzept dessen, was die Reformatoren justitia civilis nannten. "584 Für die Neuorientierung der lutherischen Staatsethik im Sinne einer Ablösung der unkritischen Haltung gegenüber jeder weltlichen Obrigkeit wurde ftlr Teile des Luthertums der norwegische Bischof Eivind Berggrav585 bedeutsam. Zum anderen ist idealtypisch der Ansatz der Königsherrschaft Christi über Kirche und Welt zu nennen. Ihm sind Theologen wie Karl Barth586 und HeinzDietrich Wendland587 zuzuordnen. Dieser vor allem von Barth geprägte Ausgangspunkt mit seinem Demokratieverständnis ist Bezugsrahmen fiir den linken Flügel des europäischen Protestantismus und die Nachfolger der radikalen Bekennenden Kirche geworden. In diesem Zusammenhang sind Namen wie • . 591 Theodor Strohm588, Ernst Wolr~89 und Walter Kreck590 sowte Arthur Rtch 578 Siehe zur "Theologie der Ordnungen" die referierende Übersicht bei: Fischer 1970, s. 101-118. 579 Althaus, Paul: Grundriß der Ethik, 2. Autl., Gütersloh 1953, S. I 0. 58° Künneth. Walter: Politik zwischen Dämon und Gott. Eine christliche Ethik des Politischen, Berlin 1954. 581 Thie/icke, Helmut: Theologische Ethik, Band 1112, Tübingen 1958. 582 Vgl. dazu: Tödt 1981, S. 443. 583 Trillhaas, Wolfgang: Ethik, Berlin 1959. 584 Tödt 1981, S. 443. 585 Berggrav, Eivind: Staat und Kirche in lutherischer Sicht, 1952. Siehe auch: Austad, Torleiv: Berggrav, Hitler und Martin Luther. Ungehorsam gegenüber der Staatsgewalt; in: LM, 1984, S. 556-560. 586 Barth, Kar/: Christengemeinde und Bürgergemeinde, München 1946. Auch abgedruckt in: Kirche und moderne Demokratie 1973, S. 14-54. 587 Wendland, Heinz-Dietrich: Einführung in die Sozialethik, Berlin 1963. 588 Strohm, Theodor: Kirche und Demokratischer Sozialismus, München 1968. 589 Wolf, Ernst: Sozialethik. Theologische Grundfragen, Göttingen 1975. 590 Kreck, Waller: Grundfragen christlicher Ethik, München 1975. 591 Rich, Arthur: Glaube in politischer Entscheidung. Beiträge zur Ethik des Politischen, Zürich/Stuttgart 1962.
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anzufiihren. Im folgenden werden allerdings nur drei Theologen vorgestellt. Die Darstellung der theologischen Sozialethik von Walter Künneth und von Kar! Barth sollen paradigmatisch den lutherischen und den christologischen Demokratieansatz und ihre Probleme darstellen. Arthur Rich wird nicht im Sinne einer Synthese, wohl aber wegen seines in bezug auf die moderne Demokratie weiterruhrenden Ansatzes vorgestellt. Aus neuerer Zeit haben in diesem Sinne, nämlich ein konstruktives Verhältnis der Kirche zum Demokratiethema zu gewinnen, Theologen und Sozialethiker wie neben anderen Wolfgang Huber, Heinz-Eduard Tödt, Martin Honecker oder Trutz Rendtorff fortschreitende Beiträge zur "christlichen Demokratietheorie" geleistet. a) Walter Künneth
Der lutherische Theologe Walter Künneth ist von besonderer Bedeutung, da seine Positionen maßgeblich die inhaltlichen Diskussionen der Evangelischen Kirche seit Anfang der dreißiger bis weit in die fiinfziger und sechziger Jahre bestimmt haben. 592 Künneth entwickelt im Rahmen einer "Theologie der Ordnungen" eine geschichtstheologische Theonomie des Staates, in deren Sinne der Staat ein wesentliches Instrument der Erhaltensordnung der Schöpfung ist und somit unter dem Schutz Gottes steht. Die Staatsformenfrage ist in diesem Zusammenhang nur relativ, da jedem Staat, auch dem Unrechtsstaat, Autorität gebührt, damit die staatliche Obrigkeit nach göttlichem Willen das Chaos verhindem kann. 593 Da die biblisch-reformatorischen Grundsätze keine Staatslehre beinhalten, "ist es grundsätzlich unmöglich, einen spezifisch 'christlichen Staat' zu proklamieren." 594 Vielmehr ist nach Künneth die Trennung der beiden Reiche voneinander unbedingt zu beachten und der Staat in seiner irdisch-historischen Disposition wahrzunehmen. Dies bedeutet aber nicht eine prinzipielle Gleichgültigkeit des Christen gegenüber der Staatsform, da es auch Bereiche der Überschneidung und Zusammengehörigkeie95 der beiden Reiche gibt. Berechtigt ist daher die Frage nach dem "rechten Staat", womit "die Staatsform gemeint [ist], welche auf Grund der Prinzipien der Gottesordnung geeignet erVgl. KZG, 1991, S. 560. Im Zusammenhang mit der Analyse von Römer 13 kommt daher Künneth zu dt:r Feststellung: "Die urchristliche Fundamentalerkenntnis sagt aus, daß jede irdische Obrigkeit eine Macht der Ordnung darstellt, durch die Gott die Chaosmächte des Bösen in Schach hält. Auch eine unvollkommene Ordnungsmacht, die nur in aller Relativität Gerechtigkeit, 'das Gute' zu realisieren vermag, steht in einem qualitativen Gegensatz zur Auflösung jeder Ordnung in der Anarchie. [... ] Der entscheidende Grundsatz lautet: Die obrigkeitliche Gewalt in der irdischen politischen Geschichtswelt ist nicht ein Phänomen der satanischen Weltherrschaft, sondern ein Zeichen göttlicher Weltordnung." Künneth 1961, S. 27. 594 Künneth 1961, S. 123. 595 Vgl. Künneth 1961, S. 70 ff. 592 593
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scheint, die äußere Gewähr dafiir zu bieten, daß der Erhaltungswille Gottes in bestmöglicher Weise zur Erfiillung zu kommen vermag." 596 Künneth unterscheidet mit der Trennung in monarchische und demokratische Staatsformen die nach seiner Ansicht zwei Grundprinzipen der Staatsorganisation und seiner Legitimierung. Im Vergleich beider Grundprinzipien erkennt er in beiden Staatsformen beachtenswerte Wahrheitsmomente, kann aber beiden nicht generell das Prädikat des "rechten Staates" zusprechen. 597 Hinsichtlich des demokratischen Systems hebt er insbesondere als funktionelle Voraussetzungen hervor, daß die Stabilität der Demokratie an gesicherte wirtschaftliche Verhältnisse sowie an eine bildungsmäßige und politische Reife des Volkes gebunden ist. Fallen diese Voraussetzungen weg, "so werden die Vorzüge der Demokratie nicht bloß verdunkelt, sondern schlagen in das Gegenteil um." 598 Besonders die der Demokratie innewohnende Tendenz, zugunsten der Freiheit des einzelnen die Staatsgewalt gering zu achten, kann in Notsituationen zu einer Gefährdung des Staates fuhren. Daher scheint der monarchische Staat als solcher dem demokratischen in Krisenzeiten hinsichtlich der Steuerungsfähigkeit und dem Erhalt der Ordnung überlegen zu sein. Insgesamt gilt fiir Künneth, daß "prinzipiell die Anarchie der Schatten jeder Demokratie [ist], die in Mißverständnis ihres Auftrages die Staatsgewalt zu gering einschätzt. "599 Nach Künneth ist es ein prinzipieller Fehlansatz, die politische Entscheidung des Staatsbürgers "sei gleichbedeutend mit dem Staat selbst und deshalb stelle sie selbst die eigentliche Obrigkeit dar, sie selbst seien die souveränen Auftraggeber fiir die von ihnen gewählten Regierungsfunktionäre. "600 Gegenüber der historisch anzutreffenden Staatsform verhalten sich Christen nicht indifferent, sondern haben grundsätzlich die konkrete Aufgabe, daran mitzuwirken, vier wesentliche Gesichtspunkte in der jeweiligen Staatsgestalt zu realisieren: I. Anerkennung der Obrigkeit als Repräsentantin der Staatsautorität 2. Herausbildung und Erhalt eines Vertrauensverhältnisses der Regierung als Herrschende zu den Staatsbürgern als Untertanen in Gegenseitigkeit auf der Grundlage von Mitverantwortlichkeit. 3. Hervorhebung der Dienstfunktion des Staates als Garant der individuellen "Menschenrechte" und des harmonischen Miteinanders der Menschen. 4. Erinnerung des Staates an die Begründung seiner Staatsautorität durch den Erhaltungswillen Gottes. 601 Künneth 1961, S. 124. Vgl. Künneth 1961, S. 128. 598 Künneth 1961, S. 129. 599 Künneth 1961 , S. 129. 600 Künneth 1961, S. 320. 601 Vgl. zu den vier Punkten: Künneth 1961, S. 129/130.
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Die Vorstellung einer Theonomie des Staates, die Künneth in seinen Überlegungen entfaltet, fiihrt ihn zur Ablehnung alljener Staatstheorien, die entweder auf der Annahme einer autonomen Souveränität des Staates fußen oder auf pessimistischen, idealistischen oder kollektivistischen Staatsideen beruhen. Insbesondere erfahrt der "liberal-rationalistische Staatsgedanke" heftige Kritik, da seine Vorstellung des Staates als zweckentsprechende menschliche Notmaßnahme zur Sicherung des Lebens und der Freiheit des einzelnen Individuums auf "eine grundsätzliche Auflösung der souveränen Autorität des Staates, eine Infragestellung der Überordnung der staatlichen Macht über den Einzelnen"602 hinausläuft. Dieser "liberale Individualismus" degradiert nach Künneth den Staat und seine Ordnung als Zweck- und Interessenverband, ruiniert den alten Begriff der Obrigkeit mit ihrem "Gesetz der Über- und Unterordnung" 603 und entartet schließlich in der Idee des "Wohlfahrtsstaates", der fiir das Dasein seiner Bürger zu sorgen hat604 und in hohem Maße totalitäre Tendenzen aufweist.605 Generell entartet die staatliche Ordnung auch dann, wenn sie nicht theonom und auf Gott hin orientiert, sondern autonom und eigengesetzlich begründet wird. 606 Zwar gibt es gegenüber eines solchen entarteten Staates bei Maßnahmen, die wider die Gesetze Gottes laufen, fiir den einzelnen Christen ein Recht des Ungehorsams, insgesamt aber besteht das Verhältnis des Christen gegenüber dem Unrechtsstaat außerhalb der Bemühungen um friedliche Veränderung der Verhältnisse "im Ertragen und Erleiden dieses Schicksals als Heimsuchung, Strafgericht und Glaubensprüfung Gottes" 607, nichtjedoch in der Möglichkeit der Revolution, da sie jenseits der Existenzsphäre der christlichen Gemeinde liegt. Unter demokratietheoretischen Gesichtspunkten ist schließlich auch die Position von Künneth zu den politischen Parteien sowie zur Rolle der Kirche in Staat, Gesellschaft und Politik von Interesse. Die Parteien, die den konkreten politischen Willen eines Volkes in der Demokratie formen sollen, sieht Künneth als Interessen- und Zweckverbände, deren politisches Handeln lediglich von Nützlichkeitserwägungen bestimmt ist und die "in dem Gewand der Selbstlosigkeit vor das Volk treten, wobei auch hier ehrliches Wollen und berechnende Spekulation auf die Volkspsyche vereinigt sind."608 Eine "erhebliche ethische Not" entsteht dadurch, daß die politischen Parteien einerseits generell
Künneth 1961, S. 103. Vgl. Künneth 1961, S. I 09 tT. ders.: Die Gemeinde Jesu Christi und das politische Ethos; in: LM, 1969, S. l 09-113, hier S. lll. 604 Vgl. Künneth 1961, S. 102 tT. 605 Vgl. Künnelh 1952, S. II. 606 Vgl. Künnelh 1961, S. 151 tT. 607 Künneth 1961, S. 228. Vgl. dazu auch: Künneth 1952, S. 19 tT. 608 Künneth 1961, S. 360. 602 603
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von wirtschaftlichen Mächtegruppen instrumentalisiert und beeinflußt werden und andererseits einem anonymen Kollektivismus Vorschub leisten, so daß die einzelne verantwortliche Persönlichkeit ihren Einfluß in politischen Fragen auf ein Minimum reduziert sieht. Restlos bedenklich wird schließlich das Wesen jeder Parteipolitik, die auch mit skrupellosen Mitteln -wie beispielsweise Wählertäuschung - nach Machtgewinnung und Machtgestaltung strebt: "Parteipolitik ist daher der Kampf um die Mehrheit der Wählerstimmen, denn die Majorität ist Macht, ist der demokratische Schlüssel zu politischer Einflußgewinnung und letztlich zur Staatsgestaltung und Staatsbeherrschung. "609 Der zutagetretende Parteiegoismus mit seiner unverantwortlichen Unsachlichkeit gegenüber anderen Standpunkten und Anliegen sowie die jeder Partei zugrundeliegende Parteiideologie, die unter anderem durch die geforderte Parteidisziplin der durch die christliche Existenz gegebenen verantwortlichen freien Gewissensentscheidung zuwiderläuft, verstärken die "Fragwürdigkeit der parteipolitischen Erscheinungen"610 . Dennoch ist dem einzelnen Christen die Pflicht zur Teilnahme an Wahlen abzufordern. Allerdings haben kirchliche Erklärungen zu Wahlen dabei nicht nur an das Gewissen der schlichten Christen zu appellieren, sondern es ist "dringend geboten, durch konkrete Weisungen eine politische Hilfestellung zu bieten."611 Da es jedoch keine "christliche Partei" im allgemeinen und im besonderen als Gegenstand einer kirchlichen Empfehlung geben kann, kann in der Weisung lediglich "in einer bestimmten politischen Lage die Wahl dieser oder jener Partei fiir Christen [als] das 'kleinste Übel'" 612 dargestellt werden. Die Kirche selbst hat im Staat und hier besonders in der Demokratie die Aufgabe der "Herausstellung prinzipieller Richtlinien als verbindliche Normen fiir die Ordnung des politischen Lebens." 613 Grundsätzliche Fragen des staatlich-politischen Lebens werden nicht der Gewissensentscheidung des einzelnen überlassen, "sondern erfahren in der Verkündigung des christlichen Ethos durch das Wächteramt der Kirche eine eindeutige Beantwortung. Diese grundsätzlichen Richtlinien tragen einen thetischen und einen kritischen Charakter."614 Neben den grundsätzlichen Normen, die unmittelbar aus der göttlichen Offenbarung abgeleitet sind und denen unbedingte Autorität zukommt, darf das kirchliche Hirten- und Wächteramt jedoch auch nicht auf konkrete Weisungen in bestimmten politischen Situationen verzichten, ohne dabei aber im Detail politische Fachfragen beantworten zu wollen. 615 Ziel der Unterweisung der politisch-staatlichen Welt durch die Kirche ist die "Wegweisung fiir Künneth 1961, S. 361. Künneth 1961, S. 368. 611 Künneth 1961 , S. 369. 612 Künneth 1961 , S. 370. 613 Künneth 1961, S. 400. 614 Künneth 1961, S. 401. 615 Vgl. Künneth 1961, S. 404fT. 609
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die Gratwanderung zwischen Gott und Dämon, zwischen Christus und Antichristus. "616 Die theologisch-ethischen Positionen Künneths zur staatlichen und gesellschaftlichen Ordnung lassen sich als ein Konzept einer "christlichen Demokratie" charakterisieren, wie sie fiir die Evangelische Kirche gerade in den fiinfziger Jahren in der Frage nach dem "rechten Staat" kennzeichnend war. Allerdings ist das autoritäre Syndrom617 dieses Theologen in dieser Art ein Spezifikum. Die theonome Begründung des Staates fiihrt zu einer Vorstellung von Obrigkeit, die allein und selbst in der Form des Unrechtsstaates618 von Gott legitimiert wird. Die Einsetzung einer Regierung durch allgemeine Wahlen als souveräner Akt eines Volkes kann von diesem Standpunkt aus nicht akzeptiert werden. Zwei entscheidende demokratietheoretische Elemente, die Verantwortlichkeit der Regierung gegenüber den Staatsbürgern und die vom Volkswillen legitimierte Herrschaftsausübung im Staat, werden negiert. 619 Der Staat wird im Sinne der Erhaltensordnung von oben her gedacht, in dem die Freiheit des Einzelnen gegenüber dem sittlichen Auftrag des von Gott gesetzten Ordnungsgefiiges nachrangig ist.620 Unter dieser Perspektive erhält die Demokratie zwangsläufig den Charakter einer tendenziell das Chaos befördernden Staatsordnung, demgegenüber die Monarchie eher als Garant der unbedingt zu fordernden Staatsautorität gelten kann. Bezeichnend ist, daß der Mißbrauch staatlicher Macht bei Künneth zwar in den Blick gerät, aber eine effektive verfassungsrechtliche Beschränkung und öffentliche Kontrolle von Herrschaft nicht erörtert wird. Nur der Kirche wird als alleiniger und interessenunabhängiger Institution ein Wächteramt zuerkannt, das sich in einer Richtlinienkompetenz fiir Politik und Staat äußert. Allen anderen gesellschaftlichen und politischen Gruppen, insbesondere auch den Parteien, werden übergeordnete ethische Orientierungen rigoros abgesprochen und ihr politisch-gesellschaftliches Engagement lediglich auf egoistische Nützlichkeitserwägungen, die zudem lediglich von wirtschaftlichen Interessen und Gruppen manipuliert und geformt werden, zurückgefiihrt. Wenn auch gewürdigt werden muß, daß Künneth eine unbedingte Mitverantwortlichkeit und Mitarbeit von Christen in Politik und GesellKünneth 1961, S. 417. Vgl. Maaser, Wolfgang: Theologische Ethik und politische Identität. Das Beispiel des Theologen Walter Künneth, Bochum 1990. 618 Vgl. dazu die Interpretation des Nationalsozialismus als "böse Obrigkeit", die dennoch Gottes Ordnungswillen repräsentiert: Künneth, Walter: Zum I. September 1979. Vor vierzig Jahren brach der Zweite Weltkrieg aus; in: KJdEKD, 1979, S. 127128. 619 Vgl. Künneth 1952, S. 19. 620 Daher kann Künneth auch ohne Bedenken fordern, daß in sogenannten Notsituationen grundlegende demokratische Rechte eingeschränkt oder aufgehoben werden können. Vgl. Künneth, Waller: Politischer Notstand als ethische Frage; in: LM, 1965, S. 18-21, hier S. 21. 616 617
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schaft fordert, so ist unverkennbar, daß er ein personalistisches Politikkonzept vertritt, das in deutlichem Gegensatz zu den Strukturen, Regularien und Erfordernissen einer modernen Parteiendemokratie steht. Zwar ist die Kritik am Parteienwesen im einzelnen nicht immer unberechtigt, doch die einseitige Betonung der daraus entstehenden Gefahren läßt die Parteien als Instrumente der Willensbildung im modernen Parlamentarismus als ungeeignete Entartungen erscheinen. 621 Bei alledem kann es nicht verwundern, daß Künneth keine Affinität zwischen Christentum und Demokratie sehen kann 622, auch wenn er nicht einer prinzipiellen Gleichgültigkeit gegenüber der Staatsformenfrage das Wort redet. Künneths Demokratiebegriff bleibt unter politikwissenschaftlichen Kategorien unzureichend und unpräzise. Ein bezug zum konkreten System des Grundgesetzes wird nicht hergestellt. Viel eher scheint sich die Vorstellung von Demokratie und ihrer Gefahren an dem demokratischen System von Weimar zu orientieren. Die normative Grundrechtsbindung des Grundgesetzes wird dabei genauso wenig in die Diskussion einbezogen wie das Prinzip der Gewaltentrennung oder der staatlichen Neutralität gegenüber den Religionsgemeinschaften. So richtig die aus der Zwei-Reiche-Lehre hergeleitete Überzeugung ist, daß es keinen "christlichen Staat" geben kann, so fragwürdig wird diese Feststellung, wenn der Kirche, dies heißt hier konkret einzelnen Kirchenfiihrern, die Autorität zugesprochen wird, wesentliche Leitlinien der Politik verbindlich vorzugeben. Demokratische Willensbildung in einem pluralistischen Gesellschaftsmodell kann von diesem Standpunkt aus nur als Produkt einer negativ verstandenen Säkularisation und Abfall von der göttlichen Setzung und Ordnung interpretiert werden. Der hier konstruierte Gegensatz zwischen Ordnung und Demokratie623 , verbindlichen Werten und persönlicher Freiheit kann jedoch nur als polemisch und problemunangemessen zurückgewiesen werden. b) Kar/ Barth Die Theologie Karl Barths hat "die öffentliche Sphäre als genuin christliches Handlungsfeld angesehen."624 Sein Modell der Königsherrschaft Christi über Kirche und Welt, Christengemeinde und Bürgergemeinde fiihrt zu der Vorstel62 1 Interessant wäre an dieser Stelle ein Vergleich zwischen Künneth und dem Staatsrechtslehrer Carl Schmitt (Schmitt, Carl: Politische Theologie. Vier Kapitel zur Lehre von der Souveränität, München/Leipzig 1922. ders.: Die geistesgeschichtliche Lage des heutigen Parlamentarismus, 4. Aufl., Berlin 1969 (München/Leipzig 1923).), der eine Reihe von Analogien in den Argumentationsmustern in der Kritik am Parlamentarismus eines modernen demokratischen Systems offenbaren würde. 622 Vgl. Künneth 1961, S. 125. 623 Siehe hierzu: Künneth, Waller: Die Gemeinde Jesu Christi und das politische Ethos; in: LM, 1969, S. I 09-113, hier S. II I. 624 Pereis 1981, S. 156.
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Jung, daß der Staat nicht lediglich eine Notordnung gegen die Sündhaftigkeit des Menschen, wie er oftmals negativ im deutschen Luthertum legitimiert wurde, ist, sondern daß er vor allem ein Instrument der Herrschaft Christi ist. Jesus Christus steht im Zentrum der konzentrischen Kreise Christengemeinde und Bürgergemeinde.625 Die Bürgergemeinde steht zwar außerhalb Christengemeinde, "aber nicht außerhalb des Herrschaftskreises Jesu Christi"626 . Damit gibt es für Barth auch keine prinzipielle Eigenständigkeil des Politischen. Diese Tatsache ist aber nicht gleichzusetzen mit einem vermeintlichen Barthschen Klerikalismus, da er dem entgegen - anders als viele seiner Schüler - immer "zwischen der Subjektivität Jesu Christi und der gesellschaftlichen Handlungskompetenz der Kirche strikt"627 unterscheidet: "Kirche muß Kirche bleiben. [... ] Die Christengemeinde hat eine Aufgabe, die ihr durch die Bürgergemeinde nicht abgenommen werden kann und der sie auch ihrerseits nie in den Formen nachgehen kann wie die Bürgergemeinde der ihrigen. "628 Aus dem Gesagten folgt, daß die Demokratie als Staatsform für Barth nicht nur unter dem eschatologischen Vorbehalt steht, sondern daß sie darüber hinaus unter bestimmten Voraussetzungen Anleitung für gehaltvolle humanitäre Politik sein kann. Der christlich-politische Impuls der Christengemeinde hat "auf der ganzen Linie eine Tendenz auf die Gestalt des Staates, die in den sogenannten 'Demokratien' wenn nicht verwirklicht, so doch mehr oder weniger ehrlich und deutlich gemeint und angestrebt ist. "629 Die Schlußfolgerung daraus ist, daß es "schon eine Affinität zwischen Christengemeinde und der Bürgergemeinde der freien Völker [gibt]!"630 Dieser theologisch entfaltete Affinitätsgedanke Barths ist nicht zu unterschätzen hinsichtlich der Bedeutung für die Öffnung des deutschen Protestantismus für den Demokratiegedanken, der über die über Jahrhunderte tradierte Fixierung des deutschen Luthertums auf einen starken und paternalistisch-autoritären Gemeinwohlstaat entscheidend hinausführte. 631 Politikwissenschaftlich ist nun aber im einzelnen das Barthsche Demokratieverständnis von Interesse. Barth vertritt in seiner Theologie "eine antipluralistische, durch hohe Homogenitätserwartungen geprägte Kirchentheorie. "632 Der faktisch vorhandene christliche Pluralismus und die daraus resultierenden Konflikte und Interessengegensätze in der Kirche können aus dieser Sicht theologisch nur negativ als Abweichung vom erstrebten Ideal der Einheitlichkeit und inneren GeVgl. Barth 1973, S. 20/21. Barth 1973, S. 21. 627 Graf 1990, S. 736. 628 Barth 1973, S. 22. 629 Barth 1973, S. 47. 630 Barth 1973, S. 47. 631 Vgl. Graf1990, S. 737. 632 Graf 1990, S. 737. Vgl. dazu auch die barthschen Ausruhrungen zum Wesen der Christengemeinde: Barth 1973, S. 15. 625
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schlossenheil begründet werden. Dieser Barthsche "Antipluralismus" der Christengemeinde, der Verwandtschaft zu Jean Jacques Rousseau aufweist633 , wird im allgemeinen auf die Bürgergemeinde übertragen 634 und filhrt zu einem sozialromantischen Politikverständnis, "das zu konstitutiven Elementen der liberal-parlamentarischen Demokratie in Spannung steht. "635 Das Demokratieverständnis von Barth fußt also nicht auf der Vorstellung eines konfliktoffenen Gesellschaftsmodells auf der Grundlage einer pluralistischen Demokratie, sondern auf einem Gemeinschaftsmodell mit hohen Homogenitätserwartungen und starker sozialer Einbindung des einzelnen Individuums. Die Affinität zwischen Christentum und Demokratie bezieht sich daher fiir Barth darauf, "daß die Demokratie der fiir den christlichen Glauben grundlegenden Einsicht in die Begrenztheit des Menschen eher Rechnung trage als andere politische Ordnungsformen. "636 Politiktheoretisch lassen sich vor allem zwei Defizite des Barthschen Demokratiemodells festhalten: I. Parteien beziehungsweise ein Parteienpluralismus sind filr Barth keine konstitutiven Elemente der Demokratietheorie: Parteien sind "ohnehin eines der fragwürdigsten Phänomene des politischen Lebens: keinesfalls seine konstitutiven Elemente, vielleicht von jeher krankhafte, auf jeden Fall nur sekundäre Erscheinungen. "637 2. Dadurch lassen sich filr Barth auch keine Unterscheidungskriterien zwischen pluralistisch-parlamentarischer auf der einen und identitärer Demokratie auf der anderen Seite gewinnen. Man kann bei Barth sogar von einer Tendenz zur "Vergleichgültigung"638 jeder politischen Form sprechen: "Sie [die Christengemeinde] hat, indem sie das Reich Gottes verkündigt, allen politischen Konzepten gegenüber ihre Hoffnungen, aber auch ihre Fragen geltend zu machen. "639 Die Barthsche Theologisierung des Politischen verwischt daher die strukturellen Merkmale politischer Systeme mit ihrer unterschiedlichen Ausprägung persönlicher und politischer Freiheit. Andererseits öffnet der christologische Ansatz den Freiheitsbereich des Individuums, da die stete Rückbezüglichkeil auch in politischen Fragen auf den im Zentrum der Lebensbereiche stehenden Christus die persönliche Eigenverantwortlichkeit gegenüber politischen ldeolo-
Barth selbst weist auch auf diese Beziehung hin. Vgl. Barth 1973, S. 46. "Der rechte Staat muß in der rechten Kirche sein Urbild und Vorbild haben." Barth 1973, S. 52. 635 Grafl990, S. 737. 636 Graf 1990, S. 736. 637 Barth 1973, S. 48. 638 Graf 1990. 639 Barth 1973, S. 26. 633
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gien verbürgt. Die "theologische ldeologiekritik"640 Barths ist bemüht, Grenzen des Politischen und deren Wahrung gegenüber dem einzelnen Menschen einzumahnen, ohne dabei eine ungebundene Eigengesetzlichkeit des Politischen zu akzeptieren. Dennoch darf die Gefahr des Barthschen Ansatzes, die politische Sphäre unmittelbar auf das Herrschaftszentrum Jesu zu beziehen, nicht verkannt werden, daß politische Sachfragen und Diskussionen nur allzuleicht theologischen Letztwahrheiten unterworfen werden können. c) Arthur Rich
Anders als Barth hat der Züricher systematische Theologe Arthur Rich die Staatsform als theologisches Problem herausgearbeitet. Er ist zu einer kritischsolidarischen Haltung gegenüber der rechtsstaatliehen Demokratie gekommen und hat der Kirche in diesem Rahmen eine aktive Rolle zugewiesen. Rich nimmt seinen argumentativen Ausgangspunkt641 von Römer 13, I im Neuen Testament, der "gerade keinen Gehorsamsakt [wie Luther übersetzte; Anm. des Verf.], sondern einen Unterstellungsakt in sich begreift."642 Unterstellung heißt nun aber nicht passives gehorsames Erdulden, sondern begründet ein aktives Verhältnis zum Staat, das kritisch-engagiert die Aufgabe hat, zum rechten Staatsein, also die Verpflichtung auf den Menschen und dessen Wohl, aufzurufen. "Von da aus wird die Frage nach der rechten Staatsform zu einem theologischen Problem. "643 Zur Erörterung des Problems entwickelt Rich drei Kriterien: I. Ein rechter Staat verbleibt in seiner Relativität und darf keinen Letztcharakter haben. 2. Der Staat gewinnt seine Aufgabe dadurch, daß er im Letzten um des Menschen willen besteht. "Seine Herrschaftsmacht wird Dienstmacht, ohne aufzuhören, Herrschaftsmacht zu sein. "644 3. Der Bürger hat nicht nur gegenüber dem Staat, sondern auch der Staat gegenüber den Bürgern Pflichten. Die Bindung zwischen Bürgern und Staat ist also im Sinne eines Dienst- oder Partnerschaftsverhältnisses wechselseitig. Graf 1990, S. 738. Die weiteren Ausführungen nehmen den Aufsatz Rich 1961 zur Grundlage. Dieser Aufsatz ist nur leicht verändert auch in die Aufsatzsammlung: Rich, Arthur: Glaube in politischer Entscheidung. Beiträge zur Ethik des Politischen, Zürich/Stuttgart 1962, S. 157-175, eingegangen. In dieser Fassung auch abgedruckt in: Kirche und moderne Demokratie 1973, S. 186-205. Siehe auch die referierende Darstellung bei: Fischer 1970, S. 152-158. 642 Rich 1961, S. 106. 643 Rich 1961, S. 107. 644 Rich 1961, S. 107. 640 641
II Hanke
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Auf der Grundlage dieser Kriterien werden für RichTendenzen sichtbar, die "auf eine partnerschaftliehe Bewältigung auch des Machtproblems im Staate zielen und damit auf eine Fonn des Staates, die verhindem will, daß die große Mehrheit der Staatsbürger machtlose Untertanen bleibt."645 Die Frage nach der zu diesem Zwecke besten Staatsform unter den gegebenen Bedingungen der gesellschaftlichen Existenz erhält von daher theologische Relevanz. Es ist allerdings nicht die Frage nach einem christlichen, sondern einem menschlichen Staat. Die Antwort fällt fiir Rich unter der Voraussetzung eines zur Mündigkeit erwachten Menschen aus zugunsten "der Demokratie als einer konkreten politischen Möglichkeit, eine optimale Anzahl von Menschen an der souveränen Macht und somit an der politischen Verantwortung im Aufbau einer mitmenschlichen Ordnung in Staat und Gesellschaft zu beteiligen."646 Unter diesen Bedingungen wird nicht der Ideologisierung der Demokratie das Wort geredet, sondern ihre christliche Rezeption bedarf der steten kritischen Prüfung angesichts der politischen Realitäten. Dies gilt auch fiir die konkrete Umsetzung der Volkssouveränität durch Volksherrschaft. Die Gefahr einer Verabsolutierung des Staates durch Mehrheitsentscheidungen und einer Staatsservilität muß durch Teilung der Gewalten relativiert werden. "Nur eine Demokratie, die sich dieser Relativierung unterwirft, also streng rechtsstaatliche Fonn annimmt, wird in der Handhabung der politischen Macht menschlich bleiben."647 Unabdingbar ist fiir Rich in diesem Zusammenhang auch die Achtung oppositioneller Meinungen. Auch Regierungsmacht und Oppositionsgewalt müssen im Sinne eines partnerschaftliehen Verhältnisses aufeinander bezogen sein, um eine menschliche Bewältigung der Machtfrage in Staat und Gesellschaft zu ermöglichen und von der Minderheit nicht einen Gehorsamsakt, sondern einen Loyalitätsakt zu fordern. Für die Kirche in der Demokratie heißt dies nun ebenfalls, daß sie sich in einem Loyalitätsakt dem Staat unterstellt, ihn kritisch begleitet und bei grundlegenden Verstößen gegen die Demokratie Widerstand leisten muß. Auch wenn die Kirche selbst nicht parteipolitisch sein darf, denn der Loyalitätsakt gilt ftlr das ganze Volk, ftlr Mehrheit und Minderheit, fiir Regierung und Opposition, hat sie in ihren Gliedern "vielmehr den Willen zum politischen Engagement zu wecken, weil nur im Engagement Verantwortung eine existentielle Sache ist."648 Das politische Engagement des Christen ist dabei dadurch geprägt, daß das Ziel eine unter den gegebenen Bedingungen menschliche und allerdings nicht christliche, da es diese nicht gibt, Politik ist. Sie muß im Dienst am M-:nschen stehen. Politische Gegensätze unter Christen sind nicht beunruhigend, ::;ondem befördern vielmehr die Lebendigkeit und Dynamik der
Rich Rich 647 Rich 648 Rich 645
646
1961, S. 1961, S. 1961, S. 1%1, S.
108. 109. lll. 113.
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Demokratie. Sie sind nur dann problematisch, wenn ihnen absolute Positionen zugrunde liegen und sie so Letztcharakter annehmen. Die Kirche hat hier die Aufgabe, über christliche und nichtchristliche Fronten hinweg in der demokratischen Auseinandersetzung zum Mitmenschlichen zu rufen. Insgesamt gilt fiir Rieb: "Die Rezeption der Demokratie durch die Kirche, die sich als Gottes Bürgerschaft von der Liebe des Glaubens geleitet weiß, ist Rezeption einer realen, stets kritisch zu überprüfenden Möglichkeit menschlicher Handhabung und mitmenschlicher Bewältigung der staatlichen Macht als bleibender Aufgabe."649 Auch Rich vertritt eine Affinitätsthese von moderner Demokratie und Christentum650 und begründet die Staatsformenfrage theologisch zugunsten der Demokratie. Politikwissenschaftlich sind unter anderem folgende Aspekte relevant: • Rieb sieht die demokratische Staatsform in ihrer Geschichtlichkeit und Situationsbezogenheit und warnt vor einer Ideologisierung und Absolutsetzung. Demokratie als Form der partnerschaftliehen Beziehung zwischen Bürgern und Staat ist genauso Instrument der Herrschaftsbegrenzung wie Möglichkeit der politischen Beteiligung der Menschen. • Er säkularisiert das christliche Gebot der Nächstenliebe zum politischen Grundwert der Menschlich- beziehungsweise Mitmenschlichkeit Solidarität, Menschenwürde und konkrete Individualität werden zum normativen Drehund Angelpunkt der Frage nach der Staatsform, aber auch fiir das Verhältnis der Kirche zur Gesellschaft. • Die pluralistische Parteiendemokratie wird als Element des demokratischen Systems nicht nur akzeptiert, sondern konstituiert es als konfliktoffenes und kompromißftihiges Gemeinwesen. • Von dieser normativen Grundhaltung her werden filr die Demokratie konkrete Bedingungen formuliert: Rechtsstaatlichkeit, Gewaltenteilung, Minderheitenrechte sowie eine menschlich-partnerschaftliehe Streitkultur der Politik. • Dem einzelnen Christen wird im Rahmen der rechtsstaatliehen Demokratie politisches Engagement abverlangt. Die Kirche steht der Gesellschaft nicht gegenüber, sondern unterstellt sich ihr in einer dienenden Funktion, die aber stets kritisch-loyal insbesondere die Erhaltung der Mitmenschlichkeit des Staates vor Augen hat.
649 650
u•
Rich 1961, S. 112. Vgl. Besson 1966, S. 207.
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Diese "theologische Demokratietheorie" von Rich geht in ihren Schlußfolgerungen weit über den Barthschen Ansatz heraus, auch wenn sie andererseits das Verhältnis zwischen Christengemeinde und Bürgergemeinde vermittelt über die Kategorie der Menschlichkeit aufgreift. Hier liegt auch der bedeutende Unterschied zur landläufigen lutherischen Ethik, die eher geneigt ist, dem Staat eine gewisse Eigengesetzlichkeit der Welt zuzuschreiben und eher auf eine autoritative Obrigkeitlichkeit verweist. Im Gegensatz dazu gibt es aber auch Berührungspunkte mit der lutherischen Staatsethik. Rich redet nicht einer ungehemmten Demokratie das Wort, sondern bedenkt auch die Grenzen mit Blick auf Minderheitenrechte, Gewissensfreiheit und Wahrung der Menschlichkeit, die auch als demokratischer Grundkonsens gedeutet werden kann. Ferner zeigt sein Terminus der "Menschlichkeit", daß er eine Theologisierung der Politik, die immer nur im Anspruch auf letzte Wahrheit enden kann, nicht unterstützt, hingegen aber die Kompromißhaftigkeit und damit menschliche Begrenztheit von politischen Entscheidungen anerkennt. Schließlich fällt bei Rieb noch besonders auf, daß er die Lebensfähigkeit der Demokratie in Zusammenhang bringt mit der Mündigkeit ihrer Bürger. Die politische Bildungsarbeit, der auch die Kirche verpflichtet ist, erhält eine zentrale Bedeutung651 fiir die Leistungsfähigkeit eines demokratischen Systems. 3. Kirche und Demokratie in den fünfziger Jahren
Frühe kirchliche Stellungnahmen, die sich mit der Ordnung des Staatslebens beschäftigen, thematisieren Demokratie als Verfassungsform zur Beschränkung und Kontrolle politischer Macht nicht. So lehnt zwar das "Wort zur Neuordnung von Staats- und Wirtschaftsleben" der westfälischen Provinzialsynode vom Oktober 1946 jede totale Staatsform ab, doch die Alternative wird lediglich in der Bildung eines rechten Staates gesehen, "in dem Regierende und Regierte den lebendigen Gott als höchste Autorität ehren und seine Gebote achten. "652 Dieses "Rechristianisierungskonzept" gibt keine handhabbaren politischen Kriterien einer rechten Staatsform, die gegen totalitäre Ansprüche gesichert werden kann, sondern ist vielmehr geeignet, theologisch auch autoritative Strukturen zu rechtfertigen, sofern die Existenz und Einbindung der christlichen Religion gesichert sind. Der Mißbrauch politischer Macht und die institutionelle Sicherung davor gerät, obwohl theologisch durch die Sündhaftigkeit des Menschen eigentlich stets präsent, nicht in den Blick. Das gleiche Defizit fällt auf bei der Kundgebung der Bischofskonferenz der VELKD "Die politische Verantwortung der Kirche" vom 12. März 1952, die theologisch tiefge-
651 652
Anders als bei Barth, der sie vernachlässigte. Vgl. Zi/leßen 1970, S. 113 f. KJdEKD, 1945-1948, S. 219-214, hier S. 211.
IV. Stellung der Kirche zu Demokratie und Staatstheorie
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hend die lutherische Lehre von den zwei Reichen formulierte und den offiziellen Standpunkt des obersten Organs der VELKD zum Themenkreis "Kirche und Wiederaufrilstungsdiskussion" wiedergab. Der Staat wird im traditionellen Sinne als vor Anarchie und Chaos bewahrende und von Gott gegebene Obrigkeit interpretiert, als eine "leidliche äußere Ordnung, damit in ihrem Schutze die Menschen durch die Predigt des Evangeliums zum Glauben kommen und aus dem Verderben gerettet werden. So dient das weltliche Regiment, ob es das weiß oder nicht, schließlich doch den Zielen des Heilsplanes Gottes."653 Die an dieser Erklärung beteiligten lutherischen Kirchenführer kommen zwar zu der Erkenntnis, daß es auch staatliche Ordnungen geben mag, die dem Reiche Gottes widerstreben, doch schließlich sind auch sie Instrument des Heils. Auch hier werden politische Phänomene rein theologisch erklärt, so daß die Frage nach dem politischen System und der Sicherung vor Machtmißbrauch nicht in den Erörterungshorizont dieser Kundgebung gerät. Diese Ausklammerung befördert zwangsläufig eine vorbehaltslose Anerkennung der gegebenen Obrigkeit durch die lutherische Lehre, die partiell nur durch die Gebote Gottes eingeschränkt wird. Konstruktive politische Begleitung und Kritik der Verfassungsordnung kann auf dieser Grundlage nur aufgelöst werden "in der Artikulierung christlichen Allgemeingutes an die Adresse der Politiker."654 Diese Handhabung von Fragen der Staatsform und der Verfassungsordnung in kirchlichen Stellungnahmen und ihren dadurch entstehenden Widersprüchlichkeiten und Folgenlosigkeiten lassen sich auch an der theologischen Erklärung "Gottes Wort ist nicht gebunden" der außerordentlichen Synode der EKD in Beriin vom 27. bis 29. Juni 1956 demonstrieren. In dieser Erklärung wird das Evangelium in den Mittelpunkt gestellt, von dem aus die damals für die EKD virulenten Fragen655 nach der Einheit der EKD, der Wiedervereinigung Deutschlands und der Stellung zum Staat von der Synode durch einmütige Annahme gestellt und beantwortet wurden. Die Synode erkennt, daß das Evangelium "nach gerechten und menschlichen Formen unseres Zusammenlebens auch im gesellschaftlichen und wirtschaftlichen Raum suchen"656 läßt, entzieht sich aber konkreten sozialethischen beziehungsweise politischen Forderungen, indem sie erklärt: "Das Evangelium rückt uns den Staat unter die gnädige Anordnung Gottes, die wir in Geltung wissen, unabhängig von dem Zustandekommen der
KJdEKD, 1952, S. 27-34, hier S. 30. Zilleßen 1972, S. 220. 655 Aktueller Anlaß war das 1956 in der DDR aktuelle Problem, ob die Kirche gegenüber dem Staat eine Loyalitätserklärung abgeben solle oder nicht. Dies mag ein wesentlicher Grund filr äußerst abgewogene Formulierungen in der theologischen Erklärung sein. Vgl. auch die Ausfllhrungen von Helmut Gollwitzer zur Entstehung der theologischen Erklärung auf der EKD-Synode vom 21. bis 26. Februar 1960 in Berlin: KJdEKD, 1960, S. 79. 656 KJdEKD, 1956, S. 17-18, hier S. 18. 653
654
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staatlichen Gewalt oder ihrer politischen Gestalt." 657 Diese theologische Erklärung der EKD-Synode hat eine deutliche Wirkungsgeschichte entwickelt, da sie grundlegendes Dokument zur Begründung der Ablehnung der Obrigkeitsschrift von Otto Dibelius658 wurde, in der er auf der Grundlage einer Unterscheidung von rechtsstaatlicher und totalitärer Struktur dem Staatswesen der DDR den Obrigkeitscharakter absprach. 659 Zwar ist zu Recht der vordemokratische Ansatzpunkt der Argumentation von Dibelius kritisiert worden, die theologisch und politisch begründete verfassungsrechtliche Problematisierung der Staatsform ist mit Hinweis auf das Bekenntnis von 1956 jedoch in der kirchlichen Diskussion nicht aufgenommen worden. "Über dieses Bekenntnis, das die Frage nach der demokratischen Verfassungsform theologisch belanglos macht, sind die offiziellen Stellungnahmen der Kirche bis 1965 in der Regel nicht hinausgekommen. "660 4. Demokratietheorie und Deutschlandpolitik der Kirche Die Evangelische Kirche in Deutschland konnte in den fiinfziger Jahren aufgrund ihrer aus politikwissenschaftlicher Sicht unzureichenden Demokratieund Staatstheorie keine konkreten Impulse fiir politisches und insbesondere deutschlandpolitisches Handeln entwickeln, da nach der gängigen Vorstellungswelt dies allein auf der Grundlage einer modifizierten Zwei-Reiche-Lehre dem Staat überlassen werden mußte. Die kirchliche Deutschlandpolitik hatte somit unter anderem auch keine konkreten Vorstellungen über die politisch-gesellschaftliche Gestaltung eines wiedervereinigten Deutschlands. Die politische Theorie der Evangelischen Kirche in Deutschland war überwiegend davon geprägt, den Einfluß der Kirche durch ein Konzept einer "christlichen Demokratie" zu sichern, um Gottes Geboten auch eine direkte Wirkung auf das gesellschaftliche und politische Leben zu ermöglichen. Der Ansatz von Rieb, der der Kirche eine offensive Strategie gegenüber den beiden deutschen Staaten hinsichtlich der gesellschaftlich-politischen Entwicklung ermöglicht hätte, konnte sich in den filnfziger Jahren hingegen nicht durchsetzen. Statt dessen war die schöpfungsordnungstheologische Interpretation des Staates beherrschend, die geeignet schien, fast jede Erscheinung von staatlicher Autorität zu legitimieren. Im christologischen Ansatz hingegen wirkte nicht nur die Tradition nach, die christliche Gemeinde mit dem Volk zu identifizieren, sondern auch er neigte 657
KJdEKD, 1956, S. 17-18, hier S. 18.
Vgl. S. 171. Siehe auch: Bischof D. Dr. Dibe/ius: Obrigkeit? Eine Frage an den 60jährigen BischofD. Dr. Lilje; in: KJdEKD, 1959, S. 123 f. 659 Vgl. die ausführliche Dokumentation des Streites um die Obrigkeit in: KJdEKD, 1960, s. 65-85. 660 Zilleßen 1972, S. 223. 658
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dazu, von realen politischen Entwicklungen zu abstrahieren und auf einer Art christlich-moralischer Metaebene eine Affinität zwischen Christentum und Demokratie festzustellen, bei politischen Sachfragen aber, wie beispielsweise in der Wiederbewaffnungsdebatte, rein gesinnungsethisch zu argumentieren. Aufgrund dieser Konstellation blieb die Kirche in den fiinfziger Jahren auch in ihrer Forderung nach Überwindung der Teilung Deutschlands in einem eigentlich vorpolitischen Raum, indem auf der Vorstellung der geschichtlichen Einheit des deutschen Volkes und des deutschen Protestantismus lediglich die moralischen Fragen nach Menschlichkeit und Sittlichkeit angesichts der deutschdeutschen Entwicklung in den Vordergrund gestellt wurden. Gesellschaftlicher Pluralismus, Kennzeichen einer modernen Gesellschaft, konnte weder vom lutherischen noch vom barthschen Ansatz aus als konstitutives Element einer Demokratietheorie anerkannt werden. In diesem Zusammenhang fiel der Kirche in der politischen Diskussion eher die Aufgabe zu, richtungsweisende und allgemein gehaltene Worte zu sprechen, als kritische Anfragen in den gesellschaftlichen Diskurs einzubringen. Je mehr jedoch der innerkirchliche Pluralismus in entscheidenden Fragen wie der Wiederbewaffnungsdebatte zutagetrat, desto geringer wurde der kirchliche Handlungsspielraum. Der Mangel an innerkirchlichen Mechanismen, derartige Kontroversen produktiv zu handhaben, führte zu immer stärkerer Unverbindlichkeit kirchlicher Stellungnahmen. Jede kontroverse Diskussion über konkrete Schritte in der Deutschlandpolitik mußte so zu einer Auseinandersetzung über das Ausmaß des politischen Auftrages der Kirche werden. So ist es nicht zuflillig, daß - obwohl die Frage nach der deutschen Einheit einen hohen Stellenwert in der Evangelischen Kirche besaß - es beispielsweise in den fiinfziger Jahren keine kirchliche Denkschrift zur Wiedervereinigung Deutschlands gab. Der Obrigkeitsbegrift~ der mehrheitlich in der Evangelischen Kirche in den fiinfziger Jahren anzutreffen war, ermöglichte jedoch auch einen eigenen, jenseits der politischen Diskussion liegenden Standpunkt. Beide deutsche Regierungen wurden als Repräsentanten der Staatsautorität und damit als Obrigkeit anerkannt. Die Kritik an dem Obrigkeitscharakter der DDR von Dibelius661 blieb im kirchlichen Raum marginal. Auch wenn das christliche Selbstverständnis in der DDR einer starken Belastung ausgesetzt war, versuchten insbesondere die ostdeutschen Landeskirchen, ein konstruktives Verhältnis zum Staat zu gewinnen, weil sie auch in einem den christlichen Geboten widerstrebenden weltlichen Regiment den Heilsplan Gottes erkannten. Widerstand der Kirche auf dem Gebiet der DDR gegen politische Entscheidungen und Entwicklungen war nicht zwangsläufig als politische Fundamentalkritik am politischen System zu verstehen, sondern hatte neben dem Erhalt des kirchlichen Handlungsspielraumes vor allem konkrete Nöte der Menschen vor Augen. Der 661
Siehe S. 171.
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kirchlich-theologische Gedanke des Dienens gegenüber der Gesellschaft und dem Staat mußte daher in den späteren DDR-Kirchen schon früh als Orientierungspunkt des praktischen Handeins der Kirche ausgeprägt werden. ln der Bundesrepublik hingegen fiel es der EKD leicht, sich unter die Obrigkeit zu stellen. Doch ihr gesellschaftlich-politisches Kritikpotential verlor sich dadurch in Appelle an christliches Allgemeingut.
V. Kirche und gesellschaftliche Entwicklung in beiden deutschen Staaten Die politische Entwicklung zwischen beiden deutschen Staaten verschärfte sich nach der einschneidenden Zäsur der Jahre 1955/56. Die EKD geriet mit der Unterzeichnung des Militärseelsorgevertrages662 deutschlandpolitisch zwischen die Fronten und verlor in den Augen der DDR-Regierung als "NATOKirche" ihren bisherigen Status, die gesamtdeutsche Organisation des deutschen Protestantismus zu sein. In der EKD - vor allem in den ostdeutschen Landeskirchen - setzte eine Diskussion ein, wie man sich gegenüber der DDR verhalten solle und welches gesellschaftspolitische Engagement die Evangelische Kirche bei Wahrung ihrer Eigenständigkeil in der "sozialistischen Gesellschaft" zu bringen bereit war. 1. Der Militärseelsorgevertrag
War die EKD durch die Wiederaufrüstungsdebatte in die Krise gekommen in bezug auf die Frage nach dem politischen Mandat der Kirche gegenüber staatlicher Politik, so hatte diese Diskussion durch die letztendliche Anerkennung staatlicher Autorität im Bereich der Militärpolitik auch Folgen fiir die gesamtdeutsche Struktur des gesamtkirchlichen Zusammenschlusses. Gab es zwar in den ftlnfziger Jahren schwere Auseinandersetzungen zwischen Staat und Evangelischer Kirche in der DDR, so war doch die EKD weiterhin als Repräsentant der Evangelischen Kirche anerkannt worden. Allerdings war auch deutlich geworden, daß die "Konferenz der Evangelischen Kirchenleitungen im Gebiet der DDR" (KKL) in der Regelung von Einzelfragen an Bedeutung gewann.663 Mit der Unterzeichnung des Militärseelsorgevertrages kam es jedoch zum endgültigen Bruch zwischen EKD und DDR-Regierung. 662 Siehe: Vertrag der EKD mit der Bundesrepublik Deutschland zur Regelung der evangelischen Militärseelsorge (mit Schlußprotokoll); in: KJdEKD, 1957, S. 40 ff. 663 Die KKL war noch vor der EKD 1948 als "Ostkirchenkonferenz" gegründet worden. Sie diente als informelles Kooperationsgremium der DDR-Kirchen. Neben dem
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Am 22. Februar 1957 unterzeichneten die Bundesregierung und die EKD den Militärseelsorgevertrag.664 Dieser Vertrag sollte die Religionsausübung und die Militärseelsorge in der Bundeswehr regeln. Die EKD-Synode billigte dieses Abkommen mit Zustimmung der Synodalen aus der DDR.665 Die DDR-Regierung nahm die Unterzeichnung des Vertrages als Anlaß, die EKD als "NATOKirche" zu qualifizieren. 666 Der EKD wurde vorgeworfen, mit diesem Vertrag zu einer Militärkirche geworden zu sein und ferner eine institutionelle Verflechtung zwischen Staat und Kirche geschaffen zu haben. 667 Obwohl der Militärseelsorgevertrag 1958 ausdrücklich auf die westlichen EKD-Kirchen beBevollmächtigten der EKD, Heinrich Grüber, hatte die KKL in einer Konferenz mit den Ministerpräsidenten Otto Grothewohl am 10. Juni 1953 die Rücknahme der gegen die Kirche gerichteten Maßnahmen erreicht (Vgl. Luchterhandt 1982, S. I 0). Zur Bedeutung der KKL vgl. auch Dähn 1982, S. I 02. 664 Die kirchliche Diskussion um die Militärseelsorge (und Kriegsdienstverweigerung), die bis heute anhält, wäre unter politikwissenschaftlichen Gesichtspunkten in Hinblick auf Fragen der Deutschlandpolitik, der protestantischen Staatsethik und des kirchlichen Politikverständnisses eine eigene Untersuchung wert. Siehe hier: Barth, lrmin: Militärseelsorge in der Bundesrepublik Deutschland, Heidelberg 1987. Cremers, Annelie: Staat und Evangelische Kirche im Militärseelsorge-Vertrag von 1957. Mit einem Anhang zur Dokumentation der Entstehungsgeschichte, Diss. Freiburg im Breisgau 1973. Domini sumus. 30 Jahre Militärseelsorgevertrag, Evangelisches Kirchenamt für die Militärseelsorge (Hg.), Hannover 1987. Müller-Kent, Jens: Militärseelsorge im Spannungsfeld zwischen kirchlichem Auftrag und militärischer Einbindung, Diss. Harnburg 1990. Steuber, Klaus: Militärseelsorge in der Bundesrepublik Deutschland, Mainz 1972. Baudissin, Wolf Graf von: Gedanken zur evangelischen Militärseelsorge in der Bundeswehr; in: Kirche und Staat 1967, S. 299-314. Baudissin, WolfGrafvon: Zum Verhältnis von Bundeswehr und Militärseelsorge; in: Kirche im Spannungsfeld der Politik 1977, S. 321-326. Speidel, Hans: Hermann Kunst bei der Bildung der Bundeswehr; in: Kirche im Spannungsfeld der Politik 1977, S. 11-13. Beckmann, Joachim: Kirche und Kriegsdienstverweigerung im 20. Jahrhundert; in: Kirche und Staat 1967, S. 249276. Mierau, Gottfried: Freiraum Militärseelsorge? Die konfliktlose Strategie der "kritischen Solidarität"; in: LM, 1974, S. 53-54. Mitte/mann, Ernst: Dem Frieden verpflichtet - die Militärseelsorge zu Aufgabe und Auftrag der Bundeswehr; in: Kirche im Spannungsfeld der Politik 1977, S. 327-338. Seiler, Rudolf. Seelsorge in Bundeswehr und Bundesgrenzschutz; in: Handbuch des Staatskirchenrechts der Bundesrepublik Deutschland 1975, Bd. II, S. 685-700. Boyens 1993. Dähn 1982, S. 64 ff. Mahrenholz 1969, S. 23 ff. Huber 1973, S. 220 ff. Lotz 1992, S. 100 ff. KJdEKD, 1954, S. 62 ff. KJdEKD, 1955, S. 72 ff. KJdEKD, 1956, S. 38 ff. und 141 ff. KJdEKD, 1957, S. 21 ff. und S. 116 ff. KJdEKD, 1958, S. 93 ff. KJdEKD, 1959, S. 106 ff. KJdEKD, 1960, S. 54 ff. und S. 118fT. KJdEKD, 1961, S. 32 ff. und S. 87 ff. KJdEKD, 1962, S. 130 ff. KJdEKD, 1963, S. 29 ff. und S. 123 ff. KJdEKD, 1964, S. 114 ff. KJdEKD, 1965, S. 28 ff. KJdEKD, 1969, S. 83 ff. KJdEKD, 1976177, S. 169 ff. KJdEKD, 1978, S. 107 ff. KJdEKD, 1979, S. 47 ff. und S. 134 ff. KJdEKD, 1983, S. 303 ff. KJdEKD, 1988, s. 253 ff. 665 Vgl. Luchterhandt 1982, S. 12. 666 Siehe: Krüger 1958. 667 So der DDR-Staatsrechtler U. Krüger in einem juristischen Gutachten zum Militärseelsorgevertrag. Dähn 1982 weist in seiner Untersuchung nach, daß diese Vorwürfe wissenschaftlich nicht haltbar sind. Vgl. Dähn 1982, S. 65 f.
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schränkt wurde668 und die EKD schon vor der Billigung des Vertrages durch die EKD-Synode der DDR-Regierung die Bereitschaft signalisiert hatte, auch fiir den Bereich der Nationalen Volksarmee ein solches Abkommen zu schließen669, lehnte die Regierung der DDR jedes weitere Gespräch mit der EKD ab. Statt dessen wurde in der DDR eine öffentliche Kampagne gegen die EKD und ihrem "Atom-Bischof' Dibelius ins Leben gerufen. "Der scharfe Kurs richtete sich, was leicht zu durchschauen war, gegen die Einheit der Evangelischen Kirche in Deutschland. "670
2. Veränderte Kirchenpolitik der DDR-Regierung Die Einheit der EKD als gesamtdeutsche Organisation war in Frage gestellt, da sie ihre Rolle als Repräsentantin der östlichen Gliedkirchen gegenüber der DDR-Regierung nicht mehr wahrnehmen konnte. Äußeres Merkmal dieser Haltung war der Entzug der Akkreditierung des Bevollmächtigten der EKD bei der Regierung der DDR, Probst Heinrich Grüber, am 17. Mai 1958. Seine Tätigkeit wurde als beendigt erklärt.671 Diesem Akt war schon eine institutionelle Veränderung vorausgegangen. Im Frühjahr war beim Vorsitzenden des Ministerrates ein Staatssekretariat fiir Kirchenfragen eingerichtet worden. War vorher dem stellvertretenden Ministerpräsidenten Otto Nuschke, der gleichzeitig Vorsitzender der CDU war, die Hauptabteilung "Verbindung zu den Kirchen" unterstellt672, so leitete nun das SED-Mitglied Werner Eggerath als Staatssekretär die kirchlichen Kontakte. Damit gewann die SED unmittelbaren Einfluß auf die staatliche Kirchenpolitik. Nach dem Bruch mit der EKD war das Staatssekretariat nur bereit, mit einzelnen Kirchenleitungen der DDR-Kirchen zu verhandeln. Selbst die Konferenz der DDR-Kirchenleitungen wurde als Verhandlungspartner nicht akzeptiert.673 Der Druck auf die DDR-Kirchen wurde noch gesteigert durch eine massive atheistische und Kirchenaustrittspropaganda sowie Konflikte im Erziehungsbereich. Der Ministerpräsident signalisierte in dieser Situation seine Bereitschaft, "eine Delegation der evangelischen Kirche in der DDR zu empfangen, deren Teilnehmer ihren Wohnsitz innerhalb der DDR oder im demokratischen Sektor von Berlin haben."674 Die östlichen Gliedkirchen der EKD stellten 668 Vgl. Luchterhandt 1982, S. 12. 669 Vgl. Grüber 1968, S. 384 f. Siehe auch: KJdEKD, 1956, S. 43 ff. 670 Grüber 1968, S. 386.
671 Vgl. Luchterhandt 1982, S. 13; Henkys 1982a, S. 30. KJdEKD, 1958, S. 105 und 137 ff. 672 Vgl. Luchterhandt 1982, S. I 0. 6 73 Vgl. Henkys 1982a, S. 30. 674 Zitiert nach: Luchterhandt 1982, S. 13.
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daher, da dies der einzige Weg zu Gesprächen schien, eine Delegation unter Leitung des thüringischen Bischofs Moritz Mitzenheim auf, die in Verhandlungen mit der DDR-Regierung trat. Abschluß dieser Gesprächsrunde war ein Kommunique vom 21. Juli 1958.675 In diesem Dokument erklärten die Vertreter der Evangelischen Kirchen in der DDR, daß die Kirche mit den Friedensbemühungen der DDR-Regierung übereinstimmt, daß die Christen ihre staatsbürgerlichen Pflichten auf der Grundlage der Gesetzlichkeit erfüllen und ferner, daß sie die Entwicklung zum Sozialismus respektieren. 676 Die offenen Fragen wurden an die Bearbeitung mit dem Staatssekretariat verwiesen. Die DDR-Regierung ihrerseits bestätigte die volle Glaubens- und Gewissensfreiheit sowie den Schutz der ungestörten Religionsausübung. 677 Damit hatte die DDR-Regierung einen Erfolg zu verbuchen. Sie hatte zum einen nur einen Minimalteil der verfassungsmäßigen Rechte bestätigt678 und zum anderen von der EKD separate Verhandlungen erreicht. Die EKD hatte ihren Vertretungsanspruch gegenüber der DDR endgültig verloren. Eine Wegmarke für die innerkirchliche Diskussion war die in dem Kommunique enthaltene Loyalitätserklärung gegenüber der gesellschaftlichen Entwicklung in der DDR, die der bisherigen mehrheitlichen politischen Positionsbestimmung entgegenstand. Ein Exponent des innerkirchlichen Widerstandes wurde der Vorsitzende des Rates der EKD, Otto Dibelius, der in einer Auslegung des Römer-Briefes 13 der DDR-Regierung im Jahre 1959 den die Christen verpflichtenden obrigkeitlichen Charakter absprach, in dem er zwischen rechtsstaatliehen und totalitären Herrschaftsstrukturen unterschied. 679 Diese Position löste allerdings breiten Widerspruch innerhalb der Kirche aus, zumal im sogenannten III. Reich kein lutherischer Theologe so weit gegangen war. 680 Dennoch war mit dieser Kontroverse die Diskussion eröffnet worden über die theologische Wertbestimmung bei der Beurteilung eines sozialistischen Staates und im weitesten Sinne der politischen Form des Staatswesens überhaupt. Die EKU veröffentlichte 1959 die Handreichung "Das Evangelium und das christliche Leben in der DDR"681 und die VELKD verabschiedete am 3. November 1960 die HandreiSiehe: KJdEKD, 1958, S. 105 ff. und S. 142 ff. In Auszügen dokumentiert in: Henkys 1982a, S. 31 . 677 Vgl. Luchterhandt 1982, S. 14. 678 In dem Kommunique erklärten die Kirchenvertreter auch ihren Vorwurf des Verfassungsbruches (z.B. durch den sogenannten "Lange-Erlaß" im Bereich des Erziehungswesens) flir nichtig. Luchterhandt sieht die Konsequenz dieser Feststellung in der Anerkennung der Souveränität der SED über die Verfassung. Vgl. Luchterhandt 1982, S. 14. 679 Vgl. dazu: Dähn 1982, S. 88 ff. 680 V gl. Jasper 1983, S. 34. 681 Vgl. KJdEKD 1959, S. 279 f. 675
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chung "Der Christ in der Deutschen Demokratischen Republik" 682 • Seide Schriften teilten den Grundkonsens, daß die DDR-Regierung im biblischen Sinne Obrigkeit ist. Daraus wurde eine "dialektische Einstellung zum Staat" abgeleitet: Ein Nein gegenüber dem atheistischen Charakter der DDR, aber ein Ja zur partiellen Mitarbeit in bestimmten Bereichen, also keine grundsätzliche Ablehnung der sozialistischen Wirtschafts- und Gesellschaftskonzeption.683 Im Raum der Evangelischen Kirche hatte also ein Nachdenken über eine Positionsbeschreibung der Kirche zum sozialistischen Staat eingesetzt, das nicht mehr primär und prinzipiell von einer antikommunistischen Abwehrhaltung geprägt war. Die staatliche Kirchenpolitik setzte jedoch weiter auf eine Herauslösung der DDR-Kirchen aus der EKD und auf die Integration in die DDR-Gesellschaft. Besonders deutlich wurde diese Grundhaltung in einer "Programmatischen Erklärung des Vorsitzenden des Staatsrates der DDR", Walter Ulbricht, am 4. Oktober 1960 vor der Volkskammer. In ihr hieß es unter anderem: "Gestatten Sie mir, verehrte Abgeordnete, nunmehr einige Bemerkungen über unser Verhältnis zu den Religionsgemeinschaften. [... ] Wir können nicht daran vorbeigehen, daß sich infolge der Verwandlung Westdeutschlands in die Hauptaufmarschbasis der aggressiven NATO, infolge der vertraglich festgelegten Verfilzung kirchlicher Stellen mit Militarismus und NATO-Politik und infolge der Propaganda führender westdeutscher Kirchenleute ftir die Atomkriegspolitik des Bonner Staates die früher einmal möglich gewesene Zusammenarbeit zwischen der Regierung der DDR und einer westdeutschen sogenannten gesamtdeutschen Kirchenleitung unmöglich gemacht worden ist. Mit unserer Einstellung zur Kirche hat das jedoch nichts zu tun. [... ] Im Verlaufe dieses Jahres haben an vielen Orten Pfarrer und Gemeindekirchenräte, Theologen und andere kirchliche Amtsträger aus christlicher Verantwortung heraus dazu beigetragen, christlichen Bauern die Entscheidung ftir den guten Weg in die sozialistische Zukunft zu erleichtern. (... )Wir sehen darin ein Zeichen des in der evangelischen Kirche der DDR wachsenden Verständnisses fllr die Ziele und Aufgaben unserer sozialistischen Gesellschaft. Das Christentum und die humanistischen Ziele des Sozialismus sind keine Gegensätze. Nur ist das Christentum, einst als Religion der Armen und des Friedens begründet, seit Jahrhunderten von den herrschenden Klassen mißbraucht worden. Heute wird es in Westdeutschland von den Kräften des Militarismus, diesmal ftir die menschenfeindliche Atomrüstungspolitik, mißbraucht. Die alte Sehnsucht der christlich gesinnten Bevölkerung, die sich in der Botschaft: "Friede auf Erden und den Menschen ein Wohlgefallen" äußert, kann ihre Erfllllung nur durch die Verwirklichung der hohen Ideen des Humanismus und Sozialismus finden. "684
Vgl. KJdEKD 1969, S. 360 f. V gl. dazu die Darstellung bei Dähn 1982, S. 89-91. 684 Dokumentiert in Auszügen in: Koch 1963, S. 307-309. Zur Haltung der Kirchen zur Kollektivierung der Landwirtschaft 1959/1960 siehe: Friebel 1992, S. 509 ff. KJdEKD 1960, S. 109 f. und 173 ff. 682
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Ulbricht wiederholte also die gängige Argumentation, nach der die EKD durch den Militärseelsorgevertrag zur "NATO-Kirche" geworden sei. Die EKD erkannte er nicht mehr als Verhandlungspartner an, sondern er unterschied zwischen der Evangelischen Kirche in Westdeutschland und der Evangelischen Kirche in der DDR. Gleichzeitig mit der Agitation gegen die Einheit der EKD setzte er aber das Werben um die evangelischen Christen in der DDR fiir die sozialistische Gesellschaft fort, indem er auf die Affinität von Christentum und Sozialismus abhob. Mit der programmatischen Erklärung wurde der mögliche Handlungsrahmen der Evangelischen Kirche in der DDR abgesteckt, aber auch die Möglichkeit einer "ideologischen Koexistenz" aufgezeigt. Diese Koexistenz zielte jedoch darauf, daß sich die evangelische Sozialethik auf die Ziele des Sozialismus, wie er in der DDR von der SED offiziell verstanden und vorgegeben wurde, festlegte.
3. Die Diskussion um eine neue kirchliche Standortbestimmung Die programmatische Erklärung von Ulbricht mit ihrer Kernthese der Vereinbarkeit und der Identität der Ziele von Christentum und Sozialismus gab Anlaß zur innerkirchlichen Diskussion. Aber sie wurde auch Grundlage der Auseinandersetzung zwischen Kirchen- und Staatsvertretern. Der Hauptpunkt der Erörterung drehte sich um die Frage, inwieweit die Kirche die "humanistischen Ziele des Sozialismus" mittragen könne. Der Leipziger Universitätstheologe Emil Fuchs, der in der Tradition des christlichen Sozialismus stand685 , kam zu der Auffassung, daß bei allen weltanschaulichen Unterschieden dennoch eine enge Kooperation zwischen Staat und Kirche und eine Unterstützung des sozialistischen Weges dringend geboten sei, da in den grundlegenden Zielsetzungen keine Gegensätze bestünden.686 Die Mehrheit der kirchlichen Vertreter folgten diesem weitgehenden Standpunkt von Fuchs nicht. Ihm wurde entgegengehalten, daß der marxistische Humanismus aufgrund seines atheistischen Charakters in einem unüberwindbaren Widerspruch zum christlichen Humanismus stehe, was aber der praktischen Zusammenarbeit nicht im Wege stünde. Selbst Bischof Mitzenheim betonte im Gegensatz zu Fuchs: "Die Kirche ist nicht an eine bestimmte Wirtschafts- und Gesellschaftsordnung gebunden, weder an die feudalistische noch an die kapitalistische noch an die sozialistische. "687
685 Vgl. Dähn 1982, S. 222, Fn. 33 (Kapitellll). Siehe auch zum christlichen Sozialismus in der SBZ/DDR: Nowak 1990, S. 52 ff. 686 Vgl. KJdEKD 1961, S. !II ff. 687 Zitiert nach: Dähn 19fS2, S. 76.
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E. Kirchliche Deutschlandpolitik in den 50er Jahren
In der Diskussion wurde also von kirchlicher Seite die Möglichkeit einer Kooperation mit der sich sozialistisch verstehenden DDR nicht ausgeschlossen, doch wurde als Voraussetzung auf die Toleranz gegenüber der Religionsausübung unter Berufung auf das Kommunique von 1958, in dem die volle Glaubens- und Gewissensfreiheit bestätigt worden war, hingewiesen. 688 Die sich sehr weit auf die staatliche Politik einlassende Position von Mitzenheim wurde von vielen Kirchenvertretern allerdings nicht geteilt. 689 Dies lag vor allem an der Diskrepanz zwischen offiziellen Erklärungen staatlicher Vertreter, die eine zielorientierte Übereinstimmung von Kirche und Staat postulierten, und der praktischen staatlichen Kirchenpolitik, die den Christen das Leben in der DDR zum Teil sehr erschwerte.690 Neben zahlreichen Benachteiligungen versuchte die DDR-Regierung auch durch andere Mittel Druck auf die DDR-Kirchen auszuüben, indem "staatsloyale Bündnisorganisationen "691 , wie der "Bund evangelischer Pfarrer in der DDR"692 , der sich 1974 überraschend auflöste, oder wie die "Christliche Friedenskonferenz" (CFK), gegründet wurden und die neben der Ost-CDU als offizielle Sprecher der Evangelischen Kirche herausgestellt wurden.693 Hatte die Evangelisch-Lutherische Kirche in ihrer Handreichung von 1960 schon nach ihrer Auffassung darauf hingewiesen, daß der Christ "die Tatsache, in einem atheistisch-materialistischen Weltanschauungsstaat zu leben, nur hinnehmen und erleiden"694 kann, so reagierte die Konferenz der Kirchenleitungen auf diese innenpolitisch gespannte Situation, zusätzlich verschärft durch den Mauerbau, im März 1963 mit der Wegweisung "Zehn Artikel über Freiheit und Dienst der Kirche". 695 In den zehn Artikeln, die schon formal einen Bezug zur Barmer Erklärung herstellten durch die jeweilige Gegenüberstellung von christlicher Lehre und Irrlehre, wurde versucht, den Christen eine Orientierungshilfe zu geben, indem eine strikte Abgrenzung von der marxistisch-leninistischen Gesellschaftslehre vorgenommen und der Versuch der staatlichen Vereinnah-
Vgl. zur oben skizzierten Diskussion: Dähn 1982, S. 75-77. Zur umstrittenen Rolle des thüringischen Landesbischofs Mitzenheim vgl.: Henkys 1982a, S. 32 f.; Luchterhandt 1982, S. 17. Raguse. Werner: Moritz Mitzenheim (Zum Tod von ... ); in: Deutschland Archiv, 9/1977, S. 898-899. KJdEKD 1962, S. l54ff. 690 Hauptkonfliktfelder blieben die Jugend- und Bildungspolitik. Vgl. dazu: Dähn 1982, S. 77 ff. 691 Büseher 1982, S. 164. 692 Siehe: Bericht über die Gründung des "Bundes evangelischer Pfarrer in der DDR" in der Neuen Zeit; in: KJdEKD, 1958, S. 172-173. 693 Vgl. dazu: Henkys 1982a, S. 32. 694 KJdEKD, 1960, S. 247. 695 Dokumentiert in: KJdEKD, 1963, S. 181-185. Siehe vor allem auch: Friebel 1992, S. 276 ff. 688 689
V. Kirche und gesellschaftliche Entwicklung
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mung der Kirche und des Christentums zurückgewiesen wurde: "Wir verfallen dem Unglauben, wenn wir meinen, daß wir uns aus dem Worte Gottes Geltung und Ansehen verschaffen müßten, indem wir es zum Mithelfer und Sestätiger irdischer Ziele machen oder der verfiihrerischen Meinung nachgeben, daß bestimmte Gesellschaftsordnungen aus sich heraus den Glaubensgehorsam ermöglichten, ja, das in sich verwirklichten, was dem Glaubensgehorsam gemäß ist. ..o96 Insgesamt kam in dieser Wegweisung eine pessimistische und stark distanzierende Grundhaltung zum Ausdruck. Gegen diese Tendenz wandte sich Karl Barth in einem theologischen Gutachten, in dem er zu mehr Gelassenheit gegenüber dem DDR-System und zu mehr Gottvertrauen aufrief. 697 Damit knüpfte Barth an frühere Schriften698, die nicht unumstritten waren, an, da er sich gegen die Gleichsetzung von Nationalsozialismus und Kommunismus wandte und den Sozialismus als ernstzunehmende Anfrage an die Kirche begriff(hier in der Tradition des Dannstädter Wortes).699 Barths Argumentation 700 hatte maßgeblichen Einfluß auf die Diskussion im Weißenseer Arbeitskreis, der Ende der 50er Jahre unter Beteiligung des späteren Bischofs Berlin-Brandenburgs (Ost), Albrecht Schönherr, gegründet wurde und auf Neuorientierung in der Kirche drängte. 701 Der Arbeitskreis veröffentlichte als Kritik und Gegenposition zu der Wegweisung der Konferenz der Kirchenleitungen 1963 seine sieben Theologischen Sätze "Von der Freiheit der Kirche zum Dienen" 702 , in denen besonders die Möglichkeit christlicher Kooperation in der sozialistischen Gesellschaft behandelt und hervorgehoben wurde. 703
KJdEKD, 1963, S. 181. Vgl. Luchterhandt 1982, S. 19. Barth, Kar/: Gutachten zu den "Zehn Artikeln über Freiheit und Dienst der Kirche" [Dokumentation]; in: LM, 1963, S. 518-520. Zilleßen 1970. KJdEKD 1963, S. 180 tf. 696
697
698 "Die Kirche zwischen Ost und West", München 1949 und "Brief an einen Pfarrer in der DDR", Zollikon 1958. 699 Vgl. zu dem eben gesagten: Luchterhandt 1982, S. 19 f. 700 Luchterhandt charakterisiert Barths Standpunkte anhand des "Briefes an einen Pfarrer in der DDR" sinngemäß wie folgt: I. Die Kirche darf sich nicht in einen ideologischen Antikommunismus einreihen. 2. Die Kirche in der DDR hat die Chance, sich von der Tradition der Volkskirche zu lösen und sich allein auf das Wort Gottes zu stützen. 3. Der DDR-Säkularismus unterstreicht die Trennung von Kirche und Staat und hilft damit der Standortfindung. 4. Barth fordert eine kritische Loyalität der Kirche, die sich in Form einer loyalen Opposition äußern kann. (Vgl. Luchterhandt 1982, S. 20.) 701 Vgl. KJdEKD 1961, S. 316 f. KJdEKD 1963, S. 194 f. Asmussen, Hans: Die Weißenseer Thesen; in: LM, 1964, S. 312-318. 702 KJdEKD, 1964, S. 194-198. Siehe dazu vor allem: Friebell992, S. 295 tf. 703 Vgl. dazu: Dähn 1982, S. 91 f.; Luchterhandt 1982, S. 22.
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E. Kirchliche Deutschlandpolitik in den 50er Jahren
Die Diskussion um einen neuen kirchlichen Standort machte die Orientierungslosigkeit in dieser Phase kirchlicher Politik deutlich. Allerdings wurde auch tendenziell eine neue Grundhaltung der evangelischen DDR-Kirchen gegenüber dem sozialistischen Staat deutlich. Zwar wurde einer Vereinnahmung durch die sozialistische Weltanschauung und einer Privatisierung des kirchlichen Glaubens heftig widersprochen, doch zeigte sich auch eine "behutsame Öffuung zur sozialistischen Gesellschaftsordnung" 704 , indem auch konstruktive Möglichkeiten kirchlichen Handeins und christlicher Mitarbeit in der DDR thematisiert wurden.
VI. Der Mauerbau Der Bau der Mauer in Berlin am 13. August 1961 überraschte auch die Evangelische Kirche in Deutschland trotz der schon erkennbaren Krisensituation der Jahre 1960/61. Die Spaltung Deutschlands war nicht nur in einem Bauwerk manifest geworden, sondern auch die Chancen einer Wiedervereinigung des deutschen Volkes waren- wenn sie je in den fünfziger Jahren bestanden - für lange Zeit verspielt. Berlin, das immer noch in den Zeiten des Kalten Krieges als Brücke zwischen Ost und West diente, konnte nun auch nicht mehr für die Kirche die Funktion einer Begegnungsstätte für die Gemeinschaft der evangelischen Christenheit in Deutschland erfüllen, wie es in der Vergangenheit für EKD-Synoden oder Kirchentage noch möglich war. Auch die gesamtdeutschen organisatorischen Strukturen der EKD, aber auch der EKU und VELKD waren bedroht. Dies wurde besonders deutlich an der bald nach dem Mauerbau erfolgten Aussperrung des Vorsitzenden des Rates der EKD Scharf705 aus dem Gebiet der DDR und Ost-Berlins. Diese Maßnahme - der katholische Bischof von Berlin wurde anders behandelt - zielte eindeutig auf die gesamtdeutsche EKD und die Gemeinschaft der evangelischen Christenheit in Ost und West. Dem Ratsvorsitzenden wurde am 31. August die Rückreise nach Ost-Berlin am Kontrollpunkt dauerhaft mit der Begründung verwehrt, er sei als Vorsitzender des Rates der EKD Leiter einer "friedensfeindlichen und illegalen . . "706 0 rgan•sat1on . Röder 1982, S. 68. Siehe zur Bedeutung der Person Scharfs: Wilkens 1970, S. 294 f. 706 Kommunique des Rates der EKD zur Aussperrung des Ratsvorsitzenden; in: KJdEKD, 1961, S. 6-7, hier S. 6. Siehe auch zu diesem Vorgang: Schreiben der Kirchenleitung von Berlin-Erandenburg an den Ostberliner Oberbürgermeister und an den Staatssekretär filr Kirchenfragen; in: ebenda, S. 7. Schreiben der Konferenz der evangelischen Bischöfe in der DDR an den Vorsitzenden des Ministerrates; in: ebenda, S. 8. Antwort der Regi!!rung der DDR; in: ebenda, S. 9. Schreiben der Konferenz der evangelischen Bischöfe in der DDR an den Vorsitzenden des Staatsrates; in: ebenda, S. 9. 704
705
VI. Der Mauerbau
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Unmittelbar nach der Schließung der Grenzen veröffentlichten der Ratsvorsitzende Scharf und der Bischof von Berlin-Brandenburg Dibelius ein Wort an die Gemeinden in Ost und West. Ohne Schuldzuweisungen vorzunehmen, wurden darin die Christen in Ost und West aufgerufen, sich nicht in Haß und Bitterkeit zu verlieren, sondern Hoffnung zu bewahren. "Im Namen Jesu Christi soll verbunden bleiben, was er zusammengefugt hat. Wir bleiben Brüder, auch wenn man es uns schwer macht, beieinander zu sein. Laßt uns reicher werden an Liebe und erfinderisch an Mitteln und Wegen, einander diese Liebe zu zeigen." 707 Schon wenige Tage nach dem Bau der Mauer richteten der Ratsvorsitzende Scharf, der Vorsitzende der Kirchlichen Ostkonferenz Krummacher, der Berliner Generalsuperintendent Führ und der Präses der Synode von Berlin-Brandenburg Figur ein Telegramm an den Staatsratsvorsitzenden Ulbricht sowie den Ost-Berliner Oberbürgermeister Ebert, in dem unter Verzicht auf irgend eine politische Wertung darum gebeten wurde, "sofort durch großzügige Gewährung von Passierscheinen [... ] den elementaren menschlichen Bedürfnissen und Rechten der Angehörigen ein und desselben Volkes zu entsprechen und überhaupt die Abschnürung der einen Hälfte Deutschlands von der anderen zu beseitigen."708 Dieses Telegramm zog eine scharfe und aus Sicht der SED notwendige Belehrung von Scharf und Krummacher durch DDR-Behörden nach sich. 709 Der Rat der EKD rief in seiner ersten Sitzung nach der Grenzziehung, an der die in der DDR wohnenden Mitglieder nicht teilnehmen konnten, die Gemeinden zu einem Gebet fiir den Frieden auf. Der Tenor des Gebetsaufrufes vom 15. September 1961 ist die Sorge um den Weltfrieden und die Bitte um Wiederherstellung friedlicher Zustände in allen Teilen der Welt. Erst gegen Ende des Aufrufes wird unter Verweis auf die Verbundenheit der Gemeinden in Ost- und Westdeutschland formuliert: "Soweit unserem Volke dabei um des Friedens willen besondere Lasten auferlegt werden müssen, wollen wir um die Kraft bitten, diese aus Gottes Hand anzunehmen und in ihnen die Nachwirkung der bösen Taten zu erkennen, mit denen der
Antwort der Kanzlei des Staatsrates; in: ebenda, S. 10. Beschluß der schlesischen Provinzialsynode; in: ebenda, S. 10. Vertrauenserklärungfor Präses D. Scharfvon Prof D. Barth u. a.; in: ebenda, S. 10. Erklärung von Präses D. Wi/m zur Aussperrung von Präses D. Scharf; in: ebenda, S. II. Auch dem ehemaligen Bevollmächtigten der EKD bei der Regierung der DDR wurde die Einreise verweigert. Siehe: Abschiedswort von Propst D. Grüber an die Marienkirchengemeinde; in: ebenda, S. 11112. 707 Aufruf von Präses D. Scharf und Bischof D. Dr. Dibelius; in: KJdEKD, 1961, s. 3. 708 Brief von Präses D. Scharf, Bischof D. Krummacher, Generalsuperintendent D. Führ und Präses Figur an den Vorsitzenden des Staatsrates; in: KJdEKD, 1961, S. 3/4, hier S. 4. 709 Vgl. KJdEKD, 1961, S. 4. 12 Hanke
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E. Kirchliche Deutschlandpolitik in den 50er Jahren
Name unseres Volkes in den vergangeneo Jahrzehnten befleckt worden ist." 710 Auch in anderen Aufrufen von Kirchenleitungen in Ost und West stand die Sorge um den Weltfrieden im Vordergrund und das nationale Schicksal wurde als Bußruf an das gesamte deutsche Volk und die Evangelische Kirche verstanden: "Wir müssen prüfen, ob wir im Leben unserer Kirche und unseres Volkes 711 aufdem rechten Weg waren." Die innerdeutsche Lage nach dem Bau der Mauer wurde in kirchlichen Kreisen illusionslos gesehen. Die staatliche Einheit Deutschlands war auf lange Sicht verspielt. Statt dessen konzentrierte sich die Evangelische Kirche in Deutschland auf die Bewahrung der kirchlichen Einheit. So erklärte die Kreissynodaltagung einer Kreissynode im Gebiet der DDR stellvertretend fiir den deutschen Protestantismus in Ost und West: "Wir haben genug mit der staatlichen Einheit unseres Volkes verloren, wir wollen auf keinen Fall noch die Einheit unserer Evangelischen Kirche einbüßen." 712 Allerdings reifte in der EKD auch die Erkenntnis, daß neue organisatorische Strukturen gefunden werden mußten, um einerseits die Einheit zu bewahren und andererseits die Funktionsfähigkeit der ostdeutschen Landeskirchen zu erhalten. 713 Der von der SED gesteuerte, allerdings in der Evangelischen Kirche wenig einflußreiche "Bund evangelischer Pfarrer in der DDR"714 bezog jedoch kategorisch eine andere Position zur Einheit der EKD: "Bei der Gründung der Evangelischen Kirche in Deutschland war Deutschland wirtschaftlich und gesellschaftlich noch einheitlich strukturiert. Mit der Spaltung Deutschlands in zwei gegensätzlich strukturierte Staaten ist diese Voraussetzung ihrer Gründung entfallen."715 Der Bund schlug in seiner Erklärung vom 19. Oktober 1961 weiterhin vor, eine eigene, von der EKD unabhängige gesamtkirchliche Organisation auf dem Gebiet der DDR zu schaffen und die "unaufgebbare geistliche Einheit der evangelischen Kirchen in Deutschland" in einer deutschen Ökumene zu suchen, "die unter den gegebenen Umständen mehr fUr die friedliche Zusammenfiihrung der beiden deutschen Staaten und damit auch fiir die Erneuerung der Evangelischen Kirche in Deutschland zu tun vermöchte, als der Rumpf der EKD dafiir gegenwärtig zu leisten bereit und in der Lage ist." 716 Damit war die Linie klar angedeu710 Aufruf des Vorsitzenden des Rates der EKD an die Gemeinden; in: KJdEKD, 1961, S. 4-5, hier S. 5. 711 Aufruf der lutherischen Landeskirchen in Nordwestdeutschland; in: KJdEKD, 1961, S. 5. 712 Erklärung einer Kreissynodaltagung in der DDR; in: KJdEKD, 1961, S. 12 713 Siehe zu den ersten praktischen Regelungen filr das Gebiet der DDR: KJdEKD, 1962, s. 176 ff. 714 Vgl. S. 174. 715 Erklärung des Bundes Evangelischer Pfarrer in der DDR; in: KJdEKD, 1961, S. 13-14, hier S. 13. 716 KJdEKD, 1961, S. 14.
VI. Der Mauerbau
179
tet, die die SED und DDR-Führung mit der EKD und den ostdeutschen Landeskirchen zu gehen bereit waren. 717 Die Vorschläge des Bundes wurden vom thüringischen Landesbischof Mitzenheim zwar strikt zurückgewiesen 718, doch spielte er unter den ostdeutschen Kirchenfuhrern eine innerkirchlich stark kritisierte Rolle719 und sprach in Interviews vermehrt, ohne den gesamtdeutschen Zusammenhalt der EKD aufzugeben, von "unserer Kirche in der DDR" 720 • Im Jahre 1962 kam es zu einem schweren Konflikt innerhalb der Ökumene zwischen der EKD und Vertretern osteuropäischer evangelischer Kirchen. Ende September besuchten anläßlich eines evangelischen Pfarrertages "fortschrittlicher Geistlicher" in Ost-Berlin der polnische Bischof Wantula, der ungarische Bischof Vetö und der tschechoslowakische Bischof Katlovski in Begleitung des DDR-Staatssekretärs fur Kirchenfragen Seigewasser die Berliner Mauer und erklärten, daß die Mauer zwar nicht schön, aber notwendig sei und zudem auch die Grenzen ihrer Länder schützen wurde. 721 Der Evangelische Bischof von Berlin Dibelius reagierte umgehend und bezeichnete diesen Vorgang als "ökumenischen Skandal". 722 Dabei gab es schon Anfang der funfziger Jahre in der Ökumenischen Bewegung Tendenzen, die Westintegration der Bundesrepublik Deutschland zu betreiben und sich mit einer deutschen Zweistaatlichkelt als Sicherheitsbeitrag in einem vereinten Europa zu arrangieren. So veröffentlichte die "Ökumenische Kommission fur Europäische Zusammenarbeit" des ÖRK am 13./14. Januar 1951 einen Bericht unter dem Titel "Europäische Entscheidungsfragen", in dem die deutschen Kirchenführer suggestiv gefragt wurden: "Seid Ihr bereit, die Möglichkeit ins Auge zu fassen, daß die andauernde Teilung Deutschlands Euer Beitrag zum Frieden und zu einer vielleicht in irgendeiner Form möglichen Einheit Europas sein könnte? [ ... ] Ist der Vorschlag, ein vereinigtes und neutralisiertes Deutschland unter internationaler Kontrolle zu schaffen, eine wirklich praktisch durchfuhrbare Lösung? Seid Ihr Euch dessen bewußt, daß unter den gegenwärtigen Umständen ein geeinigtes und wirtschaftlich neutrales Deutschland die weitere Verteidigung Europas verhindem würde?"723 Diese Fragen, die zwar auf einem stark antikommunistischen HinterSiehe dazu: KJdEKD, 1961, S. 150 ff. Vgl. Interview von Bischof D. Mitzenheim; in: KJdEKD, 1961, S. 14. 71 9 Siehe: KJdEKD, 1961, S. 154 f. Auseinandersetzung um die Leitung der Kirchlichen Ostkonferenz; in: KJdEKD, 1962, S. 154 ff. 720 Vgl. Presseinterviews mit Bischof D. Mitzenheim betr. Neu-Delhi; in: KJdEKD, 1961 , S. 155-158. 721 Vgl. "Nicht schön, aber notwendig"- östliche Bischöfe an der Berliner Mauer; in: KJdEKD, 1962, S. 162/163. 722 Vgl. Stellungnahme von BischofDibelius: Es geht um die Ökumene; in: KJdEKD, 1962, S. 163-164. Siehe auch: Offener Brief an D. Dibelius von Bischof Wantula; in: ebenda, S. 165-167. Kommentar im 'Berliner Sonntagsblatt': Ein 'offener Brief aus Warschau; in: ebenda, S. 167-169. 723 Zitiert nach: Lotz 1992, S. 28. 717 718
12*
180
E. Kirchliche Deutschlandpolitik in den 50er Jahren
grund fußten, machten jedoch deutlich, daß die staatliche Einheit des deutschen Volkes keine unaufgebbare Forderung des ÖRK war. Vielmehr wurde angesichtsdes Ost-West-Konfliktes auch in der Ökumenischen Bewegung die Frage nach der Bewahrung der ökumenischen Einheit zwischen west- und osteuropäischen Kirchen wichtig724, so daß die Situation des deutschen Protestantismus nachrangig wurde. Auf die im großen und ganzen prowestliche Orientierung des ÖRK in den fiinfziger Jahren reagierten die tschechischen protestantischen Kirchen stellvertretend fiir Osteuropa in der zweiten Hälfte der Dekade mit der Gründung der Prager "Christlichen Friedenskonferenz" unter der Ägide des ökumenisch engagierten Professors J. L. Hromadka. In den Beratungen der Friedenskonferenz, die in Deutschland zwiespältig beurteilt wurde725 , stand die deutsche Frage von Anfang an im Mittelpunkt der Diskussionen726, wobei hier in Hinblick auf die atomare Rüstung im Rahmen des Ost-West-Gegensatzes eine atomwaffenfreie Zone in Mitteleuropa favorisiert wurde. 727 Nach dem Bau der Mauer in Berlin erklärte die CFK nüchtern: "Die Deutschen in Ost und West sollten jede Verständigung zwischen den Siegermächten von 1945 dankbar begrüßen, sich konstruktiv zu den Verhandlungen stellen, anstatt in der Verkennung der Realitäten gefiihrlichen Illusionen nachzuhängen und damit einer Beseitigung des internationalen Krisenherdes Deutschland im Wege zu stehen. Ein erster Schritt wäre, daß man durch die Art und Weise, wie man übereinander und miteinander redet, bestimmte Fakten, besonders das gegenwärtige Bestehenzweier deutscher Staaten, anerkennt." 728 Die Weltkirchenkonferenz in Neu-Delhi des Ökumenischen Rates der Kirchen im Jahre 1961, die nach dem Mauerbau tagte, konnte sich in ihren Diskussionen nicht auf eine einheitliche Position zur Berlinfrage einigen. Die Vertreter der osteuropäischen Kirchen wollten die Situation in Berlin nicht isoliert betrachten und zu keiner Verurteilung der Maßnahmen kommen. Vertreter der westlichen Kirchen teilSiehe: Boyens 1992, S. 29 tf. Siehe: Hartmann 1992b. Artikel "Christliche Friedenskonferenz"; in: Evangelisches Staatslexikon, Hermann Kunst/Roman Herzog/Wilhelm Sehneerneicher (Hg.), 2. Aufl., Stuttgart/Berlin 1975. Hudak, Adalbert: Die Prager Friedenskonferenz im Lichte der marxistischen Ideologie; in: LM, 1964, S. 167-173. Hudak, Adalbert: Prager Friedenskonferenz; in: LM, 1962, S. 397. Kortzjleisch, Siegfried von: Ohne Kritik am Realen Sozialismus. Widersprüche der Christlichen Friedenskonferenz [CFK-Versammlung in Prag]; in: LM, 1978, S. 453-455. Wilkens, Erwin: Der Friede der Welt als ökumenische Aufgabe. Aspekte und Probleme der Prager Friedenskonferenz; in: LM, 1964, S. 416-428. KJdEKD, 1960, S. 255 tf. 726 Siehe: Smolik 1990. 727 Vgl. KJdEKD, 1958, S. 9 tf. und S. 351 tf. Botschaft der Allchristlichen Friedensversammlung; in: KJdEKD, 1961, S. 345 tf. 728 Erklärung des beratenden Ausschusses der Prager Christlichen Friedenskonferenz; in: KJdEKD, 1962, S. 318-320, hier S. 319. Siehe auch: Schreiben der Prager Christlichen Friedenskonforenz vom 8. Mai 1963; in: KJdEKD, 1963, S. 64-66. Antwortschreiben des Rates der EKD vom 14. Oktober 1963; in: ebenda, S. 66/67. 724
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VII. Zusammenfassung
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ten zwar die gesamtpolitische Sichtweise, rangen sich aber dennoch zur der Position durch, "daß der Bau einer Mauer quer durch die Stadt, die Familien und Kirchen trennt und einfache Menschen zu Verzweifelungstaten treibt, etwas sei, was kein Christ billigen könne." 729 Von Wiedervereinigung Deutschlands oder dem Recht des deutschen Volkes auf Einheit war nicht die Rede. Die Frage nach der Sicherung des Friedens war in der Ökumenischen Bewegung zu dieser Zeit das beherrschende Thema. Die Teilung Deutschlands in zwei Staaten wurde dabei durchaus trotz aller menschlichen Nöte als notwendig zur Verhinderung eines Krieges angesehen. Ein Kurswechsel in der deutschen Frage, der zugleich ein Hinweis auf die generelle Überzeugung des ÖRK der vergangeneo Jahre war, deutete sich erst 1964 an, als der Exekutivausschuß des Ökumenischen Rates der Kirchen tagte. Das Mitglied in der Kommission der Kirchen ftir Internationale Angelegenheiten Nolde brachte hier das Berlinund Deutschlandproblem zur Sprache. Wenig später konkretisierte er in einem Sechs-Punkte-Plan auf einer Jahrestagung der amerikanischen Mitgliedskirchen des ÖRK im April 1964 die zu wünschende Haltung der Ökumene zu diesem Problemkomplex: "Der Mythos, daß Deutschland als bleibendes Ergebnis des 2. Weltkriegs getrennt bleiben muß, kann nicht aufrechterhalten werden. An seiner Stelle muß Deutschland die Möglichkeit zur Ausübung seines Selbstbestimmungsrechtes auf eine Weise gegeben werden, die gleichzeitig die Sicherheit seiner Nachbarn im Osten und Westen gewährleistet."730
VII. Zusammenfassung Die Evangelische Kirche in Deutschland nahm regen Anteil an den gesellschaftlichen Entwicklungen in beiden deutschen Staaten. Allerdings unterschied sich die Art ihres Engagement in Ost- und Westdeutschland nicht unerheblich. Durch die gesellschaftliche Entwicklung in der DDR wurde die Kirche zunehmend in eine Oppositionsrolle gedrängt. In der Bundesrepublik hingegen versuchte die Kirche produktiv am gesellschaftlichen und politischen Aufbau mitzuarbeiten. Die auch innerkirchlich stark kontroverse Wiederaufiilstungsdebatte zeigte jedoch in den Stellungnahmen und im konkreten Handeln deutlich eine starke Westorientierung der EKD. Die ostdeutschen Landeskirchen, die in der EKD im Rat, der Kirchenkonferenz und der Synode nur eine Minderheit darstellten, entwickelten hingegen erste Ansätze einer eigenen Positionsbestimmung. In der Gesamtschau wird man feststellen müssen, daß die EKD vor allem in der zweiten Hälfte der fiinfziger Jahre angesichts des sich vertiefenden 729 Vorlage des Ausschussesfor die Kommission der Kirchenfor 'Internationale Angelegenheiten' zu den internationalen Spannungen; in: KJdEKD, 1961, S. 372. 730 Sechs-Punkte-Plan von Dr. Nolde; in: KJdEKD, 1964, S. 357-358.
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E. Kirchliche Deutschlandpolitik in den 50er Jahren
Ost-West-Gegensatzes zu keiner eigenen kirchlichen Positionsbestimmung in deutschlandpolitischen Fragen mehr fähig war und ihr eigentlich mögliches kritisches Potential dadurch gegenüber der Politik der Bundesregierung nicht zur Geltung brachte. Dies ist vor allem auf das vorherrschende Konzept einer "christlichen Demokratie" bei der Mehrzahl der kirchlichen Funktionsträger in der EKD zurückzufiihren, das auf einem unzureichend ausgeprägten Demokratieverständnis fußte und die Obrigkeit der politischen Kritik entzog. Der mangelhafte politiktheoretische Ansatz des deutschen Protestantismus' der fiinfziger Jahre, der seinen deutlichen unproduktiven Ausdruck in der "Ohnmachtsformel" der EKD-Synode zur Wiederaufrüstung fand, ließ kirchliche Stellungnahmen in der Regel zu Allgemeinplätzen christlicher Wegweisungen werden. Der öffentliche Einfluß der Evangelischen Kirche erschöpfte sich in moralischen Appellen. Andererseits wirkten an den innenpolitischen Kontroversen in der Bundesrepublik Deutschland über die Deutschland- und Friedenspolitik profilierte Vertreter des deutschen Protestantismus öffentlichkeitswirksam mit und belegten anschaulich den innerkirchlichen Pluralismus in politischen Fragen. Der Einfluß christlicher Argumentationsmuster in der öffentlichen Diskussion um politische Ziele war nicht unerheblich. Die Sorge um die Wiederherstellung der staatlichen Einheit Deutschlands blieb fiir die Evangelische Kirche in zahlreichen Stellungnahmen und Kundgebungen beherrschend. Bei ihrem Eintreten fiir die deutsche Einheit argumentierte die Kirche nicht in Rechtskategorien, sondern in der Sorge um die Fürsorge fiir beide Teile des deutschen Volkes sowie um den Frieden. Hier hatte der Koreakrieg einen beachtlichen Eindruck hinsichtlich der Kriegsgefahr bei der Evangelischen Kirche gemacht. Die deutschlandpolitische Reaktion der EKD-Synode 1950 in Berlin-Weißensee mit ihrer Ablehnung einer Remilitarisierung Deutschlands ist dafiir bezeichnend. 731 Hier wurden auch noch mal in aller Deutlichkeit die Begriffe geprägt, nach denen sich die kirchliche Deutschlandpolitik - trotz aller Westorientierung- auch in den darauf folgenden Jahrzehnten richtete: Versöhnung, Verhandlungen und Ausgleich. Damit unterschied sich die kirchliche Position von der der Bundesregierungen unter Adenauer. Interessant ist auch, daß die Einheit der Nation nicht mehr wie in früheren Zeiten fiir den deutschen Protestantismus einen letzten Wert darstellte, sondern in Beziehung gesetzt wurde zu den in der Barmer Erklärung entwickelten Aufgaben des Staates, insbesondere fiir Recht und Frieden zu sorgen. Im deutschlandpolitischen Engagement der Kirche wurde darüber hinaus von Beginn an ein untrennbarer Zusammenhang zwischen Deutschlandpolitik und Friedenspolitik hergestellt. Allerdings konzentrierte sich die Evangelische Kirche Anfang der ftlnfziger Jahre bei ihren deutschlandpolitischen Forderungen vor allem auf die Siegermächte des II. Weltkrieges, denen die Verantwortung 731
Vgl. S. 116 ff.
VII. Zusammenfassung
183
für die Spaltung, aber auch für die Wiedervereinigung übertragen wurde. Der substantielle Beitrag der Kirche zu den Außenministerkonferenzen der Vier Mächte nahm jedoch ab und rekurrierte am Ausgang der Dekade nur noch auf den moralischen Appell, um der Nöte der Menschen willen die staatliche Einheit Deutschlands wiederherzustellen. Auch die Diskussionen um Wiederbewaffnung und Westintegration ließen die Evangelische Kirche zunehmend sprachloser hinsichtlich eigener deutschlandpolitischer Impulse werden. Und dies, obwohl es auch im kirchlichen Raum eine klare Analyse der negativen Wirkung einer Wiederbewaffnung und Blockeinbindung Deutschlands hinsichtlich der erstrebten Wiedervereinigung gab. Daß beispielsweise die EKD dennoch keine ausführliche Stellungnahme zu den Stalin-Noten veröffentlichte, ist bezeichnend. Es existierte innerhalb der EKD keine ernsthafte und abwägende Diskussion über eine Neutralisierung Deutschlands, die mindestens theoretisch eine politische Alternative hätte sein können. Die Auseinandersetzung mit dem Vorschlag einer atomwaffenfreien Zone in Mitteleuropa blieb in der EKD marginal. Alle kirchlichen Andeutungen über einen "Dritten Weg" Deutschlands zwischen Ost und West bleiben daher vage. Die EKD zog sich auf deutschlandpolitische Allgemeinplätze zurück. Die Unverbindlichkeit der EKD in ihrer kirchlichen Deutschlandpolitik zeigte sich auch darin, daß es keine offizielle Unterstützung des "Deutschen Manifestes" gab, obwohl die Kernforderungen mit denen der bisher von der Kirche geäußerten übereinstimmten. Statt dessen zog sich der Rat der EKD aus seiner politischen Verantwortung fiir die Einheit Deutschlands zurück und überließ konkrete Entscheidungen der politischen Sphäre. Interessanterweise ging die EKU am Ausgang der fiinfziger Jahre einen anderen Weg und versuchte nach wie vor ihrer deutschlandpolitischen Verantwortung gerecht zu werden. Doch die Vertreter der APU konnten wegen ihres geschwundenen Einflusses nach 1945 die EKD zu keiner Kurskorrektur mehr bewegen. Kennzeichnend fiir die innerkirchlichen Diskussionen über die anzustrebende Deutschlandpolitik war, daß es sich hier im Kern immer um eine Kontroverse über den politischen Auftrag der Kirche handelte. Das mangelhafte politiktheoretische beziehungsweise sozialethische Fundament kirchlicher Auseinandersetzungen über politische Fragen ließen das kirchliche "Wächteramt" unproduktiv werden, da es weder ein angemessenes Verständnis politischer Willensbildungs- und Entscheidungsprozesse hatte, noch innerkirchliche Konflikte im Sinne kritischer Anfragen an vorherrschende politische Überzeugungen konstruktiv managen konnte. Das "Wächteramt" der Kirche - konkretisiert aufgrund einer unzureichenden Demokratietheorie in autoritativen christlichen Weisungen zu grundlegenden politischen Orientierungen gegenüber der Gesellschaft und dem Staat- blockierte angesichts des innerkirchlichen Pluralismus' einen kritischen und offensiven Beitrag
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E. Kirchliche Deutschlandpolitik in den 50er Jahren
der Evangelischen Kirche zur Deutschlandpolitik. "Am Ende der fiinfziger Jahre war damit, ohne daß es den Beteiligten schon voll bewußt war, die Kraft der EKD erschöpft, einen von der Breite der Kirche getragenen eindeutigen Beitrag zur Lösung der nationalen Frage zu geben." 732 Generell muß jedoch auch festgehalten werden, daß es in der Evangelischen Kirche in den fiinfziger Jahren keine überzeugenden theologischen oder sozialethischen Klärungen der Begriffe Volk, Nation und Vaterland in kirchlichen Stellungnahmen oder Kundgebungen der Synode gab. Erste Ansätze einer derartigen Selbstverständigung erfolgten außerhalb der eigentlichen EKD wie beispielsweise auf dem Heidelberger Studententag von 1954. Die "Theologische Erklärung" der EKDSynode des Jahres 1956 kann von seiner inhaltlichen Substanz her als nicht überzeugend gelten, da hier unter anderem unreflektiert eine nationalprotestantische Tradition nachwirkte. Erschwerend fiir eine deutschlandpolitische Selbstbesinnung der Kirche war der Umstand, daß sie sich am Ausgang der fiinfziger Jahre zusätzlich stärker auf die kirchliche Einheit konzentrieren mußte. Für die Evangelische Kirche war die 1945 bis 1948 erreichte Einheit des deutschen Protestantismus ein hohes Gut, auch wenn sie unvollständig und zerbrechlich blieb. Sie galt als "Vorwegnahme der staatlichen Wiedervereinigung, als Unterpfand fiir eine gemeinsame deutsche Zukunft."733 Diese Grundhaltung filhrte dazu, daß die Kirche auch in den filnfziger Jahren zäh an dem Gedanken der Wiedervereinigung des deutschen Volkes festhielt, der nicht nur eine staatlich-politische, sondern aus kirchlichem Blickwinkel vor allem eine sittliche Dimension hatte. Das Festhalten an der Einheit der EKD als einem Wert an sich überstand auch den Bau der Mauer. Die Verbundenheit der deutschen evangelischen Christenheit in Ost und West -verstanden auch als Einheit des deutschen Volkes- erwies sich als starkes Band, auch wenn es innerkirchlich in der EKD nicht mehr gelang, in beiden deutschen Staaten eine offensive deutschlandpolitische Strategie zu entwickeln. Dennoch ist, wie besonders bei der Kirchentagsbewegung hervortrat, die gesamtdeutsche Klammerfunktion filr den Zusammenhalt der deutschen Nation nicht zu unterschätzen. In der Zeit des Kalten Krieges gab es einen innerkirchlichen Dialog über die deutsche Frage zwischen Beteiligten aus Ost- und Westdeutschland, der auf der politischen Ebene nicht mehr erreicht werden konnte und der den Willen des deutschen Volkes nach staatlicher Einheit gegenüber der nationalen wie internationalen Öffentlichkeit deutlich herausstellte. Die These, daß sich die "Kundgebungen der Organe der EKD in dem Jahrzehnt von 1950 bis 1960 zur Spaltung und Wiedervereinigung Deutschlands [... ] sich in ihrer politischen Substanz von den erklärten Zielen der westdeut732 733
Henkys 1987, S. 68. Henkys 1987, S. 60.
VII. Zusammenfassung
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sehen Regierung so gut wie nicht unterschieden" 734 haben, ist in dieser allgemeinen Form nicht zutreffend. Richtig ist, daß die zunehmende Unverbindlichkeit deutschlandpolitischer Beiträge der Evangelischen Kirche indirekt die Deutschlandpolitik der Bundesregierungen unter Adenauer unterstUtzt hat. Zutreffend ist aber auch, daß die Kirche dennoch eigene deutschlandpolitische Akzente gesetzt hat. So trat die Evangelische Kirche durch die Entsendung von Bevollmächtigten bei beiden deutschen Regierungen nicht fiir den Alleinvertretungsanspruch der Bundesregierung ein. Sie erkannte auch mehrheitlich nach der Diskussion um die Obrigkeitsdenkschrift von Dibelius die DDR als Obrigkeit im Sinne der Banner Erklärung an. 735 Die Gedanken der Verständigung und Versöhnung, die immer wieder in kirchlichen Stellungnahmen thematisiert wurden, bildeten einen Kontrapunkt zu der im Westen favorisierten Politik der Stärke gegenüber dem Ostblock. Andererseits blieb die offizielle Deutschlandpolitik der EKD einem eigentlich vorpolitischen Raum verhaftet, der gegenüber den politischen Entwicklungen im deutsch-deutschen Verhältnis keine eigenen konkreten deutschlandpolitischen Impulse zu geben vermochte. Dies wirkte sich besonders auf die ostdeutschen evangelischen Landeskirchen aus, denen ihre Positionsbestimmung in der "sozialistischen" Gesellschaft der DDR erheblich durch die durch das Schweigen der EKD beförderte Politik der westdeutschen Regierung erschwert wurde. Durch die Unterzeichnung des Militärseelsorgevertrages fiir den Bereich der Bundesrepublik Deutschland konnten die ostdeutschen Landeskirchen dem Vorwurf der "NATO-Kirche" der DDR-Filhrung angesichts des Ost-West-Konfliktes nur schwer etwas entgegensetzen. Gerade die Frage der Regelung der Militärseelsorge offenbarte die Widersprüchlichkeit der praktischen kirchlichen Deutschlandpolitik der EKD und die mangelhafte Berücksichtigung der politisch-gesellschaftlichen Situation in der DDR. In diesem Sinne ist der Auffassung von Erwin Wilkens zuzustimmen: "Sucht man die Befangenheit der EKD, ihrer amtlichen Äußerungen und ihres organisatorischen Selbstverständnisses fiir diesen Zeitraum auf einen kurzen Nenner zu bringen, so ist es die allzu unkritische und viel zu lange geübte Orientierung am Gedanken einer Wiedervereinigung Deutschlands, der ohnehin eine im wesentlichen westliche Färbung hatte." 736 Am Ausgang der fiinfziger Jahre herrschte auch in der Evangelischen Kirche in Deutschland eine pessimistische Stimmung hinsichtlich der Chancen auf eine Vereinigung der beiden deutschen Staaten vor. Dennoch kam der Mauerbau auch fiir die Kirche überraschend. Im Zeichen der Mauer in Berlin ging die EKD daran, ohne Vorbehalte sich fiir die Beseitigung der menschlichen Nöte in Deutschland einzusetzen. Deutschlandpolitisch wurde die innerdeutsche Lage
Wilkens 1970, S. 292. Vgl. Henkys 1987, S. 60. 736 Wilkens 1970, S. 293. 734
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illusionslos beurteilt. Das deutschlandpolitische Handeln der Evangelischen Kirche stellte sich sofort auf den in Deutschland geschaffenen Status quo ein. Es ging nicht mehr um die Verwirklichung des Anspruches auf Wiedervereinigung, sondern um die Lösung humanitärer Fragen im deutsch-deutschen Verhältnis. Die Evangelische Kirche hielt jedoch nicht nur an ihrer kirchlichen Einheit fest, sondern sah darin auch eine wesentliche Voraussetzung für den Zusammenhalt der deutschen Nation. Aber es deutete sich bereits an, daß nicht mehr die staatliche Einheit Deutschlands im Vordergrund stand, sondern sich kirchliche Deutschlandpolitik stärker als Friedenspolitik verstand, die in den Mittelpunkt ihrer Überlegungen die Schaffung friedlicher und humanitärer Zustände in Mitteleuropa angesichtsder Existenzzweier deutscher Staaten stellte. Der Mauerbau in Berlin zeigte darüber hinaus auch, wie wenig Rückhalt das Festhalten der EKD in den funfziger Jahren an der politisch-staatlichen Wiedervereinigung Deutschlands in der Ökumenischen Bewegung gehabt hatte.
F. Kirchliche Deutschlandpolitik vom Mauerbau bis zum Beginn der neuen Ostund Deutschlandpolitik Der Bau der Berliner Mauer stoppte den beträchtlichen Flüchtlingsstrom von Ost- nach Westdeutschland in den filnfziger Jahren und manifestierte den Willen der Sowjetunion, die DDR fest in ihr östliches Blocksystem zu integrieren. Der Gedanke an Wiedervereinigung der beiden deutschen Staaten war fiir lange Zeit unrealistisch geworden. In den Vordergrund der politischen Überlegungen traten die Friedenssicherung in Europa sowie ein geregeltes und humanitäres Verhältnis der beiden deutschen Staaten zueinander. Der Mauerbau fiihrte zur Beendigung aller gesamtkirchlichen Aktivitäten von EKD, EKU und VELKD. Zwar wurden die gesamtdeutschen kirchlichen Organisationen von der DDR nicht verboten, doch ihre Arbeit wurde durch behördliche Beschränkungen gelähmt. In der Darstellung und Analyse der kirchlichen Deutschlandpolitik der sechziger Jahre wird unter anderem danach gefragt: • Wie reagierte die EKD hinsichtlich ihrer eigenen organisatorischen Struktur auf die Spaltung Deutschlands in zwei Staaten mit nur schwer überwindbarer Grenze und wie wurde die Einheit des deutschen Protestantismus' gewahrt? • Auf welche Problemstellungen verlagerte sich das deutschlandpolitische Engagement der Evangelischen Kirche? • Welche Position bezog die Evangelische Kirche zur neuen Ost- und Deutschlandpolitik, die am Ausgang der sechziger Jahre konzipiert wurde, und welchen Beitrag leistete sie dazu im gesellschaftlichen Diskurs?
I. Stichworte zur deutschlandpolitischen Entwicklung Der Mauerbau hatte desillusionierend auf die bisherige Deutschlandpolitik der Bundesrepublik gewirkt und verdeutlicht, daß auch bei den Westmächten die Wiedervereinigungsfrage eine nachgeordnete Rolle spielte und sich wett-
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F. Kirchliche Deutschlandpolitik ab dem Mauerbau
politischen Themen unterordnen mußte. 737 Das Beharren auf alten Standpunkten mußte zudem angesichts entspannungspolitischer Erfolge nach der KubaKrise 1962 bei der militärischen Abrüstung zwischen den Supermächten als Fortsetzung des Kalten Krieges gewertet werden. 738 Nicht zuf