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German Pages 212 Year 2001
HERMAEA GERMANISTISCHE FORSCHUNGEN NEUE FOLGE HERAUSGEGEBEN VON JOACHIM HEINZLE UND KLAUS-DETLEF MÜLLER
BAND 94
JOACHIM BUMKE
Die Blutstropfen im Schnee Über Wahrnehmung und Erkenntnis im »Parzival« Wolframs von Eschenbach
MAX NIEMEYER VERLAG TÜBINGEN 2001
Gedruckt mit Unterstützung des Förderungs- und Beihilfefonds Wissenschaft der VG Wort
Peter Wapnewski
gewidmet
Die Deutsche Bibliothek - CIP-Einheitsaufnahme Bumke, Joachim: Die Blutstropfen im Schnee : über Wahrnehmung und Erkenntnis im »Parzival« Wolframs von Eschenbach / Joachim Bumke. - Tübingen: Niemeyer, 2001 (Hermaea; N.F., Bd. 94) ISBN 3-484-15094-7
ISSN 0440-7164
© Max Niemeyer Verlag GmbH, Tübingen 2001 Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlages unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen. Printed in Germany. Gedruckt auf alterungsbeständigem Papier. Satz und Druck: AZ Druck und Datentechnik GmbH, Kempten Buchbinder: Geiger, Ammerbuch
Inhalt
I.
Der >innere< Mensch
ι
ι.
Parzival vor den Blutstropfen im Schnee
ι
2.
>Innen< und >Außen< in der gelehrten Diskussion der Zeit
II.
15
Liebe, Licht und Erkenntnis
29
ι.
29
2.
Liebestheorie Liebe bei den Dichtern
29
Liebe bei den Theologen
30
Liebe bei den Medizinern
33
Wahrnehmungs- und Erkenntnistheorie
35
De natura corporis et animae
3.
35
Das innere Licht
37
Selbsterkenntnis
45
Exkurs: Visions- und Traumtheorie
50
Zeichentheorie
54
Augustins Zeichenlehre
54
Exkurs: Die Zeichenhaftigkeit von Blut und Schnee . .
59
Parzival in Munsalvaesche: dô was er vrâgens mit ermant 4.
Wahrnehmungsschwäche
77
Parzivals Kindheit
77
Parzivals art
81
Lehren und lernen
85
Parzivals Kämpfe
91
Selbsterkenntnis
95
tumpheit
III.
64
herre, ich bin nicht wîs. Parzivals habituelle
100
Der >nackte< Erzähler ι.
in
Das Gespräch mit den Zuhörern
in
Über die Liebe
112
Über den Hof
116 V
2.
3.
4.
IV.
Digressio — Apostrophe — Personificado Frau Minne und Frau Witze Anspielungen auf Hartmanns >Iwein< Der Erzähler in der Rolle des Analphabeten Ine kan decheinen buockstap Wissenschaftskritik im 12. Jahrhundert Ingenium Zur Poetik der Parzivaldichtung Das parrierte maere Ordo temporis und ordo cognitionis Zusammenhänge
Ausblick: Parzival und Gawan
122 122 128 131 131 135 139 143 143 147 151 157
Nachwort
165
Literaturverzeichnis
167
Abkürzungen Texte Literatur
167 167 173
Register
VI
201
I.
Der >innere< Mensch
i.
Parzival vor den Blutstropfen im Schnee
Parzival war in Munsalvaesche und hat die Erlösungsfrage nicht gestellt. Er hat die trauernde Sigune wiedergetroffen und hat von ihr erfahren, was in Munsalvaesche auf dem Spiel stand. Dann ist er Jeschute wiederbegegnet, die seinetwegen große Entbehrungen und Demütigungen durch ihren Ehemann erdulden mußte. Er hat Orilus besiegt und hat ihn gezwungen, sich mit seiner Frau zu versöhnen, und hat die beiden an den Artushof geschickt. Er ist ziellos weitergeritten, hat die Nacht im Wald verbracht und befindet sich am nächsten Morgen in der Nähe des Plimizoel. Inzwischen ist König Artus mit seinem Hof aufgebrochen, um den Roten Ritter zu suchen, der ihm durch die Überstellung besiegter Ritter so viel Ehre erwiesen hat. Am achten Tag ist die Hofgesellschaft ans Ufer des Plimizoel gelangt, wo sie ihr Lager aufgeschlagen haben. Am nächsten Morgen erblickt Cunnewares Knappe, der als erster das Lager verlassen hat, den Ritter am Waldrand und erkennt ihn an seiner Rüstung. Gawan reitet hinaus, begrüßt den Gesuchten und fuhrt ihn ehrenvoll vor den König. Noch am selben Tag wird Parzival feierlich in die Tafelrunde aufgenommen. Sein Traum, Artusritter zu werden, hat sich erfüllt. Wenn die Geschichte so erzählt worden wäre, würde niemand auf den Gedanken kommen, daß irgendwo etwas fehlt. Das Resume der Handlung hat jedoch zwischen Parzivals Ankunft bei den Flußwiesen des Plimizoel und Gawans Einladung, ihn zum Lager zu begleiten, siebenhundert Verse übersprungen. Dazwischen steht die Blutstropfenszene, die fur den Handlungsverlauf entbehrlich zu sein scheint. Das ist ein Indiz dafür, daß die Bedeutung dieser Szene auf einer anderen Ebene zu suchen ist. 1 1
Zur Blutstropfenszene im >Parzival< vgl. K . Boestfleisch: Studien zum Minnegedanken bei Wolfram von Eschenbach [L 1 5 5 ] , S. ioff.; B. Mergeil: Wolfram von Eschenbach und seine französischen Quellen. Bd. 2. Wolframs Parzival [ L 4 5 1 ] , S. 88ff.; M. Wehrli: Wolframs Humor [L 6 1 1 ] , S. 9ff.; W. J . Schröder: Der Ritter zwischen Welt und Gott. Idee und Problem des Parzivalromans Wolframs von Eschenbach [L 548], S. 153fr.; M. Wehrli: Wolfram von Eschenbach. Erzählstil und Sinn seines Parzival [ L 6 1 2 ] , S. 24f.; H. Kolb: Die Blutstropfen-Episode bei Chrétien und Wolfram [L 395]; E. Köhler: Die
I
Im Mittelpunkt der Blutstropfenszene steht ein außerordentlicher Wahrnehmungsakt. Parzival sieht die Blutstropfen im Schnee; und als er drei Blutstropfen im Schnee. Bemerkungen zu einem neuen Deutungsversuch [L 392]; W. Deinert: Ritter und Kosmos im Parzival. Eine Untersuchung der Sternkunde Wolframs von Eschenbach [L 214], S. i8fT.; M. W y n n : Scenery and Chivalrous Journeys in Wolframs Parzival [L 638], S. 405ff.; J. F. Poag: Heinrich von Veldeke's minne; Wolfram von Eschenbach's liebe and triuwe [L 498], S. 732fif.; G. Bauer: Parzival und die Minne [L 132], S. 9 i f f . ; Α . M. Haas: Parzivals tumpheit bei Wolfram von Eschenbach [L 298], S. 114fr.; J. F. Poag: Wolfram von Eschenbach's Metamorphosis of the Ovidian Tradition [L 499], S. 7 4 f ; D . Blamires: Characterization and Individuality in Wolfram's Parzival [L 148], S. i66ff.; M. G . Scholz: Waither von der Vogelweide und Wolfram von Eschenbach. Literarische Beziehungen und persönliches Verhältnis [L 545], S. 42ÍF.; M. Schumacher: D i e Auffassung der Ehe in den Dichtungen Wolframs von Eschenbach [L 555], S. ι ioff.; J. F. Poag: W i p and Gral: Structure and Meaning in Wolfram's Parzival [L 500], S. 205Í.; N . R. Wolf: Die Minne als Strukturelement im Parzival Wolframs von Eschenbach [L 634], S. 59Í. 7of.; H . - G . Weiter: D i e Wolframsche Stilfigur. Untersuchungen zu einem Strukturschema im Parzival Wolframs von Eschenbach [L 6 1 5 ] , S. I38ff.; R. Madsen: Die Gestaltung des Humors in den Werken Wolframs von Eschenbach [L 432], S. 129fr. 139fr.; M. Curschmann: Das Abenteuer des Erzählens. Über den Erzähler in Wolframs Parzival [L 208], S. 642fr.; W. Haug: D i e Symbolstruktur des höfischen Epos und ihre Auflösung bei Wolfram von Eschenbach [L 316], S. 684fr.; H. E. Wiegand: Studien zur Minne und Ehe in Wolframs Parzival und Hartmanns Artusepik [L 625], S. 153fr.; E. Neilmann: Wolframs Erzähltechnik. Untersuchungen zur Funktion des Erzählers [L 475], S. 142fr.; W. und H. Freytag: Z u m Natureingang von Wolframs von Eschenbach Blutstropfenszene [L 262]; H. Dewald: Minne und sgrâles âventiur. Äußerungen der Subjektivität und ihre sprachliche Vergegenwärtigung in Wolframs Parzival [L 219], S. 2 2 f f ; T. Ehlert et G . Meissburger: Perceval et Parzival. Valeur et fonction de l'épisode dit >des trois gouttes de sang sur la neige< [L 240]; D . Hirschberg: Untersuchungen zur Erzählstruktur von Wolframs Parzival. D i e Funktion von erzählter Szene und Station für den doppelten Kursus [L 329], S. 171fr.; E. Schmid: Studien zum Problem der epischen Totalität in Wolframs Parzival [L 538], S. 2 i f f . ; D. Welz: Episoden der Entfremdung in Wolframs Parzival. Herzeloydentragödie und Blutstropfenszene im Verständigungsrahmen einer psychoanalytischen Sozialisationstheorie [ L 6 1 6 ] , S. 88ff.; K . Ruh: Höfische Epik des deutschen Mittelalters. Bd. 2 [L 5 2 1 ] , S. 83fr.; K . Bertau: Zwei Studien zu Wolfram. I. Innere Erfahrung und epische Bearbeitung mythischer Strukturen. Einige psychoanalytische Beobachtungen zu Wolframs Parzival [L 140], S. Conte du Graal< prägt, stammt aus >Erec et Enide< (2191). Aus >Erec et Enide< und aus dem >Yvain< entlehnt ist auch der zwiespältige Charakter von Keu: seine hohe Stellung am Hof und die Zuneigung des Königs auf der einen Seite, seine Prahlerei und sein abstoßendes Gehabe auf der anderen. Die ganze Handlungskonstellation der Blutstropfenszene ist in >Erec et Enide< vorgebildet. Schon dort reist König Artus dem Helden nach, um ihn an seinen Hof zu holen. Auch dort kommt es zu einem zufälligen Zusammentreffen auf einer Wiese, auf der der König sein Lager aufgeschlagen hat. Auch dort versucht Keu, den Helden gegen seinen Willen mit Gewalt an den Hof zu holen; auch dort wird er von ihm vom Pferd gestochen und kehrt voll Schande an den Hof zurück. Auch dort weiß Gauvain, daß man mit Freundlichkeit mehr erreicht als mit Gewalt; und ihm gelingt es, den Helden vor den König zu bringen. Der andere Teil der Blutstropfenszene stammt aus dem >LancelotConte du Graal< eine wichtige Rolle spielt, hat die Interpretation von G . Armstrong (The Scene of the Blood Drops on the Snow [L 127]) gezeigt.
14
Die >ParzivalRenaissance< des 12. Jahrhunderts [L 627]; R. W. Southern: Scholastic H u manism and the Unification of Europe. Bd. 1. Foundations [L 572]; G . Constable: The Reformation of the Twelfth Century [L 205]. Die meisten Anregungen verdanke ich dem Buch von Marie-Dominique Chenu über die Theologie des 12. Jahrhunderts [L 192]. Der sicherste Führer durch die monastische Theologie des 12. Jahrhunderts war fur mich der erste Band von Kurt Ruhs Geschichte der abendländischen Mystik [L 524]. Z u m Dichtungsverständnis der Zeit ist das Buch von Winthrop Wetherbee über die neue Poetik der Schule von Chartres [L 623] am aufschlußreichsten.
25
R. Schnell: Abaelards Gesinnungsethik und die Rechtsthematik in Hartmanns Iwein [L 543], S. 16.
15
Das begriffliche Rüstzeug fur die Erforschung des >inneren< Menschen im 12. Jahrhundert stammte zum großen Teil von Augustin. 26 Der Begriff des »inneren Menschen« (homo interior) kommt bereits in der Bibel vor: in den Paulus-Briefen >Ad Romanos< (7,22) und >Ad Ephesios< (3,i6); 2 7 er ist jedoch erst durch Augustin zu einem christlichen Zentralbegriff geworden. Augustin hatte auch von den »inneren Augen« (oculi interiores) und von der »inneren Rede« (locutio interior) gesprochen, vom »Wort des Herzens« {verbum cordis) und vom »Wort des Geistes« (verbum mentis), von den »Augen der Seele« (oculi animae) und den »Augen des Herzens« (oculi cordis), auch von dem »Mund des Herzens« (os cordis). Von Augustin stammte auch der Satz, der als ein Motto über der Spiritualität des 12. Jahrhunderts stehen könnte: »Geh nicht nach draußen, kehr wieder ein bei dir selbst! Im inneren Menschen wohnt die Wahrheit« {Noli foras ire, in te ipsum redi. In interiore homine habitat ueritas).28 Auf Augustin geht auch die Unterscheidung zwischen »äußeren Sinnen« (sensus exteriores) und »inneren Sinnen« {sensus interiores) zurück, die für die Psychologie des 12. Jahrhunderts von grundlegender Bedeutung wurde. 29 Die Analogie von Außen und Innen erlaubt es, auch vom »Ohr des Herzens« oder der »Nase des Herzens« zu sprechen: »Dein Herz sieht und hört und beurteilt auch die übrigen Sinneswahrnehmungen. Und wohin die äußeren Sinne des Körpers nicht reichen, da unterscheidet es Gerechtes und Ungerechtes, Böses und Gutes. Zeige mir die Augen, die Ohren, die Nase deines Herzens [...]. In deinem Leib hörst du an einer Stelle und siehst an einer anderen. In deinem Herzen hörst du da, wo du auch siehst« {Cor tuum et uidet et audit, et cetera sensibilia diiudicat; et quo non aspirant corporis sensus, iusta et iniusta, mala et bona discernit. Ostende mihi oculos, aures, nares cordis tui [...]. In carne tua alibi audis, alibi uides; in corde tuo ibi audis, ubi uides).ò° Der Blick nach innen führte im 12. Jahrhundert zur Entdeckung des Gewissens als der zentralen Instanz der Morallehre. 31 Der wichtigste Text 26
27
28
29 30
31
Z u r Gegenwart Augustine im 1 2 . Jahrhundert vgl. M.-D. Chenu: La théologie au douzième siècle [L 1 9 2 ] , S. 115ÍF. Kaum weniger bedeutend war der Einfluß Gregors des Großen. Z u seiner Philosophie des inneren Menschen vgl. C. Dagens: Saint Grégoire le Grand. Culture et expérience chrétiennes [L 2 1 1 ] , S. 178fr. Z u r frühen Bezeugung des Begriffs homo interior vgl. G . R . Evans: Getting It Wrong. The Medieval Epistomology of Error [L 2 5 2 ] , S. I 2 f f . Augustin: De vera religione 39,72 [L 22], S. 2 3 4 . Z u der Bedeutung dieses Satzes vgl. R. Berlinger: Augustine dialogische Metaphysik [L 1 3 8 ] , S. 145fr.; A . Maxsein: Philosophia cordis. Das Wesen der Personalität bei Augustinus [L 4 3 8 ] , S. 52ff. Vgl. unten S. 35f. Augustin: Tractatus in Iohannis evangelium 1 8 , 1 0 [L 2 5 ] , S. 1 8 6 ; vgl. R . Berlinger: Augustins dialogische Metaphysik [L 1 3 8 ] , S. I93Í. Vgl. M.-D. Chénu: L'éveil de la conscience dans la civilisation médiévale [L 1 9 3 ] ; D.
16
ist Abaelards >Scito teipsumScito teipsum< vgl. Michael Müller: Ethik und Recht in der Lehre von der Verantwortlichkeit [ 1 4 7 1 ] , S. n 8 f f . ; O. Lottin: Psychologie et morale aux X l l e et XlIIe siècles [L 425], Bd. 4, Teil 1, S. 310fr.; R. Blomme: La doctrine du péché dans les écoles théologiques de la première moitié du X l l e siècle [L 153], S. 103fr.; J. Gründel: Die Lehre von den Umständen der menschlichen Handlung im Mittelalter [L 295], S. ioóff.; M.-D. Chénu: L'éveil de la conscience dans la civilisation médiévale [L 193], S. 17fr.; D. E. Luscombe in der Einleitung zu seiner Ausgabe und Übersetzung von >Scito teipsum< [L 1], S. XVff.; Ders.: The Ethics of Abelard: Some Further Considerations [L 427]; E. Volk: Das Gewissen bei Petrus Abaelardus, Petrus Lombardus und Martin Luther [L 603]; R. Schnell: Abaelards Gesinnungsethik und die Rechtsthematik in Hartmanns Iwein [L 543], S. i8ff. Der heute übliche Titel von Abaelards Schrift: >Ethica seu Scito teipsum< ist eine Kombination der beiden bereits im Mittelalter gebrauchten Titel; vgl. D. E. Luscombe in der Einleitung zu seiner Ausgabe [L 1], S. X X X .
33
K . Müller: Der Umschwung in der Lehre von der Buße während des 12. Jahrhunderts [L470]; P. Anciaux: La théologie du sacrement de pénitence au X l l e siècle [L 125], S. 1 3 8 f r . ; C. Vogel: Les Libri Paenitentiales [L 602]; P. J. Payer: The Humanism or the Penitentials and the Continuity of the Penitential Tradition [L493].
34
E. Feistner: Zur Semantik des Individuums in der Beichtliteratur des hohen und späten Mittelalters [L 255], S. 5. Zur Selbsterkenntnis im 12. Jahrhundert vgl. R. Javelet: Psychologie des auteurs spirituels du X l l e siècle [L 3 5 6 ] , S. 131fr.; Ders.: Image et ressemblance au douzième siècle [L 3 5 8 ] , Bd. ι , S. 3 6 8 f r . ; A. C. Lloyd: Nosce Teipsum and Conscientia [L 4 2 3 ] ; M.-D. Chénu: L'éveil de la conscience dans la civilisation médiévale [L 1 9 3 ] , S. 4 1 f r . ; A . M . Haas: N i m din selbes war. Studien zur Lehre von der Selbsterkenntnis bei Meister Eckhart, Johannes Tauler und Heinrich Seuse [L 299], S. 1 iff.; P. Courcelle: Connais-toi toimême. De Socrate à Bernard [L 2 0 6 ] ; J. A. W. Bennett: Nosce te ipsum: Some Medieval Interpretations [L 133]; A. M. Haas: Et descendit de caelo (Juvenal, Satir. XI,27). Dauer und Wandel eines mystologischen Motivs [L 3 0 0 ] ; Ders.: Christliche Aspekte des Gnothi seauton. Selbsterkenntnis und Mystik [L 3 0 1 ] ; F.-X. Putallaz: La connaissance de soi au XlIIe siècle. De Matthieu d'Aquasparta à Thierry de Freiberg [L 5 0 6 ] ; Ders.: La connaissance de soi au moyen âge: Siger de Brabant [L 5 0 7 ] ; M. Reiser: Erkenne dich selbst! Selbsterkenntnis in Antike und Christentum [L 5 0 9 ] ; A. Speer: Selbsterkenntnis. Mittelalter [L 5 7 4 ] .
35
17
gehe hinein in dich selbst! Suche dich nicht draußen! Eines bist du; ein anderes, was dir gehört; wieder ein anderes, was um dich ist. Um dich ist die Welt; dir gehört der Körper; du bist im Innern, geschaffen nach dem Bild und der Ähnlichkeit Gottes. Geh also zurück, du Sünder, zum Herzen! Außen bist du ein Vieh, nach dem Bild der Welt, weswegen der Mensch eine kleine Welt genannt wird. Innen bist du ein Mensch nach dem Bild Gottes« (Si vis teipsum cognoscere, te possidere, intra ad teipsum, nec te quaesieris extra. Aliud tu, aliud tui, aliud circa te. Circa te mundus, tui corpus, tu ad imaginem et similitudinem Dei factus intus. Redi igitur, praevaricator ad cor. Foris pecus es, ad imaginem mundi: unde et minor mundus dicitur homo; intus homo ad imaginem Dei).06 In diesem Punkt gab es keinen Gegensatz zwischen den Dialektikern an den Kathedralschulen und den frommen Mönchen in den Klöstern. »Das 12. Jahrhundert mit seiner Renaissance antiker und patristisch christlicher Gehalte verbreitet das >Gnothi seauton< mit allem Nachdruck, so daß man sagen kann, es sei eines der großen Themen dieses Jahrhunderts. Und zwar eines, das - gewiß mit je spezifischen Nuancierungen — letztlich die großen ideologischen Exponenten und Widersacher untereinander verbunden hat«. 37 Selbsterkenntnis spielt in der Philosophie von Abaelard eine ebenso große Rolle wie in den Predigten von Bernhard von Clairvaux. Die ausfuhrlichste und eindringlichste Anleitung zur Selbsterkenntnis hat Bernhard von Clairvaux in der 3 4 . - 3 7 . Predigt über das >Hohelied< gegeben. Im Anschluß an Augustin wurde Selbsterkenntnis im 12. Jahrhundert als erster Schritt zur Gotteserkenntnis verstanden. Daher war es eher mißverständlich, wenn man von der »Entdeckung des Individuums« im 12. Jahrhundert gesprochen hat, 38 da der Begriff des Individuums im Mittelalter anders akzentuiert war. 39 Die anschließende Diskussion über diese These 40 hat zu einer Annäherung der Positionen geführt, da man sich darauf ver36 37
38
39
40
Isaac de Stella: Sermones in festo omnium sanctorum [L 76], Sp. 1695. A. M. Haas: Christliche Aspekte des Gnothi seauton. Selbsterkenntnis und Mystik [L 3 0 1 ] , S. 80. Vgl. C. Morris: The Discovery of the Individual, 1 0 5 0 - 1 2 0 0 [ L 4 6 7 ] ; R. W. Hanning: The Individual in Twelfth-Century Romance [L 307]; D. Régnier-Bohler: L'émergence de l'individu [L 508]. Zum mittelalterlichen Begriff der Individualität vgl. T. Kobusch, L. Oeing-Hanhoff: Individuum, Individualität [L 3 9 1 ] ; J . A. Aertzen, A. Speer (Hgg.): Individuum und Individualität im Mittelalter [L 124]. Vgl. J . F. Benton: Individualism and Conformity in Medieval Western Europe [L 1 3 5 ] ; M. Stevens: The Performing Self in Twelfth-Century Culture [L 584]; C. W. Bynum: Did the Twelfth Century Discover the Individual? [L 1 8 1 ] ; J . F. Benton: Consciousness of Self and Perceptions of Individuality [L 136]; B. Cazelles: Outrepasser les normes: L'invention de soi en France médiévale [L 187].
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ständigen konnte, daß mit Individualität in diesem Zusammenhang nichts anderes gemeint sein kann als »such terms as yourself (teipsum), >inner manheart< and >spiritWas willst du also wissen?< [...] A. >Gott und die Seele möchte ich erkennenNichts anderes?Überhaupt nichtsDe natura corporis et animae< von Wilhelm von St. Thierry; der >Dialogus de anima< von Aelred von Rievaulx; >De anima< von Isaac de Stella; >De unione corporis et spiritus< von Hugo von St. Victor; >De spiritu et anima< von Aicher von Clairvaux und andere. 49 Schriften dieser Art hatte es jahrhundertelang nicht gegeben; 50 In ihnen bezeugt sich das neue Interesse, das man im 12. Jahrhundert an der Unterscheidung der Seelenkräfte und der Beschreibung der Wahrnehmungs- und Erkenntnisprozesse nahm. Unbeschadet der bereits geleisteten Forschungsarbeit 51 fehlt es bis heute an einer umfassenden Würdigung 47
W i l h e l m von St. Thierry: D e natura et dignitate amoris 15 [L 108], S. 90; Übersetzung W . D i t t r i c h , H . U . von Balthasar [L 109], S. 55.
48
A u g u s t i n : Soliloquia 1,2,7 [L 24], Sp. 872.
49
V g l . K . Ruh: Geistliche Liebeslehren des X I I . Jahrhunderts [L 5 2 2 ] , S. 160.
50
M a n m u ß bis ins 9. Jahrhundert zurückgehen, zu A l c u i n s >De animae ratione« und Hrabans >De anima«, u m Vergleichbares zu finden. Im Vergleich zu diesen karolingischen Schriften treten die neuen Fragestellungen des 12. Jahrhunderts deutlich hervor. V g l . K . Werner: Der E n t w i c k l u n g s g a n g der mittelalterlichen Psychologie von A l c u i n bis A l b e r tus Magnus [L 6 1 9 ] , S. 6c¡ff.
51
V g l . K . Werner: Der E n t w i c k l u n g s g a n g der mittelalterlichen Psychologie von A l c u i n bis A l b e r t u s M a g n u s [L 6 1 9 ] ; Ders.: D i e augustinische Psychologie in ihrer mittelaterlichscholastischen Einkleidung und G e s t a l t u n g [L 620]; H . Siebeck: Geschichte der Psychologie, Teil ι , A b t . 2 [L 5 6 4 ] , S. 4 0 i f f . ; O . Lottin: Psychologie et morale aux X l l e et X l I I e siècles [L 4 2 5 ] ; P. Michaud-Quantin: La classification des puissances de l'âme au X l l e siècle [L 4 5 6 ] ; R . Javelet: Psychologie des auteurs spirituels d u X l l e siècle [L 356]; Ders.: Image et Ressemblance au douzième siècle [L 358], Bd. ι , S. 169fr.; E. R . Harvey: T h e Inward W i t s : Psychological Theory in the M i d d l e A g e s and the Renaissance [L 3 1 2 ] ; S. K e m p : C o g n i t i v e Psychology in the M i d d l e A g e s [L 382]; L. Spruit: Species intelligibilis. From Perception to K n o w l e d g e , Bd. 1 [L 5 7 9 ] .
20
dieses psychologischen Schrifttums im Hinblick auf die Erforschung des >inneren< Menschen. Die Titel >De natura corporis et animae< oder >De unione corporis et spiritus< lassen erkennen, daß das Interesse am >inneren< Menschen immer zugleich auch ein Interesse am >äußeren< Menschen einschloß. Das Funktionieren der inneren Sinne war nicht zu beschreiben und nicht zu verstehen, wenn man nicht vorher geklärt hatte, wie die äußeren Sinne arbeiten. So wird verständlich, daß im 1 2 . Jahrhundert auch die körperliche Erscheinung des Menschen, sein Aussehen, seine Gestalt, seine Kleidung, seine Gestik und seine sinnliche Wahrnehmung, weitaus mehr Interesse fand als in der vorausgegangenen Zeit. 5 2 Ungemein förderlich für das Verständnis körperlicher Vorgänge war die neue Medizin, die sich in dieser Zeit zu einer Wissenschaft vom Körper entwickelte. 53 Sogar physiognomische Besonderheiten, die später als Kennzeichen von Individualität angesehen wurden, fanden bereits in dieser Zeit Beachtung. 54 In der traditionellen Sicht der christlichen Anthropologie wurden Körper und Seele als Gegensätze verstanden. Im 1 2 . Jahrhundert gewann daneben die Einsicht an Gewicht, daß der Körper auch als Spiegel der Seele aufgefaßt werden kann. Da die Seele unsichtbar ist, konnte man durch die Betrachtung des Körpers Einsichten über die Vorgänge im Innern gewinnen. Körperbewegungen und Gebärden wurden als Ausdruck innerer Befindlichkeiten gedeutet. 55 Vor allem das Gesicht war als »Spiegel« der 52
Zur >Geschichte< des Körpers im Mittelalter vgl. M. Feher (Ed.): Fragments for a History of the Human Body [L 254]; J . Le Goff: Phantasie und Realität des Mittelalters [L 419], S. I 4 i f f . ; B. Krause: Hermeneutische Aspekte der Körpererfahrung im Mittelalter [L 402]; Ders.: Lîp, mîn lîp und ich. Zur conditio corporea mittelalterlicher Subjektivität [L 403]; Ders. (Hg.): Fremdkörper — Fremde Körper — Körperfremde. Kultur- und literaturgeschichtliche Studien zum Körperthema [L 404]; K . Schreiner, N . Schnitzler (Hgg.): Gepeinigt, begehrt, vergessen. Symbolik und Sozialbezug des Körpers im Spätmittelalter und der frühen Neuzeit [L 547]; T. Boiadjiev: Der menschliche Körper und seine Lebenskräfte in der Ideenwelt des Mittelalters [L 157]; S. Kay, M. Rubin (Eds.): Framing Medieval Bodies [L 375]; P. Michel (Hg.): Symbolik des menschlichen Leibes [L 457]; C. W. Bynum: Why All the Fuss about the Body? A Medievalist's Perspective [L 1 8 2 ] ; T. Laqueur: Auf den Leib geschrieben [ L 4 1 3 ] ; P. Biller, A . J . Minnis (Eds.): Medieval Theology and the Natural Body [L 146].
53
Vgl. D. Jacquart, C. Thomasset: Sexualité et savoir médical au moyen âge [L 347]; N . G . Sirasi: Medieval and Early Renaissance Medicine. An Introduction to Knowledge and Practice [L 567]; M. R . McVaugh, N . G . Sirasi (Eds.): Renaissance Medical Learning. Evolution of a Tradition [L 443]; D. Jacquart: La sience médicale occidentale entre deux renaissances ( X I I e - X V e siècle) [L 348]. Vgl. D. Kartschoke: Der ain was grâ, der ander was chai. Über das Erkennen und Wiedererkennen physiognomischer Individualität im Mittelalter [L 372]. Kartschoke hat auch die Diskussion über die Anfänge des Porträts im Hochmittelalter kritisch gesichtet (S. 2ff.). Zur »Korrespondenz von Innen und Außen« im Erscheinungsbild der Menschen vgl. I.
54
55
21
Seele ein wichtiges Beobachtungsfeld. Nach Hugo von St. Victor war es sogar möglich, durch die Disziplinierung der Körperbewegungen die harmonische Ordnung der inneren Kräfte zu fördern. »Wie nämlich aus der Unbeständigkeit des Geistes die ungeordnete Bewegung des Körpers entsteht, so wird der Geist auch an die Beständigkeit gebunden, wenn der Körper durch Beherrschung in Zaum gehalten wird« (Sicut enirn de inconstantia mentis nascitur inordinata motio corporis, ita quoque dum corpus per disciplinant stringitur, animus ad constantiam solidatur).5Ars versificatoria< von Matthäus von Vendôme und die >Poetria nova< von Galfred de Vino Salvo, die beide den Begriff des > inneren < Menschen fur die Dichtungslehre fruchtbar gemacht haben. Matthäus von Vendôme hat drei Qualitätsmerkmale des guten Gedichts genannt: »die Schönheit des inneren Sinns« {venustas interioris sententie), »den äußeren Schmuck der Wörter« (superficialis verborum ornatus) und »die Beschaffenheit der Rede« (qualitas dicendi).61 Diese drei Merkmale stehen nicht nur untereinander in enger Verbindung, sie bezeichnen auch die drei Schritte, die beim Dichten aufeinander folgen sollen: »Bei der Ausübung der Dichtkunst geht die Ausformung des Sinnes voran; es folgt die Rede als Vermittlerin des Verstandes; darauf die Gestaltung der Form der Behandlung. Das erste ist das Ausdenken des Vorhabens; es folgt das Ersinnen der Wörter; die Beschaffenheit oder Einteilung des Werks wird mit dem Stoff verbunden« (in poetice facultatis exercitio precedit ymaginatio sensus, sequitur sermo interpres intellectus, deinde ordinatio in qualitate tractatus: prior est sententie conceptio, sequitur verborum excogitatio, subiungitur qualitas, scilicet materie sive tractatus dispostilo).62 Vom inneren < Menschen spricht Matthäus von Vendôme im Zusammenhang mit der Personenbeschreibung. Er unterscheidet »eine äußerliche und eine innerliche« Darstellungsweise (una superficialis, alia intrinseca). »Die innerliche liegt vor, wenn die Eigenschaften des inneren Menschen ausgedrückt werden« (intrinseca, quando interioris hominis proprietates [...] exprimuntur).60 In der >Poetria nova< von Galfred de Vino Salvo wird der dichterische Schaffensprozeß so beschrieben: »Wenn ein Mann ein Haus zu bauen hat, eilt seine ungestüme Hand nicht zur Tat. Das Werk wird von der inneren
W . H a u g : L i t e r a t u r t h e o r i e i m d e u t s c h e n M i t t e l a l t e r [L 3 1 9 ] , S. 2 2 8 f f . ; G . G r ü n k o r n : D i e F i k t i o n a l i t ä t des h ö f i s c h e n R o m a n s u m 1 2 0 0 [L 2 9 6 ] , S. 49Œ Sl
M a t t h ä u s v o n V e n d ô m e : A r s v e r s i f i c a t o r i a I I I , 5 0 [L 8 1 ] , S. 1 9 0 ; d i e s e l b e F o r m u l i e r u n g 11,9
u n
d I I , i o , S. 1 3 7 . » D i e S c h ö n h e i t des i n n e r e n S i n n s « w i r d an anderer S t e l l e »der
S c h m u c k des i n n e r e n Sinns« (ornatus interioris sententie 1 1 1 , 4 9 , S. 1 8 9 ) o d e r » d i e innere H o n i g w a b e « (interior favus 11,9, S.
1
3 7 ) genannt; vgl. U . K r e w i t t : Metapher und tropische
R e d e i n der A u f f a s s u n g des M i t t e l a l t e r s [L 4 0 5 ] , S. 2 8 3 f f ; C . H u b e r :
Wort-Ding-Ent-
s p r e c h u n g e n . Z u r S p r a c h - u n d S t i l t h e o r i e G o t t f r i e d s v o n S t r a ß b u r g [L 3 3 5 ] , S. 2 8 7 ^ ; E. N e i l m a n n : W o l f r a m u n d K y o t als v i n d a e r e w i l d e r m a e r e [L 4 7 6 ] , S. 37Í.; S. M ü l l e r K l e i m a n n : G o t t f r i e d s U r t e i l ü b e r d e n z e i t g e n ö s s i s c h e n d e u t s c h e n R o m a n [L 4 7 2 ] , S. 2 i f . 62
Ars
v e r s i f i c a t o r i a 111,52
[L81],
S. 1 9 1 ;
vgl.
C.
Huber:
Wort-Ding-Entsprechungen
[L 3 3 5 ] , S. 2 8 8 f . E. N e i l m a n n : W o l f r a m u n d K y o t als v i n d a e r e w i l d e r m a e r e
[L476],
S. 3 8 . 63
A r s v e r s i f i c a t o r i a 1 , 7 4 [L 8 1 ] , S. 9 5 ; v g l . S. M ü l l e r - K l e i m a n n : G o t t f r i e d s U r t e i l ü b e r d e n z e i t g e n ö s s i s c h e n d e u t s c h e n R o m a n [L 4 7 2 ] , S. 1 9 , A n m . 5 7 .
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Richtschnur des Herzens geplant, und der innere Mensch schreibt die Reihenfolge in bestimmter Ordnung vor. Die Hand des Herzens entwirft das Ganze vor der Hand des Körpers; und sein Status ist zuerst archetypisch, dann erst sinnlich wahrnehmbar. Die Dichtung selbst möge in diesem Spiegel ersehen, welche Vorschrift den Dichtern zu geben ist. Nicht soll die Hand schnell zur Feder greifen, nicht soll die Zunge begierig sein nach dem Wort. Überlasse die Führung keines von beiden den Händen des Zufalls; sondern, damit das Werk besser gelingt, soll der unterscheidende Verstand, als ein Vorläufer der Tat, die Tätigkeit der Hand und der Zunge aufschieben und soll lange mit sich selbst über den Gegenstand beraten. Der innere Zirkel des Geistes soll den ganzen Umfang des Stoffs vorher umkreisen. Ein fester Plan soll im voraus festlegen, von wann an der Griffel seinen Lauf nimmt oder wo er Cadiz hinsetzt. Vereinige das ganze Werk weise im Schrein der Brust; es soll zuerst im Geist existieren, erst dann im Mund. Wenn der Plan in der Verschwiegenheit des Geistes den Gegenstand geordnet hat, kann die Poesie kommen und den Stoff in Worte kleiden« (Si quis habet fundare domum, non currit ad actum Impetuosa manus: intrinseca linea cordis Praemetitur opus, seriemque sub ordine certo Interior praescribit homo, totamque figurât Ante manus cordis quam corporis; et status ejus Est prius archetypus quam sensilis. Ipsa poesis Spectet in hoc speculo quae lex sit danda poetis. Non manus ad calamum praeceps, non lingua sit ardens Ad verbum: neutram manibus committe regendam Fortunae; sed mens discreta praeambula facti, Ut melius fortunet opus, suspendat earum Officium, tractetque diu de themate secum. Circinus interior mentis praecircinet omne Materiae spatium. Certus praelimitet ordo Unde praearripiat cursum stylus, at ubi Gades Figat. Opus totum prudens in pectoris arcem Contrahe, sitque prius in pectore quam sit in ore. Mentis in arcano cum rem digesserit ordo, Materiam verbis veniat vestire poesis).64 Der Begriff des >inneren< Menschen stammte nicht aus der rhetorischen Tradition, ebenso wenig wie die Unterscheidung von Außen und Innen. 65 Auch die neue volkssprachige Poetik arbeitete mit der Unterscheidung von Außen und Innen. 66 Wo die höfischen Dichter versucht haben, den 64
65 66
Galfred de Vino Salvo: Poetria nova 4 3 - 6 1 [L 4 1 ] , S. 16. Bei der Behandlung des Ornatus betont Galfred, daß die Rede »innen und außen« (intus et exterius 743) geschmückt sein müsse; vgl. C. Huber: Wort-Ding-Entsprechungen [L 335], S. 284fr.; E. Neilmann: Wolfram und Kyot als vindaere wilder maere [L 476], S. 33. Vgl. E. Nellmann: Wolfram und Kyot als vindaere wilder maere [L 476], S. 34. Zur Frage, welche Bedeutung dabei der Integumentum-Lehre aus der Schule von Chartres zukommt, vgl. H. Brinkmann: Verhüllung (integumentum) als literarische Darstellungsform im Mittelalter [L 165]; C. Huber: Höfischer Roman als Integumentum? Das Votum Thomasins von Zerklaere [L 337]; F. P. Knapp: Integumentum und Aventiure. Nochmals zur Literaturtheorie bei Bernardus (Silvestris?) und Thomasin von Zerklaere [L 389];
24
Anspruch ihrer Kunst reflektierend zu verdeutlichen, haben sie meistens mit Begriffspaaren gearbeitet, die einen mehr äußeren und einen mehr inneren Aspekt des dichterischen Werks unterscheiden. Das gilt fur die Begriffe »Stoff und Sinn« (Mattere et san 26) im Prolog zu Chrétiens >LancelotErec et EnideTristansehr schöne Verbindungmonastischen< und einer >höfischen< Liebe« »nicht aufrechterhalten« werden kann. Der Abschnitt über die Liebeskrankheit im >Viaticum< von Konstantin dem Afrikaner ist ediert und ins Englische übersetzt von M. F. Wack: Lovesickness in the Middle Ages. The Viaticum and Its Commentaries [L 604], S. i86ff. Zur Interpretation ebda, S. 3 i f f . Zur Liebeskrankheit außerdem D. Jacquart: La maladie et le remède d'amour dans quelques écrits médicaux du moyen âge [L 346]; R. Schnell: Causa amoris [L 542], S. 237ÍF.; B. D. Haage: Liebe als Krankheit in der medizinischen Fachliteratur der Antike und des Mittelalters [L 297]. Constantinus Africanus: Viaticum 1,20 [L 38], S. 186.
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poris corrumpitur 1,20,24 — 25). In dem Kommentar zum >ViaticumNotule super Viaticumneue Psychologie< des 1 2 . Jahrhunderts 27 zu Rate zieht. Die Kenntnisse, die man im 12. Jahrhundert über die menschliche Seele besaß, stammten in der Hauptsache von Augustin, durch den auch Teile der platonischen und der neuplatonischen Seelenlehre vermittelt wurden. Andererseits gab es eine Tradition der aristotelischen Philosophie, die zum Teil aus Boethius und Cassiodor bekannt war und die durch die neuen Übersetzungen aus dem Arabischen bereichert wurde. Von Aristoteles stammte die Einteilung des Seelenlebens in einen vegetativen, einen sensitiven und einen rationalen Bereich; und ebenso der Gedanke, daß jede Erkenntnis mit einer sinnlichen Wahrnehmung beginnt. Von Augustin stammte die Begriffs-Trias Gedächtnis {memoria), Verstand (intellectus), Wille (voluntas) sowie der platonische Gedanke, daß drei Kräfte der Seele zu unterscheiden seien: die vernünftige (rationabilitas), die begehrende (concupiscibilitas) und die verabscheuende Kraft (irascibilitas); das Begehren äußert sich in erster Linie als Freude und Hoffnung, der Abscheu als Schmerz und Furcht. 28 Augustin hatte gelehrt, daß die sinnliche Wahrnehmung der Menschen und die Tätigkeit des Geistes in einem Analogieverhältnis zueinander stehen. Das kommt in der begrifflichen Unterscheidung von äußeren und inneren Sinnen (sensus exteriores und sensus interiores) zum Ausdruck. 29 Neben den fünf körperlichen Sinnen wurden drei innere Sinne unterschieden: imaginatio, memoria und ratio oder cogitatio, später auch fünf. 3 0 27 28
29
30
Vgl. oben S. 2of. Eine gute Skizze der Unterschiede zwischen der platonischen und der aristotelischen Erkenntnistheorie findet man bei C. Baeumker: Witelo, ein Philosoph und Naturforscher des XIII. Jahrhunderts [L 130], S. 467fr. Vor Augustin scheint der Begriff der »inneren Sinne« nicht bezeugt zu sein; vgl. H. A. Wolfson: The Internal Senses in Latin, Arabic, and Hebrew Philosophie Texts [L 636], S. 7 1 , Anm. 1 2 . Thomas von Aquin nennt, im Anschluß an Avicenna, vier innere Sinne: den Gemeinsinn {sensus communis), das Vorstellungsvermögen (phantasia oder imaginatio), das Erinnerungsvermögen (memoria und reminiscentia) und das Unterscheidungsvermögen (vis cogitativa); vgl. J . A. Teilkamp: Sinne, Gegenstände und Sensibilia. Zur Wahrnehmungslehre des Thomas von Aquin [L 591], S. 225. Vgl. auch H. A. Wolfson: The Internal Senses in Latin, Arabic, and Hebrew Philosophie Texts [L 636], S. 120. Zur Dreizahl der inneren Sinne ebda, S. 7 if.; M. W. Bundy: The Theory of Imagination in Classical and Mediaeval Thought [L 176], S. 179.
35
Auf dieser Grundlage wurde im 1 2 . Jahrhundert die Erkenntnis als ein Prozeß gedacht, der über verschiedene Stufen läuft: er beginnt mit der sinnlichen Wahrnehmung und reicht bis zur höchsten Stufe der Erkenntnis Gottes. Isaac de Stella hat in seiner Schrift >De anima< fünf Stufen genannt: sinnliche Wahrnehmung (sensus corporeus), Vorstellungskraft (imaginatio), Verstand {ratio), höhere Einsicht (intellectus), höchste Einsicht (intelligentia).31
In >De spiritu et anima< von Aicher von Clairvaux sind es sechs
Stufen: Sinneswahrnehmung {sensus), Vorstellungskraft {imaginatio), Gedächtnis {memoria), Verstand {ratio), höhere Einsicht {intellectus), höchste Einsicht {intelligentia)?* Besondere Aufmerksamkeit galt dem Punkt, wo Körper und Seele sich berühren, wo die Wahrnehmung der körperlichen Sinne in die Seele eindringt und von den inneren Sinnen übernommen und verarbeitet wird. Das war in erster Linie die Aufgabe der imaginatio, die die Eindrücke, die die äußeren Sinne liefern, in Bilder umsetzt. 33 Die mittelalterliche Lehre von der imaginatio stammte im wesentlichen von Augustin, der diesen Begriff mit dem des >inneren Auges< verbunden hatte. 34 Bei Isaac de Stella heißt es: »Die imaginatio ist diejenige Kraft der Seele, welche die Formen der körperlichen Dinge erfaßt, auch der abwesenden« {Imaginatio autem ea vis animae est, quae rerum corporearum percipit formas, sed absentes).35 Johannes von Salisbury betonte die kreative Kraft der imaginatio, »die nicht nur früher wahrgenommene Bilder zurückruft, sondern dazu fortschreitet, aus eigener Kraft Bilder nach diesen zu formen« {imaginatio, quae non modo preceptorum recordatur, sed ad eorum exempla conformanda sui uiuacitate progreditur).36 Was das Auge gesehen hat, wird von der imaginatio zu einem Bild geformt, und dieses Bild wird an die memoria weitergegeben. 37 31
Vgl. K. Werner: Der Entwicklungsgang der mittelalterlichen Psychologie von Alcuin bis Albertus Magnus [L 619], S. 95. 32 Vgl. W. Gewehr: Hartmanns Klage-Büchlein im Lichte der Frühscholastik [L 274], S. 47; Ders.: Zu den Begriffen anima und cor im frühmittelalterlichen Denken [L 275], S. 47. 33 Vgl. M. W. Bundy: The Theory of Imagination in Classical and Mediaeval Thought [L 176]; A. J . Minnis: Langland's Ymaginatif and Late-Medieval Theories of Imagination [L 458]; H.-J. Spitz: widerbildunge — imaginatio. Zu einem Begriff der Erkenntnislehre im St. Trudperter Hohen Lied und bei Hugo von St. Viktor [L 577], S. 2Ó9ff. Zur poetologischen Bedeutung der imaginatio vgl. D. Kelly: Medieval Imagination. Rhetoric and the Poetry of Courtly Love [L 380]. 34 Vgl. M. W. Bundy: The Theory of Imagination in Classical and Mediaeval Thought [L 176], S. 165. Augustin hat auch den Begriff imaginatio durchgesetzt; die antike Psychologie benutzte dafür den Begriffphantana\ vgl. M. W. Bundy, S. 158; H. A. Wolfson: The Internal Senses in Latin, Arabic, and Hebrew Philosophie Texts [L 636], S. 71. 35 Isaac de Stella: De anima [L 75], Sp. 1881; vgl. W. Gewehr: Hartmanns Klage-Büchlein im Lichte der Frühscholastik [L 274], S. 142. 36 Johannes von Salisbury: Metalogicon IV,9 [L 78], S. 148. 37 Zur psychischen Funktion der memoria vgl. G. R. Evans: Two Aspects of Memoria in
36
Die memoria vergleicht das Bild mit den anderen Bildern, die sie bewahrt, und identifiziert das Bild mit einem ihr schon bekannten. So begreift der Mensch, wen oder was er gesehen hat. Dieses Begreifen setzt eine Tätigkeit der ratio in Gang: ein Nachdenken über das Gesehene. Nach diesem Modell kann man Parzivals Wahrnehmung in der Blutstropfenszene verstehen. Seine Augen spiegeln den Eindruck der Blutstropfen in die Seele. Dort formt die imaginatio daraus das Bild einer abwesenden Person, die die memoria als die Königin von Belrapeire erkennt. Diese Erkenntnis setzt die ratio in Gang, regt einen Denkprozeß an {dô dâhter
...
282,26).
Das innere Licht Damit ist jedoch der Erkenntnisprozeß, um den es in dieser Szene geht, nur erst zum kleineren Teil beschrieben. Viel bedeutungsvoller scheint ein anderer Aspekt zu sein, der durch die Begriffe Licht, Schönheit und Liebe umschrieben ist. 3 8 Licht und Farbe spielen eine große Rolle in der Blutstropfenszene. Die Szene spielt auf einer »Lichtung« im Wald (ouch begunde liuhten sich der wait 2 8 2 , 9 ) 3 9 und wird von oben von der Sonne angestrahlt: »das Tageslicht leuchtete um so heller, je höher die Sonne stieg« {der tac ie lane hoher schein 282,8). Im Glitzern von Sonne und Schnee erblickt Parzival das »reine Farbbild« {dise varwe ciar 2 8 2 , 2 7 )
aus
Rot und Weiß, in dem er
Condwiramurs in ihrer Schönheit erkennt. 40 Der Sehstrahl aus seinen A u gen 4 1 trifft auf das leuchtende Farbbild und spiegelt es in sein Herz zu-
38
39
40
41
Eleventh and Twelfth Century Writings [L 2 5 1 ] ; M. J . Carruthers: The Book of Memory. A Study of Memory in Medieval Culture [L 185], S. 4Óff. Zur Bedeutung dieser Begriffe für die mittelalterliche Erkenntnistheorie vgl. N. Klassen: Chaucer on Love, Knowledge and Sight [L 385], der im ersten Teil seines Buches einen interessanten Überblick über die nach-augustinischen Anschauungen des Sehens und Schauens gibt. Das nhd. Verbum »lichten« kommt erst im 18. Jahrhundert in Gebrauch, vgl. D W B , Bd. 6, Sp. 88of. Im Mhd. werden (seltener) liebten (Lexer, Bd. 1 , Sp. 1908) und (häufiger) liuhten für »hell werden« verwandt. Wolfram scheint nur liuhten gebraucht zu haben. Auch bei Chrétien spielt das Licht- und Farbenspiel in dieser Szene eine wichtige Rolle. Nicht verwendet hat Wolfram die Bemerkung seiner französischen Vorlage, daß die Gänseschar »vom Schnee geblendet« wurde (Que la noif avait esbleuies 4 1 7 3 ) ; vgl. P. Graf: Strahlende Schönheit als Leitlinie höfischer Vollendung. Eine Untersuchung zur Gestalt und Funktion des Schönen in den Romanen Chrétiens de Troyes [L 2 8 1 ] , S. I55f. Zur Theorie des Sehens vgl. D. C. Lindberg: Auge und Licht im Mittelalter. Die Entwicklung der Optik von Alkindi bis Kepler [L 422]; G. Simon: Der Blick, das Sein und die Erscheinung in der antiken Optik [L 566]. Von einem Sehstrahl wird in der Blutstropfenszene nicht ausdrücklich gesprochen. Diese Auffassung scheint jedoch vorausgesetzt zu
37
rück.42 Mit seinen äußeren Augen sieht Parzival die Blutstropfen im Schnee. Sein inneres Auge erblickt darin das schöne Antlitz von Condwiramurs. Wie für die griechischen Philosophen war auch für Augustin das Auge das vornehmste Sinnesorgan, weil seine Tätigkeit dem geistigen Erkennen am nächsten kam. 43 Augustin hat die Analogie zwischen dem äußeren Menschen, der durch die sinnliche Wahrnehmung gekennzeichnet ist, und dem inneren Menschen, der Einsichtsfähigkeit besitzt, am Verhältnis des körperlichen Sehens zum inneren Schauen erläutert.44 Beim äußeren SehAkt kommen drei Dinge zusammen: »der Gegenstand, den wir sehen« (res quam uidemus), »das Schauen« selbst (uisio) und drittens »die Aufmerksamkeit der Seele« (animi intentio), die auf den geschauten Gegenstand gerich-
42
43
44
sein, wenn der Erzähler mit auffallender Genauigkeit berichtet, wie Gawan den Blick Parzivals von den Augen bis zu den Blutstropfen verfolgt: »Er beobachtete den Blick des Waleisen, um zu sehen, wohin er die Augen gewendet hatte« (er mante des Wâleises sehen, war stiienden im diu ougen sîn 301,26—27). Zum Verhältnis von Herz und Auge vgl. H. Kolb: Der Begriff der Minne und das Entstehen der höfischen Lyrik [L 396], S. i 8 f f ; X . von Ertzdorff: Die Dame im Herzen und Das Herz bei der Dame. Zur Verwendung des Begriffs >Herz< in der höfischen Liebeslyrik des 1 1 . und 1 2 . Jahrhunderts [L 248]; R. H. Cline: Heart and Eyes [L 2 0 1 ] ; O. Gewehr: Der Topos >Augen des HerzensEpistola ad fratres de Monte Dei< (die mit über zweihundert Textzeugen zu »den verbreitetsten Werken des 1 2 . Jahrhunderts« gehört) 53 zum Ausdruck gebracht: »Daher wollen wir uns anstrengen, soviel wir können, daß wir sehen und durch das Sehen verstehen und durch das Verstehen lieben« (Ideo nitamur, quantum possumus ut videamus, videndo intelligamus, et intelligendo amemus).54 In der Nachfolge Augustins haben die Gelehrten des 1 2 . Jahrhunderts das Wahrnehmungs- und Erkenntnisvermögen des Menschen hauptsächlich am Gesichtssinn erläutert. Grundlegend ist, wie bei Augustin, die Unterscheidung des äußeren und des inneren Sehens sowie die Vorstellung,
52
Augustin: De trinitate IX,4,4 [L 20], Bd. 1 , S. 297; Übersetzung [L 2 1 ] , Bd. 2, S. 48. Die Erkennntnis der Wahrheit durch das innere Auge »haben wir gleichsam als ein Wort bei uns« (tamquam uerbum apud nos habemus, ebda I X , 7 , 1 2 [L 20], Bd. 1 , S. 304; Übersetzung [ L 2 1 ] , Bd. 2, S. 57); daher kann man sagen: »Ein Wort ist [ . . . ] eine mit Liebe verbundene Kenntnis. Wenn sich daher der Geist kennt und liebt, dann eint sich mit ihm in Liebe sein Wort. Und weil er seine Kenntnis liebt und seine Liebe kennt, ist sowohl das Wort in der Liebe wie auch die Liebe im Worte und beides im Liebenden und Sprechenden« (Verbum est [...] cum amore notitia. Cum itaque se mens nouit et amat, iungitur ei amore uerbum eius. Et quoniam amat notitiam et nouit amorem, et uerbum in amore est et amor in uerbo et utrumque in amante atque dicente, ebda I X , 1 0 , 1 5 [L 20], Bd. 1 , S. 307; Übersetzung [L 2 1 ] , Bd. 2, S. 61). Außerdem >De civitate Dei< XI,26; vgl. R. Berlinger: Augustins dialogische Metaphysik [L 138], S. I48f.
53
K . Ruh: Wilhelm von St-Thierry [L 525], Sp. 1 1 3 8 ; vgl. Ders.: Geschichte der abendländischen Mystik [L 524], Bd. 1 , S. 3 i o f f . ; V. Honemann: Die Epistola ad fratres de Monte Dei des Wilhelm von St. Thierry [L 334], S. η((. Wilhelm von St. Thierry: Epistola ad fratres de Monte Dei 82 [L 1 1 0 ] , S. 1 2 8 ; vgl. N. Klassen: Chaucer on Love, Knowledge and Sight [L 385], S. 20.
54
40
daß das innere A u g e von einem inneren Licht erleuchtet w i r d . 5 5
»Er
forscht nun, was für ein Licht das sei, dieses unkörperliche [ . . . ] , und findet, daß dieses L i c h t die göttliche W e i s h e i t selbst sei, denn sie ist das wahre Licht. W i e nämlich das äußere Licht die A u g e n des Leibes erleuchtet, so erleuchtet jenes immerfort die A u g e n der Seele« (Quaerit ergo quae sit lux ista incorporea [...],
invertit quia lux ista est ipsa Dei sapientia,
ipsa est lux vera. Sicut enim lux ista exterior illuminât absque dubio illuminare
consuevit oculos cordium).'
6
quia
oculos corporum, ita
illa
Bei H u g o von St. V i c t o r
heißt es: » D u hast aber ein anderes A u g e innen, das viel klarer ist als jenes [das äußere A u g e ] , und das das Vergangene, G e g e n w ä r t i g e und Z u k ü n f t i g e zugleich überblickt, das das Licht seiner Sehschärfe über alles ausbreitet, das das Verborgene durchdringt, das Feine erforscht, fremdes Licht z u m Sehen nicht braucht, sondern m i t einem, d e m eigenen Licht schaut« (Habes alium oculum intus multo clariorem isto, qui praeterita, praesentia et futura respicit, qui suae visionis lumen et aciem per cuncta diffundit,
simul
qui occulta penetrai,
subtilia investigai, luce aliena ad videndum non indigens, sed sua ac propria luce prospiciens).57 Besonderes Interesse fand im 1 2 . J a h r h u n d e r t das Verhältnis von L i c h t u n d Liebe, von sehen und lieben. » W o nämlich Liebe ist, da ist auch
55
56
57
»Jeder, der erkennt, wird von einem gewissen inneren Licht erleuchtet« (Omnis qui intelligit quadam luce interiore, illustratur, Petrus Lombardus: In Epistolam ad Ephesios, Kap. 4 [L 84], Sp. 203). Reiches Quellenmaterial zum inneren Auge bei G. Schleusener-Eichholz: Das Auge im Mittelalter [L 536], Bd. 2, S. 953ÍF. Richard von St. Victor: Benjamin minor, Kap. 22 [L 89], Sp. 15; Übersetzung von P. Wolff [L 90], S. 154; vgl. J . Ebner: Die Erkenntnislehre Richards von St. Victor [L 232], S. 49. Hugo von St. Victor: De vanitate mundi, Buch I, Vorrede [L 69], Sp. 704; Übersetzung von C. Meier: Malerei des Unsichtbaren. Über den Zusammenhang von Erkenntnistheorie und Bildstruktur im Mittelalter [L 447], S. 40; vgl. ebda S. 39ff. zur Erkenntnistheorie im 12. Jahrhundert. Nach Hugo von St. Victor hat der Mensch drei Augen: das Auge des Fleisches (oculus carnts), das Auge des Verstandes (oculus rationis) und das Auge der Betrachtung (oculus contemplationis), vgl. De sacramentis [L 67], Sp. 329f. Das erste Auge dient der Sinneswahrnehmung, das zweite der rationalen Erkenntnis, das dritte (das seit dem Sündenfall erloschen ist) der Gottesschau; ähnlich in der Schrift >De unione spiritus et corporis [L 68], Sp. 292; vgl. R. Bindel: Die Erkenntnistheorie Hugos von St. Viktor [L 147], S. 13ff.; K. Werner: Der Entwicklungsgang der mittelalterlichen Psychologie von Alcuin bis Albertus Magnus [L 619], S. iooff.; H. Ostler: Die Psychologie des Hugo von St. Viktor [L487], S. 12 iff.; H. Köster: Die Heilslehre des Hugo von Sankt-Viktor [L 399], S. 34ff.; J . P. Kleinz: The Theory of Knowledge of Hugh of Saint Victor [L 386], S. i8f.; R. Baron: Science et sagesse chez Hugues de Saint-Victor [L 1 3 1 ] , S. I3ff.; H. R. Schiette: Die Nichtigkeit der Welt. Der philosophische Horizont des Hugo von St. Viktor [L 535], S. 9off.; R. Javelet: Image et ressemblance au douzième siècle [L 358], Bd. ι , S. 3Ó8ff.; G. Schleusener-Eichholz: Das Auge im Mittelalter [L 536], Bd. 2, S. 9Óoff.; Κ. Ruh: Geschichte der abendländischen Mystik [L 524], Bd. 1, S. i6-jff.
41
Glanz« (Ubi enim Charitas est, claritas est).58 »Die Liebe ist ein Auge, und lieben heißt sehen« (amor oculus est, et amare videre est).59 Bei Wilhelm von St. Thierry heißt es: »Die Caritas liebt, weil sie schaut. Sie selbst ist ja das Auge, mit dem Gott geschaut wird« (caritas quia videt, amat. Ipsa enim est oculus, quo videtur Deus).60 So verstanden ist Liebe ein Erkenntnisorgan; und ihre Erkenntnisfähigkeit reicht weiter und tiefer als die des Verstandes. »Die Liebe übertrifft das Wissen und ist größer als die Einsicht. Weiter nämlich wird geliebt als eingesehen; und die Liebe tritt herein und nähert sich, wo das Wissen draußen bleibt« (dilectio supereminet scientiae, et major est intelligentia. Plus enim diligitur, quam intelligitur, et intrat dilectio, et appropinquai, ubi scientia foris est).61 Nach Wilhelm von St. Thierry schaut der Mensch Gott mit zwei Augen: dem Auge der Liebe (amor) und dem Auge der Vernunft (ratio).62 »Es bedarf des Zusammenwirkens, die beiden Augen müssen ein einziges werden. Das geschieht durch gegenseitiges >HelfenSpeculum fideic »Mächtiger und würdiger und reiner als der Verstand ist die Liebe« (Maior tarnen et dignior sensus eius [der intellectus als sensus animae], et purior intellectus, amor est, zitiert nach J . M. Déchanet: Amor ipse intellectus est [L 2 1 3 ] , S. 357, Anm. 25, der hier einer Handschrift aus Charleville folgt). Wilhelm von St. Thierry: De natura et dignitate amoris, Kap. 25 [L 108], S. 100; vgl. K . Ruh: Die Augen der Liebe bei Wilhelm von St. Thierry [L 523]; Ders.: Geschichte der abendländischen Mystik [L 524], Bd. i , S. 29off. K . Ruh: Geschichte der abendländischen Mystik [L 524], Bd. 1 , S. 2 9 1 . Vgl. oben S. 29fr.
42
Diese Vereinigung von Liebe und Verstand ist bei Wilhelm von St. Thierry in dem Satz ausgedrückt: »Die Erkenntnis [...] und die Liebe sind dasselbe [...]· Die Liebe selber ist ein geistiges Erkennen« (cognitio [...] et amor idem est; [...]
amor ipse intellectus est),65 der an eine Formulierung Gregors des
Großen anknüpft. 66 Vereinfachend kann man sagen, daß die Theologen des 12. Jahrhunderts zwei Wege der Erkenntnis kannten: einen, der (an Aristoteles anknüpfend) von der sinnlichen Wahrnehmung seinen Ausgang nimmt und mit Hilfe von imaginatio und memoria zum rationalen und intelligiblen Verstehen führt; und einen anderen, der sich im wesentlichen von Augustin herleitet, der auf dem Gedanken beruht, daß jede Erkenntnis eine Erleuchtung ist und eines inneren Lichts bedarf, das letztlich in Gott seinen Ursprung hat. 67 Beim ersten Verfahren beruht die Erkenntnis auf Abstraktionsvermögen und der Fähigkeit zu diskursivem Denken (ratiocinari); beim zweiten Verfahren kann die Erkenntnis unmittelbar und unreflektiert durch Liebe und Schau gewonnen werden. Zwischen diesen beiden Auffassungen ist offenbar kein Widerspruch gesehen worden. Bei Hugo von St. Victor zum Beispiel finden sich die Hauptpunkte beider Theorien. 68 Wenn
65
Wilhelm von St. Thierry: Expositio altera super Cantica canticorum [L i n ] , Dieselbe Formulierung (amor ipse intellectus est) hat Wilhelm von St. Thierry >Epistola ad fratres de Monte Deiunvernünftige< liebende Betrachtung des schönen Farbbilds im Schnee ihn zu einer Einsicht von großer Bedeutung gelangen läßt. Es war ein zentraler Gedanke der platonischen Ästhetik, daß der Anblick der Schönheit des geliebten Menschen zugleich ein Akt der Selbsterkenntnis ist, da »die Ausströmung der Schönheit wieder in den Schönen zurück«geht, so daß er »wie in einem Spiegel in dem Liebenden sich selbst beschaut«.79
78 79
keit, da ich hier fand, was dir gleich ist. Gepriesen sei die Schöpferhand Gottes und alle seine Kreatur!Augen des HerzensConte du Graal< heißt es nur, daß das Rot und Weiß zusammen der frischen Farbe »im Gesicht« (en la face 4 2 0 1 ) seiner Freundin gleichen. Das Schönheits-Dreieck aus roten Punkten auf den Wangen und auf dem Kinn ist aus zahlreichen Abbildungen bekannt; in der Literatur scheint es seltener vorzukommen, vgl. A. Köhn: Das weibliche Schönheitsideal in der ritterlichen Dichtung [L 393], S. 98f. Daß Schönheit aus Licht und Farbe und zugleich aus Maß und Zahl besteht, hatte Augustin gelehrt; vgl. E. Chapman: St. Augustine's Philosophy of Beauty [L 189]; J . Tscholl: Gott und das Schöne beim Hl. Augustinus [L 596]. Eine gute Zusammenfassung der augustinischen Schönheitslehre bietet E. Hellgardt: Zum Problem symbolbestimmter und formalästhetischer Zahlenkomposition in mittelalterlicher Literatur [L 323], S. 2 1 3 f r .
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Daß es in der Blutstropfenszene um Selbsterkenntnis geht, wird am Ende der Szene explizit angesprochen,80 wenn Parzival die Frage nach der eigenen Identität stellt: bin ichz? (302,11). Nachdem Gawan seinen Mantel über die Blutstropfen gedeckt hat und Parzival zum Bewußtsein der Wirklichkeit zurückkehrt, läßt ihn der plötzliche Verlust dessen, was ihm höchstes Glück war — die Gegenwart der geliebten Frau — an seiner Identität zweifeln. »Bin ich es, der dich von Clamide befreit hat?« (bin ichz der dich von Clàmide löste? 302, 1 1 - 1 2 ) . Ja, er ist es. Aber er weiß nicht, daß er in der Liebesversunkenheit vor den Blutstropfen etwas viel Wichtigeres über sich erkannt hat. Auch in seiner Gedankenrede richtet Parzival den inneren Blick auf sich und begreift sich als einer, dem die Gnade Gottes zuteil geworden ist: »Gott will mich reich machen an Seligkeit« (mich wil got saelden rîchen 282,30). »Unter allem, was erstrebenswert ist, ist das höchste die Weisheit [...]. Die Weisheit erleuchtet den Menschen, so daß er sich selbst erkennen kann« (Omnium expetendorum prima est sapientia [...]. Sapientia illuminât hominem ut seipsum agnoscat). Mit diesen Worten beginnt das >Didascalicon< von Hugo von St. Victor. 81 Ähnlich hat sich Richard von St. Victor im >Benjamin minor< geäußert: »Der Geist, der zur Höhe des Wissens strebt emporzusteigen, dessen erste und grundlegende Aufgabe muß es sein, sich selbst zu erkennen« (Animus qui ad sdentine altitudinem nititur ascendere, primum et principale sit ei Studium seipsum cognoscere).82 Es ist ein Aufstieg auf einen Berg, der alle Berge des menschlichen Wissens überragt; und »der Weg dahin ist steil, der Weg ist verborgen und vielen unbekannt« (Via ardua, via secreta et multis incognita).83 »Besteige den Berg, lerne dich selbst kennen« {Ascende in montem istum, disce cognoscere teipsum).84 Augustin hatte gelehrt, daß die Selbsterkenntnis der erste Schritt zur Gotteserkenntnis ist. 85 Die Gelehrten des 12. Jahrhunderts sind ihm gefolgt. »Darum steige der Mensch empor, er steige auf diesen Berg, wenn er erfassen, wenn er begreifen will, was über menschliches Sinnen geht. Er steige durch sich über sich selbst empor. Durch Selbsterkenntnis zur 80 81
82
83 84 85
Der französische Text bietet nichts Entsprechendes. Hugo von St. Victor: Didascalicon 1,1 [L 7 1 ] , S. n o f . Zur Selbsterkenntnis im 1 2 . Jahrhundert vgl. die oben S. 1 7 , Anm. 35 genannte Literatur. Richard von St. Victor: Benjamin minor, Kap. 75 [L 89], Sp. 54; Übersetzung P. Wolff [L 90], S. 179. Ebda, Kap. 77 [L 89], Sp. 55; Übersetzung [L 90], S. 182. Ebda, Kap. 78 [L 89], Sp. 56; Übersetzung [L 90], S. 182. Vgl. G . Verbeke: Connaissance de soi et connaissance de Dieu chez saint Augustin [L 6 0 1 ] ; außerdem die oben S. 38, Anm. 44 genannte Literatur.
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Erkenntnis Gottes« (Ascendat ergo homo ad cor altum ascendat in montem istum, si vult illa capere, si vult illa cognoscere, quae sunt supra sensum bumanum. Ascendat per semetipsum supra semetipsum. Per cognitionem sui, ad cognitionem Dei).86 »Zu Gott aufsteigen, das heißt eintreten in sich selbst [...]. Wer also, wie ich sagen möchte, sich im Innern betretend und inwendig durchdringend überschreitet, der steigt in Wahrheit zu Gott auf« (Ascendere ergo ad Deum hoc est intrare ad semetipsum. [...].
Qui ergo seipsum, ut ita dicam,
interius intrans et intrinsecus penetrans transcendit, ille veraciter ad Deum ascendit).87 Der Zusammenhang von Selbsterkenntnis und Gotteserkenntnis wird auch in der Blutstropfenszene angesprochen. Als Parzival in der Schönheit des Farbbilds im Schnee die Schöpferherrlichkeit Gottes erkannt hat, lenkt er den Blick auf sich selbst zurück: »Gott will mich reich machen an Seligkeit« (mich wil got saelden riehen 282,30). Im Erfahrungshorizont der Blutstropfenszene bezieht sich diese Aussage auf die Beglückung beim Anblick der geliebten Frau. Die Aussage, daß es Gottes Wille ist, Parzival reich an saelde zu machen, hat aber noch eine viel weitere Bedeutung, die vielleicht hier mit anklingt. Die wichtigste Einsicht über sich selbst, zu der Parzival in dieser Szene gelangt, steht nicht in seiner inneren Rede, sondern in einer Zwischenbemerkung, die der Erzähler, nach dem Kampf mit Keie, eingeschoben hat: »Seine Gedanken an den Gral und die Zeichen [im Schnee], die der Königin von Belrapeire glichen: beides war eine schwere Bürde« (sin pensieren umben grâl unt der küngtn gltchiu mal, iewederz was ein strengiu not 296,5 — 7). Diese Bemerkung läßt erkennnen, wie weit Parzivals Gedanken im Zustand der Liebesentrücktheit ausgreifen. Parzival bringt die beiden wichtigsten Stationen seines bisherigen Lebens in einen Zusammenhang. Auf den ersten Blick scheint es nur eine additive Zuordnung zu sein: das eine und das andere. Inwiefern da ein Zusammenhang besteht, bleibt ungesagt. Auch für die Zuhörer dürfte es schwer gewesen sein zu verstehen, was die Liebesheirat in Belrapeire und das Versagen in Munsalvaesche miteinander zu tun haben. Die Bedeutung der Erzählerbemerkung wird erst viel später klar, als Parzival vor Trevrizent das zentrale Problem seines Lebens benennt, mit wörtlichem Anklang an die Formulierung der Blutstropfenszene: mîn hdhstiu not ist umben grâl; da nach umb min selbes wîp (467,26— 27)·88 8(5
87 88
Richard von St. Victor: Benjamin minor, Kap. 83 [L 89], Sp. 59; Übersetzung [L 90], S. 188; vgl. J . Ebner: Die Erkenntnislehre Richards von St. Viktor [L 232], S. 66ff. Hugo von St. Victor: De vanitate mundi [L 69], Sp. 7 1 5 . Die Höherordnung der Gralsuche gegenüber der Sehnsucht nach der Ehefrau steht im
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Worin der Zusammenhang zwischen dem Gral und Condwiramurs besteht, wird in der Blutstropfenszene nicht gesagt. Condwiramurs steht für das Glück der Liebe; der Gral für Parzivals Versagen und seine Schande, die offenbar wird, wenn der Fluch Kundries ihn trifft. Tatsächlich liegt der Zusammenhang nicht in der Handlungslogik, sondern ist in der Selbsterkenntnis Parzivals begründet. Vor Trevrizent spricht Parzival selber aus, was den Gral und Condwiramurs verbindet: »beide sind das Ziel meiner sehnenden Liebe« {nach den beiden sent sich mtn gelust 467,3ο). 89 In der Sehnsucht Parzivals, die sich als eheliche Liebe und als Mitleid mit dem hilflosen Anfortas äußert, liegt der gemeinsame Ursprung des Doppelziels. In der Gedankenverlorenheit der Blutstropfenszene hat Parzival das Doppelziel seines Lebens erkannt: wîp und grâl sind die Leitbegriffe, die hier zum ersten Mal zusammen genannt sind und die von da an den Weg seiner Selbstverwirklichung bestimmen. 90 Die Blutstropfenszene ist die Stelle, an der Parzivals Leben eine neue Richtung nimmt. Man kann seinen
Gegensatz zu der Formulierung der Blutstropfenszene: iewederz was ein strengiu nôt: an im wac für der minnen lot ( 2 9 6 , 7 - 8 ) . Sollen w i r daraus schließen, daß die G e w i c h t u n g der beiden Bürden, die auf Parzival lasten, sich inzwischen von der ehelichen Liebe auf die Gralsuche verschoben hat? U n d sollen w i r darin ein Indiz fur eine veränderte Einstellung sehen? V g l . dazu J. F. Poag: W i p and Gral: Structure and Meaning in Wolfram's Parzival [L 500], S. 206. Ich würde den Unterschied nicht so stark betonen. D i e Formulierung des neunten Buchs ist ganz einleuchtend: solange die Gralsuche andauert, kann oder w i l l Parzival seine Frau nicht Wiedersehen; insofern hängt das eine v o m anderen ab. So hat es Parzival auch am Ende von B u c h X I V ausgedrückt: »Während ich u m den Gral kämpfe, wird m i c h immer ihre reine U m a r m u n g quälen, von der ich m i c h schon z u lange getrennt habe« (sol ich nach dem gràie ringen, sô muoz mich immer twingen ir kiuschlîcher umbevanc, von der ich sehtet, des ist ze lane 7 3 2 , 1 9 — 2 2 ) . D i e Formulierung der Blutstropfenszene läßt sich ebenfalls ohne Schwierigkeiten erklären: Gralsorge und Sehnsucht nach der Frau belasten beide den Helden. Im M o m e n t »stand Parzival ganz unter der G e w a l t der M i n n e « (an im wac für der minnen lot 296,8). Bereits i m 7. B u c h ist sich Parzival seines Doppelziels b e w u ß t . Er beauftragt dort die von ihm gefangenen Fürsten, nach Belrapeire zu reiten und Condwiramurs die Nachricht zu bringen, er, Parzival, »denke nun voll Schmerz an den Gral und auch an ihre Liebe; nach beiden strebe ich immer« (sî nu nach dem graie wê, unt doch wider nach ir minne. nach bêden i'emer sinne 3 8 9 , 1 0 — 12). Diese Formulierung zeigt, daß die beiden Sehnsuchtsziele fur Parzival gleichgeordnet sind. 89
Bereits am A n f a n g des neunten Buchs, i m Gespräch m i t Sigune, hat Parzival von diesem doppelten Sehnsuchtsziel gesprochen: »Ich sehne m i c h nach ihr, der Reinen, Sittsamen; nach ihrer Liebe leide ich viel und noch mehr nach d e m hohen Z i e l , w i e ich Munsalvaesche sehen könnte und den Gral« (ich sen mich nach ir kiuschen zuht, nach ir minne ich träre vil; und mir nach dem höhen zil, wie ich Munsalvaesche mege gesehn, und den grâl 4 4 1 , 1 o — 14). Z u diesen Stellen und zur B e d e u t u n g von senen i m >Parzival< v g l . I. Hahn: Parzivals Schönheit [L 303], S. 222Í.
90
V g l . C . Wesle: Z u Wolframs Parzival [L 6 2 1 ] , S. 37f.; J. F. Poag: W i p and Gral: Structure and Meaning in W o l f r a m s Parzival [L 500]; P. W a p n e w s k i : Wolframs Parzival [L 608], S. i 4 5 f f .
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weiteren Weg als einen Weg der Sehnsucht beschreiben, der zuletzt zur Erfüllung führt. »Hier auf Erden ist die Sehnsucht die eigentliche Form der Liebe«. 91 Es ist ein innerer Weg, der so dominierend ist, daß die äußere Handlung gleichsam entbehrlich wird: Parzival scheidet aus der Dichtung aus. Er taucht nur einmal im neunten Buch auf und verschwindet wieder bis zu seiner Berufung zum Gral.
Exkurs: Visions- und Traumtheorie Beim Anblick der Blutstropfen sieht Parzival etwas, was man nicht sehen kann: das Antlitz der geliebten Frau. Das ist eine visto, eine Schau. Das Besondere seines Erlebnisses wird klarer, wenn man es vor dem Hintergrund der mittelalterlichen Visionstheorie sieht. Im Mittelalter wurde zwischen Visions- und Traumtheorie kaum unterschieden: man konnte im Traum visiones haben und man konnte auch im Wachen träumen.92 Wichtige Aspekte der antiken Traumtheorie wurden dem Mittelalter durch den römischen Staatsmann und Gelehrten Macrobius (um 400) vermittelt, der in seinem Kommentar zu Ciceros >Somnium Scipionis< ^Commentarli in Somnium ScipionisGenesisDe Genesi ad litteram libri XIIgeistige< Bilder, die aber den körperlichen Dingen ähnlich sind. Die dritte Form ist die visio intellectualis: das ist die Fähigkeit, Abstraktes wahrzunehmen, was keine körperliche Form hat. Durch die visio intellectualis erkennt der Mensch die Liebe und die Gerechtigkeit; sie ist auch das Organ der Gotteserkenntnis. Parzivals Vision ist eine visio spiritalis, in der er »das Bild eines abwesenden Körpers« (imago absentis corporis)96 vor sich im Schnee sieht. Diese zweite Stufe der Erkenntnis »nimmt eine Art von mittlerem Platz zwischen der intelligiblen und der körperlichen Vision ein« (spiritalem uisionem inter intellectualem et corporalem tamquam medietatem quandam obtinere).97 Gerade auf diesen Aspekt scheint es Wolfram angekommen zu sein. Der wichtigste Erkenntnisgewinn scheint darin zu liegen, daß Parzival die geliebte Frau in seiner Vision zum Plimizoel holt, daß er sie im Bild aus Blut und Schnee präsent macht.98 Dadurch verbindet er seine eigene Situation (zwischen dem Versagen in Munsalvaesche und der Verfluchung durch Kundrie) mit Condwiramurs. Er stellt einen Zusammenhang zwischen dem Blut der verwundeten Gans und Condwiramurs' Schönheit und dem Blut an der Grallanze her, ein Zusammenhang, der nicht logisch-kausal begründet ist, der vielmehr in der Vision bildhaft erkennbar wird. Im Schnee am Plimizoel entdeckt Parzival den Zusammenhang von wîp und grâl. Augustine Visions- und Erkenntnistheorie fand im 12. Jahrhundert vor allem bei den Viktorinern ein breites Echo. Eine interessante Variante zu Augustins Dreiteilung hat Richard von St. Victor in seinem Kommentar
96 97
98
Augustin: De Genesi ad litteram XII,7 [L 16], S. 388. Ebda XII,24 [L 16], S. 4 1 7 ; vgl. S. F. Kruger: Dreaming in the Middle Ages [ I 407], S. 38. Diese Präsenz wird durch das Verbum geliehen ausgedrückt, das nicht nur »gleichen«, »ähnlich sein« heißt, sondern auch »gleich sein«, »dasselbe sein«. Das Verbum geliehen wird dreimal in Parzivals Gedankenrede gebraucht: Cundwier âmûrs, sich mac für wâr disiu varwe dir geliehen ( 2 8 2 , 2 8 - 2 9 ) ; d>r bie gelichez vant (283,1); Cundwir âmûrs, dem glichet sich din bêâ curs ( 2 8 3 , 7 - 8 ) ; dazu kommen drei Belege für das Adjektiv gelich in den Erzählerreden: dirre varwe truoc geliehen Up von Pelrapeir diu künegin (283,20—21); sines wibes glichen schin, von Pelrapeir der künegin ( 2 9 5 , 5 - 6 ) ; sinpensieren umben grâl unt der küngin gltchiu mal ( 2 9 6 , 5 - 6 ) . Z u geliehen vgl. auch den Kommentar von G . Garnerus: Parzivals zweite Begegnung mit dem Artushof [L 270], S. 46. Daß Condwiramurs in dieser Szene tatsächlich präsent gedacht ist, ist auch daraus zu ersehen, daß Parzival zu ihr spricht: Condwir âmûrs, hie lit din schîn (283,4). Auch als er aus der Liebestrance erwacht ist, spricht Parzival noch zu Condwiramurs: ôwê frowe unde wip, wer hat benomn mir dinen Up (302,7-8).
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zur >Johannes-Apokalypse< (>In Apocalypsin IohannisSchuld< ist mithin seine alles übrige übertönende überstarke Minnebindung an Condwiramurs«. 143 »Parzivals Hingabe an einseitige triuwe gegenüber Condwiramurs entlarvt seine Vollkommenheit als bloßen Schein«. 144 »Für kurze Zeit vergißt der Held den Sinn seines Strebens«. 145 Diese Auffassung hat damals viel Zustimmung gefunden. 146 Solche Stimmen sind inzwischen verstummt. Zu eindeutig ist die positive Wertung der ehelichen Liebe in Wolframs Text. Warum Parzival in Munsalvaesche die Erlösungsfrage versäumt, wird in der Dichtung selbst diskutiert und unterschiedlich beantwortet. Sigune sieht in Parzivals Schweigen einen Verrat der triuwe und einen Mangel an Barmherzigkeit (255,13ff.); Kundrie wiederholt diese Vorwürfe (316,2ff.) und verschärft sie dahin, daß Parzival durch sein Schweigen sein Seelenheil verspielt habe und zur Hölle bestimmt sei: gein der helle ir stt benant (316,7). Sie ist auch die erste, die Parzivals Schweigen als »Sünde« wertet: da erwarb iu swígen sünden zil (316,23). Trevrizent urteilt zurückhaltender, bewertet das Schweigen aber ebenfalls als Sünde. 147 143 144
145
146
147
G . Bauer: Parzival und die Minne [L 1 3 2 ] , S. 96. W. und H . Freytag: Z u m Natureingang von Wolframs von Eschenbach Blutstropfenszene [L 262], S. 3 2 3 . W. J . Schröder: Der Ritter zwischen Welt und Gott. Idee und Problem des Parzivalromans Wolframs von Eschenbach [L 548], S. 1 5 3 . Vgl. auch W. Deinert: Ritter und Kosmos im Parzival. Eine Untersuchung der Sternkunde Wolframs von Eschenbach [L 2 1 4 ] , S. i 8 f . ; D . Blamires: Characterization and Individuality in Wolframs Parzival [L 1 4 8 ] , S. 2 5 3 ^ ; J . F. Poag: W i p and Gral: Structure and Meaning in Wolfram's Parzival [L 500], S. 206; T. Ehlert, G . Meissburger: Perceval et Parzival. Valeur et fonction de lepisode dit >des trois gouttes de sang sur la neige« [L 240], S. 204; D . Hirschberg: Untersuchungen zur Erzählstruktur von Wolframs Parzival [L 3 2 9 ] , S. 1 7 5 ; D . Welz: Episoden der Entfremdung in Wolframs Parzival. Herzeloydentragödie und Blutstropfenszene im Verständigungsrahmen einer psychoanalytischen Sozialisationstheorie [L 6 1 6 ] , S. 88. Noch bevor Trevrizent erfahren hat, daß es Parzival war, der die Frage in Munsalvaesche versäumte, spricht er von dem Ritter, der dort war und nicht gefragt hat: der fuorte ouch Sünde mit im dan (473,14). Z u den »zwei großen Sünden« (zwuo grôze sünde 499,20), die nach Trevrizents Urteil auf Parzival lasten, gehört das Frageversäumnis in Munsalvaesche jedoch nicht: »diese Sünde zähle zu den übrigen« (die sünde là bt dn andern stên 5 0 1 , 5 ) .
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Auf diese Urteile haben sich die Forscher berufen, die, im Anschluß an Julius Schwieterings Interpretation, Parzivals Schweigen vor dem Gral als eine religiöse Verfehlung aufgefaßt haben. Für Schwietering war das Unterlassen der Erlösungsfrage »Parzivals schwerste Schuld«. 14 ® Heute steht man diesen Deutungen eher skeptisch gegenüber. Wie bei Chrétien gibt es auch bei Wolfram verschiedene Antworten auf die Frage, warum Parzival in Munsalvaesche schweigt. Die Antwort hängt offensichtlich davon ab, aus welcher Perspektive man Parzivals Verhalten betrachtet. Chrétiens fragmentarischer Text läßt nicht erkennen, ob das Urteil des Einsiedler-Oheims schon das letzte Wort war. Wolfram hat die Kausalverknüpfung von Parzivals Schweigen mit der Schuld am Tod der Mutter aufgegeben und hat dadurch zu verschiedenen Deutungen von Parzivals Verhalten eingeladen. Einige Wertungen werden im Text selbst relativiert und revidiert. Kundries Verdammungsurteil erweist sich als falsch; sie muß Parzival zuletzt fußfällig um Verzeihung bitten fur die Maßlosigkeit ihrer voreiligen Anschuldigungen (779,22ff). Auch Sigune ändert ihre Haltung gegenüber Parzival bei ihrer Begegnung im neunten Buch (vgl. 44i,i8f.). Der >ParzivalParzival< vgl. F. Maurer: Parzivals Sünden [L 434], S. 3 2 4 f r . J . Schwietering: Der Tristan Gottfrieds von Straßburg und die Bernhardische Mystik [L 559], S. 28; vgl. Ders.: Parzivals Schuld [L 560], S. 58. Die Anschuldigungen dieser beiden sollen wohl in erster Linie die Betroffenheit und Trauer über die Verlängerung der Leiden des Gralkönigs spiegeln. Kundrie spricht sicherlich nicht im Auftrag der Gralgesellschaft, wenn sie Parzival öffentlich verflucht. Sie sieht sich offenbar durch ihre Treue zu Anfortas und ihre Erschütterung über das Geschehene dazu legitimiert. Ihre Rolle als >Gralbotin< beschränkt sich auf ihr Auftreten in Buch XV. Auf Grund der Parallelität der beiden Auftritte entsteht der Eindruck, daß sie auch bei ihrem ersten Erscheinen am Artushof als Botin spricht.
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Weg, unabhängig vom Wissen und Willen des Helden und damit auch unabhängig von seiner persönlichen Verantwortlichkeit, als unvermeidliche Folge der Ursünde der Menschheit betrachtet, dann gehört auch die vertane Erlösungschance in Munsalvaesche ohne Zweifel in diese Reihe. Daß die Sünde - wie bei Chrétien - Parzival gehindert hätte, die Erlösungsfrage zu stellen, deutet Trevrizent mit keinem Wort an. Parzival selbst wertet sein Verhalten in Munsalvaesche vor Trevrizent als tumpheif. »Ihr sollt mit aufrichtigem Rat meine tumpheit beklagen« (ir suit mit rates triuwe klage mîne tumpheit 488,14—15). Trevrizent hatte dieser Beurteilung schon vorher zugestimmt, als er von dem Ritter erzählte, der nach Munsalvaesche gekommen war (nicht wissend, daß Parzival dieser Ritter war): »das war ein tumber Mensch« (der selbe was ein tumber man 473,13). Wichtiger scheint mir, daß Trevrizent eine Fehlleistung der Wahrnehmungsfähigkeit
fur Parzivals Frageversäumnis verantwortlich
macht:
»Gott hat dir doch fünf Sinne verliehen! Die haben es versäumt, dich zu fuhren. Wie wurde dein Mitleid von ihnen behütet, damals bei dem leidenden Anfortas? (do dir got fünf sinne lêch, die bânt ir rät dir vor bespart, wie was din triwe von in bewart an den selben stunden bt Anfortases wunden? 488,26—30). Hat in Munsalvaesche wirklich Parzivals sinnliches Wahrnehmungsvermögen versagt? 150 Trevrizents Frage lenkt die Aufmerksamkeit mit Recht auf die Erkenntnisproblematik, denn diese Problematik vermag, glaube ich, Parzivals Fehlverhalten in Munsalvaesche eher verständlich zu machen als die Annahme eines religiösen oder eines moralischen Versagens. 151 Im fünften Buch hat der Erzähler Parzivals Schweigen als Folge einer Störung des Zusammenwirkens von äußeren und inneren Sinnen beschrieben: »Parzival bemerkte genau die Pracht und das große Wunder. Seine höfische Erziehung verbot ihm zu fragen. Er dachte: >Gurnemanz hat mir aufrichtig und ohne Hintersinn geraten, nicht viel zu fragen. Vielleicht bleibe ich hier so lange wie dort bei ihm. Dann erfahre ich, auch ohne zu fragen, wie es um diese Gesellschaft stehtmir riet Gurnamanz mit grôzen triwen âne schranz, ich solté vil getragen niht. waz op
• 50 V g l . unten S. lo^f. 151
Die früher beliebte Erklärung von Parzivals Frageversäumnis, er sei »nicht reif genug« gewesen, um die Probe in Munsalvaesche zu bestehen, die noch von Friedrich Maurer (Parzivals Sünden [ 1 4 3 4 ] , S. 316) vertreten wurde (»[...] unterläßt er die Frage [ . . . ] einzig deshalb, weil er noch nicht reif genug ist zur richtigen Erkenntnis und Entscheidung«), findet heute mit Recht genausowenig Zustimmung wie die religiöse Begründung seines Schweigens.
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mîn wesen hie geschiht die maze als dort pt im? âne vrâge ich vernim wiez dirre
massente stêt< 239,8—17). Die Sinneswahrnehmung löst einen inneren Impuls aus: eine innere Stimme rät Parzival, nach den geheimnisvollen Vorgängen, die sich vor seinen Augen abspielen, zu fragen. Er spricht mit sich selbst (er dâhte 2 3 9 , 1 1 ) und sieht sich einem Einwand des Verstandes gegenüber: er erinnert sich an das Wortzeichen, durch das er von Gurnemanz zur Regelung seines Frage-Verhaltens aufgefordert wurde. Er nimmt an, daß Gurnemanz' Warnung vor vorschnellem Fragen auf die gegebene Situation zutreffe, und schweigt in der Erwartung, auch ohne zu fragen die erwünschte Aufklärung zu erhalten. Diese Reaktion mag subjektiv verständlich sein; objektiv ist sie falsch: seine Frage hätte den Gralkönig erlösen können. Parzival ist sich keiner Schuld bewußt und sucht den Grund für sein Versagen (nachdem er von Sigune erfahren hat, was in Munsalvaesche auf dem Spiel stand) nicht bei sich, sondern bei Gurnemanz. Nach der Verfluchung durch Kundrie rechtfertigt er sich gegenüber der Heidin aus Janfluse: »Wenn ich deswegen, weil ich dem Gebot meiner Erziehung gefolgt bin, den Spott der Welt hören muß, so wird seine Lehre unvollkommen gewesen sein. Mich lehrte der edle Gurnemanz, daß ich vorlautes Fragen unterlassen und alle Unziemlichkeiten bekämpfen sollte« (sol ich durch mîner zuht gebot hoeren nu der Werlte spot, sô mac sin râten niht sîn ganz: mir riet der werde Gurnamanz daz ich vrâvellîche vrâge mite und immer
gein unfuoge strite 330,1—6). Hier befindet sich Parzival im Irrtum: Gurnemanz' Rat, vrâvellîche vrâge zu unterlassen, war völlig berechtigt. Die >Schuld< fur sein Versagen liegt eindeutig bei Parzial: er hat nicht erkannt, daß die Frage nach dem Leiden des Königs keine vrâvellîche vrâge gewesen wäre. Parzival hat das Wortzeichen, daß Gurnemanz ihm gab, falsch gelesen. Von >Schuld< sollte man trotzdem nicht sprechen. 152 Kurt Ruh hat in seiner Interpretation der Gralszene 153 Parzivals Schweigen auf eine »bestimmte Disposition« zurückgeführt, die sich nicht psychologisch erklären 152
Diese Auffassung, daß Parzivals Verhalten in Munsalvaesche nicht als >Schuld< zu werten ist, findet in der neueren Forschung viel Zustimmung; vgl. V. Mertens: Parzivals doppelte Probe [L 452]; H. Brall: Gralsuche und Adelsheil [L 162], S. 253ff.; M. Wynn: Wolfram's Parzival. On the Genesis of Its Poetry [L 6 4 1 ] , S. 217fr.; H. Rupp: Z u einigen Leitmotiven in Wolframs Parzival [L 528], S. 97fr.; G . Schweikle: traeclîche wîs. Ein Versuch zum Mitleid im Parzival Wolframs von Eschenbach [L 557]; W. Hasty: Beyond the Guilt Thesis: On the Socially Integrative Function of Transgression in Wolfram von Eschenbach's Parzival [L 3 1 3 ] ; P. Meister: Parzivals Innocence [L449]; E. Nellmann: ParzivalKommentar [L 1 1 8 ] , S. 583^; A. Classen: The Isolated Hero and the Communicative Community in Wolfram von Eschenbach's Parzival [L 196], S. 63.
153
K . Ruh: Wolfram von Eschenbach heute [L 520], S. ioff.
75
lasse. »Diese Disposition ist vielmehr für denjenigen, der die Frage versäumt, habituell, wie der mittelalterliche Theologe sagen würde«. 154 Parzivals Habitus wird durch seine tumpheit bestimmt. »Parzival kommt als tumber auf die Gralsburg, und als tumber muß er die erlösenden Fragen versäumen«. 155 Ich glaube, es lohnt sich, diesen Hinweisen nachzugehen.
">« Ebda, S. 13. Ebda, S. 15. Ähnlich V. Mertens: Parzivals doppelte Probe [L 452], S. 332: die Voraussetzungen fur Parzivals Schweigen in Munsalvaesche sind »weder falsche Ritterlehren, noch eine falsche Grundeinstellung des Helden, ebensowenig Sündenfolge wie bei Chrétien, sondern, wie Parzival und Trevrizent im 9. Buch erkennen: tumpheit, unverschuldet mangelnde Erfahrung«.
1,5
76
4-
hêrre, ich bin niht wis. Parzivals habituelle Wahrnehmungsschwäche
Parzivals Kindheit Um die merkwürdige Beschränktheit von Parzivals Wahrnehmungs- und Erkenntnisvermögen zu verstehen, muß man bis zum Anfang der ParzivalGeschichte zurückgehen, zu seiner Kindheit in Soltane. Der Szene der Begegnung des jungen Perceval mit den Rittern im Wald, mit der der >Conte du Graal< beginnt, hat Wolfram die Erzählung von Parzivals Kindheit vorangestellt, in der die Weichen für die gesamte Parzival-Darstellung gestellt werden. 1 5 6 Nach Herzeloydes Rückzug in die Einsamkeit von Soltane wird aus der frühen Kindheit Parzivals (»bevor er zur Vernunft kam«, ê daz sich der versan 1 1 7 , 1 9 ) nur eine Einzelheit erzählt, die für sein ganzes Leben bestimmend wurde: unter Androhung der Todesstrafe befiehlt Herzeloyde ihren Leuten, »niemals von Rittern zu sprechen« (daz se immer ritters wurden lût 1 1 7 , 2 3 ) . Später wird ergänzend berichtet, daß Parzival in Soltane »versteckt wurde« (verborgen wart 1 1 7 , 3 0 ) und »um königliche Lebensart betrogen« (an küneclícher fuore betrogη i i 8 , 2 ) . Nicht nur die Annehmlichkeiten des Hoflebens und die Kenntnis ritterlicher Lebensform wurden Parzival vorenthalten; die weitere Jugendgeschichte zeigt, daß Parzival von seiner Mutter in totaler Unkenntnis aller Dinge gehalten wurde, daß er ohne jedes Wissen aufwuchs. Die erste Szene spielt zu einer Zeit, als Parzival bereits imstande ist, Pfeil und Bogen selber zu schnitzen. Er erweist sich als ein geschickter Schütze: er schießt die Vögel tot und weint darüber (n8,6ff.). Bei dieser Gelegenheit erfahren wir, daß Herzeloyde ihre Erziehungsmethode nicht geändert hat: sie läßt ihrem Sohn keinerlei Unterricht zuteil werden und hält ihn künstlich im Zustand gänzlicher Unwissenheit über Gott und die Welt. Sie läßt die Vögel töten, als sie bemerkt, daß Parzival über die Vögel weint; und als sie einsieht, daß sie damit gegen Gottes Gebot han-
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Z u Parzivals Kindheit in Soltane vgl. W. J . Schröder: Die Soltane-Erzählung in Wolframs Parzival. Studien zur Darstellung und Bedeutung der Lebensstufen Parzivals [L 549]; Α. M. Haas: Parzivals tumpheit bei Wolfram von Eschenbach [L 298]; D. N . Yeandle: Commentary on the Soltane and Jeschute Episodes in Book III of Wolfram von Eschenbach's Parzival ( 1 1 6 , 5 - 1 3 8 , 8 ) [L 643]; zuletzt R. Breyer: Darstellung einer Kindheit. Das III. Buch des Parzival Wolframs von Eschenbach [L 163].
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delt, fragt Parzival sie nach Gott: ôwê muoter, waz ist got? ( ι 1 9 , 1 7 ) . Offenbar hat Herzeloyde zu ihm noch nie von G o t t gesprochen. In der nächsten Szene jagt Parzival nicht mehr mit Pfeil und Bogen, sondern mit dem Wurfspeer. E r schießt Hirsche und trägt sie nach Hause, wie schwer sie auch sind ( 1 2 0 , 2 f f . ) . Die jetzt folgende Begegnung mit den Rittern im W a l d läßt erkennen, daß Parzival noch immer nichts weiter gelernt hat als J a g e n . W a s Herzeloyde ihrem Sohn antut, indem sie alles Wissen und alles Verständnis von ihm fernhält, zeigt ein Blick in die pädagogische Theorie des Mittelalters. 1 5 7 Von allen Lebewesen k o m m t nur der Mensch nackt auf die W e l t . » D i e anderen Lebewesen stattet die N a t u r mit Bedeckungen verschiedener A r t aus [ . . . ] . Den Menschen jedoch wirft sie, wie gesagt, am Tag der Geburt nackt auf die nackte Erde, sogleich bereit zum Schreien und zum Weinen« {AliL· quippe animantibus tantum,
ut diximus,
et ploratum).15®
variae qualitatis
nudum
in nuda
tegumenta
humo natali
contradidit
die abjicit,
[...].
ad vagitus
hominem statim
D e m Neugeborenen fehlt alles, was der Mensch zum Leben
braucht: »Ohne Wissen, ohne Sprache, ohne Tugend werden wir geboren« (sine scientia,
sine verbo, sine virtute
nascamur).159
Das K i n d hat zwar von
A n f a n g an eine richtige Seele, aber die Seele kann ihre Fähigkeiten nicht entfalten: » W e n n nämlich die Seele dem Körper des Kindes frisch einge157
Im folgenden stütze ich mich hauptsächlich auf zwei Schriften, die jünger sind als Wolframs >ParzivalDe eruditione filiorum nobilium< von Vinzenz von Beauvais (gest. 1264) und auf >De regimine principum< von Aegidius Romanus (gest. 1316). Beide Autoren haben in großem Umfang ältere pädagogische Schriften verarbeitet; die Darstellung von Vinzenz von Beauvais besteht zum großen Teil aus Zitaten, besonders aus den Schriften von Augustin und Hugo von St. Victor. Zu Vinzenz von Beauvais vgl. J. M. McCarthy: Humanistic Emphases in the Educational Thought of Vincent of Beauvais [L 439]; R. B. Tobin: Vincent of Beauvais' De Eruditione Filiorum Nobilium. The Education of Women [L 593]. Zum Fürstenspiegel von Aegidius Romanus vgl. W. Berges: Die Fürstenspiegel des hohen und späten Mittelalters [L 137], S. 2 u f f . Das pädagogische Schrifttum des 12. Jahrhunderts hat bisher keine angemessene Behandlung gefunden. Im Mittelpunkt müßte das >Metalogicon< von Johannes von Salisbury stehen, der interessanteste und originellste pädagogische Text dieser Zeit. Für den Bereich der Mönchs- und Kanoniker-Erziehung gibt es die ausgezeichnete Darstellung von C. W. Bynum: Docere Verbo et Exemplo. An Aspect of Twelfth-Century Spirituality [L 180]. Dort auch eine Zusammenstellung der wichtigsten Quellen (S. 9ff. 99ff.).
• 58 Wilhelm von St. Thierry: De natura corporis et animae [L 107], Sp. 715. Ganz ähnlich hatte sich Hugo von St. Victor im >Didascalicon< geäußert: »Es ist nicht ohne Grund, daß, während alle Lebewesen mit der ihrer Natur eigenen Bewaffnung auf die Welt kommen, der Mensch allein nackt und schutzlos geboren wird« (Nec tarnen sine causa factum est quod, cum siglila animantium naturae suae arma secum nata babeant, solus homo inermis nascitur et nudus (1,9 [L 71], S. i4off.). 159 Innozenz III.: De contemptu mundi 1,6 [L 74], Sp. 705. Zahlreiche Belege fur den beklagenswerten Zustand des Menschen bei seiner Geburt bei M. E. Goodich: From Birth to Old Age [L 279], S. 85f.
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gössen wird, so nimmt sie von der Verdorbenheit des Leibes Finsternis der Unwissenheit in Bezug auf die Erkenntnis und Fäulnis der Begierlichkeit in Bezug auf die Willensfähigkeit an. Daher wird sie sowohl zum Erkennen als zum recht Handeln ungeschickt« (anima siquidem infantis carni recenter infusa ex eius corrupcione contrahit et caliginem ignorancie quantum, ad intellectum et putredinm concupiscencie quantum ad affectum, ideoque rudis efficitur et ad intelligendum et ad bene agendum).IDe trinitatec »So sind die Seelen der Kinder in ihrer A u f merksamkeit an die Leibessinne, auch an die übrigen, gebunden, soweit dies Alter überhaupt eine Aufmerksamkeit zuläßt, so daß sie nur das, was sie durch das Fleisch kränkt oder lockt, heftig verabscheuen oder begehren, so daß sie hingegen an ihr Inneres nicht denken und auch gar nicht ermahnt werden können, dies zu tun. Sie verstehen ja die Zeichen des Mahnenden noch nicht, unter denen den ersten Platz die Worte einnehmen« (Ita et in alios corporis sensus quantum sinit illa aetas Mentirne se quasi coartant animae paruulorum ut quidquid per camem offendit aut allicit hoc solum abhorreant uehementer aut appetant; sua uero interiora non cogitent nec possint admoneri ut hoc faciant quia nondum admonentis signa nouerunt ubi praecipuum locum uerba obtinent quae sicut alia prorsus nesciunt XIV, 5 [L 20], Bd. 2, S. 430; Übersetzung [L 21], Bd. 2, S. 216).
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Vinzenz von Beauvais: De eruditione, Kap. 1 [L 100], S. 6; Übersetzung [L 101], S. 16. Nach Johannes von Salisbury m u ß »die Kraft, die der Seele von Natur aus eingepflanzt ist« (uis quaedam animo naturaliter insita), »durch eifrige Bemühung und Ü b u n g gefördert werden« (studio iuuatur et exercitió). So gelangt der Mensch zum vollen Besitz seiner Verstandeskräfte (Metalogicon Ι , ι ι [ L 7 8 ] , S. 2 9 Í ; Übers. [L 269], S. 224); vgl. D . D . McGarry: Educational Theory in the Metalogicon of John of Salisbury [L 442], S. 668. Nach Wilhelm von Conches kann das Kleinkind, obwohl es eine Seele hat, »nicht verstandesmäßig urteilen« (non discernit)\ daher bedarf das Kind, um »seine Fähigkeiten« (proprietates suas) auszuüben, der Erfahrung und »der lebhaften Unterweisung« (doctrina excitata) (Wilhelm von Conches: Elementorum philosophiae libri quatuor, Buch IV [L 104], Sp. 1 1 7 7 ) . A m besten wird der Verstand des Kindes »von der adolescentia an« (ab adolescentia) geübt; denn in diesem Alter ist der Mensch wie das Wachs, »weder zu weich noch zu hart, geeignet fur die Belehrung« (nec nimis tenera, nec nimis dura, conveniens est doctrinae, ebda, Sp. 1178).
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Isidor von Sevilla: Etymologiae XI,2 [L 7 7 ] , Bd. 2, ohne Seitenzählung. Zur Auffassung der Lebensalter im Mittelalter vgl. A. Hofmeister: Puer, iuvenis, senex. Z u m Verständnis
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Zur Zeit der infantia soll das K i n d 1 0 3 noch weitgehend der Pflege der Mutter anvertraut sein. Mit der pueritia, mit dem siebenten Jahr, beginnt die ernsthafte Erziehung, die sich auf den Körper (Anleitung zu geregelter Beschäftigung), den Willen (Anleitung zur Beherrschung der Begierden) und den Verstand (Einfuhrung in die Artes liberales) bezieht. 104 Nach dem vierzehnten Jahr, in der Zeit der adolescentia, soll diese Ausbildung vertieft werden. Jetzt fangen die jungen Menschen an, »vollkommener an der Benutzung der Vernunft teilzunehmen« (perfectius participare incipiunt rationis usuiti)', deshalb soll von dieser Zeit an dafür gesorgt werden, »daß sie nicht nur einen Körper in guter Verfassung haben und ein wohlgeregeltes Begehren, sondern auch daß sie klug sind und daß sie einen gut erleuchteten Verstand haben« {non solum curandum est quomodo habeant bene dispositum corpus, et bene ordinatum appetitum, sed etiam quod sint prudentes, et quod habeant bene illuminatum intellectum).165 In dieser Zeit ist das Wachs der Seele weich genug, daß die Lehre sich fest einprägen kann; vorher ist es zu weich, später zu hart. Was man in der Kindheit nicht gelernt hat, wird man schwerlich später noch lernen. »Wer nicht lernt, solange er es vermag, der hat seine Zeit vertan« (swer niht enlernt die wîl er mac, der hât verlorn sînen tac).166 Vor diesem Hintergrund erscheint Herzeloydes Fürsorge für ihren Sohn in einem ganz fragwürdigen Licht. Wenn es ihr nur darum gegangen wäre, Parzival vom Rittertum fernzuhalten, hätte sie ihn zum Kleriker ausbilden
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104
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der mittelalterlichen Altersbezeichnungen [L 332]; J . A. Burrow: The Ages of Man. A Study in Medieval Writing and Thought [L 178]; E. Sears: Ages of Man: Medieval Interpretations of the Life Cycle [L 562]; M. E. Goodich: From Birth to Old Age. The Human Life Cycle in Medieval Thought, 1 2 5 0 - 1 3 5 0 [L 279]. Zur Auffassung der Kindheit im Mittelalter vgl. außer der oben Anm. 162 genannten Literatur J . Kroll: The Concept of Childhood in the Middle Ages [L 406]; K . Arnold: Kind und Gesellschaft in Mittelalter und Renaissance [L 129]; R. Cauron: Enfant et parenté dans la France médiévale, Xe - XlIIe siècles [L 186]; A. Giallongo: Il bambino medievale. Educazione ed infanzia nel medioevo [L 276]; H. Wenzel: Kindes zuht und wibes reht. Z u einigen Aspekten von Kindheit im Mittelalter [L 6 1 7 ] ; P. Riché, D. Alexandre-Bidon: L'enfance au moyen âge [ L 5 1 2 ] ; J . Α. Schultz: The Knowledge of Childhood in the German Middle Ages [L 553]; Ders.: No Girls, No Boys, No Families: On the Construction of Childhood in Texts of the German Middle Ages [L 554]; R. Fossier (éd.): La petite enfance dans l'Europe médiévale et moderne [L 259]. Das Buch von James Α. Schultz (The Knowlede of Childhood) zeichnet sich durch seine methodische Klarheit aus und bietet eine Fülle deutschsprachigen Quellenmaterials. Vgl. das Kapitel »Sorge fur die Söhne vom siebten bis vierzehnten Jahre« bei Aegidius Romanus: De regimine principum II,16 [ L 4 ] , S. 3 3 1 . Vgl. M. E. Goodich: From Birth to Old Age [L 279], S. 92fr. Aegidius Romanus: De regimine principum I I , 1 7 [L 4], S. 334. Thomasin von Zerklaere: Der welsche Gast [L 99] 7 5 3 - 5 4 . Vgl. Guibert von Tournais: »Was man in der pueritia nicht gelernt hat, kann man kaum in der senectus dazulernen« (in puericia non didicerunt vix in senectute addiscere poterunt, Sermo tercius ad conjugatas, zitiert nach M. E. Goodich: From Birth to Old Age [L 279], S. 1 0 1 , Anm. 48).
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lassen können. Das war fiir einen Fürstensohn, der nicht zur Herrschaft und zum weltlichen Leben bestimmt war, die naheliegende Alternative. Die Frage, was Herzeloyde sich dabei gedacht hat, wenn sie ihren Sohn von allem Wissen fernhält, stellt sich im Text nicht. Es geht nicht um Psychologie, sondern eher um die Konstruktion des (sehr unwahrscheinlichen) Falles, daß ein Mensch ohne jede Hilfe von außen aufwächst. Als Parzival die Mutter verläßt, befindet er sich, was seine intellektuellen Fähigkeiten, sein moralisches Bewußtsein und seine Umgangsformen betrifft, noch immer auf der Stufe des Kleinkindes. Parzival ist völlig >nacktschuld< daran, daß Anfortas' furchtbares Leiden sich auf unbestimmte Zeit verlängert; sowie er bemerkt, was er mit seinem Schweigen angerichtet hat, bestimmt das Mitleid mit dem leidenden König und der Drang, das Versäumte nachzuholen, sein weiteres Handeln. Diese beiden Regungen, der Drang nach außen, der sich in Form von Gewalt, Kampf, Tötung, Schädigung darstellt, und die Bewegung von innen, die sich körperlich durch das Weinen manifestiert und die aus einer Regung der Anteilnahme, des Mitleids und des Bereuens gespeist wird, bestimmen Parzivals art. Dieser art ist ihm als sein Vater- und sein Muttererbe von Geburt an mitgegeben. Die »angeborene Mannhaftigkeit« {an geborniu manheit 174,25) ist das väterliche Erbe {diu Gahmuretes art 174,24), 1 7 1 während die Mutter »triuwe auf ihn vererbt hatte« {Herzeloyd 171
Wolfram benutzt art als Maskulin und als Feminin.
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diu junge in het ûf gerbet triuwe 4 5 1 , 6 - 7 ) . 1 7 2 Gemeinsames Erbe von Seiten des Vaters und der Mutter ist die »Not«: ûf geerbeter pîn von vater und von muoter art (300,18 - 1 9 ) : die Kampfesnot als Vatererbe und die Liebes- und Mitleidensnot als Muttererbe. Parzivals ganzer Weg kann als Bewährung und Bewahrung dieses doppelten und zwiespältigen Erbes gelesen werden. Außer dem ererbten Familien-rfrt besitzt der >nackte< Parzival noch eine Reihe angeborener bona corporis, die sich zum Teil dem ererbten Wesen zuordnen lassen. Die Tugendlehren des 12. Jahrhunderts nennen meisten fünf oder sechs »Güter des Leibes«: Schönheit (pulcritudo), Adel (nobilitai), Behendigkeit (uelocitas), Stärke (robur) Größe (magnitudo) und Gesundheit (ualetudo).173 Zwei davon sind kennzeichnend fiir Parzivals angeborenes Wesen: Schönheit und Stärke. Parzivals strahlende Schönheit - »eine Blumenkrone aller männlichen Schönheit« (aller manne schoene ein bluomen kränz 1 2 2 , 1 3 ) , nennt der Erzähler ihn — wird von allen, die ihn sehen, als Zeichen der Erwähltheit bestaunt und als Wunder der Schöpferkraft Gottes gedeutet: Dô lac diu gotes kunst an im (123,13). Kennzeichen seiner Schönheit ist die »Lichthaftigkeit« seiner körperlichen Erscheinung: 174 »Da hätte er fast der Sonne ihren strahlenden Glanz genommen« (do het er der sunnen verkrenket nach ir liebten glast 1 8 6 , 4 - 5 ) . Es ist ein äußeres, sichtbares Licht, das der Körper ausstrahlt. Manchmal wird Parzivals Schönheit jedoch so beschrieben, als ob sie von innen nach außen strahlt: sie ist unter der Kleidung oder unter der Rüstung verborgen und leuchtet aus diesen >Verhüllungen< hervor. 175 Dadurch entsteht der Eindruck, daß Parzivals Schönheit von innen leuchtet und eine innere Qualität spiegelt. Welche Rolle die Innen-Außen172
Auch kiusche und erbarmunge werden an dieser Stelle als Muttererbe bezeichnet (451,5); jedenfalls werden ihm diese Qualitäten insofern zugeschrieben, als er »Herzeloydes Kind« (Herzeloydefrubt451,3) ist. Zu Parzivals väterlichem und mütterlichem Erbe zuletzt W. Blank: Determination oder Ordo? Parzivals Weg durch die Instanzen [L 152], S. 22η(. 173 Wilhelm von Conches: Moralium dogma philosophorum III Β [L 106], S. 54. Zur umstrittenen Autorfrage vgl. J . R. Williams: The Quest for the Author of the Moralium Dogma Philosophorum, 1 9 3 1 - 1 9 5 6 [L 630]. Thomasin von Zerklaere nennt im H e l schen Gast< fünf Güter, die man »im Leib trägt« (imme lîbe treit 9737): Stärke, Eifer, Verlangen, Schönheit, Geschicklichkeit (sterk, snelle, glust, schoene, behendekeit 9738). 174 I. Hahn: Parzivals Schönheit. Zum Problem des Erkennens und Verkennens im Parzival [L 303], S. 205; vgl. L. P. Johnson: Parzivals Beauty [L 361]; H. Huber: Licht und Schönheit in Wolframs Parzival [L 340], S. I52ff. Zu Percevais Schönheit im >Conte du Graal< vgl. F. Lyons: Beauté et lumière dans le Perceval de Chrétien de Troyes [L 430]; P. Graf: Strahlende Schönheit als Leitlinie höfischer Vollendung. Eine Untersuchung zur Gestalt und Funktion des Schönen in den Romanen Chrétiens de Troyes [L 281], S. 15 iff. 175 Zum Motiv der Schönheit im Torengewand vgl. A. M. Haas: Parzivals tumpheit bei Wolfram von Eschenbach [L 298], S. η(Α.\ I. Hahn: Parzivals Schönheit [L 303], S. 2i7fif.; L. P. Johnson: Parzivals Beauty [L 361], S. 279^
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Problematik in der Schönheitsdarstellung spielt, zeigt sich im sechsten Buch, wenn Kundrie in ihrer Verfluchungsrede Parzivals leibliche Schönheit mit ihrer eigenen Häßlichkeit vergleicht und seiner äußeren Schönheit die Schwärze seiner Seele entgegenstellt. »Damit ist die Idealität der Schönheit gebrochen«; 170 doch nur für einen Moment und nur aus der beschränkten Sicht Kundries. Der Erzähler protestiert gegen ihre Wertung (319,8) und hebt gerade in dieser Szene Parzivals engelhafte Schönheit besonders hervor: »Da erschien der junge Parzival wie ein Engel ohne Flügel« (dô truoc der junge Parzival âne flügel engels mài 308,1 - 2 ) 1 7 7 Seine Schönheit übertrifft so sehr die aller anderen Menschen, daß man Parzival an seiner Schönheit erkennen kann. 178 Bei der zweiten Begegnung mit Jeschute im fünften Buch heißt es: »Als er sie gegrüßt hatte, sah sie ihn erkennend an: er war der Schönste auf der Welt, daran hatte sie ihn sofort erkannt« (dô Parzivâl gruoz gein ir sprach, an in si erkenneclîchen sach. er was der schoenste iibr elliu lant; dà von sin schiere het erkant 258,1 - 4 ) . 1 7 9 Parzivals Schönheit ist auch ein Erbstück von Vater- und von Mutterseite. 180 Der robur, die ungewöhnliche Körperkraft Parzivals, bezeugt sich schon in der Jugendgeschichte, »wenn er die schwere Jagdbeute, mit der ein Maultier voll beladen wäre, so unzerlegt nach Hause trug« (swenne er schôz daz swaere, des waere ein mül geladen genuoc, als unzerworht hin heim erz truoc 1 2 0 , 8 - 1 0 ) . Später kommt seine Körperkraft vor allem in den Kämpfen zum Einsatz. Es wird den Zuhörern aufgefallen sein, daß Parzivals Zweikämpfe mehrmals erst im Ringkampf entschieden werden. 181 Beim Ringkampf geht es nicht um die Beherrschung der ritterlichen Waffentechnik, die man erlernen muß, sondern um angeborene >Güterschuld< an fast allem, was in Parzivals Leben schief läuft. Das liegt nicht an den Lehrenden, die alle ehrwürdige Personen sind, die es gut mit Parzival meinen. Es liegt aber auch nicht an dem Belehrten. Parzival hört ganz eifrig zu, wenn er belehrt wird; er merkt sich jedes Wort und ist in jeder Situation bereit, das Gelernte anzuwenden. 184 Leider macht er es immer falsch. Das ist seine tumpheit. Besonders komisch ist die Umsetzung der Lehren der Mutter. Was sie ihn lehrt, macht Parzival das Leben nicht leichter, sondern sehr viel schwerer. Es ist verständlich, daß Parzival staunt, als er den Rittern im Wald begegnet: Männer in schimmernden Rüstungen hat er noch nie gesehen. Ohne die Lehre der Mutter hätte er vielleicht an ein Wunder geglaubt; aber niemals wäre er auf die Idee gekommen, daß Gott vor ihm auf dem 182
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Vielleicht können auch die geschickten Maßnahmen, durch die Parzival als König von Brobarz das vom Krieg ausgezehrte Land wieder zu wirtschaftlicher Blüte bringt (222,12fr.), als Ausdruck seiner natürlichen Geschicklichkeit verstanden werden. Zu den Lehrreden im >Parzival< vgl. S. Grosse: Wis den wisen gerne bi! Die höfischen Lehren in Hartmanns Gregorius und Wolframs Parzival [L 293]; W. J. Schröder: Die Soltane-Erzählung in Wolframs Parzival [L 549], S. κ)Κ. 79ff.; A. M. Haas: Parzivals tumpheit bei Wolfram von Eschenbach [L 298], S. 69fr. 82fr. I33ff.; G. Schweikle: stiure und 1ère. Zum Parzival Wolframs von Eschenbach [L 556]; U. Hennig: Die Gurnemanzlehren und die unterlassene Frage Parzivals [L 325]; D. H. Green: Advice and Narrative Action: Parzival, Herzeloyde and Gurnemanz [L 283]. Die meisten >ParzivalConte du GraalAch, Welt, wie geht es in dir zu?ôwê merit, wie tuostu so?' sprach der wirt: der was des maers unfrô 4 7 5 , 1 3 - 1 4 ) . Trevrizent, der über alle Mitglieder der Gralfamilie ausgezeichnet Bescheid weiß, zeigt sich merkwürdig uninformiert über Parzival. Er weiß auch nicht, daß es Parzival war, der in Munsalvaesche die Erlösungsfrage versäumt hat, obwohl das seit der Verfluchung durch Kundrie am Plimizoel öffentlich bekannt war. Das könnte den Gedanken nähren, daß Trevrizents Unkenntnis gespielt ist, daß er vor dem Neffen ein pädagogisches Theater veranstaltet, um diesen zur Einsicht über sich selbst zu bringen. Parzival hat zweimal den Verdacht, daß Trevrizent ihm die Unwahrheit sagt (464,iff. 47Ö,22ff.). Trevrizents Versicherung, er sei unfähig zu jeglichem Betrug (ich enbinz niht der dà triegen kan 476,24), klingt überzeugend. Am Schluß der Dichtung muß Trevrizent jedoch eingestehen, daß er Parzival gegenüber tatsächlich bewußt die Unwahrheit gesagt hat, jedenfalls in Bezug auf die Neutralen Engel (798,6f.). Daher ist der Gedanke nicht abwegig, Trevrizent könnte sich auch an anderen Stellen einer »pädagogischen Lüge« bedient haben. Man muß allerdings festhalten, daß es für den Erzähler ein Leichtes gewesen wäre, den Zuhörern ein entsprechendes Signal zu geben, und daß er das nicht getan hat. Außerdem würde die Annahme, daß Trevrizent nicht ernst meint, was er sagt, allen möglichen Spekulationen Tür und Tor öffnen. Sollte am Ende auch der Satz über die zwei großen Sünden nur ein Versuchsballon sein, um Parzivals Reaktion zu erproben? Letztlich würde die Annahme einer pädagogischen Verstellung alle Ausagen Trevrizents ins Zwielicht ziehen.
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Die beiden großen Sünden müßten unwillentlich und unwissentlich begangen worden sein. Über die Frage, ob es solche Sünden überhaupt gibt und, wenn ja, wie sie zu
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k o m m t in der Dichtung nie wieder zur Sprache. Parzival sagt kein W o r t d a z u ; 1 9 0 und auch der Erzähler hat nicht dazu Stellung genommen. Solange die Forschung vom »Primat des R e l i g i ö s e n « 1 9 1 ausgegangen war, hatte man in Trevrizents Satz über die zwei großen Sünden den Schlüssel zum Verständnis der ganzen Parzivalhandlung gesehen. Davon ist man zu Recht abgekommen. A l s Parzival nach vierzehn Tagen aufbricht, hat Trevrizent ihn von seinen Sünden losgemacht und hat ihm »ritterlich« geraten: wand in der von Sünden schiet unt im doch rîterlîchen
wirt
riet ( 5 0 1 , 1 7 — 1 8 ) . 1 9 2 Parzival hat von
Trevrizent viel erfahren und hat Einsicht gewonnen in Zusammenhänge, die ihm vorher unbekannt waren. H a t er bei Trevrizent eine > innere U m kehr< erlebt? H a t er sich >gewandelt