156 22 18MB
German Pages 588 Year 1999
André Steiner Die DDR-Wirtschaftsreform der sechziger Jahre
André Steiner
Die DDR-Wirtschaftsreform der sechziger Jahre Konflikt zwischen Effizienz- und Machtkalkül
Akademie Verlag
Die Deutsche Bibliothek - CIP-Einheitsaufnahme Steiner, André: Die DDR-Wirtschaftsreform der sechziger Jahre : Konflikt zwischen Effizienz- und Machtkalkül / André Steiner. - Berlin : Akad. Verl., 1999 Zugl.: Mannheim, Univ., Habil.-Schr., 1997 ISBN 3-05-003317-7
© 1999Akademie Verlag GmbH, Berlin Das eingesetzte Papier ist alterungsbeständig nach DIN/ISO 9706. Alle Rechte, insbesondere die der Übersetzung in andere Sprachen, vorbehalten. Kein Teil dieses Buches darf ohne schriftliche Genehmigung des Verlages in irgendeiner Form - durch Photokopie, Mikroverfilmung oder irgendein anderes Verfahren - reproduziert oder in eine von Maschinen, insbesondere von Datenverarbeitungsmaschinen, verwendbare Sprache übertragen oder übersetzt werden. Druck und Bindung: Druckhaus „Thomas Müntzer", Bad Langensalza Printed in the Federal Republic of Germany
Inhalt
Verzeichnis der Tabellen im Text
10
Abkürzungsverzeichnis
13
Einleitung
15
KAPITEL 1
Die Entwicklung und Implementation der Reform
26
1. Ausgangssituation
26
Wirtschaftliche Lenkung und Koordination vor der Reform Wirtschaftslage zu Beginn der sechziger Jahre
26 38
Erste Versuche zur Lösung der Wirtschaftskrise
44
2. Der Entschluß zur Reform
49
3. Ausarbeitung des Reformkonzeptes und sein Inhalt
60
Entstehung des Reformkonzeptes Inhalt der "Richtlinie" Politische und personelle Aspekte 4. Das "Neue Ökonomische System der Planung und Leitung der Volkswirtschaft" - die erste Phase der Reform von 1964 bis 1967 Reforminstitutionen und erste Reformschritte Implementationsprobleme
60 65 71
78 78 84
6
Inhalt
Auswirkungen der Reform bis 1965 Außenwirtschaftsprobleme mit der Sowjetunion und Perspektivplanerarbeitung Zuspitzung der Probleme in der zweiten Jahreshälfte 1965 Die "zweite Etappe des neuen ökonomischen Systems" Planungsprobleme und weitere Reformumsetzung 5. Das "Ökonomische System des Sozialismus" - die zweite Phase der Reform von 1967/68 bis 1970/71
93 103 113 118 125
135
Ausarbeitung und Inhalt des modifizierten Konzepts
136
Neue wirtschaftspolitische Ziele der SED-Spitze Realisierung des Konzeptes der "Grundsatzregelung"
144 154
6. Konfrontation der Betriebe mit dem Weltmarkt? Momente außenwirtschaftlicher Lenkung
162
7. Ausblick auf das Reformende
183
KAPITEL 2
Die Veränderungen des Preissystems
185
1. Das Preissystem am Anfang der sechziger Jahre
187
2. Die Grundmittelumbewertung
190
3. Die Grundsätze für die Industriepreisreform
198
4. Verlauf und Ergebnisse der Industriepreisreform 1964 bis 1967
206
Inhaltliche Fragen Ergebnisse der Preisreform
209 216
5. Weitergehende Überlegungen zur Preisgestaltung und Kompetenzverteilung bei der Preisfestlegung
225
6. Die Produktionsfondsabgabe
236
Inhalt
7. Der "eigentliche" Preismechanismus der Wirtschaftsreform
1
248
Dezentralisierung, Fondspreis, Industriepreisregelsystem
249
Konsequenzen und Effekte des Preismechanismus
256
8. Die Revision der Preisregelungen
264
KAPITEL 3
Betriebliche und individuelle Leistungsanreize sowie die Arbeitskräftelenkung
268
1. Die Grenzen allokations- und produktivitätsorientierter Lohnpolitik Anfang der sechziger Jahre
270
2. Leistungsanreize als ein Kernelement des Reformkonzeptes
282
3. Anreizstrukturen und Arbeitskräfteallokation im "Neuen Ökonomischen System"
289
Betriebliche Anreize
290
Prämienverwendung und leistungsabhängige Gehälter für das Führungspersonal
298
Betriebliche Voraussetzungen für produktivitätsorientierten Lohn
303
Lohnplanung und Einkommensentwicklung
306
Arbeitskräftelenkung in der NÖS-Periode
315
Produktionskomitees und Gewerkschaftskomitees
318
4. Leistungsanreiz und Arbeitskräftelenkung unter dem "Ökonomischen System des Sozialismus"
324
Lohnpolitischer Stillstand?
325
Prämienregelungen sowie Einkommens- und Gewinnentwicklung
331
Lenkung der Arbeitskräfte als Anhängsel der strukturbestimmenden Planung?
339
5. Leistungsanreize im Licht der wirtschaftspolitischen Wende
342
8
Inhalt
KAPITEL 4
Die Lenkung des Strukturwandels: Innovationsanreize und Investitionslenkung
346
1. Investitions- und Innovationstätigkeit in den beginnenden sechziger Jahren
347
Investitionsfinanzierung und -planung sowie deren Folgen
347
Planung, Finanzierung und Effekte der Innovationsbemühungen
355
2. Innovationen und Investitionen im Reformkonzept
366
3. Strukturwandel durch den Reformmechanismus?
372
Lenkung des technologischen Wandels
372
Preisgestaltung für neue Erzeugnisse Investitionslenkung Ergebnisse der Innovationsbemühungen und des Strukturwandels
379 386 399
4. Ein neues Konzept für die Lenkung des Strukturwandels: Von der "Richtlinie" zur "Grundsatzregelung" Die Instrumente zur Lenkung des Strukturwandels im Konzept der "zweiten Etappe des NÖS" "Eigenerwirtschaftung der Mittel für die erweiterte Reproduktion" und Lenkung der Investitionen Die Entwicklung der strukturbestimmenden Planung Der Gesamtmechanismus der "Grundsatzregelung" - Möglichkeiten und Risiken
404
407 411 425 436
5. "Überholen ohne einzuholen": Die forcierte Strukturpolitik im letzten Drittel der sechziger Jahre
442
Prognosetätigkeit Die Umsetzung der strukturbestimmenden Planung Kombinate und Großforschungszentren Lenkung der technischen Entwicklung "Eigenerwirtschaftung der Mittel" Investitionslenkung Innovations- und Struktureffekte
442 448 461 469 476 489 498
Inhalt
6. Wirtschaftskrise und Reformabbruch
9
503
Die Zuspitzung der wirtschaftlichen Situation im Jahr 1970
503
Wirtschaftspolitische Wende
520
Grenzen und Ergebnisse
551
Tabellenanhang
560
Quellen- und Literaturverzeichnis
578
Verzeichnis der Tabellen im Text
Tabelle 1.1: Jährliches Wachstum ausgewählter Kennziffern in Gegenüberstellung von Siebenjahrplan, Jahresplan und realer Entwicklung 1959 bis 1963 Tabelle 1.2: Richtungskoeffizienten für 1969/70
40 172
Tabelle 1.3: Exportrentabilität im Bereich der Industrieministerien insgesamt und denen der metallverarbeitenden Industrie 1967 bis 1973
180
Tabelle 1.4: Anteil des Exportes an der industriellen Warenproduktion im Bereich der Industrieministerien insgesamt und denen der metallverarbeitenden Industrie 1967 bis 1973
180
Tabelle 2.1: Veränderung der Bruttowerte des Anlagevermögens 1963 durch die Grundmittelumbewertung in der staatlichen Industrie
195
Tabelle 2.2: Verschleißquoten nach der Grundmittelumbewertung in der staatlichen Industrie 1963
196
Tabelle 2.3: Entwicklung der Abschreibungen 1963 durch die Grundmittelumbewertung in der zentralgeleiteten staatlichen Industrie
197
Tabelle 2.4: Für 1967 vorgesehene und im III.Quartal 1964 tatsächlich erzielte Gewinnquoten der Produktion in ausgewählten VVB
217
Tabelle 2.5: Index der Abgabepreise industrieller Erzeugnisse nach Erzeugnisgruppen für 1967, 1963 = 100
220
Tabelle 2.6: Rentabilität in der staatlichen Industrie nach Ministerien 1967
223
Tabelle 2.7: Anteil der Produktionsfondsabgabe am Bruttogewinn in der staatlichen Industrie nach Ministerien 1967
243
Tabelle 2.8: Rentabilität, Rate der Produktionsfondsabgabe und deren Anteil am Bruttogewinn in ausgewählten VVB 1967
243
Tabelle 2.9: Anteil der Produktionsfondsabgabe am Bruttogewinn, Anteil der aus Stützung gezahlten Produktionsfondsabgabe sowie jährlicher Zuwachs des Volumens der Produktionsfondsabgabe und des Produktiwermögens in der zentralgeleiteten staatlichen Industrie 1967 bis 1972
244
Tabellenverzeichnis
11
Tabelle 2.10: Aussonderungsrate und durchschnittliche Abschreibungsrate des Anlagevermögens in der staatlichen und genossenschaftlichen Industrie 1964 bis 1970
245
Tabelle 2.11: Jährliche Entwicklung der Anlagenproduktivität in ausgewählten Branchen 1966 bis 1973
247
Tabelle 2.12: Anteile an der Warenproduktion, für die die Leitungsebenen das Preisniveau der Erzeugnisgruppen und der Einzelpreise zu bestätigen hatten
249
Tabelle 3.1: Normerfüllung der Stücklöhner, Anteil der Stücklöhner mit einer Normerfüllung von über 2 0 0 % und Anteil der TAN an den gesamten Arbeitsnormen der Stücklöhner in der staatlichen und genossenschaftlichen Industrie 1958 bis 1962
273
Tabelle 3.2: Entwicklung der zur Verfügung stehenden Prämienmittel in der zentralgeleiteten Industrie 1963 bis 1967
296
Tabelle 3.3: Jährlicher Zuwachs des Betriebsergebnisses (Gewinn) und Anteil des Betriebsergebnisses an der abgesetzten industriellen Warenproduktion in der zentralgeleiteten staatlichen Industrie ohne Lebensmittelindustrie 1963 bis 1967
297
Tabelle 3.4: Durchschnittliche Stellenzahl j e zentralgeleitete VVB 1962 bis 1966
316
Tabelle 3.5: Anteile des Brutto- und Nettogewinns an der Warenproduktion und jährlicher Zuwachs des Brutto-, Nettogewinns und der Warenproduktion im Bereich der Industrieministerien 1966 bis 1972
335
Tabelle 3.6: Anteil der summierten Über- und Untererfüllung des Gewinnplans durch die Betriebe am effektiven Bruttogewinn im Bereich der Industrieministerien 1966 bis 1972
335
Tabelle 3.7: Jährliche Überstunden j e Produktionsarbeiter in der zentralgeleiteten staatlichen Industrie 1965 bis 1971
337
Tabelle 3.8: Lohn- und Prämienquote sowie Kostensatz der Warenproduktion im Bereich der Industrieministerien 1966 bis 1972
339
Tabelle 4.1: Veränderung des Plansolls sowie Planerfüllung bis zum Jahresende bei den Investitionen in der zentralgeleiteten Industrie 1959 bis 1962
352
Tabelle 4.2: Zuwachs der Nettoproduktion in Mark j e Tausend Mark Investitionen des Vorjahres in der Industrie 1958 bis 1963
355
Tabelle 4.3: Anteil des Fonds Technik und des Staatshaushaltes an der Finanzierung der Ausgaben für Wissenschaft und Technik im Bereich der Industrieministerien der metallverarbeitenden Industrie 1965 bis 1968
376
Tabelle 4.4: Intensität des Strukturwandels in der Industrie 1961 bis 1967
397
Tabelle 4.5: Zuwachs der Nettoproduktion in Mark j e Tausend Mark Investitionen des Vorjahres in der Industrie 1963 bis 1967
397
Tabelle 4.6: Struktureffekte auf die Entwicklung der Beschäftigtenproduktivität der DDR-Industrie 1961 bis 1973
404
Tabelle 4.7: Anteile der strukturbestimmenden Erzeugnisse an der Warenproduktion in ausgewählten Industrieministerien laut Plan 1968 und laut strukturpolitischer Konzeption .... 451
12
Tabellenverzeichnis
Tabelle 4.8: Anteile der volkswirtschaftlich strukturbestimmenden Erzeugnisse und Erzeugnisgruppen an der Warenproduktion, dem Export und den Mitteln für Wissenschaft und Technik im Bereich der Industrieministerien 1967, 1970 und 1975 laut strukturpolitischer Konzeption vom Juli 1968
452
Tabelle 4.9: Anteil der strukturbestimmenden Investitionen an den gesamten Investitionen im Bereich der Industrieministerien laut Plan 1969
458
Tabelle 4.10: Finanzierungsstruktur der Ausgaben für Wissenschaft und Technik und Anteil der strukturbestimmenden Aufgaben im Bereich der Industrieministerien 1969 bis 1972
473
Tabelle 4.11: Anteil der Gesamtausgaben für Wissenschaft und Technik an der Warenproduktion im Bereich der Industrieministerien 1967 bis 1972
475
Tabelle 4.12: Jährliches Wachstum des FuE-Personals, Anteil der Hoch- und Fachschulabsolventen am FuE-Personal und FuE-Personal j e 1000 Beschäftigte im Bereich der Industrieministerien 1965 bis 1973
475
Tabelle 4.13: Durchschnittliches Normativ der Nettogewinnabführung für 1969/70 im Bereich der Industrieministerien
479
Tabelle 4.14: Verwendung der Abschreibungen im Bereich der Industrieministerien 1969 und 1970
481
Tabelle 4.15: Anteil von Produktionsfondsabgabe und Nettogewinnabführung am Bruttogewinn im Bereich der Industrieministerien 1968 bis 1970
482
Tabelle 4.16: Einsatz des Restgewinns (nach Abführungen) im Bereich der Industrieministerien 1969 und 1970
482
Tabelle 4.17: Intensität des Strukturwandels in der Industrie 1967 bis 1973
495
Tabelle 4.18: Verschleißquote des Anlagevermögens in der staatlichen und genossenschaftlichen Industrie 1965 bis 1973
495
Tabelle 4.19: Arbeitskräftebilanz der Investitionen in zentralgeleiteter Industrie und Bauwesen 1967 bis 1973
496
Tabelle 4.20: Zuwachs der Nettoproduktion in Mark j e Tausend Mark Investitionen des Vorjahres in der Industrie 1967 bis 1973
496
Tabelle 4.21: Anzahl der neuen und ausgesonderten Erzeugnisse sowie Anteil der neuen Erzeugnisse an der Warenproduktion im Einführungsjahr im Bereich der Industrieministerien 1965 bis 1973
500
Tabelle 4.22: Vorleistungsquote der Bruttoproduktion der Industrie 1967 bis 1973
510
Tabelle 4.23: Jahresdurchschnittliche Entwicklung der Vertragsrückstände in der zentralgeleiteten Industrie in Tagesproduktionen 1968 bis 1973
513
Abkürzungsverzeichnis
ABI
Arbeiter-und-Bauern-Inspektion
AfP
Amt für Preise
AO
Anordnung
BA
Bundesarchiv, hier Abteilungen Berlin
DB
Durchführungsbestimmung
DDR
Deutsche Demokratische Republik
DIB
Deutsche Investitionsbank
DNB
Deutsche Notenbank
EDV
Elektronische Datenverarbeitung
FDGB
Freier Deutscher Gewerkschaftsbund
FuE
Forschung und Entwicklung
Gbl.
Gesetzblatt der DDR
GFZ
Großforschungszentrum
HA
Hauptabteilung
IHB
Industrie- und Handelsbank
KPdSU
Kommunistische Partei der Sowjetunion
MAI
Ministerium für Außenhandel und Innerdeutschen Handel
MAW
Ministerium für Außenwirtschaft
MdF
Ministerium der Finanzen
MfS
Ministerium für Staatssicherheit
MHV
Ministerium für Handel und Versorgung
MWT
Ministerium für Wissenschaft und Technik
NÖS
Neues Ökonomisches System der Planung und Leitung der Volkswirtschaft
ÖFI
Ökonomisches Forschungsinstitut der SPK
ÖSS
Ökonomisches System des Sozialismus
PMR
Präsidium des Ministerrates
RGW
Rat für gegenseitige Wirtschaftshilfe (Comecon)
14
SAPMO-BA
Abkürzungsverzeichnis Stiftung Archiv der Parteien und Massenorganisationen der D D R im Bundesarchiv
SBBI
Staatliches Büro für die Begutachtung von Investitionen
SED
Sozialistische Einheitspartei Deutschlands
SFT
Staatssekretariat für Forschung und Technik
SPK
Staatliche Plankommission
SZS
Staatliche Zentralverwaltung für Statistik
TAN
Technisch begründete Arbeitsnorm
VEB
Volkseigener Betrieb
VO
Verordnung
VVB
Vereinigung Volkseigener Betriebe
VWR
Volkswirtschaftsrat
WTK
Wissenschaftlich-technische Konzeption
ZIfSW
Zentralinstitut für sozialistische Wirtschaftsführung beim ZK der SED
ZK
Zentralkomitee der SED
Einleitung
"Kein freies Spiel der Kräfte!?" verlangte der DDR-Finanzminister im Dezember 1965 von SEDChef Walter Ulbricht 1 und gab damit beispielhaft der Sorge Ausdruck, die viele der DDR-Wirtschaftsverwalter bewegte, daß die begonnene Reform aus den Händen der Partei gleiten und das Wirtschaftssystem zu einer Marktwirtschaft geraten könnte. Tatsächlich hatte das keiner der Protagonisten der Reform jemals gewollt. Auch dies wird im folgenden nachgewiesen. Das Ziel dieser Untersuchung aber ist es, die als "Neues Ökonomisches System der Planung und Leitung der Volkswirtschaft" bzw. "Ökonomisches System des Sozialismus" bekannt gewordene Wirtschaftsreform in der DDR in den sechziger Jahren in ihren Grundzügen darzustellen und dabei der Frage nachzugehen, ob damit das "klassische" Wirtschaftssystem des Staatssozialismus effizienter gemacht und modernisiert werden konnte. 2 Die Etablierung dieses Systems in Ostdeutschland war ein Ergebnis der internationalen Nachkriegsentwicklung und der damit verbundenen deutschen Teilung. Seine "Schöpfer" lehnten sich dabei an das Modell der Sowjetunion an, was von dieser - entsprechend ihrer jeweiligen deutschlandpolitischen Intention - zurückhaltend unterstützt oder gefördert wurde. In der Konsequenz gehörte die DDR zu dem von der Sowjetunion dominierten Block und wies grundsätzlich - bei allen Differenzen im einzelnen - die für ihn typischen Systemmerkmale auf. Dieses System war bewußt als Gegenmodell zur westlichen, marktwirtschaftlich verfaßten Ökonomie geschaffen worden. Dafür waren vor allem die historischen Erfahrungen mit den wirtschaftlichen Turbulenzen der Zwischenkriegszeit, insbesondere die Weltwirtschaftskrise zu Beginn
1 Zwischenruf von Rumpf während des Schlußworts Ulbrichts in: Stenographische Niederschrift der 11 .Tagung des ZK der SED am 18.12.65, SAPMO-BA DY30 IV 2/1/338. Auf den inhaltlichen Zusammenhang des Disputs wird im vierten Kapitel ausfuhrlich eingegangen. 2
Ohne hier auf die besondere historische Entstehung und den Hintergrund des Terminus "Staatssozialismus" eingehen zu können, wird er in dieser Arbeit verwendet, weil er die fiir die Wirtschaft dieses Systems konstitutiven Ansprüche umfassender staatlicher Lenkung und der Verwirklichung sozialistischer Utopie zum Ausdruck bringt. Gleichwohl sind damit dieser Gesellschaftstyp und seine spezifische Ausformung in der DDR begrifflich nicht vollständig zu erfassen, auch wenn dieser Terminus technicus bereits vor dem Zusammenbruch des Systems gebräuchlich war. Siehe zur Begriffsbildung jüngst: K.H. Jarausch, Realer Sozialismus als Fürsorgediktatur. Zur begrifflichen Einordnung der DDR, in: Aus Politik und Zeitgeschichte B20/98, 8.Mai 1998, S. 33-46.
16
Einleitung
der dreißiger Jahre, sowie deren sozialen und politischen Folgen entscheidend. Die Sowjetunion erschien dazu als Alternative, da sie zur gleichen Zeit mit der Stalinschen Industrialisierungspolitik beeindruckende Wachstumsraten und die Beseitigung der Arbeitslosigkeit vorweisen konnte. Schließlich bezahlte sie, was Opfer und Verluste angeht, den höchsten Preis dafür, das Dritte Reich zu zerschlagen, was - zumindest in der Wahrnehmung der Kommunisten - ebenso als Beweis der Leistungsfähigkeit des sowjetischen Wirtschaftssystems galt. Die daraus resultierende und damals nicht nur in Ostdeutschland anzutreffende Faszination gegenüber der Planwirtschaft beruhte aber auch auf Nichtkenntnis oder Verdrängung der hohen menschlichen und anderen Kosten, die die Erfolge der sowjetischen Politik nachholender Industrialisierung möglich gemacht hatten. 1 Aus diesen Gründen "konstruierte" man ein System, das - anknüpfend an die Marxsche Analyse - die negativen Seiten kapitalistischer Ökonomie beseitigen sollte. Dazu war das private Eigentum an den Produktionsmitteln als Ursache der "Ausbeutung des Menschen durch den Menschen" zu beseitigen und die Wirtschaft ex ante zu lenken, um die vielfältigen Verluste und Kosten zu vermeiden, wenn sich die Ergebnisse der Produktion erst im nachhinein auf dem Markt bewähren mußten. Mit dieser Vision sollten vor allem Vollbeschäftigung und Krisenfreiheit und damit die Möglichkeit, die Bedürfhisse aller zu befriedigen, garantiert werden. Die steigenden Bedürfnisse ebenso wie der Alternativanspruch zum kapitalistischen System erforderten aber schließlich auch Wachstum und damit Innovationen. Unter der jedoch ebenfalls bestehenden Bedingung knapper Ressourcen verlangte das Umsetzen dieser Ziele gleichermaßen wirtschaftliche Effizienz. Mit der Planwirtschaft wollte man all diesen Ansprüchen gerecht werden. Mit ihr sollte die ex ante Koordination wirtschaftlicher Aktivitäten von der Mikro- auf die Makroebene übertragen werden, um damit externe Kosten zu intemalisieren und volkswirtschaftliche Ineffizienzen zu beseitigen, die aus dem Verfolgen einzelwirtschaftlich rationaler Ziele resultierten. Daraus ergab sich eine Hierarchie von Rationalitäten: Kriterien für die Rationalität des Gesamtsystem waren denen der Subsysteme vorgeordnet. Mit anderen Worten: Was für die Volkswirtschaft insgesamt als rational angesehen wurde, etwa Vollbeschäftigung, sollte es auch für die Betriebe sein. Man unterstellte, daß so makroökonomisch die optimale Allokation aller Ressourcen, einschließlich des Beschäftigungspotentials, und mikroökonomisch die beste Nutzung der gegebenen Ressourcenausstattung (X-Effizienz) gesichert werden könne. Damit wurde der Markt - als Instrument der ex post Koordinierung - als entbehrlich angesehen. Schließlich verwandelte sich infolge der starken Ideologisierung des Gesamtsystems die zentrale Planung immer mehr aus einem Mittel zum Ziel. Das absichtsvolle Schaffen einer solchen Gesellschaft erforderte ein Gremium, das über einen Gesamtplan verfugte. Diese Position nahm in Ostdeutschland die in der kommunistischen Tradition stehende Sozialistische Einheitspartei Deutschlands (SED) ein. Aus der Erfüllung der benannten Ansprüche leitete sie die Legitimität ihrer Herrschaft ab, die sie, einmal errungen, auch behalten wollte. Sie rechtfertigte dies damit, daß nur sie gestützt auf die als Wissenschaft deklarierte Ideologie des Marxismus-Leninismus über das
1
Vgl. zu dieser Faszination und den Gründen: F. Füret, Das Ende der Illusion. Der Kommunismus im 20. Jahrhundert, München 1996, S. 220ff„ 440ff„ 454.
Einleitung
17
Wissen verfüge, die zukünftige Entwicklung der Gesellschaft und darunter der Wirtschaft zu bestimmen. Damit könne auch nur sie das fortwährende Einlösen dieser Ansprüche sichern, womit diese faktisch zu einem Mittel wurden, um die Macht der SED zu erhalten. Dieses "konstruktivistische" Element des Wirtschaftssystem macht auch einen der wesentlichen Unterschiede zur Marktwirtschaft aus, die in einem längeren historischen Prozeß - ohne eine vorherige Systemvorstellung - durch das Wirken vieler Einzelakteure entstand. Es rechtfertigte neben den politisch formulierten Ansprüchen und Zielen nicht nur die ständigen politischen Eingriffe in die Wirtschaft, sondern auch das Verschwinden der Differenzierung zwischen dem Politischen und dem Wirtschaftlichen, wobei wirtschaftliche Rationalität politischen Erwägungen nachgeordnet wurde. U m den Gesamtplan eines solchen Wirtschaftssystems durchsetzen zu können, mußten die privaten, dezentralen Verfiigungs- und Aneignungsrechte beseitigt werden. Gerade deshalb blieb aber die mit dem ursprünglich emanzipatorischen Anspruch des Marxismus begründete Vergesellschaftung des Eigentums formal, real wurde es verstaatlicht. Damit ergab sich in diesem System ein mehrdimensionales Spannungsfeld zwischen der notwendigen wirtschaftlichen Dynamik und Effizienz und den Bedingungen der Herrschaft einer Partei, die mit einer Planwirtschaft die angeführten Ansprüche von Vollbeschäftigung, Krisenfreiheit, Egalität bei gesicherter Befriedigung der Grundbedürfnisse sowie Partizipation der Beschäftigten verwirklichen wollte. Alle diese Ziele hatten der Emanzipation der Individuen zu dienen, aber vor allem die SED-Herrschaft zu legitimieren. Dabei stellte die diese Grundelemente rechtfertigende Ideologie des Marxismus-Leninismus eine der Grundfesten dieser Gesellschaft dar. Eine weitere war die Anerkennung der Sowjetunion als Führungsmacht und die Wahrung des Blockzusammenhangs. Insbesondere aber hatte sich das System durch die deutsche Teilung und den eigenen Alternativanspruch immer an den Wirtschaftsleistungen der Bundesrepublik messen zu lassen. Sie bildete für die Bevölkerung wie auch die Parteispitze das Referenzsystem. In dem genannten Spannungsfeld blieb letztlich die wirtschaftliche Dynamik und Effizienz zurück und vor dem Hintergrund der westlichen Erfolge stand damit die Legitimität der SED-Macht in Frage. Um diese zu sichern und die Leistungsfähigkeit der eigenen Wirtschaft zu erhöhen, entschloß sie sich daher, das Wirtschaftssystem zu reformieren. Da die Grundfesten und Ansprüche des Systems und damit auch die Macht der SED nicht zur Disposition standen, blieb auch die Eigentumsordnung unberührt und reformiert werden sollte lediglich der Lenkungs- und Koordinationsmechanismus. Letztlich wollte man das zur liberalen Ökonomie alternative Wirtschaftssystem unter Erhaltung der Grundmauern "re-konstruieren". Das "konstruktivistische" Element erschien schließlich in diesen Reformen deutlicher als bei der Etablierung dieses Gesellschaftstyps. Bei der Untersuchung dieser Umgestaltung stellt sich daher die Frage, welche Elemente, Instrumente und Methoden unter Preisgabe welcher Prämissen im gegebenen Rahmen der angeführten Grundfesten und Ansprüche zu verändern waren, um letztlich - wenn es denn möglich war die Effizienz der Wirtschaft unter den Bedingungen der Herrschaft einer Partei zu gewährleisten. Und schließlich ist der Frage nachzugehen, welche Ergebnisse damit erreicht werden konnten. Die Analyse dieser Problematik erfolgt auf mehreren Ebenen. Im Mittelpunkt steht der Prozeß der Entstehung und Umsetzung der Wirtschaftsreform, in dem der Lenkungs- und Koordinationsmechanismus umgestaltet wurde. Dabei ist zu untersuchen, welche Institutionen welche Vorschläge
18
Einleitung
machten und wie sie realisiert wurden. Es geht also um Entwürfe und Diskussionen, um Entscheidungen und ihre Umsetzung. Das ist nicht von der allgemeinen Wirtschaftspolitik der SED zu trennen; deshalb ist auch auf sie einzugehen. Als dritte Betrachtungsebene müssen die real wirtschaftlichen Prozesse einbezogen werden, um die Ausgangsprobleme ebenso wie die Resultate und Effekte der Reform beurteilen zu können. Das Aufzeigen der einzelnen Vorschläge, Diskussionen und Beschlüsse kompliziert mitunter nicht nur die Darstellung, es mutet auch dem Leser manche Anstrengung zu. Jedoch war diese Vorgehensweise notwendig, um die Alternativen in diesem "Konstruktionsprozeß" und damit das entstehende Effizienzpotential aufzuzeigen. Der Untersuchungszeitraum reicht von den sechziger bis in die frühen siebziger Jahre. Ende der fünfziger, Anfang der sechziger Jahre war die DDR nach zwischenzeitlich relativ günstigen Wirtschaftsergebnissen in eine Wirtschaftskrise geraten, die den Auslöser für den Reformentschluß bildete. 1963 wurde nach längerer Diskussion und erster Erprobung ein Konzept für die Umgestaltung als "Neues Ökonomisches System der Planung und Leitung der Volkswirtschaft" (NÖS) verabschiedet, was ab dem Jahresbeginn 1964 in die Tat umgesetzt wurde. Die erste Reformphase dauerte bis 1967, wobei die Ende 1965 verkündete "zweite Etappe des NÖS" unter wirtschaftlichen Aspekten einiges präzisierte, anderes neu auf den Weg brachte, aber insgesamt das Konzept in der Realisierung noch nicht entscheidend änderte. Eine wesentliche Modifizierung wurde erst 1967/68 als "Ökonomisches System des Sozialismus" (ÖSS) beschlossen und realisiert, weshalb dieser Zeitraum hier als die zweite Reformphase betrachtet werden soll. Damit begann sich die Umgestaltung aber selbst zu blockieren, um 1970/71 zunächst schleichend, dann offiziell revidiert zu werden. Die vorliegende Analyse konzentriert sich auf die Industrie. Die Reform sollte zwar ebenso in anderen Wirtschaftsbereichen, wie der Landwirtschaft, dem Binnen- und dem Außenhandel, wirksam werden und teilweise geschah dies auch. Aber in keinem dieser Bereiche kam man dabei so weit wie in der Industrie. Sie wurde entsprechend ihrem überwältigenden Anteil am erwirtschafteten Gesamtprodukt auch als der zuerst zu reformierende Bereich betrachtet. In einem gesonderten Abschnitt werden zudem die direkt in der Industrie angesiedelten außenwirtschaftlichen Aktivitäten behandelt, da diesen eine nicht zu unterschätzende Bedeutung für die binnenwirtschaftliche Lenkung zukam. Aber auch innerhalb der Industrie wird auf die Reformaktivitäten im Bereich der territorial geleiteten Wirtschaftseinheiten nur am Rande eingegangen, da sich die diskutierten Prinzipien und Resultate nicht gravierend von denen in der direkt von zentralen Instanzen geführten Industrie unterschieden. Die Daten, die zur Beurteilung der realwirtschaftlichen Prozesse herangezogen werden, schließen aber die territorial geleitete Industrie in der Regel - soweit nicht anders vermerkt mit ein. Darüber hinaus ist hier auf eine weitere Beschränkung der vorliegenden Arbeit zu verweisen. Sie leistet keinen Beitrag zu einem systematischen Vergleich der Reform in der DDR mit denen anderer Ostblockländer, wie der CSSR oder Ungarn. Auch der Zusammenhang mit den diskutierten Reformen des RGW wird hier nicht erörtert. Dies muß späteren Untersuchungen vorbehalten bleiben. Bis heute ist der Forschungsstand zur Wirtschaftsreform der sechziger Jahre in der DDR davon geprägt, daß vor 1989 die Primärquellen kaum zugänglich waren. Die Reform und ihre Schritte, ihre Möglichkeiten und Grenzen konnten im wesentlichen nur anhand der in der DDR publizierten
Einleitung
19
Materialien - als Verordnungen erschienene Reformregelungen, wirtschaftspolitische und statistische Publikationen - analysiert werden. Die wenigen zeitgenössischen Darstellungen aus der D D R , die auf Hintergründe der Erarbeitung und Umsetzung der Reformentwürfe eingingen, dienten vornehmlich den Legitimationsbedürfnissen der SED-Führung und konnten bis zum Ende der D D R nur begrenzt anhand der archivalischen Überlieferungen überprüft werden. 1 Gleichwohl bilden die außerhalb der D D R entstandenen zeitgenössischen wirtschaftswissenschaftlichen Analysen der Wirtschaftsreform einen wesentlichen Ausgangspunkt für deren historische Untersuchung. Vor allem ist hier auf die Arbeiten von Gerd Leptin und Manfred Melzer s o w i e Gerd-Jan Krol zu verweisen. 2 Auch die Aufsätze von Michael Keren wirkten hier anregend. 3 Eine nach w i e vor informative Darstellung und Analyse einzelner Lenkungsinstrumente und Steuerungsbereiche im Detail bietet die Arbeit von Hannsjörg Buck. 4 Groß ist die Zahl der Studien, die die Wirtschaftsreform vor allem unter ordnungspolitischen Gesichtspunkten analysieren. 5 Über die auf den Gesamtprozeß der Reform eingehenden Arbeiten hinaus entstanden auch eine Reihe v o n zeitgenössischen Studien zu ausgewählten wirtschaftlichen Problembereichen. 6 Außerdem liegen aus dieser Zeit wirtschaftswissenschaftliche Vergleiche zu den Reformen der sechziger Jahre in verschiedenen osteuropäischen
1 Vgl. W. Berger/O. Reinhold, Zu den wissenschaftlichen Grundlagen des neuen ökonomischen Systems, Berlin (O) 1966; H. Beyer/H. Kanzig, Die Genesis des neuen ökonomischen Systems in der Zeit vom VI.Parteitag der SED bis zur Wirtschaftskonferenz, in: Wirtschaftswissenschaft 17, 1969, S. 1761-1784. 2 G.-J. Krol, Die Wirtschaftsreform in der DDR und ihre Ursachen. Erfahrungen mit der administrativen Steuerungskonzeption, Tübingen 1972; G. Leptin/M. Melzer, Economic Reform in East German Industry, Oxford 1978. Vgl. auch: I. Jeffries/M. Melzer (Hg.), The East German Economy, London u.a. 1987. 3
M. Keren, The New Economic System in the GDR. An Obituary, in: Soviet Studies 24, 1973, S. 554-587; ders., Concentration Amid Devolution in East Germany's Reforms, in: M. Bornstein (Hg ), Plan and Market. Economic Reform in Eastern Europe, New Haven u.a. 1973, S. 123-151; ders., The Rise and Fall of the New Economic System, in: L.H. Legters (Hg.), The German Democratic Republic. A Developed Socialist Society, Boulder 1978.
4
H. Buck, Technik der Wirtschaftslenkung in kommunistischen Staaten. Funktionsweise und Schwächen der Zentralplanwirtschaft sowjetischen Typs in der UdSSR, in Mitteldeutschland und in den osteuropäischen Ländern, Coburg 1969.
5
Genannt seien hier: B. Gleitze/K.C. Thalheim/H. Buck/W. Förster, Das ökonomische System der DDR nach dem Anfang der siebziger Jahre, Berlin (W) 1971; L. Bress/K.P. Hensel, Wirtschaftssysteme des Sozialismus im Experiment. Plan oder Markt, Frankfurt/M. 1972; H. Hamel, Sozialistische Marktwirtschaft in der DDR? - Hinwendung und Abkehr, in: H. Leipold (Hg.), Sozialistische Marktwirtschaften. Konzeptionen und Lenkungsprobleme, München 1975; H. Hamel/H. Leipold, Economic Reform in the GDR: Causes and Effects, in: Jeffries/Melzer, East German Economy, S. 280-304.
6
A. Rüger, Die Bedeutung "strukturbestimmender Aufgaben" für die Wirtschaftsplanung und -organisation der DDR (DIW-Sonderhefte Nr.85), Berlin (W) 1969; K.-H. Nattland, Der Außenhandel in der Wirtschaftsreform der DDR, Berlin (W) 1972; U. Wagner, Funktionswandel des Gewinns im Wirtschaftssystem der DDR, in: K.P. Hensel/K. Wessely/U. Wagner, Das Profitprinzip - seine ordnungspolitischen Alternativen in sozialistischen Wirtschaftssystemen, Stuttgart 1972, S. 52-83; G. Lauterbach, Zur Theorie der sozialistischen Wirtschaftsführung in der DDR, Köln 1973; D. Granick, Enterprise Guidance in Eastern Europe. A Comparison of Four Socialist Economies, Princeton 1975.
Einleitung
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Ländern vor.1 Zudem existieren politik- und sozialwissenschaftlich argumentierende Betrachtungen zum Gegenstand. 2 In den achtziger Jahren entstanden noch einmal eine ganze Reihe von Studien, die sich den Wirtschaftsreformen der sechziger Jahre vergleichend - nun mit einem gewissen historischen Abstand - näherten. 3 Die historischen Arbeiten unterlagen gleichermaßen den Beschränkungen, die sich aus dem fehlenden Zugang zu den Primärquellen ergaben. Die in den achtziger Jahren publizierten Gesamtdarstellungen zur DDR-Geschichte bieten eine auch heute noch anregende Verortung der Wirtschaftsreform in der gesamtgesellschaftlichen Entwicklung und im größeren historischen Zusammenhang. 4 Jedoch fehlen fast vollständig eigenständige diesem Gegenstand gewidmete wirtschaftshistorische Untersuchungen. Die Ursachen dafür lagen darin, daß in der DDR selbst die Untersuchung der Wirtschaftsreform nach deren Abbruch weitgehend tabuisiert worden war und die bundesdeutsche Wirtschaftsgeschichtsforschung bis zum Ende der DDR vor den selben Quellenproblemen wie die zeitgenössische DDR-Wirtschaftsforschung stand. Eine Ausnahme bildeten die Arbeiten von Jörg Roesler, der die offizielle Tabuisierung der Reformetappe in der DDR-Geschichte zu umgehen suchte und seine langjährigen Bemühungen 1990 in einer Monographie zusammenfaßte. Aber auch diese Untersuchung konnte die Forschungslücke nicht schließen, weil Roesler bis dahin ebenfalls nur ausgewählte und lückenhafte Archivalien für die erste Reformetappe bis 1965 zur Verfügung standen. 5 Seit dem Zusammenbruch der DDR hat die sie betrachtende Historiographie wegen der nun gegebenen breiten Quellenbasis einen enormen Aufschwung erlebt. Eine Vielzahl von Arbeiten ist inzwischen erschienen, die sich insbesondere mit der politischen Entwicklung der DDR befassen. Darunter fanden in dem hier behandelten Zusammenhang vor allem die Hintergründe des Machtwechsels von Ulbricht zu Honecker starke Beachtung. 6 Dietrich Staritz legte inzwischen eine auf
1
H.-H. Höhmann/K.C. Thalheim (Hg.): Wirtschaftsreformen in Osteuropa, Köln 1968; H.-H. Höhmann/ M. Kaser/K.C. Thalheim (Hg.), Die Wirtschaftsordnungen Osteuropas im Wandel. Ergebnisse und Probleme der Wirtschaftsreformen, Freiburg i.B. 1972.
2
R. Damus, Entscheidungsstrukturen und Funktionsprobleme in der DDR-Wirtschaft, Frankfurt/M. 1973; H.-G. Kiera, Partei und Staat im Planungssystem der DDR. Die Planung in der Ära Ulbricht, Düsseldorf 1975.
3
W. Brus, 1957 to 1965: In Search of Balanced Development, in: M. Käser (Hg.), Institutional Change within a Planned Economy (The Economic History of Eastern Europe 1919-1975, Bd. 3), Oxford 1986, S. 70-138; ders., 1965 to 1975: Normalization and Conflict, in: ebenda, S. 139-249; J. Adam, Economic Reforms in the Soviet Union and Eastern Europe since the 1960s, London 1989; P.M. Johnson, Redesigning the Communist Economy. The Politics of Economic Reform in Eastern Europe, Boulder 1989.
4
D. Staritz, Geschichte der DDR, Frankfurt/M. 1985; H. Weber, Geschichte der DDR, München 1985; C. Kleßmann, Zwei Staaten, eine Nation. Deutsche Geschichte 1955-1970, Göttingen 1988.
5
J. Roesler, Zwischen Plan und Markt. Die Wirtschaftsreform 1963-1970 in der DDR, Berlin 1991.
6
Vgl. u.a.: G. Naumann/E. Trümpier, Von Ulbricht zu Honecker. 1970 - ein Krisenjahr der DDR, Berlin 1990; P. Przybylski, Tatort Politbüro. Die Akte Honecker, Berlin 1991; ders., Tatort Politbüro. Band 2: Honecker, Mittag und Schalck-Golodkowski, Berlin 1992; M. Kaiser, Machtwechsel von Ulbricht zu Honecker. Funktionsmechanismen der SED-Diktatur in Konfliktsituationen 1962 bis 1972, Berlin 1997.
Einleitung
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Basis von archivalischen Materialien und neuen historischen Studien überarbeitete und erweiterte Neufassung seiner in den achtziger Jahren erstmals erschienenen Gesamtdarstellung zur DDRGeschichte vor. 1 Hervorzuheben sind einige sozial- und politikwissenschaftlich angelegte Studien zum Funktionieren der DDR-Wirtschaft, die auf der Basis von Interviews mit führenden Akteuren entstanden 2 , sowie Versuche einer umfassenderen sozialhistorischen Problematisierung der DDRGeschichte. 3 Inzwischen stehen auch neue wirtschafts- und sozialhistorische Untersuchungen zur Verfügung, die sich unmittelbar mit den sechziger Jahren befassen. 4 Reichlich Material für die Beurteilung der Konsequenzen der Wirtschaftsreform im Hinblick auf eines ihrer wesentlichen Ziele, nämlich den technologischen Wandel zu beschleunigen, bieten die von Johannes Bähr und Dietmar Petzina herausgegebenen ersten Erträge eines DFG-Schwerpunktprogramms zum Vergleich des Innovationsverhaltens in beiden deutschen Staaten. 5 Auf all diese Arbeiten greift auch die vorliegende Untersuchung zurück. In erster Linie stützt sie sich aber auf archivalische Quellen. Im Mittelpunkt standen dabei die in der Stiftung Archiv der Parteien und Massenorganisationen der DDR beim Bundesarchiv lagernden Bestände des Politbüros der SED, der Büros Ulbricht und Mittag sowie der wirtschaftspolitischen ZK-Abteilungen. Aus der staatlichen Überlieferung beim Bundesarchiv waren die Bestände des Ministerrats und seiner Gremien, der Staatlichen Plankommission und des Volkswirtschaftsrates sowie ausgewählte Akten aus dem Finanzministerium von besonderem Interesse. 6 Der Versuch, dem Verhalten der Wirtschaftseinheiten während der Reform direkt in einzelnen VVB-Archiven nachzugehen, erwies sich infolge des Zustands und der Strukturierung der Überlieferung als unproduktiv und wurde daher aufgegeben. Zudem ermöglichte es die Gegenüberstellung der verschiedenen Quellen zentraler Provenienz, einzelwirtschaftliches Verhalten realistisch zu rekonstruieren. Da die Aktivitäten des Ministeriums für Staatssicherheit für das Schicksal der Wirtschaftsreform nicht bestimmend waren, wurde dessen Überlieferung für diese Arbeit nicht berücksichtigt. Ebenso mußte darauf verzichtet werden, sowjetische Archivalien im Hinblick auf die Handlungsspielräume der SED-Führung in den sechziger Jahren zu befragen, da diese der Forschung nach wie vor nicht zugänglich sind. Neben den unveröffentlichten Quellen werden aber auch inzwischen erschienene - oft zwar legitimatorisch gemeinte, aber doch manchen Aspekt erhellende - Wortmeldungen und Befragungen von Zeitge-
1 D. Staritz, Geschichte der DDR, (Erweiterte Neuausgabe), Frankfurt/M. 1996. 2 T. Pirker/M.R. Lepsius/R. Weinert/H.-H. Hertie, Der Plan als Befehl und Fiktion. Wirtschaftsführung in der DDR. Gespräche und Analysen, Opladen 1995. 3 H. Kaelble/J. Kocka/H. Zwahr (Hg.), Sozialgeschichte der DDR, Stuttgart 1994. 4 P. Hübner, Konsens, Konflikt und Kompromiß. Soziale Arbeiterinteressen und Sozialpolitik in der SBZ/DDR 1945-1970, Berlin 1995. 5 J. Bähr/D. Petzina (Hg.), Innovationsverhalten und Entscheidungsstrukturen. Vergleichende Studien zur wirtschaftlichen Entwicklung im geteilten Deutschland, Berlin 1996. 6 Zur Aussagekraft der Quellen vgl.: A. Lüdtke/P. Becker, Akten. Eingaben. Schaufenster. Die DDR und ihre Texte. Erkundungen zu Herrschaft und Alltag, Berlin 1997.
Einleitung
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nossen miteinbezogen. 1 Auf Interviews mit Zeitzeugen - so wünschenswert sie gewesen wären mußte unter Beachtung der dafür erforderlichen Methodik und dem damit zusammenhängenden hohen Zeitaufwand verzichtet werden. Darüber hinaus konnte aus den Unterlagen der Staatlichen Zentralverwaltung für Statistik in der Außenstelle Berlin des Statistischen Bundesamtes (jetzt: Bundesarchiv Berlin-Lichterfelde) ein weitgehend konsistentes Datenmassiv gewonnen werden, was als Basis für die Analyse der realwirtschaftlichen Konsequenzen und Resultate der Wirtschaftsreform dient. Damit liegen allen Zahlenangaben in der vorliegenden Untersuchung die Daten der DDR-Statistik zugrunde. Es ist nicht die Aufgabe der Arbeit, neue "bessere" statistische Koeffizienten zu bestimmen. Die grundsätzlichen Unzulänglichkeiten der DDR-Daten wurden in der Literatur bereits früh thematisiert und zum Anlaß genommen, unabhängige Berechnungen anzustellen. 2 Die Mängel der Berichterstattung bilden ebenfalls einen Gegenstand dieser Studie, da die daraus hervorgegangenen Daten in dem dargestellten Prozeß Grundlage der Entscheidungsfindung waren. Auch deshalb bleiben sie für die vorliegende Untersuchung unverzichtbar. Schließlich muß aber ebenso aus pragmatischen Gründen auf sie zurückgegriffen werden, da keine anderen Zahlen in der erforderlichen Detailliertheit zur Verf ü g u n g stehen, um Ausgangspunkt und Effekte der Reform zu bestimmen. Dabei muß man sich allerdings der grundsätzlichen Mängel dieser Angaben bewußt sein. So waren die Produktionskennziffern zum Teil in dem Sinne irreal, als manche Erzeugnisse nicht absetzbar waren. Darüber hinaus hatten die Betriebe ein Interesse daran, die Meldungen an die Staatliche Zentralverwaltung für Statistik in der einen oder anderen Richtung - j e nach der Berichtskennziffer - zu "korrigieren". Dieses Interesse resultierte aus der Konstruktion des Steuerungs- und Koordinierungsmechanismus, vor allem des Bonussystems. Aber die Möglichkeiten, die zur Verfügung stehenden Inputs herunterund die erreichten Resultate hochzurechnen, waren auf Manipulationen begrenzt, von denen man glaubte, daß sie nicht auffielen. Insbesondere gibt es keinen Grund für die Annahme, daß die Neigung, die statistische Berichterstattung zu "schönen", über die Branchen ungleichmäßig verteilt war. Daher wird im folgenden von einem homogenen systematischen Fehler ausgegangen. Um einen der Mängel zu begrenzen, die den offiziell veröffentlichten Statistiken anhaften, beruhen die Angaben des Tabellenanhangs, die in der Untersuchung regelmäßig zur Beurteilung der realwirtschaftlichen Situation herangezogen werden, für die Produktion und alle Produktivitätsangaben nicht auf Brutto-, sondern auf bisher unveröffentlichten Nettoproduktionswerten. Wertanga-
1
Vgl. u.a.: C.-H. Janson, Totengräber der DDR. Wie Günter Mittag den SED-Staat ruinierte, Düsseldorf u.a. 1991; G. Mittag, Um jeden Preis. Im Spannungsfeld zweier Systeme, Berlin u.a. 1991; H. Wolf, Hatte die DDR je eine Chance?, Hamburg 1991; C. Krömke, Das "Neue ökonomische System der Planung und Leitung der Volkswirtschaft" und die Wandlungen des Günter Mittag (hefte zur ddr-geschichte 37), Berlin 1996; Poltergeist im Politbüro. Siegfried Prokop im Gespräch mit Alfred Neumann, Frankfurt/O. 1996; G. Schürer, Gewagt und verloren. Eine deutsche Biographie, Frankfurt/O. 1996; L. Elm/D. Keller/R. Mocek, Ansichten zur Geschichte der DDR. Bd. VI: Wirtschaft, Bonn, Berlin 1996. Siehe auch die Interviews in: Pirker u.a., Der Plan als Befehl und Fiktion.
2 Vgl. W.F. Stolper, The Structure of the East German Economy, Cambridge 1960.
Einleitung
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ben aus der DDR-Statistik wurden auch infolge der Inkonsistenz und Willkürlichkeit der zugrunde liegenden Preise in Zweifel gezogen. Insbesondere betrifft dies Daten, die auf laufenden Preisen beruhen, da diese vielfach administrativen und unkoordinierten Änderungen unterlagen. Die den hier benutzten Daten zugrunde liegenden vergleichbaren Preise von 1967 für die Produktionswerte und von 1966 für das Brutto-Anlagevermögen sind dagegen "weniger schlecht", da sie das Ergebnis der als Bestandteil der Wirtschaftsreform durchgeführten Industriepreisreform bzw. Grundmittelumbewertung sind.1 Sie sind den tatsächlichen Kostenverhältnissen angenähert. Angemerkt werden muß freilich, daß die nachträgliche Umrechnung der Daten aus der Zeit vor 1966/67 möglicherweise - nicht zu quantifizierende - Fehlerquellen enthält. Insgesamt bleibt festzuhalten, daß sowohl die benutzten Primärdaten als auch die aus ihnen errechneten Indizes und Zuwächse nicht mit Angaben aus westlichen Statistiken zu vergleichen sind. Solange aber - wie in der vorliegenden Untersuchung - das Bezugssystem nicht gewechselt wird, können diese Werte herangezogen werden, um Veränderungen im zeitlichen Ablauf und Unterschiede zwischen den Struktureinheiten aufzuzeigen. Die vorliegende Arbeit ist primär nicht chronologisch aufgebaut, sondern nach einzelnen Gebieten wirtschaftlicher Lenkung und Koordination gegliedert, deren Darstellung dem zeitlichen Ablauf folgt. Gleichwohl wird der zeitliche Bogen vom ersten zum vierten Kapitel gespannt, indem erst im letzten dargestellt wird, welche Entwicklungen zum Abbruch der Reform führten und wie dieser vonstatten ging. Im ersten Kapitel werden die Grundlagen für die Analyse der Wirtschaftsreform gelegt. Im Mittelpunkt stehen die Entwicklung der Institutionenordnung, der Gesamtkonzepte der Reform sowie wesentliche Momente der Lenkung der Produktion. Daneben wird hier auch auf die politischen und die von der Sowjetunion bestimmten außenwirtschaftlichen Rahmenbedingungen eingegangen. Die unbefriedigende Funktionsweise des Lenkungs- und Koordinationsmechanismus und die realwirtschaftliche Situation vor der Reform sowie die sowjetische Ablehnung eines Versuchs, sie die Modernisierung der DDR-Industrie alimentieren zu lassen, führten zu dem Entschluß, den Wirtschaftsmechanismus umzugestalten und damit innere Antriebskräfte für die Modernisierung freizusetzen. Bei der Realisierung der nach langwierigen Diskussionen und Erprobungen entstandenen Gesamtkonzepte von 1963 und 1968 erwies es sich für den Erfolg einer solchen von "oben" eingeführten Reform als entscheidend, ob deren Prinzipien dem Personal in den zentralen Wirtschaftsinstanzen wie auch den Führungskräften der Wirtschaftseinheiten vermittelbar waren und inwieweit diese tatsächlich die Möglichkeit hatten, sich den neuen Regeln entsprechend zu verhalten. Desgleichen hatte die Position der Mitglieder der SED-Spitze bzw. der Chefs der verschiedenen zentralen Wirtschaftsinstanzen zur Reform einen nicht unbedeutenden Einfluß auf ihre Umsetzung. Ebenso werden die Wechsel im innen- und außenpolitischen Klima deutlich, die die Reform begleiteten. Unter wirtschaftlichen Aspekten wird im ersten Kapitel vor allem der Frage nachgegangen, inwiefern die allgemeine Produktionslenkung und dabei die Sicherung der Verflechtungsbeziehungen rationalisiert werden konnte. Außerdem wird aufgezeigt, wie das Außenhandels-
1
V g l . das z w e i t e Kapitel.
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monopol des Staates modifiziert und die Industriebetriebe mit den Exportergebnissen ihrer Erzeugnisse konfrontiert wurden. Dafür hatte wiederum die Gestaltung der Preise eine entscheidende Bedeutung. Das Preissystem war im Staatssozialismus nicht nur Instrument des Lenkungs- und Koordinationsmechanismus, sondern selbst Gegenstand der Steuerung, was es rechtfertigt, ihm das zweite Kapitel zu widmen. Darüber hinaus kam ihm für den Erfolg der Reform deshalb zentrale Bedeutung zu, weil sie die finanzwirtschaftlich orientierten Lenkungsmethoden beträchtlich aufwertete. Nach einer Würdigung der Preise vor der Umgestaltung wird auf den ersten Schritt, die Neubewertung des Anlagevermögens (Grundmittelumbewertung), eingegangen. Anschließend werden die theoretischen und wirtschaftspraktischen Aspekte diskutiert, die die Prinzipien für die neuen Preise, deren tatsächliche Festlegung und schließlich die Ergebnisse der Industriepreisreform bestimmten. Darüber hinaus werden dann der auf dieser Grundlage zu schaffende "eigentliche" Preismechanismus der Wirtschaftsreform und seine Resultate erörtert. In diesem Zusammenhang ist auch auf den unter Systemgesichtspunkten weitestgehenden Anreiz, die Produktionsfondsabgabe, eine Art "Kapitalzins", einzugehen. Das dritte Kapitel widmet sich der Lenkung der Arbeitskräfte und in diesem Zusammenhang den Leistungsanreizen für die Beschäftigten und die Betriebe. Dabei geht es um die Frage, wie die Betriebe bei grundsätzlicher Beibehaltung der Planung dazu bewegt werden konnten, möglichst hohe Aufgaben zu übernehmen. Im Mittelpunkt steht der Anreiz, der von den Regelungen ausging, nach denen sich die Prämienmittel der Betriebe bestimmten. Die Leistungsanreize für die Beschäftigten sollten an die Prämie gekoppelt werden. Darüber hinaus mußten aber Wege gefunden werden, die Produktivitätsorientierung des Lohnes durchzusetzen. Dabei befanden sich die SED-Spitze und die zentralen Wirtschaftsinstanzen seit langem in einem Dilemma, das daraus rührte, daß sie den Beschäftigten als "Gesamtuntemehmer" gegenübertreten mußten und gleichzeitig sich selbst als Sachwalter eines "Arbeiter-und-Bauern-Staates" zu legitimieren hatten. In einer ganz ähnlichen Zwangslage befand man sich im Zusammenhang mit der ebenfalls als Leistungsanreiz wirksam zu machenden Partizipation der Beschäftigten an den wirtschaftlichen Entscheidungen, die auch hier zu behandeln ist. Das Hauptziel der Wirtschaftsreform, die Volkswirtschaft der DDR zu modernisieren und auf den internationalen Stand der technischen Entwicklung zu heben, die dafür genutzten Mittel und Instrumente sowie die solchermaßen erreichten Ergebnisse im Strukturwandel behandelt das vierte Kapitel. Insbesondere geht es hier darum, wie die FuE-Bemühungen und die Investitionen mit dem Prinzip der Eigenerwirtschaftung der Mittel gelenkt wurden. Dabei geraten die Budgetbeschränkungen der Wirtschaftseinheiten bis hin zur Konkursfähigkeit ebenso ins Blickfeld wie die Schaffung von Konzentrationspunkten für die Innovationsanstrengungen in Form der Kombinate und Großforschungszentren. Die Forcierung des Strukturwandels stand insbesondere in der zweiten Reformphase im Zentrum aller Bemühungen und verselbständigte sich derart, daß sich damit der Reformprozeß selbst zu blockieren begann. Das daraus resultierende Anwachsen der volkswirtschaftlichen Ressourcendefizite erforderte zunehmende operative Interventionen der Zentrale in die Wirtschaftsabläufe. Daher kam es zu einer schleichenden Abkehr von den Reformprinzipien und -mechanismen, die schließlich im Zusammenspiel mit verschiedenen politischen Problemen auch ihre Kodifi-
Einleitung
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zierung fand. Am Schluß ist noch einmal zusammenzufassen, welche Schwierigkeiten mit dem Reformmechanismus gelöst werden konnten und welche unter den gegebenen Systemprämissen bestehen bleiben mußten. Die vorliegende Arbeit, die im Oktober 1997 von der Fakultät für Volkswirtschaftslehre der Universität Mannheim als Habilitationsschrift angenommen wurde, hätte ohne die Unterstützung und Anregungen einer Vielzahl von Personen und Institutionen in dieser Form nicht vorgelegt werden können. Als erstes ist die Geduld und die Hilfsbereitschaft der Mitarbeiter des Bundesarchives in (zum Zeitpunkt der Benutzung) Potsdam und Coswig, der Stiftung Archiv der Parteien und Massenorganisationen der D D R im Bundesarchiv, des Archivs des Statistisches Bundesamtes in der Außenstelle Berlin und des Firmenarchivs der Niles GmbH hervorzuheben. Eine solche Untersuchung braucht aber auch eine wissenschaftlich streitbare und anregende Umgebung, die der Verfasser am Seminar für Wirtschafts- und Sozialgeschichte der Universität Mannheim unter der Leitung von Christoph Buchheim fand. Er begleitete die Entstehung des Manuskripts mit konstruktiver Kritik und hilfreichen Kommentaren. Außerdem unterstützte Dietrich Staritz den Verfasser mit wichtigen Vorschlägen und kritischen Anmerkungen. Auch die anderen Mitarbeiter des Arbeitsbereichs DDR-Geschichte des Mannheimer Zentrums für Europäische Sozialforschung trugen zu einer produktiven Arbeitsatmosphäre bei. Neben Christoph Buchheim unterzogen sich Jürgen von Hagen (jetzt Bonn) und Dietmar Petzina (Bochum) der Mühe, die Studie zu begutachten und vielfältige Anregungen vorzubringen. Die Anstrengung des Korrekturlesens des Manuskripts nahm Annette Wilczek auf sich. Die Arbeit unterstützte in einem frühen Stadium die Fritz Thyssen Stiftung. Weiter wurde der Autor aus dem Wissenschaftler-Integrations-Programm des Hochschulerneuerungsprogramms für die neuen Länder alimentiert. Die Fertigstellung der Arbeit ermöglichte schließlich ein Habilitandenstipendium der Deutschen Forschungsgemeinschaft. Allen Genannten sei an dieser Stelle ausdrücklich und herzlich gedankt.
KAPITEL 1
Die Entwicklung und Implementation der Reform
1. Ausgangssituation Wirtschaftliche Lenkung und Koordination vor der Reform Die Institutionenordnung im Bereich der wirtschaftlichen Lenkung war in der DDR Ende der fünfziger, Anfang der sechziger Jahre in hohem Maße hierarchisch und bestand aus zwei in ihren Kompetenzen ineinandergreifenden, mitunter gegeneinander arbeitenden und in der Spitze personell verflochtenen Säulen: der staatlichen Wirtschaftsbürokratie und dem SED-Parteiapparat. In der Wirtschaftsbürokratie hatte die Staatliche Plankommission (SPK) faktisch eine herausgehobene Position. Über großes Gewicht verfugten auch das für die finanzwirtschaftliche Steuerung zuständige Ministerium der Finanzen (MdF) sowie durch die relativ hohe Außenhandelsabhängigkeit der D D R das Ministerium für Außenhandel und Innerdeutschen Handel (MAI). Das Verhältnis der verschiedenen Querschnittsinstanzen war nicht friktionslos. Der übergeordnete Status der Planungsbehörde ergab sich daraus, daß sie in den Volkswirtschaftsplänen die Verflechtungen zwischen den verschiedenen Steuerungsgebieten herzustellen und Partikularinteressen zurückzuweisen hatte, die volkswirtschaftlichen, oft aber auch politisch dominierten Prioritäten entgegenstanden. Für die unmittelbar operative Leitung war seit 1961 nach sowjetischem Vorbild der Volkswirtschaftsrat (VWR) verantwortlich, dem trotz seines Namens nur die Industrie unterstand. Er verfügte über Querschnittsabteilungen, gegliedert nach den verschiedenen wirtschaftlichen Steuerungsgebieten, sowie über nach Bereichen gegliederte Industrieabteilungen. Neben der operativen Leitung war der VWR für die Vorbereitung und Umsetzung der Jahrespläne zuständig. Die SPK, die zwischen 1958 und 1961 auch diese Funktionen ausgeübt hatte, sollte sich auf die Perspektivplanung und die Koordination der Jahrespläne konzentrieren, weil sie mit der Bündelung aller Kompetenzen überfordert war. 1 Die den zentralen Instanzen nachgeordneten Hierarchiestufen waren zweigeteilt. Der als besonders wichtig erachtete Teil der Industrie, vor allem die Großindustrie, war ihnen direkt unter-
1 Vgl. u.a.: Auszug aus stenographischer Niederschrift der Beratung über die Durchfuhrung des Planes 1961 ... am 21.6.61, SAPMO-BA DY30 IV 2/2029/198.
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usgangssituation
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stellt. Er wurde daher als zentralgeleitete Industrie bezeichnet und war in staatlichem Eigentum. Die Mittel- und Kleinindustrie, die sich insbesondere im Bereich der Konsumgüterproduktion und der Versorgungswirtschaft konzentrierte, wurde durch der SPK und dem VWR nachgeordnete territoriale Instanzen, den Bezirksplankommissionen und den Bezirkswirtschaftsräten, gelenkt, denen wiederum entsprechende Abteilungen bei den Räten der Kreise unterstellt waren. Zur territorial geleiteten Industrie gehörten alle Eigentumsformen: staatliche und genossenschaftliche, halbstaatliche und private Betriebe. Dieser Bereich umfaßte 1961 zwar fast 90 % der Betriebe, erbrachte aber lediglich ein Drittel der industriellen Bruttoproduktion. 1 In der zentralgeleiteten Industrie waren den Industrieabteilungen des VWR wiederum 71 Vereinigungen Volkseigener Betriebe (VVB) nachgeordnet, die in der Regel die Betriebe einer Branche zusammenfaßten. Abgesehen von der Akklamation der Pläne durch die Volkskammer lag die letzte Entscheidung aller wesentlichen Fragen staatlicherseits beim Ministerrat und dort faktisch bei seinem Präsidium, dem die angeführten zentralen Instanzen untergeordnet waren. Die wichtigsten Mitglieder des Präsidiums des Ministerrates gehörten auch den Spitzengremien der SED an. In der SED berieten und entschieden das Politbüro bzw. das Sekretariat alle grundlegenden wirtschaftlichen Fragen. Schlüsselpositionen besaßen dabei der Parteichef und das für Wirtschaft zuständige Mitglied des Sekretariats bzw. des Politbüros des ZK, der auch die Arbeit der wirtschaftspolitischen Abteilungen des ZK der SED leitete. Diese waren quantitativ und qualitativ ausgedehnt worden, nachdem 1958 Erich Apel die neugebildete Wirtschaftskommission beim SED-Politbüro übernommen hatte. 2 Sie umfaßten Branchen- und Querschnittsabteilungen. Vergleichbare Zuständigkeiten und Apparate bestanden auf den untergeordneten Hierarchieebenen der SED (Bezirksund Kreisleitungen). Darüber hinaus konnte die Partei ihren Einfluß in der Wirtschaft über ihre Mitglieder sowie die in allen Betrieben und Leitungsinstanzen tätigen Parteiorganisationen und deren Sekretäre geltend machen. Entscheidender für das Verhältnis zwischen Wirtschaftsbürokratie und Parteiapparat war jedoch, daß Beschlüsse der Parteispitze von den staatlichen Instanzen zu übernehmen waren. Diese Praxis wurde im Sommer 1960 vom Politbüro festgeschrieben. Wenige Tage später stimmte der Ministerrat zu.3 Zudem wiesen im Frühjahr 1961 ZK-Vertreter noch einmal auf das ebenso gängige Verfahren hin, daß die SPK keine Grundsatzentscheidungen zu treffen
1
Berechnet nach: Statistisches Jahrbuch der DDR 1962, Berlin (O) 1962, S. 242f. Vgl. zum Leitungsaufbau: H. Buck, Technik der Wirtschaftslenkung in kommunistischen Staaten, Coburg 1969, S. 360f., Anlage 12.
2
Dieses Gremium war geschaffen worden, um Apel faktisch als Verantwortlichen für Wirtschaft in der SED-Spitze einzusetzen. Da Apel erst 1957 Mitglied der SED geworden war, konnte er nicht 1958 in das höchste Gremium der Partei einrücken. Da ihm aber mit der Wirtschaftskommission der wirtschaftliche Teil des ZK-Apparates unterstellt wurde, hatte Apel real alle Kompetenzen des ZK-Sekretärs für Wirtschaft. Nachdem er im Juli 1961 in diese Funktion gewählt wurde, hatte die Wirtschaftskommission ihre Funktion erfüllt. Einen formalen Beschluß zu ihrer Auflösung gab es nicht. (Vgl. Dokumente der SED, Bd. VIII, S. 452.)
3
G. Naumann, Beschluß des Politbüros des ZK der SED vom 12.Juli 1960, in: Beiträge zur Geschichte der Arbeiterbewegung 22, 1990, S. 513-518.
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Entwicklung und Implementation der Reform
habe. Diese seien vielmehr dem SED-Politbüro oder dem Ministerrat vorzulegen.' Wirtschaftliche Rationalität war so auch institutionell den politischen Vorgaben und deren Räson untergeordnet, was aber nicht ausschloß, daß sie doch übereinstimmten. Begründet wurde dies mit dem Anspruch der SED, exklusiv über die Kenntnis des einzuschlagenden Weges zu verfügen. Entscheidungen der Parteispitze beruhten auf Vorlagen ihrer jeweils verantwortlichen Mitglieder und waren meist in den ZK-Abteilungen entstanden, oder gingen auf Ausarbeitungen der Wirtschaftsbürokratie und dazu vorliegenden Stellungnahmen der ZK-Abteilungen zurück. Darüber hinaus hatte die Partei bei der Besetzung der entscheidenden Leitungspositionen nicht nur im eigenen, sondern auch im staatlichen Apparat das letzte Wort (Nomenklaturprinzip). 2 Damit waren die Führungskräfte der Wirtschaft auch über ihre meist ohnehin vorhandene Parteimitgliedschaft hinaus von der SED abhängig. Ihr Einfluß auf die wirtschaftlichen Entscheidungen der zentralen Ebene fand seine Entsprechung in den Bezirken und Kreisen, wobei sich dies dort allerdings komplizierter gestaltete, da beispielsweise ein zentralgeleiteter Betrieb den nicht immer koordinierten Interventionen der zentralen Wirtschaftsbürokratie und der V V B sowie des ZK-Apparates und der territorialen Parteiinstanzen ausgesetzt war und der Betrieb versuchte, deren Differenzen zu seinen Gunsten zu nutzen. Die Wirtschaftslenkung war insgesamt hochgradig zentralisiert. Dies betraf nicht nur das Verhältnis der zentralen Instanzen zu den VVB, sondern auch das der mittleren Hierarchiestufe zu den Betrieben. Begründet wurde das unter anderem mit der ungenügenden Qualifikation vieler Verantwortlicher. Im Verlaufe des Transformationsprozesses war das Führungspersonal oft nach politischer Zuverlässigkeit ausgewählt worden. Die fachliche Ausbildung der neuen Eliten und der Personalwechsel erforderten Zeit, so daß die professionellen Fähigkeiten auch Ende der fünfziger, Anfang der sechziger Jahre häufig noch unzureichend waren. Daneben waren es aber die geringen Verfügungsrechte der Betriebe und VVB, die dafür sorgten, daß deren Führungspersonal nach Einschätzung der SPK das "erforderliche ökonomische Urteils- und Denkvermögen" fehlte. Sie neigten dazu, schwierige Fragen an die übergeordneten Instanzen weiterzugeben. Das galt ebenso innerhalb der zentralen Wirtschaftsinstanzen. Daher beschäftigten sich Spitzenfunktionäre - obwohl das immer wieder kritisiert wurde - mit zahllosen Einzelheiten. Außerdem beklagte man spiegelbildlich zum Zentralismus auf allen nachgeordneten Ebenen Unsicherheit und mangelnde Entscheidungsfreude. 3 Einer der eigenwilligsten Wirtschaftsverantwortlichen, Fritz Selbmann, erklärte in einer Spitzenberatung im Juni 1961, die "Angst vor Entscheidungen" auf allen Ebenen beruhe vor allem darauf, daß sich alle fürchteten, eine Fehlentscheidung zu treffen und danach wie "ein Trottel oder
1 Abt. Planung und Finanzen: Information über die Sitzung des Plenums der SPK am 19.4.61 ..., 21.4.61, SAPMO-BA DY30 IV 2/2029/75. 2 Vgl. H. Zimmermann, Überlegungen zur Geschichte der Kader und der Kaderpolitik in der SBZ/DDR, in: H. Kaelble/J. Kocka/H. Zwahr, Sozialgeschichte der DDR, Stuttgart 1994,S. 327ff. 3 Leuschner an Ulbricht, 24.6.60: Gesichtspunkte zur Veränderung der Arbeitsweise, SAPMO-BA DY30 J IV 2/202/52; Bericht über Aussprachen mit Werkleitern ehemaliger SAG-Betriebe ..., [15.9.61], SAPMO-BA DY30 IV 2/2029/125.
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usgangssiluation
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ein Schubiack" behandelt zu werden. 1 Diese unzureichende Bereitschaft, Verantwortung zu Ubernehmen, zeigte sich auch in der Konzentration auf das eigene Arbeitsgebiet, was immer wieder als "Ressortgeist" gescholten wurde. Dies wurzelte ebenfalls in der starken Zentralisierung des Systems und demonstrierte auch dessen Grenzen, komplexen Prozessen gerecht zu werden. Da die Verantwortlichen in der Wirtschaftsbürokratie aller Ebenen immer wieder die Erfahrung machten, daß der Parteiapparat in ihre Arbeit eingriff und sich mit seinen extralegalen Interventionen besser durchsetzte als sie selbst, wandten sie sich immer öfter an ihn und erwarteten schließlich sogar sein Eingreifen. 2 Bei dem Machtanspruch der SED mußte ihr Apparat letztlich die Arbeit der verschiedenen Wirtschaftsinstanzen koordinieren, denn der dafür zuständige Ministerrat erwies sich als zu schwach, weil sich die nachgeordneten Instanzen bereits an den Parteiapparat gewandt hatten. Die personelle Verquickung an der Spitze tat dazu ein übriges. Der SED-Apparat wirkte aber nicht nur als Koordinierungsinstanz, sondern auch als Korrektiv bei sich abzeichnenden wirtschaftlichen Problemen und als Entscheidungsinstanz bei Meinungsverschiedenheiten innerhalb der Wirtschaftsbürokratie. So setzte Apel beispielsweise durch, daß an den Leitungssitzungen der SPK und des VWR immer ein Vertreter der wirtschaftspolitischen ZKAbteilungen teilnahm. Diese koordinierten dann auch ganz wesentlich die Tätigkeit beider Einrichtungen, die sich von Anfang an für bestimmte Bereiche wechselseitig die Verantwortung zuschieben wollten und auf anderen Gebieten um die Kompetenzen stritten. 3 Infolge dieser Strukturen herrschte zwischen den Mitarbeitern der SPK und des Parteiapparats eine Atmosphäre gegenseitigen Mißtrauens. Die Vertreter der SPK mußten immer wieder ermahnt werden, mit denen des ZK ohne Geheimniskrämerei zusammenzuarbeiten; entscheidend war nach Apel, daß die SED-Politik umgesetzt werde. 4 Gleichzeitig wurden die Parteifunktionäre unter Berufung auf sowjetische Erfahrungen dazu angehalten, die "scharfe Trennung" zwischen Partei und Staatsapparat bei der Lösung wirtschaftlicher Aufgaben aufzugeben. Ohne zu reglementieren und ohne Schematismus sollte sich der Parteiapparat für alle Fragen der Volkswirtschaft verantwortlich fühlen und, wenn erforderlich, unmittelbar eingreifen. 5 Die Machtverhältnisse zeigten sich auch darin, daß in den Staatsapparat versetzte Parteifunktionäre so schnell wie möglich in die SED-Hierarchie zurückkehren wollten. 6
1
Auszug aus der stenographische Niederschrift der Beratung über die Durchfuhrung des Planes 1961 ... am 21.6.61, SAPMO-BA D Y 3 0 IV 2/2029/198.
2
Protokoll der Sitzung der Wirtschaftskommission des Politbüro am 25.9.59, SAPMO-BA
DY30
IV 2/2029/13; Apel an Wunderlich, 27.10.59, BA DE1/2452; Auszug aus der stenographische Niederschrift der Beratung über die Durchführung des Planes 1961 ... am 21.6.61, SAPMO-BA
DY30
IV 2/2029/198. 3
Apel an Ulbricht, 8.8.61, SAPMO-BA D Y 3 0 IV 2/2029/32; [Schürer]: Probleme für die Aussprache mit
4
Protokoll der Sitzung der Wirtschaftskommission des Politbüros am 25.9.59, SAPMO-BA
Genossen Neumann und Mewis, [August 1961], SAPMO-BA DY30 IV 2/2029/65. DY30
IV 2/2029/13; Apel an Leuschner, 12.9.59, SAPMO-BA DY30 IV 2/2029/138. 5
Bericht der Parteidelegation zum Studium der Arbeit der KPdSU ..., April 1960, SAPMO-BA D Y 3 0 J IV 2/202/337.
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SPK, Bretschneider an ZK der SED, Abt. Planung und Finanzen, Hannemann, 4.6.60, SAPMO-BA D Y 3 0
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Das war nicht nur für die zentrale Ebene, sondern ebenso für die Territorien, Betriebe und Branchenleitungen charakteristisch. Verschärfend trat dort meist noch hinzu, daß nicht nur die gleichrangigen, sondern auch die übergeordneten Gliederungen des Parteiapparates Einfluß nahmen. Alles in allem war die Wirtschaftsbürokratie vom Parteiapparat abhängig, was sich aber infolge von Personalfluktuationen zwischen beiden Machtsäulen nicht immer so eindeutig darstellte. Das letzte Wort hatte zwar die politische Führung, aber die Fachinstanzen der Wirtschaftsbürokratie prädisponierten mit ihren Vorlagen und Ausarbeitungen deren Entscheidungen. Jedoch verfugte die SED-Spitze in Gestalt der wirtschaftspolitischen ZK-Abteilungen über einen Apparat, der die Gestaltung dieser Entscheidungsgrundlagen wiederum kontrollierte und mitbestimmte. Wichtigstes Instrument der Wirtschaftslenkung blieb Ende der fünfziger, Anfang der sechziger Jahre der Jahresplan, obwohl bereits länger darauf gedrungen worden war, den mittelfristigen Plänen einen größeren Stellenwert einzuräumen. Aber angesichts der Instabilitäten der wirtschaftlichen Entwicklung zu dieser Zeit waren diese oft schnell veraltet. Das größte Gewicht für die Steuerung der Industriebetriebe hatte der Produktionsplan. Über einen etwas niedrigeren, aber trotzdem deutlich herausgehobenen Stellenwert verfugte auch der für die Strukturentwicklung besonders wichtige Investitionsplan. Im Planungsprozeß zeigten sich deutlich die Verfügungsrechte der einzelnen Institutionen. Die SPK erarbeitete zentral vor allem auf der Basis der Planerfüllung des Vorjahres Orientierungsziffern für den kommenden Plan, die den politischen Vorgaben der SED-Spitze gerecht zu werden hatten. Bereits in dieser Phase stimmte sich die SPK laufend mit den wirtschaftspolitischen ZK-Abteilungen ab. Nachdem das SED-Politbüro und die Regierung diesen Orientierungsziffern zugestimmt hatten, wurden sie über den VWR (ab 1961) und die VVB bis zu den Betrieben nach "unten" immer weiter aufgegliedert und präzisiert. Bereits seit Ende der fünfziger Jahre beklagten sich die zentralen Instanzen in diesem Zusammenhang, daß die VVB die Vorgaben nur formal aufteilten und dabei viel zu wenig eigene inhaltliche Vorstellungen und Konzeptionen entwickelten, wie sich ihr Verantwortungsbereich im Planzeitraum wirtschaftlich entwickeln sollte. Ebenso würden sie zu wenig die Planungen der zentral und der territorial geleiteten Betriebe ihrer Branchen koordinieren.' Die VVB waren aber vor allem wegen ihrer geringen Verfügungsrechte nicht unbedingt daran interessiert, den Erwartungen der zentralen Instanzen gerecht zu werden. Dieses Problem wurde zwar 1959/60 etwas gemildert, indem die Branchen im Rahmen längerfristiger Planungen entsprechende Konzeptionen, wie z.B. die Industriezweigökonomiken, auszuarbeiten hatten. Aber wegen der unten zu behandelnden Wirtschaftskrise 1960/61 und ihrer Folgen waren diese Programme innerhalb kurzer Zeit veraltet. Die VVB arbeiteten nicht als Wirtschaftseinheiten, sondern als Verwaltungsinstanzen. Ein Betriebsdirektor meinte dazu im November 1962: "Um es auf einen Nenner zu bringen, stellen unsere VVB's weiter nichts dar als wie einen Postboten mit Vervielfältigungscharakter, indem jede Anordnung, Weisung oder Mitteilung des Volks-
IV 2/608/49. 1
Wolter: Information über den Stand ..., 18.12.58, SAPMO-BA DY30 IV 2/608/52; SPK, HA Perspektivplanung: Zum Stand der Ausarbeitung ..., 14.4.59, BA DE1/3069.
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wirtschaftsrates in den VVB in der entsprechenden Anzahl der Betriebe vervielfältigt (...) und den Betrieben zugestellt wird, wo sich das Papier immer mehr häuft.'" Die Betriebe entwarfen auf der Basis der von "oben" vorgegebenen Orientierungsziffern einen Planvorschlag, der ihre zu erreichende Leistung und die erforderlichen Inputs enthielt. Die Planvorschläge der Betriebe wurden über die einzelnen Hierarchiestufen bis zur SPK zusammengefaßt und auf jeder Ebene versucht, diese zu koordinieren. Die oberste Planungsinstanz hatte dann die verschiedenen binnen- und außenwirtschaftlichen Erfordernisse und Möglichkeiten sowie die politischen Ziele in ein Gleichgewicht zu bringen und damit - wie es hieß - den Plan zu "bilanzieren". In diesem Prozeß spielten, bis der Plan durch das SED-Politbüro und die Regierung beschlossen war, die wirtschaftspolitischen ZK-Abteilungen mit eigenen Ausarbeitungen und Stellungnahmen zu den Vorlagen der SPK und des VWR eine entscheidende Rolle. Der Parteiapparat versuchte soweit wie möglich, den gesamten Planungsprozeß bis auf die unteren Ebenen zu verfolgen und zu überwachen. Für den von der SPK ex ante zu bestimmenden makroökonomischen Entwicklungspfad drängte die Parteispitze auf ein forciertes Wachstum, was wegen des Anspruchs auf Vollbeschäftigung und Befriedigung der wachsenden Bedürfhisse sowie aus Gründen der Systemkonkurrenz und der Außendarstellung und damit schließlich in letzter Instanz zur Sicherung der Macht der SED erforderlich war. In der SPK neigte man aber, ohne dieses Ziel grundsätzlich in Frage zu stellen, eher dazu, auch die für das Wachstum gegebenen realen Voraussetzungen zu berücksichtigen. Doch alles in allem forderten die Spitzen von Partei, Regierung und SPK 2 bei der Planausarbeitung einen möglichst hohen Zuwachs des Output bei niedrigem Input. Nachdem der Plan beschlossen war, wurden seine Aufgaben wiederum von "oben" nach "unten" disaggregiert. Die dann letztlich für den Betrieb verbindlichen Leistungs- und Inputvorgaben unterschieden sich - durch die verschiedenen Interessen im Planungsprozeß - vom ursprünglichen Planvorschlag. In diesem bürokratischen Prozeß wurde über die Allokation der Produktionsfaktoren sowie über die Höhe des Outputs und seine Verwendung im Detail entschieden. Die Allokationsstruktur war in Bilanzen festgeschrieben, die Aufkommen und Verwendung gegenüberstellten und damit faktisch ein Gleichgewicht behaupteten. 3 Obwohl den nachgeordneten Ebenen kaum Verfugungsrechte zukamen, war dieser aufwendige Prozeß für die ex ante Koordinierung der Wirtschaftsaktivitäten notwendig, weil die zentralen Instanzen nicht über alle Kapazitäten, Ressourcen und Produktionsfunktionen informiert sein konnten. Darüber hinaus bot die Beteiligung der nachgeordneten Ebenen bis zu den Betrieben und ihren Beschäftigten an der Planausarbeitung im Ansatz die Gelegenheit, bei diesen ein Eigentümerbewußtsein zu schaffen, indem ihnen formal die Möglichkeit gegeben wurde, an Verfügungsentschei-
1
VEB Funkwerk Dresden, Betriebsdirektor, Tietze an Mittag, 28.11.62, SAPMO-BA D Y 3 0 IV 2/604/11 (Hervorhebung im Original).
2
Innerhalb der SPK traten zwischen den bereichsorientierten Fachabteilungen und der SPK-Leitung ähnliche Interessengegensätze wie zwischen der SPK und den nachgeordneten Ebenen auf.
3
Zum technischen Ablauf dieses Prozesses vgl. J. Roesler, Die Herausbildung der sozialistischen Planwirtschaft in der DDR, Berlin (O) 1978, S. 150ff.
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düngen mitzuwirken. Damit sollten unter anderem Anreize entstehen, sich mit den Aufgaben zu identifizieren und diese besser zu erfüllen. Praktisch blieben jedoch die Partizipationsmöglichkeiten der nachgeordneten Hierarchiestufen und vor allem der Beschäftigten infolge der realen Verteilung der Eigentumsrechte stark eingeschränkt.' Die aus dem staatlichen Eigentum erwachsenden wirtschaftlichen Verfügungs- und Aneignungsrechte waren - abgesehen von der höchsten Instanz dem SED-Politbüro - in hohem Maße bei den zentralen Wirtschaftsinstanzen, darunter an erster Stelle der SPK konzentriert. 2 Alle wesentlichen, den Wirtschaftsprozeß beeinflußenden Fragen wurden zentral entschieden: die Gründung oder Schließung von Betrieben, deren Produktionsprofil und dessen Änderung, die Allokation der Ressourcen, die Aufteilung zwischen Konsumtion und Investitionen, die Investitionsverteilung und einzuführende technische Entwicklungen, Ex- und Importe, Preis- sowie Finanzprobleme. Der wesentliche Unterschied zwischen den Verfugungs- und den Aneignungsrechten - unabhängig von der Hierarchieebene, auf der sie angesiedelt waren - bestand darin, daß erstere im Rahmen bestimmter Positionskompetenzen individualisiert wurden. Die Aneignung wirtschaftlicher Erlöse geschah dagegen nur in gemeinschaftlicher - sei es als Staat, Branche oder Betrieb -, aber nie in individueller Form. Die Verfügungsrechte konnten zu keiner Zeit vollständig zentralisiert werden. Bei den Aneignungsrechten gelang dies bis in die beginnenden sechziger Jahre weitgehend. Die den nachgeordneten Ebenen bewilligten Rechte blieben unvollständig und zweckgebunden, denn sie bestanden nur im Hinblick auf zentral gesetzte Ziele und waren an deren Erfüllung geknüpft. In Abhängigkeit davon konnten die Betriebe Mittel für Prämien und Investitionen aus ihrem erwirtschafteten Gewinn oder dem Staatshaushalt verwenden bzw. erhalten. 3 Daher waren sie zumindest formal interessiert, den Plan in seinen wesentlichen Vorgaben zu erfüllen. U m dies zu gewährleisten, lag den Betrieben und ihrem Führungspersonal daran, möglichst niedrige Planziele und hohe Ressourcenzuweisungen zu erhalten, wobei sie gleichzeitig vorhandene Kapazitäten und Vorräte zu verschleiern suchten, denn Ressourcen und nicht Geld bildeten in der Mangelwirtschaft die Budgetrestriktion. Dieses als "weiche Pläne" erörterte Phänomen wurde durch die allgemein aus Prinzipal-Agent-Beziehungen bekannte asymmetrische Informationsverteilung ermöglicht. Allerdings war die Erscheinung der "weichen Pläne" und anderer Formen der Leistungszurückhaltung immer relativ. Ihr stand der Expansionsdrang der Betriebe gegenüber, denn ein steigender Produktionsmaßstab versprach auch in Zukunft wachsende Inputs und erhöhte die eigenen Kompetenzen, wofür nach der Bürokratietheorie hohe Budgetzuweisungen als Indikator gelten konnten. Beiden
1 Vgl. zur Partizipation das dritte Kapitel. 2 Die folgende Darstellung von Struktur und daraus resultierenden Konsequenzen profitierte vor allem von: H. Leipold, Der Einfluß von Property Rights auf hierarchische und marktliche Transaktionen in sozialistischen Wirtschaftssystemen, in: A. Schüller (Hg.), Property Rights und ökonomische Theorie, München 1983, S.185-217; H. Riese, Geld im Sozialismus. Zur theoretischen Fundierung von Konzeptionen des Sozialismus, Regensburg 1990; J. Komai, The Socialist System. The Political Economy of Communism, Oxford 1992. 3 Vgl. zu den Prämien das dritte Kapitel und zu den Investitionen das vierte Kapitel.
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Tendenzen lag aber das dadurch dominierende Bestreben zugrunde, möglichst viele Ressourcen aller Art mit dem Plan zugewiesen zu bekommen. Finanziell war dies für die Betriebe kein Problem, da sie sicher sein konnten, letztlich auch im Fall negativer wirtschaftlicher Ergebnisse vom Staat alimentiert zu werden. Schon um die Vollbeschäftigung zu sichern und um die Überlegenheit des eigenen Wirtschaftssystems und die Perfektion seines Koordinationsmechanismus nachzuweisen, sah sich der Staat verpflichtet, keinen Betrieb in Konkurs gehen zu lassen und im allgemeinen den Finanzbedarf der Betriebe zu decken. Diese finanziell weiche Budgetbeschränkung - als "soft budget constraint" von Kornai in die Literatur eingeführt - war das Spiegelbild der beschränkten Betriebsautonomie und die Folge davon, daß die Planerfüllung Priorität vor der Wirtschaftlichkeit der eingesetzten Finanzmittel hatte. 1 Die zwischen Zentrale und Betrieb stehenden Hierarchiestufen verhielten sich in der Planausarbeitung zwiespältig. Von den ihnen übergeordneten Instanzen versuchten sie ebenso wie die Betriebe, die Voraussetzungen für maximales Produktionswachstum bei einem letztlich "weichen Plan" zu erhalten. Gegenüber den ihnen nachgeordneten Betrieben verlangten sie aber wie die Zentrale ein möglichst hohes Wachstum bei minimalem Ressourceneinsatz. Damit standen die nachgeordneten Struktureinheiten bis hin zu den Betrieben in einem Verhandlungs- bzw. Abstimmungsprozeß mit der ihnen vorstehenden Instanz Uber zu erbringende Leistungen und zur Verfügung stehende Inputs, was einen nicht unbeträchtlichen Transaktionsaufwand verursachte und die wechselseitigen Informationen erheblich verfälschte. Die übergeordneten Instanzen neigten dazu, in diesem Bargaining höhere Leistungen zu fordern, um dem Streben der nachgeordneten Ebenen nach "weichen Plänen" zu begegnen. Darüber hinaus hofften die Planer wohl, die vielfältigen Lücken und Löcher im Plan mittels höherer Produktion und damit mehr verteilbarem Ergebnis zu füllen. Deshalb wurden die Planvorgaben von "oben" regelmäßig überspannt, so daß die wirtschaftlichen Dysfiinktionalitäten anstiegen. Außerdem wirkten zu hohe Vorgaben kontraproduktiv, da sie den damit Beauflagten ohnehin nicht erfüllbar erschienen. 2 Beides - überspannte Planvorgaben und deren kontraproduktive Wirkung - war Anfang der sechziger Jahre im Anschluß an die Ende der fünfziger Jahre von der SED-Spitze herausgegebenen Aufgabe, die Bundesrepublik in Produktivität und Lebensstandard einzuholen, deutlich zu beobachten. 3 Auch die sowjetische Führung forderte von den DDR-Planern explizit, gegenüber den Branchen und Betrieben die Aufgaben zunächst möglichst hoch anzusetzen, auch wenn dadurch Spannungen im Plan entstünden. Entspannen könne man den Plan dann noch im Zuge der endgültigen Ausarbeitung. 4 Als Reaktion auf die hohen Wachstums-
1 Vgl. die Kritik an Kornai in: Riese, Geld im Sozialismus, S. 70f. 2
Vgl. H. Hunter, Optimum Tautness in Developmental Planning, in: Economic Development and Cultural Change 9, 1961, S. 561-572; M. Keren, On the Tautness of Plans, in: Review of Economic Studies 39, 1972, S. 469-486.
3
Leuschner an Ulbricht, 24.6.60: Gesichtspunkte zur Veränderung der Arbeitsweise, SAPMO-BA DY30 J IV 2/202/52.
4
Mewis an Ulbricht, 2.5.62: Ergänzungs-Information über die Aussprachen mit den Gen. Sasjadko, Nowikow und Kossygin, SAPMO-BA, NY4182/1207.
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vorgaben versuchten die nachgeordneten Einheiten ihre Ressourcenausstattung zu erhöhen. Zentral forciertes Produktionswachstum und Expansionsdrang der Betriebe trafen zusammen und verstärkten den allgegenwärtigen "Hunger" nach Ressourcen aller Art. Grundsätzlich war der Mangel aber dadurch bedingt, daß das Geld nicht knapp genug gehalten wurde, was sich in der weichen Budgetbeschränkung der Betriebe ausdrückte. Darüber hinaus blieben Anreize für einen sparsamen Ressourceneinsatz gering und schließlich sorgten Hortungserscheinungen ebenso wie Produktionsausweitung tendenziell für die Reproduktion des Mangels. Bei der im Planungsprozeß erfolgenden Allokation der Ressourcen über die Bilanzierung von Aufkommen und Verwendung standen die Wirtschaftseinheiten daher in Verteilungskonkurrenz, die in dem vertikal ablaufenden Bargaining entschieden wurde. Von den Ergebnissen dieses Verhandlungsprozesses hing in starkem Maße der Inhalt des Plans sowie seine mögliche und tatsächliche Erfüllung ab. Danach wurde wiederum der Betrieb und sein Führungspersonal bewertet, das in seiner Position von der übergeordneten Ebene abhängig war. Das Verhalten der Wirtschaftseinheiten wurde aber auch durch den Inhalt der Pläne bestimmt und dies war - soweit die Planung nicht in Naturaleinheiten erfolgte - eine Frage der Bewertung der Güter und Leistungen. Daraufhatte einerseits die Wahl der herangezogenen Kennziffer einen Einfluß. Lange Zeit war die Bruttoproduktion als entscheidend betrachtet worden. Sie erfaßte die Vorleistungen mit, was zunächst den Vorteil hatte, daß die Einbeziehung aller Kapazitäten und Ressourcen durch die Betriebe begünstigt wurde. Nachteilig war jedoch der damit verbundene überhöhte und unrealistische Leistungsausweis sowie der Anreiz für die Produzenten, möglichst viele Vorleistungen zu verwenden. Daher wurde nach teilweise bereits weitergehenden Überlegungen im Plan 1961 die Warenproduktion als zusätzliche und im Plan 1962 als wichtigste Kennziffer in Kraft gesetzt, wobei auch der tatsächliche Absatz berücksichtigt werden sollte. Damit konnten einige Mängel der Bruttoproduktion beseitigt werden, aber der prinzipielle Nachteil einer Bruttokennziffer blieb bestehen. 1 Andererseits determinierte das Preissystem die Bewertung der Waren. Den Produktionsplänen lagen Ende der fünfziger, Anfang der sechziger Jahre "unveränderliche Planpreise" zugrunde, da der Plan frei von Preiseinflüssen das Wachstum widerspiegeln sollte. Sie waren auf Basis der verschiedenen Typen 1955 geltender Preise gebildet worden. 2 Die Planpreise waren in sich widersprüchlich und wichen erheblich von den effektiven Abgabepreisen ab, die aber ebenfalls kein konsistentes System im Sinne eines einheitlich zugrunde liegenden Preisbildungsprinzips bildeten. 3 Da die Betriebe aber im Austausch die effektiven Preise realisierten und bezahlten, was sich entsprechend im Planteil Finanzen niederschlug, mußten Diskrepanzen zwischen der materiellen und der finanziellen Planung sowie in den Verteilungsbilanzen entstehen.
1 [SPK:] Thesen zur Vervollkommnung ..., 5.4.60, BA DE1/29996; Beschluß der SPK über die Vervollkommnung der Methodik zur Planung ..., 21.11.60, BA DE1/1351; Apel an Ulbricht, 3.1.61: Direktive zur Verbesserung der Planung ..., 11.1.61, SAPMO-BA NY4182/967; Roesler, Planwirtschaft, S. 160f. 2 [SPK:] Zum Problem: Planpreise, [September 1959], BA DE1/12622. Zu den unveränderlichen Planpreisen vgl. Statistisches Jahrbuch 1965, S. 99. 3 Vgl. das zweite Kapitel.
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Solche Diskrepanzen, die mangelhafte Koordinierung der verschiedenen Planteile und das Fehlen qualitativ ausreichender technisch-ökonomischer Normative eröffneten den Betrieben wiederum Spielräume, die sie mit ihren in den "weichen" Plänen versteckten Kapazitäts- und Ressourcenreserven noch vergrößerten. Diese "Polster" gaben ihnen die Chance, Lücken und Defizite in der Ausstattung mit Rohstoffen und Vorleistungen eigenständig - außerhalb der Pläne - zu schließen. Es entwickelte sich spontan und frei von zentraler Administration zwischen den Betrieben ein nicht vorgesehenes, naturalwirtschaftlich dominiertes Netz von Austauschbeziehungen. Es erforderte zwar von den Betrieben einen hohen Transaktionsaufwand. Aber der damit im Regelfall zu erzielende Grenznutzen - vor allem die Sorten- und qualitätsgerechte Inputausstattung im Detail - war offenbar höher als in der Planausarbeitung. Der Betrieb sicherte damit die Planerfüllung ab und verhielt sich einzelwirtschaftlich rational. Gesamtwirtschaftlich trug dieser "graue" Markt wohl nicht unerheblich zum Funktionieren des Systems bei. Er ist ein Beleg für die Existenz und Durchsetzungsfahigkeit partieller wirtschaftlicher Eigenlogik in dieser Gesellschaft. Im übrigen zählten zu diesem Graubereich des Wirtschaftens auch die extra-legalen Eingriffe des Parteiapparates. Allerdings war dessen Durchbrechen formaler Regeln politisch sanktioniert. Aber unabhängig davon bildete die Tatsache, daß die Funktionsweise des Systems das Unterwandern seiner eigenen formalen Regeln erforderte, ein Symptom seiner Ineffizienzen. Diese erstreckten sich nicht nur auf die Allokation, sondern aus der Theorie der X-Effizienz ist bekannt, daß bei den beschriebenen Systembedingungen, unter denen Individuen und Betriebe von einer Maximierung ihrer Leistung nicht den größten Nutzen haben, zwangsläufig X-Ineffizienzen auftreten müssen, d.h. die Inputausstattung hätte höhere Leistungen erlaubt, als tatsächlich erbracht wurden. Am deutlichsten offenbarten sich solche Ineffizienzen im Staatssozialismus in den Hortungserscheinungen auf allen nachgeordneten Ebenen. Im Unterschied zur Theorie, die mit Bezug auf marktwirtschaftliche Verhältnisse entwickelt wurde und solche Defizite insbesondere auf der Mikroebene konstatiert, mußte auf Grund der Systemstruktur im Staatssozialismus diese X-Ineffizienz auf allen Hierarchieebenen und damit volkswirtschaftlich auftreten. 1 Da den zentralen Wirtschaftsinstanzen im Laufe der Zeit bewußt wurde, daß die sich aus dem Planungsprozeß ergebenden Informationen verfälscht und dort nicht alle für eine ex ante Lenkung des Wirtschaftslebens erforderlichen Informationen zu gewinnen waren, benötigten sie dafiir eine weitere Quelle. Auf die Preise hatte man als unabhängige Informationsquelle und dezentrales Regulierungsinstrument bewußt verzichtet. Sie sollten als Recheneinheit und Anreiz für die Realisierung zentral festgelegter Ziele dienen. Ihre administrative Festlegung setzte somit die erforderlichen Informationen bereits voraus. 2 Als alternative Informationsquelle kam deshalb nur ein Kontrollsystem in Frage. Zwar hatten die verschiedenen Hierarchiestufen der Wirtschaftsbürokratie die Wirt-
1
Der "Vater" dieser Theorie, Harvey Leibenstein, wies selbst auf eine solche Möglichkeit hin. Zu den allgemeinen Grundzügen dieser Theorie und dem Auftreten derartiger Ineffizienzen in Staatsunternehmen - in marktwirtschaftlicher Umgebung - vgl. H. Leibenstein, General X-Efficiency Theory and Economic Development, N e w York u.a. 1978, S. 17-36, 171-178.
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Vgl. das zweite Kapitel.
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schaftstätigkeit der ihnen nachgeordneten Wirtschaftseinheiten zu kontrollieren und darüber zu berichten. Dabei trat aber eine Divergenz zwischen Kontroll- und Aneignungsrechten auf. Den Verantwortlichen kam der Nutzen aus ihrer Kontrolltätigkeit nicht zugute; sie konnten ihn sich nicht aneignen. Daher vernachlässigten sie die Kontrolle und widmeten sich den ihnen wichtiger erscheinenden Dingen, wie der operativen Lenkung ihres Verantwortungsbereichs und den im Planungsprozeß erforderlichen Verhandlungen. Das wurde dadurch gefördert, daß mögliche Verluste selten persönlich zuordenbar waren und letztlich vom Staat übernommen wurden. Als Reaktion darauf waren behördeninterne und externe Instanzen geschaffen worden, die sich ausschließlich Kontrollaufgaben zu widmen hatten und damit faktisch anhand der Aufdeckung von Mißständen bewertet wurden. Allerdings setzte ihnen die zur Verfugung stehende Kapazität Grenzen. Außerdem hatten sie kaum Einfluß darauf, daß die tiefer liegenden, im Lenkungs- und Koordinationsmechanismus begründeten Ursachen für die Mißstände beseitigt wurden. Ihre Tätigkeit war in erster Linie darauf gerichtet, die Planerfüllung sicher zu stellen. Diese Kontrollinstanzen und damit die Informationsstrukturen innerhalb der Wirtschaftsbürokratie waren aber nicht von der Hierarchie unabhängig. Die entstehende Kontrollücke wurde zumindest teilweise vom SED-Apparat ausgefüllt, der in größerem Umfang Kontrollrechte wahrnahm. Er war gegenüber der Wirtschaftsbürokratie ungleich durchsetzungsfahiger als dessen eigene Kontrollinstanzen. Gleichwohl konnte auch der Parteiapparat die grundsätzlichen Informationsdefizite aller Wirtschaftssubjekte nicht aufheben. Er nahm die Kontrollfunktionen stärker wahr, obwohl seine Aneignungsrechte nicht größer als die der Wirtschaftsbürokratie waren. Dafür dürfte vielmehr der von den Parteifunktionären verinnerlichte und deren Handeln steuernde, Uber die Wirtschaft weit hinausgreifende paternalistische Anspruch der SED eine Rolle gespielt haben. Die Partei, als deren bester Teil sich ihr Funktionärskörper verstand, meinte am besten zu wissen, was sowohl mikro- als auch makroökonomisch erforderlich war, um die wirtschaftliche Leistung zu maximieren. Außerdem waren die Parteifunktionären selbst nicht in die operative Wirtschaftstätigkeit eingebunden, so daß sie freier (manches Mal auch ungerechter) urteilen konnten und angesichts der Omnipräsenz der SED wurden sie von der Bevölkerung letztlich für die wirtschaftlichen Mißstände und Defizite verantwortlich gemacht, auch wenn sie selbst die Schuld für wirtschaftliche Fehlschläge den staatlichen Instanzen anlastete. Deshalb griff der Parteiapparat auf quasi extralegale Weise in den Wirtschaftsprozeß ein. Beide Kontroll- und Informationskanäle erwuchsen aber nicht endogen aus den wirtschaftlichen Aktivitäten selbst und boten damit vielfaltige Ansatzpunkte für verfälschende Interessen. Abgesehen von der mangelnden Kontrollbereitschaft in der Wirtschaftsbürokratie fehlte ihr aber ebenso wie dem Parteiapparat dazu auch die Fähigkeit. Die Vielzahl der Produktionsfunktionen mußte ihnen unzugänglich bleiben und daher verfügten sie über keine normative Basis zur Überprüfung der Angaben der Betriebe. Außerdem verdeckte die erforderliche Aggregation der Informationen punktuell auftretende Überschüsse bzw. Defizite ebenso wie die Verflechtungsbeziehungen im Detail. Die administrative Festlegung von verschiedenen Preisbasen und die dabei auftretenden Diskrepanzen verfälschten ebenfalls die Informationen. Deren unzureichende Qualität führte aber dazu, daß es der Zentrale weder gelingen konnte, einen konsistenten Plan aufzustellen, noch eine optimale Allokation zu erreichen. Inkonsistente Pläne waren aber per se nicht in allen Positionen zu
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erfüllen. Da sich auf solche Weise erwies, daß die volkswirtschaftliche Komplexität zentral nicht zu beherrschen war, tendierte man dazu, den Koordinierungsmechanismus auf bestimmte Prioritäten zu konzentrieren, um eine gewisse Steuerungsfähigkeit zu erreichen. Damit verstärkten sich aber zwangsläufig die Ungleichgewichte. Die Investitionen, mit denen Wachstum und Struktur der Volkswirtschaft langfristig bestimmt und gelenkt wurden, sahen die Parteispitze und die SPK als besonders wichtigen Schwerpunkt an. Ihnen gab die Zentrale, wenn bei der Planung über die Aufteilung des verteilbaren Endprodukts auf Investitionen und Konsumtion entschieden wurde, im Rahmen politischer und sozialer Opportunität den Vorrang. Diese zentrale Investitionspräferenz war wiederum mit dem "Investitionshunger" (Kornai) von "unten" gekoppelt, der eine spezielle Form des allgemeinen Strebens nach Ressourcen darstellte. Die Investitionspräferenz führte zu schnellem Wirtschaftswachstum, solange Arbeitskraftreserven mobilisiert werden konnten. Nachdem diese jedoch in der zweiten Hälfte der fünfziger Jahre erschöpft waren, zog die systematische Bevorzugung der Investitionen zum einen sinkende Anlagenproduktivität und zum anderen weiter wachsenden Ressourcenhunger nach sich. 1 Auf diese Weise wurde - in der DDR durch die innerdeutschen Wanderungsverluste verstärkt - die Vollbeschäftigung realisiert, und es bildete sich ein akuter Arbeitskräftemangel heraus. Gleichwohl verbargen sich dahinter Hortungserscheinungen der Betriebe und damit Produktivitätsreserven. Angesichts der (relativen) Erschöpfung des volkswirtschaftlichen Beschäftigungspotentials und der juristisch garantierten Arbeitsplatzsicherheit war es für die Betriebe schwierig, ihre Beschäftigten zu Leistungssteigerungen zu motivieren. Wirtschaftliche Anreize mußten ein bestimmtes Ausmaß erreichen, um wirksam zu werden. Deren Spielraum war aber dadurch begrenzt, daß diesem Gesellschaftstyp eine auf Gleichheit zielende Utopie zugrunde lag. Außerdem ergaben sich dabei makroökonomische Restriktionen aus dem Konsumgüterangebot. Die um die Arbeitskräfte konkurrierenden Betriebe fanden jedoch Wege, diese zentral vorgegebenen Grenzen zu umgehen, so daß die Lohnausgaben unplanmäßig stiegen. 2 Investitionspräferenz von "oben" und "Investitionshunger" von "unten" sowie Lohndrift verstärkten die Güternachfrage. Da die Preise im wesentlichen administrativ festgeschrieben waren, konnte einerseits die aus der Mangelwirtschaft resultierende Inflation unterdrückt werden, andererseits wurde aber der Mangel weiter verstärkt, weil die Preisentwicklung nicht die Nachfrage beschränkte. Der allgemeine Warenhunger war aber auch ein Grund, weshalb die Betriebe wenig Neigung zur Erneuerung ihrer Produktsortimente zeigten, da ihnen ohnehin alles abgenommen wurde. Ein weiterer effizienzmindernder Faktor war die Tendenz, sich vom Weltmarkt abzuschotten. Sie resultierte zum einen aus der Systemkonfrontation im Kalten Krieg. Zum anderen lagen diesem Trend systeminterne Ursachen zugrunde. Wenn die binnenwirtschaftlichen Aktivitäten bewußt und planvoll gestaltet werden sollten, war es konsequent, auch unvorhergesehene außenwirtschaftliche Einflüsse zu minimieren. Daher konzentrierte man den nicht zu vermeidenden internationalen Austausch auf Länder mit dem gleichen Wirtschaftssystem. Infolge des auch in diesen Ländern vorherr-
1 Vgl. zu den Investitionen und ihrer Effektivität das vierte Kapitel. 2 Vgl. zu den Beschäftigungsproblemen und den Leistungsanreizen das dritte Kapitel.
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sehenden Mangels konnten die Erzeugnisse dort unabhängig von ihrer internationalen Konkurrenzfähigkeit abgesetzt werden. Da aber bestimmte Rohstoffe und Produkte nur auf den Weltmärkten zu erwerben waren, blieb man im Fall der DDR zu einem nicht unbeträchtlichen Teil weiter auf den Austausch mit dem "nichtsozialistischen" Wirtschaftsgebiet angewiesen. Um diese Importe bezahlen zu können, mußte bei der im allgemeinen sinkenden internationalen Konkurrenzfähigkeit der eigenen Erzeugnisse um jeden Preis exportiert werden. Spätestens dabei waren die Ineffizienzen des Systems deutlich sichtbar, denn mit der Abschottung vom Weltmarkt verringerte sich für die Betriebe der Zwang zur Innovation. 1 Die binnenwirtschaftlichen Autarkietendenzen erschwerten diese zusätzlich. Das komplexe und übergreifende Herangehen an Wirtschaftsabläufe, wie es insbesondere Neuerungsprozesse verlangen, war dadurch behindert, daß für Abstimmungsprozesse die vertikalen Leitungsbeziehungen favorisiert wurden. Man stand Innovationen meist auch deshalb nicht besonders aufgeschlossen gegenüber, weil die Verantwortlichen das mit ihnen verbundene Risiko scheuten. Schließlich wurden sie nach der Erfüllung des Produktionsplans bewertet und Neuerungen konnten - vor allem wenn sie im Plan nicht vorgesehen waren - diese gefährden. Demgegenüber stand, daß es nicht ausreichend honoriert wurde, sich um Innovationen zu bemühen, und es gab faktisch keine Sanktionen, wenn diese über längere Zeit vermieden wurden, weil das Konkursrisiko ausgeschlossen war. Insofern lag die Innovationsschwäche ganz überwiegend im System selbst begründet. 2 Effizienzverluste und fehlende Innovationen vertieften letztlich die ohnehin wachsenden Diskrepanzen zwischen Angebot und Nachfrage, wie sie für die Betriebe in fehlenden und nicht zu erhaltenden Vorleistungen sowie für die Bevölkerung in Lücken im Einzelhandelsangebot deutlich sichtbar wurden. Da sie solche ökonomischen Schwierigkeiten letztlich der Partei anlasteten, sah sich diese in Abständen immer wieder unter Druck, Reorganisationen oder Reformen in die Wege zu leiten, um die wirtschaftlichen Resultate zu verbessern.
Wirtschaftslage zu Beginn der sechziger Jahre Der SED-Spitze waren viele der angeführten Probleme und Defizite des Lenkungs- und Koordinationsmechanismus bewußt, aber sie hielt sie prinzipiell für lösbar. Der Glaube an die Überlegenheit des eigenen Systems schien sich in solchen Ereignissen, wie dem Start des ersten sowjetischen
1 In der vorliegenden Arbeit umfassen Innovationen die technisch-wirtschaftliche Entstehung und die Diffusion einer Neuerung. Außerdem bezieht sich der Neuigkeitswert auf die DDR, d.h. als Innovation werden hier nicht nur die wenigen genuin in der DDR entstandenen Güter, Verfahren, Organisationslösungen u. ä., sondern auch die Imitation international erfolgreicher Entwicklungen verstanden. 2 Vgl. zusammengefaßt: U. Wagner, Innovationsprobleme im Wirtschaftssystem der DDR, in: G. Gutmann (Hg.), Das Wirtschaftssystem der DDR. Wirtschaftspolitische Gestaltungsprobleme, Stuttgart u.a. 1983, S. 311-329; H.-J. Wagener, Zur Innovationsschwäche der DDR-Wirtschaft, in: J. Bähr/D. Petzina (Hg.), Innovationsverhalten und Entscheidungsstrukturen. Vergleichende Studien zur wirtschaftlichen Entwicklung im geteilten Deutschland, Berlin 1996, S. 21-48; H. Schröter, Verfügbarkeit gegen Wirtschaftlichkeit. Paradigmen in der Forschungs- und Technologiepolitik beider deutscher Staaten, in: Technikgeschichte 63, 1996, S. 343-361.
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Weltraumsatelliten, des "Sputnik", zu bestätigen. Um die Attraktivität des eigenen Systems zu heben und damit die Fluchtbewegung aus der DDR in den Westen einzudämmen, verkündete Parteichef Walter Ulbricht auf dem V.Parteitag der SED 1958 als "ökonomische Hauptaufgabe", daß bis 1961 "der Pro-Kopf-Verbrauch unserer werktätigen Bevölkerung mit allen wichtigen Lebensmitteln und Konsumgütern den Pro-Kopf-Verbrauch der Gesamtbevölkerung in Westdeutschland erreicht und übertrifft".' Auf der Basis der günstigen wirtschaftlichen Ergebnisse seit 1957 meinte man angesichts der konjunkturellen Zwischenschwäche 1958 und einer erwarteten Wirtschaftskrise in der Bundesrepublik, diese anspruchsvolle Aufgabe bewältigen zu können. Dabei erhoffte sich die SED-Spitze größere Unterstützung aus der Sowjetunion. 2 Zwar war ein solches Ziel von dort angeregt worden, aber es lag für die Parteiführung ebenso auf der Hand, da die eigene Bevölkerung immer mit dem westlichen Teil Deutschlands verglich. Ihr war bekannt, als sie die "ökonomische Hauptaufgabe" verabschiedete, daß sie nur mit beträchtlichen zusätzlichen Rohstoffimporten auch aus dem Westen gelöst werden konnte, wofür die Hilfe der UdSSR erforderlich war.3 Nur auf dieser Basis war der Pro-Kopf-Verbrauch in wichtigen Positionen im Vergleich mit der Bundesrepublik schnell zu erhöhen. 4 Die Vorstellung, die Sowjetunion würde dergleichen möglich machen, erklärt auch den Widerspruch 5 , daß mit dem 1959 beschlossenen Siebenjahrplan die Bundesrepublik bei der Arbeitsproduktivität erst bis 1965 eingeholt und überflügelt werden sollte. 6 Offenbar war selbst
1 Vgl. Protokoll der Verhandlungen des V.Parteitages der SED, 10. bis 16.Juli 1958, Berlin (O) 1959, S.68, 70. Mit der Festlegung auf unterschiedliche Bevölkerungskategorien wollte man sich wohl eine statistische Hintertür offen lassen. 2 Ulbricht an Chruschtschow, 19.1.61, SAPMO-BA DY30 J IV 2/202/30. Veröffentlicht in: A. Steiner, Politische Vorstellungen und ökonomische Probleme im Vorfeld der Errichtung der Berliner Mauer. Briefe Walter Ulbrichts an Nikita Chruschtschow, in: H. Mehringer (Hg.), Von der SBZ zur DDR: Studien zum Herrschaftssystem in der Sowjetischen Besatzungszone und in der Deutschen Demokratischen Republik, München 1995, S. 233-268. Siehe dort auch zu den Wachstumsraten in der Bundesrepublik und der DDR. Vgl. H. Weber, Geschichte der DDR, München 1985, S. 298ff.; D. Staritz, Geschichte der DDR, (Erweiterte Neuausgabe), Frankfurt/M. 1996, S. 174ff. 3 Leuschner an Ulbricht, 3.3.59, SAPMO-BA DY30 J IV 2/202/29; Arbeitsmaterial. Einschätzung der sich aus der Entwicklung bis 1961 ergebenden Auswirkungen ..., 18.1.61, BA DE1/49122. 4 Laut den Planungen der SPK sollte bis 1961 in der DDR der Verbrauch Westdeutschlands von 1956/57 erreicht werden. (Vgl.: Bemerkungen zum überarbeiteten Projekt..., 1.7.58, SAPMO-BA NY4062/99) Bei diesem Vergleich wiesen die Statistiken der DDR bei ausgewählten Nahrungsmitteln und Konsumgütern zum Zeitpunkt des Beschlusses bereits einen höheren Pro-Kopf-Verbrauch als die Bundesrepublik aus. (Vgl. Statistisches Jahrbuch 1962, S. 573.) Der methodischen Fragwürdigkeit dieser Vergleiche soll nicht nachgegangen werden, da es an dieser Stelle um die subjektive Basis für diese Aufgabe geht. Jedoch trifft auch die Vermutung Roeslers nicht zu, daß der Termin 1961 in der SPK nie eine Rolle spielte. Vgl. J. Roesler, Zwischen Plan und Markt. Die Wirtschaftsreform 1963-1970 in der DDR, Berlin 1990, S. 17. 5 Auf diese Diskrepanz verwies: Staritz, Geschichte der DDR, S. 176. 6 Gbl. 1959,1, S. 705.
40
Entwicklung und Implementation
der Reform
der SED-Spitze klar, daß der nach eigener Einschätzung 24 bis 28 % betragende Produktivitätsrückstand der Industrie 1 nicht innerhalb von zwei Jahren aufgeholt werden konnte. So unrealistisch diese Aufgabe wirtschaftlich erschien, so konsequent war sie politisch. Nur mit dem öffentlichen Nachweis wirtschaftlicher Leistungsfähigkeit waren das System sowie die DDR und damit die Macht der SED langfristig zu sichern. Die hinter diesen Vorgaben stehende Wachstumseuphorie hatte ihre Grundlagen aber in unzulässigen Extrapolationen der im Zuge extensiver Entwicklungen erreichten Zuwachsraten sowie in der festen Überzeugung von der Überlegenheit des eigenen Systems. Ein weiterer Beleg für den Optimismus, mit dem man in der DDR-Führung Anfang 1960, genährt von den hohen Zuwachsraten der letzten Jahre, in die Zukunft blickte, waren die Vorstellungen im Rahmen einer "Generalperspektive", ab 1965 den Kommunismus aufzubauen oder gar die USA in Produktivität und Lebensstandard überholen zu wollen. Dies wurde zwar rasch zurückgewiesen. 2 Aber solche euphorischen Ideen trugen ihren Teil zu dem Entschluß bei, die Entwicklung einer sozialistischen Gesellschaft voranzutreiben und in der Landwirtschaft die Kollektivierung zum Abschluß zu bringen. Die Realisierung dieser ehrgeizigen Ziele erforderte es, die Investitionen beträchtlich zu steigern, was die vorhandenen Ressourcen - ebenso wie die hohen konzipierten Produktionszuwächse - überforderte. (Vgl. Tabelle 1.1) Tabelle 1.1: Jährliches Wachstum ausgewählter Kennziffern in Gegenüberstellung von Siebenjahrplan, Jahresplan und realer Entwicklung 1959 bis 1963 in % 1959
1960
1961
1962
1963
Industrielle Bruttoproduktion insgesamt 9,2
Siebenjahrplan
10,5
9,9
9,4
8,8
Jahresplan
11,5
10,2
7,2
6,2
6,2
Ist
13,1
8,1
6,0
6,1
4,3
8,1
9,4
9,1 6,5
8,9
9,6
9,7
6,1
7,0
9,6
9,4
5,0
6,6
4,8
Arbeitsproduktivität der staatlichen Industrie Siebenjahrplan Jahresplan Ist
-
Investitionen in der Volkswirtschaft insgesamt Siebenjahrplan
19,7
14,5
11,5
8,8
8,3
Jahresplan
19,8
14,7
8,9
7,1
7,4
Ist
15,3
9,5
1,4
1,9
2,5
Quelle: SPK: Übersicht über die Erfüllung wichtiger Kennziffern des Siebenjahrplanes der DDR 1959-1965, 24.3.66, SAPMO-BA, DY30 IV A2/2021/260.
1 Übersicht über die Entwicklung des Niveaus der Arbeitsproduktivität..., BA DE1/51761. 2
HA Perspektivplanung: Thesen für die Grundlinie der Entwicklung ..., 14.1.60, BA DE1/49121; Niederschrift über die wichtigsten Bemerkungen in der Beratung ... am 4.3.60, BA DE1/3054. Vgl. Roesler, Plan und Markt, S. 15.
A usgangssituation
41
Die Versorgungslage der Industrie verschlechterte sich 1960 drastisch. Das gesamte Jahr hindurch bestanden aus verschiedenen Gründen Schwierigkeiten, bestimmte Materialsorten sowohl aus der Bundesrepublik als auch aus der Sowjetunion und anderen RGW-Ländern bereitzustellen. Das sich 1960 verschlechternde Warenangebot für die Bevölkerung war im Innern das deutlichste Zeichen für die angespannte Lage. Diskussionen und Unzufriedenheit gab es insbesondere über Angebotslücken bei Fleisch, Wurst, Butter, Käse, Schuhen, Untertrikotagen und Waschmitteln. Diese resultierten aus der allgemein komplizierten Rohstofflage und den Problemen in der Landwirtschaft infolge der Kollektivierung. Außerdem waren die Warendefizite darauf zurückzuführen, daß sich mit der wachsenden Fluchtbewegung aus der DDR die Geldeinnahmen der Bevölkerung schneller entwickelten als geplant und damit das geplante Gleichgewicht zwischen Warenangebot und Geldeinnahmen verfehlt wurde.' Als die Bundesregierung die Kündigung des Berliner Abkommens über den innerdeutschen Handel im September 1960 zum Jahresende ankündigte, zeichnete sich eine wesentliche Verschärfung der Lage ab. In der SPK war man der Meinung, "daß nach der jetzigen Lage, d.h., wenn keine außergewöhnliche Hilfeleistung (seitens der Sowjetunion - A.S.) erfolgt und der innerdeutsche Handel vollständig zum Erliegen kommt, es schon im I.Quartal 1961 zu schwierigen Situationen kommt und daß in vielleicht 400 - 500 größeren Betrieben des Maschinenbaus, der Textilindustrie und des Bauwesens sowie der chemischen Industrie Betriebsstillstände eintreten und daß vielleicht sogar einzelne Industriezweige zur Kurzarbeit übergehen müssen." Diese Ansicht war zwar den Autoren zufolge etwas dramatisiert2, aber die SED-Spitze hatte sich im Laufe des Jahres bereits mehrfach mit Bitten um Hilfe an die Sowjetunion wenden müssen. Ulbricht beteuerte gegenüber Chruschtschow: "Wir drehen buchstäblich jede Valutamark, die wir für Importe ausgeben müssen, mehrmals um. Wir stellen zurück und disponieren um. Aber das alles hat natürlich auch eine Grenze. Wenn die Decke nicht ausreicht, dann kann man abschneiden, was und an welcher Ecke man will, da kann man auch hier und da einen Flicken ansetzen, aber insgesamt bleibt die Decke zu knapp und keine Schere und Nadel macht sie passender." Trotz aller Einsparungen "stehen wir vor einer solchen Situation, daß wir zur Zeit nicht wissen, wie wir unter den gegenwärtigen Bedingungen überhaupt weiterkommen sollen." 3 Jedoch erst nach einem Gespräch zwischen Ulbricht und Chruschtschow am 30. November 1960 im Anschluß an ein Treffen kommunistischer
1 Abt. Handel, Versorgung und Außenhandel: Bericht über die gegenwärtige Versorgungslage, 8.11.60, SAPMO-BA DY30 IV 2/2029/14. 2
Zusammenfassende Übersicht über die Hauptprobleme der wirtschaftlichen Entwicklung, [Oktober 1960], SAPMO-BA NY4113/19. Dieses Dokument wurde für Verhandlungen von Ulbricht in Moskau ausgearbeitet. In dem Anschreiben betonte Apel: "Die Dinge sind so dargestellt, daß die negativen Auswirkungen sichtbar werden, daß Du aber andererseits die Möglichkeiten hast, je nach dem Verlauf der Verhandlungen abzuschwächen. Wir haben uns bemüht, die reale Lage so ernst einzuschätzen wie sie ist und dabei absichtlich verzichtet auf die Darstellung bestimmter politischer Konsequenzen, die aber unschwer aus der fixierten Lage abzuleiten sind." (Apel an Ulbricht, 2.11.60, SAPMO-BA DY30 IV 2/2029/32).
3
Ulbricht an Chruschtschow, 19.10.60, SAPMO-BA DY30 J IV 2/202/29.
42
Entwicklung und Implementation
der Reform
und Arbeiterparteien in Moskau war die sowjetische Seite zu größerer Unterstützung für die DDR bereit.' Nachdem kurz vor Jahresende 1960 die Kündigung des Abkommens Uber den innerdeutschen Handel zurückgenommen worden war, wollte die DDR trotz der Beschlüsse zur Abkopplung von den westlichen Volkswirtschaften ("Störfreimachung") 2 daraus "den gebührenden wirtschaftlichen Nutzen" ziehen. 3 Auch von sowjetischer Seite wurde sie gedrängt, den Handel mit Westdeutschland zu erweitern. Gleichzeitig wollte die Sowjetunion aber Reserven schaffen, die ihr ein sofortiges Einspringen bei Lieferausfallen aus der Bundesrepublik ermöglichen sollte. Auch wachsende Schulden gegenüber der Bundesrepublik sah die sowjetische Seite zu dieser Zeit nicht als störend an. Langfristig blieb man sich jedoch über die Notwendigkeit wirtschaftlicher Unabhängigkeit vom Westen einig. Die UdSSR versprach sich wohl von dieser Vorgehensweise, daß sie selbst entlastet werde und das Deutschlandproblem politisch nicht weiter verschärft würde. Letzteres legt jedenfalls die explizit nationale Argumention der sowjetischen Seite in diesem Zusammenhang nahe. Gegenüber den anderen westlichen Ländern hingegen sollte ihrer Auffassung nach für kontinuierliche Kreditaufnahme und -rückzahlung gesorgt werden." Die Gesamtverschuldung aus laufender Warenbewegung, Dienstleistungen und Krediten der DDR betrug gegenüber dem "kapitalistischen Wirtschaftsgebiet" Ende 1960 472 Mill. Valutamark und Ende 1961 670 Mill. Valutamark. 5 Der Negativsaldo der Zahlungsbilanz gegenüber dem Hartwährungsgebiet machte 1960 21,1 % und 1961 27,8 % des Exportes in die gleiche Richtung aus. 6 Eine solche Größenordnung wirkte bei der damaligen politisch zugespitzten Lage und bei den Vorstellungen, die in der SED- wie auch in der sowjetischen Führung über Erpreßbarkeit und Unabhängigkeit gegenüber dem westlichen System bestanden, bedrohlich und wurde als Krisensymptom interpretiert. Wohl auch aus diesem Grund erfüllte die Sowjetunion letztlich für 1961 trotz eigener Schwierigkeiten den größten Teil der Bitten der DDR. Jedoch waren mit ihren Zusagen die Ziele des Siebenjahrplanes sowie der ökonomischen Hauptaufgabe nicht mehr zu erfüllen, was man intern bereits im Sommer 1960 eingestehen mußte. Daher "präzisierte" die SPK Anfang Mai 1961 den Siebenjahrplan, d.h. die Planziele wurden gesenkt. 7 Daraufhin stellte Ulbricht in einer Beratung mit dem langjährigen SPK-Vorsitzenden Bruno
1 Aktenvermerk über die Unterredung des Gen. Walter Ulbricht mit Gen. N.S.Chruschtschow, SAPMO-BA DY30 J IV 2/202/30. 2
Beschluß der SPK über die Sicherung der Wirtschaft der DDR gegen willkürliche Störmaßnahmen militaristischer Kreise in Westdeutschland, 4.1.61, BA DE1/2465.
3 4
Ulbricht an Chruschtschow, 19.1.61, SAPMO-BA DY30 J IV 2/202/30. Leuschner an Ulbricht, 27.1.61, SAPMO-BA DY30 J IV 2/202/30; Aktenvermerk über eine Unterredung zwischen den Gen. Mikojan und Rau anläßlich der Unterzeichnung des Abkommens am 23.2.61 in Moskau, SAPMO-BA DY30 IV 2/2029/150.
5
Leuschner: Politbürovorlage (Entwurf). Probleme des Außenhandels der DDR. Information ..., [April 1962], SAPMO-BA DY30 IV A2/2021/67. Der interne Umrechnungskurs lautete zu dieser Zeit 1 Dollar = 4,20 Valutamark. Zur Valutamark vgl. den Abschnitt zur außenwirtschaftlichen Lenkung.
6
Berechnet nach vorherigen Angaben und Statistischem Jahrbuch 1962, S. 547.
7
Erste zusammenfassende Einschätzung der bisherigen Ergebnisse der Regierungsverhandlungen zwischen
Ausgangssituation
43
Leuschner und dem Sekretär der Wirtschaftskommission beim Politbüro Günter Mittag fest, "daß nach seinen Einschätzungen die Republikflucht zunehmen wird, die Lage schwerer wird, weil bestimmte Ziele des Siebenjahrplanes nicht erfüllt werden können." 1 In dem wirtschaftlich günstigen Jahr 1959 waren nach Angaben der SPK "nur" 81.073 Menschen nach Westen geflohen. Im folgenden Jahr verdoppelten die öffentlichen Forderungen Ulbrichts nach Lösung des Berlin-Problems und nach Abschluß eines Friedensvertrages ebenso wie die Kollektivierung in der Landwirtschaft und die Lücken im Warenangebot diese Zahl auf 159.768 und im Jahr 1961 entschieden sich noch einmal 178.803 Menschen dafür, der DDR den Rücken zu kehren. 2 Neben den bereits angeführten Gründen spielten für diese Entscheidung Faktoren eine Rolle, die eine Politbürokommission bereits 1956 herausgearbeitet hatte. Außer der offiziell immer wieder propagierten "Abwerbung" wurden dort die wirtschaftlichen Schwierigkeiten und Engpässe sowie der gegenüber dem Westen zurückbleibende Lebensstandard benannt, was Teilen der Bevölkerung inzwischen unüberwindbar erschien. Gerade für Industriebeschäftigte war die mangelhafte Arbeitsorganisation in den Betrieben und die diskontinuierliche Produktion entscheidend flir ihre Abwanderung. Sie gaben in vielen Fällen an, "nur deswegen weg(zu)gehen, weil sie 'geordnet arbeiten möchten'". 3 Diese Westmigration war für die SED-Spitze das größte Problem. Politisch offenbarte sie die Ablehnung des Systems. Wirtschaftlich verstärkte sie kurzfristig die akute Krisensituation, weil die fehlenden Arbeitskräfte die Produktionsausfälle in der Industrie erhöhten. Nach einer Ende 1962 erarbeiteten Einschätzung der SPK ergaben sich in der gesamten Volkswirtschaft durch "abgeworbene" Erwerbstätige auf Basis der erreichten volkswirtschaftlichen Produktivität sowie der Wanderungsverluste in die Bundesrepublik 1960/61 Produktionsausfälle in Höhe von 3,9 Mrd. Mark. 4 Darüber hinaus verhinderte die massenhafte Flucht in die Bundesrepublik, daß
1 2
3 4
der UdSSR und der DDR auf die Entwicklung der Volkswirtschaft der DDR im Zeitraum 1962 - 1965 und die sich daraus ergebenden Schlußfolgerungen für die weitere Arbeit, 26.4.61, SAPMO-BA DY30 JIV 2/202/30. Vgl. [SPK:] Vermerk zu Fragen der Einholung und Überholung Westdeutschlands, 19.8.60, BA DE1/912. Vermerk über die Besprechung bei Gen. Walter Ulbricht am 3.5.61, SAPMO-BA DY30 J IV 2/2J/743. Einschätzung der Verluste, die der Volkswirtschaft durch Abwerbung von Arbeitskräften entstanden sind, in: SAPMO-BA, NY4182/972. Die Differenzen zu den Zahlen aus dem Notaufnahmeverfahren in der Bundesrepublik erklären sich durch die Form der Erhebung in der DDR, wo die Betriebe die Zahl der "Abgeworbenen" und die Volkspolizei die "verschwundene" Wohnbevölkerung zu melden hatte. Da mit der Höhe dieser Zahl von der Zentrale eine Bewertung der politischen Wirksamkeit der betrieblichen und örtlichen Funktionäre verbunden wurde, war deren Interesse an einer vollständigen Erfassung gering. Vgl. Die Flucht aus der Sowjetzone und die Sperrmaßnahmen des kommunistischen Regimes vom 13.August 1961, Bonn, Berlin (West) 1961, S. 15. Die dort angegebenen Zahlen wurden auch in die historischen Darstellungen übernommen. Vgl. u.a. Weber, Geschichte der DDR, S. 325. Bericht der Kommission zu Fragen der Republik-Flucht, 25.5.56; Stellvertreter des Vorsitzenden an Leuschner: Republik-Flucht, 25.9.56, BA DE1/6109. Einschätzung der Verluste, die der Volkswirtschaft durch Abwerbung von Arbeitskräften entstanden sind, in: SAPMO-BA, NY4182/972. Hier wird als DDR-Währungsbezeichnung einheitlich Mark verwendet. Von 1948 bis 1964 galt die Deutsche Mark der Deutschen Notenbank. Von 1964 bis 1967 bezeichnete
Entwicklung und Implementation der Reform
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gegenüber den Beschäftigten konsequent Leistungsforderungen bzw. -anreize durchgesetzt werden konnten. Der mit der Abwanderung verbundene Arbeitskräftemangel war letztlich sowohl Folge als auch Ursache der Produktionsrückstände, der Defizite bei Vorleistungen in der Industrie und im Warenangebot für die Bevölkerung. Für die Spitzen von Partei und Wirtschaft stand jeder Plan unter dem Vorbehalt, wie viele Menschen im Planzeitraum die DDR verlassen würden. Auch das machte die Planung unsicher. Mittel- und langfristig entzog die Fluchtbewegung der DDR-Wirtschafit außerdem Wachstumspotentiale in Form von Humankapital. Dies mußte die Verantwortlichen noch mehr beunruhigen. Jedoch war man sich bewußt, wie Leuschner seinem sowjetischen Partner erklärte, "daß man unter den Bedingungen der DDR bei offenen Grenzen keinerlei Experimente machen kann." 1 Alle wirtschaftlichen Auswege mußten in der gegebenen Lage die Fluchtbewegung weiter verstärken. Im Interesse des eigenen Machterhalts suchte die SED-Spitze einen außerökonomischen Weg, sie zu unterbinden und damit die gesamte Planung wieder kalkulierbar zu machen. Danach konnte sie versuchen, die der Abwanderung nach Westen zugrunde liegenden wirtschaftlichen Probleme zu lösen. Deshalb entschloß sich die SED-Spitze in Abstimmung mit der Sowjetunion, im August 1961 die Berliner Mauer zu errichten und damit die Westflucht gewaltsam zu stoppen. 2 Intern wurde dieser Akt wirtschaftlich begründet, obwohl er nach außen hin politische Probleme und vor allem die von der SED-Spitze selbst mit angeheizte Berlin-Krise lösen sollte. 3
Erste Versuche zur Lösung der Wirtschaftskrise Die Schwierigkeiten, Material und Arbeitskräfte bereitzustellen, führten dazu, daß die Zuwachsraten der Produktion und der Produktivität ebenso wie die der Investitionen zurückgingen (vgl. Tabelle 1.1). Dabei hatten sich längerfristige Tendenzen der Erschöpfung der extensiven Wachstumsfaktoren mit den akuten Krisenprozessen verbunden. Die ehrgeizigen Ziele der SED-Spitze waren zunächst in weite Ferne gerückt. Das Krisenbewußtsein, das sie zu jener Zeit zeigte, machte sie empfanglich für Ideen, wie die wirtschaftlichen Ergebnisse verbessert werden könnten. Sie war nicht nur wegen der sinkenden Zuwachsraten beunruhigt, sondern gerade als "Repräsentanten der Arbeiterklasse", als die sich die Parteiführer verstanden, war ihnen klar, wenn die Arbeiter flohen, weil
man die Währung als Mark der Deutschen Notenbank (MDN) und seit 1968 als Mark der DDR (M). 1 Niederschrift über die Wirtschaftsverhandlungen ... am 22.4.61, 23.4.61, SAPMO-BA DY30 JIV 2/202/30. Diese Formulierung bezog sich im Gesprächszusammenhang zwar vordergründig auf Rohstofflieferungen der Sowjetunion, gab aber das allgemeine Gefühl gegenüber Veränderungen irgendwelcher Art in der SED-Spitze wieder. 2
Vgl. zu der Problematik auch das dritte Kapitel.
3
Siehe die "Begründung" in: Ulbricht an Chruschtschow, 4.8.61: Information über die Ursachen der wirtschaftlichen Schwierigkeiten der DDR, SAPMO-BA DY30 J IV 2/202/30. Veröffentlicht in: Steiner, Politische Vorstellungen, S. 254-268. Zur zweiten Berlin-Krise und der Errichtung der Mauer im August 1961 liegt eine Fülle an Literatur vor. Vgl. jüngst: M. Lemke, Die Berlinkrise 1958 bis 1963. Interessen und Handlungspielräume der SED im Ost-West-Konflikt, Berlin 1995.
Ausgangssituation
45
sie "vernünftig arbeiten" wollten, dann mußte sich durchgreifend etwas ändern. Zuerst setzte man allerdings auf organisatorische Lösungen. Im Juli 1961 wurden - wie bereits angeführt - die Aufgaben der SPK neu bestimmt und der VWR gegründet. Dabei mußte Leuschner auf eine neu geschaffene Stelle als Stellvertreter des Ministerratsvorsitzenden weichen. Formal hatte er dort mehr Kompetenzen. Er sollte die Planung und Leitung, die Entwicklung von Wissenschaft und Technik, das Finanzsystem, die Außenhandelspolitik und die Tätigkeit der verschiedenen zentralen Wirtschaftsinstanzen koordinieren.' Tatsächlich war dabei wohl mehr an eine Repräsentativfunktion gedacht, so daß sein Einfluß zurückging. Es ist darüber spekuliert worden, ob ihm wegen seiner exponierten Stellung der fehlgeschlagene Siebenjahrplan zur Last gelegt wurde. 2 Das mag zum Teil zutreffen. Darüber hinaus zählte ihn Apel aber zu denjenigen in der SPK, die die Wirklichkeit nicht kannten und Parteibeschlüsse ignorierten. 3 Dies traf jedoch so nicht zu, wie ein Ulbricht übergebener Bericht zeigte. Dieser wog wahrscheinlich viel schwerer, weil Leuschner die "Politiker", zu denen er sich selbst offenbar nicht zählte, für die unrealistischen Vorgaben der "ökonomischen Hauptaufgabe" und des Siebenjahrplanes verantwortlich machte. 4 Diese Illoyalität war wohl der entscheidende Anstoß für Ulbricht, Leuschner als SPK-Vorsitzenden abzulösen. An dessen Stelle wurde Karl Mewis berufen, der sich dadurch empfohlen hatte, daß er als Bezirksparteichef die Kollektivierung in der Landwirtschaft kompromißlos umgesetzt hatte. Er war aber vorher noch nie mit wirtschaftlichen Aufgaben betraut. Die Leitung des VWR übertrug man Alfred Neumann, der ebenso wie Mewis bis dahin vor allem als Parteiarbeiter hervorgetreten war. Jedoch galten beide als konsequent und entscheidungsfreudig, was wohl als besonderer Vorteil ausgelegt wurde. 5 Kurzfristig wollte sich die SED-Spitze nach dem Mauerbau angesichts der drängenden wirtschaftlichen Probleme mit zwei Aktionen Luft verschaffen. Zum einen wurde im Rahmen des "Produktionsaufgebots" versucht, die Diskrepanzen zwischen Lohn- und Produktivitätsentwicklung zu mindern. 6 Darüber hinaus hatte die bereits seit dem Jahreswechsel 1960/61 betriebene "Störfreimachung" Importe aus NATO-Ländern, vor allem aus der Bundesrepublik, zu verringern sowie durch Einfuhren aus dem RGW-Bereich bzw. eigene Fertigung zu ersetzen. Diese Aktion forderte die weitere wirtschaftliche Einbindung der DDR in den Ostblock. Auf seine eigene Initiative vom Januar 1961 hin vereinbarte Ulbricht mit Chruschtschow Ende Mai 1961 das "enge Zusammenwachsen der Wirtschaften der DDR und der UdSSR". 7 Auf DDR-Seite stellte man sich dabei offen
1 Protokoll der außerordentlichen Sitzung des Politbüros am 28.7.61, Anlage 1, SAPMO-BA DY30 J IV 2/2A/840. 2 Roesler, Plan und Markt, S. 21. 3 Apel an Ulbricht, [21.6.61]: Notiz über eine persönliche Aussprache ..., SAPMO-BA DY30 J IV 2/202/43. 4 Bericht. Information über eine Aussprache in der SPK, 3.6.61, SAPMO-BA DY30 J IV 2/202/43. Er stammt wahrscheinlich von einem Geheimen Informanten des MfS aus der Umgebung des Werkleiters von Leuna, demgegenüber Leuschner diese Bemerkungen gemacht hatte. 5
Protokoll der außerordentlichen Sitzung des Politbüros am 28.7.61, Anlage 1, SAPMO-BA DY30 J IV 2/2A/840.
6
Vgl. das dritte Kapitel.
7
Ulbricht an Chruschtschow, 19.1.61, SAPMO-BA DY30 JIV 2/202/30; Kommunique über Verhandlungen
Entwicklung und Implementation der Reform
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bar vor, daß sie direkt in die Verteilungsplanung der Sowjetunion aufgenommen werden sollte, worauf diese aber zurückhaltend reagierte. 1 Diese Bereitschaft, souveräne Rechte aufzugeben, läßt sich wohl nur aus der verzweifelten Lage erklären, in der sich die DDR-Führung sah. Die Sowjetunion schreckte davor aber zurück, weil sie vermutlich das ohnehin schon komplizierte Deutschlandproblem nicht weiter verschärfen wollte. Aber auch darüber hinaus zeichnete sich ab, daß nicht alle Blütenträume der DDR-Spitze reifen würden. Auf einer RGW-Ratstagung nach dem Mauerbau erklärten die Sowjetunion und die anderen Ostblockländer, daß sich die wirtschaftliche Lage der DDR nun fühlbar verbessert haben müsse und man sie nun "als eines von mehreren volksdemokratischen Ländern (betrachten werde) - von einer besonderen Lage der D D R (wolle) niemand mehr etwas wissen." 2 Allerdings rührte die zunächst spürbare Zurückhaltung der Sowjetunion auch aus der Rücksichtnahme gegenüber den anderen Ostblockländern, die in der "engen Wirtschaftsgemeinschaft" zwischen der UdSSR und der DDR Sonderbeziehungen zu ihren Lasten vermuteten. Deshalb schlug Leuschner, als er Anfang 1962 Ulbricht Überlegungen zu einer strategischen Änderung der Wirtschaftspolitik zukommen ließ, vor: "Man müßte diesen Weg durchfuhren ohne Lärm (ohne Agitation) und ohne große Erklärungen." Dabei war ihm klar, "daß es für die D D R überhaupt nur zusammen mit der Sowjetunion einen Ausweg gibt. Ohne die Sowjetunion ist die DDR nicht existenzfähig." Daher sollte die UdSSR die DDR für einen Zeitraum von drei bis fünf Jahren entlasten, indem sie auf bestimmte Maschinenimporte aus der DDR verzichtete, aber weiterhin die benötigten Rohstoffe und anderen Materialien lieferte. Die freiwerdenden Ausrüstungen könnten dann für Investitionen in der DDR genutzt werden. Die so entstehenden hochproduktiven und rentablen Industrien sollten später die Sowjetunion beliefern und die Rückzahlung der erforderlichen Kredite gewährleisten. 3 Diese Überlegungen lagen dem Planentwurf 1962 zugrunde, den Ulbricht Chruschtschow übermittelte. Um das entstehende Defizit im Warenaustausch mit der Sowjetunion abzudecken, bat die D D R um eine Kreditierung sowjetischer Warenlieferungen von insgesamt etwa 1,6 Mrd. Valutamark. 4 Daß die östliche Führungsmacht bereit sein könnte, diese Umstrukturierung der DDR-Industrie in der erbetenen Größenordnung - noch dazu ohne konkrete Konzepte - zu finanzieren, war freilich nicht zu erwarten. Als Ulbricht Ende Februar 1962 in Moskau mit Chruschtschow zusammentraf, zeigte sich dieser von den Argumenten aber doch so beeindruckt, daß die Sowjetunion der DDR einen Kredit in Höhe
und Unterzeichnung eines Protokolls am 30.5.61 ..., in: Dokumente zur Außenpolitik der Regierung der DDR, Bd. IX, Berlin (O) 1962, S.418. 1 Entsprechende Bemerkungen von Mewis gegenüber einem sowjetischen Vertreter lassen einen derartigen Schluß zu. Vgl. Mewis an Ulbricht, 8.1.62, SAPMO-BA DY30 J IV 2/202/32. 2 Mewis an Ulbricht, 21.12.61, SAPMO-BA NY4182/967. 3 Die Ausarbeitung Leuschners war für einen Brief Ulbrichts an Chruschtschow gedacht, in dem er um die konkrete Unterstützung für 1962 warb. In den Brief selbst ging sie zwar in dieser Form nicht ein. Es kann aber davon ausgegangen werden, daß Ulbricht in dem auf dem Brief basierenden Gespräch mit Chruschtschow diese Argumentation verwandte. Vgl. Ulbricht an Chruschtschow, 8.2.62: Grundfragen unserer ökonomischen Entwicklung, SAPMO-BA DY30 J IV 2/202/32. 4
Ulbricht an Chruschtschow, 8.2.62, SAPMO-BA DY30 J IV 2/202/32; Statistisches Jahrbuch 1990, S. 32f.
A usgangssituation
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von 1,3 Mrd. Valutamark gewährte. 1 Darüber hinaus sollte trotz der Irritationen bei anderen Ostblockländern, die "enge Wirtschaftsgemeinschaft" realisiert werden, indem der Plan der DDR in den Volkswirtschaftsplan der Sowjetunion einbezogen werde. Zumindest wurde das von der DDRSeite so verstanden. Ebenso meinte man, die sowjetische Seite sei mit der ursprünglich von Leuschner vorgeschlagenen Idee einverstanden, daß die DDR ihre Industrie bis 1965 modernisiere und die UdSSR das kreditiere. Jedenfalls gingen die DDR-Vertreter mit diesen Vorstellungen, die man durch die beiden Parteichefs bestätigt glaubte, in die Verhandlungen, um die Wirtschaftsbeziehungen bis 1965 konkret abzustimmen. 2 Diese verliefen Mewis zufolge so, als wenn - "selbstverständlich unter Beachtung der Souveränität der DDR" - die Plankommission einer Sowjetrepublik vor GOSPLAN ihren Vorschlag begründete und verteidigte. Es zeigte sich aber, daß beide Seiten verschiedene Vorstellungen von der Lösung der "Hauptfrage (hatten), wie und bis wann es möglich ist, die DDR auf eigene Füße zu stellen". Für die DDR stand das Ziel einer modernen Industriestruktur im Vordergrund, finanziert durch zwischenzeitliche Zuschüsse. Die aber wollte die Sowjetunion nicht mehr leisten. Statt dessen waren die sowjetischen Planer beispielsweise der Meinung, die DDR solle für die Beseitigung der entsprechenden Defizite herkömmliche Walzstahlkapazitäten anstelle der von ihr geplanten 2. Verarbeitungsstufe der Metallurgie ausbauen. Letztlich wurden die Pläne der DDR von Moskau nicht unterstützt. 3 Bis dahin hatte man gegenüber der Sowjetunion Importüberschüsse eingeplant, jetzt mußten die Exporte deutlich schneller als die Importe wachsen. 4 Das Scheitern dieses Konzepts an der verständlichen Haltung der Sowjetunion forderte bei den Wirtschaftsverantwortlichen Überlegungen, wie die Wirtschaft aus eigener Kraft modernisiert werden könne, und in der SED-Spitze wuchs die Bereitschaft, solche Ideen zu fördern. Zunächst aber bemühte man sich um eine neue mittelfristige Planungsgrundlage. Nach der fehlgeschlagenen Abstimmung mit der Sowjetunion wurde auch der letzte Versuch abgebrochen, einen modifizierten Siebenjahrplan bis 1965 auszuarbeiten. Nun sollte bis zum Sommer 1963 ein völlig neuer Perspektivplan entstehen. Öffentlich wollte man sich zu dessen Laufzeit zunächst nicht festlegen. Intern
1 Kommunique über das Zusammentreffen Ulbrichts und Chruschtschows am 26727.2.62 in Moskau, Kommunique über die Unterzeichnung des Protokolls am 5.3.62, in: Dokumente zur Außenpolitik, Bd. X, S.503f.; MdF: Aufstellung über den Stand der Forderungen und Verbindlichkeiten ..., 13.5.71, BA DN1-VS/14-90. Beim Heranziehen dieser Aufstellung ist die zwischenzeitliche Änderung des Umrechnungskurses zwischen Rubel und Valuta-Mark zu beachten. 2
Leuschner an Mittag, 20.3.62: Material für die Vorbereitung der Wirtschaftsverhandlungen ..., SAPMOBA DY30 IV A2/2021/221.
3
Mewis an Ulbricht: Niederschrift über eine Beratung ... am 25.5.62, SAPMO-BA NY4182/1207; Büro des Politbüros an die Mitglieder und Kandidaten, 13.6.62: Niederschrift über noch offene bzw. besonders zu entscheidende Fragen ..., SAPMO-BA, DY30 J IV 2/2J/831; Mewis an Mittag, 14.9.62: Bericht über Erfahrungen und Hinweise ..., SAPMO-BA DY30 IV A2/2021/247.
4
Apel: Information an die Mitglieder und Kandidaten des Politbüro, 13.7.62, SAPMO-BA DY30 J IV 2/2J/835.
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der Reform
war aber bereits vom Perspektivplan bis 1970 die Rede.' Mit ihm sollte die Industrie in Richtung veredelter chemischer und metallurgischer Erzeugnislinien sowie intelligenzintensiver und materialsparender Produkte der metallverarbeitenden Industrie umstrukturiert werden. 2 Die Schwerpunkte der Umprofilierung bestimmte man im allgemeinen anhand internationaler Erfahrungen und Trends. Der Perspektivplan war mit Hochdruck zumindest in einer grob bilanzierten Variante fertigzustellen, denn durch die fehlende mittelfristige Vorgabe wurden - wie Gerhard Schürer, ehemals Leiter der ZK-Abteilung Planung und Finanzen, nun stellvertretender SPK-Vorsitzender feststellte in der Volkswirtschaft täglich tausende Fehler gemacht. 3 Da der Perspektivplan die ökonomische Grundlage der gesellschaftspolitischen Vorstellungen der SED war, die zur gleichen Zeit in einem neuen Parteiprogramm zusammengefaßt werden sollten, drängte die Parteispitze auf Tempo und setzte Anfang August 1962 26 Arbeitsgruppen ein. Sie hatten für einzelne Branchen bzw. Querschnittsgebiete, wie z.B. den Lebensstandard, Entwicklungstrends, Voraussetzungen und Probleme zu erörtern. Ihnen gehörten Wissenschaftler und Wirtschaftspraktiker an. 4 Ihre in der zweiten Septemberhälfte vorliegenden Ergebnisse bildeten die Grundlage für das Mitte Januar 1963 von der SPK vorgelegte Planprojekt bis 1970, dessen Eckwerte Ulbricht auf dem VI.Parteitag der SED im gleichen Monat vorstellte. 5 Allerdings waren noch Fragen vor allem in den Wirtschaftsbeziehungen mit der Sowjetunion offen und das Projekt erschien in wesentlichen Teilen als Wunschvorstellung. 6 Neben der Weigerung der UdSSR, die Modernisierung der DDR-Wirtschaft zu alimentieren, wurde der Gedanke, das Lenkungs- und Koordinationssystem umfassend zu verändern, aber dadurch beflügelt, daß mit der Ausarbeitung und Realisierung des Plans 1962 keine entscheidende Verbesserung der wirtschaftlichen Situation erreicht worden war. Im ZK-Apparat resümierte man, "die Planerfüllung der letzten Jahre und die Planausarbeitung 1962 besagen, daß die Beibehaltung der jetzigen Planmethodik zu großen volkswirtschaftlichen Verlusten führt." 7
1
Sektor Planung: Information über die Abteilungsleiterberatung am 2.7.62 in der SPK, 5.7.62; SPK: Beschluß über die weitere Arbeit am Perspektivplan, 12.7.62, SAPMO-BA DY30 IV A2/2021/247. Kaiser irrt, wenn sie den Beginn der Vorarbeiten für einen neuen Perspektivplan auf Anfang 1965 datiert. Diese hatten hier ihren Ausgangspunkt und es war ursprünglich an einen neuen Siebenjahrplan gedacht. Durch verschiedene, noch darzustellende Schwierigkeiten wurde seine Fertigstellung verzögert, so daß sich schließlich seine Laufzeit - bei dem feststehenden Ende 1970 - immer weiter verringerte. Vgl. M. Kaiser, Machtwechsel von Ulbricht zu Honecker. Funktionsmechanismen der SED-Diktatur in Konfliktsituationen 1962 bis 1972, Berlin 1997, S. 70, 117.
2
Prinzipien
für die Ausarbeitung des Planes
1963-70, 8.6.62 [in Moskau], SAPMO-BA
DY30
J IV 2/202/50. 3
Sektor Planung: Information über eine Beratung ... am 17.12.62, SAPMO-BA DY30 IV A2/2021/247.
4
W. Ulbricht, Zum neuen ökonomischen System der Planung und Leitung, Berlin (O) 1966, S. 32. Vgl. u.a.: Ulbricht an den Leiter der Arbeitsgruppe ,.., 1.8.62, BA DE4/6362.
5
Protokoll der Verhandlungen des Vl.Parteitages der SED. 15.-21.1.63, Berlin (O) 1963, Bd. I, S. 68ff. Vgl. auch: Zur Entwicklung der Industrie ... bis 1970, SAPMO-BA DY30 IV A2/2021/247.
6
Mewis an Ulbricht, 12.1.63: SPK: Zur Entwicklung der ökonomischen Beziehungen UdSSR - DDR im Zeitraum 1964-1970, SAPMO-BA NY4182/1207.
7
Abt. Planung und Finanzen: Lehren aus der geleisteten Arbeit am Volkswirtschaftsplan 1962 in der SPK,
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2. Der Entschluß zur Reform Mit der Funktionsweise der Planwirtschaft waren die Verantwortlichen schon seit längerem unzufrieden. Die "Tonnenideologie" zu beseitigen, war schon früher gefordert worden. Aber zunächst hatte man sich in erster Linie bemüht, die Instrumente und den Inhalt der direkten Lenkung, also den Plan und die Aufkommen-Verwendungs-Bilanzen zu verbessern.1 Daneben waren aber auch weitergehende Vorschläge unterbreitet worden. Die ZK-Abteilung Planung und Finanzen hatte im Herbst 1959 angeregt, den Betrieben die Möglichkeit zu geben, "ihre allgemeine technisch-ökonomische Weiterentwicklung aus den Betriebsgewinnen zu finanzieren."2 Im Frühjahr 1960 schlug eine Parteikommission unter Leitung von Apel vor, untersuchen zu lassen, wie die VVB und die Bezirkswirtschaftsräte durch die Möglichkeit, selbst finanzielle Mittel und Ressourcen anzusammeln, zu einer effizienten Tätigkeit angeregt werden könnten.3 Diesen Vorschlag griff das MdF teilweise auf.4 Über die Notwendigkeit, das Anlagevermögen neu zu bewerten und die Abschreibungsnormen zu verändern, war man sich im Grundsatz ebenfalls schon länger einig.5 Im Frühjahr 1961 schließlich wurde - angeregt von der SED-Spitze - davon gesprochen, daß an die Fragen der Planung und Leitung neu herangegangen werden müsse.6 Auch wenn vieles verschwommen blieb: Es zeichnete sich ab, daß den VVB ein höherer Rang im Lenkungs- und Koordinationsmechanismus zukommen sollte.7 Weiter überlegte man, die den Wirtschaftseinheiten zur Verfugung stehenden Mittel stärker an deren Leistungen zu binden, und es deutete sich an, daß der Gewinn einen höheren Stellenwert bekommen könnte. Daß diese Versatzstücke noch nicht zu einem Konzept zusammengefugt wurden, hatte mehrere Gründe: Erstens ging man zutreffend davon aus, daß ein konsistentes Preissystem die Voraussetzung jeder Reform war. Zweitens lehnte die SED-Spitze eine Reform des Wirtschaftsmechanismus insgesamt zunächst vor allem deshalb ab, weil sie dadurch das zentralistische Modell gefährdet sah. Und, drittens, meinte sie, daß sie bei offener Grenze "keine Experimente" (Leuschner) wagen konnte.
20.1.62, SAPMO-BA DY30 IV 2/608/56. 1 Vgl. u.a. Planmethodische Probleme, deren Lösung in Angriff genommen werden muß, 1.8.59, BA DE1/12901. 2 Abt. Planung und Finanzen: Stellungnahme zum Bericht der Regierungskommission für Preise ..., 7.9.59, SAPMO-BA DY30 IV 2/608/70. 3 Bericht der Parteidelegation zum Studium der Arbeit der KPdSU ..., April 1960, SAPMO-BA DY30 J IV 2/202/337. 4 MdF: Die neuen Aufgaben der Finanzwirtschaft zur Durchführung des Siebenjahrplanes ..., 14.10.60, SAPMO-BA DY30 IV 2/2029/148. 5 Vgl den Abschnitt zur Grundmittelumbewertung im zweiten Kapitel. 6 Abt. Planung und Finanzen: Information über die Sitzung des Plenums der SPK am 19.4.61 zur Auswertung der 12.Tagung des ZK der SED, 21.4.61, SAPMO-BA DY30 IV 2/2029/75. 7 Abt. Planung und Finanzen: Zur Veränderung und Qualifizierung der Arbeitsweise der VVB ..., [September 1961], SAPMO-BA DY30 IV 2/2029/76.
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der Reform
Erst im Laufe des Jahres 1962 wurde Klarheit über das Ausmaß der notwendigen Veränderungen gewonnen. Die Genesis der Industriepreisreform - einer der konstituierenden Bestandteile der Wirtschaftsreform - ist für diesen Lernprozeß exemplarisch. Allgemein war man sich seit Abschluß der Festpreisbildung 1961 darüber einig, daß diese kein konsistentes System bildeten. Daher wollte man die Industriepreise kurzfristig überarbeiten und alle neuen Preise gleichzeitig einfuhren. Außerdem meinte die SPK inzwischen, daß auch in der sozialistischen Wirtschaft das Preissystem periodisch den veränderten Bedingungen angepaßt werden müsse. 1 Ausgehend von der Überlegung, daß Subventionen zu beseitigen seien und der Kennziffer Rentabilität wirtschaftliche Aussagekraft zuzukommen habe, berechneten die Preisbehörden seit dem Frühjahr 1962, wie sich unterschiedliche Preisbildungsgrundsätze auswirken würden. Als die Ergebnisse dem Politbüro im Juni 1962 vorlagen, wurden sie mit der Begründung abgelehnt, daß es nicht um die generelle Beseitigung der Subventionen gehe, sondern nur die ungenehmigten Stützungen verschwinden sollten. Die Vorlage war in der Parteispitze zu dieser Zeit wohl deshalb nicht mehrheitsfähig, weil sie auch die Finanzierung der geplanten Investitionen und des Umlaufmittelzuwachses aus dem Betriebsgewinn vorsah. 2 Es wurde deutlich, daß die lang geforderte und nun ernsthaft betriebene Arbeit an einer Neuregelung des Preissystems Fragen aufwarf, die weitergehender Antworten bedurften. So mußte, wie noch zu erläutern sein wird, mit den Prinzipien, die den zu bildenden Preisen zugrunde liegen sollten, auch Uber die Verfügungsrechte der Wirtschaftseinheiten nachgedacht werden. 3 Insofern förderten bereits die ersten Arbeiten an der Preisreform bis zum Sommer 1962 die Überlegungen, wie der Lenkungsmechanismus insgesamt zu verändern sei. Zunächst einmal erhielt jedoch Erich Apel - der sich im Kreis der Parteiführung bisher auf dem Gebiet der Wirtschaft als der durchsetzungsfähigste, aber auch flexibelste Funktionär erwiesen hatte - mit dem Politbürobeschluß vom 25.Juni 1962 eine Schlüsselstellung in der Spitze der Regierung. Er übernahm im Präsidium des Ministerrates die Verantwortung für die Bereiche FuE, Industrie, Verkehrs- und Bauwesen und wurde gleichzeitig als Sekretär für Wirtschaft in der SED-Spitze durch Günter Mittag ersetzt. Gleichwohl blieb Apel als Kandidat des Politbüros im innersten Führungszirkel der SED. Darüber hinaus bildete man eine interne Kommission des Ministerrates - teilweise als "interne Arbeitsgruppe" firmierend -, die wichtige operative Wirtschaftsfragen beraten sollte. Nominell stand ihr Willi Stoph als 1.Stellvertreter des Vorsitzenden des Ministerrates und faktischer Regierungschef vor. Faktisch war Apel der "starke Mann" dieser Kommission. Er hatte das Recht, in seinem Verantwortungsbereich und damit in den Kerngebieten der Wirtschaft Anordnungen, Direktiven und Richtlinien zu erlassen sowie Weisungen zu geben. 4 Damit wurde das für
1 SPK: Bericht über die bisherige Arbeit auf dem Preisgebiet..., 7.2.62, BA DE1/9564. 2 Protokoll der Politbürositzung am 25.6.62, SAPMO-BA DY30 J IV 2/2A/904; Vorlage: Ausarbeitung von Vorschlägen für Preisänderungen ..., SAPMO-BA DY30 J IV 2/2A/905. 3 Abt. Planung und Finanzen an Apel, 19.6.62, SAPMO-BA DY30 IV 2/608/72; SPK, Abt. Finanzen und Preise: Vermerk für Genossen Mewis, 27.6.62, BA DE1/9564. Vgl. das zweite Kapitel. 4 Protokoll der Politbürositzung am 25.6.62, SAPMO-BA DY30 J IV 2/2A/904; Beschluß zur Verbesserung der Arbeit des Ministerrates, SAPMO-BA DY30 J IV 2/2A/905; Protokoll der Politbürositzung am
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die Anfangszeit der späteren Reform so wichtige Duo Apel und Mittag an wichtigen Schaltstellen der Institutionenordnung plaziert. Apel war praktisch die gesamte Wirtschaftsbürokratie nachgeordnet und Mittag konnte auf den kompletten wirtschaftspolitischen Teil des Parteiapparates zurückgreifen. Im Sommer 1962 beauftragte Ulbricht die bereits erwähnten 26 Arbeitsgruppen, die Grundlagen für den Perspektivplan zu erarbeiten, und die wirtschaftspolitischen ZK-Abteilungen, Grundsätzliches zu ihrem Verantwortungsgebiet und den dort erforderlichen Veränderungen darzulegen. Beides sollte zunächst dazu dienen, ein neues Parteiprogramm zu erarbeiten.' Dabei erhielten die Arbeitsgruppen offenbar kaum Vorgaben und faßten deshalb vielfach zusammen, was in den vorhergehenden Jahren vorgeschlagen oder diskutiert worden war. Da sie sich vor allem mit den Problemen des Perspektivplanes befassen sollten, beschäftigten sie sich mit den Steuerungsinstrumenten nur am Rande. Ihre Vorschläge gingen über Bekanntes kaum hinaus. 2 Die im September 1962 vorliegenden Materialien der ZK-Abteilungen leitete Ulbricht dem Politbüro zu, was ihre Bedeutung unterstrich. Von besonderem Gewicht für eine umfassende Herangehensweise an Veränderungen im Wirtschaftsmechanismus waren die Papiere der Abteilung Planung und Finanzen sowie der Arbeitsgruppe Forschung und technische Entwicklung. 3 In ihnen standen finanzwirtschaftliche Lenkungsinstrumente und die Notwendigkeit einer Preisreform im Vordergrund. Darüber hinaus hatte die "interne Arbeitsgruppe" des Präsidiums des Ministerrates der SPK bereits Ende Juli 1962 den Auftrag erteilt, Grundsätze für ein verbessertes Planungssystem auszuarbeiten, wobei die Hinweise der Sowjetunion aus den Wirtschaftsverhandlungen berücksichtigt werden sollten. Sie zielten neben der ebenfalls hervorgehobenen Preisreform in erster Linie darauf, sowohl die AufkommenVerwendungs-Bilanzierung als auch die von der Planung erfaßten ökonomischen Sachverhalte auszuweiten. Im September 1962 nahm innerhalb der SPK eine Gruppe von Wissenschaftlern, Vertretern der zentralen Instanzen und der Betriebe unter Leitung von Schürer die Arbeit an diesen Fragen auf. Ihre Arbeitsgrundlage sah vor, nicht mehr wie bis dahin nur einzelne Seiten zu verändern,
17.7.62, SAPMO-BA DY30 J IV 2/2A/910. Den Beschluß und seine Intention erläuterten Leuschner vor dem ZK und Apel im Vorstand des Forschungsrates: Stenographische Niederschrift der Tagung des Vorstandes des Forschungsrates am 27.7.62, SAPMO-BA DY30 IV 2/607/35; Leuschner: Aus dem Bericht des Politbüros auf der 16.ZK-Tagung, in: Neues Deutschland 29.6.62. Vgl. auch: Beschluß der 16.ZKTagung, in: Dokumente der SED, Bd. IX, S.65. 1 Abt. Planung und Finanzen: Information über die Beratung des Vorsitzenden der SPK mit den Stellvertretern am 27.7.1962, 28.7.62, SAPMO-BA DY30 IV A2/2021/247. 2 Vgl. vor allem die Ausarbeitungen der Arbeitsgruppen zur Leitung der örtlichen Industrie, zur Materialwirtschaft, zu Arbeitsproduktivität, Normen und Löhnen sowie zum Außenhandel in: SAPMO-BA DY30 IV A2/2021/451. Ihre Bedeutung im Prozeß der Reformausarbeitung wurde ausgehend von Beyer/Kanzig in der Literatur meist überschätzt. Vgl. H. Beyer/H. Kanzig, Die Genesis des neuen ökonomischen Systems in der Zeit vom Vl.Parteitag der SED bis zur Wirtschaftskonferenz, in: Wirtschaftswissenschaft 17, 1969, S. 1764. 3 Ulbricht an das Politbüro: Materialien ..., SAPMO-BA DY30 J IV 2/2J/889; Abt. Planung und Finanzen an Mittag, 25.9.62: Probleme der Verbesserung ..., SAPMO-BA DY30 IV 2/608/68.
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sondern die "Maßnahmen zur Verbesserung und Modernisierung der sozialistischen Planung auf der Grundlage einer geschlossenen Konzeption durch(zu)fiihren".' Im September 1962 hatte also auf fast allen Teilgebieten der Wirtschaftslenkung mit unterschiedlichem Anspruch das Nachdenken über deren Umgestaltung eingesetzt. Die verbindende Klammer aller dieser Bemühungen bildete die Preisreform, die - und da war man sich weitgehend einig - die Voraussetzung für solche Veränderungen darstellte. Zur gleichen Zeit, in der das Politbüro über die Veränderung der Planung beriet, ließ es auch in der DDR jenen Artikel von Evsej Liberman erscheinen, der die Reformvorstellungen der sechziger Jahre im gesamten Ostblock mitprägte. Seine Ideen waren grundsätzlich nicht neu. Die Bindung des Bonussystems der Betriebe an den Gewinn wurde bereits seit längerem auch unter Wirtschaftspraktikern in der DDR diskutiert. Das Ziel seiner Vorschläge faßte er in dem Satz zusammen: "Was für die Gesellschaft nutzbringend ist, muß auch jedem Betrieb nützlich sein, und umgekehrt, was nicht vorteilhaft für die Gesellschaft ist, muß äußerst unvorteilhaft für die Belegschaft eines Betriebes sein." 2 Der Liberman-Artikel und die folgende Diskussion hatte jedoch weniger theoretische Bedeutung. Vielmehr bot er die Möglichkeit, sowjetische Stimmen als Autoritätsbeweis für die Notwendigkeit von Änderungen im Lenkungsmechanismus nutzen zu können. Darüber hinaus war die Libermansche Formel so griffig, daß es sich anbot, sie propagandistisch zu nutzen, was Ulbricht auch wiederholt tat. 3 Er forderte die Wirtschaftswissenschaftler und Praktiker im Oktober 1962 auf, die sowjetische Diskussion aufmerksam zu verfolgen und eigene Vorstellungen zu entwickeln. 4 Nachdem Anfang Oktober 1962 auf der 17.ZK-Tagung der SED auch öffentlich angedeutet worden war, daß man daran denke, den Lenkungs- und Koordinationsmechanismus zu verändern, wurden neben den sowjetischen Wortmeldungen im "Neuen Deutschland" und in "Die Wirtschaft" ab Mitte Oktober zunehmend Artikel von DDR-Autoren veröffentlicht, die sich den erforderlichen Umgestaltungen widmeten. Sie äußerten sich zu den Libermanschen Anregungen zurückhaltend, aber grundsätzlich positiv. 5 Neben der Vorbereitung der Öffentlichkeit auf das zu Erwartende dienten sie der Vorbereitung einer wirtschaftswissenschaftlichen Konferenz Anfang Dezember 1962, mit der die Wissenschaftler in die Reformvorbereitungen einbezogen und mit den Praktikern in Verbindung gebracht werden sollten. Ihr Einfluß auf die Diskussionen und Konzeptualisierung war bis dahin begrenzt gewesen. Die Impulse gingen von den Wirtschaftspraktikern aus. Im Vorfeld dieser Konferenz verzichtete die zuständige ZK-Abteilung auf die bis dahin übliche Praxis, wonach die Konfe-
1 SPK: Direktive zur Ausarbeitung ..., 5.9.62, BA DE1/12340; Mewis an Mittag, 4.9.62: Bericht über Erfahrungen und Hinweise ..., SAPMO-BA DY30 IV A2/2021/247; Protokoll der Politbürositzung am 26.9.62, SAPMO-BA DY30 J IV 2/2A/924. 2 E. Liberman, Plan, Gewinn, Prämie, in: Die Wirtschaft vom 26.9.62. Vgl. das dritte Kapitel. 3 Ulbricht auf dem VI.Parteitag: "Was der Gesellschaft nützt, muß auch dem einzelnen sozialistischen Betrieb und den Werktätigen des Betriebes nützen!" (Protokoll VI.Parteitag, S. 100) 4 Ulbricht, Zum neuen ökonomischen System, S. 43. 5 So die Einschätzung in: G. Leptin, Das "Neue ökonomische System" Mitteldeutschlands, in: K.C. Thalheim/H.-H. Höhmann (Hg.), Wirtschaftsreformen in Osteuropa, Köln 1968, S. 116.
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renzredner ihre Beiträge vorher einzureichen und damit praktisch genehmigen zu lassen hatten. 1 Dies sollte offenbar unkonventionellen und innovativen Ideen Raum geben. Um diese zu fördern, hätte es freilich mehr als einer Änderung der Konferenz-Rituale bedurft. Denn die gesellschaftliche Atmosphäre insgesamt wandelte sich nur langsam. Daher blieben auch auf dieser Konferenz die Vorträge und Wortmeldungen vielfach sehr allgemein und bezogen sich nur wenig auf die anstehenden Fragen der Veränderung im Lenkungsmechanismus. Entsprechend enttäuscht waren die Organisatoren aus dem Parteiapparat. 2 Die "jungen und vorwärtsdrängenden" Wissenschaftler, die die Parteifunktionäre gern in erster Linie gesehen hätten, meldeten sich zumindest auf dieser Konferenz nicht zu Wort. 3 Mit Blick auf die gerade fünf Jahre zuvor stattgefundene Revisionismus-Debatte erstaunt die Zurückhaltung nicht. Das damalige Verdikt war nicht zurückgenommen worden. Im Mittelpunkt der Revisionismus-Debatte in den Wirtschaftswissenschaften hatten 1956/57 Fritz Behrens und Arne Benary gestanden. Befördert von der Atmosphäre gesellschaftlicher Öffnung nach dem XX.Parteitag der KPdSU 1956 und ausgehend von den offen zu Tage tretenden ökonomischen Schwierigkeiten (unkontinuierliche Produktion, Überplanbestände an Materialien, halbfertigen Produkten und Fertigwaren sowie Kaufkraftüberhang) äußerten sie sich zum Verhältnis von Politik und Wirtschaft, zur Stellung und Rolle des Wertgesetzes sowie zu Problemen von Spontaneität und Bewußtheit. Dabei entwarfen sie gegen die von ihnen als überzentralistisch, reglementierend, administrierend und bürokratisch eingestufte Wirtschaftspraxis ein theoretisches Konzept, in dem die zentrale Leitungsinstanz nicht jede ökonomische Einzelheit im Auge haben sollte. Sie hatte nur die Rahmenbedingungen zu setzen, um das wirtschaftliche Handeln der Subjekte sowohl der Betriebe als auch der Individuen - in die von der Zentrale intendierte Richtung zu lenken. Ihr Ziel war eine Leitung mit einem Minimum zentraler Anweisung und einem Maximum an Initiative und Selbständigkeit von "unten". Die Basis dafür sollte die bewußte Ausnutzung der ökonomischen Gesetze, insbesondere des Wertgesetzes, sein. Die von ihnen geforderten wirtschaftlichen Methoden setzten die Vergesellschaftung der Leitung der Produktion voraus, die an Stelle der "etatistischen" Leitung durch den zentralisierten Staatsapparat treten sollte. Als Hauptanreiz betrachteten sie das wirtschaftliche Interesse der Wirtschaftssubjekte. 4 Mit diesem Entwurf, der hier nicht im Detail wiedergegeben werden kann, hatten die beiden Wirtschaftswissenschaftler nicht einmal den Boden herrschender Vorstellungen verlassen, sondern nur bestimmte Konsequenzen des Marxismus-Leninismus klar benannt. Daher blieb er auch widersprüchlich. 5 Die Parteispit-
1 Abt. Planung und Finanzen an Mittag: Vorbereitung der Konferenz ..., 20.11.62, SAPMO-BA DY30 IV A2/2021/671. 2
Vgl. die Einschätzungen zu dieser Konferenz in: SAPMO-BA DY30 IV A2/2021/635.
3 Abt. Planung und Finanzen: 1 .Information über die Konferenz der Wirtschaftswissenschaftler ..., 6.12.62, SAPMO-BA DY30 IV A2/2021/635. 4
F. Behrens, Zum Problem der Ausnutzung ökonomischer Gesetze in der Übergangsperiode, in: Wirtschaftswissenschaft 5, 1957, 3.Sonderheft, S. 105-140; A. Benary, Zu Grundproblemen der politischen Ökonomie des Sozialismus in der Übergangsperiode, in: Ebenda, S. 62-94.
5
Vgl. zu Ablauf und Inhalt der "Debatte" ausführlich: S. Becker/H. Dierking, Die Herausbildung der Wirtschaftswissenschaften in der Frühphase der DDR, Köln 1989, S. 407-473; G. Krause, Wirtschaftstheorie
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ze reagierte damals vor allem deshalb so scharf, weil die Vorstellungen von Behrens und Benary zur Vergesellschaftung ihr Herrschaftsmonopol berührten. Als sich das SED-Sekretariat und Politbüro im Dezember 1956, Januar 1957 mit ihren Vorstellungen befaßten, gingen sie deshalb von einer politischen Gefahr der Theorien aus.' Die Parteispitze war sensibilisiert, da vor allem bei den Intellektuellen nach dem XX.Parteitag Zweifel an der herrschenden Ideologie des Marxismus-Leninismus laut wurden. 2 Die Streiks in Polen und der Aufstand in Ungarn 1956 waren der SED-Führung als Menetekel erschienen. Wie sehr es ihr bei der Revisionismus-Schelte darum ging, andere Wissenschaftler von ähnlichen Überlegungen abzuschrecken, zeigt die Tatsache, daß die Artikel von Behrens und Benary zu einem Zeitpunkt in einem Sonderheft der Zeitschrift "Wirtschaftswissenschaft" - nun gemeinsam mit gegen sie gerichteten Aufsätzen - veröffentlicht wurden, als sie öffentlich bereits politisch verurteilt waren. Die Revisionismus-Debatte fand erst nach drei Jahren erzwungener Selbstkritik von Behrens und Benary Anfang der sechziger Jahre ihr Ende. Zweifellos hatten die beiden damals Ideen der Wirtschaftsreform der sechziger Jahre vorgedacht. Insbesondere die Instrumentalisierung der wirtschaftlichen Interessen bildete einen zentralen Punkt der späteren Reform. Angesichts dieser Vorgeschichte war es aber verständlich, daß sich die Wirtschaftswissenschaftler in der frühen Phase der Konzeptualisierung der Reform zurückhielten. Selbst Behrens widmete sich auf jener Konferenz einem eher unverfänglichen Thema, der Methodik von Produktivitätsberechnungen. 3 Jedoch hatte das Verdikt der SED auch dafür gesorgt, daß in der Forschung zur "politischen Ökonomie des Sozialismus" vielfach dogmatisch an "überlebten Lehrsätzen" festgehalten wurde, was die ZK-Abteilung Wissenschaft nun aber beklagte 4 , weil die "vorwärtsdrängenden" neuen Ideen fehlten. Schon Ende September 1962 hatte Ulbricht die Dokumente fiir den im Januar 1963 vorgesehenen SED-Parteitag mit der Bitte um Stellungnahme an Chruschtschow gesandt. Die darin enthaltenen Vorstellungen, wie der Lenkungs- und Koordinationsmechanismus umgestaltet werden sollte, waren noch bescheiden. Der ökonomische Teil des Entwurfs für das neue Parteiprogramm beinhaltete im wesentlichen nur die strukturpolitischen Ziele für den Perspektivplan. 5 Man wartete wohl auf ein klares Wort der Moskauer Führung zu den in ihrem eigenen Land und den anderen Ostblockländern diskutierten Veränderungen für die Wirtschaftslenkung. 6 Anfang November 1962 fuhr
in der DDR, Marburg 1998, S. 121-136. 1 H. Steiner, Fritz Behrens. Lebensbilanz eines sozialistischen Wissenschaftlers, in: Deutschlandarchiv 25, 1992, S. 1164. 2 Büro Hager: Information über die ideologischen Unklarheiten in der Partei und bei der Bevölkerung, [1956], SAPMO-BA, NY4062/107. 3 Abt. Planung und Finanzen: 1 .Information über die Konferenz der Wirtschaftswissenschaftler ..., 6.12.62, SAPMO-BA DY30 IV A2/2021/635. 4 Abt. Wissenschaft: Zur Entwicklung der Forschung in der Politischen Ökonomie des Sozialismus, 16.2.63, SAPMO-BA DY30 IV A2/904/190. 5 Ulbricht an Chruschtschow, 27.9.62, SAPMO-BA DY30 J IV 2/202/1. 6 Dafür spricht u.a., daß die Ende November vom Politbüro beschlossenen Grundsätze fiir die Industriepreisreform inhaltlich bereits Ende September vorlagen.
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eine SED-Delegation mit Ulbricht an der Spitze nach Moskau. 1 Chruschtschow machte ihr wahrscheinlich deutlich, daß die Sowjetunion in diesen Fragen nicht vorangehen werde, wie sich das dann auf dem November-Plenum der KPdSU (19.-23 .November 1962) zeigte. Andererseits wollte er sich angesichts der augenscheinlichen Wirtschaftsprobleme der DDR und ihrer Konfrontation mit der Bundesrepublik offenbar nicht prinzipiell gegen Reformpläne stellen, wie sie Ulbricht vermutlich entsprechend dem damaligen Ausarbeitungsstand vortrug. Er konnte dies auch deshalb schlecht tun, weil die Sowjetunion es abgelehnt hatte, die Modernisierung der DDR-Industrie zu kreditieren. Für eine solche "zähneknirschende" Billigung Chruschtschows spricht, daß ihn die SED-Spitze wenige Tage später bat, persönlich an ihrem Vl.Parteitag im Januar 1963 teilzunehmen, damit er "die Möglichkeit benutzt, sich mit den neuen Problemen der ökonomischen Entwicklung der DDR an Ort und Stelle vertraut zu machen." 2 Auf jeden Fall scheint es die in der Literatur diskutierte Absprache mit der Sowjetunion nicht gegeben zu haben, die D D R "als Experimentierfeld für Reformen des Liberman-Typs" auszuersehen. 3 Zutreffender ist wohl, daß die DDR-Führung ihre eigenen Interessen inzwischen höher bewertete und die von Chruschtschow im Ostblock zugelassene Lockerung ihr den dafür erforderlichen Spielraum gab. Allerdings war der fehlende Rückenwind aus Moskau für viele aus der SED-Spitze ein Motiv, gegenüber der Reform skeptisch zu bleiben. Nach dieser Moskau-Reise und vor dem November-Plenum der KPdSU kündigte Ulbricht auf einer Plenartagung des Forschungsrates - einem Beratungsgremium der Regierung vor allem hochrangiger Natur- und Technikwissenschaftler - am 12.November 1962 an, daß bis zum SED-Parteitag im Januar 1963 ökonomische Experimente beginnen würden, in denen erprobt werden solle, wie die V V B ihrer Rolle als Leitung "eines großen Konzerns, sogar eines Mammutkonzerns" gerecht werden könnten. 4 Die VVB als Konzerne zu bezeichnen, deutete angesichts des in der DDR üblichen Sprachgebrauchs auf erhebliche Veränderungen hin. In einer Beratung mit leitenden Vertretern der zentralen Wirtschaftsinstanzen am 17.November 1962 erörterte Ulbricht Fragen des Perspektivplans bis 1970. Um in dieser Zeit den Sozialismus umfassend aufzubauen, waren seines Erachtens "grundsätzliche ökonomische Maßnahmen notwendig". Es sollte ein - hier erstmals so benanntes - "ökonomisches System" ausgearbeitet werden. Größten Wert legte Ulbricht in diesem Zusammenhang auf die Interessen der Werkleiter. Um praktikable Vorschläge zu erhalten, verlangte er, die Arbeit von Konzernen in Westdeutschland zu untersuchen. Damit offenbarte sich jener Widerspruch, der die gesamte Reformprogrammatik prägen sollte. Auf der einen Seite wollte man
1 Telegramm von Ulbricht an Chruschtschow, 27.10.62, SAPMO-BA DY30 J IV 2/202/338; Neues Deutschland vom 2./3.11.62. Das Telegramm fuhrt die Punkte an, über die gesprochen werden sollte und wohl auch gesprochen wurde. Leider wurden bisher aber keine Aufzeichnungen zum Inhalt der Gespräche gefunden, so daß man weiterhin auf Vermutungen angewiesen ist. 2 Ulbricht an Chruschtschow, 10.11.62, SAPMO-BA DY30 J IV 2/202/1. 3 K.C. Thalheim, Sozialistische Planwirtschaft in der heutigen Wirklichkeit, in: B. Gleitze u.a., Die DDR nach 25 Jahren, Berlin (W) 1975, S. 124. 4 Stenographische Niederschrift der 2.Plenartagung des Forschungsrates am 12.11.62, BA DE4/8867. Die Rede Ulbrichts wurde zum großen Teil auch im "Neuen Deutschland" veröffentlicht.
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infolge ihrer evidenten Leistungsfähigkeit den Koordinationsmechanismus marktwirtschaftlicher Ordnungen imitieren, ohne auf der anderen deren ordnungspolitischen Rahmen zu übernehmen, zu dem das eigene System vielmehr nach wie vor die Alternative bleiben sollte. Daraus folgten die ideologischen "Kopfstände" Ulbrichts, wenn er behauptete: "Im Kapitalismus ist der Antrieb die freie Konkurrenz - bei uns ist der Antrieb die materielle Interessiertheit plus dem politisch moralischen Bewußtsein über die Notwendigkeit der ökonomischen Politik des Sozialismus. Das Bewußtsein kann nicht durchgesetzt werden mit Hilfe des bürokratischen Apparates. Das Problem besteht jetzt darin, wissenschaftlich zu leiten, vor allem durch die verstärkte Anwendung der ökonomischen Gesetze." 1 Alle wirtschaftsrelevanten Ausfuhrungen Ulbrichts in dieser Zeit ließen erkennen, daß sich zumindest er Mitte November 1962 entschieden hatte, den Lenkungsmechanismus umfassend zu verändern. Jedoch waren sich wohl auch er und seine Berater über Umfang und Tiefe dieser Umgestaltung noch nicht klar. Noch während das November-Plenum in Moskau tagte, legte der Finanzminister dem Politbüro die Konzeption für die Industriepreisreform vor. Sie wurde dort wenige Tage später, am 27. November 1962, und in der zweiten Dezemberhälfte in der Regierung bestätigt. 2 Ebenfalls unterbreitete das MdF Ende November 1962 den Entwurf eines Experimentierprogramms, der bereits wichtige Bestandteile des späteren Reformkonzepts enthielt. Es sah vor, den VVB neben den bisherigen administrativen Verwaltungsfunktionen die ökonomischen Mittel zur Leitung ihrer Branche in die Hand zu geben und sie an den wirtschaftlichen Ergebnissen der ihnen unterstellten Betriebe unmittelbar zu beteiligen. Das bedeutete, daß die VVB auf die "wirtschaftliche Rechnungsführung" umzustellen waren, womit sie im Rahmen vorgegebener Regeln ihre Aufwendungen aus ihren Erlösen zu decken hatten. Sie sollten eigene Einkaufs- und Absatzeinheiten erhalten, Aufkommen und Verwendung ihrer Erzeugnisse selbst bilanzieren und deren Preise festsetzen. Ihnen war zu ermöglichen, Betriebsgewinne umzuverteilen, um Investitionen und Umlaufmittel zu finanzieren sowie eigene finanzielle Mittel anzusammeln, mit denen neue technische Entwicklungen vorangetrieben (Fonds Neue Technik) und zeitweilige Finanzierungslücken der Betriebe ausgeglichen werden sollten (Kreditreserve). Die ihnen zur Verfugung stehenden Prämienmittel waren von optimalen, d.h. angespannten, aber erfüllbaren Planvorschlägen und den erwirtschafteten Gewinnen der Betriebe abhängig zu machen und die Gehälter des Führungspersonals sollten teilweise an die Leistung gebunden werden. Um diese Vorschläge zu erproben, wurden vier VVB ausgewählt (NAGEMA Leipzig, Büromaschinen Erfurt, Trikotagen und Strümpfe Karl-Marx-Stadt sowie Bergbauausrüstungen und Förderanlagen Leipzig). Darüber hinaus sollte in zehn Industriebetrieben mit weiteren Schritten experimentiert werden. Dabei standen die Neubewertung des Anlagevermögens, die Leistungsbewertung anhand von Rentabilitätskennziffern und die Bemessung der betrieblichen Prä-
1 Niederschrift über die Ausführungen des Genossen Walter Ulbricht ..., 18.11.62, SAPMO-BA DY30 J IV 2/202/50. 2
Protokoll der Politbürositzung am 27.11.62; MdF: Konzeption und Programm zur Reform des Industriepreissystems, 22.11.62, SAPMO-BA DY30 J IV 2/2A/937; Protokoll der Sitzung des Präsidiums des Ministerrates am 19.12.62, BA DC20-I/4-658. Vgl. das zweite Kapitel.
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mienmittel als Anteil des Gewinns sowie die Investitionsfinanzierung aus dem Gewinn im Mittelpunkt. 1 Dieses Erprobungsprogramm stammte vermutlich aus der gleichen Arbeitsgruppe unter der Leitung von Walter Halbritter, damals (noch) stellvertretender Finanzminister, die die Konzeption für die Industriepreisreform vorbereitet hatte. 2 Bei den Überlegungen zu den Preisen war man gezwungen gewesen, sich mit finanziellen Umverteilungen und darauf beruhenden wirtschaftlichen Anreizen zu beschäftigen, wobei auf frühere Vorschläge zurückgegriffen werden konnte, die damals wegen der fehlenden Konsistenz des Preissystems als nicht realisierbar angesehen worden waren. 3 Experimente hatte Ulbricht inzwischen mehrfach als Mittel gutgeheißen, mit denen Richtung und Ausmaß der Veränderungen zu bestimmen seien. Neu war, daß ein Instrument der "exakten" Wissenschaften genutzt werden sollte, um im "sozialen Laboratorium" das Verhalten von Wirtschaftseinheiten durch Modifikationen des Institutionengefüges zu optimieren. 4 Das gleichsam Sensationelle aber war, daß die SED damit indirekt Grenzen ihres ansonsten als omnipotent behaupteten Wissens über den zu beschreitenden Weg gesellschaftlicher Entwicklung zumindest in einem wesentlichen Teilbereich zugab. Zunächst war die Gruppe um Halbritter im MdF aktiver als die Verantwortlichen in SPK und VWR. 5 Letztere waren offenbar damit überfordert, den VVB und teilweise den Betrieben - so wie vorgesehen - größere Spielräume zu verschaffen und gleichzeitig die Planung und das Leitungssystem zu verbessern. So bewegten sich deren erste konzeptionellen Entwürfe insofern in traditionellen Bahnen, als sie darauf setzten, die Instrumente direkter Lenkung auszudehnen und zu perfektionieren, und gleichwohl eine höhere Beweglichkeit der Planung postulierten. 6 Dabei mag dort bei einigen die Ablehnung weitergehender Veränderungen schon deshalb eine Rolle gespielt haben, weil man den eigenen Kompetenzverlust fürchtete. Doch zu diesem Zeitpunkt war es für die SPK und den VWR insgesamt charakteristisch, innovatives Denken zu blockieren. Ausgehend davon beauftragte das Politbüro am 11.Dezember 1962 eine Arbeitsgruppe unter Leitung von Stoph, der
1 MdF: "A. Vorschläge für die Verbesserung ...", [20.11.62], SAPMO-BA DY30 IV 2/608/74. 2
Darauf deutet u.a. hin, daß sich die Vorschläge eines Halbritter-Artikels in dem Entwurf alle wiederfinden. Vgl. W. Halbritter, Der Gewinn soll Gradmesser der Leistung sein, in: Die Wirtschaft vom 31.10.62.
3
Vgl. u.a. Abt. Planung und Finanzen: Vorschläge zur Erhöhung der Wirksamkeit der wirtschaftlichen Rechnungsführung in den Betrieben ..., 21.9.61; Stellungnahme zu den Vorschlägen ..., SAPMO-BA NY4097/21; Ulbricht an das Politbüro, [September 1962]: Abteilung Planung und Finanzen: Probleme zur besseren Durchsetzung der ökonomischen Gesetze ..., SAPMO-BA DY30 J IV 2/2J/889; SPK: Die Grundrichtung der weiteren Entwicklung der wirtschaftlichen Rechnungsführung ..., 7.9.62, BA DE1/9469.
4
Das ökonomische Experiment war bereits seit September 1962 in der öffentlichen Diskussion thematisiert worden. Vgl. Die Wirtschaft vom 5.9.62 und 3.10.62.
5
Arbeitsgruppe Industrieökonomik: Information über die erste Beratung der beim VWR gebildeten zentralen Arbeitsgruppe ..., 13.12.62, SAPMO-BA DY30 IV A2/2021/270.
6
SPK: Beschluß zur Verbesserung der Planung ..., 7.12.62, BA DE1/42074; Neumann: Politbürovorlage. Vorschläge zur weiteren Verbesserung der Organisation, der Arbeitsweise und der Struktur des VWR, 7.12.62, SAPMO-BA DY30 J IV 2/2A/939. Beide Entwürfe wurden zurückgewiesen. Vgl. Protokoll der Sitzung des Präsidiums des Ministerrates am 19.12.62, BA DC20-I/4-658.
Entwicklung und Implementation der Reform
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unter anderem Neumann, Apel, Leuschner, Mewis, Mittag und Finanzminister Willy Rumpf sowie ein Wirtschaftswissenschaftler und einige VVB- und Betriebsdirektoren angehörten, Grundsätze und Methoden für die Leitung der Industrie auszuarbeiten. Dazu gab Ulbricht das Ziel vor, "daß auf ökonomischem Gebiet eine wesentliche Veränderung erfolgt. (...) Bisher haben wir gesagt, an die Stelle der kapitalistischen Konkurrenz tritt der sozialistische Wettbewerb. Aber so einfach ist das nicht. (...) Wir müssen sauber formulieren, welche ökonomischen Faktoren darüber hinaus wirken und berücksichtigt werden müssen. (...) Anfangen können wir also nicht bei der Veränderung der Leitung der VVB, sondern anfangen müssen wir bei der Formulierung der Grundfragen der Ökonomie." Der Beschluß des Politbüros hob ausdrücklich hervor, daß für die Wirtschaftslenkung die Wertkategorien wirksam zu machen und die Betriebe nach Warenproduktion und Wertschöpfung (Eigenleistung) sowie dem ökonomischen Nutzeffekt zu beurteilen seien. 1 Wahrscheinlich in Kenntnis der weitergehenden Ausarbeitungen von Halbritter, denen das Politbüro zum damaligen Zeitpunkt wohl nicht zugestimmt hätte, wollte Ulbricht wenige Tage vor der Entscheidung ein positives Klima schaffen. Auf einer SED-Versammlung in Leipzig führte er am 9.Dezember 1962 aus, daß in der Vergangenheit politische Ziele die wirtschaftlichen Aufgaben bestimmten, nun sollten "die ökonomischen Aufgaben den Vorrang" haben. Mit solchen eher zurückhaltenden Formulierungen gelang es ihm offenbar, auch die Skeptiker im Politbüro davon zu überzeugen, daß Veränderungen erforderlich waren. Am gleichen Tag, an dem das Politbüro beschloß, die Arbeitsgruppe zur Ausarbeitung der "Grundsätze" unter Stoph einzusetzen, wurde festgelegt, den ökonomischen Teil der Leipziger Rede zu veröffentlichen. 2 Den von der genannten Arbeitsgruppe vorgelegten "Grundsätzen eines ökonomischen
Systems
der Leitung und Planung der Industrie" stimmte das Politbüro am 20. Dezember 1962 und zwei Tage später die Regierung zu. Dieses System sollte "auf die Steigerung der Arbeitsproduktivität auf der Grundlage des höchsten Standes von Wissenschaft und Technik" gerichtet werden. Dazu waren die wirtschaftlichen Interessen mittels der Wertkategorien zu instrumentalisieren. Die "Grundsätze" legten die wichtigsten Aufgaben für den Volkswirtschaftsrat, die VVB und die Industriebetriebe fest. Komprimiert hieß es: "Auf der Grundlage der Jahrespläne und durch Anwendung eines beweglichen, in sich abgestimmten Systems ökonomischer Hebel 3 schafft der Volkswirtschaftsrat die Voraussetzungen, um den VVB, Bezirkswirtschaftsräten und Betrieben die Möglichkeit zu geben, die Produktion eigenverantwortlich mit höchstem volkswirtschaftlichen Nutzen zu leiten." Für einen Beschluß des Politbüros waren dies zweifellos neue Töne. Die "Grundsätze" waren zwar gegenüber dem im MdF entstandenen Entwurf des Experimentierprogramms umfassender, aber nicht so entschieden und klar wie dieses. So hieß es beispielsweise, der Gewinn solle stärker zum Gradmesser der Leistung werden, und an anderer Stelle stand bei der Bewertung der Betriebe die
1
Protokoll der Politbürositzung am 11.12.62; Abt. Planung und Finanzen: Ausfuhrungen des Genossen Ulbricht zum Abschluß der Diskussionen im Politbüro ..., 12.12.62, SAPMO-BA DY30 J IV 2/2A/939.
2
Neues Deutschland vom 10.12.62 und 15.12.62; Protokoll der Politbürositzung am 11.12.62, SAPMO-BA DY30 J IV 2/2A/939. Roesler verkehrt hier die Reihenfolge: Roesler, Plan und Markt, S. 25.
3
Das "in sich abgestimmte System ökonomischer Hebel" wird hier erstmalig erwähnt.
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Produktion nach Menge, Qualität, Sortiment und Lieferfristen an erster Stelle. Einiges blieb verwaschen, unklar oder offen. 1 Nun lag es zwar in der Natur eines Experimentierprogramms, daß es über Bestehendes hinausgehen mußte, wenn die "Versuchsanordnung" zu neuen Erkenntnissen verhelfen sollte. Aber hier zeigte sich auch, daß in der Gruppe unter Halbritter im MdF die entschiedeneren Reformer das Übergewicht hatten. Hingegen hatten in dem Kreis, der die "Grundsätze" fertigstellte, die Anhänger kleinerer Teilschritte das Sagen. 2 Um die SPK auf Reformkurs zu bringen, wurde deren Chef Mewis Anfang Januar 1963 durch Apel ersetzt. 3 Der holte eine Reihe ausgewiesener Reformer, wie z.B. Halbritter, in seine neue Wirkungsstätte, womit es ihm anfangs gelang, die SPK zu deren Bastion zu machen. Entsprechend dem Beschluß des Politbüros wurde zur gleichen Zeit auch begonnen, die "Grundsätze" in den Wirtschaftsinstanzen bekannt zu machen und zu erläutern. 4 Sie bildeten schließlich ebenfalls die Grundlage für die Ausfuhrungen Ulbrichts auf dem VI.Parteitag der SED in der zweiten Januarhälfte 1963, wo er öffentlich bekannt gab, daß sich die Parteispitze für eine Umgestaltung des Systems und den Abbau traditioneller Instrumente der Wirtschaftslenkung entschieden hatte. Das Ausmaß dieser Veränderungen schien aber auch zu diesem Zeitpunkt noch keineswegs klar. Diese Entscheidung basierte auf der mit der Schließung der Grenze 1961 gewonnenen wirtschaftspolitischen Handlungsfreiheit. Mit der Abschottung nach Westen war man nicht unberechtigt der Auffassung, der DDR-Sozialismus könne jetzt die ihm eigene Wirtschaftsweise entwickeln, zumal mit der Kollektivierung der Landwirtschaft "sozialistische" Eigentumsverhältnisse nahezu vollständig durchgesetzt worden waren, die im Verlaufe der Reform auch nie zur Disposition standen. Für die Veränderung des Lenkungs- und Koordinationsmechanismus waren neue Ideen und Vorstellungen erforderlich. Unter diesen Bedingungen sah die SED-Spitze eine Chance für Experimente, ohne die eigene Macht aufs Spiel zu setzen. Die Bevölkerung beurteilte das freilich weniger positiv, in der Grundrichtung vielmehr so wie es die folgende Meinung zu den Parteitagsbeschlüssen reflektierte: "Was macht es, wenn es uns schlecht geht. Hauptsache der Sozialismus siegt. Nach dem Parteitag können wir uns sozialistische sowjetische Republik nennen. Die 'Zone' ist eine Mau-
1 Protokoll der Politbürositzung am 20.12.62, SAPMO-BA DY30 J IV 2/2A/940; Stoph: Grundsätze eines ökonomischen Systems ..., 18.12.62, SAPMO-BA DY30 J IV 2/2A/941. 2
Das bestätigte auch einer der damaligen entschiedenen Reformvertreter, der deren Aktivitäten als Kosmetik charakterisierte: H. Wolf, Hatte die DDR je eine Chance?, Hamburg 1991, S. 25f.
3 Neues Deutschland vom 13.1.63. Weitere Gründe dafür, daß Mewis abgelöst wurde, waren wohl, daß sich seine wirtschaftlichen Kenntnisse als nicht ausreichend erwiesen. Darüber hinaus hatte er mit seinem anmaßenden und brüskierenden Auftreten in der SPK seine Autorität selbst untergraben. (Apel an Ulbricht, 15.6.62, SAPMO-BA DY30 J IV 2/202/43) Außerdem spielte wohl sein Verhalten im schwedischen Exil eine Rolle. 4
Protokoll der Politbürositzung am 20.12.62, SAPMO-BA DY30 J IV 2/2A/940; Niederschrift über die Ausführungen des Genossen Ulbricht..., 20.12.62; Abteilung Planung und Finanzen an Mittag, 2.1.63; Abt. Planung und Finanzen: Information über die bisherige Durchführung ..., 10.1.63, SAPMO-BA DY30 IV A2/2021/425.
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Entwicklung und Implementation
der Reform
sefalle, darin sind alle gefangen. Jetzt kann man mit uns machen, was man will." 1 Ihre Protagonisten sahen die angestrebten Veränderungen grundsätzlich eher unter dem Aspekt, daß der Lenkungs- und Koordinationsmechanismus - wie einer von ihnen kürzlich noch einmal betonte - bei "Vormarsch ins Neuland" weiterentwickelt wurde. Daher war der Begriff der Reform damals nicht einmal üblich. 2 Die Defekte in der Wirtschaftslenkung und die seit der zweiten Hälfte der fünfziger Jahre offenkundige Tendenz, daß die Grenzen des extensiven Wachstumspfades nicht übersprungen werden konnten, wurden bereits früher wahrgenommen und die Idee einer Reform reifte über einen längeren Zeitraum. Aber ausschlaggebend dafür, daß sie wirksam wurde, dürfte zum einen die von der SED-Spitze existentiell wahrgenommene Krisensituation der Jahre 1960/61 gewesen sein. 3 Zum anderen war die Einsicht entscheidend, daß die Sowjetunion nicht bereit und wohl nicht in der Lage war, die Modernisierung der DDR-Industrie zu kreditieren und zu alimentieren. Diese Erkenntnisse erklären, warum sich Ulbricht, der wie kein anderer das Administrative und Zentralistische im DDR-System bis dahin geprägt und repräsentiert hatte, an die Spitze der Reform stellte. Er sah keine andere Möglichkeit, seine Macht und die der SED insgesamt zu garantieren. Im übrigen wandelte er sich vielleicht gar nicht so sehr, wie gemeinhin unterstellt wird. Seine Eigenschaften als "fähiger Organisator" mit "administrativ-bürokratischen Führungsmethoden", wie ihn die Sowjetspitze 1947 charakterisierte 4 , nutzte er nun, um die Reform durchzusetzen.
3. Ausarbeitung des Reformkonzeptes und sein Inhalt Entstehung des Reformkonzeptes Nach dem SED-Parteitag im Januar 1963 begann eine Periode des Experimentierens und Diskutierens, aus deren Resultaten konkrete Schritte abgeleitet wurden, die zu einer höheren Effizienz des Wirtschaftens führen sollten. Ausgangspunkt war der nicht veröffentlichte Regierungsbeschluß über die "Grundsätze". Vielfach wurde - so wie das bei bisherigen Änderungsversuchen üblich war - zuerst über Strukturfragen und Kompetenzen gestritten, war doch das Führungspersonal jeder Ebene in irgendeiner Form selbst betroffen. Das galt zunächst auch für die vier VVB, die bestimmte Instrumente erproben sollten. Erst der ZK-Apparat lenkte die Experimentierprogramme stärker auf die wirtschaftlichen Probleme. Sie konzentrierten sich auf die Lenkung und Förderung des technologischen Wandels, die Einführung der wirtschaftlichen Rechnungsführung in den VVB, die An-
1 Abt. Parteiorgane: Kurzinformation über die ersten Stellungnahmen zum Referat des Genossen Walter Ulbricht auf dem Vl.Parteitag, 17.1.63, SAPMO-BA DY30 IV A2/2021/80. 2
Vgl. Wolf, Hatte die DDR je eine Chance?, S. 8.
3
Vgl. zur Wahrnehmung die Dokumente in: Steiner, Politische Vorstellungen.
4
B. Bonwetsch/G. Bordjugov, Stalin und die SBZ. Ein Besuch der SED-Führung in Moskau vom 30. Januar-7. Februar 1947, in: Vierteljahreshefte für Zeitgeschichte 42, 1994, S. 288.
Ausarbeitung des Reformkonzeptes und sein Inhalt
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Wendung einheitlicher Kennziffernsysteme, die Aufkommen-Verwendungs-Bilanzierung sowie die Zusammenarbeit der V V B mit den Außenhandelsunternehmen. In der ersten Januarhälfte waren diese Programme bestätigt worden und die vier VVB und zehn Industriebetriebe nahmen die Experimente in Angriff. 1 Es erforderte viel Kraft, die Mitarbeiter der zentralen Instanzen und das Führungspersonal in den VVB und Betrieben zu zwingen, die eingefahrenen Denkmuster aufzugeben. So mußte im Ministerrat ausdrücklich geklärt werden, daß das MdF nicht bevollmächtigt sei, die Befugnis der Experimentier-VVB zur Preisgestaltung aus deren Programm zu streichen, bloß weil es dies als sein "angestammtes" Recht betrachtete. Stoph erachtete es auch als erforderlich, in der Regierung "gegen den Versuch an(zu)gehen, alte und Uberholte Methoden fortzusetzen." Und selbst in der SPK hatte nach Apels Einschätzung ein großer Teil der leitenden Mitarbeiter die neuen Beschlüsse "noch gar nicht richtig verdaut". 2 Im Mittelpunkt der Arbeit an dem neuen Lenkungs- und Koordinationsmechanismus standen die Anreize, die auf die Wirtschaftseinheiten wirken sollten. Anfang März 1963 legte die ZK-Abteilung Planung und Finanzen den Entwurf für eine Konzeption zur Ausarbeitung "eines in sich geschlossenen Systems der materiellen Interessiertheit" vor. Darin waren Vorstellungen aus dem MdF und dem Parteiapparat zusammengefaßt, weshalb diese Vorlage unsystematisch und widersprüchlich blieb. Eine zentrale Arbeitsgruppe unter Leitung von Halbritter mit wenigen Experten erhielt den Auftrag, eine solche Konzeption auszuarbeiten 3 , die Ende März vorlag. 4 Nach einer abermaligen geringfügigen Überarbeitung informierten Apel und Mittag das Politbüro Uber ihren Inhalt. Da aus dem ZK-Apparat gefordert worden war, die Aufgaben "in einfachen Worten" vorzugeben 5 , hatte man inzwischen die Formel von dem "in sich geschlossenen System ökonomischer Hebel" gewählt. Mit ihm sollte - das hielt die Konzeption ausdrücklich fest - nicht die Planung abgebaut und die Spontaneität ausgedehnt werden, vielmehr war mit ihm eine höhere Form der Planmäßigkeit herzustellen. Es sollten "gegenwärtig noch vorhandene ungewollte - d.h. spontane - Erscheinungen in unserer Wirtschaft beseitigt" werden. Das waren nicht nur Schutzbehauptungen, um die Vorlage in der Parteispitze zustimmungsfähig zu machen, sie waren durchaus ehrlich gemeint, wie das gesamte Dokument belegt. 6 Diese Konzeption war insofern von Bedeutung, als sie neben den "Grundsätzen"
1 Abt. Planung und Finanzen: Information über den Stand der Vorbereitung von ökonomischen Experimenten ..., 22.12.62, SAPMO-BA DY30 IV 2/608/74; Richtlinie für das neue ökonomische System der Planung und Leitung der Volkswirtschaft, Berlin (O) 1963 (im folgenden: Richtlinie), S. 91 ff. 2 3
Stenografische Niederschrift: Sitzung des Ministerrates am 7.2.63, BA DC20-I/3-435. Protokoll der Sitzung des Büros für Industrie und Bauwesen beim Politbüro am 11.3.63; Abt. Planung und Finanzen: Konzeption für die Ausarbeitung von Vorschlägen zur Einfuhrung eines in sich geschlossenen Systems ..., 7.3.63, SAPMO-BA DY30 IV A2/601/25.
4 Protokoll der Sitzung des Büros für Industrie und Bauwesen beim Politbüro am 1.4.63; Halbritter: Konzeption zur Ausarbeitung ..., 27.3.63, SAPMO-BA DY30 IV A2/601/27. 5 Abt. Planung und Finanzen: Konzeption zur Ausarbeitung der Politbürovorlage ..., 7.3.63, SAPMO-BA DY30IV A2/601/25. 6
Mittag, Apel: Information für das Politbüro: Ausarbeitung von Grundsätzen und praktischen Vorschlägen zur Verwirklichung eines in sich geschlossenen Systems der Anwendung ökonomischer Hebel..., 26.4.63:
Entwicklung und Implementation
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vom Dezember 1962 der Ausarbeitung des Reformprogramms zugrunde gelegt wurde. Darüber hinaus betonte sie den Systemcharakter der Anreize, denn mittlerweile war es erforderlich, der Komplexität des Lenkungsmechanismus Rechnung zu tragen, indem die Zusammenhänge der einzelnen vorgesehenen Schritte konkret ausgearbeitet wurden. Inzwischen beschäftigte man sich nämlich bereits praktisch mit diversen einzelnen Problemen, wie der Industriepreisreform und der Grundmittelumbewertung. Andere Vorschläge, wie der Betriebsprämienfonds für 1963 und die Preiszuschläge für neue Erzeugnisse, sollten entschieden werden. Daher bestand - so Apel und Mittag "die Gefahr, daß die Einzelmaßnahmen (...) am Ende nicht zusammenpassen oder sogar gegeneinander wirken". 1 Ende April gingen die zentrale Arbeitsgruppe unter Halbritters Leitung und die ihr beigegebenen fünf Untergruppen, die sich einzelnen Schwerpunkten widmen sollten, in der Gewerkschaftshochschule Bernau bei Berlin in Klausur. Dieser Runde gehörten Vertreter des Parteiapparates und der Wirtschaftsbürokratie sowie Wissenschaftler an. Hervorzuheben war dabei in der 15 Personen umfassenden zentralen Arbeitsgruppe Herbert Wolf, der als Behrens-Schüler Ende der fünfziger Jahre während der Revisionismus-Kampagne in einen Betrieb geschickt worden war und Anfang 1963 zum stellvertretenden Direktor des Ökonomischen Forschungsinstitut der SPK avancierte. 2 Er prägte wohl - neben Halbritter - die Reform, ihre detaillierten Regelungen und Schritte am stärksten. Zeitweise nahmen an den Beratungen in Bernau offenbar auch die neben Ulbricht maßgeblichen Protagonisten dieser Umgestaltung im Politbüro Apel und Mittag teil, die quasi die politische Rückendeckung besorgten. 3 Ulbricht war über seinen wissenschaftlichen Mitarbeiter, Wolfgang Berger, der sich gleichfalls nicht geringe Verdienste um die Reform erwarb, in engem Kontakt mit der Bernauer Konklave. 4 Dies war offenbar notwendig - denn wie Teilnehmer dieser Beratungen später berichteten - zeigte sich, daß die Mitglieder der Arbeitsgruppen anfangs unsicher waren, ob die Parteispitze - so wie früher - nicht auch diesmal nur "kleine" Lösungen wollte. Selbst Halbritter soll anfangs betont haben: "Entweder erhalten wir alle eine Parteistrafe, daß wir uns nicht wieder-
Konzeption ..., BA DC20-I/6-2. 1 Mittag, Apel: Information für das Politbüro, 26.4.63, BA DC20-I/6-2. 2 Ebenda. Vgl. zu Wolf: Abt. Wissenschaft an Hager, 26.10.59; Abt. Wissenschaft an Mittag, 16.1.60, SAPMO-BA DY30 IV 2/904/208. 3 Dieses Verdienst billigt ihnen auch Wolf zu. Vgl. Wolf, Hatte die DDR je eine Chance?, S. 11. 4 Die Verdienste von Halbritter, Wolf und Wolfgang Berger um das Konzept der Wirtschaftsreform sind unbestritten. Dagegen ist die Rolle von Otto Reinhold und Helmut Koziolek in dieser frühen Phase schwer zu beurteilen. Letzterer reklamiert für die Genannten, einschließlich ihm selbst, die Leistung, das Konzept des NÖS entwickelt zu haben. (Gespräch mit H. Koziolek in: T. Pirker/M.R. Lepsius/R. Weinert/ H.-H. Hertie, Der Plan als Befehl und Fiktion. Wirtschaftsführung in der DDR. Gespräche und Analysen, Opladen 1995, S. 255.) Die archivalische Überlieferung bestätigt dies nicht. Koziolek war bei der Beratung in Bernau offiziell nicht dabei. Auch den von ihm angeführten Nationalpreis erhielt er erst 1966. Allerdings hatten Reinhold und Koziolek informell wohl einen größeren Einfluß, vor allem nachdem Koziolek Direktor des Ende 1965 gegründeten Zentralinstituts für Sozialistische Wirtschaftsführung beim ZK der SED geworden war.
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Ausarbeitung des Reformkonzeptes und sein Inhalt
finden - oder einen großen Orden!" 1 Erst als - vermutlich von Ulbricht selbst - "grünes Licht" gegeben wurde, begann man in Bernau, umfassendere Veränderungen der Wirtschaftslenkung auszuarbeiten. Den Ausgangspunkt für diese Arbeit bildete die Kritik der bisherigen Praxis, die "ja im Grunde eine Selbstkritik war". 2 Die Bernauer Diskussionen waren wohl vor allem von den Erfahrungen der vertretenen Wirtschaftsinstanzen und den ersten Erkenntnissen aus den laufenden ökonomischen Experimenten beeinflußt und - so scheint es - in geringerem Maße durch wissenschaftliche Überlegungen geprägt, obwohl hinter ihnen ein differenzierteres theoretisches Verständnis von der Wirtschaft des Staatssozialismus als bis dahin üblich stand. Zum Abschluß der Klausur lag am 22.Mai 1963 ein 123 Seiten umfassender Entwurf für die "Anwendung
eines in sich
Systems
und Leitung der
ökonomischer
Hebel im ökonomischen
System der Planung
abgestimmten Volkswirt-
schaft" vor, der eine Kritik des bisherigen Lenkungssystems und die Neubestimmung der Rolle und Verantwortung der VVB einschloß. Inhaltlich enthielt dieser Entwurf die wesentlichen Charakteristika des Reformwerkes, des hier erstmals so benannten "neuen ökonomischen Systems der Planung und Leitung der Volkswirtschaft". 3 Dieses Material wurde unter Federführung von Halbritter um die Hälfte gekürzt und am 11./12. Juni 1963 im Politbüro in erster Lesung behandelt, w o es als Teil I und eine am 18. Juni 1963 von Neumann eingebrachte Vorlage des Volkswirtschaftsrates zum Leitungssystem der Industrie als Teil II der Reformrichtlinie beschlossen wurde. Diese Ausarbeitungen ergänzte man mit einem Bericht über die ersten Erfahrungen aus den ökonomischen Experimenten. In dieser Form wurde das Programm einer am 24./25. Juni 1963 von der SED-Spitze und der Regierung veranstalteten Wirtschaftskonferenz vorgelegt, auf der das Führungspersonal der VVB und Betriebe, Mitarbeiter der zentralen und regionalen Wirtschaftsinstanzen, Parteifunktionäre sowie Wissenschaftler mit ihm vertraut gemacht und auf seinen Inhalt eingeschworen werden sollten." Nach dieser Konferenz beschloß das Politbüro, die Materialien zu einer "Richtlinie für das neue ökonomische der Planung und Leitung der Volkswirtschaft"
System
zusammenzufassen und als Broschüre zu veröffentli-
chen. Das Reformprogramm sollte die Basis für eine Propagandaoffensive bilden. Es war zusammen mit den Materialien der Wirtschaftskonferenz im gesamten Partei-, Staats- und Wirtschaftsapparat seminaristisch durchzuarbeiten. 5 Am 11. Juli 1963 verabschiedete das Präsidium des Ministerrates die Richtlinie einschließlich eines damals nicht veröffentlichten Planes der wichtigsten Maß-
1 Wolf, Hatte die DDR je eine Chance?, S. 26. 2 W. Berger/O. Reinhold, Zu den wissenschaftlichen Grundlagen des neuen ökonomischen Systems der Planung und Leitung, Berlin (O) 1966, S. 25f. 3 In: SAPMO-BA DY30 IV A2/601/35. 4 Protokoll der Politbürositzung am 11.6. und 12.6.63; SPK: Grundsätze und Vorschläge zur Verwirklichung eines in sich geschlossenen Systems ..., 7.6.63, SAPMO-BA DY30 J IV 2/2A/967; Neumann: Erste Schlußfolgerungen des VWR zur Auswertung der ökonomischen Experimente, 7.6.63, SAPMO-BA DY30 J IV 2/2A/968; Protokoll der Politbürositzung ZK am 18.6.63, SAPMO-BA DY30 J IV 2/2A/970; Neumann: System der Planung und Leitung der volkseigenen Industrie, 15.6.63, SAPMO-BA DY30 J I V 2/2A/971. 5 Protokoll der Politbürositzung am 26.6.63, SAPMO-BA DY30 J IV 2/2A/972.
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Entwicklung und Implementation der Reform
nahmen zur Einführung des neuen ökonomischen Systems der Planung und Leitung der Volkswirtschaft (NÖS). 1 Bei der Fertigstellung veränderte man die in Bernau erarbeiteten Materialien in mehrfacher Hinsicht. Zwar war in dem Bernauer Papier betont worden, daß die "Gesamtwirkung (des ökonomischen Systems - A.S.) auf die Stärkung und Entwicklung der Planung und damit auf die Stärkung der Autorität des Staates und nicht umgekehrt auf den Abbau der Planung gerichtet ist." Dennoch stand das System wirtschaftlicher Anreize im Mittelpunkt, die zwar mit der Planung verbunden, aber selbst der Kern des neuen Lenkungsmechanismus sein sollten. Dies blieb auch die Auffassung der Reformprotagonisten in der SED-Spitze. In der endgültigen Fassung der "Richtlinie" wurden die Leitung und die Planung - also die direkten Instrumente wirtschaftlicher Lenkung - aber stärker bedient und ihnen ein Platz vor dem Anreizsystem eingeräumt sowie die Einheit aller drei Elemente hervorgehoben. Das scheint ein Kompromiß mit den Reformskeptikern gewesen zu sein, ohne daß dies so festgehalten wurde. Schließlich hätte man auch das Anreizsystem und die Übertragung wirtschaftlicher Verfügungsrechte an die VVB an erste Stelle rücken und die daraus folgenden Änderungen in der Administration und der Planung im Anschluß ausführen können. Außerdem wurde die "kritische Einschätzung der bisherigen Praxis der Planung und Leitung" sprachlich entschärft. Die öffentliche Selbstkritik, die für die DDR-Bürger die größte Überraschung bildete, sollte wohl nicht übertrieben werden, um nicht im Gegensatz zur eigentlichen Intention Anlaß zu geben, die Kompetenz der SED-Spitze grundsätzlich in Frage zu stellen. Außerdem tilgte man weitgehend die in den internen Ausarbeitungen verbreiteten, auch von Ulbricht öffentlich gebrauchten terminologischen Anleihen beim Gegner im Systemwettstreit. Das betraf vor allem die "sozialistischen Konzerne". 2 Das hatte zwar einen ernst zu nehmenden inhaltlichen Hintergrund, da man sich - allerdings stark simplifiziert - immer wieder die Frage gestellt hatte: wie machen die Kapitalisten das? 3 Aber gerade die Reformskeptiker sahen die Gefahr, wie Neumann gegenüber Apel ausführte, daß damit "feindlichen Kräften die Argumentation mit demagogischen Vorwürfen (erleichtert würde), daß wir kapitalistische Methoden anwenden." 4 Aus ähnlichen Gründen versäumte man es weder öffentlich noch intern, immer wieder darauf zu verweisen, daß die angestrebten Veränderungen nichts mit dem "Revisionismus" zu tun hätten. 5 Da aber deren Inspiration durch die unter diesem Verdikt stehenden Ideen von Behrens und Benary zumindest für die Eingeweihten nicht zu übersehen war,
1 Beschluß-Protokoll der Sitzung des Präsidiums des Ministerrates am 11.7.63, BA DC20-I/4-759. 2 Vgl. ohne die verschiedenen Zwischenfassungen: SPK: "Anwendung eines in sich abgestimmten Systems ökonomischer Hebel im ökonomischen System der Planung und Leitung der Volkswirtschaft", 22.5.63 (Bernau), SAPMO-BA DY30 IV A2/601/35; Richtlinie. 3 Vgl. u.a.: Stenographische Niederschrift: Erweiterte Sitzung des Ministerrates der DDR am 28.2.63, BA DC20-I/3-438. 4 Neumann an Apel, 17.6.63, SAPMO-BA DY30 IV A2/2021/248. 5 Protokoll VI.Parteitag, S. 101; SPK: "Anwendung eines in sich abgestimmten Systems ökonomischer Hebel...", 22.5.63 (Bernau), SAPMO-BA DY30 IV A2/601/35.
Ausarbeitung des Reformkonzeptes und sein Inhalt
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zielten diese Feststellungen sowohl auf die eigene politische Glaubwürdigkeit als auch darauf, die Reformskeptiker zu beruhigen.
Inhalt der "Richtlinie" Das Ziel der Wirtschaftsreform sollte der "Richtlinie" zufolge darin bestehen, die Volkswirtschaft wissenschaftlich und technisch zu modernisieren und damit die Produktivität permanent zu steigern, "um im Interesse der gesamten Nation die Überlegenheit unserer sozialistischen Ordnung gegenüber dem kapitalistischen System in Westdeutschland auch auf ökonomischen Gebiet zu beweisen". 1 Dazu waren Innovationen und die mit ihnen verbundenen Strukturveränderungen auf der Grundlage höherer Eigenverantwortung der V V B und Betriebe unter Zuhilfenahme ihrer wirtschaftlichen Interessen und der "schöpferischen Aktivitäten der Werktätigen" im Rahmen eines nur Eckdaten vorgebenden zentralen, perspektivisch orientierten Planes anzuregen und durchzusetzen. Die Planung als auch die Leitungstätigkeit sowie das "in sich geschlossene System ökonomischer Hebel" sollten demnach eine organische Verbindung eingehen. 2 Damit wurde faktisch die Existenz von Teilsystemen - in Gestalt der Wirtschaftseinheiten - mit eigenen Interessen anerkannt, von denen die Reformer annahmen, sie mit den Interessen der Zentrale in Übereinstimmung bringen zu können. 3 Insofern leugnete die SED-Spitze auch nicht mehr die Existenz "nichtantagonistischer Widersprüche" in der Gesellschaft. Sie versuchte, solche Konflikte erstmals in ihrer für die soziale Stabilität positiven Funktion zu instrumentalisieren." Das Ziel aber, dem die Parteispitze in der gegebenen deutschland- und innenpolitischen Situation nicht ausweichen konnte, bestand nach wie vor darin, sich als konkurrenzfähige Alternative zum westlichen System zu präsentieren. Allerdings sah man es jetzt - im Gegensatz zur Ende der fünfziger Jahre verkündeten "ökonomischen Hauptaufgabe" - als unerläßlich an, den Lenkungs- und Koordinationsmechanismus so zu gestalten, daß er die erforderlichen Antriebskräfte freisetzte. Im folgenden werden die Grundzüge des ins Auge gefaßten neuen Mechanismus, wie ihn die "Richtlinie" beschrieb, vorgestellt, wobei für die Details auf die entsprechenden Abschnitte in den folgenden Kapiteln verwiesen wird. Die VVB sollten von "administrativ arbeitenden Außenstellen der zentralen Leitung der Volkswirtschaft" 5 zu "ökonomischen Führungsorganen" ihrer Branche werden, indem sie ihre Mittel unter Berücksichtigung weniger vorgegebener Kennziffern im wesentlichen selbst zu erwirtschaften hatten. Deren Konzentration in "Fonds" gab den Rahmen für zweckgebundene Ausgaben vor (Fonds Technik, Gewinnverteilungsfonds, Verfiigungsfonds, Kreditreserve, Prämienfonds). Sowohl
1 2 3 4
Richtlinie, S. 7, 15. Ebenda, S. 7, 10. Vgl.: Roesler, Plan und Markt, S. 46. P.C. Ludz, Parteielite im Wandel. Funktionsaufbau, Sozialstruktur und Ideologie der SED-Führung. Eine empirisch-systematische Untersuchung, Köln 1968, S. 68.
5
SPK: "Anwendung eines in sich abgestimmten Systems ökonomischer Hebel ...", 22.5.63 (Bernau), SAPMO-BA DY30 IV A2/601/35.
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Entwicklung und Implementation
der Reform
die Betriebe als auch die VVB hatten eine Gewinn- und Verlustrechnung aufzustellen. 1 Die Erweiterungsinvestitionen sollten künftig stärker aus Gewinn und Kredit bestritten werden. Der nach Abzug der zulässigen "Fonds"bildungen, insbesondere für die Prämienmittel, verbleibende erwirtschaftete Gewinn, der die Aufwendungen für geplante Erweiterungen (Investitionen und Umlaufmittelerhöhungen) überstieg, war an den Staatshaushalt abzuführen. 2 Höhere Eigenverantwortung der VVB und Betriebe erforderte, sie nicht nur über Finanzmittel, sondern ebenso über ihre produzierten Güter verfugen zu lassen. Dem wurde aber nur teilweise Rechnung getragen. Entsprechend der Bedeutung, die die Zentrale den jeweiligen Produkten beimaß, sollte die Ausarbeitung der Aufkommen-Verwendungs-Bilanzen, die für die geplante Güterverteilung entscheidend waren, pyramidenförmig gestaffelt werden. Die für die Steuerung der Gesamtwirtschaft als unabdingbar angesehenen Positionen hatten weiter die zentralen Instanzen zu bilanzieren. Weitere Bilanzen sollten auf den nachgeordneten Ebenen bis zu den VVB und Betrieben ausgearbeitet werden, so daß sie in diesen Fällen auch den Bedarf zu ermitteln hatten. Die Planung sollte auf Basis von Prognosen stärker perspektivisch ausgerichtet und deren Details eher den jeweiligen Wirtschaftseinheiten überlassen werden. Ihnen sollte es auch obliegen, mit Wirtschaftsverträgen untereinander die Pläne zu realisieren, zu ergänzen und zu präzisieren. 3 Weiterhin sollten bei der Planung und Bewertung der Wirtschafteinheiten die quantitativ orientierten Kennziffern und Vorgaben, wie die Bruttoproduktion, an Bedeutung verlieren und ihre Anzahl reduziert werden, so daß westliche Beobachter bereits die "Verdrängung der Maximierungsdurch die Optimierungsidee" 4 sahen. Als zentrales Kriterium für die Leistungsfähigkeit der Wirtschaftseinheiten betrachtete man jetzt den Gewinn. Dessen Höhe hatte im wesentlichen den Umfang der betrieblichen Bonusmittel und die Gehälter des Führungspersonals zu bestimmen. 5 Die Wirksamkeit dieser Festlegung verlangte Bedingungen, unter denen "Entwicklung und vollständiger Einsatz der neuen Technik, Steigerung der Arbeitsproduktivität, Senkung der Kosten und hohe Qualität, bedarfsgerechte Produktion und Absatztätigkeit (...) zu einem hohen Gewinn und die Verletzung dieser gesellschaftlichen Notwendigkeiten zu Gewinneinbußen (Verlust) führen". 6 Dazu waren in erster Linie die Voraussetzungen für einen unverzerrten Kostenausweis zu schaffen. Dem dienten die Grundmittelumbewertung und Einführung neuer Abschreibungssätze sowie die Industriepreisreform. Nach deren Abschluß wollte man Wege finden, um die Preise in bestimmten Grenzen den Veränderungen wirtschaftlicher Bedingungen anzupassen, d.h. sie begrenzt zu flexibi-
1 Richtlinie, S. 81 f. 2
Ebenda, S. 54, 68. Gerade in der Frage der Gewinnverwendung blieben die Autoren teilweise unscharf, womit man sich wohl einen gewissen Spielraum bei der Ausarbeitung der detaillierten Regelungen erhalten wollte.
3 4
Ebenda, S. 44f. K.C. Thalheim, Die neue Phase des ökonomischen Systems des Sozialismus. Gesamtwirtschaftliche Würdigung, in: B. Gleitze u.a., Das ökonomische System der DDR nach dem Anfang der siebziger Jahre, Berlin (W) 1971, S. 55.
5
Vgl. das dritte Kapitel.
6
Richtlinie, S. 54.
Ausarbeitung des Reformkonzeptes und sein Inhalt
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lisieren. Als Anreiz zur effektiven Nutzung des Anlage- und Umlaufvermögens sollte auf deren Durchschnittsbestand eine Produktionsfondsabgabe als fester Prozentsatz erhoben werden, die die Betriebe aus ihrem Gewinn zu begleichen hatten. 1 Neben den auf der Ebene der V V B und der Betriebe angesiedelten wirtschaftlichen Anreizen waren aber vor allem Lohn und Prämie besser an die individuellen Leistungen der Beschäftigten zu koppeln, um so gesamtwirtschaftliche mit den Interessen des Einzelnen in Übereinstimmung zu bringen. 2 Das wirtschaftliche Anreizsystem war nach den Vorstellungen der Reformer mit den Plänen zu verbinden, indem die ersterem zugrunde liegenden Kategorien, wie Kosten, Preise, Gewinn, geplant wurden. Darüber hinaus sollten die "ökonomischen Hebel" in noch nicht präzisierter Weise die Aufstellung optimaler Pläne wie auch deren Erfüllung fördern.3 Gerade die Lösung dieses Problems, die den Reformern zufolge die eigentliche Crux des Reformprogramms ausmachte, blieb in dem Konzept unklar. Es ist später zu zeigen, wie sie im Detail gestaltet wurde. 4 Mit dem Reformprogramm sollten also Verfügungsrechte in einem zentral bestimmten Rahmen dezentralisiert werden: bei der Planung und der Bilanzierung von Aufkommen und Verwendung einzelner Güter ebenso wie beim Einsatz finanzieller Mittel. Die Planung war stärker auf die Perspektive auszurichten, ihre Vorgaben an die Wirtschaftseinheiten zu reduzieren und den wirtschaftlichen Anreizen ein höherer Stellenwert einzuräumen. Auch sollte die güterwirtschaftlich orientierte, eher direkte Lenkung gegenüber der finanzwirtschaftlichen, mehr indirekten zurücktreten. Jedoch hatte die Planung nach wie vor die Kohärenz des Lenkungs- und Koordinationsmechanismus zu gewährleisten. Und mit dem Anreizsystem sollten die Interessen der Wirtschaftseinheiten und der Beschäftigten auf die weiterhin vorrangigen zentralen staatlichen Ziele gelenkt werden. Auch Apel hob kurz nach Beginn der Realisierung der Reform noch einmal ausdrücklich hervor, daß der Übergang zur Leitung mit wirtschaftlichen Mitteln "allerdings nicht (bedeutet), daß alle Entscheidungen der Wirtschaftsführung nur unten, unabhängig von zentralen staatlichen Organen oder unabhängig vom Gesamtzusammenhang des Volkswirtschaftsplanes getroffen werden." 5 Die vorgesehene indirekte Lenkung zielte vor allem darauf, daß die Wirtschaftseinheiten den Nutzeffekt der ihnen zur Verfügung stehenden Ressourcen und Finanzmittel, mithin die X-Effizienz, erhöhten. Die Allokation der Inputs auf die VVB und Betriebe blieb dagegen eher Sache der übergeordneten Hierarchieebenen, wobei sie sich stärker als früher an wirtschaftlichen Kriterien und internationalen Vergleichen orientieren sollten. Damit wurde das in dem Konzept nicht gelöste Informationsproblem aufgeworfen und es erschien fraglich, ob auf diese Weise eine optimale Allokation zu
1 Vgl. das zweite Kapitel. 2 Vgl. das dritte Kapitel. 3 E. Apel/G. Mittag, Ökonomische Gesetze des Sozialismus und neues ökonomisches System der Planung und Leitung der Volkswirtschaft, Berlin (O) 1964, S. 82. 4 Vgl. das dritte Kapitel. 5 Schlußwort zum Tagesordnungspunkt 1, 5.Tagung des ZK der SED, 3.-7.2.64, SAPMO-BA DY30 IV 2/1/305.
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Entwicklung und Implementation
der Reform
erreichen war. Ebenso blieben die direkten und indirekten Anreize zur Innovation schwach. 1 Die Gewinnorientierung der Wirtschaftseinheiten war im Konzept der Wirtschaftsreform alles in allem quantitativ und nicht qualitativ ausgerichtet, weil sie kaum auf Innovationen und Strukturwandel zielte. Insgesamt bestand - rückblickend gesehen - eine erhebliche Diskrepanz zwischen den ursprünglichen Intentionen der Reform und dem in der "Richtlinie" konzipierten Mechanismus. Sie war in erster Linie darauf zurückzuführen, daß man die Basis des dogmatisierten Marxismus kaum verließ, aber dennoch versuchte, marktwirtschaftliche Mechanismen zu simulieren. Daraus resultierten Widersprüche, die man - wie bei den einzelnen Lenkungsaufgaben zu sehen sein wird - pragmatisch löste. Letztlich blieb das Reformkonzept, selbst an den eigenen Ansprüchen gemessen, inkonsequent, mit seiner Realisierung jedoch konnte gleichwohl eine höhere Effektivität erwartet werden. Die Inkonsequenz war auch auf die Kompromisse zurückzuführen, die die Reformer mit den Skeptikern eingehen mußten. Allerdings wurde das Konzept zuvorderst als offen verstanden, was sich in den vielen, kaum zu überschauenden Experimenten für die einzelnen Lenkungsinstrumente zeigte. Für die oft noch notwendigen Präzisierungen und Weiterentwicklungen, die das Konzept überhaupt erst praktikabel machen sollten, wurde eine in der DDR neue Beziehung zwischen Wirtschaftswissenschaft und -praxis angestrebt. Eine besondere Rolle spielte dabei - wie bereits während der Konzeptualisierung der Reform - das Ende 1962 gebildete Ökonomische Forschungsinstitut der SPK (ÖFI). Die Aktivitäten in den anderen Forschungseinrichtungen sollte ein Beirat für ökonomische Forschung bei der SPK koordinieren, der sich im Juni 1963 konstituierte. Er umfaßte neben einem Arbeitskreis zu den wissenschaftlichen Grundlagen für das N Ö S insgesamt unter der Leitung von Wolf weitere sieben Gruppen zu einzelnen Schwerpunkten. In diesem Beirat und seinen Gruppen waren Wissenschaftler aus verschiedenen Institutionen vertreten. 2 Behrens führte dabei den Arbeitskreis zum "Nutzeffekt der Arbeit", hielt sich aber ansonsten bei der Konzeptualisierung und später bei der Realisierung der Reform eher zurück. Es war jedoch für den gesamten Reformzeitraum kennzeichnend, daß Ökonomen stärker als früher (und nachher) in die Arbeit der verschiedensten Gremien einbezogen wurden und viele Fragen offener diskutiert werden konnten. 3 Dabei regten die Wissenschaftler manches an, aber es war - abgesehen vom Ökonomischen Forschungsinstitut der SPK - die Ausnahme, wenn von ihnen entwickelte Konzepte unmittelbar wirksam wurden. Die Sozialisation mancher der Verantwortlichen als Wissenschaftler erleichterte ihnen zwar den Zugang zu theoretischen Überlegungen, doch diese waren vielfach für die konkrete Entwicklung des Lenkungs- und Koordinationsmechanismus nicht relevant, da diese - wie Wolf 1966 auf einer Konferenz bekannte 4 - vielmehr von pragmatischen Überlegungen in den zentralen Wirt-
1 Vgl. das vierte Kapitel. 2 Information über die konstituierende Sitzung des "Beirates für ökonomische Forschung" am 19.6.63, 24.6.63, BA DE1/41819. 3 Vgl. auch: Krause, Wirtschaftstheorie in der DDR, S. 147-154. 4 H. Wolf, Probleme der Planung und des Marktes, in: Wirtschaftswissenschaft 14, 1966, S. 911 f .
Ausarbeitung
des Reformkonzeptes
und sein Inhalt
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schaftinstanzen und dem Parteiapparat sowie von einzelnen Vertretern aus den VVB und Betrieben bestimmt wurden. Andererseits hatte die Wirtschaftswissenschaft auf Grund politischer Restriktionen und der Selbstbeschränkung ihrer Vertreter bei einigen im Sozialismusverständnis besonders sensiblen Fragen wenig zur Erklärung wirtschaftspraktischer Phänomene beizutragen. So fehlte dem "System ökonomischer Hebel" während der gesamten Reformperiode faktisch die konsistente wert- und geldtheoretische Grundlage.' Die "Freiheiten" fiir die Wirtschaftswissenschaftler blieben letztlich begrenzt. Wenn bestimmte Kerntheoreme in Frage gestellt wurden oder sich zentrale Instanzen durch wissenschaftliche Aussagen angegriffen fühlten, konnte dies scharfe Reaktionen hervorrufen, die zwar nicht mehr so drastisch wie in den fünfziger Jahren, aber für die Betroffenen durchaus spürbar waren.2 Hin und her gerissen zwischen den Forderungen der Partei, neue Ideen zu entwickeln und Bestehendes wissenschaftlich zu legitimieren, hielten sich nicht wenige Ökonomen zurück.3 Als das Reformkonzept erarbeitet wurde, ließen sich die Reformer erstens durch die Ideen von Behrens und Benary aus den fünfziger Jahren inspirieren. Dafür spricht nicht nur die inhaltliche Kongruenz, sondern auch daß zwei ihrer wichtigsten Vertreter, Wolf und Berger, Schüler von Behrens waren und sich aus ihrer gemeinsamen Studienzeit kannten. Die Vorstellungen von Behrens und Benary waren zwar wesentlich weitergegangen als das Reformkonzept, aber sie waren sehr viel abstrakter und wären in dieser Form kaum unmittelbar zu operationalisieren gewesen. Beispielsweise spielte die reale Vergesellschaftung, also die Selbstverwaltung in ihren Augen die entscheidende Rolle. Bei der Ausarbeitung des Reformkonzeptes dagegen wurde die Partizipation der Beschäftigten nur am Rande behandelt.4 Zweitens bildeten die bereits angeführten seit Ende der fünfziger Jahre in der Wirtschaftsbürokratie oder dem Parteiapparat immer wieder einmal vorgebrachten Änderungsvorschläge eine Quelle für das Reformkonzept. Offen muß bleiben, inwiefern die Reformer drittens von theoretischen Modellen angeregt wurden, die in anderen Ostblockländern Anfang der sechziger Jahre diskutiert wurden und bei Wahrung einiger Prämissen des Sozialismus eine Planwirtschaft mit Hilfe des Marktmechanismus steuern wollten.5 Einen merklichen Niederschlag im Reformkonzept fanden sie jedenfalls nicht. Wahrscheinlicher ist es, daß in der DDR Elemente aus den Reformversuchen Ende der fünfziger Jahre in Polen, der Tschechoslowakei und Ungarn - der "ersten Welle von Wirtschaftsreformen" (Brus) - aufgegriffen wurden. Allerdings konnte dies nicht verifiziert werden. Im Vergleich zu diesen steckengebliebenen Reformen bot das NÖS-Konzept
1 Darauf wies U. Busch hin in: Krause, Wirtschaftstheorie in der DDR, S. 177. 2
Ein frühes Beispiel in: ÖFI bei der SPK: Einschätzung des Artikels Haustein, H.-D./Scheibler, R.: "Einige Probleme ..." Wirtschaftswissenschaft 9/63, 21.9.63, SAPMO-BA DY30 IV A2/2021/249.
3
Vgl. A. Beyer, Die Diskussion um das "Neue Ökonomische System" in Mitteldeutschland, in: ORDO. Jahrbuch für die Ordnung von Wirtschaft und Gesellschaft 18, 1967, S. 374ff.
4 5
Vgl. das dritte Kapitel. W. Brus, Funktionsprobleme der sozialistischen Wirtschaft, Frankfurt/M. 1971, S. 200-304. Diese Schrift erschien in der polnischen Ausgabe 1961. Es ist nicht genau bekannt, inwieweit sie in der DDR Anfang der sechziger Jahre verbreitet war.
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Entwicklung und Implementation der Reform
von 1963 wenig Neues. Innovativ war jedoch der Versuch, den Lenkungs- und Koordinationsmechanismus zwar moderat, doch insgesamt zu verändern. 1 In der DDR war man wohl stärker auf die sowjetische Debatte fixiert, ging dann in der Reform aber deutlich weiter als dort. Radikalere Schritte, wie bei den späteren Reformen in der CSSR oder in Ungarn, kamen für die SED nicht in Frage. 2 Abgesehen davon, daß in der DDR bereits in den fünfziger Jahren mehr Konformität als beispielsweise in Polen und Ungarn mit ihren intellektuell gestützten Massenprotesten entstanden war, ließen sich mit den Revisionismus-Vorwürfen gegen Behrens, Benary und Gunther Kohlmey - einem weiteren herausragenden Politökonomen der DDR - auch andere Wirtschafts- und Sozialwissenschaftler disziplinieren, die die eigene Gesellschaft analysieren wollten. Daher fehlten solche Untersuchungen und entsprechende Anstöße aus der Wissenschaft zu weitergehenden Reformschritten, die in den erwähnten Ländern eine nicht zu unterschätzende Rolle spielten. 3 Für derartige Schritte hätte aber auch der Spielraum der SED-Spitze gegenüber der Sowjetunion zu dieser Zeit nicht ausgereicht, denn Chruschtschow hatte bereits den vorliegenden Veränderungen nur widerwillig zugestimmt. Auch aus Furcht, diese Einwilligung zu verlieren, ließ die SED-Spitze aufmerksam die westlichen Reaktionen auf die Veröffentlichung des NÖS-Konzeptes verfolgen. Da dort entsprechende Argumente benutzt worden waren, führte deren Auswertung zu dem Schluß, daß die Reformschritte in der öffentlichen Präsentation einerseits von den "revisionistischen" Theorien Behrens und Benarys abzugrenzen seien und andererseits herauszuarbeiten war, daß es sich beim N Ö S nicht nur um eine bloße Reorganisation handelte. Auf die westliche Entdeckung "kapitalistischer" Elemente in der Wirtschaftsreform sollte offensiv reagiert werden, indem man "die Beziehungen zwischen ökonomischen Hebeln und wissenschaftlicher Planung mehr beton(e)". 4 Und schließlich unterblieben radikalere Maßnahmen auch deshalb, weil für die SED-Führung einschließlich der Reformprotagonisten von Anfang an klar war, daß die Reform und die mit ihr verbundene begrenzte Liberalisierung auf den wirtschaftlichen Bereich beschränkt werden sollte.
1 So in: W. Brus, 1957 to 1965: In Search of Balanced Development, in: M. Käser (Hg.), Institutional Change within a Planned Economy (The Economic History of Eastern Europe 1919-1975, Bd. 3), Oxford 1986, S. 111. Zu den Reformversuchen in den anderen Ländern siehe: Ebenda, S. 97-107. Vgl. auch: P.M. Johnson, Redesigning the Communist Economy. The Politics of Economic Reform in Eastern Europe, Boulder 1989, S. 37. 2 Johnson fuhrt den Grad an Radikalität der einzelnen Reformen im Ostblock darauf zurück, in welchem Maß in dem betreffenden Land wirtschaftliche Leistungsdefizite auftraten und wahrgenommen wurden, wie stark die unabhängige Artikulation neuer Politikvorschläge oder Ideen unterdrückt wurde sowie wie eng man sich bis dahin an die Sowjetunion anlehnte. (Johnson, Redesigning the Communist Economy, S. 71-81.) 3 Siehe zur Entwicklung der Wirtschaftstheorie des Sozialismus in der Reformperiode zusammenfassend: Krause, Wirtschaftstheorie in der DDR, S. 159ff. 4 Ökonomisches Forschungsinstitut bei der SPK: Die Reaktion der westlichen Presseorgane und des Rundfunks ..., 16.8.63, SAPMO-BA DY30 J IV 2/2J/1046. Vgl. A. Steiner, "Umfassender Aufbau des Sozialismus" oder "Anleihe beim Kapitalismus"? Zur Darstellung des Konzepts der DDR-Wirtschaftsreform, in: G. Diesener/R. Gries (Hg.), Propaganda in Deutschland. Zur Geschichte der politischen Massenbeeinflussung im 20.Jahrhundert, Darmstadt 1996, S. 154f.
Ausarbeitung des Reformkonzeptes und sein Inhalt
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Weitergehende Schritte in der Wirtschaft hätten aber zwingend Umgestaltungen im politischen System erforderlich gemacht.
Politische und personelle Aspekte Bereits die anvisierten Änderungen ließen sich nicht ohne Wandel in der politischen Sphäre realisieren. Damit die Akteure in der Wirtschaft den neuen Lenkungs- und Koordinationsmechanismus tatsächlich praktizierten, mußten sie die Veränderungen akzeptieren. Deshalb bildete im Gegensatz zu früher die öffentliche Information und Diskussion vorgesehener Maßnahmen einen immanenten Teil der Ausarbeitung des Reformwerks. Die Parteispitze forderte die SED-Bezirkschefs auf, in den Medien mehr als bisher einen breiten Meinungsstreit - bei Sicherung des Geheimnisschutzes - zu führen. Dabei war größter Wert auf die wahrheitsgemäße Berichterstattung zu legen, die bis dahin offenbar nicht so ernst genommen worden war.' Mittag verlangte im Politbüro in einem zu veröffentlichenden Dokument, die Probleme zuzuspitzen, da man mit "glatten" Formulierungen nicht "ankomme". 2 Die ungewohnte Offenheit in den Medien und der demonstrierte Reformwillen der SED-Spitze führten zu einer oft reflektierten Veränderung der gesellschaftlichen Atmosphäre, die als offener und kritischer, aber auch selbstbewußter beschrieben wurde. 3 Neben der für eine erfolgreiche Implementation notwendigen Akzeptanz wollte man mit dieser vorsichtigen Ö f f n u n g ebenfalls Erfahrungen und Vorschläge für die Umgestaltung der wirtschaftlichen Lenkung aus einem Kreis, der über die Experten hinausging, mobilisieren und nutzbar machen. Den Höhepunkt bildete die von Partei und Regierung Ende Juni 1963 veranstaltete Wirtschaftskonferenz, auf der Vertreter aus den verschiedenen Apparaten, VVB und Betrieben sowie Wissenschaftler ihre Meinung zu dem Reformkonzept kundtun konnten. 4 Die dort vorgelegten Materialien sollten nach einer Weisung Apels "nicht im Direktivstil ausgearbeitet sein, sondern in einer volkstümlichen, massenhaften Sprache." 5 Allerdings ergaben sich aus dieser Konferenz kaum inhaltliche Änderungen am Reformkonzept. Das auf diese Weise geschaffene öffentliche Klima scheint Ulbricht aber dazu genutzt zu haben, die Reformskeptiker auf allen Ebenen des Apparats in der Partei und der Wirtschaftsverwaltung zum Einlenken zu bewegen. Auf Auseinandersetzungen bei der Reformausarbeitung spielte Ulbricht später mehrfach an. Dabei verwies er darauf, daß man sich des Risikos des
1 Büro des Politbüros an die 1.Sekretäre der Bezirksleitungen der SED, 26.11.62, SAPMO-BA DY30 IV A2/2021/486. 2 Abt. Gewerkschaften und Sozialpolitik: Aktennotiz über die Beratung des Politbüro vom 22.10.63, 25.10.63, SAPMO-BA DY30 IV A2/2021/738. 3 So in Diskussionsbeiträgen auf der 5.ZK-Tagung im Februar 1964. Vgl.: SAPMO-BA DY30 IV 2/1/304. 4 W. Ulbricht, Das neue ökonomische System der Planung und Leitung der Volkswirtschaft in der Praxis, Berlin (O) 1963, S. 6. 5 Festlegungen aus Beratungen mit Stellvertretern des Vorsitzenden der SPK beim Genossen Apel am 15. und 16.5.63, BA DE1/40994.
Entwicklung und Implementation der Reform
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eingeschlagenen Weges bewußt gewesen sei. 1 Schon deshalb sollte nach Ulbrichts Vorstellung die Partei alles in der Hand behalten und das Schaffen von Freiräumen in der Wirtschaft nicht von einem Umbau des politischen Systems begleitet werden. Zwar war die "Öffentlichkeit" zunächst von der Parteiführung inszeniert worden, aber sie gewann im Laufe der Zeit Eigendynamik. So fühlte sich beispielsweise der Filmdokumentarist Gerhard Scheumann von der damaligen Atmosphäre "großer Öffentlichkeit" dazu inspiriert, der Leitung des DDR-Fernsehens die Einführung einer Sendereihe vorzuschlagen, die den "Schritt vom Verlautbarungsjournalismus zum investigativen Journalismus" vollziehen sollte. Die daraus entstehende "Prisma"-Reihe sorgte durch kritische Berichte gerade aus der Wirtschaft und zur Versorgung immer wieder für Aufsehen. 2 Auch mit der von Ulbricht an Erich Honecker, als dem eigentlich Verantwortlichen in der Parteispitze, vorbei organisierten neuen Jugendpolitik gab man sich den Anschein von Modernität. Das "Jugendkommuniqui" der SED forderte gesellschaftliches Engagement und entwarf "das Ideal eines freimütig auftretenden, kritisch urteilenden und kompetent entscheidenden Bürgers und damit zugleich das Ideal einer sozialistischen Gesellschaft, die auf Kooperation und produktive Konfliktbearbeitung" beruhen sollte. 3 Die Grenzen für die Verwirklichung solcher Ideale zog aber nach wie vor die Partei. Trotzdem bildete sich eine Aufbruchsstimmung heraus, die insbesondere die Intellektuellen erfaßte 4 , sich aber auch in den Betrieben niederschlug. Allerdings herrschten bei den Arbeitern gegenüber der Wirtschaftsreform - nach der Diskussion und Veröffentlichung des Konzeptes - gemischte Gefühle. Angesichts der konsequenter vertretenen Leistungsforderung fürchteten sie einerseits Lohnkürzungen, sahen aber andererseits auch die in der Reform liegenden Chancen. Daher stimmten die Beschäftigten in den Betrieben den Veränderungen vorsichtig, aber nicht ungeteilt zu. Und im Lichte ihrer langjährigen Erfahrungen blieben sie gegenüber den neuen Versprechungen skeptisch. 5 Letztlich war die von der SED nach ihrem Vl.Parteitag verfolgte Gesellschaftspolitik von einem unlösbaren Widerspruch geprägt. Einerseits sollte in dem neuen Wirtschaftsmechanismus die Eigenständigkeit der Wirtschaftseinheiten - in erster Linie der VVB - anerkannt und gestärkt und damit deren Interessen formalisiert und instrumentalisiert werden, um schließlich eine auf der Basis neuester wissenschaftlicher und technischer Entwicklungen modernisierte Wirtschaft hervorzubringen. Andererseits fehlte aber sowohl der ökonomische als auch der politische Gesamtrahmen zur Artikulation neuartiger Interessen und zum Austragen auftretender Gegensätze, weil die Veränderungen im wirtschaftlichen Bereich in erster Linie dazu dienten, die Macht der SED zu sichern. Deshalb sollten die politischen und ideologischen Grundlagen dieser Gesellschaft, die zentralisierte
1 Schlußwort Ulbrichts auf der 11 .Tagung des ZK der SED, SAPMO-BA DY30 IV 2/1/338. 2 G. Scheumann, Die fernsehpublizistische Reihe "Prisma" und das "Prisma"-Testament, in: G. Agde, (Hg.), Kahlschlag. Das 11.Plenum des ZK der SED 1965. Studien und Dokumente, Berlin 1991, S. 246f. 3 L. Krenzlin, Vom Jugendkommunique zur Dichterschelte, in: Agde, Kahlschlag, S. 150. Vgl. zur Entstehung: Kaiser, Machtwechsel, S. 133-159. 4 Vgl. die Äußerungen verschiedener Künstler in: Agde, Kahlschlag. 5 Vgl. das dritte Kapitel.
Ausarbeitung
des Reformkonzeptes
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Einparteienherrschaft und der Marxismus-Leninismus, nicht revidiert werden. Daher rüffelte Ulbricht den Verantwortlichen, als beispielsweise bei der Konzeptualisierung der Reform Materialien entstanden, die das zu wenig beachteten: "Es muß also ausgegangen werden vom Prinzip des demokratischen Zentralismus. Bei Eurer Darstellung ist doch nur die Rede von der Demokratie aber ohne Zentralismus. (...) Die Parteitagsbeschlüsse gehen aus von der Leitung des Staates und der Wirtschaft von oben nach unten." 1 Der dem Konzept innewohnende Zielkonflikt war der Parteispitze offenbar nicht bewußt. Sie verkannte die Bedeutung des politischen Systems für die Wirtschaftsreform. Die Gewährung von Entscheidungsrechten an die Branchen- und Betriebsleitungen sowie die ohnehin unentschlossenen Versuche stärkerer Partizipation und Öffentlichkeit meinte man, auf den wirtschaftlichen Bereich beschränken zu können. Ulbricht betonte auf dem Parteitag, dies diene der "Stärkung der Autorität des sozialistischen Staates".2 Nach mehreren Jahren räumte er ein, daß man erst beim Umsetzen des Reformkonzeptes gelernt habe, "daß es hier um Probleme und gesellschaftliche Prozesse geht, die über den Bereich der Volkswirtschaft weit hinausreichen. Sie betreffen die Entwicklung des gesellschaftlichen Systems des Sozialismus als Komplex." 3 Damit bestätigte er, daß man zunächst geglaubt hatte, das Politische vom Wirtschaftlichen abkoppeln zu können. In der Wirtschaft sollten nun - wie immer wieder hervorgehoben wurde - ökonomische Kriterien gelten. 4 Da aber die SED das Sagen behalten wollte, mußte sich mit und in der Partei etwas ändern. Daher führte man in ihrer Organisation das "Produktionsprinzip" ein, womit auf allen Ebenen der Parteihierarchie Büros für Industrie und Bauwesen sowie für Landwirtschaft geschaffen wurden. 5 Darin folgte man strikt den KPdSU-Beschlüssen vom November 1962. 6 Inhaltlich sollte damit, wie es Mittag als Leiter des Büros für Industrie und Bauwesen beim Politbüro in dessen konstituierender Sitzung am 13. Februar 1963 ausdrückte, "vor allem die schematische Trennung überwunden werden, daß die Partei die ideologisch-politischen und die Wirtschaftsfunktionäre die ökonomischfachlichen Aufgaben in Angriff nehmen." Diese Parteiinstitutionen hatten quasi die Erfüllung der wirtschaftlichen Aufgaben in ihrem Bereich mitzuverantworten, sollten aber die Entscheidungskompetenz des Staatsapparats und der Wirtschaftsbürokratie respektieren. Anscheinend war Mittag von Anfang an klar, daß das praktisch kaum zu realisieren war. Das Büro für Industrie und Bauwesen beim Politbüro beriet bzw. entschied die Vorlagen wirtschaftlicher Natur für das Politbüro. Nach deren Verabschiedung in der Parteispitze waren diese nach wie vor von der Regierung bzw. deren zuständigen Gremien zu übernehmen, so daß dieses Büro für die Wirtschaftsleitung in der
1 Ulbricht an Sorgenicht, 6.5.63, SAPMO-BA DY30 IV A2/2021/80. 2
Protokoll VI.Parteitag, Bd. 1, S. 101, 104.
3
Protokoll des Vll.Parteitages der SED, Berlin (O) 1967, Bd. 1, S. 102.
4
Vgl. Protokoll VI.Parteitag, Bd. 1, S. 104; Stenografische Niederschrift: Sitzung des Ministerrates am 7.2.63, BA DC20-I/3-435.
5
Über die Leitung der Parteiarbeit nach dem Produktionsprinzip. Mitteilung des Politbüros des ZK, 26.2.63, in: Dokumente der SED, Bd. IX, S.331f.
6
Honecker an Mittag: Information über die Ausführungen des Sekretärs des ZK der KPdSU, Genosse Titow ..., 19.2.63, SAPMO-BA DY30 IV A2/2021/58.
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Entwicklung und Implementation der Reform
Anfangszeit der Reform eine wichtige Stellung inne hatte. Dabei sollten die wirtschaftspolitischen Abteilungen der Parteizentrale nach wie vor unter Einbeziehung der staatlichen wirtschaftslenkenden Instanzen Analysen, Einschätzungen und Beschlüsse vorbereiten und schließlich deren Umsetzung kontrollieren.' Mit dem "Produktionsprinzip" sollte der zu erwartende Kompetenzzuwachs der Leitungen der V V B und Betriebe seitens der Partei kompensiert werden, ohne deren Befugnisse einzuschränken. Diese Konstellation erklärt, weshalb die Parteifunktionäre zunächst mehrfach dazu aufgefordert werden mußten, ihre Tätigkeit zu versachlichen. Es kam zu erheblichen Unsicherheiten in der SED, wie die Klage einer ZK-Abteilung zeigte, daß die Parteiarbeit "verstaatlicht" und in den zentralen Wirtschaftsinstanzen eine allgemeine, von den konkreten ökonomischen Aufgaben losgelöste "politische Linie" konstruiert würde. In einigen Fällen übernahmen Parteifunktionäre die Aufgaben der Produktionsleitungen. 2 Daher sah sich Ulbricht in einer Beratung mit den regionalen Parteispitzen kurz vor der Wirtschaftskonferenz zum N Ö S genötigt, darauf zu verweisen, "die Kunst besteht jetzt darin, die exakte straffe Leitung zu organisieren und die Demokratie gleichzeitig zu entwickeln." 3 Damit brachte er das ganze Dilemma zwischen Reform und striktem Machtanspruch der Partei auf den Punkt. Eine entscheidende Voraussetzung für die erfolgreiche Umsetzung des gesamten Programms bildete das Führungspersonal. Daher war "ohne Konzessionen (der) Grundsatz durchzusetzen, daß an den leitenden Stellen in den staatlichen Organen, in den VVB, in den Bezirkswirtschaftsräten, in den Betrieben und in den Organen der Partei gut ausgebildete Fachleute mit ökonomischen und Ingenieurkenntnissen sowie mit praktischen und wissenschaftlichen Erfahrungen gestellt werden." 4 In den entsprechenden Büros für Industrie und Bauwesen der SED-Bezirksleitungen hatten knapp 40 % der Mitglieder einen Hochschulabschluß bzw. die Promotion auf ökonomischem oder technischem Gebiet. Weitere 27 % hatten eine Fachschule, aber knapp die Hälfte der Mitglieder eine höhere Parteischule absolviert. 5 Von den Betriebsdirektoren in der zentralgeleiteten Industrie verfugte ein Drittel über keine Hoch- oder Fachschulausbildung. 6 Das konnte zwar lange Zeit als Folge des
1 Dies wird deutlich in den Entstehungsprozessen der verschiedenen Reformschritte, die in den folgenden Kapiteln nachgezeichnet werden. Ein "Verlust von Einflußmöglichkeiten für den hauptamtlichen Parteiapparat", wie von Kaiser konstatiert, ist zumindest auf dem Gebiet der Wirtschaft nicht zu beobachten. Vgl. Kaiser, Machtwechsel, S. 45. 2 Abt. Planung und Finanzen: Einschätzung des gegenwärtigen Standes der Arbeit ..., 3.5.63, BA DE1/51761. 3 Niederschrift über die Beratung des Sekretariats des ZK mit den 1.Sekretären,..., 20.6.63, SAPMO-BA DY30 IV A2/601/3, B1.3ff. 4 Stenographische Niederschrift der 1.Sitzung des Büros für Industrie und Bauwesen am 13.2.63, SAPMOBA DY30 IV A2/601/23. 5 Zwischen den Absolventen der staatlichen und der Parteibildungseinrichtungen traten Überschneidungen auf. Berechnet nach: Büro für Industrie und Bauwesen beim Politbüro: Bestätigung der Zusammensetzung der Büros für Industrie und Bauwesen bei den Bezirksleitungen, 29.4.63, SAPMO-BA DY30 IV A2/601/6, B1.12. 6 Arbeitsgruppe Industrieökonomik: Information über die Beratung der Leitung des VWR am 14.3.62,
Ausarbeitung des Reformkonzeptes und sein Inhalt
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Elitenwechsels - unter Berücksichtigung der von den neuen Betriebsleitern inzwischen gemachten Erfahrungen - in Kauf genommen werden. In dem Maße aber, wie der Wirtschaftsprozeß ökonomisiert und der technologische Wandel vorangetrieben werden sollte, benötigten die Führungskräfte fundiertes wirtschaftliches bzw. technisch-ökonomisches Wissen. Ein Hoch- oder Fachschulabschluß bot in diesem Zusammenhang zwar lediglich einen formalen Anhaltspunkt. Aber er war leicht zu kontrollieren und gut zu instrumentalisieren. Außerdem entsprach die Forderung nach adäquaten Qualifikationen dem Anspruch, eine wissenschaftliche Politik zu betreiben. Daher beschloß die SED-Führung und anschließend die Regierung Ende 1962, in den Vorzeigebranchen, wie der Petrolchemie, der 2. Verarbeitungsstufe der Metallurgie und der metallverarbeitenden Industrie, Programme zur "Kaderentwicklung" ausarbeiten zu lassen. 1 Praktisch ging es vor allem darum, den Einsatz der Hoch- und Fachschulabsolventen zentral zu steuern und die Ausbildungsstrukturen an den voraussichtlichen künftigen Bedarf anzupassen. 2 Offenbar wurde es teilweise als befreiend empfunden, daß nun die bessere fachliche Ausbildung betont wurde. Prompt sahen sich Vertreter des Parteiapparates daher genötigt, auch ein intensiveres Studium des Marxismus-Leninismus zu verlangen. 3 Schließlich sollte d i e " Verfachlichung" nicht etwa die Ideologie ersetzen. Verlangt wurden von Ulbricht "Kader", "die gute Marxisten-Leninisten und zugleich richtige Fachleute" waren. 4 Diese Forderung hatte auch für die SED zu gelten. In den Führungsgremien der Partei war gegenüber den fünfziger Jahren ein Wandel zu beobachten, der das ZK verjüngte und "verfachlichte". Es erschien eher als Koordinations-, Transformations- und Konsultationsgremium. Hauptamtlich in der Wirtschaft tätige "Kader" waren nun im ZK stärker repräsentiert. Jedoch blieb das nach dem VI.Parteitag gewählte Politbüro von einer Gruppe nach Biographie und Sozialisation ähnlicher Politiker beherrscht, von denen nur zwei - Leuschner und Neumann - mit Wirtschaftsaufgaben betraut waren. Sie hatte ihre prägenden politischen Erfahrungen in der Weimarer Republik und im Kampf gegen das Naziregime gemacht. Sie suchten vor allem die eigene Machtposition abzusichern. Davon hob sich eine andere Gruppe ab, deren politische Sozialisation sich im wesentlichen nach dem Krieg vollzogen und die eine bessere Ausbildung erhalten hatte. Einige ihrer Vertreter, wie Apel und Mittag, rückten als Kandidaten in das Politbüro ein. Andere besetzten entscheidende Stellen in der SPK. Die Einstellung zur Wirtschaftsreform lag aber quer zu dieser sozialisationstheoretisch orientierten Einteilung. 5 Die eigentlichen "Väter" des Reformwerkes, wie Halbritter
19.3.62, SAPMO-BA DY30 IV 2/608/32. 1 Präsidium des Ministerrates: Beschluß über den Maßnahmeplan für die Kaderentwicklung in den fuhrenden Zweigen der Volkswirtschaft vom 6.12.62 (Beschluß des Sekretariats des ZK vom 28.11.62), BA DC20-I/4-652. 2 9.Sitzung des Büros für Industrie und Bauwesen beim Politbüro am 6.5.63, SAPMO-BA DY30 IV A2/601/31; Abt. Grundstoffindustrie, Maschinenbau und Metallurgie: Information an das Büro für Industrie und Bauwesen beim Politbüro ..., 7.5.63, SAPMO-BA DY30 IV A2/601/32. 3 Abt. Planung und Finanzen an Mittag: Plan zur Ausbildung und Schulung ..., 5.6.63, SAPMO-BA DY30 IV A2/2021/671. 4 Ulbricht, Das neue ökonomische System, S. 25. 5 Diese Einteilung in "strategische Führungsclique" und "institutionalisierte Gegenelite" wurde von Ludz
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Entwicklung
und Implementation
der Reform
und Wolf gehörten ebenso wie deren Befürworter und Unterstützer Apel und Mittag zu den jüngeren Mitgliedern der SED-Spitze bzw. der Regierung. Jedoch verdankten sie ihren Aufstieg ganz entscheidend dem der anderen Generation angehörenden Ulbricht, was auch daraufhinweist, daß systemimmanente Reformen, wie das NÖS, nur von der Spitze in Bewegung gesetzt werden konnten. Ulbrichts Entscheidung war - wie bereits angeführt - nur vor dem Hintergrund der existentiellen Krise der DDR 1960/61 und der Weigerung der Sowjetunion zu verstehen, die Modernisierung der ostdeutschen Industrie zu kreditieren. Im Interesse des Machterhalts war diese aber in den Augen Ulbrichts notwendig, wofür nun wirtschaftlich endogene Anreize geschaffen werden sollten. Die jüngeren Reformer wollten eher die unmittelbar erfahrbaren Defizite im Funktionieren der Wirtschaft, die offensichtlich mit Defekten des Lenkungs- und Koordinationsmechanismus zusammenhingen, abbauen und mit der Wirtschaft, die nach Marx als Basis der Gesellschaft zu gelten hatte, auch diese insgesamt attraktiver machen. Insofern ging es ihnen in letzter Instanz durchaus ebenso wie Ulbricht um die Existenz des Systems. Dabei griffen sie auf unterschiedliche, sich aber ergänzende Ansätze zurück. Apel, dem ein lockeres Verhältnis zum Marxismus-Leninismus nachgesagt wurde 1 , hatte als Ingenieur ein eher technokratisches Verständnis von der Wirtschaft. Wolf hingegen war als Professor für Politische Ökonomie mehr der Theorie verpflichtet, wobei er aber nach seiner von der Partei erzwungenen Tätigkeit als Betriebsplaner Anfang der sechziger Jahre ein Gespür dafür entwickelte, was operationalisiert werden konnte. Auch die anderen Vertreter der älteren, kommunistisch sozialisierten Generation waren angesichts der vor allem wirtschaftlich verursachten Existenzkrise der DDR davon umgetrieben, wie die Macht zu sichern sei. Da sie über kein anderes vielversprechendes Konzept verfügten, stimmten sie dem von Ulbricht unterstützten zu. Aber eingedenk ihrer Erfahrungen in der Zwischenkriegszeit Weltwirtschaftskrise und deren politische Folgen - blieb ihnen die Idee, den Wirtschaftseinheiten mehr Rechte einzuräumen, immer suspekt. Sie vermuteten, daß irgendwie durch die Hintertür, möglicherweise von Ulbricht unbemerkt, dem man dergleichen nicht zutraute, der Markt wieder herrschen könnte, das "alte" System mit seinen Gebrechen (Arbeitslosigkeit und Krisenzyklus) wiederkehren werde. 2 Die wichtigsten Vertreter dieser Gruppe im Kreise der leitenden Wirtschafts-
entwickelt. (Ludz, Parteielite, S. 55, 231 f., 257) Einwände dagegen finden sich bei: Staritz, Geschichte der DDR, S. 213f. Kaiser deutet die Einteilung um: Kaiser, Machtwechsel, S. 458f. Das folgende Bild von der Haltung der Spitzenfunktionäre zur Reform ergibt sich aus der archivalischen Überlieferung sowie den nach 1990 erschienenen Äußerungen von Zeitzeugen. Vgl. W. Berger, Als Ulbricht an Breshnew vorbei regierte, in: Neues Deutschland vom 23.3.91; H. Wolf, Wie war das mit dem Neuen Ökonomischen System, in: Neues Deutschland vom 2./3.3.91; Wolf, Hatte die DDR j e eine Chance?; C. Krömke, Das "Neue ökonomische System der Planung und Leitung der Volkswirtschaft" und die Wandlungen des Günter Mittag (hefte zur ddr-geschichte 37), Berlin 1996; Poltergeist im Politbüro. Siegfried Prokop im Gespräch mit Alfred Neumann, Frankfurt/O. 1996; G. Schürer, Gewagt und verloren. Eine deutsche Biographie, Frankfurt/O. 1996. Zu einer teilweise anderen Einschätzung der Akteure siehe: Kaiser, Machtwechsel, S. 62f. 1
Staritz, Geschichte der DDR, S. 212.
2
Weiter unten, an den inhaltlich entsprechenden Stellen werden dergleichen Äußerungen und Andeutungen dokumentiert.
Ausarbeitung
des Reformkonzeptes
und sein Inhalt
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funktionäre waren Neumann und Rumpf, der zwar nicht dem Politbüro angehörte, aber als Finanzminister in der Reform, mit der die finanzwirtschaftliche Lenkung j a einen höheren Stellenwert bekommen sollte, faktisch eine Schlüsselstellung hatte. Sie sahen durchaus, daß etwas verändert werden mußte, blieben aber diesem Reformkonzept gegenüber skeptisch. Neumann betonte: "Es geht nicht darum, daß die VVB viel Vollmachten und größere Selbständigkeit erhalten, sondern höhere Resultate sind das Ziel und was dabei hemmt, ist schnell zu beseitigen." 1 Später, als die Reform nicht die erhofften schnellen Resultate brachte und sich die VVB nicht so verhielten, wie in der Zentrale gedacht, wurden die Skeptiker zu Gegnern dieser Umgestaltung. Zwischen den Protagonisten und den Bedenkenträgern standen diejenigen, die zwar den geltenden Beschlüssen folgten, sich aber eher abwartend verhielten. Auch sie waren teilweise in Schlüsselpositionen, wie Schürer als erster Stellvertreter des SPK-Chefs und später an dessen Stelle. Anfangs scheint diese Haltung auch für Stoph kennzeichnend gewesen zu sein. Als sich aber die Signale verdichteten, daß die sowjetische Spitze nach dem Machtwechsel von Chruschtschow zu Breshnew 1964 dem Reformprojekt skeptischer gegenüberstand, legte wohl auch er sich fest. Im Grunde ging es aber allen darum, die Existenz des eigenen Systems zu sichern und seine Attraktivität zu erhöhen. Dabei wurde die Machtposition der SED von niemand in Frage gestellt. Die Differenzen galten dem einzuschlagenden Weg, wobei die einen dafür waren, im Interesse des Ziels im gesellschaftlichen Teilsystem Wirtschaft die ihm eigenen Regeln und Kriterien gelten zu lassen und die anderen auf der Omnipotenz der Partei beharrten. 2 Diese Konstellationen in den Führungsgremien von Partei und Wirtschaftsbürokratie personifizierten gewissermaßen einen weiteren Widerspruch des Reformkonzeptes, den zwischen Machtsicherung und ökonomischem Eigensinn. 3 In einem wesentlichen Teilbereich, ließ die Partei in deshalb von ihr bestimmten Grenzen eine Ausdifferenzierung von Interessen und Verfügungsrechten, mithin von Institutionen zu. Der Wirtschaft - aber nur dieser - sollten eigene Rationalitätskriterien zugebilligt und die Macht der Partei jedoch nicht angetastet werden, die anvisierten Änderungen hatten ihr vielmehr zu dienen. Partielle Ausdifferenzierungen waren im übrigen jederzeit wieder zurückzunehmen. Andere Strukturmerkmale, wie die Eigentumsordnung, tastete man nicht einmal ansatzweise an und selbst das Nomenklaturprinzip wurde nur modifiziert, indem man nun bei der Auswahl des Führungspersonals fachliche den politischen Kriterien vorzog, ohne diese vollkommen bedeutungslos werden zu lassen. Auch eine begrenzte Form von Öffentlichkeit bildete sich zu-
1
Information über die Arbeitsberatung des VWR am 8.2.63 ..., 9.2.63, SAPMO-BA D Y 3 0 IV A2/2021/271.
2
Die Unterscheidung von Weinert, wonach die einen dem "Primat der Außenpolitik" und die anderen dem "Primat der Wirtschaftspolitik" verpflichtet gewesen seien und außerdem als Pragmatiker einerseits und Theoretiker andererseits auftraten, ist so kaum zu halten. Für die Reformer war es ein gewiß auch außenpolitisches Ziel im Systemwettstreit mit der Bundesrepublik nicht weiter zurückzubleiben bzw. aufzuholen. Darüber hinaus agierten sie oft sehr pragmatisch, wohingegen die Reformskeptiker ideologisch-theoretisch argumentierten. Vgl. R. Weinert, Wirtschaftsführung unter dem Primat der Parteipolitik, in: Pirker u.a., Der Plan als Befehl und Fiktion, S. 293.
3
Vgl. S. Meuschel, Legitimation und Parteiherrschaft. Zum Paradox von Stabilität und Revolution in der DDR 1945-1989, Frankfurt/M. 1992, S. 202.
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Entwicklung und Implementation der Reform
nächst heraus. Damit entstand die Möglichkeit von Modernität in einem Teilbereich, die aber in die "klassischen" Strukturen des Staatssozialismus eingebettet blieb.' Mit einem solchen Nebeneinander von alten und neuen Herrschaftsformen verfolgte die SED ein Konzept, das die Tendenz zur Polarisierung und Selbstblockade in sich trug und als "partielle Modernisierung" beschrieben worden ist. 2
4. Das "Neue Ökonomische System der Planung und Leitung der Volkswirtschaft" - die erste Phase der Reform von 1964 bis 1967 Reforminstitutionen und erste Reformschritte Da das Reformkonzept als offen verstanden worden war und man nicht alle Konsequenzen von vornherein absehen konnte, wurde es ausgehend von der entsprechenden Festlegung für die Industriepreisreform schrittweise umgesetzt. 3 Die Industriepreisreform sollte ursprünglich zum 1. Januar 1966 abgeschlossen werden und damit war das N Ö S als Ganzes frühestens ab 1966 wirksam zu machen. Um diesen Prozeß, in dem die Reform weiter ausgearbeitet und präzisiert wurde, zu koordinieren und zu lenken, war es erforderlich, eigene Institutionen zu bilden und diese Diskussionen auszulagern, um die laufende Arbeit der bestehenden Instanzen nicht zu belasten. Der Ministerrat beschloß daher am 7. Februar 1963, unter der Leitung von Apel, der als stellvertretender Regierungschef und SPK-Vorsitzender gleichzeitig für die Koordinierung volkswirtschaftlicher Aufgaben verantwortlich war, eine Kommission zu bilden, die grundsätzliche Fragen beraten und Beschlüsse des Politbüros und des Ministerrates auf ökonomischem Gebiet vorzubereiten hatte. Dieser Ökonomischen Kommission beim Präsidium des Ministerrates sollten außerdem Leuschner, der im Ministerrat nun für die internationale ökonomische Arbeit zuständig war, Neumann, Rumpf, Grete Wittkowski - stellvertretende Ministerratsvorsitzende für den Bereich Handel, Versorgung und Landwirtschaft - und später noch der Außenhandelsminister angehören. 4 Sie trat Ende Mai 1963
1 Vgl. zu den Kriterien M.R. Lepsius, Die Institutionenordnung als Rahmenbedingung der Sozialgeschichte der DDR, in: H. Kaelble/J. Kocka/H. Zwahr, Sozialgeschichte der DDR, Stuttgart 1994, S. 18-29. 2 D. Rüschemeyer, Partielle Modernisierung, in: W. Zapf (Hg.), Theorien des sozialen Wandels, Königstein/Ts. 19794, S. 384ff. Die Charakterisierung der DDR-Entwicklung der sechziger Jahre mit diesem Begriff geht auf Kleßmann zurück. Vgl. C. Kleßmann, Zwei Staaten, eine Nation. Deutsche Geschichte 19551970, Göttingen 1988, S. 330. 3 Siehe zur Diskussion über die etappenweise oder en bloc Einfuhrung der Industriepreisreform im zweiten Kapitel. 4 Beschluß über Grundsätze der Arbeit des Ministerrates für die Planung und Leitung der Volkswirtschaft vom 7.2.63, BA DC20-I/3-435.
Das "Neue Ökonomische System der Planung und Leitung der Volkswirtschaft"
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erstmalig zusammen. 1 Die Kommission beriet Fragen sowohl des Lenkungs- und Koordinationsmechanismus als auch der inhaltlichen Grundrichtungen der ökonomischen Entwicklung, die von gesamtwirtschaftlicher Bedeutung waren und über die Verantwortung einzelner zentraler Wirtschaftsinstanzen hinausgingen. Darunter hatte sie explizit die Realisierung des N O S zu sichern und zu analysieren sowie auftretende Probleme auszuwerten. Dabei sollte die Kommission eng mit dem Büro für Industrie und Bauwesen beim SED-Politbüro unter Leitung von Mittag zusammenarbeiten. Die Ergebnisse ihrer Beratungen waren wiederum der Parteispitze und der Regierung vorzulegen. Mit Apel, Neumann und Rumpf waren die Leiter der drei wichtigsten zentralen Wirtschaftsinstanzen - SPK, VWR und MdF - vertreten, wobei Apel als Leiter dieser Kommission gegenüber den beiden ausgewiesenen Reformskeptikern die Stellung eines Primus inter pares hatte, weil er formal allen Chefs zentraler Wjrtschaftsinstanzen Aufträge und Weisungen geben sowie interne Anordnungen, Direktiven und Richtlinien für die Wirtschaft erlassen konnte. Darüber hinaus hatte er den SED-Chef und den amtierenden Regierungschef über alle wichtigen Fragen und Probleme sofort zu informieren. 2 Mit dieser Kommission wurde auf der staatlichen Seite die entscheidende Position Apels in der Wirtschaft festgeschrieben, wobei er als Kandidat des Politbüros in die Disziplin der SED-Spitze eingebunden war. In dieser Kommission konnten aber angesichts der Vielfalt ihrer Aufgaben und der Verantwortung, die ihre Mitglieder in den von ihnen geleiteten Wirtschaftsinstanzen wahrnehmen mußten, nicht alle Schritte der Wirtschaftsreform bis ins Detail diskutiert werden. Daher beschloß das Politbüro im November 1963 eine Arbeitsgruppe "Neues Ökonomisches System der Planung und Leitung der Volkswirtschaft" (im folgenden: Arbeitsgruppe "NÖS") zu bilden. Unter der Leitung von Halbritter (SPK) gehörten ihr neben Wolf die ersten Stellvertreter der Chefs des V W R und der Ministerialressorts für Finanzen, Außen- und Innerdeutschen Handel, Bauwesen, Handel und Versorgung, Forschung und Technik sowie Vertreter der ZK-Abteilung Planung und Finanzen und des Finanzökonomischen Forschungsinstituts des MdF an. Sie trat das erste Mal am 16. Januar 1964 zusammen und sollte die Einheitlichkeit und innere Geschlossenheit der Reformschritte sichern. Dazu hatte sie die von den verschiedenen Instanzen ausgearbeiteten Regelungen zu beurteilen, das Wirken einzelner Maßnahmen und die Experimente zu analysieren sowie Vorschläge zu machen, wie die Reform weiterzuentwickeln sei. Bei alledem sollte sie den Gesamtüberblick über das N Ö S behalten 3 , "unbürokratisch arbeiten, formale Abstimmungsrunden zwischen den beteiligten Organen und das gegenseitige Briefeschreiben vermeiden." 4 Es gelang Halbritter, die Mitglieder der Arbeits-
1 Protokoll der Sitzung der Arbeitsgruppe zur Beratung von grundsätzlichen Fragen ... vom 25.5.63, BA DC20-I/6-2. 2 Stoph, Apel: Politbürovorlage. Beschluß über die Aufgaben und Verantwortung der "Ökonomischen Kommission beim PMR", 24.1.64, BA DC20-I/6-1. 3
SPK, [Halbritter]: 1 .Information über die Tätigkeit der Arbeitsgruppe "NÖS" am 16.1.64, SAPMO-BA DY30 IV A2/2021/424; Arbeitsordnung der Arbeitsgruppe "NÖS" bei der Ökonomischen Kommission des PMR, 15.6.64, SAPMO-BA DY30 IV A2/2021/421.
4 Ehrensperger, Halbritter an Apel, 24.4.64, BA DC20-I/6-9.
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Entwicklung und Implementation
der Reform
gruppe davon zu überzeugen, daß sie "nicht in erster Linie als Vertreter ihres Organs, sondern als Kollektiv, welches für das neue ökonomische System eine gemeinsame Verantwortung hat, auftreten und handeln" sollten. 1 Gerade deshalb aber bestanden Neumann und Rumpf darauf, in der Arbeitsordnung dieser Gruppe festzuschreiben, sie sei ein "Organ" der Ökonomischen Kommission und habe nicht eigenständig zu entscheiden, sondern dieser ihre Vorschläge vorzulegen. Damit setzten sie sich durch. 2 Sie fürchteten wohl vor allem, daß sich die Reformer verselbständigten und "zu weit" gehen könnten. Die Arbeitsgruppe tagte meist vierzehntägig. Aber bereits Mitte 1965 stellte sie faktisch ihre Arbeit ein. In der zweiten Jahreshälfte 1965 ging auch die Bedeutung der Ökonomischen Kommission - gemessen an der Häufigkeit ihrer Zusammenkünfte - zurück und mit dem Beschluß zur "zweiten Etappe des NÖS" wurde sie und damit die Arbeitsgruppe "NÖS" formell aufgelöst. 3 Zur selben Zeit verloren ebenfalls die im Zusammenhang mit den Reformfragen wesentlichen Koordinierungsinstanzen im Parteiapparat, die Büros für Industrie und Bauwesen, an Gewicht. Nachdem infolge der Ablösung Chruschtschows durch Breshnew das sowjetische Vorbild aufgelöst wurde 4 , drängten seit Anfang 1965 die Reformskeptiker in der Parteispitze den Einfluß des Büros für Industrie und Bauwesen beim Politbüro zurück. 5 Es tagte immer seltener und konzentrierte sich auf politisch-ideologische Fragen. Ende 1965, Anfang 1966 wurden auch sie ohne förmlichen Beschluß aufgelöst. Zusammenfassend ist festzuhalten, daß die entscheidenden Koordinierungsgremien für die Reformschritte aus der Anfangszeit bereits Mitte 1965 einen Bedeutungsverlust hinnehmen mußten und Ende 1965 verschwanden. Auf die Gründe dafür wird später noch einzugehen sein. Am 1. Januar 1964 wurde neben den bereits länger laufenden Arbeiten an der Grundmittelumbewertung und der Industriepreisreform 6 begonnen, das Reformkonzept flächendeckend umzusetzen, indem man die VVB auf die wirtschaftliche Rechnungsführung umstellte und sie damit faktisch von einer Verwaltungsinstanz zu einer wirtschaftenden Einheit machte. 7 Die ihnen unterstellten Betriebe hatten ihre Abführungen nun an die VVB zu leisten und mögliche Mittelzufuhrungen erhielten sie von dort. Die VVB sollten nach festen Regeln Finanzmittel ansammeln: in einem Gewinnverwendungsfonds für Erweiterungen und in einem Fonds Technik für Innovationsbemühun-
1
SPK, [Halbritter]: Information Nr.5 über die Tätigkeit der Arbeitsgruppe "NÖS" am 14.3.64, SAPMO-BA DY30 IV A2/2021/424.
2
Ehrensperger, Halbritter an Apel, 24.4.64, BA DC20-I/6-9; Arbeitsordnung der Arbeitsgruppe "NÖS" bei der Ökonomischen Kommission des PMR, 15.6.64, SAPMO-BA DY30 IV A2/2021/421.
3
Protokoll der Politbürositzung am 30.11.65. Anlage 1: Beschluß zur Durchfuhrung der zweiten Etappe ..., SAPMO-BA DY30 J IV 2/2A/1126.
4
Abt. Internationale Verbindungen: Vermerk über eine Aussprache mit dem Gen. Andropow, Sekretär des ZK der KPdSU, am 19.12.64, 22.12.64, SAPMO-BA DY30 J IV 2/202/339.
5
Vgl. Kaiser, Machtwechsel, S. 49f.
6
Vgl. das zweite Kapitel.
7
VO über die Neuregelung der Finanzierung der dem VWR unterstehenden VVB und deren VEB vom 5.9.63, in: Gbl. 1963, II, S. 651. Die VO galt bereits ab dem 1.10.63, um das letzte Quartal 1963 für die Umstellung zu nutzen.
Das "Neue Ökonomische System der Planung und Leitung der
Volkswirtschaft"
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gen sowie in einem Verfügungsfonds und einem Prämienfonds für Bonuszahlungen. Die Höhe der Prämienmittel machte man in den VVB ebenso wie in den Betrieben vor allem von der Erfüllung des Gewinnplans abhängig. Darüber hinaus sollte den VVB ein jährlich neu festgelegter Bankkredit (Kreditreserve) operatives und flexibles Durchführen des Jahresplanes erlauben. 1 Da nunmehr direkte Kreditbeziehungen zwischen den VVB und der Deutschen Notenbank entstanden, bildete diese für die über 80 VVB 47 Industriebankfilialen, über die auch die Verbindungen zum Staatshaushalt abzuwickeln waren. 2 Außerdem wurden in den Betrieben und VVB Regelungen wirksam, mit denen die Beschäftigten und das Führungspersonal stärker an ihren Leistungen interessiert werden sollten. 3 Damit waren die Voraussetzungen geschaffen, die VVB als Wirtschaftseinheiten zu behandeln, und es wirkten erste Elemente des anvisierten Anreizsystems. Allerdings konnte noch nicht daran gedacht werden, es in seiner Gesamtheit wirksam zu machen, da das die Industriepreisreform voraussetzte, deren erste Etappe erst am 1.April 1964 umgesetzt wurde. Das "System ökonomischer Hebel" sollte im Zentrum der Veränderungen stehen, weil es das entscheidende Neue und - wie Ulbricht bemerkte - der "springende Punkt" beim Realisieren der Reform war. 4 Jedoch erfuhr auch die Planung erste Veränderungen. Grundsätzlich hielt man zwar am bisherigen Planungsablauf fest, aber die Kennziffern und Positionen des Planes wurden reduziert und vereinfacht. Das betraf neben dem Produktionsplan auch die Arbeitskräfte-, Investitions- und Finanzpläne. Außerdem bestimmten die VVB bzw. die Bezirkswirtschaftsräte nun selbst darüber, welche Unterlagen und Kennziffern von den ihnen unterstellten Betrieben auszuarbeiten waren. Damit sollten sich die zentralen und nachgeordneten Wirtschaftsinstanzen auf die technischen und ökonomischen Hauptprobleme konzentrieren und von den Betrieben nur noch das abfordern, was sie für die Lenkung und Koordination des Wirtschaftsprozesses in ihrem Bereich tatsächlich benötigten. Auf diese Weise war, so Apel, "den VVB und Betrieben bei der Ausarbeitung des Planes Raum zum Denken zu lassen." Ihm schien es "nicht möglich, alles zentral von oben zu steuern." 5 Die Produktion wurde seit 1962 wertmäßig auf Basis der Warenproduktion geplant. Dazu war nun die Qualität der Produkte und die Wertschöpfung (Eigenleistung) abzurechnen. Die zentralen Instanzen verfügten aber nach wie vor nur über unzureichende technisch-ökonomische Kennziffern und Normative für die Kapazitäten der Wirtschaftseinheiten, mit denen man die Produktion genau planen wollte. Daher mußten weiter Vorjahres- und Erfahrungswerte herangezogen werden. Die Anzahl der Erzeugnisse bzw. Erzeugnisgruppen, deren Produktion bis in den zentralen Plan einzeln aufgenom-
1 Vgl. zu den Bonusregelungen das zweite Kapitel und zur Investitions- und Innovationsfinanzierung sowie zur Kreditreserve das vierte Kapitel. 2
SPK: Übersicht über den Stand der Maßnahmen zur Einfuhrung des Systems ökonomischer Hebel, 3.9.64, BA DE1/45339.
3 4
Vgl. das dritte Kapitel. SPK,
[Halbritter]: Vermerk über die Sitzung des Staatsrates am 15.7.63, SAPMO-BA
DY30
IV A2/2021/249. 5
Beschlußprotokoll der Sitzung der Ökonomischen Kommission beim PMR am 27.2.64. Anlage: Wesentlicher Inhalt der Diskussion ..., BA DC20-I/6-8.
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Entwicklung und Implementation der Reform
men wurde (Staatsplanpositionen), weil man ihnen fiir die Lenkung und Entwicklung der Volkswirtschaft eine besondere Bedeutung beimaß, blieb bis 1966 mit etwas mehr als 800 annähernd gleich, wobei sich die einbezogenen Güter im einzelnen aber durchaus änderten. Jedoch wurden für 1964 noch nahezu fiir alle Staatsplanpositionen vom VWR Aufkommen und Verwendung in den Bilanzen gegenübergestellt. Für 1965 waren es aber bereits mehr als die Hälfte und für 1966 etwa zwei Drittel dieser hervorgehobenen Güter, die von der VVB bilanziert wurden, die das jeweilige Erzeugnis überwiegend produzierte. Auch die insgesamt für den Plan aufzustellenden Material-, Ausrüstungs- und Konsumgüterbilanzen, von denen die Staatsplanpositionen nur ein Teil waren, sollten immer mehr von den V V B übernommen werden. Ihre Gesamtzahl erhöhte sich von 1963 etwas über 5.000 auf über 6.000 bis 1965, wovon die V V B 1963 erst 10 %, 1964 bereits 40 %, 1965 77 % und schließlich 1966 80 % ausarbeiteten. Darüber hinaus waren zunächst nur wenige, dann aber 1964/65 schon etwa 5 % und 1966 11 % dieser Bilanzen von Betrieben zu erarbeiten. 1 U m die Beweglichkeit des Plans zu erhöhen, wurden die Vorgaben in verbindliche Planaufgaben und Richtwertkennziffern unterteilt, wobei erstere sich auf die Hauptaufgaben beschränken sollten und unbedingt einzuhalten waren. Von den Staatsplanpositionen wurden 1964 68 %, 1965 40 % und 1966 nur noch 25 % verbindlich vorgegeben. Außerdem erleichterte man bei Veränderungen des Bedarfs auch Planänderungen und die bindende Aufteilung verschiedener Kennziffern auf die Quartale innerhalb des Jahresplanes wurde etwas gelockert. 2 Für die Ausarbeitung des Perspektivplanes, der im Reformkonzept eine Schlüsselstellung inne hatte, weil er den V V B und Betrieben die langfristige Orientierung geben sollte, verringerte man die Anforderungen gegenüber der Jahresplanung erheblich. So wurde wertmäßig nur die Warenproduktion zu Industrieabgabepreisen, der Export zu Industrieabgabepreisen und in Valutamark 3 und die Bruttoproduktion zu unabhängigen Planpreisen geplant. Diese zog man heran, um die Vergleichbarkeit im Zeitablauf zu gewährleisten, da sich die Industrieabgabepreise mit der Industrie-
1 Vgl. H. Buck, Technik der Wirtschaftslenkung in kommunistischen Staaten, Coburg 1969, S. 493, 496. Buck stellte aus veröffentlichten Quellen diese Zahlen zusammen, wobei Widersprüche und Ungereimtheiten blieben. Auch in den unveröffentlichten Quellen widersprechen sich die numerischen Angaben zu den Staatsplanpositionen und Bilanzen und es gibt kaum Gründe der einen oder anderen Zahl den Vorzug zu geben. Die Entwicklungstendenz stimmt aber mit den von Buck zusammengetragenen Tabellen überein. Zum Vergleich siehe die Dokumente in den folgenden Fußnoten. 2 VWR-Sitzungsmaterial, 3.7.63: Vorlage über Vorschläge zur Verbesserung des Systems der Pläne ... (Planmethodik 1964), BA DE4-S/3-7-63; Ehrensperger: Bemerkungen zu Planänderungen, [Dezember 1963], BA DC20-I/6-5; VWR-Leitungsvorlage, 8.1.64: Bericht über die bisherige Durchfuhrung des NÖS in Auswertung der Wirtschaftskonferenz ..., BA DE4-S/8-1-64; SPK: Bericht über die Wirkungsweise der Methode der Quartalsplanung, 25.1.64, BA DC20-I/6-37; 1.Stellvertreter des Vorsitzenden der SPK für Jahresplanung, Grünheid: Vorlage für die Ökonomische Kommission beim PMR: Staatsplannomenklatur fiir 1965, 22.2.64, SAPMO-BA DY30IV A2/2021/233; [SPK,] HA Methodik, Organisation- und Rechentechnik: Welche wichtigen Verbesserungen wurden in der volkswirtschaftlichen Planmethodik seit 1962 erreicht?, 20.10.65, BA DE1/48273. 3 Vgl. dazu den Abschnitt zur außenwirtschaftlichen Lenkung.
Das "Neue Ökonomische System der Planung und Leitung der Volkswirtschaft"
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Preisreform ändern würden. Gegenüber dem Jahresplan wurde der Export ins "kapitalistische Wirtschaftsgebiet" zusätzlich aufgenommen, da er künftig eine besondere Bedeutung haben sollte. Gegenüber der Planmethodik 1965 reduzierte man die Zahl der zu planenden Staatsplanpositionen von rd. 760 auf 570 und die der Material- und Ausrüstungsbilanzen von 6.350 auf 1.400, wovon nur 270 (630 im Jahresplan 1965) zentral bilanziert werden mußten. Die Planung der Arbeitskräfte und des Lohnes, der Investitionen sowie die Finanzplanung wurden gegenüber dem Jahresplan vereinfacht. Und die V V B konnten auch hier selbst bestimmen, welche Informationen und Ausarbeitungen sie von den Betrieben verlangten. Für die halbstaatliche und private Industrie verzichtete man für den Perspektivzeitraum auf eine detaillierte Planung. 1 All das, vor allem die Perspektivplanung hatte - wie vieles zu jener Zeit - "wissenschaftlich" zu erfolgen, eine Vokabel, mit der man an den Sachverstand appellierte und Variantenvergleiche forderte. Mit derlei Wissenschaftlichkeit glaubte man, so schien es jedenfalls oft, den Stein der Weisen gefunden zu haben. Diese Euphorie wurzelte in der zur Wissenschaft erhobenen Ideologie des Marxismus-Leninismus. Tatsächlich hatte das insofern einen rationalen Kern, als der Anspruch, die Volkswirtschaft ex ante lenken zu können, dazu zwang, den Entwicklungspfad im vorhinein zu bestimmen, was nur von der Wissenschaft geleistet werden konnte. Die Frage, ob Wissenschaft dazu in der Lage sei, wurde grundsätzlich bejaht. Man sah dies vor allem als Problem ihrer Weiterentwicklung. Allerdings waren gerade die für eine Wirtschaftslenkung zu operationalisierenden Ansätze bis dahin kaum ausgearbeitet worden. In den Aufkommen-Verwendungs-Bilanzen waren die Verflechtungsbeziehungen zwischen den Wirtschaftseinheiten festgelegt. Sie sollten mit Verträgen umgesetzt werden, denen zwar eine höhere Bedeutung zukommen sollte. Doch "der Plan ist und bleibt das Bestimmende". Im Unterschied zum alten System, in dem Verträge in der Regel an den Jahresplan gebunden wurden, konnten nun auch langfristige Verträge abgeschlossen werden. Die Kontrakte waren insgesamt in Form und Inhalt flexibler zu gestalten. Wenn sich der Bedarf infolge von Innovationen o.ä. änderte, sollten die Betriebe berechtigt sein, Verträge zu ändern oder aufzuheben, was aber Sanktionen, wie Aufwendungs- und Schadensersatz sowie Vertragsstrafen nach sich ziehen sollte, um die Vertragspartner zur sorgfältigen Bedarfsermittlung vor Vertragsabschluß zu zwingen. Schon zuvor hatte es in dem Fall Sanktionen gegeben, wenn Verträge nicht erfüllt wurden. Aber die Vertragspartner setzten sie nur teilweise durch, weil der Gewinn noch nicht die entsprechende Bedeutung hatte. Das mußte sich nun ändern, auch weil die Strafen erhöht, einfacher berechnet und als "Kosten schlechter Leitungstätigkeit" aus dem Gewinn finanziert werden sollten. Eine freiere Gestaltung ließen die Koordinierungsvereinbarungen zu, die die VVB abschließen konnten, um ihre langfristige Zusammenarbeit in verschiedenen Bereichen abzustimmen und zu organisieren. 2 Sie waren ebenso wie längerfri-
1 [SPK,] Abt. Grundsatzfragen der Planmethodik: Information über die wichtigsten Festlegungen in der Methodik zur Ausarbeitung des Perspektivplanes bis 1970 ..., 10.10.64, BA DE1/47566; SPK, VWR, Büro fur Industrie und Bauwesen: Vorlage fur das Politbüro. Information über die Verwirklichung ..., 26.11.64, SAPMO-BA DY30 IV A2/2021/251. 2 Protokoll der Politbürositzung am 2.6.64: Vorschläge über die Veränderung des Vertragssystems zur Ver-
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stige Verträge den Bilanzen zugrunde zu legen. Deren Erarbeitung wurde - wie bereits gesehen zunehmend den VVB übertragen, die damit über die volkswirtschaftliche Verteilung der jeweiligen Güter zu entscheiden hatten. Deshalb sollten sie nun Marktforschung betreiben, um den Bedarf zu ermitteln. Die bilanzierende Instanz war dafür verantwortlich, daß der begründete, d.h. mit den Plänen bestätigte Bedarf gedeckt wurde. Finanzielle Sanktionen für die bilanzierende Instanz wie für den Besteller ergaben sich faktisch aus dem Vertragsrecht. Um den Bedarf abzudecken, wurde auf Intervention des ZK-Apparates den Lenkungsinstanzen das Recht eingeräumt, auch gegenüber nicht unterstellten Betrieben Weisungen zu erlassen. Wenn Aufkommensdefizite gegenüber den Bedarfsanforderungen nicht zu decken waren, sollten die bilanzierenden Instanzen das Problem den übergeordneten Instanzen übergeben. Darüber hinaus konnten die Bilanzen nun in engen Grenzen während des Planjahres geändert werden. 1 Insgesamt wurde die Ausarbeitung des Planes dezentralisiert und der Inhalt vereinfacht und reduziert, aber der Planungsablauf blieb prinzipiell bestehen und die Zahl der Staatsplanpositionen und Bilanzen verringerte sich nicht. In einer weiterführenden Ausarbeitung der SPK hieß es zutreffend, daß "aus den übernommenen Methoden der Planung und Leitung der Volkswirtschaft noch spürbare Elemente der Reglementierung und Planbürokratie nach(wirken)." 2 Neumann dagegen befürchtete im Zusammenhang mit der Übernahme der Bilanzierung durch die VVB bereits, daß eine "Desorganisation der Wirtschaft eintreten" könne, wenn man nicht genügend kontrolliere. 3 Jedoch wurden die Wirtschaftseinheiten tatsächlich erst einmal mit weniger Vorgaben von "oben" konfrontiert und erste Teile des gedachten Anreizsystems waren wirksam.
Implementationsprobleme Die schrittweise Einführung der Reform hatte zur Folge, daß für geraume Zeit alte und neue Lenkungsmechanismen nebeneinander wirkten. Schon deshalb waren die Systemregeln nicht geeignet, die Verantwortlichen dazu zu zwingen, sich wirtschaftlich anders zu verhalten. Daher sollten das FUhrungspersonal und die Beschäftigten aller Ebenen auf die Reformschritte vorbereitet werden und quasi dazu "erzogen" werden, sich den neuen Regeln entsprechend zu verhalten. Sie waren schließlich von der langjährigen Praxis eines Lenkungsmechanismus geprägt, in dem vor allem auf
wirklichung des NÖS, SAPMO-BA DY30 J IV 2/2A/1032. Diese Vorschläge fanden nach Präzisierung durch Experimente und eine öffentliche Diskussion über den Entwurf ihren Niederschlag in: Gesetz über das Vertragssystem in der sozialistischen Wirtschaft (Vertragsgesetz) vom 25.2.65, in: Gbl. 1965, I, S. 107 ff. 1 Beschluß über die Richtlinie für die Neuordnung der Materialwirtschaft im neuen ökonomischen System der Planung und Leitung der Volkswirtschaft vom 20.5.65, in: Gbl. 1965, II, S. 495ff. Vgl. Abt. Planung und Finanzen an Mittag, 5.6.65, SAPMO-BA DY30 IV A2/2021/407. 2
Apel an Ulbricht, 12.11.64: Zusammenfassung der "Thesen zur Grundlinie der weiteren Vervollkommnung der Planung im NÖS", SAPMO-BA DY30 IV A2/2021/251.
3 Beschlußprotokoll der Sitzung der Ökonomischen Kommission beim PMR am 27.2.64. Anlage: Wesentlicher Inhalt der Diskussion ..., BA DC20-I/6-8.
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direkte Instrumente zurückgegriffen worden war. Daher wurden in zweiten Jahreshälfte 1963 auf allen Stufen der Wirtschaftshierarchie Seminare durchgeführt, um das Reformprogramm zu studieren und zu erläutern.1 Oft waren dabei zunächst theoretische Fragen zu klären. Das Reformkonzept im Ganzen wurde meist nicht verstanden. 2 Im VWR, der als operative Leitungsinstanz der Industrie durchzusetzen und zu kontrollieren hatte, daß die Reformschritte tatsächlich wirksam wurden, betrachtete man deren Vorbereitung als eine zusätzliche Last. Die Mitarbeiter engagierten sich kaum und waren nach Einschätzung des Parteiapparats nicht dazu befähigt, das Reformkonzept auf den nachgeordneten Ebenen zu erläutern. Die wirtschaftliche Rechnungsführung begriffen sie als eine rein buchhalterische Angelegenheit und nicht als Lenkungsinstrument. 3 Die Industrieabteilungen des VWR, denen jeweils mehrere VVB nachgeordnet waren, fürchteten offenbar, Kompetenzen zu verlieren. 4 In einer Beratung Mittags mit führenden Vertretern des ZK-Apparates im Dezember 1963 attestierte man dagegen den Betrieben "große Bereitschaft zur Verwirklichung des neuen ökonomischen Systems und gieriges Warten nach (auf - A.S.) Neuerungen". Der VWR fungiere aber noch "als eine Zwischenschicht, die gewissermaßen als Dämpfüngsglied und Sperrgürtel eine qualifizierte Durchführung des neuen ökonomischen Systems hemm(e)". Die Parteifunktionäre meinten, daß dieser Zustand dringend geändert werden müsse, weil sich in den Betrieben Enttäuschung breit mache, weil dort das erwartete Neue nicht deutlich wurde. Es gebe "bereits Anzeichen für solche Stimmungen, daß mit dem neuen ökonomischen System zwar viel auf die Glocke gehauen, sich jedoch nur wenig verändern würde." 5 Das resultierte daraus, daß die Struktur des Systems es erforderte, die Veränderungen von "oben" zu implementieren. Daher mußten die zentralen Instanzen zunächst einmal Instruktionen nach "unten" geben, die sich in einer "Papierflut" vor allem vom VWR und dem MdF über die VVB und Betriebe ergossen. 6 Finanzminister Rumpf wurde allerdings im ZK-Apparat nachgesagt,
1 Büro für Industrie und Bauwesen beim Politbüro: Durchfuhrung von Seminaren mit allen leitenden Genossen des Partei-, Staats- und Wirtschaftsapparates zur Auswertung der Wirtschaftskonferenz ..., 18.7.63, SAPMO-BA DY30 IV A2/2021/67. 2
Büro für Industrie und Bauwesen beim Politbüro: Information für das Sekretariat des ZK. Maßnahmen ... zur Auswertung der Wirtschaftskonferenz ..., 18.7.63; Abt. Planung und Finanzen, Information für das Politbüro über die Durchführung der Seminare zur Auswertung der Wirtschaftskonferenz, 10.10.63, SAPMO-BA DY30 IV A2/601/6.
3
Arbeitsgruppe Industrieökonomik: Einschätzung der Seminare des VWR mit den Leitern der Industrieabteilungen ..., 21.8.63; Böhm an Mittag, 23.10.63: Information über eine Beratung des Vorsitzenden des VWR mit den Leitern der Industrieabteilungen zum Stand der Verwirklichung des NÖS am 21.10.63, SAPMO-BA DY30 IV A2/2021/271.
4
Koziolek, Wolf an Apel: Stellungnahme zum Entwurf der VO über die Leitung der volkseigenen Industrie, 7.12.63, BA DC20-I/6-5.
5
Abt. Planung und Finanzen: Niederschrift über die Beratung am 4.12.1963 zur Vorbereitung des S.Plenums, 5.12.63, SAPMO-BA DY30 IV A2/2021/671; Komitee der ABI: Überprüfung der Arbeitsweise in einigen Institutionen des Staatsapparates, 6.1.64, SAPMO-BA DY30 IV A2/2021/334.
6
Abt. Planung und Finanzen: Stellungnahme zum Bericht über die bisherige Durchführung des NÖS, 27.1.64, SAPMO-BA DY30 IV A2/2021/425.
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Entwicklung und Implementation
der Reform
daß er "in krassem Maße ein(en) Perfektionismus auf finanztechnischem Gebiet" betreibe und damit den "Arbeitsstil des administrativen bürokratischen Systems der Planung und Leitung" fortsetze. Darüber hinaus verschleppe er wesentliche Aufgaben aus der "Richtlinie". 1 Die Fragen einer indirekten Lenkung und des Anreizsystems werde im MdF von einem "engen Haushaltsstandpunkt" gesehen. 2 Ebenso nutze die Deutsche Notenbank ihre neue Rolle dazu, mit der "komplexen Bankenkontrolle" von den Betrieben eine Vielzahl "ungerechtfertigter Berichte" zu verlangen. Damit verfalle sie in traditionelle "Bevormundung und Gängeleien". 3 Allerdings war kaum zu trennen, was mit den weitergehenden Aufgaben der Bank notwendig verbunden war und wo sie ihre Kompetenzen überschritt. Auf der Basis solcher und anderer Beispiele konstatierte Mittag im Januar 1964 im Büro für Industrie und Bauwesen, "daß sich die Administration mit Händen und Füßen gegen das ökonomische System stellt, daß sie eigenmächtig bestimmte und richtige Verordnungen abändern, daß sie bürokratisch herangehen und somit direkt die Entwicklung der Volkswirtschaft hemmen." 4 Die hemmende Rolle, die vor allem der VWR und das MdF bei der Reformumsetzung in den folgenden Monaten spielten, resultierte jedoch nicht ausschließlich aus der Skepsis, mit der die Chefs dieser Institutionen den Veränderungen gegenüberstanden. Neumann, für den sich diese Haltung aus einer Vielzahl von Äußerungen nachweisen läßt, bemühte sich gleichwohl als "Parteisoldat" darum, das einmal von der Partei Beschlossene umzusetzen, versuchte aber bei allen Diskussionen über die Details der Reform ebenso wie Rumpf, "Schlimmeres" zu verhindern und die Reichweite der Veränderungen zu begrenzen. Als Leiter der operativen Lenkungsinstanz für die Industrie kannte er die realwirtschaftlichen Probleme in der Industrie so genau, daß er meist praktisch argumentieren konnte. Aus dieser Kenntnis entwickelte er ein Gefühl dafür, daß mit der Reform zumindest streckenweise Unvereinbares zusammengeführt werden sollte. Rumpfs Widerwille war dagegen stärker ideologisch begründet. Er war in Personalunion Chef der Regierungskommission für Preise und Finanzminister. Bei dem zentralen Stellenwert, den finanzielle Kategorien im NÖS gewannen, war er mit der Vielzahl seiner Aufgaben sichtbar überfordert. Trotzdem zog er vieles an sich, um in dieser Schlüsselposition dafür zu sorgen, daß die Reform - aus seiner Sicht - nicht zu weit ging, weil er bereits befürchtete, daß mit ihr kapitalistische Verhältnisse restauriert werden könnten. Deshalb trat er nicht selten als einer der Hüter der Orthodoxie auf. Diese Position fiel ihm wohl umso leichter, als er nicht Mitglied des Politbüros und somit auch nicht in dem Maße wie die Angehörigen dieses Gremiums in dessen Disziplin eingebunden war. Gleichwohl hatte er als Parteimitglied die dort gefaßten Beschlüsse zu exekutieren, auch wenn er ihre Zweckmäßigkeit im Vor-
1 Sektor Finanzen: Information über eine Beratung der Arbeitsgruppe "NÖS", 16.3.64, SAPMO-BA DY30 IV A2/2021/421. 2 Abt. Planung und Finanzen: Stellungnahme zum Bericht über die bisherige Durchführung des NÖS, 27.1.64, SAPMO-BA DY30 IV A2/2021/425. 3 Rumpfund Böhm an Ulbricht, 14.4.64, SAPMO-BA NY4182/970. 4 Stenographische Niederschrift der Beratung des Büros für Industrie und Bauwesen beim Politbüro mit leitenden Partei- und Wirtschaftsfunktionären ... am 13.1.64, SAPMO-BA DY30 IV A2/601/54.
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Volkswirtschaft"
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feld wie danach eher in Zweifel ziehen konnte. In den Jahren 1964/65 stand er oft im Mittelpunkt der Kritik an der schleppenden Reformumsetzung. So stellte ZK-Abteilungsleiter Siegfried Böhm in einer Beratung des Büros für Industrie und Bauwesen beim Politbüro - sicher nicht ohne Zustimmung von Mittag und Apel - fest, daß sowohl bei den Mitarbeitern des Finanzministeriums und der Regierungskommission als auch bei Rumpf selbst "einige theoretische und praktische Vorbehalte gegen das neue ökonomische System noch nicht überwunden" seien. 1 Zu der Furcht vor Kompetenzverlust in beiden Institutionen kam, daß man vor allem im VWR nicht daran glaubte, die vorgeschlagenen Reformschritte seien geeignet, die ständigen Lenkungsschwierigkeiten zu beheben. Die Neigung in den zentralen Instanzen, möglichst viele Kompetenzen zu behalten, ging jedoch auch darauf zurück, daß dort dem Führungspersonal der Wirtschaftseinheiten nicht zugetraut wurde, eine wachsende Verantwortung auch wahrnehmen zu können. 2 Die zum Teil vom VWR und massiv vom MdF ausgehende Blockade meinte Ulbricht, als er Anfang 1964 vor dem ZK gegen "kleinliche, engstirnige Beamtenseelen" sowie "alte Routiniers" schimpfte. 3 Angesichts dieser Schwierigkeiten versuchten die NÖS-Protagonisten vor allem über den Parteiapparat, die Reform in den zentralen Wirtschaftsinstanzen, den VVB und Betrieben voranzutreiben. Dabei sollten die Parteifunktionäre aber keinesfalls den politischen Kontext der ökonomischen Aufgaben außer acht lassen. 4 Allerdings benötigte die SED dazu auch mehr wirtschaftlich qualifiziertes Personal. Daher ließ sie allein im Herbst 1964 ca. 900 "Parteikader" nebenberuflich in 38 Sonderklassen an 33 Ingenieur- und Fachschulen studieren. 5 Zwar gelang es dem Parteiapparat, in den VVB und Betrieben Unklarheiten zu beseitigen. Ebenso wurde die Arbeit der Parteigliederungen nach einer Einschätzung des Politbüros durch die Verwirklichung des NÖS sachkundiger und konkreter. Aber auch im SED-Apparat wurde die Reform nicht als Ganzes verstanden, sondern zerfiel für viele der Akteure in einzelne Schritte und Maßnahmen, hinter denen der Zusammenhang und das Ziel mitunter verschwand. 6 So setzte man im Herbst 1964 in den VVB Parteiorganisatoren des ZK ein, die die Umsetzung von Parteibeschlüssen fordern und kontrollieren sollten. Sie hatten vor allem die "Kaderpolitik" zu beeinflussen und waren letztlich die Statthalter der Parteizentrale
1 Protokoll der Sitzung des Büros ftir Industrie und Bauwesen beim Politbüro am 2.9.64, SAPMO-BA DY30 IV A2/601/78. 2
Komitee der ABI: Überprüfung der Arbeitsweise in einigen Institutionen des Staatsapparates, 6.1.64, SAPMO-BA DY30 IV A2/2021/334.
3 4
Ulbricht, Zum Neuen Ökonomischen System, S. 398. Vgl. Staritz, Geschichte der DDR, S. 218. Maßnahmen zur weiteren Vervollkommnung der Leitung der Parteiarbeit nach dem Produktionsprinzip (Beschluß des Politbüros vom 21.1.64), SAPMO-BA DY30 IV A2/2021/81.
5
Abt. für ideologische Arbeit des Büros für Industrie und Bauwesen beim Politbüro: Maßnahmen zur Verbesserung des Studiums der Parteikader ..., SAPMO-BA DY30 IV A2/601/81.
6
Büro des Politbüro an das Sekretariat des ZK und die Abteilungsleiter im Apparat des ZK, 10.6.64: Abschlußbericht über die Ergebnisse der Kreisdelegiertenkonferenzen ..., SAPMO-BA DY30 IV A2/2021/75; SPK, VWR, Büro ftir Industrie und Bauwesen: Vorlage für das Politbüro. Information über die Verwirklichung ..., 26.11.64, SAPMO-BA DY30 IV A2/2021/251.
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Entwicklung und Implementation
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in den Wirtschaftseinheiten. 1 Insgesamt neigten im ersten Reformjahr die Parteifunktionäre dazu, die politische Arbeit zu vernachlässigen und Aufgaben der staatlichen Wirtschaftsinstanzen zu übernehmen. Das war für die SED vor allem deshalb gefährlich, weil sie damit noch unmittelbarer als ohnehin für die wirtschaftlichen Ergebnisse verantwortlich gemacht werden konnte. Als Ende 1964 abzusehen war, daß die Reform nicht zu schnellen Erfolgen führen würde, erklärte Ulbricht vor dem ZK wohl auch deshalb, daß die SED "keine 'Wirtschaftspartei' im engeren Sinne" sei.2 Daraufhin konzentrierten sich die Büros für Industrie und Bauwesen auf politische Fragen und verloren bis Ende 1965 vollkommen an Bedeutung. Das Gewicht der wirtschaftspolitischen ZK-Abteilungen für den Abstimmungsprozeß der Reformschritte und die Koordination der Planung hatte dadurch aber keineswegs abgenommen. Vor allem hatten sich 1964/65 horizontale Kommunikationsstrukturen zwischen den Reformern in der SPK und ihren Mitarbeitern sowie den ZK-Abteilungen herausgebildet, was durch die angeführten Arbeitsgruppen und Kommissionen sowie die personellen Verflechtungen begünstigt wurde. Die ZK-Abteilungen waren allerdings in der Regel über die realwirtschaftlichen Probleme deutlich besser informiert und Apel verlangte Anfang 1965 von seinen Mitarbeitern in der SPK, von ihnen zu lernen. 3 Die Kontrollrechte nahm nach wie vor in erster Linie der Parteiapparat wahr, weil die staatlichen Instanzen in dem selben Dilemma wie früher steckten. Es war sicher eine der Fehlkalkulationen der Reformer, daß sich das Verhalten der Akteure unter den neuen Bedingungen schnell ändern werde. Tatsächlich zögerten die VVB und Betriebe, eigene Wege zu gehen und erwarteten oder verlangten Instruktionen von "oben". Dieser Konservatismus war allerdings auch eine Folge des Nebeneinanders von alten und neuen Mechanismen, deren Inkompatibilität zu Anpassungsschwierigkeiten führte und das Verständnis für den angestrebten Gesamtmechanismus erschwerte. Daneben rührte dieses Verhalten aber aus einem Mangel des Konzepts selbst. Es war überwiegend auf makro- und mikroökonomische Zusammenhänge fokussiert und es fehlte weitgehend die betriebswirtschaftliche Dimension. Vom Führungspersonal der Wirtschaftseinheiten wurde erwartet, daß es seine gewachsene einzelwirtschaftliche Verantwortung wahrnehmen und sich dabei gleichzeitig an gesamtwirtschaftlichen Maßstäben ausrichten sollte. Das führte zu Widersprüchen und Unsicherheiten und in der Sicht der Zentrale zur mangelnden Bereitschaft dieser "Kader", sich auf die neuen Anforderungen einzustellen. Nach Recherchen an der
1 Abt. Parteiorgane des Büros für Industrie und Bauwesen beim Politbüro: Grundsätze der Arbeit der Parteiorganisatoren des ZK bei den VVB ..., 4.9.64, SAPMO-BA DY30 IV A2/601/80. 2
Protokoll über die am 13.8.65 durchgeführte Beratung des Gen. Dr.Mittag mit den Sekretären der Bezirksleitungen ..., SAPMO-BA DY30 IV A2/601/8; Ulbricht, Zum Neuen Ökonomischen System, S. 549. Den Zusammenhang mit den fehlenden Reformergebnissen übersieht Kaiser, wenn sie die erneute Betonung der politisch-ideologischen Arbeit durch die SED-Spitze und den damit einhergehenden Bedeutungsverlust des Büros für Industrie und Bauwesen für den Prozeß der Wirtschaftsreform ab Anfang 1965 allein dem Wirken ideologisch motivierter Reformgegner mit Honecker an der Spitze zuschreibt. Vgl. Kaiser, Machtwechsel, S. 47ff.
3
Abt. Planung und Finanzen an Mittag: Information über die Leitungssitzung der SPK am 29.1.65, SAPMO-BA DY30 IV A2/2021/252.
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Basis berichtete Halbritter im Herbst 1965, daß mit anderthalb bis zwei Jahren zu rechnen sei, ehe in allen VVB und Betrieben die zentralen Beschlüsse inhaltlich richtig durchgesetzt sind.1 Ganz im stalinistischen Stil, wonach die "Kader" alles entscheiden, versuchte man, die Realisierung der Wirtschaftsreform personalpolitisch abzusichern, indem man auf eine Professionalisierung drängte. Immer wieder wurde verlangt, diejenigen zu fördern, die das NÖS verstanden haben und fähig seien, es auch durchzusetzen. Es sollte Schluß sein mit der "Freundschaftspolitik auf diesem Gebiet". 2 Die Ergebnisse waren aber ambivalent. Halbritter hatte Ende 1964 bei einem Teil des Führungspersonals in den VVB und Betrieben beobachtet, daß das volkswirtschaftliche Denken gegenüber früher zugenommen habe. Gleichzeitig betonte er jedoch, daß viele der VVB ihrer Aufgabe als Wirtschaftszentrale der Branche nicht nachkämen, weil dort die entsprechende Qualifikation fehle. 3 Neumann erwähnte im Sommer 1965 vor den versammelten Generaldirektoren der VVB, daß im Bereich der VVB WMW (Werkzeugmaschinen) etwa ein Viertel der Werkdirektoren und annähernd die Hälfte der Produktions- und ökonomischen Direktoren sowie der Hauptbuchhalter weder einen Hochschul- noch einen Fachschulabschluß hatten.4 Die permanente Forderung nach mehr Formalqualifikation entsprach - wie bereits angeführt - dem Anspruch auf Wissenschaftlichkeit im Wirtschaftsprozeß sowie der "Konstruktion" des NÖS, denn dieses war nur zum Teil als "anonymer", zwingender Mechanismus angelegt und erforderte daher, daß die Akteure es verstanden und sich entsprechend verhielten. Dafür setzte man wiederum eine höhere Qualifikation voraus. Daher wetterte selbst Neumann: "Wenn wir noch jahrelang (...) mit unfähigen Menschen an wichtigen Punkten arbeiten müssen, kommen wir aus den Schwierigkeiten nicht heraus. Das ist gar keine Kritik an einem guten Genossen, aber es ist nun mal so, daß das Parteimitgliedsbuch allein nicht die notwendige Kenntnis ersetzt, darüber müssen wir uns im klaren sein." 5 Die von Ulbricht geforderten perspektivisch denkenden und risikobereiten Leiter 6 blieben aber die Ausnahme. Vielmehr hatte auch 1965 noch das Führungspersonal aller Ebenen - selbst Stellvertreter des VWRChefs - Schwierigkeiten, das Gesamtkonzept der Reform zu erfassen. Die Unterschiede in der Führungsqualität zwischen den VVB wurden durch die Wirtschaftsreform deutlicher sichtbar. Das Umdenken vollzog sich beispielsweise in den VVB schneller, die in ökonomische Experimente einbezogen waren. 7 Personelle Konsequenzen wurden aber aus der ungenügenden Tätigkeit der Füh-
1
SPK: Information über Aussprachen mit leitenden Genossen aus VVB und Betrieben über Fragen der Durchführung des NÖS ..., 13.11.65, BA DE1/45454.
2
Sektor Beschlußkontrolle: Vermerk über die Beratung mit den Leitern der Büros für Industrie und Bauwesen der Bezirksleitungen am 17.9.64, SAPMO-BA DY30 IV A2/601/14.
3
SPK, VWR, Büro für Industrie und Bauwesen: Vorlage für das Politbüro. Information über die Verwirklichung ..., 26.11.64, SAPMO-BA DY30 IV A2/2021/251.
4
Abt. Planung und Finanzen: Information über die Arbeitstagung der Leitung des VWR ..., 7.7.65, SAPMOBA DY30 IV A2/2021/274.
5
Ebenda.
6
Ulbricht, Zum Neuen Ökonomischen System, S. 398.
7
Arbeitsgruppe Forschung und technische Entwicklung: Lehren und Schlußfolgerungen für die politische Führungstätigkeit..., 22.10.64, SAPMO-BA NY4182/971; Einschätzung der Ergebnisse der Berichterstat-
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rungskräfite eher selten gezogen. Das wäre wohl in der gesamten Breite auch gar nicht möglich gewesen.' Dort, w o man allerdings keine ausreichenden Möglichkeiten mehr sah, die Qualifikationen zu verbessern, wurden im Sommer und Herbst 1965 auf Initiative des Parteiapparates eine größere Zahl von Führungspositionen in den VVB und zum Teil in den Industrieabteilungen des V W R neu besetzt. 2 Aber selbst die Führungskräfte der Wirtschaftseinheiten, die Uber die entsprechende Formalqualifikation verfugten, standen den neuen Anforderungen, die sich auch aus dem beschleunigten technologischen Wandel ergaben, mit unzureichendem "Management"-Wissen gegenüber. Das war eine Folge von Defiziten in den Wirtschaftswissenschaften, die in den fünfziger Jahren überwiegend als marxistisch-leninistische Ideologie und häufig ohne Bezug zu realen makro- und mikroökonomischen Zusammenhängen gelehrt wurde. Generell unterstellte man, daß mit dem formal gesellschaftlichen, real staatlichen Eigentum die Interessen der Wirtschaftseinheiten mit denen der Zentrale, der die Kenntnis der volkswirtschaftlichen Erfordernisse zugeschrieben wurde, identisch waren. Daher hatte man eine Betriebswirtschaftslehre für überflüssig gehalten. Auch volkswirtschaftliche Betrachtungen bewegten sich überwiegend im Bereich abstrakter Gesetze der politischen Ökonomie. Pragmatische oder die Theorie operationalisierende Ansätze kamen kaum vor. Da nun aber mit der Reform faktisch anerkannt wurde, daß es auch in diesem Wirtschaftssystem unterschiedliche Interessen gab, wurden solche Konzepte benötigt. Daher sollte, ausgehend von westlichen Managementmethoden, über die sich Ulbricht schon mal persönlich unterrichten ließ 3 , die "sozialistische Wirtschaftsführung" als Wissenschaftsdisziplin etabliert werden. Nachdem sich zudem gezeigt hatte, daß die Qualifizierung des Führungspersonals auf den verschiedenen Ebenen unkoordiniert und ohne Konzept erfolgte, wollte man die "sozialistische Wirtschaftsführung" im Rahmen eines speziellen Aus- und Weiterbildungssystem vermitteln. Anfang Februar 1965 lagen auf der Basis entsprechender SED-Beschlüsse die Grundsätze für ein solches System vor. Danach sollte die Qualifikation der Führungskräfte auf die Beherrschung des N Ö S in Theorie und Praxis, auf die Entwicklungstendenzen von Wissenschaft und Technik sowie auf Leitungsprozesse, "sozialistische Menschenführung" und wissenschaftlichen Arbeitsstil konzentriert werden. Die Ausbildung für zentrale Führungspositionen übernahm das eigens gegründete Zentralinstitut für sozialistische Wirtschaftsführung beim ZK in Berlin-Rahnsdorf. Dort sollte eine offene und kritische Atmosphäre geschaffen werden, in der auch "heiße Eisen" sachlich zu erörtern waren. Man wollte, daß die Führungskräfte
tung der Generaldirektoren der VVB vor der Ökonomischen Kommission bzw. der Leitung der SPK, [März 1965], BA DC20-I/6-30. Vgl. auch VVB Werkzeugmaschinen: Rechenschaftsbericht des Generaldirektors an die Abt. Werkzeugmaschinen und Automatisierung des VWR, 16.4.64, BA DE4/14169. 1 Verwaltung Kader: Material für die Beratung der Ökonomischen Kommission, 19.5.65, BA DC20-I/6-24. 2 Abt. Planung und Finanzen: Einschätzung der Entwicklung der Leitungstätigkeit im VWR ..., 2.10.65, SAPMO-BA DY30 IV A2/2021/274; Mittag an Honecker, 9.9.65: Übersicht über die Besetzung leitender Funktionen im VWR, SAPMO-BA DY30 IV A2/2021/58. 3
Ulbricht an Apel und Neumann, 20.7.63, SAPMO-BA NY4182/969; SPK: Information für die Mitglieder und Kandidaten des Politbüros des ZK der SED, 19.8.63, BA DE1/42804.
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"das Institut aus innerer Überzeugung als ihre Betreuungsstätte" betrachteten. Das Personal für die mittlere Hierarchieebene sollte an den ebenfalls neu gebildeten zweigbezogenen Instituten für sozialistische Wirtschaftsführung verschiedener Hochschulen und das betriebliche Führungspersonal an Betriebsakademien der Großbetriebe oder VVB unterwiesen werden. 1 In den Jahren 1964/65 wurden eine Vielzahl zentral festgelegter Experimente in den V V B und Betrieben durchgeführt, die dazu dienten, einzelne Reformschritte auszuprobieren und zu präzisieren. 2 Allerdings wurden sie über viele Wirtschaftseinheiten zersplittert, so daß die Wechselwirkungen der verschiedenen Instrumente zunächst kaum abzuschätzen waren. Darüber hinaus galten neue Preise nur in Teilbereichen und man konnte aus diesem Grund die Effekte nicht eindeutig bestimmen. Außerdem war man in den zentralen Instanzen beunruhigt, weil "außer den zentral beschlossenen Experimenten eine nicht unbedeutende Anzahl ökonomischer Experimente durchgeführt werden, über deren Aufgabenstellung, Ziel und Inhalt keine Übersicht besteht." Einzelne Wirtschaftseinheiten machten sich offenbar diese Methode zunutze, um tatsächlich neue Lösungen zu versuchen oder um - wie es der VWR unterstellte - "bisherige Unzulänglichkeiten in der Leitungstätigkeit mit dem Vorwand eines Experiments zu vertuschen". 3 Daher war es nötig, die Gesamtwirkung des Reformkonzeptes zu erproben. Zudem hatten die Überlegungen, wie das Planungssystem weiter zu entwickeln sei, zu der Erkenntnis geführt, daß auch das "System ökonomischer Hebel" einbezogen werden müsse, "da es im Grunde genommen nicht allein um die Reduzierung von Formularen und überflüssigen Detailvorschriften geht, sondern daß eine Veränderung des eigentlichen Planungsmechanismus erforderlich ist, um die gesamte Planungsmethodik entsprechend dem neuen ökonomischen System zu gestalten." Dabei rückte die Idee in den Vordergrund, mit langfristigen wirtschaftlichen Normativen, die auf Basis der Aufgaben des Perspektivplanes festgelegt werden sollten, den V V B und Betrieben den Rahmen für ihre Gewinnerwirtschaftung und -Verwendung vorzugeben und ihnen damit für den Zeitraum ihrer Gültigkeit eine sichere Basis für wirtschaftliche Dispositionen zu gewähren. 4
1
SPK, VWR, Büro für Industrie und Bauwesen: Vorlage für das Politbüro. Information über die Verwirklichung ..., 26.11.64, SAPMO-BA DY30 IV A2/2021/251; VWR-Sitzungsmaterial, 3.2.65: Grundsätze und Maßnahmen zur Schaffung eines Systems der Auswahl, Entwicklung und Qualifizierung von Führungskräften der sozialistischen Industrie, 27.1.65, BA DE4-S/3-2-65/1; Arbeitsgruppe Sozialistische Wirtschaftsführung: Vorlage fur das Büro für Industrie und Bauwesen beim Politbüro: Konzeption zur Gestaltung des ersten Lehrgangs am "Zentralinstitut für sozialistische Wirtschaftsführung beim ZK der SED", 18.10.65, SAPMO-BA DY30 IVA2/601/98; G. Lauterbach, Zur Theorie der sozialistischen Wirtschaftsführung in der DDR. Funktionen und Aufgaben einer sozialistischen Leitungswissenschaft, Köln 1973, S. 16.
2
SPK: Übersicht über den Stand der Maßnahmen zur Einführung des Systems ökonomischer Hebel, 3.9.64; [SPK:] Information über die Durchführung der von der Ökonomischen Kommission beschlossenen ökonomischen Experimente (Stand Dezember 1964), 28.12.64, BA DE1/45339.
3
SPK, VWR, Büro für Industrie und Bauwesen: Vorlage für das Politbüro. Information über die Verwirklichung ..., 26.11.64, SAPMO-BA DY30 IV A2/2021/251. 4 [SPK,] 1 .Stellvertreter des Vorsitzenden für Jahresplanung: Information über die Ergebnisse der von der
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Vor diesem Hintergrund unterbreitete Apel im November 1964 Ulbricht den Vorschlag, in ausgewählten VVB ab 1966 das NÖS als Ganzes zu erproben. Dabei setzte er voraus, daß zum Jahresbeginn 1966 die letzte Etappe der Industriepreisreform wirksam und am Jahresende 1965 der Perspektivplan vorliegen werde. Da es sich bei der Verbindung neuer Planungsprinzipien mit dem System der wirtschaftlichen Anreize Apel zufolge um "Pionierarbeit" handelte, weil weder in der Sowjetunion noch in der CSSR zu dieser Zeit dafür Vorschläge oder Lösungen vorlagen, sollte dies zunächst in einem begrenzten Bereich 1966/67 erprobt werden.' In den folgenden Monaten wurde in der SPK und ihrem Forschungsinstitut verstärkt daran gearbeitet, das Gesamtkonzept der Reform auf der Basis der bis dahin gemachten Erfahrungen zu präzisieren. Der fertige Perspektivplan sollte es ermöglichen, die Wirtschaftseinheiten die Jahrespläne auf seiner Grundlage selbständig erarbeiten zu lassen und diese dann nur noch von "unten" nach "oben" zusammenzufassen. Dabei waren aus dem Perspektivplan Normative der Gewinnverwendung (Produktionsfondsabgabe, Prämienzufiihrungen, Investitionsmittel) abzuleiten und für dessen Laufzeit, also mittelfristig 2 , konstant zu halten. Sie sollten die Betriebe zwingen, angespannte, aber erfüllbare Pläne auszuarbeiten und ihnen die Möglichkeit geben, mittelfristig zu kalkulieren. Daneben war nach Abschluß der Industriepreisreform, das bedeutete auf der Basis eines konsistenten Preissystems, die Preisbildung in engen Grenzen zu flexibilisieren. Außerdem griffen diese Überlegungen den Gedanken auf, daß sich die zentralen Wirtschaftsinstanzen bei der Lenkung und Koordination auf die strukturbestimmenden Prozesse konzentrieren und alles andere den Wirtschaftseinheiten überlassen sollten. Im Kern zielte das präzisierte Konzept darauf, "schrittweise eine gewisse Selbstregelung im wirtschaftlichen System auf der Grundlage des Planes zu erreichen." 3 Ulbricht fand diese Erwägungen wohl gut, drückte auf das Tempo und bestand darauf, das Experiment noch 1965 zu beginnen. Aber im Sommer 1965 stritten SPK und VWR noch immer darüber, wer für derlei verantwortlich sei und
Leitung der SPK eingesetzten Arbeitsgruppe zur Weiterentwicklung des Planungssystems ..., 15.6.64, BA DE1/42669. Die Idee solcher langfristigen Normative wurde erstmalig in den fünfziger Jahren in einer sowjetischen Debatte publiziert und sollte in dem tschechoslowakischen Reformversuch von 1958 realisiert werden. (J. Adam, Economic Reforms in the Soviet Union and Eastern Europe since the 1960s, London 1989, S. 25, 233f.) 1 Apel an Ulbricht, 12.11.64: Information über die Aufgaben der SPK, ihre Verantwortlichkeit und Termine für die weitere Entwicklung der Planung entsprechend den Grundsätzen des NÖSPL ..., SAPMO-BA DY30 IV A2/2021/251. 2
In den Quellen und der zeitgenössischen Literatur firmieren sie immer als langfristig, was im Grunde aber nicht korrekt war.
3
SPK: Diskussionsgrundlage zum erreichten Stand der Durchführung und zum weiteren Ablauf der Herausbildung des NÖS als Ganzes, 15.1.65; SPK, Büro für Industrie und Bauwesen beim Politbüro: PolitbüroVorlage. Konzeption zur weiteren Vervollkommnung der Planung im neuen ökonomischen System in Verbindung mit dem System ökonomischer Hebel..., 29.1.65, SAPMO-BA DY30 IV A2/2021/426; Halbritter an Wyschofsky, 17.2.65: Konzeption zur weiteren Vervollkommnung der Planung im neuen ökonomischen System in Verbindung mit dem System ökonomischer Hebel, BA DE 1/44402. Zu den Details dieser Vorstellungen siehe die entsprechenden Punkte in den nachfolgenden Kapiteln.
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das Experimental-Programm wurde nicht verabschiedet.' Die Verhinderung dieses Experiments war wohl auch eine Folge der noch darzustellenden Schwierigkeiten der Reformer im Jahr 1965. Allerdings fehlten ebenso wesentliche Voraussetzungen. Im Sommer 1965 erwies sich, daß die Industriepreisreform infolge der komplizierten letzten Etappe nicht - wie gedacht - zum Jahresbeginn 1966 abzuschließen war und diese auf den Jahresbeginn 1967 verschoben werden mußte. 2
Auswirkungen der Reform bis 1965 Das Umstellen der VVB auf die wirtschaftliche Rechnungsführung wurde zunächst von vielen als eine rein technisch-organisatorische Maßnahme (miß)verstanden, bei der es nur darum gehe, die VVB mit finanziellen Mitteln - den "Fonds" - auszustatten. Ihre Intention - über Produktivitätssteigerungen und Kostensenkungen die Gewinne zu erhöhen und mithin die Wirtschaftstätigkeit der VVB effizienter zu gestalten - , wurde erst einmal verkannt. 3 Viele der konzipierten finanzwirtschaftlich orientierten Anreize blieben wegen der noch auszuführenden Industriepreisreform ohne Effekt oder wurden nur modifiziert wirksam. Wichtiger war aber, daß den VVB und zum Teil den Betrieben finanzielle Mittel ohne harte finanzielle Budgetrestriktionen übergeben worden waren. Daher war es nur konsequent, die güterwirtschaftliche Realisierung dieser Mittel - vor allem im Zusammenhang mit den Investitionen - an den Plan zu binden. 4 Deshalb stand letzterer für die Wirtschaftseinheiten weiter im Mittelpunkt, obwohl in der hier betrachteten Periode die wirtschaftlichen Anreize und die Rolle des Gewinns im Vordergrund der öffentlichen Diskussion und der internen Arbeit standen. Schließlich blieb der Gewinn ebenfalls eine zu erwirtschaftende Plangröße. Die dafür erbrachte Produktion war aber nicht unbedingt bedarfsgerecht, auch wenn sie verkauft werden konnte. Dieser Widerspruch ergab sich aus dem allgemeinen Nachfrageüberhang, der viele Waren schon deshalb absetzbar machte, weil die Käufer hofften, sie gegebenenfalls als Tauschmittel einsetzen zu können. Um bei einer Lenkung der Produktion über den Gewinn zu gewährleisten, daß Güter in der tatsächlich benötigten Struktur verfügbar waren, hätte es echter Knappheitspreise bedurft, an die aber nicht gedacht war. 5 Im übrigen strebten die Reformer gar nicht an, die Produktion allein Uber den Gewinn zu lenken. Vielmehr forderte eine SPK-Ausarbeitung ausdrücklich, "gegen die Tendenz aufzutreten, den Betriebsgewinn als alleinigen Maßstab für die Entwicklung
1 SED-Parteiorganisation VWR, 1.Sekretär, Meinhardt an Mittag, 29.6.65, SAPMO-BA DY30 IV A2/2021/274. 2 Vgl. das zweite Kapitel. 3 VWR-Leitungsvorlage, 8.1.64: Bericht über die bisherige Durchführung des NÖS in Auswertung der Wirtschaftskonferenz ..., BA DE4-S/8-1-64; Abt. Planung und Finanzen: Stellungnahme zum Bericht über die bisherige Durchführung des NÖS, 27.1.64, SAPMO-BA DY30 IV A2/2021/425; SPK, VWR, Büro für Industrie und Bauwesen: Vorlage für das Politbüro. Information über die Verwirklichung ..., 26.11.64, SAPMO-BA DY30 IV A2/2021/251. Vgl. die folgenden Kapitel. 4 Vgl. das vierte Kapitel. 5
Vgl. das zweite Kapitel.
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Entwicklung und Implementation der Reform
und Struktur der Produktion zu betrachten". 1 Sie sollte mit einer dekonzentrierten und weniger detaillierten, güterwirtschaftlich orientierten Planung kombiniert mit zielgerichteten, zentral gesetzten finanzwirtschaftlichen Anreizen gelenkt werden. Dabei mußte die SPK aber nach wie vor eine entscheidende Rolle spielen. Nach außen erweckte sie damals oft den Eindruck, daß sie die Instanz sei, die die Reform am konsequentesten umsetzte. Das lag auch daran, daß sie durch führende Reformer, wie Apel und Halbritter, repräsentiert wurde. Tatsächlich waren es aber die methodisch orientierten Querschnittsabteilungen und das ökonomische Forschungsinstitut unter Koziolek und Wolf, die neue Vorstellungen entwickelten und ihre Umsetzung vorantrieben. In den Branchenabteilungen dagegen, in denen die eigentliche Planungsarbeit geleistet wurde und die den Großteil der SPK-Mitarbeiter beschäftigten, blieben die Reformfragen Nebensache. Sie kümmerten sich vor allem um "ihren" Zweig, ohne volkswirtschaftliche Gesichtspunkte zu beachten. 2 So waren die Orientierungsziffern, die von der SPK vor Beginn der Planausarbeitung herausgegeben wurden, "vorwiegend auf die ressortmäßige Entwicklung der einzelnen Zweige gerichtet und nicht im volkswirtschaftlichen Sinne optimiert", wie der Parteiapparat 1965 kritisierte. Selbst in der Planbehörde wurde eingeräumt, daß die Planansätze keineswegs auf Variantenanalysen und nur unzureichend auf ökonomischen Berechnungen basierten. Hinzukam, daß die SPK-Abteilungen die realwirtschaftlichen Verhältnisse gewöhnlich nicht ausreichend kannten, um sie den Orientierungsziffern zugrunde legen zu können. Daher basierten sie oft auf Annahmen und ihre Realisierbarkeit war häufig zweifelhaft. Auf ihnen sollten aber die Industrieabteilungen des VWR, die VVB und die Betriebe ihre Pläne aufbauen und es wurde daher "notwendig, mit großem administrativen Aufwand ständige Korrekturen dieser Orientierungsziffern bis nach unten hin vorzunehmen. Das hatte zur Folge, daß viele Betriebe und VVB oft die schon mit den Werktätigen breit diskutierten Planaufgaben viele Male verändern und zahlreiche 'Planrunden' drehen mußten." Die SPK griff also weiter administrativ in den Planungsprozeß ein. Letztlich wurde der Rücklauf - die Zusammenfassung der Planentwürfe von "unten" nach "oben" - sowohl im V W R als auch in der SPK nicht mehr ernst genommen und an der Spitze entstand ein eigener Plan, der dann wieder nach "unten" gegeben wurde. In diesen - nun verbindlichen - Planaufgaben erkannten die Betriebe ihren Planentwurf kaum noch wieder. 3 Damit fiel es ihnen schwer, sich mit den Aufgaben zu
1 Apel an Mittag und Ulbricht, 9.3.65: SPK: Information zu einigen Grundfragen der ökonomischen Entwicklung ..., 6.3.65, SAPMO-BA DY30 IV A2/2021/252. 2 SPK-Parteiorganisation: Wie wurden die Beschlüsse und Hinweise der Partei zur Durchsetzung des NÖS ... innerhalb der SPK verwirklicht?, 22.11.65, BA DE1/45339. 3 Zitate aus: Vorschläge der Arbeitsgruppen des Politbüros zur Qualifizierung der Planung, der Leitung und der Anwendung ökonomischer Hebel..., 6.12.65, SAPMO-BA DY30 J IV 2/2A/1134. Vgl. auch: [SPK]: Disposition (zur Neubestimmung der Stellung, Funktion und Aufgaben der SPK), 15.11.65, BA DE1/45537; Abt. Planung und Finanzen, Grundstoffindustrie, Maschinenbau und Metallurgie, Bauwesen, Handel, Versorgung und Außenhandel: Stellungnahme zur Vorlage Volkswirtschaftsplan und Staatshaushaltsplan 1966, 30.11.65, SAPMO-BA DY30 J IV 2/2A/1128; Stenografische Niederschrift des Referates des Gen. Stoph auf dem Seminar des ZK und des Ministerrates ... am 10.1.66, SAPMO-BA DY30 IV A2/2021/426.
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identifizieren und man zweifelte am Sinn der gesamten Planungsprozedur. Tatsächlich war sie für die zentralen Instanzen ein äußerst aufwendiges und ineffizientes Mittel der Informationsgewinnung, das noch dazu zu häufig falsche Daten produzierte. Da die Pläne grundsätzlich mit den gleichen Verfahren wie vor der Reform erarbeitet wurden und die Anreizkonstruktion, die "weichen" Plänen der Betriebe vorbeugen sollte, Schwächen aufwies 1 , strebten die Wirtschaftseinheiten einschließlich des VWR und seiner Industrieabteilungen weiter danach, sich im Rahmen eines Bargainings von der SPK mit dem Plan möglichst hohe Inputs aller Art zuweisen und ein niedriges Produktions- und Produktivitätswachstum auferlegen zu lassen. 2 Und - ebenfalls wie zuvor - wollten die Übergeordneten gegenüber den Nachgeordneten das Gegenteil durchsetzen, was in den Betrieben das "Hochschrauben der Bedingungen" hieß. 3 Überdies war in Rechnung zu stellen, daß sich dieses Verhalten und die Ressourcendefizite wechselseitig verstärkten. Daran änderte sich auch dadurch nichts, daß die Aufkommen-Verwendungs-Bilanzen nun zunehmend von den VVB ausgearbeitet wurden. Die Dezentralisierung zielte ohnehin eher darauf, die VVB besser mit dem Bedarf in seiner quantitativen und qualitativen Struktur bekannt zu machen und ihre Verbindungen mit den Abnehmern zu stärken. Das Interesse der VEB an möglichst hohen Inputs sorgte aber nach wie vor dafür, daß die Bedarfsforderungen das Aufkommen tendenziell überstiegen. In diesem Fall verfügten die bilanzierenden V V B außer dem schlichtem Streichen solcher Forderungen über kein wirtschaftliches Instrument, wie beispielsweise Preiserhöhungen, um die Nachfrage zu begrenzen. Und das Verlangen nach Produktionssteigerungen stieß oft wenn nicht auf Kapazitäts-, so auf Material- oder Beschäftigungsgrenzen. Die V V B konnten auf Produzenten und Abnehmer nur dann ökonomisch einwirken, wenn sie zu ihrem unmittelbaren Verantwortungsbereich gehörten, was aber nur selten zutraf. Um über die Bedarfsanmeldungen wie gefordert - volkswirtschaftlich begründet zu entscheiden, fehlten den VVB die Informationen. Auch die von ihnen aufzubauende Marktforschung konnte keine wirtschaftlichen Kriterien bieten, anhand derer die Erzeugnisse entsprechend der vorhandenen oder einer perspektivisch angestrebten Struktur volkswirtschaftlich effizient auf die Bedarfsforderungen aufzuteilen waren. Lediglich für zentral festgelegte Prioritäten war dies zu leisten, doch die waren in hohem Maße politisch bestimmt. 4 Die V V B wurden also weder gezwungen, eine makroökonomisch rationale Allokation ihrer Erzeugnisse durchzusetzen, noch hatten sie ein wirtschaftliches Interesse daran, Aufkommen und Bedarf tatsächlich in Übereinstimmung zu bringen. Sie neigten daher dazu, die Bilanzen formal auszugleichen, indem Bedarfsforderungen nach eigenem Ermessen gestrichen oder Aufkommenser-
1 Vgl. das dritte Kapitel. 2 Vgl. u.a. [SPK:] Abt. Bilanzierung der Jahrespläne: Information über den Stand der Plandiskussion zur Ausarbeitung eines optimalen Planvorschlages für 1965, 14.7.64, BA DC20-I/6-11; Schürer an Ulbricht, 22.3.65, SAPMO-BA DY30 IV A2/2021/252. 3 SPK: Information über Aussprachen mit leitenden Genossen aus VVB und Betrieben über Fragen der Durchfuhrung des NÖS ..., 13.11.65, BA DE1/45454. Vgl. Stenographische Niederschrift: 13.Sitzung des Ministerrates am 8.12.65, BA DC20-I/3-488. 4 Zur Festlegung der Prioritäten siehe das vierte Kapitel.
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höhungen aufgenommen wurden, die weder durch den Produktionsplan noch die vorhandenen Kapazitäten oder Ressourcen gesichert waren. Diese Defizite machten sich dann in der Planumsetzung bemerkbar. Das Problem wurde auch nicht dadurch gelöst, daß die bilanzierenden V V B bestehende Diskrepanzen - wie vorgesehen - an die übergeordneten Instanzen zur Entscheidung weiterleitete. Inwieweit die zugrunde liegenden Bedarfsanmeldungen im Zusammenhang mit den Produktionsaufgaben berechtigt waren, konnten auch die zentralen Instanzen nicht genau prüfen, da entsprechende Normative in der Regel "Polster" enthielten. Sie konnten nur unter Mitwirkung der Betriebe festgelegt werden, wobei es diesen gelang, sich in den Materialeinsatznormen "illegale Reserven" zu schaffen.' Gleichzeitig zögerten die V V B und Betriebe, ihre Austauschbeziehungen mit Verträgen zu regeln, weil sie zunächst die endgültigen Bestimmungen des Vertragsgesetzes abwarten wollten. Bis dahin aber verhinderten die nach wie vor gültigen starren Bestelltermine für Vorleistungen und ähnlich administrative Festlegungen, daß die Wirtschaftseinheiten tatsächlich ökonomische Beziehungen eingingen. Später fürchteten sie die mit den Verträgen angedrohten Sanktionen. 2 Insbesondere die Produzenten von Vorleistungen ließen sich nur ungern auf Verträge oder Koordinierungsvereinbarungen - noch dazu mit Sanktionen - festlegen. Sie waren äußerst vorsichtig und gingen wie es hieß - auf "Nummer sicher". Die Finalproduzenten konnten aber einen Vertragsabschluß nicht erzwingen, so daß sie sich häufig den gegebenen "Monopolen" ausgeliefert sahen. 3 Aus diesen Gründen stellte Apel Anfang 1965 fest, daß die Verbindung der VVB schlechter denn j e sei. 4 Für das Jahr 1965 waren die Aufkommen-Verwendungs-Bilanzen erstmalig überwiegend in den VVB erarbeitet worden. Zu Beginn dieses Jahres erwies sich aus den angeführten Gründen, daß die mit ihnen festgelegte Ressourcenverteilung in hohem Maße ineffizient war. Fast alle V V B hatten Schwierigkeiten, ihren Bedarf an Material und Vorleistungen zu decken, und das blieb das gesamte Jahr Uber so. 5 Stoph bezifferte im April 1965 das Bilanzdefizit im Volkswirtschaftsplan 1965 auf 1,0-1,5 Mrd. Mark. 6 Damit war der Staatsplan durch die Betriebspläne nicht abgedeckt. 7 Die VVB
1 [SPK:] Probleme der Erhöhung des Niveaus der Leitungstätigkeit auf dem Gebiet der Materialwirtschaft ..., [1.2.65], BA DE1/47591; Ökonomische Kommission beim PMR: Festlegungen zum Plananlauf 1965 ... vom 7.2.65, SAPMO-BA DY30 IV A2/2021/252. 2 Einschätzung der Ergebnisse der Berichterstattung der Generaldirektoren der VVB vor der Ökonomischen Kommission bzw. der Leitung der SPK, [März 1965], BA DC20-I/6-30. 3 SPK: Information über Aussprachen mit leitenden Genossen aus VVB und Betrieben über Fragen der Durchführung des NÖS ..., 13.11.65, BA DE1/45454. 4 VWR: Information über die Beratung des Büros für Industrie und Bauwesen des ZK am 15.2.65 über Probleme des Planlaufs 1965, BA DE4-S/17-2-65. 5 Einschätzung der Ergebnisse der Berichterstattung der Generaldirektoren der VVB vor der Ökonomischen Kommission bzw. der Leitung der SPK, [März 1965], BA DC20-I/6-30; Abt. Planung und Finanzen: Vorlage für das Sekretariat des ZK der SED. Information über einige Probleme der materiellen Sicherung des Volkswirtschaftsplanes 1965, 2.6.65, SAPMO-BA DY30 IV A2/601/8. 6 Beratung der Ökonomischen Kommission unter Leitung von Stoph, 21.4.65, BA DE 1/45449. 7 Beratung der Ökonomischen Kommission unter Leitung des Vorsitzenden des Ministerrates, Gen. Stoph,
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und Betriebe urteilten, "daß die Bilanzierung früher besser in Ordnung war und eine größere Sicherheit in der Realisierung des Bedarfs durch die Zulieferindustrie bestand". 1 In Apels Sicht war es, wie er im Februar 1965 im Büro für Industrie und Bauwesen betonte, zwar richtig, das Aufstellen der Bilanzen in die VVB zu verlagern. Jedoch habe man nicht geregelt, wie sie auch als Informations- und Kontrollinstrument genutzt werden könnten. Eine Lösung von "oben" schloß Apel aber aus. 2 Aussagen wie diese verweisen auf die Widersprüchlichkeit des Reformkonzeptes in der Frage, wie die Verflechtungsbeziehungen zwischen den Wirtschaftseinheiten gesichert werden sollten. Damit war gleichzeitig das Problem einer optimalen Allokation angesprochen. Auf die Bilanzen als eine administrativ und güterwirtschaftlich orientierte Art der Verteilung - wollte man nicht verzichten und konnte es auch nicht, solange Preise ausgeschlossen wurden, die Nutzen- und Knappheitserwägungen reflektierten. 3 Damit blieb die Ressourcenverteilung an den Plan gebunden. Gleichzeitig mußte man jedoch einsehen, daß die Zentrale auf Grund des Informationsproblems, aber auch wegen ihrer begrenzten Kapazitäten die Bilanzen in der erforderlichen Konsistenz nicht herstellen konnte. Daher sollten sie dezentral ausgearbeitet werden, was im übrigen dem Zeitgeist (Kritik an Überzentralisierung und Bürokratie) und zumindest formal dem in der Marxschen Theorie angelegten Vergesellschaftungsanspruch entsprach. Außerdem wurden die zentral vorgegebenen Kennziffern in der Zahl und im Grad ihrer Detailliertheit reduziert. Damit erhielten die Wirtschaftseinheiten für ihre Verteilungsentscheidungen aber von "oben" kaum Signale. Auch die Preise boten für die Allokation der Ressourcen keinen Anhaltspunkt. Damit konnte weder die Dezentralisierung der Bilanzfiinktion noch der Verzicht auf manches von "oben" vorgegebene Detail zu einer optimalen Allokation oder einer größeren Konsistenz des Plans fuhren. Dies war daran zu messen, inwieweit die Einzelbilanzen, ihre Verbindungen und ihre Aggregation widerspruchsfrei waren. Es wurde die Koordination auf der zentralen Ebene eingeschränkt, doch die VVB erfuhren im wesentlichen nur über Bedarfsanmeldungen anderer Wirtschaftseinheiten von der Nachfragesituation, die wiederum davon bestimmt wurde, daß die den VVB und Betrieben zur Verfugung stehenden finanziellen Mittel noch nicht Resultat ihrer eigenen wirtschaftlichen Ergebnisse sein konnten, weil die Industriepreisreform noch nicht abgeschlossen war.4 Damit neigten sie in dieser durch Ressourcendefizite geprägten Wirtschaft weiter dazu, einen zu hohen Bedarf anzugeben. Die Folge der einge-
zur Lösung der Probleme des Planes 1965 ... am 24.5.1965, BA DC20-I/6-24. 1
SPK: Information über Aussprachen mit leitenden Genossen aus VVB und Betrieben über Fragen der Durchführung des NÖS ..., 13.11.65, BA DE1/45454.
2
VWR: Information über die Beratung des Büros für Industrie und Bauwesen des ZK am 15.2.65 über Probleme des Planlaufs 1965, BA DE4-S/17-2-65.
3
Es wird später zu sehen sein, wie die praktischen Schwierigkeiten zu Überlegungen zwangen, mit denen faktisch Nutzenkriterien in den Preisen berücksichtigt werden sollten, wie schwierig deren Umsetzung war und sie sich ansatzweise realwirtschaftlich doch durchsetzten. Formal war aber nicht daran gedacht, Knappheitspreise einzuführen. Vgl. das zweite Kapitel und den Abschnitt zur Preisbildung für neu- und weiterentwickelte Erzeugnisse im vierten Kapitel.
4
Vgl. zur "Eigenerwirtschaftung der Mittel" das vierte Kapitel.
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schränkten zentralen Koordination und der verzerrten Signale für die dezentrale Abstimmung war, daß die Konsistenz des Plans und der in ihm festgelegten Verflechtungsbeziehungen geringer als früher war, wie es für 1965 ermittelt wurde. Dieses Ergebnis, wie es sich ähnlich 1956/57 in Ungarn gezeigt hatte 1 , war zum Teil der schrittweisen Umsetzung des Reformwerkes, mehr aber noch der Inkonsequenz seines Ansatzes geschuldet. Die 1965 auftretenden akuten Schwierigkeiten, die intraindustriellen Verflechtungen zu sichern, führten dazu, daß das Wirtschaftsgeschehen weiter von "oben" administriert wurde. Die V V B hatten dem V W R über die Planrückstände und deren Ursachen "Rapport" zu erstatten. 2 Solche direkten Interventionen des V W R blieben das gesamte Jahr über kennzeichnend. Ein Wechsel zu wirtschaftlichen Lenkungsformen fand nicht statt.3 Konfrontiert mit diesen operativen Problemen neigte der V W R zu ad hoc Lösungen, die dann administrativ ausfielen. Deshalb fühlten sich zumindest einzelne VVB-Generaldirektoren immer mehr eingeschränkt. Sie sahen die Industrieabteilungen des VWR als eine "Super-VVB", die alle Einzelheiten in den Branchen bestimme. 4 Diese Meinung war zwar sicher übertrieben, zeigte aber, daß sich im Verhalten des V W R im Vergleich zu der Zeit vor der Reform kaum etwas geändert hatte. In dieser Situation tendierten auch die V V B dazu, ihren Betrieben mehr Vorgaben zu machen und mehr Kennziffern abzuverlangen, als die zentralen Instanzen von ihnen selbst forderten. Beispielsweise bestanden eine ganze Reihe von V V B darauf, daß ihre Betriebe wichtige Kennziffern auf die Quartale aufschlüsselten, obwohl diese Aufteilung von der Zentrale ab 1965 aufgehoben worden war. 5 Allerdings räumte man auch in der SPK ein, daß dies nicht nur der "Blödheit" der VVB entsprang, sondern ein Zeichen dafür war, daß diese sich bemühten, den Wirtschaftsprozeß in ihrem Bereich in Zeiten einer gewissen Unübersichtlichkeit unter Kontrolle zu halten. 6 Hinzukam, daß die Pläne infolge der Eingriffe von "oben" während der Umsetzung häufig geändert wurden, so daß "(vielfach) wenig Vertrauen zum Plan festzustellen" war. Eine bessere Kalkulierbarkeit der wirtschaftlichen Situation versprachen sich die Wirtschaftseinheiten von einer über längere Zeit unveränderten Planmethodik und einem bestätigten Perspek-
1 I.T. Berend, The Hungarian Economic Reforms 1953-1988, Cambridge 1990, S. 58f. 2 VWR, Vorsitzender an alle Abteilungsleiter des VWR, Generaldirektoren der VVB und Vorsitzende der Wirtschaftsräte der Bezirke: Durchfuhrung des Gesetzes über den Volkswirtschaftsplan 1965, 28.5.65; Abt. Planung und Finanzen an Mittag, 4.6.65, SAPMO-BA DY30 IV A2/2021/274. 3 Abt. Planung und Finanzen: Einschätzung der Entwicklung der Leitungstätigkeit im VWR ..., 2.10.65, SAPMO-BA DY30 IV A2/2021/274. 4 Niederschrift über die Beratung der Arbeitsgruppe "Papierwirtschaft" (Gen. Wittik) am 7.9.65, 8.9.65, BA DE1/47574. 5
VWR: Information über die Beratung des Büros für Industrie und Bauwesen des ZK am 15.2.65 über Probleme des Planlaufs 1965, BA DE4-S/17-2-65; Protokoll über die am 13.8.65 durchgeführte Beratung des Gen. Dr.Mittag mit den Sekretären der Bezirksleitungen ..., SAPMO-BA DY30 IV A2/601/8.
6
Vgl. handschriftliche Notiz möglicherweise von Apel an einer diesbezüglich kritischen Ausarbeitung: SPK: Information über Aussprachen mit leitenden Genossen aus VVB und Betrieben über Fragen der Durchführung des NÖS ..., 13.11.65, BA DE1/45454.
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tivplan.1 Diverse VVB nutzten allerdings die vorhandenen Defizite dazu, um mit ihrer "Monopolstellung" für bestimmte Güter Preiszuschläge schon dafür durchzusetzen, daß sie innerhalb der gesetzlichen Bestellfristen lieferten. 2 Aber auch indem sie von ihren Abnehmern zusätzliche Arbeitskräfte oder Prämien verlangten, versuchten Hersteller von Defizitgütern, Vorteile zu erlangen. Das Beschaffen der Vorleistungen verursachte gerade bei den Finalproduzenten erhebliche Transaktionskosten. In der Warnowwerft in Rostock wurde beispielsweise darauf verwiesen, daß die Hamburger Werft "Blohm & Voß" 6 Einkäufer und 3 Bürokräfte, dagegen der eigene Betrieb 95 Arbeitskräfte allein damit beschäftigte, Zulieferungen zu sichern. 3 Obwohl der Plan 1965 beträchtliche Defizite barg und in vielen Positionen nicht erfüllt wurde, hatten einige VVB den Gewinnplan für das gesamte Jahr bereits im I.Quartal 1965 erfüllt. Bei zwei Dritteln der VVB stiegen die Gewinne gegenüber dem Vorjahr, in dem sie bereits erheblich gewachsen waren, noch einmal beträchtlich an. Von dem Gewinn über dem Plansoll konnten die VVB 75 % behalten. Wie unterschiedlich die Ergebnisse waren, zeigte sich darin, daß die an den Staatshaushalt abgeführten 25 % der zwei Drittel der VVB nicht ausreichten, um die Untererfüllung des Gewinns beim übrigen Drittel auszugleichen. Doch die Aussagekraft des Gewinns war nicht sonderlich stark. Denn teilweise waren die VVB, die hohe Gewinne abgerechnet hatten, nicht in der Lage, ihre Absatzverträge einzuhalten. 4 So wurde im gesamten Jahr 1965 in wesentlichen Bereichen der Gewinnplan übererfüllt, die Warenproduktion blieb aber deutlich hinter dem Plan zurück. 5 Diese Entwicklung beunruhigte die Verantwortlichen in der Regierungsspitze erheblich. Vor allem Vertreter des VWR machten das "einseitige Gewinnstreben" der Betriebe dafür verantwortlich, daß der Bedarf an Vorleistungen nicht kontinuierlich gesichert war und die Produktionspläne nicht erfüllt wurden. Die Betriebe würden die Produktion von Erzeugnissen mit niedrigem Gewinn einstellen oder verlagern. Abgesehen davon, daß sie damit von der eigenen Verantwortung ablenken wollten, sollte auf diese Weise schließlich auch der Gewinn als Hauptkennziffer diskreditiert werden. Untersuchungen des ZK-Apparats und der Staatlichen Finanzrevision ergaben aber, daß in keinem der vom VWR benannten Fälle die Ursache für die nicht ausreichende Produktion beim "einseitigen Gewinnstreben" der Betriebe lag. Vielmehr zeigte sich, daß in den von den VVB oder den Bezirkswirtschaftsräten aufgestellten Aufkommen-Verwendungs-Bilanzen das Aufkommen von vornherein zu niedrig veranschlagt worden war oder der Bedarf nicht bekannt war. Allerdings räumte die ZK-Abteilung ein, daß es Möglichkeiten gebe, den Gewinn durch Sortimentsverände-
1
Ebenda.
2
Abt. Planung und Finanzen: Information über die Arbeitstagung der Leitung des VWR ..., 7.7.65, SAPMOB A D Y 3 0 IV A2/2021/274.
3
SPK: Information über Aussprachen mit leitenden Genossen aus VVB und Betrieben über Fragen der Durchführung des NÖS ..., 13.11.65, BA DE1/45454.
4
Beratung der Ökonomischen Kommission unter Leitung von Stoph, 21.4.65, BA DE1/45449; Abt. Planung und Finanzen: Information über die Arbeitstagung der Leitung des VWR ..., 7.7.65, SAPMO-BA DY30 IV A2/2021/274. Zur Gewinnentwicklung siehe Tabelle 3.3.
5
SZS: Information über wichtige Ergebnisse der Entwicklung der Volkswirtschaft im Jahr 1965, 8.1.66, BA DN1-VS/6-84.
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rungen zu erhöhen, wenn nicht das einzelne Erzeugnis, sondern Erzeugnisgruppen geplant würden.' Solche Fälle traten offenbar auch auf, aber ihre Zahl sollte nicht überschätzt werden. Die außergewöhnlichen Gewinnsteigerungen resultierten in viel höherem Maße aus den Kalkulationsspielräumen und Lücken, die sich aus der schrittweisen Industriepreisreform ergaben und bei der Planung des Gewinns nicht vollständig zu berücksichtigen waren. 2 Die in der ersten Jahreshälfte 1965 wachsenden Schwierigkeiten, die Verflechtungsbeziehungen zu sichern, und die gleichzeitigen beträchtlichen Gewinnsteigerungen führten dazu, daß seit Jahresbeginn zentrale Instanzen wieder verstärkt in die Belange der Wirtschaftseinheiten eingreifen wollten. Stoph sah vor der Ökonomischen Kommission diesen Zusammenhang so: "Wenn wir nach unten mehr Verantwortung geben, muß ich zentral mehr aufpassen." 3 Da man meinte, das "einseitige Gewinnstreben" der Betriebe sei eine Folge der bei Implementation der Reform zunächst propagierten wirtschaftlichen Anreize, stellte Ulbricht im Frühjahr 1965 vor dem ZK die Rolle des Planes eigens heraus. 4 Als sich beim Konzipieren des Planes für 1966 wiederum Diskrepanzen zeigten, betonte Stoph daher, "auf keinen Fall dürfen wir solchen Tendenzen Raum geben, das Primat des Plans abzuschwächen und die Einheit zwischen Plan und ökonomischen Hebel zu negieren." In der gleichen Sitzung der Ökonomischen Kommission kritisierte Mittag die SPK und ihren Plan als "Subjektivismus und Wunsch(vorstellung)". 5 Daher erhöhte die SPK im Bemühen, die Verflechtungsbeziehungen zu sichern, intern den Spezifikationsgrad der von ihr für 1966 zu kontrollierenden Aufkommen-Verwendungs-Bilanzen. Um innerhalb der metallverarbeitenden Industrie, wo es die größten Schwierigkeiten gab, die Vorleistungen in der erforderlichen Struktur bereitzustellen, erfaßte sie schließlich für 1966 70 % des Gesamtaufkommens in Bilanzen. 6 Vor allem Neumann sprach sich, um die realwirtschaftliche Situation 1965 kurzfristig zu entspannen, für Sondermaßnahmen aus, die faktisch den zentralen Zugriff auf die VVB verstärken mußten. 7 Daher schimpfte Mittag wenige Wochen später: "Es besteht wieder stärker die Tendenz, die Planerfüllung mit rein administrativen Mitteln, mit Verfügungen und Weisungen usw. zu betreiben bei gleichzeitig großem Papieraufwand für tägliche Dispatchermeldungen. (...) Dabei gerät die richtige Leitung mit ökonomischen Mitteln in den Hintergrund." 8 Im Laufe des Jahres zeigte sich nach Einschätzung der
1
Sektor Industrieökonomik: Information, 5.7.65, SAPMO-BA DY30 IV A2/2021/274.
2
Vgl. Details im zweiten und dritten Kapitel.
3
Beratung der Ökonomischen Kommission unter Leitung von Stoph, 21.4.65, BA DE1/45449.
4
Ulbricht, Zum neuen ökonomischen System, S. 587f.
5
Beratung der Ökonomischen Kommission unter Leitung des Vorsitzenden des Ministerrates, Gen. Stoph, zur Lösung der Probleme des Planes 1965 ... am 24.5.1965, BA DC20-I/6-24.
6
SPK: Wichtige Ergebnisse der Durcharbeitung der Orientierungsziffern zum Volkswirtschaftsplan 1966,
7
Niederschrift über den Inhalt der Beratung, die der Vorsitzende des VWR am 11.6.65 zur Sicherung der
14.6.65, SAPMO-BA DY30 IV A2/2021/252. Erfüllung des Planes 1965 durchführte, BA DE4-S/9-6-65; Abt. Planung und Finanzen an Mittag, 16.6.65: Information über eine Beratung am 11.6.65 beim Gen. Neumann, SAPMO-BA DY30 IV A2/2021/274. 8
Protokoll über die am 13.8.65 durchgeführte Beratung des Gen. Dr.Mittag mit den Sekretären der Bezirksleitungen ..., SAPMO-BA DY30 IV A2/601/8.
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VVB und Betriebe, daß diese Sondermaßnahmen viele Berichte nach sich zogen, die Probleme aber in der Zentrale weder entschieden noch gelöst wurden.' Die beschriebenen Schwierigkeiten und die Betonung des Planes durch Ulbricht verschafften jenen Oberwasser, die der Reform schon immer skeptisch gegenüber gestanden hatten. Der Parteiapparat berichtete, daß "mehr oder weniger offen" Bemerkungen gefallen seien, wie "Sollen mal diejenigen das neue ökonomische System zu Ende führen, die es erfunden haben", oder "Wir haben Euch von Anfang an vor dem Gewinn gewarnt, nun seht mal zu, wie ihr damit fertig werdet". Dagegen hoben die ZK-Mitarbeiter hervor, daß die Äußerungen Ulbrichts "selbstverständlich keine 'Korrektur' des neuen ökonomischen Systems" seien. Vielmehr gehe es nur darum, im Plan die Verflechtungen besser zu erfassen. Probleme bei der Anwendung der Kennziffer Gewinn, die nach Ansicht der ZK-Abteilung daraus resultierten, daß weder die Industriepreisreform zu Ende gefuhrt noch die Produktionsfondsabgabe wirksam war, sollten nicht dazu fuhren, ihre Bedeutung wieder herabzusetzen. Die Argumentation, daß das "einseitige Gewinnstreben" über Sortimentseinschränkungen zu den Schwierigkeiten in der Fixierung der Verflechtungsbeziehungen geführt hätte, lenkte Mittag zufolge nur von der Tatsache ab, daß die V V B und die VWR-Abteilungen es nicht verstanden, die Aufkommen-Verwendungs-Bilanzen aufzustellen sowie die Kooperation zu planen und zu leiten. 2 Um falschen Vorstellungen von der Reform sowie ihren Gegnern entgegenzutreten, hob der ZK-Abteilungsleiter Planung und Finanzen Böhm vor den Generaldirektoren der V V B und den Vorsitzenden der Bezirkswirtschaftsräte hervor: "Das neue ökonomische System heißt größere Wirtschaftlichkeit, größere Sparsamkeit, heißt mehr rechnen und nicht weniger rechnen, heißt mehr Planung und nicht mehr Selbstlauf. (...) N Ö S heißt dreimal prüfen, ehe man sich entscheidet, Geld auszugeben. N Ö S heißt Kontrolle verstärken und nicht die Kontrolle abbauen." 3 Die Situation, die sich im ersten Halbjahr 1965 herausbildete, war widersprüchlich. Die Reformprotagonisten sahen sich angesichts der Reibungsverluste zwischen neuem und alten Mechanismus genötigt, die Planung stärker hervorzuheben. Sie hatten zwar nie daran gedacht, diese abzuschaffen, doch die erneute Betonung ihres Stellenwertes veränderte die Atmosphäre. Das führte dazu, daß Ulbricht den Terminus "sozialistischer Konzern" nicht mehr öffentlich benutzte. Der Hintergrund war: Eine VVB des Maschinenbaus hatte international mit dem Begriff "NAGEMA-Konzern" geworben. Bei der Untersuchung dieses Vorfalls durch die zuständige ZK-Abteilung zeigte sich, daß die Verantwortlichen davon ausgegangen waren, "die Prägung des Begriffes (sei) eine richtige Schlußfolgerung aus den Ausfuhrungen des Genossen Walter Ulbricht auf dem 5.Plenum des ZK".
1 SPK: Information über Aussprachen mit leitenden Genossen aus VVB und Betrieben über Fragen der Durchführung des NÖS ...,13.11.65, BA DE1/45454. 2 [Abt. Planung und Finanzen:] Fragen des NÖS und der Leitungstätigkeit, SAPMO-BA DY30 IV A2/2021/426. Diese interne Argumentationshilfe verwandte Mittag wörtlich in: Protokoll über die am 13.8.65 durchgeführte Beratung des Gen. Dr.Mittag mit den Sekretären der Bezirksleitungen ..., SAPMOBA DY30 IV A2/601/8. 3 Abt. Planung und Finanzen: Information über die Arbeitstagung der Leitung des VWR..., 7.7.65, SAPMOBA DY30 IV A2/2021/274.
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Daraufhin wiesen Ulbricht und Mittag an, die "falschen politischen Auffassungen" in dieser VVB zu verurteilen und den Generaldirektor abzulösen. 1 Dabei hatte man wohl vor allem im Blick, daß eine solche Begrifflichkeit zu unerwünschten Assoziationen führen werde. Immerhin verstand man sich j a als Alternative zum westlichen System und wollte zudem nichts riskieren, was die Sowjetunion zu einem Veto gegenüber den Reformbemühungen veranlassen könnte. Ein deutliches Indiz für die veränderte Stimmung war auch, daß ab Anfang 1965 die Sitzungen der Ökonomischen Kommission der Regierungsspitze immer öfter von Stoph und nicht mehr von Apel geleitet wurden. Dieser stand inzwischen unter erheblichem Druck, weil es der SPK nicht gelang, den für den Reformmechanismus fundamentalen konsistenten Perspektivplan vorzulegen. Doch obwohl die Lage für die Reformer immer schwieriger wurde, trieb man die Erprobung und Umsetzung verschiedenster Reformschritte weiter voran. Die 1964/65 erzielten wirtschaftlichen Resultate lagen über denen der vorangegangenen Jahre. Die Zuwachsraten der Nettoproduktion wie der Arbeitsproduktivität erhöhten sich, auch wenn die angeführten Schwierigkeiten 1965 zu einem Rückgang des Zuwachses führten. Diese Probleme spiegelten sich darin wider, daß in beiden Jahren die Bestandsproduktivität um über 5 % zurückging (vgl. Anhangtabellen A I , A8 und A l l ) . Die insgesamt besseren Resultate konnten allerdings nur bedingt auf die Veränderungen im Lenkungs- und Koordinationsmechanismus zurückgeführt werden, da diese erst zu einem geringen Teil wirksam waren und zunächst - wie gesehen - vor allem Reibungsverluste erzeugten. Der deutlich höhere Produktionszuwachs des Jahres 1964 war in erster Linie eine Folge der in diesem Jahr außergewöhnlich zahlreich fertiggestellten Investitionen, dank derer das Anlagevermögen um 8,9 % zunahm. 2 Darüber hinaus spielte aber im ersten Reformjahr auch ein psychologischer Faktor eine Rolle: die von Zeitzeugen immer wieder genannte allgemeine Aufbruchstimmung und die gewachsene Leistungsbereitschaft der Beschäftigten. 3 Er sollte aber nicht überschätzt werden, da die Euphorie schnell der Ernüchterung wich. Die Erklärung von Keren, wonach die besseren Ergebnisse aus dem verringerten wirtschaftlichen Druck auf die Wirtschaftseinheiten und damit aus größeren Reserven in ihren Plänen resultier-
1 Abt. Maschinenbau/Metallurgie: Information über die Untersuchung der Ursachen, die zur Veröffentlichung des Begriffes "NAGEMA-Konzern"... führten, 26.1.65, SAPMO-BA DY30 IV A2/2021/404; Mittag an Ulbricht, 4.2.65: Information über falsche politische Auffassungen bei NAGEMA, SAPMO-BA NY4182/972. Anders als Roesler vermutete, verschwand der Begriff "sozialistischer Konzern" nicht erst nach der 1 l.ZK-Tagung im Dezember 1965, sondern bereits im Frühjahr 1965. Vgl. Roesler, Plan und Markt, S. 39. 2
Das bestätigt auch eine auf der Basis der im Anhang wiedergegebenen Daten vorgenommene Schätzung der Wachstumskomponenten. Danach war das Wachstum der Nettoproduktion der Industrie (mehr als) vollständig auf den wachsenden "Kapital"einsatz zurückzufuhren. Die Ergebnisse dieser Schätzung sind aber infolge der unsicheren Daten und der im gegebenen Kontext kaum zu erfüllenden Prämissen des zugrunde liegenden neoklassischen Wachstumsmodells mit höchster Vorsicht zu behandeln. Vgl. N.G. Mankiw, MakroÖkonomik, Wiesbaden 19962, S. 146ff.
3
Vgl. auch Roesler, Plan und Markt, S. 36.
Das "Neue Ökonomische System der Planung und Leitung der Volkswirtschaft"
103
ten 1 , kann nicht gefolgt werden. Tatsächlich gab der Plan 1965 vergleichsweise niedrige durchschnittliche Ziele vor, sah aber bei einer ganzen Reihe von Haupterzeugnissen erhebliche Steigerungsraten vor, deren Folgen mit den dezentralisierten Bilanzen - wie gesehen - nicht beherrscht wurden, so daß sich bei den Betrieben zwar größere Bestände ansammelten, denen aber beträchtliche Defizite gegenüber standen. 2 Daher wurde der Plan in den Globalgrößen weitgehend erfüllt, wichtige Einzelpositionen blieben jedoch hinter den Vorgaben zurück. Von 157 ausgewählten, d.h. besonders wichtigen Staatsplanpositionen wurden 1964 und 1965 etwa zwei Fünftel nicht erfüllt. 3 Daher war es nicht nur Verhandlungstaktik, wenn Ulbricht im September 1965 bei Konsultationen im ZK der KPdSU betonte, die Produktion sei unter Inanspruchnahme aller Kräfte und Reserven gesteigert worden, j e d e Planänderung bereite große Schwierigkeiten und die Möglichkeiten, Produktion und Produktivität weiter zu erhöhen, seien begrenzt. Und trotz der Erfolge habe sich der Abstand zur Bundesrepublik im letzten Jahr vergrößert. 4 Damit offenbarte er auch, daß die wirtschaftlichen Ergebnisse unter den - sicher überzogenen - Erwartungen der SED-Spitze lagen. Der Widerspruch zwischen dem selbstgesetzten Erfolgszwang auf der einen Seite und der schrittweisen Realisierung der Reform und den damit zunächst begrenzten Resultaten auf der anderen begünstigte wiederum die Suche nach schnellen Lösungen. Dabei erschien es manchem am einfachsten, die wenigen dezentralisierten Verfügungsrechte wieder stärker in eine Hand zu nehmen.
Außenwirtschaftsprobleme mit der Sowjetunion und Perspektivplanerarbeitung Für das Funktionieren des anvisierten Lenkungs- und Koordinationsmechanismus hatte der Perspektivplan bis 1970 eine besondere Bedeutung. Aus ihm waren die mittelfristigen Orientierungsgrößen für die Wirtschaftseinheiten abzuleiten. Auf deren Basis und den Vorgaben des Perspektivplanes hatten sie ihre Jahresaufgaben im Detail zu bestimmen. Der mittelfristige Plan war die Voraussetzung wie das Ergebnis der geforderten perspektivischen Ausrichtung der V VB und Betriebe. Damit war seine Ausarbeitung ein entscheidendes Moment der Implementation des Reformkonzepts. Ihr Gelingen hing von einem konsistenten Perspektivplan ab. So war es nicht erstaunlich, daß die bei seiner Erarbeitung auftretenden Probleme dazu benutzt wurden, notwendige Reformschritte
1 Dieses Argument erklärt sich, wie weiter unten noch näher auszuführen sein wird, aus der ex post Betrachtung, da es mit dem Scheitern der sehr angespannten Pläne 1969/70 belegt wird. (M. Keren, The New Economic System in the GDR. An Obituary, in: Soviet Studies 24, 1973, S. 569) 2 VWR: Information über die Beratung des Büros für Industrie und Bauwesen des ZK am 15.2.65 über Probleme des Planlaufs 1965, BA DE4-S/17-2-65. 3 SZS: Information über wichtige Ergebnisse der Entwicklung der Volkswirtschaft im Jahr 1965, 8.1.66, BA DN1-VS/6-84; SPK: Analyse der gesamtvolkswirtschaftlichen Entwicklung der DDR im Jahr 1965, (Fassungen vom 15.1.66 und 1.2.66), BA DE1/49695/1+2. 4 Ulbricht an Breshnew, 6.9.65: Über einige grundlegende Aspekte der Lage und der Auseinandersetzung in Deutschland, der Entwicklung und der Politik der DDR, SAPMO-BA DY30 J IV 2/202/341. Dieses vorbereitende Material für den Staatsbesuch diente Ulbricht dort als Redemanuskript. Vgl. in SAPMO-BA NY4182/1206. Aus letzterem zitiert Staritz ausführlicher. Vgl. Staritz, Geschichte der DDR, S. 223.
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Entwicklung und Implementation
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zu hintertreiben.' Auch deshalb predigte Ulbricht im Juli 1964 den versammelten Wirtschaftsverantwortlichen in der Perspektivplanberatung: "Und diejenigen Genossen in leitenden staatlichen Funktionen, die sich gegen die notwendigen Maßnahmen stemmen, um dem Gewinn und der Produktionsfondsabgabe ihren Platz im System der ökonomischen Hebel zu schaffen, werden sich (...) nicht mit Ruhm bedecken. Vorbehalte gegenüber dem neuen ökonomischen System müssen sich als Bremse bei der Arbeit am Perspektivplan erweisen. (...) Wir werden den Auftrag des VI.Parteitags erfüllen und das neue ökonomische System gegen heimliche Widerstände durchsetzen. Wir tun das nicht, weil wir uns in einer Zwangslage befinden, sondern weil wir es für dringend notwendig halten, um die technische Revolution in der DDR durchzuführen und den Lebensstandard der Bevölkerung zu heben." 2 Um einen verläßlichen mittelfristigen Plan aufzustellen, mußte sich die DDR angesichts ihrer Außenhandelsabhängigkeit der außenwirtschaftlichen Rahmenbedingungen versichern. Dazu gab es bereits seit längerem Verhandlungen mit der Sowjetunion, der schon deshalb eine Schlüsselposition zukam, weil ihr Anteil am DDR-Außenhandelsumsatz ca. 43 % (1965) 3 betrug. Sie hatte 1963 bei wichtigen Gütern ihre Lieferungen gegenüber dem Vorjahr entgegen den Erwartungen der DDR reduziert. 4 Jedoch war mit einer solchen Senkung zu rechnen gewesen, da sie insbesondere bei landwirtschaftlichen Produkten und Walzstahlsortimenten die Situation "normalisierte". Die größeren Exporte der UdSSR in die DDR waren nämlich im Gefolge der landwirtschaftlichen Produktionskrise nach der Kollektivierung und der "Störfreimachung" 1961/62 besonders stark angestiegen.5 1962 hatte der Import aus der UdSSR den höchsten und der aus den westlichen Industrieländern den geringsten Anteil am Gesamtimport der DDR. Nach der Anteilsverlagerung zugunsten der westlichen Länder und zuungunsten der Sowjetunion bis 1964/65 hatten beide in etwa die gleichen Anteile wie 1960. Ganz ähnlich verhielt es sich mit dem Export. 6 Eine solche "Normalisierung" war von der DDR-Spitze aber für ihr Modernisierungsprogramm durchaus gewollt. 7 Überraschend kam für sie allerdings im Februar 1964 die Mitteilung, daß die Sowjetunion infolge schwerer Mißernten 1962/63 die Lieferungen wichtiger landwirtschaftlicher Produkte innerhalb weniger Jahre vollkommen einstellen werde. Das konnte zwar abgewendet werden, aber diese sowjetischen Exporte wurden beträchtlich gesenkt. Das erforderte wiederum höhere Einfuhren aus westlichen Ländern und folglich steigende Ausfuhren in diese Richtung, wofür ursprünglich für die UdSSR
1 Vgl. u.a. Rumpfan Ulbricht, 29.6.64, BA DE1/56089. Vgl. die Entgegnung der SPK: HA Perspektivplanung: Stellungnahme zu den Bemerkungen des Genossen Rumpf..., 1.7.64, BA DE1/56087. 2
Rede Walter Ulbrichts auf der Beratung der Kommission des Politbüros des ZK der SED und des Ministerrates der DDR zur Ausarbeitung des Perspektivplans bis 1970 am 2.7.64, BA DE1/47444.
3
Berechnet nach: Statistisches Jahrbuch 1990, S. 32f.
4
Wolf, Hatte die DDR je eine Chance?, S. 23.
5
Vgl. Statistisches Jahrbuch 1968, S. 386; 1969, S. 310.
6
Berechnet nach: Statistisches Jahrbuch 1990, S. 32f.
7
Die Darstellung von Wolf ist etwas irreführend. Vgl. Wolf, Hatte die DDR je eine Chance?, S. 23; Staritz, Geschichte der DDR, S. 222f.
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Volkswirtschaft"
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vorgesehene Güter bereitgestellt werden mußten.' Damit waren erhebliche Strukturverschiebungen im Außenhandel aber auch der erforderlichen Produktion verbunden. 2 Kurz vor der Ablösung Chruschtschows kam Breshnew im Oktober 1964 in die DDR, wo es mit Ulbricht und Apel zu einer lautstarken Auseinandersetzung kam. Nach Ansicht der sowjetischen Seite stellte sich die DDR nur ungenügend auf ihren Bedarf ein.3 Tatsache war aber, daß in den Jahren zuvor mehrfach ganze Betriebe auf Anforderung aus Moskau umprofiliert worden waren und anschließend diese Waren dort wegen Nachfrageveränderungen nicht abgesetzt werden konnten. 4 Der spektakulärste Fall war das Ende 1963 vereinbarte Programm, wonach die DDR komplette Chemieanlagen in die UdSSR liefern sollte, was in der DDR beträchtliche Investitionen im Chemieanlagenbau erforderlich machte. Nachdem Breshnew in Moskau die Macht übernommen hatte, wurden dort im März 1965 die Pläne geändert und diese Importe sollten um ein Viertel gekürzt werden, was in der DDR erhebliche Probleme verursachte, weil die auf die sowjetischen Abnehmer ausgerichteten Investitionen mangels anderer Käufer zu roten Zahlen führten. Der Vorgang beschäftigte die zuständigen Instanzen das gesamte Jahr 1965.5 Jedoch kam es ebenso - wenn auch in geringerem Ausmaß - zu Fällen, in denen die DDR zugesagte Maschinen und Ausrüstungen schließlich doch nicht lieferte, weil sie entweder nicht in ausreichendem Umfang produziert werden konnten oder ins westliche Ausland exportiert wurden, was sowjetische Vertreter dann zur Sprache brachten. 6 Generell beobachtete man in der DDR seit dem Frühjahr 1965 einen "tiefgehenden Wandel in der Haltung der Regierung der UdSSR in Grundfragen der Wirtschaftsbeziehungen der UdSSR mit den sozialistischen Ländern". Bereits vereinbarte Rohstofflieferungen wurden von dem angebote-
1 ZK der KPdSU an das ZK der SED, 5.2.64; Ulbricht an Chruschtschow, 9.4.64: ZK der SED an das ZK der KPdSU, 7.4.64; Apel an Ulbricht: Auswirkungen der Verringerung der sowjetischen Lieferungen von Getreide, Fleisch, Butter und Wolle und andere Probleme ..., [Sommer 1964], SAPMO-BA DY30 J IV 2/202/41. Da diese Mitteilung auch an die anderen Ostblockländer ging, kann es zumindest primär nicht darum gegangen sein, die Wirtschaftsreform in der DDR zu blockieren. Vgl. Kaiser, Machtwechsel, S. 86ff. 2
Jarowinsky an Mittag, 10.10.64: Probleme des Außenhandels der DDR im Jahre 1965, SAPMO-BA DY30 IV A2/2021/61; SPK: Bericht über die zweite Konsultation der Planungsorgane der DDR und der UdSSR zur Koordinierung der Perspektivpläne ..., 29.10.64, SAPMO-BA NY4182/1211.
3
Nach einer Mitteilung Mittags in: P. Przybylski, Tatort Politbüro. Band 2: Honecker, Mittag und SchalckGolodkowski, Berlin 1992, S. 149.
4
Vgl. u.a. Grosse: Rede zur Eröffnung der Konsultation zwischen den Planungsorganen der UdSSR und der DDR, 9.4.64; Grosse: Bericht über die Ergebnisse der Konsultationen ..., 28.4.64, BA DE1/42993.
5
SPK: Information über die Ergebnisse der Beratungen zwischen dem Stellvertreter des Vorsitzenden der SPK, Gen. Grosse, und dem Stellvertreter des Vorsitzenden des Staatlichen Plankomitees der UdSSR, Gen. Stepanow, am 5.5.65, 10.5.65, SAPMO-BA DY30 IV A2/2021/260; Information über die Verhandlungen mit dem Vorsitzenden des Staatlichen Plankomitees der UdSSR, Gen. Lomako, SAPMO-BA DY30 J IV 2/202/34; PMR: Beschluß über die Direktive für die Verhandlungen zwischen der DDR und der UdSSR ..., 18.10.65, BA DC20-I/4-1200.
6
Niederschrift über das Gespräch ... Stoph mit... Kossygin, 3.3.65, SAPMO-BA DY30 J IV 2/202/34.
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nen Sortiment von Maschinenbauerzeugnissen abhängig gemacht, weil die Sowjetunion befürchtete, die von der DDR anvisierte Exportoffensive ins westliche Ausland könne zu ihren Lasten gehen. Mit Verweis auf den niedrigen Lebensstandard und den hohen Verteidigungshaushalt der Sowjetunion wurden zusätzliche Rohstofflieferungen abgelehnt. Für eine Erhöhung ab 1971 verlangte die Sowjetunion von der DDR wie den anderen Ostblockländem, daß sie sich ab der zweiten Hälfte der sechziger Jahre an der Erschließung neuer RohstoffVorkommen in Form von Warenkrediten beteilige. Demnach erforderten die von der DDR nach 1971 vorgesehenen Steigerungen der Ressourcenimporte aus der Sowjetunion im Zeitraum 1966 bis 1970 eine Investitionsbeteiligung von 6-7 Mrd. Valutamark, was etwa 35-40 % der volkswirtschaftlichen Investitionen des Jahres 1965 entsprach. Dabei verwies die sowjetische Seite süffisant auf die Erfolgspropaganda in der DDR. 1 Auf Investitionsbeteiligungen in dieser Größenordnung wollte sich Ulbricht im September 1965 in Moskau gegenüber Breshnew nicht einlassen. Sie waren seines Erachtens nicht zu realisieren, statt dessen versuchte er die sowjetische Spitze - wie er es früher bereits gegenüber Chruschtschow mehrfach getan hatte 2 - vom Nutzen einer engeren wissenschaftlich-technischen Kooperation im R G W zu überzeugen. Es müsse die Parteiführer der RGW-Länder doch "mit Sorge erfüllen", wenn im Westen "die technische Revolution konsequent und mit höherem ökonomischen Nutzeffekt durchgeführt wird, als in ihren Ländern." Nur mit Zusammenarbeit und Spezialisierung sei dieser Herausforderung zu begegnen. Nur so sei - im übrigen - eine größere Attraktivität des Sozialismus zu erreichen, was in Deutschland besonders wichtig sei, denn erst wenn der Lebensstandard in der DDR dem Westdeutschlands entspreche, wären die DDR-Bevölkerung wie "breite Schichten der westdeutschen Werktätigen" von den Vorzügen der neuen Ordnung zu überzeugen. 3 Breshnew aber blieb skeptisch. In den Verhandlungen über das mittelfristige Handelsabkommen bis 1970 waren die Fragen der Investitionsbeteiligung offenbar zunächst ausgeklammert. Ansonsten hatte sich die sowjetische Seite für zusätzliche Maschinenexporte der DDR weitere Rohstofflieferungen abhandeln lassen. Problematisch für die DDR war jedoch, daß die Sowjetunion darauf bestand, selbst mehr Maschinen und Anlagen in die DDR zu liefern, wo gegenüber diesen Erzeugnissen Vorbehalte bestanden. Die VVB und Betriebe wollten Ausrüstungen lieber aus westlichen Ländern bezie-
1 SPK: Information über die Ergebnisse der Beratungen zwischen dem Stellvertreter des Vorsitzenden der SPK, Gen. Grosse, und dem Stellvertreter des Vorsitzenden des Staatlichen Plankomitees der UdSSR, Gen. Stepanow, am 5.5.65,10.5.65, SAPMO-BA DY30 IV A2/2021/260; Information über die Verhandlungen mit dem Vorsitzenden des Staatlichen Plankomitees der UdSSR, Gen. Lomako, SAPMO-BA DY30 J IV 2/202/34. 2 Vgl. u.a. Ulbricht an Chruschtschow, 6.5.63, SAPMO-BA DY30 IV A2/2021/96; Ulbricht an Chruschtschow, 16.7.63, SAPMO-BA DY30 J IV 2/202/33; Wyschofsky: Niederschrift über die Beratung der sowjetischen Experten für den Chemieanlagenbau mit ... Walter Ulbricht, 2.12.63, SAPMO-BA DY30 IV A2/2021/249. 3 Ulbricht an Breshnew, 6.9.65: Über einige grundlegende Aspekte der Lage und der Auseinandersetzung in Deutschland, der Entwicklung und der Politik der DDR, Material für die Beratungen auf dem ökonomischen Gebiet, SAPMO-BA DY30 J IV 2/202/341.
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hen.1 Schließlich wurde am 3. Dezember 1965 das Abkommen über den mittelfristigen Warenaustausch mit der Sowjetunion unterzeichnet. Rang und Bewertung dieser Außenhandelsprobleme sind hier nicht auszuloten. Sie waren außerordentlich komplex und sind ohne einen Blick auf die Vorjahre nicht zu verstehen. 2 Entscheidend für unseren Zusammenhang ist jedoch, daß die Sowjetunion ihre wirtschaftlichen Interessen gegenüber der DDR (aber auch den anderen RGW-Ländern) stärker durchsetzen wollte. Ihre hierbei gute Position resultierte zu einem nicht geringen Teil aus der mangelnden internationalen Konkurrenzfähigkeit der DDR-Exportprodukte, die die außenwirtschaftliche Beweglichkeit der DDR einschränkte. 3 Die sowjetische Position - so legitim sie zum Teil war - erschwerte es der DDR beträchtlich, ausgeglichene Jahrespläne und noch viel mehr einen konsistenten Perspektivplan auszuarbeiten. Damit verschlechterten sich auch die Rahmenbedingungen für die Wirtschaftsreform. Zwar verwies der sowjetische Regierungschef bei den Wirtschaftsverhandlungen hämisch darauf, daß die DDRIndustrie nun ihre Leistungsfähigkeit beweisen könne 4 , aber dies bezog sich eher auf die von Ulbricht öfter vorgetragenen Belehrungen, wie vorbildlich die Bemühungen der DDR seien, die eigene Wirtschaft zu modernisieren und dazu den Lenkungsmechanismus zu verändern. 5 Sie waren für die sowjetische Vormacht schwer zu ertragen. Jedoch verfolgte man im Moskauer ZK-Apparat das Konzept und die Realisierung des NÖS offenbar wohlwollend interessiert, obwohl sie wegen der unterschiedlichen Bedingungen in der Sowjetunion zumeist als nicht anwendbar betrachtet wurden. Aber man sah in ihr auch kein "Abgehen von der sozialistischen Planwirtschaft oder eine Hinwendung zum jugoslawischen System", was wohl von den DDR-Reformern insgeheim befürchtet wurde. 6 Selbst Breshnew folgte gegenüber der Wirtschaftsreform zunächst der Position seines Vor-
1 Minister für Außenhandel und Innerdeutschen Handel an Ulbricht, 29.11.65, SAPMO-BA DY30 J IV 2/202/42; Abt. Planung und Finanzen, Grundstoffindustrie, Maschinenbau und Metallurgie, Bauwesen, Handel, Versorgung und Außenhandel: Stellungnahme zur Vorlage Volkswirtschaftsplan und Staatshaushaltsplan 1966, 30.11.65, SAPMO-BA DY30 J IV 2/2A/1128. Die Materie im Zusammenhang mit diesem Abkommen bedarf weiterer Klärung. 2
In ihrer relativ ausführlichen Darstellung dieser Probleme neigt Kaiser zu einer DDR-zentrierten Sicht, in der die von ihren Vertretern aus leicht einzusehenden Gründen genutzten Dramatisierungen übernommen wurden. Vgl. Kaiser, Machtwechsel, S. 86-97, 99-103.
3
Insofern irrt Kaiser, wenn sie meint, daß die DDR die sowjetischerseits von ihr verlangten Güter "gut auf dem westlichen Markt verkaufen" hätte können. Nicht so sehr die westlichen Handelsbehinderungen und die fehlende frei konvertierbare Währung (obwohl letztere ein Teil des Problems ist) verstärkten die wirtschaftliche Abhängigkeit von der UdSSR, wie Kaiser meint, sondern die grundsätzlich gleiche Systemgestaltung und die damit verbundenen Defizite machten es für die DDR letztlich erforderlich, auf die Bedingungen der östlichen Vormacht einzugehen. Vgl. Kaiser, Machtwechsel, S. 103.
4 5
Niederschrift über das Gespräch ... Stoph mit... Kossygin, 3.3.65, SAPMO-BA DY30 J IV 2/202/34. Vgl. Breshnew im Rückblick in: Protokoll einer Unterredung zwischen L.I.Breshnew und Erich Honecker am 28.7.70, in: P. Przybylski, Tatort Politbüro. Die Akte Honecker, Berlin 1991, S. 287.
6
Mittag an Ulbricht, 5.9.64: Bericht über die Delegation der KPdSU zum Studium des NÖS ..., SAPMO-BA DY30 J IV 2/202/339; Ministerium für Auswärtige Angelegenheiten: Zu den Veränderungen in der Führung der Sowjetunion, 2.11.64, SAPMO-BA DY30 IV A2/2021/75; Sektor Finanzen: Vermerk über eine
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gängers, der zähneknirschend zugestimmt hatte. Er sah 1966 im Gespräch mit Ulbricht die Reform als "innere Sache" der DDR und fugte einem SED-Protokoll zufolge hinzu: "Es ist jedoch wünschenswert, daß dabei keine Fehler zugelassen werden."' Da die DDR-Führung hier offenbar über einen Spielraum verfugte, solange sie bestimmte Systemprämissen nicht in Frage stellte, und das war nicht zu erkennen, verfolgte die Sowjetunion mit ihrem Beharren auf die eigenen wirtschaftlichen Interessen auch nicht die Absicht, die Wirtschaftsreform in der D D R zu unterminieren. Um die inhaltlichen Grundfragen für den Perspektivplan bis 1970 zu klären, hatte die SPK Ende 1963 beschlossen, für 18 Branchen sowie 122 Erzeugnisse und Erzeugnisgruppen aus dem Bereich der Industrie und der Bauwirtschaft, denen eine besondere volkswirtschaftliche Bedeutung beigemessen wurde, Programme bzw. wissenschaftlich-technische Konzeptionen (WTK) zu erarbeiten. Dabei sollte strukturpolitisch der zweckmäßigste Einsatz der Investitionsmittel und die Produktionssteigerung exportfähiger Erzeugnisse in den Mittelpunkt gestellt werden. 2 Ausgehend von Marktanalysen und dem Vergleich der eigenen Erzeugnisse mit dem Weltstand hatten die W T K die technischen und ökonomischen Entwicklungsziele, die erforderlichen Investitionen und Produktionskapazitäten sowie Entwicklungsanforderungen an andere Bereiche zu bestimmen. 3 Im Verlaufe der Planausarbeitung erhöhte sich die Zahl der als besonders wichtig erachteten Branchen und Bereiche, für die solche Programme ausgearbeitet wurden, auf ca. 30. Anfang 1965 lagen etwa 100 W T K für Erzeugnisse bzw. Erzeugnisgruppen vor, die Apel zufolge von 20.000 bis 30.000 Mitarbeitern aller Leitungsebenen, Wissenschaftlern und Ingenieuren erarbeitet worden waren. 4 Da bei der branchen- und erzeugnisbezogenen Schwerpunktsetzung territoriale Probleme, insbesondere bei den Arbeitskräften und den meist örtlich gebundenen Baukapazitäten für Investitionen, abzusehen waren, sollten außerdem Programme für besonders beanspruchte Wirtschaftsgebiete (Schwedt, Halle-Merseburg-Bitterfeld, Hoyerswerda-Weißwasser, Eisenhüttenstadt-Frankfurt/O., Borna-Altenburg und Rostock) erarbeitet werden, mit denen die dortigen Ressourcen für die Branchenprogramme koordiniert werden sollten. 5 Es zeigte sich bereits hier, daß das Setzen von Schwerpunkten
1 2 3 4
Aussprache mit Gen. Senin, Mitarbeiter im ZK der KPdSU, 8.12.64, SAPMO-BA DY30 IV A2/2021/697; Abt. Planung und Finanzen: Zusammenfassung über die Weiterentwicklung und den Stand des Systems der Planung und Leitung der Volkswirtschaft in den sozialistischen Ländern Europas ..., 10.5.65, SAPMOBA DY30IV A2/2021/82. Aufzeichnungen über das Gespräch zwischen Gen. Ulbricht und L.I.Breshnew im ZK der KPdSU in Moskau am 10.9.66, SAPMO-BA DY30 J IV 2/202/344. SPK: Beschluß über die Aufgaben und Organisation bei der weiteren Ausarbeitung der Direktive und der Orientierungsziffern des Perspektivplans bis 1970, 29.11.63, SAPMO-BA DY30 IV A2/2021/249. VWR: Bericht über die bisherige Durchführung des NÖSPL ..., [8.1.64], BA DE4-S/8-1-64. HA Perspektivplanung: Information über den gegenwärtigen Stand der Arbeiten an der Konzeption des Perspektivplans ..., 6.4.64, BA DE1/48972; Rede Erich Apels auf der Beratung der Kommission des Politbüros des ZK der SED und des Ministerrates der DDR zur Ausarbeitung des Perspektivplans bis 1970 am 2.7.64, BA DE 1/47444; Abt. Planung und Finanzen an Mittag: SPK: Übersicht über Programme, WTK ..., 26.1.65, SAPMO-BA DY30 IV A2/2021/252.
5 Ökonomische Kommission beim PMR: Ausarbeitung von Programmen zur Entwicklung von Wirtschafts-
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mit vorrangiger Ressourcenzuteilung im Zuge des Planbargainings dazu führte, immer weitere Prioritäten zu fixieren. Da deren Ressourcenbeanspruchung punktuell kumulierte, mußten zur Koordination neue Lenkungsinstrumente, wie die Programme für Wirtschaftsgebiete, geschaffen werden. Die angeführten Dokumente lagen der Direktive und den Orientierungsziffern für den Perspektivplan bis 1970 zugrunde, die die SPK bis Mitte 1964 vorbereitete und auf deren Basis die VVB und Betriebe ihre Perspektivpläne ausarbeiten sollten. Beim Fertigstellen der Direktive bereiteten schon die sowjetischen Lieferkürzungen Probleme. Aber schwerer wog die Vorgabe bei den Programmen und WTK vom voraussichtlich in 15 bis 20 Jahren erreichten wissenschaftlichen und technischen Entwicklungsstand auszugehen. Sie hatte zur Folge, daß bereits die von den Schwerpunktbranchen geforderten Investitionen die volkswirtschaftlichen Möglichkeiten voll ausschöpften. Für die anderen Bereiche hätte es so keinen Investitionsspielraum mehr gegeben. Auch die Reserven, die für einen Perspektivplan unabdingbar waren, "um den Erfordernissen des Marktes Rechnung tragen zu können", blieben minimal. 1 Gleichzeitig lehnte es Ulbricht ab, für einen schnellen Strukturwandel im Plan von vornherein Disproportionen in Kauf zu nehmen. Andere sahen dies offenbar anders, denn vor der Perspektivplankommission stellte Ulbricht im Juli 1964 fest, "daß nur ein kleiner Teil der Mitwirkenden - das ist die Spitze der Parteiführung, das sind die (Leitung der A.S.) Plankommission und das Präsidium des Ministerrates - vom Standpunkt der Wahrung der Gesamtinteressen an den Perspektivplan herangeht und auf die Einhaltung der Bilanzproportionen drückt." 2 Sehr oft wurden die Investitionsvorschläge ohne exakte Nutzenberechnungen und Vergleiche mit internationalen Parametern bei ähnlichen Projekten eingereicht, was nur teilweise darauf zurückzuführen war, daß sich die "Kader" nicht auf das "neue ökonomische System" einstellten, sondern vielmehr damit zusammenhing, daß die entsprechenden wirtschaftlichen Anreize noch nicht wirksam waren. 3 Gewissermaßen "natürlich" vertraten die Betriebe und VVB, aber auch die Branchenabteilungen im VWR und der SPK "einseitig" - wie es der ZK-Apparat formulierte - ihre Zweig- und Ressortinteressen. 4 Schließlich war die Artikulation (freilich auch der Ausgleich) spezifischer Interessen j a eines der Ziele der Reform. Jedoch sollten diese Partikularinteressen eigentlich durch entsprechende Rahmenvorgaben in die zentral erwünschte Richtung gelenkt werden. Daher waren Appelle an das "volkswirtschaftliche Bewußtsein" lediglich Ausdruck der Hilflosigkeit angesichts einer Situation, in der der neue Mechanismus (noch) nicht und der alte nicht mehr wie bisher funktionierte. Diese Rahmenvorgaben sollten mit dem sich gerade in der Erarbeitung befindenden Perspektivplan
gebieten, 10.7.64, SAPMO-BA DY30 IV A2/2021/235. 1 Sektor Planung: Disposition für ein Material zu Fragen des Perspektivplans, 23.6.64, SAPMO-BA DY30 IV A2/2021/446. 2
Rede Walter Ulbrichts auf der Beratung der Kommission des Politbüros des ZK der SED und des Ministerrates der DDR zur Ausarbeitung des Perspektivplans bis 1970 am 2.7.64, BA DE1/47444.
3 4
Vgl. das vierte Kapitel. Sektor Planung: Disposition für ein Material zu Fragen des Perspektivplans, 23.6.64, SAPMO-BA DY30 IV A2/2021/446.
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abgesteckt werden. Außerdem waren wirtschaftliche Anreize fiir die VVB und Betriebe so zu setzen, daß diese sich in der erwarteten Weise verhielten. Aber damit hatte man erst begonnen. An die vorgesehene "Eigenerwirtschaftung der Mittel fiir die erweiterte Reproduktion" war schon wegen der Preisgestaltung noch nicht zu denken. 1 Daher schlugen die Betriebe und VVB für den Plan immer mehr Investitionen, aber auch technische Entwicklungsaufgaben vor und forderten die entsprechenden finanziellen Mittel. Letztlich blieb es weiter Sache der zentralen Wirtschaftsinstanzen respektive der Parteispitze zu entscheiden, was entwickelt, nicht weitergeführt oder eingestellt werden sollte. Und das fiel ihnen, wie Apel gestand, nicht leicht. 2 Viele der Vorschläge waren sowohl unter wirtschaftlichen als auch politischen Aspekten berechtigt und über eindeutige Entscheidungskriterien verfügte man auf beiden Gebieten nicht, obwohl man meinte, dafür kompetent zu sein. Während die VVB, Bezirkswirtschaftsräte und Betriebe vom Herbst 1964 bis zum Frühjahr 1965 auf der Basis der von der SPK vorgegebenen Orientierungsziffern ihren Perspektivplan ausarbeiteten, befaßten sich die zentralen Wirtschaftsinstanzen, um die Richtung des Strukturwandels festzulegen, weiter mit den Programmen für die wichtigen Branchen und die VVB mit den WTK für die hervorgehobenen Erzeugnisse und Erzeugnisgruppen. Diese Unterlagen sollten zwar die Aufgaben, die dem technologischen Wandel dienten, unmittelbar mit technisch-wirtschaftlichen Vorgaben verbinden. 3 Aber die Verantwortlichen meinten offenbar, da ihre Branche oder ihr Erzeugnis mit der Ausarbeitung eines solchen Programms bzw. einer WTK bereits als Schwerpunkt anerkannt war, den erforderlichen Aufwand für die Vorhaben möglichst hoch ansetzen zu können. Dazu kamen weitere Projekte, die entweder von zentralen Wirtschaftsinstanzen oder den Wirtschaftseinheiten als wichtig und zusätzlich in den Plan aufzunehmen erachtet wurden, so daß auch aus diesen Gründen die im Plan konzipierten Investitionen ständig anstiegen. 4 Außerdem zeigte sich im Frühjahr 1965, daß neben den angeführten Schwierigkeiten, die Verflechtungsbeziehungen zu beherrschen, die Vorleistungsbereiche unterschätzt worden waren, für die man nun im Perspektivplan ebenfalls mehr Mittel vorsehen mußte. Nicht zuletzt wurden zur gleichen Zeit - wie gesehen - die außenwirtschaftliche Perspektiven ungünstiger. Alles in allem war es für die SPK außerordentlich kompliziert, ausgeglichene Pläne fertigzustellen. Schürer gestand im Ministerrat im März 1965, daß die Planbehörde "riesige Probleme (hatte), die perspektivische Grundlinie herauszuarbeiten, weil wir viel zu sehr, den einzelnen Positionen des Jahresplanes hinterherrennen müssen". 5
1 Vgl. das zweite und vierte Kapitel. 2
Rede Erich Apels auf der Beratung der Kommission des Politbüros des ZK der SED und des Ministerrates der DDR zur Ausarbeitung des Perspektivplans bis 1970 am 2.7.64, BA DE1/47444.
3
Abt. Grundsatzfragen der Planmethodik: Information über die wichtigsten Festlegungen in der Methodik zur Ausarbeitung des Perspektivplans bis 1970 ..., 10.10.64, BA DE1/47566; [SPK:] Methodische Grundsätze fiir die Ausarbeitung und Anwendung von technisch und ökonomisch begründeten sowie vorläufigen Normativen, 9.9.64, BA DE1/48273.
4 5
Vgl. das vierte Kapitel. SPK: Information zu einigen Grundfragen der ökonomischen Entwicklung ..., 6.3.65, SAPMO-BA DY30 IV A2/2021/252; Stenographische Niederschrift: Sitzung des Ministerrates am 25.3.65, BA DC20-I/3-478.
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Im Perspektivplanprojekt, das im Sommer 1965 vorlag, überstiegen die vorgesehenen Investitionen trotz eines "eingeplanten" Zahlungsbilanzdefizits von 1,5 Mrd. Mark die Möglichkeiten der DDR um 10 bis 12 Mrd. Mark, was etwa der Hälfte der Jahresinvestitionen in der Volkswirtschaft entsprach. 1 Wegen der Bedeutung des Perspektivplanes wurde Ulbricht - wohl von Mittag dazu veranlaßt - in dieser Sache selbst aktiv. Er lud Stoph, Apel, Mittag, den Landwirtschaftsverantwortlichen im Politbüro Gerhard Grüneberg, Schürer, Berger, Böhm und den 1 .stellvertretenden V W R Vorsitzenden Hans Wittik flir den 8./9. Juli 1965 zu einer internen Beratung in sein Urlaubsdomizil auf der für die Öffentlichkeit gesperrten Ostseeinsel Vilm. 2 Dort wurde vor allem die Arbeit der SPK am Perspektivplan massiv kritisiert. Dabei spielte das Grundproblem, daß bestimmte Reformschritte wegen der etappenweisen Industriepreisreform noch nicht wirksam sein konnten, offenbar keine Rolle. Aber vor allem deshalb waren die Investitionsforderungen der Wirtschaftseinheiten im Perspektivplanentwurf mit den volkswirtschaftlichen Möglichkeiten nicht ins Gleichgewicht zu bringen. Insofern hatte die SPK durchaus folgerichtig gehandelt, als sie die Problemfragen und "Bilanzentscheidungen" an sich zog. Das aber stand auf Vilm im Mittelpunkt der Kritik, weil sie damit die Eigenständigkeit der VVB und Betriebe eingeschränkt habe und nicht entsprechend dem Geist des "Neuen ökonomischen Systems" vorgegangen sei. Dabei wollten Mittag und Ulbricht offenbar nicht sehen, daß gerade die von der Parteispitze beschlossene Ausarbeitung von Programmen und WTK für ausgewählte Entwicklungsschwerpunkte dazu geführt hatte, daß sich Diskrepanzen zwischen Forderungen und Möglichkeiten auftaten. Derartige Prioritäten festzulegen, was er auch persönlich gefordert hatte, fand Ulbricht - wie er im Politbüro betonte - unter den gegebenen Bedingungen richtig. 3 Den Perspektivplan konnte die SPK aber frühestens bei größerer Eigenständigkeit der Wirtschaftseinheiten in ein volkswirtschaftliches Gleichgewicht bringen, wenn der angestrebte Lenkungsmechanismus insgesamt in Kraft war. Für seine schrittweise Realisierung, die Verzögerungen und Widerstände auf allen Ebenen war die SPK allein nicht verantwortlich zu machen.
1 Protokoll der lO.Sitzung des Ministerrates am 29.7.65, BA DC20-I/3-483. 2 Mittag an Ulbricht, 1.7.65, SAPMO-BA NY4182/972. Dem Gespräch Ulbrichts mit dem Generaldirektor der VVB Schiffbau, in dem dieser auf die praktischen Schwierigkeiten bei der Reformumsetzung hinwies, kam flir diese Initiative entgegen der Auffassung von Kaiser nur zweitrangige Bedeutung zu, wie noch zu sehen sein wird. Vgl. Kaiser, Machtwechsel, S. 82. Wolf meinte später Apel - als der entscheidende Reformprotagonist - hätte an dieser Beratung nicht teilgenommen. (Wolf, Hatte die DDR je eine Chance?, S. 24) Apel wurde jedoch eingeladen. Es liegen zwar keine Dokumente über den Verlauf und Inhalt dieser Beratung selbst vor. Aber für die anschließende Politbüroberatung, in der diese Zusammenkunft erläutert wurde, kann auf eine Mitschrift der Diskussion zurückgegriffen werden. Die dort dokumentierten Äußerungen Apels lassen erkennen, daß er bei der Beratung auf Vilm anwesend war. (Niederschrift über die Auswertung der Perspektivplanberatung in Vilm am 13.7.65 im Politbüro, SAPMO-BA DY30 IV A2/2021/446) Die Anwesenheit Apels auf Vilm wurde kürzlich von Schürer bestätigt, der dort aber außerdem Honecker getroffen haben will. (Schürer, Gewagt und verloren, S. 58) 3
Vgl. die Äußerungen Ulbrichts in: Niederschrift über die Auswertung der Perspektivplanberatung in Vilm am 13.7.65 im Politbüro, SAPMO-BA DY30 IV A2/202I/446.
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Entwicklung und Implementation
der Reform
Zeitzeugen berichten übereinstimmend, daß sich Mittag auf Vilm bei der Kritik an der SPK besonders hervortat.' Was Mittag und Ulbricht dazu bewog, die SPK und damit zwangsläufig deren Chef derart frontal anzugreifen, läßt sich nur vermuten. Beide waren zu dieser Zeit ebenso wie der attackierte Apel zu den Reformern zu zählen. Möglicherweise war es ihre Sorge um das Schicksal der Reform und sie sahen die Fertigstellung des für sie eminent wichtigen Perspektivplanes ernsthaft gefährdet. Vielleicht hatten sie auch den Eindruck, daß sich die SPK und ihr Vorsitzender in zahllosen Detailfragen aufrieb, ohne den Grundsatzproblemen ausreichend Aufmerksamkeit zu widmen. Darunter hatte nach Ulbricht "die Autorität der Staatsführung gelitten". 2 Deshalb sollten diese Schwierigkeiten mit einem "Befreiungsschlag" gelöst und die SPK mit Apel an der Spitze gezwungen werden, sich stärker den prinzipiellen Fragen und der Weiterführung der Reform zu widmen. Dabei gingen Mittag und Ulbricht wohl davon aus, daß öffentliches Ansehen und Stellung ebenso wie die Persönlichkeit von Apel so gefestigt seien, daß er eine scharfe Kritik verkraften würde. Für Ulbricht galt in diesem Kontext: "Dabei nehmen wir überhaupt keine Rücksicht auf Gefühle oder bestimmte Meinungen, egal, bei wem sie auftreten." 3 Vermutlich wollte Mittag mit diesem Vorstoß auch seine Position verbessern, ohne Apel völlig zu verdrängen, denn das Zusammenspiel beider hatte sich bis dahin im großen und ganzen bewährt. Der Machtpolitiker Ulbricht könnte das genutzt haben, um auf diese Weise beide von sich abhängig zu halten. Die tatsächlichen Folgen ihres Vorgehens haben Mittag und Ulbricht wahrscheinlich so weder vorausgesehen noch gewollt. Immerhin begann auf Vilm für Apel eine Entwicklung, die zu seinem Ende führte. Bis dahin war er - wie sein damaliger Stellvertreter und späterer Nachfolger mitteilte - Erfolge und die Anerkennung Ulbrichts gewohnt und so war dieser "selbst sehr rauhe, oft ungerechte und dennoch sensible Mensch von der Kritik in tiefster Seele getroffen". 4 Darüber hinaus untergrub der Angriff auf Apel - wohl eher ungewollt - die Position der Reformer, deren Leitfiguren in der Öffentlichkeit neben Ulbricht vor allem Apel und Mittag waren. Da Apels Stellung intern schon seit dem Frühjahr 1965 angeschlagen war, ermunterte dies die Reformskeptiker geradezu. Zum anderen wurde mit dem Beschluß des Politbüros nach der Beratung auf Vilm der Grundstein für eine Entwicklung gelegt, die das Reformkonzept prinzipiell verändern sollte. Nun war der Strukturwandel im Perspektivplan dadurch zu gewährleisten, daß die Planung auf die Produktion weltmarktfähiger Haupterzeugnisse und Erzeugnisgruppen bei gleichzeitiger Wahrung der intraindustriellen Verflechtungen konzentriert werden sollte. Der Vorschlag zu diesem Teil des Beschlusses kam aus dem ZKApparat und dürfte von Mittag initiiert worden sein. 5 Allerdings erforderte seine Umsetzung um-
1 Schürer, Gewagt und verloren, S. 58; Wolf, Hatte die DDR je eine Chance?, S. 24. 2
Niederschrift über die Auswertung der Perspektivplanberatung in Vilm am 13.7.65 im Politbüro, SAPMOBA DY30 IV A2/2021/446.
3
Ebenda.
4
Schürer, Gewagt und verloren, S. 58. Vgl. auch den Bericht eines ZK-Abteilungsleiters: C.-H. Janson, Totengräber der DDR. Wie Günter Mittag den SED-Staat ruinierte, Düsseldorf u.a. 1991, S. 53.
5
Beschluß des Politbüros zum Perspektivplan bis 1970: Protokoll der Politbürositzung am 13.7.65. Anlage 2, Abt. Planung und Finanzen an Ulbricht, 13.7.65, SAPMO-BA DY30 J IV 2/2A/1105. Dagegen
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fangreiche Vorarbeiten und eine Antwort auf die in diesem Zusammenhang entscheidende Frage, wer anhand welcher Kriterien über die als Ausgangspunkt der Planung anzusetzenden Erzeugnisse entscheiden solle.
Zuspitzung der Probleme in der zweiten Jahreshälfte 1965 Die SPK stand nun vor einer kaum zu bewältigenden Aufgabe. Ohne noch einmal neue "Planrunden" und "Plandiskussionen", also den gesamten Abstimmungsprozeß zu organisieren, sollte sie einen ausgeglichenen und konsistenten Perspektivplan vorlegen, der den strukturpolitischen Erfordernissen gerecht zu werden hatte, obwohl die langfristigen Außenhandelsabkommen mit den RGW-Ländern und vor allem der Sowjetunion nicht vollständig ausgehandelt, die außenwirtschaftlichen Rahmenbedingungen also zum Teil noch offen waren. Angesichts des Drucks, unter dem die SPK stand, war die Unsicherheit und Nervosität, die bei der SPK-Leitung einschließlich Apel registriert wurde, ebenso verständlich wie deren Versuch, bei Entscheidungen die Meinung von Vertretern des ZK-Apparats zu übernehmen und sich so "Rückendeckung" zu verschaffen. 1 Eigens gebildete 48 Arbeitsgruppen mit Vertretern der zentralen Wirtschaftsinstanzen, der V V B und Betriebe sowie Wissenschaftlern beschäftigten sich mit den wesentlichen Erzeugnisbereichen und Uberarbeiteten die Perspektivplanentwürfe für die verschiedenen Gebiete. Dabei bezweifelten viele Mitarbeiter von Anfang an, daß man die Probleme - noch dazu unter Zeitdruck - lösen könne. Nicht wenige meinten, man solle die Konsistenz des Planentwurfs durch das "Herunterbilanzieren" der Wachstumsziele erreichen. Da die Gruppen isoliert voneinander arbeiteten, gelang es nicht die Verflechtungen
im Planentwurf besser zu berücksichtigen. Teils fand man für die Vorhaben effektivere
Lösungen und sparte so Investitionsmittel ein, teils wurden Projekte ganz oder partiell gestrichen, was wiederum Fragen für den vorgesehenen Produktionszuwachs aufwarf. Insgesamt forderten die Arbeitsgruppen meist jedoch nach wie vor mehr Investitionen und Arbeitskräfte und wollten die Exportleistungen reduzieren. Alle nachgeordneten Ebenen einschließlich der Branchenabteilungen der SPK wollten im Perspektivplan Reserven unterbringen. Alles in allem: Auf diese Art war einem ausgeglichenen und den künftigen Strukturwandel fundierenden Perspektivplan nicht wesentlich näher zu kommen. 2
schreibt Kaiser ohne näheren Beleg die Anregung zu diesem Beschlußteil Apel zu, der aber zu dieser Zeit keinen unmittelbaren Zugriff auf die ZK-Abteilung hatte. Vgl. Kaiser, Machtwechsel, S. 82. Zu weiteren Einzelheiten des Beschlusses und seinen Konsequenzen siehe das vierte Kapitel. 1 Abt. Planung und Finanzen: Information über die weitere Arbeit zur Verwirklichung des Beschlusses des Politbüros vom 13.7.65, 3.8.65, SAPMO-BA DY30 IV A2/2021/252. 2 Abt. Planung und Finanzen: Information über die Arbeit am Perspektivplan entsprechend dem Beschluß des Politbüros vom 13.7.65, 27.8.65, SAPMO-BA DY30 IV A2/2021/453; SED-Parteiorganisation SPK: Information zur Durchführung der Beschlüsse des Politbüros ..., 1.10.65, SAPMO-BA NY4182/973. Siehe einige Berichte über die Beratung der Ergebnisse der Arbeitsgruppen in der SPK-Leitung in der ersten Septemberhälfte 1965 in: SAPMO-BA DY30 IV A2/2021/453.
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Entwicklung und Implementation der Reform
Die Versuche, den Perspektivplan von "oben" in ein Gleichgewicht zu bringen, blieben in den Betrieben und bei den Beschäftigten nicht unbemerkt. Dort debattierte man inzwischen über den Sinn und die Möglichkeiten, einen langfristigen Plan zu erarbeiten. Nach einem Bericht zur Plandiskussion war dort die Meinung verbreitet, "daß zwar viel Kraft zur Ausarbeitung des Perspektivplans aufgewandt wurde, jedoch unklar ist, welche Variante z.Z. gilt und wann die nächste Variante ausgearbeitet wird." Darüber hinaus zeigte sich, daß das Führungspersonal sehr oft die Mitwirkung der Beschäftigten an der Planausarbeitung vernachlässigte. Das war nur ein Indiz für die kaum erhöhte Partizipation der Beschäftigten an den Wirtschaftsprozessen, mit der der offizielle Anspruch v o m "Arbeiter-und-Bauern-Staat" eingelöst werden sollte. Gleichzeitig stellten die Beschäftigten zunehmend soziale Forderungen, wie die Einführung der 5-Tage-Woche, Erhöhung des Grundurlaubs und der Löhne und Renten, wobei die eigene Situation stark mit der in der Bundesrepublik verglichen wurde. Dafür bereitete man vereinzelt auch Demonstrationen vor. Insgesamt wurde die Schere zwischen Anspruch und Wirklichkeit in der Wirtschaft aber auch in der Politik wieder stärker reflektiert ("Wahlrummel: jeder muß wählen, was ihr wollt. In Westdeutschland kann jeder wählen, was er will."). 1 Offenbar wich die anfanglich vorsichtige Zustimmung der Beschäftigten zu dem Reformkonzept nun vollends der schon von Anfang an mitschwingenden Skepsis. Sie forderten die Erfüllung der Versprechen ein, daß mit der Reform die Wirtschaft besser funktionieren und sich damit ihre persönliche Lebenslage verbessern werde. Als die Ergebnisse der Wirtschaftsverhandlungen mit der Sowjetunion schließlich im September 1965 aus Sicht der DDR vergleichsweise ungünstig ausgefallen waren, wandte sich die ZK-Abteilung Planung und Finanzen "gegen alle Tendenzen der Panikmacherei und eines Zweckpessimismus", die sich offenbar in der Wirtschaftsbürokratie ausbreiteten. Es dürften nicht alle Probleme und Schwierigkeiten auf das Resultat dieser Beratungen geschoben werden und es seien die eigenen Kräfte und Möglichkeiten zu überprüfen, um einen Plan für 1966 vorzulegen und möglichst schnell den Perspektivplan fertigzustellen, schließlich war er einer der "tragenden Pfeiler" des Reformkonzeptes. 2 Jedoch mußte die SPK Ende November 1965 konstatieren, daß sie für den Zeitraum bis 1970 bisher weder ein Konzept für die Verteilung der Investitionen noch für die Entwicklung und Struktur des Außenhandels hatte. Auf der anderen Seite sah die SPK-Leitung kaum noch Möglichkeiten, prinzipiell etwas an den bisherigen Planungen zu ändern. Formal wurde die Wirtschaft bereits seit 1964 nach diesem Perspektivplan gelenkt, dessen grobe Umrisse auf dem VI.SED-Parteitag im Januar 1963 präsentiert worden waren. Zum einen fühlte man sich durch die Publizität dieser
1 VWR: 2.Information der Leitung und Probleme bei der Ausarbeitung des Planvorschlags 1966, 14.8.65, BA DE4-S/18-8-65. Vgl. zu den Arbeitszeitforderungen: P. Hübner, Konsens, Konflikt und Kompromiß. Soziale Arbeiterinteressen und Sozialpolitik in der SBZ/DDR 1945-1970, Berlin 1995, S. 120ff. Zur Partizipation siehe das dritte Kapitel. 2 Abt. Planung und Finanzen: Zu einigen Problemen der Erhöhung der Effektivität der Volkswirtschaft der DDR, 30.9.65, SAPMO-BA DY30IV A2/2021/671; Beschluß des Politbüros zur Ausarbeitung des Volkswirtschaftsplanes 1966 und des Perspektivplanes bis 1970: Protokoll der Politbürositzung am 12.10.65. Anlage 1, SAPMO-BA DY30 J IV 2/2A/1119.
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Vorgaben gebunden. Zum anderen aber lagen diese groben Planvorstellungen bereits der Wirtschaftstätigkeit 1964/65 zugrunde, ohne daß diese j e "ausbilanziert" waren. Entsprechend dieser ursprünglichen Konzeption waren Investitionen begonnen und Außenhandelsvereinbarungen abgeschlossen worden und damit Apel und Schürer zufolge "die Beweglichkeit des Perspektivplanes stark eingeschränkt". 1 Die auf dem Parteitag vorgestellten Wachstumsraten des produzierten Nationaleinkommens waren mit dem bisherigen Plan nicht zu erreichen. Der durchschnittliche jährliche Zuwachs im Perspektivplanzeitraum lag nach den Berechnungen zum Parteitag bei 4,9 % und nach dem nun vorliegenden Entwurf bei 4,7 %. Darüber hinaus bestand nach wie vor ein beträchtliches Außenhandelsdefizit und bei den Investitionen gab es noch immer Mehrforderungen von etwa 2 Mrd. Mark, was der Hälfte der vorgesehenen Investitionsreserve entsprach. Besonders kritisch war aber, daß diese Vorstellungen noch nicht die Auswirkungen der zentral vorgenommenen Investitionsreduzierungen in den Verflechtungen berücksichtigten. 2 Die Grundzüge dieses Perspektivplanentwurfes waren Anfang Dezember 1965 dem Politbüro vorzulegen. Die ZK-Abteilungen meinten, daß die Diskrepanz zwischen den Investitionserfordernissen und den Möglichkeiten in erster Linie durch eine höhere Wachstumsrate des Produkts gelöst werden könne. Jedoch war nach ihrer Ansicht auch die Struktur und die Effizienz der Investitionen zu verbessern, wobei sie darauf verwiesen, daß die Kategorien des Aufkommens und der Verwendung, wie Gewinn und Investitionen, Produktivität und Einkommen, Export und Import direkt voneinander abhängig zu machen seien. Darüber hinaus wurde die SPK vom Parteiapparat heftig kritisiert, weil sie Uber "keine auf die Erhöhung der Effektivität der Volkswirtschaft gerichtete ökonomisch begründete Konzeption für die strukturelle Gestaltung der Wirtschaft" verfüge. Die ZK-Abteilungen forderten, nun endlich die "komplexe Planung und Bilanzierung zur Erhöhung der Produktion von weltmarktfähigen Haupterzeugnissen und Erzeugnisgruppen" durchzusetzen. Dazu sollten sowohl die Mittel für Wissenschaft und Technik als auch die Investitionen auf "das volkswirtschaftlich Nützliche und das ökonomisch Günstigste" konzentriert werden, um vor allem "weltmarktfähige Spitzenerzeugnisse mit hoher Devisenrentabilität" hervorzubringen. 3 In der Politbürositzung am 2. Dezember 1965 spielte diese Kritik an der Arbeit der SPK eine große Rolle. 4 Insbesondere die dem Perspektivplanentwurf zugrunde gelegten Zuwachsraten und die durch ungenügende Investitionseffektivität verursachten Diskrepanzen standen wohl im Mittelpunkt. Daher betonte Schürer später, daß sich die ursprüngliche (von Apel beeinflußte) Direktive
1 Abt. Planung und Finanzen: Information über eine Beratung der Stellvertreter des Vorsitzenden der SPK vom 20.11.65 ..., 22.11.65, SAPMO-BA DY30 IV A2/2021/252. 2 Apel: Politbürovorlage. Einige grundsätzliche Probleme zur Fertigstellung des Perspektivplanprojektes, 26.11.65, SAPMO-BA DY30 J IV 2/2A/1130. 3 Abt. Planung und Finanzen, Handel, Versorgung und Außenhandel, Maschinenbau und Metallurgie, Bauwesen: Stellungnahme zur Vorlage "Einige grundsätzliche Probleme ...", 30.11.65, SAPMO-BA DY30 J IV 2/2A/1130. Kaiser zitiert aus Apels Vorlage und dieser Stellungnahme ausführlich: Kaiser, Machtwechsel, S. 113-116. 4 Vgl. zum folgenden: Protokoll der Politbürositzung am 2.12.65, SAPMO-BA DY30 J IV 2/2A/1128. Siehe die freilich teilweise spekulative Schilderung in: Kaiser, Machtwechsel, S. 116f.
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Entwicklung und Implementation der Reform
zur Ausarbeitung des Perspektivplans als ungenügend effektiv und nicht bilanzierbar erwiesen habe. Jetzt rechne man mit höheren durchschnittlichen jährlichen Zuwachsraten des produzierten Nationaleinkommens bis 1970 von 5,2 %. Dies sei "realistischer", weil damit der Plan letztlich bilanziere. 1 Unbeantwortet blieb aber die Frage, ob ein solches Wachstum von den Betrieben tatsächlich erbracht werden konnte. Darüber hinaus wurde in der Politbüroberatung der Plan für 1966 behandelt. Auch dazu lag schriftlich eine massive Kritik der ZK-Abteilungen vor, da der Planentwurf auf verschiedenen Gebieten "erhebliche Unsicherheitsfaktoren" enthalte. Im Zentrum stand, daß die Aufkommen-Verwendungs-Bilanzen für entscheidende Güter große Defizite aufwiesen, obwohl sich bereits im Jahr 1965 gezeigt habe, daß die Verflechtungsbeziehungen vollkommen unzureichend beherrscht wurden. Die SPK versuchte, mit administrativen Auflagen solche Defizite zu beseitigen, was aber an anderen Stellen neue Löcher aufriß und die Realisierbarkeit des Planes in Frage stellte. 2 Außerdem ließ Rumpf die Gelegenheit nicht aus, in seiner Vorlage zum Staatshaushalt an verschiedenen Stellen gegen die SPK zu sticheln. Das MdF hatte einige Planänderungen der SPK im Staatshaushalt nicht berücksichtigt und auf diese Weise ein Defizit ausgewiesen, wofür wiederum die SPK verantwortlich gemacht wurde. 3 Zwar wehrte sich Apel dagegen bereits im Vorfeld dieser Politbürositzung, aber insgesamt kam er dort auf seinem ureigensten Gebiet, der Planung, stark unter Druck. Außerdem dürfte Mittag Apel kurz vor dieser Beratung heftigst wegen eines Vorfalls in der SPK-Leitung gerügt haben. Als diese Ende November die Politbürovorlage zum Perspektivplan beriet, hatten angesichts der ausweglos erscheinenden Lage mehrere Stellvertreter Apels den Vorschlag gemacht, die Vorlage zu "entschärfen" oder anders anzuordnen, "da die Genossen des Politbüros ohnehin nur die ersten 25 Seiten lesen". Dieser Versuch des "Taktierens gegenüber dem Politbüro", dem Apel nicht entgegengetreten sei, wurde Mittag von einem anwesenden ZK-Mitarbeiter sofort hintertragen. 4 Vermutlich kam es darüber zum Streit zwischen beiden. Jedoch dürften die Vorgänge um diese Politbürositzung nur ein Anlaß dafür gewesen sein, daß Apel am folgenden Tag, dem 3. Dezember 1965, seinem Leben ein Ende setzte. Schon vor diesen Kontroversen hatte Apel an Einfluß und Macht verloren. Seit Anfang 1965 leitete Stoph die Sitzungen der Ökonomischen Kommission. In die seit Oktober 1965 laufende Ausar-
1 Schürer in: Stenographische Niederschrift der Sitzung der Perspektivplankommission ... am 14.4.66, SAPMO-BA DY30 IV A2/2021/448. Auf die Wachstumsraten als Streitpunkt wies ein damaliger SPKMitarbeiter hin. (W. Obst, DDR-Wirtschaft. Modell und Wirklichkeit, Hamburg 1973, S. 182f.) 2 Abt. Planung und Finanzen, Grundstoffindustrie, Maschinenbau und Metallurgie, Bauwesen, Handel, Versorgung und Außenhandel: Stellungnahme zur Vorlage Volkswirtschaftsplan und Staatshaushaltsplan 1966, 30.11.65, SAPMO-BA DY30 J IV 2/2A/1128. 3 MdF: Gesetz über den Staatshaushaltsplan 1966, SAPMO-BA DY30 J IV 2/2A/1131; Apel an die Mitglieder und Kandidaten des Politbüros, 1.12.65: Information zur Einschätzung und zu den Vorschlägen des Gen. Rumpf..., SAPMO-BA DY30 J IV 2/2A/1128. Vgl. dazu auch: SPK, [Halbritter]: Information für Gen. Dr.Apel über Probleme der Bilanzierung des Staatshaushalts- und Kreditplanes 1966, 24.11.65; SPK, Meier: Information für den Vorsitzenden der SPK, Kollegen Dr.Apel, 30.11.65, BA DE1/45339. 4 Abt. Planung und Finanzen: Information über eine Beratung der Stellvertreter des Vorsitzenden der SPK vom 20.11.65 ..., 22.11.65, SAPMO-BA DY30 IV A2/2021/252.
Das "Neue Ökonomische System der Planung und Leitung der
Volkswirtschaft"
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beitung jener Schritte, mit denen - wie noch zu sehen sein wird - die Institutionen des Lenkungsund Koordinationsmechanismus reorganisiert werden sollten, war Apel ebenfalls nicht unmittelbar einbezogen. An den Verhandlungen über das langfristige Handelsabkommen mit der Sowjetunion wurde er anscheinend seit dem Herbst 1965 nicht mehr beteiligt. Als SPK-Chef hatte er zwar die Verhandlungsgrundlagen vorzubereiten und zu verantworten. Aber als die SED-Spitze unter Ulbrichts Leitung im September 1965 in Moskau weilte und die Absprachen für dieses Abkommen traf, mußte Apel früher abreisen. 1 Der Delegation, die die Vereinbarungen dann im Detail aushandelte, gehörte er nicht an. 2 Als er sich im November 1965 mit seinem sowjetischen Amtskollegen in Moskau traf, war von diesem Abkommen - laut einer Niederschrift - auch keine Rede. 3 Schließlich blieb er von den inoffiziellen Gesprächen mit Breshnew Ende des gleichen Monats in Berlin ausgeschlossen. 4 Ulbricht hatte ihn wohl aus den Verhandlungen zurückgezogen, weil er den sowjetischen Partnern gegenüber "unerschrocken den nationalen Standpunkt vertrat". 5 Weiterhin gerieten die SPK und damit Apel selbst - wie gesehen - seit Jahresanfang im Zusammenhang mit dem Perspektiv- und dem Jahresplan mehrfach ins Kreuzfeuer der Kritik, wobei sich Mittag offenbar besonders exponierte. Die beiden stießen aber auch bei verschiedenen informellen Anlässen aneinander, wie Zeitzeugen berichteten. 6 Schon im Sommer 1965 wirkte Apel, der ansonsten als besonders durchsetzungsfahig beschrieben wurde, unsicher und nervös. 7 Der Machtverlust und die Beobachtung, wie sich Mittag auf seine Kosten profilierte, dürften ihn tatsächlich schwer getroffen haben und hier lagen wohl die entscheidenden Gründe für seinen Freitod. Dazu kam noch, daß er wie damals im Westen spekuliert wurde - möglicherweise den Inhalt des langfristigen Abkommens mit der Sowjetunion wirklich als unvorteilhaft ansah und um die Realisierbarkeit des Perspektivplanes fürchtete. Ebenso spielte möglicherweise die Sorge eine Rolle, seine der SED bekannte Vergangenheit als Raketenspezialist bei Wernher von Braun, wo er auch im Außenlager Dora des KZ Buchenwald tätig war, könnte publik werden. 8
1 Kaiser, Machtwechsel, S. 97. 2
PMR: Beschluß über die Direktive für die Verhandlungen zwischen der DDR und der UdSSR ..., 18.10.65, BA DC20-I/4-1200.
3
[Leiter der Vertretung der SPK in Moskau, Fritzsching:] Niederschrift über die Beratung zwischen den Vorsitzenden der Planungsorgane der DDR und der UdSSR, Gen. Dr.Apel und Gen. Baibakow, am 12.11.65 in Moskau, SAPMO-BA DY30 IV A2/2021/260.
4 5
Kaiser, Machtwechsel, S. 104f. Dies berichtet Mittag bezogen auf das Gespräch von Ulbricht und Apel mit Breshnew im Oktober 1964. (G. Mittag, Um jeden Preis. Im Spannungsfeld zweier Systeme, Berlin u.a. 1991, S. 43) Wolf bestätigte diese Position von Apel. (Wolf, Hatte die DDR je eine Chance?, S. 23)
6
Przybylski, Tatort Politbüro. Band 2, S. 157f. Vgl. Kaiser, Machtwechsel, S. 106f.
7
Abt. Planung und Finanzen: Information über die weitere Arbeit zur Verwirklichung des Beschlusses des Politbüros vom 13.7.65, 3.8.65, SAPMO-BA DY30 IV A2/2021/252.
8
Vgl. zu den Motiven für den Freitod Apels oder einen von Kaiser hochspekulativ in Betracht gezogenen Mord an ihm: Kaiser, Machtwechsel, S. 122-128.
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Entwicklung und Implementation
der Reform
Apels Tod schwächte die Reformprotagonisten im Politbüro erheblich. Mittag verfügte nun allein über die Schlüsselposition für Wirtschaftsfragen in der SED-Spitze. Er war in ausgeprägten Hierarchien (Eisenbahn sowie Gewerkschafts- und Parteiapparat) sozialisiert worden und wurde ebenso wie Apel von Zeitzeugen als energisch bis rücksichtslos gezeichnet 1 , was wahrscheinlich für die Durchsetzung der Reform von "oben" erforderliche Eigenschaften waren. Aber beides erklärt seine Neigung zur Administration, mit der er schließlich entsprechende Tendenzen bei der Reformrealisierung unterstützte. Außerdem führten die Ereignisse des zweiten Halbjahres 1965 dazu, daß sich das Verhältnis zwischen den Reformprotagonisten in der SPK und den ZK-Abteilungen veränderte. Die in der Anfangszeit der Reform entstandene horizontale Kommunikation wich einer Beziehung, die wieder stärker durch die Kontrolle des Parteiapparates geprägt war. Da für die vielfaltigen Schwierigkeiten, die sich im Jahr 1965 gezeigt hatten, vor allem die Veränderungen im Lenkungs- und Koordinationsmechanismus verantwortlich gemacht wurden, verwandelten sich die Reformskeptiker immer in Gegner dieses Wandels. Daher sah es Ulbricht wohl als erforderlich an, auf der 11.ZK-Tagung Mitte Dezember 1965 die Wirtschaftsreform gegen die zu verteidigen, die in ihr vor allem ein Risiko sahen. 2 Wahrscheinlich ebenfalls im Zusammenhang damit, erteilte die Parteispitze auf dieser Tagung, allen Erwartungen auf eine gesellschaftliche Öffnung eine scharfe Absage. Tatsächlich hatte die partielle Lockerung des Herrschaftssystems, die für die Wirtschaft als möglich und notwendig angesehen wurde, - zunächst von der SED vorsichtig gefordert - auch andere gesellschaftliche Bereiche erreicht. Hierin sahen insbesondere die Reformgegner eine Tendenz zur Aufweichung der Macht und wollten offenbar ein Zeichen setzen. Deshalb wurden auf der ZKTagung einige Künstler und Kunstwerke massiv angegriffen. Das war auch als klares Signal an die Öffentlichkeit gedacht, daß die Partei nicht die Absicht habe, ihre Kontrolle der Gesellschaft einzuschränken. 3 Die Rückwirkungen dieser Starrheit im politischen System auf den Wirtschaftsprozeß, der im Interesse seiner Effizienz mehr Partizipation der Wirtschaftseinheiten und Beschäftigten brauchte, wurden nicht gesehen. Bereits bei Reformbeginn hatte man versucht, die wirtschaftlichen Fragen von den politischen abzukoppeln.
Die "zweite Etappe des neuen ökonomischen Systems" Angesichts der Problemkumulation bei den Arbeiten am Perspektiv- und Jahresplan 1966 hatte das Politbüro bereits im Oktober 1965 beschlossen, auf dem ZK-Plenum im Dezember über neue Fragen der Planung und Leitung sowie die Weiterführung der Reform zu beraten. Es wurden zwei Arbeitsgruppen unter Leitung von ZK-Abteilungsleitern eingesetzt, die Vorschläge zur Arbeitsweise von SPK und VWR sowie zur weiteren Entwicklung des NÖS machen sollten. Mit der Formulie-
1 Vgl. u.a. Schürer, Gewagt und verloren, passim. 2
Ulbricht, Zum Neuen Ökonomischen System, S. 669.
3
Vgl. zu den Entwicklungen in verschiedenen gesellschaftlichen Bereichen: Staritz, Geschichte der DDR, S. 239-252. Zu den Hintergründen der Attacken gegen die Künstler, dem Verlauf der ZK-Tagung und ihren Konsequenzen siehe: Kaiser, Machtwechsel, S. 200-231.
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Das "Neue Ökonomische System der Planung und Leitung der Volkswirtschaft"
rung dieses Beschlusses waren Mittag und Honecker, nicht aber Apel beauftragt worden, was auf dessen schwache Position verweist.' Auf der Grundlage dieses Beschlusses entstanden die am 30. November 1965 vom Politbüro angenommene Vorlage "Durchführung der zweiten Etappe des neuen ökonomischen
Systems der Planung und Leitung der Volkswirtschaft"
und die am 11. De-
zember 1965 im selben Gremium beschlossenen "Vorschläge der Arbeitsgruppen
des
zur Qualifizierung
Hebel auf der
Grundlage
der Planung, der Leitung und der Anwendung
des Beschlusses
des Politbüros
vom 30. November
ökonomischer
Politbüros
1965". Beide Dokumente wurden
wenige Tage später der 11 .ZK-Tagung vorgelegt und bildeten die Grundlage für die "zweite Etappe des NÖS". 2 Die erste und die Grundzüge der zweiten Vorlage hatte - wie Mittag an Ulbricht schrieb - "ein ganz kleiner Kreis von verläßlichen Genossen des Parteiapparats"3 erarbeitet und dabei aber auf Ausarbeitungen und Ideen zurückgegriffen, die im Ökonomischen Forschungsinstitut und dem Beirat für ökonomische Forschung der SPK entstanden waren.4 Offenbar hatten die eingesetzten Arbeitsgruppen, denen ohnehin überwiegend Vertreter des Parteiapparates angehörten, zunächst ohne die Experten aus den Wirtschaftsinstanzen beraten, weil von den künftigen institutionellen Veränderungen viele Mitarbeiter des zentralen Wirtschaftsapparats betroffen sein würden und man dort gerade bei den Endarbeiten am Jahresplan 1966 keine zusätzliche Unruhe wollte. Darüber hinaus erschien eine schnelle Umsetzung, ohne breite Diskussion herrschaftstechnisch effektiver. Die erste Vorlage wurde von Stoph, Honecker und Mittag vorbesprochen und danach unter dem Vorsitz Ulbrichts auch mit Neumann und Apel, den Chefs der beiden betroffenen Instanzen, beraten. Bei dieser Zusammenkunft in der zweiten Novemberhälfte scheint die Idee geboren worden zu sein, das Maßnahmepaket als "zweite Etappe des NÖS" zu "verkaufen". Die mit den institutionellen Verän-
1 Protokoll der Politbürositzung am 5.10.65, SAPMO-BA DY30 J IV 2/2A/1118; Beschluß des Politbüros zur Ausarbeitung des Volkswirtschaftsplanes 1966 und des Perspektivplanes bis 1970: Protokoll der Politbürositzung am 12.10.65. Anlage 1, SAPMO-BA DY30 J IV 2/2A/1119. Dem Beschluß ist zu entnehmen, daß zu diesem Zeitpunkt noch nicht an eine Auflösung des VWR gedacht wurde. Die Zusammensetzung der Arbeitsgruppen siehe in: Kaiser, Machtwechsel, S. 111. 2 Protokoll der Politbürositzung am 30.11.65. Anlage 1: Beschluß zur Durchführung der zweiten Etappe ..., SAPMO-BA DY30 J IV 2/2A/1126; Protokoll der Politbürositzung am 11.12.65: Vorschläge der Arbeitsgruppen ..., 6.12.65, SAPMO-BA DY30 J IV 2/2A/1133+1134. Auf dieser Basis faßten dann die Regierung und der Staatsrat die entsprechenden Beschlüsse. Beschlußprotokoll der Ministerratssitzung am 22.12.65. Anlage 2: Beschluß der 11.Tagung des ZK der SED zur Durchführung der zweiten Etappe ..., BA DC20-I/3-496; Erlaß des Staatsrates der DDR über die Weiterentwicklung und Vereinfachung der staatlichen Führungstätigkeit in der zweiten Etappe des neuen ökonomischen Systems der Planung und Leitung vom 14.1.66, in: Gbl. 1966,1, S. 53ff. 3 Das Zitat ist einem von zwei undatierten Briefen Mittags an Ulbricht entnommen, wovon der eine wahrscheinlich aus der ersten und der andere aus der zweiten Novemberhälfte stammt und die zumindest andeutungsweise Aufschluß über das Procedere der Entstehung der "zweiten Etappe des NÖS" geben. Die Briefe in: SAPMO-BA DY30 IV A2/2021/50. 4 Vgl. u.a. [SPK]: Disposition (zur Neubestimmung der Stellung, Funktion und Aufgaben der SPK), 15.11.65, BA DE1/45537; ÖFI: Kurzfassung einer Gesamtkonzeption zur weiteren Vervollkommnung der Planung der Volkswirtschaft der DDR, 19.11.65, BA DE1/48536. Siehe auch Beispiele im vierten Kapitel.
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derungen erforderlichen Personalentscheidungen bereiteten Stoph, Honecker und Mittag vor. Erst nachdem die erste Vorlage das Politbüro passiert hatte, wurden die Experten aus den Wirtschaftsinstanzen (möglicherweise nur noch scheinbar) einbezogen, um die neuen Elemente des Lenkungsund Koordinationsmechanismus konkret zu konzipieren. 1 Daß dieser Prozeß unter der Federführung von Stoph, Honecker und Mittag ablief, hatte eine gewisse Folgerichtigkeit. Denn wenn es um die Neugestaltung des Staats- und Wirtschaftsapparates ging, betraf dies in erster Linie den Regierungschef, den für die "Kaderpolitik" zuständigen SED-Sekretär und den Wirtschaftsverantwortlichen in der Parteispitze. Andererseits standen Stoph inzwischen und Honecker wohl schon immer der Reform äußerst skeptisch gegenüber, womit sich Mittag - zumal er schon seit dem Sommer 1965 die SPK und deren Chef, Apel kritisierte bzw. kritisieren ließ - dem Verdacht aussetzte, die Seiten gewechselt zu haben. 2 Das ist jedoch zweifelhaft. Es spricht vielmehr vieles dafiir, daß Mittag die Reform so lange und soweit unterstützte, wie Ulbricht hinter ihr stand und unbestritten der erste Mann blieb. Die "zweite Etappe des NÖS" war eine Konsequenz der Schwierigkeiten, den Perspektivplan und den Plan 1966 fertigzustellen. Die Verkündung einer "zweiten Etappe" durch Ulbricht überraschte. Zwar war schon früh deutlich gemacht worden, daß die Industriepreisreform in Etappen verlaufen werde und verschiedene Reformschritte erst nach ihrem Abschluß gegangen werden könnten. Aber Etappen der Reform waren bis dahin nicht vorgesehen. Den Vorschlag, dieses Maßnahmepaket als "zweite Etappe" zu bezeichnen, könnte Ulbricht mit der Absicht gemacht haben, den inzwischen durch die Vielzahl von Experimenten und Einzelschritten erlahmten Reformschwung neu zu entfachen. 3 Darüber hinaus ist denkbar, daß Ulbricht den Reformgegnern formal entgegenkommen wollte, indem er sich mit der neuen Bezeichnung gegenüber den ersten Reformjahren abgrenzte, in denen wirtschaftliche Anreize und Preisreform - mithin auf Dezentralisierung und Ökonomisierung zielende Schritte - im Mittelpunkt gestanden hatten. Dagegen war nunmehr "der Perspektiv- und Jahresplanung eine neue Qualität zu geben", was er auf der 11 .ZK-Tagung als "das wichtigste Kennzeichen" der "zweiten Etappe des NÖS" charakterisierte. 4 Mittag nannte die Planung vor dem Führungspersonal der zentralen Wirtschaftsinstanzen, der VVB und Bezirkswirtschaftsräte den "Eckpfeiler" der Wirtschaftsreform. 5 Für die Sicht, daß dieser Terminus und andere Akzentverschiebungen dazu dienten, eine Abgrenzung von den ersten Reformschritten zu signali-
1 Briefe von Mittag an Ulbricht [November 1965], SAPMO-BA DY30 IV A2/2021/50. Die geschilderte Vorgehensweise erklärt, weshalb sich befragte Mitglieder der Arbeitsgruppen an diese nicht erinnern können. Anders als Kaiser annimmt, legten die Arbeitsgruppen tatsächlich Vorschläge vor, die sich nicht auf die Stellungnahmen zu den Plandokumenten beschränkten. Ebenso wenig wurde die "zweite Etappe des NÖS" von Stoph spontan "erfunden". So Kaiser, Machtwechsel, S. 111 ff., 119. 2
Dies wird heute insbesondere von Herbert Wolf immer wieder betont und Monika Kaiser folgt ihm darin. Vgl. Wolf, Hatte die DDR je eine Chance?, S. 23ff.; Kaiser, Machtwechsel, S. 108.
3 4
Vgl. Krömke, Das "Neue ökonomische System", S. 18f.; Roesler, Plan und Markt, S. 40. Ulbricht, Zum neuen ökonomischen System, S. 675.
5
Referat Mittags auf dem Seminar des ZK und des Ministerrats ... am 10.1.66, SAPMO-BA DY30 JNL23/1.
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Volkswirtschaft"
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sieren, spricht auch, daß sich Ulbricht auffällig darum bemühte, das alte Lenkungssystem zurückhaltender zu kritisieren, als das noch in der "Richtlinie" geschehen war. Er betonte jetzt stärker die Kontinuität der Entwicklung seit den fünfziger Jahren. 1 Ebenso wurde die in den Vorschlägen der Arbeitsgruppe enthaltene Kritik an der Praxis der ersten beiden Reformjahre aus der veröffentlichten Form getilgt, was zumindest darauf schließen läßt, daß die am Beginn der Reform vorhandene Fähigkeit der SED-Spitze zur öffentlichen Selbstkritik nachgelassen hatte.2 Insofern zeichneten sich auch inhaltlich Zugeständnisse an die Reformgegner ab. Mit der "zweiten Etappe des NÖS" sollte der Lenkungs- und Koordinationsmechanismus auf einen höchstmöglichen Zuwachs an Nationaleinkommen und dessen zweckmäßigste Verwendung ausgerichtet werden. Das beruhte auf der Überlegung, daß es makroökonomisch in erster Linie auf die Steigerung des verteilbaren Produkts in der für die Akkumulation und die Konsumtion erforderlichen materiellen Struktur ankomme. Dafür war die Strukturentwicklung von der Zentrale zu lenken.3 Da nun der maximale Nationaleinkommenszuwachs als synthetisches, volkswirtschaftliches Zielkriterium hervorgehoben wurde, war die Wirtschaftsbürokratie wiederum unsicher, welche Rolle jetzt dem Gewinn zukam. Es war aber nicht daran gedacht, ihn als zentrale Kennziffer für die Betriebe oder VVB aufzugeben. Vielmehr sollte der Nationaleinkommenszuwachs als volkswirtschaftliches Kriterium die Basis bilden, um die Rahmenbedingungen für das eigenständige am Gewinn orientierte Handeln der Wirtschaftseinheiten festzulegen. Damit wollte man der Einsicht Rechnung tragen, daß sich das Ziel der makroökonomischen Lenkung nicht in der Maximierung der Gewinne aller Subsysteme erschöpfen dürfe, da diese angesichts der nur sehr begrenzten Anpassungsflexibilität der Preise nicht zwingend den gesamtwirtschaftlichen Nutzeffekt steigern werde. 4 Somit wurde also die gesamtwirtschaftliche Nutzenfiinktion präzisiert. Um die vielfältigen praktischen Probleme bei der Vermittlung zwischen dem mikro- und dem makroökonomischen Nutzenkriterium im Prozeß der Wirtschaftslenkung zu lösen, wurden mit der "zweiten Etappe des NÖS" die Wirtschaftsinstitutionen neu strukturiert, sollte das Planungsverfahren insgesamt geändert und die "Eigenerwirtschaftung der Mittel für die erweiterte Reproduktion" sowie Methoden und Instrumente durchgesetzt werden, mit denen die Strukturentwicklung direkt zu steuern war. 5
1 Ulbricht, Zum neuen ökonomischen System, S. 666. Vgl. Roesler, Plan und Markt, S. 38f. 2
Vgl. Protokoll der Politbürositzung am 11.12.65, SAPMO-BA DY30 J IV 2/2A/1133, Vorschläge der Arbeitsgruppen .... 6.12.65, SAPMO-BA DY30 J IV 2/2A/1134 sowie Materialien des Büros des Politbüros: Zur Erläuterung der in dem Referat des Genossen Walter Ulbricht auf der 11 .Tagung des ZK dargelegten Probleme zur Qualifizierung der Planung, der Leitung und der Anwendung ökonomischer Hebel in der zweiten Etappe des neuen ökonomischen Systems der Planung und Leitung (ausgearbeitet von Arbeitsgruppen des Politbüros), in: Die Wirtschaft 21, 1966, Heft 1, Beilage.
3 4
Ulbricht, Zum neuen ökonomischen System, S. 675f. Vgl. dazu in stark ideologisch verkleideter Form, die vor allem die Unterschiede zwischen der kapitalistischen und der "sozialistischen" Gewinnorientierung hervorhob: H. Nick, Nationaleinkommen und Gewinn, in: Wirtschaftswissenschaft 14, 1966, S. 1761-1776.
5
Die beiden letzten Schwerpunkte werden ausführlich im vierten Kapitel behandelt.
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Entwicklung und Implementation der Reform
Die auffälligste institutionelle Änderung war die Auflösung des VWR und die Bildung von acht Industrieministerien. Damit folgte man der sowjetischen Reorganisation der Wirtschaftsleitung vom September 1965.' Doch das war nur einer der Gründe für die Umstrukturierung. Darüber hinaus war es in den zwei Jahren, in denen die Wirtschaftsreform nun bereits umgesetzt wurde, nicht gelungen, die Führungstätigkeit des VWR entsprechend den neuen Anforderungen umzugestalten. Es wurde nach wie vor zu sehr mit administrativen Mitteln gearbeitet. Zwar erschien es dem Parteiapparat als erforderlich, einen Teil der Leitung des V W R aus Kompetenzgründen auszuwechseln, aber er sah keine personellen Alternativen. Dies wurde Neumann indirekt angelastet. 2 Und so war es auch ein Ziel, den VWR als Reformhindernis zu beseitigen und seinem Chef Neumann, der weitergehende Reformschritte eher ablehnte, diese Position in der Wirtschaftshierarchie zu entziehen. Generell folgte die institutionelle Umgestaltung der Logik der gesamten Maßnahmen der "zweiten Etappe des NÖS", denn sie sollte die wirtschaftliche Eigenständigkeit und Verantwortung der VVB als Führungsinstanzen der Branchen stärken. 3 Deshalb hatten die Industrieministerien - wie es in dem Politbürobeschluß hieß - ihre Bereiche differenziert anzuleiten und sich nicht mehr wie die Industrieabteilungen des V W R an bestimmte, allgemein geltende Regeln zu halten. Die Ministerien sollten sich grundsätzlichen Fragen der Entwicklung ihres Bereiches widmen und übergreifende, zwischen den V V B nicht zu klärende Probleme entscheiden und koordinieren. Allerdings wurde der Minister auch explizit als unmittelbarer Vorgesetzter der Generaldirektoren der V V B bestimmt, was ihnen wiederum ein administratives Vorgehen gegenüber den V V B erlaubte. Die SPK übernahm die Koordinierung der Perspektiv- und Jahresplanung zwischen den Industrieministerien, sollte dabei die staatlichen Gesamtinteressen durchsetzen und einen langfristigen Vorlauf in Gestalt volkswirtschaftlicher Entwicklungsprognosen gewährleisten. Darüber hinaus wurde sie ausdrücklich für die Gestaltung des Lenkungs- und Koordinationsmechanismus verantwortlich gemacht. Grundkenntnisse zu den wissenschaftlich-technischen Trends und die daraus resultierenden Erfordernisse hatte das Staatssekretariat für Forschung und Technik der SPK bereitzustellen. Als in den folgenden Jahren in der SED-Wirtschaftspolitik die Innovationserfordernisse immer mehr in den Mittelpunkt rückten, wertete man das Staatssekretariat 1967 zum Ministerium für Wissenschaft und Technik auf. Daneben wurde noch ein Ministerium für Materialwirtschaft mit unscharfen Kompetenzen geschaffen, da die Verflechtungsbeziehungen der Wirtschaftseinheiten mit Aufkommen-Verwendungs-Bilanzen und Wirtschaftsverträgen gelenkt werden sollten. Die Verantwortung für das Ausarbeiten der Bilanzen sollte in Form einer Pyramide gestuft werden. In ihr aber war dieses Ministerium nicht vorgesehen. Statt dessen wurden ihm übergreifende Koordinierungsaufgaben bei der Ressourcenverteilung zugesprochen, was auf das erhöhte Kontrollbedürf-
1 Vgl. H.-G. Kiera, Partei und Staat im Planungssystem der DDR. Die Planung in der Ära Ulbricht, Düsseldorf 1975, S. 131. 2 Abt. Planung und Finanzen: Einschätzung der Entwicklung der Leitungstätigkeit im VWR ..., 2.10.65, SAPMO-BA DY30 IV A2/2021/274. 3
Zur genau entgegengesetzten Einschätzung gelangt Kaiser, weil sie das mit der "zweiten Etappe" verbundene Prinzip der Eigenerwirtschaftung der Mittel unterschätzt. Vgl. Kaiser, Machtwechsel, S. 121.
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Volkswirtschaft"
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nis gerade im kritischen Bereich der Verflechtungen zurückzuführen war. Die Abstimmung zwischen den verschiedenen Ministerien sowie Entscheidungen über Hauptaufgaben und Grundproportionen der volkswirtschaftlichen Entwicklung sollten beim Ministerrat und de facto bei dessen Präsidium liegen. In diesem Zusammenhang wurde die mit der Reform geschaffene Stabsstelle der Regierungsspitze, die Ökonomische Kommission des Präsidiums des Ministerrats, aufgelöst. 1 Insgesamt sollte mit diesen Maßnahmen gewährleistet werden, daß sich der zentrale Wirtschaftsapparat mehr auf die übergreifenden Fragen konzentrierte und die eigenständige Rolle der VVB gestärkt würde. Nicht zufällig wurde im Beschluß zur "zweiten Etappe des NÖS" noch einmal die Forderung Ulbrichts von der Wirtschaftskonferenz 1963 zitiert, die Fragen dort zu entscheiden, wo die größte Sachkenntnis vorhanden ist.2 Zum Minister für Materialwirtschaft wurde der bisherige Chef des VWR, Alfred Neumann, berufen. Da er gleichzeitig stellvertretender Regierungschef und Mitglied des Politbüros blieb, war sein Einfluß nicht geschwunden, sondern er konnte sich - vielmehr der Verantwortung für die Industrie ledig - auf übergreifende Fragen und die Kontrolle konzentrieren. Nachfolger von Apel als SPK-Vorsitzender wurde sein bisheriger 1. Stell Vertreter, Gerhard Schürer. Er hatte sich nicht, wie Apel, als Initiator oder Motor der Reform exponiert und war bei der Gestaltung des Lenkungs- und Koordinationsmechanismus wenig hervorgetreten. Er war und blieb in der Rolle desjenigen, der die Parteibeschlüsse und Ideen anderer getreulich umsetzte und propagierte. Er sah sich vor allem als "Rechner" in der praktischen Planarbeit. Im Vergleich zu Apel blieb seine Stellung schon deshalb schwach, weil er der SED-Spitze in den sechziger Jahren nicht angehörte. Er wurde von ihr zwar zur Beratung wirtschaftlicher Fragen als Gast eingeladen, konnte aber weder formell noch informell ohne Plazet von Mittag an das Politbüro herantreten. Da Schürer in den Fragen der Systemgestaltung offenbar ohne Inspiration war, holte er sich als den dafür zuständigen Stellvertreter Herbert Wolf an seine Seite, der als einer der "Väter" des Reformwerkes galt und bis dahin im ökonomischen Forschungsinstitut der SPK tätig gewesen war. Die Industrieminister kamen größtenteils aus Leitungsfunktionen beim VWR. Zum Teil hatten sie davor eine VVB oder einen Bezirkswirtschaftsrat geleitet, waren also mit der mittleren Administrationsebene vertraut. Mit der "zweiten Etappe des NÖS" sollte die Planung in ihrem Ablauf so geändert werden, daß die Betriebe, VVB und Ministerien bereits an der Erarbeitung der ersten Planvorstellungen der SPK beteiligt waren. Die SPK hatte dafür von einer "aktiven national-ökonomischen Konzeption" mit den optimalen Grundstrukturen der staatlichen Investitionen und des Nationaleinkommens auszu-
1 Protokoll der Politbürositzung am 30.11.65. Anlage 1: Beschluß zur Durchführung der zweiten Etappe ..., SAPMO-BA DY30 J IV 2/2A/1126; Beschlußprotokoll der Ministerratssitzung am 22.12.65. Anlage 2: Beschluß der 11.Tagung des ZK der SED zur Durchführung der zweiten Etappe ..., BA DC20-I/3-496; Erlaß des Staatsrates der DDR über die Weiterentwicklung und Vereinfachung der staatlichen Führungstätigkeit in der zweiten Etappe des neuen ökonomischen Systems der Planung und Leitung vom 14.1.66, in: Gbl. 1966,1, S. 53ff. 2
Ulbricht, Das neue ökonomische System in der Praxis, S. 23; Beschluß zur Durchfuhrung der zweiten Etappe ..., SAPMO-BA DY30 J IV 2/2A/1126.
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der Reform
gehen. Sie sollte aber nicht administrativ nach "unten" durchgesetzt, "sondern unter kluger Ausnutzung und Lenkung der Eigeninitiative der Ministerien, VVB und Betriebe" vermittelt werden. Dazu waren deutlich weniger Vorgaben von "oben" als bisher vorgesehen und im Gegenzug wurde der Planungsablauf faktisch von einer auf zwei "Runden" erweitert, in denen die Vorgaben von "oben" nach "unten" aufzuschlüsseln und von "unten" nach "oben" zu koordinieren und zusammenzufassen waren. Die aus der Gesamtkonzeption abgeleiteten Vorgaben hatten sich auf die volkswirtschaftlich entscheidende Produktion (Staatsplanpositionen und eine beschränkte Nomenklatur strukturbestimmender Erzeugnisse), das Reineinkommen, den Wertumfang der Investitionen, die Anlagenproduktivität und Rentabilität (Wertschöpfung bzw. Gewinn bezogen auf das Anlage- und Umlaufvermögen bzw. die Investitionen), die Außenwirtschaftstätigkeit sowie die Lohnmittel zu beschränken. Mit der limitierten Zahl von "oben" vorgegebener Kennziffern wollte man - so Mittag - "aus dem Modell der erweiterten Reproduktion der Volkswirtschaft der DDR bestimmte Knotenpunkte heraus(greifen), mit denen wir den Verlauf vieler damit verbundener Prozesse steuern, ohne sie direkt zu nennen." Um zu verhindern, daß die nachgeordneten Wirtschaftseinheiten weiterhin von den übergeordneten Ebenen im Planungsprozeß immer mehr Investitionen forderten, war nun durchzusetzen, daß die Betriebe und VVB die Mittel für ihre erweiterte Reproduktion selbst erwirtschafteten und dementsprechend stärker über ihren eigenen Gewinn verfügten.' Außerdem sollten die Regeln zur Bemessung der Prämienmittel für die Betriebe gewährleisten, daß diese an hohen und erfüllbaren Planaufgaben interessiert wurden. 2 Bereits in der ersten "Planrunde" hatten die VVB gemeinsam mit den Betrieben auf der Grundlage von Marktforschung die Verflechtungen, d.h. die erforderlichen Inputs und den Absatz des Outputs, zu sichern, indem sie eigenverantwortlich entsprechende Vorverträge und Verträge abschlössen und auf dieser Basis die AufkommenVerwendungs-Bilanzen für ihre Hauptprodukte aufstellten. Übergreifende Koordinationen waren von den Ministerien vorzunehmen. Mit der ersten "Runde" wollte man "oben" vor allem Informationen gewinnen. Die zweite sollte dann einen konsistenten Plan ermöglichen, der die effiziente Verwendung der Produktionsfaktoren und eine maximale Erhöhung des Nationaleinkommens sowie der Gesamteffektivität garantierte. 3 Entsprechend diesem Konzept reduzierte die SPK die zentral vorgegebenen Kennziffern und zentral ausgearbeiteten Bilanzen weiter. Für den Plan 1967 gab die SPK - anstatt wie bis dahin für 370 - nur noch für 80 Erzeugnisse bzw. Erzeugnisgruppen die Produktion im einzelnen vor. 4 Im Februar 1966 beschloß sie, die Nomenklatur für die Ausarbeitung der Staatsplanbilanzen von 1966
1 Vgl. zur Lenkung der Strukturentwicklung und der Eigenerwirtschaftung der Mittel das vierte Kapitel. 2 3
Vgl. das dritte Kapitel. Protokoll der Politbürositzung am 11.12.65, SAPMO-BA DY30 J IV 2/2A/1133, Vorschläge der Arbeitsgruppen des Politbüros zur Qualifizierung der Planung, der Leitung und der Anwendung ökonomischer Hebel..., 6.12.65, SAPMO-BA DY30 J IV 2/2A/1134; Referat Mittags auf dem Seminar des ZK und des Ministerrats ... am 10.1.66, SAPMO-BA DY30 J NL23/1.
4
SPK, Wolf: Bericht über die ersten Ergebnisse der Durchführung der 2.Etappe des NÖS, 23.5.66, BA DE1/49681.
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rd. 800 für 1967 auf die 210 Rohstoffe, Zuliefer- und Finalerzeugnisse zu beschränken, "deren Aufkommen für die Gesamtentwicklung der Wirtschaft hinsichtlich der maximalen Nationaleinkommenserhöhung, insbesondere für die überzweiglichen Beziehungen, von besonderer Bedeutung" war. Diese 210 Staatsplanbilanzen sollten verbindlich sein und Bilanzen mit Richtwertcharakter wurden abgeschafft.' Damit sank der Anteil der Staatsplanbilanzen an der Zahl der Material-, Ausrüstungs- und Konsumgüterbilanzen insgesamt von 1966 etwa 13 % auf etwa 3 % 1967. Von allen Bilanzen hatten ab 1967 die VVB drei Viertel und die Betriebe 17 % zu erarbeiten, womit sie zu über 90 % auf die Wirtschaftseinheiten verlagert worden waren. 2 Die "zweite Etappe des NÖS" dezentralisierte also die Planung und teilweise die Verfügungsrechte weiter. Tatsächlich konnte die vorgeschaltete "Planrunde" die Pläne realistischer werden lassen, mußte es aber nicht. Sie erhöhte den Planungsaufwand und es blieb fraglich, ob der Nutzen das rechtfertigte. Zudem hätte die Konsistenz der Pläne und ihre Realisierbarkeit eher eine größere, als eine geringere Zahl der Materialbilanzen erfordert. Außerdem wäre es für das Funktionieren dieses Modells unerläßlich gewesen, hochgesteckte Wachstumsziele zurückzunehmen und gleichzeitig ausreichende Reserven vorzusehen. Dies widersprach jedoch dem politischen Erwartungsdruck an die mit der Reform zu erzielenden Ergebnisse. Neben der Dezentralisierung rückte die Lenkung der Strukturentwicklung stärker in den Mittelpunkt. Der Rahmen für die "Eigenerwirtschaftung der Mittel" sollte zentral festgelegt werden und innerhalb gewisser Toleranzen darüber entscheiden, welche Branchen in welchem Umfang erweitern konnten. Außerdem waren Innovationen "auf der Grundlage des staatlichen Planes zielgerichtet und schwerpunktmäßig" zu steuern. Diese Strukturschwerpunkte sollten in den Plänen aber noch nicht eine solch herausgehobene Position einnehmen, wie dies dann ab 1967/68 charakteristisch wurde. 3 Doch war in diesem Konzept - wie später zu sehen - der Übergang zu einer Politik des forcierten Strukturwandels und damit des verstärkten zentralen Zugriffs auf die Ressourcen bereits angelegt. 4 Ob dies zum Tragen kommen würde, hing von den politischen Konstellationen ab. N a c h den Ereignissen von Ende 1965 hatten die Reformer jedenfalls das Gefühl, daß der latente Konflikt bald virulent werden könnte. 5
Planungsprobleme und weitere Reformumsetzung Die neue Art, zu planen, war 1966 sowohl für den Perspektivplan bis 1970 als auch für den Jahresplan 1967 anzuwenden. Dabei hatte man anfangs in der SPK große Vorbehalte. Viele Mitarbeiter der branchenbezogenen Fachabteilungen bezweifelten, daß - nachdem sie in mehrjähriger Arbeit
1 SPK: Beschluß über die Nomenklatur für die Ausarbeitung der Staatsplanbilanzen 1967 ..., 16.2.66, BA DE1/49676. 2 Berechnet nach vorstehenden Angaben und nach: Buck, Technik der Wirtschaftslenkung, S. 493, 496. 3 Protokoll der Politbürositzung am 30.11.65. Anlage 1: Beschluß zur Durchfuhrung der zweiten Etappe ..., SAPMO-BA DY30 J IV 2/2A/1126. 4 Vgl. das vierte Kapitel. 5
Wolf, Hatte die DDR je eine Chance?, S. 28.
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einen "im wesentlichen bilanzierten Planvorschlag" für den Zeitraum bis 1970 vorgelegt hatten die Betriebe, VVB und Ministerien kurzfristig eine effektivere Lösung finden würden. Ebenso hatte man Bedenken, ob die wenigen Kennziffern in einer solchen Qualität vorgegeben werden konnten, daß die Wirtschaftseinheiten auf dieser Grundlage einen ausgeglichenen Plan vorlegen könnten.' Diese Vorbehalte wurden in der Perspektivplanberatung im April 1966, an der die Verantwortlichen aus der Parteiführung und die Spitzen der zentralen Wirtschaftsinstanzen teilnahmen, von Neumann unterstützt. Seines Erachtens gab die SPK zu wenig Kennziffern vor. Vor allem bewegte ihn (wohl zu Recht), daß die nachgeordneten Hierarchieebenen bei der Planung zwar ihre Interessen berücksichtigen, die branchenübergreifenden Beziehungen aber nicht ausreichend gesichert würden. 2 Tatsächlich fehlte der SPK die volkswirtschaftliche Konzeption, die vorausgesetzt wurde. Daher blieb die Qualität ihrer Vorgaben unter dem Gesichtspunkt der makroökonomischen Ziele unzureichend und es war zu erwarten, daß die von "oben" kommenden Kennziffern und Aufgaben bei der Planausarbeitung durch Interventionen der SPK wieder geändert werden würden. Aber auch in den Industrieministerien und den Bezirkswirtschaftsräten zweifelte man daran, daß auf die neue Art ein besserer Plan zustande kommen werde. Den Ministerien fehlten häufig die methodischen Voraussetzungen, um Aufgaben so zu formulieren, daß VVB und Betriebe gezwungen waren, einen ausgeglichenen Plan mit hohen, aber erfüllbaren Zielen auszuarbeiten. Vielfach war ihnen die Situation der Wirtschaftseinheiten infolge fehlender Analysen nicht bekannt. Insbesondere stellten die Verflechtungen zwischen den Ministeriumsbereichen wie zwischen den V V B ein Problem dar, wobei der Maschinenbau und die Metallurgie vom Parteiapparat beschuldigt wurden, ihre "Verteilerideologie" immer noch nicht abgelegt zu haben. 3 Dabei war das realwirtschaftlich vor allem Folge des nach wie vor gegebenen "Verkäufermarktes" und wurde planungstechnisch dadurch unterstützt, daß man nicht auf die Aufkommen-Verwendungs-Bilanzen verzichten konnte. Die Ministerien sahen sich in der Situation, daß sie von der SPK relativ wenige Vorgaben erhielten, ihr Wissen Uber die realwirtschaftlichen Prozesse, vorhandene Kapazitäten und Vorräte begrenzt war, sie aber gleichwohl ein Planangebot vorlegen sollten, das die vorhandenen Möglichkeiten optimal nutzte. In dieser Lage forderten einige von der SPK zusätzliche Kennziffern. 4 Vor allem verlangten sie von den V V B und diese dann von ihren Betrieben deutlich mehr Formblätter und
1
[Abt. Planung und Finanzen:] Diskussionen zu ideologischen Problemen im Zusammenhang mit der Einführung der neuen Art zu planen; Zu inhaltlichen Problemen der Staatlichen Vorgaben bzw. Orientierungsziffern; Abt. Maschinenbau und Metallurgie: Einschätzung der Eckziffern der SPK, [April 1966], SAPMO-BA DY30 IV A2/2021/447.
2
Stenographische Niederschrift der Sitzung der Perspektivplankommission ... am 14.4.66, SAPMO-BA DY30 IV A2/2021/448.
3
[Abt. Planung und Finanzen:] Diskussionen zu ideologischen Problemen im Zusammenhang mit der Einfuhrung der neuen Art zu planen; Beispiele aus der Arbeit der SPK und der Ministerien zur Durchsetzung der neuen Qualität der Planung, [April 1966], SAPMO-BA DY30 IV A2/2021/447. Schürer in: Stenographische Niederschrift der Sitzung der Perspektivplankommission ... am 14.4.66, SAPMO-BA DY30 IV A2/2021/448.
4
Das "Neue Ökonomische System der Planung und Leitung der Volkswirtschaft"
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andere schriftlichen Ausarbeitungen ab, als es die Planmethodik der SPK vorsah. 1 Aus allen Industriebereichen kamen Klagen, daß die "Papierwirtschaft" im Zusammenhang mit der neuen Art der Planung im Vergleich zu früher stark zugenommen habe. Soweit solche Fälle der SPK bekannt wurden, intervenierte sie. 2 Aber das Berichtswesen hatte bereits solche Ausmaße angenommen, daß es von der SPK nicht mehr einzudämmen war. Der Aufwand in der ersten "Planrunde", in der das Planangebot ausgearbeitet wurde, war dem für einen Planvorschlag alten Stils gleichzusetzen. 3 Faktisch fanden damit zwei volle "Planrunden" statt. Deshalb untersagte die SPK in der Planmethodik für 1968 den Ministerien explizit, die Nomenklaturen, Vorgaben, Aufgaben oder Auflagen zu ergänzen. 4 Resümierend mußte Ulbricht auf dem SED-Parteitag im April 1967 nach dreieinhalb Jahren Reform feststellen, daß "die bislang noch verbreitete Gängelei und Reglementierung der Betriebe im Resultat oft mehr volkswirtschaftlichen Effektivitätsverlust ein(bringt) als gewisse Anlaufschwierigkeiten im Zusammenhang mit der Erziehung der VVB und Betriebe zur eigenverantwortlichen Arbeit." 5 Das Führungspersonal der VVB und Betriebe war vom Ausmaß der Umgestaltung zunächst überrascht. Es waren auch - wie Wolf berichtete - "gewisse Zweifel daran zu spüren, ob denn die eingeleiteten Veränderungen wirklich ernst gemeint seien". 6 Sie verlangten ebenfalls von den übergeordneten Instanzen bis hin zur SPK zusätzliche Vorgaben, um das Planangebot ausarbeiten zu können. 7 Den Wirtschaftseinheiten fehlten Signale, die die weggefallenen Planvorgaben hätten ersetzen können, schon deshalb weil in großen Teilen der Industrie die Industriepreisreform noch nicht abgeschlossen war. Damit konnten die vorgesehenen wirtschaftlichen Anreize, die zum Teil der Ressourcenlenkung dienen sollten, noch nicht in Kraft gesetzt werden. 8 Weitere Komponenten, an denen sich die Betriebe und VVB laut Konzeption orientieren sollten, waren der mittelfristige Plan, an dem aber immer noch gearbeitet wurde, sowie die diesem eigentlich zugrunde zu legenden Prognosen und längerfristigen Programme. Praktisch entsprachen jedoch die vorliegenden Pro-
1 [SPK,] Wolf: Information für den Vorsitzenden der SPK, Gen. Schürer über die Ergänzungen der Ministerien zu der von der SPK herausgegebenen Methodik ..., 4.5.66, BA DE1/49037; SPK, Wolf: Bericht über die ersten Ergebnisse der Durchfuhrung der 2.Etappe des NÖS, 23.5.66, BA DE1/49681. 2 SPK, Inspektion an Schürer: Eilinformation über die Leitung des Prozesses der Ausarbeitung der Planangebote für 1967 ..., 6.5.66; Klopfer an Schürer: Betr.: Eilinformation ..., 9.5.66, BA DE1/48977. 3 Zusammenfassend Ausarbeitungen verschiedener VVB und der SED-Bezirksleitung Halle vom November 1966 in: SAPMO-BA DY30 IV A2/2021/345. 4 SPK: Planmethodik 1968 - Zusammenfassung und offene Fragen, 16.12.66, BA DE1/49695. 5 Protokoll VII.Parteitag, Bd. 1, S. 157. 6 SPK, Wolf: Bericht über die ersten Ergebnisse der Durchfuhrung der 2.Etappe des NÖS, 23.5.66, BA DE 1/49681. 7 Stenographische Niederschrift der Sitzung der Perspektivplankommission ... am 14.4.66, SAPMO-BA DY30 IV A2/2021/448; Abt. Planung und Finanzen: Information über erste Ergebnisse bei der Verbesserung des Planungssystems auf Betriebsebene durch die SPK, 16.3.67, SAPMO-BA DY30 IV A2/2021/254. 8 Allerdings war in zwei Ministeriumsbereichen, wo die Industriepreisreform abgeschlossen war und keine Auswirkungen ihrer letzten Etappe erwartet wurden, 1966 die "Eigenerwirtschaftung der Mittel" mit Einschränkungen wirksam gemacht worden. Vgl. das vierte Kapitel.
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gramme nicht den Anforderungen 1 und an den in einer ersten "Welle" 1966 entstehenden Prognosen wurde gerade gearbeitet. 2 Außerdem bemängelten die Betriebe und VVB, daß die methodischen Regelungen für die wirtschaftlichen Anreize - soweit sie schon in Kraft waren - in den Wirtschaftseinheiten deutlich später als die Planvorgaben zur Verfugung standen, weshalb sie nur begrenzt wirksam werden konnten. 3 Letztlich entsprachen also alle Elemente des Lenkungs- und Koordinationsmechanismus, die den Wirtschaftseinheiten bei der Ausarbeitung ihrer Pläne eine Orientierung bieten sollten, nicht den Erwartungen. Daher verlangten die VVB und Betriebe - zumindest teilweise - mehr Vorgaben von "oben" und das wiederum entsprach dem Bestreben der Industrieministerien nach mehr Ausarbeitungen von "unten". Insgesamt wurde die schon traditionelle Informationslücke durch die Reduzierung zentraler Vorgaben noch größer und es gab keine Möglichkeit, sie anderweitig zu kompensieren. Unter diesen Bedingungen waren die Wirtschaftseinheiten vielfach nicht bereit, "ein echtes ökonomisches Risiko, ausgehend von kaufmännischen Überlegungen zu übernehmen" 4 , wie es mit diesen Regelungen offenbar erwartet worden war. Das FUhrungspersonal, von der SPK bis zu den Betrieben, verharrte in der "alten Denkweise": die auf Effektivität gerichteten Kennziffern (Produktivität und Rentabilität), die den Ausgangspunkt der Planung bilden sollten, wurden nur schematisch angewendet, die VVB gingen, besonders im Maschinenbau, von den bisherigen Input- und Outputkennziffern aus. Die Effektivität berechneten sie erst hinterher. Auch die auf einen optimalen Plan gerichteten Prämienregelungen wurden nicht, wie erhofft, wirksam. Oft resultierte das aus der noch nicht zu Ende geführten Industriepreisreform und der nur in zwei Ministeriumsbereichen geltenden "Eigenerwirtschaftung der Mittel." 5 Damit blieb das übliche Verhalten des Planbargaining "noch sehr verbreitet": die Betriebe forderten zusätzliche Inputs und handelten Leistungsvorgaben herunter. Sie meinten, es sei besser, die Reserven noch nicht aufzudecken, sondern die nächste Planperiode abzuwarten, weil sie sonst bei der Perspektivplanbestätigung möglicherweise im Nachteil waren. Die VVB und Ministerien wiederum nutzten die Planangebote von "unten" zu wenig für den eigenen Planansatz und arbeiteten kaum mit Varianten. 6 Bei der Verteidigung der Planangebote der Ministerien vor der SPK zeigte sich dann, beispielsweise im Ministerium für Erzbergbau, Metallurgie
1 Abt. Maschinenbau und Metallurgie: Wie wird durch die Vorgabe der Eckkennziffern und bei der Ausarbeitung der Planangebote mit den Programmen gearbeitet..., 1.4.66, SAPMO-BA DY30 IV A2/2021/454. 2 Abt. Planung und Finanzen: Zu einigen grundsätzlichen Fragen bei der Ausarbeitung des Perspektivplanprojektes, 17.10.66, BA DE1/56084. Vgl. zu den Prognosen den entsprechenden Abschnitt im vierten Kapitel. 3 Sektor Planung: Information über die Leitungssitzung der SPK am 11.5.66, 16.5.66, SAPMO-BA DY30 IV A2/2021/253. 4 SPK, Wolf: Bericht über die ersten Ergebnisse der Durchfuhrung der 2.Etappe des NÖS, 23.5.66, BA DE 1/49681. 5 Ebenda; Abt. Planung und Finanzen an Mittag: Information über die Leitungssitzung der SPK am 1.6.66, 3.6.66, SAPMO-BA DY30 IV A2/2021/253. 6 SPK, Wolf: Bericht über die ersten Ergebnisse der Durchfuhrung der 2.Etappe des NÖS, (Fassungen vom 23.5.66 und vom 6.6.66), BA DE1/49681+49682.
Das "Neue Ökonomische System der Planung und Leitung der
Volkswirtschaft"
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und Kali - eines der beiden Ministerien, in denen die wirtschaftlichen Anreize ebenso wie die Industriepreisreform bereits galten -, daß bei der Aggregation und Koordination der Planangebote von "unten" nach "oben" die Planaufgaben immer höher gesetzt worden waren. Das Planangebot des Ministeriums lag erheblich über den VVB-Vorstellungen und diese wiederum über denen der Betriebe. Gleichzeitig wurden jedoch mit den Planangeboten auch Inputs über die ursprünglichen Vorgaben hinaus gefordert. 1 Offenbar hatte man mit den zwei "Planrunden" das Planbargaining institutionalisiert, obwohl die zwei "Runden" realiter nicht ausreichten. Von einigen VVB wurde berichtet, daß es 1967 mit ihren Betrieben bis zu sieben "Runden" für den Plan 1968 gegeben habe. 2 Trotz noch bestehender Defizite und ungesicherter Verflechtungen in den Planangeboten - dem Ergebnis der ersten "Planrunde" - meinten die SPK ebenso wie der Parteiapparat, daß der Planansatz für 1967 - also die Planfassung, die nach der ersten der zweiten "Planrunde" zugrunde gelegt wurde - ökonomisch besser begründet und realistischer als früher sei.3 Wenn man sich vergegenwärtigt, daß das Plankonzept bis dahin von der SPK aufgestellt wurde und die betroffenen Bereiche nur minimal einbezogen worden waren, erscheint diese Aussage durchaus gerechtfertigt. Aber für die zweite "Planrunde" hätte die SPK prüfen müssen, inwiefern die Informationen aus den Planangeboten verzerrt waren. Dazu hatte sie aber schon aus Kapazitätsgründen kaum Möglichkeiten. Daher mußte die SPK während der "zweiten" Planrunde - nachdem also die Aufgaben und Angebote bereits einmal auf allen Ebenen koordiniert worden waren - in die laufende "Plandiskussion" mit den Beschäftigten der Betriebe eingreifen und wesentliche Inputvorgaben, wie die Bauleistung für Investitionen, kürzen, so daß - wie der Parteiapparat festhielt - das betreffende "Ministerium ... erneut mit VVB und Betrieben verhandeln (sie!) muß(te)". Damit wurde nach Ansicht der Parteifunktionäre das Vertrauen in die Planwirtschaft untergraben, was wiederum ein politisches Problem war. 4 Solche Interventionen der zentralen Instanzen waren offenbar keine Einzelfalle. In einigen VVB meinte man, daß der neue Planungsablauf zu "Plänen mit hohem Risikoanteil in der Mehrzahl
1 Abt. Maschinenbau und Metallurgie: Information über die Planverteidigung des Ministeriums für Schwermaschinen- und Anlagenbau vor der SPK, 29.6.66; Abt. Maschinenbau und Metallurgie: Information über die Verteidigung des Planangebots für das Jahr 1967 des Ministeriums für Erzbergbau, Metallurgie und Kali vor der Leitung der SPK, 1.7.66, SAPMO-BA DY30 IVA2/2021/405. 2
[Zusammenfassendes Material für die Grundsatzregelung:] Anlage I: Probleme aus Aussprachen mit Lehrgangsteilnehmern des ZIfSW, [Januar 1968,] SAPMO-BA DY30IV A2/2021/435. Ulbricht übernahm diese Beispiele in seinem Referat in: Stenographische Niederschrift der gemeinsamen Sitzung des Politbüros und des Ministerrates ... am 8.2.68, SAPMO-BA DY30 J IV 2/201/771.
3
SPK, Wolf: Bericht über die ersten Ergebnisse der Durchfuhrung der 2.Etappe des NÖS, (Fassungen vom 23.5.66 und vom 6.6.66), BA DE1/49681+49682; Abt. Planung und Finanzen: Information zu einigen Problemen aus den Verteidigungen der Planangebote der Minister vor dem Vorsitzenden der SPK, 8.7.66, SAPMO-BA DY30 IV A2/2021/253; Ausarbeitungen verschiedener VVB vom November 1966 in: SAPMO-BA DY30 IV A2/2021/345.
4
Abt. Leicht-, Lebensmittel- und bezirksgeleitete Industrie an Mittag: Probleme zum Plan 1967 und Perspektivplan, 15.8.66, SAPMO-BA DY30 IV A2/2021/405.
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Entwicklung und Implementation der Reform
der Positionen" führte. 1 Die zuständige ZK-Abteilung und Schürer sahen das deutlich positiver. Ihres Erachtens hatte es sich bewährt, den nachgeordneten Wirtschafteinheiten nur wenige, vornehmlich qualitative Kennziffern vorzugeben, da die Betriebe damit flexibler Planvarianten erarbeiten konnten und sich an der Effektivitätssteigerung orientierten. In Ansätzen mag dies zugetroffen haben, aber insgesamt war diese Sicht angesichts der unzureichenden Grundlagen für die Wertrechnung sowie der nicht wirksamen "Eigenerwirtschaftung der Mittel" für die Investitionen doch zu euphorisch. Darüber hinaus gab Schürer zu, daß das "Kontingentdenken", d.h. das Streben nach Zuteilung bestimmter Mittel und Ressourcen sowie deren unbedingte Inanspruchnahme unabhängig vom wirtschaftlichen Nutzen, selbst in der SPK, aber auch in den Ministerien und V V B noch stark ausgeprägt war. Dies war ein deutliches Zeichen dafür, daß sich wirtschaftliches Denken nur ansatzweise durchgesetzt hatte. 2 Das Ausarbeiten der Bilanzen war weiter deutlich dezentralisiert worden und zeigte die selben Probleme wie in den Jahren 1964/65. Den bilanzierenden VVB und Betrieben standen keine wirtschaftlichen Kriterien für volkswirtschaftliche Entscheidungen zur Verfügung und es fehlte der entsprechende Überblick. 3 Auch die wirtschaftlichen Anreize boten keine Anhaltspunkte, wie Schürer selbst einräumte: "Die Bilanzierung wird uns nicht durch das Wirken ökonomischer Hebel abgenommen, sondern bilanzieren heißt entscheiden, und zwar im Interesse der sozialistischen Volkswirtschaft, wenn nötig auch gegen das Zweiginteresse." 4 Wolf sah das Problem vor allem in der Entscheidung, ob der volkswirtschaftliche Bedarf gedeckt oder die höchste Effektivität geplant werden sollte. 5 Der Gegensatz entstand daraus, daß die Preise grundsätzlich auf den Kosten beruhen sollten und lediglich zufällig Nachfrageverhältnisse reflektierten. Die Bilanzentscheidungen kamen daher vielfach weiter administrativ zustande, was sich formell in Auflagen, Limits und Weisungen und informell in den "Abstimmungs- und Bilanzrunden" zeigte. Produzenten und Abnehmer waren aber nach wie vor nicht bereit, Verträge abzuschließen, weil sie das mit den Sanktionen verbundene Risiko nicht eingehen wollten. Der Vertragsabschluß wurde oft auch dadurch behindert, daß dem potentiellen Partner wegen des fehlenden Perspektivplans seine mittelfristige Entwicklung unbekannt war. Die Idee, daß sich die Wirtschaftseinheiten ihre Partner selbst aussuchen, mit ihnen
1 SED-Bezirksleitung Halle an Mittag, 7.11.66: Zu Problemen der Leitung durch die VVB in der 2.Etappe des NÖS, SAPMO-BA DY30 IV A2/2021/345. 2 Abt. Planung und Finanzen: Zu einigen grundsätzlichen Fragen bei der Ausarbeitung des Perspektivplanprojektes, 17.10.66, BA DE 1/56084; Schürer an Mittag: Bericht über den Stand und die Probleme der Ausarbeitung des Perspektivplanes, 21.10.66, SAPMO-BA DY30 IV A2/2021/454. 3 Beispiele in: Abt. Planung und Finanzen an Mittag, 12.8.66: Sektor Industrieökonomik: Stellungnahme zum "Zweiten Zwischenbericht...", SAPMO-BA DY30 IV A2/2021/407; SPK: Niederschrift über die am 25.10.66 durchgeführte Problemdiskussion über Fragen der Bilanzverantwortung der VVB Werkzeugmaschinen, 25.10.66, BA DE1/48610. 4 Stenographische Niederschrift der Sitzung der Perspektivplankommission ... am 14.4.66, SAPMO-BA DY30 IV A2/2021/448. 5 SPK, Wolf: Bericht über die ersten Ergebnisse der Durchfuhrung der 2.Etappe des NÖS, 6.6.66, BA DE1/49682.
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Volkswirtschaft"
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Verträge abschließen und diese den Bilanzen zugrunde legen sollten, setzte sich nicht durch. Die Verflechtungen quasi von "unten" wachsen zu lassen, war zwar ein bestechender Gedanke, aber es erschien den Wirtschaftseinheiten doch sicherer, ihre Inputanforderungen erst in den Bilanzen unterzubringen - angesichts der beschriebenen Hemmnisse für den Vertragsabschluß und der im Vergleich zu den verfügbaren Finanzmitteln unzureichenden Ressourcenausstattung der Volkswirtschaft. Die Praxis zeigte, daß vor Abschluß der Bilanzierung kaum Verträge unterzeichnet wurden. Inzwischen räumten auch die Reformer ein, daß für die dabei zu treffenden Verteilungsentscheidungen ökonomische Kriterien fehlten. Das Bilanzsystem und die Instrumente finanzwirtschaftlicher Lenkung behinderten sich daher wechselseitig. 1 Es war für die Wirtschaftseinheiten leichter "offene Bilanzprobleme", das bedeutete fehlende Vorleistungen, über den vertikalen Leitungsweg nach "oben" zum Minister zu geben und diese Fragen dort klären zu lassen, als selbst die - nach wie vor schwach ausgeprägten - horizontalen Verbindungen zu aktivieren. 2 Schürer stellte im Frühjahr 1967 fest, daß das bisherige Bilanzsystem in letzter Konsequenz zur Folge hatte, "daß alle Forderungen an die SPK herangetragen werden, die dann j a oder nein sagen muß." 3 Die VVB und Betriebe kamen - entgegen allen Forderungen der Parteispitze - kaum dazu, sich auf den "wissenschaftlichen Vorlauf' zu konzentrieren, sondern widmeten sich meist operativen, oft bürokratischen Fragen. Betriebsuntersuchungen ergaben, daß "das bisherige Planungssystem die eigenverantwortliche Planaufstellung und volle Wahrnehmung der Rechte und Pflichten des Betriebes aus der wirtschaftlichen Rechnungsführung stark ein(schränkt)". 4 Bei den Betrieben häuften sich die Anforderungen der verschiedensten Stellen. Zum einen hatten sie die Planunterlagen auszuarbeiten, die zwar formal reduziert worden waren, durch die zusätzlich verlangten Papiere aber praktisch wohl etwa den gleichen Umfang wie früher hatten. Außerdem erforderte jede Planänderung während seiner Umsetzung eine Anpassung der Planunterlagen. Nicht zuletzt korrigierte man im Verlauf der Reform nahezu alle Regelungen für den wirtschaftlichen Ablauf, mit denen sich das Führungspersonal und zum Teil die Beschäftigten immer wieder vertraut machen mußten. Darüber hinaus verlangten diverse Kontrollinstanzen (Arbeiter-und-Bauern-Inspektion, Inspektion, Wirtschaftskontrolle, Finanzrevision, Industriebankfiliale, zeitweilige Operativstäbe) oft unkoordiniert mündliche und schriftliche, meist sehr aufwendige Berichte. Der bürokratische Aufwand war also in den Betrieben und VVB mit der Reform keineswegs gesunken. 5 In der SPK stellte man letzt-
1
SPK, Wolf: Bericht über die ersten Ergebnisse der Durchführung der 2.Etappe des NÖS, 23.5.66, BA DE1/49681; Arbeitsgruppe 3: Rolle und Funktionsweise der volkswirtschaftlichen Bilanzierung im ÖSS (Diskussionsmaterial), 20.2.67, SAPMO-BA DY30 J IV 2/202/415.
2
Minister für Leichtindustrie, Wittik an Mittag, 30.12.66: Zwischenbericht zu inhaltlichen Fragen über den Stand der Herausarbeitung des Systems der Planung und Leitung der Kooperation in der Leichtindustrie, SAPMO-BA DY30 IV A2/2021/308.
3 Abt. Planung und Finanzen: Information über die Behandlung einiger Grundfragen der weiteren Arbeit der SPK durch Gen. Schürer ... am 10.3.67, 13.3.67, SAPMO-BA DY30 IV A2/2021/254. 4
Abt. Planung und Finanzen: Information über erste Ergebnisse bei der Verbesserung des Planungssystems auf Betriebsebene durch die SPK, 16.3.67, SAPMO-BA DY30 IV A2/2021/254.
5
SED-Bezirksleitung Halle an Mittag, 7.11.66: Zu Problemen der Leitung durch die VVB in der 2.Etappe
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Entwicklung und Implementation
der Reform
lieh fest und der Parteiapparat stimmte dem zu, "daß das neue ökonomische System auf dem Wege von der zentralen Ebene bis zum Betrieb systematisch verhungert." 1 Deshalb überlegte man in der SPK, wie der Lenkungsaufwand in den Betrieben zu verringern sei. Mit der Reform hatte man sich zwar bemüht, die zentralen Vorgaben zu reduzieren und den VVB und Betrieben mehr Planungsfreiräume zu eröffnen. Aber Umfang und Detailfülle der Betriebspläne hatten sich kaum geändert. 2 In Schürers Augen hatte die "Planung auf der Ebene der Betriebe noch zuviel Züge der Planmethodik von 1948". Daher sollte den Betrieben das Recht gegeben werden, "den Teil der Planungsunterlagen, den sie für die eigene Führungstätigkeit benötigen, selbst zu gestalten." Dabei seien lediglich die "Anschlußstücke zur zentralen Planung" zu sichern. 3 Bei diesen Überlegungen zeigte sich aber, daß die ökonomische Forschung auf diesem Gebiet kaum etwas anbieten konnte. Die Betriebswirtschaft hatte 1967 gerade erst mit systematischer Forschung begonnen. 4 Trotz der angeführten Mängel wurde der Perspektivplan bis 1970 auf Basis der neuen Planungsmethoden fertiggestellt. Jedoch waren seine Aufgaben noch nicht - wie vorgesehen - aus über den mittelfristigen Zeitraum hinausgreifenden Ziele zurückgerechnet, weil die dafür erforderlichen Prognosen noch nicht so weit ausgearbeitet waren. Daher enthielt er nur eine mehr oder weniger differenzierte Fortschreibung der bis dahin erreichten Ergebnisse. Besondere Schwierigkeiten ergaben sich aus den Unwägbarkeiten des Außenhandels. Neben den teilweise noch immer offenen Fragen des Warenaustausches mit der Sowjetunion und der Investitionsbeteiligung waren die für die Rationalisierung und Modernisierung der Industrie dringend erforderlichen Importe vom Weltmarkt nur dann zu realisieren, wenn dort absetzbare Güter zur Verfügung standen. Der von der SPK Anfang 1967 vorgelegte und zumindest volkswirtschaftlich gleichgewichtige Entwurf des Perspektivplans bis 1970 sah im Unterschied zu den verworfenen Planentwürfen ein höheres Wachstum des produzierten Nationaleinkommens von durchschnittlich jährlich 5,4 % (vorher: 4,7 %) vor. Allerdings blieben die für die Industrie projektierten Produktions- und Produktivitätszuwächse in etwa gleich. Jedoch strebte man eine wachsende Rentabilität an, die vor allem auf erhöhter Investitionseffektivität durch mehr Rationalisierung und auf Umstrukturierung der Produktion und der Investitionen zugunsten der rentableren metallverarbeitenden und chemischen Industrie beruhen sollte. Die Defizite bei den Investitionen und dem Außenhandel, die bei den alten Entwürfen die größten Probleme bereitet hatten, sollten nun durch das größere verteilbare Produkt und eine Erhöhung des für die Akkumulation eingesetzten Anteils beseitigt werden. Die bei der Planung immer wieder ausufern-
des NÖS, SAPMO-BA DY30 IV A2/2021/345. 1 Abt. Planung und Finanzen: Information über erste Ergebnisse bei der Verbesserung des Planungssystems auf Betriebsebene durch die SPK, 16.3.67, SAPMO-BA DY30 IV A2/2021/254. 2
Abt. Planung und Finanzen an Mittag, 7.4.67: Information über einige Probleme der Betriebsplanung,
3
Protokoll der Sitzung der Plankommission am 18.1.67: Stichwortartige Niederschrift der Ausführungen
SAPMO-BA DY30 IV A2/2021/252. des Gen. Schürer, BA DE1/50065. 4
Abt. Planung und Finanzen an Mittag, 7.4.67: Information über einige Probleme der Betriebsplanung, SAPMO-BA DY30 IV A2/2021/252.
Das "Neue Ökonomische System der Planung und Leitung der Volkswirtschaft"
133
den Investitionsvorstellungen der Ministerien und Wirtschaftseinheiten wurden von der SPK zum Teil strikt begrenzt. Außerdem erhöhte sie noch kurz vor Fertigstellung des Planentwurfs den für die Akkumulation zur Verfügung stehenden Teil des Nettoprodukts auf Kosten der für die Bevölkerung bereitgestellten Waren. Das schien durch die absolute Steigerung des Verteilbaren ohne soziale Konflikte möglich. Obwohl die Akkumulation im Durchschnitt pro Jahr um 6,2 % (vorher: 5,7 %) angehoben werden sollte, war für die Konsumtion ein Wachstum von 4,2 % (vorher: 3,0 %) vorgesehen. Damit sollten die Investitionen durchschnittlich um 8,7 % (vorher: 8,3 %) pro Jahr erhöht werden, wobei der Anteil der Industrie leicht reduziert wurde.' Es war gelungen, die Ministerien und Wirtschaftseinheiten im Plan zu einer stärkeren Ausnutzung ihrer Ressourcen, also zu mehr Effizienz zu zwingen. Durch den damit gestiegenen Output konnten die Verteilungsdefizite tendenziell ausgeglichen werden. Trotzdem war es unsicher, ob die Wirtschaftseinheiten die geplanten Leistungen tatsächlich erreichen würden, denn teilweise enthielten die Pläne der Ministerien Aufgaben, die über der Summe der VVB- und Betriebspläne lagen. 2 Inwiefern diese Deckungslücken bei der weiteren Präzisierung des Planes beseitigt werden konnten, ist ungewiß. Insofern war dieser Plan wohl nicht "sicherer", als der von Apel angestrebte und es mußte sich bei der Planrealisierung zeigen, welche Reserven die Wirtschaftseinheiten darin versteckt hatten und inwieweit sie von "oben" zu mobilisieren waren. Gerade Ulbricht drängte darauf, daß der technologische Fortschritt unverzüglich durchzusetzen sei. Daher mahnte er in der Perspektivplankommission bereits im April 1966, man solle sich "nicht einbilden, daß wir nur auf dem Wege der ökonomischen Hebel alle diese Aufgaben lösen können, sondern das N Ö S ist in diesem Zeitabschnitt des Perspektivplans bis 1970 eben untrennbar mit dem wissenschaftlich-technischen Fortschritt und dem größeren Vorlauf auf dem Gebiet der Wissenschaft, der Rationalisierung und Automatisierung verbunden. Das ist eine Einheit." 3 Die Reformierung des Lenkungs- und Koordinationsmechanismus und das Vorantreiben des technologischen Wandels hatte in seiner Sicht gemeinsam zu erfolgen, wobei am Ende der neue Mechanismus endogen eine ständige Modernisierung zu gewährleisten hatte. Da dieser aber noch nicht wirksam war, benötigte man zwischenzeitlich andere Mittel, um die Innovationsanstrengungen zu forcieren, was tendenziell Interventionen und Druck von "oben" sowie die Gefahr bedeutete, daß sich diese Bemühungen verselbständigten und damit den Wandel des Lenkungs- und Koordinationsmechanismus untergruben. Entsprechend dem Ziel Ulbrichts, den Strukturwandel zu beschleunigen, wurde der im
1 Apel: Politbürovorlage. Einige grundsätzliche Probleme zur Fertigstellung des Perspektivplanprojektes, 26.11.65, SAPMO-BA DY30 J IV 2/2A/1130; Abt. Planung und Finanzen: Einige Probleme der Strukturveränderungen unserer Volkswirtschaft ..., 20.10.66, SAPMO-BA DY30 IV A2/2021/455; Abt. Bilanzierung des Perspektivplanes: Information über die ersten Ergebnisse der Untersuchungen zur Erhöhung der Akkumulationsrate bis 1970, 27.10.66, BA DE 1/56084; SPK: Volkswirtschaftliche Begründung zum Entwurf des Perspektivplans bis 1970, 13.1.67, BA DE1/56081. 2 Schürer an Mittag: Bericht über den Stand und die Probleme der Ausarbeitung des Perspektivplanes, 21.10.66, SAPMO-BA DY30 IV A2/2021/454. 3 Stenographische Niederschrift der Sitzung der Perspektivplankommission ... am 14.4.66, SAPMO-BA DY30 IV A2/202I/448.
Entwicklung und Implementation
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der Reform
Januar 1967 vorliegende Entwurf des Perspektivplans dann noch einmal überarbeitet, wobei an den quantitativen Vorgaben kaum etwas geändert wurde und man sich darauf beschränkte, die strukturbetonte Neuausrichtung des Perspektivplans verbal zu charakterisieren.' Zum Jahresbeginn 1967 trat auch die letzte Etappe der Industriepreisreform in Kraft. 2 Neben dem Perspektivplan war ihr Abschluß eine wesentliche Voraussetzung für das Realisieren des Reformkonzepts im Ganzen. Das Fehlen dieser beiden Elemente hatte sich bei vielen einzelnen Schritten als hinderlich oder einschränkend erwiesen. Die diversen wirtschaftlichen Anreize standen bis dahin unvermittelt nebeneinander, neue Regelungen wurden zu verschiedenen Zeiten und teilweise in verschiedenen Bereichen erprobt und eingeführt. Mit dem Abschluß der Industriepreisreform und dem Perspektivplan war es möglich, die Funktionstüchtigkeit und den Zusammenhang der Einzelschritte zu überprüfen. 3 Nun konnte auch an jene Überlegungen von Ende 1964, Anfang 1965 wieder angeknüpft werden, die damals in sechs VVB erprobt werden sollten, aber auf Grund der fehlenden Voraussetzungen und des Wirkens der Reformgegner nicht experimentiert werden konnten. In den folgenden Teilen dieser Arbeit wird im Detail zu zeigen sein, welche Momente bis 1967 außerdem den Effekt der diversen Lenkungsinstrumente beeinflußte. Die in der Industrie erzielten Ergebnisse waren in dieser ersten Phase der Reform nicht ganz so eindrucksvoll, wie das teilweise in der Literatur erscheint. 4 Zwar stabilisierten sich die Zuwachsraten der Nettoproduktion auf einem etwas höheren Niveau, aber die Arbeitsproduktivität nahm nur ungleichmäßig zu. 5 Hier schlugen sich insbesondere die Schwierigkeiten im Jahr 1965 nieder, die intraindustriellen Verflechtungen und benötigten Vorleistungen zu sichern, was sich in der Entwicklung der Bestandsproduktivität zeigte. Sie verschlechterte sich aber ab 1966, wie die Anlagenproduktivität bereits seit Reformbeginn langsamer als vorher, was schon als Erfolg gelten konnte, aber schließlich noch keine Effizienzverbesserung darstellte (Anhangtabellen A I , A8, A9, A l l ) . Trotz dieser ambivalenten Resultate hatte sich aber die wirtschaftliche Lage gegenüber der Krisensituation von 1960/61 verbessert. Dies wurde in einer Ende 1965 durchgeführten Meinungsumfrage deutlich, nach der reichlich die Hälfte der in den Betrieben Befragten der Auffassung war, daß die DDR in den drei zurückliegenden Jahren - also seit Reformbeginn - wirtschaftlich "große Erfolge erzielt" habe, ein knappes Viertel billigten ihr "weniger große Erfolge" zu und etwa 15 % meinten, daß sie nur geringe bzw. keine Erfolge zu verzeichnen hatte. Gleichzeitig schätzten aber knapp drei
1
Ministerrat: Gesetz über den Perspektivplan zur Entwicklung der Volkswirtschaft der DDR bis 1970 (Entwurf), [19.1.67], SAPMO-BA DY30 IV A2/2021/455; Gesetz über den Perspektivplan zur Entwicklung der Volkswirtschaft der DDR bis 1970 vom 26.5.67, in: Gbl. 1967,1, S. 66ff.
2 3
Zu den Ergebnissen siehe das zweite Kapitel. SPK, Wolf: Analyse der Wirkung der eingeführten ökonomischen Hebel, Schlußfolgerungen und Konzeption für die Gestaltung des Systems ökonomischer Hebel in der 2.Etappe des NÖS, 4.11.66, BA DE1/49692.
4 5
Roesler, Plan und Markt, S. 36. Allerdings berücksichtigen die hier zugrunde gelegten Produktivitätsangaben nicht die Entwicklung der Arbeitszeit. Bei deren Einbeziehung läge die Produktivität 1966/67 durch die schrittweise Einführung der Fünftagewoche noch etwas höher.
Das "Ökonomische System des
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Viertel realistisch, daß die wirtschaftliche Entwicklung nicht ausreichte, "um gegenüber Westdeutschland aufzuholen". 1 Gerade diesem Ziel aber war die SED-Spitze nach wie vor verpflichtet. Um den dafür erforderlichen Strukturwandel zu beschleunigen, modifizierte sie das Konzept für den Lenkungs- und Koordinationsmechanismus. Das war bereits seit längerem bedacht worden, wurde aber erst 1967/68 praktisch wirksam. 2
5. Das "Ökonomische System des Sozialismus" die zweite Phase der Reform von 1967/68 bis 1970/71 Auf dem Vll.Parteitag der SED (17.-22.April 1967) wurde auch öffentlich deutlich, daß Wirtschaftspolitik künftig vor allem Strukturpolitik sein sollte. Ulbricht betonte, daß die Gestaltung der effektivsten Struktur der Volkswirtschaft die Hauptaufgabe des - nunmehr das NÖS begrifflich und inhaltlich ablösenden - "Ökonomischen Systems des Sozialismus" (ÖSS) sei. Das sollte nicht nur als methodische Ergänzung, sondern als ein qualitatives Problem der Planung verstanden werden. Auf der Grundlage analytisch-prognostischer Einschätzungen der zu erwartenden Entwicklungen in Wissenschaft und Technik sowie in der Produktion und Konsumtion waren die strukturbestimmenden Haupterzeugnisse und Erzeugnisgruppen festzulegen und in einer strukturpolitischen Konzeption der Volkswirtschaft zusammenzufassen. 3 Dabei wollte man sich auf die Zweige und Disziplinen konzentrieren, die die strategische Basis für den technologischen Wandel, die sogenannte wissenschaftlich-technische Revolution, und insbesondere für die Automatisierung materieller und geistiger Prozesse bildeten. Die auszuwählenden Haupterzeugnisse, Erzeugnisgruppen sowie Verfahren und Technologien sollten hocheffektiv und im Export rentabel sein, dem wissenschaftlichtechnischen Höchststand entsprechen oder auf einheimischen Rohstoffen und Energiequellen aufbauen bzw. als Zulieferung sowie für den Bevölkerungsbedarf besonders wichtig sein. 4 "Das qualitativ Neue in der Planung" war laut Ulbricht, "daß sie sich konzentriert auf die prognostisch fundierte Planung der strukturentscheidenden Prozesse, die den Effektivitätszuwachs bestimmen, und diese fest verbindet mit der komplexen Planung der Proportionen und volkswirtschaftlichen Verflechtungsbeziehungen". 5 Diese strukturpolitische Komponente sollte also in den Lenkungsund Koordinationsmechanismus insgesamt eingebettet bleiben. Der Grundgedanke lautete, "die zentrale staatliche Planung und Leitung der Grundfragen des gesellschaftlichen Gesamtprozesses (...) organisch zu verbinden mit der eigenverantwortlichen Planungs- und Leitungstätigkeit der so-
1 Institut für Meinungsforschung: Bericht über eine Umfrage zu einigen Problemen der technischen Revolution und der Automatisierung, 26.1.66, SAPMO-BA DY30 IV A2/2021/87. 2
Vgl. zu diesem Prozeß das vierte Kapitel.
3
Protokoll Vll.Parteitag, Bd. 1, S. 137-140.
4
Ebenda, S. 112f„ 118f.
5
Ebenda, S. 146.
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Entwicklung und Implementation
der Reform
zialistischen Warenproduzenten einerseits und mit der eigenverantwortlichen Regelung des gesellschaftlichen Lebens im Territorium durch die örtlichen Organe der Staatsmacht andererseits." 1 Es wird später zu zeigen sein, wie sich die strukturbestimmende Planung nach einer eigenen Logik verselbständigte und schließlich den Gesamtmechanismus blockierte. 2 Obwohl davor gewarnt wurde, verstand man damals diese Beschlüsse noch nicht als einen solchen Einschnitt, als die sie sich im Laufe der Zeit erweisen sollten. Hinter den wirtschaftspolitischen Weichenstellungen des VILParteitages stand die Vorstellung, auf den entscheidenden Gebieten der wissenschaftlich-technischen Entwicklung das jeweils in der Welt führende Land schnell zu überholen und mit einer solchen forcierten Anstrengung eine sprunghafte Steigerung der Produktivität zu erreichen. Intern wurde davon ausgegangen, daß man im Prognosezeitraum, also bis 1980, die Bundesrepublik im Entwicklungstempo und Niveau sowohl der Produktivität als auch des Lebensstandards einholen und übertreffen werde. 3
Ausarbeitung und Inhalt des modifizierten Konzepts Bei der Modifizierung des Konzepts wurde auf eine bereits bewährte Methode zurückgegriffen. Auf Vorschlag des wissenschaftlichen Mitarbeiters von Ulbricht, Berger, schuf das SED-Politbüro im Herbst 1966 einen Arbeitskreis, der grundsätzliche Fragen der weiteren Politik erörtern und Entscheidungen vorbereiten sollte. Berger erinnerte daran, daß die Erfahrungen mit dem N Ö S gezeigt hätten, daß man nun einen Schritt weiter gehen müsse und für den zu entwickelnden "modernen sozialistischen Industriestaat" nicht nur das ökonomische, sondern das gesamtgesellschaftliche System zu entwickeln sei. Dazu müsse eine "strategische Konzeption" der gesellschaftlichen Entwicklung der D D R wissenschaftlich erarbeitet werden. Daher sollten in dem "Strategischen Arbeitskreis" des Politbüros neben einigen erfahrenen älteren vor allem jüngere wissenschaftlich ausgebildete Funktionäre zusammenkommen. 4 Der Arbeitskreis wurde von Ulbricht geleitet und Berger assistierte als Sekretär. Darüber hinaus gehörten ihm ex officio alle ZK-Sekretäre, darunter Mittag als Wirtschaftssekretär, Regierungschef Stoph, der Leiter des Preisamtes und einer der "Reformköpfe" Halbritter sowie Günter Kleiber an, der die neu geschaffene Position eines Staatssekretärs für Datenverarbeitung übernommen hatte. Die "eigentlichen" Mitglieder, die an den Konzepten arbeiteten, waren in sechs Arbeitsgruppen zusammengefaßt, die sich mit der Innen-, Außen-, Wirtschafts-, Wissenschafts-, Kultur- sowie Sozialpolitik befaßten. Die Arbeitsgruppe 3 "Wirtschaftspo-
1 Ebenda, S. 142. 2 Vgl. das vierte Kapitel. 3 Niederschrift über die 2.Beratung der Mitglieder der Arbeitsgruppe 3 "Wirtschaftspolitik" am 19.12.66, SAPMO-BA DY30 J IV 2/202/414. 4 Berger: Vorschlag zur Bildung eines Arbeitskreises zur Planung der Strategie der Partei auf den Gebieten der Politik, der Wirtschaft und der Kultur, 30.8.66; Ulbricht: Politbürovorlage. Bildung eines Arbeitskreises ..., 6.9.66, SAPMO-BA DY30 J IV 2/202/398; Protokoll der Politbürositzung am 6.9.66, SAPMOBA DY30 J IV 2/2A/1175.
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litik" leitete Herbert Wolf und zu ihr gehörten neben Schürer, Siegfried Böhm, der inzwischen nicht mehr Leiter der ZK-Abteilung Planung und Finanzen, sondern als Nachfolger von Rumpf Finanzminister war, Helmut Koziolek, nun Chef des Zentralinstituts für sozialistische Wirtschaftsführung beim ZK, die zuständigen ZK-Abteilungsleiter, ein Industrieminister, mehrere Generaldirektoren, einige Vertreter aus der Landwirtschaft und zwei weitere Wissenschaftler. 1 In der ersten Beratung des Arbeitskreises am 1. Dezember 1966 formulierte Ulbricht Ziele und Zeitplan. Da - so Ulbricht - mit dem "umfassenden Aufbau des Sozialismus nach unserer privaten stillschweigenden Einschätzung ungefähr bis 1975" gerechnet wurde, sollten für diesen Zeitraum die entsprechenden Aufgaben der SED festgelegt werden. Dabei war bis 1970 die Wirtschaftsreform umzusetzen, so daß der mittelfristige Plan 1971 bis 1975 bereits auf Basis des neuen Lenkungs- und Koordinationsmechanismus erarbeitet und realisiert werden konnte. Für die Vorbereitung des im Frühjahr 1967 anstehenden SED-Parteitages sollten die Arbeitsgruppen bis Ende Februar die entsprechenden Materialien erarbeiten. 2 Die Arbeitsgruppe Wirtschaftspolitik legte auf der Basis verschiedener Teilkonzeptionen, beispielsweise zu den Preisen, zur Außenwirtschaft, Bilanzierung und Entwicklung der Produktivkräfte 3 , termingemäß ein Gesamtkonzept für das OSS in einem U m f a n g von 160 Seiten vor, auf dem die auf dem Parteitag vorgestellten Ideen im wesentlichen basierten. 4 Der Strategische Arbeitskreis blieb nach dem Parteitag bestehen und die Zahl der Arbeitsgruppen wurde noch erweitert. Er sollte der SED-Spitze, namentlich vor allem Ulbricht, neue wissenschaftliche Erkenntnisse und ihre absehbaren gesellschaftlichen Konsequenzen deutlich machen. Die Gruppe Wirtschaftspolitik hatte vor allem das modifizierte Reformkonzept zu konkretisieren und zu präzisieren sowie die damit zusammenhängenden wissenschaftlichen Fragen zu klären. Ulbricht verlangte aber, der SED-Spitze stets die diskutierten Varianten vorzulegen, damit sie sich selbst ein Bild machen und entscheiden könne. Die Mitglieder des Arbeitskreises sollten sich nicht in die Tätigkeit der staatlichen Wirtschaftsbürokratie einmischen oder mit operativen Aufgaben befassen. Allerdings hatten sie Ulbricht zu unterrichten, wenn ihnen bekannt werden sollte, daß wesentliche Vorhaben verzögert würden. 5 Zumindest in Bezug auf die Wirtschaftsreform wurden damit in nicht untypischer Weise Partei- und staatliche Funktionen verwischt. In seiner Parteifunktion, als Leiter der Arbeitsgruppe Wirtschaftspolitik des Strategischen Arbeitskreises, war Wolf Schürer übergeordnet, in seiner staatlichen Funktion, als Stellvertreter des SPK-Chefs für das ökonomische System, sein Untergebener. Deutlich wurde aber auch, daß der Arbeitskreis als
1 Arbeitskreis zur Planung der Strategie der Partei auf den Gebieten der Politik, der Wirtschaft und der Kultur, [Zusammensetzung], SAPMO-BA DY30 J IV 2/202/399. 2 Stenographische Niederschrift der Beratung des Arbeitskreises ... am 1.12.66, SAPMO-BA DY30 J IV 2/202/400. 3 Siehe in: SAPMO-BA DY30 J IV 2/202/414+415. 4 Arbeitsgruppe 3: Mappe 1. Darstellung der Gesamtkonzeption des ökonomischen Systems des Sozialismus in der DDR, 28.2.67, SAPMO-BA DY30 J IV 2/202/416. 5 [Berger:] Betr.: Arbeitskreis zur Planung der Strategie der Partei auf den Gebieten der Politik, der Wirtschaft und der Kultur, [16.5.67], SAPMO-BA DY30 J IV 2/202/398; Protokoll der Beratung des Gen. Ulbricht mit dem Strategischen Arbeitskreis am 18.9.67, SAPMO-BA DY30 J IV 2/202/400.
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eine Art "Denkfabrik" gedacht war, an der sich Vertreter des Parteiapparates, der zentralen Wirtschaftsinstanzen, der VVB und Wissenschaftler beteiligten. Die Entscheidungen sollten jedoch weiterhin der SED-Führung überlassen bleiben. Die konkrete Umsetzung und die Ausarbeitung neuer Vorhaben und Regeln im Detail hatte durch die SPK in Abstimmung mit den wirtschaftspolitischen ZK-Abteilungen zu erfolgen. Weil vielen der Verantwortlichen die Konsequenzen der modifizierten Konzeption nicht klar waren, drängte Ulbricht im Herbst 1967 darauf, ebenso wie in der ersten Reformphase eine Arbeitsgruppe bei der Regierung zu bilden, die beim Umsetzen des Konzepts die diversen staatlichen Instanzen anleiten und koordinieren sollte. Sie hatte außerdem die Experimente und Erfahrungen mit den einzelnen Reformschritten auszuwerten und zu verallgemeinern. Zum Leiter dieser "Arbeitsgruppe beim Präsidium des Ministerrates für die Gestaltung des ökonomischen System des Sozialismus" wurde wieder Halbritter bestimmt. Daneben gehörten ihr nach einer Erweiterung 1968 die Staatssekretäre und stellvertretenden Leiter der Industrieministerien und der verschiedenen Querschnittsministerien und -ämter, also Vertreter aller wirtschaftlich relevanten zentralen Instanzen an. Außerdem waren die Generaldirektoren der VVB Schiffbau und VEB Uhrenkombinat Ruhla vertreten, in deren Verantwortungsbereich der Lenkungs- und Koordinationsmechanismus bereits insgesamt eingeführt und erprobt wurde. Die Mitglieder der Arbeitsgruppe sollten explizit nicht unbedingt die Meinung ihres jeweiligen Leiters vertreten müssen, was sich schon in der Arbeitsgruppe "NÖS" bewährt hatte, da auf diese Weise ein eigener "Kollektivgeist" beim Umsetzen der Reform hergestellt werden konnte, der von den Arbeitsgruppenmitgliedern in ihre Institution getragen wurde. 1 Allerdings mußte Halbritter nach reichlich einem Jahr Arbeit dieses Gremiums feststellen, daß man sich viel zu sehr nur mit den methodischen Regelungen befasse, die aber stärker im Zusammenhang mit den inhaltlichen Problemen erörtert und gelöst werden müßten. 2 Die von Ulbricht auf dem SED-Parteitag präsentierten Vorstellungen und die Konzepte aus dem Strategischen Arbeitskreis waren jedoch auf einem relativ abstrakten Niveau formuliert worden und mußten operationalisiert werden. Dabei kam es vor allem darauf an, die Gesamtwirkung des Systems und damit die Verzahnung seiner einzelnen Elemente zu beachten. Beispielsweise konnte die Produktionsfondsabgabe solange nicht wirksam werden, wie der Nettogewinn, d.h. Bruttogewinn abzüglich Produktionsfondsabgabe, nicht tatsächlich eine Größe war, an der die Wirtschaftseinheiten ihr Verhalten auszurichten hatten. 3 Die Konzepte wurden vor allem in der SPK unter Leitung
1 Niederschrift (W.Ulbricht) [offenbar Aufzeichnung aus einer Beratung mit Ulbricht], 4.10.67, SAPMOBA DY30IV A2/2021/672; Abt. Planung und Finanzen: Information über die erste Beratung der Arbeitsgruppe des Ministerrates für die Gestaltung des ÖSS [am 9.10.67], 16.10.67, SAPMO-BA DY30 IV A2/2021/421; Protokoll der Politbürositzung am 24.12.67: Grundlinie für die Gestaltung des staatlichen Leitungssystems zur Ausarbeitung und Durchführung des ÖSS, SAPMO-BA DY30 J IV 2/2A/1257; Leiter der Arbeitsgruppe für die Gestaltung des ÖSS: Ministerratsvorlage. Beschluß über die Erweiterung der Arbeitsgruppe ..., [Mai 1968], SAPMO-BA DY30 IV A2/2021/427. 2 Arbeitsgruppe für die Gestaltung des ÖSS beim PMR: Information über die Beratung der Arbeitsgruppe ... am 23.1.70, 28.1.70, SAPMO-BA DY30 IV A2/2021/423. 3 Protokoll der Beratung des Gen. Ulbricht mit dem Strategischen Arbeitskreis am 18.9.67, SAPMO-BA
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von Wolf zwischen dem Spätsommer 1967 und dem Frühjahr 1968 präzisiert und in konkrete Regeln gefaßt. Mit den anderen Wirtschaftsinstanzen wurde dies in der Arbeitsgruppe bei der Regierungsspitze koordiniert und von den ZK-Abteilungen kontrolliert.1 In einer Beratung zur Klärung inhaltlicher und methodischer Probleme der weiteren Gestaltung des ÖSS am 3.Februar 1968, an der Mittag, Halbritter, Schürer, Böhm, Wolf und Berger teilnahmen, war man sich einig, daß an Einzelfällen die Gesamtwirkung der Planung und der "ökonomischen Hebel" nicht gründlich genug zu ermitteln war. Um das ÖSS ab 1971 insgesamt anwenden zu können, sollten daher "die Jahre 1969/70 voll als Experimentierstrecke für das Gesamtsystem genutzt werden", wobei in der zentralgeleiteten Industrie und dem Bauwesen das modifizierte Konzept fast vollständig anzuwenden war. Lediglich beim Preissystem, in der Außenwirtschaft und bei den Lohnfragen wollte man weiter schrittweise vorgehen. Das Ausmaß der angestrebten Veränderungen wurde als so groß eingeschätzt, daß sie nicht mehr nur Sache der Fachleute sein konnten. Daher sei eine Periode "angestrengter ideologischer Überzeugungsarbeit" und massenhafter Qualifizierung notwendig, in der das Führungspersonal aller Ebenen des Wirtschafts- und Parteiapparats geschult werden sollte.2 Schon wenige Tage später, am 8.Februar 1968, diskutierten Politbüro und Regierung gemeinsam den vorgesehenen Wandel, wobei Ulbricht Wert darauflegte, die Referate im Politbüro nicht zuvor abzustimmen, um eine offene Diskussion zu ermöglichen - was auf die sonstige Praxis in diesen Gremien verwies. Obwohl Ulbricht direkt dazu aufforderte, wurde in dieser Beratung kein Widerspruch laut.3 Wahrscheinlich waren die Reformgegner mit den in diesem Konzept vorgesehenen Instrumenten für zentrale Interventionen zunächst einmal zufrieden und wollten erst die genaue Fassung der Regelungen abwarten. Diese lagen im März 1968 weitgehend vor und wurden im April des gleichen Jahres mit großem propagandistischen Aufwand im Staatsrat vorgestellt.4 Dabei konnten erste Erfahrungen aus den Betrieben, Kombinaten und VVB präsentiert werden, in denen diese Regelungen bereits erprobt wurden. Nach weiteren mehrfachen Überarbeitungen lag mit dem Ministerratsbeschluß vom 26. Juni 1968 über die " Grundsatzregelung für komplexe Maßnahmen zur weiteren Gestaltung des ökonomischen Systems des Sozialismus in der Planung und Wirtschaftsfüh-
DY30 J IV 2/202/400. 1 Vgl. Abt. Planung und Finanzen: Nächste Schritte zur Gestaltung des ÖSS ..., 24.5.67; Abt. Planung und Finanzen: Einschätzung des gegenwärtigen Standes bei der Einführung der dem ÖSS entsprechenden Regelungen ..., 22.8.67; Abt. Planung und Finanzen: Einschätzung der Verwirklichung der Parteibeschlüsse über die Gestaltung des ÖSS durch die SPK, 4.12.67, SAPMO-BA DY30 IV A2/2021/426. 2 Mittag: Information für Gen. Walter Ulbricht, 5.2.68, SAPMO-BA DY30 IV A2/2021/421. 3 Stenographische Niederschrift der gemeinsamen Sitzung des Politbüros und des Ministerrates ... am 8.2.68, SAPMO-BA DY30 J IV 2/201/771. 4 Schürer an Mittag, 11.3.68: Vorschläge zur Veränderung des Planungssystems, der Bilanzierung, der Anwendung langfristiger Normative der Gewinnverwendung, der schrittweisen Einführung des fondsbezogenen Preistyps und der Verwirklichung des Systems der Außenwirtschaft in den Jahren 1969 und 1970: Entwurf. Grundsatzregelung und dazugehörige Detailregelungen, 7.3.68, SAPMO-BA DY30 IV A2/2021/435; Zur Gestaltung des ökonomischen Systems des Sozialismus. Materialien der 8.Sitzung des Staatsrates der DDR vom 22.April 1968, Berlin (O) 1968.
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rungfür die Jahre 1969/70" (im folgenden: Grundsatzregelung) und den daraus abgeleiteten Verordnungen und Anordnungen im Sommer 1968 schließlich das neue Gesamtkonzept in operationalisierter Form vor. 1 Die "Grundsatzregelung" modifizierte das ursprüngliche Reformkonzept, die "Richtlinie", zum Teil ganz erheblich und löste diese ab. 2 Um den Strukturwandel zu beschleunigen, wurde in der "Grundsatzregelung" ein zweistufiger Lenkungs- und Koordinationsmechanismus konzipiert, mit dem zentral die strukturbestimmenden Prozesse vor allem in der Produktion und bei den Investitionen gesteuert werden sollten. Alle anderen wirtschaftlichen Abläufe hatten die Wirtschaftseinheiten untereinander auf der Basis des Planes innerhalb bestimmter Rahmenvorgaben selbst zu regeln. Der Perspektivplan war zum Hauptsteuerungsinstrument zu entwickeln, für den wiederum die strukturbestimmenden Aufgaben den Ausgangspunkt bildeten. Aus seinem Inhalt waren mittelfristig konstant zu haltende wirtschaftliche Normative (Produktionsfondsabgabe, Nettogewinnabführung und Prämienbemessung) abzuleiten. Auf der Grundlage der Perspektivplanaufgaben und der mittelfristigen Normative hatte die Jahresplanung zu erfolgen. Ihr Ablauf wurde deutlich vereinfacht und wieder auf eine "Planrunde" verkürzt. Darüber hinaus reduzierte man die Kennziffernnomenklatur. Den Wirtschaftseinheiten sollten innerhalb des Rahmens, den die Perspektivplanaufgaben und die Normative bestimmten, eigene Dispositionen über einen mittelfristigen Zeitraum gestattet werden, um so das "enge Jahresplandenken" zu überwinden. Das setzte voraus, daß die zentralen Vorgaben eine Qualität hatten, die hinreichte, sie tatsächlich stabil zu halten. In den Aufkommen-Verwendungs-Bilanzen waren die zentral festgelegten strukturbestimmenden Aufgaben vorrangig zu berücksichtigen. Die bilanzierenden Instanzen sollten eine effiziente Allokation der jeweiligen Güter erreichen. Um das Interesse der Wirtschaftseinheiten an rentablen Exporten zu steigern, hatte deren Valutaergebnis nun direkt den Gewinn zu beeinflussen. An ihn bzw. seinen Zuwachs wurden die wirtschaftlichen Anreize für die Betriebe im wesentlichen geknüpft: die Produktionsfondsabgabe, um die Vermögensnutzung zu ökonomisieren, die Nettogewinnabführung und die Prämienregelungen, um die Leistungen der Betriebe und ihrer Beschäftigten zu steigern. Dabei waren diese Anreize entsprechend den strukturbestimmenden Aufgaben so zu differenzieren, daß mit solchen Aufgaben betraute Wirtschaftseinheiten besser gestellt waren. Außerdem wurde die Erfüllung dieser Aufgaben zur Prämienvoraussetzung. Um auf die Betriebe, Kombinate und VVB Druck auszuüben, die Kosten kontinuierlich zu senken, war ein Mechanismus zu entwickeln, der die Preise an veränderte Kostenverhältnisse anpaßte. An die erste Stelle stellte die "Grundsatzregelung" jedoch, das Führungspersonal entsprechend den neuen Anforderungen zu qualifizieren, damit sie überhaupt umzusetzen war. 3 Auf die Möglichkeiten und Risiken dieses Mechanismus wird später - nachdem in den einzelnen Teilen dieser Arbeit verschiedene seiner Details behandelt wurden - im Zusammenhang mit der
1 Gbl. 1968, II, S. 433ff. 2 Zum Inhalt der vorausgehenden Diskussionen und den Modifikationen des Konzeptes vgl. bezogen auf die einzelnen Schwerpunkte in den verschiedenen Kapiteln. 3 Vgl. zusammenfassend: Schürer an Mittag, 13.3.68: Zusammengefaßte Erläuterung der Vorlage, SAPMOBA DY30 IV A2/2021/435. Ausführlich in: Grundsatzregelung 1969/70, S. 433ff.
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Lenkung des Strukturwandels eingegangen. Hier soll zunächst nur die Produktionslenkung interessieren. Dafür betrachtete man die Planung und darin die Aufkommen-Verwendungs-Bilanzierung nach wie vor als die entscheidenden Instrumente. Allerdings sollte der erforderliche Aufwand merklich reduziert werden. Darauf drängte Mittag mehrfach. Er monierte, daß "die alte Planmethodik hemmt, weil noch jede Schraube geregelt wird. Es geht bei der Planung alles hoch und zurück, alles zwei- bis dreimal. Wir müssen uns aber doch auf die strukturbestimmenden Dinge konzentrieren und nicht alles summarisch, mengen- und wertmäßig zusammentragen." 1 Daher sollten Jahresplanaufgaben, die nicht vom Perspektivplan abwichen, nicht noch einmal die gesamte "Planrunde" durchlaufen. Die Kennziffern im Plan waren zu vermindern und der Grad ihrer Verbindlichkeit zu differenzieren. Grundlage der Jahresplanung sollten die im Perspektivplan vorgegebenen Aufgaben, vor allem die für 1969/70 konstant zu haltenden Normative der Produktionsfondsabgabe und der Nettogewinnabführung sein, wobei die Wirtschaftseinheiten auch über die Prämienregelungen an einem hohen Gewinnzuwachs interessiert werden sollten. 2 Als verbindliche Plankennziffern galten für die Produktion außerdem nur noch struktur- und proportionsbestimmende Lieferungen an volkswirtschaftlich wichtige Abnehmer, die Gesamterzeugung für einige Rohstoffe und (im wesentlichen wohl die strukturbestimmenden) Erzeugnisse sowie der Export. Daneben existierten noch Niveaukennziffern, die als Zielgröße mit Toleranzen vorgegeben wurden, und informative Berechnungsziffern mit orientierendem Charakter. Es wurde verlangt, die Aufkommen-Verwendungs-Bilanzierung kontinuierlich zu gestalten, was heißen sollte, sie nicht an die üblichen Planungsrhythmen zu binden. Das widersprach aber der Festlegung, daß die Bilanzen Grundlage des Plans zu sein hatten. Den Bilanzen sollten nun grundsätzlich die abgeschlossenen Wirtschaftsverträge zugrunde gelegt werden. Diese Kette - vom Vertrag über die Bilanz zum Plan - stellte ein Moment der Eigenständigkeit der Wirtschaftseinheiten dar. Auch die Verantwortlichkeit für die Aufkommen-VerwendungsBilanzen sollte - soweit noch nicht geschehen - weitgehend auf die Hauptproduzenten übertragen werden. Für deren Entscheidung, welcher Bedarf zu befriedigen sei, erachtete man wohl die strikte Vorrangigkeit der strukturbestimmenden Aufgaben als ausreichendes Signal, um eine effiziente Allokation zu erreichen. Man sicherte den Betrieben nun einen Ausgleichsanspruch nach dem Verursacherprinzip für den Fall zu, daß ihnen aus Bilanzentscheidungen wirtschaftliche Nachteile erwuchsen. Andererseits war die bilanzierende Institution berechtigt, bei nachweisbar ungerechtfertigten Bedarfsanforderungen gegenüber den Betrieben Sanktionen anzuwenden. 3
1 Niederschrift (G.Mittag) [offenbar Aufzeichnung aus einer Beratung mit Ulbricht], 4.10.67, SAPMO-BA DY30 IV A2/2021/672. 2
Vgl. zur Nettogewinnabflihrung und ihrer Festlegung das vierte Kapitel, zur Produktionsfondsabgabe den entsprechenden Abschnitt im zweiten Kapitel und zu den Prämienregelungen das dritte Kapitel.
3
Grundsatzregelung 1969/70, S. 441ff.; VO über die Aufgaben, Pflichten und Rechte der Betriebe, Staatsund Wirtschaftsorgane bei der Bilanzierung materialwirtschaftlicher Prozesse vom 26.6.68, in: Gbl. 1968, II, S.481ff. Der Vorrang des Wirtschaftsvertrages vor der Bilanzierung war bereits in der "Richtlinie" von 1963 vorgesehen, wurde aber erst mit dieser VO umgesetzt. Vgl.: A. Rüger, Die Bedeutung "strukturbestimmender Aufgaben" für die Wirtschaftsplanung und -Organisation der DDR, (Deutsches Institut für Wirtschaftsforschung, Sonderhefte, Nr. 85), Berlin (W) 1969, S. 21.
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Damit konnte zumindest theoretisch das Problem gemindert werden, daß im Planungs- und insbesondere Bilanzierungsprozeß - wie bis dahin - "überharte Ausgangsvorstellungen auf die Realität" zurückgeführt werden mußten. Sowohl das jetzt wirksame Prinzip der Eigenerwirtschaftung der Mittel und die angedrohten Sanktionen als auch die Verträge als Basis der Bilanzen boten eine Chance, daß die Wirtschaftseinheiten gegenüber den bilanzierenden Instanzen nicht mehr einen überhöhten Bedarf anmeldeten. Die Frage der Kriterien, nach denen die bilanzierenden Instanzen zu entscheiden hatten, welcher Bedarf - außerhalb des strukturbestimmenden - abgedeckt werden sollte, wenn das Aufkommen nicht ausreichte, blieb allerdings ungeklärt. Vielmehr wurde den bilanzierenden Instanzen aufgegeben, alles zu tun, um das Aufkommen zu steigern. Die Arbeitsgruppe Wirtschaftspolitik des Strategischen Arbeitskreises hatte unter eingegrenzten Bedingungen Preiszuschläge, vertragsgebundene Bonitäten und Sanktionen, Provisionen und andere finanzwirtschaftliche Anreize vor allem für die Aufkommenssteigerung vorgeschlagen. 1 Jedoch waren solche Regelungen, wirtschaftstheoretisch gesehen, systemfremd, da hier auf die Preise Knappheitszuschläge gewährt werden sollten, was wohl der entscheidende Grund war, weshalb sie nur ansatzweise verwirklicht wurden. 2 Da sich die Wirtschaftseinheiten durch die "Eigenerwirtschaftung der Mittel" und die Prämienregelungen an der Gewinnsteigerung orientieren sollten, waren sie außerhalb der Vorgaben des Planes und der Bilanzen daran interessiert, die Produktion der besonders gewinnträchtigen Teile ihres Sortiments zu steigern. Da die Preise aber vom Prinzip her nicht im Hinblick auf Nachfrageverhältnisse gebildet wurden, waren solche Produkt ionserhöhungen nicht unbedingt bedarfsgerecht. Die Wirkung dieses potentiellen Widerspruchs vergrößerte sich noch in dem Maße, in dem die Produktionsfestlegungen im Plan reduziert wurden. Allerdings waren solche Sortimentsverschiebungen für die meisten Betriebe neben den Plankennziffern noch dadurch beschränkt, daß ihre Ausrüstungen technologisch nur einen begrenzten Spielraum hatten und größere Investitionen an den Plan gebunden blieben. Daher war der Freiraum für die Wirtschaftseinheiten bei der Gestaltung des Sortiments und der Lenkung der Produktion zwar größer als früher, blieb aber in engen Grenzen. Insgesamt gab die Zentrale auch mit der "Grundsatzregelung" die Lenkung prinzipieller Fragen nicht aus der Hand. Vielmehr wurden den nachgeordneten Ebenen in bestimmten Grenzen Verfügungsrechte übertragen und Entscheidungsspielräume gewährt, damit sie ihre Leistungsreserven mobilisierten. In dem Bereich, der nicht dem wieder verstärkten zentralen Zugriff der strukturbestimmenden Planung unterliegen sollte, meinte man gemäß der "Grundsatzregelung", mit einer gesamtwirtschaftlichen Planung den Rahmen setzen zu können, in dem die Betriebe auf der Basis von Marktbeziehungen - als Ausnutzung des Wertgesetzes oder der Ware-Geld-Beziehungen apostrophiert ihre wirtschaftliche Tätigkeit gemäß den gesamtgesellschaftlichen, d.h. zentralen Erfordernissen organisierten. Der wirtschaftlich selbständige Betrieb sollte agieren als "ein Teilsystem, welches vom
1 Arbeitsgruppe 3: Rolle und Funktionsweise der volkswirtschaftlichen Bilanzierung im ÖSS (Diskussionsmaterial), 20.2.67, SAPMO-BA DY30 J IV 2/202/415. 2
Zu den theoretischen Problemen des Preissystems siehe das zweite Kapitel und zur Problematik der Preiszu- und -abschlage siehe das vierte Kapitel.
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Ansatz her der Selbstregulierung und Selbststabilisierung sowie der weitgehend selbständigen Anpassung an die sich verändernden technischen und ökonomischen Bedingungen fähig ist." Dabei warf man - wie bereits zu Beginn der Reform - die Frage auf, "welche Instrumente und Regelungen ... im Sozialismus eine Analogfiinktion zur Konkurrenz im Kapitalismus sichern" müssen. Die Reformer waren also weiter darauf bedacht, marktwirtschaftliche Institute für das eigene System wirksam zu machen, um letztlich deren Dynamik zu erreichen, ohne aber selbst die Marktwirtschaft zuzulassen. Das mußte letztlich - wie noch mehrfach zu sehen sein wird - zu unlösbaren und effizienzmindernden Widersprüchen fuhren. Um einen solchen Gedanken zu operationalisieren, griff man wie die Terminologie bereits verrät - auf die ökonomische Kybernetik zurück, die zur gleichen Zeit international einen Aufschwung erlebte. 1 Gleichzeitig erforderte das Verständnis und die Anerkennung des Betriebes als selbständiges Teilsystem die Entwicklung einer "sozialistischen Betriebswirtschaftslehre", wie sie Ulbricht verlangte. 2 Eigentlich lag für eine Planwirtschaft, die den Anspruch erhob, den gesamtwirtschaftlichen Prozeß ex ante lenken zu können, nichts näher, als zu versuchen, diesen zu modellieren und damit zu formalisieren. Der Gesamtprozeß mit seinen Teilsystemen und deren Verbindungen konnte dann durch das Setzen von Rahmenbedingungen und mit wenigen Steuergrößen - in diesem Zusammenhang enthüllte der Begriff "ökonomischer Hebel" erst seine tiefere Bedeutung - in die "richtige", d.h. zentral erwünschte, Richtung gelenkt werden. Daher sollten auf allen Ebenen Führungsmodelle ausgearbeitet werden, von denen man sich auch versprach, daß sie die Eigenständigkeit der Wirtschaftseinheiten sicherten. 3 Schließlich mußten die Modelle der verschiedenen Hierarchiestufen verbunden sein und auf diese Weise die Möglichkeiten des Eingriffes von "oben" formalisiert werden, so daß sie nicht mehr extra-legal erfolgen würden. 4
1 Niederschrift über die 2.Beratung der Mitglieder der Arbeitsgruppe 3 "Wirtschaftspolitik" am 19.12.66, SAPMO-BA DY30 J IV 2/202/414; Wolf an Mittag, 18.1.67: Zur Ausarbeitung der Gesamtkonzeption der Planung der Strategie der Partei auf dem Gebiet der Wirtschaftspolitik der DDR; Arbeitsgruppe 3: Grundlinie zur Entwicklung des kybernetischen Gesamtsystems der Planung und Leitung, SAPMO-BA DY30 IV A2/2021/256; Arbeitsgruppe 3: Mappe 1. Darstellung der Gesamtkonzeption des ökonomischen Systems des Sozialismus in der DDR, 28.2.67, SAPMO-BA DY30 J IV 2/202/416; Arbeitsgruppe Sozialistische Wirtschaftsführung an Mittag, 8.6.67: Probleme der Anwendung der kybernetischen Wissenschaften und der elektronischen Datenverarbeitung bei der Gestaltung des ÖSS in der DDR, SAPMO-BA DY30 IV A2/2021/761. 2
Stenographische Niederschrift der gemeinsamen Sitzung des Politbüros und des Ministerrates ... am 8.2.68, SAPMO-BA DY30 J IV 2/201/771. 3 Schürer an Mittag, 13.3.68: Zusammengefaßte Erläuterung der Vorlage, SAPMO-BA DY30 IV A2/2021/435; Ministerrat: Beschluß zu den Grundsätzen der Entwicklung des volkswirtschaftlichen Bilanzsystems, 15.1.69, BA DC20-I/3-712. 4
Später sollte dieses System auch juristisch einheitlich kodifiziert werden. Dieser Ansatz zur Verrechtlichung war jedoch Spiegelbild der geänderten politischen Situation nach der Niederschlagung des "Prager Frühlings". Er sollte weniger dazu dienen, die Spielräume der Wirtschaftseinheiten und der zentralen Instanzen exakt abzugrenzen und zu regeln, als vielmehr die Durchsetzung der zentralen Interessen zu gewährleisten. Vgl. Ministerrat: Beschluß über Maßnahmen zur Weiterentwicklung des Wirtschaftsrechts des ÖSS bis 1975 vom 30.4.69, BA DC20-I/3-726.
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Insofern konnte die von den Reformern angestrebte Formalisierung Fortschritte bringen. Sie verlangte jedoch eine Fülle komplizierter Regeln und viele Informationen. Daher wurde Wolf bereits im Vorfeld der "Grundsatzregelung" mehrfach aus dem Parteiapparat dafür kritisiert, "daß zur Reglementierung über das Kennziffernsystem jetzt ein nicht durchschaubares System von Reglementierungen mit Hilfe der ökonomischen Hebel kommt." Das System der wirtschaftlichen Anreize stelle "eine unzumutbare Belastung der Betriebe" dar, weil es "viel zu kompliziert und mit einem enormen Papieraufwand verbunden" sei.1 Diese Kritik war zweifellos berechtigt, aber ein Modell zur makroökonomischen Lenkung war unter den gegebenen Prämissen wohl anders nicht zu haben. Auch das scheint manchen in der Parteispitze suspekt gewesen zu sein, zumal sie den Ansatz nicht verstanden, aber intuitiv wußten, daß damit die Möglichkeiten politisch motivierter Eingriffe in die wirtschaftlichen Belange eingeschränkt werden sollten.
Neue wirtschaftspolitische Ziele der SED-Spitze Die Möglichkeiten, die "Grundsatzregelung" praktisch umzusetzen, wurden von den Wachstumszielen der SED-Spitze und deren Vorstellungen Uber den Strukturwandel bestimmt. Sie zeigten sich vor allem im Zusammenhang mit der Ausarbeitung des kommenden Perspektivplans für 1971 bis 1975 und hatten bereits Konsequenzen für die Jahrespläne 1969 und 1970. Im September 1968 beriet die Perspektivplankommission das erste Mal und verabschiedete die volkswirtschaftliche Grobentwicklung, die der Erarbeitung der Planangebote von "unten" zugrunde gelegt werden sollte. Sie entsprach im wesentlichen den Grundannahmen der im Sommer 1968 verabschiedeten strukturpolitischen Konzeption, wonach das Nationaleinkommen jährlich im Schnitt um 5,5-6,0 % und die Industrieproduktion um ca. 7,0 % steigen sollte. Dabei ging man davon aus, daß ab 1971 der neue Lenkungs- und Koordinationsmechanismus vollständig wirksam sein und die Basis für solche Leistungssteigerungen bieten würde. Daher betrachtete Schürer diese Konzeption als reale, aber schon "gigantische Aufgabe", da man gleichzeitig "Weltspitzenleistungen auf entscheidenden Gebieten" vollbringen, die Automatisierung beschleunigen, den Lebensstandard verbessern und außerdem noch die Verteidigungsbereitschaft erhöhen wollte.2 Aber schon vor dieser ersten Beratung der Perspektivplankommission lag der Parteispitze eine Ausarbeitung der ZK-Abteilungen vor, die noch höhere Ziele verlangte, ohne daß dies dort quantifiziert oder mit Berechnungen fundiert wurde. 3 Inwiefern diese Überlegungen von Ulbricht oder Mittag angeregt wurden, läßt sich an Hand der vorliegenden Quellen nicht genau beantworten. 4 Anfang 1969 war man jedenfalls in der Parteizentrale
1 Abt. Planung und Finanzen: Einschätzung der Verwirklichung der Parteibeschlüsse über die Gestaltung des ÖSS durch die SPK, 4.12.67, SAPMO-BA DY30 IV A2/2021/426. 2
Schürer: Bericht des Vorsitzenden der SPK über den Stand der Vorbereitung des Perspektivplanes, 25.9.68, SAPMO-BA DY30 IV A2/2021/449.
3
Material [der wirtschaftspolitischen ZK-Abteilungen] zur Vorbereitung der 1 .Beratung der Perspektivplankommission [am 26727.9.68], SAPMO-BA DY30 IV A2/2021/450.
4
Herbert Wolf schreibt die drastische Erhöhung der zu erzielenden Wachstumsraten und damit zusammen-
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davon überzeugt, daß die bis dahin ins Auge gefaßten Strukturveränderungen und das auf dieser Basis zu erzielende Produktions- und Produktivitätswachstum nicht ausreiche, um die Überlegenheit gegenüber dem Westen zu beweisen. In temporär erreichten Produktivitätszuwächsen von 9 % wurde die Bestätigung gesehen, daß längerfristig durchschnittlich 10 % möglich seien. Daher war in der Sicht der ZK-Abteilungen ein neu konzipierter Planansatz notwendig, der auf das internationale wissenschaftlich-technische Niveau und eine deutlich schnellere Steigerung der Produktion und der Effektivität zielte.' Beeindruckt von solchen Möglichkeiten beauftragte Ulbricht Anfang Februar 1969 die wirtschaftspolitischen ZK-Abteilungen, eigene Vorschläge zum Perspektivplan vorzulegen, die - wie Mittag im Ergebnis referierte - darauf gerichtet sein sollten, "gegenüber den bisherigen Vorstellungen in der Strukturkonzeption ein höheres Tempo in der Arbeitsproduktivität zu erreichen. Ohne Rücksicht darauf, inwieweit im einzelnen eine Bilanzierung möglich ist, wurden auf wichtigen Gebieten konkrete Lösungswege vorgeschlagen, um in kürzeren Fristen Höchstleistungen zu erreichen und sie ökonomisch zu nutzen." 2 Offenbar erhielt der Minister für chemische Industrie einen ähnlichen Auftrag, da seinem Industriebereich eine entscheidende Bedeutung für die Wachstumsforcierung beigemessen wurde. Er legte Mittag Ende Februar 1969 Überlegungen vor, nach denen auf der Basis deutlich steigender Investitionen Zuwachsraten der chemischen Produktion bis zu maximal 20 % im jährlichen Durchschnitt zu erreichen waren. 3 Die SPK sollte ebensolche Pläne erarbeiten und wurde von Mittag gleichzeitig harsch kritisiert, daß sie zu sehr das Gleichgewicht von Aufkommen und Verwendung in den Mittelpunkt stelle und die strukturpolitische Konzeption vom Sommer 1968 "dogmatisch" nach unten umsetze. Damit würde der erforderlichen höheren Dynamik der Volkswirtschaft und des technologischen Wandels auf entscheidenden Gebieten nicht Rechnung getragen. Die SPK habe wider besseren Wissens "seit einiger Zeit nicht mehr die sogenannten 'Lokomotiven' im Griff, insbesondere nicht die künftigen 'Lokomotiven'". 4 Diese Kritik bezog sich
hängende Instrumente, wie die Objektplanung, die Bildung der Großforschungszentren u.a. dem Einfluß von Mittag zu. (Vgl. Wolf, Hatte die DDR je eine Chance?, S. 37ff.) Die vorliegenden Dokumente lassen zumindest kaum Zweifel daran, daß die entsprechenden Vorstellungen in der SED-Zentrale entstanden. 1 Wie es zur Herausbildung dieser Vorstellungen kam, läßt sich den vorliegenden Quellen nicht explizit entnehmen. Aus den angeführten Dokumenten können implizit die dargestellten Schlüsse gezogen werden. Vgl. Abt. Planung und Finanzen: Information über den Stand der Ausarbeitung des Perspektivplanentwurfs 1971-1975, 2.4.69, SAPMO-BA DY30 IV A2/2021/457; SPK: Niederschrift über den wesentlichen Inhalt der Beratung der Leitung der SPK am 13.2.69 ...; SPK: Niederschrift über eine Beratung des Stellvertreters des Vorsitzenden, Gen. Prof.Dr. Wolf, mit den Abteilungsleitern und GO-Sekretären der SPK ..., 27.2.69, BADE1/51156. 2
Mittag an Ulbricht, 11.4.69, SAPMO-BA DY30 IV A2/2021/457.
3
Minister für Chemische Industrie, Wyschofsky an Mittag, 27.2.69: Erste Konzeption zur Erhöhung des Entwicklungstempos der chemischen Industrie im Perspektivplan bis 1975, SAPMO-BA
DY30
IV A2/2021/457. 4
Dieses Bild kam mit hoher Wahrscheinlichkeit von dem ehemaligen Eisenbahner Günter Mittag und Helmut Lilie, der es laut der Niederschrift benutze, wiederholte es lediglich. Vgl. zu dem gesamten Vorgang: SPK: Niederschrift über den wesentlichen Inhalt der Beratung der Leitung der SPK am 13.2.69 ...; SPK:
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darauf, daß die Planbehörde angesichts der sich abzeichnenden Überbeanspruchung der Ressourcen durch die strukturbestimmenden Aufgaben fortwährend bemüht war, die Aufkommen-Verwendungs-Bilanzen ins Gleichgewicht zu bringen und weitere Vorschläge für solche hervorgehobenen Aufgaben der Ministerien und V V B abzuwehren. Der Ausweg wurde in einer "dynamischen Proportionierung" gesucht, mit der in den Plänen zuerst die "Lokomotiven der Entwicklung" und ihr struktureller Einfluß gesichert und (später) das Gleichgewicht hergestellt werden sollte. 1 Allerdings stellte schon dieser Terminus einen Widerspruch in sich dar. Da die Bilanzierung von Proportionen immer auf ein Gleichgewicht gerichtet war, hatte sie statischen Charakter und konnte somit nicht zugleich dynamisch sein. Der Begriff suggerierte jedoch eine prinzipielle Lösbarkeit dieses Gegensatzes, was Wolf Ende 1969 in einer Beratung explizit ausführte: "Strukturpolitik und Proportionalität passen nicht mehr zueinander. Temporäre und partielle Disproportionen sind nicht nur in Kauf zu nehmen, sondern zum Teil bewußt einzusetzen, um das N e u e zu fordern. Damit wird in gewissen Maße die Proportionierung auf einer höheren Ebene, nämlich im Gesamtprozeß, wieder hergestellt." 2 So logisch wie das in dieser Abstraktion klang, so schwierig war es im Detail zu praktizieren. Es stellte auch einen Bruch mit den bisherigen Auffassungen dar, die auf Erkenntnissen aus der Zeit vor der Reform beruhten. Ulbricht hatte in der Beratung der Kommission für den Perspektivplan bis 1970 am 2. Juli 1964 noch hervorgehoben, daß "unsere negative Erfahrung zeigt, daß ein unbilanzierter Perspektivplan, der ernste Disproportionen aufweist, nur in sehr ungenügendem Maße aktiv wirken kann. (...) Um rasch den wissenschaftlich-technischen Höchststand in den führenden Zweigen zu erreichen, neigen wir manchmal dazu, bei der Bilanzierung des Perspektivplans bestimmte Disproportionen in Kauf zu nehmen. Vor dieser Zwickmühle müssen wir uns hüten, denn gerade solche Verletzungen der Proportionen schaffen neue große Hürden auf dem Wege zum wissenschaftlich-technischen Höchststand." 3 Es hatte sich aber bereits 1968 gezeigt, daß die angestrebte Abfolge von Vertrag, Bilanz und Plan meist nicht zustandekam, weil mit den strukturbestimmenden Aufgaben Änderungen von "hinten", also vom Plan über die Bilanz durchgesetzt und danach erst die entsprechenden Verträge abgeschlossen wurden. Daher konnten die vertraglich bereits gesicherten Verflechtungen für nicht strukturbestimmende Aufgaben nicht in die Bilanz aufgenommen und deshalb diese Verträge nicht realisiert werden. 4 Aber selbst zu dieser Zeit, wenige Wochen bevor die "dynamische
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Niederschrift über eine Beratung des Stellvertreters des Vorsitzenden, Gen. Prof.Dr. Wolf, mit den Abteilungsleitern und GO-Sekretären der SPK ..., 27.2.69, BA DE1/51156. SPK, [Wolf]: Grundlinie zur vollen Durchführung des ÖSS ..., 18.2.69, SAPMO-BA DY30 IV A2/2021/428; SPK: Niederschrift über eine Beratung des Stellvertreters des Vorsitzenden, Gen. Prof.Dr. Wolf, mit den Abteilungsleitern und GO-Sekretären der SPK ..., 27.2.69, BA DE1/51156. Stenographische Niederschrift: Beratung beim Vorsitzenden der SPK am 6.11.69 mit Wissenschaftlern und Praktikern, BA DE 1/51188. Beratung der Kommission des Politbüros des ZK der SED und des Ministerrates der DDR zur Ausarbeitung des Perspektivplans 1964 bis 1970 [am 2.7.64], Redigiertes Stenogramm, BA DE1/47444. Abt. Planung und Finanzen: Zu einigen Problemen bei der Durchfuhrung des Beschlusses des Staatsrates ..., 28.8.68, SAPMO-BA DY30 IV A2/2021/427.
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Proportionierung" zum neuen Schlagwort wurde, betonte Wolf noch, daß in dem künftigen Perspektivplan "unaufgedeckte oder global unterstellte 'Reserven' sowie überzogene, wissenschaftlich nicht begründete Aufgabenstellungen weitestgehend zu vermeiden" seien. Er müsse in sich ausgeglichen sein, sowie optimale und zugleich reale Aufgaben beinhalten.' Diese Prämissen wurden aber unter dem Druck der SED-Zentrale, höhere Wachstumsraten zu erzielen, hintangestellt. Entsprechend dem Auftrag, "unvoreingenommen neu (zu) rechnen" 2 , arbeitete die SPK ebenso wie die wirtschaftspolitischen ZK-Abteilungen bis April 1969 neue Varianten für den Perspektivplan 1971 bis 1975 aus. Die Vorstellungen aus der SED-Zentrale und der Planungsbehörde unterschieden sich nicht wesentlich. Bis dahin hatte dem Plan die Vorgabe zugrunde gelegen, die Arbeitsproduktivität auf Basis der Wertschöpfung (Eigenleistung) in der Industrie jährlich um 8,5 % zu steigern. Bereits damit wollte man die Bundesrepublik beim Nationaleinkommen je Kopf bis 1975 eingeholt haben. Entweder war dabei für die Bundesrepublik ein zu niedriges Wachstum zugrunde gelegt oder der Anteil der industriellen an der gesamtwirtschaftlichen Produktivitätssteigerung in der DDR überschätzt worden. Nach den neuen Varianten sollte die Arbeitsproduktivität in der Industrie jedenfalls jährlich um 12,5 % oder um 10,0 % steigen und damit die Bundesrepublik in der Arbeitsproduktivität bis 1975 oder 1977/78 eingeholt werden, wobei ohnehin unrealistische Annahmen und "passende" Prognosen als Basis dienten. 3 Im Prinzip berechnete man diese Zuwachsraten so, daß der gewünschte Zeitpunkt festgelegt wurde, zu dem die Bundesrepublik überholt sein sollte, dann wurde das bis dahin von ihr voraussichtlich erreichte Niveau bestimmt
1 Wolf: Diskussionsgrundlage zu den Hauptfragen der weiteren Durchfuhrung des ÖSS in Verbindung mit der Ausarbeitung des Perspektivplanes 1971-75, 9.1.69, SAPMO-BA DY30 IV A2/2021/428. 2 Stenographische Niederschrift der Beratung zu Problemen der weiteren Arbeit am Perspektivplan am 18.4.69, SAPMO-BA DY30 IV A2/2021/450. 3 Man ging von einem Rückstand der DDR gegenüber der BRD im Jahr 1968 bei der Nettoproduktion je Berufstätigen in der Industrie von 20-24 %, beim Nationaleinkommen je Berufstätigen in der materiellen Produktion von 20-23 % und je Kopf der Bevölkerung von 15 % aus. Dieser Rückstand war etwas geringer als ihn zeitgenössische westliche Studien schätzten. (Vgl. die Zusammenstellung in: B. van Ark, The Manufacturing Sector in East Germany. A Reassessment of Comparative Productivity Performance, 19501988, in: Jahrbuch für Wirtschaftsgeschichte 1995, Teil 2, S. 88.) Für die BRD wurde eine Steigerung der Arbeitsproduktivität von 4 % jährlich unterstellt, die man einem Prognos-Report aus Basel vom Dezember 1965 entnommen hatte. Obwohl aus dem "Industriekurier" vom 13.2.69 eine Prognose für die BRD von 4,5% bekannt war, rechnete man mit der deutlich älteren Voraussage. Sie kam den eigenen Intentionen näher, aber wahrscheinlich galt Prognos, Basel ebenfalls als seriöser. Für die westdeutsche Industrie legte man eine jährliche Produktivitätssteigerung von 6 % zugrunde. Die Datenprobleme sollen nicht im Detail betrachtet werden, da es sich hier vordergründig um eine politische Entscheidung handelte. Vgl. SPK: Material zur Beratung im Politbüro am 18.4.69: Probleme der weiteren Ausarbeitung des Perspektivplans 1971-75, 8.4.69, SAPMO-BA NY4182/974; Abt. Planung und Finanzen an Mittag, 17.4.69: Vorschläge der wirtschaftspolitischen Abteilungen ..., SAPMO-BA DY30 IV A2/2021/457; [Materialien für den SPKVorsitzenden für die Beratung des Perspektivplanes 1971-75 im Politbüro am 18.4.69:] Schema der volkswirtschaftlichen Variantenberechnung, BA DE1/56079; Stenographische Niederschrift der Beratung zu Problemen der weiteren Arbeit am Perspektivplan am 18.4.69, SAPMO-BA DY30 IV A2/2021/450.
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und von ihm ausgehend die erforderlichen eigenen Wachstumsraten berechnet.' Diese Zuwachsraten sollten durch die beschleunigte Entwicklung des wissenschaftlich-technischen Potentials sowie der chemischen Industrie, darunter vor allem der Verarbeitung von Erdöl und -gas zu Plastik und synthetischen Fasern, der elektronischen Industrie und des Gerätebaus, des Bauwesens und des Verarbeitungsmaschinenbaus erreicht werden. Allerdings waren die Varianten berechnet worden, ohne die Auswirkungen und Voraussetzungen forcierter Entwicklung einiger Bereiche im Rest der Volkswirtschaft zu berücksichtigen. 2 Außerdem gingen die Vereinbarungen mit der Sowjetunion bis dahin von einem durchschnittlichen Wachstum des gegenseitigen Warenaustausches von 9 % aus. Die neuen Vorstellungen erforderten aber mindestens einen jährlichen Zuwachs von 12 %, weil dafür höhere Rohstoffimporte benötigt wurden, für die die Sowjetunion wiederum steigende Investitionsbeteiligungen und Lieferungen der metallverarbeitenden Industrie erwartete. 3 Schürer hatte Mittag und damit auch Ulbricht noch vor der gemeinsamen Beratung der Parteispitze und der Regierung über diese Entwicklungsvarianten den Entwurf eines Briefes an Breshnew zukommen lassen, mit dem dieser gebeten werden sollte, die wechselseitigen Lieferungen zu erhöhen. 4 Da der Briefentwurf lediglich dort freie Stellen enthielt, wo die beschlossene Wachstumsrate einzusetzen war, die erforderlichen Lieferungen aber ohne Varianten aufgelistet waren und der Brief in dieser Form mit der festgelegten Zuwachsrate abgeschickt wurde, liegt der Schluß nahe, daß man in der SPK von vornherein höchstens eine durchschnittliche Wachstumsrate der Produktivität von 10 % f ü r machbar hielt. Dabei unterstellte sie, daß die Akkumulationsrate von 1969 22 % bis 1975 auf 30 % erhöht werden könne. 5 Hinter dem politischen Ziel, die Bundesrepublik in der Produktivität zu überholen, stand das Problem, wie hoch die Investitionen respektive die Akkumulationsrate in der Volkswirtschaft sein sollten und konnten. Auch unter den Bedingungen der Wirtschaftsreform war nicht daran gedacht, daß sie sich etwa aus der Summe der Investitionen ergeben sollte, über die dezentral und autonom an Hand von Gewinnerwartungen zu entscheiden sei. Vielmehr hielt man es nach wie vor für notwendig, die Höhe des zu reinvestierenden Teils des Gesamtprodukts zentral festzulegen, wobei über den gegenwärtigen und zukünftigen Konsum zu entscheiden war. Dazu wurde in der wirtschaftstheoretischen Diskussion in der DDR allein die Wachstumsmaximierung als Optimalitätskri-
1 Dieses Verfahren entsprach dem bereits seit längerem propagierten Verfahren, erst mit der Prognose das internationale Niveau zu einem bestimmten Zeitpunkt vorauszusagen und dann rückrechnend festzulegen, was benötigt wird, um es zu erreichen. Vgl. Schürer an Stoph, 13.11.70, BA DE1/56118, veröffentlicht in: A. Steiner,"..., daß Du vielmehr als bisher sogenannte 'heiße Eisen' anfassen solltest.", in: Utopie kreativ, Heft 6, Februar 1991, S.99-104. 2 Abt.Planung und Finanzen: Stellungnahme zu dem vom Vorsitzenden der SPK vorgelegten Material: Probleme der weiteren Ausarbeitung des Perspektivplanes 1971-75, 9.4.69, SAPMO-BA DY30 IV A2/2021/457. 3 Abt. Planung und Finanzen: Stellungnahme zur Entwicklung der Außenwirtschaftsbeziehungen mit der UdSSR im Zeitraum 1971-75, 11.4.69, SAPMO-BA DY30 IVA2/2021/457. 4 Schürer an Mittag, 15.4.69: Entwurf des Briefes [an Gen.Breshnew], SAPMO-BA DY30 IV A2/2021/450. 5 Vgl. Ulbricht an Breshnew, 18.4.69 sowie 21.4.69, SAPMO-BA DY30 J IV 2/202/346.
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terium herangezogen. Die optimale Akkumulationsrate erörterte die Wirtschaftswissenschaft in den sechziger Jahren nicht nur in der DDR. Doch dabei stellten sich Fragen, die letztlich nicht zu lösen waren, wie beispielsweise Zukunftseinkommen bzw. -konsum auf den Entscheidungszeitraum zurückgerechnet werden sollten. Da in dieser Diskussion politischen und historischen Bedingungen eine modifizierende Rolle bei der ökonomisch bestimmten optimalen Akkumulationsrate - wohl zu Recht - zugebilligt wurden, reduzierte sich das Problem auf eine wirtschaftspolitische Entscheidung mit mehr oder weniger großen Freiheitsgraden. Im schlimmsten Fall wurde wirtschaftstheoretisch die jeweils aktuell geplante Akkumulationsrate gerechtfertigt. Die Aufnahme moderner westlicher Ansätze (Cobb und Douglas, Solow und Bombach) in die DDR-Wachstumstheorie dieser Zeit stellte zwar gewisse Dogmen in Frage und führte mit Modellbildungen zur Formalisierung in der Wirtschaftswissenschaft, brachte aber keinen Erkenntnisgewinn für wirtschaftspolitische Entscheidungen über optimale Wachstumsraten.' In der Wirtschaftspolitik mußte demnach über die Wachstumsrate ebenso wie über die zugrunde liegende Akkumulationsrate pragmatisch entschieden werden. Zum einen hatten die Verantwortlichen in der SPK und der Parteispitze die politische Frage zu beantworten, wie sich das Konsumniveau entwickeln sollte. Zum anderen mußten sie beachten, daß die stoffliche Struktur des nach Produktionsverbrauch und Außenhandel zur Verwendung bereit stehenden Produkts die konzipierte Wachstumsrate überhaupt möglich machte. Dabei ergaben sich für die DDR beim Import nicht nur Probleme mit der Austauschfahigkeit der eigenen Produkte, sie hatte darüber hinaus bei der Wahl ihrer Außenhandelspartner auch selbst oder von außen auferlegte politisch oder ideologisch motivierte Beschränkungen zu beachten. Ob eine zentral konzipierte Zuwachsrate als optimal oder Uberspannt gelten konnte, war wohl lediglich danach zu beantworten, ob es gelang, die dafür erforderlichen Verflechtungsbeziehungen zu gewährleisten, also Aufkommen und Verwendung der wichtigsten Ressourcen ins Gleichgewicht zu bringen. Die Realisierung des Plans mußte dann beweisen, wie realistisch diese Vorstellungen gewesen waren. 2 In einer gemeinsamen Sitzung der SED-Spitze und der Regierung am 18. April 1969 entschied Ulbricht, daß 10 % Zuwachs der Produktivität pro Jahr bereits "genügend hohe Anforderungen", stelle. Er wußte bereits, welche Leistungen von der UdSSR benötigt wurden, um diese Ziele zu realisieren. Sein Glaube, daß die Sowjetunion sie bereitstellen würde, hätte sich einzig darauf gründen können, daß eine mit dem Einholen der Bundesrepublik wachsende Attraktivität der DDR auch in ihrem Interesse war. Aber Ulbricht zweifelte daran, daß die Zuwachsrate durch Lieferungen der Sowjetunion oder anderer RGW-Länder gesichert werden könne. Da die DDR von den Ostblocklän-
1 Zur Analyse dieser Diskussionen: F. Haller, Sozialistische Akkumulations- und Wachstumstheorie. Zur Kritik der Politischen Ökonomie des Sozialismus in der DDR, Berlin (W) 1974, insbes. S. 108-135, 145-169. Haller bezieht sich vor allem auf Beiträge von K. Bartl/H. Luck, J. Behr/K. Brünecke, F. Behrens, A. Braun, O. Kratsch, H. Maier, K. Steinitz und K.-H. Stiemerling. 2
Keren sieht dabei das Problem, daß bestimmte nicht vorhersehbare Einflüsse, wie z.B. der Witterung, nicht klar von der Plangüte getrennt werden können. Deshalb gelten für ihn die Planziele als überspannt, wenn die vorgesehenen Zuwachsraten die erreichten des vorhergehenden Zeitraumes übertreffen. Allerdings bleibt sein Argument auch dabei gültig. Vgl. Keren, The New Economic System in the GDR, S. 576f.
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der Reform
dem zu dieser Zeit die geringsten Handels- und Kooperationsbeziehungen zu westlichen Ländern hatte, verlangte er, diese auszudehnen - außer mit der Bundesrepublik. Erwähnt wurden ausdrücklich Frankreich und Schweden. 1 Dabei handelte es sich mehr um ein politisches, als ein wirtschaftliches Konzept. Erstens entsprach es der von Ulbricht zu diesem Zeitpunkt gegenüber der Bundesrepublik verfolgten Politik, sich von ihr zum einen konsequent abzugrenzen 2 und zum anderen durch den Beweis der Leistungsfähigkeit - in Form des Einholens der westdeutschen Produktivität - für die dortige (und die eigene) Bevölkerung attraktiver zu erscheinen. Zweitens war nach den Erfahrungen der zurückliegenden Jahre abzusehen, daß die Sowjetunion einen forcierten Wachstumskurs der DDR nicht alimentieren konnte, möglicherweise auch nicht wollte. Der Ausbau von Beziehungen zu anderen westlichen Ländern, die den Handel und die Kooperation innerhalb des Ostblocks und vor allem mit der Sowjetunion ergänzen und keinesfalls ersetzen sollten, bot darüber hinaus Ansatzpunkte, um die außenpolitische Isolation im Westen zu durchbrechen. Dies konnte auch auf den Intra-RGW-Handel zurückwirken, da die DDR in einem solchen Fall ihre modernen Güter mehr für den Export in westliche Länder bereitstellen mußte, was die ohnehin vorhandenen Tendenzen in den anderen Ostblockländern verstärkt hätte, ihre auf dem Weltmarkt absetzbaren Rohstoffe und Güter dort zu verkaufen. Daher gab es in jener Beratung wie schon in ihrem Vorfeld mehr oder weniger verdeckte Kritik an Ulbrichts Konzeption. So betonte der in der Parteispitze formal für den Außenhandel verantwortliche Werner Jarowinsky (real hatte sich dieses Gebiet Mittag angeeignet): "Das Rückgrat ist die Sowjetunion." Gegenüber den westlichen Ländern sei "ein hohes Maß an Sicherheit und Stabilität ohne Abhängigkeit (zu) schaffen". Dem Vergleich mit westlichen Leistungen galten damals aber vor allem politisch motivierte Einwände. Schürer wandte sich eher vorsichtig dagegen, mit der Propaganda vom Einholen oder Überholen eine Diskussion über die Wachstumsraten der DDR im Vergleich zur Bundesrepublik zu provozieren. Günstiger erschien es ihm, bei einzelnen Produkten die Weltspitze anzustreben. 3 Neumann hingegen hatte in einem Schreiben an Ulbricht vorgebracht: "Diese Vergleiche mit kapitalistischen Spitzenleistungen rufen bei mir immer Aversionen hervor, die mit dem Auftreten des Revisionisten Ota Sik zusammenhängen." Man solle sich solche Vergleiche "politisch und ideologisch sehr gut überlegen. (...) Sollen wir etwa die Losung aufstellen:' Die DDR muß auf ökonomischem Gebiet besser als Westdeutschland werden?' Das geht doch nicht!" Es komme darauf an, die konkreten Vorzüge und Vorteile der sozialistischen DDR herauszustellen, die sich eben nicht in den Zuwachsraten niederschlagen. 4 Dabei dachte er wohl an erster Stelle an
1
Stenographische Niederschrift der Beratung zu Problemen der weiteren Arbeit am Perspektivplan am
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Vgl. J. Staadt, Die geheime Westpolitik der SED 1960-1970. Von der gesamtdeutschen Orientierung zur
18.4.69, SAPMO-BA DY30 IV A2/2021/450. sozialistischen Nation, Berlin 1993, S. 266ff. 3
Stenographische Niederschrift der Beratung zu Problemen der weiteren Arbeit am Perspektivplan am
4
Neumann: Überlegungen zu einigen Fragen des Perspektivplanes, 17.4.69, SAPMO-BA NY4182/974.
18.4.69, SAPMO-BA DY30 IV A2/2021/450. Breshnew argumentierte im August 1970 gegenüber Ulbricht ganz ähnlich, weshalb diese Strategie falsch
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die Beseitigung der Arbeitslosigkeit. Diese Einwände machen das tiefe Unbehagen der konservativ orientierten Spitzenfunktionäre deutlich. Sie sahen wohl durchaus richtig, daß man nicht einerseits den alternativen Charakter des eigenen Systems behaupten und gleichzeitig bedingungslos dem "überlebten" System hinterherrennen konnte, ohne eigene Ansprüche aufzugeben, wobei sie sich sowohl durch den "Prager Frühling" als auch durch die im Westen zu dieser Zeit nicht unpopuläre Konvergenztheorie bestätigt fühlten. Andererseits hatte Ulbricht richtig erkannt, wenn der Sozialismus in Deutschland überlebensfahig und mehr noch für die Menschen in Ost und West attraktiv sein sollte, mußte die wirtschaftliche Leistungsfähigkeit der DDR höher als die der Bundesrepublik sein, was nicht zuletzt an Hand der Produktivität zu messen war. Dabei konnte er sich auch auf Lenin berufen, der die Arbeitsproduktivität als "in letzter Instanz das allerwichtigste, das ausschlaggebende für den Sieg der neuen Gesellschaftsordnung" bezeichnet hatte. 1 Beide Sichtweisen hatten mithin ihre Berechtigung. Trotz der Zweifel Ulbrichts, daß diese Strategie durch Lieferungen aus der UdSSR und den anderen Ostblockländern zu sichern war, benötigte man aus der Sowjetunion in entscheidenden Positionen bedeutend mehr Rohstoffe sowie Energieausrüstungen und Chemieanlagen. Darüber hinaus mußte der Export von Erzeugnissen der metallverarbeitenden Industrie in die UdSSR gegenüber dem bis dahin erzielten Verhandlungsergebnis fast verdoppelt werden. Außerdem wollte die DDRSeite weitergehende wissenschaftlich-technische Kooperationen auf den verschiedensten Gebieten vereinbaren. 2 Dies wurde Anfang Juli 1969 in Moskau verhandelt, wobei Breshnew das von der SED-Spitze anvisierte Tempo der wirtschaftlichen Entwicklung zu hoch erschien. 3 Bei den Rohstoffen sagte die sowjetische Seite in einigen Punkten Liefererhöhungen zu, die jedoch nicht im gewünschten Umfang ausfielen. Teilweise sollten diese Fragen von den Plankommissionen noch verhandelt werden. Aber im großen und ganzen erreichten die DDR-Vertreter nicht im mindesten die Zusagen, die erforderlich gewesen wären, um die angestrebte Perspektivplankonzeption zu realisieren. Es war abzusehen, daß mehr Rohstoffe aus dem westlichen Ausland importiert werden mußten. 4 Beispielsweise hatte die DDR für die Entwicklung ihrer Petrolchemie Erdöllieferungen im Jahr 1975 von 18 Mill. Tonnen als unerläßlich bezeichnet, um aber gleich hinzuzufügen, daß sie lediglich um eine Erhöhung auf 17,5 Mill. Tonnen bitte. Vereinbart waren zu diesem Zeitpunkt
sei. Vgl. das vierte Kapitel. 1 Vgl. W.I. Lenin, Die große Initiative, in: W.I. Lenin, Werke, Bd. 29, Berlin (O) 1963, S. 416. 2
Zu den Vorschlägen und Wünschen der DDR-Seite siehe: Ulbricht an Breshnew, 18.4.69 sowie 21.4.69, SAPMO-BA DY30 J IV 2/202/346. In einer SPK-internen Übersicht wurden auch die zusätzlichen Vorschläge aufgeführt, die in Moskau mündlich vorgetragen wurden: Übersicht über die Vorschläge, die im Brief des Gen. Walter Ulbricht und in der Rede enthalten sind, 4.7.69, BA DE1/56100.
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Zum Verhandlungsverlauf: Staadt, Die geheime Westpolitik, S. 270-274; Kaiser, Machtwechsel, S. 306ff. Dies widerspiegelt sich auch in einer vermutlich vor einem größeren Kreis gehaltenen Rede Schürers: Zu den Verhandlungsergebnissen auf dem Gebiete der Ökonomie und der weiteren wissenschaftlich-technischen Zusammenarbeit, BA DE1/56099. Vgl. SPK: Niederschrift über die Beratung des Gen. Schürer bzw. des Gen. Klopfer mit den Stellvertretern und Hauptabteilungsleitern am 28.7.69, BA DE1/51162.
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14,5 Mill. Tonnen. 1 Im Ergebnis der Verhandlungen vom Juli 1969 sollten 1975 15,5 Mill. Tonnen geliefert werden, was die SED-Spitze aber nicht daran hinderte, sowohl im April als auch im August 1970 noch einmal um höhere Lieferungen nachzusuchen. Nun wurde die unerläßliche Menge bereits mit 20 Mill. Tonnen beziffert, wovon man von der UdSSR weiter lediglich 17,5 Mill. Tonnen erbat und die verbleibenden 2,5 Mill. Tonnen aus dem westlichen Ausland importieren wollte. Dabei erklärte Schürer dem Chef der sowjetischen Plankommission auf dessen Bitte hin, daß "bei Erhöhung der Rohstofflieferungen seitens der UdSSR die D D R nach Möglichkeiten suchen wird, mehr Konsumgüter zu liefern." Trotzdem blieb es prinzipiell bei den 15,5 Mill. Tonnen Erdöl, die die DDR im Jahre 1975 erhalten sollte. 2 Ähnlich verfuhren beide Seiten bei anderen Rohstoffen. Die sowjetische Spitze begründete ihre "zurückhaltenden" Liefererhöhungen mit eigenen wirtschaftlichen Schwierigkeiten und Defiziten sowie den hohen Verteidigungsausgaben und Hilfeleistungen für Kuba, Vietnam und einige andere Länder. 3 Nach diesem negativen Bescheid der Sowjetunion wurden zwar die Investitionen im Perspektivplan etwas reduziert 4 , gleichzeitig aber an den Vorstellungen über die kostenaufwendige "komplexe Automatisierung" festgehalten. 5 Anscheinend wurde diese Ablehnung nicht als so dramatisch empfunden, wie es die Literatur vereinzelt glauben machen will. 6 Schließlich hatte Ulbricht mit derlei gerechnet und die Sowjetunion hatte der DDR wiederholt Wünsche abgeschlagen. In der SPK und den anderen zentralen Wirtschaftsinstanzen war die Stimmung offenbar bei weitem nicht so schlecht wie im Herbst 1965. Erst als sich die wirtschaftliche Situation Ende 1969 verschlechterte, wurden neue Planvarianten in Betracht gezogen. Zu diesem Zeitpunkt war für die SPK entscheidend, daß neben den nicht gesicherten Lieferungen aus der Sowjetunion und der wachsenden Investitionsbeteiligung am Aufschluß von dortigen RohstoffVorkommen die Rohstoffpreise auf den Weltmärkten stiegen, Diskrepanzen zwischen Energiebedarf und -aufkommen sowie zwischen Final- und Zulieferproduktion bestanden und schließlich wesentliche Aufgaben des Plans 1969 nicht erfüllt wurden. Dies alles belastete auch den Perspektivplan und veranlaßte Schürer - so die ZKAbteilung Planung und Finanzen - zu "abwegigen Überlegungen, (...) daß die Volkswirtschaft 1-2 Jahre lang langsam treten muß und kann". Das wies die ZK-Abteilung aber zurück, weil es die Möglichkeiten und Notwendigkeiten vernachlässige. 7 Letztlich verabschiedete sich die SPK aber
1 Ulbricht an Breshnew, 18.4.69, SAPMO-BA DY30 J IV 2/202/346. 2 Ulbricht, Stoph an Breshnew, 13.4.70, SAPMO-BA DY30 J IV 2/202/36; Schürer an Mittag, 30.4.70: Bericht über die Beratungen mit Gen. Baibakow und Gen. Tichonow, SAPMO-BA DY30IV A2/2021/460; Ulbricht an Breshnew, Anlage 2, 17.8.70, SAPMO-BA DY30 J IV 2/202/347. 3 Vgl. u.a.: Zu den Verhandlungsergebnissen auf dem Gebiete der Ökonomie und der weiteren wissenschaftlich-technischen Zusammenarbeit, BA DE1/56099. 4 Vgl. u.a. SPK, Abt. Maschinenbau: Material für die Problemberatung beim Staatssekretär am 2.9.69, 1.9.69: Probleme und Entscheidungsvorschläge ..., BA DE1/51167. 5 SPK: Konzeption zur Durchsetzung der Grundrichtung der komplexen Automatisierung und Rationalisierung im Perspektivplanzeitraum 1971-75, 13.10.69, BA DE1/51168/4. Vgl. das vierte Kapitel. 6 Vgl. Staadt, Die geheime Westpolitik, S. 270. 7 [Abt. Planung und Finanzen:] Probleme des Perspektivplanes 1971-1975, [Januar 1970], SAPMO-BA
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doch von der Entwicklungsvariante mit 10 % Steigerung der Arbeitsproduktivität und begründete dies mit den nicht gesicherten Rohstofflieferungen der Sowjetunion. Auf Basis der real möglichen Rohstoffimporte und der Konzentration des verfügbaren Potentials auf die für den technologischen Wandel entscheidenden Gebiete und Branchen wurden nun bei Ausschöpfung aller Reserven durchschnittliche Produktivitätssteigerungen um 9 % als erreichbar angesehen. 1 Dem folgte schließlich auch das Politbüro und die Regierung, wobei dort noch einmal die Priorität der Entwicklung von "Pionier- und Spitzenleistungen" sowie der Vorhaben der "Systemautomatisierung" betont wurde. 2 Allerdings wichen die Vorstellungen der Industrieministerien erheblich von der Konzeption der SPK ab. Insbesondere betraf dies die Investitionen und die Erwirtschaftung der dafür erforderlichen Mittel sowie die Exporte und Importe. Daher sollten sie noch einmal überprüft werden, um den Aufwand zu senken und die Effektivität zu steigern. 3 Nachdem die Konzeptionen überarbeitet waren, übergab man die Eckwerte den Betrieben, Kombinaten und V V B als Planvorgabe. Es zeigte sich aber, daß die zentralen Vorgaben immer wieder den veränderten Ausgangsbedingungen angepaßt werden mußten, weil die reale Entwicklung 1970 hinter dem Plan zurückblieb. Die wachsenden wirtschaftlichen Schwierigkeiten dieses Jahres führten auch dazu, daß die Erarbeitung des Perspektivplanes in den Wirtschaftseinheiten auf wenig Interesse stieß und sich erheblich verzögerte. 4 Da in der SED-Spitze in den folgenden Monaten mit Hilfe der Moskauer Führung das bis dahin von Ulbricht geprägte politische und wirtschaftliche Programm modifiziert und später revidiert wurde, war schließlich dem bisherigen Perspektivplankonzept die politische Basis entzogen. Seine wirtschaftlichen Grundlagen waren ohnehin immer brüchig gewesen. Im Januar 1971 wurde ein neuer Anlauf unternommen, für 1971 bis 1975 einen mittelfristigen Plan zu erarbeiten. 5 Insgesamt wurden die überzogenen Wachstumsvorgaben zwar ganz wesentlich durch den eingangs erwähnten, in der Systemstruktur angelegten Mechanismus verursacht, der regelmäßig dafür
D Y 3 0 I V A2/2021/460. SPK, Schürer: Grundkonzeption des Planes für die Entwicklung der Volkswirtschaft 1971-1975, [März 1970], BA DE 1/56076. 2 Am 7./8.4.70 berieten das Politbüro und das PMR gemeinsam über diese Konzeption für den Perspektivplan 1971-75. Die Ergebnisse dieser Beratung bestätigte das Politbüro am 9.4.70 mit einem Beschluß, der der Regierungsarbeit zugrunde zu legen war. Daraufhin bereiteten Stoph und Schürer den entsprechenden Ministerratsbeschluß vor, der dort zusammen mit der Grundsatzregelung für 1971 bis 1975 am 15.4.70 beschlossen wurde. Vgl. Protokoll der Politbürositzung am 9.4.70, SAPMO-BA DY30 J IV 2/2A/1433; Stoph, Mittag: Politbürovorlage. [Zum] Beschluß des Politbüros vom 24.3.70 "Behandlung des Perspektivplanes", 10.4.70, SAPMO-BA DY30 IV A2/2021/460; Stoph, Schürer: Ministerratsvorlage. Weitere Ausarbeitung des Perspektivplanes 1971-75, 14.4.70, BA DE1/56076; Zur Gestaltung des ökonomischen Systems des Sozialismus in der DDR in den Jahren 1971 bis 1975. Schulungsmaterial, Berlin (O) 1970. 1
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[SPK:] Material zum mündlichen Bericht über die gemeinsame Beratung des Politbüros und des PMR am 7./8.4.70, 14.4.70, BA DE1/56078. 4 Abt. Planung und Finanzen: Information zum Stand der Arbeit am Perspektivplan 1971 bis 1975, 5.8.70; Abt. Planung und Finanzen: Information über den Stand der Perspektivplandiskussion 1971-1975 in den Kombinaten und Betrieben, 21.8.70, SAPMO-BA DY30 IV A2/2021/460. 5
Vgl. den Abschnitt zur wirtschaftspolitischen Wende im vierten Kapitel.
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der Reform
sorgte, daß die Planaufgaben von "oben" zu hoch festgesetzt wurden und damit die wirtschaftlichen Dysfiinktionalitäten anstiegen. Mit der "dynamischen Proportionierung" meinte man sogar, eine "offensive" Lösung für dieses strukturelle Problem gefunden zu haben. Aber dieser Mechanismus wirkte nur durch das Handeln der Akteure und es wurde gezeigt, daß es vor allem der Parteiapparat - initiiert von Mittag und Ulbricht - war, der die geplanten Wachstumsraten forcierte. Allerdings blieben diese überzogenen Vorstellungen erst einmal Planzahlen. Jedoch hatten sie realwirtschaftliche Auswirkungen. Die projektierten Produktivitätssteigerungen von zunächst 10 % und dann 9 % prägten bereits die Arbeit am Plan 1970, der faktisch das Anschlußstück zwischen den bis 1968 gültigen und den neuen Wachstumsvorstellungen bilden sollte. Daher war die volkswirtschaftliche Entwicklung 1970 auch real von dieser Wachstumsforcierung betroffen. 1 Bei der Planung bildete sich in vielen Bereichen genau die Atmosphäre heraus, die Schürer auf der Spitzenberatung im April 1969 befürchtet hatte: Als der beste wurde jeweils der betrachtet, der die höchsten Zahlen setzte. 2 Eine solche Zahlenhascherei, in der die Wirtschaftseinheiten und die Ministerien die Zuwachsraten mit deutlich steigendem Mittel- und Ressourceneinsatz erreichen wollten, war durch die Art begünstigt worden, mit der der entsprechende Beschluß in der Parteispitze zustande kam. Das mußte schließlich die volkswirtschaftlichen Möglichkeiten überfordern.
Realisierung des Konzeptes der "Grundsatzregelung" Zusammen mit der Ausarbeitung der "Grundsatzregelung" sollte das Führungspersonal abermals auf die neuen Aufgaben und Normen vorbereitet werden. Dazu wurde das Mitte der sechziger Jahre geschaffene System der Aus- und Weiterbildung genutzt, das vom Zentralinstitut für sozialistische Wirtschaftsführung beim ZK der SED über die neun entsprechenden Institute an Hochschulen oder bei Industrieministerien bis zu den Bildungseinrichtungen der VVB und Kombinate reichte. Im Vordergrund standen dabei der Inhalt der SED-Wirtschaftspolitik, die Regeln des neuen Lenkungsund Koordinationsmechanismus und Führungsprobleme, wobei mehr als früher auch neuere wirtschaftswissenschaftliche Methoden und Theorien westlicher Provenienz eine Rolle spielten, wie die Operations Research, die in der DDR schlicht als Operationsforschung firmierte. In diesem System wurde wohl tatsächlich auf operationalisiertes "Management"-Wissen Wert gelegt. Aber daneben achtete man nach wie vor darauf, daß das Führungspersonal "politisch-ideologisch und klassenmäßig" erzogen wurde, denn die SED-Spitze wollte auf keinen Fall zulassen, daß sich die stärker professionalisierten "Kader" verselbständigten und sich womöglich einer rein ökonomischen Rationalität verpflichtet fühlten. Ende der sechziger Jahre war das Führungspersonal in der Wirtschaft formal besser qualifiziert als in den Jahren zuvor. Doch blieben Lücken. In der SPK verfugten 1969 von den rund 800 Mitarbeitern drei Viertel Uber einen Hochschul- und knapp 20 % über einen
1 Vgl. den entsprechenden Abschnitt im vierten Kapitel. 2 Stenographische Niederschrift der Beratung zu Problemen der weiteren Arbeit am Perspektivplan am 18.4.69, SAPMO-BA DY30 IV A2/2021/450.
Das "Ökonomische System des Sozialismus"
155
Fachschulabschluß. Von den Ministern und ihren Stellvertretern sowie den Generaldirektoren der VVB hatten etwa 95 % eine Hoch- oder Fachschule absolviert. Eine Untersuchung der Staatlichen Zentralverwaltung für Statistik in 122 Betrieben zeigte jedoch etwas differenzierter, daß von den Betriebsdirektoren und ihren Stellvertretern lediglich 44,3 % eine abgeschlossene Hochschulausbildung und 51,6 % eine Fachschulausbildung vorweisen konnten. Dabei wurde für solche Positionen ein Hochschulabschluß vorausgesetzt. Von den Parteisekretären der 72 wichtigsten Großbetriebe verfugten 47 über den Abschluß einer Hochschule und 23 über den einer Fachschule. Ebenso hatten in den Führungsgremien der SED-Kreis- und Bezirksleitungen sowie im ZK-Apparat Uber 80 % der Genossen eine Hoch- oder Fachschule erfolgreich absolviert.' Zwar läßt sich an solchen Zahlen nicht ablesen, inwieweit die Führungskräfte und Parteiverantwortlichen tatsächlich professioneller ihren Aufgaben nachkommen konnten, da die Qualität der Ausbildung mit Blick auf ihren wirtschaftspraktischen Nutzen dabei nicht ausreichend gewürdigt wird. Aber es ist zu vermuten, daß eine solche Ausbildung das Verständnis der neuen, zum Teil sehr komplizierten Regeln für das Wirtschaften erleichterte. Für die Umsetzung der neuen Regeln erwiesen sich aber nach Ansicht des Parteiapparats "die nicht ausreichende wissenschaftliche Leitungstätigkeit und der ungenügende theoretische Vorlauf sowie die Qualifikation der Leiter in den Betrieben" als Hemmnis. Oft wartete man auf Weisungen von "oben" anstatt die Freiräume, die sich auftaten, zu nutzen. Nur teilweise und zögerlich wurden die neuen Führungsmethoden angewendet. 2 Vor allem die Leiter auf der mittleren Ebene schienen dem Parteiapparat nicht ausreichend mit den Regeln des Lenkungs- und Koordinationsmechanismus vertraut und sie würden sich nicht regelgerecht verhalten. 3 Allerdings ignorierten die ZK-Abteilungen bei solchen Klagen, daß die Konzepte beider Reformphasen - die "Richtlinie" und die "Grundsatzregelung" - auf die ex ante Koordinierung der Volkswirtschaft zielten, d.h. volkswirtschaftlich fundiert waren und allenfalls mikroökonomische Zusammenhänge thematisierten, weil die "Hebel" j a schließlich bei den Wirtschaftseinheiten ansetzen sollten. Diese Konzepte wurden aber kaum in betriebswirtschaftliche Vorstellungen "übersetzt". Die mit der Wirtschaftsreform verbundene Wiederbelebung der Betriebswirtschaftslehre - als "Sozialistische Betriebswirtschaft" konnte so schnell keine Früchte tragen. Deshalb blieb die Operationalisierung der Reformkonzepte für die Ebene der Betriebe, Kombinate und VVB unzureichend und deren Führungskräfte taten sich mit diesen Regelwerken schwer. Ihnen wurde zugemutet, ihr Verhalten an volkswirtschaftlichen Systemvorgaben auszurichten. Aus Kapazitätsgründen schafften sie es meist nicht, Unternehmenskonzepte und -Strategien zu erarbeiten, vielmehr waren sie gehalten, sich ausufernd mit Konzeptionen für die Umsetzung der verschiedenen Reformbestandteile auf ihrer Ebene zu beschäftigten, die
1 [unbetitelte Ausarbeitung zu verschiedenen Aspekten des ÖSS, vermutlich fur Erläuterungen vor ausländischen Gästen vorgesehen, etwa März 1969], SAPMO-BA DY30 IV A2/2021/434. 2 Abt. Leicht-, Lebensmittel- und Bezirksgeleitete Industrie: Information über die Durchsetzung des Beschlusses des Staatsrates ..., 20.5.68, SAPMO-BA DY30 IV A2/2021/427. 3 Abt. Planung und Finanzen: Zu einigen Problemen bei der Durchfuhrung des Beschlusses des Staatsrates der DDR vom 22.4.68 ..., 28.8.68, SAPMO-BA DY30 IV A2/2021/427.
Entwicklung und Implementation
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der Reform
sich oft in einer Wiederholung der zentralen Vorgaben und offiziellen Formeln erschöpften und die konkreten einzelwirtschaftlichen Bedingungen eher peripher streiften. Selbst da, wo auf sie eingegangen wurde, handelte es sich meist um ohnehin notwendige Schritte, die in Reformrhetorik eingebettet wurden.' Darüber hinaus zeigte sich, daß der Versuch, ein geschlossenes formales System für die Lenkung und Koordination der Wirtschaft zu "konstruieren", sehr kompliziert ausgefallen und schwer zu verstehen war, worüber man sich Ende der sechziger Jahre allenthalben beschwerte. Daher legte die Arbeitsgruppe zur Gestaltung des ÖSS fest, daß die Regeln für den Zeitraum 1971 bis 1975 "sprachlich so zu formulieren (seien), daß alle Werktätigen - nicht nur die Spezialisten - dieses prinzipielle politische Dokument verstehen." 2 Aber auch dieses Regelwerk überforderte das Führungspersonal. Der Planungsleiter des Uhrenkombinats Ruhla - ein Betrieb, in dem das Gesamtsystem der Lenkung und Koordinierung ausprobiert wurde und in dem man deshalb mit solchen Regelsystemen besonders vertraut sein mußte - meinte noch drei Monate nach dessen Veröffentlichung: "Das Material ist so umfangreich, daß ich trotz intensiven Studiums das Zusammenwirken der Regelungen noch nicht durchschaue. Ich weiß nicht, wie das ein Meister in der Produktion erfassen soll." 3 Außerdem standen die Führungskräfte der Wirtschaftseinheiten oft - und im letzten Drittel des Jahrzehnts verstärkt - vor einer Fülle operativer Schwierigkeiten, bei deren Lösung ihnen die Grundsatzregelungen wenig halfen. Vielmehr zeigte sich immer öfter, daß die zentralen Instanzen regelwidrig in Wirtschaftsabläufe eingriffen und die eigentlich für die Wirtschaftseinheiten konstant gesetzten Rahmenbedingungen änderten. 4 Dies geschah vor allem, nachdem sich die SEDSpitze entschlossen hatte, das Wachstum wie auch den Strukturwandel zu forcieren. Auf dieser Basis konnte bei den Führungskräften kein Regelvertrauen entstehen. Der ZK-Abteilung Planung und Finanzen schien es hervorhebenswert, als ob sie selbst nicht daran geglaubt hätte, daß es den Betrieben auf der Basis des reduzierten von "oben" vorgegebenen Kennziffernumfanges gelang, "einen vollständigen und aussagekräftigen Planvorschlag" für 1969 auszuarbeiten. Der Schönheitsfehler war nur, wie sie einräumte, daß die Aufkommen-Verwendungs-Bilanzierung nicht wie gedacht funktionierte. Die Verflechtungen mit anderen Wirtschaftseinheiten waren wohl in den Planvorschlägen der Betriebe meist nicht gesichert worden. Vielfach wurden von den verantwortlichen VVB oder Betrieben in den Bilanzen langfristige Wirtschaftsverträge nicht berücksichtigt. Sie legten den Abnehmern und Produzenten nahe, Verträge erst abzuschließen, wenn die Bilanzierung beendet war.5 Daher bestimmten nicht - wie außerhalb des Berei-
1
Dieser Eindruck ergibt sich aus einer Vielzahl von entsprechenden Ausarbeitungen, wie sie in den Unterlagen der zentralen Instanzen bzw. in den Firmenarchiven überliefert sind.
2
Arbeitsgruppe für die Gestaltung des ÖSS beim PMR: Information über die Beratung der Arbeitsgruppe
3
Abt. Planung und Finanzen: Information über den Stand der Perspektivplandiskussion 1971-1975 in den
... am 20.2.70, 23.2.70, SAPMO-BA DY30 IV A2/2021/423. Kombinaten und Betrieben, 21.8.70, SAPMO-BA DY30 IV A2/2021/460. 4
Vgl. das vierte Kapitel.
5
Abt. Planung und Finanzen: Zu einigen Problemen bei der Durchführung des Beschlusses des Staatsrates
Das "Ökonomische System des Sozialismus"
157
ches der strukturbestimmenden Planung vorgesehen - Entscheidungen der Betriebe, die sie mit Vertragsabschluß innerhalb ihrer Rahmenbedingungen getroffen hatten, die Bilanzen und somit den Plan, vielmehr wurden wie bisher Verträge aus der Bilanz abgeleitet und sie verloren so ihren Wert als Basis für wirtschaftliche zwischenbetriebliche Verbindungen. Das blieb auch im letzten Drittel der sechziger Jahre so. Im Zuge der Kombinatsbildung und weiterer Konzentrationsprozesse' verstärkte sich die Monopolstellung mancher Produzenten noch erheblich, die in der Regel das betreffende Erzeugnis bilanzierten, was es noch schwieriger machte, mit dem Bilanzsystem eine optimale Allokation zu erzielen. Die Schwierigkeiten bei der dezentralisierten Bilanzierung blieben grundsätzlich die gleichen wie seit Reformbeginn, da sich hier an den Interessen der bilanzierenden Wirtschaftseinheiten nichts änderte. Immer noch beklagten die Reformer die "Verteilerideologie", ohne sagen zu können, wie die bilanzierende Wirtschaftseinheit an einer volkswirtschaftlich sinnvollen Verteilung zu interessieren war. Vielmehr wurden bei Engpaßerzeugnissen die "Bewirtschaftungsmaßnahmen", also die administrative Kontingentierung, weiter ausgedehnt, anstatt sie einzuschränken, wie es vorgesehen war. Allerdings führten die erweiterten Spielräume der Betriebe im nichtstrukturbestimmenden Bereich und die hohen Wachstumsvorgaben bei den strukturbestimmenden Erzeugnissen dazu, daß die Betriebe 1968/69 teilweise begannen, ihre Reserven und "Polster" auch im direkten Austausch mit anderen Betrieben - einzusetzen. Dabei spielten sicher ebenfalls die verschiedenen Anreize, die auf eine bessere Ausnutzung von Reserven zielten ("Eigenerwirtschaftung der Mittel", kostenorientierte Preise) eine Rolle. Wie aber später zu sehen sein wird, sollte dies keinesfalls überschätzt werden. Infolge der Nutzung dieser Reserven durch die Betriebe stieg die Bestandsproduktivität erstmalig seit 1962 an (Anhangtabelle A11 ).2 Aber bereits bei der Ausarbeitung des Planes für 1970 und noch mehr bei dessen Umsetzung erreichte diese Disponibilität ihre Grenzen. 3 Das anvisierte Wachstum wie die vorrangig zu behandelnden strukturbestimmenden Aufgaben und Vorhaben überforderten die zur Verfügung stehenden Ressourcen. 4 Die Wirtschaftseinheiten versuchten erneut, ihre "Polster" zu erhöhen. Sie meldeten überhöhten Bedarf und die bilanzierenden VVB und Betriebe konnten das kaum überprüfen. Die in solchen Fällen vorgesehenen Sanktionen erwiesen sich als zu gering und wurden von den bilanzierenden Wirtschaftseinheiten oft gar nicht erst angewendet, weil man die damit möglicherweise verbundenen Schwierigkeiten fürchtete. Weder den Produzenten von Vorleistungen noch den Abnehmern standen ausreichende wirtschaftliche Anreize zur Verfügung, um aufeinander einzuwirken, so daß sie wiederum auf die vertikalen Leitungsbeziehungen zurückgriffen, um ihren Bedarf abzusichern. D a f ü r standen freilich nach den Systemnormen auch den zentralen Instanzen nur noch be-
der DDR vom 22.4.68 ..., 28.8.68, SAPMO-BA DY30 IV A2/2021/427. 1 Vgl. den entsprechenden Abschnitt im vierten Kapitel. 2 SPK/Arbeitsgruppe für die Gestaltung des ÖSS: Analyse über die Wirkungsweise der Maßnahmen zur weiteren Gestaltung des ÖSS ..., 10.10.69, BA DE1/51172. 3 Zum Plan 1970 und den realwirtschaftlichen Problemen dieses Jahres siehe den entsprechenden Abschnitt im vierten Kapitel. 4 Vgl. dazu auch das vierte Kapitel.
Entwicklung und Implementation der Reform
158
grenzt Mittel, wie die Planbeauflagung o.ä., zur Verfügung. Allerdings griffen sie trotzdem administrativ ein. Denn solche Probleme ließen sich auch dadurch lösen, daß Vorleistungsproduzenten dem Enderzeuger angegliedert und damit die "innere Autarkisierung" vorangetrieben wurde. Die Reformer räumten daher ein, daß es "nicht gelungen (war), einen echten Durchbruch bei der Lösung der Probleme der volkswirtschaftlichen Bedarfsdeckung zu erreichen." Allerdings sahen sie die entscheidenden Ursachen im Fehlverhalten des Führungspersonals der Betriebe, Kombinate und VVB, ohne ausreichend zu analysieren, was diese dazu veranlaßte. 1 Erst als sich die Schwierigkeiten im Laufe des Jahres 1970 verstärkten, wurde immer öfter auf Widersprüche zwischen dem Prinzip der Eigenerwirtschaftung der Mittel und der Bilanzverantwortung verwiesen. 2 Die Betriebe strebten nach hohen Gewinnen und veränderten dafür das Sortiment, soweit es nicht durch strukturbestimmende Produktion oder für den Export im Plan einzeln festgelegt und soweit das technologisch mit den gegebenen Maschinen und Ausrüstungen zu realisieren war. Noch im Herbst 1971 berichtete Schürer entrüstet, daß ihm der Generaldirektor eines Werkzeugmaschinenkombinates gesagt hatte, "daß er nicht produziert, was benötigt, sondern das was mir den höchsten Gewinn bringt."3 Der Chef der VVB Haushalts- und Verpackungsglas charakterisierte die Situation so: "Wir haben berechtigt die Tonnen-Ideologie bekämpft, wir haben sie aber durch eine falsche Wertideologie ersetzt. Zur Zeit der Tonnen-Ideologie gab es große und kleine Töpfe. Mit der Wertideologie gibt es fast nur noch große Töpfe, weil die großen Töpfe die größte Warenproduktion und den größten Gewinn bringen." 4 Diese Sortimentsveränderungen entsprachen nicht immer dem Bedarf, da die Preise im Prinzip keine Nachfrageverhältnisse widerspiegelten. Daraus folgten weitere Probleme, entweder für andere Produzenten die Vorleistungen oder eben den Bedarf an Investitionsund Konsumgüter zu sichern. Die SPK versuchte seit der ersten Hälfte der sechziger Jahre, die Verflechtungsbeziehungen zumindest im Plan technisch zu beherrschen und zu optimieren. Dazu wollte man 1966 unter Ausnutzung der EDV für die metallverarbeitende Industrie eine Verflechtungsbilanz (Input-OutputMatrix) mit einer Größe von 800 x 800 Positionen ausarbeiten. 5 Damit hatte man sich offenbar zunächst übernommen und nur erste Erfahrungen sammeln können. Als sich der Gedanke der Modellierung ökonomischer Prozesse immer stärker durchsetzte, erschien es anscheinend manchem einfacher, mit dieser Methode die Verflechtungen zu sichern, als sie durch wirtschaftliche Anreize zu gestalten. Daher sollte die SPK ein statistisches Verflechtungsmodell des gesellschaftlichen Gesamt-
1 Arbeitsgruppe für die Gestaltung des ÖSS beim PMR: Analyse über die Wirkungsweise der Maßnahmen zur weiteren Gestaltung des ÖSS, 4.2.70, BA DE1/54010. 2
Vgl. u.a. Abt. Planung und Finanzen: Ursachen einiger Probleme der materiell-technischen Versorgung der Industrie sowie Schlußfolgerungen, 12.8.70, SAPMO-BA DY30 IV A2/2021/474.
3
SPK: Persönliche Notizen über die Beratung der Parteigruppe des Ministerrats am 11.10.71, BA DE1/56122.
4
Information über wichtige Ergebnisse aus den vom Amt für Preise ... durchgeführten Untersuchungen, 8.10.71, SAPMO-BA DY30 IV A2/2021/680.
5
SPK: Folgerungen und Maßnahmen fur die weitere Arbeit der SPK in Auswertung der Konferenz über Fragen der Rationalisierung und Standardisierung ..., 15.7.66, BA DE1/49684.
Das "Ökonomische System des
Sozialismus"
159
Produktes für etwa 100 x 100 Erzeugnisgruppen sowie Teilverflechtungsbilanzen für verschiedene Industriebereiche ausarbeiten. 1 Sie lagen in der zweiten Jahreshälfte 1970 für das gesellschaftliche Gesamtprodukt mit 113 Erzeugnissen, für die metallverarbeitende mit 210, die chemische mit 130 und die Leichtindustrie mit 227 sowie die Metallurgie mit 215 Erzeugnissen vor. Aber sie wurden nicht für die Planung wirksam. 2 Grundsätzlich war es ohnehin eine Illusion, zu meinen, auf diese technokratische Art die Verflechtungen im Plan wie bei dessen Umsetzung garantieren zu können. Dahinter verbarg sich die Tendenz, die Verflechtungsbeziehungen zentral möglichst komplett zu erfassen und zu lenken, wenn es denn die technischen Möglichkeiten zuließen. Ein solches Vorhaben, das dem Idealtypus der Zentralverwaltungswirtschaft nahe kam, geisterte wohl unausgesprochen in den Köpfen mancher der Verantwortlichen herum, aber auch ihnen war bewußt, daß dies technisch (noch) nicht und politisch unter keinen Umständen durchzusetzen, j a gar nicht gewollt war. Selbst wenn es technisch möglich gewesen wäre, auf diese Weise einen "perfekten" Plan auszuarbeiten, hätten zu seiner erfolgreichen Umsetzung die Wahlmöglichkeiten und Entscheidungsfreiräume der Wirtschaftseinheiten, Haushalte und Individuen vollkommen eingeschränkt werden müssen. 3 Das widersprach aber dem eigenen emanzipatorischen Anspruch und war zudem im gegebenen historischen Umfeld nicht zu realisieren. Die Informationen, die die übergeordneten Instanzen ihren nachgeordneten Bereichen abforderten, wurden tendenziell immer weiter ausgedehnt. Parallel zur Reduzierung des Planumfangs war ein System der "Planinformation" geschaffen worden, mit dem die Betriebe, Kombinate und VVB wirtschaftliche Eckdaten nach "oben" zu übermitteln hatten, damit die Industrieministerien und die SPK zur Vorbereitung des kommenden Plans über die erforderlichen Daten verfügen konnten. Daher nahm aber der bürokratische Aufwand bei der wirtschaftlichen Lenkung gegenüber den ursprünglichen Vorstellungen zu. So wurden von den Betrieben "planökonomische Informationen" mit 220 Positionen angefordert. Planentwürfe, Begründungen und wissenschaftlich-technische Konzeptionen ergaben hunderte Seiten. Die Differenzierungen im Umfang und dem Grad der Detailliertheit der Kennziffern war bei der Perspektiv- und Jahresplanung weitgehend verschwunden. Nach einer Überprüfung des Parteiapparates hätten mindestens 20 Kennziffern sofort gestrichen werden können, weil mit ihnen niemand arbeitete. 4 Dazu kam das eigentliche Berichtswesen, was von der Staatlichen Zentralverwaltung für Statistik vereinheitlicht werden sollte, um den Bedarf der diversen zentralen Instanzen zu befriedigen und zu koordinieren. Mit diesem System der Rech-
1 Ministerrat: Beschluß zu den Grundsätzen der Entwicklung des volkswirtschaftlichen Bilanzsystems, 15.1.69, BADC20-I/3-712. 2
[SPK:] Prinzipielle Schlußfolgerungen für die Weiterentwicklung der Planung und Leitung, [24.8.70], BA DE1/56111; [Abt. Planung und Finanzen:] Fragen der Vorbereitung und der Durchfuhrung des Planes 1970, [vermutlich September/Oktober 1970,] SAPMO-BA DY30 IV A2/2021/472.
3
Vgl. K.P. Hensel, Einfuhrung in die Theorie der Zentralverwaltungswirtschaft. Eine vergleichende Untersuchung idealtypischer wirtschaftlicher Lenkungssysteme an Hand des Problems der Wirtschaftsrechnung, Stuttgart 1959 2 , insbesondere S. 205f.
4
[Abt. Planung und Finanzen:] Probleme der Plandurchführung im 1 .Halbjahr 1970, 14.8.70, SAPMO-BA DY30 IV A2/2021/474.
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Entwicklung und Implementation der Reform
nungsführung und Statistik - integriert in den formalisierten Lenkungsmechanismus - verbanden sich wiederum hochgesteckte Erwartungen. So erklärte Ulbricht: "Die Methoden der Operationsforschung verbunden mit der elektronischen Datenverarbeitung sind die Methoden des Aufbaus eines richtigen Informations- und Leitungssystems und des Abbaus der übermäßigen bürokratischen Belastungen, der übermäßigen Zahl der Angestellten. Ich weiß noch nicht, wie wir das den Genossen im Staatsapparat alles erklären sollen. Sie haben jetzt genug zu tun, aber das muß schließlich gemacht werden. (...) Die elektronische Datenverarbeitung ist die Waffe, mit der wir den Bürokratismus erfolgreich bekämpfen." 1 Dieser war aber damit schon deshalb nicht zu reduzieren, weil die vorhandenen EDV-Anlagen nicht ausreichten. 2 Die Betriebe hatten 1970 (kumuliert) zum Monatsende über 256, am Quartalsende über 967, zum Halbjahr über 1.691 und am Jahresende Uber 6.920 Kennziffern zu berichten. Dazu kamen spezifische Kennzifferberichte der jeweiligen Branchen und Industriebereiche sowie für bestimmte Schwerpunktaufgaben (strukturbestimmende Erzeugnisse, EDV-Anlagen u.ä.). 3 Im Grunde glichen die übergeordneten Instanzen, das was sie durch den reduzierten Planumfang an Informationen verloren, durch das Berichtswesen wieder aus. Da dies aber unflexibel war, dehnte man es immer weiter aus, um möglichst j e d e Eventualität damit zu erfassen. Dabei war nicht zu erwarten, daß die Qualität der Informationen stieg. Dem daflir verantwortlichen Hauptbuchhalter wurde in den Betrieben nicht die entsprechende Bedeutung beigemessen. 4 Die betriebsinterne Kontrolle - mittels Kostenrechnung - fiel daher in den Betrieben außerordentlich unterschiedlich aus, wobei aber nicht zu verkennen war, daß sie sich insgesamt verbesserte. 5 Auf der anderen Seite benutzten die Betriebe das Berichtswesen auch für ihre Interessen. So räumte der Chef der zentralen Statistikbehörde gegenüber Mittag im Frühjahr 1970 ein, daß mit dem System der Rechnungsführung und Statistik erheblich manipuliert werde. Die Betriebe berichteten über bestimmte Kennziffern einfach nicht, um angesammelte Finanzmittel zu verschleiern. Die Ursachen sah er in zersplitterten Verantwortlichkeiten, ungenügender Qualifizierung und mangelnder Kontrolle. 6 Da den Preisen - wie noch zu
1 Niederschrift (W.Ulbricht) [offenbar Aufzeichnung aus einer Beratung mit Ulbricht], 4.10.67, SAPMOBA DY30 IV A2/2021/672. 2 M. Judt, Zur Geschichte des Büro- und Datenverarbeitungsmaschinenbaus in der SBZ/DDR, in: W. Plumpe/C. Kleinschmidt (Hg.), Unternehmen zwischen Markt und Macht. Aspekte deutscher Unternehmensund Industriegeschichte im 20.Jahrhundert, Essen 1992, S. 150f. 3 SZS: Information über den Umfang des Berichtswesens in den volkseigenen Betrieben und Kombinaten, 11.3.70, SAPMO-BA DY30 IV A2/2021/428. 4 Abt. Planung und Finanzen: Dokumentation zur Rolle des Hauptbuchhalters, 4.6.70, SAPMO-BA DY30 IV A2/2021/685. 5 Zur Gestaltung des ökonomischen Systems, S. 31 ff.; ABI, Vorsitzender an Mittag, 26.7.68: Information über Kontrollergebnisse der ABI aus der Massenkontrolle zur Durchsetzung des Beschlusses des Ministerrates vom 16.5.68 - Kostenrechnung, SAPMO-BA DY30 IV A2/2021/336. 6 SZS, Donda an Mittag: Information zur Zuverlässigkeit der Informationen der Betriebe und Kombinate, 15.5.70, SAPMO-BA DY30 IV A2/2021/419.
Das "Ökonomische System des
Sozialismus"
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sehen sein wird - auch mit der Wirtschaftsreform nur in sehr engen Grenzen eine Informationsfunktion zukommen sollte, blieb das Informationsproblem ungelöst. Bei der Kontrolle des realwirtschaftlichen Geschehens gab es grundsätzlich die gleichen Probleme wie vor der Reform. Allerdings wurde ihr zentral seit Beginn der Reform eine größere Bedeutung beigemessen. Dahinter stand die schlichte Überlegung, daß mehr Freiräume mehr Kontrolle erforderten. 1 Die Grenzen der "Kontrolle durch die Mark" im Rechnungswesen und der Statistik führten dazu, daß neue Institutionen geschaffen wurden. Allerdings war das - wie früher - auch eine Folge davon, daß die operativ und planerisch Verantwortlichen nicht interessiert waren, ihre Kontrollrechte wahrzunehmen, weil sie für deren Ergebnisse keine Aneignungsrechte hatten und mit den gewachsenen Verfügungsrechten bereits ausgelastet waren. Außerdem verlangte die Reform, die ständigen Veränderungen der Regeln und Normen, einen hohen Arbeitsaufwand. Eigene Kontrollinstitutionen wurden dagegen daran gemessen, wieviele Unzulänglichkeiten und Mängel sie aufdeckten. Auch wenn sie sich den materiellen Nutzen nicht selber aneignen konnten, dokumentierten sie so ihre Existenzberechtigung. Allerdings konnte diese Interessenlage auch zur Hypertrophierung der Kontrolle fuhren und damit kontraproduktiv wirken. Volkswirtschaftlich effektiv waren sie allerdings nur, wenn ihre Ergebnisse auch Konsequenzen für das Handeln der Wirtschaftseinheiten hatte, es also eine Rückkopplung gab. Als mit Beginn der Wirtschaftsreform 1963 die "Arbeiter-und-Bauern-Inspektion" (ABI) als eine Art Volkskontrolle gebildet wurde, erhielt sie daher Uber ihre Kontrollrechte hinaus die Möglichkeit, den Kontrollierten Weisungen zu erteilen, damit diese die aufgedeckten Mängel abstellten. 2 Mit ihrer Bildung wurde gleichzeitig die Zentrale Kommission für Staatliche Kontrolle aufgelöst, die von Anfang an mit dem Ministerium für Staatssicherheit (MfS) verflochten war. Unter institutionellen Aspekten war es daher logisch, daß die ABI als offizielle Instanz von Regierung und Partei gegründet wurde und das MfS seit den sechziger Jahren gleichzeitig seine eigene verdeckte - "informelle" - Tätigkeit in der Wirtschaft intensivierte. Die ABI unterstand zwar offiziell der Regierung und der SED, wurde aber faktisch von der Parteizentrale gelenkt. 3 Ihre Untersuchungen und Berichte gingen - sobald sie übergreifende Bedeutung hatten - an Mittag bzw. die wirtschaftspolitischen Abteilungen des ZK. 4 Aber auch das MfS unterrichtete Mittag über Vorgänge, die nicht nur den "klassischen" Bereich der tatsächlichen und unterstellten "Feindtätigkeit", wie Streiks, Sabotage u.ä., sondern zunehmend ebenfalls ökonomische Prozesse betrafen. Dabei scheint es allerdings eine gewisse Rivalität zwischen den Apparaten gegeben zu haben, denn Mittag reagierte sehr erbost, wenn er vom MfS über Ereignisse unterrichtet
1 Richtlinie, S. 20ff. 2
Beschluß über die Aufnahme der Tätigkeit der Arbeiter-und-Bauern-Inspektion der DDR vom 13.5.63, in: Gbl. 1963, II, S. 261. Auf die legitimatorischen Aspekte und die der Partizipation kann hier nur hingewiesen werden.
3
Ebenda; Niederschrift über eine Besprechung mit Gen. Apel am 1.8.63. Betr.: ABI, SAPMO-BA DY30
4
Vgl. beispielsweise die Berichte in: SAPMO-BA DY30 IV A2/2021/336.
IV A2/2021/334.
Entwicklung und Implementation
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der Reform
wurde, die ihm über den Parteiapparat noch nicht bekannt geworden waren. 1 Die im MfS für die Wirtschaft zuständige Hauptabteilung richtete seit Beginn der Wirtschaftsreform den Blick stärker auf die VVB, ohne dabei die zentralen Wirtschaftsinstanzen aus den Augen zu verlieren. Eine intensivierte Kontrolle und Überwachung wurde vor allem wegen der Dezentralisierung des wirtschaftlichen Lenkungs- und Koordinationsmechanismus als erforderlich betrachtet. Deshalb wurden neben der ABI in den zentralen Wirtschaftsinstanzen wie in den großen Wirtschaftseinheiten Sicherheitsbeauftragte installiert, die zwar den staatlichen Leitern unterstellt, faktisch aber die "Residentur" des MfS in diesen Institutionen waren. Ihre Zahl wurde gegen Ende der sechziger Jahre erheblich ausgedehnt. Sie hatten einen umfassenden Kontrollauftrag, der sich auf die Ursachen von Planabweichungen, auf Außenhandelsgeschäfte, Geheimnisschutz, Aufklärung von Mißständen u.ä. sowie die Auswertung von Störungen und Havarien bezog. Darüber hinaus rückten mit dem zunehmenden Handel mit westlichen Ländern sowohl die damit befaßten DDR-Bürger als auch die westlichen Geschäftsleute stärker ins Blickfeld. Mit dem Versuch, im letzten Drittel der sechziger Jahre den technologischen Wandel erheblich zu beschleunigen, hatte das MfS außerdem die Aufgabe, solche strukturbestimmenden Schwerpunkte bzw. die damit befaßten Kombinate und Betriebe abzusichern, wofür entsprechende "Objektdienststellen" und "Operativgruppen" geschaffen wurden. 2 In welchem Umfang der Sicherheitsapparat und die ABI das typische Kontrolldefizit der zentralen Wirtschaftsinstanzen ausgleichen konnten, läßt sich nicht genau sagen. Gemessen am Einfluß auf den realwirtschaftlichen Prozeß scheint es, als sei die Kontrollfunktion stärker vom Parteiapparat wahrgenommen worden. Die Qualität der Informationen und der Kontrolltätigkeit sowie ihre Rückkopplung auf die realwirtschaftlichen Prozesse war letztlich an der Effizienzentwicklung zu messen. Im folgenden soll ein Bereich behandelt werden, der eine gewissermaßen immanent wirtschaftliche Kontrolle über die Ergebnisse der Produktion ausübte.
6. Konfrontation der Betriebe mit dem Weltmarkt? Momente außenwirtschaftlicher Lenkung Charakteristisch für die Organisation des Außenhandels in den staatssozialistischen Ländern war das Staatsmonopol, was vom sowjetischen Modell übernommen und von Lenin begründet worden war. 3 Um das Außenhandelsmonopol zu gewährleisten, wurden spezielle Betriebe - Außenhandels-
1 Siehe seine Reaktion in der gleichen Akte auf folgenden Bericht: MfS: Einzelinformation über eine Arbeitsniederlegung im VEB Starkstromanlagenbau Karl-Marx-Stadt am 10.4.64 ..., 24.4.64, SAPMO-BA D Y 3 0 I V A2/2021/342. 2
M. Haendcke-Hoppe-Arndt, Die Hauptabteilung XVIII: Volkswirtschaft, in: S. Suckut/C. Vollnhals/ W. Süß/R. Engelmann, Anatomie der Staatssicherheit. Geschichte, Struktur und Methoden - MfS-Handbuch
3
Teil 111/10, Berlin 1997, S. 35-52.
Vgl. u.a. W.I. Lenin, Über das Außenhandelsmonopol [1922], in: W.I. Lenin, Werke, Bd. 33, Berlin (O)
Konfrontation
der Betriebe mit dem
Weltmarkt?
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unternehmen - gebildet, denen allein der Ex- und Import für bestimmte Branchen gestattet war. Sie waren dem Ministerium für Außenhandel und Innerdeutschen Handel (ab 1967 Ministerium für Außenwirtschaft) nachgeordnet. Lieferungen und Leistungen aus dem und für das Ausland hatten die Produktionsbetriebe mit diesen Außenhandelsunternehmen abzuwickeln, was in einem entsprechenden Plan festgelegt war, der nach Vorgaben der SPK und in Abstimmung mit ihr vom Außenhandelsministerium in seinen verschiedenen Teilen fixiert wurde. Die güterwirtschaftliche Trennung der Produzenten von den Außenmärkten ergänzte eine finanzwirtschaftliche. In der Binnenwirtschaft galten autonom und administrativ festgelegte Preise, im Handel mit den RGW-Ländern die an Weltmarktpreisen orientierten RGW-Preise und ansonsten die des Weltmarkts. Eine solche Trennung konnte nur aufrecht erhalten werden, weil die Währung nicht konvertibel, mithin eine reine Binnenwährung war. Das erforderte einen Ausgleich zwischen den inländischen und den mit einem ebenso administrativ festgelegten Wechselkurs umgerechneten im Ausland erzielten Preisen. Damit wurden die Produzenten sowohl bezüglich der konkreten Gebrauchswertparameter als auch der Preise von den Nachfragebedingungen der Außenmärkte isoliert. Funktional sollte das Außenhandelsmonopol die ex ante zu lenkende Binnenwirtschaft von der Außenwirtschaft abschotten, um sie vor den konjunkturellen Schwankungen des marktwirtschaftlich verfaßten Systems zu schützen. Außerdem hatte es politisch motivierte, wirtschaftliche Störungen durch den Westen zu verhindern. Praktisch wurde diese Isolierung aber gegenüber allen Ländern - unabhängig von ihrem System wirksam. Dem Vorteil, die außenwirtschaftlichen Einflüsse auf die Binnenwirtschaft besser kontrollieren zu können, stand der Nachteil gegenüber, daß die Bedingungen der Weltmärkte von den Produzenten nicht unmittelbar erfahren wurden, was wiederum dazu führte, daß ihre Erzeugnisse auf Grund ungenügender Qualität und wegen ihres technischen Niveaus international oft nicht konkurrenzfähig waren.' Dies wurde für die DDR in der zweiten Hälfte der fünfziger Jahre sowohl in westlichen Ländern als auch in zunehmendem Maße im Ostblock spürbar und da sie - als rohstoffarmes Land mit einer starken verarbeitenden Industrie - auf die außenwirtschaftliche Verflechtung angewiesen war, führten diese Resultate zu Überlegungen, wie das Außenhandelssystem modifiziert werden könne. Mit der Vorbereitung und dem Beginn der Wirtschaftsreform veränderte sich die Wahrnehmung der Funktion des Außenhandels. Bis in die sechziger Jahre hinein wollten die Verantwortlichen eine möglichst breite Palette der für den Verbrauch erforderlichen Güter einschließlich der Vorleistungen selbst produzieren und ohnehin ging mit dem Außenhandelsmonopol ein Hang zur Autarkie einher. Denn die Importerfordernisse wurden auf der Basis der gegebenen eigenen Produktionsmöglichkeiten bestimmt und, wie es in einer kritischen Ausarbeitung von 1962 hieß, "auf dieser
1973, S. 443ff. 1 Zur Etablierung des Außenhandelsmonopols in den osteuropäischen Ländern: H. Matejka, The Foreign Trade System, in: M. Käser (Hg.), Institutional Change within a Planned Economy (The Economic History of Eastern Europe, 1919-1975, Bd. 3), Oxford 1986, S. 25 Iff. Zur Spezifik der DDR: C. Buchheim, Wirtschaftliche Folgen der Integration der DDR in den RGW, in: ders. (Hg.), Wirtschaftliche Folgelasten des Krieges in der SBZ/DDR, Baden-Baden 1995, S. 341-345.
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Entwicklung und Implementation
der Reform
Grundlage - mit dem Ziel einer ausgeglichenen Bilanz - die Höhe der notwendigen Exporte, häufig unabhängig von ihrer Rentabilität, ihrem wissenschaftlich-technischen Stand, der Qualität und des vorhandenen Bedarfs", geplant. 1 Noch 1967 auf dem VII.SED-Parteitag beklagte Ulbricht, daß der Außenhandel "ausschließlich zum Ausgleich von Defiziten (als) erforderlich" und als "notwendiges Übel" betrachtet werde. 2 Die Kritik an diesem "hauswirtschaftlichen Charakter der DDR" 3 begann im Vorfeld der Reform im Spätsommer 1962." In der zitierten Ausarbeitung vom September 1962 wurde verlangt, den Außenhandel stärker als ein Mittel zur Steigerung der gesamtwirtschaftlichen Produktivität zu nutzen. Es hieß: "Volumen und Struktur der Im- und Exporte müssen im Plan in Übereinstimmung mit den Erfordernissen des höchsten ökonomischen Nutzeffektes, der Vermehrung des Nationaleinkommens über den Außenhandel, der vorrangigen Steigerung der Exporte hoch veredelter, weltmarktfähiger Erzeugnisse aus spezialisierter Produktion festgelegt werden." 5 Allerdings setzten sich diese Ideen nur langsam durch. Selbst das offizielle Reformprogramm von 1963 blieb in seinen Aussagen zur Außenwirtschaft im Vergleich zu der Ausarbeitung vom September 1962 zurückhaltend 6 , obwohl intern zur selben Zeit bereits weitergehende Vorschläge erörtert wurden. Die Ursache dafür lag wohl vor allem darin, daß die Reformer zunächst andere Aufgaben, wie die Preisreform und die Umstellung der VVB zu wirtschaftlichen Einheiten, in den Mittelpunkt stellen mußten. Das Außenhandelsministerium selbst griff die neuen Gedanken nur sehr zögerlich auf, weil man dort offenbar befürchtete, Kompetenzen zu verlieren.7 Das erste Grundsatzdokument zur Außenwirtschaft in der Wirtschaftsreform wurde im Juli 1964 vom Politbüro verabschiedet und nachfolgend von der Regierungsspitze bestätigt. Es sah vor, die "stimulierenden Faktoren der Außenmärkte für die Industrie (zu) nutzen". 8 Aber erst mit der "zweiten Etappe des NÖS" ab Ende 1965, Anfang 1966 erfuhr diese Idee durch entsprechende Forderungen Ulbrichts auf der
1 Grundfragen der Entwicklung des Außenhandels der DDR in den Jahren 1963-1970, 20.9.62, SAPMO-BA DY30 IV A2/2021/451. (Unterstreichung im Original - A.S.) 2
Protokoll des Vll.Parteitages, Bd. 1, S. 211.
3
So Helmut Koziolek im Gespräch in: Pirker u.a., Der Plan als Befehl und Fiktion, S. 268.
4
Eine entsprechende Vorlage Leuschners für das Politbüro vom April 1962 übte zwar ebenfalls bereits vorsichtige Kritik an diesem Zustand, aber entsprach implizit noch ganz dieser Charakterisierung. Vgl. Leuschner: Politbürovorlage (Entwurf). Probleme des Außenhandels der DDR. Information ..., [April 1962], SAPMO-BA DY30 IV A2/2021/67.
5
Grundfragen der Entwicklung des Außenhandels der DDR in den Jahren 1963-1970, 20.9.62, SAPMO-BA DY30 IV A2/2021/451.
6
Vgl. Richtlinie, S. 74, 79.
7
Stenographische Niederschrift: Sitzung des Ministerrates am 7.2.63, BA DC20-I/3-435; MAI, Balkow: Vorlage für das Büro für Industrie und Bauwesen beim Politbüro. Vorschläge für ein neues ökonomisches System der Planung und Leitung des Außenhandels, [Mai 1963]; Büro für Industrie und Bauwesen beim Politbüro: Stellungnahme zur Vorlage des Ministers für Außenhandel und Innerdeutschen Handel ..., 30.5.63, SAPMO-BA DY30 IV A2/601/31.
8
PMR: Beschluß über Grundsätze ... vom 13.8.64. Anlage 1: Grundsätze für die Anwendung des NÖS auf dem Gebiet des Außenhandels (Beschluß des Politbüros vom 14.7.64), SAPMO-BA DY30 J IV 2/2J/1253.
Konfrontation
der Betriebe mit dem
Weltmarkt?
165
11.ZK-Tagung im Dezember 1965 die notwendige Unterstützung von allerhöchster Instanz. 1 Um die Außenwirtschaft tatsächlich als Wachstumsfaktor und als "wichtiges Instrument der langfristigen Wirtschaftsstrategie und der volkswirtschaftlichen Strukturpolitik" nutzbar zu machen, wie es ein Politbürobeschluß vom Dezember 1967 zur Außenwirtschaft verlangte 2 , mußte ihre Monopolisierung überdacht werden. Zwar wollte man einen flexibleren Umgang mit dem Außenhandelsmonopol und die "schematischen Auffassungen über das Außenhandelsmonopol und die dogmatische Enge in Theorie und Praxis überwinden". 3 Es sollte aber keinesfalls abgeschafft werden. 4 Das Außenhandelsmonopol war - wie es in einem Papier des VWR hieß - zu gewährleisten und die Produzenten gleichzeitig dem Markt auszusetzen. 5 Um das Monopol entsprechend zu modifizieren, wurden verschiedene organisatorisch-institutionelle Lösungen erwogen und teilweise ausprobiert. Die Außenhandelsunternehmen sollten zu Tochtergesellschaften der VVB und damit zu deren Verkaufsorganen werden. Die Eigengeschäfte der Produzenten wollte man ausdehnen und in Ausnahmefällen Produktionsbetriebe direkt mit der Abwicklung der Außenhandelsgeschäfte betrauen und soweit den Außenhandelsunternehmen gleichstellen. 6 Obwohl die Betriebe und VVB eine größere Verantwortung für den Außenhandel forderten, wurde vieles zunächst nicht umgesetzt, weil die Außenhandelsinstanzen mit dem Ministerium an der Spitze den Industriebetrieben und deren VVB die "Wahrnehmung des Außenhandelsmonopols" nicht zutrauten. 7 Sie widersetzten sich der Unterstellung von Außenhandelsunternehmen unter die Leitung der VVB und der Übertragung von Außenhandelsfunktionen auf Großbetriebe. Noch 1967 betrieben die Außenhandelsunternehmen einen "bürokratischen Kleinkrieg mit der Industrie", der viel Kraft band. Gerade in der metallverarbeitenden Industrie - einem der wichtigen Exportsektoren der DDR - waren die Außenhandelsunternehmen aber mit den Anforderungen der Kundenberatung und technischen Projektierung, bei Problemlösungen und Servicediensten überfordert. Nach Meinung der ZK-Abteilung hatten sich die von der Industrie organisatorisch getrennten Außenhandelsbetriebe "in vielen Bereichen historisch
1
Ulbricht, Zum neuen ökonomischen System, S. 712.
2
Protokoll der Politbürositzung am 5.12.67. Anlage: Die Außenwirtschaft im ÖSS - die nächsten Schritte
3
PMR: Beschluß über Grundsätze ... vom 13.8.64. Anlage 1: Grundsätze für die Anwendung des NÖS auf
..., SAPMO-BA D Y 3 0 J IV 2/2A/1266+1267. dem Gebiet des Außenhandels (Beschluß des Politbüros vom 14.7.64), SAPMO-BA D Y 3 0 J IV 2/2J/1253. 4
Mittag in: Stenographische Niederschrift der Beratung des Büros für Industrie und Bauwesen beim Politbüro mit leitenden Partei- und Wirtschaftsfunktionären ... am 13.1.64, SAPMO-BA D Y 3 0 IV A2/601/54; Ulbricht in: Stenographische Niederschrift der gemeinsamen Sitzung des Politbüros und des Ministerrates ... am 8.2.68, SAPMO-BA D Y 3 0 J IV 2/201/771; Ulbricht in: Protokoll des Vll.Parteitages, Bd. 1, S. 212.
5
V W R an Mittag, 23.11.65: Zur Entwicklung des Systems der Zusammenarbeit zwischen Industrie und Außenhandel, 22.11.65, SAPMO-BA D Y 3 0 IV A2/2021/274.
6
PMR: Beschluß Uber Grundsätze ... vom 13.8.64. Anlage 1: Grundsätze für die Anwendung des NÖS auf dem Gebiet des Außenhandels (Beschluß des Politbüros vom 14.7.64), SAPMO-BA D Y 3 0 J IV 2/2J/1253.
7
SPK: Information über Aussprachen mit leitenden Genossen aus V V B und Betrieben Uber Fragen der Durchführung des N Ö S ..., 13.11.65, BA DE 1/45454.
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Entwicklung und Implementation der Reform
überlebt".' Neben der Angst der Außenhandelsinstanzen vor Kompetenzverlusten ergaben sich für die institutionelle Neuordnung aber Probleme, die aus den bestehenden Strukturen resultierten. So stimmten die Branchengliederung der VVB und der Außenhandelsunternehmen nicht Uberein, was Fragen der Zuordnung aufwarf. Letztlich blieben aber die Außenhandelsunternehmen für die Exportabsatzorganisation die wichtigste Instanz. Jedoch verbesserte sich im Laufe der Zeit die Zusammenarbeit mit den Produzenten. Sie wurden in die Vorbereitung und Durchfuhrung der Außenhandelsgeschäfte sowie beim Kundendienst einbezogen und gewannen so zumindest mehr Einblick in die Wünsche der Exportkunden, ohne freilich über sie umfassend informiert zu sein. Darüber hinaus war dem V E B Carl Zeiss Jena ab 1965 und dem VEB Uhrenkombinat Ruhla ab 1968 die Außenhandelsfunktionen übertragen worden und für eine Reihe von VVB wurden die für sie zuständigen Außenhandelsunternehmen zu deren Absatzorganen umgewandelt. Bei diesen Schritten meinte man das Außenhandelsmonopol über die Planung garantieren zu können sowie durch ein Lizenzsystem, mit dem das Außenhandelsministerium Im- und Exporte genehmigen mußte, um den "Außenhandelsumsatz nach Waren und Ländern unter Berücksichtigung der Austauschverhältnisse und handelspolitischen Erfordernisse" zu steuern. 2 Die weitere Umgestaltung der inneren Organisation des Außenhandels unterblieb angesichts der sich 1969/70 verschärfenden außenwirtschaftlichen Situation. 3 Mit den organisatorischen Änderungen, die prinzipiell eine Dezentralisierung zum Ziel hatten, jedoch häufig nicht über das Experimentierstadium hinauskamen, bewegte man sich in dem Rahmen, der für die Reformen auch in anderen osteuropäischen Ländern kennzeichnend war. 4 Die tatsächlichen Veränderungen hatten den Produzenten etwas mehr Kundennähe gebracht. Ob diese allerdings zu Buche schlagen konnte, hing davon ab, wie die wirtschaftlichen Anreize gestaltet wurden und ob die materiellen Voraussetzungen gegeben waren. Bereits vor der Wirtschaftsreform war damit begonnen worden, den Export anhand wirtschaftlicher Kriterien zu planen. Dazu hatten die Betriebe die Exportrentabilität der Güter zu bestimmen. Gegenüber früher war es ein Fortschritt, daß Anfang der sechziger Jahre die Ausfuhr überhaupt unter ökonomischen Aspekten überprüft wurde. 1962 kam man zu dem Schluß, "daß für die Rentabilität der Exporte letzten Endes eine hohe Arbeitsproduktivität im jeweiligen Industriezweig bzw. Betrieb und das technische Niveau der Erzeugnisse im Vergleich zu den Hauptproduzenten im internationalen Maßstab entscheidend sind." 5 Das Hervorheben dieser Erkenntnis belegt, daß dies den Verantwortlichen damals jedenfalls nicht durchgängig klar war. Insofern bildeten diese Analy-
1 Abt. Planung und Finanzen an Ulbricht, 6.7.67, Anlage 2: Auszüge aus Informationen der SPK, des MdF und der Außenhandelsbank zur Arbeit des Außenhandels, 28.6.67, SAPMO-BA NY4182/973. 2 Protokoll der Politbürositzung am 5.12.67. Anlage: Die Außenwirtschaft im ÖSS - die nächsten Schritte ..., SAPMO-BA DY30 J IV 2/2A/1266+1267. Zu einzelnen Problemen der inneren Absatzorganisation vgl. K.-H. Nattland, Der Außenhandel in der Wirtschaftsreform der DDR, Berlin (W) 1972, S. 56-70. 3 Zu dieser Situation vgl. den Abschnitt zum Reformabbruch. 4 Matejka, Foreign Trade System, S. 265ff. 5 Leuschner: Politbürovorlage (Entwurf). Probleme des Außenhandels der DDR. Information ..., [April 1962], SAPMO-BA DY30 IV A2/2021/67.
Konfrontation der Betriebe mit dem Weltmarkt?
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sen auch einen der Ausgangspunkte fiir die Wirtschaftsreform. Aber die Kennziffer Exportrentabilität konnte, so wie sie bestimmt wurde, nicht zu einer effizienteren Exportstruktur führen, denn man stellte die Deviseneriöse im Ausland dem inländischen Aufwand zu Binnenpreisen gegenüber. Vor der Industriepreisreform jedoch waren die Binnenpreise vollkommen inkonsistent und nicht geeignet, den inländischen Aufwand korrekt widerzuspiegeln. Daher wurden für die Exportrentabilität Preissurrogate herangezogen, die dieses Problem bestenfalls milderten. 1 Aber selbst als dann die Preise der Industriepreisreform in Kraft traten, widersprachen sich unter Umständen die Konsequenzen bei der Festlegung des Produktionssortiments, die sich für die Betriebe aus der Kennziffer Exportrentabilität und aus den Leistungsanreizen ergaben. Beide waren nicht verknüpft und bei der Ermittlung des Gewinns - dem Hauptkriterium für die Boni des Betriebes - wurden die im Export erzielten Deviseneriöse nicht berücksichtigt. 2 Die Einsicht in diesen Nachteil war einer der Ursprünge des Gedankens, die Deviseneriöse auf die Produzenten durchschlagen zu lassen und damit den traditionellen Preisausgleich zwischen Binnen- und Außenwirtschaft zumindest teilweise aufzugeben. 3 Unabhängig davon wurde die Exportrentabilität wegen methodischer Unzulänglichkeiten und Bedenken bei der Exportplanung kaum berücksichtigt. Tatsächlich taugte diese Kennziffer auch nicht als alleiniges Entscheidungskriterium für die Planer, die sowohl die Aufkommen-Verwendungs-Bilanzen fiir die einzelnen Waren als auch die Handels- und Zahlungsbilanz ins Gleichgewicht zu bringen hatten. Denn dabei waren sie nach wie vor gezwungen, Güter zu exportieren, obwohl sie nach den vorliegenden Kennziffern unrentabel waren, um die Devisen für notwendige Importe zu erwirtschaften. Liquidität ging weiter vor Rentabilität. Vor diesem Hintergrund dominierte bei den Planauflagen für den Export, die nur das Volumen und nicht dessen Rentabilität umfaßten, die Devise, um jeden Preis zu exportieren. Selbst die von der SPK herausgegebene Planmethodik für 1966 schrieb noch vor, daß Exporte nicht aus Rentabilitätsgründen abgelehnt werden dürften. In der Konsequenz verschlechterte sich die Exportrentabilität und die erforderlichen Exportsubventionen stiegen stetig an. Im Jahr 1962 mußte Export im Wert von 1.000 Valutamark mit 456 Mark und im ersten Halbjahr 1965 bereits mit 641 Mark subventioniert werden. Diese Diskrepanzen zwischen Kosten und Exportpreisen führten zu politisch unerwünschten Diskussionen darüber, ob "die Republik verkauft" werde. 4 In den internen Ausarbeitungen zur Exportrentabilität wurde jedoch immer wieder darauf verwiesen, daß ihr adäquater Ausdruck einen den wirtschaftlichen Gegebenheiten entsprechenden
1 Die Unzulänglichkeiten dieser Surrogate waren den Verantwortlichen durchaus bekannt. Vgl. u.a. Stellvertreter des Vorsitzenden: Vermerk fiir den Vorsitzenden der SPK, Gen. Dr.Apel. Stellungnahme zur Information des MdF für das Politbüro ..., 23.10.63, BA DC20-I/6-4. 2 Vgl. zu den methodischen Details und Problemen: Nattland, Außenhandel, S. 81-95. 3 Arbeitsgruppe 3 [des Strategischen Arbeitskreises des Politbüros]: Teilkonzeption Außenwirtschaft, SAPMO-BA DY30 J IV 2/202/415. 4 Ökonomische Kommission beim PMR: Informationsmaterial, 20.1.65: Bericht über die Auswirkungen der bisherigen Berechnungsmethoden der Außenhandelsrentabilität..., SAPMO-BA DY30 IV A2/2021/239; Abt. Planung und Finanzen: Information über Rentabilitätsfragen der Außenwirtschaftstätigkeit der DDR, 21.8.65, SAPMO-BA DY30 IV A2/2021/698.
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Entwicklung und Implementation
der Reform
Wechselkurs der DDR-Mark erfordere. 1 Da sie - als nicht konvertibel - im Außenhandel nicht als Zahlungsmittel dienen konnte und auf dem Devisenmarkt offiziell nicht gehandelt wurde, war "der staatlich dekretierte Devisenkurs kein Wechselkurs im ökonomischen Sinne, sondern ein technischer Verrechnungskoeffizient zur binnenwirtschaftlichen Abrechnung von Außenwirtschaftstransaktionen". 2 Mit dem Wechselkurs wurden die Export- und Importpreise in ausländischen Währungen in die dafür 1959 geschaffene interne Planungs- und Verrechnungseinheit Valutamark umgerechnet, d.h. Außenhandelsangaben in Valutamark lagen die Weltmarkt- bzw. RGW-Preise und denen in Mark die Binnenpreise zugrunde. Am 1.Januar 1959 war der UmrechnungskoefFizient ausgehend von einer Parität eine (westdeutsche) D-Mark gleich eine Valutamark mit 1 Rubel = 4,67 Valutamark bzw. 1 Dollar = 4,20 Valutamark festgesetzt worden, womit man sich an den offiziellen Wechselkurs der D-Mark zum Dollar und des Rubels zum Dollar hielt. Bereits damals war aber offenbar umstritten, ob damit das Verhältnis der Preisniveaus richtig wiedergegeben wurde. Im Zusammenhang mit der Bewertung von Importgütern in der Industriepreisreform untersuchte man 1963, welcher Aufwand in der Devisenerwirtschaftung erforderlich war. Dabei wurde der Export zu Industrieabgabepreisen und zu im Ausland erzielten Preisen in Valutamark gegenübergestellt. Auf Basis des Exportumsatzes des Jahres 1961 mußte danach bei dem gültigen Umrechnungskurs durchschnittlich 1,30 Mark im Inland aufgewendet werden, um eine Valutamark zu erzielen. Das war in erster Linie Ausdruck der fehlenden internationalen Konkurrenzfähigkeit der DDR-Exportgüter. Dabei verdeckte der Durchschnitt, daß die Relation auf westlichen Märkten wesentlich schlechter war als im Ostblock. Der Preisniveau-Vergleich ergab einen "Schattenwechselkurs" 3 , dem der interne Umrechnungskoeffizient angepaßt werden sollte. Allerdings wies Finanzminister Rumpf zugleich daraufhin, daß "damit ein politisches Problem verbunden" sei, weil dies "von den Gegnern als Abwertung der DM [Ost - A.S.] ausgelegt werden" könne. Vor allem würde damit faktisch die Parität zur D-Mark verändert, die statt der behaupteten l:l-Relation bei 1:1,30 liegen würde.4 Damit wäre freilich auch der Produktivitätsrückstand bzw. die mangelnde Konkurrenzfähigkeit offen ausgewiesen worden. Rumpf betonte in der Ökonomischen Kommission der Regierung, "ob wir den Kurs [der Währung - A.S.] ändern oder andere Wege gehen, das ist nur eine Frage der tech-
1 Hier und im folgenden ist immer nur die Rede von dem fur den Außenhandel relevanten internen Wechselkurs. Auf den mit der Goldparität verbundenen offiziellen Wechselkurs und die Kurse fur nichtkommerzielle Zahlungen wird nicht weiter eingegangen. Vgl. Nattland, Außenhandel, S. 131 ff. 2 3
Nattland, Außenhandel, S. 127. So die Typisierung in: A.A. Brown/P. Marer, Foreign Trade in the East European Reforms, in: M. Bornstein (Hg.), Plan and Market. Economic Reform in Eastern Europe, New Haven u.a. 1973, S. 164.
4
MdF: Vorlage für das Politbüro, 25.4.63; Stellvertreter des Vorsitzenden: Vermerk für den Vorsitzenden der SPK, Gen. Dr.Apel. Bemerkungen zur Information des MdF..., 6.5.63, BA DC20-I/6-2. Es kann hier nicht darauf eingegangen werden, inwieweit die Berechnung des MdF korrekt war. Es gab dazu abweichende Angaben, die für eine erwirtschaftete Valutamark einen inländischen Aufwand von 1,47 bzw. 1,50 Mark sahen. Vgl. Vermerk für den Vorsitzenden der SPK, Gen. Dr.Apel, [unterz. Halbritter u.a., hdschr. 24.5.63], BA DC20-I/6-2.
Konfrontation der Betriebe mit dem Weltmarkt?
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nischen Durchführung." 1 Damit offenbarte er aber, daß er den Wechselkurs lediglich als technisches Verrechnungsverhältnis ansah und nicht daran dachte, den Preisausgleich zwischen Binnenund Außenmarkt abzuschaffen. Neben der Furcht vor einer "Abwertung" spielte allerdings die für 1963 überraschende Überlegung eine Rolle, daß "ein Abgehen von der einheitlichen Zahlungsbasis von westdeutscher Seite als Maßnahme für eine absolute Trennung auf wirtschaftlichem Gebiet betrachtet werden (könnte)." Viel wahrscheinlicher war jedoch, daß die Ostdeutschen das so interpretiert hätten. Auf der anderen Seite sah man einen Vorteil darin, daß mit einer Veröffentlichung die Diskussionen im Inland über den Ausverkauf und im Ausland die Dumping-Vorwürfe beendet werden konnten. 2 Schließlich aber vereinbarten Rumpf und Stoph im Sommer 1963 an allen zuständigen Gremien vorbei, dem SED-Politbüro keine Veränderung des Wechselkurses vorzuschlagen. Wörtlich verlautete aus dem MdF, wie es Apel hintertragen wurde: "Aus politischen Gründen ist gegenwärtig nicht daran gedacht, eine Veränderung des bestehenden internen Devisenumrechnungssatzes zu veranlassen." 3 Die 1963er Diskussion um den Umrechnungskurs im Zusammenhang mit den Rentabilitätskennziffern für den Export krankte daran, daß das Verhältnis von Export- und Binnenpreisen wegen des Zustandes der Binnenpreise für einen wirtschaftlich begründeten Wechselkurs wenig aussagekräftig war. 4 Aber die Industriepreisreform erforderte eine gewisse Zeit. Da jedoch die Reform von Anfang an vorsah, zunächst für die Außenhandelsunternehmen den Preisausgleich abzubauen und dort die auf den Außenmärkten erzielten Preise ergebniswirksam zu machen, mußte der Wechselkurs verändert werden, weil er sonst zumindest bei den Außenhandelsunternehmen exporthemmend und importfordernd wirkte. Um das differenzierte Preisniveau in den Absatzgebieten auszugleichen und die Interessen dieser Unternehmen entsprechend den zentralen Intentionen zu gestalten, wurde der Wechselkurs mit Zuschlägen für die verschiedenen Gebiete korrigiert. 5 Damit wurde er zum Lenkungsinstrument für das inländische Angebot von Exportgütern. Auf die ausländische Nachfrage nach DDR-Produkten hatte das keinen Einfluß. 6 Bevor das erste Grundsatzdokument zur Wirtschaftsreform im Außenhandel, nach dem für die Außenhandelsunternehmen perspektivisch der Preisausgleich abgeschafft werden sollte 7 , beschlossen war, mahnten die ZK-Abtei-
1 Protokoll der Sitzung der Arbeitsgruppe zur Beratung von grundsätzlichen Fragen ... vom 25.5.63, BA DC20-I/6-2. 2 Bemerkungen zur Information für das Politbüro des ZK der SED über Probleme des Ausweises der Außenhandelsrentabilität durch das MdF, 28.9.63, BA DC20-I/6-4. Die Ausarbeitung stammte wahrscheinlich von dem "Sekretär" der Ökonomischen Kommission und wissenschaftlichen Mitarbeiter bei Apel, Günter Ehrensperger, oder einem der Stellvertreter Apels. 3 [Ehrensperger] Gen. Apel. Betr.: Vorlage des Gen. Rumpf, 19.11.63, BA DC20-I/6-4. 4 Vgl. u.a. Stellvertreter des Vorsitzenden: Vermerk für den Vorsitzenden der SPK, Gen. Dr.Apel. Stellungnahme zur Information des MdF für das Politbüro ..., 23.10.63, BA DC20-I/6-4. 5
MAI an Mittag, 4.9.63: Entwurf der Grundsätze für die Anwendung des NÖS im Außenhandel, SAPMOB A D Y 3 0 IV A2/2021/289.
6
Vgl. auch: Nattland, Außenhandel, S. 131.
7
PMR: Beschluß über Grundsätze ... vom 13.8.64. Anlage 1: Grundsätze für die Anwendung des NÖS auf
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Entwicklung und Implementation der Reform
lungen mehrfach, es sei unerläßlich, einen ökonomisch begründeten Koeffizienten für die Umrechnung der Auslandspreise zu schaffen. Das aber wurde von Rumpf blockiert. 1 Er stützte sich dabei offenbar auf jene Vereinbarung mit Stoph, die sicher auch mit Ulbricht abgestimmt war und politischen Bedenken Rechnung trug. Daher gab es im Grundsatzdokument keine Aussagen zum Devisenumrechnungskoeffizienten. Vorgesehen war, differenzierte Exportprämien und Importaufschläge einzuführen, die das unterschiedliche Preisniveau in den verschiedenen Währungsgebieten ausgleichen und als Anreiz dienen sollten, "den Export - besonders in das kapitalistische Wirtschaftsgebiet - maximal zu steigern". 2 Diese Exportprämien und Importaufschläge führten faktisch zu einem neuen internen Wechselkurs, ohne daß man das so nannte, um nicht von der 1:1 Parität zur D-Mark abgehen zu müssen. Sie waren vermutlich ein Kompromiß, um die exporthemmenden und importfördernden Effekte des bisherigen Umrechnungskoeffizienten zu beseitigen und führten zu multiplen Wechselkursen. Inwiefern bei der Festsetzung dieser Aufschläge die Unterschiede im Preisniveau zugrunde gelegt wurden und inwieweit die Anreizfiinktion berücksichtigt wurde, läßt sich anhand der vorhandenen Unterlagen vor allem für das westliche Wirtschaftsgebiet nicht definitiv beantworten. Auf jeden Fall wurde die ungenügende Berechnung herangezogen, die auf den Bedingungen des Jahres 1961 sowie dem Durchschnitt aller Exporte basierte und wonach der Kurs um 30 % zu korrigieren war. Tatsächlich lag 1964 der inländische Aufwand für die gesamten Exporte zum bisherigen Umrechnungskurs bereits 52,6 % über dem Nettovalutaerlös. Zudem hätte die zu erwartende Anhebung des inländischen Preisniveaus durch die Industriepreisreform berücksichtigt werden müssen. Die ab dem 1.Januar 1965 gültigen Exportprämien und Importaufschläge betrugen für das "sozialistische" Wirtschaftsgebiet (außer Kuba und Jugoslawien) 30 %, für Kuba und Jugoslawien 45 %, für die Bundesrepublik 60 %, für Verrechnungswährungen im westlichen Wirtschaftsgebiet 70 % und für konvertible Devisen 80 %. Bezogen auf die Handelsstruktur von 1965 ergab dies im Durchschnitt eine Korrektur von 41 %. 3 Damit lag der interne Wechselkurs faktisch bei 1 Rubel = 6,07 Valutamark und 1 Dollar = 7,56 Valutamark im freien nicht verrechneten Handel. In der Industrie wurden diese Aufschläge nicht ergebniswirksam, denn die Produzenten verrechneten die Exporte und Importe mit den Außenhandelsunternehmen nach wie vor zu Binnenpreisen. Daher konnten sie als Anreiz nur bei den Außenhandelsunternehmen wirken. Die Industriebetriebe hatten sie lediglich in die Berechnungen der Exportrentabilität einzubeziehen, die für die Entscheidungen zur Exportstruktur und Produktionsentwicklung herangezogen werden sollten. Tatsächlich wurden die Auf-
dem Gebiet des Außenhandels (Beschluß des Politbüros vom 14.7.64), SAPMO-BA DY30 J IV 2/2J/1253. 1 Abt. Handel, Versorgung und Außenhandel an Mittag, 22.5.64: Vermerk zu den Problemen des Umrechnungskoeffizienten der DM/DN, SAPMO-BA DY30IV A2/2021/729; Sektor Finanzen: Bemerkungen zur Vorlage für das Politbüro ..., 26.5.64, SAPMO-BA DY30 IV A2/2021/425. 2 PMR: Beschluß über Grundsätze ... vom 13.8.64. Anlage 1: Grundsätze für die Anwendung des NÖS auf dem Gebiet des Außenhandels (Beschluß des Politbüros vom 14.7.64), SAPMO-BA DY30 J IV 2/2J/1253. 3 Abt. Planung und Finanzen: Information über Rentabilitätsfragen der Außenwirtschaftstätigkeit der DDR, 21.8.65, SAPMO-BA DY30 IV A2/2021/698.
Konfrontation der Betriebe mit dem Weltmarkt?
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Schläge aber nicht überall in dieser Weise genutzt. Sie führten vor allem zu beträchtlichen Unsicherheiten darüber, welche Güter im Export rentabel waren. 1 In der folgenden Zeit mangelte es nicht an Vorstößen, anstelle verschiedener Kurszuschläge u.ä. den internen Wechselkurs zu verändern, denn er sei "wie jeder andere Preis ein ökonomischer Hebel, den wir für die rationelle Gestaltung des Reproduktionsprozesses nutzen müssen". 2 Nachdem man sich 1967 bei der Gestaltung der Systemregeln dafür entschieden hatte, die Deviseneriöse im Export bis zum Produktionsbetrieb durchschlagen zu lassen 3 , war es besonders dringlich, dieses Problem praktisch zu lösen, zumal die Industriepreisreform inzwischen abgeschlossen war und sich natürlich auch die Weltmarktpreise änderten. In einer Vorlage für das Politbüro schlug Halbritter vor, den internen Wechselkurs für den transferablen Rubel entsprechend dem durchschnittlichen Verhältnis der neuen Industriepreise der DDR zu den Preisen auf dem "sozialistischen Weltmarkt" zu ändern. Die Relation zum Dollar sollte sich dann aus dem offiziellen Kurs von transferablem Rubel zum Dollar ergeben. Auch das Verhältnis zur D-Mark hätte sich dadurch entsprechend geändert. Die verbleibenden Differenzen zum erzielten Preisniveau im Handel mit dem "nichtsozialistischen" Wirtschaftsgebiet, das er im Schnitt mit 20 % niedriger angab, sollten ergebniswirksame Richtungskoeffizienten ausgleichen, die unterschiedlich nach Export und Import sowie Ländern und Währungsgebieten festzulegen waren. Neben dem Ausgleich des Preisniveaus hatten sie wieder eine Anreiz- und Lenkungsfiinktion. Als nachteilig schien es Halbritter, daß bei einem solchen Entschluß im In- und Ausland möglicherweise über die Stabilität der DDR-Währung diskutiert werde. Als Alternative erwog er, den bisherigen Wechselkurs beizubehalten und die Exportprämien und Importaufschläge zu verändern. Er gab aber zu bedenken, daß ein solches Vorgehen "das Erkennen der echten Rentabilitätsverhältnisse kompliziert und unübersichtlich macht". Die erforderliche Kurskorrektur und der Lenkungsanspruch würden verwischt und diese Instrumente außerdem von den Betrieben als willkürliche Aufschläge auf den Preis angesehen. 4 Es waren wiederum politische Vorbehalte, die das Politbüro veranlaßten, die Veränderung des internen Wechselkurses abzulehnen und die von Halbritter als ungünstiger dargestellte Alternative anzunehmen. 5 In einer etwas später vorgelegten Stellungnahme führte dies die ZK-Abteilung Planung und Finanzen explizit aus: "Bekanntlich wurde bisher an dieser Zweiteilung (in Kurs und Korrekturkoeffizienten - A.S.) festgehalten, um keinen Anlaß für Diskussionen über die Realität des Verhältnisses der Mark der DDR zur Westmark in Höhe von 1:1 zu geben." 6
1 Abt. Planung und Finanzen: Information über Rentabilitätsfragen der Außenwirtschaftstätigkeit der DDR, 21.8.65, SAPMO-BA DY30 IV A2/2021/698. 2 Vgl. u.a. Abt. Planung und Finanzen an Ulbricht, 6.7.67, SAPMO-BA NY4182/973. 3 Arbeitsgruppe 3 [des Strategischen Arbeitskreises des Politbüros]: Teilkonzeption Außenwirtschaft, SAPMO-BA DY30 J IV 2/202/415. 4 W. Halbritter: Politbürovorlage. Entscheidung über eine Reihe herangereifter Probleme ..., 15.9.67: a) Gestaltung des internen Umrechnungsverhältnisses unserer Währung ..., SAPMO-BA DY30 J IV 2/2A/1248. 5 Protokoll der Politbürositzung am 19.9.67, SAPMO-BA DY30 J IV 2/2A/1248. 6 Abt. Planung und Finanzen: Stellungnahme zu dem vom Gen. Halbritter übergebenen Material über die Gestaltung des Valutakurses, 28.7.69, SAPMO-BA DY30 IV A2/2021/701.
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Die bisherigen Exportprämien und Importaufschläge, die faktisch bereits eine Kurskorrektur darstellten, sollten laut Politbürobeschluß vom 5. Dezember 1967 ab 1969 durch differenzierte Richtungskoeffizienten ersetzt werden, die sowohl die Unterschiede im Preisniveau ausschalten als auch die Entwicklung des Handels mit bestimmten Ländern fordern sollten. 1 Da diese Instrumente - wie noch zu zeigen sein wird - dazu dienten, die den Betrieben gutzuschreibenden Exporterlöse von Valutamark in Mark umzurechnen, werteten sie faktisch die Mark ab. 2 Die Mitte 1968 für die Jahre 1969/70 beschlossenen Richtungskoeffizienten lassen deutlich die außenwirtschaftlichen Prioritäten erkennen, wenn man in Rechnung stellt, daß Halbritter wirtschaftlich gegenüber den anderen Ostblockländern eine "Abwertung" von 40 % als erforderlich angesehen hatte, wobei angenommene inländische Preissenkungen der kommenden Jahre bereits antizipiert waren. 3 Daher wirkten die Richtungskoeffizienten gegenüber den RGW-Ländern tendenziell weiter exporthemmend und importfordernd. Gegenüber den "nichtsozialistischen" Ländern hatte Halbritter im Schnitt eine weitere Preisdifferenz von 20 % ausgemacht, womit insgesamt 60 % korrigiert werden mußten. In diesem Wirtschaftsgebiet wirkten die Richtungskoeffizienten daher exportfördernd und importbegrenzend (Tabelle 1.2). Tabelle 1.2: Richtungskoeffizienten für 1969/70 in % a u f den Valutagegenwert Sozialistische Länder (außer Jugoslawien) Jugoslawien Verrechnungswährungen Freie Devisen Bundesrepublik, einschließlich Westberlin Frankreich Österreich Brasilien Finnland VAR
Export 30 70 70 80 60 90 80 80 80 70
Import 30 70 70 80 100 80 80 70 70 50
Quelle: MdF: Problemvorlage zur Weiterentwicklung des Systems differenzierter Richtungskoeffizienten, April 1969, BA DN1-VS/14-90.
1
Protokoll der Politbürositzung am 5.12.67. Anlage: Die Außenwirtschaft im ÖSS - die nächsten Schritte ..., SAPMO-BA DY30 J IV 2/2A/1266+1267.
2 Auf die Exportprämien und Importzuschläge traf das nicht zu, da sie binnenwirtschaftlich praktisch nicht wirkten. Der Richtungskoeffizient für den Handel mit der Bundesrepublik stellte damit infolge der zugrunde liegenden 1:1 Parität zwischen D-Mark und Valutamark einen inoffiziellen kommerziellen Wechselkurs zwischen der D-Mark und der DDR-Mark dar. 3
Zu dem Korrekturbedarf hier und im folgenden: Halbritter: Politbürovorlage. Entscheidung über eine Reihe herangereifter Probleme ..., 15.9.67: a) Gestaltung des internen Umrechnungsverhältnisses unserer Währung ..., SAPMO-BA DY30 J IV 2/2A/1248.
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In den folgenden Jahren wurde verschiedentlich darauf gedrängt, den internen Wechselkurs den wirtschaftlichen Gegebenheiten anzupassen und die Richtungskoeffizienten zumindest gegenüber den Ostblockländern in den Kurs miteinzubeziehen, weil sich - wie es Halbritter befürchtet hatte zeigte, daß die Betriebe diesen beim Import als staatlichen Preisaufschlag und nicht als Kursbestandteil betrachteten. 1 Weil die Parität zur D-Mark beizubehalten war, hätten diese Vorschläge die Konsequenz gehabt, die Valutamark gegenüber dem Rubel "abzuwerten", nicht aber gegenüber dem Dollar, was dem immer vorausgesetzten Kurs zwischen Rubel und Dollar widersprach. 2 Daher wurden die Wechselkurse gegenüber den westlichen Ländern einschließlich des offiziellen auf der Goldparität beruhenden erst im Zusammenhang mit der Währungskrise Anfang der siebziger Jahre geändert. Der Dollar sollte ab Anfang 1972 statt 4,20 nur noch 3,20 Valutamark entsprechen. 3 Damit wurde die Aufwertung der D-Mark gegenüber dem Dollar nachvollzogen 4 und man wahrte die Parität zur D-Mark. Am hier behandelten Problem änderte sich dadurch aber nichts. Die interne Relation zur Valutamark war überbewertet und gab den Betrieben falsche Anreize. Durch die Richtungskoeffizienten wurde das faktisch korrigiert und die Mark "abgewertet", so wie das auch die anderen Ostblockländer im Zuge der Wirtschaftsreformen mit ihren Währungen taten. 5 Jedoch vermischte man diese "Abwertung" mit dem Versuch, die Aus- und Einfuhr zu lenken, wodurch begünstigt wurde, daß die Betriebe den Richtungskoeffizienten als eine Art ungerechtfertigten Zoll begriffen. Durch die Vermischung seiner beiden Funktionen verwirrte der Richtungskoeffizient aber auch bei der Exportpreisbildung und bei Weltstandsvergleichen. Da die der Kurskorrektur zugrunde gelegten Preisniveau-Vergleiche lediglich einen Durchschnitt erfaßten und die Preisrelationen der einzelnen Güter durch die administrative Festsetzung im Inland von denen auf den Außenmärkten abweichen mußten, lag der Exporterlös für einen Teil der Erzeugnisse über und für einen anderen Teil unter den Binnenpreisen. Wenn die im Ausland erzielten Erlöse für das Betriebsergebnis wirksam gemacht wurden, fielen unter diesen Bedingungen bei den Betrieben die Gewinne aus dem Export- und Binnenabsatz auseinander. Daher wurden Subventionen, um die Ausfuhr zu unterstützen, oder Gewinnabschöpfungen erforderlich, um über bestimmte Güter auch für den Inlandsverbrauch zu verfügen. Letzteres wurde aber in der DDR offen-
1 Abt. Planung und Finanzen: Stellungnahme zu dem vom Gen. Halbritter übergebenen Material über die Gestaltung des Valutakurses, 28.7.69, SAPMO-BA DY30 IV A2/2021/701; MdF: Politbürovorlage. Probleme und Vorschläge zur Gestaltung des Valutakurses der Mark der DDR im Perspektivplanzeitraum 1971/75, 25.3.70, SAPMO-BA DY30 J IV 2/2A/1433. 2 3
Solle an Stoph, 9.5.70, SAPMO-BA DY30 IV A2/2021/731. Ministerrat: Beschluß über das Umrechnungsverhältnis der Mark der DDR zu kapitalistischen Währungen vom 12.1.72, BA DC20-I/3-924.
4
Seitdem 21.12.71 entsprach 1 Dollar 3,2225 D-Mark. Die beiden D-Mark-Aufwertungen 1961 und 1969 waren in der DDR faktisch nicht mitvollzogen worden, so daß die Valutamark schon deshalb seit 1969 um ca. 13 % überbewertet war. Zu den Dollarkursen der D-Mark vgl. Statistische Beihefte zu den Monatsberichten der Deutschen Bundesbank, Februar 1974, Nr.l, S. 39.
5
Diese versteckte Abwertung wurde durch die Geheimhaltung in der Literatur bisher nicht beachtet. Vgl. zu dem Vorgehen der anderen osteuropäischen Länder: Matejka, Foreign Trade System, S. 270-278.
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bar nicht erwogen, weil man die Priorität der Planung bei der Außenhandelslenkung nicht aufgeben wollte. Man beschränkte sich darauf, die Exportgewinne bei der Festlegung des Normativs der Nettogewinnabführung zu berücksichtigen. Die Umrechnung der Exporterlöse zu Durchschnittskursen zog zwangsläufig Exportsubventionen nach sich, wenn diese bis zu den Betrieben hin wirksam gemacht wurden.' Dazu zählten Exportrückvergütungen, mit denen über dem Weltmarktpreis liegende Binnenpreise von importierten Rohstoffen und Vorleistungen bei den Exporteuren ausgeglichen werden konnten. Weiterhin wurden zeitlich begrenzt Exportforderungsprämien für strukturbestimmende bzw. neue und weiterentwickelte Erzeugnisse gezahlt, die noch nicht rentabel waren, denen aber für die Zukunft eine größere Bedeutung beigemessen wurde. Darüber hinaus hatten Exportförderungsprämien nachweisbare Nachteile auszugleichen, die durch Fördermaßnahmen anderer Staaten entstanden, soweit die Ausfuhr dieser Güter als volkswirtschaftlich notwendig angesehen wurde. Exportstützungen sollten gezahlt werden, wenn unter Berücksichtigung der angeführten Fördermittel, die Aufwendungen durch die Erlöse nicht gedeckt waren, die Ausfuhr aber im staatlichen Interesse lag. Um die Betriebe zu einer Verbesserung des Kosten-Ertrags-Verhältnisses im Export anzuregen, waren die Stützungen zeitlich zu befristen und degressiv zu staffeln. Außerdem hatten sie nicht den gesamten Verlust abzudecken, die Betriebe sollten vielmehr aus Anreizgründen am Verlust beteiligt werden. 2 Dies waren notwendige Voraussetzungen, wenn für die produzierenden Betriebe die Exporterlöse ergebniswirksam gemacht werden sollten. Sie hatten ein "Einheitliches Betriebsergebnis" aus dem Absatz im Inland und auf den Außenmärkten zu bilden, um sie stärker mit den Weltmarktbedingungen zu konfrontieren. Die DDR-Volkswirtschaft sollte, wie Ulbricht betonte, "kein Naturschutzpark für schlecht arbeitende Betriebe" sein. 3 Dieser Weg war bereits in den Anfängen der Wirtschaftsreform diskutiert worden. 4 Vor allem wegen der nicht abgeschlossenen Industriepreisreform konnte jedoch vor 1967 nicht daran gedacht werden, auf ihm voranzugehen. Zeitweise versuchten aber auch die Außenhandelsinstanzen, den Betrieben die Konfrontation mit dem Weltmarkt "als Schreckgespenst darzustellen", wohl weil sie befürchteten, daß ihre zum Teil mangelnde Kompetenz aufgedeckt werden könnte. 5 Im Jahr 1968 wurde auf Beschluß des Politbüros in den Betrie-
1 Darauf wies Nattland hin, der den Nachteil der in der DDR nicht erwogenen Alternative erörtert, anstelle des Durchschnittskurses Grenzkurse zugrunde zu legen. Sie wurde aber auch in anderen osteuropäischen Ländern nicht realisiert. Vgl. Matejka, Foreign Trade System, S. 272f., Nattland, Außenhandel, S. 141 f. 2
Protokoll der Politbürositzung am 5.12.67. Anlage: Die Außenwirtschaft im ÖSS - die nächsten Schritte ..., SAPMO-BA DY30 J IV 2/2A/1266+1267; AO über die Bildung eines einheitlichen Betriebsergebnisses in den Jahren 1969 und 1970 vom 26.6.68, in: Gbl. 1968, II, S. 509.
3
Protokoll des Vll.Parteitages, Bd. 1, S. 207.
4
Büro des Politbüros an die Mitglieder und Kandidaten des Politbüros: Zusammengefaßter Bericht über die ersten Ergebnisse und Lehren aus den ökonomischen Experimenten, 17.6.63, SAPMO-BA DY30 J IV 2/2J/1014. In der mit der "Richtlinie" veröffentlichten Fassung dieses Berichtes fehlen die entsprechenden Passagen. Vgl. Richtlinie, S. 118ff.
5
Abt. Leicht-, Lebensmittel- und Bezirksgeleitete Industrie an Mittag: Information zum Stand der Arbeiten an den Vorschlägen für die Planung und Leitung der Außenwirtschaft, 14.11.67, SAPMO-BA DY30
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ben der VVB Schiffbau, dem Kombinat Carl Zeiss Jena und dem Uhrenkombinat Ruhla sowie in 24 zu fordernden Exportbetrieben das einheitliche Betriebsergebnis erprobt. 1 Für 1969/70 setzte man es in den drei Ministeriumsbereichen der metallverarbeitenden Industrie in Kraft, die 1969 vom Export aller Industrieministerien 58,0 % bewertet zu Valutapreisen und 51,4 % zu Betriebspreisen erbrachten. 2 Das einheitliche Betriebsergebnis bildete sich aus der Summe der im Inland abgesetzten Warenproduktion, des Exports und dem Erlös aus Exportforderungsprämie, Exportstützung und Exportrückvergütung. Es entsprach dem Bruttogewinn, aus dem die Produktionsfondsabgabe zu entrichten war. Der verbleibende Nettogewinn war die Grundlage für die Nettogewinnabfiihrung an den Staat und die Prämienbemessung. 3 Dort, wo das einheitliche Betriebsergebnis in Kraft gesetzt wurde, sollten aber die Preise aus der Industriepreisreform noch einmal überprüft werden, da diese im Gegensatz zu den im letzten Drittel der sechziger Jahre einzuführenden Fondspreisen die Intensität des eingesetzten Produktivvermögens 4 noch nicht berücksichtigten und deshalb Diskrepanzen zwischen der Inlands- und der Exportrentabilität erwartet wurden. Um daraus resultierende unerwünschte wirtschaftliche Signale zu verhindern, waren die Inlandspreise gegebenenfalls anzupassen. 5 Auf der Basis des einheitlichen Betriebsergebnisses konnten die Betriebe durch die Verbesserung der Konkurrenzfähigkeit ihrer Produkte und damit verbundener Erlössteigerung im Export ihren Nettogewinn und ihre Prämien erhöhen. Die Prämienregelungen rückten die Erfüllung der Exportpläne deutlich stärker als früher in den Mittelpunkt. Mit dem einheitlichen Betriebsergebnis sollte auch die Außenhandelsrentabilität als Planungsgröße herangezogen werden. Den Wirtschaftseinheiten wurden Export und Import (wertmäßig), untergliedert nach Wirtschafts- und Währungsgebieten, sowie die Export- und Importrentabilität von "oben" zwingend vorgeschrieben. Für die Übererfüllung der zentralen Planauflagen im Export sollten den Betrieben Valutaanrechte gewährt werden, wovon sie 30 % der Außenhandelsbank zu überlassen hatten und den Rest "für ökonomisch gerechtfertigte zusätzliche Importe" einsetzen konnten. Die Nichterfüllung der Exportplanauflagen führte zu einer Valutaschuld gegenüber dem Staat. Zusätzliche Importe waren grundsätzlich durch Valutaanrechte abzudecken. Bei Exportbetrieben sollte die Einfuhr insgesamt an die Erfüllung der Ausführen gebunden werden. Über den Einsatz ihrer erwirtschafteten Valutaanrechte konnten die Betriebe allerdings nicht völlig frei entscheiden, sondern hatten sich an bestimmte Nomenklaturen zu halten und sich mit der Außenhandelsbank, den Außenhandelsunternehmen und
IV A2/2021/405. 1 Protokoll der Politbürositzung am 5.12.67. Anlage: Die Außenwirtschaft im ÖSS - die nächsten Schritte ..., SAPMO-BA DY30 J IV 2/2A/1266+1267. 2 3
Berechnet nach: SZS: Statistisches Jahrbuch der Industrie ... 1976, StBA SZS/A2380. Grundsatzregelung 1969/70, S. 447f.; AO über die Bildung eines einheitlichen Betriebsergebnisses in den Jahren 1969 und 1970 vom 26.6.68, in: Gbl. 1968, II, S. 507ff.
4 5
Vgl. zum Fondspreis und seiner Bildung die entsprechenden Abschnitte im zweiten Kapitel. Schürer an Mittag, 11.3.68: Vorschläge zur Veränderung des Planungssystems, der Bilanzierung ..., Anlage 1: Verzeichnis der wichtigsten Probleme bei der Durchfuhrung der Grundsatzregelung, SAPMO-BA DY30 IV A2/2021/435.
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unter Umständen mit den für die jeweiligen Güter zuständigen Bilanzierungsinstanzen abzustimmen.1 Der mit diesen Regelungen verbundenen Tendenz zu "weichen" Plänen wollte man offenbar vorbeugen, indem die Planauflagen im Verlauf des Planungsprozesses grundsätzlich nicht geändert werden durften. Ob das durchzuhalten war, konnte schon wegen der Informationsprobleme von Anfang an bezweifelt werden. Inwieweit die Valutaanrechte als zusätzlicher Anreiz, den Export zu steigern, und als Mittel gegen übermäßige Importe wirken konnten, mußte sich in der Praxis erweisen, da dies in dem komplizierten und vielfältigen System von Anreizen, das 1969/70 in Kraft gesetzt wurde, nicht ohne weiteres vorauszusagen war. Die Möglichkeit, in Höhe von 70 % der den Plan übersteigenden Exporte Valutaanrechte zu erwerben, erweiterte eine Richtlinie zur Exportförderung von 1964 beträchtlich. Damals erhielten die VVB neben zusätzlichen Prämienmitteln lediglich 2 bzw. 5 % des übererfüllten Exports als Valutaanrecht. Diese Regelung sah man bereits als außerordentlich erfolgreich an. 2 Auch danach wurde in verschiedenen Formen mit ihr experimentiert. Damit schuf man einen zusätzlichen Exportanreiz, dessen Ertrag die Betriebe auf den Außenmärkten verwenden konnten. Die begrenzte verbrauchsseitige Importplanung und die Bindung der Einfuhren an die Exportaufgaben, die die "Grundsatzregelung" für 1969/70 vorsah, bewährte sich bereits bei der Planausarbeitung für 1969 nicht, bei der 6 % des Gesamtimports durch dessen Verbraucher selbst geplant wurden. Sie durften vor allem über die Einfuhr von Waren bestimmen, die, wie Rationalisierungsmittel, Ersatzteile und bestimmte Versorgungsgüter, von vielen genutzt wurden. Die meisten Importverbraucher in der Industrie exportierten aber nicht selbst, so daß der so geplante Import bei ihnen nicht an die Exportplanerfüllung gebunden werden konnte. Darüber hinaus waren, dort wo man diese Einfuhren wegen der Nichterfüllung von Exporten kürzte, "nicht vertretbare volkswirtschaftliche Folgen" zu erwarten, da es sich meist um Güter handelte, die zwar einen geringen Wertumfang, aber im einzelnen einen nicht unbeträchtlichen Nutzen hatten. Daher wurde diese Regelung in der Folgezeit nicht mehr angewendet und es gelang nicht, die Wirtschaftseinheiten spüren zu lassen, daß die Importmöglichkeiten volkswirtschaftlich von den realisierten Exporten abhingen. 3 Allerdings war es illusorisch, diese Frage auf solche Weise lösen zu wollen. Vielmehr hätte man den Betrieben die Möglichkeit geben müssen, sowohl beim Bezug ihrer Vorleistungen als auch beim Absatz zwischen dem Binnen- und Außenmärkten in einem bestimmten Umfang wählen zu können. Außerdem wäre es erforderlich gewesen, sie ihre Produktionsprogramme entsprechend der Ein- und Ausfuhrmöglichkeiten umgestalten zu lassen. Dazu freilich hätten die Binnenpreise
1
Grundsatzregelung 1969/70, S. 444, 446f., 451, 473.
2
VWR: Richtlinie über die Gewährung eines materiellen Anreizes zur Mobilisierung zusätzlicher Exporte ..., 3.6.64, BA DE4-S/3-6-64/2; VWR: Bericht über die bisherigen Erfahrungen mit der "Richtlinie ...", [3.6.65], BA DC20-I/6-18.
3
Diskussionsmaterial. Hauptprobleme der komplexen Systemregelungen ..., Anlage: Analyse der Wirkungsweise der Systemregelungen auf dem Gebiet der Außenwirtschaft, 30.11.68, SAPMO-BA DY30 IV A2/2021/421; SPK/Arbeitsgruppe für die Gestaltung des ÖSS: Analyse über die Wirkungsweise der Maßnahmen zur weiteren Gestaltung des ÖSS ..., 10.10.69, BA DE1/51172.
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III
den Weltmarktpreisen angepaßt werden müssen und nicht zuletzt wäre es erforderlich gewesen, die Betriebe mehr über Devisen verfügen zu lassen. Diese Bedingungen, die Kohlmey bereits 1964 in einem Vortrag im Hinblick auf die Gewinnmaximierung formuliert hatte', vertrugen sich aber nicht mit dem Außenhandels- und Devisenmonopol, wie es in der DDR verstanden wurde. Die Anordnung über die Valutaanrechte für die Betriebe wurde auf Grund der angespannten Zahlungsbilanz mehrfach präzisiert. Danach hatten die Industrieminister die erforderlichen Valutamittel aus der Übererfüllung der staatlichen Auflage Export ihres Bereiches zur Verfügung zu stellen. Dabei war es ihnen erlaubt, bei nicht ausreichender Übererfüllung entweder die für ihren Bereich vorgesehenen Importe oder die Valutaanrechte zu kürzen bzw. völlig zu versagen. Gleichzeitig wurde der Anteil des zusätzlichen Exports, der dem Betrieb als Valutaanrecht überlassen werden konnte, für das westliche Wirtschaftsgebiet von 70 auf 20 % reduziert. Tatsächlich blieb es für die Betriebe ungewiß, ob zusätzliche Exporte entsprechend honoriert würden, denn 1969 zeigte sich, daß die Summe der möglichen Valutaanrechte wesentlich höher war als die Übererfüllung der Exportauflagen der jeweiligen Ministeriumsbereiche, da sich diese aus dem Saldo der Über- und Untererfüllungen aller Betriebe ihres Bereiches ergab. Die meisten Ministerien erfüllten nicht einmal die Auflage. Damit waren Valutaanrechte nur Uber Importsenkungen zu finanzieren. Um dies oder eine Verweigerung der Anrechte aus eigenem Recht zu vermeiden, beantragte der größte Teil der Industrieminister, die geltende Anordnung hinsichtlich der Valutaanrechte wie der Valutaschuld auszusetzen. Den Betrieben, die zusätzlich exportiert hatten, wurden damit in der Regel die Valutaanrechte versagt, sie hafteten faktisch für die Betriebe ihres Ministeriumsbereiches mit, die den Exportplan nicht erfüllten. Ähnlich verhielt es sich bei der Valutaschuld, die entstehen sollte, wenn die Betriebe ihre Exportplanauflage nicht erfüllten. Diese Valutaschuld gegenüber der Außenhandelsbank wurde mit 10 % verzinst und war daher auch ergebniswirksam. Allerdings stieß deren Tilgung durch Zusatzproduktion 1969/70 auf kaum lösbare materielle und kapazitätsseitige Grenzen. 2 Daher wurden sie Mitte 1970 mit neuen Exportplanerhöhungen verrechnet und schließlich am Ende des Jahres mit den erfolgten Plananpassungen faktisch gestrichen. 3 Die Betriebe, die sich tatsächlich um Exportsteigerungen bemüht hatten, wurden doppelt bestraft: sie bekamen keine Valutaanrechte, während den Planschuldnern ihre Rückstände erlassen wurden, wobei allerdings angemerkt werden muß, daß die Planauflagen teilweise unreal waren. Letztlich scheiterten diese Regelungen daran, daß weder bei den Devisen noch bei den Ressourcen oder Kapazitäten auf entsprechende Reserven zurückgegriffen werden konnte. Damit entfiel ein Exportanreiz, der beträchtliche Wirkung hätte entfalten können, da er den Betrieben einen unmittelbaren Zugang zu den Außenmärkte ermöglicht hätte.
1
Vortrag Gunther Kohlmeys in der Akademie der Wissenschaften am 5.6.64, in: G. Kohlmey, Nationale Produktivität - Dynamische Produktionen - Internationale Arbeitsteilung (Beirat für ökonomische Forschung bei der SPK (Hg.), Planung und Leitung der Volkswirtschaft, Heft 4), Berlin (Ost) 1966, S. 82.
2
MAW: Analyse der Wirkungsweise der Regelungen über Valutaanrecht und Valutaschuld und die sich daraus ergebenden Schlußfolgerungen, 2.9.70, BA DC20-I/4-2317.
3
Vgl. dazu den Abschnitt zum Reformabbruch.
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Die Richtungskoeffizienten änderten trotz der beträchtlichen Unterschiede zwischen RGW-Bereich und westlichem Ausland kaum etwas daran, daß es für die meisten Betriebe rentabler war, in den Ostblocks zu exportieren. Nach einer Analyse des Außenhandelsministeriums fiir den Plan 1969 in den drei Ministerien der metallverarbeitenden Industrie, in denen 1969/70 das einheitliche Betriebsergebnis gebildet wurde, erzielten 30 von 34 untersuchten VVB bzw. 234 von 281 Betrieben eine höhere Rentabilität, wenn sie statt auf dem Weltmarkt im R G W verkauften. 1 Deshalb unterschied sich das Niveau der Exportrentabilität in den beiden Wirtschaftsgebieten deutlich (vgl. Tabelle 1.3). Eine Untersuchung des Finanzministeriums machte als Ursache vor allem aus, daß "in unzureichendem Maße Spitzenerzeugnisse mit weltmarktfähiger Qualität und den Weltstand bestimmenden Parameter auf dem kapitalistischen Markt angeboten" wurden, daß der Westexport auf viele Länder mit meist unbedeutenden Marktanteilen zersplittert und nur ungenügende Marktarbeit betrieben wurde. 2 Im Durchschnitt erzielten die Betriebe bei der Ausfuhr in das "sozialistische" Wirtschaftsgebiet aber auch dann ein höheres Ergebnis, wenn der Exporterlös im westlichen höher lag, weil dort die Exportkosten beträchtlich größer waren. Zum einen wurden in der Regel keine größeren Serien abgesetzt, was die Kosten erhöhte, wohingegen im RGW-Bereich auf Grund der dort bestehenden "Verkäufermärkte" nach wie vor Bedarf und große Absatzmöglichkeiten bestanden. Zum anderen unterschieden sich die Handelsspannen der Außenhandelsunternehmen in den beiden Wirtschaftsgebieten exorbitant. So verlangten die Unternehmen Maschinenexport vom Exporterlös einschließlich Richtungskoeffizienten im "sozialistischen" 1 , 5 1 % und im "nichtsozialistischen" Wirtschaftsgebiet 20,08 %, WMW-Export (Werkzeugmaschinen) 1,81 bzw. 11,29 % oder Technocommerz 1,56 bzw. 15,55 %. 3 Gleichwohl übte das einheitliche Betriebsergebnis in den Betrieben der metallverarbeitenden Industrie nach Einschätzung der Reformer einen positiven Einfluß aus. Die Betriebe kümmerten sich stärker um den Export, seine Waren- und Länderstruktur und vor allem um die Bildung der Auslandspreise. Sie beteiligten sich an der Marktarbeit und reagierten flexibler auf neue Absatzchancen. 4 Jedoch blieb der Erfolg begrenzt und die Betriebe konnten mit den seit der zweiten Jahreshälf-
1 MdF: Problemvorlage zur Weiterentwicklung des Systems differenzierter Richtungskoeffizienten, April 1969, BADN1-VS/14-90. 2 MdF: Einschätzung der Wirtschaftstätigkeit und der Anwendung des ÖSS in der Außenwirtschaft, 24.3.69, BA DN1-VS/14-90. Zum Teil wurde dies auch diskriminierenden Handelspraktiken der westlichen Seite gegenüber der DDR zugeschrieben. Vgl. u.a. Halbritter: Politbürovorlage. Entscheidung über eine Reihe herangereifter Probleme ..., 15.9.67: a) Gestaltung des internen Umrechnungsverhältnisses unserer Währung ..., SAPMO-BA DY30 J IV 2/2A/1248. Inwiefern dies zutrifft und welche Auswirkungen sie tatsächlich hatten, muß noch gesondert untersucht werden. 3 MdF: Information über die Wirkungsweise der finanzökonomischen Regelungen und die dabei aufgetretenen Probleme in den 24 besonders zu fördernden Hauptexportbetrieben, 24.10.68, SAPMO-BA DY30 IV A2/2021/683; Diskussionsmaterial. Hauptprobleme der komplexen Systemregelungen ..., Anlage: Analyse der Wirkungsweise der Systemregelungen auf dem Gebiet der Außenwirtschaft, 30.11.68, SAPMOBA DY30 IV A2/2021/421 4 SPK/Arbeitsgruppe für die Gestaltung des ÖSS: Analyse über die Wirkungsweise der Maßnahmen zur
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te 1969 immer höher gesteckten Erwartungen nicht Schritt halten. Denn das einheitliche Betriebsergebnis wirkte vor allem dort, wo es bereits eine hohe Exportrentabilität gab. Allerdings ließ in den Wirtschaftseinheiten, die einen großen Exportanteil mit einer Exportrentabilität von über 1,0 hatten, nach Einführung des einheitlichen Betriebsergebnisses der Druck zur Kostensenkung nach und die Produktionsfondsabgabe wurde ihrer Funktion kaum noch gerecht, weil die Gewinne sehr hoch waren und damit der Anteil dieses Normativs am Gewinn niedrig lag. 1 Dies war einer der Fälle, in denen die verschiedenen Anreize einander behinderten und in denen sich die Reformer eingestehen mußten, daß sie die Komplexität ihrer eigenen Schöpfungen nicht beherrschten. Komplizierte Probleme traten in der Sicht der zentralen Instanzen gerade dort auf, wo bereits mit dem einheitlichen Betriebsergebnis gearbeitet wurde und "im Interesse der Zahlungsbilanz der Export devisenunrentabler Erzeugnisse volkswirtschaftlich notwendig" war. Die Betriebe waren zwar an den geplanten Exportverlusten zu beteiligen und damit an deren Abbau zu interessieren. Sie konnten sich einer solchen Exportaufgabe nicht widersetzen, suchten aber Wege, diese zu umgehen, und das vor allem dann, wenn die gleichen Erzeugnisse auf dem Binnenmarkt mit Gewinn abgesetzt werden konnten. Die Verlustbeteiligung führte unter den Bedingungen der Eigenerwirtschaftung der Mittel" letztlich zu betrieblichen Liquiditätsproblemen. Aber der Befund, daß das einheitliche Betriebsergebnis besonders gut dort funktionierte, wo die Exportrentabilität bereits über 1,0 lag, deutete darauf hin, daß die möglichen negativen Konsequenzen des Exports unter den Bedingungen des einheitlichen Betriebsergebnisses bei den Betrieben nicht oder nur unzureichend wirksam gemacht werden konnten. Das Ministerium für Schwermaschinen- und Anlagenbau hatte für seinen Bereich 1969 sogar die Beteiligung an geplanten Exportverlusten ausgesetzt. 2 Bis zur Verabschiedung der Außenwirtschaftsregelungen der letzten Phase der Reform war die Exportrentabilität in der Planung wegen der Liquiditätsprobleme vollkommen unzureichend berücksichtigt worden, abgesehen davon, daß dies nicht besonders sinnvoll erschien. Darüber hinaus waren die Produktionsbetriebe nicht daran interessiert, da sich die Exportrentabilität nicht in ihrem Gewinn niederschlug. 3 Nach Aussage der SPK blieb die "Praxis der Planausarbeitung ... in hohem Maße eine Suche nach Exporten ohne Rücksicht auf die Rentabilität und eine Einschränkung der Importe." 4 Mit den Systemregelungen des letzten Drittels der sechziger Jahre änderte sich das partiell. Allerdings meinten wohl viele Verantwortliche, daß das Erreichen einer Exportrentabilität von 1,0 ausreichend sei. Ihnen war nicht immer bewußt, daß damit ihre Erzeugnisse nicht das internationale Niveau, sondern nur den nationalen Durchschnitt in der Effizienz bzw. den durchschnittli-
weiteren Gestaltung des ÖSS ..., 10.10.69, BA DE1/51172. 1 Vgl. den Abschnitt zur Produktionsfondsabgabe im zweiten Kapitel. 2 Arbeitsgruppe für die Gestaltung des ÖSS: Analyse über die Wirkungsweise der Maßnahmen zur weiteren Gestaltung des ÖSS, 4.2.70, BA DE1/54010. 3 Vgl. Abt. Planung und Finanzen an Ulbricht, 6.7.67, Anlage 2: Auszüge aus Informationen der SPK, des MdF und der Außenhandelsbank zur Arbeit des Außenhandels, 28.6.67, SAPMO-BA NY4182/973. 4 Schürer an Mittag, 11.3.68: Vorschläge zur Veränderung des Planungssystems, der Bilanzierung ..., Anlage 2: Information über den gegenwärtigen Stand ..., SAPMO-BA DY30 IV A2/2021/435.
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Entwicklung und Implementation
der Reform
chen Rückstand zum internationalen Niveau erreicht hatten.' Damit wurde zwar, vor allem 1969, die Exportstruktur günstiger und das schlug sich in einer durchschnittlichen Rentabilitätsteigerung nieder. Aber bereits 1970 war der Zuwachs geringer, weil die hohen Vorgaben für den Exportplan 1970 die Ministerien und Wirtschaftseinheiten dazu zwangen, alle exportfähigen Güter für ihn vorzusehen (Tabelle 1.3). Außerdem konnte man Kundenwünschen immer weniger nachkommen, weil die Disponibilität bei den Vorleistungen im Zusammenhang mit den außerordentlich angespannten Wachstumsvorgaben noch stärker als ohnehin schon eingeschränkt wurde. 2 Tabelle 1.3: Exportrentabilität als Valutagegenwert in Valutamark zu Betriebspreisen in Mark im Bereich der Industrieministerien insgesamt und denen der metallverarbeitenden Industrie, 1967 bis 1973 Industrieministerien Export gesamt
1967
1968
1969
1970
1971
1972
1973
0,87 1,04
0,87 1,04
0,47
0,49
0,99 1,09 0,52
0,98
0,81
0,82
0,85
0,87
0,89
"Sozialistisches" Wirtschaftsgebiet 0,96 "Nichtsozialistisches" Wirtschaftsgebiet 0,49 Ministerien der metallverarbeitenden Industrie
0,95 0,50
1,00 0,54
1,01 0,56
1,03 0,55
Export gesamt "Sozialistisches" Wirtschaftsgebiet "Nichtsozialistisches" Wirtschaftsgebiet
0,92 0,98 0,60
0,96 1,03 0,64
0,97 1,04 0,66
1,00 1,08 0,64
0,94 1,00 0,60
1,09 0,50
Berechnet nach: SZS: Statistisches Jahrbuch der Industrie ... 1976, StBA SZS/A2380. Hier wurden die Werte für die Industrieministerien in der Struktur von 1974 ausgewiesen. Die dann vier Ministerien der metallverarbeitenden Industrie wurden zusammengefaßt und entsprechen zusammen im wesentlichen den drei Ministerien für Elektrotechnik und Elektronik, Schwermaschinen- und Anlagenbau sowie Verarbeitungsmaschinenund Fahrzeugbau des Untersuchungszeitraums. Tabelle 1.4: Anteil des Exportes an der industriellen Warenproduktion im Bereich der Industrieministerien insgesamt und denen der metallverarbeitenden Industrie, 1967 bis 1973 in % 1967 Industrieministerien gesamt 18,3 Ministerien der metallverarbeitenden Industrie 27,2
1968
1969
18,5 28,3
17,7 27,7
1970 17,9 28,5
1971
1972
18,6 28,5
18,9 29,6
1973 19,2 30,5
Berechnet nach: SZS: Statistisches Jahrbuch der Industrie ... 1976, StBA SZS/A2380. Der Export wurde dabei zu effektiven Betriebspreisen und die industrielle Warenproduktion zu konstanten Preisen von 1967 bewertet, d.h. mit wachsenden Abstand von 1967 wird der Anteil tendenziell etwas zu hoch ausgewiesen, was aber die Werte nicht übermäßig beeinflußt haben dürfte. Doch auch nachdem in der metallverarbeitenden Industrie das einheitliche Betriebsergebnis wirksam geworden war, wuchs ihre Exportrentabilität nicht stärker als die der Industrie insgesamt. Zwar
1 Probleme der weiteren Vervollkommnung der Leitung und Planung ..., 24.1.72, SAPMO-BA DY30 vorl. SED/11643. 2 Arbeitsgruppe für die Gestaltung des ÖSS: Analyse über die Wirkungsweise der Maßnahmen zur weiteren Gestaltung des ÖSS, 4.2.70, BA DE 1/54010.
Konfrontation der Betriebe mit dem Weltmarkt?
181
blieb sie höher, der relative Abstand aber verringerte sich seit 1969 eher leicht (Tabelle 1.3). Die Exportanteile an der Warenproduktion weisen allerdings aus, daß die Ausführ in der metallverarbeitenden Industrie 1969/70 mit Schwankungen, die sich auf die einzelnen Ministerien unterschiedlich verteilen, etwa so schnell wie die Produktion wuchs, während sie in der Industrie insgesamt dahinter zurückblieb (Tabelle 1.4). Dies mußte aber kein Ergebnis des einheitlichen Betriebsergebnisses sein, sondern folgte eher dem Exportdruck von "oben". Dem war es vor allem zu verdanken, daß die Betriebe wohl tatsächlich einer aktiven Exportstrategie mehr Aufmerksamkeit schenkten. Zwar hatte das einheitliche Betriebsergebnis sicher einen gewissen Einfluß, aber als ein durchgreifender Anreiz zur Steigerung des Exportes und seiner Rentabilität wirkte es wohl nicht. Allerdings waren angesichts des kurzen Zeitraumes und der besonderen Lage 1969/70 keine Wunder zu erwarten gewesen. Doch zeigten die Forderungen der SED-Spitze nach verbesserten Exportergebnissen offenbar über die metallverarbeitende Industrie hinaus Wirkung. Ein Teil der außenwirtschaftlichen Systemregelungen galt auch in den anderen Industriebereichen. Da insgesamt in der zentralgeleiteten Industrie die Exportrentabilität und die Gewinne stiegen 1 , dürften sich die Planer in den zentralen Instanzen und den Betrieben beim Export tendenziell an dessen Rentabilität orientiert haben, wobei dieser Befund wegen der dahinter stehenden Veränderung der Binnenpreise mit Vorsicht zu betrachten ist. Zwar ging das Exportergebnis in das einheitliche Betriebsergebnis ein, aber die Importauswirkungen wurden weiter über den Staatshaushalt verrechnet, womit "die Ideologie unterstützt (wurde), den Import in der Hauptsache als einen Faktor zum Defizitausgleich zu sehen." Dies behinderte wiederum, die weitere Spezialisierung und Kooperation also die Beteiligung an der internationalen Arbeitsteilung, weil die Lenkung des Exportes und Importes nicht im Zusammenhang behandelt wurde. 2 Daher blieb der Versuch einseitig, den Außenhandel als Wachstumsfaktor für die Volkswirtschaft wirksam zu machen. Ende 1970 wurde mit dem Beschluß, der den Reformabbruch nach außen hin dokumentierte, ab 1971 das einheitliche Betriebsergebnis in allen Betrieben der zentralgeleiteten Industrie eingeführt. Gleichzeitig setzte man die Regelungen Uber die Valutaanrechte und Valutaschuld außer Kraft. 3 Das einheitliche Betriebsergebnis machte man wohl aber nicht deshalb in der gesamten Industrie wirksam, weil es sich als besonders erfolgreich erwiesen hatte. Vielmehr war angesichts der akuten Außenhandelsprobleme keine bessere Lösung in Sicht, um die Betriebe am Export zu interessieren. Vermutlich meinten diejenigen, die dem Reformgedanken den Rücken kehren wollten, daß das einheitliche Betriebsergebnis im Zusammenhang mit der wieder verstärkten güterwirtschaftlichen Lenkung keinen Schaden anrichten könne. In dem Maße, wie der Gewinn seine Position als beherrschende Größe bei der Bewertung der Betriebe und bei der Eigenfinanzierung verlor 4 , mußte die
1 Zur Gewinnentwicklung siehe Tabelle 3.5. 2 Probleme der weiteren Vervollkommnung der Leitung und Planung ..., 24.1.72, SAPMO-BA DY30 vorl. SED/11643. 3 Beschluß über die Durchfuhrung des ökonomischen Systems des Sozialismus im Jahre 1971 vom 1.12.70, in: Gbl. 1970, II, S. 742. 4 Vgl. das dritte Kapitel.
182
Entwicklung und Implementation der Reform
Anreizwirkung des einheitlichen Betriebsergebnisses ohnehin zurückgehen. Da auf dieser Basis nicht damit gerechnet werden konnte, die einheimische Produktion durchgängig und schnell international konkurrenzfähig zu machen und auf technologische Offensiven zunächst verzichtet wurde, schuf man sich andere Möglichkeiten, um über Reserven verfügen zu können. Der Mitte der sechziger Jahre entstandene Bereich Kommerzielle Koordinierung (KoKo) gewann ab 1971 wachsende Bedeutung und entwickelte einen gewissen Einfallsreichtum, um für die D D R Devisen zu beschaffen und ihre Zahlungsfähigkeit zu sichern. 1 Grundsätzlich war für die Reform im Außenwirtschaftssystem charakteristisch, daß sie sich fast vollständig auf den Export konzentrierte und den Import kaum berührte. Bei diesem sah man wohl die Gefahr, daß durch unkontrollierte Entwicklungen, wie stark steigende Einfuhren; die eigene Volkswirtschaft gestört werden könnte. Außerdem hätte eine stärkere Dezentralisierung der Importe verlangt, den Betrieben größere Verfugungsrechte über Devisen zu gewähren. In letzter Konsequenz wäre es dann auch notwendig gewesen, die Währung zumindest zum Teil konvertibel zu machen, wie es Kohlmey in seinem Vortrag von 1964 gefordert hatte. 2 Dies war aber ebenso wie die Realisierung der anderen - oben angeführten - Vorschläge Kohlmeys politisch nicht zu realisieren. Die Forderung nach Konvertibilität wurde von einigen Ländern in der zweiten Hälfte der sechziger Jahre innerhalb des R G W aufgeworfen, wobei die DDR zu denen gehörte, die die Realisierung verhinderten. 3 Die Reformmaßnahmen sollten anregende Einflüsse der Außenwirtschaft auf die Wirtschaftseinheiten zulassen, die eigene Lenkungskompetenz für die Binnenwirtschaft aber nicht gefährden. Das Außenhandelsmonopol wurde nie prinzipiell in Frage gestellt, weshalb die Lenkung der Außenwirtschaft letztlich doch zentralisiert blieb. Makroökonomische Ziele, wie der Zahlungs- und Handelsbilanzausgleich, sowie politische Erwägungen, wie Handelsschwerpunkte, dominierten weiter die Außenhandelsentscheidungen. Die organisatorisch-institutionellen Veränderungen blieben gering. Beim Wechselkurs wurden aus politischen Gründen Ausweis der Preisniveauunterschiede und Anreizfiinktionen vermischt. Daher waren die von ihm und seinen Korrekturfaktoren ausgehenden Signale für die Betriebe unklar. Die geforderte "Konfrontation" der Betriebe mit dem Weltmarkt blieb nicht nur wegen der Beschränkung auf den Export halbherzig. Zudem waren die Betriebe wegen der zu sichernden volkswirtschaftlichen Liquidität kaum oder gar nicht an den Exportverlusten zu beteiligen und man setzte lediglich positive Anreize. Unter diesen Bedingungen konnten die Betriebe nicht bestraft werden. Da die Valutaanrechte nicht wirksam wurden, entfiel ein über das "normale", binnenwirksame Gewinnstreben hinausgehender Anreiz, mit qualitativ und technisch möglichst guten Erzeugnissen hohe Exportpreise zu erzielen. Zwar wurden die
1 MAW, Bereich Kommerzielle Koordinierung: [Arbeitsrichtung im Fünflahrplan 1971-75], 9.6.71, SAPMO-BA DY30 IV A2/2021/731. 2 Kohlmey, Nationale Produktivität, S. 87. 3 A. Zwass, Der Rat für gegenseitige Wirtschaftshilfe 1949 bis 1987. Der dornige Weg von einer politischen zu einer wirtschaftlichen Integration, Wien u.a. 1988, S. 69; L. Herbst, Die DDR und die wirtschaftliche Integration des Ostblocks in den sechziger Jahren, in: C. Buchheim (Hg.), Wirtschaftliche Folgelasten des Krieges in der SBZ/DDR, Baden-Baden 1995, S. 372-379.
Ausblick auf das Reformende
183
Weltmarktpreise zum Teil wirksam. Aber ein gutes Ergebnis auf den Außenmärkten bewirkte keinen Extrabonus. Insgesamt hatte sich das Außenhandelssystem - auch im Vergleich zu anderen osteuropäischen Ländern in der zweiten Hälfte der sechziger Jahre, Anfang der siebziger Jahre' - nicht besonders stark verändert.
7. Ausblick auf das Reformende Mit dem oben beschriebenen Mechanismus wurden im letzten Drittel der sechziger Jahre zunächst relativ beeindruckende Resultate erzielt, die sich in erster Linie in den Zuwachsraten von Produktion und Produktivität bis 1970 ausdrückten. Vor allem 1968/69 gelang es offenbar, zum Teil die Reserven zu mobilisieren, die die Wirtschaftseinheiten angelegt hatten, was die steigende Anlagenund Bestandsproduktivität reflektierte (vgl. Anhangtabellen AI, A8, A9, A l l ) . Allerdings gingen sie 1970 bereits wieder zurück, was anzeigt, daß es in diesem Jahr auf Grund der Absicht, Wachstum und Strukturwandel zu forcieren, immer schwerer wurde, die intraindustriellen Verflechtungen angesichts der Ressourcenüberforderung zu sichern. Daher griffen die zentralen Instanzen 1970 ständig operativ in die Wirtschaftstätigkeit ein. Die damit faktisch wieder wirksamen güterwirtschaftlichen und zentralistischen Lenkungsmethoden wurden Ende 1970 mit dem "Beschluß über die Durchführung des ökonomischen Systems des Sozialismus im Jahre 1971" auch kodifiziert. Auf diese Entwicklung und ihre politischen Begleitumstände bis hin zum Machtwechsel von Ulbricht zu Honecker wird später zurückzukommen sein.2 Mit diesem Beschluß wurde für die SPK, nachdem sie sich die Jahre zuvor vor allem dem Strukturwandel zu widmen hatte, die Aufgabe in den Mittelpunkt gerückt, das Gleichgewicht in den "volkswirtschaftlich entscheidenden Staatsbilanzen Nationaleinkommensbilanz, Investitionsbilanz, Rohstoff-, Material- und Energiebilanz, Zahlungsbilanz, Bilanz der Kaufkraft und des Warenfonds sowie Arbeitskräftebilanz - zu gewährleisten." Den Bilanzen wurde als Verteilungsplänen generell ein höherer Stellenwert eingeräumt. Damit wollte man die volkswirtschaftlichen Verflechtungen wieder in den Griff bekommen. Gegenüber der "Grundsatzregelung" stieg die Zahl staatlicher Plankennziffern und Normative an. Die industrielle Warenproduktion wurde erneut zu einer verbindlichen Plankennziffer, nachdem sie 1969/70 lediglich eine Berechnungsgröße gewesen war. Die Spielräume der Wirtschaftseinheiten wurden eingeschränkt und die Pläne wieder stärker von "oben" bestimmt. Darüber hinaus machte man das Planerfüllungsprinzip aufs Neue voll wirksam. Es sollte sich nun nicht nur auf den Gewinn, sondern auf die Gesamtheit der staatlichen Aufgaben für die Produktion, den Export, die Bevölkerungsversorgung usw. beziehen. 3
1 Matejka, Foreign Trade System, S. 279. 2 Vgl. den Abschnitt zum Reformabbruch im vierten Kapitel. 3 Beschluß über die Durchfuhrung des ökonomischen Systems des Sozialismus im Jahre 1971 vom 1.12.70, in: Gbl. 1970, II, S. 73Iff.
184
Entwicklung und Implementation
der Reform
Der Rückgriff auf direkte und güterwirtschaftlich orientierte Lenkungsinstrumente stärkte die Kohärenz des Lenkungs- und Koordinationsmechanismus, der in der letzten Reformphase deutlich zweigeteilt war. Im Bereich der strukturbestimmenden Planung dominierten bereits damals direkte Methoden, wohingegen in dem von ihr nicht erfaßten Teil der Industrie die indirekten, finanzwirtschaftlich orientierten Verfahren bestimmend waren, wobei - wie später zu sehen sein wird - die ersten häufig verhinderten, daß die zweiten überhaupt wirksam werden konnten. Die dabei auftretenden Widersprüche und Verwerfungen begünstigten - neben politischen Erwägungen -, daß die zentrale Planung und die Aufkommen-Verwendungs-Bilanzen ab 1971 wieder ein deutlich höheres Gewicht erlangten, ohne daß die finanzwirtschaftlichen Instrumente verschwanden. Die Produktionsfondsabgabe und das einheitliche Betriebsergebnis wurden nach der Reform weiter angewendet. Aber der Gewinn wurde nun noch detaillierter geplant, damit von ihm möglichst nicht mehr die Tendenz zu nicht absetzbarer Produktion ausging. Ausgangspunkt war nun die Planung der Produktion nach bedarfsgerechten Sortimenten. Davon abgeleitet war der Gewinn als Differenz zwischen den staatlich festgelegten Preisen und den ebenfalls zu planenden Selbstkosten unter Berücksichtigung der Selbstkostensenkung in den Plan aufzunehmen. Dabei wurde er nicht mehr nur in seiner Gesamtsumme für den Betrieb, sondern einzeln für jedes Sortiment geplant.' Das setzte allerdings konsistente Pläne voraus. Mit den Methoden finanzwirtschaftlicher Lenkung konnten sie nicht mehr hergestellt werden, was auch die SPK einräumte: "Teilweise vorhandene unzureichende Qualität bei der Ausarbeitung der Pläne, nicht ausgeglichene Bilanzen sowie mangelnde Plandisziplin und die Folgen nicht rechtzeitig getroffener Entscheidungen können nicht durch die wirtschaftliche Rechnungsführung und die Anwendung von Stimulierungsmaßnahmen überwunden werden. Der Wirkung der ökonomischen Regelungen sind Grenzen gesetzt." 2 Die Wiederbelebung nie völlig verschwundener Instrumente und Methoden konnte aber die Effizienzprobleme nicht lösen.
1 SPK, MdF, AfP: Vorschläge über die weitere Vervollkommnung der wirtschaftlichen Rechnungsführung, [14.4.72], BA DC20-I/3-953. Vgl. Finanzierungsrichtlinie 1973 vom 3.7.72, in Gbl. 1972, II, S. 470ff. 2
SPK: Analyse über die Wirkung der wirtschaftlichen Rechnungsführung ..., 27.8.73, BA DE1/52112.
KAPITEL 2
Die Veränderungen des Preissystems
Der Anspruch des Systems, die Volkswirtschaft ex ante koordinieren zu können, basierte auf der Vorstellung, daß sich ökonomische Rationalitäten anders als durch unabhängige Transaktionen der einzelnen Akteure im Sinne eines Markt-Preis-Mechanismus und damit gleichsam "hinter dem Rücken der Produzenten" (Marx) herstellen lassen, daß vielmehr der wirtschaftliche Prozeß transparent und bewußt gestaltet werden könne. Daher sollte mit dem Markt auch das Preissystem als unabhängige Informationsquelle und dezentrales Regulierungsinstrument verschwinden. Die Preise durften nicht mehr Quelle von Unwägbarkeiten sein, sondern hatten als Recheneinheiten für Wertgrößen zu fungieren. Das setzte ein administratives Verfahren voraus, mit dessen Hilfe die Preise einerseits auf einer wirtschaftlich rationalen Basis konsistent und andererseits möglichst lange konstant gehalten werden sollten. Angesichts der tatsächlichen Dynamik des Wirtschaftsprozesses stellte das aber einen Widerspruch dar, den die Verantwortlichen erst im Lauf der Zeit wahrnahmen, jedoch für prinzipiell lösbar hielten. Im Ergebnis einer längeren theoretischen Debatte in den meisten Ostblockländem setzte sich die Einsicht durch, daß auch im Sozialismus das Wertgesetz wirke und sich somit die Waren zu ihren Werten austauschten. Folgerichtig waren die Preise den Werten anzunähern. 1 Dabei griff man auf die Marxsche Wertlehre zurück. Es wurde ein Konsens darüber erzielt, daß sich auch unter sozialistischen Verhältnissen der Wert aus dem Materialverbrauch und den Abschreibungen (c = konstantes Kapital), den Lohnkosten (v = variables Kapital) sowie dem Mehrwert (m) bilde und der Wert der Ware W = c + v + m entspreche. Bei Marx war diese Formel jedoch Ergebnis einer vielstufigen Abstraktion gewesen, die ihm dazu dienen sollte, "das ökonomische Bewegungsgesetz der modernen Gesellschaft zu enthüllen". 2 Seine Theorie war mithin aus einer ex post Analyse spontaner Marktprozesse entstanden und nicht bei der Suche nach Instrumentarien für eine ex ante Steuerung volkswirtschaftlicher Prozesse. Dieses Mißverständnis führte dazu, daß sein Modell unter Vernachlässigung der ihm zugrunde liegenden theoretischen Annahmen und sozial-
1 Die "Wertgesetz-Debatte", die in den fünfziger Jahren den gesamten Ostblock erfaßte, soll hier nicht weiter erörtert werden. Vgl. A. Zauberman, The Soviet Debate on the Law of Value and Price Formation, in: G. Grossman (Hg.), Value and Plan, Berkeley u.a. 1960, S. 17-35. 2 K. Marx, Das Kapital. Kritik der politischen Ökonomie. Erster Band, in: K. Marx/F. Engels, Werke, Bd. 23, Berlin (O) 1962, S. 15, 226f.
186
Die Veränderungen des
Preissystems
ökonomischen Bedingungen schematisch für die Preisbildung im Staatssozialismus übernommen wurde. Das Prinzip entsprach im Grunde einer einfachen betrieblichen Kalkulation. Die erste Schwierigkeit bei der Operationalisierung der Marxschen Annahmen ergab sich daraus, daß nach Marx nicht alle, sondern nur die gesellschaftlich notwendigen Aufwendungen in die Wertbildung eingehen und sich erst im Austausch, am Markt erweisen sollte, welcher Aufwand in Form des bezahlten Preises als gesellschaftlich notwendig anerkannt wurde.' Wie aber sollte ex ante bestimmt werden, welche der Aufwendungen, die bei der Preisfestlegung herangezogen wurden, als gesellschaftlich notwendig anzuerkennen waren? Ähnliche Probleme entstanden beim Mehrprodukt, denn hier mußte eine Antwort auf die Frage gefunden werden, auf welcher Basis und in welcher Weise es zu bestimmen war. Darüber hinaus ergab sich die Schwierigkeit, bei einer administrativen Festlegung der Preise ihrer Komplexität und vielfaltigen Interdependenzen gerecht zu werden, um so ihre Konsistenz, die Voraussetzung ihrer Meßfünktion zu gewährleisten. Zudem war den Preisen die Aufgabe zugeschrieben worden, Anreize zu bieten, um zentral beschlossene Ziele zu erreichen, was aber zumindest potentiell im Widerspruch zu ihrer Aufgabe als Meßinstrument stand. 2 Bewußt verzichtete man darauf, daß die Preise die Wirtschaftssubjekte unabhängig über die realwirtschaftlichen Prozesse sowie Angebots- und Nachfrageverhältnisse unterrichteten und sich daraus Anreize ergaben. Die Ergebnisse der Kontroverse, die Oskar Lange einerseits sowie Ludwig von Mises und Friedrich A. Hayek andererseits in der Zwischenkriegszeit über die Wirtschaftsrechnung im Sozialismus geführt hatten, blieben dabei vor allem infolge politisch-ideologischer Schranken unbeachtet. Sie zeigte nach jüngster Einschätzung führender osteuropäischer Ökonomen zumindest auf, "wie schlecht der traditionelle marxistische Glaube, es könne eine rationale Allokation der Ressourcen ohne knappheitsinduzierende Preise geben, fundiert war." 3 Im staatssozialistischen Wirtschaftssystem sollte faktisch der Plan die Informationen über Angebots- und Nachfrageverhältnisse, kurz über Knappheiten, enthalten. Aufgrund dieses Reduktionismus war die Qualität der Preise zunächst daran zu messen, inwiefern sie der Meß- und der Anreizfunktion gerecht wurden bzw. werden konnten.
1 Ebenda, S. 53f., 121 f. 2
Zu den theoretischen Grundlagen des Preissystems des Staatssozialismus und deren Rückführung auf Marx vgl. F. Haffner, Das sowjetische Preissystem. Theorie und Praxis. Änderungsvorschläge und Reformmaßnahmen, Berlin (W) 1968.
3
W. Brus/K. Laski, Von Marx zum Markt. Die sozialistischen Länder auf der Suche nach einem neuen Wirtschaftssystem, Marburg 1990, S. 75. Sie geben auch einen Überblick über die Debatte und die neuere sie behandelnde Literatur. (Ebenda, S. 66-77)
Das Preissystem
am Anfang der sechziger
Jahre
187
1. Das Preissystem am Anfang der sechziger Jahre Um der Situation ein Ende zu bereiten, daß in der Industrie Preise von 1944, teilweise mit prozentualen Aufschlägen, sowie kostensanktionierende Kalkulationspreise gültig waren, beschloß der Ministerrat 1953, einheitliche Festpreise nach Produkt und Qualität ausarbeiten zu lassen und einzuführen. Dieser Prozeß erwies sich als langwierig. Die Festpreise wurden von Arbeitskreisen bestimmt, denen in erster Linie Wirtschaftler und Techniker aus den Betrieben sowie Wissenschaftler angehörten. Durch die Mitwirkung der Betriebe konnte man zwar die - vorher vielfach verweigerten - Informationen über Betriebsrentabilität, Kostenstruktur und bestehende Einzelpreise erlangen, aber deren Qualität blieb unzureichend. Die Richtlinien für die Preisbildung sahen vor, - als Maß für die gesellschaftlich notwendigen Kosten - technische Arbeits-, Materialverbrauchs- und Maschinenkapazitätsnormen heranzuziehen. Da diese aber nur eingeschränkt vorlagen, gingen in die Festpreise vielfach doch die durchschnittlichen Ist-Kosten aller Produzenten ein. Dort, wo einzelne Betriebe - wie vor allem im Maschinenbau - bestimmte Erzeugnisse allein fertigten, konnten nur die betriebsindividuellen Kosten berücksichtigt werden. Darüber hinaus wurden die von den Betrieben angegebenen Kosten nur unzureichend überprüft. Damit hatten diese nach wie vor gute Chancen, einen in ihrem Sinne "gerechten Preis" zu erhalten, d.h. alle, auch die eigentlich auszugliedernden, durch Ausschuß, Wartezeiten usw. verursachten Kosten, anerkannt zu bekommen. Außerdem neigten die Betriebsvertreter dazu, sich in den Arbeitskreisen gegenseitig Konzessionen zu machen. Tendenziell waren die Festpreise damit im Vergleich zu den tatsächlichen durchschnittlichen Kosten zu hoch und sie konnten deshalb nicht als Anreiz zur Kostensenkung wirksam werden. Selbst das Büro der Regierungskommission für Preise konstatierte: "Ohne Zweifel werden sehr oft die Interessen des Betriebes vor die Interessen der Volkswirtschaft gestellt." 1 Um den Preis zu ermitteln, schlug man auf die Kosten einen "Gewinn" auf, verfügte jedoch über keine einheitlichen Kriterien, um seine Höhe zu bestimmen. Man ging davon aus, daß der Gewinn die Finanzierung der betrieblichen Aufgaben ermöglichen müsse. Die Gewinnsätze lagen letztlich zwischen 3 und 6 %. 2 Da aber künftige Kostensenkungen bei der Preisbildung meist nicht berücksichtigt wurden, traten insbesondere im Maschinenbau wenige Jahre nach dem Inkrafttreten der Preise Gewinnraten von 20 und mehr Prozent auf. Neben den Kosten als Basis sollten aber auch gewisse Relationen zwischen den Festpreisen beachtet werden. Abgesehen von der damit erzielbaren Zwischenlösung für noch nicht mit Festpreis versehene Erzeugnisse spiegelte sich in dieser Vorgabe ein gewisses Verständnis für die Nachteile der Kostenpreise wider. Denn sie konnten kein Ausdruck für den sich beim Verbraucher ergebenden Nutzen sein. Angesichts der Nichtberücksichtigung ihrer höheren Anlaufkosten hatten neue Produkte in diesem System wirtschaftlich keine
1 Büro der Regierungskommission für Preise: Stellungnahme zum Bericht..., 4.2.57, BA DE1/9152; Institut für Preise: Analyse des vorhandenen Preisgefüges ..., 1.3.61, BA DE1/12622. 2
Ebenda.
188
Die Veränderungen des
Preissystems
Chance. Daher wurde in solchen Fällen die Relationspreisbildung als erforderlich angesehen, wenn sie auch nicht befriedigend durchgeführt werden konnte.' Ein solcherart festgelegter Festpreis entsprach dem Betriebspreis, der vor allem für den Produzenten von Interesse war. Er bestimmte dessen Kosten-Ertrags-Relation. Die gewerblichen Abnehmer einschließlich des Handels hatten dagegen den Industrieabgabepreis zu entrichten. Dieser enthielt über den Betriebspreis hinaus eine staatliche Abgabe bzw. Subvention. Mit der Trennung in einen Output- und einen Inputpreis schuf man sich ein Instrument, um Erzeugung und Verbrauch eines Gutes entsprechend den jeweiligen zentralen Ambitionen differenziert lenken zu können. Die Höhe der Abgabensätze ergab sich bei der Festpreisbildung aus dem bis dahin in der Branche bzw. Erzeugnisgruppe absolut realisierten staatlichen Einkommen. Der ermittelte einheitliche Abgabensatz für jede Branche oder Erzeugnisgruppe mußte aber wegen der ungleichen Kosten doch differenziert werden, um größere Sortimentsverschiebungen zu verhindern. 2 Dieses Instrument nutzte man auch gegenüber der Privatindustrie, da sie in der Regel mit höheren Kosten als die staatliche Industrie produzierte. Dies hatte zum einen strukturelle Ursachen, da im wesentlichen nur Kleinund Kleinstbetriebe in privater Hand verblieben waren, die faktisch keine economies of scale realisieren konnten. Viel schwerer wog aber die staatliche Politik, die diesen Betrieben kaum Spielraum für Investitionen zur Rationalisierung der Fertigung ließ. Deshalb konnte der größte Teil der Privatbetriebe bei Preisen auf Basis der Durchschnittskosten nicht kostendeckend arbeiten. Da aber die Kapazitäten der privaten, halbstaatlichen und genossenschaftlichen Industrie vor allem für das Konsumgüterangebot weiter benötigt wurden, legte man für diesen Bereich Betriebspreise fest, die sich von den Festpreisen unterschieden. Um trotzdem das Niveau der Industrieabgabepreise einheitlich zu gestalten, wurden die Abgaben an den Staat entsprechend gekürzt. Wo das nicht ausreichte, mußten - vor allem im Maschinenbau und der Leichtindustrie - direkte Subventionen an die Privatindustrie gezahlt werden. 3 Die angeführten Probleme kannten die Beteiligten, sie waren jedoch bereit, sie in Kauf zu nehmen, um die als noch ungünstiger betrachteten betriebsindividuellen Preise abzuschaffen. Die zuständige SPK-Abteilung stellte dazu fest: "Schlechte Festpreise sind besser als gar keine!!" 4 Im Jahr 1961 waren ca. 76 % der Industrieproduktion durch Festpreisanordnungen geregelt. 5 Allerdings liegen keine Angaben darüber vor, wie groß der Umfang der Produktion war, für den diese Festpreise aus den unterschiedlichsten - aber meist politisch dominierten - Gründen wieder differenziert wurden. Die Qualität der Festpreise wurde von den beteiligten Institutionen durchaus realistisch ein-
1 Büro der Regierungskommission für Preise: Stellungnahme zum Bericht..., 4.2.57, BA DE1/9152; Institut für Preise: Analyse des vorhandenen Preisgefüges ..., 1.3.61, BA DE1/12622. 2
Ebenda.
3
Ebenda; Vorlage über den Stand und den Abschluß der Festpreisbildung ..., 23.9.61, SAPMO-BA DY30 IV 2/608/51.
4
[SPK], Abt. Preise: Stellungnahme ..., 7.2.57, BA DE1/9152.
5
Vorlage über den Stand und den Abschluß der Festpreisbildung ..., 23.9.61, SAPMO-BA DY30 IV 2/608/51.
Das Preissystem
am Anfang der sechziger
Jahre
189
geschätzt. Neben der eher rhetorischen Aussage von einem "sozialistischen Preissystem" sprach man von einer "Periode des Sammeins, Ordnens und Stabilisierens". 1 Die Ansprüche an "sozialistische" Preise konnten zwar in Bezug auf deren Konstanz - mit Abstrichen - noch erfüllt werden. Aber im Hinblick auf ihre Konsistenz stellte man damals fest, daß die Preise auf den Bedingungen der Jahre 1953 bis 1958 beruhten, die sich inzwischen wesentlich geändert hatten. Die gesamte Festpreisbildung dauerte zu lange und die prospektive Kostenentwicklung wurde ungenügend berücksichtigt. 2 Nach überschlägigen Berechnungen deckten die festgelegten Preise Anfang der sechziger Jahre bei Steinkohle 71 %, bei Steinkohlenkoks 52 %, bei Rohbraunkohle 76 %, bei Braunkohlebriketts 81 % sowie bei Eisen und Stahl 64 % der Kosten. 3 Allerdings existierten auch Grundstoffe, insbesondere aus der chemischen Industrie, bei denen überdurchschnittliche Gewinnanteile ausgewiesen wurden. In der Investitionsgüterindustrie schwankten die Gewinnraten ebenfalls erheblich, da man sich bei der Festpreisbildung am historisch entstandenen Preisniveau und dem gegebenen Volumen der Bruttogewinne ("Reineinkommen") in der jeweiligen Branche orientiert hatte. Noch dazu waren dort die inzwischen viel zu niedrigen Preise für metallurgische Erzeugnisse als Vorleistung in die Preise eingegangen. Die Lebensmittelindustrie bezog ihre Rohstoffe zu Preisen, die teilweise erheblich unter den Erzeugerpreisen lagen, wodurch die Kosten zu niedrig ausgewiesen wurden. Hier wäre eine durchgreifende Veränderung der landwirtschaftlichen Erzeugerpreise erforderlich gewesen. 4 In der Konsequenz spiegelten also auch die Festpreise und ihre Relationen die Kostenverhältnisse nicht - wie angestrebt - wider. Über die Mängel des Festpreissystems hinaus galt jedoch in dem von ihm nicht erfaßten Bereich weiter ein Konglomerat von Preisen, die auf unterschiedlicher Basis gebildet worden waren, wie die modifizierten Preise von 1944 oder Kalkulationspreise aus der Zeit vor der Bestimmung der Festpreise. Das verstärkte die Inkonsistenz der Preise, macht aber auch deutlich, daß die gelegentlich in der Literatur anzutreffende Feststellung, das vor der Wirtschaftsreform geltende Preissystem habe zum großen Teil auf den 1944er Preise basiert 5 , in dieser Absolutheit nicht zutrifft. Einen infolge
1
SPK, Abt. Finanzen und Preise: Bericht über die bisherige Arbeit auf dem Preisgebiet ..., 7.2.62, BA DE1/9564.
2
Vorlage über den Stand und den Abschluß der Festpreisbildung ..., 23.9.61, SAPMO-BA DY30 IV 2/608/51; SPK, Abt. Finanzen und Preise: Bericht über die bisherige Arbeit..., 7.2.62, BA DE1/9564.
3
Berechnet nach: Ebenda. Die später während der Industriepreisreform in der DDR veröffentlichten Angaben über die Aufwandsdeckung, die danach gerade bei wichtigen Grundstoffen nur etwa die Hälfte erreichte, erklären sich aus den in der Zwischenzeit weiter eingetretenen Kostensteigerungen. Vgl. eine Zusammenstellung dieser Daten in: H. Buck, Technik der Wirtschaftslenkung in kommunistischen Staaten, Coburg 1969, S. 726.
4
Vorlage über den Stand und den Abschluß der Festpreisbildung ..., 23.9.61, SAPMO-BA DY30 IV 2/608/51; Abt. Maschinenbau und Metallurgie an Abt. Planung und Finanzen: Stellungnahme ..., 3.10.61, SAPMO-BA DY30 IV 2/608/71.
5
M. Melzer, Preispolitik und Preisbildungsprobleme in der DDR, in: Vierteljahreshefte zur Wirtschaftsforschung 1969, Nr. 3, S. 314. Vgl. auch: G. Leptin/M. Melzer, Economic Reform in East German Industry, Oxford u.a. 1978, S. 36.
190
Die Veränderungen des Preissystems
der Unsicherheit der Angaben skeptisch zu beurteilenden Eindruck von der Preisentwicklung seit 1936 bis Anfang der sechziger Jahre vermittelt die Anhangtabelle A16. Die Wahrnehmung der Defekte des Preissystems und die wachsende Einsicht in die Interdependenz der Preise führte zu der nicht unumstrittenen Erkenntnis, daß eine erneute generelle Überarbeitung des gesamten Preisgefüges unerläßlich sei, um den eigenen Ansprüchen GenUge zu tun. 1
2. Die Grundmittelumbewertung Da für die Neugestaltung des Preissystems das Kostenprinzip festgehalten wurde, mußten die Abschreibungen als Kostenbestandteil auf eine wirtschaftlich adäquate Basis gestellt werden. Bereits seit längerem betrachtete man die Bewertung der Anlagen (Grundmittel) sowie die aus ihr resultierende Höhe der Abschreibungen als unrealistisch. 2 Als 1948 die Eröffnungsbilanzen für die staatlichen Betriebe aufgestellt wurden, hatte man das bewegliche Anlagevermögen auf der Preisbasis von 1944 und die Gebäude auf der von 1913 zuzüglich eines pauschalen Inflationsaufschlags von 60 % bewertet. Die in den folgenden Jahren angeschafften Grundmittel waren in die Vermögensrechnung der Betriebe zu den jeweils gültigen Anschaffungspreisen eingegangen, die wiederum von den Inkonsistenzen des Preissystems geprägt wurden. Außerdem hatten sich die Preise für Maschinen und Gebäude bis in die zweite Hälfte der fünfziger Jahre gegenüber dem Niveau vor Kriegsende nach damaligen sehr groben Angaben verdoppelt oder noch mehr erhöht, so daß - abgesehen von technischen Weiterentwicklungen - für den erforderlichen Ersatz wesentlich höhere Preise bezahlt werden mußten. Bei der Festsetzung der Abschreibungsraten 1951 berücksichtigte man entsprechend der damaligen theoretischen Auffassung die Wertminderung infolge technischer Weiterentwicklungen ("moralischen Verschleiß") nicht. Die seit 1956 gültigen pauschalen Abschreibungssätze für den gesamten Betrieb änderten daran nichts, erschwerten vielmehr differenzierte Wirtschaftlichkeitsbetrachtungen und gezielte Investitionsentscheidungen in den Betrieben. 3 Unter diesen Bedingungen wurde der Verschleiß, der Ersatzbedarf und das Abschreibungsaufkommen gemessen an den Reproduktionserfordernissen zu niedrig ausgewiesen. Bei Kosten-Nutzen-Vergleichen mußten modernere Maschinen und Anlagen fast durchweg schlechter als ältere abschneiden, so daß für die Betriebe auch von dieser Seite kein Anreiz bestand, die alte durch neue Technik zu ersetzen. Infolge der uneinheitlichen Bewertungsgrundlagen verfügten die zentralen Instanzen im
1 Vorlage über den Stand und den Abschluß der Festpreisbildung ..., 23.9.61, SAPMO-BA DY30 IV 2/608/51. Zur Gegenposition vgl. [Möke:] Stellungnahme zu dem Vorschlägen zur Erhöhung ..., [1.11.61], SAPMO-BA NY4097/21. 2 Durchgreifende Schritte zur Veränderung dieser Situation hatte als letztes eine 1961 im Auftrag des Politbüros tätige Arbeitsgruppe gefordert. Vgl. Bericht der Arbeitsgruppe Investitionen ..., [September 1961], SAPMO-BA NY4097/21. 3 Abt. Materialwirtschaft an Wittkowski, 24.5.57: SPK, Inspektion: Zu einigen Fragen der Entwicklung der Grundmittel..., 18.5.57, BA DE1/10344.
Die
Grundmittelumbewertung
191
übrigen Uber keine Unterlagen, die über die wirkliche Höhe, Verteilung und Qualität des Anlagevermögens Auskunft gaben, wie es für die zentrale Investitionspolitik erforderlich gewesen wäre. 1 Mindestens zwei Versuche, das Anlagevermögen neu zu bewerten, brach man Ende der fünfziger Jahre wieder ab, da erst die Festpreise als Bewertungsmaßstab fertiggestellt werden sollten. Im Sommer 1960 beschloß der Ministerrat, die Grundmittelumbewertung und die Neufestsetzung der Abschreibungssätze durch eigens gebildete Gremien vorbereiten zu lassen, weil man für 1960 den Abschluß der Festpreisbildung erwartete. 2 Die Regierung legte am 21. Dezember 1961 fest, in den Betrieben eine Generalinventur des Anlagevermögens zu veranlassen. Dabei sollte dessen Bruttowert auf der Grundlage von Wiederbeschaffungspreisen nach dem Stand vom 1.Januar 1961 und der Verschleiß bzw. der Nettowert anhand von noch zu beschließenden Grundsätzen für die Neufestsetzung der Abschreibungen bestimmt werden. Diese Ergebnisse waren der Grundmittelumbewertung zugrunde zu legen, die nach internen Vorstellungen bis Ende 1963 abgeschlossen sein sollte. 3 Jedoch wollte man auch den Zusammenhang zu den vorgesehenen Veränderungen der Preise gewahrt wissen 4 , denn aus der festgelegten Preisbasis vom 1.Januar 1961 resultierten zwei Probleme. Erstens wurde damit die Inkonsistenz des bisherigen Preissystems fortgeschrieben und zweitens waren mit diesem Ausgangspunkt neue Diskrepanzen zwischen den Ergebnissen der Grundmittelumbewertung und den angestrebten Preisveränderungen abzusehen. Zwar konnten die neu festgelegten Abschreibungen bei den Preisen berücksichtigt, nicht aber die dann neu entstehenden Wiederbeschaffiingspreise - ohne eine neuerliche Revision - den Werten des Anlagevermögens zugrunde gelegt werden. Hier offenbarte sich bereits die prinzipielle Schwierigkeit, angesichts der Komplexität der Bewertungsfragen administrativ ein konsistentes System aufzubauen. Der Stichtag für die Bewertung wurde zwar wegen der inzwischen vergangenen Zeit noch einmal auf den 30. Juni 1962 verschoben und die Generalinventur zum 30. Juni 1963 festgelegt 5 , doch das löste das angeführte Problem nicht. Immerhin hatten es die Verantwortlichen wahrgenommen, auch wenn sich unter den gegebenen Prämissen keine praktikable Lösung bot. 6 Ein Fortschritt war nur insofern erzielt worden, als die Bewertung des Anlage-
1 Von der SZS wurden jährlich Berichte zum Stand und der Entwicklung der Grundmittel mit Stand 1.1. und 31.12. d.J. erstellt. Allerdings waren bis zum Anfang der sechziger Jahre infolge von Umbuchungen und Neuabgrenzungen die Anschlußdaten der aufeinander folgenden Jahre nicht vergleichbar. Vor allen Dingen lagen keine längerfristigen Entwicklungsreihen vor. 2 Präsidium des Ministerrates: Beschluß über die Bildung einer Regierungskommission und eines Büros zur Vorbereitung der Umbewertung der Grundmittel... vom 23.6.60, BA DE1/3298. 3 Beschluß zur Vorbereitung der Umbewertung der Grundmittel vom 21.12.61, in: Gbl. 1962, II, S. 34f.; Protokoll der Leitungssitzung des Volkswirtschaftsrates am 13.9.61, BA DE4-S/13-9-61. 4 W. Ulbricht, Der Weg zum Friedensvertrag ... Schlußwort auf der Wirtschaftskonferenz am 11.10.61, in: W. Ulbricht, Zur Geschichte der deutschen Arbeiterbewegung. Aus Reden und Aufsätzen, Bd. X, Berlin (O) 1966, S. 137. 5 Verordnung über die Umbewertung der Grundmittel vom 30.1.64, in: Gbl. 1964, II, S. 118f. 6 MdF: Beschluß und Bericht über die schrittweise Einfuhrung der Ergebnisse der Umbewertung der Grundmittel ..., 4.12.63, SAPMO-BA DY30 IV A2/2021/232.
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192
Vermögens nun nicht mehr zu Anschaffungspreisen, sondern zu Wiederbeschaffungspreisen erfolgen sollte. Auf diese Weise fanden - zumindest teilweise - technische und wirtschaftliche Weiterentwicklungen Berücksichtigung. Allerdings warf dieses Vorgehen insbesondere bei Maschinen und Ausrüstungen, die nicht mehr produziert wurden, Probleme auf. Daher sollten ihre technischen Leistungsparameter mit denen solcher Anlagen verglichen werden, die sich im Produktionssortiment befanden, um einen technisch bestimmten fiktiven Wiederbeschaffungswert festlegen zu können. Unter Anleitung eines eigens für die Grundmittelumbewertung gebildeten Regierungsbüros erarbeiteten Arbeitskreise mit Vertretern aus den VVB, Industrieinstituten, wissenschaftlichen und sonstigen Instanzen mehr als hundert Wiederbeschaffungspreis-Kataloge für die Gebäude und baulichen Anlagen sowie für Maschinen und Ausrüstungen, die dann die Basis für die Inventur in den Betrieben bildeten. Die Arbeitskreise bestimmten auf Grundlage der im September 1962 verabschiedeten Leitlinien auch die normative Nutzungsdauer der einzelnen Inventararten und damit die neue Abschreibungsrate. Somit wurde die betriebsbezogene pauschale Abschreibungsnorm abgeschafft, und man besann sich wieder auf die Einzelabschreibung. Sie hatte - orientiert an den neuen Bruttowerten des Anlagevermögens - bei linearer und zeitabhängiger Abschreibungsweise die Reproduktion des Anschaffungswertes und die Generalreparaturen zu gewährleisten. Wiederum war nur in Ausnahmefallen der Verschleiß durch technischen Fortschritt zu berücksichtigen. 1 Diese Arbeiten erfolgten im wesentlichen 1963, so daß die neu ausgearbeiteten Brutto- und die auf Basis der neuen Abschreibungen bestimmten Nettowerte des Anlagevermögens in der staatlichen Industrie zum 1 .Januar 1964 in berichtigte Eröffnungsbilanzen der Betriebe übernommen werden konnten. Jedoch sollten die neuen Abschreibungen schrittweise erst mit den Etappen der Industriepreisreform kostenwirksam gemacht werden. In den Betriebsbilanzen waren die Brutto- und Zeitwerte trotzdem entsprechend der neuen Abschreibungsraten fortzuschreiben und diese von der Ergebnisrechnung abzugrenzen. Diese Trennung sah man zunächst als erforderlich an, weil erst die neuen Preise die höheren Aufwendungen für die Anlagenreproduktion berücksichtigen konnten. Ansonsten hätte sich die Erlössituation aller Betriebe verschlechtert und man fürchtete ablehnende Reaktionen gegenüber der langsam in Gang kommenden Wirtschaftsreform insgesamt. 2 Ungelöst blieb allerdings die Frage des "moralischen Verschleißes". Zunächst sollte er offenbar gar nicht berücksichtigt werden, um das ohnehin bereits aufwendige Verfahren nicht noch weiter zu komplizieren. Darüber hinaus verfügte man gar nicht über die notwendigen theoretischen und methodischen Grundlagen. In dem Maße aber, wie die Reform Konturen gewann, wurden immer öfter Stimmen laut, die darauf verwiesen, daß dieses Problem nicht einfach ignoriert werden könne.
1 Präsidium des Ministerrates: Beschluß über die Ausarbeitung von Vorschlägen zur Neufestsetzung von Abschreibungssätzen ..., 13.9.62, BA DC20-I/4-603. 2 MdF: Beschluß und Bericht über die schrittweise Einfuhrung der Ergebnisse der Umbewertung der Grundmittel..., 4.12.63, SAPMO-BA DY30IV A2/2021/232; SPK: Stellungnahme zum Beschlußentwurf ..., 7.12.63, BA DC20-I/6-5; Verordnung über die Umbewertung der Grundmittel vom 30.1.64, in: Gbl. 1964, II, S. 118f.
Die
Grundmittelumbewertung
193
Auch die zuständige ZK-Abteilung bekräftigte, daß der "moralische Verschleiß" bei den Abschreibungen mit in Rechnung zu stellen sei, um den Betrieben einen Anreiz zu geben, neue Technik einzuführen und veraltete Maschinen und Anlagen auszusondern.' Trotz der schon weit fortgeschrittenen Arbeiten an den neuen Abschreibungen, fand diese Forderung nunmehr Eingang in die Grundsatzdokumente der Wirtschaftsreform. 2 Daraufhin unterbreitete die SPK Ende 1963 mit den Beschlüssen zur Grundmittelumbewertung ihre Vorstellungen, wie der "moralische Verschleiß" insbesondere mit Bezug auf die Entwicklung der Leistung, Kosten und Qualität sowie sparsamen Einsatz von Energie und verstärkter Nutzung neuer Werkstoffe einbezogen werden sollte. 3 Als das Politbüro im Januar 1964 über die Einführung der Grundmittelumbewertung und der neuen Abschreibungen beriet, wurden derartige Überlegungen dann aber zurückgestellt. Walter Ulbricht meinte, es sei richtig gewesen, den "moralischen Verschleiß" nicht zu beachten, da anderenfalls alle Betriebe materiell nicht vorhandene Mittel für die Rekonstruktion ihrer Anlagen gefordert hätten. Einen Ausweg sah er in einer selektiven Behandlung der Branchen. Erst wenn deren technische Entwicklungsperspektiven ausgearbeitet waren, wollte er entscheiden, in welchen Branchen der "moralische Verschleiß" zu beachten sei.4 Angesichts des Vorsatzes, über Investitionsschwerpunkte und strukturelle Entwicklungen weiterhin zentral zu entscheiden, war dieser Entschluß wohl konsequent. Mit Blick auf die Rationalität der Wirtschaftslenkung hatte die selektive Berücksichtigung des "moralischen Verschleiß" freilich das Manko, daß über die Beachtung eines Kostenelements administrativ entschieden werden sollte. Das erklärte Ziel der Grundmittelumbewertung und Neufestsetzung der Abschreibungssätze, die realen Kosten auszuweisen, blieb daher teilweise unbeachtet. Die Neubewertung des Anlagevermögens erbrachte in der zentralgeleiteten staatlichen Industrie eine Steigerung des Bruttowertes um 52 %, wobei der Wertzuwachs der Gebäude und baulichen Anlagen doppelt so hoch wie bei den Ausrüstungen ausfiel. Allerdings wuchs auch der Verschleiß des Anlagevermögens um 89 %, so daß die Verschleißquote von 33 % auf 41 % anstieg. 5 D.h. der Bruttowert des Anlagevermögens war bis dahin zu niedrig und sein physischer Zustand zu gut ausgewiesen worden. Das war eine Folge der bis 1964 üblichen Praxis, die Kosten von Generalreparaturen zeitwerterhöhend bzw. verschleißmindernd zu buchen. Die Abschreibungen hingegen enthielten keine Komponente für Generalreparaturen. Daher wiesen die Ausrüstungen und insbesondere die Arbeits- und Werkzeugmaschinen, die davon vorzugsweise betroffen waren, nach der Neubewertung auch höhere Verschleißquoten als die Bauten auf (vgl. Tabelle 2.2). Nach der Umbewer-
1 Abt. Planung und Finanzen: Probleme der Industriepreisreform und der Umbewertung der Grundmittel, 8.6.63, SAPMO-BA DY30 IV A2/601/3. 2 Richtlinie für das neue ökonomische System der Planung und Leitung der Volkswirtschaft, Berlin (O) 1963, S. 55. 3 4 5
SPK-Vorlage: Beschluß über die Berücksichtigung des moralischen Verschleißes ..., 16.12.63, BA DE1/48124. SPK: Niederschrift der Diskussion und Beschlußfassung im Politbüro ... am 21.1.64, BA DE1/43201. SZS: Material zu einigen Fragen der Durchfuhrung wichtiger Maßnahmen des Neuen Ökonomischen Systems ..., 15.3.65, BA DEl-St/5308.
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Die Veränderungen des Preissystems
tung wurden zu Lasten der Kosten Rückstellungen für Generalreparaturen gebildet, die sich an Erfahrungswerten orientieren sollten. Da sich das Abschreibungsvolumen nur um 31 % erhöht hatte, ergab sich in der zentralgeleiteten Industrie eine Verringerung der durchschnittlichen Abschreibungssätze von 4,2 auf 3,6 %, was in erster Linie aus Strukturverschiebungen zwischen den Vermögensbestandteilen im Ergebnis der Umbewertung resultierte. Der Anteil der Gebäude und baulichen Anlagen mit relativ geringen Abschreibungsraten hatte sich durch ihre stärkere Aufwertung von 39 auf 45 % erhöht und der der Ausrüstungen mit höheren Abschreibungssätzen entsprechend reduziert. Auf Basis der neuen Bruttowerte und der alten Abschreibungsnormen wäre der durchschnittliche Abschreibungssatz in der zentralgeleiteten Industrie schon auf 3,8 % gesunken. Insoweit war die Erhöhung des Abschreibungsvolumens im wesentlichen eine Konsequenz der gestiegenen Bruttowerte. 1 Diese Sicht findet sich auch in der Literatur. 2 Allerdings ist die dort vertretene Erklärung für die sinkenden durchschnittlichen Abschreibungsraten, die bereits angehobenen Bruttowerte hätten eine Erhöhung der Abschreibungsraten nicht zugelassen, weil man befürchtete, die aus ihr resultierende Kostensteigerung sei in der Preisreform nicht mehr abzufangen und könne Erhöhungen der Einzelhandelspreise provozieren 3 , in dieser Form nicht zutreffend. Denn in diesen Debatten spielten die Abschreibungen schon deshalb keine Rolle, weil man angesichts ihres relativ niedrigen Anteils an den Gesamtkosten unterstellte, daß ihre Erhöhung ohne Probleme auf die Preise umgelegt werden könne. Die eigentlichen Befürchtungen bezogen sich - wie bereits im Zusammenhang mit dem "moralischen Verschleiß" angeführt - auf die Möglichkeiten der materiellen Deckung der angesammelten Finanzmittel. Jedoch wurde in der Literatur übersehen, daß in der dort herangezogenen DDRQuelle die Abschreibungsraten ohne Rückstellungen für Generalreparaturen angeführt wurden, weil man meinte, diese Mittel hätten nicht den Charakter von Abschreibungen. 4 Dieses schwer nachzuvollziehende Argument spiegelte sich auch in den Betrieben wider. Da die Rücklagen für Generalreparaturen gesondert erfaßt und geführt wurden, betrachteten sie die Betriebe nicht als Abschreibungen. Wenn man sie jedoch einbezog, ergab sich ein völlig anderes Bild. Dann erhöhten sich das Abschreibungsvolumen um 63,9 % und der durchschnittliche Abschreibungssatz auf 4,5 % gegenüber dem Stand vor der Umbewertung (vgl. Tabelle 2.3). Insgesamt hatten also die Verschiebungen in der Wertstruktur des Anlagevermögens sowie die Einbeziehung der Generalreparaturen sowohl das Volumen als auch die Rate der Abschreibungen erhöht, obwohl nach wie vor der Verschleiß durch technische Weiterentwicklung nicht berücksichtigt wurde.
1 Angaben und Berechnungen nach: SZS: Material zu einigen Fragen der Durchfuhrung wichtiger Maßnahmen des Neuen Ökonomischen Systems ..., 15.3.65, BA DEl-St/5308; SZS: Ergebnisse der Umbewertung der Grundmittel, Bd. I, 02, BA DEl-St/7186. 2
M. Melzer, Anlagevermögen, Produktion und Beschäftigung der Industrie im Gebiet der DDR von 1936 bis 1978 sowie Schätzung des künftigen Angebotspotentials, Berlin (W) 1980, S. 23.
3 Leptin/Melzer, Economic Reform, S. 35f. 4 H.-J. Hurtig, Was brachte die Umbewertung der Grundmittel?, in: Deutsche Finanzwirtschaft, 1964, H.6, S. 4-7.
Die
195
Grundmittelumbewertung
Die Unterschiede in den Ergebnissen der Grundmittelumbewertung zwischen der zentralgeleiteten und der staatlichen Industrie insgesamt verdeutlichen noch einmal, daß in den territorial geleiteten Industrien zuvor erheblich weniger investiert worden war. D i e Diskrepanzen in den Umbewertungsdifferenzen sowie den Verschleißquoten zwischen den Branchen reflektieren die Investitionsstrategie der Vorjahre. Unterdurchschnittliche Wertsteigerungen und Verschleißanteile wiesen vor allem die Bereiche Kohle, Schwarzmetallurgie, Chemie sowie die gesamte metallverarbeitende Industrie auf. Besonders ungünstig war der Zustand des Anlagevermögens in der Energiewirtschaft s o w i e in der Leicht- und Lebensmittelindustrie (Tabellen 2.1 und 2.2). Tabelle 2.1 : Veränderung der Bruttowerte des Anlagevermögens 1963 durch die Grundmittelumbewertung in der staatlichen Industrie in % Anlagever- darunter: mögen
Gebäude u.
Ausrüstungen
davon: Arbeits- u.
bauliche
Werkzeug-
Anlagen
maschinen staatliche Industrie ges. zentralgel. staatl. Industrie (VWR) darunter (VWR-Abteilungen): Energie Kohle Schwarzmetallurgie NE-Metallindustrie u. Kali Gießereien u. Schmieden Geologie Chemie Schwermaschinenbau Energie- u. Kraftmaschinenbau Chem. Apparate- u. Anlagenbau Allgemeiner Maschinenbau Elektrotechnik Elektronik Werkzeugmaschinen u. Automatisierung Textil-Bekleidung-Leder Holz-Papier-Polygraphie Glas u. Keramik Lebensmittelindustrie
60,0 51,9
81,3 74,7
46,0 37,3
39,8 36,9
58,5 23,4 27,0 64,0 73,8 1,7 46,4 54,4
67,4
56,3
26,7
26,7 31,4 98,0 114,4 8,6
20,7 23,3 28,9 40,6
22,3 29,2 33,2
23,3 21,6 31,5 33,8 0,8 37,2 26,6 23,8 32,3 38,4
29,5 20,4
31,1 24,7
36,1 68,8 47,6 35,7 41,7
36,0 80,5 57,0 42,7 58,2
46,9 58,9 64,7 60,1
66,7 80,3 74,8 86,8 105,9
48,6 67,1
215,0 82,0 107,4
118,7 76,9 69,2 75,3
195,8 121,8 100,6 128,7
0,3 33,8 28,4
Berechnet nach: SZS: Ergebnisse der Umbewertung der Grundmittel, Bd. I, Ol, BA DEl-St/7164.
Mit der Grundmittelumbewertung schuf man sich Unterlagen, die über Bruttowerte, Verschleiß, Alter und technisches Niveau des Anlagevermögens besser als vorher Auskunft gaben und die nun als Planungsgrundlage dienen konnten, da sie auch auf den Ersatzbedarf verwiesen. Ihre real wirtschaftlichen Effekte lassen sich jedoch nicht exakt bestimmen, da die Ergebnisse erst mit der Indu-
196
Die Veränderungen des
Preissystems
Tabelle 2.2: Verschleißquoten nach der Grundmittelumbewertung in der staatlichen Industrie 1963 in % Anlagevermögen
darunter: Gebäude u.
Ausrüstungen
davon: Arbeitsu. Werkzeug-
bauliche Anlagen
maschinen
staatliche Industrie
41,8
35,2
47,2
48,1
zentralgel. staatl. Industrie (VWR)
40,6
34,4
45,6
47,3
Energie
43,1
55,0
46,1
41,5
Kohle
34,4
21,8
38,1
38,6
Schwarzmetallurgie
33,5
24,7
43,2
43,1
NE-Metallindustrie u. Kali
44,4
22,2
44,9
45,5
Gießereien u. Schmieden
43,3
42,1
48,8
51,2
Geologie
33,7
32,6
37,9
39,0
Chemie
42,1
37,0
48,1
49,0
Schwermaschinenbau
38,1
30,1
46,8
50,3
Energie- u. Kraftmaschinenbau
36,8
31,1
44,0
47,6
Chem. Apparate- u. Anlagenbau
32,4
27,0
40,7
43,7
Allgemeiner Maschinenbau
38,8
32,5
46,2
48,6
Elektrotechnik
39,2
35,2
43,6
45,0
Elektronik
34,7
28,4
42,8
43,3
Werkzeugmaschinen u. Automatisierung
39,6
33,3
47,0
48,7
Textil-Bekleidung-Leder
48,8
43,8
54,5
56,1
Holz-Papier-Polygraphie
43,1
39,2
46,9
48,6
Glas u. Keramik
39,7
37,9
42,6
44,7
Lebensmittelindustrie
43,2
37,8
48,7
53,9
darunter (VWR-Abteilungen):
Berechnet nach: SZS: Ergebnisse der Umbewertung der Grundmittel, Bd. I, Ol, BA DEl-St/7164.
striepreisreform stufenweise kostenwirksam wurden. Insofern sind die Angaben zu den Anteilen der Abschreibungen an den Gesamtkosten der Warenproduktion in der Tabelle 2.3 fiktiv. Von dem gewachsenen Abschreibungsvolumen gingen für die Betriebe die erhofften Anreize zur besseren Ausnutzung und Modernisierung des vorhandenen Anlagevermögens nur begrenzt aus. Vor allem die gestiegenen Bruttowerte konnten zwar durch das damit steigende Abschreibungsvolumen den Impuls schaffen, veraltete oder nicht benötigte Anlagenteile auszusondern. Aber die durchschnittlich gesunkenen Abschreibungsraten ohne die Mittel für Generalreparaturen, die von den Betrieben gesondert betrachtet wurden, verminderten diesen Anreiz tendenziell wieder. Jedoch zielte die später zu diskutierende Produktionsfondsabgabe auf eine wirtschaftlichere Nutzung des Anlagevermögens. Bei Einbeziehung der Rückstellungen für Generalreparaturen und der damit gegebenen Steigerung des Abschreibungsvolumens erhöhte sich aber der Anteil der Abschreibungen an der Investitionsfinanzierung. Nach einer (ebenfalls fiktiven) Rechnung wuchs er im Jahr 1963 im Bereich
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Grundmittelumbewertung
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