Die Biographie – Beiträge zu ihrer Geschichte 9783110219371, 9783110219364

The volume reflects the history of modern biography since Johann Gottfried Herder. The historical status and methodology

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German Pages 515 [516] Year 2009

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Table of contents :
Frontmatter
Inhalt
Einleitung
Hermeneutische Biographik
Biographie als Hermeneutik
Widerstand gegen die Biographie: Sigrid Weigels Ingeborg-Bachmann-Studie
Biographie und Geschichte
Geschichte oder Biographie: Leopold Rankes Porträts Papst Pauls III. und Wallensteins
Mythographik
„Eine Dichtung vom Dichter – ein Phantasiebild, aus Schauen, Erleben und Träumen zusammengefügt“
Der Kanon des Heroischen: Ernst Bertrams Nietzsche. Versuch einer Mythologie
Psychoanalyse
Freuds ,Leben‘ Schrebers
Novellen wie Krankengeschichten gelesen – Marie Bonaparte: Edgar Poe
Gesellschaftsbiographik
Individuum und Gesellschaft in Siegfried Kracauers Jacques Offenbach und das Paris seiner Zeit
Literarische Biographien
„Weltbildner“ – Stefan Zweigs Essay über Balzac
Schumanns Schatten
Die Grenzen des biographischen Körpers – Peter Handkes Wunschloses Unglück
Postmoderne
Die montierte Biographie
Postmoderne Biographik
Marlene Streeruwitz’ Roman Nachwelt als postmoderne feministische Biographie
Film
Lebensgeschichten im Biopic
Auswahlbibliographie zur neueren deutschsprachigen Biographik
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Die Biographie – Beiträge zu ihrer Geschichte
 9783110219371, 9783110219364

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Die Biographie - Beiträge zu ihrer Geschichte



Die Biographie Beiträge zu ihrer Geschichte Herausgegeben von Wilhelm Hemecker unter Mitarbeit von Wolfgang Kreutzer

Walter de Gruyter · Berlin · New York

Die Arbeiten am vorliegenden Band erfolgten im Rahmen der Forschungen des Ludwig Boltzmann Instituts für Geschichte und Theorie der Biographie, einem Institut der Ludwig Boltzmann Gesellschaft, in Kooperation mit der Österreichischen Nationalbibliothek, der Universität Wien, der Thomas-Bernhard-Privatstiftung und dem Jüdischen Museum Wien.

앝 Gedruckt auf säurefreiem Papier, 앪 das die US-ANSI-Norm über Haltbarkeit erfüllt.

ISBN 978-3-11-021936-4 Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar. 쑔 Copyright 2009 by Walter de Gruyter GmbH & Co. KG, 10785 Berlin Dieses Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlages unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen. Printed in Germany Einbandgestaltung: Christopher Schneider, Laufen

Inhalt Wilhelm Hemecker Einleitung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

1

Hermeneutische Biographik Tobias Heinrich Biographie als Hermeneutik. Johann Gottfried Herders biographischer Essay ber Thomas Abbts Schriften . . . . . . . . . . . .

13

Caitr ona N Dhfflill Widerstand gegen die Biographie: Sigrid Weigels Ingeborg-Bachmann-Studie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

43

Biographie und Geschichte Christian von Zimmermann Geschichte oder Biographie: Leopold Rankes Porträts Papst Pauls III. und Wallensteins . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

71

Mythographik Charlotte Woodford „Eine Dichtung vom Dichter – ein Phantasiebild, aus Schauen, Erleben und Träumen zusammengefügt“. Gabriele Reuters Aufsatz über Marie von Ebner-Eschenbach . . . . . . . . . . . . . . . .

105

Caitr ona N Dhfflill Der Kanon des Heroischen: Ernst Bertrams Nietzsche. Versuch einer Mythologie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

123

VI

Inhalt

Psychoanalyse Andrew Webber Freuds ,Leben‘ Schrebers . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

155

Eveline List Novellen wie Krankengeschichten gelesen – Marie Bonaparte: Edgar Poe . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

179

Gesellschaftsbiographik Esther Marian Individuum und Gesellschaft in Siegfried Kracauers Jacques Offenbach und das Paris seiner Zeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

205

Literarische Biographien Wilhelm Hemecker und Georg Huemer „Weltbildner“ – Stefan Zweigs Essay über Balzac . . . . . . . . . . .

253

Wolfgang Kreutzer Schumanns Schatten. Ein biographisches Hybrid . . . . . . . . . . . . .

273

Philipp Weiss Die Grenzen des biographischen Körpers – Peter Handkes Wunschloses Ungl ck . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

311

Postmoderne Tobias Heinrich Die montierte Biographie. Alexander Kluges Lebensl ufe als Modell ,offener‘ Biographik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

367

Cornelia Nalepka Postmoderne Biographik. Dieter Kühns N und Hans Magnus Enzensbergers Der kurze Sommer der Anarchie . . . . . . . . . . . . . . .

393

Inhalt

Britta Kallin Marlene Streeruwitz’ Roman Nachwelt als postmoderne feministische Biographie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

VII

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Film Manfred Mittermayer Lebensgeschichten im Biopic. Skizzen zu einem historischen Überblick . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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Wolfgang Kreutzer und Esther Marian Auswahlbibliographie zur neueren deutschsprachigen Biographik

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Einleitung Wilhelm Hemecker Habent sua fata libelli. Die vorliegende Sammlung von Essays zur Geschichte der Biographie1 resultiert aus Forschung, die am Ludwig Boltzmann Institut für Geschichte und Theorie der Biographie in Wien geleistet wurde und verhält sich komplementär zu Studien, die mit dem parallel entstandenen Band Die Biographie – zur Grundlegung ihrer Theorie 2 vorliegen. Gemeinsam entsprechen die Bände der ursprünglichen Konzeption des Instituts, die Praxis des Verfassens mehrerer größerer Lebensbeschreibungen – von Eugenie Schwarzwald, Hugo von Hofmannsthal, Thomas Bernhard und Ernst Jandl – theoretisch und historisch zu fundieren. Symposien, Workshops, vertiefende Einzelstudien und Dissertationsprojekte kamen hinzu und bedingen einen gewissen Grad an Kontingenz hinsichtlich der vorliegenden Auswahl von Beiträgen zur Geschichte der Biographie. Kontingenz aber ist ein Hauptprinzip der neueren Kulturwissenschaft: „There is no escape from contingency“3, postuliert methodologisch der New Historicism und verabschiedet wissenschaftstheoretisch damit sowohl die traditionellen aristotelischen Ideale der Vollständigkeit und Systematik als auch die Glaubhaftigkeit von historischen Metaerzählungen. Die vorliegenden Aufsätze tauchen in diesem Sinne an bestimmten Stellen ein in die Geschichte der Biographik und heben Paradigmatisches empor, um es erneut zu reflektieren und zu einer historischen Selbstvergewisserung und Standortbestimmung beizutragen. Trotz der gehörigen Freiheit bei der Auswahl der Materialobjekte bewegen sich die Abhandlungen jedoch durchaus in einem vorgegebenen Rahmen, der noch einmal institutionell bedingt ist. Es konnten weder das 1

2 3

Mit einer einzigen Ausnahme – Britta Kallins Aufsatz zu Marlene Streeruwitz’ Nachwelt (Original: Britta Kallin: „Marlene Streeruwitz’s novel „Nachwelt“ as postmodern feminist biography“. In: The German Quarterly 78 (2005), S. 337 – 356) sind sämtliche Aufsätze Originalbeiträge, werden also hier zum ersten Mal gedruckt. Bernhard Fetz (Hg.): Die Biographie – Zur Grundlegung ihrer Theorie. Unter Mitarbeit von Hannes Schweiger. Berlin, New York 2009. Stephen Greenblatt: Shakespearean Negotiations. The Circulation of Social Energy in Renaissance England. Berkeley, Los Angeles 1988, S. 3.

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Wilhelm Hemecker

weite Feld antiker (Vor-)Formen biographischen Erzählens noch die ausufernde Hagiographie des Mittelalters oder frühmoderne Formen der Biographie in das Forschungsprogramm einbezogen werden. Schwerer noch wog die Entscheidung, den Gegenstandsbereich auf den deutschsprachigen Raum zu beschränken, was den historisch gewachsenen, nach wie vor (auch nach dem cultural turn) existierenden Grenzen universitärer Disziplinen – in diesem Fall der Germanistik, in der sich der Band gegenständlich primär situiert – Rechnung trägt. Ein übergreifendes erkenntnistheoretisches Interesse der Untersuchungen bezieht sich besonders auf Fragen der Form: Welche formalen Lösungen wurden für die Aufgabe der Lebensbeschreibung in verschiedenen historischen Kontexten gefunden, mit welchen Folgen für die Dialektik zwischen Form und Inhalt. Die daraus resultierenden Paradigmen – der biographische Torso, das essayistische Portrait, die psychoanalytische Fallgeschichte, die Mythographie, die explizit literarische Biographie, die autobiographisch verfahrende biographische Erzählung bis hin zu postmodernen Formen biographischen Erzählens und Biopics – enthalten explizit oder implizit eine Gattungspoetik der Biographie. Der erste Beitrag der vorliegenden Sammlung greift mit Herder historisch am weitesten zurück, nimmt allerdings hinsichtlich seines Materialund Formalobjekts etwas durchaus Zukunftsweisendes in Blick: einen biographischen Essay, den Herder explizit als Torso betrachtet wissen will.4 Die Ästhetik des Skizzenhaften, Fragmentarischen sollte als eigenständige, konstruktive erst im frühen 20. Jahrhundert wieder Anerkennung finden: Der Torso, bewusst als ein solcher konzipiert, wird, wie bereits in Herders Überlegungen, als in sich gültige, ja sogar überlegene Kunstform begriffen und mit kritischem Potential gegenüber geschlossenen Großformen aufgeladen, wie sie mit holistischem Anspruch im 19. Jahrhundert in fast allen Künsten – so auch in der positivistisch orientierten Biographik – realisiert wurden. Ein anderer zukunftsweisender Aspekt situiert Herders biographische Konzeption in der Tradition der Hermeneutik: seine Intention, die biographische Würdigung eines Verstorbenen als fortschreibende und von Nachfolgenden fortzuschreibende Lektüre, als Ausgangspunkt eines produktiven Rezeptionsprozesses zu betrachten und damit ein Weiter4

Johann Gottfried Herder: „Über Thomas Abbts Schriften. Der Torso zu einem Denkmal, an seinem Grabe errichtet“. In: Herder Werke in zehn B nden. Hg. v. Martin Bollacher u. a., Bd. 2. Hg. v. Gunter E. Grimm. Frankfurt/M. 1993, S. 565 – 608.

Einleitung

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leben seines Geistes in der Geschichte zu ermöglichen. Ein solches Weiterleben findet bei Herder von Anfang an im Wort, im textuellen Universum statt. In durchaus ähnlichem Sinn, wenn auch gattungs- und wissenschaftsgeschichtlich in ganz anderem Kontext, lässt sich das Anliegen Sigrid Weigels als hermeneutisches verstehen, wie anhand ihrer monographischen Bachmann-Studie5 gezeigt wird. Die Kritik Weigels geht an die Wurzeln traditioneller Auffassungen biographischen Forschens und Schreibens: Der Anspruch, erloschenes Leben könne aus den Spuren, die es in der symbolischen Welt hinterlassen hat, als Lebensgeschichte zumindest approximativ rekonstruiert werden, wird radikal in Frage gestellt. Weigels Kritik lässt sich damit in einer bereits etablierten Tradition des Widerstandes gegen die Biographie und der Anti-Biographik6 verorten. Antibiographik sollte allerdings nicht kurzschlüssig mit Negation oder Annullierung der Gattung gleichgesetzt werden. Zum einen verfälschen schon vorgängige Konstrukte, die rezeptionssteuernd wirken, Reminiszenzen, Interpretationen, Kommentare, Klischees und Ikonisierungsprozesse von Anfang an das Bild, das die Biographie nachzuzeichnen prätendiert. Zum anderen ist es die Angst vor dem literarischen Werk selbst in seiner Uneindeutigkeit und Polysemie, die in die Zuflucht der Biographie und in der Folge zu verkürzenden biographistischen Interpretationen und Bemächtigungsversuchen führt. Hier wird Weigels Kritik am Reduktionismus, den die Biographie in Gang setzt, Teil einer Theorie des Lesens, einer Hermeneutik, deren zentrale Kategorie die „Korrespondenz“ ist. Die Abhandlung zu Leopold Rankes historisch-politischem Porträt Papst Pauls III. artikuliert eine viel diskutierte grundsätzliche Alternative bereits im Titel – Geschichte oder Biographie – und weist damit auf ein Spannungsfeld hin, in dem sich Biographik als solche immer schon findet, wie einleitend ausführlich expliziert wird, bevor der Essay sich einem intensiven close reading des ausgewählten Kapitels aus Rankes Monumentalwerk über römische Päpste seit der Renaissance zuwendet.

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Sigrid Weigel: Ingeborg Bachmann. Hinterlassenschaften unter Wahrung des Briefgeheimnisses. Wien 1999. Hierfür paradigmatisch: David E. Nye: The Invented Self. An Anti-Biography, from Documents of Thomas A. Edison. Odense 1983. Vgl. zu diesem Ansatz auch: Bernhard Fetz: „Der Stoff, aus dem das (Nach-)Leben ist. Zum Status biographischer Quellen“. In: Die Biographie – Zur Grundlegung ihrer Theorie, S. 103 – 153.

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Wilhelm Hemecker

Um die Frage, inwieweit eine Autorin/ein Autor aus ihren/seinen Werken verstanden oder nicht zuerst als plurizentrische Persönlichkeit analysiert und das Werk dann im Umkehrschluss autobiographisch verstanden werden soll – wiederum mit der Gefahr des reduktiven Biographismus –, geht es auch in Gabriele Reuters Bemühungen um eine Lebensskizze von Marie von Ebner-Eschenbach. Dass die von Reuter beschriebene Schriftstellerin zuvor bereits alles unternommen hatte, sich selbst gegenüber der Öffentlichkeit als exemplarische Persönlichkeit zu entwerfen und an der Nachhaltigkeit dieses Idealbilds voller Stereotypen größtes Interesse hegte, legt exemplarisch die latent stets lauernde Gefahr biographischer Komplizenschaft frei: dass der/die Biograph/in willentlich oder unwillentlich an einer „Dichtung vom Dichter“, wie es Reuter nennt, mitwirkt. Hier berühren sich die Probleme eng mit denen, die Sigrid Weigel artikuliert hat. Erst in der Gegenwart kommt es mit dem Programm der Metabiographik zur expliziten Reflexion solcher Klischees, Mythen und Masken, an deren Bildung und Kultivierung auch die Öffentlichkeit interessiert mitzuwirken versteht.7 Explizit zum Programm erhoben wird ,Mythographik’ im Gefolge Stefan Georges. Deren ermöglichende Bedingung und Korrelat ist ein Konzept historischer Größe, das sich in einem kanonisierten Lebenswerk manifestiert, Vorbildfunktion erfüllen soll und zur Identifikation und Nachahmung herausfordert. Der Diskurs verehrungswürdiger Größe findet seine tiefsten Wurzeln bereits bei den Anfängen biographischen Schreibens, in männlich markierten Helden-Elogen der Antike, und findet vor allem über Thomas Carlyle, Friedrich Nietzsche und Jacob Burckhardt Eingang ins 20. Jahrhundert. Als Exempel ist Ernst Bertrams Nietzsche. Versuch einer Mythologie 8 besonders interessant, da die Kategorie der Größe, wie sie bei Nietzsche unsystematisch, aber inhaltlich konsistent entfaltet wird, zum Paradigma seiner Lebensbeschreibung durch Bertram wird. Damit wird von vornherein das Gegenteil einer positivistischen, linearchronikalen Darstellung angestrebt. Zugleich wird das Augenmerk auf den Zusammenhang zwischen Leben und Werk gerichtet, deren Darstellung sich eher an motivischen Clustern als an Lebensphasen orientiert und auch dem Anekdotischen Raum und Gewicht gewährt.

7 8

Im Herbst 2011 legt das Ludwig Boltzmann Institut für Geschichte und Theorie der Biographie metabiographische Untersuchungen zu Ingeborg Bachmann in der Reihe „Profile“ des Österreichischen Literaturarchivs vor. Ernst Bertram: Nietzsche. Versuch einer Mythologie. Berlin 1918.

Einleitung

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Die Abteilung „Psychoanalyse“ präsentiert zwei profunde, aber höchst unterschiedliche Unternehmungen. Die eine, Sigmund Freuds Reflexion der Denkw rdigkeiten eines Nervenkranken, des vormaligen Richters Daniel Paul Schreber,9 widmet sich psychoanalytisch einem autobiographischen Dokument eines zur Zeit der Studie noch lebenden, jedoch Freud nicht persönlich bekannten Kranken und ist vor allem ein hervorragendes Beispiel der produktiven Interdependenz zwischen angewandter Theorie und fortgesetzter psychoanalytischer Theoriebildung. Die andere, Marie Bonapartes monumentale Abhandlung zu Edgar Allen Poe, ist ein geradezu klassischer Versuch, mit Hilfe psychoanalytischer Lebens- und Werkbetrachtungen zu einem zu dieser Zeit bereits verstorbenen Dichter eine umfassende Pathographie zu erstellen. In beiden Fällen kommen grundlegende Kontrolltechniken der Psychoanalyse – die Interaktion zwischen Übertragung und Gegenübertragung wie auch die zwischen freier Assoziation eines lebenden Subjektes und frei schwebender Aufmerksamkeit des akut behandelnden Analytikers im traditionellen psychoanalytischen Setting – nicht zur Anwendung. Gerade dadurch aber sind die beiden Studien als Grenzfälle für eine Theorie der Biographie historisch relevant. Epochen- und Gesellschaftsbiographik zu betreiben reklamiert Siegfried Kracauer für seine Offenbach-Studie.10 Auch er verschreibt sich – zumindest programmatisch – einer Kritik der Gattung, indem er die Lebensbeschreibung qua „Privatbiographie“ in eine Analyse der Gesellschaft überführen will – und zwar als Biographie. Mit der vermeintlichen Akzentverschiebung aber rührt Kracauer grundsätzlich an die Dialektik zwischen Individuum und Geschichte: dass Geschichte und Gesellschaft von Individuen produziert werden, welche ihrerseits immer schon historisch-gesellschaftlich konstituiert sind. Der dieser Dialektik immanente Widerspruch und deren Reflexion unter dem Eindruck des Faschismus durchwirken Kracauers Bemühen, der Position Offenbachs in ihrer ganzen Ambivalenz in der Belle Epoque gerecht zu werden, und transformieren seine Auffassung von der Rolle und den Möglichkeiten des Individuums in der Gesellschaft während seiner Arbeit an der Studie. Der vorliegende Aufsatz zeichnet die enge Verflechtung von Kracauers Unternehmen mit

9 Sigmund Freud: „Psychoanalytische Bemerkungen über einen autobiographisch beschriebenen Fall von Paranoia (Dementia Paranoides)“. In: Freud Gesammelte Werke. Unter Mitwirkung v. Marie Bonaparte, Prinzessin Georg von Griechenland. Hg. v. Anna Freud u. a., Bd. VIII. Frankfurt/M. 1964, S. 239 – 320. 10 Siegfried Kracauer: Jacques Offenbach und das Paris seiner Zeit. Amsterdam 1937.

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Wilhelm Hemecker

der politisch-gesellschaftlichen Situation seiner Entstehungszeit und die Konsequenzen für dessen Ausführung in all ihren Verästelungen nach. Epochenbiographik und psychologische Einfühlung repräsentiert in populärerer Form auch Stefan Zweig. Bei dem Paradigma, in welchem Balzac als biographisches Objekt abgehandelt wird, handelt es sich um eine Variante des Diskurses der Größe, Genialität und Meisterschaft, der bewusst geöffnet und eingebettet wird in einen weiten europäischen Rahmen. Bezugspunkt des Diskurses ist, wie schon bei Nietzsche, Napoleon, mit dem Balzac metaphorisch und metonymisch in Beziehung gesetzt wird. Zweigs historiographische Al fresco-Technik, der suggestive, rhetorisch bis zum Manierismus aufgeladene Stil, das erzähltechnische Raffinement, mit dem der Stoff verarbeitet und vor dem Leser ausgebreitet wird, verändert die Biographie gattungsgeschichtlich substantiell und literarisiert sie in einem zuvor kaum vorstellbaren Ausmaß. Parallel dazu verlief eine theoretische Debatte um den Status der Biographie zwischen Geschichtsschreibung und Kunst, mit der die Literarisierung der Gattung schließlich ihre Legitimation erfuhr und sich das Tor für eine Flut literarisch-biographischer Produktionen öffnete. Um einen Sonderfall biographischen Schreibens handelt es sich bei Peter Handkes Wunschloses Ungl ck: 11 eine autobiographische Erzählung – als Erzählung qualifiziert der Untertitel den Text ausdrücklich – von Begebenheiten aus dem Leben der verstorbenen Mutter des Autors, die an den geschichtlichen Ereignissen als Kleinbürgerin in der österreichischen Provinz subjektiv nur passiv partizipiert. Mit dieser Zuwendung zum gänzlich unheroischen, historisch unbedeutenden, dem Lauf der ,großen’ Geschichte, der Geschichte der Nazi- und Nachkriegszeit gänzlich ausgelieferten Subjekt wird die überkommene Gattungsgrenze – dem Bürgerlichen Trauerspiel des 19. Jahrhunderts vergleichbar – bereits gesprengt. Subjekt und Objekt des Schreibens, Autor und Erzähler, fallen teilweise in der autobiographischen Perspektive in eins. Die Übergänge zur postmodernen Biographik sind vielfältig und fließend. Schon Peter Härtlings narratologisches Verfahren, das die Bricolage aus Faktographie und Fiktivem (durchaus im Sinn von bewusst Hinzuerfundenem), von fiction und ,faction’ – wie sich im vorliegenden Band mit Hilfe einer Synopse von Robert Schumanns inzwischen publizierter Krankengeschichte und Härtlings Romanbiographie zeigt – zum konstruktiven Prinzip erhebt, nimmt implizit den postmodernen Zweifel 11 Peter Handke: Wunschloses Ungl ck. Erz hlung. Frankfurt/M. 2001.

Einleitung

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an jeglichem emphatischen Wahrheitsbegriff vorweg. Doch hatte nicht schon Friedrich Schiller zu einer Zeit, als der Roman und die Erzählung ihre erste Blüte erlebten, die Überlegenheit von Geschichten über Geschichte postuliert? Und erklärt: „Die Geschichte ist überhaupt nur ein Magazin für meine Phantasie, und die Gegenstände müssen sich gefallen lassen, was sie unter meinen Händen werden.“12 Bezeichnend ist der Titel Lebensl ufe, mit dem Alexander Kluge die Biographie transformiert: Diese der Berufs- und Bewerbungspragmatik zugehörige Form eines Gebrauchstexts ist in der Regel selbstverfasst, lässt sich also gattungsästhetisch eher dem autobiographischen Schreiben zuordnen. Der „autobiographische Pakt“13, der nach Philippe Lejeune dem/ der Leser/in die Zuverlässigkeit des Dargelegten von Seiten des/der Autor/in garantieren soll, gilt beim „Lebenslauf“ in einer Weise, die dem/der Verfasser/in konzediert, sich vorteilhaft zu präsentieren. In diesem Spielraum partiellen Verschweigens bewegen sich die Figuren Kluges. Wieder steht hier Geschehenes neben Erfundenem, und wie bei Handkes Figur der Mutter in Wunschloses Ungl ck ist das Subjekt des einzelnen Lebenslaufs ein subalternes und hat unter dem Nationalsozialismus und/oder der restaurativen Nachkriegszeit ihre entscheidende Prägung erfahren, was sich schließlich in fragmentiertem, aus Verdrängung resultierendem und wiederum der Verdrängung Vorschub leistendem Erzählen niederschlägt. Der Aufsatz untersucht exemplarisch zwei von insgesamt neun „Lebensläufen“ vor dem Hintergrund der spezifischen „realistischen Methode“ Kluges. Vehemente Kritik am Begriff „Lebensgeschichte“ führte zu dezentrierten Formen biographischen Schreibens, wie anhand von Dieter Kühns N 14 und Hans Magnus Enzensbergers Der kurze Sommer der Anarchie 15 gezeigt wird. Beide Werke veranschaulichen, ohne sich selbst explizit in der Postmoderne zu positionieren, Merkmale postmodernen Schreibens: 12 Friedrich Schiller: Brief an Caroline von Beulwitz v. 10.12.1788. In: Schiller Werke. Begründet von Julius Petersen. Fortgeführt von Lieselotte Blumenthal u. Benno von Wiese. Hg. im Auftr. d. Nationalen Forschungs- u. Gedenkstätten d. Klassischen Deutschen Literatur in Weimar (Goethe- und Schiller- Archiv) u. d. Schiller-Nationalmuseums in Marbach von Norbert Oellers u. Siegfried Seidel. Nationalausg. Bd. 25. Schillers Briefe 1. Hg. v. Eberhard Haufe. Weimar 1979, S. 154. 13 Philippe Lejeune: Der autobiographische Pakt. Frankfurt/M. 2008. 14 Dieter Kühn: N. Frankfurt/M. 1970. 15 Hans Magnus Enzensberger: Der kurze Sommer der Anarchie. Buenaventura Durrutis Leben und Tod. Frankfurt/M. 1972.

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Wilhelm Hemecker

die Verabschiedung von Kohärenz, Linearität und Teleologie zugunsten fragmentarischer Darstellungsweisen mit widersprüchlichen Perspektiven, wie sie in der Literatur erstmals im Nouveau roman praktiziert und durch poststrukturalistische Theorien in Frankreich poetologisch legitimiert wurden. Multiperspektivität und die immanente Forderung aktiven kreativen Lesens geben sowohl bei Kühn als auch bei Enzensberger bereits den Blick frei auf Möglichkeiten des Schreibens im Zeitalter des Internets. Bei Marlene Streeruwitz’ Roman Nachwelt handelt es sich um ein Vexierspiel: Die Autorin, gescheitert an dem Versuch, eine Biographie der Bildhauerin Anna Mahler (einer Tochter Gustav Mahlers) zu schreiben, lässt eine literarische Figur mit autobiographischen Zügen an dem Versuch, diese Biographie zu schreiben, scheitern. Bei den Recherchen für die Biographie kommt es in feministischer Perspektive zu einer Reflexion der Protagonistin auf ihre eigene Biographie und damit implizit zur Reflexion der Autorin auf sich selbst. Ein wichtiges Moment der Recherchen sind die zahlreichen Interviews mit Zeugen und Freunden Anna Mahlers, die fast ein Viertel des Buches ausmachen. Genau dieser Quelle, der ,oral history’, hat Sigrid Weigel in theoretischen Überlegungen zum Geschäft des Biographen/ der Biographin eine entschiedene Abfuhr erteilt.16 Inwieweit die Interviews, die Marlene Streeruwitz zu Anna Mahler tatsächlich geführt und aufgezeichnet hatte, im Roman fiktional bearbeitet sind, muss offen bleiben. Marlene Streeruwitz’ Roman, 1999 in erster Auflage erschienen, steht nicht nur am Ende eines Jahrhunderts, sondern auch am Ende einer ausgedehnten Mutation des Genres in immer fiktivere Gestaltungen, am Ausgang der Postmoderne. Und seither? Die Medienkonvergenz des Internets hätte neuartige multimediale Präsentationsformen hervorbringen können. Das ist in erstaunlich geringem Maße und allenfalls in Ansätzen geschehen. Sieht man von den interaktiven sozialen Plattformen und Foren ab, übernehmen Biographien im Internet traditionelle biographische Formen und übertragen im wesentlichen das Gutenberg-Modell, Linearität und Kontiguität, auf das neue Medium. Narrative Experimente unter konsequenter Applikation poststrukturalistischer Theorien dezentrierter Subjektivität, wozu Hypertextualität mit all seinen paradigmatischen und syntagmatischen Möglichkeiten geradezu herausfordert, sind ausgeblieben. Auch die interaktiven Möglichkeiten von Web 2.0, die eine Vielzahl von Beteiligten bei der Kompilation offener multimedialer Biographien ins Spiel bringen 16 Vgl. dazu den Beitrag von Caitríona Ní Dhúill im vorliegenden Band.

Einleitung

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könnte, blieben in Bezug auf umfangreichere biographische Projekte im Netz bisher ungenutzt.17 Das Bedürfnis nach breit angelegten konventionellen Biographien indes scheint ungebrochen. Eine Sammlung vertiefender Studien zur deutschsprachigen Biographik wie die vorliegende muss notwendig kontingent bleiben. Manches oder gar vieles wird man daher vermissen: Dilthey etwa, dessen bestürzend großem, Torso gebliebenem Schleiermacher 18 nur monographisch hätte Gerechtigkeit widerfahren können, was sich mit gleichem Recht auch von Carl Justis mehr als 1200-seitigem Winckelmann 19 sagen ließe, einem Werk, das der – gegenüber der Gattung Biographie sonst so skeptische – Hugo von Hofmannsthal als „merkwürdig, weil […] vortrefflich“20 bezeichnet hat. Kaum im Sinne eines ,pars pro toto’ angesichts der Fülle ausgreifender positivistischer Unternehmungen, wie sie im 19. Jahrhundert vor allem zu Staatsmännern und anerkannten Geistesgrößen ausgeführt wurden, findet sich in der vorliegenden Auswahl eine Studie zu Leopold Rankes Porträt Papst Pauls III., einem einzigen Kapitel aus dem vierbändigen Werk Die rçmischen P pste in den letzten vier Jahrhunderten, 21 das selbst wiederum in ein noch weit umfangreicheres Projekt Rankes eingebettet ist.22 Ernst Kantorowicz und Friedrich Gundolf hätten weitere Facetten der Mythographik sichtbar machen können. Zur psychoanalytischen Biographik ist ergänzend ein Aufsatz aus dem Band Die Biographie – zur Grundlegung ihrer Theorie beizuziehen.23 Doch auch etwa Kurt R. Eisslers – von der GoetheBiographik bis in die jüngste Zeit beharrlich ignorierte – zweibändige 17 Dieser Themenkomplex wird am Ludwig Boltzmann Institut für Geschichte und Theorie der Biographie von Cornelia Nalepka im Rahmen einer monographischen Studie in den Blick genommen. 18 Wilhelm Dilthey: Leben Schleiermachers. Berlin 1870. 19 Carl Justi: Winckelmann und seine Zeitgenossen. Bd. 1 – 3, Leipzig 1898. 20 Hugo von Hofmannsthal: „Buch der Freunde“. In: Hofmannsthal Gesammelte Werke in zehn Einzelb nden. Hg. v. Bernd Schoeller u. Ingeborg Beyer-Ahlert. In Beratung mit Rudolf Hirsch. Bd. 10. Reden und Aufsätze III. S. 233 – 299, hier S. 291. 21 Leopold Ranke: Die rçmischen P pste in den letzten vier Jahrhunderten. 4 Bde. in 2 Büchern. Hg. u. eingel. v. Horst Michel. Wien, Hamburg, Zürich o. J. (= Leopold von Rankes Historische Meisterwerke Bd. 15 – 18). 22 Leopold Ranke: F rsten und Vçlker von S d-Europa im sechzehnten und siebzehnten Jahrhundert. Vornehmlich aus ungedruckten Gesandtschafts-Berichten. Bde. 2 – 4: Die rçmischen P pste, ihre Kirche und ihr Staat. Berlin 1834 – 1836. 23 Esther Marian: „Psychoanalytische Frauenbiographik und die Theorie der Geschlechterdifferenz“. In: Die Biographie – Zur Grundlegung ihrer Theorie. Hg. v. Fetz, S. 245 – 282.

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Wilhelm Hemecker

psychoanalytische Studie24 hätte einen ebenso lohnenden Untersuchungsgegenstand dargestellt wie Marie Bonapartes Edgar Poe in einem der Aufsätze der vorliegenden Sammlung. Für eine Auseinandersetzung mit Hermann Brochs Epochenbiographie Hofmannsthal und seine Zeit 25 darf auf die oben bereits erwähnte Biographie zu Hofmannsthal und eine größere Studie von Esther Marian verwiesen werden, aus der auch das Material für ihre hier vorgelegten Überlegungen zu Kracauer stammt. Vollends nur punktuell ließ sich aus der Fülle literarischer Biographien – allein von Peter Härtling gibt es nicht weniger als sieben Lebensdarstellungen, die einem ähnlichen halb fiktionalen Mischverfahren folgen – auswählen. Der abschließende Essay „Lebensgeschichte im Biopic“ wiederum gesteht das notwendig Fragmentarische seines Vorhabens beinahe sokratisch schon im Untertitel ein: „Skizzen zu einem Überblick“. Er wiederum verhält sich komplementär zu seinem Pendant aus der gleichen Feder, das sich im Theorieband abgedruckt findet.26

24 Kurt R. Eissler: Goethe. A psychoanalytic study. 1775 – 1786. Detroit/Mich. 1963. Nicolas Boyle führt Eisslers Studie nicht einmal im Literaturverzeichnis der aktuell ausführlichsten Biographie zu Goethe an! Vgl. Nicolas Boyle: Goethe. Bd. 1 u. 2. Oxford u. a. 1991 – 2000. 25 Hermann Broch: „Hofmannsthal und seine Zeit“. In: Broch Kommentierte Werkausgabe. Hg. v. Paul Michael Lützeler. Bd. 9/1 Frankfurt/M. 1975, S. 111 – 284. 26 Manfred Mittermayer: „Darstellungsformen des Schöpferischen in biographischen Filmen. Beobachtungen an einer Untergattung des Biopics“. In: Die Biographie – Zur Grundlegung ihrer Theorie. Hg. v. Fetz, S. 501 – 533.

Hermeneutische Biographik

Biographie als Hermeneutik Johann Gottfried Herders biographischer Essay ber Thomas Abbts Schriften

Tobias Heinrich Im Jahr 1764 hatte Johann Gottfried Herder nach dem Abschluss seines Studiums in Königsberg eine Stelle als Aushilfslehrer in Riga angenommen und war dort seit 1765 Prediger an den vorstädtischen Kirchen. In Riga fand Herder Zeit und Muße, sich den zeitgenössischen Debatten zu Literatur und Philosophie zu widmen. Auf diesem Weg wurde ihm der Philosoph und Schriftsteller Thomas Abbt bekannt. Abbt gehörte dem Kreis um Friedrich Nicolai an und schrieb Beiträge für dessen Gemeinschaftsprojekt mit Lessing und Mendelssohn, Briefe, die neueste Literatur betreffend (1759 – 65). Er war 1761 als Professor für Mathematik an die Universität Rinteln berufen worden und ab 1765 mit mehreren Verwaltungsagenden am Hofe des Grafen Wilhelm zu Schaumburg-Lippe betraut. In den Fragmenten ber die neuere deutsche Literatur (1766 – 67), jenem Werk, das Herder in der literarischen Öffentlichkeit Deutschlands schlagartig bekannt machte, nimmt die Auseinandersetzung mit den philosophischen Ansichten Thomas Abbts breiten Raum ein. Und bereits im September 1765 war in den Kçnigsbergschen Gelehrten und Politischen Zeitungen eine äußerst wohlwollende Rezension Herders zu Thomas Abbts im gleichen Jahr publizierter Schrift Vom Verdienst erschienen: Wir können dies Buch schon aus einem Vorurtheil für den Namen des Autors empfehlen: der durch seine Schrift: vom Tode f rs Vaterland! gezeigt, daß seine Philosophie und Känntniß des Menschlichen Herzens in einer Seele wohne, die für den Patriotismus groß und für die schöne Wissenschaften fein gnug ist. Jetzt trit er auf eine Stuffe, wo das Herz und der Geist, der Philosoph, der Mensch und der Bürger lauter reden kann, und schreibt vom Verdienst: ein Buch, das […] so wohl in unzählichen kleinen Zügen, als auch auf eine gewisse Art im Ganzen ein Original ist. Es ist, ich möchte sagen, halb Philosophisch und halb Politisch: überall aber auch, Rousseauisch zu reden, Menschlich geschrieben […] 1

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Johann Gottfried Herder: S mtliche Werke (Nachdr. d. Ausg. Berlin 1877), Bd. 1.

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Als Herder erfuhr, dass der nur sechs Jahre ältere Abbt am 3. November 1766 plötzlich verstorben war, schrieb er an Friedrich Nicolai: „Abbts Tod ist für Deutschland unersetzbar. Ist je ein Autor so ganz nach seiner Denkart und Laune gleichsam ausfüllend für mich gewesen: so warens seine Schriften“.2 Im darauffolgenden Jahr entwickelte Herder den Plan einer ,Denkschrift‘ für Thomas Abbt. Dabei wollte er es aber nicht bei der Würdigung eines einzelnen Mannes belassen, sondern auch zwei weitere kurz zuvor Verstorbene einbeziehen, deren Werke Herder geprägt hatten und deren Gedanken er weiterzuführen gedachte: Alexander Gottlieb Baumgarten und Johann David Heilmann. So kam Herder zum Entschluss, einen dreifachen Nekrolog zu verfassen, in dem Abbt, Baumgarten und Heilmann gleichermaßen gedacht werden sollte, als Denker, die ein zu früher Tod ereilt hatte, deren Werk aber von anderen fortgesetzt und vollendet werden sollte. Im Verlauf des Jahres 1767 arbeitete Herder neben einem Portrait Abbts auch einige Entwürfe für das Gesamtkonzept und Fragmente eines Denkmal Baumgartens aus. Allerdings war er mit dem Ergebnis zu Baumgarten wenig zufrieden, und bald beschäftigten ihn auch andere Pläne, so dass Herder zu Beginn des Jahres 1768 lediglich den ersten Teil der Würdigung Thomas Abbts anonym unter dem Titel „Über Thomas Abbts Schriften, der Torso von einem Denkmal, an seinem Grabe errichtet, Erstes Stück“ publizierte.3 Herder stellte der eigentlichen Auseinandersetzung mit Thomas Abbt eine umfangreiche Vorrede und eine Einleitung voran. In der Vorrede griff Herder auf das ursprüngliche Konzept der dreifachen Denkschrift zurück und erörterte die Notwendigkeit einer Auseinandersetzung vor allem mit dem Geist Verstorbener, der in ihren Werken fortlebt. Die Einleitung

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Hg. v. Bernhard Suphan. Hildesheim 1967, S. 79. Hervorhebungen hier und in allen folgenden Zitaten aus dem Original. Johann Gottfried Herder: Brief an Friedrich Nicolai v. 19.2.1767. In: Herder Briefe. Gesamtausgabe 1763 – 1803, Bd. 1. Hg. v. d. Nationalen Forschungs- u. Gedenkstätten der klassischen deutschen Literatur in Weimar (Goethe- u. SchillerArchiv). Unter der Leitung v. Karl-Heinz Hahn. Bearbeitet v. Wilhelm Dobbek u. Günter Arnold. Weimar 1977, S. 71. Der geplante zweite Teil, in der ersten Hälfte des Jahres 1768 geschrieben, wurde von Herder nach dem Streit mit Christian Adolph Klotz, der Herders Anonymität in einer Rezension für die Deutsche Bibliothek gelüftet hatte, nicht veröffentlicht. Das Manuskript hat sich jedoch im Nachlass erhalten und wurde in die Suphan’sche Edition übernommen: Johann Gottfried Herder: S mtliche Werke (Nachdr. d. Ausg. Berlin 1877), Bd. 2. Hg. v. Bernhard Suphan. Hildesheim 1967, S. 295 – 363.

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widmet sich dem methodischen Zugang seiner Schrift, in anderen Worten: dem biographischen Konzept Herders. Hier ist die Rede von „der Kunst […], die Seele des andern abzubilden“4, um damit ein authentisches Portrait des Biographierten zu schaffen. Erst der dritte Teil behandelt die eigentliche Darstellung Thomas Abbts, seiner Werke und seines Stils. Der hohe Stellenwert, den theoretische Fragen zur Biographik in dieser Schrift Herders gegenüber der konkreten Auseinandersetzung mit Leben und Wirken Abbts einnehmen, erklärt sich einerseits aus dem Plan, auch Baumgarten und Heilmann einzubeziehen, andererseits zeugt er vom Bedürfnis, die Traditionen der Totenrede einer Kritik zu unterziehen und die Bedingungen und Möglichkeiten des Biographischen neu zu reflektieren.

Der biographische Diskurs und seine Transformationen im 18. Jahrhundert Vom Reformationszeitalter bis zum Beginn des 18. Jahrhunderts war die biographische Rede im christlichen Europa als Leichenpredigt fester Bestandteil religiöser Praxis und eingebettet in ein System normativer Funeralrhetorik. Herder betont jedoch im Torso die Fragwürdigkeit dieser traditionellen biographischen Konzepte und artikuliert damit einen rhetorischen und performativen Paradigmenwechsel, der sich im Verlauf des 18. Jahrhunderts vollzieht: Eine erste Wende markiert die von Johann Christoph Gottsched vorgenommene Adaption antiker Rhetorik unter Perspektive des Wolff’schen Rationalismus. Indem Gottsched die Vernunft auch in der Rhetorik zum höchsten Ordnungsprinzip erheben will, entkoppelt er die öffentliche Rede in ihren performativen Aspekten von der repräsentativen Funktion, die sie im Zeitalter des Barock innegehabt hat, um sie im Geiste der Aufklärung als Medium der Selbstbestätigung bürgerlicher Identität zu propagieren. „Unter dem Leitbild der Vernunft sollte die deutsche Sprache in Form der öffentlichen Rede eine Machtstellung erlangen, wie sie einst die lateinische Sprache zu Ciceros Zeiten 4

Johann Gottfried Herder: „Über Thomas Abbts Schriften. Der Torso zu einem Denkmal, an seinem Grabe errichtet“. In: Herder Werke in zehn B nden. Hg. v. Martin Bollacher u. a., Bd. 2. Hg. v. Gunter E. Grimm. Frankfurt/M. 1993, S. 565 – 608, hier S. 571. Zitate aus dieser Quelle werden im Fließtext durch Angabe der Seitenzahl ausgewiesen.

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besaß.“5 Angesichts dieses Anspruchs musste sich auch die biographische Rede vor neuen Fragestellungen bewähren. Der Redner dürfe nun sein Augenmerk nicht mehr bloß auf die gelungene sprachliche Ausgestaltung der Rede legen, sondern wird von Gottsched dazu angehalten, unter dem Prinzip der Angemessenheit – des aptum – auf das Verhältnis zwischen Sprache und außersprachlicher Realität zu achten. Der erfolgreiche Rhetor zeichnet sich wie der gute Poet durch die Verwendung der Sprache als einer Methode der Erkenntnis aus.6 Der barocken Selbstbezüglichkeit der Sprache steht Gottsched skeptisch gegenüber, insofern sie keinen Erkenntnisgewinn hervorbringe. Ein Beispiel gibt Gottsched in seiner Reinterpretation der klassischen Rhetorik, der Ausf hrlichen Redekunst (1736), wenn er die Verwendung von Allegorien in Trauerreden nur in jenen Fällen für legitim erklärt, in denen sie einem Ähnlichkeitsverhältnis zur außersprachlichen Wirklichkeit entspringen und als rhetorische Figur durch die Vernunft aufgelöst werden können. Ist das nicht der Fall, verkommen sie zur Phrase und sind im Sinne der rhetorischen Redeintentionen abzulehnen: Wenn jemand bey dem Ableben eines großen Herrn, den Tod desselben mit dem Untergange der Sonne vergliche, und daraus das schematische Thema drechseln wollte: Die untergehende Landessonne: so würde dieser Satz weder zur Erklärung, noch zum Beweise der großen Eigenschaften eines Monarchen, noch zur Erregung der Traurigkeit, noch zum wirklichen Troste des Landes etwas beytragen.7

Auch die Rolle der Affekte in der Redekunst war im Verlauf des 18. Jahrhunderts tiefgreifenden Veränderungen unterworfen. Die barocke Rhetorik fußte auf der Annahme einer begrenzten Anzahl affektiver Grundstimmungen der menschlichen Seele, die durch sprachliche, vor allem rhetorische Mittel hervorzurufen und zu beeinflussen waren.8 Im Fall der Totenrede lautete das Ziel, das Gefühl der Trauer zu regulieren: „Der 5 6 7 8

Rosemary Scholl: „Die Rhetorik der Vernunft. Gottsched und die Rhetorik im frühen 18. Jahrhundert“. In: Akten des 5. Internationalen Germanisten-Kongresses, Cambridge 1975. Hg. v. Leonard Forster. Bern 1976, S. 217 – 221, hier S. 217. Wilhelm Große: „Deutsche Literatursprache von der Aufklärung bis zum Sturm und Drang.“ In: Lexikon der germanistischen Linguistik. Hg. v. Hans Peter Althaus. 2., vollst. neu bearb. u. erw. Aufl. Tübingen 1980, S. 725 – 732, hier S. 728. Johann Christoph Gottsched: „Ausführliche Redekunst“. Hg. v. Rosemary Scholl. In: Gottsched Ausgew hlte Werke. Bd. 7. Hg. v. Phillip M. Mitchell. Berlin, New York 1975, S. 134. Herbert Blume: „Deutsche Literatursprache des Barock.“ In: Lexikon der germanistischen Linguistik. Hg. v. Althaus, S. 719 – 725, hier S. 721.

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barocke Text beansprucht, Trauer und Klage als Erregung von Affekten zu vollziehen, die man nicht hat, sondern die durch den Text induziert und im Verlauf des Textes auch wieder reduziert werden sollen.“9 Der rhetorisch durchgeformte Trauertext hat im Barock eine klar definierte Funktion: „[v]om Lob des Toten ausgehend den Affekt der Trauer zu erregen und dann im Trostteil abzufangen.“10 Damit sind die einzelnen Redeteile – das Lob, die Klage und die Trauer – zu denen im Bereich des Lobes (etwa eines tugendhaften Lebens) auch ein biographischer Teil, die narratio der Lebensgeschichte, zählt, einem höheren Redezweck unterstellt: der consolatio. Trauer als Erregungszustand wird in diesem Konzept weniger als affektive Reaktion auf den Tod eines Menschen betrachtet, sondern als Effekt, der durch Sprache und Rhetorik hervorgerufen wird: Der barocke Text versteht sich nicht als Ausdruck gegebener Gefühle der Trauernden, sondern trägt sie als Affekte an diese heran. Er konstituiert, strukturiert und reguliert diese Affekte als affizierte, als seelisch-körperliche Zustände, die in dem Sinne äußerlich sind, als sie nicht auf ein ,Wesen‘ der Person rekurrieren. Als Affekt unterliegt Trauer und ihre rhetorische Elaboration im Barock keinem Kriterium der Authentizität: was zählt, ist, was der Text an Erregung und Tröstung leistet und wie er es leistet.11

Die explizite Einbettung der Trauerrede in ein christlich-religiöses Weltbild verstärkt dabei die tröstende Wirkung der Rhetorik: Für die Trauergemeinde muß die Leichenrede den Trost biblisch begründen und mit der Vorbildhaftigkeit des Verstorbenen vermitteln, so daß der Tod als Bestandteil des göttlichen Heilsplans bekräftigt werden kann. Umgekehrt erscheint aus homiletischem Blickwinkel der Tod als nur eine unter vielen Gelegenheiten zur Predigt. Als ein den anderen Gegebenheiten des Lebens gleichgestellter Redegegenstand [der] geistlichen Rhetorik ist der Tod klerikalisiert und gezähmt.12

Im Gegensatz dazu konstituiert sich die Rhetorik der Aufklärung vor dem Hintergrund eines zunehmend säkularisierten Weltbilds. Außerdem verschiebt sich auch das Verhältnis von Rede und Affekten. Bewusst eingesetzte rhetorische Stilmittel werden zunehmend als künstliches Moment der Rede betrachtet, dem ein emphatischer Begriff von Natür9 Eva Horn: Trauer schreiben. Die Toten im Text der Goethezeit. München 1998, S. 49. 10 Hans-Henrick Krummacher: „Das barocke Epicedium. Rhetorische Tradition und deutsche Gelegenheitsdichtung im 17. Jahrhundert.“ In: Jahrbuch der deutschen Schiller-Gesellschaft 18 (1974), S. 89 – 147, hier S. 110. 11 Horn: Trauer schreiben, S. 49 f. 12 Franz M. Eybl: „Leichenpredigt“. In: Historisches Wçrterbuch der Rhetorik, Bd. 5. Hg. v. Gert Ueding. Tübingen 2001, Sp. 129.

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lichkeit entgegengesetzt wird. Aus sozialhistorischer Perspektive erfolgt damit die selbstbewusste Aneignung der Redekunst durch ein emanzipiertes Bürgertum, das sich von der höfischen Rhetoriktradition absetzt. So plädierte der Schweizer Philologe Johann Jakob Bodmer „für ein System der ,natürlichen‘ Äußerung“13 und polemisierte damit gegen die höfische Verstellungskunst, in der Affektvortäuschung oder Affektverbergung als höchstes Ziel gelte. Die von absolutistischen Herrschaftsverhältnissen geprägte Barockrhetorik wird damit einer positiv besetzten, „menschlichen, nichthöfischen, in sozialer wie ästhetischer Hinsicht ,bürgerlichen‘ Redlichkeit“14 gegenübergestellt. In der literarischen Praxis des 18. Jahrhunderts ist dieses Authentizitätsideal besonders mit dem Namen Klopstock verbunden. In seinem Werk zeichnet sich der Übergang von einer rhetorisch kalkulierten Affekterregung zu einer Poetik des authentischen Ausdrucks ab, der seine rhetorische Gemachtheit verschleiert, wenn nicht gar vollständig verleugnet. Dennoch wird auch bei Klopstock die Unmittelbarkeit der Rede noch als bewusst inszeniertes Phänomen kenntlich gemacht und deutet insofern nur voraus auf jene Ideen, die in der nächsten Generation als Genie-Ästhetik zum Durchbruch gelangen sollten.15 Während in der barocken Leichenpredigt mit der consolatio das affektive, Trost spendende Moment der Rede, das movere, im Vordergrund stand, betont die Aufklärung die belehrenden Aspekte der Totenrede, das docere. Die Erinnerung an den Toten dient vor allem den Lebenden zur Mahnung. Die biographische Narration erlebt damit im deutschen Sprachraum insofern einen bedeutenden Aufschwung, als sie für das aufklärerische Bildungsprogramm in Dienst genommen werden kann. Im exemplarischen Lebenslauf der aufgeklärten Lobrede steht nicht mehr der Tod, sondern das vorbildhafte Leben im Mittelpunkt. Die Rede vom „Nutzen“ der Biographie ist „zur Zeit der Aufklärung ein epochenspezifisches und bürgerfreundliches Legitimationskonzept.“16 13 Hedwig Pompe: „Natürlichkeitsideal“. In: Historisches Wçrterbuch der Rhetorik, Bd. 6. Hg. v. Gert Ueding. Tübingen 2003, Sp. 199. 14 Ebd. 15 Zu Klopstocks Rolle als Transformationsfigur von rhetorik- zu ausdrucksorientierter Poesie vgl. Frauke Berndt: „Die Erfindung des Genies. F. G. Klopstocks rhetorische Konstruktion des Au(c)tors im Vorfeld der Autonomieästhetik“. In: Autorschaft. Positionen und Revisionen. Hg. v. Heinrich Detering. Stuttgart 2002, S. 24 – 43. 16 Michael Maurer: Die Biographie des B rgers. Lebensformen und Denkweisen in der formativen Phase des deutschen B rgertums (1680 – 1815). Göttingen 1996, S. 81.

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Auf der Ebene der Performanz verschiebt sich die perlokutive Wirkungsabsicht des Nekrologs weg von der Affektregulierung hin zur Affirmation eines bürgerlichen Lebensideals. Nicht mehr der emotionale Trost ist das Ziel der Rede, sondern die vernunftgeleitete Belehrung. Während im System der barocken Rhetorik der Tod als Ereignis, vermittelt durch den rhetorisch geformten Text der Trauerrede, affektive Wirkung erzeugt, wird im Lichte der Aufklärung das Leben des Verstorbenen selbst zum didaktischen Text. In dieser Form manifestiert sich in den Gattungen des Nachrufs zwischen Barock und Aufklärung der „Durchgang und Übergang zwischen einer ,rhetorischen‘ und einer ,hermeneutischen Kultur‘“.17 Herder setzt diesen Weg im biographischen Diskurs konsequent fort. Während im Barock das Herrscherlob und in der Aufklärung der bürgerliche Lebenslauf Paradigma der Biographik waren, widmet er sich vor allem der Schriftsteller- und Gelehrtenbiographie. Dabei unterzieht er nicht nur das Leben der Biographierten gleichsam einer hermeneutischen Lektüre, sondern verfolgt auch dort noch eine biographische Hermeneutik, wo Gottsched und teils auch noch Bodmer, Breitinger und Klopstock rhetorische Kategorien herangezogen hatten: beim individuellen Stil eines Autors, der Einmaligkeit seines Werks und dem authentischen Ausdruck des Verfassers, der seinen Schriften abzulesen ist. Herder entwickelt Prinzipien einer biographischen Lektüre, die Leben und Werk miteinander verschränkt, um aus beidem schließlich das lebendige Abbild eines Schriftstellers zu erhalten, dem es nachzueifern, nachzuleben und nachzuschreiben gilt. Hierin verfolgt Herder ein Bildungsprogramm, das sich nicht wie in der rationalistisch geprägten Frühaufklärung nach abstrakten wissenschaftlichen und ästhetischen Konzepten ausrichtet, sondern sich am Leben und der Individualität konkreter Vorbilder orientiert. Vermittelt über das empfindsame Konzept der ,Herzenssprache‘18 gewinnen mit Herder auch Gefühle wieder an Bedeutung im biographischen Diskurs. Allerdings mit umgekehrten Vorzeichen: Es ist nicht mehr der Text, der Trauer induzieren soll. Vielmehr folgt Herder einem modernen Affektverständnis, indem er die Notwendigkeit der biographischen Memoria aus der Trauer um den Verstorbenen motiviert. Die Empfindung selbst wird als evident angenommen und bleibt unhinterfragt. Aus diesem Blickwinkel werden Emotionen in Herders biographischem Konzept zur 17 Rüdiger Campe: Affekt und Ausdruck. Zur Umwandlung der literarischen Rede im 17. und 18. Jahrhundert. Tübingen 1990, S. 3. 18 Pompe: „Natürlichkeitsideal“, Sp. 200.

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Basis der Kommunikation: Die Trauer um den Toten verbindet den Biographen und seine Leser zur Gemeinschaft der Hinterbliebenen. Der Biograph versteht sein Werk als ein „Opfer der Liebe“ (S. 570) und er kann dem Anspruch, in der Biographie ein getreues Abbild des Verstorbenen zu geben, nur in „verliebter Schwärmerei“ (S. 574), die er dem Toten entgegen bringt, gerecht werden. Unter Heranziehung traditioneller Topoi der Liebeslyrik beschreibt Herder die didaktische Wirkung der Biographie schließlich als einen „Kuss“ (S. 576), der Weisheit lehrt. Emotion ist in dieser Form keinesfalls mehr Effekt der Rede, sondern grundlegende Bedingung kommunikativer Verständigung. Ein drittes Moment der Veränderung im biographischen Diskurs betrifft den Status des Biographen im Verhältnis zur biographierten Person. Wer schreibt eine Biographie? Und in welcher Beziehung sollte er zu seinem biographischen Objekt stehen? Auch die Antworten auf diese Fragen sind historischer Veränderung unterworfen. Am Beispiel der Nachrufe auf den empfindsamen Dichter Christian Fürchtegott Gellert um die Mitte des 18. Jahrhunderts konnte eine deutliche Popularisierung des Genres nachgewiesen werden, und zwar nicht nur, was die Anzahl der publizierten Schriften oder den Erfolg beim Lesepublikum betraf, sondern auch in Hinblick auf die Autoren und deren sozialen Status.19 Waren im 17. und in der ersten Hälfte des 18. Jahrhunderts noch fast ausschließlich Geistliche und männliche Gelehrte die Verfasser von Nachrufen, so wird diese Beschränkung, sowohl was den Bildungshintergrund und den sozialen Status als auch was das Geschlecht der Schreibenden betrifft, durchlässig: Anläßlich von Gellerts Tod […] veröffentlichten zwar ebenfalls viele Angehörige der intellektuellen Eliten – etwa Professoren, höhere Lehrer, Hofleute oder Pastoren – Würdigungen des Verstorbenen. Doch an deren Seite traten zahlreiche Autoren aus gänzlich anderen Milieus, Berufsgruppen und sozialen Kreisen, darunter insbesondere eine Reihe von schreibenden Frauen, ein Soldat, sowie diverse anonyme Skribenten, die sich lediglich als ,Jünglinge‘ oder als ,Verehrer‘ des Verewigten zu erkennen gaben und in den Einleitungen zu ihren Nachrufen freimütig ihre Bildungsdefizite gegenüber den Anforderungen an eine traditionelle Kasualpoesie einräumten.20

19 Ralf Georg Bogner: Der Autor im Nachruf. Formen und Funktionen der literarischen Memorialkultur von der Reformation bis zum Vorm rz. Tübingen 2006, S. 259. 20 Ebd., S. 257.

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Darüber hinaus war auch die soziale Nahbeziehung zwischen Autor und Verstorbenem in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts nicht mehr Voraussetzung einer postumen Würdigung: Die Formierung einer breiten aufgeklärten Öffentlichkeit hatte mithin für die Geschichte des Nachrufs die einschneidende Konsequenz, daß ein Autor, der beim Publikum zu Prominenz gelangt war, nach seinem Tod auch und gerade weit außerhalb seines eigentlichen persönlichen Lebens- und Wirkungskreises nekrologisch geehrt wurde.21

Die Bildungsideale der Aufklärung trugen dazu bei, die engen Schranken des gelehrten Diskurses zu durchbrechen, und ermutigten Menschen aus einem breiten sozialen Spektrum zur eigenständigen literarischen Produktion. Die Neubewertung des Verhältnisses von Text und Affekt betonte die Bedeutung der ungekünstelten, einfachen Sprache, die keinen speziellen Bildungshintergrund voraussetzte. Außerdem – und das ist in Herders biographischem Konzept von größter Relevanz – kann sich die notwendige Beziehung zwischen Biographen und Biographiertem auch indirekt konstituieren. Die Voraussetzung dafür stiftet die Ausdruckspoetik der Empfindsamkeit, die in jedem Text tendenziell einen Spiegel der Seele seines Verfassers sieht. Jemand, der die Schriften eines Verstorbenen gelesen hat, weiß somit möglicherweise sogar mehr über ihn zu berichten als einer, der ihn persönlich kannte.

Die Stellung des Biographen bei Herder Ich trete an das Grabmal eines Mannes, den ich nicht von Person gekannt, mit welchem ich nie Briefe gewechselt; allein ich kenne die Schriften desselben, und habe bei dem Nachsinnen über sie gewünscht: ,möchte ich ihren Verfasser kennen!‘ ein Wunsch, den ich gewiß nicht bei jeder Schrift tue. (S. 565)

Mit diesen Worten inszeniert Herder seine Auseinandersetzung mit einem Toten. Das Objekt des Textes – der im Titel genannte Thomas Abbt – ist verstorben. Als „Person“ ist er der schreibenden Instanz – dem Ich, dem Biographen – nicht mehr zugänglich. Die Kommunikation ist verstummt. Was bleibt, sind die Schriften, die durch den Namen Thomas Abbt miteinander verbunden sind, und das Begehren, den Verstorbenen zu kennen. Herder hält seinen Namen als Verfasser des Torso zurück und begründet das vor allem mit der Sorge, Kritik an dem Werk könnte seinen sozialen 21 Ebd., S. 259.

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Status und seine neu erworbenen Ämter gefährden.22 Die Schreibinstanz des Torso setzt Herder bewusst von seiner eigenen Person ab. Das schreibende Ich setzt in seiner Anonymität eine Leerstelle, die in der Rezeption des Textes auf vielfältige Art und Weise gefüllt werden kann. Die Unbestimmtheit der Sprechinstanz äußert sich im Torso als Spiel mit der Rolle. Einerseits zitiert der Text traditionelle Topoi der Totenrede, indem das Verhältnis der Sprechinstanz zu Thomas Abbt als ein ,freundschaftliches‘ beschrieben wird. An anderen Stellen stellt sich das anonyme Ich des Textes auf die Seite der Rezipienten, die in der Lektüre der Werke Thomas Abbt als Lehrer lauschen. Die dritte Rolle schließlich ist die des weltmännischen Gelehrten, der den frühen Verlust großer Denker für das deutsche Geistesleben beklagt. Herder gewinnt mit dieser Inszenierung größtmögliche Autorität neben höchster Authentizität und einem bewusst eingesetzten Identifikationspotential für die Leser. Die Anonymität des Verfassers – so sehr sie auch durch äußere Umstände motiviert war – wird zu einem bedeutungsvollen Instrument im biographischen Konzept des Torso. Die Rolle des Biographen ist so nicht an ein spezifisches Subjekt gebunden, sondern wird von der Lebenswelt des Verfassers abstrahiert, um in ein idealtypisches Verhältnis sowohl zum biographischen Objekt als auch zu den Rezipienten zu treten. Herder nimmt hier eine Tendenz der Biographik des 19. Jahrhunderts vorweg, in der ein Biograph im Idealfall vollständig hinter seinem Objekt verschwindet. Was für die Zeitgenossen Herders noch als Spiel und Inszenierung kenntlich war, schließlich vom Halle’schen Philologen Christian Adolph Klotz in der ,Entlarvung‘ des Verfassers aufgelöst wurde und zu einem heftigen Eklat mit Herder führte, wird im 19. Jahrhundert zu einem konstitutiven Moment der Biographie. Erst im Verlauf des 20. Jahrhunderts erfährt die Subjektivität des Biographen wieder eine Aufwertung gegenüber der scheinbaren Objektivität der Biographie. Sein grundsätzliches Interesse am biographischen Schreiben formuliert Herder vor dem Hintergrund eines der zentralen Topoi biographischer Literatur: Es ist der „Wunsch, mit dem Toten zu sprechen“,23 der Herder dazu führt, sich mit dem Leben eines Verstorbenen auseinanderzusetzen. Ein Vierteljahrhundert nach der Abfassung des Textes zu Thomas Abbt entwirft Herder in seinen Briefen zur Befçrderung der Humanit t (1793 – 97) das utopische Programm einer Biographik, die das Leben eines Menschen 22 Vgl. dazu Rudolf Haym: Herder, Bd. 1. Berlin 1954, S. 237 f. 23 Stephen Greenblatt: Verhandlungen mit Shakespeare. Innenansichten der englischen Renaissance. Frankfurt/M. 1990, S. 9.

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über seinen körperlichen Tod hinaus zu retten prätendiert, indem sie sein Weiterleben im Text ermöglicht: Laß Tote ihre Toten begraben; wir wollen die Gestorbnen als Lebende betrachten, uns ihres Lebens, ihres auch nach dem Hingange noch fortwirkenden Lebens freuen, und eben deshalb ihr bleibendes Verdienst dankbar für die Nachwelt aufzeichnen. Hiermit verwandelt sich auf einmal das Nekrologium in ein Athanasium, in ein Mnemeion; sie sind nicht gestorben, unsre Wohltäter und Freunde: denn ihre Seelen, ihre Verdienste ums Menschengeschlecht, ihr Andenken lebet.24

Herder greift auf das barocke Modell der Trost spendenden Wirkung der Rede über die Toten zurück, entwickelt aber eine vollkommen neue – moderne – Konstellation, in der die Trauer über den Tod in der kulturellen Memoria aufgehoben ist. Unsterblichkeit wird nicht mehr in transzendente Vorstellungen gefasst, sondern als weltliches Konzept entwickelt.25 Der Tote lebt weiter, im aktiven Andenken an ihn und sein Wirken. Indem Herder das Weiterleben im Nekrolog postuliert, stellt er gleichzeitig den Anspruch, dieses Genre als Träger des kulturellen Gedächtnisses zu etablieren. Die neue Memoria-Forschung unterscheidet zwischen einem Speicherarchiv, in dem Wissen bloß abgelegt wird, und einem funktionalen, affektbesetzten Erinnerungsspeicher.26 Herders Schriften zeugen vom Bewusstsein, dass es keinesfalls genügt, das Wissen einer Gesellschaft bloß zu archivieren. Vielmehr bedarf es fortwährender Aktivierung und Aktualisierung, einer Verlebendigung des Wissens. Ziel eines jeden biographischen Unternehmens müsse es sein, den originären 24 Johann Gottfried Herder: „Briefe zu Beförderung der Humanität“. In: Herder Werke in zehn B nden. Hg. v. Martin Bollacher u. a., Bd. 7, hg. v. Hans Dietrich Irmscher. Frankfurt/M. 1991, S. 26. 25 Vgl. Tino Markworth: Unsterblichkeit und Identit t beim fr hen Herder. Paderborn u. a. 2005. Markworth verweist auf unterschiedliche Konzepte der Unsterblichkeit, die Herder entwickelte und auch wieder verwarf. Herder positionierte sich damit in einer Debatte, die sich der Frage nach Unsterblichkeit vor dem Hintergrund der säkularisierenden Tendenzen der Aufklärung stellt. Diese Debatte, die ihren Ausgang in Johann Joachim Spaldings Schrift Die Bestimmung des Menschen nahm, involvierte sowohl Friedrich Nicolai als auch Moses Mendelssohn und Thomas Abbt selbst und hat ihren Nachhall noch im Torso, wenn Herder auf Platons Ph don – und damit indirekt auch auf Mendelssohns Interpretation dieses Textes – verweist (S. 568). 26 Aleida Assmann: „Speichern oder Erinnern? Das kulturelle Gedächtnis zwischen Archiv und Kanon“. In: Speicher des Ged chtnisses: Bibliotheken, Museen, Archive, Bd. 2. Die Erfindung des Ursprungs: Die Systematisierung der Zeit. Hg. v. Moritz Csáky u. Peter Stachel. Wien 2001, S. 15 – 30, hier S. 15.

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Geist des Verstorbenen in seinen Hinterlassenschaften aufzufinden und so in der Biographie ein lebendiges Bild des Biographierten vorzustellen. Der Biograph ist in Herders Konzept somit ein notwendiger Vermittler zwischen der biographierten Persönlichkeit und den Rezipienten der Biographie: Leser! setze dich neben mich und lies mit mir, denn der Geist, der Abbts Körper überlebt, atmet in seinen Schriften: wisse ihre toten Worte zur Hülle zu nehmen um denselben zu erblicken, damit er in dich würke, und dich wie mit einem Hauche, belebe. (S. 569)

Hier zeigt sich wiederum Herders Spiel mit der Autorfiguration. Das schreibende Ich wird als lesendes vorgestellt. Indem die Vermittlungsposition des Biographen zwischen der biographierten Person und den Lesern als bruchloser Übergang vom einen zum anderen dargestellt wird, verschleiert Herder die Autorität, die er sich für die Auslegung von Abbts Schriften zugesteht. Das „lies mit mir“, das hier artikuliert wird, ist in Wahrheit ein: „lies durch mich“. Der Biograph des Verstorbenen besitzt in Herders Konzept die Auslegungsautorität über dessen Schriften. Er erkennt den Geist des Verstorbenen sowohl in seinem toten Körper als auch in den Zeugnissen, die der Nachwelt auch über seinen Tod hinaus zugänglich bleiben. Für den Biographen, wie ihn Herder entwirft, ersetzen die Schriften Thomas Abbts nach seinem Tod dessen körperliche Existenz. Die zitierte Passage lässt aber noch einen zweiten Kunstgriff Herders erkennen. Es ist nun nicht mehr bloß der verstorbene Thomas Abbt, dessen Geist in der Erinnerung an ihn zum Leben erwacht. Vielmehr sind es nun die Leser selbst, die den „Hauch“ Abbts in der Lektüre seiner Werke erfahren und die durch ihn belebt werden. Der biographische Text besitzt in Herders Konzept somit eine zweifach belebende Wirkung: gegenüber seinem Gegenstand, aber auch gegenüber seinen Rezipienten. Herder bedient sich hierbei einer Metaphorik, die ihre Wurzeln sowohl in der Schöpfungsgeschichte der Bibel als auch in Homers Epen hat: die Seele als Lebensatem, der ein- oder ausgehaucht wird. Im Alten Testament ist es der Hauch Gottes, der Leben spendet, während Homer den Begriff Pneuma zur Bezeichnung jener Kraft wählt, die den Körper im Zustand von Tod oder Ohnmacht verlässt.27 Herder hebt diese archaische Bedeutung der Seele als Lebenshauch in seinen biographietheoretischen Überlegungen besonders hervor. Abbts Seele vermag es, den Tod des Körpers zu über27 Bruno Snell: Die Entdeckung des Geistes: Studien zur Entstehung des europ ischen Denkens bei den Griechen. 4. Aufl. Göttingen 1975, S. 18.

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leben und existiert weiter im „Reiche der Geister“ (S. 571), um schließlich, wie der alttestamentarische Lebensatem, selbst belebende Wirkung auszuüben. Um diesen Prozess zu illustrieren greift Herder auf zwei weitere Metaphern zurück, die des Magnetismus und die des Salböls. Die menschlichen Seelen, so schreibt Herder mit einem Verweis auf Platons Dialog Ion, können einander ihre „Kraft“ wie Magneten mitteilen (S. 569). Bei Platon bezieht sich dieser Vergleich auf die dichterische Inspiration und auch in Herders Ästhetik ist der Begriff ,Kraft‘ von zentraler Bedeutung. Der belebende Geist des Verstorbenen ist für Herder ein schöpferischer Impuls, der nach dem Tod nicht versiegt, sondern auf andere übertragen werden kann. Dazu ist es jedoch nötig, zuerst den Geist Thomas Abbts in seinen Hinterlassenschaften, in seinem toten Körper – und damit meint Herder nicht den Leib sondern die Schriften des Verstorbenen – aufzufinden und aus der „Hülle“ der „toten Worte“ zu befreien (ebd.). Man sollte – und mit diesem ,man‘ kommt nun der Biograph ins Spiel – aus den Schriften ein „Salböl“ (ebd.) ziehen, um seine Nachfolger damit zu weihen. Der Geist des Verstorbenen muss erst aus den Schriften extrahiert werden, um seine belebende Wirkung entfalten zu können. Löst man die Metapher auf, so sieht Herder den Biographen – und im Falle Thomas Abbts sich selbst – zuvorderst als Hermeneut, der in seiner Auswahl, Interpretation und Erläuterung der Schriften eines anderen, die Essenz dessen Denkens, gewinnt, um diese den Lesern zu vermitteln.

Biographie als Auferstehung der Toten Die Leichenrede als Gattung setzte in ihren Ursprüngen ein räumliches Naheverhältnis von Redner, Publikum und Redegegenstand voraus.28 Der erste Satz des Torso – „Ich trete an das Grabmal eines Mannes […]“ – ruft dieses Szenario auf. Bei der Rede am Grab sind sowohl Redner und Publikum als auch der Leichnam des Verstorbenen an ein und dem selben Ort präsent. Der Anblick des leblosen Leichnams macht die ursprüngliche Differenz zwischen dem realen menschlichen Körper und der Utopie der Seele bewusst.29 Die Spannung dieser Konstellation liegt in der Rolle des 28 Rudolf Lenz: „Gedruckte Leichenpredigten (1550 – 1750)“. In: Leichenpredigten als Quelle historischer Wissenschaften, Bd. 1. Hg. v. Rudolf Lenz. Köln, Wien 1975, S. 36 – 51, hier S. 38 f. 29 Vgl. dazu Michel Foucault: Die Heterotopien. Der utopische Kçrper. Zwei Radiovortr ge, Frankfurt/M. 2005, insb. S. 27 u. S. 35.

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toten Körpers als Zeichen einer anwesenden Abwesenheit. Demgegenüber muss die gedruckte Biographie die Verbindung zwischen den Rezipienten und ihrem Gegenstand erst selbst generieren. Die Rolle des Leichnams übernehmen in diesem Fall die Schriften des Verstorbenen. Sie verweisen auf ihren abwesend anwesenden Verfasser. Der Akt der Lektüre, der Lesende und Autor zusammenführt, birgt die Möglichkeit einer geistigen Auferstehung in sich. Lebendig ist die Rezeption aber erst dann, wenn sie selbst wieder produktiv wird. Herders Konzept der Biographie ist hier vor dem Hintergrund der Genie-Ästhetik zu lesen, in der der Begriff des Lebendigen immer auch einen schöpferischen Aspekt mit einschließt. Nicht das biologische Leben ist es, das gerettet werden soll, sondern die schöpferische Kraft, die den Texten Abbts abzulesen ist. Diese Kraft an die Person des Autors rückzubinden ist allerdings keineswegs selbstverständlich. Sie beruht auf einer rhetorischen Operation: Kreativität wird personalisiert. In den Schriften Edward Youngs, Heinrich Wilhelm von Gerstenbergs, Friedrich Gottlieb Klopstocks und Johann Gottfried Herders wird „die individuelle menschliche ,Natur‘ zum seinerseits nicht weiter ableitbaren Begründungspunkt allen naturgemäßen Schaffens proklamiert und darin die regeltranszendierende Funktion des originären Schreibens affirmiert.“30 Auch wenn dieses Konzept, vermittelt durch die Schweizer Literaturkritiker Johann Jakob Bodmer und Johann Jakob Breitinger, bereits aus französischen und englischen Debatten im deutschen Sprachraum bekannt war, gelangte es erst durch Friedrich Gottlieb Klopstock zu breiter Popularität. [Klopstock bereitet] innerhalb der rhetorischen Poetik einer medialen Praxis den Weg, in deren Zuge die Kreativität der Poesie dem Poeten zugesprochen, die Metonymie des Autornamens bzw. der Personalpronomina ,Wir‘ oder ,Ich‘ […] mit dem historischen Individuum kurzgeschlossen und das Design der Empfindung mit einem Gemütszustand der zu codierenden ,Seele‘ verwechselt werden darf, so daß ,der Dichter und der Leser einander‘ im Medium der Dichtung ,am gewissesten kennen[lernen]‘ können.31

Herder widmet sich in seinem Konzept der „rezeptionsästhetische[n] Entsprechung“ dieses Phänomens, der „Biographie als Medium (nach-)empfindenden Verstehens“.32 Die poetische Kraft eines Werks wird weiterhin mit der Person des Schriftstellers identifiziert, allerdings der Sterblichkeit seines Körpers enthoben und an das Konzept einer un30 Pompe: „Natürlichkeitsideal“, Sp. 201. 31 Berndt: „Die Erfindung des Genies“, S. 29. 32 Ebd., S. 25.

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sterblichen Seele gebunden. Der physische Tod Thomas Abbts ist im Weiterwirken seiner Texte aufgehoben. Die Biographie soll bei Herder daher nicht primär die Lebensgeschichte des Schriftstellers erzählen, sondern vielmehr an dessen Schriften die „eigene Manier Abbts“ (S. 578) ablesen und die „Originalstriche seiner Denkart“ (S. 576) zeigen. Die Grenzen zwischen postumer Würdigung, Literaturkritik, Lehrschrift und Lebenserzählung verschwimmen. Das Biographische wird zu einer Auseinandersetzung mit Texten, das Leben, wie es Herder hier versteht, zum Produkt einer Lektüre. Das Motiv des Schriftstellers, der sich in die Schrift entäußert, findet sich im Zusammenhang mit Überlegungen zur Natur der Autorschaft auch im 20. Jahrhundert an prominenter Stelle wieder. Michel Foucault hebt in seinem Vortrag Was ist ein Autor? (1969) die „Verwandtschaft des Schreibens mit dem Tod“ hervor: „Das Merkmal des Schriftstellers besteht […] in der Eigentümlichkeit seiner Abwesenheit. Er muss die Rolle des Toten im Spiel des Schreibens einnehmen.“33 Foucault sieht darin die Umkehrung eines traditionellen literarischen Motivs: des Erzählens gegen den Tod. Und in der Tat beruft sich auch Herders Biographik nicht auf die lebendige Person Thomas Abbt sondern auf einen toten Autor. Wenn die Abwesenheit des lebendigen Menschen durch eine Verlebendigung der Schrift kompensiert werden soll, wird damit der Tod der realen, körperlichen Person nur umso deutlicher bestätigt. Gerade die Aufwertung der Bedeutung, die der individuellen Persönlichkeit eines Autors in der Ästhetik des 18. Jahrhunderts für die Auseinandersetzung mit den von ihm verfassten Schriften zukommt, verwandelt laut Foucault paradoxerweise Autoren in der Biographie zu literarischen Figuren, in deren Bild sich die reale Person verliert: „In der ästhetischen Negation des Todes verschwinden die Toten hinter den Texten, die ihre Unsterblichkeit festschreiben sollten. Unsterblich bleiben dabei nur die Texte.“34

33 Michel Foucault: „Was ist ein Autor?“ In: ders.: Schriften zur Literatur. Frankfurt/ M. 2003, S. 239. 34 Horn: Trauer schreiben, S. 107

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Die Schriften eines Verstorbenen als Ausdruck seines Geistes Die Biographik, wie sie Herder in den einleitenden Abschnitten des Torso entwirft, steht in einem Spannungsverhältnis zwischen Autor und Werk. Und damit ist nicht nur das Problem des Biographismus gemeint, also die Frage, inwiefern eine Interpretation des Werks auf Basis dessen, was man über das Leben seines Verfassers weiß, zulässig ist. Das Verhältnis zwischen Autor und Werk ist bei Herder weitaus komplexer, denn die Schriftstellerbiographie erhält ihre Legitimation ja überhaupt erst aus der Existenz eines schriftstellerischen Werkes. Umgekehrt zum literarischen Produktionsprozess geht in der Rezeption üblicherweise die Auseinandersetzung mit den Schriften der Auseinandersetzung mit der Schriftstellerpersönlichkeit voraus. Zu Recht kann behauptet werden: „Die Verehrung bezieht sich zunächst auf das Werk und nur indirekt auf die Person, die es hervorgebracht hat.“35 Im Torso betont Herder allerdings, dass jede Auseinandersetzung mit einem Werk darauf zielen muss, den Geist des Verfassers zu erschließen. Problematisch ist hier, dass die Schrift zwischen dem Autor und dem Leser steht und die Kommunikation zu einer vermittelten macht. In Herders Konzept kann die Schrift für einen aufmerksamen Leser jedoch transparent werden und den Blick auf ihren Verfasser freigeben: Anhand eines Vokabulars, das ins Religiöse weist und auf die Begrifflichkeit der Romantik vorausdeutet, entwickelt Herder hier seine originelle Konzeption des literarischen Werkes. Es ist mehr als ,toter Buchstabe‘, mehr als ein kunstvoll angefertigtes Konstrukt, es ist die ,Hülle‘ eines lebendigen, eines ,athmenden Geistes‘. […] Die Kritik eines so verstandenen Werkes kann sich nicht in der Betrachtung der Schriften, in der Buchkritik und Buchbewertung erschöpfen. Vielmehr sind die Werke nur Medium, Zugang zum Geist des Verfassers; sie sind das Material, durch das hindurch sich die Kritik auf ein Dahinterliegendes, Umfassenderes richtet, den Geist.36

Eine solche Interpretation lässt jedoch den performativen Charakter von Herders biographischem Ansatz außer Acht. Die Behauptung, ein Text könne den „Zugang zum Geist des Verfassers“ eröffnen, verschweigt den Konstruktcharakter dessen, was hier als Geist bezeichnet wird. Die Seele eines Menschen ist in Herders Modell gerade deshalb unsterblich, weil sie 35 Albrecht Koschorke: Kçrperstrçme und Schriftverkehr. Mediologie des 18. Jahrhunderts. München 1999, S. 161. 36 Ingeborg Nerling-Pietsch: Herders literarische Denkmale. Formen der Charakteristik vor Friedrich Schlegel. Münster 1997, S. 55.

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kein Phänomen des Körpers ist. Herder macht daher auch den Geist eines Schriftstellers nicht am Verstorbenen selbst fest, sondern findet seinen Ausdruck in den Schriften des Toten, in den von ihm produzierten Texten. Das Material des Textes ist jedoch die Sprache und die Rhetorik sein Kompositionsgesetz. Gerade zentrale Begriffe des literarischen Diskurses der Empfindsamkeit – wie Emotionalität, Authentizität, individueller Stil – müssen als Phänomene des Textes gelesen werden, die erst im Akt der Rezeption wieder zurück auf die Autorpersönlichkeit projiziert werden können. Damit bleibt „jene Seele, die vom Autor nicht gesagt werden konnte (weil sie sonst nur noch Sprache wäre) und doch sein ,Sein‘ ist (weil sie ihn zu allem seinem Sagen brachte)“,37 medial an die Schrift und performativ an den Akt des Lesens gebunden. Die Suche nach einer Instanz der ,geistigen Autorschaft‘, die den einzelnen Text übersteigt und dennoch paradox an seine Manifestation in Schrift verankert bleibt, gewinnt ihren Sinn vor dem Hintergrund eines Bildungskonzepts, das einen fließenden Übergang vom Leser zum Autor postuliert: Die Lektüre und Schriftstellerei; das Lesen und Schreiben; beide sind von einander auch vielleicht unzertrennlich. Durchs Schreiben lernt man lesen und hören; durchs Hören lernt man schreiben, und wird dazu getrieben, begeistert.38

Diese enge Verschränkung von Textrezeption und -produktion bildet den Kern von Herders biographischem Ansatz. Der Biograph ist immer auch Leser, und die Rezipienten der Biographie sind zugleich immer potentielle Autoren. Die Vermittlungsleistung der Biographie zwischen ihrem Objekt und den Lesern kann dann als gelungen betrachtet werden, wenn diese den Geist der biographierten Persönlichkeit in sich aufnehmen und den von ihr begonnenen Weg fortsetzen. Weiterleben eines Schriftstellers über seinen Tod hinaus bedeutet in Herders biographischem Konzept das Fortschreiben des Werkes durch fremde Hand: Wenn […] Männer aus unvollendeten Planen gerissen werden, so wie jener wilde Römer den Archimedes niederstieß: alsdenn sollte auf ihrem Grabe die himmlische Stimme schallen, die andere aufriefe, zu vollenden diese verlassnen Entwürfe, und da in die Laufbahn einzutreten, wo sie dem anderen abgekürzt wurde, um mit einem mal näher dem Ziele zu sein. […] Wie glücklich wäre ich, […] wenn ich einen einzigen Leser auf den Pfad risse, den Abbt ging: ihm die Abwege zeigte, auf denen jener sich verirrte: ihm die 37 Friedrich A. Kittler: Aufschreibesysteme 1800 – 1900. 4., vollst. überarb. Neuaufl. München 2003, S. 199. 38 Herder: „Briefe zur Beförderung der Humanität“, S. 59.

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Fußsteige anwiese, wo er die Schriften seines Vorgängers überholen könnte. Wenn ich einem anderen die zerstückten Entwürfe darlegte, damit er sie ergänze: einen andern auf die Spur brächte, sich Abbts Denkart zu eigen zu machen und einen andern wenigstens vom Nachäffen rettete: – eine einzige dieser Hoffnungen erleichtert, eine einzige Erfüllung derselben belohnt meine Arbeit. (S. 569 f.)

Aufbauend auf empfindsame Konzepte von Gemeinschaft, ist es das Bild der sich einander in Sympathie annähernden Seelen, aus dem sich auch in den gelehrten Diskursen um die Mitte des 18. Jahrhunderts das sprachliche Repertoire der Wissenskommunikation speist. Die zärtliche Sprache der Empfindsamkeit wird – auch außerhalb der schönen Literatur – nicht nur als authentischer Ausdruck der Seele verstanden, sondern generell als Medium unverstellter Kommunikation: „Erst diese besondere Sprache macht die in der Hinwendung zum Mitmenschen sich erfüllende Wesensnatur kommunikabel – und so auch interaktionsfähig.“39 Im Gegensatz zur Frühaufklärung beruht kommunikative Verständigung in der empfindsamen Sprachauffassung nicht mehr ausschließlich auf der vermittelnden Rolle der Vernunft, sondern bezieht auch Empfindungen und Gefühle mit ein. In der Empfindsamkeit bedeutet geglückte Kommunikation „ein gegenseitiges Verstehen, das sich in einer affektiv gefärbten, von den Kommunikationsteilnehmern mit angenehmen Empfindungen verbundenen, intensiven Übereinstimmung realisiert.“40 Vor diesem Hintergrund entwirft Herder die rezeptiv-produktive Tätigkeit des Biographen als eine ,erotische‘ Annäherung an sein Objekt. Herder setzt sich selbst das Ziel, in der Lektüre von Thomas Abbts Schriften die Augenblicke abzulauern, da sich die Seele entkleidet, und sich uns wie eine Schöne, in bezaubernder Nacktheit darstellet: daß wir uns an die Denkart des andern anschmiegen, und wie durch einen Kuß Weisheit lernen. (S. 576)

Hier sind essentielle Momente der Künstlerbiographie angedeutet, wie sie sich in der Moderne seit Herder entwickelte: Das Werk ist nur äußere Hülle, hinter der, wenn man sie abzieht, das wahre Wesen, der Charakter, die Seele des Künstlers zum Vorschein kommt. Kunst – oder im Fall von Thomas Abbt auch Philosophie – ist unter dieser Perspektive vor allem Kommunikationsmittel zwischen Produzenten und Rezipienten. Die Biographie hat in Herders Modell eine distinkte Funktion: Sie dient vornehmlich dazu, diese Kommunikation zu vertiefen oder sie überhaupt 39 Wegmann Nikolaus: Diskurse der Empfindsamkeit: Zur Geschichte eines Gef hls in der Literatur des 18. Jahrhunderts. Stuttgart 1988, S. 46. 40 Ebd.

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erst in Gang zu setzen, indem sie ihren Lesern Zugang zum Werk des Biographierten ermöglicht. In Herders erotisches Bild ist darüber hinaus aber auch der Wechsel von der Rezeption zur Produktion eingeschrieben. Die ,zärtliche‘ Annäherung der Seelen, die aus der Lektüre erwächst und sich zum Weisheit vermittelnden Kuss steigert, deutet voraus auf einen Akt der ,kreativen‘ Zeugung, dem neues Wissen und neue Erkenntnis entspringt. Ein dritter Aspekt, der in dem Zitat zumindest angedeutet wird, ist die Tatsache, dass jedes biographische Unternehmen auch einen gewissen Teil Voyeurismus mit einschließt. Wenn die Biographie nicht nur die bekannten Fakten eines Lebens referiert, sondern auch darangeht, Verborgenes zu entdecken, und sich dabei hermeneutischer Techniken bedient, befindet sie sich dabei immer in einer Grenzsituation: zwischen Öffentlichkeit und Privatheit, zwischen Tatsachen und Interpretationen, zwischen Wissensdrang und trivialer Neugier.

Eine Biographie des ,gelehrten Denkens‘ Ein Leser, der nach den einführenden Erläuterungen Herders im dritten Teil des Textes unter dem Titel „Das Bild Abbts: im Torso“ (S. 581) eine narrative, chronologische Biographie erwartet, wird enttäuscht. Bereits in der Einleitung verweist Herder auf das von Friedrich Nicolai verfasste Ehrenged chtnis Herrn Thomas Abbt (1767),41 das einen Lebensabriss bietet und in seiner Machart den traditionellen Paradigmen der Aufklärung folgt, indem es Abbts Bildungsweg darstellt, die einzelnen Stationen seines akademischen Lebens, die Entstehungsgeschichte seiner Werke und mit einer Charakterstudie schließt, die sowohl seine intellektuellen Fähigkeiten hervorhebt als auch ein physiognomisches Bild des Biographierten zeichnet. Ganz im Stile gelehrter Lobschriften preist Nicolai Abbts vorbildliche Lebensführung, würdigt seine philosophischen Werke und äußert Trauer ob des frühen Verlustes eines Denkers, dessen Potential noch lange nicht ausgeschöpft war. Nicolai beruft sich in seiner Autorität als Biograph auf die persönliche Bekanntschaft und freundschaftliche Verbundenheit mit Thomas Abbt. Herder bezieht sich im Torso auf Nicolais 41 Friedrich Nicolai: „Ehrengedächtnis Herrn Thomas Abbt“. In: Nicolai Gesammelte Werke (Nachdr. d. Ausg. Berlin u. Stettin 1760 – 1788), Bd. 12. Hg. v. Bernhard Fabian u. Marie-Luise Spieckermann. Hildesheim, Zürich, New York 1995.

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Ehrenged chtnis als biographische Grundlage seiner eigenen Auseinandersetzung mit Thomas Abbt: Das beste Geschenk, das ein merkwürdiger Mann noch nach seinem Tode der Welt mitteilet, ist, wenn er einen Freund findet, der sein Leben aufzeichnet, harmonisch mit seiner Denkart und Taten. Ihm ist dies Leben alsdenn Ehrenged chtnis: […] Abbt hat einen Freund gefunden, der uns sein Leben, sein Bild, und seine Schriften zum Geschenk macht, und ihm ein Ehrengedächtnis aufrichtet, das beider würdig ist; dessen, der es schrieb, und von dem es handelt. (S. 567)

Doch – und das beweist bereits die Existenz des Torso – mit solch einer Schrift mochte sich Herder nicht zufriedengeben. Die Lobrede im Stile Nicolais erfüllt das Ziel nicht, das Herder dem Torso gesetzt hat: Eine vermittelnde Position zwischen Abbt und seinen (potentiellen) Lesern einzunehmen und das Werk des Verstorbenen nicht als ein abgeschlossenes zu begreifen, sondern dazu aufzurufen, es fortzuführen, weiterzudenken und weiterzuschreiben: In der Tat, man achtet die Verlassenschaft eines vortrefflichen Schriftstellers oft zu wenig, wenn man die Schätze desselben mit seiner Urne einscharret. In der gelehrten Geschichte stellet man ein magres Skelett seiner Lebensumstände auf: und verschlingt die Titel seiner Schriften, und die Anekdoten seines Lebens, wie trockne und unverdauliche Schalen. Darüber vergißt man, daß seine Schriften einen Abdruck seines Geistes enthalten, und die schätzbarste Reliquie sind, die wundertätig sein könnte, uns zu seinen Schülern und Nacheiferern zu machen. (S. 569)

Um das eigene Ziel zu erreichen und sich von Nicolais Schrift abzuheben, erlegt sich Herder eine Beschränkung auf. Sein Interesse gilt nicht dem Lebensverlauf Thomas Abbts, sondern allein der Entwicklung seiner Schriften und dem schreibenden Geist Abbts, der nicht seinem physischen und sterblichen Körper, sondern dem ideellen unsterblichen Corpus seines Werks innewohnt: Abbt hat sich selbst geschildert, aber nur als Schriftsteller: ich betrachte also nur eine Seite seines Geistes, das Gelehrte Denken, ohne es zu unternehmen, sein Menschlich Denken zu entwerfen. Ich weiß, daß beide Seiten sich einander erklären, wie bei den Münzen Bild und Gegenbild; ich fühle auch so gut, als jemand, die mächtigen Züge der Aufrichtigkeit, Treue und Wahrheit, mit welchen Abbt aus seinem Geist und aus seinem Herzen schreibt: ich werde diese Züge auch sehr nutzen. Aber im Ganzen bin ich nicht so sehr auf der Seite derer, die in die Schriften, als in einen Spiegel des Herzens und der menschlichen Gesinnungen sehen wollen; ich bescheide mich, daß ich über einen Schriftsteller schreibe. (S. 574 f.)

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Herder unterscheidet also klar zwischen einer Biographie des Herzens, die von Abbts Leben und Werk auf dessen Gesinnung und seine menschlichen Stärken und Schwächen schließen möchte, und einer Biographie des „gelehrten Denkens“, die sich auf die Entwicklung jenes Wissens beschränkt, das in seinen Werken ausgedrückt wird. Herder verfolgt hier einen Ansatz, der im 20. Jahrhundert häufig als Intellektuelle Biographie beschrieben wird.42 In dieser Haltung Herders lässt sich eine Ablehnung naiver Biographik erkennen, die meint, aus Daten und Fakten eines Lebens auf die innere Verfassung eines Menschen schließen zu können. Demgegenüber macht Herder aber auch deutlich, dass sein Bild Abbts, der realen Persönlichkeit des Verstorbenen in ihrer Vielfalt und Fülle niemals gerecht werden kann – ein solches Werk gesteht er dann nur einem nahen Freund Abbts zu, dessen Wissen sich aus der persönlichen Bekanntschaft speist: [I]ch ziehe die Linien zu meinem Bilde bloß nach dem verj ngten Maßstabe seiner wenigen, unvollendeten Schriften. Freilich sind diese lebendige Abdrücke von dem Geiste ihres Verfassers, da er keine Larve um sich genommen; allein nie erschöpfen sie seine Gesichtszüge. Hat man seinen Autor als Freund gekannt, als Schüler lebendig gehört: so studiert man ihn in weniger Zeit tiefer, als in dem toten Lesen seiner Schriften es je geschehen kann. […] Und wenn ich nun Abbt aus diesen seinen Schriften eine Ehrensäule errichten will: wie kann ich sie anders nennen, als einen verstümmelten Torso? (S. 575 f.)

Was darüber hinaus an dieser Textstelle erkennbar wird, ist das Bewusstsein Herders, dass jener Thomas Abbt, den er im Torso nicht als ,Mensch‘, sondern bloß als ,Schriftsteller‘ darzustellen versucht, schlussendlich eine Kunstfigur bleiben muss. Diese kann – und soll auch – Ähnlichkeit mit dem Verstorbenen haben, jedoch zielt Herders Schrift nicht auf eine getreue Wiedergabe von Thomas Abbts Charakter, sondern auf die Darstellung eines kohärenten Denkens, das sich aus der Summe seiner Schriften ergibt. Herder inszeniert in diesem Text einen ,lesenden‘ Biographen, dessen Gegenstand in der Lektüre überhaupt erst zum Leben kommt.

42 Vgl. dazu den Artikel v. Caitríona Ní Dhúill: „Widerstand gegen die Biographie: Sigrid Weigels Bachmann-Studie“ (in diesem Band).

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Die Biographie Thomas Abbts als Musterbild des genialen Denkers Die Notwendigkeit der ausführlichen Vorrede und Einleitung und der oben beschriebenen bewussten Einschränkung Herders auf den Schriftsteller Abbt zeigt sich anhand der Struktur jenes Hauptteils des Torso, der Thomas Abbt vorstellen soll. Zwar setzt Herder ab ovo mit einem traditionellen Topos der Lebensbeschreibung an, gibt dann aber nicht die genauen Umstände von Abbts Herkunft, seine Kindheit und Ausbildung wieder, sondern legt vielmehr sofort die Rolle dar, in der er den Gelehrten Thomas Abbt sieht: Die Geburt Thomas Abbts hat ohne Zweifel dazu beigetragen, daß man ihn mit Recht einen Schriftsteller für die Menschheit, und einen Weltweisen des gemeinen Mannes nennen kann […]. (S. 581)

Erst ein Blick auf Nicolais Ehrenged chtnis klärt uns über die notwendigen lebensgeschichtlichen Hintergründe für diese These auf. Thomas Abbt war als Sohn eines Perückenmachers nicht unbedingt für die Laufbahn eines Gelehrten prädestiniert. Höhere Schulbildung oder ein Universitätsstudium waren Abbt nicht in die Wiege gelegt worden, sondern etwas, das er sich erst durch Fleiß und Eifer erarbeiten musste. Doch nicht auf diesen Charakterzug, den Nicolai in seiner abschließenden Würdigung deutlich hervorhebt, kommt es Herder an, sondern auf die Funktion, die Abbt im gelehrten Diskurs durch seine Herkunft aus einer Handwerksfamilie ausüben konnte. Herder sieht den Schriftsteller Abbt als einen Vermittler zwischen dem akademischen Feld und der bildungsfernen Welt des ,gemeinen Mannes‘. Ähnlich kann auch der weitere Verlauf des Torso als ein Kommentar zu Nicolais Lebensbeschreibung gelesen werden, in dem das Bild Abbts, ausgehend von der Individualität seiner Werke, zu einem allgemeinen Typus geformt wird. Neben der populären Wirkkraft seiner Schriften sind das: die produktive Aufnahme antiker Vorbilder bei gleichzeitiger Auseinandersetzung mit der zeitgenössischen französischen und englischen Literatur, ein progressives Verständnis der Theologie und im Ganzen eine unakademische Denk- und Schreibart. Herder findet in Abbt jenen Typus, der zum Paradigma der Sturmund-Drang-Ästhetik werden sollte: das Original-Genie. Und indem ein solcher Autor eine akademische Ausbildung mit den Früchten seiner persönlichen Lektüre kombiniert, ist es ihm möglich, einen individuellen

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Stil zu prägen, der schließlich die Sprache, aber auch die Denkart eines gesamten Kulturraums weiterbilden und veredeln kann: So komme ich also von ungefähr auf das Eigensinnige im Ausdrucke, was man in einer Sprache, oder einem ihrer Schriftsteller findet: und hier ist mir Abbt ein schätzbarer Schriftsteller […] Er kennet das Schrot und Korn der unsrigen, und sucht starke Worte zu prägen, alte Machtworte hervorzusuchen, die Wortfügung nach seinem Zweck und der Eigenheit unsrer Sprache zu lenken: freilich also ungewohnt zu lesen, schwer zu übersetzen. Aber wer will sich denn leicht lesen, und in Französisch Deutsch übersetzen lassen? Nach einigen Jahren wird vielleicht ein Sprachforscher an ihm sitzen, ihn wägen, seine Besonderheiten prüfen, und endlich sagen: ,Dieser Schriftsteller arbeitete für die Sprache, und in der Sprache; ein Nationalautor im doppelten Sinn!‘ (S. 595)

Herder stellt sich damit gegen die zeitgenössische, von den Journalen und Zeitschriften der Aufklärung geprägte Form der Literaturkritik, der es vor allem um das Aufweisen inhaltlicher und stilistischer Makel ging und – so zumindest Herders Überzeugung – weniger um die Etablierung breitenwirksamer Debatten. Abbt ist bei den Fehlern seiner Schreibart mir teurer, als wenn er keine hätte: Versuche, wie er, muß man machen, um unsrer noch gewiß unausgebildeten Sprache Reichtum, Fülle, Leichtigkeit zu verschaffen: Schriftsteller, wie er, muß man mit mehrerem Eifer und Aufmerksamkeit auch in Absicht ihres Stils, empfangen, wenn wir je einmal Klassische Schriftsteller haben wollen: und eigensinnige Journalisten, wie viel sind, die über Abbts Stil dumm und dreust, d.i. kunstrichterisch haben urteilen wollen, haben hier gar nicht Sitz und Stimme, schaden unsrer Sprache, und tun Abbt Unrecht, der gewiß auch über den Stil urteilen konnte. (S. 596)

Die Forderung, Abbts Stil nicht zu kritisieren, sondern von seinen Versuchen zu lernen und ihn als vorbildhaften Nationalautor zu erkennen, verbindet sich mit einem der Grundthemen in Herders Denken, dem Streben, die deutsche Sprache weiterzuentwickeln, sie zu ,bilden‘, damit auch die Wissenschaften, die Philosophie und schließlich die Kultur in ihrer Gesamtheit davon profitierten: Und hätte ich mit diesen Betrachtungen nichts ausgerichtet, als uns eifriger gemacht auf die Ehre, Nationalschriftsteller zu sein, das Innere unsrer Sprache hervorzugraben, zu läutern, zu nützen: uns eifriger gemacht auf die Ehre solche Nationalschriftsteller zu erleben; damit wir mehr auf sie merken, und sie prüfen: oder auch nur uns eifriger gemacht auf die Ehre, Deutsche in der Sprache zu sein, in deren Schoß noch unendlich viel unbekannte Schätze ruhen, die auf die Hand des Genies und Künstlers warten! (S. 597)

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Die Reihung endet elliptisch und doch wird deutlich, dass in diesem Zitat der Kern von Herders Auseinandersetzung mit Thomas Abbt steckt. Es geht ihm darum, seinem Publikum durch Abbt die Charakteristik eines Idealtypus zu entfalten und dessen Wert für das Ziel eines aufgeklärten Bildungsimperativs zu propagieren. Der geniale Schriftsteller schöpft, nach Herder, nicht alleine aus seinen angeborenen Anlagen, sondern greift durchaus auf kulturelle Traditionen zurück, verhilft diesen jedoch durch individuelle Form und kreative Kombination zu neuer Wirkkraft. Mit dem Begriff Genie ist dann auch nicht nur der Schriftsteller selbst, sondern eine allgemeine Qualität, die einer Kultur bzw. ihrer Sprache anhaftet, bezeichnet. So erkennt Herder in Thomas Abbts Schriften den Versuch, das Genie der antiken Schriftsteller – deren spezifische Sprachmächtigkeit – für die deutsche Sprache fruchtbar zu machen: Er wollte […] vom Tacitus und Sallust […] lernen: wie sie zu schreiben. er verglich das Genie der deutschen und lateinischen Sprache, und wollte aus dieser in jene die Machtvolle Kürze bringen, die wir bei den meisten Deutschen vermissen, und bei den Römern bewundern.“ (S. 587)

Herder verfolgt in seiner Lektüre Thomas Abbts den Schreibprozess des Schriftstellers und beschreibt ihn in Bezug auf die kulturelle Tradition nicht als Fortschreibung des Althergebrachten und auch nicht als Abweichung gegenüber tradierten Idealen, sondern als kreative und schöpferische Rekombination. Dafür ist es notwendig, „Abbts Geist“ zu „zerglieder[n]“ (S. 608), ohne dabei über die Auswirkung gänzlich individueller und bloß dem Zufall geschuldeter Lebenssituationen zu spekulieren. Herder verweigert sich jeglichem biographischen Interesse an einem ,privaten‘ Thomas Abbt, aber umso deutlicher wird die Intention, den Schriftsteller Abbt als öffentliche Figur zu inszenieren und ihn als Exempel der sich entwickelnden Genie-Ästhetik hochzuhalten. Aus diesem Umstand ist auch der häufig geäußerte Kommentar, Herder portraitiere im Torso viel eher sich selbst als den ,realen‘ Thomas Abbt, verständlich.43 „Es ist nicht die Darstellung des Individuums Abbt, von der Herder den entscheidenden Impuls zur Verbesserung der Literatur erwartet, sondern vielmehr die Darstellung dessen, was er, der Betrachter, an diesem Individuum exemplarisch zu machen weiß.“44 Folgerichtig muss das Bild Thomas Abbts im Torso „merkwürdig unpräzise“45 bleiben. Herder weiß, dass ,sein‘ Thomas 43 Als Beispiel mag das Urteil Rudolf Hayms dienen: „Abbts Schilderung wird zur Selbstschilderung Herders“. Haym: Herder. Bd. 1, S. 200 f. 44 Nerling-Pietsch: Herders literarische Denkmale, S. 111. 45 Ebd., S. 112.

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Abbt der realen Persönlichkeit des Verstorbenen nicht vollständig und nicht in allen Facetten entsprechen kann. Jedoch betrachtet er diesen Umstand nicht als Mangel, sondern er möchte gerade über die idealisierte und fragmentarische Beschreibung Thomas Abbts einen Zugang zu den Werken des Verstorbenen schaffen, der offen ist für eine kongeniale Lektüre und als Prozess bruchlos übergehen kann in das schreibende Fortführen seiner Gedanken, um damit in vollem Sinn den ,Geist‘ Thomas Abbts weiterleben zu lassen.

Herders biographische Essayistik Herder bezieht sich in Vorrede und Einleitung des Torso mehrmals auf den tradierten biographischen Diskurs, jedoch entspricht seine Schrift – wie gezeigt wurde – keineswegs konventionellen Mustern der Biographik des 18. Jahrhunderts und erst recht nicht der biographischen Langform, die ihre Blüte im 19. Jahrhundert erreicht und sich formal stark an Aufbau und Struktur des Romans orientiert. Es ist also fraglich, ob es überhaupt eine präzise Gattungsbezeichnung gibt, die auf den Torso anzuwenden ist. Im Gegensatz zu Exponenten romanhafter Biographien des 19. Jahrhunderts verwehrt sich Herder explizit gegen jegliche biographische Gestaltung, die an einer psychologischen Analyse ihres Gegenstands interessiert ist. Die Umstände von Thomas Abbts äußerem Lebenslauf spielen für Herder nur insofern eine Rolle, als er an ihnen den Typus des schreibenden Genies exemplarisch demonstrieren kann. Eine nicht zu unterschätzende Rolle für die Gattungsbestimmung spielen die zahlreichen Exkurse des Hauptteils, und es könnte sogar die gesamte Einleitung zu diesen „Abschweifungen“46 gezählt werden, wenn man die Persönlichkeit Thomas Abbts als das eigentliche Thema des Torso betrachtet. Man wird der Schreibweise Herders nur dann gerecht, wenn man das Werk nicht an Idealvorstellungen von Biographie oder Literaturkritik misst, sondern die Wirkintention des Torso, die Herder immer wieder hervorhebt, in den Mittelpunkt der Betrachtung stellt. Gerade dort, wo Herder vom Speziellen – dem Leben und Werk Thomas Abbts – ins Allgemeine übergeht – Sprach- und Religionskritik, Genieästhetik, Theorie der Biographik – macht er sich den Geist Thomas Abbts zunutze, um eigenständige Gedanken zu entwickeln. Herder vollzieht das Weiterleben des Verstorbenen im Torso selbst performativ, indem er nicht nur 46 Ebd., S. 106.

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rezeptiv im Andenken an ihn verharrt, sondern im Akt einer produktiven Lektüre die Gedanken und Werke Thomas Abbts weiterentwickelt und fortschreibt. Auch wenn der Gattungsbegriff hier anachronistisch erscheint,47 liegt es durchaus nahe, den Torso als Essay zu lesen. Herders biographisches Konzept, die Würdigung eines verstorbenen Schriftstellers zum Ausgangspunkt einer fortschreibenden Lektüre zu machen, kann als Ausdruck einer essayistischen Grundhaltung verstanden werden, die sich nicht an der kunstvollen Realisierung dieser Gattung orientiert, sondern einem spezifisch modernen Problembewusstsein entspringt. Essay, Essayistik und Essayismus werden dabei nicht mehr als literarische Formen neben anderen aufgefaßt, sondern als Ausdrucksmomente einer produktiv-existentiellen Grundproblematik in der Neuzeit seit dem 16. Jahrhundert. […] Essay bezeichnet auf diesem Terrain den immer wieder offenen, immerfort schwierigen Raum, in dem das Subjekt und der Wille zum Ausdruck aufeinanderstoßen.48

Leben und Werk des Gelehrten Thomas Abbt werden in Herders Torso zur Quelle der Auseinandersetzung mit einem breiten Spektrum an Themen. Die Popularität der biographischen Skizze im 18. Jahrhundert gründet in jener Offenheit der Form, die Herder konsequent umsetzt. Er gesteht offen, dass es sich beim ,Geist‘ Thomas Abbts, wie er ihn im Torso darzustellen versucht, um ein Konstrukt handelt, das sich vordringlich aus dem Werk des Verstorbenen speist und nur in einigen Punkten mit der realen Persönlichkeit korreliert. Herder verfolgt so in seinem biographischen Konzept keinen naiv-affirmativen Realismus, der auf größtmögliche Entsprechung zwischen inner- und außerliterarischer Wirklichkeit zielt, sondern beschränkt den referentiellen Anspruch seiner Schrift auf das Universum der Texte. Was dem Torso aus der Perspektive des Realismus als Mangel ausgelegt werden kann – und in der Rezeption auch bisweilen geschehen ist, etwa im Sinne fehlender ,Authentizität‘ in Herders AbbtBild –,49 bedeutet auf rhetorisch-literarischer Ebene eine Öffnung der biographischen Möglichkeiten. Der biographische Zugang, den Herder im Torso wählt, erlaubt es ihm, sowohl über das Verhältnis antiker und 47 Der Begriff hat sich für den deutschen Sprachraum erst im 19. Jahrhundert durchgesetzt. Vgl. Eberhard Ostermann: „Essay“. In: Historisches Wçrterbuch der Rhetorik, Bd. 2. Hg. v. Gert Ueding. Tübingen 1994, Sp. 1465. 48 Christian Schärf: Geschichte des Essays. Von Montaigne bis Adorno. Göttingen 1999, S. 9. 49 Vgl. Nerling-Pietsch: Herders literarische Denkmale, S. 80.

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moderner Sprachen wie über Sinn und Zweck von Literaturkritik in gelehrten Journalen und schließlich auch über Formen und Bedingungen der Biographie an sich zu räsonieren. Was so im Konzept einer Biographik, in der die realistische Darstellung des Biographierten als normative Maxime der Gattung gefordert wird, als Abschweifung oder Bruch, als Umweg oder Willkür erscheinen muss, ist für den biographischen Essay integraler Bestandteil des subjektiven Zugangs und authentischer Ausdruck des denkenden Geistes im Sinne Montaignes: Ich schweife ab, doch mehr aus Mutwillen denn aus Versehen. Meine Einfälle hängen zusammen, aber mitunter sehr locker […]. Ich liebe die hüpfende, springende Gangart der Poesie.50

Das Sprunghafte und Vielfältige zeichnet bei Herder die Denkart des Genies aus. Genau diese Eigenschaft beschreibt er auch als eine der Hauptzüge im Werk Thomas Abbts: Seine Einbildungskraft ist reich, fruchtbar, Rhapsodisch, und auf eine edle Art unbändig: nicht immer ein Baumeister, der wohl geordnete Gebäude errichtet; aber eine Zauberin, die an den Boden schlägt, und siehe! Plötzlich sind wir mitten unter prächtigen Materialien. Sie rührt sie an, und siehe! Diese bewegen sich, heben sich, verbinden sich, ordnen sich: und o Wunder! Da entstehet wie von sich selbst, oder vielmehr, durch eine unsichtbare Kraft, vor unsern Augen ein Pallast, prächtig, groß, bezaubernd […]. (S. 605)

Hier erreicht Herder ein mehrfaches Ziel: Er beschreibt die Essayistik in Thomas Abbts Werken, betont gleichzeitig den Wert essayistischen Schreibens an sich, bettet diese These in das Konzept der Genie-Ästhetik ein und vollzieht dies alles selbst wiederum mit den Mitteln des Essays. In dieser Verschränkung von Biographik und Essayismus bricht Herder im 18. Jahrhundert nicht nur mit den biographischen Traditionen seiner Zeit, sondern liefert bereits die Grundlage für eine Kritik der Biographik des 19. Jahrhunderts und deren Orientierung an einer idealisierten Vorstellung des Bildungsromans. Die Geschlossenheit des Romans als Gattung wurde, nach einem kurzen Aufflackern der selbstreflexiven Form in der Romantik, erst durch die literarische Avantgarde des 20. Jahrhunderts aufgebrochen. Herders Konzept einer essayistischen Biographik, das er im Torso theoretisch entwickelte und um dessen praktische Umsetzung er zugleich bemüht war, stellt hingegen den Versuch dar, bereits im 18. Jahrhundert und noch vor dem Siegeszug der Biographie im Kontext 50 Michel de Montaigne: Essais. Auswahl und Übersetzung von Herbert Lüthy. Zürich 1968, S. 775.

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Tobias Heinrich

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Biographie als Hermeneutik

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Widerstand gegen die Biographie:1 Sigrid Weigels Ingeborg-Bachmann-Studie Caitr ona N Dhfflill Ein signifikanter Aspekt der Geschichte der Biographie ist die Geschichte des Widerstands gegen sie. Die Etablierung von gattungsspezifischen Konventionen führte bei der Biographie, wie auch bei anderen Gattungen, zu Gegenpositionen und alternativen Praktiken. Was geschieht mit dem biographischen Schreiben, wenn es von dem Bedürfnis motiviert wird, die Konventionen der Biographik aufzuweichen und diese sogar zu destabilisieren, ihre Gültigkeit in Frage zu stellen und sie als das kenntlich zu machen, was sie sind – Konventionen? Welche Arten von Texten entstehen aus dem Versuch, Biographien ,gegen den Strich‘ zu schreiben? Wenn man der Biographie Widerstand leisten kann, welche Formen nimmt dieser Widerstand an? Einer der beständigsten biographischen Topoi ist die Vorstellung, eine Biographie könne das Leben der biographierten Person aus den Spuren, die sie hinterlassen hat, rekonstruieren und so zur Gänze erfassen und auch erfassbar machen. Im Folgenden soll es um den Widerstand gegen dieses zentrale Konzept traditioneller Biographik gehen. Dem Anspruch, ein Leben zu rekonstruieren, geht die Annahme voraus, dass die richtige Interpretation von Spuren eines Lebens deren Ursprung enthüllt. In diesem Modell wird das Leben selbst als Gesamtheit betrachtet, die dem Verstehen zugänglich ist. Es mag Lücken in der Dokumentation eines Lebens geben, doch das steht der Idealvorstellung nicht im Wege, dass ein Leben vollständig erfassbar sei, wenn nur die Dokumentation vollständig ist. Dem Paradigma der ,Rekonstruktion‘ liegt also ein epistemologisches Vertrauen in die Erfassbarkeit des Gegenstands der Biographie zu Grunde. 1

„The poet without history resists history, as Roland Barthes once said it was the business of literature in general to do. The literary work, he argued, is ,at once the sign of a history and resistance to that history‘.“ Michael Wood: „Yeats and Violence“. In: London Review of Books 30/16 (2008), http://www.lrb.co.uk/v30/ n16/wood01_.html (Stand: 27. 2. 2009). Zum Widerstand der Literatur gegen die Geschichte vgl. Andy Stafford: Roland Barthes, Phenomenon and Myth. An Intellectual Biography. Edinburgh 1998, S. 122.

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Sigrid Weigel kritisiert in Bezug auf Nachrufe die Tendenz zum „imaginäre[n] Kurzschluß zwischen einer Bekanntschaft mit der Person und dem Wissen um sie“.2 In Bezug auf die Biographie kann man diese Aussage umkehren, da Personen, die Wissen ber eine Person besitzen, häufig so agieren, als ob sie damit die Person kennen würden. Weigel setzt sich in ihrer 1999 publizierten (anti-)biographischen Studie über Ingeborg Bachmann mit den epistemologischen Voraussetzungen konventioneller Biographik auseinander. Die Begegnung mit Lebensspuren entwirft sie als hermeneutischen Prozess. Ihr Anliegen ist es nicht, möglichst umfassend Wissen über einen konkreten Menschen zu erlangen, vielmehr nimmt sie Fragen der Interpretation und des Lesens in den Blick. Bevor wir zu Weigels Studie kommen, wird es hilfreich sein, einen genaueren Blick auf jene biographischen Modelle zu werfen, die von ihr kritisiert werden. Wo Biographie als Versuch verstanden wird, eine Person der Erkenntnis zugänglich zu machen, wird dieser Akt selbst zu einem der zentralen Probleme des biographischen Texts. Etwas zugänglich machen, etwas entdecken, aufdecken, enthüllen: Das sind die ersten Schritte bei der ,Rekonstruktion‘ des Lebens einer Person. Aus dieser Perspektive betrachtet, tragen biographische Texte eine doppelte narrative Last: Die Lebensgeschichte selbst wird parallel zur Suche nach ihren Spuren erzählt, das Porträt einer Person ist untrennbar mit der Suche nach Wissen über sie verbunden. Während diese beiden Narrative nur selten in einem ausgeglichenen Verhältnis zueinander stehen und dieses Verhältnis oft auch gar nicht explizit thematisiert wird, ist diese Spannung zwischen Suche und Ergebnis evident in der Vielzahl jener biographischen Texte, die sich formal und symbolisch an der Detektivgeschichte orientieren. Diese hat in ähnlicher Weise eine doppelte Last zu tragen, indem sie sowohl eine Abfolge von Ereignissen – in diesem Fall ein Verbrechen – als auch deren retrospektive Rekonstruktion beschreibt. Wie Richard Holmes bereits erkannte: [M]uch modern biography has something of the inescapable tension, and steady unfolding, of the classical detective story: with the psychological promise of some sort of ‘revelation’ (not of a crime solved, but of a human mystery – at least partially – resolved).3

2 3

Sigrid Weigel: Ingeborg Bachmann. Hinterlassenschaften unter Wahrung des Briefgeheimnisses. Wien 1999, S. 332. Richard Holmes: Sidetracks. Explorations of a Romantic Biographer. London 2000, S. 375.

Widerstand gegen die Biographie

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Allein schon die Titel von Holmes Überlegungen zu seiner eigenen biographischen Praxis, Footsteps und Sidetracks, stellen die Biographie als Reise dar, als Weg, der zu der biographierten Person führt und erst begangen werden muss. Die Detektivgeschichte bietet Holmes reichlich Analogien für sein eigenes biographisches Modell: Er ,folgt‘ seinem Gegenstand,4 einer Spur, die ,heißer‘ wird, je weiter der Biograph forscht.5 Zwei narrative Ebenen tun sich auf: Einerseits die Beschreibung der biographierten Persönlichkeit, in dessen Lebensgeschichte selbst schon die Struktur einer Suche angelegt ist: der Mensch auf der Suche nach seiner Bestimmung;6 andererseits das Streben des Biographen nach Wissen über seinen Gegenstand. Eine Variation dieses Themas stellt der Wunsch nach einer Begegnung dar, nach einem ,handshake across time‘.7 Wie die Detektivgeschichte impliziert die biographische Rekonstruktion Entdeckungen und Enthüllungen und damit einen Prozess der Demaskierung. Das Bestreben hinter diesem biographischen Modell ist es, sich des Konstrukts zu entledigen, das sich aus historischer Distanz, Fehlinformation und Fehlinterpretation ergeben hat, um zum eigentlichen Menschen zu gelangen, zu begreifen, ,wie er/sie wirklich war‘. Der Widerstand gegen diese Schablonen der Rekonstruktion und Enthüllung beruft sich häufig auf den problematischen Status von Dokumenten und anderen Lebensspuren mit Blick auf die Umstände, unter denen sie entstanden sind und erhalten wurden. Dabei verdeutlicht er die Unmöglichkeit einer eindeutigen Interpretation. Ist man der Überzeugung, dass das Leben einer Person dem Wissen grundsätzlich zugänglich ist, so kann man die Metapher von Enthüllung und Rekonstruktion noch einen Schritt weiter führen und die Dokumente und Spuren eines Lebens als Mittel zum Zweck betrachten, als Bausteine, die durch Nachforschungen zu Tage gefördert werden und aus denen schließlich die Biographie entsteht. Im Gegensatz dazu werden dort, wo das grundsätzliche Vertrauen in die Erfassbarkeit eines Individuums und seiner Rekonstruierbarkeit in Frage gestellt wird, die Spuren nicht mehr zu Bausteinen, sondern zum Gegenstand des biographischen Textes. Jene Texte, die sich auf die Spuren eines Lebens konzentrieren, ohne den Anspruch zu erheben, ein Leben zu ,schreiben‘ oder zu ,rekonstru4 5 6 7

Richard Holmes: Footsteps. Adventures of a Romantic Biographer. London 1995, S. 63 u. 96. Ebd., S. 120 u. 148. Näheres hierzu bei Carolyn G. Heilbrun: Writing a Woman’s Life. New York 1988. Holmes: Sidetracks, S. 198.

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ieren‘ stehen in einer schwierigen aber dennoch erhellenden Beziehung zur biographischen Tradition – einer Beziehung des Widerstands. Ein Beispiel dafür bietet David Nye in seinem Buch über Thomas Edison, dessen erstes Kapitel wie folgt beginnt: This study rejects the existence of its subject, Thomas Alva Edison, and will not attempt to recapture him in language. He once existed, but neither he nor any other figure can be recreated. The references in these pages lead not to a hero, but to yellowed papers, restored buildings, old photographs, furniture, cartoons, newspapers, magazines, and museums.8

,Recapturing‘, ,recreation‘ und ,recovery‘ sind traditionelle Metaphern der Biographik, die Nye scheut, da sie alle in das Paradigma der ,Rekonstruktion‘ fallen. Die Andeutung, eine Biographie könne auf einen Helden verweisen – „references […] lead[ing] to a hero“ – lässt eine teleologische Grundhaltung vermuten. Die Biographie wird als Reise zu einem Ziel, als Weg hin zu der biographierten Persönlichkeit aufgefasst. Im Sinn von Holmes, der diese Metapher manchmal sogar wörtlich nimmt, bedeutet das, ,in jemandes Fußstapfen gehen‘.9 Nye bemerkt kritisch: „one principal feature of a biography is the movement from public images of an individual to ,What he was really like‘.“10 Seine strukturalistische Studie von Edisons Lebensspuren wendet sich gegen die Vorstellung von Biographie als ,Aufdeckung‘ oder ,Begegnung‘, Modelle, in denen der Biograph und durch ihn auch der Leser in der Biographie den ,wirklichen‘ Menschen ,kennen lernt‘. Nye besteht vielmehr darauf, dass Dokumente aus dem Leben Thomas Edisons keinesfalls dazu führen können, dass wir wissen, wie Edison ,wirklich war‘, sondern nur zu einem tieferen Bewusstsein, wie Dokumente innerhalb von strukturierten Bedeutungsfeldern funktionieren.11 Nye geht so weit, seine Edison-Studie als ,Anti-Biographie‘ zu bezeichnen und positioniert sich damit in einer klaren Opposition zur Biographie, wie sie landläufig verstanden wird. Dass sein Buch in einem intensiven Dialog mit der biographischen Tradition steht, ist offensichtlich. Wie in jedem Fall von Widerstand wird Nyes Ansatz durch die Be8 David E. Nye: The Invented Self. An Anti-Biography, from Documents of Thomas A. Edison. Odense 1983, S. 16. Nyes Ansatz wird ausführlicher behandelt von Bernhard Fetz: „Der Stoff, aus dem das (Nach-)Leben ist. Zum Status biographischer Quellen“. In: Die Biographie – Zur Grundlegung ihrer Theorie. Hg. v. Bernhard Fetz. Berlin, New York 2009, S. 103 – 153. 9 Holmes: Footsteps, S. 13 – 69. 10 Nye: The Invented Self, S. 24. 11 Ebd., S. 16.

Widerstand gegen die Biographie

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ziehung zu jenen Praktiken geprägt, gegen die er sich in seiner Studie wendet. Das macht es noch notwendiger, die entscheidenden Unterschiede zwischen einer Beziehung des Widerstandes und einer Beziehung der Negation hervorzuheben: Widerstand gegen die Biographie bedeutet nicht vollständige Ablehnung. Obwohl Nye nicht im traditionellen Sinn versucht, Zugang zu seinem biographischen Gegenstand zu erlangen – Edison wird nicht ,lebendig‘, kein ,handshake across time‘ wird versprochen – werden andere konstruktive Ergebnisse der Auseinandersetzung mit den ,Lebensspuren‘ nicht ausgeschlossen. Nyes Ansatz zeigt, dass wir aus der Beschäftigung mit den ,Hinterlassenschaften‘ eines Menschen weniger über die individuelle Persönlichkeit erfahren, oder die Illusion verspüren, ihn gekannt zu haben, als vielmehr ein breiteres Repertoire von Fragen zur Untersuchung historischer Dokumente gewinnen und dadurch besser verstehen, was es bedeutet, Lebensspuren zu lesen und zu interpretieren – kurz gesagt erlangen wir damit eine Theorie und Technik des Lesens. Nye steht mit dieser Position nicht alleine. Auch andere Autoren, die ihrem Widerstand gegen die Biographie Ausdruck gegeben haben, sind zu vergleichbaren Schlüssen gekommen. Weigels Bachmann-Studie soll hier als Beispiel für einen solchen Ansatz dienen: Der Widerstand gegen die Biographie wird auch in Weigels Monographie als Teil einer Theorie des Lesens artikuliert.

Hinterlassenschaften ohne Lebensgeschichte Es gibt viele Gründe, warum sich Widerstand gegen die Biographie gerade in einer Studie über Ingeborg Bachmann artikuliert; wobei der Name Bachmann nicht nur die österreichische Schriftstellerin, die von 1926 bis 1973 lebte, bezeichnet, sondern im Sinne einer Synekdoche auch die literarischen Texte, die sie produziert hat und darüber hinaus die Fülle an Interpretationen, Kommentaren, Ikonen- und Mythenbildung, aber auch an wissenschaftlichen Abhandlungen, die sich zu Autorin und Werk angesammelt haben, miteinschließt. Weigels Untersuchung setzt sich kritisch mit den herrschenden Tendenzen, die schon zu Bachmanns Lebzeiten als auch nach ihrem Tod die Rezeption ihres Werks dominiert haben, sowie mit den Konstruktionen und Selbst-Konstruktionen Bachmanns als Figur des öffentlichen Lebens auseinander. Dabei stellt Weigel zahlreiche weit verbreitete Orthodoxien der Bachmann-Forschung und der BachmannBiographik radikal in Frage. Dazu zählen die ,Entdeckung‘ Bachmanns

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beim Treffen der Gruppe 47 in Niendorf, ihre Rolle als intellektuelle Erbin Heideggers und Wittgensteins, der Mythos der poeta assoluta und der verwandte Topos der ,gefallenen Lyrikerin‘, die Utopie als ,Problemkonstante‘ ihres Werks, das wiederkehrende Thema ihrer Fragilität und Lebensunfähigkeit in Reminiszenzen von (vor allem männlichen) Zeitgenossen, und die Tendenz, Bachmann in feministischer Lesart als Vorläuferin einer criture f minine zu verstehen. Ein wertvoller Kommentar zu Weigels Ansatz findet sich bei Michael Eng, der den Bachmann Mythos, den Weigel aufzubrechen versucht, wie folgt beschreibt: The philosophical question is reduced to the reproduction and demonstration of the philosophical concept in literary form […]; the feminist question is reduced to Bachmann’s performance of „her“ gender as a woman writer, and the questions of trauma and history are reduced to notions about the horror and a priori ineffability of the Shoah and the Second World War.12

Wie Eng zu Recht hervorhebt, versteht Weigel diese Manöver als Strategien der Eindämmung, auch wenn er verschweigt, dass das, was hier gebändigt werden soll, die Angst vor dem literarischen Text, vor dessen Uneindeutigkeit und Polysemie ist. Weigels Kritik am biographischen Reduktionismus muss als Teil einer Theorie des Lesens verstanden werden. Während die Aufdeckung und Dekonstruktion von Mythen zu einem zentralen Topos der jüngeren Bachmannforschung geworden ist,13 geht Weigels Untersuchung einen Schritt weiter, indem sie versucht, Bachmann als Intellektuelle neu zu positionieren: als eine Lyrikerin und, noch wichtiger, Autorin lyrischer Prosa, die sich ernsthaft mit der Philosophie Benjamins, Adornos und anderen Denkern im Umkreis der Kritischen Theorie auseinandersetzt. Dabei hebt sie Bachmanns Beschäftigung mit den philosophischen Problemen der Nachkriegszeit besonders hervor. Weigels Buch als Biographie zu klassifizieren, würde der Komplexität ihrer Überlegungen zu den Problemen dieser Gattung nicht gerecht werden. Dennoch bezieht sich das ambitionierte Programm ihrer Studie auf konventionelle Formen der Schriftstellerbiographie: Wie im Falle von Nyes Edison-Buch darf Widerstand auch hier nicht mit Negation ver12 Michael Eng: „,Every name in history is I‘. Bachmann’s Anti-Archive“. In: „If we had the word“. Ingeborg Bachmann, Views and Reviews. Hg. v. Gisela Brinker-Gabler. Riverside (CA) 2004, S. 262 – 284, hier S. 265. 13 Vgl. Constance Hotz: ,Die Bachmann‘. Das Image der Dichterin: Ingeborg Bachmann im journalistischen Diskurs. Konstanz 1990; Monika Albrecht: „Männermythos, Frauenmythos, und danach? Anmerkungen zum Mythos Ingeborg Bachmann. In: German Life and Letters 57:1 (2004), S. 91 – 110.

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wechselt werden. Ingeborg Bachmann: Hinterlassenschaften unter Wahrung des Briefgeheimnisses ist insofern biographisch, als es eine einzelne Person in den Mittelpunkt stellt und sich auf nachweisbare Fakten und Details zum Leben dieser Person beruft. Diese „Biographeme“14 dienen allerdings nicht als Bausteine zur Rekonstruktion einer Lebensgeschichte. Weigel bezeichnet „die Unmöglichkeit einer postumen Konstruktion der Lebensgeschichte einer anderen Person“ als „das grundlegende methodische Dilemma jeder Biographie“.15 Sie erkennt die starke biographische Komponente ihres eigenen Textes, hebt ihr Ziel aber klar von dem einer konventionellen Biographie ab: Mit den hier vorgestellten ,biographischen‘ Zeugnissen verbindet sich [die] Hoffnung, dass mit der genaueren Kenntnis von Daten und Zusammenhängen aus der Erfahrungs- und Arbeitsgeschichte der Autorin die Legende um sie bearbeitet werden könne. Dabei geht es ausdrücklich nicht um den Versuch einer Biographie oder gar einer ,biographischen‘ Interpretation ihres Werks.16

Nachdem eine Rekonstruktion von Bachmanns Leben ausgeschlossen worden ist, entsteht das Bedürfnis nach einem alternativen Zugang zu ihren Lebensspuren. Weigel konzentriert sich auf das dialektische Verhältnis zwischen Bachmanns Texten und der spezifischen Problematik des kulturhistorischen Kontexts. Dabei wird die Beziehung zwischen Text und Kontext, Autorin und Milieu nicht als Verhältnis von Vordergrund und Hintergrund oder Ursache und Wirkung verstanden, sondern als Serie von Korrespondenzen zwischen Lesen und Schreiben, zwischen Philosophie und Literatur und zwischen „de[n] Symptome[n] von Subjekt- und Kulturgeschichte“17 dargestellt. Welche Aspekte traditioneller Biographik werden in Weigels Ansatz, der sich aus einem Widerstand gegen die Biographie heraus motiviert, abgelehnt? Wie Nye versteht auch Weigel den Versuch, ein eindeutiges Bild einer Persönlichkeit entwerfen zu wollen – und dieses Bild mit einer spezifischen Aussagekraft auszustatten – als grundlegenden Fehler vieler 14 „[…] si j’étais écrivain, et mort, comme j’aimerais que ma vie se réduisît, par les soins d’un biographe amical et désinvolte, à quelques détails, à quelques goûts, à quelques inflexions, disons: des „biographèmes“, dont la distinction et la mobilité pourraient voyager hors de tout destin et venir toucher, à la façon des atomes épicuriens, quelque corps futur, promis à la même dispersion“. Roland Barthes: Sade, Fourier, Loyola. Paris 1971, S. 14. 15 Weigel: Ingeborg Bachmann, S. 294 – 295. 16 Ebd., S. 18. 17 Ebd., S. 48.

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Biographien. Die Alternative, die sie vorschlägt, ähnelt jener Nyes, indem sie sich nicht auf die Suche nach einem definitiven Bild begibt, sondern in ihrer Studie ein Feld von Beziehungen absteckt.18 So wie Nye in seiner innovativen Herangehensweise an die Dokumente Thomas Edisons bewusst versucht, dem Reduktionismus und Kausalitätsfetischismus der konventionellen Geschichtsschreibung entgegenzutreten, wehrt sich Weigel in ihrer Bachmannlektüre gegen einen reduktionistischen Biographismus, der den Anspruch erhebt, das Werk durch das Leben zu erklären. Während ein Vergleich zwischen beiden Ansätzen eine große Zahl an Parallelen offenlegt, gibt es aber auch signifikante Unterschiede, die vor allem den Umgang mit dem Verhältnis zwischen Öffentlichem und Privatem betreffen. Jene Art von Biographie, gegen die beide Autoren ihren Widerstand formulieren, versucht das widersprüchliche und komplexe Verhältnis zwischen öffentlicher und privater Ebene zu verschmelzen – um die fundamentale Kluft zwischen beiden Ebenen zu überbrücken,19 oder die eine aus der anderen zu erklären. Nye und Weigel schreiben beide gegen diese vereinfachte Sichtweise von Öffentlichem und Privatem an, allerdings mit divergierendem Ergebnis.

Die Problematik des Privaten in Biographie und Anti-Biographie In Weigels Widerstand gegen die Biographie klingt Bachmanns eigener Protest durch:20 Ich existiere nur, wenn ich schreibe, ich bin nichts, wenn ich nicht schreibe, ich bin mir selbst vollkommen fremd, aus mir herausgefallen, wenn ich nicht

18 Nye: The Invented Self, S. 17 – 18. 19 Ebd., S. 24. 20 Dazu Bachmann: „Es ist unwichtig zu wissen, welche skurrilen oder noblen, weltfremden oder [—] Ideen manche Dichter hatten, die dennoch große Werke hinterlassen haben. Sie sind wirklich geblieben. Ihre Bekenntnisse hätten sie sich sparen können“. Ingeborg Bachmann: [Rede zur Verleihung des Anton-Wildgans-Preises]. In: Bachmann: Die Wahrheit ist dem Menschen zumutbar. Essays, Reden, Kleinere Schriften. München 1981, S. 94 – 97, hier S. 95. Das Interview der Protagonistin mit Herrn Mühlbauer im Roman Malina liest Weigel als „Parodie eines Interviews, das den Jargon der öffentlichen Rede über Schriftsteller nachahmt“ und das auf „Identitätssicherung und die Fixierung einer Biographie ausgerichtet ist“. Weigel: Ingeborg Bachmann, S. 189. Vgl. Ingeborg Bachmann: Malina. Roman. Frankfurt/M. 1980, S. 89 – 103.

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schreibe. Wenn ich aber schreibe, dann sehen Sie mich nicht, es sieht mich niemand dabei.21

Die überspitzten Formulierungen der Ich-Sätze in Bachmanns Rede zur Verleihung des Anton-Wildgans-Preises bewirken die Abtrennung der privaten Person vom schreibenden Ich. Bachmann spielt hier mit dem Topos der Künstlerin, die ausschließlich für und durch ihre Kunst lebt, aber wenn wir den Satz „ich existiere nur, wenn ich schreibe“ genauer betrachten, zeigt sich, dass das „ich“ hier alle Bedeutungen mit Ausnahme jener der Autor-Funktion ausschließt. Und auch diese Funktion ist in ihrem Vollzug für das öffentliche Auge unsichtbar. Das ist der Grund, warum der Akt des Schreibens in Schriftstellerbiographien so selten dargestellt wird. Nur das Produkt dieses Akts, sein Resultat, ist der Öffentlichkeit zugänglich. In diesem Sinne weist Bachmann neben der Differenz zwischen privater Person und schreibendem Ich auch auf eine weitere Differenz hin: die zwischen schreibendem Ich und geschriebenem Text. Dennoch wird die scheinbare Klarheit, die aus dieser Unterscheidung gewonnen wird, durch Bachmanns metonymische Verwendung des Wortes ,ich‘ als Metonymie für ihre Schriften prekär: „Deswegen möchte ich, daß ich einfach gelesen werde.“ Hier wird klar, dass mit ,ich‘ die publizierten literarischen Texte – „Bachmanns Literatur“22 – gemeint sind. Bachmann versucht ihre Leser fort von ihrem außertextuellen Ich und hin zu ihren Büchern zu führen: „Meinungen hat jeder, die eines Schriftstellers sind belanglos, und was nicht in seinen Büchern steht, existiert nicht.“23 Ihr Insistieren auf die alleinige Gültigkeit des Gedruckten – dessen, was in den Büchern steht – ist laut Weigel eine strategische Verteidigung gegen die verschiedenen Formen des biographischen Reduktionismus und der Zudringlichkeit, mit der sich die Autorin als Figur des öffentlichen Lebens konfrontiert sah. Widerstand gegen die Biographie ist also der Versuch, sowohl die unreduzierbare Vieldeutigkeit des literarischen Texts als auch die verletzliche Privatsphäre der Person zu schützen. Es ist nicht überraschend, dass der Wunsch, die Privatsphäre zu schützen, sich als Widerstand gegen die Biographie äußert, wenn man bedenkt, dass Biographien traditionellerweise auf der Annahme beruhen, das Private sei das Authentische, sei Quelle der Wahrheit über eine Person. Wissen über das Privatleben gilt gemeinhin als unentbehrlich für den 21 Bachmann: [Rede zur Verleihung des Wildgans-Preises], S. 94. 22 Weigel: Ingeborg Bachmann, S. 161 u. 221. 23 Bachmann: [Rede zur Verleihung des Wildgans-Preises], S. 96.

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Einblick in ein Leben und dessen „true and inward springs“,24 dessen wahre und innere Quellen. Diese Vorstellung prägt die neuzeitliche Theorie der Biographie seit ihren Anfängen: John Drydens apologetische Bemerkungen zur Biographie in seinem Life of Plutarch (1683 – 86) spricht dem biographischen Ansatz im Unterschied zur Chronik und zur militärischen und politischen Geschichtsschreibung einen spezifischen Erkenntniswert zu, der für ihn im Zugriff auf das Privatleben einer Person begründet liegt: There [in der militärischen und politischen Geschichtsschreibung, Anm. d. Verf.] you are conducted only into the rooms of state; here [in der Biographie, Anm. d. Verf.] you are led into the private lodgings of the hero: you see him in his undress, and are made familiar with his most private actions and conversations […] The pageantry of life is taken away; you see the poor reasonable animal, as naked as ever nature made him.25

Drydens Metaphern aus der Begriffswelt von Architektur und Bekleidung fassen die Dichotomie von Öffentlichem und Privatem in Begriffen von Erscheinung und Realität, Vorder- und Hintergrund. Die Überlegenheit der Biographie liegt bei Dryden in ihrer Möglichkeit, die performativen Praktiken des öffentlichen Lebens abzuziehen und einen wahren und authentischen Kern zu enthüllen. Wir konnten bereits sehen, wie jüngere biographische Texte, wie die von Richard Holmes, dieses Modell von Enthüllung und Offenbarung weiter entwickelten. In Drydens Text tritt das Verhältnis zwischen dem Topos der Enthüllung und der vermeintlichen Kluft zwischen Öffentlichem und Privatem besonders deutlich hervor: Der Erkenntniswert des Privatlebens wird höher eingestuft als jener der öffentlichen Person, die tendenziell als performativ und damit als weniger authentisch wahrgenommen wird. Die Bevorzugung des Privaten gegenüber dem Öffentlichen hinsichtlich seines Wahrheitsgehalts führt zu der genannten Spannung zwischen Diskretion und Enthüllung, die den biographischen Diskurs über weite Strecken prägt: Biographen kürzlich verstorbener Personen, deren Freunde und Verwandte noch leben, sind fortwährend mit der Aufgabe konfrontiert, Kompromisse zu schließen, um die Privatsphäre dritter zu schützen.26 Die Sperrung von Teilen des Archivs, das Zurückhalten von Informationen, die Unterdrückung von 24 Francis Bacon: „De augmentis scientiarum“ [1623]. Zitiert nach James L. Clifford (Hg.): Biography as an Art. Selected Criticism 1560 – 1960. London 1962, S. 7 – 6. 25 John Dryden: „The Life of Plutarch“. In: The Works of John Dryden, Bd. 17. Hg. v. H. T. Swedenberg, Jr. Berkeley 1971, S. 239 – 288, hier S. 274. 26 Eine treffende Beschreibung dieses Problems und seiner Auswirkungen auf die Arbeit der BiographIn findet sich bei Meryle Secrest: Shoot the Widow. Adventures of a Biographer in Search of her Subject. New York 2007.

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Quellen, das Risiko eines Gerichtsverfahrens – all diese Probleme verweisen auf den schmalen Grat, der das Private von dem trennt, was der Öffentlichkeit zugänglich gemacht werden kann. Der Biograph ist bereit, sich an diese heikle Grenze heranzutasten, weil er davon ausgeht, das private Leben könne das öffentliche erklären oder zumindest näher beleuchten. Aber auch das Konzept des Privaten, aus dem die Biographie so viel Aussagekraft zieht, hat eine lange und komplexe Geschichte, die hier nicht ausführlich erläutert werden kann. Namhafte Philosophen wie Hannah Arendt, Jürgen Habermas, Frederic Jameson und andere haben die historische Entwicklung des Verhältnisses zwischen öffentlicher und privater Sphäre nachgezeichnet: von den antiken Konzepten des Privaten als Bereich des Mangels, über die kulturelle Aufwertung der Intimität in der Romantik, bis zum „Ende des öffentlichen Lebens“, wie es von Richard Sennett diagnostiziert wurde.27 Die moderne Biographie hat ihre Wurzeln in der kontroversiellen Annahme, die Privatsphäre enthalte eine Wahrheit, die das Öffentliche überschreitet und ihm zugleich vorausgeht. Für Dryden ist allein die Tatsache, dass ein Staatsmann oder ein militärischer Held als Betrunkener, oder im Spiel mit seinen Kindern dargestellt wird, ein Akt der Entmystifzierung: Vermeintliche Halbgötter werden entzaubert, so dass sich der Leser mit ihnen identifizieren kann.28 Diese Entzauberung des Öffentlichen durch Enthüllung privater Wahrheiten kann jedoch nur all zu leicht zu einer Remystifizierung des Privaten führen. Aus David Nyes Perspektive erfüllt der Biograph eine ähnliche Funktion wie das Museum: He shapes the still disparate pieces of a life, which retain some of the traces of its contradictions, into a kind of mental commodity. The fascination of such a biography for the reader lies in its apparent ability to overcome the separation of the public and the private realm and to plunge into the psyche of its subject.29

Das falsche Versprechen der Biographie liegt für Nye vor allem in dem Anspruch, das Unversöhnliche versöhnen zu wollen, indem sie die getrennten Bereiche des Öffentlichen und des Privaten zusammenführen will. Seine aufschlussreiche Kritik lässt allerdings die Möglichkeit außer Acht, dass eine biographische Praxis, die ihren eigenen Voraussetzungen kritisch gegenüber steht, zu neuen Einblicken in den Prozess jener Ab27 Richard Sennett: The Fall of Public Man. Cambridge 1977. Deutsch: Verfall und Ende des çffentlichen Lebens. Die Tyrannei der Intimit t. Frankfurt/M. 1983. 28 Dryden: „The Life of Plutarch“, S. 274. 29 Nye: The Invented Self, S. 181.

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sonderung führen kann, durch die sich die Bereiche des Privaten und des Öffentlichen überhaupt erst konstituieren. Abseits der biographischen Konventionen, in denen der private Mensch als ,authentischer‘ oder ,wahrhaftiger‘ als die öffentliche Person betrachtet wird, kann die Biographie tiefere Einblicke in die Problematik von Öffentlichem und Privatem bieten. Auf welche Art sind öffentliche und private Sphäre miteinander verflochten? Inwiefern unterscheiden sie sich dennoch? Worin besteht diese Verflechtung bzw. dieser Unterschied? Wie kann die dynamische Interdependenz zwischen beiden Bereichen verstanden, und wie am besten dargestellt werden? Soll die biographische Erzählung beide Sphären zusammendenken und wenn ja, wie? Auf all diese Fragen kann eine Biographik, die mit überkommenen Traditionen bricht, neue Antworten finden. Postmoderne Subjekttheorien, die auf der sozialen und kulturellen Konstruiertheit individueller Identität, ihren performativen Aspekten und ihrer historischen Bedingtheit bestehen, sind einer klaren Trennung von Öffentlichem und Privatem entgegen gerichtet. Wenn auch das Private politisch ist, wie Gender-TheoretikerInnen seit der zweiten Generation des Feminismus wiederholt behauptet haben,30 wie kann der private Bereich dann vom öffentlichen Leben abgegrenzt oder auch nur als getrennt gedacht werden? Bereits der Akt der Abgrenzung des Privaten wird aus dieser Perspektive zu einer politischen Handlung und daher fragwürdig: Wer entscheidet, was öffentlich und was privat ist? Welchen Interessen dient diese Unterteilung? Welchen Spielraum gibt es, die Grenze zwischen den beiden Bereichen auszuloten? Das Beharren der Biographie auf dem Erkenntniswert des Privatlebens kann möglicherweise die konkrete Form einer solchen Abgrenzung in Frage stellen, indem das, was als privat ausgeklammert wurde, ,veröffentlicht‘ und damit historisch sichtbar gemacht wird. Kennzeichnend für den Widerstand gegen die Biographie ist die Tendenz, das Verhältnis zwischen Öffentlichem und Privatem als ein heikles, problematisches aufzufassen. Aus jeweils unterschiedlichen Perspektiven artikulieren Weigel und Nye Zweifel an dem Anspruch der Biographie, die Beziehung zwischen Privatem und Öffentlichem adäquat zu repräsentieren oder gar zu erklären. Nach Weigel steht dem biographischen Unterfangen das von Bachmann beanspruchte „Recht auf das 30 Vgl. Mineke Bosch: „Paradoxical Aspects of the Personal in Political Biography. Observations from a Dutch Perspective“. In: Journal of Women’s History (Dezember 2009, im Erscheinen).

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Private, das Geheimnis“ , das – im Sinne Hannah Arendts – „Gesetz der Verborgenheit als Grundrecht des Privaten“ entgegen.31 Weigels Haltung in Bezug auf die Problematik ,öffentlich versus privat‘ findet in ihrem behutsamen Umgang mit biographischen Quellen Ausdruck. Dies führt zu einer ganz spezifischen Art von Text; es liegt nahe, diese als ,anti-biographische Biographie‘ zu bezeichnen. Im Gegensatz zu den anderen Biographen Bachmanns schließt Weigel Aussagen dritter als Quelle biographischer Erkenntnis ausdrücklich aus.32 Niemand ist ,Zeuge‘ der Biographie eines Anderen: Gerade bei der Verwendung von Berichten oder Mitteilungen anderer über den Schriftsteller wird […] zumeist außer Acht gelassen, dass diese mehr über den Redner selbst bzw. sein Verhältnis zur betreffenden Person als über diese auszusagen vermögen.33

Weigel verweist auf die Struktur von Wunsch und Abwehr im biographischen Diskurs, etwa wo männliche Zeitgenossen auf Bachmanns Präsenz als Frau und Intellektuelle reagieren, wie beispielsweise Heinrich Böll in seinem Nachruf Ich denke an sie wie an ein M dchen. 34 Angesichts jener ,Indiskretionen‘ in Nachrufen und Würdigungen, die die BachmannRezeption entscheidend geprägt haben, betont Weigel, wie wichtig Diskretion für Bachmann selbst war. Hier läuft sie indes Gefahr, eine „ReAuratisierung“ des Objekts zu betreiben: der (respektvolle) Abstand gegenüber der Person, die Skepsis gegenüber den Zeitzeugen, das Beharren darauf, dass Texte und Aussagen über Bachmann keine direkte Quelle des Wissens über sie sein können: All das erzeugt den Eindruck, dass die Biographierte ,nicht in Worte zu fassen ist‘, und erinnert an die Vorstellung, das Individuum sei überhaupt nicht fassbar – individuum est ineffabile. Das Problem privat versus öffentlich muss für die Biographie anders formuliert werden. Für Nye etwa geht es dabei weniger um den Respekt für Grenzen oder um die Ineffabilität des Individuums, sondern um das 31 Weigel: Ingeborg Bachmann, S. 18 – 19. 32 Ihre Kritik richtet sich diesbezüglich besonders gegen Peter Beicken und Hans Höller. Vgl. Beicken: Ingeborg Bachmann. München 1988; Höller: Ingeborg Bachmann. Das Werk. Von den fr hesten Gedichten bis zum ,Todesarten‘-Zyklus. Frankfurt/ M. 1995. 33 Sigrid Weigel: „Korrespondenzen und Konstellationen. Zum postalischen Prinzip biographischer Darstellungen“. In: Grundlagen der Biographik. Theorie und Praxis des biographischen Schreibens. Hg. v. Christian Klein. Stuttgart 2002, S. 41 – 54, hier S. 47. 34 Heinrich Böll: Ich denke an sie wie an ein M dchen [1973]. http://www.ingeborgbachmann-forum.de/ibnachruf.htm#boell (Stand: 2. 6. 2009).

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Problem dubioser Kausalitäten und fragwürdiger Priorisierungen: „The classic biography […] moves from public documents toward private ,sources‘. It seeks to pierce the curtain and see into a secret life“.35 Der traditionelle biographische Ansatz ist aus Nyes Sicht zum Scheitern verurteilt, nicht weil er die Grenze zwischen Privatem und Öffentlichem verletzt, sondern weil er auf fragwürdigen Prämissen beruht: The private triumphs over the public twice: first as being more important and more real, and second as being ultimately dominant over public events. Biographies thus make the individual personality their pulsating center, from which emanate the shaping forces that guide events, articulate doctrines, empower social movements, and generate art.36

Die ,Ver-Öffentlichung‘ des Privaten in der Biographie ist problematisch, nicht weil diese damit indiskret wird, sondern weil sie tendenziell die dynamische Interaktion zwischen Bereichen des Öffentlichen und des Privaten auf ein Verhältnis von Ursache und Wirkung reduziert. Aus der Perspektive traditioneller Biographik ist das veröffentlichte und damit öffentliche Werk Ausdruck des privaten Individuums. Nyes Rhetorik von ,triumph‘ und ,domination‘ verdeutlicht, dass damit das Öffentliche unter das Private subordiniert wird. Michael Eng vollzieht in seiner Analyse von Eindämmungsstrategien, die in der Bachmannrezeption vorherrschen, eine interessante Umkehrung jener Problematik von Öffentlichem und Privatem, die Nye formuliert. Eng erklärt, dass der Bachmann-Mythos mit seinem reduktiven Effekt nicht mit Bachmann selbst beginnt, sondern mit einer vorgängigen Entscheidung, das Private vom Öffentlichen, das Individuelle vom Historischen, das Psychologische vom Sozialen, das Poetische vom Politischen zu trennen.37 It becomes easier to deal with Bachmann’s thought if we could [sic] simply isolate and analyze it in terms of creative (i. e., private, individual) facts and not have to consider its relation in totality or to the social whole.38

Aus diesem Blickwinkel überhöhen biographistische Ansätze die Dichotomie zwischen dem öffentlichen und dem privaten Leben, während für Nye das Problem der Biographie in dem Versuch liegt, über genau diese 35 Nye: The Invented Self, S. 184. 36 Ebd., S. 16. 37 Siehe Fredric Jameson: The Political Unconscious. Narrative as a Socially Symbolic Act. London 1989 [Erstausgabe: 1981]. 38 Eng: „,Every name in history is I‘. Bachmann’s Anti-Archive“, S. 265.

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Dichotomie hinwegzutäuschen.39 Diesen beiden sich scheinbar widersprechenden Positionen ist ein Fokus auf die Dichotomie selbst gemein und ein Beharren auf der Forderung, dass hinterfragt werden muss, wie diese Dichotomie in Biographien inszeniert wird. Es ist der offensichtliche Mangel an adäquatem theoretischen Umgang mit dem Verhältnis zwischen Privatem und Öffentlichem, der sowohl bei Weigel als auch bei Nye Widerstand gegen die Biographie hervorruft. Nach Hannah Arendt liegt die elementarste Bedeutung des öffentlichen und des privaten Bereichs darin, „daß es Dinge gibt, die ein Recht auf Verborgenheit haben, und andere, die nur, wenn sie öffentlich zur Schau gestellt werden, gedeihen können“.40 Weigel betont: „Schriftsteller aber operieren an einer prekären Schwelle zwischen beiden Bereichen.“ Und da es für sie ohne Öffentlichkeit keine Anerkennung ihrer schriftstellerischen Arbeit geben kann, da diese gerade von der öffentlichen Präsenz, also vom ,Gesehen- und Gehörtwerden‘ abhängt, kann die mangelnde Unterscheidung zwischen Autorfunktion und Schriftstellerperson in ihren Folgen so fatal sein für die private Person: als totaler Verlust von Verborgenheit.41

Die Bloßstellung des Privatlebens vor den Blicken der Öffentlichkeit ist in einer Zeit medialisierter, für die Massenkonsumation zugerichteter Prominenz ein geläufiges Phänomen geworden. Während sich seriöse Biographien nur selten damit begnügen, krüden Voyeurismus der Leser zu bedienen, streben sie andererseits danach, Privates öffentlich zu machen, Dinge zu enthüllen, die dem öffentlichen Blick zuvor verborgen waren. Wo Weigel vom totalen Verlust der ,Verborgenheit‘ spricht, positioniert sie ihren Ansatz klar als Versuch, den ,Hinterlassenschaften‘ Gerechtigkeit widerfahren zu lassen, ohne dabei die Privatsphäre des Individuums zu verletzen. Dabei stellt sich allerdings die Frage, ob und wie die Unterscheidung privat/öffentlich posthum angewendet werden kann, und ob die Grenze zwischen beiden Bereichen nach dem Tod der betreffenden Person nicht zunehmend durchlässig wird, daher anders zu verhandeln ist und vielleicht sogar gänzlich aufgehoben werden kann. Durch ihre Lesbarkeit können die ,Hinterlassenschaften‘ nicht den selben Anspruch auf Privatheit erheben,

39 Nye: The Invented Self, S. 157. 40 Hannah Arendt: Vita activa oder vom tätigen Leben. 5. Aufl. München 2007, S. 89 – 90 [Erstausgabe: 1960]. 41 Weigel: Ingeborg Bachmann, S. 303.

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wie die lebende Person: Das ist die zentrale Erkenntnis von Georg Simmels „Theorie der schriftlichen Kommunikation“.42 Weigels Untertitel spielt mit dem Konzept des ,Briefgeheimnisses‘ aus Bachmanns Roman Malina: „Ich möchte das Briefgeheimnis wahren. Aber ich möchte auch etwas hinterlassen“.43 Doch wie Simmel in seinem „Exkurs über den schriftlichen Verkehr“ ausführt, liegt dem Konzept des ,Briefgeheimnisses‘ bereits selbst ein Widerspruch zugrunde.44 Simmel sieht das Paradox des Briefgeheimnisses darin, dass ein Brief den privaten, zwischenmenschlichen und zeitlichen Kontext seiner ursprünglichen Produktion und Rezeption überdauert und darüber hinaus lesbar bleibt. Er bezeichnet den Brief als Produkt des Geistes, der sich im allgemein verständlichen Kode der Schrift objektiviert hat. Das bedeutet nicht, dass der Brief vollständig entschlüsselt werden kann – es bleiben Resonanzen und Spezifika der Beziehung zwischen den Briefpartnern, die für einen dritten unzugänglich sind. Sogar der eigentliche Adressat sieht sich aufgrund der Abwesenheit unterstützender nonverbaler Kommunikation wie Gestik oder Ton mit einer interpretativen Unsicherheit konfrontiert. Es sind tatsächlich genau die Abwesenheiten und unentschlüsselbaren Elemente eines Briefes, die ihn unbestimmt und vieldeutig erscheinen lassen. Außerdem lässt sich der Brief nicht in dem Bereich des Geheimnisses eingrenzen. Publizierbar trotz seines Status als privates Kommunikationsmittel, zeigt er die Instabilität der Grenze zwischen Öffentlichem und Privatem. So erweist sich der Übergang von der privaten zur öffentlichen Sphäre weniger als Grenze, denn als Spannungsfeld aus verschiedenen Beziehungen und Interessen. Weigel setzt das Lesen von Briefen nicht mit dem Enthüllen des Privatlebens gleich, aus dem dann Erklärungen fließen könnten. Vielmehr versteht sie Briefe als Teil eines breiteren textuellen Gefüges, bestehend aus Korrespondenzen, die es nachzuverfolgen gilt. Da die Arbeit des Biographen stets auf Materialien beruht, die, sofern sie authentisch sind, immer auch begrenzt und deutungsbedürftig sind, stellt sich mit den Hinterlassenschaften stets das basale Problem jeder Lektüre ein, das Verfahren, mit dem ihnen Bedeutung zukommt bzw. zugeschrieben wird.45 42 Georg Simmel: „Das Geheimnis und die geheime Gesellschaft“. In: Simmel Gesamtausgabe Bd. 11, Soziologie. Untersuchungen über die Formen der Vergesellschaftung. Hg. v. Otthein Rammstedt. Frankfurt/M. 1992, S. 383 – 455. 43 Bachmann: Malina, S. 345. 44 Simmel: „Das Geheimnis und die geheime Gesellschaft“. 45 Weigel: „Korrespondenzen und Konstellationen“, S. 44.

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Beim Lesen von Briefen und anderen sogenannten ,biographischen Dokumenten‘ muss, so Weigel, der Faszination des Biographischen widerstanden werden. Wo Biographien auf Kosten der literarischen Texte die Aufmerksamkeit auf sich ziehen, versucht Weigel die Literatur wieder zurück in das intellektuelle und textuelle Netzwerk zu bringen, dem sie ursprünglich entstammt. Ein wichtiger Aspekt ihres Widerstandes gegen die Biographie besteht in der Einsicht, dass die Biographie selbst Ausdruck eines Widerstands gegen Literatur sein kann.

„Denn ich habe zu schreiben. Und über den Rest hat man zu schweigen.“ In einem Artikel, der sich mit ihrem laufenden biographischen Projekt zu der jüdisch-amerikanischen Intellektuellen und Schriftstellerin Susan Taubes befasst, aber auch Überlegungen zu ihrer biographischen Methode im Rahmen der Bachmann-Studie enthält, schreibt Weigel: „Die Texte von Autoren sind ohnehin bedeutsamer als jede Biographie über sie“.46 Dieser Gedanke begleitet die moderne Schrifstellerbiographik seit ihren Anfängen. So soll Alfred Tennyson (1809 – 1892) gesagt haben: Why does one want to know about a man’s life? The less you know about a man’s life the better. He gives you his best in his writings. I thank God day and night that we know nothing about Shakespeare.47

Gerade die bedeutsamen Unterschiede zwischen der Aussage Tennysons und der Weigels heben den von beiden auf unterschiedliche Art artikulierten Gegensatz zwischen Literatur und Biographie hervor. Tennysons generalisiertes Er – „a man’s life“, „his writings“ – wurde im 21. Jahrhundert durch den geschlechtsneutraleren Plural „Autoren“ ersetzt. Die Wertehierarchie, die der englische Superlativ „best“ mittransportiert, musste dem Komparativ „bedeutsamer“ weichen. Damit wird der kritischen Haltung hinsichtlich Kanonfragen und Werturteilen Ausdruck gegeben, die einer kulturwissenschaftlich orientierten Literaturwissenschaft eigen sind, deren Interesse vor allem Mechanismen der Herstellung 46 Sigrid Weigel: „Hinterlassenschaften, Archiv, Biographie. Am Beispiel von Susan Taubes“. In: Spiegel und Maske. Konstruktionen biographischer Wahrheit. Hg. v. Bernhard Fetz u. Hannes Schweiger. Wien 2006, S. 33 – 48, hier S. 47. 47 Audrey Tennyson: „Talks & Walks Notebook“. Zit. nach Jon Stallworthy: „A Life for a Life“. In: The Art of Literary Biography. Hg. v. John Batchelor. Oxford 1995, S. 27 – 42, hier S. 33.

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und der Zirkulation von Bedeutungen gilt und weniger der Zuschreibung literarischer Qualität. Die metonymische Funktion von Shakespeare als einem – wenn nicht dem – Repräsentanten der literarischen Tradition, das „wir“, das den impliziten Anspruch einer kollektiven Rezeption ausdrückt, der Dank an Gott – alle diese Elemente verdeutlichen die historische Distanz, die zwischen dem heutigen Leser und Tennysons Ausführungen liegt. Zieht man ab, was Tennysons Zeit geschuldet ist, sticht aber sofort die essentielle Ähnlichkeit der Aussage beider Autoren ins Auge. Beide stellen das Biographische gegen das Literarische und etablieren damit eine klare Bedeutungshierarchie, in der der Biographie eine untergeordnete Stellung zukommt. Aber wie alle Hierarchisierungen gründet auch das Verhältnis von Schriftstellerbiographie und literarischem Text in prinzipiellen Abhängigkeitsverhältnissen und ist damit per se instabil. Die Instabilität dieses Verhältnisses wird in der Literaturtheorie zumeist indirekt thematisiert. Auf den ersten Blick liefert René Welleks und Austin Warrens Theory of Literature (1949) – ein Werk, das im Geiste des New Criticism oft als Manifest text-zentrierter Literaturwissenschaft rezipiert wurde – einige der überzeugendsten Argumente gegen den biographischen, autorzentrierten Ansatz:48 The biographical approach actually obscures a proper comprehension of the literary process, since it breaks up the order of literary tradition to substitute the life cycle of an individual. […] the work of art is not a document for biography. […] Only by a perversion of the biographical method could the most intimate and frequently the most casual documents of an author’s life become the central study while the actual poems were interpreted in the light of the documents.49

Eine solche „Pervertierung“ findet Weigel in einem Großteil der Bachmann-Rezeption und darüber hinaus in der meisten Schriftstellerbiographik wieder, wie sie in dem Kapitel „Die Biographie als Anathema“ überzeugend darlegt.50 Die Beziehung, die die Biographie zwischen den zufälligen Dokumenten eines Schriftstellerlebens und den literarischen Texten herstellt, bezeichnet Weigel als zirkulär und tautologisch. Widerstand gegen den Autorzentrismus ist im Kontext der Bachmannrezeption kein Vermächtnis des New Criticism, sondern eine notwendige, 48 Vgl. z. B. Peter France u. William St Clair: „Introduction“. In: dies. (Hgg.): Mapping Lives. The Uses of Biography. Oxford 2002, S. 1 – 5, hier S. 2. 49 René Wellek u. Austin Warren: Theory of Literature. London 1954, S. 72 [Erstausgabe 1949]. 50 Weigel: Ingeborg Bachmann, S. 295 – 351.

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kritische Antwort gegenüber jenen Strategien, durch die Bachmanns Werke im Dienste eines biographischen Interesses instrumentalisiert und als ,Dokumente einer Biographie‘ herangezogen wurden. Umgekehrt wurden sowohl nachweisbare Fakten als auch rein spekulative Annahmen als interpretative Hilfsmittel herangezogen, vor allem dort, wo sich Leser unklaren oder schwierigen Textstellen gegenüber sahen. Die Beziehung, die die Biographie zwischen Leben und Werk statuiert ist laut Weigel ein zirkuläres Verhältnis, indem sich beide Elemente gegenseitig erläutern sollen:51 Werden dabei literarische Aussagen – in einer Eins-zu-Eins-Identifikation mit der Person des Schriftstellers – gerne herangezogen, um die Lücken biographischer Informationen zu füllen, so wird vice versa die Biographie ebenso gern bemüht, um Mehrdeutigkeiten oder Rätsel im literarischen Text aufzulösen und diese „Lösung“ in einer biographistischen Interpretation zu sichern. In diesem Zirkelschluß dient die Biographie vor allem der Beruhigung einer ,Angst vor dem Text‘, die sich bei der Lektüre von Literatur einstellt, die mit Textpraktiken der Polyphonie, der vielfachen Verweise, Zitate und mit der Überblendung unterschiedlicher Bedeutungsebenen operiert.52

Die Biographie, zumindest in jener Form, die Weigel kritisiert, dient dazu, die Unruhe zu mildern, die der literarische Text hervorruft, stellt also einen Versuch dar, den Text zu domestizieren. Es muss sich allerdings erst zeigen, ob dieses ,Feinbild Biographie‘ nicht eine Konstruktion von Weigels Text ist, das Negativ ihrer eigenen Methode. Kann der biographische Ansatz in der Literaturwissenschaft wirklich mit bloßem Reduktionismus gleichgesetzt werden? Obwohl sich Weigels Methode explizit gegen den biographischen Reduktionismus richtet, wird in ihrer Studie die Relevanz der Biographie für das Lesen von Literatur zum Teil rehabilitiert. Wie schon bemerkt, bedeutet Widerstand nicht Negation: die Ablehnung des Biographismus darf nicht als endgültige Absage an die Biographie verstanden werden. Die komplexe Dynamik des Widerstands kann schon in der Argumentation von Wellek und Warren beobachtet werden. Obwohl sie sich dagegen aussprechen, dem ,Leben‘ an sich Aussagekraft oder sogar Vorrang vor dem ,Werk‘ beizumessen, weigern sie sich zugleich, das 51 Zur tautologischen Struktur biographistischer Lesarten vgl. Patricia Ingham: Dickens, Women and Language. New York 1992, S. 133: „Biographical criticism […] is locked into a tautology. It says, for instance, that Mrs Nickleby is Dickens’ mother and Dickens’ mother is Mrs Nickleby; or that Lucie Manette is Ellen Ternan and Ellen Ternan is Lucie Manette. There is nowhere for such criticism to go except backwards and forwards between the two propositions.“ 52 Weigel: Ingeborg Bachmann, S. 297 – 298.

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Biographische als irrelevant für den Prozess der Lektüre darzustellen. Im Gegenteil, im Umfeld jener Stellen, in denen auf den ersten Blick gegen biographistische und autorzentristische Positionen argumentiert wird, zeigt sich bei genauerer Betrachtung eine Ambivalenz gegenüber dem Biographischen: „The relation between the private life and the work is not a simple relation of cause and effect“.53 Die Anerkennung der Komplexität – „not a simple relation“ – deutet in beide Richtungen: Das Privatleben muss nicht direkt ,Quelle‘ oder ,Grund‘ des Werks sein, nach dem Motto „l’Auteur trouvé, le texte est ,expliqué‘“.54 Es ist aber auch nicht vollkommen irrelevant und damit unerheblich für das Verständnis eines Texts und des Kontexts seiner Entstehung: We read Dante or Goethe or Tolstoy and know that there is a person behind the work. […] The poet’s work may be a mask, a dramatised conventionalisation, but it is frequently a conventionalisation of his own experiences, his own life. […] Whatever characters a novelist has succeeded with must be parts of himself, since only from himself, and not ex nihilo, could he give them life.55

Das Interesse an der Textgenese, insofern sie Einfluss auf die Lektüre hat, legitimiert das Interesse an der Biographie des Autors. Das Bild der literarischen Schöpfung als Parthenogenese, das Gebären eines Teils des eigenen Selbst im Werk, deutet auf die unterschwellige Annahme der meisten literaturwissenschaftlichen Biographien: Den Schriftsteller zu ,kennen‘, hilft uns, seine Schriften zu lesen. Die Verschmelzung von Schöpfung und Zeugung hat James Joyce auf den Punkt gebracht: „Where did thots come from?“56 ,Thots‘ kann man als ,tots‘ (Kinder) und als ,thoughts‘ (Gedanken) lesen, aber es spielt auch auf Thoth an, die altägyptische Gottheit des Schreibens und der Schriftsteller. Eine von Weigels Hauptinteressen ist „[der] Versuch, den ,geistigen Prozeß‘ zu befragen, der der Genese von Bachmanns Werk zugrunde liegt und in ihrem Schreiben und Engagement zum Ausdruck kommt“.57 Obwohl sie sich in ihrer eigenen Methode von der etablierten biographischen Praxis distanziert, ist sie dennoch an der Entstehung von „Bachmanns Literatur“ interessiert. Sie kritisiert lediglich jeden Versuch, das Werk durch das Leben zu ,erklären‘: 53 Ebd., S. 70. 54 Roland Barthes: „La mort de l’auteur“. In: Barthes Œuvres compl tes. Bd. 2. Hg. v. Éric Marty. Paris 1994, S. 491 – 495, hier S. 494 [Erstausgabe: 1968]. 55 Wellek u. Warren: Theory of Literature, S. 73 u. 85. 56 James Joyce: Finnegans Wake. London 2000, S. 597 [Erstausgabe: 1939]. 57 Weigel: Ingeborg Bachmann, S. 20.

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Die Biographie könne niemals eine befriedigende Antwort auf die Frage nach den Ursprüngen des Textes oder den Schlüssel für die Interpretation enthalten. Vielmehr ist die Biographie selbst erneut ein Text, der gelesen werden muss, das Produkt eines ,geistigen Prozesses‘ des Biographen, den es wiederum zu befragen gilt.

Lesen und Schreiben: ,Korrespondenz‘ als Beziehung Weigel geht es also primär darum, zu zeigen, wie Bachmanns Texte intertextuell gelesen werden können. Dieses Beharren auf intertextuelle Korrespondenzen ruft Nyes Behauptung in Erinnerung, der Leser müsse das Werk als Geflecht von Beziehungen begreifen, statt als Abfolge von Ereignissen. Weigels Entscheidung, biographische Informationen in die Fußnoten zu verbannen, muss in diesem Zusammenhang verstanden werden.58 Statt als ,Dokumente einer Biographie‘ werden Bachmanns literarische Texte als fortwährender Dialog mit anderen Denkern, Schriftstellern, kulturellen Artefakten und Diskursen gelesen. Als Beispiel kann die Ghetto-Szene von „Was ich in Rom sah und hörte“ dienen, die in Verbindung mit Gershom Scholems Antwort darauf gelesen wird; oder die Bezüge zu Walter Benjamins Geschichtsphilosophie in der Deutung des Gemäldes L’esp rance in der Erzählung Das dreißigste Jahr, aber etwa auch die frühen und späteren Verweise auf Goya sowie die Medienkritik in Malina. Weigel unterzieht einige von Bachmanns Texten einer psychoanalytischen Lektüre, darunter die frühe Erzählung Die F hre, und sie liest Das L cheln der Sphinx und die Dreieckskonstellation von Malina in Verbindung mit der Dialektik der Aufkl rung von Horkheimer und Adorno. Alle Erzählungen aus dem Band Das dreißigste Jahr werden von Weigel vor dem Hintergrund von in der jüngeren Bachmannforschung dominierenden Interpretamenten aus der Sprachkritik und der feministische Patriarchatskritik gelesen. Auf diesem Weg werden durch intensive Lektüre im Sinne eines ,close reading‘ gleichzeitig philosophische Probleme nachgezeichnet und Stellungnahmen zum Forschungsstand formuliert. Indem Weigel mit der in der Bachmannforschung etablierten Praxis bricht, Literatur und Philosophie in Bachmanns Werk in einem Verhältnis der ,Beeinflussung‘ oder zumindest der ,Übereinstimmung‘ zu sehen, verwehrt sie sich gegen eine „tautologische Argumentationsstruktur in der 58 Ebd., S. 165.

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Untersuchung von Übereinstimmung und Abweichung“,59 bei der ein philosophisches System „zur Meßlatte literarischer Texte“ wird: Was dabei gar nicht erst in den Blick gerät, ist die einzig interessante Frage: auf welche Art und Weise nämlich philosophische Reflexionen in eine literarische Schrift eingehen und was mit ihnen im Modus einer poetischen Praxis geschieht.60

Über die Benennung von vermeintlichen Einflüssen und intertextuellen Verweisen (Bachmann-Heidegger, Bachmann-Wittgenstein, BachmannHofmannsthal) hinausgehend, stellt Weigel grundlegendere Fragen zum Verhältnis zwischen Schreiben und Lesen: Was heißt es für einen Schriftsteller, zu lesen? Wie sieht die Lektüre einer Schriftstellerin aus und in welcher Form hinterlässt diese Lektüre Spuren in ihren Texten? In wie weit sind diese Spuren selbst wieder lesbar? Wie reflektiert Bachmann in ihrer Schreibpraxis die Lektüre und deren Einfluss auf die eigenen Texte? In Weigels Verwendung des Begriffs ,Korrespondenzen‘ für das Verhältnis zwischen Lesen und Schreiben bei Bachmann klingt bewusst das Textverständnis von Jacques Derridas La carte postale an:61 ,Korrespondenz‘ entzieht sich damit dem semantischen Bedeutungsfeld von ,Übereinstimmung‘ und wirft Fragen zu Vermittlung, Übersetzung, Rezeption, Dialog und Zirkulation auf, mit der zugrunde liegenden Implikation, dass im System von Lesen und Schreiben ein permanenter Austausch von Botschaften herrscht, der niemals vollständig abgeschlossen werden kann. Die ,Korrespondenzen‘, die Weigel in Bachmanns Werk erkennt, sind „always still in the post even after they seem to have been delivered“,62 oder – in Anlehnung an Paul Celans Bild vom Gedicht als Flaschenpost – werden sie „aufgegeben in dem – gewiß nicht immer hoffnungsstarken – Glauben, sie könnte[n] irgendwo und irgendwann an Land gespült werden“.63 Auf diesem Weg analysiert Weigel Bachmanns Beziehung zu ihrer Lektüre, ohne sie auf die Frage des Einflusses anderer Autoren zu reduzieren, die in den Konzepten von Aufnahme und Abgabe auf das Modell eines 59 Ebd., S. 114. 60 Ebd. 61 Jacques Derrida: La carte postale de Socrate Freud et au-del . Paris 1980. Vgl. Weigel: „Korrespondenzen und Konstellationen“. 62 Caitríona Leahy: Der wahre Historiker. Ingeborg Bachmann and the Problem of Witnessing History. Würzburg 2007, S. 30 – 31. 63 Paul Celan: „Ansprache anlässlich der Entgegennahme des Literaturpreises der Freien Hansestadt Bremen“ [1958]. In: Celan Gesammelte Werke, Bd. 3. Gedichte III, Prosa, Reden. Hg. v. Beda Allemann u. Stefan Reichert. Frankfurt/M. 2000, S. 185 – 186.

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Schwammes zurückgreifen (schon die Begriffe ,Fluss‘ und ,Einfluss‘ sprechen in diesem Zusammenhang für sich selbst). Vielmehr folgt Weigel Bachmanns eigenen Stellungnahmen, in denen das Lesen als intensives und letztlich nicht rekonstruierbares Ereignis beschrieben wird, als Zwang, Sucht und Erregung durch die Aura oder Sprachmagie anderer Textwelten und der Textwelten anderer. Lektüre, die durch das Zitat ins Schreiben eingebettet wird, stellt – um die Worte Bachmanns zu paraphrasieren – ein Arbeitsverhältnis zur Vergangenheit her,64 hat aber auch die Züge eines leidenschaftlichen Liebesverhältnisses:65 „Das Veröffentlichte, die Bücher, […] finden einen Weg zu einem Du“. Es birgt Risiken in sich, das Lesen als Beziehung zu verstehen, besonders wenn man der Biographie Relevanz für die Interpretation zugesteht: Zu leicht kann die Beziehung zum Text mit einer Beziehung zum Autor verwechselt werden. Genau deshalb bedarf es einer theoretischen Auseinandersetzung mit der Lektüre, wenn man sich den Spuren der Vergangenheit annähern will. Wie gezeigt werden konnte, mündet der Widerstand gegen die Biographie in seinen avancierten Formen in eine Theorie des Lesens. Die Beziehung zwischen biographierter Persönlichkeit, BiographIn und Leser bleibt immer noch eine Beziehung, auch wenn die Erfassbarkeit des biographischen Objekts nicht länger behauptet wird. Um was für eine Art von Beziehung handelt es sich aber? Oder – anders gefragt – welche intersubjektiven Räume werden durch die Biographie eröffnet? Diese Frage bleibt auch dann relevant, wenn man die Beschäftigung mit den Lebensspuren als hermeneutischen Prozess begreift und nicht mehr als Mittel, ein Leben zu rekonstruieren. Wo das Lesen als Beziehung verstanden wird, sei es als Arbeitsbeziehung oder als Liebesbeziehung, tauchen Fragen nach dem Selbst und dem Anderen, nach Nähe und Distanz, Identifikation, Vertrautheit und Fremdheit auf. Jene Fragen, die sich in zwischenmenschlichen Begegnungen stellen, spielen auch in der Begegnung mit dem literarischen Text eine Rolle. (In Texten, die eine zwischenmenschliche Begegnung beschreiben, stellt sich die hermeneutische Herausforderung doppelt – deshalb disqualifiziert Weigel die Aussagen dritter als Quelle biographischer Erkenntnis. Aus ihrer Sicht können Memoiren, Schlüsselromane und Nachrufe nicht zur Quelle 64 Ingeborg Bachmann: Wir m ssen wahre S tze finden. Gespr che und Interviews. Hg. v. Christine Koschel und Inge von Weidenbaum. München, Zürich 1983, S. 60. Vgl. Weigel: Ingeborg Bachmann, S. 193. 65 Zur Lektüre als ,Liebesverhältnis‘, siehe Weigel: Ingeborg Bachmann, S. 205 u. 233.

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,biographischer Wahrheit‘ instrumentalisiert werden.66) Das Lesen selbst kann als Begegnung mit dem Anderen, mit dem Anders-Sein verstanden werden, mit all den Risiken und Versuchungen von Projektion, Reduktion, Unterschlagung, Fehlinterpretation und Missdeutung, die solche Begegnungen mit sich bringen – aber auch mit der sehr realen Möglichkeit, das Andere am Anderen zu erkennen, das, wie Jessica Benjamin behauptet, im Zentrum jeder Theorie der Intersubjektivität liegt.67 „Auch die Lektüre ist ein Zitieren“, bemerkt Weigel, „nicht eines anderen Textes, sondern eines eigenen Textes im anderen“.68 Wenn Lesen eine Beziehung darstellt, dann liest mich der Text genauso, wie ich ihn lese – was bedeutet, dass es ein weites Spektrum möglicher Reaktionen auf den Text gibt, von der Bereitschaft, sich auf die Unbestimmtheit und Vieldeutigkeit des Textes einzulassen, bis hin zum Versuch, der Angst vor dem Text durch Eindämmungsstrategien, darunter auch biographistische, Herr zu werden und seine Textualität ,wegzuerklären‘. Wir können die Formulierung von Wellek und Warren umdrehen, um die Negation der zirkularen Logik, die Weigel kritisiert, zu einem Ende zu führen: Ist das Kunstwerk kein Dokument der Biographie, so kann auch die Biographie kein Dokument des Kunstwerks sein. Was bleibt, wenn diese grundsätzliche Inkommensurabilität festgestellt wurde, sind die Dokumente selbst, die Hinterlassenschaften, zusammen mit der interpretativen Arbeit, die sie fordern und den interpretativen Möglichkeiten, die sie bieten. Denn wenn wir uns mit den Lebensspuren eines Anderen konfrontiert sehen, egal ob im literarischen Text, im Archiv oder eingebettet im Narrativ eines Biographen, haben wir zuallererst zu lesen. bersetzung: Tobias Heinrich

66 Siehe FN 33. 67 Jessica Benjamin: „The Shadow of the Other Subject: Intersubjectivity and Feminist Theory“. In: Psychoanalysis at its Limits: Navigating the Postmodern Turn. Hg. v. Anthony Elliott u. Charles Spezzano. London 2000, S. 79 – 109. 68 Weigel: Ingeborg Bachmann, S. 234.

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Biographie und Geschichte

Geschichte oder Biographie: Leopold Rankes Porträts Papst Pauls III. und Wallensteins Christian von Zimmermann Wer die Biographie als eine fest konturierbare literarische Gattung zu beschreiben sucht, stößt auf ein, diesem Zugriff widerstrebendes, Textkorpus. Zu heterogen sind die Textbestände von der Biographie als Bestandteil einer Leichenpredigt über den biographischen Essay, die breit dokumentierte akademische Gelehrtenbiographie, Sonderformen wie die populären Darstellungen der ,Leben in Briefen‘ und so weiter bis hin zum biographischen Roman. Schon im 19. Jahrhundert sind die Stellungnahmen zahlreich, in denen die Charakteristik einer Person von deren ,echter‘ Biographie oder aber die bloße Erwähnung eines historischen Lebenslaufes von der ,reinen‘ Biographie abgegrenzt wird. Für eine heuristische Annäherung bietet sich im ersten Zugriff die Rede von biographischen Schreibweisen an, doch ein eigentliches Verständnis des Biographischen lässt sich eher erreichen, wenn die Geschichte der Aussagebedingungen und -möglichkeiten der Biographik im Sinn eines Diskurses untersucht wird, der die ,echte‘, ,reine‘, ,wahre‘ Biographie als legitime Ausdrucksform konstituiert.1 Dass ein solcher Blick auf das Biographische durchaus sinnvoll sein kann, zeigen ,Dissidenten‘ eines solchen biographischen Diskurses, also Autoren, die zwar den Namen einer historischen Persönlichkeit auf den Titel ihrer Studie setzen, sich aber dezidiert von der Bezeichnung ,Biographie‘ abgrenzen, um etwa wie Leopold Ranke die Geschichte Wallensteins (1869) als einen antibiographischen Versuch zu konzipieren,2 oder wie Friedrich Gundolf die „Gestalt“ Goethes im Raum eines überindividuell Ästhetischen zu ver1

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Dies ist bekanntlich der Diskursbegriff, wie ihn Michel Foucault in seiner Antrittsvorlesung expliziert: Michel Foucault: Die Ordnung des Diskurses. Aus dem Französischen von Walter Seitter. Frankfurt/M. 82001 [franz. Erstausgabe: 1972]. – Im Kontext der Biographieforschung spricht etwa Karin Hellwig von einem biographischen Diskurs, zu dem sich Geschichtstheoretiker seit dem 18. Jahrhundert differenzierend verhalten. Vgl. Karin Hellwig: Von der Vita zur K nstlerbiographie. Berlin 2005, S. 96 – 102. Leopold Ranke: Geschichte Wallensteins. Leipzig 1869 (Reprint Leipzig o. J.).

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orten, um damit eine Absage an die entwicklungspsychologisch argumentierenden Biographen zu formulieren.3 Tatsächlich handelt es sich bei diesen Abgrenzungen um die Problematik der Aussagebedingungen und Aussagemöglichkeiten biographischen Schreibens, und keine andere dieser Grenzziehungen blickt auf eine so lange Geschichte zurück, wie gerade die Diskussion um das Verhältnis von Biographie und Geschichte, die im 19. Jahrhundert als eine Diskussion um je spezifische Formen der Aussage und Erkenntnisbildung in Biographie, respektive Historiographie geführt wurde. Dies ist hier am Beispiel von Leopold Rankes Behandlung der Einzelpersönlichkeit zu zeigen, indem der diskursive Ort der Rede über das Wirken von Einzelpersönlichkeiten beschrieben wird. Die gegenwärtige Popularität der Biographik als Gegenstand philologischen Interesses in den deutschsprachigen Ländern und in den unter Popularisierungsdruck stehenden historischen Disziplinen tendiert dazu, das Phänomen des Biographischen traditionell zu verkürzen. So wird die Biographie in erster Linie als historische Darstellungsform diskutiert, die als populärer „Bastard der Geisteswissenschaften“4 ein fragwürdiges Ansehen genieße und nun durch theoretische Grundlegung zu rehabilitieren sei.5 Einer der bekannten gegenwärtigen Biographen unter den Historikern, Christian Meier (geb. 1929), hat in seiner Legitimation des Biographischen dieses als wünschenswerte Popularisierungs- und Vermittlungsform der Geschichtswissenschaft legitimiert, die sich die „Faszination des Biographischen“ auf breitere Leserkreise zunutze machen könne.6 Biographie fungiert hier nicht als Geschichte sondern als Zugang zur Geschichte. Die Rede vom biographischen Diskurs lenkt demgegenüber die Aufmerksamkeit darauf, dass es sich bei der Biographie nicht allein um eine rhetorische Wahl handelt, sondern um die Wahl einer dezidiert anderen Perspektive mit eigenen Erkenntnisinteressen, Funktionen, Traditionen, Aussageregeln etc. Tatsächlich gibt es einigen Grund zu der Annahme, dass 3 4 5

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Friedrich Gundolf: Goethe. Berlin 1917. Zum Begriff der ,Gestalt‘ vgl. die Einleitung. Christian Klein: „Einleitung: Biographik zwischen Theorie und Praxis. Versuch einer Bestandsaufnahme“. In: ders. (Hg.): Grundlagen der Biographik. Theorie und Praxis des biographischen Schreibens. Stuttgart, Weimar 2002, S. 1 – 22, hier S. 1. Vgl. den umfassenden Überblick über neuere Entwicklungen von Hans Erich Bödeker: „Biographie. Annäherung an den gegenwärtigen Forschungs- und Diskussionsstand“. In: ders. (Hg.): Biographie schreiben. Göttingen 2003, S. 9 – 63 (= Göttinger Gespräche zur Geschichtswissenschaft, Bd. 18). Christian Meier: „Die Faszination des Biographischen“. In: Interesse an der Geschichte. Hg. v. Frank Niess Frankfurt/M. 1989, S. 100 – 111.

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die Geschichtswissenschaft erst dadurch die Biographie in adäquater Weise als Schreibform entdeckt hat, dass sie sich selbst Aussagemöglichkeiten erschloss, die zum genuinen Feld biographischen Schreibens gehören. Dies betrifft in jüngerer Zeit insbesondere Entwicklungen der Psychohistorie,7 der Historischen Anthropologie, sowie Mentalitäts- und Alltagsgeschichte. Wenn die Biographen unter den Fachhistorikern mitunter als Dissidenten im historiographischen Diskurs behandelt worden sind, da sich im Biographischen keine geschichtliche Erkenntnis formulieren lasse (erinnert sei nur an Golo Mann, 1909 – 1994),8 so erscheint dies in diskursgeschichtlicher Perspektive durchaus konsequent. In ihrer über zweitausendjährigen Geschichte haben sich biographisches und historiographisches Schreiben zwar vielfach berührt, aber vor allem durch die gegenseitige Abgrenzung profiliert. Es wundert daher nicht, dass eine klare Grenzziehung zum Biographischen gerade dort formuliert wird, wo sich historisch die Geschichtswissenschaft und Geschichtsschreibung neu konstituiert; ja, die von Daniel Fulda eingehend untersuchte „Ästhetisierung und Verwissenschaftlichung“ der Geschichtsschreibung in den Jahrzehnten zwischen 1800 und 1860 ist zugleich als Konstitutionsphase einer modernen Biographik anzusehen, die den Menschen als sittliche Persönlichkeit mit einer charakteristischen psychischen Konstitution ins Zentrum stellt, um ihn in mehr oder weniger ausgeprägter didaktischer Absicht zu aktualisieren.9 In dieser Entwicklung kommt der Geschichtsphilosophie Georg Wilhelm Friedrich Hegels eine besondere Stellung zu, da dort – prägnant in den Grundlinien der Philosophie des Rechts (1821) – die Sphäre der Individuen 7

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Vgl. Jacques Szaluta: Psychohistory. Theory and Practice. New York u. a. 1999 (= American University Studies, Bd. XIX.30), bes. S. 171 – 188; Szaluta betont dabei die besonderen analytischen Ansprüche der Psychohistorie an eine Biographie. Diese dürfe sich nicht auf eine deskriptive Ebene der Charakterisierung beschränken, sondern müsse insbesondere auch familiäre und persönliche Konflikte, Sexualität und generell die psychischen Grundlagen der Handlungen und Meinungen berücksichtigen. – Vgl. ferner: Hedwig Röckelein: Biographie als Geschichte. Tübingen 1993 (= Forum Psychohistorie, Bd. 1). Vgl. Tilmann Lahme u. Holger R. Stunz: „Der Erfolg als Missverständnis? Wie Golo Mann zum Bestsellerautor wurde“. In: Geschichte f r Leser. Popul re Geschichtsschreibung in Deutschland im 20. Jahrhundert. Hg. v. Hardtwig u. Erhard Schütz. Stuttgart 2005, S. 371 – 397. Daniel Fulda: Wissenschaft aus Kunst. Die Entstehung der modernen deutschen Geschichtsschreibung 1760 – 1860. Berlin 1996 (= European Cultures. Studies in Literaure and the Arts, Bd. 7).

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von jener der Geschichte in besonderer Weise getrennt wird.10 Für die Entwicklung der Grenzziehung zwischen Biographie und Geschichtswissenschaft aus disziplinärer Perspektive sind es dann vor allem Johann Gustav Droysen (1808 – 1884) und Leopold Ranke (1795 – 1886), die die Geschichtsschreibung gegen einen biographischen Ansatz profilieren.11 Beide haben sich mit dem Verhältnis von Einzelpersönlichkeit und geschichtlichem Zusammenhang in Arbeiten beschäftigt, die bedeutende historische Persönlichkeiten ins Zentrum stellen und deren Analyse entsprechend Auskunft über diskursive Praktiken, sowohl der Geschichtsschreibung wie der Biographie geben können und im Fall von Rankes Porträt des Papstes Paul III. wohl auch geben sollen. Nach einer kursorischen Sichtung zentraler Äußerungen zur Stellung der Biographie in der Literatur der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts soll hier dieses didaktisch angelegte Porträt aus Rankes ,Meisterwerk‘ Die rçmischen P pste im Sinn des skizzierten Projekts einer Geschichte der Abgrenzung von Biographie und Historiographie analysiert werden. Das abschließende Fazit gibt ergänzende Hinweise auf Rankes Geschichte Wallensteins.

Biographie oder Historiographie: diskursive Differenzierung Die Trennung zwischen Geschichtsschreibung und Biographie geht bis auf Plutarch zurück, der explizit betonte, er verstehe seine Biographien nicht als Beiträge zu einer Geschichte.12 Auch wenn es ähnliche und bedeutende 10 Georg Friedrich Wilhelm Hegel: „Grundlinien der Philosophie des Rechts oder Naturrecht und Staatswissenschaft im Grundrisse. Mit Hegels eigenhändigen Notizen und den mündlichen Zusätzen“. In: Hegel Werke in 20 B nden. Hg. v. Eva Moldenhauer u. Karl Markus Michel, Bd 7. Frankfurt/M. 1970, § 345, S. 505. 11 Vgl. Christian von Zimmermann: Biographische Anthropologie. Menschenbilder in lebensgeschichtlicher Darstellung (1830 – 1940). Berlin 2006, S. 109 – 132 (= Quellen und Forschungen zur Literatur- und Kulturgeschichte, Bd. 41). 12 „Wenn ich in diesem Buche das Leben des Königs Alexander und das des Caesar, von dem Pompejus bezwungen wurde, darzustellen unternehme, so will ich wegen der Fülle des vorliegenden Tatsachenmaterials vorweg nichts andere bemerken als die Leser bitten, wenn ich nicht alles und nicht jede der vielgerühmten Taten in aller Ausführlichkeit erzähle, sondern das meiste kurz zusammenfasse, mir deswegen keinen Vorwurf zu machen. Denn ich schreibe nicht Geschichte, sondern zeichne Lebensbilder, und hervorragende Tüchtigkeit oder Verworfenheit offenbart sich nicht durchaus in den aufsehenerregendsten Taten, sondern oft wirft ein geringfügiger Vorgang, ein Wort oder Scherz ein bezeichnenderes Licht auf den Charakter als Schlachten mit Tausenden von Toten und die größten

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Grenzmarkierungen in der Literatur des 18. Jahrhunderts gibt,13 sind andere Versuche nicht zu übersehen, die Biographie der ,historischen‘ Schreibart zuzuordnen. Diese Versuche sind freilich zumindest teilweise auf einen allgemeinen Begriff der ,historia‘ bezogen, der nicht disziplinär bestimmt ist und sehr viel allgemeiner solche Schreibweisen respektive Gattungen umfasst, die es mit der narrativen Darstellung von Begebenheiten und Handlungen zu tun haben. In Braunschweig veröffentlichte der Literarhistoriker Johann Joachim Eschenburg (1743 – 1820) zuerst 1783 einen in vielen Auflagen gedruckten, erweiterten und für Unterrichtszwecke eingerichteten Entwurf einer Theorie und Litteratur der Redek nste. 14 Dieser Versuch einer Systematik der Literatur diente noch Unterrichtszwecken, als sich gegenüber dem systematischen bereits ein genuin historisch-genetischer Zugriff auf die Literatur durchsetzte. Die fünfte, von Moritz Pinder überarbeitete Auflage erschien fast schon als Anachronismus ein Jahr nachdem Georg Gottfried Gervinus (1805 – 1871) sein ehrgeiziges Projekt einer Geschichte der deutschen Nationallitteratur (1835 – 42) zu publizieren begonnen hatte. Johann Joachim Eschenburg wollte in seinem Entwurf jeder Form der poetischen und rhetorischen Rede einen systematischen Ort zuweisen. Dabei folgt Eschenburg einer Einteilung in die Abteilungen Poetik und Rhetorik, denen jeweils unterschiedliche Schreibarten zugeordnet sind: der Poetik die epische und dramatische Schreibart (wobei Lyrisches der epischen Schreibart subsumiert wird), der Rhetorik die Schreibarten des Briefes und Dialogs sowie dogmatische (didaktische), historische und Heeresaufgebote und Belagerungen von Städten.“ (Plutarch: F nf Doppelbiographien. 2 Teile. Griechisch und deutsch. Übersetzt von Konrat Ziegler und Walter Wuhrmann, ausgewählt von Manfred Fuhrmann. Mit einer Einführung und Erläuterungen von Konrat Ziegler. Zürich 1994, Bd. 1, S. 9). – Zu Plutarchs Biographik vgl.: Albrecht Dihle: Die Entstehung der historischen Biographie. Heidelberg 1987; ders.: „Antike Grundlagen“. In: Biographie zwischen Renaissance und Barock. Zwçlf Studien. Hg. v. Walter Berschin. Heidelberg 1993, S. 1 – 22; Herwig Görgemanns: „Biographische Charaktere bei Plutarch“. In: Walter Berschin u. Wolfgang Schamoni (Hgg.): Biographie – „So der Westen wie der Osten“? Zwçlf Studien. Heidelberg 2003, S. 43 – 58; zur Plutarchrezeption: Thomas Winkelbauer: „Plutarch, Sueton und die Folgen. Konturen und Konjunkturen der historischen Biographie“. In: ders. (Hg.): Vom Lebenslauf zur Biographie. Geschichte, Quellen und Probleme der historischen Biographik und Autobiographik. Waidhofen/ Thaya 2000, S. 9 – 46. 13 Vgl. Hellwig: Von der Vita zur K nstlerbiographie. 14 Johann Joachim Eschenburg: Entwurf einer Theorie und Litteratur der Redek nste. Berlin, Stettin 1783.

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rednerische Schreibart. Biographie, Charakterporträt und Historie sind im System als unterschiedliche Erscheinungsformen historischer Schreibart gekennzeichnet, der auch der Roman zugeordnet wird, der einem älteren Begriffsgebrauch folgend eben nicht dem Epos (in Versen) sondern der ,historia‘ (als Prosaform) zugerechnet wird. Den Roman trennt von Biographie und Historie, dass sein Gegenstand erfunden sein kann, zugleich aber erscheinen Roman und Biographie in besonderer Weise dazu geeignet, einen anthropologischen und seelenkundlichen Erkenntnisgewinn zu befördern, während umgekehrt die Historie zwar Menschenkenntnis voraussetzt, aber einen anderen Gegenstandsbereich des tatsächlich Vergangenen umfasst. Sowohl die Grundfunktion (Belehren und Unterhalten) als auch rhetorische Grundanforderungen müssen von allen Erscheinungsformen historischer Schreibart erfüllt werden. Die Differenzierung liegt also eher im Stoff sowie in den Voraussetzungen für den Autor, der im Fall der Historie über besonders breite historische Kenntnisse verfügen muss. In der von Moritz Pinder überarbeiteten Ausgabe von 1836 wurde zwar das Grundsystem beibehalten, aber der Roman ist nun dem Epos zugeordnet und die Lyrik wird in einem eigenen Abschnitt behandelt. Damit ist zugleich die Verbindung von Biographie und Historiographie enger geworden. Beide unterscheiden sich zunächst nach ihrer inhaltlichen Reichweite: Neben der ,Universalgeschichte‘ als Geschichte der ganzen Menschheit reiche das Spektrum über Kontinente, Länder, Region, Gruppen, Familien bis hinab zur Biographie, welche die Geschichte nur eines Menschen beschreibe. Moritz Pinder definiert:15 Die Biographie erzählt das Leben, das heisst die von aussen bedingte geistige Entwickelung, eines Einzelnen. Wenn es in der Geschichte auf die Begebenheiten ankommt, in welche die einzelnen Menschen nur eingreifen, so handelt es sich hier lediglich um den Menschen, um dessenwillen die Begebenheiten erzählt werden. Äussere Umstände und Begegnisse, die für sich allenfalls hinreichen, ein Curriculum vitae zu bilden, sind nur sofern in der Biographie von Wichtigkeit, als sie auf den inneren Menschen einwirkten; und wiederum aus dem inneren Entwickelungsgange werden die äusseren Schicksale und die Handlungen, in denen der Mensch sich spiegelt, begriffen. Indessen kann der biographische Schriftsteller diese geistige Durchdringung seines Gegenstandes nicht unbedingt, und so dass gar nichts Zufälliges zurückbliebe, erreichen. Vielmehr scheint es, dass gleichwie die Geschichte überhaupt zur Poesie, ebenso die Biographie insbesondere sich zum Romane 15 Johann Joachim Eschenburg: Entwurf einer Theorie und Literatur der schçnen Redek nste. Fünfte, völlig umgearbeitete Ausgabe von Moritz Pinder. Berlin 1836, S. 353 f.

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verhalte, der als ein durchsichtiges Kunstwerk die Entwickelung eines Charakters aus seiner Anlage darstellt.

Während in den von Eschenburg verantworteten Auflagen die Biographie im Sinn einer anthropologisch akzentuierten Aufklärung wesentlich als ein Instrument zur Menschenerkenntnis und zur sittlichen Erziehung aufgefasst wurde, ist sie bei Pinder als eine spezielle Form der Geschichtsschreibung zu verstehen, wobei Pinder das Verhältnis von äußeren Einflüssen und inneren Entwicklungen im Sinn Goethes ins Zentrum stellt.16 Die Differenz zur Geschichtsschreibung ist für ihn wesentlich quantitativ und nicht qualitativ anzusetzen. Dies ist nur dadurch möglich, dass hier einerseits die Rhetorik und Poetik des Schreibens im Vordergrund steht, andererseits die Bestimmung der Geschichtsschreibung als Geschichte der Begebenheiten, die entweder aus der Perspektive der Akteure oder aus der Perspektive der Ereignisketten betrachtet werden könne, erachtet wird. Während sich ein systematischer Ansatz damit schwer tut, die Verwandtschaft oder Differenz der Aussageformen zu beschreiben, zeigt sich eine qualitative Differenz zwischen Biographie und Geschichte, wenn der Spielraum der Akteure begrenzt ist, die Eigendynamik der Geschichtsentwicklung betont wird und die historische Entwicklung um eine Geschichte des Geistes erweitert wird. Der hegelianische Philosophiehistoriker Johann Eduard Erdmann (1805 – 1892) sah sich angesichts dieser und anderer Möglichkeiten der Geschichtsdarstellung in seinem Versuch einer wissenschaftlichen Darstellung der neueren Philosophie (1834) zunächst einmal vor die Aufgabe gestellt, die unterschiedliche Herangehensweisen an die Geschichte zu differenzieren und insbesondere das Projekt einer Geschichte der Philosophie von einem möglichen biographischen Ansatz 16 „Denn dieses scheint die Hauptaufgabe der Biographie zu sein, den Menschen in seinen Zeitverhältnissen darzustellen, und zu zeigen, in wiefern ihm das Ganze widerstrebt, in wiefern es ihn begünstigt, wie er sich eine Welt- und Menschenansicht daraus gebildet, und wie er sie, wenn er Künstler, Dichter, Schriftsteller ist, wieder nach außen abgespiegelt.“ ( Johann Wolfgang Goethe: „Aus meinem Leben. Dichtung und Wahrheit“. Hg. v. Peter Sprengel. In: Goethe. S mtliche Werke nach Epochen seines Schaffens. Münchner Ausgabe. Hg. v. Karl Richter, Bd. 16. München 1985, S. 11). – Der bekannte Biograph Johann Matthias Schoeckh schrieb über dieses Verhältnis: „Was er [der Biographierte] nur erlebt hat, gehrt in die Geschichte seines Zeitalters; aber alle beträchtliche Begebenheiten, Versuche und Thaten, die er selbst belebt hat, machen seine eigene Geschichte aus.“ Johann Matthias Schoeckh: „Vorrede zur ersten Auflage“. In: ders.: Allgemeine Biographie. Zweyte, verbesserte und vermehrte Auflage. Berlin: Mylius 1772, S. iii-xx, hier S. xvi.

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abzugrenzen. Während für die Biographie die psychologische Betrachtungsweise legitim sei, erscheint sie für die Geschichtsdarstellung nicht akzeptabel, da sie „den höheren Gesichtspunkt der Geschichts-Betrachtung nicht nur ignoriert, sondern leugnet“,17 indem sie sich weder auf die Begebenheiten als Teile der geschichtlichen Entwicklungen (pragmatische Geschichte) noch auf eine Geschichte des Geistes (philosophische Geschichte) stützt, sondern das „Thun des Individuums“ für sich als „Hauptsache“ setze (Biographie).18 Entsprechend lehnt Erdmann eine biographische Darstellung für das eigene philosophiegeschichtliche Projekt ab.19 Auch der Rechtsphilosoph Eduard Gans (1798 – 1839), der dann 1837 die erste Ausgabe von Hegels Vorlesungen ber die Philosophie der Geschichte besorgte, betont in einer Rezension der Biographien Karl August Varnhagen von Enses die je eigenen Aufgaben von Biographie und Geschichte. Vor dem Hintergrund eines geschichtsphilosophischen Ansatzes ist der bloß quantitativen Differenz nun eine qualitative gegenübergestellt. Für ihn besteht ein grundsätzlicher Unterschied zwischen Geschichtsschreibung und Biographik; die Biographik ist eben gerade nicht eine Möglichkeit der Geschichtsschreibung sondern eine eigene Betrachtungsweise für sich. Von der älteren Auffassung, es bestehe eine systematische Nähe zwischen Biographie und Historiographie grenzt sich Gans deutlich ab: Wie ist biographische Kunst von historischer Kunst unterschieden? Anfangs scheint die Beantwortung bloß auf eine quantitative Unterabtheilung hinauszugehen, und das ganze Wesen des Unterschiedes darin zu liegen, daß es die Biographie bloß mit der Geschichte eines Menschen, die Historie im weiteren Sinne mit der Geschichte von Gesammtheiten, Völkern u.s.w. zu thun habe.20

Gans sieht dagegen einen qualitativen Unterschied, der sich einerseits auf die unterschiedliche Perspektive, andererseits und vor allem aber auf die geschichtsphilosophischen Grundlagen bezieht. Keineswegs sollten Biographen die Arbeit der Historiker oder Historiker die Arbeit der Biographen integrieren. Der Unterschied zwischen Biographie und Geschichtsschreibung sei letztlich eben diejenige Differenz, in die „der 17 Johann Eduard Erdmann: Versuch einer wissenschaftlichen Darstellung der neueren Philosophie, Bd. 1.1. Riga, Dorpat 1834, S. 43 (vgl. den gesamten Abschnitt „§ 4 Darstellungsweisen der Geschichte“). 18 Ebd., S. 47. 19 Ebd., S. 58. 20 Eduard Gans: „Biographische Denkmale von K. A. Varnhagen v. Ense. Berlin, bei Reimer 1824“. In: ders.: Vermischte Schriften juristischen, historischen, staatswissenschaftlichen und sthetischen Inhalts. Bd. 2. Berlin 1834, S. 224 – 236, hier S. 224.

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Mensch als solcher zum Weltgeiste überhaupt sich verhält“.21 Gans resümiert die bekannten Grundlagen idealistischer Geschichtsphilosophie, die zugleich Argumente für eine klare Abgrenzung der Geschichte von den Lebensläufen und -plänen der Individuen mit sich bringen: „Die Geschichte hat es mit der Bewegung des Weltgeistes, durch seine Organe, welches die Volksgeister sind, zu thun. Diese Organe sind seine Stufen und Gliedmaßen […].“22 Wo nun der Weltgeist die treibende Kraft ist, können die Individuen diese Position selbstverständlich nicht einnehmen. Gans formuliert mit Hegel, dessen geschichtsphilosophische Vorlesungen noch ungedruckt waren: Die Volksgeister haben ihre Vollbringer und Werkzeuge an den menschlichen Individuen, die immer mit der Plötzlichkeit, welche man auch wohl Genie heißt, auftauchen, und dann, so lange sie, oder solche die sie nachgezogen, bleiben, ein bis dahin dunkles Volk zur Höhe des Tages, und zum einstweiligen Repräsentanten der Weltgeschichte erheben.23

Was, so stellt sich die Frage, ist nun genau das Genie der Geschichte? Das Genie ist ,Vollbringer‘ und ,Werkzeug‘ des Volksgeistes, wie Gans weiter mit Hegel ausführt. Nicht aufgrund seiner persönlichen Anlagen oder seines Charakters und nicht Kraft des eigenen Willens wird die Geschichte bewegt. Das besondere Individuum ist nur ein Werkzeug eines Volks- oder Weltgeistes, dem die eigentliche Aufmerksamkeit der Geschichtsschreibung gilt: Indem somit die Geschichte die Darstellung des Weltgeistes ist, wie er sich stets von neuem gebiert, um in vollendeter Gestalt hervorzutreten, müssen die historischen Individuen sich in dieser Darstellung damit begnügen, das bloß Dialektische dieses Ganges zu seyn, das heißt die Freude an ihre Selbständigkeit und letzte Wichtigkeit aufzugeben, um in der Vermittelung des Dienstes, ihren Stolz darein zu setzen, zu Werkzeugen Gottes erkoren zu seyn. Dieses Aufgehen der geschichtlichen Individuen in den Weltgeist und seine Bewegung hat auch der Geschichtsschreiber stets festzuhalten, und es ist seine eigenthümliche Kunst, die Individuen vom Gange der Begebenheiten getragen, darzustellen, und die Urheber der Thaten, als in ihnen selbst wiederum verschwindend aufzuweisen.24

Die Geschichtsschreibung verfehle, so Eduard Gans, ihren Auftrag, wenn sie sich in den Lebensläufen und Charakteren der handelnden Gestalten verliere und ihnen also eine Bedeutung zumesse, die ihnen nicht zu21 22 23 24

Ebd., S. 225. Ebd. Ebd. Ebd., S. 226.

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komme. Interessant ist dabei der Aspekt, dass die Geschichte entsprechend auch nur darzustellen habe, was sich ereignet habe, während eine Kritik der handelnden Gestalten verfehlt sei. Wenn der Einzelne nur ein Vollstrecker sei, so könne man diesem auch nicht vorhalten, er hätte sich so oder so besser, geschickter, erfolgreicher verhalten müssen. Die Vollstrecker der Geschichte sind dem moralischen Urteil also entzogen. Diesem Diskurs der Geschichtsschreibung stehe nun die Biographik gerade diametral gegenüber: Die Biographie betone das Individuum, stelle es ins Zentrum der Darstellung und beziehe alles, was in ihr Blickfeld kommt, auf die zentrale Gestalt. Schon die metonymische Bildlichkeit verdeutlicht bei Gans die Aufgabe des Biographen, den eher privateren Bereich ins Zentrum zu stellen: „Es ist die Welt des Individuums, in die er [der Biograph] sich zu Gaste geladen, die er in ihren Winkeln und Gemächern kennen zu lernen sich die Mühe genommen hat.“25 Zwar deutet Gans dann auch an, die Biographie solle die Tat des Individuums, die es vielleicht als Vollstrecker des Weltgeistes verrichtet habe, nicht historisch betrachten, sondern als Leistung ausweisen, aber eigentlich stehen das Erleiden der Geschichte und die Einsichten in den Gang der Geschichte und nicht die Illusion eines geschichtsmächtigen Handelns im Zentrum. Der Bezug zwischen Individuum und Geschichte („Welt“) ist grundsätzlich nicht das Thema der Biographie; es handelt sich ja um zwei zunächst einmal getrennte Bereiche, die zwar miteinander in Berührung kommen, aber nicht als Gang der Weltgeschichte für die Biographie relevant sein können: Als biographisches Individuum tritt es allerdings in eine nahe Berührung mit der es umgebenden Welt; aber diese Welt ist nur dazu da, damit dasselbe sich an ihr versuche, sie modele und umgestalte; oder dafern [!] die umgebende Welt sich an dem Individuum versuchen möchte, und ihren Einfluß ausübt, so bleibt dem Individuum der unendliche Rückzug in sich übrig, der, wie abstract er auch von dem Standpunkt des Weltganzen herab sich ansehen lassen mag, hier die Bedeutung einer Größe, die Form und Gestalt besonderer Hoheit und Würde hat.26

Hier zeigt sich schon die Tendenz zu einer Auffassung von der Individualität, welche die Integrität des Individuums eigentlich nur noch in Rückzugsräumen des Privaten, in der mit Würde ertragenen Ohnmacht vor der Geschichte behauptet. Dies entspricht auch der Form der biographischen Essays Varnhagen von Enses, die individuellen Charaktere der 25 Ebd., S. 227. 26 Ebd., S. 228.

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porträtierten Personen jenseits ihrer öffentlichen Leistungen (oder Niederlagen) herauszuarbeiten.27 „Hoheit und Würde“ sind der Ausweis einer Persönlichkeit und eines Charakters, deren Spielraum in den Arrangements mit den geschichtlichen, sozialen und politischen Verhältnissen eher gering ist. Gans formuliert vor allem als Darstellungsproblem, dass eine Zeit, die besonders vom Wirken des Weltgeistes erfasst werde, den Individuen wenig Raum zur eigenen (biographisch interessierenden) Entfaltung lasse. Je mehr ein Biograph versucht, den Gang der Geschichte in die Biographie einzuschreiben, desto blasser muss die Individualität des Biographierten werden. Daraus folgt aber auch, dass es letztlich nicht Aufgabe und Interesse des Biographen sein kann, die Vollstrecker des Weltgeistes biographisch darzustellen. Diese haben ein zu geringes individuelles Profil, sind zu sehr in dem Gang der Geschichte aufgegangen. Solche Menschen, die Gott [hier äquivalent zum Weltgeist?] unmittelbar zur Vollbringung einer That auserkoren, die Stifter der Weltreiche, die zu tausendjährigem Nachrücken berufenen und somit zur Allgemeinheit erstarkten Individuen, sind schlechte Gegenstände der biographischen Kunst. Weil sie selbst die Welt sind, die sie erschaffen haben, so haben sie es aufgegeben, gegen diese Welt als Berechtigte aufzutreten.28

Individualität kann es – in Übereinstimmung mit Hegel – nur geben, wenn sich die Subjekte in ein dialektisches Verhältnis zum Ganzen, zum Staat, zur Welt begeben. Dies sei bei den herausragenden Individuen nicht der Fall. Gegenstand der Biographie sollten entsprechend die „Helden zweiten Ranges“29 sein. Wohl mit einem Seitenblick auf den hier nicht namentlich erwähnten Plutarch betont Gans, Alexander und Cäsar seien eben keine guten Gegenstände der Biographie, „während beide Catonen und der gute Aristides auf vortreffliche Biographien Anspruch haben“.30 Wenn es die Geschichtsschreibung mit den wirklichen Mächten der Geschichte zu tun habe, so könnten die Individuen und ihre Entwicklungsgeschichten nicht einen Teil der Geschichte ausmachen. Aus der Perspektive der Biographie kann nur das Erleiden der und das Verhalten in der Geschichte relevant sein, während die Geschichtsschreibung im historischen Prozess die Individuen allenfalls als Werkzeuge der Geschichte verstehen könne. Damit vollzieht sich der Schnitt zwischen einer am 27 28 29 30

Vgl. von Zimmermann: Biographische Anthropologie, S. 72 – 83. Gans: „Biographische Denkmale“, S. 229 f. Ebd., S. 230. Ebd.

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Menschen interessierten Biographik und einer an der überindividuellen Geschichte interessierten Historik neu. Dass damit nicht einfach eine Ablehnung der Biographie gegenüber der Geschichtsschreibung als legitimierter Form einhergeht, wie dies teils in den Auseinandersetzungen um die moderne Biographik eines Emil Ludwig später der Fall war,31 zeigt sich bei Eduard Gans recht deutlich. Vielmehr geht es um eine differenzierende Charakterisierung zweier getrennter Aussagesysteme, die einerseits durch eigene Gegenstandsbereiche, andererseits aber eben auch durch eigene Aussageregeln bestimmt werden. Es ist interessant festzustellen, dass in der Rezension von Gans die diskursive Wahrheit der Geschichte nicht die diskursive Wahrheit des Biographischen beeinträchtigt. Dies zeigt sich auch in einem weiteren Beispiel: Auf der Suche nach Vorbildern für die Differenz zwischen Biographie und Geschichte wird regelmäßig auf Plutarch verwiesen, der den eigenen biographischen Weg bereits explizit von der Geschichtsschreibung abgegrenzt hatte. Aufschlussreich ist in diesem Zusammenhang die Auseinandersetzung mit Plutarchs Biographien, wie sie etwa – überraschend ausführlich und differenziert – durch den Quedlinburger Altphilologen Ferdinand Ranke (1802 – 1876; Bruder des Historikers Leopold Ranke) im Artikel „Demosthenes“ für die Allgemeine Encyclop die der Wissenschaften und K nste geführt wurde. Schon die Selbstverständlichkeit, mit der Ferdinand Ranke hier die Quellen zu Demosthenes in Geschichtsschreibung und ,eigentliche Biographien‘ teilt, ist bemerkenswert. Erwartungsgemäß kann unter dieser Perspektive Plutarchs Biographie nicht historischen Ansprüchen genügen: Sie stelle keine eigene Forschungsarbeit im Blick auf die Chronologie der Ereignisse dar, basiere teils auf unsicheren mündlichen Quellen und weise darum zahlreiche historische Fehler auf: „Wahrlich hielt er [Plutarch] solche Genauigkeit mehr für nothwendig für den ei31 Die Auseinandersetzungen einiger Fachhistoriker mit den populären Biographien Emil Ludwigs und insbesondere seiner Biographie Wilhelm der Zweite (Berlin 1926 [1925]) sind vor allem von der Behauptung der Deutungshoheit der Geschichtswissenschaft für die jüngere Vergangenheit geprägt. Sie haben dadurch eine teils institutionelle, teils politische Zielrichtung, während die Auseinandersetzung mit Theorie und Methode der Biographik häufig blass bleibt (vgl. von Zimmermann: Biographische Anthropologie, S. 357 – 410). Dennoch finden sich auch hierfür Belege. Dezidiert hat etwa Hans Delbrück in der Zeitschrift Die Kriegsschuldfrage („Emil Ludwig und die Kriegsschuldfrage“. In: Die Kriegsschuldfrage. Berliner Monatshefte f r internationale Aufkl rung 3 [1925], S. 826 – 829) gegen die Psychologisierung des Kaisers Position bezogen.

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gentlichen Geschichtsschreiber, als für den Biographen.“32 Ferdinand Ranke entwirft allerdings im Anschluss an dieses negative Urteil über den historischen Wert von Plutarchs Schrift ein geradezu laudatives Bekenntnis zu ihrem biographischen Rang. Dieser liege in der sittlich wahren Zeichnung des Charakters, der konsequenten Haltung und des festen und ernsthaften Wesens von Demosthenes: „Es ist kein Zweifel, daß niemand diese Lebensbeschreibung aus der Hand legen wird, ohne wirklich ein im Ganzen wahrhaftes Bild des Mannes ins einer Sele[!] zu tragen.“33

Die Aufgabe, die historische Persönlichkeit in ihrem Charakter darzustellen, und überhaupt die ethische Betrachtungsweise, die auch den sittlichen Ernst des Biographen voraussetzt, bezeichnen hier die andere Funktion und die anderen Aussageregeln der Biographie gegenüber einer auf Quellenkritik und Ereignistreue festgelegten historischen Darstellung.

Leopold Rankes „Die römischen Päpste“ Leopold (von) Ranke gilt in der Geschichtswissenschaft des 19. Jahrhunderts als eine der bedeutenden Leitfiguren auf dem Weg zur Verwissenschaftlichung der Geschichtsschreibung. Die grundlegenden methodischen Positionen, die mit Ranke verbunden werden, sollen hier nur angedeutet werden. Ranke ging es nicht zuletzt darum, die Geschichtsschreibung auf einen neuen kritischen Zugang zu den Quellen zu verpflichten. Es sei nicht ausreichend, so betont Ranke in der Auseinandersetzung mit der traditionellen Geschichtsschreibung, auf die vorliegenden Zeugnisse von Zeitgenossen zurückzugreifen, vielmehr müsse der Historiker seine Arbeit auf ein Studium der Quellen selbst stützen. Die vielfach zitierte Aussage von Ranke, es sei die Aufgabe des Historikers, zu zeigen, wie es eigentlich gewesen sei,34 präzisiert Michael Maurer: „Wir dürfen nicht bei der Geschichtserzählung, auf die man sich einmal geeinigt hat, stehen bleiben; wir müssen, wenn möglich, aus unwiderlegbaren Pri32 Ferdinand Ranke: „Demosthenes“. In: Allgemeine Encyclop die der Wissenschaften und K nste in alphabetischer Folge von genannten Schriftstellern bearbeitet. Hg. v. Johann Samuel Ersch u. Johann Gottfried Gruber. Erste Section. Vierundzwanzigster Theil. Leipzig: Brockhaus 1833, S. 52 – 118, hier S. 57. 33 Ebd. 34 Leopold Ranke: Geschichte der romanischen und germanischen Vçlker von 1494 bis 1535, Bd. 1. Leipzig, Berlin 1824, S. V f.

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märquellen dem historischen Geschehen möglichst dicht aufrücken.“35 Dieser Zugang zu den Quellen, der im Übrigen in keiner Weise den Standards heutiger Quellenkritik und Quellennachweise entspricht, schließt weder eine auf Vermittlung angelegte Schreibweise aus, die von der separat verhandelten Quellenkritik getrennt wird, noch ist sie so zu verstehen, als bestünde das Ziel allein in der Aufdeckung der Quellenfakten: Auch Ranke forscht nach einer metaphysischen Ebene der Geschichte hinter den dokumentierten Ereignissen. Gleichwohl zeigt sich bei Ranke das Bemühen um einen objektiven Zugriff auf die Geschichte, der sich nicht von den subjektiven Wertungen einer Gegenwart oder von geschichtsphilosophischen Prämissen leiten lassen soll. Im Zusammenhang der Frage nach dem Verhältnis von Biographie und Geschichte interessieren mehrere Werke, da Ranke immer wieder die Einzelpersönlichkeit in der Geschichte ins Licht rückt. Besonders relevant sind Die rçmischen P pste, ihre Kirche und ihr Staat (1834 – 1836, später unter dem Titel Die rçmischen P pste in den letzten vier Jahrhunderten) und selbstverständlich die spätere Geschichte Wallensteins (1869). Da Ranke in seiner Studie über Wallenstein und den Dreißigjährigen Krieg einer Behandlung der Einzelpersönlichkeit in der Geschichte folgt, wie er sie zuerst in Die rçmischen P pste entwickelt hat, soll zunächst und vor allem anhand einer genaueren Lektüre des Kapitels über Papst Paul III.36 Rankes Auffassung des Verhältnisses von Individuum und Geschichte herausgearbeitet werden. Auch für seine Geschichte der Päpste konnte Ranke auf Archivmaterial zurückgreifen. Insbesondere dienten ihm dabei venezianische Gesandtenberichte als Quelle, während – unangenehm für einen Historiker, der die Quellenarbeit so zentral ansetzt – die Archive des Vatikans für Ranke noch nicht zugänglich waren. Ranke gibt in einer Vorrede über das 35 Michael Maurer: „Neuzeitliche Geschichtsschreibung“. In: ders. (Hg.): Aufriß der Historischen Wissenschaften in sieben B nden, Bd. 5. Mündliche Überlieferung und Geschichtsschreibung. Stuttgart 2003, S. 281 – 499, hier S. 369 f. 36 Dabei wird auf folgende Ausgabe zurückgegriffen: Leopold von Ranke: Die rçmischen P pste in den letzten vier Jahrhunderten, 4 Bde. in 2 Büchern. Hg. und eingel. v. Horst Michel. Wien, Hamburg, Zürich o. J. (= Leopold von Rankes Historische Meisterwerke, Bd. 15 – 18). – Diese Edition verzichtet auf den Nachdruck der umfangreichen Quellenexzerpte sowie der Vorreden der Originalausgabe: Leopold Ranke: F rsten und Vçlker von S d-Europa im sechzehnten und siebzehnten Jahrhundert. Vornehmlich aus ungedruckten Gesandtschafts-Berichten, Bde. 2 – 4. Die römischen Päpste, ihre Kirche und ihr Staat. Berlin 1834 – 1836.

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Quellenstudium Auskunft;37 ein umfangreicher Anhang gibt in der Originalausgabe Exzerpte aus den konsultierten Gesandtschaftsberichten wieder.38 Diese Quellen erlauben es Ranke – wenn auch eben im eingeschränkten Maß – hinter die vorliegenden Geschichtsdarstellungen auf erste Grundlagen zurückzugreifen. In einem anderen Punkt erstaunt Rankes Werk, denn im Gegensatz zu der eingangs betonten Hinwendung zur Objektivität findet sich durchaus ein subjektiver Zug: Ranke sieht sich in der Vorrede zur Erstausgabe explizit als einen ,norddeutschen‘ Protestanten,39 und aus dieser Perspektive interessiere er sich für bestimmte Aspekte des Papsttums. Theologische Fragen seien für einen Anhänger der anderen Konfession kaum nachvollziehbar,40 und zudem seien sie für eine historische Darstellung in der Gegenwart des Historikers nicht relevant. Die ersten beiden der insgesamt sieben Bücher umfassenden Monographie Die rçmischen P pste sind der Geschichte des Papsttums seit den Anfängen bis zum Ende des 16. Jahrhunderts gewidmet. Hier wird ein umfassender Rahmen für die Geschichte der Institution entworfen, bevor dann im dritten Buch die Namen der Päpste aus der Mitte des 16. Jahrhunderts die Kapiteltitel ergeben. Schon hieran wird erkennbar, dass Ranke im Gegensatz zu der vielleicht durch den Titel erwartbaren Anlage nicht einfach eine Reihe päpstlicher Biographien vorlegt. Vielmehr sind die Darlegungen zu einzelnen Päpsten in eine umfassende Geschichtsdarstellung eingebunden, die im dritten Buch die Entwicklung der katholischen Kirche und des Papsttums bis zur Reformationszeit umfasst. Nicht zufällig werden gerade hier die einzelnen Akteure ins Zentrum gestellt, handelt es sich doch um die aus der protestantischen Sicht des Historikers wichtigen Vertreter der katholischen Kirche der Reformationszeit – also während des Prozesses der Konfessionalisierung. Dies beantwortet zugleich auch ein Stück weit die Frage, warum Ranke eigentlich als Protestant die Geschichte der Päpste schrieb: Sie ist für ihn Teil einer Geschichte des Konfessionalismus, des Widerstreits zwischen katholischer Kirche und sich etablierenden protestantischen Kirchen, ein Widerstreit, den er bis in seine Gegenwart hinein als zentral ansieht und nachvollzieht. 37 Vgl. die Vorrede in Ranke: F rsten und Vçlker, Bd. 2, S. V-XVIII (fehlt in der Edition Michel). 38 Fehlt ebenfalls in der Edition Michel. 39 Ranke: F rsten und Vçlker, Bd. 2, S. XV. 40 Ebd.: „Für jenes kirchliche oder canonische Detail geht uns am Ende auch die wahre Theilnahme ab.“

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Die Darstellung einzelner Persönlichkeiten erscheint jedenfalls hier in einen größeren historischen Kontext integriert, und diese Konzeption des Werkes beruht auf Annahmen über die Stellung der Individuen in der Geschichte. Ranke entwirft ein welthistorisches Panorama der Zeit vor der Konfessionalisierung, um das Handeln der einzelnen Päpste im welthistorischen Moment darzustellen. In der Einleitung zum dritten Buch verweist Ranke ausdrücklich auf die beiden wichtigen Kräfte dieser historischen Phase: Reformation und katholische Kirche:41 Vor allem ist das 16. Jahrhundert durch den Geist religiöser Hervorbringung ausgezeichnet. Bis auf den heutigen Tag leben wir in den Gegensätzen der Überzeugung, welche sich damals zuerst Bahn machten. Wollen wir den welthistorischen Augenblick, in welchem sich die Sonderung vollzog, noch genauer bezeichnen, so würde er nicht mit dem ersten Auftreten der Reformatoren zusammenfallen, – denn nicht sogleich stellten sich die Meinungen fest, und noch lange ließ sich eine Vergleichung der streitigen Lehren hoffen; – erst um das Jahr 1552 waren alle Versuche hierzu vollständig gescheitert, und die drei großen Formen des abendländischen Christentums setzen sich auf immer auseinander. Das Luthertum ward strenger, herber, abgeschlossener; der Kalvinismus sonderte sich in den wichtigsten Artikeln von ihm ab, während Kalvin früher selbst für einen Lutheraner gegolten; beiden entgegengesetzt nahm der Katholizismus seine moderne Gestalt an. Einander gegenüber bildeten sich die drei theologischen Systeme nach den einmal ergriffenen Prinzipien aus, mit dem Anspruch jedes, die anderen zu verdrängen, sich die Welt zu unterwerfen.

Schon in diesen einleitenden Bemerkungen zeigt sich, wie Ranke im Blick auf die größeren geschichtlichen Zusammenhänge von den einzelnen Akteuren abstrahiert und dagegen metaphysische Begrifflichkeiten setzt, die nicht die Summe einzelner Handlungen darstellen. Ranke spricht vom „Geist religiöser Hervorbringung“ und von den fortdauernden „Gegensätzen“ als überdauernden Prinzipien nicht von Personenkonstellationen. Dies gilt insbesondere auch für den konkreten „welthistorischen Augenblick“, der durch die auftretenden Meinungen, Lehren, Systeme und Prinzipien bestimmt wird. So sind es nicht eigentlich die Reformatoren mit ihren initialen reformatorischen Handlungen, wie sie eine heroische Geschichtsschreibung und Biographik ins Zentrum rücken würde, sondern erst die überindividuell verstandenen ausgebildeten Meinungen, Überzeugungen, Haltungen, Systeme usf., aus denen sich die welthistorischen Situationen bilden. Ja, die Lehren und Systeme werden – am

41 Ranke (Ed. Michel): Die rçmischen P pste, Bd. 1/2, S. 139.

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Beispiel Calvins – explizit in Widerspruch gesetzt zu den angenommenen Handlungsintentionen der Akteure. Den einzelnen geschichtlichen Akteuren – gleich ob Reformatoren oder Päpste – wird nur ein begrenzter Handlungsraum zugestanden. Sie stehen in Entscheidungssituationen, die ihnen aufgezwungen werden durch einen Geist der Epoche, durch epochal wirksame Prinzipien und Ideen, durch Konfliktsituationen. Dies zeigt sich explizit in der Darstellung Papst Pauls III., wenn Ranke ausführt, diesen hätten „die großen Gegensätze der Welt“ „berührt“ und feststellt: „Es ist sehr merkwürdig, wie sich in der Mitte zwischen so vielen einander zuwiderlaufenden Forderungen sein Wesen entwickelte.“42 Der einzelne unterliegt dem Einfluss der Kräfte seiner Zeit, und diese diktieren seine Entwicklungsmöglichkeiten, den Möglichkeitshorizont seiner Entscheidungen, seinen Handlungsspielraum und letztlich Erfolg oder Niederlage seiner Handlungsintentionen. Daniel Fulda hat in seiner bereits zitierten Dissertation Wissenschaft aus Kunst: Die Entstehung der deutschen Geschichtsschreibung 1760 – 1860 (1996) vom „Kairos-Charakter“ der historischen Situationen in Rankes Die rçmischen P pste gesprochen.43 Der Einzelne handelt in einem ihm schicksalhaft vorgegebenen Umfeld, das geprägt ist von situativen Notwendigkeiten. Die Integration der Einzelpersönlichkeiten in eine Geschichte, die wesentlich vom Geist der Epoche und von widerstreitenden Prinzipien geprägt ist, werde überhaupt erst dadurch ermöglicht, dass Ranke die Akteure als Handelnde in einem schicksalhaften Umfeld beschreibe. Dabei scheinen die Einzelnen durchaus eine gewisse Handlungsmächtigkeit zu besitzen. In der katholischen Kirche sieht Ranke zwei zentrale Tendenzen: Eine strenge theologische Richtung, die die Erneuerung der katholischen Kirche angestrebt habe, und eine sehr deutlich verweltlichte von politischen Erwägungen bestimmte Haltung der Päpste. Die Rolle der Päpste wird in diesem Zusammenhang schon einleitend bezeichnet, denn dort heißt es: „In den Päpsten selbst, ihrer Persönlichkeit und Politik, stieß sie [die Erneuerungsbewegung in der katholischen Kirche] auf den nächsten Widerstand.“44 Damit wäre bereits auch ein gewisses biographisches Interesse an den einzelnen Päpsten legitimiert, denn ihre Gesinnung und ihr Lebensstil werden als Faktoren in die historischen Situationen einbezogen. Allerdings macht Ranke zugleich deutlich, dass auch in diesem Fall 42 Ebd., Bd. 1/2, S. 141. 43 Fulda: Wissenschaft aus Kunst, S. 375. 44 Ranke (Ed. Michel): Die rçmischen P pste, Bd. 1/2, S. 139.

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Überindividuelles am Werk ist. Nicht der einzelne Papst, sondern das durch ihn repräsentierte System „des eingewohnten Tuns und Lassens, der bisherigen Politik“ steht im Widerstreit mit der „Notwendigkeit, eine durchgreifende innere Reform herbeizuführen“.45 Bis in die Biographie hinein wirken also die gegenläufigen Kräfte der Epoche. Ranke ist offensichtlich die Klärung der Stellung der Individuen in der Geschichte im Rahmen seiner Darlegungen besonders wichtig. Noch einmal geht er am Beginn des Kapitels über Paul III. auf diese Frage ein: Heutzutage gibt man oft nur allzuviel auf die Beabsichtigung und den Einfluss hochgestellter Personen, der Fürsten, der Regierungen; ihr Andenken muss nicht selten büßen, was die Gesamtheit verschuldete; zuweilen schreibt man ihnen aber auch das zu, was, wesentlich von freien Stücken, aus der Gesamtheit hervorging.46

Das skizzierte Problem lässt sich ohne weiteres für die Gegenwart aktualisieren, wie schon der (hier nur illustrativ zu verstehende) Hinweis auf die öffentlich sehr polemisch geführte Diskussion um die Verantwortung der Vorstände und einzelner Manager für die gegenwärtige Finanzkrise zeigen mag. Auch hier stehen unterschiedliche Positionen gegen einander wie die Feststellung einer strukturellen Krise des globalen Finanzsystems, das den heutigen Erfordernissen nicht entspreche, oder aber die Anprangerung persönlicher Verfehlungen, provoziert durch ein System der Boni, das auf raschen Gewinn und persönliche Bereicherung ziele. Ranke gibt auch schon die beiden Seiten für die Bewertung dieser Frage zu bedenken: Wenn auf der einen Seite den Einzelnen nicht im Sinn eines historischen Weltgerichts die Verantwortung für Fehlentwicklungen zugeschoben werden soll, die eigentlich eben epochaler oder heute struktureller Natur sind, so kann andererseits nicht als Leistung eines einzelnen hingestellt werden, was wesentlich durch die Gunst des situativen Schicksals oder aber durch die Gunst der Konjunktur bewirkt wird. Entsprechend wäre es konsequent in der Logik des Boni-Systems gedacht, wenn man nun die sofortigen Entlassung unglücklicher Vorstände fordert; zugleich aber stellt sich die Frage, ob nicht eine Überschätzung der Handlungsmächtigkeit der Individuen sowohl zu den hohen Gehältern wie zu den rollenden Köpfen führt. Ranke betont, dass sich unter Papst Paul III. die katholische Erneuerungsbewegung entwickelt habe, doch wird ihm jeder Einfluss auf diese Entwicklung abgesprochen. Nicht ursächlich ist das Individuum beteiligt 45 Ebd., Bd. 1/2, S. 140. 46 Ebd.

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sondern allenfalls als beförderndes oder behinderndes Moment, wobei – wie gesagt – Beförderung und Behinderung wiederum abhängig sind von Gewohnheiten und Traditionen des Handelns – wir würden heute wohl von einem päpstlichen Habitus sprechen –, die wiederum nicht allein ihr Fundament im Individuum haben. So wäre es konsequent mit Ranke gedacht, wenn man Lebensstil, Intrigenkultur und Selbstherrlichkeit eines Papstes (oder eines Vorstandes) nicht als persönliche Verfehlung (ethisch) geißelte, sondern sie als Ausdruck einer Zeit, einer Institution, eines Amtes und eines mit diesen verbundenen Habitus ansähe.47

Papst Paul III. als exemplarischer Papst Insofern muss zunächst erstaunen, dass sich Ranke im Fall Pauls III. sehr weitgehend auf eine biographische Darstellung einlässt. Wenn man Die rçmischen P pste eingehender studiert, stellt man fest, dass es sich um eine von wohl nur zwei Ausnahmen im Rahmen der Geschichte des Vatikans in der Zeit des Konfessionalismus handelt. Auch Christine von Schweden, Tochter Gustav Adolfs, die zum katholischen Glauben konvertierte, wird in einer „Digression über Königin Christine von Schweden“ eingehend biographisch dargestellt.48 Die meisten Ausführungen zu Einzelpersönlichkeiten beschränken sich auf deren Regierungszeit respektive auf die geschichtlich relevante Zeit ihres Wirkens.

47 Ganz anders der Autor einer ein Jahrhundert nach Ranke erschienenen Papstgeschichte: „Das Vorleben des […] Papstes […] war nicht besser gewesen als das so vieler anderer Renaissanceprälaten. Und wenn dann auch in der Zeit des Kardinalats eine Hinwendung zu sittlichem Ernst und kirchlicher Gesinnung eingetreten war, so hat er doch auch als Papst die schlimmen Gewohnheiten eines damals so wenig passenden verweltlichten Treibens nicht völlig abzustreifen vermocht.“ Es folgen Details, die das ,schlimme Treiben‘ näher bezeichnen, und eine Erinnerung an den ,Hauptfehler‘ des Nepotismus. Der Unterschied ist deutlich: Ranke spricht dies auch an, aber es ist für den ,vorurteilsloseren‘ Historiker des frühen 19. Jahrhunderts Ausdruck eines zeitgemäßen Tuns und eines weltlichen Habitus. In der jüngeren Darstellung tritt das Individuum deutlich hervor: Sein Handeln steht letztlich doch im Widerspruch zur Zeit (,wenig passend‘) und wird als moralischer ,Fehler‘ gerechnet. Damit ist die sittliche Persönlichkeit des Menschen ins Zentrum gerückt und die Möglichkeit zum Urteil gegeben. F[ranz] X[aver] Seppelt: Papstgeschichte von den Anf ngen bis zur Gegenwart. München 1949 (Überarb. des zuerst 1933 erschienenen Werkes), zitiert S. 211. 48 Ranke (Ed. Michel): Die rçmischen P pste, Bd. 3/4, S. 167 – 181.

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Inwiefern wird der Lebenslauf Pauls III. nun beschrieben? Tatsächlich folgt Ranke dem Lebenslauf von der Geburt bis zum Tod, wobei das Hauptgewicht auf die Zeit seines Pontifikats fällt. Dennoch umreißt Ranke in knappen Zügen den Werdegang Alessandro Farneses.49 Von den Bemühungen, Plänen, Intrigen, Begünstigen des Papstes ist weitläufig die Rede, wobei Ranke die Chronologie des Lebenslaufes zugrundelegt. Der Abschnitt endet schließlich mit dem Tod des Papstes und der Trauer in Rom. All dies entspricht den Erwartungen an eine Biographie. Wahrscheinlich erstaunt dann aber doch die Einleitung in das Kapitel, die die Bedeutung der Einzelnen in Frage stellt. Und sicher erstaunt am Ende der Lektüre der Biographie auch das Fazit Rankes: „Ein Mann, voll von Talent und Geist, durchdringender Klugheit an höchster Stelle! Aber wie unbedeutend erscheint auch ein mächtiger Sterblicher der Weltgeschichte gegenüber!“50 Warum gibt Ranke also im Rahmen seiner historischen Abhandlung so viel Raum, um die Einzelpersönlichkeit ausführlich darzustellen, wenn er doch letztlich der Meinung sein sollte, dass das einzelne Individuum nur von den eigentlichen epochalen Kräften abhängig ist? Zwei Thesen: 1.) Der rhetorischen Form des Kapitels nach handelt es sich um eine Abhandlung zur Frage nach der Stellung des Individuums in der Geschichte. In der propositio wird ein allgemeines Problem benannt, am Ende wird als conclusio der Darlegungen ein generalisierendes Fazit zur Bedeutung der Einzelpersönlichkeit in der Geschichte gezogen. Offensichtlich geht es also Ranke um ein Grundsatzproblem, zu dem die konkrete Geschichte des Papstes als Exempel erzählt wird. Das ist – so die These – die Struktur einer didaktischen Rede, die sich hier auf die Biographie einlassen würde, um die Biographie als historische Erkenntnisform zu widerlegen und sie damit aus dem Diskurs der Historiographie auszuschließen. 2.) Dies wäre jedoch nicht genug, wenn Ranke nicht auch am Beispiel dieses Papstes die grundsätzliche Problematik des Papsttums aufzeigen könnte. Darauf gibt die Einleitung zum dritten Buch den Hinweis. Das Papsttum selbst ist ja eines der zwei Prinzipien, die die Rolle der katholischen Kirche in der Reformationszeit – nach Ranke – bestimmen. Er nannte es – wie bereits erwähnt – das Prinzip „des gewohnten Tuns und Lassens, der bisherigen Politik“.51 Dieses gewohnte Tun und Lassen kann als päpstlicher Habitus und der konkrete Papst als diesen erläuterndes 49 Ebd., Bd. 1/2, S. 140 f. 50 Ebd., Bd. 1/2, S. 156. 51 Ebd., Bd. 1/2, S. 140.

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Fallbeispiel gelesen werden. Der hier gewählte Begriff Habitus wäre zugleich eine Alternative zu einer noch biographischen Auffassung, die das Verhältnis von Einzelpersönlichkeit und Geschichte als Konflikt zwischen Individuum und Amt interpretiert.52 Dies bedeutete, dass ein Widerspruch zwischen den psychologischen Grundlagen der Bedürfnisse und Absichten zu den Pflichten und Interessen des Amtes konstruiert würde. Bei Ranke aber erscheint der einzelne ,fast‘ als ein Vertreter seines amtskonformen Habitus. Zur Erläuterung dieser Thesen soll zunächst ein Blick auf die Darstellung des Lebenslaufs geworfen werden: Alexander Farnese – so hieß Paul III. früher – war ein Weltkind so gut wie irgendein Papst vor ihm. Noch im 15. Jahrhundert – er war im Jahre 1468 geboren – gelangte er zu seiner vollen Ausbildung. Unter Pomponius Lätus in Rom, in den Garten Lorenzo Medicis zu Florenz studierte er; die elegante Gelehrsamkeit und den Kunstsinn jener Epoche nahm er in sich auf; auch die Sitten derselben blieben ihm dann nicht fremd. Seine Mutter fand es einmal nötig, ihn in dem Kastell S. Angelo gefangen halten zu lassen; er wußte in einem unbewachten Augenblicke, den ihm die Prozession des Fronleichnamstages gewährte, an einem Seile aus der Burg hinabzugelangen und zu entkommen. Einen natürlichen Sohn und eine natürliche Tochter erkannte er an. Trotz alledem ward er bei ziemlich jungen Jahren – denn in jenen Zeiten nahm an solchen Dingen niemand Anstoß – zum Kardinal befördert. Noch als Kardinal legte er den Grund zu dem schönsten aller römischen Paläste, dem farnesianischen; bei Bolsena, wo seine Stammgüter lagen, richtete er sich eine Villa ein, die Papst Leo einladend genug fand, um sie ein paarmal zu besuchen. Mit diesem prächtigen und glänzenden Leben verband er aber noch andere Bestrebungen. er faßte von allem Anfang die höchste Würde ins Auge. […] endlich, im Oktober 1534, im vierzigsten Jahre seines Kardinalates, dem siebenundsechzigsten seines Lebens, erreichte er sein Ziel und wurde gewählt.53

Gleich zu Beginn wird der spätere Papst beschrieben als „ein Weltkind so gut wie irgendein Papst vor ihm“. Verfehlungen der Jugendzeit stehen – zeittypisch – nicht im Widerspruch zur kirchlichen Karriere. Es wird auf die Kreise und Ausbildung, das elegante Leben des Kardinals hingewiesen. Das Leben ist so elegant, dass sogar der amtierende Papst auf Besuch kommt. Ranke zeichnet hier zwar durchaus einen individuellen Werdegang, doch macht er zugleich darauf aufmerksam, wie das Milieu beschaffen ist, das einen Papst hervorzubringen vermag und welche Werte (Kunstsinn und Eleganz) für das Amt qualifizieren können. Das Amt wird 52 Vgl. Fulda: Wissenschaft als Kunst, S. 377. 53 Ranke (Ed. Michel): Die rçmischen P pste, Bd. 1/2, S. 140.

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dabei reduziert auf den Zielpunkt einer Machtstrategie und eines persönlichen Ehrgeizes. Mit der Übernahme des Pontifikats gibt es einen Bruch in der biographischen Erzählung. In einer knappen Einlassung gibt der Biograph sein Interesse am Gegenstand zu erkennen. Ihn interessiere besonders, wie sich das Wesen Pauls III. unter den gegensätzlichen Kräften und Bestrebungen seiner Zeit entwickelt habe. In knappen Worten umreißt Ranke also die situativen Notwendigkeiten, auf die sich der einzelne einzustellen hat, und in deren Rahmen sein Handeln sich vollzieht. Im didaktischen Gestus der exemplarisch veranschaulichenden Vorlesung wird ein Lehrstück aufgegeben: „Betrachten wir, wie er dies versuchte, ob es ihm damit glückte, ob er sich zuletzt über die entgegenstrebenden Kräfte der Weltbewegung wirklich erhob oder ob auch er von ihnen ergriffen worden ist.“54 Für eine eingehende Analyse der mit dem konkreten Fall verbundenen übergeordneten Konzepte könnten Begriffscluster herausgearbeitet werden. Das ist ein Verfahren, das in literaturpsychologischen Zusammenhängen entwickelt worden ist und von der Propagandaforschung aufgegriffen wurde.55 Es geht im Wesentlichen darum, unter bestimmten Leitaspekten Begriffe zu ordnen, um zu zeigen, welche Ausdrücke durch Assoziationsreihen und syntagmatische Beziehungen im Text eine symbolische Ordnung bilden. Hier geht es um die symbolische Ordnung des Spannungsfeldes von Individuum und Geschichte, also um die Zuschreibungen, die entweder Paul III. oder aber das historische Umfeld bezeichnen. Zum konzeptuellen Feld ,Geschichte‘ sind bereits oben Ansätze zu einem solchen cluster notiert worden, wobei insbesondere die Vorrede zahlreiche Begriffe liefert: ,Geist der Epoche‘, ,Gegensätze‘, ,Systeme‘, ,Prinzipien‘, ,welthistorischer Augenblick‘, die Rede im Kollektivsingular ,Luthertum‘, ,Kalvinismus‘, ,Katholizismus‘. Auch aus dem Schlussteil wäre der Ausdruck ,ewige Weltgeschicke‘ hinzuzunehmen. Während auf der Seite der waltenden Kräfte der Geschichte eine Ontologisierung abstrakter Prinzipien in den Lehren und Systemen erkennbar wird, zeigt sich auf der anderen Seite ein komplementäres Bild. Dies zeigen schon solche Aspekte, die noch zum cluster ,Geschichte‘ gehören, aber konkreter den Bezug zum Individuum markieren: ,widerwärtige Einwirkungen‘, ,Ge54 Ebd., Bd. 1/2, S. 143. 55 Wenngleich aus einer hier nicht verfolgten literaturpsychologischen Perspektive verfasst, vgl. grundlegend: Kenneth Burke: Dichtung als symbolische Handlung. Eine Theorie der Literatur. Frankfurt/M. 1966 (engl. 1941).

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legenheit‘. Individualität fällt schließlich wesentlich zusammen mit intentionalem Handeln in einem spezifischen historischen setting: ,Bestrebung‘, ,Absicht(en)‘, ,günstiger Augenblick‘, ,glückliche Kombination der Umstände‘, ,sich täuschen‘, ,Gemütsbewegung‘, ,Glück‘ (,unter glücklichen Gestirnen‘) usf. An dieser Stelle mag der Hinweis auf die Aussagekraft dieser Begriffscluster genügen. Ranke zeigt, wie Papst Paul III. mit größerem oder geringerem Erfolg taktiert, aber letztlich immer auf die Gunst oder Ungunst der Stunde angewiesen ist. Geschichtsmächtigkeit gibt es hier auf keiner Seite, sondern nur ein glückliches oder unglückliches Schicksal der Absichten. Mitunter kann der Einzelne dabei besonders erfolgreich handeln und die Gunst der Stunde nutzen; wähnt er sich aber handlungsmächtig, so zeigt ihm die ungünstige Stunde die Unmöglichkeit, in die Geschichte einzugreifen. Selbst der Versuch, günstige oder ungünstige Stunden vorherzusagen – der kluge Taktiker berücksichtigt selbst den Einfluss der Gestirne – scheitert: Eines Tages war der Papst der noch immer unter glücklichen Gestirnen zu stehen und alle die Stürme, die ihn bedrohten, beschwören zu können meinte, in der Audienz vorzüglich heiter: er zählte die Glückseligkeiten seines Lebens auf und verglich sich in dieser Hinsicht mit Kaiser Tiberius: an diesem Tage ward ihm der Sohn, Inhaber seiner Erwerbungen, der Träger seines Glückes, zu Piacenza von Verschworenen überfallen und ermordet.56

Auch der mächtige und klug operierende Einzelne unterliegt letztlich den Geschichtskräften. Schon fast mit erzählerischer Ironie weist Ranke darauf hin, dass die Folgen von Handlungsfehlern größere Auswirkungen auf die Zeit haben als die taktisch durchdachten Absichten und Pläne. In der für die Absichten des Papstes günstigen Situation in den letzten Monaten des Jahres 1546 habe der Papst allein durch falsche Entscheidungen die eigenen Pläne vereitelt.57 Eine psychologische Perspektive auf geschichtliches Handeln wird dabei ebenfalls nicht entwickelt. Wenn überhaupt von einer Psychologisierung gesprochen werden kann, dann in einem Moment der Erzählung, in dem ein Versagen, ein Scheitern nachvollziehbar gemacht wird. Der ,menschliche Faktor‘ in der Geschichte zeigt sich dann im Sinn einer in den historischen Konstellationen nicht berechenbaren Größe ,Mensch‘, die sich als Ungenügen in der Situation manifestiert. So reagiert Paul III. auf die Beleidigung des Kaisers nicht mit einem mutigen Entschluss, sondern er bleibt durch die Krankheit des Klugen – das Zaudern – 56 Ranke (Ed. Michel): Die rçmischen P pste, Bd. 1/2, S. 150. 57 Vgl. ebd., Bd. 1/2, S. 147.

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„mutlos, schwankend und schwach“.58 An dieser einzigen Stelle in der Darstellung zu Paul III., die ein psychologisches Moment offenbart, ist der Mensch zum – aus der Warte der Geschichte gesprochen – zufälligen Faktor geworden, der erwartbare Reaktionen vermissen lässt und letzte Chancen vergibt. Rankes Kapitel wäre so ein Lehrstück über die Tragödie des Menschen in der Geschichte: ,Wie unbedeutend erscheint auch ein mächtiger Sterblicher der Weltgeschichte gegenüber.‘

Rankes Geschichte Wallensteins Über 30 Jahre nach Die rçmischen P pste erschien Rankes Geschichte Wallensteins. In der Vorrede paraphrasiert Ranke nochmals das Verhältnis zwischen Individuum und Geschichte, wie er es am Beispiel Papst Pauls III. demonstriert hatte: Wie viel gewaltiger, tiefer, umfassender ist das allgemeine Leben, das die Jahrhunderte in ununterbrochener Strömung erfüllt, als das persönliche, dem nur eine Spanne Zeit gegönnt ist, das nur da zu sein scheint, um zu beginnen, nicht, um zu vollenden. Die Entschlüsse der Menschen gehen von den Möglichkeiten aus, welche die allgemeinen Zustände darbieten; bedeutende Erfolge werden nur unter Mitwirkung der homogenen Weltelemente erzielt; ein jeder erscheint beinahe nur als eine Geburt seiner Zeit, als Ausdruck einer auch außer ihm vorhandenen allgemeinen Tendenz.59

Zurecht hat Olaf Hähner in seiner Dissertation Historische Biographik (1999) auf die Differenz zu einer hegelianischen Position hingewiesen, wie sie sich hier in der Formulierung „beinahe“ artikuliert.60 Dies weist auf einen letzten subjektiven Faktor hin, der den einzelnen Akteur vom bloßen Vollstrecker in Hegels Konzeption unterscheidet. Freilich tendiert Ranke dazu, diesen subjektiven Rest nicht optimistisch als Handlungsmöglichkeit eines geschichtsmächtigen Individuums zu interpretieren, sondern pessimistisch als mögliches Versagen des Menschen in den geschichtlichen Konstellationen. Entsprechend zeigen sich am ehesten biographische Züge in den Erzählungen des Scheiterns und Untergangs, während die historischen Zusammenhänge die Akteure jenseits des Biographischen erfassen. 58 Ebd., S. 153. 59 Ranke: Geschichte Wallensteins, S. V f. 60 Olaf Hähner: Historische Biographik. Die Entwicklung einer geschichtswissenschaftlichen Darstellungsform von der Antike bis ins 20. Jahrhundert. Frankfurt/M. 1999, S. 123 f.

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Der Titel Geschichte Wallensteins ist Programm. Während Ranke in der Vorrede mit dem Begriff Biographie auf die Biographik nach dem Muster Plutarchs rekurriert, trägt die eigene Darstellung ganz bewusst den als Gattungstitel zu verstehenden Zusatz: Geschichte. Nicht eine Biographie Wallensteins, welche seine ,lebendige Persönlichkeit‘, seinen Charakter, seine Entwicklung porträtierte, wird hier angestrebt, sondern eine Darlegung der schicksalhaften Situation, in der Wallenstein agiert. Zwar betont Ranke im Vorwort, er verstehe sein Buch als „Versuch einer Biographie […], die zugleich Geschichte ist“,61 aber in der Folge treten die epochalen Kräfte als Faktoren auf, die den Handlungsrahmen für Wallenstein abgeben. Der Aufbau ähnelt dabei dem der Papstgeschichte. Auch in der Geschichte Wallensteins wird zunächst ein Panorama der wirkenden Kräfte entwickelt. Erst als Wallenstein als Akteur im Geschichtsverlauf in Erscheinung tritt, wird er ins Zentrum der historischen Studie gestellt. Das vornehmlich historische und nicht biographische Interesse des Autors zeigt sich aber etwa auch daran, dass der Erzähler ausgiebig bei den Schauplätzen verweilt, an denen sich für den Ereignisverlauf der Geschichte bedeutende Ereignisse zugetragen haben – auch wenn Wallenstein an diesen Orten nicht in Erscheinung tritt. Damit verstößt Ranke gegen ein Prinzip der Biographik, wie es bei Eduard Gans und auch bei älteren Theoretikern immer wieder zu finden ist: Die Biographie solle die Geschichte nur insoweit abbilden, als diese für die Entwicklung und Charakterisierung der Persönlichkeit von Belang ist. Wie am Beispiel des Papstes vorexerziert, bleibt die Rolle des Einzelnen beschränkt auf Absichten und Interessen, die mit taktischem Geschick intentional umgesetzt werden sollen. Noch deutlicher zeigt sich aber in Rankes Geschichte des 30jährigen Krieges, dass Wallenstein eben nur ein ,Player‘ im Spiel der Interessen ist. Auch andere haben ihre Ziele, richten ihre Handlungen nach taktischen Erwägungen aus und begrenzen dadurch die Möglichkeiten, eigene Interessen zu realisieren. Hinter diesen Akteuren aber walten die großen Tendenzen der geschichtlichen Epoche, gegen die der Einzelne, wie Holger Mannigel in seiner groß angelegten Studie Wallenstein in Weimar, Wien und Berlin (2003) darlegt, nicht handeln kann: „Das Individuum muß […] eine innere Harmonie zwischen den eigenen Absichten und den allgemeinen Tendenzen herstellen. Daraus folgt im Umkehrschluß, daß niemand gegen die allgemeinen, historisch

61 Ranke: Geschichte Wallensteins, S. VIII.

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wirksamen Kräfte sich stellen kann, ohne letztlich zu scheitern.“62 Mannigel betont mit Dietrich Harth, der hier auch eine gewisse Ähnlichkeit zwischen Droysens und Rankes Behandlung der historischen Persönlichkeit erkennt, einen ,deterministischen Grundzug‘ in Rankes Behandlung der Einzelpersönlichkeit: „Die Hauptfiguren der Geschichten umgibt ein Hauch von Prädestination.“63 Wallensteins Schicksal entfaltet die Tragödie des Menschen, der die Geschichte nach den eigenen Interessen einzurichten versucht. Während vom Einzelnen Impulse für die Geschichte ausgehen und Absichten und Beziehungsnetze gerade Hinblick auf die Kriegsführung festzustellen sind, dominiert letztlich die geschichtliche Situation, in der Wallenstein taktierend agiert. Im eigentlichen Sinn individuell fassbar wird auch der bedeutende Akteur erst im Bewusstsein des Scheiterns.64 Größe erlangen die historischen Gestalten am ehesten durch Einsicht in die epochalen Abläufe, die zugleich die Einsicht in die eigene Handlungsohnmacht meint. Rankes eigner „Versuch einer Biographie […], die zugleich Geschichte ist“, erweist sich letztlich als eine auf das Individuum gestützte Alternative zur Biographie. Entgegen der Auffassung von Olaf Hähner, der in einer möglichen Lesart dieses Zitats aus der Vorrede zur Geschichte Wallensteins Ranke zum Vertreter einer „integrativen historischen“ Biographik macht,65 lese ich den Satz nach den Textanalysen eher als Antwort auf das Problem, dass Biographie explizit nicht historisch ist, während Ranke aber die individuellen Konstellationen gegenüber einem nur überindividuell verstandenen Weltgeist betont. Es ist dennoch der Diskurs der Geschichte, in dessen Rahmen Ranke eine neue Form sucht, nicht der Diskurs des Biographischen. Schon Alfred Dove hat betont, dass Rankes „Versuch“ einer historischen Biographie „im wesentlichen einen bloßen Ausschnitt aus der großen Geschichte“ liefere und dem „Entschluß des Historikers [folge], die Geschichte Wallensteins zu schreiben und eben

62 Holger Mannigel: Wallenstein in Weimar, Wien und Berlin. Das Urteil ber Albrecht von Wallenstein in der deutschen Historiographie von Friedrich von Schiller bis Leopold von Ranke. Husum 2003, S. 468. 63 Dietrich Harth: „Biographie als Weltgeschichte. Die theoretische und ästhetische Konstruktion der historischen Handlung in Droysens ,Alexander‘ und Rankes ,Wallenstein‘“. In: DVjs 54 (1980), S. 58 – 104, hier S. 81; Mannigel: Wallenstein, S. 470. 64 Vgl. von Zimmermann: Biographische Anthropologie, S. 128 f. 65 Hähner: Historische Biographik, S. 125.

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nicht dessen Leben“.66 Der historische Erzähler Ranke nimmt sich in diesem Diskurs manche Freiheiten und suspendiert etwa in Die rçmischen P pste den Ausschluss des Biographischen durch den legitimierenden, salvierenden rhetorischen Gestus der Digression. Solche Digressionen gelten Randfiguren wie etwa Christine von Schweden oder Johann von Österreich. In der „Digression über Johann von Österreich“ aus Rankes erstem Band der F rsten und Vçlker von S d-Europa (1827) 67 unternehme Ranke, so Dove, „allen Ernstes ein[en] Schritt vom Wege der Historie in den Bereich der echten, unabhängigen Biographie“.68 Wiederum handelt es sich um eine Geschichte des Scheiterns vor der Geschichte. Die Digression ist hier das Mittel zur Abweichung von der Geschichte, und Dove betont, dass nur Personen, die nicht (mehr) historische Akteure sind, in eine solche Position kommen können.69 So gewinnt auch Wallenstein biographische Größe im Niedergang kaum aber als taktierender Akteur. In der Vorrede zur Geschichte Wallensteins unterscheidet Ranke explizit zwischen den zwei Weltordnungen der Geschichte und der Moral und bezeichnet damit die beiden Perspektiven, in welche sich die Diskurse der Historiographie und der Biographie teilen. Die moralische Weltordnung umfasst die Geschichte und Entwicklung der sittlichen Charaktere; die historische Weltordnung analysiert das Zusammenspiel der Interessen historischer Akteure. In diesem Sinn ist wohl auch Rankes berühmtes Wort aus der Geschichte der romanischen und germanischen Vçlker zu verstehen: „Man hat der Historie das Amt, die Vergangenheit zu richten, die Mitwelt zum Nutzen zukünftiger Jahre zu belehren, beygemessen: so hoher Aemter unterwindet sich gegenwärtiger Versuch nicht: er will bloß sagen, wie es eigentlich gewesen.“70 Nicht Verhalten und Handlungen Einzelner zu richten, ist Aufgabe der Geschichte (also etwa die aus der Gegenwartssicht bedenklichen moralischen Verfehlungen im Leben Pauls III.), sondern die Konstellationen zu beschreiben, aus denen historische Taten resultierten. Im Gegensatz zu der oben zitierten Paraphrase Michael Maurers, der Rankes Wort vor allem als Bezug zu den Primärquellen versteht, würde ich formulieren: Wer sich in das Gebiet der Geschichte 66 Alfred Dove: „Ranke’s Verhältniß zur Biographie“. In: ders.: Ausgew hlte Schriftchen vornehmlich historischen Inhalts. Leipzig 1898, S. 205 – 226, hier S. 215. 67 Leopold Ranke: F rsten und Vçlker von S d-Europa im sechzehnten und siebzehnten Jahrhundert. Aus ungedruckten Gesandtschafts-Berichten. Erster Band. Hamburg 1827, S. 167 – 183. 68 Dove: „Ranke’s Verhältnis“, S. 207. 69 Ebd., S. 209. 70 Ranke: Geschichte der romanischen und germanischen Vçlker, Bd. 1, S. V f.

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begibt, darf weder moralisch urteilen wollen noch die Geschichte für ethische Fragen didaktisch instrumentalisieren, sondern soll sich auf die Darstellung der Ereignisse und ihrer epochalen Zusammenhänge beschränken. In den (nach den Entwicklungen der modernen und gegenwärtigen Biographik so nicht mehr haltbaren) Worten von Alfred Dove: „Der Biograph darf eine eindringende Theilnahme der Seele des vollendeten Schurken schwerlich weihen […]. Der Historiker muß seine Sonne scheinen lassen über Gute und Böse […].“71 Ähnlich teilt Ranke die ,moralische Weltordnung‘ dem Gebiet der Biographie (nach dem Muster Plutarchs) zu, während die Geschichte einen Dispens vom moralischen Weltgericht erhält. Es ist nicht zuletzt dieser Dispens, den Ranke angesichts einer problematischen Gestalt wie Wallenstein für seinen „Versuch“ einer „Geschichte“ Wallensteins in Anspruch nimmt. Der Biograph kann – wie etwa Günter Barudio (geb. 1942) in seinem Vorwort zur Biographie Gustav Adolf – der Große (1982) – in expliziter Wendung gegen Ranke formulieren: „An menschliches Leben zu erinnern und dabei die Kunst des Richtens zu pflegen, macht das Wesen der Historie aus.“72 Geschichte oder Biographie: Tatsächlich hat die Historiographie des späten 19. Jahrhunderts zahlreiche Werke aufzuweisen, die die Einzelpersönlichkeit ins Licht rücken. Ob sie damit einem personalhistorischen Modell verpflichtet bleiben wie Ranke oder tatsächlich die Historiographie um die Aussagemöglichkeiten der Biographie (Moralität und Psychologie des Faktors Mensch in der Geschichte, Didaktik) erweitern, wäre jeweils im Detail zu hinterfragen. Die Geschichte biographischen Schreibens lässt sich jedenfalls kaum adäquat beschreiben, wenn die Traditionen der anthropologischen und ethischen Alternative zur Geschichte nicht berücksichtigt werden, und die (vermeintliche) Rehabilitierung der Biographie als ,Darstellungsform‘ der Geschichtswissenschaft bedarf entsprechend einer intensiven Auseinandersetzung mit der Geschichte der diskursiven Differenzierung zwischen Biographik und Historiographie, denn die Biographie eröffnet nicht nur Möglichkeiten des Erzählens und der Popularisierung, sondern stellt in ihren anderen diskursiven Voraus-

71 Dove: „Ranke’s Verhältniß“, S. 212. 72 Günter Barudio: Gustav Adolf – der Große. Eine politische Biographie. Frankfurt/M. 1985 [Erstausgabe 1982], S. 9. – Historie versteht sich hier nicht so sehr als Diskursbegriff denn als „Kunst“, Vergangenes lebendig zu gestalten.

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setzungen auch eine Herausforderung der diskursiven Praxis der Historiographie dar.73 Literaturverzeichnis Barudio, Günter: Gustav Adolf – der Große. Eine politische Biographie. Frankfurt/M. 1985 [Erstausgabe 1982]. Bödeker, Hans Erich: „Biographie. Annäherung an den gegenwärtigen Forschungs- und Diskussionsstand“. In: ders. (Hg.): Biographie schreiben. Göttingen 2003, S. 9 – 63 (= Göttinger Gespräche zur Geschichtswissenschaft, Bd. 18). Burke, Kenneth: Dichtung als symbolische Handlung. Eine Theorie der Literatur. Frankfurt/M. 1966 (engl. 1941). Delbrück, Hans: „Emil Ludwig und die Kriegsschuldfrage“. In: Die Kriegsschuldfrage. Berliner Monatshefte f r internationale Aufkl rung 3 (1925), S. 826 – 829. Dihle, Albrecht: „Antike Grundlagen“. In: Biographie zwischen Renaissance und Barock. Zwçlf Studien. Hg. v. Walter Berschin. Heidelberg 1993, S. 1 – 22. Dihle, Albrecht: Die Entstehung der historischen Biographie. Heidelberg 1987. Dove, Alfred: „Ranke’s Verhältniß zur Biographie“. In: ders.: Ausgew hlte Schriftchen vornehmlich historischen Inhalts. Leipzig 1898, S. 205 – 226. Erdmann, Johann Eduard: Versuch einer wissenschaftlichen Darstellung der neueren Philosophie, Bd. 1.1. Riga, Dorpat 1834. Eschenburg, Johann Joachim: Entwurf einer Theorie und Literatur der schçnen Redek nste. Fünfte, völlig umgearbeitete Ausgabe von Moritz Pinder. Berlin 1836. Eschenburg, Johann Joachim: Entwurf einer Theorie und Litteratur der Redek nste. Berlin, Stettin 1783. Foucault, Michel: Die Ordnung des Diskurses. Aus dem Französischen von Walter Seitter. Frankfurt/M. 82001 [franz. Erstausgabe: 1972]. Fulda, Daniel: Wissenschaft aus Kunst. Die Entstehung der modernen deutschen Geschichtsschreibung 1760 – 1860. Berlin 1996 (= European Cultures. Studies in Literaure and the Arts, Bd. 7). Gans, Eduard: „Biographische Denkmale von K. A. Varnhagen v. Ense, Berlin, bei Reimer 1824“. In: ders.: Vermischte Schriften juristischen, historischen, staatswissenschaftlichen und sthetischen Inhalts, Bd. 2. Berlin 1834, S. 224 – 236.

73 Diese Herausforderung wird in zahlreichen Studien implizit auch aufgegriffen. So sieht sich etwa Dieter Riesenberger, der Biographie zunächst verkürzt als „eine Form historischer Darstellung“ ansieht (S. 25), die von der Historiographie neu zu entdecken wäre, eigentlich selbstverständlich vor der Aufgabe, auch das Verhältnis von biographischer Methode (zeitgemäß als Psychoanalyse aufgefasst) und Diskursanforderungen der Historiographie zu diskutieren. Dieter Riesenberger: „Biographie als historiographisches Problem“. In: Persçnlichkeit und Struktur in der Geschichte. Historische Bestandsaufnahme und didaktische Implikationen. Hg. v. Michael Bösch. Düsseldorf 1977, S. 25 – 39 (= Geschichtsdidaktik, Bd. 1).

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Goethe, Johann Wolfgang: „Aus meinem Leben. Dichtung und Wahrheit“. Hg. v. Peter Sprengel. In: ders.: S mtliche Werke nach Epochen seines Schaffens. Münchner Ausgabe. Hg. v. Karl Richter, Bd. 16. München 1985. Görgemanns, Herwig: „Biographische Charaktere bei Plutarch“. In: Biographie – „So der Westen wie der Osten“? Zwçlf Studien. Hg. v. Walter Berschin u. Wolfgang Schamoni. Heidelberg 2003, 43 – 58. Gundolf, Friedrich: Goethe. Berlin 1917. Hähner, Olaf: Historische Biographik. Die Entwicklung einer geschichtswissenschaftlichen Darstellungsform von der Antike bis ins 20. Jahrhundert. Frankfurt/M. 1999. Harth, Dietrich: „Biographie als Weltgeschichte. Die theoretische und ästhetische Konstruktion der historischen Handlung in Droysens ,Alexander‘ und Rankes ,Wallenstein‘“. In: DVjs 54 (1980), S. 58 – 104. Hegel, Georg Friedrich Wilhelm: Grundlinien der Philosophie des Rechts oder Naturrecht und Staatswissenschaft im Grundrisse. Mit Hegels eigenh ndigen Notizen und den m ndlichen Zusätzen. In: Hegel Werke in 20 B nden. Hg. v. Eva Moldenhauer u. Karl Markus Michel, Bd 7. Frankfurt/M. 1970. Hellwig, Karin: Von der Vita zur K nstlerbiographie. Berlin 2005. Klein, Christian: „Einleitung: Biographik zwischen Theorie und Praxis. Versuch einer Bestandsaufnahme“. In: ders. (Hg.): Grundlagen der Biographik. Theorie und Praxis des biographischen Schreibens. Stuttgart, Weimar 2002, S. 1 – 22. Lahme, Tilmann u. Holger R. Stunz: „Der Erfolg als Missverständnis? Wie Golo Mann zum Bestsellerautor wurde“. In: Geschichte f r Leser. Popul re Geschichtsschreibung in Deutschland im 20. Jahrhundert. Hg. v. Wolfgang Hardtwig u. Erhard Schütz. Stuttgart 2004, S. 371 – 397. Ludwig, Emil: Wilhelm der Zweite. Berlin 1926 [1925]. Mannigel, Holger: Wallenstein in Weimar, Wien und Berlin. Das Urteil ber Albrecht von Wallenstein in der deutschen Historiographie von Friedrich von Schiller bis Leopold von Ranke. Husum 2003. Maurer, Michael: „Neuzeitliche Geschichtsschreibung“. In: ders. (Hg.): Aufriß der Historischen Wissenschaften in sieben B nden, Bd. 5: Mündliche Überlieferung und Geschichtsschreibung. Stuttgart 2003, S. 281 – 499. Meier, Christian: „Die Faszination des Biographischen“. In: Interesse an der Geschichte. Hg. v. Frank Niess. Frankfurt/M. 1989, S. 100 – 111. Plutarch: F nf Doppelbiographien. 2 Teile. Griechisch und deutsch. Übersetzt von Konrat Ziegler und Walter Wuhrmann, ausgewählt von Manfred Fuhrmann. Mit einer Einführung und Erläuterungen von Konrat Ziegler. Zürich 1994. Ranke, Ferdinand: „Demosthenes“. In: Allgemeine Encyclop die der Wissenschaften und K nste in alphabetischer Folge von genannten Schriftstellern bearbeitet. Hg. v. Johann Samuel Ersch und Johann Gottfried Gruber. Erste Section. Vierundzwanzigster Theil. Leipzig: Brockhaus 1833, S. 52 – 118. Ranke, Leopold von: Die rçmischen P pste in den letzten vier Jahrhunderten, 4 Bde. in 2 Büchern. Hg. und eingel. v. Horst Michel. Wien, Hamburg, Zürich o. J. (= Leopold von Rankes Historische Meisterwerke, Bd. 15 – 18). Ranke, Leopold: F rsten und Vçlker von S d-Europa im sechzehnten und siebzehnten Jahrhundert. Vornehmlich aus ungedruckten Gesandtschafts-Berichten, Bde. 2 – 4: Die rçmischen P pste, ihre Kirche und ihr Staat. Berlin 1834 – 1836.

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Ranke, Leopold: F rsten und Vçlker von S d-Europa im sechzehnten und siebzehnten Jahrhundert. Aus ungedruckten Gesandtschafts-Berichten. Erster Band. Hamburg 1827. Ranke, Leopold: Geschichte der romanischen und germanischen Vçlker von 1494 bis 1535. Erster Band. Leipzig, Berlin 1824. Ranke, Leopold: Geschichte Wallensteins. Leipzig 1869 (Reprint Leipzig o. J.). Riesenberger, Dieter: „Biographie als historiographisches Problem“. In: Persçnlichkeit und Struktur in der Geschichte. Historische Bestandsaufnahme und didaktische Implikationen. Hg. v. Michael Bösch. Düsseldorf 1977, S. 25 – 39 (= Geschichtsdidaktik, Bd. 1). Röckelein, Hedwig (Hg.): Biographie als Geschichte. Tübingen 1993 (= Forum Psychohistorie, Bd. 1). Schoeckh, Johann Matthias: „Vorrede zur ersten Auflage“. In: ders.: Allgemeine Biographie. Zweyte, verbesserte und vermehrte Auflage. Berlin 1772, S. iii-xx. Seppelt, F[ranz] X[aver]: Papstgeschichte von den Anf ngen bis zur Gegenwart. München 1949. Szaluta, Jacques: Psychohistory. Theory and Practice. New York u. a. 1999 (= American University Studies, Bd. XIX.30). Winkelbauer, Thomas: „Plutarch, Sueton und die Folgen. Konturen und Konjunkturen der historischen Biographie“. In: ders. (Hg.): Vom Lebenslauf zur Biographie. Geschichte, Quellen und Probleme der historischen Biographik und Autobiographik. Waidhofen/Thaya 2000, S. 9 – 46. Zimmermann, Christian von: Biographische Anthropologie. Menschenbilder in lebensgeschichtlicher Darstellung (1830 – 1940). Berlin 2006 (= Quellen und Forschungen zur Literatur- und Kulturgeschichte, Bd. 41).

Mythographik

„Eine Dichtung vom Dichter – ein Phantasiebild, aus Schauen, Erleben und Träumen zusammengefügt“ Gabriele Reuters Aufsatz über Marie von Ebner-Eschenbach

Charlotte Woodford Im Jahr 1904 wurde Gabriele Reuter, Verfasserin des Bestsellers Aus guter Familie, beauftragt, einen Essay über die damals tonangebende österreichische Schriftstellerin Marie von Ebner-Eschenbach (1830 – 1916) zu schreiben. Der Aufsatz sollte in einer Reihe von Monographien über bedeutende AutorInnen aus Vergangenheit und Gegenwart erscheinen.1 Diese Reihe mit dem Titel Die Dichtung verortete die noch junge nationale Disziplin der Germanistik in ihrem weltliterarischen Kontext. Von den deutschsprachigen Autorinnen wurden nur Marie von Ebner-Eschenbach und Annette von Droste-Hülshoff für Wert befunden, in diesen Kanon literarischer ,Größen‘ aufgenommen zu werden, und Gabriele Reuter sollte diese beiden Bände verfassen. Obwohl Ebner-Eschenbach für ihre freundliche Unterstützung jüngerer AutorInnen bekannt war, hatte Reuter nie die Gelegenheit, sie zu treffen. Abgesehen von Ebner-Eschenbachs zahlreichen Erzählungen und drei Romanen lag ihr auch nur wenig Material über die Autorin vor, war diese doch stets darum bemüht, ihr Privatleben dem Rampenlicht fernzuhalten. Um die Jahrhundertwende war bereits eine Biographie über sie von Anton Bettelheim erschienen, doch verfügte Bettelheim über „not […] much autobiographical material to work with and therefore […] decided to focus on her work“.2

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Gabriele Reuter: Ebner-Eschenbach. Berlin, Leipzig 1904 (= Die Dichtung, Bd. 19). Seitenangaben in Klammern beziehen sich ab hier auf diese Ausgabe. Anton Bettelheim: Marie von Ebner-Eschenbach. Berlin 1900. Siehe auch Doris Klostermaier: „Anton Bettelheim: Creator of the Ebner-Eschenbach Myth“. In: Modern Austrian Literature 29 (1996), S. 15 – 43, hier S. 19.

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Charlotte Woodford

Angesichts des spärlichen Quellenmaterials wandte sich Reuter mit der Bitte um mehr Information an Ebner-Eschenbach, und ihr Brief verdient es, hier zur Gänze zitiert zu werden:3 [1r] Sehr verehrte gnädige Frau! Im Auftrage des Verlages Schuster u[nd] Loeffler soll ich für die dort erscheinende Monographien- Sammlung „die Dichtung“ ein Lebensbild von Marie v[on] Ebner-Eschenbach zeichnen. Ich freue mich sehr auf diese Arbeit, und möchte Sie, hochverehrte Frau [1v] freundlichst bitten mir einiges Materials dazu zu liefern, einige Daten aus Ihrem Leben, Ihrem Schaffen u[nd] Wirken sowie die Benennung derjenigen Schriften die über Sie erschienen sind, und die Ihnen gefallen haben. Ich weiss wohl, daß die Werke eines Autors vollauf genügen, ein litterarisches [sic] Charactterbild [sic] von ihm zu entwerfen – [2r] aber für mich ist das diechterische [sic] Werk eines Menschen so ganz nur das Frucht seines Lebens, ist so garnicht von seiner Persönlichkeit zutrennen, daß es mir sehr innig erwünscht wäre, Sie verehrte Frau, auch persönlich kennen zu lernen. Wäre dies im Laufe des Mai, vielleicht in Wien oder dessen Umgebung möglich? […] Es ist eben doch etwas anderes, wenn man […] die Augen eines Menschen kennt, den man schon lange lieb hat! Und ich habe die Hoffnung, daß sie soviel auch von mir wissen, verehrte gnädige Frau, um keine reporterhafte Neugier zu fürchten. In herzlicher Bewunderung, Gabriele Reuter

In diesem unveröffentlichten Brief aus dem Frühjahr 1904 schmeichelt Reuter Ebner-Eschenbach und verleiht ihrer Bewunderung für das Werk der Autorin sowie ihrem Respekt für deren Persönlichkeit unter Einschluss der Privatsphäre Ausdruck. Sie verspricht, nicht allzu aufdringlich zu sein – die Anspielung auf die Missachtung jeglicher Privatsphäre durch den zeitgenössischen Journalismus mag daran erinnern, wie Ebner-Eschenbachs Selbstvertrauen als Schriftstellerin durch die negative Aufnahme ihrer Dramen in den 1860er und 1870er Jahren beschädigt worden war.4 Indem Reuter nach Informationen über monographische Studien fragt, die das Gefallen der Schriftstellerin gefunden haben, gibt sie dieser auch die Möglichkeit zu zeigen, wie sie selbst dargestellt werden möchte. Nichtsdestotrotz will Reuter ein besseres Verständnis von Ebner-Eschenbach als Person erlangen, zusätzlich zu jenem der Autorin. Sie möchte von Ebner3 4

Gabriele Reuter: Brief an Marie von Ebner-Eschenbach, v. 26.3.1904. Wienbibliothek, H.I.N. 56756. Siehe Marie von Ebner-Eschenbach: Letzte Chancen. Vier Einakter von Marie von Ebner-Eschenbach. Hg. v. Susanne Kord. London 2005, S. 3.

Eine Dichtung vom Dichter

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Eschenbach Informationen über ihr Leben erhalten, die über die schon öffentlich bekannten hinausgehen („einige Daten aus Ihrem Leben“). Während Reuter auf die zeitgenössische Auffassung anspielt, ein/e AutorIn solle anhand seines oder ihres Werkes verstanden werden, eine auch von Ebner-Eschenbach vertretene Sichtweise, will sie tatsächlich aber das Gegenteil: Sie möchte Ebner-Eschenbachs Entwicklung als eigenständige Persönlichkeit analysieren und sodann ihre Werke autobiographisch interpretieren. Ebner-Eschenbach muss zwar freundlich geantwortet haben, lehnte es aber ab, Reuter mit der gewünschten Information zu versehen. Sie wies offenkundig Reuters Bitte um Informationen über ihr Leben ab, und Reuter ihrerseits konnte nicht nach Wien reisen um Ebner-Eschenbach zu treffen. Im Mai war sie bereits mit Freunden in Italien und antwortete auf einen Brief von Ebner-Eschenbach: Meine Absicht, ein Heftchen über Sie, verehrte Frau, zu schreiben, habe ich dabei keineswegs aufgegeben, [2r] und je mehr ich mich mit Ihren Arbeiten beschäftige desto mehr freue ich mich der Aufgabe, die vor mir liegt. Mir scheint aus Ihren Zeilen der Wunsch zu schimmern, Ihre Person, Ihr Leben dabei möglichst bei Seite liegen zu lassen, und so werde ich mich dem wohl fugen müssen, obgleich mit etwas schwerem Herzen. Hoffentlich gelingt es mir trotzdem, ein Bild von Ihnen verehrte Frau, die uns allen so lieb und wert ist, zu entwerfen, das ein wenig auch Ihren eigenen Beifall findet.5

Ebner-Eschenbach hatte Reuter ganz offensichtlich in ihrem Vorhaben entmutigt, ihre Persönlichkeit zu analysieren und ihr Leben bis ins Detail zu untersuchen – Reuter ist enttäuscht. Sie musste sich deshalb, wie es in ihrem Essay heißt, darauf beschränken „eine Dichtung vom Dichter“ (S. 11) zu schaffen, ein Porträt, das Ebner-Eschenbachs Billigung finden würde, gerade weil es so weit entfernt war von der unbehaglichen Realität ihres Lebens als Schriftstellerin. Was hatte Ebner-Eschenbach zu verbergen? Sie mochte eine Art von Versteckspiel mit ihrem Publikum gespielt haben, was keineswegs ungewöhnlich für AutorInnen ihrer Generation war. Gabriele Reuter selbst verheimlichte später die Geburt eines unehelichen Kindes vor der Öffentlichkeit, wenngleich sie diese Erfahrung in ihrem Roman Das Tr nenhaus fiktional darstellte.6 Ebner-Eschenbach schuf ebenfalls ein öf5 6

Gabriele Reuter: Brief an Marie von Ebner-Eschenbach, v. 31. 5. 1904: Wienbibliothek H.I.N. 57827. Gabriele Reuter: Das Tr nenhaus. Berlin 1908. Siehe auch Faranak AlimadadMensch: Gabriele Reuter. Portr t einer Schriftstellerin. Bern 1984, S. 168 – 174.

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fentliches Bild von sich als Autorin, mit dem sie die soziale Grenzüberschreitung, die Sozialkritik und ihre Unterstützung für weibliche Emanzipation herunterspielte. Stattdessen stellte sie sicher, dass Berichte über sie das Verfechten ,altmodischer‘ Werte und die Harmonie ihres Familienlebens betonten. Sie half Bettelheim, ein Bild von ihr als exemplarischer Figur zu entwerfen: optimistisch, selbstlos und weise.7 Doris Klostermaier bezeichnet das Ergebnis als die Schöpfung einer „dramatic persona“, charakterisiert durch „hagiographic clichées“.8 Ebner-Eschenbachs eigene Darstellung ihrer Kindheit unter dem Titel Meine Kinderjahre (1905) war zu diesem Zeitpunkt noch nicht geschrieben.9 Doch in diesem Buch sollte Ebner-Eschenbach die Gelegenheit zu einer Selbstdarstellung nutzen, die sich im Einklang mit Bettelheims Version befand. Klostermaier nennt dies „a personal myth which corroborated the ideal image Bettelheim had already fashioned for her“.10 Ebner-Eschenbach verhielt sich stets defensiv in Bezug auf die unbequeme Mischung von „respectability and deviance“11 in ihrem Leben. Aufgrund ihrer Erziehung betrachtete sie ihr Schreiben als Durchbrechen jener Rolle, die die Gesellschaft einer respektablen Frau zugestand, schützte sich aber selbst vor der Öffentlichkeit, indem sie jeden prüfenden Blick von außen auf ihre häuslich-familiäre Situation auf ein Minimum beschränkte. Bettelheims Beschreibung von Ebner-Eschenbach in seiner Biographie als „eine Hausfrau, wie sie sein soll“ war ein Mittel, die überschreitende Natur dessen, was als eine Obsession mit dem Schreiben betrachtet werden könnte, abzumildern.12 Gegenüber ihrer um einiges jüngeren Freundin Theo Stücking, der Tochter Levin Stückings, äußert sich Ebner-Eschenbach in Bezug auf die Unbeirrbarkeit des ,echten‘ Künstlers: „Das heilige: ich muß, in der Seele des echten Künstlers fasst in sich das ganze Gesetz und die Propheten“.13 7 Klostermaier: „Anton Bettelheim“, S. 36. 8 Klostermaier: „Anton Bettelheim“, S. 15 u. 23. 9 Marie von Ebner-Eschenbach: Autobiographische Schriften, Bd. 1. Meine Kinderjahre. Aus meinen Kinder- und Lehrjahren. Hg. v. Christa-Maria Schmidt. Tübingen 1989. 10 Klostermaier: „Anton Bettelheim“, S. 22. 11 Ruth-Ellen Boetcher Joeres: Respectability and Deviance. Nineteenth-Century German Women Writers and the Ambiguity of Representation. Chicago 1998. 12 Bettelheim: Marie von Ebner-Eschenbach, S. 39. Siehe auch Klostermaier: „Anton Bettelheim“, S. 20. 13 Marie von Ebner-Eschenbach: Briefwechsel mit Theo Sch cking. Frauenleben im 19. Jahrhundert. Hg. v. Edda Polheim. Tübingen 2001, S. 64.

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Ebner-Eschenbach schien indes daran gelegen zu sein, diese Art von Unbeirrbarkeit vor ihren LeserInnen zu verschleiern, vielleicht aus Sorge, diese würde sie egozentrisch erscheinen lassen. Einer von EbnerEschenbachs bekanntesten Aphorismen lautet: „Einen künstlerischen Beruf haben ist für eine Frau immer ein Unglück denn sie darf an ihre Arbeit erst gehen wenn sie nichts mehr zu thun hat.“14 Diese Aussage mag EbnerEschenbachs Verständnis ihrer eigenen Kunst als etwas, das im Verhältnis zu ihren häuslichen Pflichten zweitrangig sein sollte,15 demonstrieren. In der Praxis erkannte sie aber auch die Tatsache an, dass ein/e KünstlerIn von einer Kraft getrieben wird, die sie oder ihn zwingt, dem Schreiben gegenüber anderen Aktivitäten Priorität einzuräumen. Wenn ich morgen nur einen halbwegs guten Tag habe so kann ich mit den Gemperlein fertig werden. Sie dürften etwa 90 Seiten haben an denen ich 8 Wochen u. 3 Tage, im Ganzen also 59 Tage gearbeitet habe. Ein paar Tage Unwohlsein, ein paar Tage Theresens Besuch, dann die Komödie – raubten zusammen etwa 9 Tage. So kämen bei der Lebensweise die ich hier führe ungefähr 2 Seiten auf den Tag u. 600 auf das Jahr. Ich könnte hier in einem Jahre einen Roman schreiben, trotz meiner beispiellosen Schwerfälligkeit.16

Diese sorgfältige Berechnung in Ebner-Eschenbachs Tagebuch, wie viel Zeit genau sie der Erzählung Die Freiherren von Gemperlein gewidmet hatte und wie viel durch andere Aktivitäten während ihres Aufenthaltes auf ihrem Landsitz in Zdislawitz in Mähren verloren gegangen war, deutet auf eine obsessive, gar neurotische Haltung ihrem eigenen Schreiben gegenüber hin. Angesichts der Ernsthaftigkeit, mit der sie ihre schriftstellerische Karriere verfolgte, schien sie Schuldgefühle entwickelt zu haben und deshalb ihre Obsession mittels apologetischer Topoi kaschieren zu wollen. Peter Pfeiffer hat analysiert, wie Porträts der Schriftstellerin dazu verwendet wurden, „das altfrauliche und entsexualisierte Image Ebners“17 darzustellen. Er zeigt, dass Ebner-Eschenbach im hohen Alter Korrespondenzkärtchen mit gemessenen Porträts ihrer Selbst als Autorin zu 14 Marie von Ebner-Eschenbach: Tageb cher [= TB], Bd. 4. 1890 – 1897. Hg. u. kommentiert v. Karl Konrad Polheim u. Norbert Gabriel. Tübingen 1995, S. 272. 15 Siehe Norbert Gabriele: „Autorrolle: Schreibbedingungen und Selbstverständnis von Schriftstellerinnen in der österreichischen Literatur am Beispiel Marie von Ebner-Eschenbachs“. In: Literarisches Leben in sterreich 1848 – 1890. Hg. v. Klaus Amann, Hubert Lengauer u. Karl Wagner. Wien u. a. 2000, S. 705 – 729, hier S. 715. 16 TB, Bd. 2, S. 527 (Eintrag vom 11. 10. 1877). 17 Peter C. Pfeiffer: Marie von Ebner-Eschenbach. Tragçdie, Erz hlung, Heimatfilm. Tübingen 2008, S. 21 – 37, hier S. 22.

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verschicken pflegte. Eines dieser Bilder, das eine zahme alte Dame zeigt, findet sich am Beginn von Reuters Biographie.18 Pfeiffer führt die Existenz solcher Bilder nicht nur auf Ebner-Eschenbachs eigene Imagepflege zurück, sondern weist auch auf den wachsenden Leserwunsch im 19. Jahrhundert hin, „das Geschriebene in einen Zusammenhang zu setzen mit denen, die die Texte produzierten“19. Ebner-Eschenbach und andere AutorInnen reagierten auf diesen Druck, indem sie eine Persona schufen, um die Autorfunktion zu füllen und diese mit Hilfe von Bildern propagierten: „Der Autor ist das Bild des Autors“20. Pfeiffer bezeichnet EbnerEschenbachs eigene Beschreibung ihrer Entwicklung als Autorin in Meine Kinderjahre als „eine Leidensgeschichte“: „Erst wenn man die Autobiographie als einen zu interpretierenden, selbstschöpferischen Akt einer Schriftstellerin versteht und sie auf Ebners künstlerische Produktion bezieht, gewinnt sie ihre eigentümliche Aussagekraft“.21 Pfeiffer unterscheidet deutlich zwischen Ebner-Eschenbachs Entwicklung als Autorin und ihrer Entwicklung als Persçnlichkeit, indem er Meine Kinderjahre als Rechtfertigung von Ebner-Eschenbachs Berufung liest. Ebenso gut aber könnte Ebner-Eschenbachs Konstruktion weiblicher, auf Leidensfähigkeit basierender Verfasserschaft auch als eine apologetische Strategie aufgefasst werden. Dieser „Leidenspathos“22 impliziert, dass Frauen – im Gegensatz zu Männern – aufgrund ihres Geschlechts nicht automatisch das Recht haben, Künstlerinnen zu werden. Dennoch können sie sich dieses Recht durch Leiden verdienen. Diese Haltung scheint im Widerspruch zu EbnerEschenbachs Darstellung weiblicher Künstlerinnen in ihren Erzählungen zu stehen.23 Unter vielen Beispielen steht etwa in Ihr Beruf (Die unbesiegbare Macht, 1905) die religiöse Berufung einer Frau in Vertretung für eine künstlerische Berufung – in einer Geschichte, die das Beharren einer Frau auf das Recht, ihre eigene Zukunft selbst zu wählen, darstellt. Bei Ebner-Eschenbach lenkte ein apologetisches und verharmlosendes Bild die Aufmerksamkeit der LeserInnen von ihrer in vielen Geschichten geübten Kritik an der Österreichischen Gesellschaft ab. So überspielt dieses Image etwa die Darstellung weiblicher Sexualität im Roman Uns hnbar (1890), in dem das Thema weiblichen Ehebruchs auf provokante Weise 18 19 20 21 22 23

Vgl. ebd., S. 37. Ebd., S. 32. Ebd. Ebd., S. 58 u. 44. Ebd., S. 58. Siehe Ferrel V. Rose: The Guises of Modesty: Marie von Ebner-Eschenbach’s Female Artists. Columbia, SC 1994.

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behandelt wird: „Nur Frauen danken mir. Die Männer schweigen u. vermuthlich muß ich froh sein, daß sie es thun. Sonst gäbe es harten Tadel“.24 Das öffentliche Bild Ebner-Eschenbachs wurde hingegen von ihrem Image als Autorin von Krambambuli (Dorf- und Schlossgeschichten, 1883) geprägt, als Autorin unverfänglicher Kindergeschichten und Erzählungen für „das Volk“25, wie Linda Kraus Worely hervorhebt. Ganz wie Thomas Manns fiktive Figur des Gustavs von Aschenbach in Der Tod in Venedig (1912) gehörte auch Ebner-Eschenbach einer Generation an, die ,das Psychologisieren der Zeit‘ vermied. Betty Paoli kommentierte in einem ihrer letzten Briefe an Ebner-Eschenbach mit Entsetzen die Veröffentlichung von Annette von Droste-Hülshoffs Briefen an Levin Schücking: „Ich stelle mir nämlich vor, wie empört und entrüstet die Droste gewesen wäre, hätte sie ahnen können, daß ihre Briefe an Schücking jemals veröffentlicht würden“.26 Paoli, die mit Elise von Hohenhausen, einer weiteren Intimfreundin Droste-Hülshoffs, befreundet war, äußert sich darüber, wie vollkommen unmöglich es sei, das Wesen von Droste-Hülshoffs Liebe zu Schücking zu begreifen und es darum besser wäre, die privaten Briefe nicht dem prüfenden Blick der Öffentlichkeit auszusetzen: Es scheint mir unzweifelhaft, daß die Droste Schücking geliebt hat – freilich nicht in dem Sinne, den man gewöhnlich mit diesem Wort verbindet; sie besaß nebst ihrem Genius, einen zu richtigen Verstand um sich des Altersunterschiedes und der trennenden Macht der Verhältnisse nicht stets bewußt zu bleiben.27

Drostes sei eher mit „Pietät“ zu gedenken, das heißt mit Rücksicht auf das Image, das sie während ihres Lebens gepflegt hatte: „Meiner Empfindung nach besteht die wahre Pietät darin, in Allem, was die Hingeschiedene betrifft in ihrem Sinne zu handeln und diese einzig echte Pietät finde ich hier verletzt“28. In ihrem Brief scherzt sie über die Möglichkeit, EbnerEschenbachs Briefe an ihre enge Freundin Louise von François, einer Autorin in späten Jahren, könnten veröffentlicht und der ganzen Welt zugänglich gemacht werden. Paoli und Ebner-Eschenbach besaßen beide 24 TB, Bd. 4, S. 19 (Eintrag vom 5. 4. 1890). 25 Linda Kraus Worley: „The Making (and Unmaking) of an Austrian Icon. The Reception of Marie von Ebner-Eschenbach as a Geopolitical Case Study“. In: Modern Austrian Literature (2008) H. 41, S. 19 – 39. 26 Betty Paoli: Brief an Marie von Ebner-Eschenbach, v. 1893.11.06. Wienbibliothek, H.I.N. 236.318. 27 Ebd. 28 Ebd.

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das intuitive Verständnis, dass es einer Biographin oder einem Biographen unmöglich ist, ein ,wahres‘ Bild einer Person wiederzugeben. Vielmehr misstrauten sie allen derartigen Versuchen und behandelten ihr eigenes Image mit solcher Behutsamkeit, dass es noch heute schwierig ist, auch nur ein wenig unter dessen Oberfläche vorzudringen. Reuters Biographie von Ebner-Eschenbach für Die Dichtung ist Teil einer Reihe von Monographien zu bedeutenden AutorInnen, die auch deutschsprachige Autoren und Autorinnen des 19. Jahrhunderts berücksichtigt. Einer der Essays behandelt Fontane, und Ricarda Huch schrieb über Keller. Bedeutende Schriftsteller der jüngeren Generation trugen prominent zu der Reihe bei: Hermann Hesse schrieb über Boccaccio und Franz von Assisi, Stefan Zweig schrieb über Verlaine, und Max Burckhard steuerte einen Essay zu Raimund bei. Weitere Essays behandelten Autoren aus anderen Sprachräumen wie etwa Hugo, Ibsen und Tolstoi. Die Auswahl der Autorinnen und Autoren scheint dem Beweis gedient zu haben, dass der jüngeren deutschen Literatur ein Platz auf der Weltbühne zwischen den damals führenden Namen gebührte. Indem zeitgenössische SchriftstellerInnen in eine Reihe mit führenden AutorInnen der Vergangenheit gestellt werden, wird die Auffassung, dass die moderne literarische Produktion als Tradition mit dem Kanon klassischer Werke konkurrieren kann, vertreten. Darüber hinaus mag die Schaffung einer Reihe von Monographien zu deutschen, schweizerischen und österreichischen AutorInnen dazu gedient haben, die deutschsprachigen Länder als durch eine gemeinsame literarische Kultur geeint darzustellen.29 Für Reuter persönlich stellte Ebner-Eschenbach ein wichtiges Identifikationsobjekt dar. Immerhin war sie die erfolgreichste zeitgenössische Schriftstellerin Deutschlands. Ebner-Eschenbachs Erfolg konnte als für den Erfolg weiblichen Schreibens im Allgemeinen stehend betrachtet werden. Die Interpretation von Ebner-Eschenbachs Werk nutzte Reuter allerdings auch dazu, ihre eigene Sichtweise auf das Schreiben darzulegen und ihr eigenes Werk kontrastierend im Verhältnis zu jenem der berühmten Autorin zu positionieren. Nach der Abbildung der bereits erwähnten Fotographie einer unweiblichen, betagten und gütig lächelnden Ebner-Eschenbach setzt Reuter ihre Erzählung bei einer Beschreibung der Feier von Ebner-Eschenbachs 70. Geburtstag am 13. September 1900 an, 29 Kraus Worley stellt fest, dass zum Beispiel Julius Rodenberg in seiner Auswahl von AutorInnen für die Deutsche Rundschau „was dedicated to preventing a literary separation from Austria that would complete the recent political separation of 1866“. Worley: „The Making (and Unmaking) of an Austrian Icon“, S. 22.

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wobei sie explizit auf Bettelheims Biographie der Autorin zurück greift. Anlässlich des Geburtstages war ihr das Ehrendoktorat der Universität Wien verliehen worden. Reuter zitiert aus Anton Bettelheims Transkription der Laudatio zu diesem Anlass, in der Ebner-Eschenbach als „die erste deutsche Schriftstellerin, nicht bloss in Österreich, sondern auch in Deutschland“ (S. 9) bezeichnet wird. Während Bettelheim seine Darstellung sukzessive auf Ebner-Eschenbachs Ehrendoktorat hinführt, entscheidet Reuter sich dafür, die Darstellung dieses Ereignisses an den Beginn der Erzählung zu stellen. Auf diese Weise begründet sie Ebner-Eschenbachs schriftstellerische Qualifikationen: Ihre ,Größe‘ wird als eine objektive Tatsache dargestellt, das Doktorat kennzeichnet die Anerkennung ihrer Leistungen durch das männlich dominierte literarische Establishment. Reuters Ansicht nach sollte solch eine Anerkennung kleinliche und frauenfeindliche Kritiker von Ebner-Eschenbachs Werk zum Verstummen bringen (ebd.). Im einleitenden Teil des Essays wandelt Reuter die Tatsache des nicht vorliegenden autobiographischen Materials zu Ebner-Eschenbach in ein ästhetisches Prinzip um: Die Intimitäten ihres persönlichen Lebens, die für den Psychologen von Wert, für den Menschenfreund voller Reiz sein dürften, könnte nur sie allein geben, und dazu wird eine so diskrete Natur sich auch in einer Selbstbiographie schwerlich entschliessen (S. 10).

Ebner-Eschenbach wird als viel zu bedacht auf ihre Privatsphäre charakterisiert, um eine Autobiographie zu verfassen. Reuters Bezugnahme auf die junge Disziplin der Psychologie impliziert, dass sie eine Faszination für das Erforschen persönlicher Privatangelegenheiten hegt, was in Bezug auf die Autorin des Romans Aus guter Familie (1895), der die Psyche – und die unterdrückte Sexualität – einer jungen Frau der Mittelschicht untersucht, nicht überraschen mag. Ihr Interesse steht in Kontrast zu Ebner-Eschenbachs Abneigung, auch nur das kleinste Detail über sich selbst preiszugeben. Reuter hütet sich davor, Ebner-Eschenbachs literarisches Werk als biographische Quelle zu benützen. Sie beschreibt das schwer fassbare Wesen faktischer Details in literarischer Fiktion und hebt hervor, wie sogar ein Werk, das auf einer autobiographischen Begebenheit zu beruhen scheint, in der Praxis eine fiktionalisierte Version der eigenen Person schafft, die von der historischen Realität zu trennen ist: Wer aber im eigenen Innern das Werden und die verborgene Struktur eines Dichtwerkes hat entstehen fühlen, wird den Schlüssen, die man daraus auf

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persönliche Erlebnisse und Erfahrungen des Dichters ziehen wollte, immer misstrauen. Zu seltsam, zu untrennbar mischt sich hier Schauen, Erleben, Phantasieren zu neuem einzigartigem Erleben, das so wirklich ist und doch mit der Wirklichkeit so wenig zu tun hat (S. 10).

Aus diesem Grund müssten die Rückschlüsse, die von der Leserschaft auf Basis der Dichtungen eines Autors oder einer Autorin in Bezug auf sein oder ihr Leben gezogen werden könnten, als provisorisch und auf Fiktion beruhend betrachtet werden. Keine auf diese Weise zustande gekommene Biographie könne objektiv sein, da sie aus der Vorstellungskraft der LeserInnen hervorgeht: Dieses Bild braucht kein objektiv, in allen Zügen wahres Porträt zu sein. Es kann es gar nicht sein, denn wir werden stets vom eignen Wesen einen Teil dazu tun. Auch hier schaffen wir uns selbst eine Dichtung vom Dichter – ein Phantasiebild, aus Schauen, Erleben und Träumen zusammengefügt. Lieben wir doch auch in unsern Nächsten hauptsächlich die Phantasiebilder, die wir uns fortwährend von ihnen entwerfen, und zu denen die Wirklichkeit uns gleichsam nur den Rohstoff bietet. Spiegelungen unseres Geistes und Gemütes sind sie uns, denn in Wahrheit kennt keiner den andern (S. 10 f.).

Als Anhängerin Nietzsches und mit einem starken Interesse für neue psychologische Theorien nähert sich Reuter Ebner-Eschenbachs Biographie aus der Perspektive der Moderne an.30 Das Fehlen autobiographischen Materials nutzt sie, um die Unmöglichkeit zu veranschaulichen das Leben einer anderen Person adäquat zu (be)schreiben. Das Porträt der Künstlerin oder des Künstlers, das aus solch einer Biographie hervorgeht, ist ein Phantasiebild, da es nicht so sehr die Lebensrealität derjenigen Person wiedergibt, als vielmehr den Eindruck, den diese Person auf den Autor oder die Autorin gemacht hat. Reuter stellt fest, dass sich dieses Phänomen nicht auf das Verfassen von Biographien beschränkt: Wir alle erschaffen Bilder von den uns umgebenden Menschen, welche ,echter‘ erscheinen als die lebenden, atmenden Personen selbst. Diese Bilder würden, so Reuter, unser eigenes Selbst reflektieren. Eva Kormann argumentiert hinsichtlich der Bedeutung der ,Heterologie‘ als Kernprinzip autobiographischen Schreibens: „Auch Aussagen über anderes und über andere, über die Familie, die Umgebung die Glaubensgemeinschaft oder Gott können, dies muß stets genau analysiert werden, – heterologe – Selbstdarstellungen sein“.31 Auf diese Auffassung zurückgreifend kann Reuters Biographie von 30 Siehe Carol Diethe: Nietzsche’s Women. Beyond the Whip. Berlin 1996. 31 Eva Kormann: Ich, Welt und Gott. Autobiographik im 17. Jahrhundert. Wien u. a. 2004, S. 6. Siehe auch Verena Olejniczak: „Heterologie. Konturen frühneu-

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Ebner-Eschenbach teilweise als eine Selbstdarstellung verstanden werden, und Reuter selbst ist sich dessen durchaus bewusst, wenn sie hervorhebt, dass die Bilder, die wir uns von anderen machen, „Spiegelungen unseres Geistes und Gemütes“ (S. 11) sind. Reuters Vorstellung von EbnerEschenbach geht aus ihrer eigenen Subjektposition hervor: „Jeder kennt nur sich selbst – noch besser kennt er die Gestalt, die er sein möchte – das Ideal, das er sich täglich neu aus der eignen Persönlichkeit bildet“ (S. 11). Demnach stellt für Reuter auch die Subjektivität einen Akt ständiger Selbstschöpfung und unablässigen Umgestaltens dar. Indem sie erklärt, dass die Lebensrealität der Autorin irrelevant ist, unterläuft Reuter das Verlangen der LeserInnen im 19. Jahrhundert, die Autorin ihrer Lieblingsbücher besser zu kennen: Darum – seien wir doch ehrlich – ist es uns auch viel wichtiger, was der Meister, zu dem wir aufschauen, uns gibt, in uns wirkt und aus uns weckt, als was er in der Wirklichkeit, oder in den Augen der andern Menschen – oder was er sich selbst bedeutet (Ebd.).

Hier ist es hilfreich, sich noch einmal Peter Pfeiffers Behauptung in Erinnerung zu rufen, die LeserInnen im 19. Jahrhundert hätten visuellen Bildern dermaßen viel Bedeutung beigemessen, dass „der Autor […] das Bild des Autors“32 sei. Im Fall von Reuter ließe sich stattdessen behaupten, die Autorin sei der Effekt der Autorin auf die LeserInnen. Reuters Version von Ebner-Eschenbachs Leben trägt zu dem von Bettelheim geschaffenen, bereits mythisierten Bild der Autorin bei. EbnerEschenbach erscheint ent-individualisiert: Ihr Leben wird zu einer Märchenerzählung und mit Hilfe gängiger Tropen und Klischees dieses Genres beschrieben. Ebner-Eschenbach wird als „eine kleine Komtesse“ (S. 11) bezeichnet, wodurch ihre adelige Herkunft betont wird und so auch ihre Verschiedenheit von der Mehrzahl ihrer LeserInnen. Ihre Kindheit wird zu einer märchenhaften Idylle: „Die üppigen Früchte der Obst- und Gemüsegärten, die frische schäumende Milch der glänzenden Kühe gaben der jungen Marie kräftiges Blut und reine Säfte“ (S. 11 f.). Ebner-Eschenbach wuchs in einer ländlichen Idylle auf, voller Nächstenliebe gegenüber ihrer Umgebung, bis ihre Kindheit durch die Ehelichung eines würdigen Freiers beendet wurde:

zeitlichen Selbstseins jenseits von Autonomie und Heteronomie“. In: LiLi (1996) H. 26, S. 6 – 36. 32 Pfeiffer: Marie von Ebner-Eschenbach, S. 32

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Und dann kam der Vetter, der schon als grüner Bub voll scheuer Zärtlichkeit zu der winzigen mutterlosen Base im Wickel niedergeschaut hatte, und begehrte das kaum erwachsene Mädchen zum Weibe. In herzlicher Zuneigung reichte Marie ihm ihre Hand und führte mit dem ernsten und gebildeten Offizier eine lange, friedevoll glückliche Ehe (S. 13).

Inmitten dieser sentimentalen Klischees ist das Fehlen biographischer Daten augenfällig: Nicht einmal der Name des Ehemannes wird erwähnt. Die kinderlos gebliebene Ebner-Eschenbach wird sowohl als „die beste, zärtlichste Tante“ beschrieben, wie auch als „eine weise sorgenden Mutter“ der Bauern auf dem Familienanwesen (S. 14). Anderen ist sie eine „kluge teilnehmende Freundin“ (ebd.). Reuter fertigt die jungen Jahre schnell ab, als wäre die Realität von Ebner-Eschenbachs Leben von geringem Interesse für sie, um sich wieder dem Thema Ebner-Eschenbach als weibliche Künstlerin zuzuwenden. Reuter unterscheidet zwischen dem männlichen und dem weiblichen Verständnis des „Wesen[s] der Kunst“ (S. 15). Die meisten Männer erlangten ihr Kunstverständnis „durch die logischen Gedankenreihen einer feinen Verstandesarbeit“ (S. 15 f.). Im Gegensatz hierzu, behauptet Reuter, habe Ebner-Eschenbach die Kunst in einem Augenblick der Erleuchtung für sich entdeckt: Marie Dubsky wird die Kunst ihrer Begabung in einem grossen, richtunggebenden Augenblick erschaut haben, geschaut, wie ein junges Weib den Geliebten ihres Lebens erblickt: mit dem Geiste, mit dem Gemüte und mit allen Sinnen. Auf eine unerklärliche, aber sehr deutliche Weise fühlt, ja weiss sie: dies ist jetzt mein Schicksal, und nichts auf der Welt, noch so grosse, noch so liebe und verlockende Gewalten können mich hindern, mein Schicksal zu erfüllen (S. 16).

Diese Passage bezieht sich offensichtlich auf Ebner-Eschenbachs erste Begegnungen mit der Kunst bei ihren Besuchen des Burgtheaters als Jugendliche. Sie lässt sich aber auch als eine autobiographische Aussage Reuters lesen, ging sie doch mit Sicherheit direkt aus ihrer Vorstellungsgabe hervor. Reuters eigene Autobiographie, Vom Kinde zum Menschen (1923), beschreibt einen Moment, der als Wendepunkt in ihrem Leben bezeichnet werden könnte. Reuter hatte ursprünglich aus Geldmangel begonnen, kommerzielle Literatur zu verfassen. Ihr Vater war verstorben und ihre Mutter verfügte nur über ein mageres Einkommen. Unter ihrem Namen veröffentlichte Reuter eine Geschichte, die als Fortsetzungsroman in der Magdeburger Zeitung erschien. Sie war jedoch keineswegs besonders stolz darauf: Sie hatte die Geschichte aus pragmatischen Gründen geschrieben und diese konnte nicht eben als ein Kunstwerk bezeichnet

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werden. Auf einer ihrer Reisen beobachtete sie jedoch einen Kutscher bei der Lektüre einer Episode des Fortsetzungsromans, an der er offensichtlich Vergnügen fand: „ich fühlte plötzlich etwas von der Schönheit eines Berufes, der geschaffen ist, die Menschen zu erheitern oder zu bewegen“.33 Reuters Darstellung der Kunst als eines Geliebten, der das junge Mädchen überwältigt, verleitet dazu, ihre Ehelosigkeit in dem Sinn zu interpretieren, dass das Schreiben eine Berufung für sie war, die keinen Raum für ein konventionelles weibliches Familienleben ließ. Reuter stellt fest, Ehe und Schriftstellerei seien zwei für Frauen nur schwer miteinander vereinbare Ziele: In dem Leben so mancher begabten Frau verzehrt die Liebe zum Manne die besten Kräfte für die Kunst. Freilich auch weckt in andern erst die enttäuschte oder nie erfüllte Sehnsucht nach der grossen Leidenschaft des Geschlechtes die Begierde und den Drang und die Fähigkeiten zur Kunst (S. 17).

Reuter folgert, dass für manche AutorInnen die Kunst eine Sublimierung sexueller Energie ist, das Resultat mangelnden Vollzugs oder sexueller Frustration. Reuters Verständnis des Wesens des Künstlers ist von Schopenhauer beeinflusst: Es ist etwas Eigenes um den Dämon im Künstler. Er ist eine Macht, die ausserhalb und über dem Willen steht, so dass er oftmals den gemeinen Willen zum Leben besiegt und vernichtet. Und dann ist er zugleich auch wieder der Wille selbst in seiner höchsten und stärksten Form und treibt ein armes, schwaches, gebrechliches Erdengeschöpf zu Anstrengungen und Taten, die mit seinen sonstigen Kräften gar nicht mehr im Verhältnis stehen (S. 20).

Kunst hat eine paradoxe Kraft. Sie hat das Potenzial, in Opposition zum ,Willen zum Leben‘ zu stehen, indem sie an der Lebenskraft des Individuums zehrt. Reuters Worte legen darüber hinaus den Einfluss von Nietzsches Auffassungen von D cadence und Kunst nahe. Doch die dämonische Kraft der Kunst wird auch zum Willen selbst, sie stellt den Antrieb oder die Motivation künstlerischen Schaffens bei und schafft so einen Zweck der Existenz. Reuter beabsichtigt, das Wesen von Ebner-Eschenbachs künstlerischem Talent zu erforschen und scheint dabei zugleich von dem Wunsch getragen zu sein, ihre eigenen Schöpfungen von jenen der durch EbnerEschenbach repräsentierten vorherigen Generation abzuheben. Sie 33 Gabriele Reuter: Vom Kinde zum Menschen. Die Geschichte meiner Jugend. Berlin 1921, S. 247.

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schreibt Ebner-Eschenbachs Scheitern als Dramatikerin ihrem Mangel an „stürmende[r], rücksichtslose[r] Leidenschaft“ und einer fehlenden „Erkenntnis für die düstere und wilde Schönheit der Schuld“ (S. 28) zu. Ihrer Ansicht nach versagt etwa Marie Roland als Heldin, „weil sie viel zu wenig ursprüngliche Natur ist, weil viel zu wenig Dämon in ihr steckt“ (S. 29). Ob dies eine adäquate Einschätzung der Dramen Ebner-Eschenbachs darstellt, ist hier weniger ausschlaggebend als der Unterschied, der hier zwischen Ebner-Eschenbach und Reuter selbst angedeutet wird. EbnerEschenbachs Maria Stuart unterscheidet sich zum Beispiel eben dadurch von Schillers Maria Stuart, dass ihre Hauptfigur nicht von einer Schuld sexueller Natur befleckt ist. Ebner-Eschenbach benutzt das Drama, um zu untersuchen, in welchem Ausmaß Frauen in der Politik ausgenützt und zum Gegenstand männlicher Ambitionen gemacht werden. Das Moderne liegt in Reuters Werken jedoch in der Untersuchung des ,Dämons‘ im Individuum. Hier versucht sie, durch das soziale Ich durchzudringen und die darunterliegenden unergründlichen und mehrdeutigen Tiefen der Persönlichkeit aufzudecken. Für Reuter gehören Ebner-Eschenbachs Geschichten bereits der literarischen Vergangenheit an: Sie repräsentieren eine Art von ,ethischem Realismus‘, den Reuter als unangemessene Antwort auf die Ungerechtigkeiten der Gesellschaft ablehnt.34 Sie sieht Ebner-Eschenbach als eine konservative Autorin und Idealistin: „Menschen, die sich fügen und in das gewiesene Schicksal mutig oder entsagend schicken, sind ihr immer sympathisch. […] Das Aufrührerische, Draufgängerische, Rücksichtslose ist ihr in jedem Sinne verdächtig“ (S. 48). Während Ebner-Eschenbach in der Tat das starke Pflichtbewusstsein anderen gegenüber internalisiert hatte, das ihre Generation beherrschte, untersucht Reuter in ihren Werken die Pflicht, die ein Individuum sich selbst gegenüber hat. Hier wird die Gefährdung des Subjekts durch Entsagung und Unterdrückung hervorgehoben. Die Protagonistin in Reuters Ellen von der Weiden (1900) genießt eine ungezügelte, sorglose Liebesnacht im Freien mit einem Künstler, dessen Werk sie seit langem bewundert, um sich sodann scheiden zu lassen und das aus dieser Ehe hervorgegangene Kind im Hause ihres Vaters allein großzuziehen. Reuter behauptet, Ebner-Eschenbachs Leitdevise lautetet „sei mutig und gerecht, sei treu und wahr“ (S. 49). Hierbei handelt es sich um grundlegende Werte der idealistischen Dichtung des 19. Jahrhunderts. Reuters Distanz zu Ebner-Eschenbach repräsentiert den ästhetischen 34 Siehe Brian J. Kenworthy: „Ethical Realism“. In: German Life and Letters (1988) H. 41, S. 479 – 487.

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Wandel von Realismus zur Moderne,35 von einer Literatur, die erforscht, ob es für ein Individuum in der modernen Welt möglich ist, ein Gefühl moralischer Integrität zu bewahren, hin zu einer Literatur, die die Möglichkeit eines einheitlichen, geschlossenen Subjekts an sich in Frage stellt. Reuter betrachtet Maria Dornach, die Hauptfigur in Ebner-Eschenbachs Roman Uns hnbar (1890) über den weiblichen Ehebruch, als „gar zu sehr Heilige“ (S. 57). Die Darstellung von Maria Dornachs einzigen Ehebruch, als sie unwissentlich zu einem Treffen mit ihrem ehemaligen Verehrer Felix Tessin in ein abgelegenes Sommerhaus gelockt wird, ist Reuters Auffassung nach psychologisch nicht ausreichend plausibel, um das extreme Schuldgefühl Marias zu rechtfertigen. Die Schilderung, wie sie von einem Übeltäter betrogen wird, der auf Rache an ihrem Vater sinnt und deswegen dessen Tochter entehrt, befreit Maria von jeglicher Schuld. Reuters Ansicht nach misslingt es Ebner-Eschenbach, die „geheime Tragik in der zwiespältigen Natur ihrer Heldin, den nie endenden Kampf mit dem eignen Ich“ als Resultat ihres heimlichen Verlangens nach Tessin adäquat zu entwickeln (ebd.). Ebner-Eschenbach sei unfähig gewesen, erklärt sie, einen solchen Konflikt im Inneren einer Person darzustellen, da ihr eigenes Wesen so völlig ausbalanciert gewesen sei. Eine solche dem Biographismus verpflichtete Erklärung kann kaum als literarisch vertretbare Haltung betrachtet werden. Indem Reuter dieses spezielle Thema anspricht, hebt sie eine weitere grundlegende Differenz zwischen Realismus und Moderne hervor. Ebner-Eschenbach fehle in ihrem vom Realismus geprägten Diskurs der Zugang, die psychologischen Folgen sexueller Schuld angemessen zu erkunden. Reuter hingegen stützt sich in ihren Werken auf die neue Auffassung der Psychologie von der zentralen Bedeutung der Sexualität bei der Identitätskonstruktion. Sie erwähnt – vielleicht überflüssigerweise – Ebner-Eschenbachs Ablehnung, sich mit dem Gefühl der D cadence des Fin de si cle auseinanderzusetzen: „vorüber [ging sie] an den Erscheinungen wilder Sinnenlust und wunderlich verschnörkelter Dekadenz einer müden kranken Jugend“ (S. 59). Im Jahr 1900 war Ebner-Eschenbach siebzig Jahre alt, ihre Mitwirkung an einer mit Jugend und Schönheit assoziierten Strömung somit ohnedies unwahrscheinlich. Reuter benutzt EbnerEschenbach um den philosophischen und ästhetischen Triumph der Moderne über den Realismus zu unterstreichen und ihre eigene Legitimation als Vertreterin des Modernismus zu begründen. 35 Worley: „The Making (and Unmaking) of an Austrian Icon“, S. 27.

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Sie verlieh indes der Hoffnung Ausdruck, Ebner-Eschenbach werde über die Darstellung ihres Lebens und ihres Werks in der Reihe Die Dichtung erfreut sein. Obwohl der Essay gleich zu Beginn die enorme Popularität von Ebner-Eschenbach hervorhebt, stellt er im Wesentlichen eher kein vorbehaltloses Loblied auf das Werk der Autorin dar. Ihr Schreiben sei letztlich von einem ethischen Bezugsrahmen begrenzt, der in philosophischer Hinsicht bereits veraltet war: Ihre Brust ist erfüllt von Menschenliebe, von freudig überströmender Herzlichkeit. Und wo sie in ihren Werken jemals hart verurteilt, da trifft sie mit der Geissel jene egoistische Kälte, die sie das Schädliche nennt, welches vertilgt werden muss um jeden Preis (S. 17).

Mit dieser Einschätzung, die auf ihre bekannte Erzählung Das Sch dliche (1894) anspielt, war Ebner-Eschenbach vermutlich durchaus einverstanden. Die Charakterisierung der Autorin als in erster Linie durch ihre Herzlichkeit geprägt, hält die selben Stereotypen aufrecht wie Bettelheims Bibliographie und macht deutlich, dass Reuters Darstellung tatsächlich an der Konstruktion eines Mythos um Ebner-Eschenbach teilhat. Während Ebner-Eschenbach gewiss jeden Egoismus ablehnte, diente für Reuter ein gewisses Maß an Egoismus oder Eigennutz dem Individuum als Abwehr gesellschaftlicher Zwänge. Eingeschränkt durch EbnerEschenbachs Abneigung, Details aus ihrem Leben zu enthüllen, bietet Reuters Darstellung von Ebner-Eschenbachs Werk ihr selbst Raum, um eigene ästhetische Ansichten zu erkunden. Darüber hinaus zeigt Reuter, dass zu einer Zeit, als Ebner-Eschenbachs Erfolg ihr selbst und anderen noch als Vorbild diente, die jüngere Generation einen neuen Stil finden müsste, um auf die komplexe Vielschichtigkeit des modernen Subjekts zu reagieren. bersetzung: Cornelia Nalepka

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Der Kanon des Heroischen: Ernst Bertrams Nietzsche. Versuch einer Mythologie Caitr ona N Dhfflill Die Biographie war im Unterschied zu anderen Formen von life writing ihre gesamte Geschichte hindurch eng verbunden mit Vorstellungen von Größe und Lebenswerk. Der Protagonist oder die Protagonistin einer Biographie wird in erster Linie aufgrund seiner oder ihrer Leistungen oder Werke als biographiewürdig erachtet. Selbst wo Größe, Einzigartigkeit und Exemplarizität relativiert werden durch Gefühle der Nähe und Vertrautheit, durch Identifikation, die durch die Darstellung von Alltäglichem erzeugt wird, bleibt die Frage nach der kulturellen Bedeutung der dargestellten Person zentral für die Produktion und Rezeption von Biographien. Im Fall von randständigen oder weniger prominenten Figuren wird die Biographie oft als Korrektiv verstanden, die den Anspruch auf einen Status erhebt, der diesen bislang verwehrt blieb, oder auf Anerkennung einer Leistung, die übersehen wurde. Der Stellenwert bzw. die Bedeutung der biographierten Person liegt indes als offene oder uneingestandene Annahme den meisten Formen biographischen Schreibens zugrunde. Dies wird nirgendwo deutlicher sichtbar als bei biographischen Arbeiten aus dem Umkreis von Stefan George. Autoren wie Friedrich Gundolf, Ernst Kantorowicz und Ernst Bertram verwendeten Biographie als Medium zur Vermittlung einer bestimmten Weltanschauung und entsprechender Werte, indem sie ihr biographisches Verfahren als Antithese zu den faktographischen und positivistischen Biographien der vorangegangenen Zeit entwarfen. Es wäre irreführend, allen Biographien des George-Kreises eine gemeinsame Ideologie unterschieben zu wollen, da es selbst innerhalb des Kreises wichtige Unterschiede gab.1 Dennoch sind die Gemeinsamkeiten augenfällig und spiegeln die kulturellen Werte des George-Kults wider. Wiederkehrende Themen sind unter anderem die 1

Ein solcher Unterschied besteht etwa zwischen Ernst Bertram und Stefan George in ihren entgegengesetzten Ansichten zu Martin Luther und zum protestantischen Erbe. Vgl. Ernst Bertram: Nietzsche. Versuch einer Mythologie. 6. Aufl.. Berlin 1922, S. 42 f. und Thomas Karlauf: Stefan George. Die Entdeckung des Charisma. Biographie. München 2007, S. 309.

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Affirmation von Größe oder charismatischer Führerschaft, die Kritik kultureller Dekadenz, eine maskulin-hieratische Vorstellung von kultureller Produktion, die Ablehnung demokratisierender Tendenzen in der modernen Gesellschaft und das Bemühen, eine die Zeit überdauernde kulturelle Elite zu schaffen. Ernst Bertrams Studie zu Leben und Werk Friedrich Nietzsches, die 1908 begonnen und 1918 unter dem Titel Nietzsche. Versuch einer Mythologie veröffentlicht wurde, ist ein Beleg für dieses spezifische Programm. Während Bertram George selbst nie nahestand und eine distanzierte, zuweilen gar spannungsreiche Beziehung zum Kreis hegte, weist seine Nietzsche-Studie, veröffentlicht bei Bondi in einer Ausgabe, die die Vignette der Bl tter f r die Kunst trägt, deutliche Übereinstimmungen mit ideologischen und ästhetischen Positionen auf, die George und seinen Jüngern zugeschrieben werden. Diesen Übereinstimmungen wurde ein beträchtliches Maß an wissenschaftlicher Aufmerksamkeit zuteil. Untersuchungen zu Bertram und besonders seinem Nietzsche-Buch rücken neben seiner Beziehung zum George-Kreis und zu ihren kulturellen Werten,2 meist folgende Fragen in den Mittelpunkt: sein Verhältnis zu Thomas Mann,3 die Elemente deutschnationaler, präfaschistischer und antisemitischer Diskurse in seinem Denken und seiner Arbeit,4 die Frage, inwieweit er eine Männlichkeit verherrlichende Mentalität vertritt, die für eine homosoziale oder homoerotische Pädagogik und Männerfreundschaft einsteht,5 und sein An2

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Gerhard Zöfel: Die Wirkung des Dichters. Mythologie und Hermeneutik in der Literaturwissenschaft um Stefan George. Frankfurt/M. 1987, S. 187 – 248; Frank Weber: Die Bedeutung Nietzsches f r Stefan George und seinen Kreis. Frankfurt/M. 1989, S. 109 – 179. Bernhard Böschenstein: „Ernst Bertrams ,Nietzsche‘ – eine Quelle für Thomas Manns ,Doktor Faustus‘“. In: Euphorion 72 (1978), S. 68 – 83; Jens Rieckmann: „Erlösung und Beglaubigung. Thomas Manns ,Betrachtungen eines Unpolitischen‘ und Ernst Bertrams ,Nietzsche: Versuch einer Mythologie‘“. In: Modern Language Notes 90 (1975), S. 424 – 430; Franz Josef Scheuren: „Ernst Bertrams Lesespuren im Widmungsexemplar von Thomas Manns ,Der Zauberberg‘“. In: Thomas-Mann-Jahrbuch 16 (2003), S. 55 – 65; Victor Schmitz: „Ernst Bertram. Zwischen Stefan George und Thomas Mann“. In: Zur Wende des Jahrhunderts. Hg. v. Jan Aler u. Jattie Enklaar. Amsterdam 1987, S. 53 – 71. Scheuren: „Ernst Bertrams Lesespuren“; Rainer Wuthenow: „Der Fall Ernst Bertram. Philologie und Vorurteil“. In: Neue deutsche Hefte 86 (1962), S. 89 – 96; Werner Volke: „Sie blieben in Deutschland: Ernst Bertram“. Deutschlandfunk [o. O.] 1960 [Typoskript]. Jan Steinhaußen: ,Aristokraten aus Not‘ und ihre ,Philosophie der zu hoch h ngenden Trauben‘. Nietzsche-Rezeption und literarische Produktion von Homosexuellen in den

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sehen und Vermächtnis als Intellektueller und Lehrer vor und nach dem Zweiten Weltkrieg.6 Die letzte Frage ergibt sich aus der Tatsache, dass Bertram nach 1946 von den alliierten Besatzungsbehörden seiner Professur an der Universität Köln enthoben und mit Schreib- und Lehrverbot belegt wurde. Thomas Mann, Hermann Hesse u. a. setzten sich später für ihn ein und erreichten eine Aufhebung des Publikationsverbots, doch unterrichten durfte er bis zu seiner Emeritierung im Jahr 1950 nicht mehr.7 Durch die Edition der Briefe Thomas Manns an Bertram (1960) wurde die Debatte um Bertrams Nähe zum Nationalsozialismus wieder entfacht.8 Zur Literatur über Bertram gehören neben kritischen Studien, die Bertrams Schriften in der Entwicklung des deutschen Nationalismus und der nationalsozialistischen Ideologie situieren, auch eine Reihe von Veröffentlichungen, die ihn zu entlasten versuchen, indem sie seine Integrität als Lehrer und Denker hervorheben; einige davon neigen zu einer unkritischen und sogar hagiographischen Darstellung.9 Auch wo Bertram nicht in einem ausschließlich positiven Licht gezeigt wird, lässt sich in einigen dieser Untersuchungen eine exkulpierende Haltung feststellen, ein Betonen der Naivität und Isolation Bertrams und der Versuch der Relativierung seines rechtsnationalen Denkens durch Vergleich mit extremeren Positionen, wie man sie etwa gerade bei seinem Freund Ernst Glöckner findet.10 Die Frage nach Bertrams ideologischer Position ge-

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ersten Jahrzehnten des 20. Jahrhunderts: Thomas Mann, Stefan George, Ernst Bertram, Hugo von Hofmannsthal u. a. Würzburg 2001. Karl Otto Conrady: Vçlkisch-nationale Germanistik in Kçln. Eine unfestliche Erinnerung. Scherfeld 1990. Bruno Berger u. Heinz Rupp (Hgg.): Deutsches Literatur-Lexikon. BiographischBibliographisches Handbuch. 3. Aufl. Bd. 1. Bern, München 1968 (Artikel zu Ernst Bertram). Thomas Mann an Ernst Bertram. Briefe aus den Jahren 1910 – 1955. Hg., kommentiert u. mit einem Nachw. vers. v. Inge Jens. Pfullingen 1960. Victor Schmitz: „Ernst Bertram. Zwischen Stefan George und Thomas Mann“. In: Zur Wende des Jahrhunderts. Hg. v. Aler u. Enklaar, S. 53 – 71; Hajo Jappe: Ernst Bertram. Gelehrter, Lehrer und Dichter. Bonn 1969. Besonders auffällig ist der hagiographische Ton bei Jappe, z. B.: „Bertram […] hat unseren Gestalten, Landen, Wahrzeichen, Möglichkeiten, unserem Wesen und Geschick Stimme gegeben in Wort und Sang […] was der so bildnerische wie erkenntniskritische Denker, der gründliche, vielumfassende, liebende Kenner unseres Schrifttums und unseres Volkstums nicht nur den Gelehrten zu sagen hat, birgt einen bei weitem noch nicht ausgeschöpften Bedeutungsreichtum“, Jappe, S. 7. Norbert Oellers: „Ernst Bertram – mit dem Strom und gegen ihn“. In: Moderne und Nationalsozialismus im Rheinland. Hg. v. Dieter Breuer u. Gertrude Cepl-Kaufmann. Paderborn 1997, S. 213 – 227. Oellers unterstellt Inge Jens trotz ihrer ex-

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genüber dem Nationalsozialismus kann im Rahmen dieses Beitrags nicht behandelt, muss aber sehr wohl erwähnt werden, gehört sie doch zu einem der problematischsten Kapitel sowohl der Geschichte der NietzscheRezeption als auch der Geschichte der Germanistik.11

„Eine neue und bedeutende Form der Darstellung“: Bertrams Nietzsche als neuromantische Biographie In einer Vielfalt von Schwerpunkten in der Literatur zu Bertram hat Helmut Scheuer als einer von wenigen die Nietzsche-Studie speziell in ihrer Bedeutung als Biographie untersucht. Sowohl in seiner grundlegenden Studie zur deutschsprachigen Biographik als auch in einem 2001 veröffentlichten Aufsatz diskutiert Scheuer Bertrams Nietzsche im Kontext der biographischen Praxis zu Beginn des 20. Jahrhunderts und legt dabei besonderes Augenmerk auf Gemeinsamkeiten und Unterschiede zwischen Bertrams biographischer Methode und jener anderer Schriftsteller im Umkreis von George, wie etwa der von Friedrich Gundolf.12 Die Einordnung von Bertrams Studie als Biographie ist überhaupt problematisch. Thomas Mann etwa las Nietzsche als einen ,intellektualen Roman‘,13 und Bertrams eigener Kommentar zur biographischen Tradition legt eine deutliche Opposition zwischen seinem ,mythographischen‘ Verfahren und der konventionellen Biographie nahe, wie gezeigt werden soll. Anstatt die Einordnung des Textes in die biographische Tradition im Sinne seines Festhaltens an oder Abweichens von den Gattungskonventionen der Biographie zu untersuchen, liegt mein Augenmerk auf Vorpliziten Antisemitismuskritik eine unterschwellige Affinität zum nationalsozialistischen Diskurs der ,Entartung‘: „Bertram war nicht von einem ,zum Rassenwahn ausartenden Judenhaß‘ erfüllt (welch schreckliche Vokabel – nur knapp an der im Nazi-Jargon verhunzten ,Entartung‘ vorbei)“, Oellers, S. 217. 11 Dazu Rainer Kolk: „Nietzsche, George, Deutschland. Dokumente zu Ernst Bertrams frühen Publikationen“. In: Stefan George. Werk und Wirkung seit dem ,Siebenten Ring‘. Hg. v. Wolfgang Braungart. Tübingen 2001, S. 315 – 334. 12 Helmut Scheuer: Biographie. Studien zur Funktion und zum Wandel einer literarischen Gattung vom 18. Jahrhundert bis zur Gegenwart. Stuttgart 1979, S. 112 – 150; Scheuer: „,Dichter und Helden‘ – Zur Biographik des George-Kreises“. In: Stefan George. Werk und Wirkung seit dem ,Siebenten Ring‘. Hg. v. Braungart, S. 300 – 314. 13 Thomas Mann: Gesammelte Werke in 13 B nden, Bd. 13. Hg. v. Hans Bürgin und Peter de Mendelssohn. Frankfurt/M. 1974, S. 265. Vgl. Böschenstein: „Ernst Bertrams ,Nietzsche‘“, S. 82.

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stellungen der kulturellen Bedeutung des Individuums, im Speziellen auf Größe und Heldentum. Bertrams Nietzsche wird als ein Beispiel der neuromantischen Biographie gelesen, die zum Diskurs über Größe und Heldentum beiträgt, der sich von den antiken Ursprüngen biographischen Schreibens, von Plutarch bis in die Romantik, im Besonderen bis Thomas Carlyle, nachzeichnen lässt. Die Verwendung des zugegebenermaßen umstrittenen Begriffs ,Neuromantik‘ im Fall von Bertram wird durch einen genauen Blick auf sein biographisches Konzept nachvollziehbar. ,Neuromantik‘ bezieht sich im weitesten Sinn auf „nicht-naturalistische Strömungen, die im Gefolge irrationalistischer, ästhetizistischer und mystizistischer Tendenzen auch eine Wiederbelebung romantischer Traditionen propagieren“ und wird auch in Verbindung gebracht mit dem „Protest gegen die ökonomisch-materialistische Gegenwart“, mit einer „Neigung zur Realitätsflucht gegen naturalistische Milieuschilderung“, sowie mit der Verabsolutierung der künstlerischen Individualität und der gefühlsmäßigen Subjektivität.14 Die Verbindung zur Romantik, die durch den Terminus ,Neuromantik‘ hergestellt wird, lässt sich durch einen Vergleich zwischen Carlyles Heldenkult und der Bertrams Nietzsche zugrunde liegenden Vorstellung von Größe nachvollziehen. Carlyles Entwurf des Heroischen, sein Fortschreiben eines Kanons der Kulturhelden und seine Verwandlung des ,man of letters‘ in einen ,man of action‘ (am deutlichsten dargestellt in seiner Vorlesungsreihe On Heroes, Hero-Worship, & the Heroic in History, 1840), all dies findet sich in Bertrams Nietzsche-Porträt wieder.15 Noch wichtiger erscheint, dass Carlyles Verständnis von Geschichte für Nietzsches eigene Reflexionen zu diesem Thema bedeutsam war. Wie Jeremy Tambling gezeigt hat,16 gehen die Metaphern des Einverleibens, Wiederkäuens und Verdauens, die für Nietzsches Kritik der Geschichtsschreibung zentral sind,17 zum Teil auf

14 Dieter Burdorf, Christoph Fasbender u. Burkhard Moennighoff (Hgg.): Metzler Literatur Lexikon. Begriffe und Definitionen. 3., völlig neu bearb. Aufl. Stuttgart 2007. 15 Mit seinem Versuch einer Konzeption des Heldenhaften im Bereich von Weissagung, Poesie und literarischem Schaffen nimmt Carlyle Georges Modell heroischer Denker und Seher vorweg. Vgl. Scheuer: Biographie, S. 112 f. 16 Jeremy Tambling: „Carlyle through Nietzsche. Reading Sartor Resartus“. In: Modern Language Review 102 (2007), S. 326 – 340. 17 Vgl. Friedrich Nietzsche: „Unzeitgemäße Betrachtungen II: Vom Nutzen und Nachtheil der Historie für das Leben“. In: Nietzsche Kritische Studienausgabe, Bd. I. Hg. v. Giorgio Colli u. Mazzino Montinari. Berlin 1999, S. 250 – 251.

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Carlyle zurück. Dyspepsie wird etwa in der Gçtzend mmerung zum Thema, wo Nietzsche Carlyle als typischen Romantiker bezeichnet: Ich las das Leben Thomas Carlyles, diese Farce wider Wissen und Willen, diese heroisch-moralische Interpretation dyspeptischer Zustände. – Carlyle, ein Mann der starken Worte und Attitüden, ein Rhetor aus Not, den beständig das Verlangen nach einem starken Glauben agaziert und das Gefühl der Unfähigkeit dazu (– darin ein typischer Romantiker!).18

In Übereinstimmung mit seiner ambivalenten Rezeption Carlyles als Romantiker stellt Nietzsche andernorts Carlyles Heldendiskurs – „de[n] von mir so boshaft abgelehnte[n] ,Heroen-Kultus‘ jenes großen Falschmünzers wider Wissen und Willen, Carlyles“19 – als Verfälschung dar, die er durch die Lehre des Übermenschen überwunden zu haben beanspruchte. Während Nietzsches Blick auf Carlyles Heldenkult kritisch ist, scheinen die Ansichten des George-Kreises zum Heroischen jenen Carlyles zu entsprechen. Sowohl der in der Nietzsche-Studie vorgeschlagene Kanon historischer Helden als auch die Auswahl großer Männer in Friedrich Gundolfs Essay Dichter und Helden,20 einer programmatischen Schrift des George-Kreises, die dessen Bekenntnis zu Größe und Heldentum zum Ausdruck bringt, weisen eine auffällige Ähnlichkeit mit dem Carlyle’schen Heldenkanon auf. So werden Dante, Shakespeare und Goethe in allen drei Fällen zu kulturellen Helden erklärt; Gundolf ergänzt die Dichter um ,Männer der Tat‘ und widmet sich im zweiten Teil seines Essays Alexander, Caesar und Napoleon. Napoleon – dessen zentraler Bedeutung für Nietzsche Bertram ein ganzes Kapitel seiner Biographie widmet – ist neben Cromwell die historische Figur, die von Carlyle in seinem Vortrag The Hero as King als königlicher Typus schlechthin dargestellt wird. Bertrams Biographiebegriff ist in diesem Diskurs der Größe verankert. Ihm geht es darum, Nietzsche als Mitglied einer überzeitlichen Gemeinschaft der Großen darzustellen, zu der auch Sokrates, Christus, Homer, Shakespeare, Luther, Napoleon und Goethe gehören. Im folgenden gehe ich der Frage nach, welche Funktion dieser Heldenkanon für die biographische Darstellung hat. Auffällige Parallelen zwischen Carlyle und Bertram bestehen nicht nur in der Wiederkehr bestimmter historischer Figuren, sondern auch in dem ihrer Darstellung jeweils zugrunde liegenden Programm und in deren beabsichtigter Wir18 Friedrich Nietzsche: „Ecce homo“. In: Nietzsche Werke in drei B nden, Bd. 2. Hg. v. Karl Schlechta. Darmstadt 1997, S. 997 – 998. 19 Nietzsche: „Ecce homo“, S. 1101. 20 Friedrich Gundolf: Dichter und Helden. Heidelberg 1921.

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kung auf den Leser. Indem Kontinuitäten im Heldendiskurs von der Romantik über Nietzsche bis zur Neuromantik in den Blick genommen werden, zeigen sich die Instabilitäten und Widersprüche in den Vorstellungen von Größe und Heldentum deutlicher. Von zentraler Bedeutung ist in diesem Zusammenhang die Frage nach dem Verhältnis zwischen dem Selbst und dem Anderen, wie es sich in der Beziehung zwischen LeserIn und ProtagonistIn der Biographie zeigt. Es ist kein Zufall, dass die einzige Bezugnahme auf Carlyle in Bertrams Nietzsche an einer Stelle erfolgt, an der Bertram Nietzsches Geschichtsbetrachtung und Geschichtsphilosophie reflektiert. Nach Bertram sei Nietzsche mehr noch als Carlyle, der typische Repräsentant einer Historik aus dem Enthusiasmus goetheschen Sinnes, deren Maxime Jakob Burckhardt formuliert hat in dem Satze, daß die verehrende Kraft in uns so wesentlich sei als das zu verehrende Objekt.21

Die Auseinandersetzung mit dem Prozess, der durch die Begegnung mit Heroischem ausgelöst wird, lässt die Vielschichtigkeit des Heldendiskurses erkennen, wie ich im Folgenden zu zeigen versuche. Helmut Scheuer argumentiert, dass Biographien im 20. Jahrhundert sich am sinnvollsten nach ihrer Funktion und ihrer Wirkabsicht einstufen lassen. Jede Biographie, so Scheuer, stelle ein didaktisches Modell dar, entweder positiv im Sinne eines ,Vorbilds‘ oder negativ als ,Schreckbild‘. Dieses Argument trifft besonders für die Biographik des George-Kreises zu, wie etwa der ursprüngliche Titel des 1911 in den Bl ttern f r die Kunst veröffentlichten ersten Teils von Gundolfs Dichter und Helden-Aufsatz, „Vorbilder“, bezeugt.22 André Jolles folgend, spricht Scheuer von ,Geistesbeschäftigung‘, um die Wechselwirkung zwischen Intention, Funktion und Rezeption beim Schreiben und Lesen einer Biographie zu bezeichnen. Die Haltung und die Prioritäten des Biographen formen die Darstellung des biographischen Objekts, was wiederum die Lektüre und die Reaktionen auf Seiten der LeserInnen mitbestimmt. Scheuer beschreibt drei mögliche Formen dieses Prozesses: imitatio, identificatio und admiratio. Identificatio, die nach Scheuer etwa in den Populärbiographien von Emil Ludwig und Stefan Zweig am Werke ist, kann einem demokratischen Impuls entspringen: Die große historische Persönlichkeit wird durch die Intimität einer biographischen Darstellung auf den Boden der Wirklichkeit zurückgeholt und den Erfahrungen des Lesers oder der Leserin angenähert. 21 Bertram: Nietzsche, S. 202. 22 Friedrich Gundolf: „Vorbilder“. In: Der George-Kreis. Eine Auswahl aus seinen Schriften. Hg. v. Georg Peter Landmann. Berlin, Köln 1965, S. 173 – 186.

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„Jeder große Mensch“ wird auf diese Weise als „ein ,Mensch wie du und ich‘“entlarvt.23 In diesem Zusammenhang erwähnt Scheuer, dass Emil Ludwig sich freute, als er von einem amerikanischen Fahrstuhlführer hörte, der nach der Lektüre seiner Napoleon-Biographie meinte, „I feel like Napoleon“.24 Ähnlich argumentiert die britische Biographin Hermione Lee. Das Erlebnis der Lektüre einer Biographie sei in zwei widersprüchliche Reaktionen gespalten: Einerseits gibt es den Versuch, die Ähnlichkeiten zwischen dem Leben der biographierten Person und dem eigenen, vertrauten, ,gewöhnlichen‘ Leben des Lesers/der Leserin zu bestimmen (,Ist dieses Leben wie mein eigenes?‘), andererseits findet eine Auseinandersetzung mit dem Anderssein dieses Lebens und der Disparität zwischen beider Leben statt (,Inwiefern unterscheidet sich dieses Leben von meinem eigenen?‘).25 Das Versprechen einer illusorischen Identifikation mit dem biographischen Objekt und einer kompensatorischen Nivellierung der Unterschiede zum Leben des Lesers oder der Leserin führt potentiell dazu, dass die bestehenden Verhältnisse nicht nur unhinterfragt hingenommen, sondern auch verfestigt werden: Der Fahrstuhlführer, dem vorübergehend Zutritt zur vermeintlichen Erfahrungswelt des Herrschers gewährt wird, ist eher bereit, die Kluft zwischen beider Leben als Teil der Weltordnung hinzunehmen. Aber wenn identificatio bereits problematisch ist, so sind es die Alternativen noch weit mehr. Bertrams Nietzsche wird wie andere Biographien, die im Umfeld des George-Kreises entstanden sind, von einer Haltung der Bewunderung und von der Annahme der großen Bedeutung des biographischen Objekts bestimmt. Harold Bloom argumentierte, dass die Auseinandersetzung mit dem Kanon der kulturellen Vorfahren von Angst und innerem Widerstand geprägt ist.26 In dieser Hinsicht haben die biographischen Arbeiten des George-Kreises mit ihrer Betonung der Bewunderung und Größe die Konflikt und Angst erzeugende Dimension der kulturellen Überlieferung unterdrückt zugunsten eines hierarchischen Modells der Gefolgschaft. Das Konzept der Größe erweist sich aber bei genauerem Hinsehen als vielschichtig und kann nicht restlos mit einem 23 Scheuer: „Dichter und Helden“, S. 302. 24 Ebd., S. 302. 25 Deborah Holmes, Caitríona Ní Dhúill u. Hannes Schweiger: „Biography – a ,peculiarly British vice‘? Interview with Hermione Lee“. Wien 2006, http:// gtb.lbg.ac.at/ (Stand: 04. 03. 2009). 26 Harold Bloom: The Anxiety of Influence: A Theory of Poetry. New York 1973.

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hierarchischen Schema in Übereinstimmung gebracht werden: Der Biograph und der Leser blicken nicht nur zur biographierten Person hinauf, sondern finden sich auch in ihr wieder. Die Kategorien admiratio, imitatio und identificatio schließen einander nicht aus. In der Bewunderung steckt eine angestrebte Identifikation, die durch die Imitation realisiert werden soll. Der identifikatorische Impuls führt zu einem Nacheifern, das an die imitatio Christi erinnert. Diese Art der Nachahmung nimmt die Unmöglichkeit einer vollständigen Übereinstimmung zur Kenntnis: Identifikation nähert sich auf diesem Weg einer Bewunderung und einem Nacheifern an, und das biographische Objekt wird als Vorlage für die unerfüllten Möglichkeiten des eigenen Lebens gesehen. Wie Scheuer bemerkt, ist mit der imitatio Christi „nur die Nachfolge, die Annäherung, die Ausrichtung auf das gleiche Ziel gemeint.“27

Der „Wille zur Heroisierung“: der Diskurs über Größe Imitatio vollzieht sich bei Bertram auf mehr als einer Ebene. Am augenfälligsten ist die Nachahmung des Nietzsche’schen Prosastils in der Nietzsche-Biographie. Das biographische Objekt dient dem Biographen als Quelle. Seine Texte liefern das Material und die Begriffe für die Darstellung, von der Sprache (das Werk, die Briefe, der Nachlass werden diesbezüglich ausgeschlachtet) 28 bis hin zum Verständnis von Größe, das dem biographischen Porträt zu Grunde liegt: Nietzsche denkt unwillkürlich in großen menschlichen Schaubildern. Er mythologisiert noch sein analytisch Gewonnenes zu mächtigen repräsentativen Typen […] Seine ganze Geschichtsbetrachtung und Geschichtsphilosophie wird durch diesen Willen zur Heroisierung bestimmt. Wie ihm ein Volk nur der Umschweif der Natur ist, um zu fünf, sechs großen Männern zu kommen,29 so scheint ihm eine geschichtliche Epoche, ein bestimmter Ab27 Scheuer: „Dichter und Helden“, S. 303. 28 Walter Kaufmanns Kritik an Bertram richtet sich vor allem auf diese Methode, die er „excerpt lifting“ nennt: „The utterly superficial inconsistencies dissolve as soon as one checks the quotations and recognises the meaning they had in their original context […]. The usual excerpt lifting, always dangerous, is doubly dangerous in Nietzsche’s case, however much his style may invite it.“ Walter Kaufmann: Nietzsche. Philosopher, Psychologist, Anti-Christ. 4. Aufl. Princeton 1974, S. 14 u. S. 94. 29 Die entsprechende Stelle lautet bei Nietzsche: „Ein Volk ist der Umschweif der Natur, um zu sechs, sieben großen Männern zu kommen. – Ja: und um dann um sie herumzukommen.“ Friedrich Nietzsche: „Jenseits von Gut und Böse“. In:

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schnitt der Entwicklung philosophischen, religiösen oder künstlerischen Lebens fast nur um der Vermenschlichung in einem oder mehreren überlebensgroßen Typen willen da zu sein.30

Nietzsche wird im Sinne seiner eigenen Geschichtsauffassung bei Bertram zum ,überlebensgroßen Typen‘, der den eigenen historischen Augenblick sowohl verkörpert als auch transzendiert. So wie das Dasein, nach Nietzsche, nur als ästhetisches Phänomen gerechtfertigt ist,31 so auch die Menschheitsgeschichte nur als eine Geburtsstätte von Größe. Die Weltgeschichte wird wie bei Carlyle durch die ,Biographie großer Männer‘ konstituiert.32 Im Heldenkanon scheinen keine Frauen auf; der Held ist ein männlicher Held, sowohl in Carlyles, Gundolfs als auch Bertrams Darstellung. Dies liegt nicht allein daran, dass Frauen von Positionen mit gesellschaftlicher Bedeutung und kulturellen Möglichkeiten ausgeschlossen waren, wenngleich die strukturellen Barrieren, die eine Tätigkeit im öffentlichen Leben verhinderten, zweifellos einer der Gründe für ihre bemerkenswerte Abwesenheit im Kanon der Helden ist. Weit mehr jedoch wurzelt das Fehlen von Frauen im Diskurs über Größe in einem Begriff von Größe als etwas Aktives, Einschneidendes, inhärent Männliches, entsprechend der konventionellen Differenzierung der Geschlechter, wie sie im 19. Jahrhundert und darüber hinaus immer wieder theoretisch gefasst wurde.33 Carlyles Held ist sowohl ein Seher als auch ein Macher, „he who is fit for doing manfully all things you will set him on doing“.34 Carlyle bezieht sich sprachlich auf die germanischen Wurzeln von doughty – tüchtig, Tugend – und deren Verhältnis zu Aktion und Tat; Tugend ist wiederum männlich markiert: „Virtue, Vir-tus, manhood, hero-hood“.35 Das Heroische wird durch die geschlechtlich markierten Begriffspaare aktiv und passiv, Han-

30 31

32 33 34 35

Nietzsche Werke in drei B nden, Bd. 2. Hg. v. Karl Schlechta. Darmstadt 1997, S. 633. Bertram: Nietzsche, S. 202. Vgl. Friedrich Nietzsche: „Die Geburt der Tragödie“. In: Nietzsche Kritische Studienausgabe, Bd. 1. Hg. v. Giorgio Colli u. Mazzino Montinari. Berlin 1999, S. 47: „[…] denn nur als aesthetisches Ph nomen ist das Dasein und die Welt ewig gerechtfertigt.“ Thomas Carlyle: On Heroes, Hero-Worship, & the Heroic in History. Mit Anmerkungen und einer Einleitung von Michael K. Goldberg. Berkeley 1993, S. 26. Am eklatantesten vielleicht von Otto Weininger. Vgl. Weininger: Geschlecht und Charakter. Eine prinzipielle Untersuchung. München 1980 [Erstausgabe: 1903]. Carlyle: On Heroes, S. 187. Ebd., S. 187.

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deln und Erleiden als Dimension des Männlichen ausgewiesen. Darüber hinaus steht vor allem bei Gundolf und Bertram die Konstruktion eines ausschließlich männlichen Heldenkanons in engem Zusammenhang mit dem pädagogischen Ziel, eine neue kulturelle Elite zu bilden und die Weitergabe kultureller Werte entlang einer männlichen Erbschaftslinie sicherzustellen. Die homosoziale Pädagogik wird als nicht-biologische Reproduktion kultureller Werte konzipiert, als eine Art kulturelle Sukzession in Analogie zur apostolischen Sukzession. In diesem Zusammenhang bewundert Bertram an Nietzsche „die wundervolle und ernste Liebe und das Vertrauen zu Zukunft und Jugend“.36 Im Kontext eines Konzepts ausschließlich männlicher kultureller Produktion und Reproduktion ist der pädagogische Eros mit der Homoerotik eng verwandt: Steinhaußen weist in diesem Zusammenhang auf Bertrams Gestaltung der homoerotischen Motivik, die bei vielen Lesern, darunter Thomas Mann, für ein starkes Identifikationspotential sorgte.37 Stefan George mag es als Manko empfunden haben, dass Nietzsche, im Gegensatz zu ihm selbst, keine „Schüler“ oder Nachfolger hatte.38 Der Heldenkanon dient aber dazu, große Figuren der Vergangenheit in eine Nachfolge einzubinden. Durch die Lektüre der Biographie eines Großen entsteht eine Art vermittelter Nachfolgerschaft, eine pädagogische Begegnung als actio in distans. 39 Bertram zitiert Nietzsche: „Wer uns nicht fruchtbar macht, wird uns sicher gleichgültig […] In allem Verkehr von 36 Ernst Bertram: „Stefan George“. In: Mitteilungen der literarischen Gesellschaft (1908). Zit. nach Schmitz: „Ernst Bertram. Zwischen Stefan George und Thomas Mann“, S. 56. 37 Steinhaußen: ,Aristokraten aus Not‘, S. 70. Steinhaußen bezieht sich an dieser Stelle auf einen Brief Thomas Manns an Ernst Bertram vom 21.09.1918. Zur Frage der Identifikation in dem Lektürerlebnis bei Thomas Mann siehe auch Rieckmann: „Erlösung und Beglaubigung“, S. 425. 38 Robert Norton: Secret Germany. Stefan George and His Circle. Ithaca, NY 2002, S. 589. 39 Der Begriff der actio in distans (Wirkung aus der Ferne) entnimmt Bertram Nietzsches zweiter Unzeitgem sser Betrachtung, wo er eng mit der Kritik an der faktographischen, positivistischen Biographik zusammenhängt: „Versetzt nur ein Paar solcher modernen Biographen in Gedanken an die Geburtsstätte des Christenthums oder der lutherischen Reformation; ihre nüchterne pragmatisirende Neubegier hätte gerade ausgereicht, um jede geisterhafte actio in distans unmöglich zu machen: wie das elendeste Thier die Entstehung der mächtigsten Eiche verhindern kann, dadurch dass es die Eichel verschluckt.“ Nietzsche: „Vom Nutzen und Nachtheil der Historie für das Leben“. In: Nietzsche Kritische Studienausgabe, Bd. 1, S. 298. Vgl. Bertram: Nietzsche, S. 352.

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Menschen dreht es sich nur um Schwangerschaft“.40 Nietzsches Metaphern der Reproduktion und der Nachkommenschaft werden aufgegriffen und weiter ausgeführt, was umso bemerkenswerter ist, wenn man den Männlichkeitskult in Bertrams Konzept von pädagogischer und intellektueller Nachfolgerschaft berücksichtigt. Die intellektuelle Genealogie ist bei ihm eine rein männliche, von der Frauen per se ausgeschlossen sind: „Denn nicht Leser, und wäre es der dankbarste, will ja der junge Mensch sein, sondern Sohn und Zögling“.41 Der Diskurs über Größe von Carlyle bis Gundolf und Bertram wird seit der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts durch das Prisma der Geschichte des Faschismus gesehen, was das oben angedeutete pädagogische Vorhaben bis zu einem gewissen Grad in den Hintergrund gedrängt hat.42 Der elitäre und anti-demokratische Aspekt der Veredelung großer Figuren der Vergangenheit zu Vorbildern wurde zuungunsten anderer Aspekte allzu sehr betont. Wenn auch der kritische Fokus auf das anti-demokratische elitäre Denken zweifellos eine notwendige Antwort auf Texte wie On Heroes, Hero-Worship and the Heroic in History, Dichter und Helden und Nietzsche. Versuch einer Mythologie ist, so lenkt dies doch ab von der Frage, wie diese Figuren, diese Helden auf die Leserin oder den Leser wirken sollten. Mit Bezug auf Scheuers Schema von admiratio, imitatio und identificatio lässt sich sagen, dass der Leser mittels Bewunderung auf den Weg der Nachahmung gebracht werden sollte; vom Leben eines Helden zu lesen, diene der Kultivierung des Heldenhaften in einem selbst, oder, wie es Michael Goldberg in seiner Einleitung zu Carlyles On Heroes paraphrasierend formuliert, „to recognise the hero is itself a form of heroism, and is possible only ,by being ourselves of heroic mind‘.“43 Der Heldendiskurs steht also in engem Zusammenhang mit dem Diskurs der Arbeit am Selbst. Um zu verstehen, wie dieser Prozess abläuft, ist ein genauerer Blick auf das Verhältnis zwischen dem Eigenen und dem Anderen in diesen Texten notwendig. Wie immer in Biographien handelt es sich dabei um ein komplexes Dreiecksverhältnis zwischen Objekt, AutorIn und LeserIn. 40 Bertram: Nietzsche, S. 318. Die entsprechende Stelle bei Nietzsche in Friedrich Nietzsche: Werke. Kritische Gesamtausgabe, Abtl. 7, Bd. 1 (Nachgelassene Fragmente Juli 1882-Winter 1883/84). Hg. v. Giorgio Colli u. Mazzino Montinari. Berlin 1977, S. 55. 41 Bertram: Nietzsche, S. 320. 42 Die Neubewertung Carlyles im Lichte des Faschismus beginnt gleich nach dem Kriegsende. Vgl. J. Salwyn Schapiro: „Thomas Carlyle, Prophet of Fascism“. In: Journal of Modern History 17 (1945), S. 97 – 115. 43 Michael K. Goldberg: Einleitung zu Carlyle: On Heroes, S. lxi.

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Drei Stellen in Carlyles On Heroes erlauben eine Präzisierung dieser Frage: We are all poets when we read a poem well.44 If Hero mean sincere man, why may not every one of us be a Hero? 45 Does not every true man feel that he is himself made higher by doing reverence to what is really above him? 46

Während das dritte Zitat zeigt, dass Carlyle an einer Hierarchie festhält, die durch den Genderdiskurs einer wahren im Gegensatz zu einer falschen Männlichkeit bestimmt wird, gilt es festzuhalten, dass dies keine starre, sondern eine bewegliche Hierarchie ist, in der das Individuum durch einen Akt der Verehrung aus eigener Kraft aufsteigen kann. Verehrung bedeutet sich zu verbeugen: Indem man die eigene niedrigere Position in der Hierarchie anerkennt, kann man eine höhere Position anstreben, und umgekehrt: „no sadder proof can be given by a man of his own littleness than disbelief in great men“.47 Ferner schreibt Carlyle: „Great souls are always loyally submissive, reverent to what is over them; only small mean souls are otherwise“.48 Hier zeigt sich, wie sehr er der christlichen Theologie verpflichtet ist: Selbsterniedrigung durch Anbetung ist der erste Schritt zum Aufstieg, sogar zur Erlösung. Es entsteht ein komplexes dialektisches Verhältnis zwischen Oben und Unten, wenn Demut eine Tugend ist und die Unterwerfung ein Zeichen von Größe ist. Aus der Perspektive der LeserInnen von heute, die angesichts der historischen Erfahrungen ein tiefes Misstrauen gegenüber Heldenverehrung gewonnen haben, ist es wichtig zu verstehen, dass Carlyles Konzept nicht einfach mit anti-demokratischem Elitedenken gleichzusetzen ist, sondern auch Elemente enthält, die einem aristokratischen oder exklusiven Gestus zuwiderlaufen. In einem früheren Essay On History (1830) vertrat Carlyle eine breiter angelegte, demokratische Geschichtsauffassung: „Social Life is the aggregate of all the individual men’s Lives who constitute society; History is the essence of innumerable Biographies“.49 Stellt On Heroes eine Abwendung von diesem stärker demokratischen Konzept hin zu einer exklusiveren und elitäreren Auffassung dar? Ja und 44 45 46 47 48 49

Carlyle: On Heroes, S. 70. Ebd., S. 109. Ebd., S. 14. Ebd., S. 13. Ebd., S. 154. Thomas Carlyle: „On History“ (1830). In: ders.: Critical and Miscellaneous Essays, Bd. 2. London 1899, S. 86.

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nein. Carlyle bezieht sich in seinem Vortrag über Odin auf nordische Mythologie und betrachtet Yggdrasil, den „Tree of Existence“, als eine Variation auf das Thema der Geschichte als Biographien großer Männer: „Is not every leaf of it a biography, every fibre there an act or word?“50 Da in Yggdrasil alles menschliche Handeln – „the infinite conjugation of the verb To do“51 – enthalten ist, wird die Gesamtheit der menschlichen Biographien, die nach Carlyle zusammengenommen die Menschheitsgeschichte ausmachen, in ihrer ganzen Vielfalt und Dynamik gewürdigt, was auf ein inklusives Konzept schließen lässt. So erscheint die Vorstellung von Größe als potentiell offen und fungiert nicht als Attribut einer starren Elite, sondern als Eigenschaft, mit der sich alle identifizieren und die alle anstreben können. Dies nimmt Nietzsches Behauptung vorweg, „nur der, welcher sein Herz an irgendeinen großen Menschen gehängt hat, empfängt damit die erste Weihe der Kultur“,52 eine Vorstellung, die für den GeorgeKreis und seine Auseinandersetzung mit Größe zentral war. Überdies ist wesentlich, dass Carlyle Heldentum als Fähigkeit zu handeln und zu sehen versteht. Ein klarer Blick, frei von Illusion und Täuschung, steht im Zentrum seiner Auffassung des Heroischen: A Hero, as I repeat, has this first distinction, which indeed we may call first and last, the Alpha and Omega of his whole Heroism, That he looks through the shews of things into things. 53

Grundlegend für seine Beschäftigung mit Heldentum ist ein breiteres Interesse für das Verhältnis von Schein und Wirklichkeit, wahr und falsch. Dies wiederum stützt die Annahme, dass er seinen Heldenkanon mit Blick auf seine pädagogische Vorbildwirkung konzipiert. Es spricht den Leser/ die Leserin vielmehr durch die Sprache des Strebens und der Motivation als durch den aristokratischen Gestus der Ausschließlichkeit und des Elitismus an.

50 Carlyle: On Heroes, S. 19. 51 Ebd., S. 19. 52 Nietzsche: „Unzeitgemässe Betrachtungen III: Schopenhauer als Erzieher“. In: Nietzsche Kritische Studienausgabe, Bd. 1, S. 385. 53 Carlyle: On Heroes, S. 48.

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Die „selbstbildhafte“ Charakteristik des Anderen Auch bei Bertram ist dieser pädagogisch-exemplarische Aspekt des Heldenkanons spürbar. Das Modell des Helden, das Bertram von Nietzsche übernimmt, wendet er auch auf Nietzsche selbst an und hält damit an seinem Ethos der Bewunderung und Imitation fest. Dabei kommt es häufig zur Strategie, Nietzsches Kommentare zu Napoleon, Goethe oder einem anderen „großen“ Menschen auf Nietzsche selbst umzulegen; das Bild des Anderen ist damit im Grunde ein projiziertes Selbstbild. Bertram nennt dies an einer Stelle „das Selbstbildhafte von Nietzsches Goetheantlitz“54 und meint, „Nietzsche spricht eben dort am deutlichsten, am hüllenlosesten von sich, wo er am wenigsten von sich zu reden scheint“.55 Man ist nur so gut wie das eigene Goethebild, oder anders gesagt: Das eigene Goethebild ist der Maßstab der eigenen Größe, im Sinne von: ,it takes one to know one‘ – um einen anderen zu verstehen, muss man so sein wie er. In Bertrams Worten: „wir wissen nur, was wir schauen, und wir schauen nur, was wir sind und weil wir es sind“.56 Dieser Topos im Diskurs über Größe und Heldentum bewirkt die Entkoppelung der Aussagen der Großen hinsichtlich der Größe anderer von ihrem spezifischen Bezugspunkt, so dass sie sich auf die Person beziehen, von der sie stammen; die Beschreibung des Anderen wird damit zur Selbstbeschreibung. Schon Carlyle wendet diese Strategie in Bezug auf Goethe an, den ,unsung hero‘ von On Heroes: „Of him too you say that he saw the object; you may say what he himself says of Shakspeare: ,His characters are like watches with dial-plates of transparent crystal; they shew you the hour like others, and the inward mechanism also is all visible‘“.57 Interessant ist in diesem Zusammenhang weniger das Bild der transparenten Uhr, die als Metapher für die gelungene Charakterisierung fungiert, als vielmehr die Idee, dass Goethes Kommentar zu Shakespeare genauso auf Goethe selbst angewendet werden kann. So wie die Anerkennung der Größe eines Anderen zugleich die eigene Größe enthüllen soll, so wird gleichermaßen der Versuch Größe abzulehnen oder zu relativieren zum Nachweis der eigenen Belanglosigkeit. We will also take the liberty to deny altogether that of the witty Frenchman, That no man is a Hero to his valet-de-chambre. Or if so, it is not the Hero’s blame, but the Valet’s: that his soul, namely, is a mean valet-soul! […] The 54 55 56 57

Bertram: Nietzsche, S. 173. Ebd., S. 172. Ebd., S. 5. Carlyle: On Heroes, S. 89.

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Valet does not know a Hero when he sees him! Alas, no: it requires a kind of Hero to do that.58

Carlyle nimmt Diener und Held aus ihrem ursprünglichen Kontext der sozialen Hierarchie und lässt sie für verschiedene Arten der Wahrnehmung und für bestimmte Charaktereigenschaften stehen: die Größe oder Geringheit der Seele und des Blicks auf die Welt. In einem realen Diener könnte die Seele eines Helden stecken. Wenige Seiten später heißt es tatsächlich, das Heroische an Robert Burns werde erkannt und gewürdigt durch die „waiters and ostlers of Scotch inns, prying about the door, eager to catch any word that fell from Burns“.59 In Carlyles Theorie des Heldentums können Menschen unabhängig von ihrer sozialen Klasse potentiell selbst Helden sein oder die Fähigkeit haben, das Heroische in anderen zu erkennen (was selbst ein heldenhafter Akt der Erkenntnis ist). Trotz all seiner anti-demokratischen Rhetorik erweist sich somit sein Heldendiskurs nicht notwendigerweise als exklusiv oder aristokratisch: „If Hero mean sincere man, why may not every one of us be a Hero?“60 Den Helden im Anderen zu erkennen aktiviert also das Heldenhafte im Erkennenden. Die Annahme, dass Nietzsche (oder jemand anders) in verschlüsselter Weise über sich selbst spricht, wenn er über Goethe (oder jemand anderen) spricht, lässt sich unterschiedlich deuten. Erstens kann dies als Ausdruck von Solipsismus gelesen werden: Man kann den anderen niemals tatsächlich erkennen, nur die Art und Weise, wie der andere das Selbst widerspiegelt oder wie der andere eine Projektion des Selbst ist, lässt sich begreifen. Damit wird jede Biographie zu einer verschlüsselten Autobiographie und die Gattung der Biographie letztlich grundsätzlich in Frage gestellt. „Show me the man you honour“, schrieb Carlyle, „I know by that symptom […] what kind of man you yourself are. For you show me there what your ideal of manhood is; what kind of man you long inexpressibly to be.“61 Dieser Logik entsprechend steckt zwischen den Zeilen von On Heroes eine Art der Selbsterkenntnis, eine Formulierung von Carlyles eigenem Ideal von Männlichkeit und Tatkraft. Michael Goldberg ist zuzustimmen, wenn er meint:

58 59 60 61

Ebd., S. 157 – 158. Ebd., S. 165. Ebd., S. 109. Carlyle: Latter-Day Pamphlets. London 1898, S. 255.

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There is no doubt that by the time of his lecture Carlyle conceived of himself as a writer in the heroic tradition he was describing. […] In the tradition of heroism that Carlyle was establishing, he himself was the latest avatar.62

A. J. P. Taylor schlug eine andere Lesart des Verhältnisses Carlyles zu seinem Kanon des Heldenhaften vor, die grundlegende Annahme ist allerdings dieselbe. In die Darstellung des anderen sei eine Selbstdarstellung ex negativo eingeschrieben: „The hero that he worshipped was his own opposite – silent, imperturbable, a man of action“.63 Das Verhältnis zwischen Selbst und Anderem, das durch das „Selbstbildhafte von Nietzsches Goetheantlitz“ zum Ausdruck kommt, kann aber auch als Ablehnung eines naiven Individualismus verstanden werden. Identität wird demnach als Prozess der Identifikation und des Zitierens verstanden; der Text von Nietzsches Leben entsteht durch Intertexte und ist eingewoben ins Netz verfügbarer Bedeutungen und Erzählungen. Falls das wie der Versuch klingt, Bertrams Mythographie des Heldentums zu einer Art Poststrukturalismus avant la lettre zu erklären, lässt sich dies unter Bezugnahme auf Carlyles Ausführungen zum Verhältnis zwischen Individuum und Geschichte auch anders fassen. Carlyles Fokus auf den Helden, sein Hervorheben einzelner, heldenhafter Figuren hat mehr Aufmerksamkeit erregt als seine ausgewogeneren Ansichten zur kulturellen und historischen Kontextualisierung individueller Leistung, die sich in On Heroes auch finden lässt: The craftsman there, the smith with that metal of his, with these tools, with these cunning methods, – how little of all he does is properly his work! All past inventive men work there with him; – as indeed with all of us, in all things.64

Die Leistung des Einzelnen ist demnach sozial, kulturell und historisch bedingt. Wenn dies, wie in Carlyles Beispiel, auf die Entwicklung der Praxis und Tradition der Kunst zutrifft, dann umso mehr noch auf die Kunst des Selbst, die Arbeit am Selbst, die das grundlegende Thema von On Heroes darstellt. Die Beziehung zum Anderen ist für das Selbst konstitutiv, das latent Heldenhafte im Selbst wird durch die Begegnung mit den Großen der Geschichte aktiviert. Das „Selbstbildhafte“ im Bild des Anderen ist demnach kein Symptom des Solipsismus. Wenn Bertram von der selbstbildhafte[n] Charakteristik des Anderen bei Nietzsche spricht, bedeutet das nicht, dass Nietzsche derart gefangen in sich selbst sei, dass er in 62 Goldberg: Einleitung zu Carlyle: On Heroes, S. l. 63 A. J. P. Taylor: Englishmen and Others. London 1956, S. 23. 64 Carlyle: On Heroes, S. 84.

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jedem anderen, egal ob ein Zeitgenosse oder eine historische Figur, sich selbst widergespiegelt sehe. Eher ist die Entstehung des Selbst unter Bezugnahme auf andere gemeint.

„Eine monadologische Biografie“: das Subjekt als Einheit Die Devise ,it takes one to know one‘ wird in jenen Fällen etwas anders realisiert, in denen Nietzsche andere ,große Menschen‘ kritisch oder herabwürdigend beschreibt, wie im Fall von Luther und Wagner. Bertram schreibt: Man darf sich nicht einen Augenblick irre machen lassen durch die überaus heftige, ja zügellos gehässige Lutherfeindschaft Nietzsches […] Sie ist, wie der Kampf mit Wagner und Schopenhauer, der Kampf gegen Romantik und Christentum, nur Sinnbild eines Bruderzwistes in der eigenen Brust.65

Hier zeigt sich Bertrams Art, mit Widersprüchen oder Ungereimtheiten bei Nietzsche umzugehen: Sie werden dem totalisierenden Anspruch einer Darstellung Nietzsches als einheitlichem und ganzheitlichem Phänomen untergeordnet. Heinz Raschel bezeichnet dies als große Schwäche in Bertrams Ansatz und sieht den Grund dafür darin, dass Bertrams Nietzschebild dem des George-Kreises entspricht: Trotz geistreicher und stellenweise durchaus richtiger Ausführungen, ist das Resultat schließlich wieder in Frage gestellt durch Bertrams zahllose Symbole und ständige Vereinigung von Gegensätzlichem, um zu einem wie auch immer gearteten einheitlichen ,Bild‘ zu kommen.66

Gerade diesen Aspekt an Nietzsche. Versuch einer Mythologie begrüßte hingegen Friedrich Gundolf: „[…] es ist eine monadologische Biografie, insofern jeder Lebens- oder Gedankenkeim N’s. das ganze Leben eigen entwickelt, wie jede Monas das Universum trägt und spiegelt“.67 Mit dem von Leibniz entlehnten Begriff des Monadologischen bringt Gundolf mehrere Aspekte des Bertram’schen Ansatzes auf den Punkt, nämlich: die Vielfalt der sich zu einem harmonischen Ganzen summierenden Teile, das Aufeinanderbezogensein sichtbarer und unsichtbarer, bewußter und un65 Ebd., S. 53. 66 Heinz Raschel: Das Nietzsche-Bild im George-Kreis. Ein Beitrag zur Geschichte der deutschen Mythologeme. Berlin, New York 1984, S. 152. 67 Friedrich Gundolf, Brief v. 16.2.1918. Zit. n. Hartmut Buchners Nachwort zu Ernst Bertram: Nietzsche. Versuch einer Mythologie. 8. Aufl. Mit einem Nachwort von Hartmut Buchner. Bonn 1965, S. 407 – 408.

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bewußter Komponenten, die Auffassung von Leib und Seele, Leben und Werk als untrennbares Ineinander. Den befremdlichsten Aspekten von Bertrams Nietzsche-Darstellung, wie etwa seiner Deutung von Nietzsches Krankheit als Ausdruck seines Denkens, liegt der monadologische Biographiebegriff zugrunde: wie die Krankheit, so schlief auch ihre Deutung, ihre philosophische wie ihre aktive Überwindung schon als ein „So mußt du sein“ in ihm: wie jedes paulinische Erlebnis schon im Saulus schläft und nicht an irgend einem zufälligen Damaskuswege wartet. Müßig zu fragen, wie Nietzsches Philosophie ohne seine Krankheit sich entwickelt hätte: da doch Nietzsche diese Krankheit war und sie als Passion aus sich heraus geformt hätte in welcher Gestalt immer.68

Auch in dieser Hinsicht gibt es einen Bezug zum biographischen Konzept Carlyles. Bei Carlyle spielt das Physiognomische eine ähnliche Rolle wie das Monadologische bei Bertram. Der Anspruch der Physiognomik, aus dem physiologischen Äußeren des Körpers auf die seelischen Eigenschaften eines Menschen schließen zu können, setzt eine Einheit von Körper und Seele, Innen und Außen voraus.69 Carlyle war der Ansicht, dass der innere Charakter eines Menschen jede seiner Handlungen und Äußerungen prägt. Das Physiognomische bei Carlyle ist ein weit gefasster Begriff: Most narrowly it meant that inner character revealed itself in the face. But such inward character also impressed itself on every action and statement. […] Actions were thus ‘physiognomic’ of the person.70

Wir finden diese Auffassung des Physiognomischen in On Heroes: Morality itself, what we call the moral quality of a man, what is this but another side of the one vital Force whereby he is and works? All that a man does is physiognomical of him. You may see how a man would fight, by the way in which he sings; […] He is one; and preaches the same Self abroad in all these ways.71

Die Anschauung des Subjekts als einheitliches Ganzes bedeutet auch, dass es mit einem Male erfasst werden und dass die diachrone Entwicklung des Lebens unter die synchrone Präsenz der gesamten Figur subsumiert werden kann. Chronologie kann demzufolge aufgehoben werden: Wichtiger als die Rekonstruktion der Lebensgeschichte ist das Erfassen der Essenz der 68 Bertram: Nietzsche, S. 128. 69 Siehe Geschichten der Physiognomik. Text – Bild – Wissen. Hg. v. Rüdiger Campe u. Manfred Schneider. Freiburg im Breisgau 1996; Claudia Schmölders: Das Vorurteil im Leibe. Eine Einf hrung in die Physiognomik. 2. Aufl. Berlin 1997. 70 Goldberg: Einleitung zu Carlyle: On Heroes, S. xxxvi. 71 Carlyle: On Heroes, S. 91.

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Person. Die physiognomische Charakterstudie bei Carlyle geht davon aus, dass das Innere eines Menschen über das Äußere zugänglich ist. So wie Carlyles Biographien als geistige Porträts oder „mental portraits“ bezeichnet werden können,72 so wurde auch der Begriff ,Lebensbild‘ für das biographische Schreiben des George-Kreises verwendet. Die Betonung des Bildes statt der Geschichte, des Porträts statt der Erzählung ist bezeichnend für das Geschichtskonzept, das Bertrams Methode zugrunde liegt: „Geschichte ist tätige Bildschaffung … Alles Geschehene will zum Bild“.73 Die historische Dynamik wird im Bild, in einem Objekt der Kontemplation, gebändigt. Denn die Bilder der großen, das unschaubar Göttliche sichtbar stellvertretenden Menschen wachsen – Sinn und Wert jeder biographischen Legende! – langsam zu neuen ehrfurchtheischenden Mysterien heran, zu neuen, ganz und gar entpersönlichten zeitlosen Möglichkeiten des ,augenschließenden Anschauens‘, wie die wörtliche und zugleich die innerste Bedeutung des Wortes ,Mystik‘ besagt.74

Es wäre allerdings irreführend zu behaupten, dass Bertram eine statische Beziehung zu den großen Figuren der Vergangenheit bevorzugt. Die Begegnung mit dem biographischen Objekt wird im Gegenteil als fortwährend produktives, sogar transformierendes Erlebnis verstanden. Bezeichnend ist in diesem Zusammenhang, dass Bertram nicht von Biographie spricht, sondern von „biographische[r] Legende“. Die wenigen expliziten Ausführungen Bertrams zur Gattung Biographie in Nietzsche. Versuch einer Mythologie betreffen diese Frage nach dem Verhältnis zwischen konventioneller biographischer Praxis und seiner eigenen alternativen Konzeption eines Zugangs zu vergangenem Leben, einer Begegnung mit den großen Figuren der Vergangenheit mittels Legende. Die Legende ist laut Bertram „die lebendigste Form geschichtlicher Überlieferung“, im Unterschied zum „naive[n] historische[n] Realismus des 19. Jahrhunderts“.75 Die Persönlichkeit des ,großen Menschen‘ wird verwandelt in und übertragen durch das Produktive und Fruchtbare der Legende. „Einzig in der Form der Legende überdauert die Persönlichkeit […] als wirkende und fortzeugende Macht die Zeiten.“76 72 Jeffrey Wallen: „Between Text and Image: The Literary Portrait“. In: a/b: Auto/ Biography Studies 10 (1995), S. 50 – 65. Siehe auch Goldberg: Einleitung zu Carlyle: On Heroes, S. xxxvii. 73 Bertram: Nietzsche, S. 6. 74 Ebd., S. 361. 75 Ebd., S. 1. 76 Ebd., S. 1 – 2.

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Die produktive Legende, die „immer neu zu lesen ist“,77 stellt aus Bertrams Sicht die einzig legitime Form historischer Erkenntnis dar. Er hält seine Darstellung Nietzsches explizit einer Form von Geschichtsschreibung entgegen, die eine Rekonstruktion der Vergangenheit anstreben oder Zugang zu einer Vergangenheit suchen würde, „wie sie eigentlich gewesen“.78 Stattdessen schlägt er vor, einen Prozess der Identifikation und Transformation durch die Begegnung mit Spuren der Vergangenheit in Gang zu setzen, die von der Legende zum Ausdruck gebracht und wiederbelebt werden. In Bertrams Konzeption historischer Erkenntnis gibt es einen engen und komplexen Zusammenhang zwischen Überlieferung und Zeitlosigkeit. Jene Persönlichkeitsspuren, die lebendig bleiben und über die Zeiten hinweg kommunizieren, haben die Geschichte transzendiert und sind in die Sphäre der Legende aufgestiegen – die vertikale Metapher mit ihrem christlichen Unterton ist nicht unpassend. Wir vergegenwärtigen uns ein vergangenes Leben nicht, wir entgegenwärtigen es, indem wir es geschichtlich betrachten. Wir retten es nicht in unsre Zeit hinüber, wir machen es zeitlos. Indem wir es uns verdeutlichen, deuten wir es schon. Was von ihm bleibt, wie immer wir es zu erhellen, zu durchforschen, nachzuerleben uns mühen, ist nie das Leben, sondern immer seine Legende […] Und einzig in der Form der Legende überdauert die Persönlichkeit, auch die am schärfsten umrissene, am deutlichsten vom geschichtlichen Wissen umzirkelte, als wirkende und fortzeugende Macht die Zeiten.79

Die biographische Legende kann man sich demnach als eine Art interpretatorische Praxis vorstellen, als etwas, „das erst entsteht durch immer erneutes Anderslesen“.80 Die Rezeption der Biographie wird zum aktiven Prozess des Mitgestaltens.

Fakten und Anekdoten in der Legende Wie verhalten sich diese Forderungen nach der Transzendierung des historischen Augenblicks und der Überlieferung durch die Legende zum biographischen Material, den Fakten und Anekdoten? Wie verhält sich Bertrams ModellderbiographischenLegendezurAufgabe,GeschichtenausdemLeben zu erzählen, was nicht gleichbedeutend damit ist, die Geschichte des Lebens zu 77 78 79 80

Ebd., S. 6. Ebd., S. 1. Ebd., S. 1 – 2. Ebd., S. 6.

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erzählen? Bertram war sich offensichtlich der Spannung zwischen diesen beiden Aspekten der Biographie bewusst. Er schreibt: Beinahe quälend scheint uns die schmerzhaft grelle Beleuchtung, in der wir Nietzsches Werdejahre erblicken, jedem Dämmerlicht der Legende entrissen, scheinwerferhaft bestrahlt, dank der Fülle der persönlichen Dokumente, welche wir der historischen Schulung seiner Zeitgenossen schulden, und für deren zeitlich kleines Detail nur der Historiker in uns, der Erbe des 19. Jahrhunderts, noch widerwillig dankbar ist.81

Wie soll man mit diesen Details umgehen, die einem das biographische Objekt unangenehm nahe treten lassen? Man bindet sie in den Mythos ein. Der Untertitel Versuch einer Mythologie verweist auf die zentrale Bedeutung der Mythologie in Bertrams Zugang zu seinem biographischen Objekt, Mythologie verstanden als die Darstellung des Mythos und als Reflexion darüber.82 Diese Art von mythologischer Biographie ist das Gegenteil einer positivistischen Chronik des täglichen Lebens. Durch ihre Einbindung in den Mythos wird die Kontingenz historischer Begebenheiten aufgehoben. Die chronikartige Darstellung verifizierbarer biographischer Fakten interessiert Bertram kaum. Nicht wie dieses Leben war, sondern was es bedeutete und immer noch bedeutet, ist sein Hauptthema. Das erkenntnisleitende Interesse gilt der Essenz der Persönlichkeit, der Genese des Werks, das das Leben überdauert, und der historischen Bedeutung von Person und Werk. Daraus ergeben sich die im Kontext der Geschichte des Genres bemerkenswertesten Aspekte: die Absage an jede Art linearer Chronologie,83 das Beharren auf die Darstellung des unauflöslichen Zu81 Ebd., S. 280. 82 Vgl. Zöfel: Die Wirkung des Dichters, S. 192. Der ursprünglich von Bertram vorgeschlagene Titel Die Musik des Sokrates wurde abgelehnt, da er die zukünftigen LeserInnen hinsichtlich des Gegenstands des Buches in die Irre geführt hätte. Stefan George, dessen Einwilligung eine Voraussetzung für eine Veröffentlichung beim Bondi Verlag war, zeigte sich mit der Alternative Nietzsche. Studien zu seiner Mythologie nicht einverstanden und schlug stattdessen Versuch einer Mythologie vor: „Meine Abneigung gegen ,Studien‘ müssen Sie richtig verstehen. […] ,Versuch‘ oder ,Anfänge‘ wären immer noch besser. Was ich in Ihrem Werk sehe ist eine neue und bedeutende Form der Darstellung, die Sie durch solche private Überschrift nicht zu sehr verkleinern dürfen.“ Stefan George, Briefe v. 8. 4. 1918 und 15.4.1918. Vgl. Buchner: Nachwort zu Bertram: Nietzsche, S. 407 – 409. 83 Auf den ersten Blick scheint die Formulierung „lineare Chronologie“ tautologisch, wirft sie doch die Frage auf, ob eine nicht-lineare Chronologie überhaupt möglich wäre. Dennoch ist sie im Kontext der Theorie der Biographie angebracht: Selbst wenn eine Biographie Analepsen und Prolepsen verwendet oder das Material wie im Fall von Bertrams Nietzsche nicht chronologisch sondern thematisch

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sammenhangs von Leben und Werk, die als monadologisches Ganzes erscheinen, und eine thematisch-motivische Struktur, der Josef Hofmiller in einer 1920 publizierten Rezension musikalischen Charakter bescheinigte.84 Bereits die Kapitelüberschriften deuten darauf hin, dass es Bertram bei der Gliederung des Materials eher um Motive als um Lebensabschnitte ging: Überschriften wie ,Ritter, Tod und Teufel‘, ,Judas‘, ,Maske‘, ,Scherz, List und Rache‘, ,Anekdote‘, um nur einige zu nennen, zeigen deutlich das, was Raschel den symbolischen und allegorischen Charakter des Buches nannte.85 Auch die Kapitel, deren Überschriften auf den ersten Blick auf einen bestimmten Lebensabschnitt oder ein biographisches Ereignis zu verweisen scheinen, wie zum Beispiel ,Krankheit‘ oder ,Venedig‘, handeln eigentlich von der symbolischen Bedeutung dieser Motive in Nietzsches Werk, das, wie bereits erwähnt, nicht als Ausdruck sondern als Teil seiner Persönlichkeit aufgefasst wird: „Denn auch das ,Werk‘ ist ja Persönlichkeit und unterliegt den Gesetzen der Legende“.86 Zum mythologischen Biographiekonzept Bertrams gehört auch eine Theorie der Anekdote, die eine Integration biographischer Details in die Legende erlaubt. Die Epigraphe zum Kapitel ,Anekdote‘ stammen von Novalis: „Geschichte ist eine große Anekdote. Eine Anekdote ist ein historisches Element, ein historisches Molekül“, und von Nietzsche: „Aus drei Anekdoten ist es möglich, das Bild eines Menschen zu geben“.87 Das ,monadologische‘ Aufeinanderbezogensein aller Komponenten kommt in Bertrams Auffassung der Anekdote wieder zum Vorschein. Die Funktion der Anekdote für historische Erkenntnis bei Bertram wird deutlicher durch einen Vergleich mit einer Theorie der Anekdote, die ihr eine ganz andere Funktion hinsichtlich der Erzählung einer Begebenheit im historischen Text zuspricht: der Theorie der Anekdote im New Historicism. Die Wiederaufwertung der Anekdote durch den New Historicism setzt vor-

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ordnet, ist sie durch die Temporalität des beschriebenen gelebten Lebens an eine implizite Chronologie gebunden, die durch den Leser/die Leserin rekonstruiert werden kann. Es ist also notwendig, eine Unterscheidung treffen zu können zwischen der impliziten Chronologie in einer nicht-chronologischen Biographie (z. B. Bertrams Nietzsche) und der linearen Chronologie einer Biographie, die das Leben Monat für Monat oder Jahr für Jahr beschreibt, wie etwa Boswells The Life of Samuel Johnson. Josef Hofmiller: „Neue Bücher“ [Sammelbesprechung, darunter zu Bertrams Nietzsche]. In: S ddeutsche Monatshefte 17 (1919/1920), S. 378 – 383. Vgl. Raschel: Das Nietzsche-Bild im George-Kreis, S. 135. Bertram: Nietzsche, S. 2. Ebd., S. 227.

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aus, dass eine totalisierende und vereinheitlichende historische Erzählung unmöglich und nicht einmal wünschenswert ist. „The undisciplined anecdote appealed to those of us who wanted to interrupt the Big Stories,“88 sagt Greenblatt, die Prioritäten des New Historicism charakterisierend. Für den New Historicism erfüllt die Anekdote die Aufgabe, [to preserve] the radical strangeness of the past by gathering heterogeneous elements. […] Approached sideways, through the eccentric anecdote, ,history‘ would cease to be a way of stabilising texts; it would instead become part of their enigmatic being.89

Im Gegensatz dazu sieht Bertram die Anekdote als Schlüssel zur Totalität der „Big Story“: Sie ist das Mittel, durch das die Legende des Lebens zum Leben erweckt wird, sie ist die große Geschichte en miniature. Hier liegt eine holistische, dort eine fragmentarische Konzeption der historischen Erkenntnis vor. Diese zwei Konzeptionen führen zu gegensätzlichen Arten, die Anekdote zu verstehen und sie zu schreiben. Für die New Historicists gehört sie zu einer (post-)modernen Ästhetik des Fragmentarischen, in der die Teile vom Ganzen emanzipiert erscheinen. Bei Bertram ist die Anekdote als Manifestation des Ganzen zu verstehen, als eine Art Hologramm, das eine Rekonstruktion des Ganzen erlaubt. In seiner Untersuchung von Nietzsche. Versuch einer Mythologie als Quelle für Thomas Manns Doktor Faustus behauptet Böschenstein, dass die thematischen Einteilungen bei Bertram zu einer Fragmentarisierung des Subjekts und einer Vervielfältigung der Perspektiven führt. Bertram [teilt] seinen leicht in aphoristische Atome sich aufspaltenden Gegenstand Nietzsche in deutliche Kapitel unter […], deren jedes, wie gesagt, eine nur relativ gültige Perspektive auf den einen Gebirgsgipfel freiläßt.90

Die Fragmentierung und Perspektivierung durch Bertrams strukturelle und thematische Gliederung sollen allerdings auf eine Synthese auf einer höheren Ebene verweisen, auf der all diese widersprüchlichen und disparaten Elemente unter ein einheitliches Ganzes subsumiert werden: Sie summieren sich zu einem Bild, das Anspruch auf Totalität erhebt. So wie die widersprüchlichen Aspekte bei Nietzsche selbst (wie etwa die anfängliche Bewunderung für Wagner und sein späterer Hass auf ihn) Bertram als Beweis für seine alles 88 Harvey Blume: Stephen Greenblatt: The Wicked Son (Interview). http:// www.bookwire.com/bookwire/bbr/reviews/june2001/GREENBLATTInterview.htm (Stand: 04. 03. 2009). 89 Stephen Greenblatt u. Catherine Gallagher: Practicing New Historicism. Chicago 2000, S. 51. 90 Böschenstein: „Ernst Bertrams ,Nietzsche‘“, S. 71 – 72.

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umfassende, universale und exemplarische Menschlichkeit dienen, so sollen auchdieUnstimmigkeitenaufderEbenederDetailsinderBiographieletztlich aufgehoben werden auf der Ebene eines komplexen, aber kohärenten und konsistenten Phänomens: der Persönlichkeit Nietzsches. Bertrams Betonung der Integration des Disparaten zeigt zugleich sein Bewusstsein von dem Bedrohlichen der Fragmentierung an, die dem Anekdotischen inhärent ist – eine Bedrohung, die später für den New Historicism zum Versprechen einer lustvollen Destabilisierung durch die ausfransende, unzähmbare Anekdote wird. Bertrams biographische Erzählung war explizit gegen die Gefahr der Fragmentierung gerichtet. Er zitiert Nietzsches Kommentar zur Dekadenz, welcher sich von Paul Bourget herleiten lässt:91 Das Wort wird souverän und springt aus dem Satz hinaus, der Satz greift über und verdunkelt den Sinn der Seite, die Seite gewinnt Leben auf Unkosten des Ganzen – das Ganze ist kein Ganzes mehr.92

In der Dekadenz ist Ganzheit nicht mehr möglich. Sie ist somit das Gegenteil der ganzheitlich legendenhaften Präsenz, die Bertrams Text anstrebt. Gegen die Bedrohung durch das emanzipierte Fragment setzt Bertram den „Kultus des erhöhten Augenblicks“,93 aus dem man auf den Sinn des Einzellebens schließen kann. Bertrams Auffassung der Legende als Wiedergabe oder Weitergabe der Persönlichkeit – durchaus mit Totalitätsanspruch – kann verstanden werden als Versuch, eine Frage zu beantworten, die die Biographie immer aufwirft: Kann aus den Teilen, aus Fragmenten, Fakten, Anekdoten und Dokumenten ein Ganzes gemacht werden, das irgendwie den Anspruch erheben könnte, das Leben des biographischen Objekts zu repräsentieren? In seiner Nietzsche-Biographie versucht Bertram, die positivistische, faktographische Geschichtsschreibung durch die Legende, verstanden als lebendige Begegnung und produktive Übermittlung, zu ersetzen. Das Insistieren darauf, dass Biographie durch die selbstbildhafte Charakteristik anderer zur verschleierten Autobiographie wird, relativiert die Hierarchie von Objekt, BiographIn und LeserIn. Bertrams biographisches Modell ist 91 Paul Bourget: „Charles Baudelaire“. In: ders.: Essais de psychologie contemporaine. Paris 1883, S. 3 – 32, hier S. 25: „Un style de décadence est celui où l’unité du livre se décompose pour laisser la place à l’indépendance de la page, où la page se décompose pour laisser la place à l’indépendance de la phrase, et la phrase pour laisser la place à l’indépendance du mot.“ 92 Bertram: Nietzsche, S. 231. 93 Ebd., S. 230.

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gekennzeichnet von der produktiven Spannung zwischen zwei nebeneinander existierenden Diskursen: Auf der einen Seite der Diskurs über Größe qua Verehrung, auf der anderen Seite die Erkenntnis des Selbst im Anderen, die Selbsterkenntnis, die zugleich Voraussetzung und Ergebnis der Begegnung mit dem Anderen ist. Liest man Bertrams Nietzsche-Biographie in Verbindung mit Carlyles On Heroes als Teil eines breiteren Diskurses über Größe, so zeigen sich dessen Vielschichtigkeit und Widersprüchlichkeit. Das Interesse an einem Heldenkanon ist weder bei Carlyle noch bei Bertram reduzierbar auf die Etablierung von Elite. Dieser Anspruch ist zwar durchaus präsent und spiegelt bei Bertram die aristokratischen Werte des George-Kults wider, die pädagogische Dimension des Heldendiskurses eröffnet allerdings die Möglichkeit zu alternativen und kritischen Lesarten. Die beabsichtigte Konstellation Held (biographisches Objekt) – Vermittler (Biograph) – Schüler (Leser) ist entsprechend der wechselnden historischen und kulturellen Position des Lesers/der Leserin Veränderungen und Neuordnungen unterworfen. Allein ein Bewusstsein für Gender-Fragen schafft eine kritische Distanz zum Heldenkanon und seinem Anspruch auf universelle und zeitlose Gültigkeit, der schon auf Grund seiner traditionell exklusiv männlichen Prägung nicht haltbar ist. Die gendersensibilisierte Leserin sieht sich in der Konfrontation mit einem männlichen Kanon dazu gezwungen, nach einer anderen Bedeutungsebene des Textes zu suchen, und diese findet sie in der wechselseitigen Beziehung zwischen dem Eigenen und dem Anderen, wie sie in Bertrams biographischem Konzept postuliert wird und schon in Carlyles Theorie des Heroischen präsent ist. Die komplexe kommunikative Situation eines biographischen Textes mit seinen Strategien der Aufforderung zur Identifikation enthält das Potential, das auf den Vorstellungen von Größe und Bewunderung beruhende hierarchische Modell zu destabilisieren. Der Diskurs der Heldenverehrung ist allerdings nicht nur von rein historischem Interesse, ist kein neuromantischer Rückfall, der in der proto-faschistischen Ideologie des GeorgeKreises wurzelt und für die gegenwärtige biographische Praxis bedeutungslos ist. Ganz im Gegenteil, ist doch eine kritische Auseinandersetzung mit dem Kanon des Heroischen von zentraler Bedeutung, um zu verstehen, in welcher Weise die Vorstellungen von Größe, die als Frage nach Rang und Bedeutung im kulturellen Leben aktualisiert wieder aufleben, nach wie vor die Produktion und Rezeption von Biographien steuern. bersetzung: Hannes Schweiger

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Freuds ,Leben‘ Schrebers Andrew Webber Dieser Aufsatz beschäftigt sich mit einem Grenzfall biographischen Schreibens. Während die Biographie auf der grundsätzlichen Idee eines bei allen Widersprüchlichkeiten organischen und geeinten Selbst als Objekt beruht, lässt sich das schizoide Subjekt mit seinen multiplen Persönlichkeiten und der Erfahrung des auseinanderfallenden Selbst in dieses narrative Modell schwer einordnen. Aufgrund seiner zwanghaften Beschäftigung mit der alternativen Realität der psychischen Vorstellung stellt das Leben des Psychotikers eine tiefgreifende Herausforderung hinsichtlich der Verlässlichkeit seiner Wahrnehmung, und dessen, wie er sich in der Welt begreift, dar. Im Fall von Paranoia ist es die Wahnvorstellung, dass sich die Welt gegen das Selbst und seine Integrität verschworen hat. Es ist ein Verfolgungswahn, der auch die psychiatrischen Institutionen und Maßnahmen zur Therapie und Kontrolle der Paranoia einschließen kann. Im Folgenden soll auf die wohl bekannteste Lebensgeschichte eines Paranoikers eingegangen werden, die von Daniel Paul Schreber, wie sie von Sigmund Freud dargestellt wird. Freuds Fallstudie „Psychoanalytische Bemerkungen über einen autobiographisch beschriebenen Fall von Paranoia (Dementia Paranoides)“ als eine Biographie zu lesen, ist zweifellos gewissermaßen Lektüre „gegen den Strich“, und unterscheidet sich damit von den anderen Aufsätzen in diesem Band. Abgesehen davon, dass der Paranoiker keinen einheitlichen Gegenstand für eine Biographie darstellt, beschreibt diese Fallstudie ihren Gegenstand keinesfalls so detailliert, wie es von der Biographie als Gattung erwartet wird. Sie präsentiert vielmehr in einer rein schematischen Form und mit nur geringem Forschungsaufwand das, was den Lebenslauf Schrebers selbst betrifft, und stützt sich dabei lediglich auf einen groben und unscharfen biographischen Entwurf.1 Was 1

Freud beklagt sich darüber, dass er sich auf eine „schattenhafte Skizzierung des infantilen Materials“ (S. 293) stützen muss. – Alle Verweise in Klammer zu Freuds Schreber-Aufsatz beziehen sich auf folgende Ausgabe: Sigmund Freud: „Psychoanalytische Bemerkungen über einen autobiographisch beschriebenen Fall von Paranoia (Dementia Paranoides)“. In: Freud Gesammelte Werke, Bd. VIII. Unter Mitwirkung v. Marie Bonaparte, Prinzessin Georg von Griechenland. Hg. v. Anna Freud u. a. Frankfurt/M. 1964, S. 239 – 320.

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uns über Schrebers Krankheitsschübe hinaus präsentiert wird, ist dürftig: Er ist Richter und ein gescheiterter Kandidat für den Reichstag, verheiratet aber kinderlos, der Sohn eines berühmten Vaters, ein Kenner der Künste und über die politischen Ereignisse informiert, ein leidenschaftlicher Pianist. Davon abgesehen mangelt es Freuds Bericht an jeglicher Detailkenntnis der Vorgeschichte und der näheren Lebensumstände seines biographischen Gegenstands, die Prämisse für eine biographische Abhandlung wäre (S. 243). Freud betreibt seine Studie des Falls Schreber losgelöst vom tatsächlichen Leben seines Gegenstands. Als Quelle nutzt er eine Art Autobiographie Schrebers, die ihm zum Ersatz für „die persönliche Bekanntschaft mit dem Kranken“ (S. 240) wird. Freuds Begründung diesbezüglich ist folgende: Beim Paranoiker zeige sich ein ausgeprägter Widerstand gegen den persönlichen Austausch in der ärztlichen Praxis, und daher sei der schriftliche Bericht mindestens ebenso geeignet, die unbewusste Wahrheit über dessen Persönlichkeit offenzulegen, wie dies die persönliche Kommunikation erlauben würde. Was nun Freuds exemplarische Behandlung von Paranoia zeitigt, ist als ein Grenzfall zu betrachten: Es kommt zu einer Verlagerung der Behandlung weg vom Subjekt und hin zum Narrativ seiner persönlichen Geschichte. Die analytische Behandlung verschiebt so ihren Schwerpunkt von der therapeutischen zur literarisch-kritischen Methode, indem die Krankengeschichte und nicht der Patient selbst zu ihrem Hauptgegenstand wird (S. 317). Damit ist sie den notwendigerweise virtuellen Behandlungen bedeutender Persönlichkeiten wie Leonardo Da Vinci oder Johann Wolfgang von Goethe verwandt, die auf deren künstlerisches und biographisches Vermächtnis begründet sind. Wenn die Analyse des Paranoikers durch dessen fundamentalen Widerstand gegenüber der Übertragungsdynamik auf der Couch (die Bühne der projizierten Identifikationen und Gegen-Identifikationen zwischen Patient und Analytiker) eingeschränkt ist, so stellt sich die Frage, ob und wie Übertragung in einem Fall, der einen Text behandelt, funktioniert. Diese Frage mit darüber hinaus weisenden Folgen für das biographische Projekt im Allgemeinen bildet den Hauptfokus der hier vorgelegten Überlegungen. Schrebers Autobiographie, die die Basis von Freuds Studie darstellt, ist in sich ambivalent sowohl in Bezug auf ihre gattungsmäßige Bestimmung als auch in Bezug auf ihr Subjekt. Schrebers Denkw rdigkeiten eines Nervenkranken sind ins Englische als Memoirs of my Nervous Illness übersetzt. Dies weist darauf hin, dass Schrebers Text einen retrospektiven Bericht persönlicher Erfahrungen im Stil von Memoiren darstellt, und dass es sich bei den dargestellten Erfahrungen in erster Linie um die der psychischen Er-

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krankung handelt. Der ausgeklügelte Titel, den Freud übernimmt, weist darauf hin, dass es sich eher um einen autobiographisch erzählten Bericht einer Krankheit handelt, als um einen umfassenden Lebensbericht seines Autors. Als Leser von Schrebers Text mangelt es Freud an fundamentalen biographischen Informationen, die es ihm ermöglichen würden, seine analytischen Schlussfolgerungen über die Krankheit tiefer zu untermauern. Dieser Grenzfall biographischen Schreibens wirft Fragen bezüglich der Identifikation des Patienten als Nervenkranken mit seiner Krankheit auf, sowohl was ihn selbst betrifft, als auch in Bezug auf die Art und Weise, wie er von anderen mit seiner Krankheit betrachtet wird. Das Kompositum „Nervenkranker“ entzieht sich einer einfachen Übersetzung ins Englische. Dies ist zweifellos der Grund, warum die Übersetzer von Schrebers Text im Titel nicht den Patienten sondern seine Nervenkrankheit zum Gegenstand der Memoiren gemacht haben.2 Tatsächlich ist es auch die Krankheit, die Schrebers Erfahrungen zu dominieren beginnt, die ihn zu einem Fall für Institutionen der Psychiatrie und Rechtssprechung werden lässt, die ihm seine Stellung als autonomer Staatsbürger und als Senatspräsident des Oberlandesgerichts Dresden entzieht und ihn zum Pflegefall werden lässt. Bevor er zum Objekt psychoanalytischer Beobachtung wird, wird er zu einem medizinischen und juristischen Fall und muss seine Identität als ehrbarer Bürger vor diesen Institutionen und deren Argumentationen verteidigen. Samuel Weber weist darauf hin, dass in Freuds stellvertretender Behandlung Schrebers mit Hilfe des „autobiographischen Texts“ dieser den Status eines psychoanalytischen Klassikers erhält: „he became the Schreber case“.3 Damit erfährt das Leben von Schreber das, was Colin MacCabe als „afterlife“ bezeichnet, und zwar eines, dessen „power might have surprised even the megalomaniac Schreber.“4 Schreber ist in diesem Sinn ein paradigmatischer Fall dafür, wie eine an sich alltägliche Gestalt durch seine in exemplarischer Form dargestellte psychische Krankheit für den Fallhistoriker – und speziell für den Meister dieses Genres, für Sigmund Freud – zum Objekt biographischen Interesses werden kann. Durch seine paranoide Fantasie wird Schreber so mit dem Leben und Nachleben solch 2 3 4

Daniel Paul Schreber: Memoirs of My Nervous Illness. Übers. v. Ida Macalpine u. Richard A. Hunter. Cambridge, MA, London 1988. Samuel M. Weber: „Introduction to the 1988 Edition“. Übers. v. Benjamin Gregg. In: Schreber: Memoirs of My Nervous Illness, S. vii-liv, hier S. xii. Colin MacCabe: „Introduction“. In: Sigmund Freud: The Schreber Case. Übers. v. Andrew Webber. Harmondsworth 2002, S. vi-xxii, hier S. xii.

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großer Persönlichkeiten und fesselnder Gegenstände für Biographen wie Goethe und Bismarck (S. 256) assoziiert, zu denen Freud noch „den großen Napoleon“ hinzufügt (S. 294). Schrebers Nachleben als der „Fall“ Schreber lässt ihn tatsächlich zu einer Berühmtheit werden. Wenn es Schrebers erklärte Absicht gewesen war, ein bedeutendes Studienobjekt zu werden, so ist dies tatsächlich gelungen. Freuds Bericht über den Fall hat eine ganze Reihe nachfolgender Studien ausgelöst, die zum Teil den Schlussfolgerungen Freuds verpflichtet sind, aber diese zum Teil auch korrigieren. Der Einzelfall Schreber ist so zu einer vielschichtigen Fallsammlung geworden, mit konkurrierenden Versionen der Geschichte des Mannes und seiner Krankheit, die psychoanalytischer oder auch antipsychoanalytischer,5 theoretischer oder biographischer Art sind. Der Status als Fall bedeutet immer eine Art Konstruktion des Gegenstands, die dann per definitionem auch eine Reduktion ist. Revisionistische Biographen Schrebers nach Freud haben versucht, das wieder gut zu machen, was sie als Ungerechtigkeit ansehen, die der historischen Figur Schreber in ihrer Stilisierung zum psychoanalytischen Fall widerfahren ist und ihn dabei ungerechtfertigter Weise zu Freuds Schreber hat werden lassen.6 Sogar Zvi Lothane, der in seiner Studie In Defense of Schreber der psychoanalytischen Methode durchaus positiv gegenübersteht, argumentiert, dass Freuds psychodynamische Lesart von Schreber sich essentiell mit folgendem beschäftigt: „explaining the pathology rather than understanding the person“.7 Wenn nun die klassische Biographie darauf ausgerichtet ist, ihren Gegenstand in bestmöglicher Annäherung zu repräsentieren, die Gesamtheit der Persönlichkeit und ihrer persönlichen Erfahrung zu evozieren, so bietet der Fall Schreber seinerseits die Möglichkeit, perspektivisch Tiefgründiges eines bestimmten Teils der Persönlichkeit und seiner persönlichen Erfahrung zu erreichen, freilich unter Verzicht auf ein allgemeineres Bild, welches nur kurz umrissen werden 5

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Die wichtigsten und einflussreichsten Neudeutungen des Falls Schreber sind auf der Seite der strukturellen Psychoanalyse die von Lacan, und auf der Seite der AntiPsychoanalyse und Anti-Biographie die von Deleuze and Guattari. Vgl.: Jacques Lacan: Das Seminar. Buch 3: Die Psychosen. Hg. v. Jacques-Alain Miller, übers. v. Michael Turnheim. Weinheim, Berlin 1997; Gilles Deleuze u. Félix Guattari: Anti- dipus. Kapitalismus und Schizophrenie I. Übers. v. Bernd Schwibs. Frankfurt/ M. 1974. Vgl. Gerhard Busse: Schreber, Freud und die Suche nach dem Vater. ber die realit tsschaffende Kraft einer wissenschaftlichen Hypothese. Frankfurt/M. 1991. Zvi Lothane: In Defense of Schreber. Soul Murder and Psychiatry. Hillsdale, NJ, London 1992, S. 330.

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kann. Eine solche Annäherung beschäftigt sich mit ihrem Gegenstand als „Fall“ – und das trifft auf besondere Weise auf einen Text wie den des Schreber-Aufsatzes zu, der darauf abzielt, Grundlagenforschung zu bieten und zum Verständnis eines Zustandes, den er untersucht, beizutragen. Es geht also um ein abstrahiertes, übertragbares Beispiel allgemeingültiger Bedingungen. Im Schreber-Text wird dies besonders deutlich, wenn Freud die Logik der homosexuellen Fantasie abstrahiert, die er als Kern der Paranoia betrachtet, und sie zu einer Sequenz elementarer Aussagen über die widersprüchlichen Beziehungen zwischen Subjekt und Objekt im paranoiden Zustand (S. 299 – 302) reduziert. In diesem Sinn ist Freuds Fallbeispiel ein Metatext. Er schließt an Schrebers autobiographisch beschriebenen Fall von Paranoia an, und weist den Leser der Fallstudie auf den Originaltext zurück. Freud gibt zu, dass dieser nur selektiv zitiert wird, er ihn aber dennoch in der Darstellung seiner Hauptaussage reflektiert. C. Barry Chabot spricht in diesem Zusammenhang von „Freud’s seminal essay, still so central to psychiatry’s understanding of paranoia, both sends us to Memoirs and forever mediates the volume to us.“8 Chabots eigene Studie, Freud on Schreber. Psychoanalytic Theory and the Critical Act, kann als Versuch verstanden werden, den theoretisch motivierten kritischen Akt der Reduktion des Analysierten durch den Analytiker offenzulegen: die „Überschreibung“ seines Lebens zu einer Fallstudie. Im Gegenzug stellt sich hier die fundamentale Frage zum grundlegenden Verhältnis zwischen Psychoanalyse und Biographie. Psychoanalyse beschäftigt sich dicht mit biographischer Erkundung und Interpretation, aber sie ist auch an bestimmte prädisponierte Modelle von Lebenserfahrung gebunden, besonders der exemplarischen Lebensgeschichte des Ödipus. Es gibt eine starke Spannung zwischen der uneingeschränkten Offenlegung von bestimmten Gegebenheiten im Leben eines Subjekts; den Wahrheiten, über die das Subjekt nur auf der Stufe des Unbewussten verfügen konnte auf der einen Seite, und dem Glauben an universale Modelle menschlicher Entwicklung auf der anderen Seite. Modelle, die darauf angelegt sind, jede Biographie im Vorhinein festzulegen. Aufgrund dieses Spannungsverhältnisses hat die Psychoanalyse heftig Kritik erfahren, die darauf abzielt, dass die biographische Methode der Psychoanalyse eine fundamental induktive ist. Der Fall Schreber bildet dabei keine Ausnahme. Die therapeutische Emanzipation des Selbst von den Zwängen der psychischen Erkrankung, die die Psychoanalyse zu 8

C. Barry Chabot: Freud on Schreber. Psychoanalytic Theory and the Critical Act. Amherst 1982, S. 9.

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leisten prätendiert, kann zur Auferlegung einer anderen Form von Zwang werden. Die psychoanalytische Methode befindet sich immer in einem ambivalenten Spannungsfeld zwischen der diagnostischen Abhängigkeit des Subjekts von seiner Krankheit und dem Versprechen der therapeutischen Behandlung dieser Erkrankung und der Entlassung des Patienten in eine neue Form von Lebensgeschichte. Mit Hilfe des Ödipus-Modells wird eine determinierte Struktur eines mythischen Subjekts nahegelegt und von den differentiellen Strukturen persönlicher und kollektiver Geschichte abstrahiert. Gerade auf der ödipalen Grundlage vollzieht das psychoanalytische Verständnis von Biographie sowohl in ontogenetischer wie phylogenetischer Hinsicht eine ausgesprochen intensive Variante jener Logik, die besagt, dass das Kind der Vater des Mannes sei. Für die Psychoanalyse ist die Krankheit des erwachsenen Subjekts immer schon angelegt bzw. anwesend in dem, was man in erweiterter Form die Urszenen der Kindheit nennen mag: Momente ihrer Entstehung, die durch die Logik der „Nachträglichkeit“ erst dann voll realisiert werden, wenn sie nach der Begebenheit durch spätere Erfahrungen aktiviert werden. Es ist ein Modell von Erfahrung, das zuerst durch die frühkindliche Entwicklung vorgegeben ist und dann gewissermaßen durch die apr s coup-Effekte des späteren Lebens festgeschrieben wird – ein Modell, das so die Biographie nur zu leicht in die Form eines geschlossenen Kreislaufs sperrt. Allerdings kann die Psychoanalyse durch die kritische Interpretation des jeweiligen Vollzugs des mythischen Modells auch die Freiheit für das Subjekt gewähren, dass Lebensgeschichte so konstruiert wird, dass sie nicht mehr einfach auf ihren standardisierten geometrischen Rahmen reduziert werden kann: den um das ödipale Dreieck gespannten Lebenskreis. Wie zu zeigen sein wird, ist die Spannung zwischen diesen Modellen in Freuds Fall Schreber allgegenwärtig und macht ihn damit zu einem paradigmatischen Fall für die mehrdeutigen Beziehungen zwischen Psychoanalyse und Biographie.

Schreber über Schreber Bevor wir uns der, auf Vermutungen beruhenden, Schreber-Biographie Freuds zuwenden, sollten wir mit dem Quelltext beginnen, von dem sie ausgeht, und den Freud am Ende seines Essays nicht nur als autobiographisch beschriebenen Fall von Paranoia, sondern auch als Autobiographie tout court klassifiziert. In der „Schreberschen Selbstbiographie“ (S. 317) wird der Dialektik von Identifikation und Distanzierung, der Modulation

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zwischen Subjekt- und Objekt-Positionen, die jegliches autobiographisches Schreiben charakterisieren, besonders emphatisch Raum gegeben.9 Der Autor, der nach Notizen vorgeht, die er selbst gemacht hatte, um den Fortschritt seiner Krankheit aufzuzeichnen, konstruiert sich selbst als einen Fall von Interesse für Medizin und Recht. Auf diese Weise schreibt auch er etwas, das Freud später eine Fallgeschichte nennen kann. Es ist eine Fallgeschichte, in welcher der Autor (mehr Doktor der Rechte denn der Medizin) und der Patient ein und derselbe sind, ein Pendant also zu den selbstanalytischen Bestandteilen in Freuds eigenem Projekt. Während Lothane nahelegt, dass Schrebers Memoiren formal in erster Linie als „stream of consciousness, an interior monologue“10 angelegt seien, so ist es passender, sie als sekundäre Bearbeitung einer solchen Form zu sehen, welche sich der Verfahren bedient, die der Richter Schreber in seiner eigenen juristischen Ausbildung erlernt hat, aber auch anderer Formen des offiziellen und wissenschaftlichen Diskurses (so zitiert er etwa die psychologischen Theorien Kraepelins). Seine Erfahrungsberichte verpflichten sich den genrespezifischen Tugenden der „unverbr chlichen Wahrheitsliebe“ und der „mehr als gewçhnlichen Sch rfe der Beobachtungsgabe“.11 Diese Qualitäten, die gerade für die Biographie als solche unabdingbar sind, sind allerdings auch unüblichen Herausforderungen bei der vorliegenden Art von Biographie unterworfen: dem unsicheren Verhältnis von psychischen zu objektivierbaren Wahrheiten und Lücken im Wissen des Subjekts was die Beobachtung eigener Erfahrungen betrifft. Schreber ist schließlich als ein unter schwerer Hypochondrie Leidender diagnostiziert – nicht gerade eine sehr verlässliche Basis für einen persönlichen Krankheitsbericht. Sein Text ist für ein spezialisiertes professionelles Publikum geschrieben, und ist darauf aus, die Fähigkeit des Autors in der Welt weiterzuleben, unter Beweis zu stellen, und das Fehlurteil, das ihm widerfahren sei, aufzuzeigen, und zudem noch darauf, dass seine außergewöhnliche Erfahrung – wie auch der Körper, mit dem er diese Erfahrung gemacht hatte – zum Studienobjekt von Theologie, Psychologie, Pathologie und anderen Disziplinen werden soll. Immer wieder muss er al-

9 Lothane argumentiert, dass Schreber mit der Aufgabe „to tell the story of his life“, sich zweier Weisen bedient, die dieser Einstellung entsprechen: des „ordinary realism“ und des „magical realism“. Lothane: In Defense of Schreber, S. 9. 10 Ebd., S. 52. 11 Daniel Paul Schreber: Denkw rdigkeiten eines Nervenkranken. Hg. v. Peter Heiligenthal u. Reinhard Volk. Frankfurt/M. 1985, S. 169 f.

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lerdings die Grenzen experimenteller Erkenntnis, und die Lücken seiner systematischen Begründungsstruktur eingestehen. Der Pathos des Texts entspringt der Disjunktion zwischen den Anforderungen der schriftstellerischen Disziplin und der Hemmungslosigkeit des stream of consciousness, der nicht nur die formale Repräsentation übersteigt, sondern wiederholt auch die allgemeinen Regeln sozialer Zurückhaltung. Die Autobiographie ist ein Genre, das kontinuierlich Fragen des persönlichen Schamgefühls aufwirft: Wie viel soll sie in angemessener Form von ihrem Subjekt zeigen bzw. von ihm behaupten? Im Fall von Schreber werden Aspekte der autobiographischen Angemessenheit an die Grenze getrieben. Schrebers Text zeigt unvermittelt, was konventioneller Weise privat bleiben sollte, und stellt exorbitante Ansprüche, was den Status seines Subjekts betrifft, nämlich den Anspruch, die außergewöhnlichste Persönlichkeit, die je gelebt hat, zu repräsentieren (S. 249). Wenn die Autobiographie definitionsgemäß ihren Fokus auf das Selbst richtet, so ist in diesem Fall, wie der Autor selbst erkennt, die zur Schau gestellte Egozentrik unmäßig, um nicht zu sagen absolut. In seiner Behauptung, das einzige Objekt göttlichen Interesses zu sein, wird Schreber „der Mensch schlechthin oder der einzige Mensch“,12 und damit auch ein fesselnder Fall für die Autobiographie, ja sogar der Fall schlechthin. In dem Bestreben, die Wahrheit über seinen Fall festzuschreiben und dabei die Grenzen des Wissens und dessen was als wahr gedacht werden kann, zu erweitern, fordert Schreber auch Konventionen des Schamgefühls heraus, dessen also, was als angemessen erachtet wird. Das kann etwa in der intimen physischen Beschreibung seiner Transformation zu einer Frau gesehen werden, seinem alter ego, welche die Stimmen mokant Miß Schreber nennen (S. 252), wie es in den Memoiren aus einem seiner eigenen Berichte gegenüber der Führung der Anstalt, in der er sich aufhalten muss, zitiert wird. Die Ungehemmtheit solcher Beschreibungen der Physis steht unter der metaphysischen Lizenz Schrebers, des Mystikers der letzten Tage, und im Dienste der wissenschaftlichen Erkenntnis für Schreber, des Wissenschaftlers in der Tradition der Aufklärung: Dass ich mit der vorstehenden Darlegung neben meinen persönlichen zugleich ernste wissenschaftliche Interessen verfolge, wird die Kgl. Anstaltsdirektion nicht verkennen wollen; ich hoffe also auch gegen die Auffassung sichergestellt zu sein, daß ich mit der Aufdeckung der betreffenden, nach meiner Auffassung mit übersinnlichen Dingen zusammenhängenden Ver12 Ebd., S. 180.

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hältnisse irgend Etwas zur Sprache gebracht hätte, dessen ich mich als Mann zu schämen hätte.13

Schrebers Denkw rdigkeiten zeigen sich – zumindest vor der Zensur – ohne Scham darin, dass sie Konventionen der Darstellbarkeit herausfordern; sie machen Dinge denkbar oder „denkwürdig“, die üblicherweise nicht gedacht werden oder für undenkbar gehalten werden, sei es aus intellektuellen, sei es aus ethischen Gründen. Die Übernahme femininer Libido durch ein männliches Subjekt mit einer radikalen Verunsicherung von Gender-Grenzen ist ein solch „undenkbarer“ Gegenstand; die Katalogisierung körperlicher Absonderungen und Ausscheidungen ein anderer. Die erfolgreiche oder nicht erfolgreiche Ausführung von Toilettengängen oder Orgasmen, von Erfahrungen des täglichen Lebens also, die üblicherweise als unsagbar erachtet werden, sind dem selben Druck ausgesetzt, wie die transsexuelle Fantasie, nämlich als nicht denkw rdig zu gelten. Es handelt sich um Erfahrungen, die zum einen als zu gewöhnlich betrachtet werden, als dass sie Gegenstand biographischen Interesses sein könnten (so gewöhnlich, wie die Transformierung in eine Frau ungewöhnlich ist) und zum anderen unter intensiver sozialer Unterdrückung stehen, die deren Darstellung verunmöglicht und so eine alltägliche Aktivität in ihrer Repräsentation in einem biographischen Text außergewöhnlich erscheinen lässt. Wie die Transformation zu einer Frau, und das damit einhergehende Transvestitentum, so werden diese Bereiche aufgrund ihres Bezugs zum metaphysischen Leben Schrebers als denkwürdig dargestellt, als ein Produkt der „Verwunderung“, welcher er unterworfen ist. Dasselbe kann über diverse Ausrutscher und Fehltritte menschlichen Verhaltens gesagt werden, über zahlreiche Fehlleistungen, die im täglichen Leben vorkommen. Auch diese werden hier eher metaphysisch verortet denn als zufällig betrachtet und werden daher als „denkwürdig“ peinlich genau offengelegt. Das System der Wunder stellt eine Verbindung zwischen dem Leben des Körpers in all seinen Aspekten und dem des Verstandes her, und zwar durch das psychosomatische Verhältnis der Nerven in Nähe zur, respektive in ihrer Mitarbeit an der göttlichen Ordnung. Die jämmerlichen oder auch nur rein zufälligen Details körperlicher Erfahrungen sind dem Denkzwang,14 welcher Schrebers Zustand und seinen Bericht charakterisieren, unterworfen. Die Memoiren oszillieren so zwischen dem, was denkwürdig sein mag, und dem, was sich außerhalb der 13 Ebd., S. 191. 14 Ebd., S. 118.

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Autonomie des freien Subjekts in die Gedanken einschleicht. Das Denksystem und seine verschiedenen Kategorien sind mit denen der (falschen) Darstellung und dem heteronomen Aufschreiben verbunden, also mit Schrebers Vorstellung, dass er sowohl der Darstellung seines Verhaltens unterworfen ist, als auch der Annahme, dass diese von Repräsentanten des göttlichen Regimes geschrieben wird.15 Diese Gesetzmäßigkeiten der Repräsentation haben ihre eigenen linguistischen und gestischen Grammatiken, welche dem distinkten Idiom einer „Grundsprache“ folgen, so wie sie von den „göttlichen Strahlen“, welche Schreber quälen, eingesetzt werden. Parallel zu dieser linguistischen Ordnung gibt es aber auch eine piktorale Ordnung: das Zeichnen des Körpers und verschiedener vorgeschriebener Bewegungen und Gesten.16 Schrebers autobiographischer Text und sein schriftliches Festhalten von Visionen und Erfahrungen müssen als Antwort bzw. als Repräsentation zweiter Ordnung jener Regime von Repräsentation verstanden werden, die unablässig den Körper wie den Verstand trainieren und kontrollieren. Wenn diese Regime als dem wahren Charakter menschlicher Erfahrung abträglich betrachtet werden, da sie das Subjekt unweigerlich falsch repräsentieren, so übersteigen sie auch die Fähigkeiten zur Darstellung. Das sogenannte Aufschreibesystem kann immer nur teilweise aufgeschrieben werden.17 Es kann als ein infernaler biographischer Apparat verstanden werden, der eine monströse Lebensaufzeichnung produziert, totalitär in der Registrierung jedes beliebigen Details aus dem Leben des Subjekts. Nicht umsonst übersteigt Schrebers Fantasie des totalen Informationssystems das rein menschliche, indem es auch Kommunikationstechnologien wie das Telefon einbezieht.18 Wie Friedrich Kittler zeigt, partizipiert sie an der Psychophysik der gängigen Medientechnologien.19 So lesen sich die Memoiren auch als Science Fiction und können als ein Text gesehen 15 Zur Logik des „Aufschreibens“ als mechanisches Aufzeichnen von Schrebers Aktivitäten und Lebensumständen, bzw. des „Darstellens“ als dem Ausgeliefertsein falscher Repräsentationen, vgl. ebd., S. 90 f. „Darstellen“ wird in erster Linie als falsches Zeugnis verstanden, wenn es darum geht, Schreber des Seelenmordes zu bezichtigen, vom dem er freilich glaubt, selbst Opfer zu sein. (Vgl. ebd., S. 22). 16 Das eindrücklichste Beispiel dafür ist die Zeichnung der weiblichen Version des Hinterteils Schrebers, wenn er sich vornüberbeugt. 17 Ebd., S. 94. 18 Vgl. ebd., S. 217. 19 Friedrich Kittler: Aufschreibesysteme. 1800 – 1900. Neuauflage. München 1995. Vgl. auch: Wolfgang Hagen: Radio Schreber. Der „moderne Spiritismus“ und die Sprache der Medien. Weimar 2001.

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werden, der die zukünftigen Maschinerien der Überwachung und Datensammlung vorhergesehen hat. Wie etliche Interpreten dargelegt haben, legen die Regime der Determinierung des Selbst, die in den Memoiren wirksam sind, eine Verbindung mit zeitgenössischen orthopädischen und hygienischen Systemen häuslicher Erziehung für Jugendliche nahe, vor allem mit denen, welche von Schrebers Vater, Daniel Gottlob Moritz Schreber, entwickelt worden sind. Schrebers Fantasien von persönlicher Entwicklung unter der multimedialen Nötigung seines disziplinierenden Systems stellt eine Alptraum-Version des modernen Subjekts dar, als eines, das von Systemen zur Besserung von Technik, Sorgfalt und Effizienz des Verhaltens beherrscht ist, also jener Systeme, für die Moritz Schreber so etwas wie einen Pionier darstellt. Schreber der Jüngere, der nun seinen erwachsenen Körper und Geist erneut vom Regime des physio- und psychotechnischen Trainings seines Vaters heimgesucht findet, erscheint in diesem Licht als paradigmatisches Opfer, aber auch als Rebell gegen die disziplinierenden Anforderungen der Diskurse und Technologien der Moderne. Wenn er, der Richter, dem Gesetz unterworfen und entmündigt wird, so wird er auch zu einem Repräsentanten des Zustandes der Unterwerfung unter das Kräftefeld, das Michel Foucault das biopolitische nennt, der Organisation des menschlichen Lebens durch die disziplinierende Kontrolle von Körperfunktionen. Die Biographie Schrebers ist auch ein Dokument der Biopolitik. An ihrer Grenze mag sie auch eine Beziehung zu einer anderen biopolitischen Fantasie mit weit schwerwiegenderen und tatsächlichen historischen Implikationen aufweisen: der des Nationalsozialismus. Das wird in Canettis Interpretation von Schrebers Text vorgeschlagen, der ihn als individuelle Fantasie über die Kontrolle der Massen parallel zu Hitlers Mein Kampf sieht, und dann in Eric Santners Interpretation von Schrebers paranoider Biographie als eine der Moderne in ihrer extremen deutschen Form.20

Freud über Schreber Wenn der Fall Schreber tatsächlich als der eines Beamten, verstrickt im disziplinierenden Diskurs der Moderne, verstanden werden soll, von jemandem der die Kontrolle über dieses diskursive System verloren hat und 20 Vgl. Elias Canetti: Masse und Macht. Hamburg 1960; Eric Santner: My Own Private Germany. Daniel Paul Schreber’s Secret History of Modernity. Princeton, NJ 1996.

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in einer grotesken Form dessen Opfer geworden ist – wie sollen wir dann Freuds Intervention in diesem Fall verstehen? Das ist eine Variation jener Frage, die in Bezug auf die Psychoanalyse häufig gestellt wird. Ist diese ein progressiver Gegen-Diskurs, der Raum für Emanzipation vom Zwang vorherrschender Regime der Determinierung des Subjekts schafft? Oder macht sie in letzter Konsequenz sogar gemeinsame Sache mit der Arbeit der Unterwerfung? Ist die Disziplin der Psychoanalyse, um Karl Kraus berühmtes Diktum zu verwenden, jene Geisteskrankheit, für deren Therapie sie sich hält? In welcher Weise wird Schreber dem Vater der Psychoanalyse und dessen System in der biographischen Behandlung unterworfen? Ferner, wenn Schreber seinen Arzt Flechsig des Auftrags „Seelenmord“ durch hypnotische Kontrolle bezichtigen kann,21 inwieweit setzt Freud, der ehemalige Hypnotiseur, den Prozess der Manipulation des Subjekts fort, wenn auch aus Distanz und mit anderen Mitteln? Wie steht es mit der biographischen Gerechtigkeit, der Lebenswahrheit des Freud’schen Schreber? Und bis zu welchem Ausmaß kann Freuds Fall Schreber auch als biographisches Dokument seines Autors verstanden werden, das heißt, wie sieht es mit der Beziehung zwischen der Übertragung zwischen Freuds Schreber und dem, was man Schrebers Freud nennen könnte, aus und wie wirkt sich dieses Konstrukt auf das berufliche und persönliche Leben des Autors aus? Freuds Fall Schreber integriert ausgiebig und wortwörtlich Zitate aus Schrebers eigenem Bericht in den Denkw rdigkeiten und den Gutachten seiner Ärzte. Wiewohl er mit der Einschränkung beginnt, dass die Psychoanalyse ihre therapeutischen Erfolge bei Neurosen nicht auf die von Psychosen erweitern kann, setzt er den Aufsatz damit fort, dass die Behandlung der Paranoia nach den bekannten Modellen der Untersuchung von Neurosen vorgenommen wird, beziehungsweise entlang des Königswegs zum Unbewussten, nämlich der Traumdeutung (S. 273). Wie außergewöhnlich und vermeintlich unzugänglich die Paranoia und ihr Fantasieleben auch sein mag, Freud betont ihre Verbindung und Übersetzbarkeit in das alltägliche Leben der Seele (S. 269). Der außerordentliche Fall des Richters Schreber stimmt für ihn mit dem Standardmodell des zerrütteten Verhältnisses mit dem Vater überein – er gesteht sogar die „Eintönigkeit“ dieser Interpretation. (S. 290). An der Wurzel von Schrebers Psychopathologie findet er die unterdrückte homosexuelle Bindung an den Vater, die auf Gott und seinen weltlichen Repräsentanten, den Psychiater Flechsig, projiziert wird. 21 Vgl. Schreber: Denkw rdigkeiten, S. 7.

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Während die symptomatische Form von Schrebers Erkrankung einem standardisierten Modell biographischer Fantasie des paranoiden Subjekts folgt – dem heroischen Modell des messianischen Opfers – besteht Freud darauf, dass es sich hierbei um eine solche der zweiten Ordnung handelt, okuliert auf die primäre Struktur der Entmannung und, solchermaßen vorbereitet, die Form der homosexuellen Unterwerfung unter die Wünsche von Gott-Vater. Er liest die Denkw rdigkeiten als eine Version des klassischen psychoanalytischen Bio-Narrativs des Ödipus-Modells, geordnet nach den Wünschen des Vaters und des assoziierten Traumas der Kastration. Wenn Schreber die katastrophale Unfähigkeit Gottes, sich in Beziehung zu den Lebenden und nicht nur zu Leichen zu setzen, als den „roter Faden“ seiner Lebensgeschichte ansieht (S. 258), so findet Freud seine Linie narrativer Konsistenz in der ödipalen Biographik, die der messianischen Fantasie Schrebers zugrunde läge. Schrebers roter Faden bindet in einem biographischen Pakt das Leben an den Tod, als ginge es darum, das inhärente Lebensnarrativ posthum zu leisten. Freud hingegen knüpft das Leben der Psyche, auch in ihrer akut paranoiden Form, an familiäre Strukturen unter dem väterlichen Gesetz. Indem der Fall Schreber an dem Prinzip der Paternalität im Sinne des Ödipus festgemacht wird, schreibt Freud den kinderlosen Paranoiden und dessen homosexuelle Fantasien der genetischen Struktur der Psychoanalyse ein. Das dient auch zur Abwehr des potentiellen Vorwurfs, er würde sich einer sterilen Beschäftigung zwischen Männern in seiner Behandlung Schrebers hingeben: „sonst wären wir mit unseren Erläuterungen zu Schrebers Wahn in die lächerliche Rolle geraten, die Kant in dem berühmten Gleichnis der Kritik der reinen Vernunft als die des Mannes beschreibt, der das Sieb unterhält, während ein anderer den Bock melkt.“ (S. 268). Das von Kant übernommene Bild wird zur grotesken Karikatur: Durch seine Interpretation des Falls Schreber als eines homosexuell motivierten Falles wäre er selbst bei einem homosexuellen Akt ertappt worden, mit dem Band der Übertragung zwischen Arzt und Patient als Kanal homoerotischer Begierde. Ob Freud nun auf einer gewissen Ebene auch von Schrebers Gedankengang gefesselt ist, ist eine andere Frage. Mehr als einmal bezieht er sich auf die Übereinstimmung zwischen Schrebers System und seinem eigenen, etwa wenn er das dynamische Modell der Nerven und Strahlen (wobei er die „Samenfäden“ miteinbezieht) mit seinem libidinösen System vergleicht (S. 315). Und dieser Vergleich scheint auch den Todescharakter von Schrebers rotem Faden mit einzubeziehen. Die Konvergenz von Eros und Tod, die im Schlüsselbegriff „selig“ in Schrebers „Grundsprache“ enthalten ist, weist bereits auf das dialektische Model von Eros und Tod hin,

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das Freud erst später entwickeln sollte, so dass dabei die zwanghaften Rhythmen des Todestriebes als Fundament der Lebenskraft jeglicher biographischer Struktur etabliert werden.22 Vielleicht ist es nur passend, dass Freud sich nicht sicher ist, ob Schreber zum Zeitpunkt der Veröffentlichung seiner Fallstudie noch am Leben ist (S. 241). Wenn er im Vorwort einen Mann anspricht, der bereits tot sein könnte, so erhält die Abwesenheit des Gegenstands einen eindringlich „unheimlichen“ Effekt. Während Freud seinen biographischen Essay zur Publikation vorbereitete, zählte Schreber tatsächlich gleichsam zu den lebenden Toten: Er siechte in einem Irrenhaus, in den letzen Zügen liegend, dahin. Wenn Freud appelliert, Schreber möge seinen Zugang zu dem Fall respektieren, dahingehend nämlich, dass er die „Identität“ zwischen der aktuellen Person und derjenigen, die zur Zeit der Niederschrift der Denkw rdigkeiten beschrieben wird, aufrechtbehält (S. 241), so kann er nicht wissen, wie verzweifelt ident Schreber am Ende seiner Biographie mit dem gequälten, essentiell nicht-identischen Schreber der Fallstudie ist. Das letzte Kapitel der Schreber-Biographie weist auf eine allgemeinere Frage biographischen Schreibens hin, dass Schreiben nämlich eine Art Besetzung des biographischen Gegenstands durch den Autor ist oder vielleicht auch die Besessenheit des Autors mit seinem Gegenstand.23 Es besteht eine schattenähnliche Beziehung zwischen Freud als dem Biographen und Schreber als dem Autobiographen seiner Krankheit. Freuds Bericht über Schreber wird zu einer Art Ghostwriting, wenn Textpassagen der Denkw rdigkeiten in der ersten Person sich mit indirekten Versuchen, dem abwesenden Subjekt eine Stimme zu geben, mischen. Freud bedient sich der ambivalent intimeren erlebten Rede. Im Kontext psychoanalytischer Behandlung nehmen die Kommunikationslinien und die projizierte Identifikation zwischen Biograph und Subjekt die Form der 22 Freud notiert seine Faszination zu der widersprüchlichen Aufladung des Begriffs „selig“ in einer Fußnote: „Es kann aber auch nicht ohne Sinn sein, daß unsere Sprache dasselbe Wort für so verschiedene Situationen verwendet.“ (Freud: „Psychoanalytische Bemerkungen“, S. 264). „Selig“ ist für ihn das Beispiel eines Wortes, in dem sich Alltagssprache und Schrebers „Grundsprache“, die Freud als Idiom des Unbewussten ansieht, einander annähern. 23 Beschäftigung ist hier im Sinne dessen, was Freud „Besetzung“ nennt, zu verstehen. Wenn Schreber die Toilette – einen besonderen Ort der libidinösen Beschäftigung oder Besetzung für ihn – „besetzt“ (Freud: „Psychoanalytische Bemerkungen“, S. 260) vorfindet, so lässt sich das auch dahingehend verstehen, dass dies zusätzliche Resonanz der „Grundsprache“ birgt. Freuds Beschäftigung mit Schreber ist ständig der Gefahr ausgesetzt, dass er in ähnlicher Weise von seinen eigenen Beschäftigungen ausgeschlossen wird.

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Übertragung an. Diese Struktur identifiziert Freud in Schrebers Beziehung zu Flechsig (S. 282), und es ist zugleich eine, die er selber inne hat, durch Flechsig als Mittler und in der klassischen Form des Arztes als Ersatzvater. Freuds Befriedigung, Schrebers Vater als Mediziner identifiziert und damit das perfekte Model einer paternalen Übertragung für Schreber gefunden zu haben, ist im Text mit einer seiner distinkten rhetorischen Signaturen gekennzeichnet, in dem er nämlich den Fund durch einen Gedankenstrich effektvoll verzögert: „ein – Arzt“ (S. 287).24 Seine eigene Beteiligung in der Verbundenheit, der Übertragung zwischen Medizinern ist hier mit Händen zu greifen. Der syntaktische Effekt wird in der aufgeladenen Diskussion des Schreber-Texts mit Carl Jung zweimal verwendet, wenn er seinen Kollegen mit Hilfe des Falls des gemeinsamen „Freundes“ umwirbt,25 den jedoch keiner der beiden tatsächlich kennt (und wenn Freud Schrebers Vornamen verwendet, verwechselt er dessen Namen auch prompt mit Paul Daniel). Am 1. Oktober 1910 schreibt Freud an Jung: „Zum Glück für die Psychiatrie war dieser Vater auch – Arzt.“26 Und in einem Brief am 31. desselben Monats wiederholt er diesen offenbarenden Gestus, um den Anspruch, dass der Kastrationskomplex die dem Fall zu Grunde liegende psycho-biographische Struktur sei, zu dramatisieren: „Der Kastrationskomplex ist überevident. Vergessen Sie nicht, daß der Vater Schreber – Arzt war. Als solcher hat er Wunder getan, gewundert.“27 Wiewohl Freud hier nicht explizit darauf hinweist, so lässt sich in Übereinstimmung mit Samuel Weber sagen, dass der „Verwunderungs“-Diskurs im Fall Schreber auch den der „Verwundung“ miteinschließt,28 und dass die Doktor-Vater-Figur, während sie ihre Wunder vollbringt, immer auch dem Vorwurf ausgesetzt ist, zu verwunden. Wie die Konvergenz von Eros und Tod in „selig“, so verdichtet dieser andere Schlüsselbegriff in Schrebers „Grundsprache“ einen positiven Begriff mit seinem negativen, unbewussten Gegenteil. In der Jung-Korrespondenz zum Fall Schreber ist Freuds Neigung, sich nicht nur mit der Position des Doktors als Vater, sondern auch mit dem 24 Es ist verlockend, die Verwendung des Gedankenstrichs bei Freud hier und auch sonst piktographisch mit dem Faden als Verbindungslinie zwischen getrennten Figuren im Text in Zusammenhang zu bringen. 25 Vgl. Sigmund Freud: Brief an C. G. Jung, v. 31.10.1910. In: Sigmund Freud – C. G. Jung. Briefwechsel. Hg. v. William McGuire u. Wolfgang Sauerländer. Frankfurt/ M. 1974, S. 407. 26 Ebd., S. 395. 27 Ebd., S. 407 f. 28 Vgl. Weber: „Introduction to the 1988 edition“, S. xlviii.

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Sohn zu identifizieren, evident. Dem liegt einerseits die Kooptation des Sohns als Doktor (hier nicht der der Jurisprudenz, sondern der psychiatrischen Medizin) zu Grunde. Schrebers „Grundsprache“ wird als Enthüllung betrachtet, die die linguistischen Mechanismen des Unbewussten in einer treffenden Form offenlegen, und damit eine konzeptuelle Terminologie, die Freud für sein eigenes Projekt zu übernehmen überlegt.29 Freud erkennt in Schrebers Bericht seines eigenen Falls gar die Qualifikationen eines potentiellen Kollegen, indem er eine mutmaßliche Biographie für „den wunderbaren Schreber, den man zum Professor der Psychiatrie und Anstaltsdirektor hätte machen sollen“ projiziert.30 Und die Identifikation mittels Übertragung von Freuds Seite aus, oder die Antwort der Gegen-Übertragung mit Hilfe des identifikatorischen Reizes, den er von Schrebers Text empfängt, beinhaltet auch die charakteristische Ambivalenz von Übertragung als solche. Sowohl im Essay selbst (S. 315), als auch in der Jung-Korrespondenz,31 drückt Freud seine Besorgnis darüber aus, den Ursprung der Theorie der Paranoia für sich zu reklamieren, so, als ob dem mutmaßlichen Kollegen Schreber Anerkennung für die theoretische Vorarbeit zu erstatten wäre. Man muss nicht ausdrücklich erwähnen, dass ein psychotischer Patient eine höchst unsichere Basis für eine Übertragungs-Identifikation darstellt. Freud erkennt das selbst, indem er zweimal das Hamlet-Zitat, das Schreber in seinem Text verwendet, wiederholt,32 und dabei die Frage stellt, ob im Wahnsinn seines Systems nicht Methode steckte (S. 254 u. 315).33 Es ist ein rekurrentes Element in Freuds Fallstudien, solche Identifikationen zu projizieren, etwa im Fall des kleinen Hans: Nämlich, in ihm einen wegweisenden analytischen Forscher zu sehen. Im Fall von Schreber ist diese Methode durch die Schwere des Wahnsinns belastet. Wenn Schreber so dargestellt wird, als würde dieser seinen Fall so konstruieren, als wäre er den Vorurteilen der Psychoanalyse gegenüber ein Komplize (S. 264), so wird

29 Sigmund Freud: Brief an C. G. Jung, v. 1.10.1910. In: Sigmund Freud – C. G. Jung. Briefwechsel, S. 396. 30 Ebd., Brief v. 22. 4. 1910, S. 343. „Wunderbar“ evoziert hier den Diskurs von „Verwunderung“. 31 Ebd., Brief v. 1. 10. 1910, S. 396. 32 Schreber: Denkw rdigkeiten, S. 60. 33 Vgl. für eine Diskussion der Verschränkung dieser Zitate: Carolin Duttlinger: „Madness and Method. Freud, Paranoia and the Performativity of the Cure“. In: Field Studies. German Language, Media and Culture. Hg. v. Holger Briel u. Carol Fehringer. Oxford, Bern 2005, S. 157 – 175.

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die Identifikation mit einem System, dass so voll von inflationärer Fantasie und dissoziativen Kräften ist, ohne Zweifel gefährlich. In Briefen an Jung und Ferenczi, die Freud während seiner Arbeit am Schreber-Fall schreibt, drückt er eine Art von Eingenommenheit von dem aktuellen Fall aus, was Ilse Grubich-Simitis als ein typisches Muster seiner frühen Karriere ansieht. Wenn er während seiner Arbeit an der Traumdeutung „ganz Traum“ war – ein Text mit beträchtlichem autobiographischem Anteil – so ist er 1910 ganz und gar Schreber. Am 3. Dezember dieses Jahres schreibt er an Ferenczi: „Ich bin nämlich sonst Schreber, nichts als Schreber“.34 Wie Flaubert in seiner fiktionalen Biographie von Madame Bovary so über-identifiziert sich auch Freud mit seinem biographischen Gegenstand. In einem Brief an Jung, am selben Tag geschrieben, findet sich dieselbe hyperbolische Form der Übertragung: „Ich bin ganz Schreber“.35 Im Kontext der Korrespondenz mit Jung, der Freud auf Schreber aufmerksam gemacht hatte und selbst im Begriff war, über ihn zu schreiben, kann das auch als eine Art „Besetzung“ des Gegenstandes gelesen werden, nämlich um Konkurrenz zu unterbinden. Das lässt sich auch aus einem späteren Brief herauslesen, in dem Freud Jung ankündigt, ihm „seinen“ Schreber anzuvertrauen: „Mein Schreber ist fertig […] Das Ganze lege ich dann in Ihre Hände.“36 Diese scheinbare Abgeschlossenheit wird allerdings durch die beunruhigenden Implikationen der Identifikation mit seinem Gegenstand konterkariert. Ein Hauptmerkmal von Schrebers eigenem Bericht ist dessen Unfähigkeit, in Menschen, die in seiner Biographie vorkommen, mehr zu erkennen als „flüchtig hingemachte Männer“ (S. 305), und Freuds „totaler“ Schreber ist auch durch eine solch radikale Reduktion personaler Identität belastet. Indem Freud sich die Schreberismen der „Grundsprache“ zu eigen macht – oder diese von ihm Besitz ergreifen – sieht er den Fall, metonymisch gleichgesetzt mit seinem Gegenstand, als eine provisorische Abstraktion: „Der Schreber ist formell unausgebildet, wirklich nur fl chtig hingemacht“.37 In Freuds Schreber ist die Totalität analytischer Interpretation und Repräsentation nur eine Fantasie, die vom vorliegenden Fall gewissermaßen karikiert wird. Paranoia ist ein Zustand, der die Projektion von 34 Vgl. Ilse Grubich Simitis: Zur ck zu Freuds Texten. Stumme Dokumente sprechen machen. Frankfurt/M. 1993, S. 114. 35 Sigmund Freud: Brief v. 3.12.1910. In: Sigmund Freud – C. G. Jung: Briefwechsel, S. 417. 36 Ebd., Brief v. 18. 12. 1910, S. 419. 37 Ebd., S. 419 f. Hervorhebung vom Verfasser.

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Totalität (das Subjekt als eine kosmische Person – „der Mensch schlechthin“) mit den schwerwiegenden Auswirkungen der Persönlichkeitsspaltung und Fragmentierung kombiniert. Entsprechend kann der Diskurs des totalen Seins (Freud als „ganz Schreber“) nicht Bestand haben und wird von einem Diskurs verschiedener Teilaspekte, die letztgültig zusammenpassen mögen oder auch nicht, abgelöst. Der Schreber-Text wird seinen Platz inmitten „anderer Stücke der Paranoiaspekulation“38 finden müssen, ein „Bruchstück“ auf dem Weg in Richtung einer ganzheitlichen Zusammenschau (S. 316). Dieser Diskurs des Fragments kann als Nachahmung von Goethes berühmtem Diktum in Dichtung und Wahrheit gesehen werden, nämlich dass seine Werke „Bruchstücke einer großen Konfession“ seien (und Teile dieser Werke sind tatsächlich in den Fall Schreber intertextuell eingeflossen).39 Der spekulative Charakter von Freuds „Bruchstücken“ freilich, besonders hinsichtlich des Grenzfalls Paranoia, unterminiert die Integrität seines Bekenntnis-Projekts. Die paranoide Struktur stellt ein Spiegelbild für das psychoanalytische Projekt bereit, welches die Synthese eines Systems sucht, aber genau nach dem Prinzip der Analyse konfiguriert ist, einer Aufsplittung in Teile also, die unabhängig voneinander funktionieren können. Dies ist der Doppelcharakter von Freuds eigenem Projekt, aber auch die der Gruppendynamik der gesamten psychoanalytischen Bewegung (und die Korrespondenz mit Jung über den Fall Schreber dokumentiert dies). Freud schreibt den Schreber-Aufsatz zu einer Zeit, als er sein eigenes Bewusstsein persönlicher Identität in Frage gestellt sieht, wie in einem Brief an Ferenczi vom 2. Oktober 1910 dokumentiert ist: Ihr Brief hat mich daran gemahnt, daß ich derselbe bin, der in Syrakus Papyrus gepflückt, sich in Neapel mit dem Bahnpersonal herumgerauft und in Rom Antiquitäten eingekauft hat. Die Identität ist wiederhergestellt. Es ist merkwürdig, wie leicht man der Neigung zu Isolierung von Persönlichkeitsbildungen nachgibt.40

38 Ebd., S. 417. Eine Diskussion des performativen Diskurses von „Stück“ im Fall Schreber findet sich in Freuds späterem Aufsatz „Konstruktionen in der Analyse“. Vgl. Duttlinger: „Madness and Method“. 39 Johann Wolfgang von Goethe: „Aus meinem Leben. Dichtung und Wahrheit“. In: Goethe S mtliche Werke, Briefe, Tageb cher und Gespr che, Bd. I. 14. Hg. v. Klaus Detlef Müller. Frankfurt/M. 1986, S. 310. Freud analysiert ein solches Bekenntnis-Fragment in seinem Aufsatz „Eine Kindheitserinnerung aus ,Dichtung und Wahrheit‘“. 40 Sigmund Freud: Briefe. 1873 – 1939. Frankfurt/M. 1960, S. 281.

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Schrebers Biographie steht in relationaler Verbindung mit Freuds eigenem und dem gesamten Projekt der Psychoanalyse, die niemals gänzlich von ihrem Begründer bestimmt wurde und stets der Ungewissheit und Isolation unterworfen ist. Psychoanalyse als potentielles Objekt der Biographie ist noch nicht begründet, ihre Forschung noch im Stadium der „Jugend und Vereinzelung“, und auf der Suche nach Orientierung „in dem Gewirre der dunkleren seelischen Vorgänge“ (S. 311). Wenn Schreber einen roten Faden projiziert, der die fragmentierten Erfahrungen zusammenhält, und Freuds Psycho-Biographie nach einem ähnlichen roten Faden in der labyrinthischen Verstrickung „der dunkleren seelischen Vorgänge“ sucht, dann teilt sich das narratologische Paradigma letztlich in einzelne Fragmente. Darum bietet sich für Freud in seiner Spekulation über die mögliche biographische Grundlage von Schrebers Fantasie des „Seelenmordes“ nur „ein einziger Faden“ (S. 279) an – das Inzest-Thema aus einer der projektiven Parallelbiographien in Schrebers Text, Byrons Manfred – das aber letztlich auch nicht weiter führt: „Hier reißt der kurze Faden wieder ab.“ (S. 280).

Nachtrag Wie wir gesehen haben, weist Freuds Text in Bezug auf Schrebers autobiographischen Bericht unterschiedliche Korrelationen mit dem Original auf. In seinem Vorwort bezieht sich Freud auf Schreber und dessen Appell an Flechsig, in Anbetracht der wissenschaftlichen Bedeutung der Publikation jegliche persönliche Bedenken beiseite zu lassen (S. 241 f.), sodass eine Dreiecksbeziehung zwischen den tatsächlichen und virtuellen Ärzten und dem Patienten etabliert wird. Und die formale Textur von Freuds Fallstudie inkorporiert eine bestimmte imitative Logik, wo Freud kritische Stimmen in seinem Text integriert, wenn auch in einer Form, die rhetorischen Nutzen aus den inszenierten Zurufen zieht (S. 278). Auch am Ende der zwei Texte findet sich ein solch reflexiver Gestus. Schrebers Denkw rdigkeiten sind zwei „Nachtrags“-Sequenzen beigestellt, die nahelegen, dass der Fall nicht adäquat beschrieben ist und der Ergänzung bedarf; und auch Freuds Text bedient sich eines solchen Postskriptums. Wir wollen Freuds eigener Methode folgen und hier die ganze konnotative Breite des Begriffs „Nachtrag“ ausschöpfen: dieser impliziert nicht nur die neutrale Form der Ergänzung post hoc zu einem Bericht, sondern auch eine Art Kompensation für das, was schuldig geblieben wurde. Es ist ein Supplement im Derrida’schen Sinne, weniger die er-

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gänzende Komplettierung eines Berichts als der Hinweis auf das, was fehlt. Dies nun ist die Bedeutung von Freuds Fokussierung auf die Beziehung der Übertragung zwischen Schreber und Flechsig als einem Schlüssel zu seiner eigenen Interpretation des Falls, verwurzelt in einer typischen Familiendynamik: „Ich werde in dieser Absicht ein Stückchen der Krankengeschichte nachtragen, welches in den Gutachten nicht entsprechend gewürdigt wird“ (S. 272). Eine Bedeutung von Nachtragen ist ja auch das Gefühl eines emotional aufgeladenen Ressentiments, das Gefühl einer erfahrenen Ungerechtigkeit, das nachträglich verhandelt werden muss. „Nachtragen“ kann in diesem Sinn als Gegenstück zu „übertragen“ gesehen werden, als die Übertragung einer affektiven Beteiligung hinein in das analytische Szenario. Es legt einen Mangel im System des Austausches zwischen Analytiker und Analysiertem nahe, das bleibende Gefühl, dass der Sache letztlich keine Gerechtigkeit widerfahren ist. Das Schlüsselprinzip der „Nachträglichkeit“ im Freudschen System, das Prinzip, dass psychische Erfahrungen dazu tendieren, nur durch retroaktive Einflussnahme auf das, was noch kommen wird, voll zum Tragen zu kommen, überträgt sich hier auf die Ordnung des Texts im Fall Schreber. Schreber wird als diesem Prinzip unterworfen gesehen, nicht nur im Verlauf seiner Krankheit (S. 251), sondern auch im Verlauf seiner Niederschrift, indem seine vergangene Erfahrung „während der Niederschrift“ (S. 251) Gestalt annimmt. Die Aufzeichnung der Geschichte des Falls führt dazu, dass dieser in der Retrospektive anders gedacht wird, und bietet damit eine andere biographische Basis für die weitere Arbeit daran an. Freuds „Nachtrag“ zum Fall Schreber beginnt mit dem Eingeständnis eines Mangels. Einmal mehr ist dies in einem immer wiederkehrenden Bild, den „Fäden der Zusammenhänge“ (S. 317), die noch nicht in die Hand genommen worden sind, gefasst. Dies evoziert nicht nur Schrebers „roten Faden“ und Freuds abgerissenen kurzen Faden, sondern auch die psychophysischen Fäden, die Schreber in seiner Erfahrung der transsexuellen Transformation identifiziert, und die „Samenfäden“, die einen Teil seines Nervensystems bilden. Wenn diese neuronalen „Fäden“ in ihrer Verbindung mit den göttlichen Strahlen nun in Wechselbeziehung mit Freuds libidinösem Modell stehen, so beginnt dieser „Nachtrag“ mit etwas, das einer Anerkennung gleichkommt, nämlich dass der Aufsatz eine große Menge an ungebundenem libidinösem Potential bereitstellt. Während er potentielle Fäden anbietet, die produziert worden sind, damit sie andere miteinander in Verbindung bringen können, so versucht sich der „Nachtrag“ an einer solchen in Kompensation für das, was nicht erreicht wurde. Die textuelle Fantasie hier scheint der von Schrebers Nervenfäden

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zu folgen, in der „jeder einzelne Verstandesnerv die gesamte geistige Individualität des Menschen repräsentiert“ (S. 254). Der Faden des Verständnisses mag deshalb hier als repräsentative Verkörperung der biographischen Integrität des Falls verstanden werden. Freud geht hier von der persönlichen Biographie zur kollektiven menschheitlichen Lebensgeschichte über, zur Mythologie und Anthropologie, und entwirft diese in einer Form, die auch für seine eigene Biographie und die der psychoanalytischen Bewegung Implikationen birgt. Er geht Schrebers Beziehung zur Sonne als Vatersymbol nach und verbindet das mit den mythologischen Szenen paternalistischer Prüfungen der Jungen, um so ihre genealogische Legitimierung zu beweisen, vor allem mit Blick auf die Figur des Adlers: „Was der Adler mit seinen Jungen anstellt, ist ein Ordale, eine Abkunftsprobe, wie sie von den verschiedensten Völkern aus alten Zeiten berichtet wird.“ (S. 318). In einer Fußnote wird der „Adler“ mit dem Prinzip des „Adels“ (S. 319) in Verbindung gesetzt, was Schrebers Familienroman aristokratischer Prägung widerspiegelt. Aber das Bild des Vaters, der seine Nachkommen Prüfungen unterzieht, kann allegorisch auch auf den biographischen Status der jungen und isolierten Wissenschaft der Psychoanalyse bezogen werden. Freud wäre in diesem biographischen Szenario freilich der präsumtive „Stammvater“ (S. 319), und im Familienroman der Psychoanalyse würde der Nachkommenschaft Prüfungen auferlegt, um zu sehen, ob sie sich als legitime Nachfolger erweisen. Dass der Vater allerdings den Namen eines der widerspenstigen Söhne, nämlich Adler, tragen soll – einer von dem sich Freud in seinem Aufsatz der disziplinären Distanzierung, was das Argument des maskulinen Protests betrifft, versichert hatte (S. 277) – mag die Art der Besorgnis bezüglich der Legitimität und Originalität reflektieren, die als der institutionelle Kontext des Falls Schreber als einem der Grundlagentexte der psychoanalytischen Bewegung vorgeführt wurde. Falls es gerechtfertigt ist, dass Freud „Adel“ von „Adler“ ableitet, dann könnten wir diesem Hinweis folgen und „Jung“ von „Jungen“ ableiten.41 Wie wir in der Besprechung der Freud-Jung-Korrespondenz gesehen haben, wird Freuds Schreber als Kanal der gemeinsamen Sache zwischen den beiden Proponenten der psychoanalytischen Bewegung vorgeschlagen. Wenn aber der Text als Freuds Geschenk an Jung darstellt wird, so 41 Mein Argument stützt sich hier auf Gespräche mit meinem Studenten Marino Guida, der die Analyse des Falls Schreber in seiner Dissertation weiterentwickelt hat. S. Marino Guida: Producing Kafka. Case Study, Cinema and Theory. Unveröff. Diss., University of Cambridge 2004.

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zeigt sich, wie erinnerlich, in dem Ausdruck „Mein Schreber“ auch der Anspruch des Eigentums und des Vorrechts. Eine Fußnote im „Nachtrag“ weist darauf hin, dass Jung bereits einen Gegen-Anspruch gestellt hatte, und die Fäden, die er in seiner Version von Schreber zusammengefügt hat, weisen auf einen entscheidenden Riss im psychoanalytischen Familienroman hin. Freuds „Nachtrag“ liegt in einer Form vor, die man als darauf angelegt betrachten könnte, diesen Riss wieder zusammenzufädeln, oder vielleicht auch darauf, zu zeigen, dass er sich auch auf dem mythisch-archetypischen Territorium Jungs bewegen und damit jegliches Zerwürfnis wiedergutmachen kann. Im „Nachtrag“ von Freuds Schreber zeigt sich tatsächlich das Bedürfnis nach Kompensation, sowohl hinsichtlich der psycho-biographischen Behandlung von Schreber selbst, als auch hinsichtlich seiner eigenen Übertragungs-Arbeit bezüglich der Herkunfts-, Einfluss-, Spaltungs- und Aggressions-Fantasien des Analysierten. Der „Nachtrag“ beinhaltet politisches Manöver und Verschwörertum, territoriale Rivalität und uneingelöste Schuld – kurz gesagt, den Stoff aus dem die paranoide Fantasie gemacht ist – etwas, was wir den psychoanalytischen „Schreber-Verein“ nennen mögen.42 Auf diese Weise bestätigt der „Nachtrag“, dass der Fall Schreber ein ebenso ambivalentes Dokument der eng miteinander verschlungenen Biographien von Freud und der Bewegung, die er gegründet hat, darstellt, wie eben auch eines zu Schrebers Leben selbst. bersetzung: Eugen Banauch und Wilhelm Hemecker

42 Was hier wie ein weit hergeholtes Bild wirkt, erscheint durchaus passend, da Freud seine psycho-mythische Theorie von Vater-Sonne und Mutter-Erde mit Hilfe einer Gärtner-Fantasie veranschaulicht (Freud: „Psychoanalytische Bemerkungen“, S. 290 f.).

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Novellen wie Krankengeschichten gelesen – Marie Bonaparte: Edgar Poe Eveline List „MB’s ,vagina dentata‘ reicht kaum an ein‘ ,sehcunnt=ären einPhall hinan; (…) weil se bssich iss, (und zwâ gift=bissich)“ Arno Schmidt1

1933 erschien unter dem knappen Titel Edgar Poe 2 in zwei Bänden ein ebenso berühmtes wie selten gelesenes Buch der Psychoanalysegeschichte. Diese wohl bekannteste Arbeit Marie Bonapartes (geb. 1882, Saint-Cloud bei Paris – gest. 1962, Saint Tropez) ist auch vielen Literaturhistorikern vertraut. Sich heute mit ihr zu beschäftigen hat nicht zuletzt den Charakter einer Exkursion in eine inzwischen recht fremd anmutende psychoanalytische Welt, in der mit beachtlicher Kühnheit Grenzen überschritten und Diagnosen gestellt wurden. Etwas von der Euphorie, die die neue Erkenntnis unbewusster Kräfte im menschlichen Verhalten begleitete, wird in der Vehemenz der Interpretationen noch spürbar, und die Verwegenheit mancher Konstruktionen, die Lücken infantiler Amnesie oder auch nur der Quellenlage füllen sollten, atmet etwas von dem Glauben, mit Hilfe der Psychoanalyse eine Lebensgeschichte tatsächlich erklären zu können. Über Marie Bonaparte bemerkte die Historikerin und Biographin der französischen Psychoanalyse Elisabeth Roudinesco kritisch: […] überdenkt man ihren Lebensweg, blickt man verwirrt auf ihre missratene Schriftstellerei. Um es unumwunden zu sagen: das Werk der großen französischen Dame der Psychoanalyse ist von einer Dürftigkeit, die in seltsamem Kontrast zur Bedeutung ihrer Person steht. Marie ist gleichsam eine Romanheldin, die zu zeichnen es der Feder eines Dumas, Balzac oder Flaubert bedurft hätte, nicht der ihren […].3 1 2 3

Arno Schmidt: Zettels Traum. Frankfurt/M. 1986, S. 984. Marie Bonaparte: Edgar Poe. tude psychoanalytique. Paris 1933. Elisabeth Roudinesco: Wien-Paris. Die Geschichte der Psychoanalyse in Frankreich. Weinheim 1994, S. 290.

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Zweifellos hat die Vita der Urgroßnichte Napoléons als Prinzessin von Griechenland zwischen europäischem Hochadel und internationalem Jetset, als unermüdliche Förderin der Psychoanalyse und verdiente Retterin der Familie Freud vor dem NS-Regime oder auch als Kämpferin gegen die Todesstrafe eine kaum zu überbietende, durchaus romantische Dramatik. Soll sie aber Maßstab ihrer schriftstellerischen Leistungen sein? Es mag schon stimmen, dass viele ihrer Aufsätze psychoanalytisch wenig originell und literarisch keine Kunstwerke sind, aber es gibt auch Witziges, wie „L’Homme et son dentiste“4 und die originelle und sorgfältig durchdachte Arbeit „Le Cas de Madame Lefèbvre“5 über eine Mörderin, die sie im Gefängnis besucht hatte. Arbeiten zur psychoanalytischen Anthropologie und Publikationen in vielen anderen Bereichen dienten, nicht nur in Frankreich, vor allem der Verbreitung der Psychoanalyse. Manche sind stilistisch durchaus gelungen, wenngleich mitunter die rigoros gesetzten Deutungen heute oft ästhetisch und sachlich nicht stichhaltig erscheinen. Die umfangreiche Biographie über den amerikanischen Dichter Edgar Allen Poe war genau genommen Marie Bonapartes erste große psychoanalytische Arbeit, die persönlichen und gesellschaftlichen Interessen entgegenkam. „Es hat“, bestätigte Sigmund Freud in einem kleinen Vorwort zu dem Buch, „einen besonderen Reiz, die Gesetze des menschlichen Seelenlebens an hervorragenden Individuen zu studieren.“6 Die Werke Edgar Allan Poes hatten unter Lesern, Kritikern und Literaturwissenschaftern stets für Aufgeregtheit und Kontroversen gesorgt, und seine phantastische Fähigkeit und imaginative Kraft rief manchen Psychologen auf den Plan, um Werk und Wirkung zu entschlüsseln. Dabei, so könnte man sagen, habe sich auch in Umkehrung des Freud’schen Aperçu, dass Krankengeschichten, die er schreibe, „wie Novellen zu lesen sei-

4 5 6

Marie Bonaparte: „L’ Homme et son dentiste“. In: Revue FranÅaise de Psychoanalyse VI (1933), S. 84 – 86. Marie Bonaparte: „Le Cas de Madame Lefèbvre“. In: Revue FranÅaise de Psychoanalyse I (1927), S. 149 – 198. Sigmund Freud: ,,Vorwort zu Marie Bonaparte, Edgar Poe. Étude psychoanalytique“ (1933). In: Gesammelte Werke in 18 B nden mit einem Nachtragsband. Unter Mitwirkung v. Marie Bonaparte, Prinzessin Georg v. Griechenland. Hg. v. Anna Freud u. a., Bd. XVI. Frankfurt/M. 1960, S. 276. Nach dieser Ausgabe wird im folgenden unter der Sigle GW mit Band- und Kapitelangabe in römischen und Seitenangabe in arabischen Ziffern zitiert.

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en“7,eine Praxis abgezeichnet, die den Anspruch stellte, dass literarische Werke wie Krankengeschichten gelesen werden könnten.8 Dies blieb nicht auf enge psychoanalytische Kreise beschränkt, sondern fand oft gerade unter Literaturwissenschaftern, die in vielen Ländern der Welt die Psychoanalyse schon früh und oft am interessiertesten aufnahmen, reges Interesse. So untersuchte auch der amerikanische Schriftsteller und Kritiker Joseph Wood Krutch in einer psychologischen Studie, die auf die Studie Marie Bonapartes von erheblichem Einfluss gewesen sein dürfte, das „Genie“ Poe. Er fand dessen Texte idiosynkratisch, ja voller Spuren schwerer Neurose, und vermutete in der Lebensgeschichte des Autors den einzig möglichen Zugang zu ihrem Geheimnis. Die Geschichten sah er als erfundene Kunstwelten mit „accurate description of various neurotic states concerning which it is difficult to believe that Poe could have learned otherwise than by experience.“9 In kompensatorischen Strebungen angesichts sozialer Deklassierung und im sexuellen Unvermögen vermutete der Autor bei Poe die Ursache einer Flucht in die Literatur. Immerhin attestierte er: […] there are, it is true, many in whom his voice sets hidden chords in vibration, many whose answering response comes from secret, half unrecognized sources, who become suddenly aware of faint memories of or dimly recognized potentialities for the emotions to which he gives utterance;10

Krutch findet den Grund dafür durchaus in Poes genialer literarischer Ausdrucksfähigkeit, die er freilich nur im Licht seiner neurotischen Zerrüttung gelten lässt: His gift, then, is the gift of expression, but even as such the gift is limited in the things expressed almost exclusively to his own emotions and the deductions which his elaborately rationalizing mind can make from them. To a neuro-

7 Josef Breuer u. Sigmund Freud: „Studien über Hysterie“ (1895). GW, Bd. I, S. 75 – 312, hier S. 227. 8 Einen gänzlich anderen Zugang zu Poes Werk fand Jacques Lacan in: Jacques Lacan: „Der entwendete Brief“. In: Das Seminar von Jacques Lacan, Buch II (1954 – 1955). Das Ich in der Theorie Freuds und die Technik der Psychoanalyse. Freiburg im Breisgau 1980, S. 243 – 261. 9 Joseph Wood Krutch: Edgar Allen Poe. A Study in Genius. New York 1926; oder David S. Werman: „Edgar Allen Poe, James Ensor, and the Psychology of Revenge“. In: The Annual of Psychoanalysis 21 (1993), S. 301 – 314. 10 Krutch: Edgar Allen Poe, S. 200.

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tically deranged temperament is superadded, paradoxically, a power of clear arrangement which constitutes him a genius.11

Der alte Topos des verrückten Genies ist zweifellos kein elaborierter Erklärungszusammenhang, weshalb ihn Krutch später zumindest relativierte: The question whether or not the case of Poe represents an exaggerated example of the process by which all creation is performed is at least an open question. The extent to which all imaginative works are the result of the unfulfilled desires which spring from either idiosyncratic or universally human maladjustments to life is only beginning to be investigated, and with it is linked the related question of the extent to which all critical principles are at bottom the systematized and rationalized expression of instinctive tastes which are conditioned by causes often unknown to those whom they affect.12

Ein missing link bestand, wie auch Krutch richtig bemerkte, in der noch unentdeckten Beziehung von Psychologie und Ästhetik. Dafür hat er sich aber, wie dann auch die meisten Analytiker, noch nicht wirklich interessiert, sodass eben nicht die Beziehung zwischen Dichtung und Leser im Zentrum der Aufmerksamkeit stand, sondern lieber über das Verhältnis Dichtung und Autor spekuliert wurde, etwa über Poes „abnormal condition“. Aus diesem Grund mochte Krutch dem Werk nur geringe literarische Bedeutung beimessen und wunderte sich mithin über Poes großen Einfluss, vor allem auf die französische Literatur, wenngleich er anerkennen musste: „If one turns one’s eyes toward Europe it becomes immediately evident that Poe passed on to Conan Doyle the detective story and to Jules Verne the idea of the pseudo-scientific romance.“13 Joseph Krutch war kein Psychoanalytiker wie Sigmund Freuds Schülerin Marie Bonaparte, gleichwohl wurde seine Arbeit für sie weitgehend richtungsweisend. In ihrer breit angelegten Biographie teilte sie im Großen und Ganzen Krutchs Urteil über Poe, dessen „abnormal condition“ sie mit Hilfe psychoanalytischer Konzepte erhellen wollte, nicht zuletzt indem sie sich bemühte, deren Spuren wie Symptome in allen Werken nachzuweisen. Die psychoanalytische Literaturinterpretation steckte noch in den Kinderschuhen. Maßgeblich war Sigmund Freuds Maxime, das literarische Werk sei vor allem ein Weg zur Psyche des Künstlers, wobei ihm Kenntnis seiner persönlichen infantilen Sexualität als notwendige Grundlage galt. 11 Ebd., S. 201. 12 Ebd., S. 234 f. 13 Ebd., S. 206.

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Freud als Biograph Lebensgeschichtliche Forschung war ein genuines Interesse der Psychoanalyse, nicht zuletzt weil man dabei eine Verwandtschaft zur psychoanalytischen Kur sah. Sigmund Freud verfasste einige biographische Arbeiten, und schon früh wurden etliche Psychoanalytiker zu Autoren sehr unterschiedlicher Biographien,14 sodass lange Zeit etwa psychoanalytische Historiographie überhaupt mit Biographik gleichgesetzt wurde. Prinzipiell sind natürlich psychologische Fragen in der Biographik von großer Bedeutung aber eben auch besonders schwierig, wodurch die Erwartungen an analytische Zugänge oft besonders hoch waren und nicht selten entsprechend enttäuscht wurden. Die Erkenntnis, dass Träume, Alltagshandlungen, Gedanken, ebenso wie literarische Sublimierungen spezifische Triebschicksale sind, führte zu der unsinnigen Vorstellung, diese wären untereinander gleichzusetzen als direkter Ausdruck der Psyche des Künstlers und als solche ,wie Symptome‘ zu lesen, die Rückschlüsse auf seine ,Neurose‘ zuließen. So entstand die ,wilde‘ Diagnostik als Entsprechung zur „wilden Analyse“.15 Die allgemeine Einsicht in die Bedeutung infantiler Sexualität, in Verdrängung und Neurose führte bei den frühen Psychoanalytikern auf Freuds Spuren nicht selten in eine – wohl auch durch narzisstische Allmachtsvorstellungen genährte – Überschätzung der eigenen Fähigkeiten angesichts einer erst schwach entwickelten Methodik. Wie sahen psychoanalytische Theorie und Deutungsmethodik aus, auf welche neben anderen auch Marie Bonaparte zurückgriff ? Gemäß Freuds Theorie innerpsychischer Dynamik drängen unbewusste, verdrängte Inhalte ständig zum Bewusstsein und es braucht hohen Aufwand, sie unter Kontrolle zu halten und nicht von ihnen überschwemmt zu werden.16 Diesen notwendigen psychischen Aufwand lernt das Kind vor allem im Zuge der Selbstbeschränkungskämpfe des Ödipuskomplexes. Ungelöste Konflikte um kindliche Triebwünsche bilden die Grundlage neurotischer Störungen. Verdrängte Triebstrebungen heften sich auch stets an aktuelle Vorstellungen oder ,Tagesreste‘ und 14 Cremerius führt bis Ende der 30er Jahre fast hundert psychoanalytische biographische Publikationen über Schriftsteller und Dichter an. Johannes Cremerius (Hg.): Neurose und Genialit t. Psychoanalytische Biographien. Frankfurt/M. 1971, S. 275 – 283. 15 Sigmund Freud: „Über ,wilde‘ Psychoanalyse“ (1910). In: GW Bd. VIII, S. 117 – 125. 16 Sigmund Freud: „Die Traumdeutung“. GW Bd. II/III, Kap. VII.

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verschaffen sich so in entstellter Form Zugang zum Bewusstsein, als Phantasien oder Handlungen. Man könnte das den normalen psychischen ,Stoffwechsel‘ nennen, der in permanenter Symbolisierungsarbeit besteht, wodurch Triebenergie in kleinen Mengen verausgabt und die Beziehungen zur Welt und zu anderen Menschen symbolisch aufrechterhalten werden. Vergessen bzw. Verdrängung und Erinnern umfassen komplexe De-Symbolisierungs- und (Re-)Symbolisierungsprozesse, wodurch Erlebtes nicht einfach wieder abgerufen, sondern jeweils neu strukturiert wird. Erinnerung ist ein kreativer Prozess, der Innen und Außen, aber auch Vergangenheit und Gegenwart (und Zukunft) immer wieder neu gestaltet und verbindet. Im Phantasieren restrukturieren die Menschen ihr Vorbewusstes in ständiger Adaption an sich ändernde Umstände, nichts wird einfach reproduziert.17 Freud hatte in „Der Wahn und die Träume in W. Jensens ,Gradiva‘“18, seiner ersten biographischen Studie über einen Künstler, und in „Der Dichter und das Phantasieren“19 erste Grundzüge einer psychoanalytischen Kunsttheorie formuliert. „Jedes spielende Kind benimmt sich wie ein Dichter, indem es sich eine eigene Welt erschafft oder, richtiger gesagt, die Dinge seiner Welt in eine neue, ihm gefällige Ordnung versetzt.“20 Luftschlösser und Tagräume ,spielerisch‘ erfundener Szenen prägen demnach auch das Phantasieleben der Erwachsenen, in dem ehrgeizige oder erotische sexuelle Wunscherfüllungen regieren, als „Korrektur der unbefriedigenden Wirklichkeit“.21 Da die Phantasie dem Luststreben unbewusster Triebregungen folgt, ist sie dem Traum sehr verwandt, unterliegt weniger den Regeln von Raum, Zeit und Logik, auch wenn sie sich an geordnete aktuelle Anlässe heftet. In Neurose und Psychose können Phantasien regelmäßig die Realitätswahrnehmung teilweise oder weitgehend ersetzen, was dann ihren pathologischen Charakter ausmacht. Darüber hinaus regieren diese Residuen kindlichen Luststrebens die intimen Privatwelten der Menschen und nähren kollektive Kulturleistungen. „Wenn unsere Gleichstellung des Dichters mit dem Tagträumer, der 17 Dies war schon in der „Traumdeutung“ enthalten, auch wenn Freud das noch nicht so explizit formuliert hatte, was auch mit einem gewissen medizinischen Fokus zusammenhing. 18 Sigmund Freud: „Der Wahn und die Träume in W. Jensens ,Gradiva‘“ (1907). GW Bd. VII, S. 29 – 125. 19 Sigmund Freud: „Der Dichter und das Phantasieren“ (1908). GW Bd. VII, S. 213 – 223. 20 Ebd., S. 214. 21 Freud (1908): „Der Dichter und das Phantasieren“, S. 216.

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poetischen Schöpfung mit dem Tagtraum, wertvoll werden soll, so muß sie sich vor allem in irgendeiner Art fruchtbar erweisen.“22 Freud erkannte den Wert der Dichtung gerade in der Hilfe, die sie den Menschen bei der ständig nötigen Verarbeitung unbewusster Triebstrebungen leistet und sah ihre Verwandtschaft mit Mythen, die er „Säkularträume“ der jungen Menschheit nannte. Den effektiven kreativen Vorgang im Dichter fasste er ganz analog zur Traumbildung: Ein starkes aktuelles Erlebnis weckt im Dichter die Erinnerung an ein früheres, meist der Kindheit angehöriges Erlebnis auf, von welchem nun der Wunsch ausgeht, der sich in der Dichtung seine Erfüllung schafft; die Dichtung selbst lässt sowohl Elemente des frischen Anlasses als auch der alten Erinnerung erkennen.23

Sie geht über alltägliches Erinnern weit hinaus. Während die intimen Phantasien anderer Menschen uns oft abstoßen oder unberührt lassen, erzeugen die Phantasien der Dichter „hohe, wahrscheinlich aus vielen Quellen zusammenfließende Lust“, darin liege die eigentlich Ars poetica. Zweierlei Mittel dieser Technik können wir erraten: der Dichter mildert den Charakter des egoistischen Tagtraumes durch Abänderungen und Verhüllungen und besticht uns durch rein formalen, d. h. ästhetischen Lustgewinn, den er uns in der Darstellung seiner Phantasien bietet. Man nennt einen solchen Lustgewinn, der uns geboten wird, um mit ihm die Entbindung größerer Lust aus tiefer reichenden psychischen Quellen zu ermöglichen, eine V e r l o c k u n g s p r ä m i e oder eine V o r l u s t. Ich bin der Meinung, dass alle ästhetische Lust, die uns der Dichter verschafft, den Charakter solcher Vorlust trägt, und dass der eigentliche Genuß des Dichtwerks aus der Befreiung von Spannungen in unserer Seele hervorgeht. Vielleicht trägt es sogar zu diesem Erfolg nicht wenig bei, dass uns der Dichter in den Stand setzt, unsere eigenen Phantasien nunmehr ohne jeden Vorwurf und ohne Schämen zu genießen.24

Die Idee der „Verlockungsprämie“ schließt indirekt an energetische Bedingungen an, welche Freud schon bei der ,Witzarbeit‘ konstatiert hatte.25 Ein guter Witz ruft demnach Lust und im Lachen auch spontane sinnliche Befriedigung hervor. Er bedeutet einen Triumph des Unbewussten über die Bürde der Vernunft und die Macht der Verdrängung. Vergleichbares gilt für Humor und Satire, deren sich gerade Edgar Allen Poe so oft bediente. Die „Aufwandsersparnis“ an Abwehr und Befriedigungsaufschub 22 23 24 25

Ebd., S. 221. Ebd. Ebd., S. 223. Sigmund Freud: „Der Witz und seine Beziehung zum Unbewußten“ (1904). GW Bd. VI, S. 153.

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im Zusammenhang mit dem fiktiven Moment der Dichtung, das dem kindlichen Spiel verwandt ist, erlaubt es, sich mit sonst vermiedenen Inhalten zu befassen. Aus der Unwirklichkeit der dichterischen Welt ergeben sich aber sehr wichtige Folgen für die künstlerische Technik, denn vieles, was real nicht Genuß bereiten könnte, kann dies doch im Spiele der Phantasie. Viele an sich eigentlich peinliche Erregungen können für den Hörer und Zuschauer des Dichters zur Quelle der Lust werden.26

Wenn die infantilen Triebstrebungen aus dem Unbewussten sich mit aktuellen unbewussten Strebungen und Tagesresten verbinden, müssen sie im Zuge des Bewusstwerdens von der nun erwachsenen Person vorbewusst verarbeitet und in Form gebracht werden. Darüber hinaus wird bei jedem intentionalen Schreiben stilistisch und dramaturgisch vielfach gezielt überarbeitet, verfremdet und überzeichnet. In eben diesen vorbewussten und bewussten Symbolisierungs- und Formgebungsprozessen besteht die eigentliche Arbeit des Dichters, durch welche sich sein Werk entscheidend von irgendwelchen alltäglichen Phantasieproduktionen unterscheidet. Eine Auseinandersetzung mit den im engen Sinn künstlerischen Kategorien müsste die Analyse der psychodynamischen und unbewusst kommunikativen Prozesse in der Produktion und Rezeption von Literatur einbeziehen, wobei der formalen Dimension konstitutive Bedeutung zukäme.27 Gerade der letzte Aspekt aber wurde sowohl von Freud als auch von den meisten Analytikern und jedenfalls von Marie Bonaparte kaum weiter verfolgt. Der von Freud eigentlich recht eingängig angedeutete Lustgewinn des Lesers ist lange Zeit von psychoanalytischen Literaturanalysen weit weniger berücksichtigt worden als die eher dürftige Erklärung dichterischen Schaffens als Niederschlag infantiler Triebkonflikte. Der komplexe Symbolisierungsprozess im Kunstwerk und die bewusste Arbeit an der Form blieben kaum thematisiert. Stattdessen galt das Werk eines Künstlers weitgehend als Symptom seiner Neurose, die sich aus der infantilen Entwicklung und den diese bestimmenden sexuellen Konflikten ergebe, und die eben über das Werk vom Analytiker-Biographen zu erkennen sei. Demgemäß erschien auch die Kenntnis psychoanalytischer Theorien oft wichtiger als assoziative oder interpretatorische Fähigkeit. 26 Freud: „Der Dichter und das Phantasieren“ (1908), S. 214. 27 Siehe: Eveline List: „Trieb und Form“. In: Form in der Gegenwartskunst. Hg. v. Eveline List u. Martin Strauss. Wien 1999, S. 14 – 36, hier S. 15.

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Diesen Zugang hatte Freud in seiner Studie über Leonardo, die er vorsichtig auch einen „psychoanalytischen Roman“28 nannte, erstmals vorgeführt und so das Genre ,psychoanalytische Biographik‘ wesentlich definiert als ein Feld der Erprobung theoretischer Konzepte, wie ja auch psychoanalytische Behandlungen gerade in der Frühzeit oft den Charakter von Forschungsanalysen hatten und eine strikte Trennung von Forschung und Therapie in der Psychoanalyse überhaupt abgelehnt wird.

Dichtung als versteckte Autobiographik Marie Bonapartes karger Titel Edgar Poe verdeckt einen doppelten Anspruch: das Buch sollte zugleich Biographie und Literaturinterpretation sein, wie im Aufbau deutlich wird.29 Dies rührt an die Besonderheit psychoanalytischer Biographik, an das psychoanalytische Kunstverständnis und an die psychoanalytische Literaturkritik – Themen die noch wenig kontrovers diskutiert worden waren. Bonaparte war ganz an Freud und eigentlich nicht textkritisch orientiert. Sie hat insgesamt durchaus aufwändig recherchiert, hielt sich hinsichtlich der Lebensdaten aber vor allem an die 1926 unter dem Titel Israfel erschienene Biographie von Hervey Allen.30 Der Aufbau ihrer Arbeit ist aussagekräftig bezüglich der dominanten Absicht: Ein erster Teil umfasst eine chronologische Lebensdarstellung Poes, welche bereits die wohl vorab gesetzten „prägenden“ Themen-Komplexe einführt. Diese wurden möglicherweise zum Teil aus Krutchs Arbeit übernommen. Der zweite Teil untergliedert sich in den „Zyklus Mutter“ und den „Zyklus Vater“, in denen die Werke Poes nach eben diesen Themen interpretiert werden, wodurch – was nicht verwundert – die im biographischen Teil diagnostizierten neurotischen Komplexe Bestätigung finden. Dieser zweite Teil ist nach leitenden Motiven gegliedert, die jeweils durch bestimmte Erzählungen charakterisiert werden sollen. Ein vierter, „Poe und die menschliche Seele“ umschriebener Teil umfasst eine implizite biographische Literaturtheorie, großteils als Rekapitulation der psychoanalytischen Theorie formuliert. In 28 Sigmund Freud: „Eine Kindheitserinnerung des Leonardo da Vinci“ (1917). In: GW, Bd. VIII, S. 127 – 211, hier S. 207. 29 Außerdem korrigiert Bonaparte die vertraute Namensführung Edgar Allen Poe um den Familiennamen des Stiefvaters, womit sie hervorhebt, dass es keine Adoption gegeben hat. 30 Hervey Allen: Israfel. The Life and Times of Edgar Allen Poe. New York 1926.

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diesen vierten Teil fügte Bonaparte auch einen Essay über Charles Baudelaire und Edgar Allen Poe ein, in welchem sie eine lebensgeschichtliche Verwandtschaft zwischen den beiden Dichtern behauptete. Kommen wir also zum im engeren Sinn biographischen Teil: Die besonderen Lebensumstände von Poes früher Kindheit, das Schauspielerleben der Eltern, Armut, Geburt einer Schwester, das vermutliche Verschwinden des Vaters, die Krankheit der Mutter, ihr früher Tod als Edgar noch keine drei Jahre alt war, wodurch die beiden Geschwister zu unterschiedlichen Familien in Pflege kamen, waren nicht nur Lebensgeschichte Edgar Poes, sondern für Bonaparte zugleich dominierende Themen seiner späteren Dichtungen: Die unbewußten ,Erinnerungen‘, welche durch die infantile Amnesie zugedeckt werden, lenken entscheidend unser Leben. Und die ätherische Schönheit Elizabeths und das langsam fortschreitende und geheimnisvolle Übel, an dem sie zugrunde ging, wurde später von dem Genie des großgewordenen Sohns unsterblich gemacht in den Gestalten der Berenice, der Morella, der Madeline, Eleonora oder Ligeia. Ohne dass er ihren Ursprung ahnte.31

Die Psychoanalytikerin präsentiert sich hier erstmals als eine ,Wissende‘ und in der Folge stellt sie alle Frauenbeziehungen Poes, wie auch die Frauenfiguren in seinem Werk, als nach dem Vorbild der Liebe zur toten Mutter Elizabeth Poe, zur schwachen verzärtelnden Pflegemutter Frances Allen oder zur Schwester Rosalie bestimmt dar. Die Verse „I could not love except where Death/ Was mingling his with Beauty’s breath …“32 verstand sie als „Ausdruck seiner tiefsten Natur, der nach den frühesten Erinnerungen modelliert“ war, und als elementare unbewusste Liebesbedingung, denn Edgar Poe war ein Psychopath und nicht pervers. Wenn er durch die psychischen Traumen aus seiner Kindheit ein ,Nekrophiler‘ wurde, so ist er ein zu einem Teil ,verdrängter‘, zum anderen ein ,sublimierter‘ Nekrophiler geworden, und das gibt den Schlüssel zu seiner Psychoneurose, zu seinem Charakter, zu seinem Leben, zu seinem Werk.33

So klar scheint das für Marie Bonaparte. Als entscheidende männliche Referenz wird der harte Charakter seines Pflegevaters John Allen gewertet, der eine Adoption verweigerte, Poes Schriftstellerambitionen ablehnte und auf dessen Geiz das Ende von Poes 31 Marie Bonaparte: Edgar Poe. Eine psychoanalytische Studie, Bd. I. Frankfurt/M. 1981, S. 19. 32 Bonaparte: Poe, Bd. I, S. 42. 33 Ebd.

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Universitätsstudium zurückgeführt wird, wenngleich sich damals schon erste Zeichen der Trunksucht zeigten. Dafür dass Poe 1827 beschloss, ziemlich mittellos John Allens Haus zu verlassen, nennt Bonaparte tiefsinnige Motive: Man darf aber auch nicht vergessen, dass ein mächtiger unbewußter Antrieb die Entscheidung Edgars in dieser Nacht bedrängte. Es hatte schon früher einmal jemand das sichere und ehrenhafte väterliche Heim verlassen, um sich in ein Leben von Abenteuern zu stürzen: und das war sein eigener, leiblicher Vater gewesen, David Poe, der für Edgar leider in mehr als einer Beziehung zu dem Urbild geworden, mit dem er sich unbewußt identifizieren sollte. Und ebenso wie David ehemals geflohen war, um dem Lockruf des Theaters zu folgen, so floh Edgar heute auf den Zuruf einer anderen ,Kunst‘; er wusste jedoch gewiß nicht, welchem fernen Gebieter er damit gehorchte. Aber dem Befehl, der aus dem Unbewußten kommt, kann man nicht entgehen.34

Bonaparte beschreibt das Leben des Dichters als eine Abfolge solcher ,Befehle des Unbewußten‘, für die sie weit häufiger in psychoanalytischen Konstruktionen als in biographischen Quellen Evidenz findet. Auch neigt sie zu selbstreferenziellen Argumentationen, wo Vermutungen umgehend zu Grundlagen weit reichender interpretatorischer Konstruktionen werden. Poes Welt erscheint dadurch voll imaginärerer Ebenbilder der kranken oder der toten Mutter und des unverständigen, geizigen Stiefvaters und sie führte Poes Kunst des Schreibens direkt darauf zurück: „So wurde Edgar, der den Tod liebende, bloß vom Sterben inspirierte Dichter, der die Menschen mit furchtbarem Zauber zugleich erschrecken und entzücken sollte.“35 Die Heirat mit seiner noch nicht vierzehnjährigen Kusine („Verkörperung seiner Mutter“ und „eine ganz kleine Schwester“) 36, der Haushalt unter der Fürsorge seiner Tante und Schwiegermutter werden ganz unter Poes kindlichem Zwang gesehen. Seine Impotenz wird zum Faktum erklärt, einmal als Konsequenz von Opiumgenuss, ein andermal, unter Berufung auf Krutch, heißt es, sie wäre „psychischen Ursprungs“ gewesen.37 Daneben herrschen auch überkommene Vorstellungen. „Der Keim war von Alkohol durchtränkt“, heißt es etwa, „Poe war Alkoholiker, zum mindesten von der vorhergehenden Generation her, und mit allen organischen Schäden behaftet, die aus solchem Ursprung entstehen.“38 Un34 35 36 37 38

Ebd., S. 63. Ebd., S. 80. Ebd., S. 134. Ebd., S. 137. Ebd., S. 143.

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abhängig davon deutete Bonaparte Poes Alkoholismus, wie auch seine vermeintliche Impotenz als Flucht vor der Sexualität. Es liegt nahe, dass Bonaparte sich Freuds Krankengeschichten zum Vorbild genommen hat, und dass sie Otto Rank gelesen hatte, ist unverkennbar.39 Doch geht sie einen entscheidenden, unglücklichen Schritt weiter als die beiden Vorbilder. Sie entwickelt und argumentiert mit psychoanalytischen Konzepten und bringt ,Evidenz‘ aus Theorie, Mythologie und Ethnologie, um Poe zum klinischen Fall zu machen. Sein Werk macht sie als direkten Ausdruck seines Unbewussten zur Grundlage seiner Biographie. So entsteht eine Lebens- und Motivgeschichte, in der die Geschichten Poes als Illustration und Beweis seiner Neurose fungieren.

Literatur als Symptom Ausgerüstet mit ,diagnostischen‘ Vorstellungen von Poes Motivleben geht es Bonaparte in der Auseinandersetzung mit dem Werk des Dichters darum, die „unbewussten Themen“ aufzuspüren, denn die „literarischen und künstlerischen Werke der Menschen enthüllen das Intimste ihrer Psyche“ und die „verborgensten Wünsche“.40 In diesem Sinn meint Bonaparte, dass „in L i g e i a der Zentralkomplex des Dichters vorgeführt wird“41 und geht davon aus, dass „wie immer, selbstverständlich Poe selbst“42 in der Erzählung personifiziert sei. Ein Vergleich der Protagonistin, Bearnice, wie sie in der Geschichte beschrieben wird, mit dem erhaltenen Portrait von Poes jugendlicher Mutter, bestätigt die Biographin darin, mehr zu wissen als der Autor: Es war ihm durch eine vorgesetzte Moralinstanz verboten, die Erinnerung an sein inzestuöses, sadistisches, nekrophiles Verlangen nach der Mutter seiner Kindheit wiederzufinden, darum konnte er […] nicht zu der Erinnerung selbst gelangen. Immer neue Verschiebungen folgen einander; sie sind dazu bestimmt, den Suchenden vom Objekt, das er sucht, weiter weg zu locken.43

39 Besonders: Otto Rank: Der Mythos von der Geburt des Helden. Wien 1909; ders.: Das Inzestmotiv in Dichtung und Sage. Wien 1912; sowie ders.: Der Doppelg nger. Eine psychoanalytische Studie. Wien 1925. 40 Bonaparte: Poe, Bd. II, S. 7. 41 Ebd., S. 28. 42 Ebd., S. 46. 43 Ebd., S. 33.

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Das ist nicht nur eine Behauptung über Motive und Wünsche des Dichters, sondern auch eine verborgene Theorie über sein literarisches Arbeiten als Ausdruck und Abwehr neurotischer Wünsche. In einer allgemeinsten Form mag dies auf jede menschliche Hervorbringung zutreffen, insoweit eben alles sehr vermittelt Ausdruck infantiler Triebwünsche und ihrer Schicksale ist, was die Aussage banal macht und womit sich Marie Bonaparte auch nicht begnügt. Sie meint es viel konkreter: Poes Schreiben als unmittelbare Darstellung seiner unbewussten Wünsche in verschobener Form; etwa dass der zweijährige Edgar seine kranke und dann tote Mutter liebte und begehrte und d e sh a l b der Erwachsene Edgar Allen Poe Geschichten schreibt, in denen die kranke und dann tote Mutter in veränderter Gestalt (von ihm) begehrt, geliebt und deshalb gefürchtet wird. Nun ist Ligeia die Geschichte eines melancholischen Gelehrten im Bann seiner ebenso schönen und verführerischen wie magisch gefährlichen, verstorbenen Frau. Nach seiner Wiederverheiratung erkrankt auch seine zweite Frau und es kommt zu unheimlichen Erscheinungen der beiden toten Frauen. Die Grenzen zwischen Illusion und Realität, Tod und Leben, aber auch zwischen den Menschen scheinen mit außerordentlicher Dramatik überschritten. Für die Biographin Marie Bonaparte zeigt sich hier, dass alle seine späteren Neigungen, von der Frances Allen angefangen bis zu Virginia und über sie hinaus, nie etwas anderes gewesen sind als das Wiedererwachen seiner ersten Leidenschaft, seiner Liebe zu der im Unbewußten nie gestorbenen Mutter, die in jeder neuen Leidenschaft immer wieder geweckt wurde. Aber er erklärt hier auch eine der uranfänglichsten Bedingungen für jede seiner Leidenschaften: die Frau, durch die er der Mutter seiner Kindheit untreu werden wollte, musste wie sie von ihm getrennt sein, am liebsten durch Krankheit oder Tod.44

Zwar hat Sigmund Freud tatsächlich im allgemeinsten Sinn jede Verliebtheit auch als ein Wiederfinden der ursprünglichen mütterlichen Liebe verstanden, doch hier wird dieser ubiquitäre unbewusste Beziehungsaspekt aller Menschen als spezifisch neurotisches Symptom des Autors in seiner Erzählung ausgeforscht, was Freuds theoretisches und Poes literarisches Werk gleichermaßen banalisiert. Anhand der Erzählung Loss of Breath führt Bonaparte den ,Nachweis‘ für Poes Impotenz. Die groteske Satire über Mr. Lackobreath, der nach der Hochzeitsnacht im wütenden Schreikrampf mit seiner Frau seinen Atem verliert, um ihn nach absurd-grausamen Abenteuern zuletzt von Mr. Windenough, seinem Nebenbuhler und Doppelgänger, wiederzuerlan44 Ebd., S. 45.

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gen, wird Grundlage eines Indizienverfahrens. Die Interpretation, ganz aufs Faktische reduziert, gestaltet sich zur detektivischen Nachforschung nicht nur bezüglich des angeblichen sexuellen Unvermögens des Autors, sondern auch bezüglich intimer Geheimnisse seiner Eltern. Ein Bündel kompromittierender Briefe, das in der Erzählung eine Rolle spielt, wird zum Indiz dafür, dass Briefe, die Poe von seiner Mutter geerbt hatte, Aufschluss darüber gaben, dass David Poe nicht der leibliche Vater der Schwester des Dichters war. Für all dies zieht Bonaparte Mythologien, Legenden, vielfältige theoretische und wissenschaftliche, medizinische Referenzen heran, die etwa als Assoziationsfelder die Lektüre von Poes Satire durchaus bereichern könnten. Hier aber werden sie zu Beweismitteln, um etwas aus dem Leben des Autors ,nachzuweisen‘, gewissermaßen um ihn zu ,stellen‘. Er wird unumwunden als impotent diagnostiziert: „Die sexuelle Impotenz Poes entstand, wie wir wissen, durch die Fixierung an die Mutter, noch dazu an eine sterbende Mutter, an einen Leichnam“.45 Die Biographin möchte gar „ein biologisches Problem“ lösen: „Welcher Art war die Impotenz Poes?“46, und neigt „zu der Ansicht, daß es sich bei Poe um die […] vollständigere Form der Impotenz handelte […] sicherlich einem inneren Befehl zu Gefallen, der ihm jede Erektion untersagte.“47 Der differenzierte literarische Charakter der Erzählung, das SinnlichSkurrile, durchaus Komische, das sie ausmacht, gehen bei Bonaparte verloren. Es ist für Lust kein Raum; das vor allem erregt das Missfallen des Dichters, Kritikers und Poe-Übersetzers Arno Schmidt. Ganz im Gegensatz zur Psychoanalytikerin sprüht er etwa bezüglich Poes angeblicher Impotenz vor sinnlichen Einfällen und wird damit der ,atemlosen‘ Geschichte affektiv weit gerechter als Bonaparte, die er „gift=bissich“ nennt und als „vagina dentata“ vorstellt.48 The Murders in the Rue Morgue entschlüsselt Marie Bonaparte durch die Brille psychoanalytischer Theorie als Urszene, also als jene infantile Phantasie, in der sich das Kind aufs Höchste erregt und ohnmächtig als ausgeschlossener Beobachter den elterlichen Koitus erlebt. Eine Szene, in die es eindringen und die es zerstören will, um eventuell die Ur-Urszene wiederherzustellen, in der es sich, selbst befriedigt, an der Mutterbrust findet. Die Deutung des Geschehens in der Rue Morgue als Urszenen45 46 47 48

Ebd., S. 19. Ebd., S. 283. Ebd. Schmidt: Zettels Traum, S. 984.

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phantasie hat etliche einleuchtende Aspekte und sie könnte vor allem dazu beitragen, die heftige Wirkung auf den Leser besser zu verstehen. Die Ubiquität dieser unbewussten Phantasien ließe vielleicht einsichtig werden, wodurch die Geschichte so vehemente und ambivalente emotionale Reaktionen hervorruft. Poe führt, so könnte man eventuell sagen, ein animalisches Triebwesen vor, das sich alle, auch die Leser, als Menschen vorstellen, sodass die Vermutung, der Mord sei die Tat eines Tiers gewesen, irritiert, weil jeder sich unbewusst auch so ,tierisch‘ phantasieren kann. Doch Bonaparte interessiert nicht so sehr eine ubiquitäre menschliche Vorstellung, etwa als allgemeine Grundlage des literarischen Sujets der Detektivgeschichte,49 oder auch dieser besonderen Geschichte in der Rue Morgue. Sie möchte vor allem den Autor Poe erklären, besser noch, ,überführen‘. Bonaparte nimmt die Urszene konkretistisch, als eine reale Szene, deren Zeuge der kleine Edgar Poe tatsächlich geworden sei, und dabei geht ihr Sinn auf Indizien ganz bestimmter Art: Hatte der vergewaltigende, kastrierende und tötende Orang-Utan, die Verkörperung der entfesselten Triebe des Menschen, nur David Poe zum Vorbild, der jedoch hier in zwei Gestalten auftaucht: als der lächerliche, impotente Schauspieler und als der sexuelle Gegner der Mutter im Halbdunkel der Nächte? Oder war über die Gestalt Davids in der Vision des Kindes noch eine andere Gestalt gelagert: die des X., des unbekannten Liebhabers, des vermutlichen Vaters Rosaliens […].50

Die Ebenen werden häufig vertauscht. Dichtung, Phantasie, Assoziationen der Biographin zu denselben, Nachlass und Überlieferung geraten durcheinander und werden zu einer Indizienkette für eine Idee von Biographik, die sich als Nachweis einer faktischen Geschichte wähnt, die es gar nicht geben kann. Dieser Biographik kommt die Geschichte des Schriftstellers Edgar Allen Poe ebenso abhanden wie seine Erzählung. Deren struktureller Aufbau, die Dramaturgie der Handlung, sowie die subtile stilistische und psychologische Komposition bleiben unbeachtet. Der Ich-Erzähler der Geschichte, der mit seinem Gefährten August Dupin in der Rue Morgue an den Ort einer schrecklichen Bluttat gerufen wird, berichtet, ihn „belustigte der Gedanke, einen doppelten Dupin vor mir zu haben – einen schöpferischen und einen zerstörenden.“ Man könnte meinen, hier werde das Phänomen der Ambivalenz angesprochen, dass also, wie Freud beschrieben hatte, einander widersprechende Ein49 Eveline List: „Urszene und Weltbild I: Metapsychologisches“. In: texte. psychoanalyse. sthetik. kulturkritik 13 (1993), S. 50 – 75. 50 Bonaparte: Poe, Bd. II, S. 386.

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stellungen zumeist nebeneinander in den Menschen regieren, was in der Erzählung ja tatsächlich eine wichtige Rolle spielt. Doch für Marie Bonaparte geht es um „Edgar Poe, der sich schon in die zwei Hauptgestalten der Erzählung, in den Analytiker Dupin und den erzählenden Freund oder schöpferischen Künstler geteilt hat.“51 Hierbei ist nun interessant, dass die Psychoanalytikerin ,analytisch‘ mit zerstörerisch gleichsetzt und in Opposition zum Schöpferischen bringt. Könnte da eine Spur ihrer Methode enthalten sein? Etwa wie ihre detektivisch-analytische Lesart der Erzählungen, so als wären sie Krankenberichte, scheinbar psychoanalytische Konzepte bestätigt, doch den literarischen Gehalt der Erzählung tendenziell zerstört, und ihr ,diagnostischer‘ Blick auch den Autor verfehlen muss. Die Interpretation eines Textes in enger Anlehnung an ein vorgegebenes Schema lässt auch auf Unsicherheiten schließen und Sehnsucht nach sicherem Halt statt freiem Fluss der Assoziationen vermuten. Versteht man psychoanalytische Biographik als Reflex der Biographin auf das Werk, einen Nachlass und auf Überlieferungen bezüglich der Person, dann ist eine Biographie nicht zuletzt ein Dokument komplexer – bewusster und unbewusster – Beziehungen der Biographin. Freud hatte ja vermutet, daß Biographen in ganz eigentümlicher Weise an ihren Helden fixiert sind. Sie haben ihn häufig zum Objekt ihrer Studien gewählt, weil sie ihm aus Gründen ihres persönlichen Gefühlslebens von vornherein eine besondere Affektion entgegenbrachten.52

Dies passiert nicht notwendig nur in idealisierender Bewunderung, sondern ebenso um ein eventuell auch problematisches Bild des ,Helden‘ aufrecht zu halten, wenn damit bestimmte Vorstellungen gestützt werden, die im Sinne der Biographen sind, etwa: Irritationen ersparen. Dass dies bedeutet, „die Wahrheit einer Illusion“53 zu opfern ist gewiss richtig und bestimmt bewusst oder unbewusst zumeist wohl schon die ursprüngliche Entscheidung zu einer biographischen Arbeit. Wie sehr solche Beziehungsaspekte offenbar gemacht werden oder aber nicht offenbar werden sollen, hängt an Motivation und Selbstverständnis der Biographin. Die diagnostisch-pathographische Einstellung, die Marie Bonaparte gewählt hat, könnte vielleicht auch als ein Versuch gesehen werden, Nachlass und Überlieferungen in einer Art zu deuten, dass die Person der Biographin ausgeklammert bleiben kann, obgleich sie effektiv sehr beteiligt ist. Solcher Intention liegt ein Irrtum zugrunde: Die 51 Ebd., S. 333. 52 Freud: Leonardo, S. 202. 53 Ebd.

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Wünsche, Ängste und anderen Gefühle werden möglicherweise mittels Abwehr tatsächlich vom Bewusstsein fern gehalten – unbewusst setzen sie sich allzu leicht durch und schlagen sich dann hinterrücks im biographischen Text nieder. Jede Lebensgeschichte behält ihr Geheimnis, weil letztlich das Leben einer anderen Person nie gekannt werden kann (und genau genommen auch das eigene nicht). Die diagnostizierende Biographin begibt sich allerdings in die Position der Wissenden und gelangt damit in eine Aporie, die nur mittels (partieller) Verleugnung übersehen werden kann. Statt eines Blicks nach innen, auf das persönliche Verhältnis zu Werk, Nachlass und Überlieferung, regiert diagnostisch-kriminalistische Suche und damit eben jener Irrtum, der die Frühzeit der Psychoanalyse oft bestimmt hat und den Psychoanalytiker zum Detektiv werden ließ.54 Die Biographin Marie Bonaparte findet schließlich einen anderen Biographen, an dem sie das Problem in zwiespältiger Weise thematisiert. Es ist Charles Baudelaire, den sie als Doppelgänger Edgar Poes zu erkennen meint: „Uns interessiert hier nur das Problem der psychischen ,Concordance‘ zwischen diesen beiden genialen Menschen“55, wofür sie biographische Details und vermeintliche diagnostische Spuren in den Werken der beiden ausfindig macht. Wenn wir zeigen wollten, wo im Werk Baudelaires sadistische Züge zu finden sind, müßten wir beinahe das ganze Werk zitieren. Denn im Gegensatz zu Poe, bei dem nichts als die Aggression und die Sehnsucht nach dem Totendüstern, nach dem schon eingetretenen Tod, eingestanden wird, während die Erotik sich schüchtern hinter ätherischer Zärtlichkeit versteckt, hißt Baudelaire hoch und stolz die Fahne seines Sadismus. Hinter der Grausamkeit sieht man bei ihm immer wieder die Erotik hervorschauen. […] Poe war, wie wir gesehen haben, im Wesentlichen ein Nekrophiler. Baudelaire war ein wahrer Sadist […].56

Unversehens werden die beiden „genialen Menschen“ zu Patienten, die Dichter zu Komplizen in der Beschäftigung mit ihrer infantilen Sexualität.57 Literatur wird dabei leider poetisch bedeutungslos und Biographik auf 54 Siehe: Eveline List: „Dora Bauer und Sherlock Freud“. In: Sigmund-Freud Vorlesungen 2006. Die großen Krankengeschichten. Hg. v. Christine Diercks u. Sabine Schlüter. Wien 2008, S. 98 – 115. 55 Bonaparte: Poe, Bd. III, S. 285. 56 Ebd., S. 302. 57 Zeitgleich mit Bonapartes Poe-Biographie veröffentlichte der Psychoanalytiker René Laforgue eine vergleichbare Studie über Charles Baudelaire, deren Publikation der französische Verlag Gallimard verweigert hatte. Dies aus dem Unbehagen „daß man Baudelaires Dichtertalent überhaupt für praktische Zwecke […] benützt.“ René Laforgue: Der gefesselte Baudelaire. Wien 1933, S. 6.

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psychopathologische und moralische Zuschreibungen fokussiert. Dass dies gerade mit einem Autor wie Poe passiert, mag nicht ganz zufällig sein. Seine Geschichten haben keine Moral und sie sind beherrscht vom Themenkomplex Ohnmacht – Überwältigung – Ausgeliefertsein, dem Willen, Vernunft und Ironie als einzige Mächte gegenübergestellt werden. Die ,wissende‘ Position der diagnostizierenden Psychoanalytikerin-Biographin kann auch als Bemächtigung und Kontrolle all jener irritierenden Phantasmen fungieren, die diese Geschichten transportieren. Dabei passiert, was immer droht, wenn Psychoanalyse und Macht sich paaren: Verengung der Wahrnehmung und Behinderung von Selbstreflexion und Denkfähigkeit.

Im biographischen Spiegelkabinett Angesichts ihrer eigenen unkonventionellen Lebensgeschichte und ihres spezifischen Umgangs mit Lebensgeschichten anderer, konnte es nicht ausbleiben, dass auch Marie Bonaparte zum Gegenstand einer umfassenden Biographie,58 und psychologisierender Biographik wurde.59 Die „dramatische Kindheit“ in „Balzacscher Atmosphäre“,60 das schillernde und umtriebige Leben „der Prinzessin“, wie sie allgemein genannt wurde, brauchen hier nicht Thema sein, aber einige Lebensdaten und Mitteilungen erregen Aufmerksamkeit hinsichtlich ihrer Arbeit über Poe. Célia Bertin, die Biographin Marie Bonapartes, hatte Zugriff auf Bonapartes cahiers, unveröffentlichte Journale, die, zeitlebens geführt, Aufschluss geben über ihr Denken und Handeln und darüber hinaus interessante Hinweise auf Marie Bonapartes Verhältnis zu Poe enthalten. Im Sommer 1901 hatte die knapp 19-jährige, seit langem durch vielfältige Leidenszustände in Mitleidenschaft gezogene, Marie am südfranzösischen Familiensitz Saint-Cloud auf Empfehlung ihres Vaters erstmals Edgar Allen Poe gelesen. The Murders in the Rue Morgue, The Purloined Letter und The Gold Bug hatten sie mit ängstlicher Erregung erfüllt, das Blut in The Masque of the Red Death Assoziationen an ihre Mutter wachgerufen. Die Lektüre von Ligeia schließlich erfüllte sie mit solchem 58 Célia Bertin: Die letzte Bonaparte. Freuds Prinzessin. Ein Leben. Freiburg im Breisgau 1989. 59 Silas L. Warner: „Princess Marie Bonaparte, Edgar Allen Poe, and Psychobiography“. In: Journal of the American Academy of Psychoanalysis 19 (1991), S. 446 – 461. 60 Roudinesco: Wien-Paris, S. 292.

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Entsetzen, dass sie sie abbrechen und Poe ein Vierteljahrhundert meiden musste.61 Die cahiers enthalten nicht wenige persönliche Gedanken, die dem Leser ihrer Poe-Arbeit als ihre Interpretationen der Person des Dichters bekannt sind. Es findet sich der Geiz, den sie bei Poes Stiefvater entscheidend nannte, bei ihrem eigenen Vater.62 Ihre eigene Einstellung, Leiden sei ein Liebeskriterium,63 erkannte sie bei Poe wieder oder auch die Idee, sie selbst habe (durch ihre Geburt) ihre Mutter getötet. Diese letzte schuldbelastete Vorstellung mischte sich mit der persistierenden Phantasie, ihr bewunderter Vater sei der Mörder ihrer Mutter, die wenige Wochen nach Maries Geburt gestorben war und in einem dubiosen Vertrag ihr gesamtes riesiges Vermögen dem Vater überlassen hatte. Ein besonderes Kapitel ist gewiss Bonapartes jahrelanger Kampf mit ihrer Frigidität, der sie psychoanalytisch und nicht zuletzt anatomisch und chirurgisch beizukommen suchte. Sogar die real beobachteten Beischlafszenen, die in Poes Leben so wichtig gewesen sein sollen, sind ein prominentes KindheitsThema in dem autographischen Dokument. Diese Aufzeichnungen werfen auf Bonapartes Auswahl und Interpretation der Geschichten Poes natürlich ein besonderes Licht. Zugleich kommt aber auch diese biographische Recherche über Marie Bonaparte selbst in die Nähe der detektivisch-diagnostischen Spurensuche, die sie mit Poe verfolgte. So kann leicht ein absurdes diagnostisches Spiegelkabinett entstehen, wo Unterscheiden und Denken sehr schwierig werden. In der Biographik, wie in der Psychoanalyse, führen der diagnostische und der detektivische Weg wohl zumeist zu Artefakten. Doch offenbar gab es Gemeinsamkeiten zwischen Poe und Bonaparte – nur was kann das aussagen? Vielleicht nicht viel mehr, als dass es einer bestimmten Affinität bedarf, um sich jahrelang mit einer Person zu beschäftigen. Eine gewisse Identifizierung zwischen Biographin und Objekt der Forschung ist unumgänglich und bekanntlich gibt es keine Identifizierung ohne Ambivalenz. Möglicherweise war beides bei Bonaparte stark, sodass die ,Analyse‘ Poes in besonderem Maße eigenen Themen diente. Das ist freilich Spekulation. Jedenfalls habe eine neuerliche Lektüre von Ligeia bei der erwachsenen angehenden Psychoanalytikerin alte Ängste vor Gespenstern reaktiviert. Die hatten mit ihrer Furcht zu tun, ihre tote Mutter könnte als ödipales 61 Bertin: Bonaparte, S. 134. 62 Ebd., S. 145. 63 Ebd., S. 304.

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Rachemonster wiederkehren und sie verschlingen.64 Im Zuge der Beschäftigung mit diesen Angstvorstellungen in ihrer Analyse bei Sigmund Freud sei sie 1926 zu dem Entschluss gekommen, ihnen ein Buch zu widmen. Aus diesem Projekt sei dann schließlich ihre Poe-Studie entstanden.65 Vielleicht gab es auch noch weitere Anstöße; immerhin waren im gleichen Jahr die Biographie Harvey Allens und Krutchs Buch über Poe erschienen, die ihr als wichtigste Referenzen dienten. Auch die Gründung der Soci t Psychoanalytic de Paris war im November 1926 mit Marie Bonaparte als ambitioniertem Gründungsmitglied erfolgt. Die Analyse bei Freud zeigte Erfolge, und vermutlich wollte die eifrige Lehranalysandin auch vor der Welt demonstrieren, was sie gelernt hatte und ihrem Analytiker damit ein Geschenk machen. Bonaparte fühlte sich, wie Freud, von Detektivgeschichten besonders angezogen und war fasziniert von Mordfällen. Ihre Auseinandersetzung mit dem Mord der Madame Lefèbvre an ihrer Schwiegertochter, wahrscheinlich überhaupt ihre beste Arbeit, war damals im Entstehen,66 und sie soll ganz im Bann der Hinrichtung eines Massenmörders gestanden haben, der als ,Vampir von Düsseldorf‘ durch die Presse ging.67 Marie Bonapartes Poe-Studie sollte auch im wissenschaftshistorischen Kontext gesehen werden. Die Bedeutung der Abstinenz in der Psychoanalyse war noch nicht voll erkannt, die affektive Beteiligung der Psychoanalytiker oft unverstanden und die Relativierung ihres autoritativen Wissens eben erst ein kontroverses Thema im engsten Kreis um Freud geworden.68 Die Psychoanalyse begann sich langsam von der Medizin zu emanzipieren. Freuds Verteidigungsschrift Die Frage der Laienanalyse erschien 1926 und galt Theodor Reik, dem prominentesten Literaturwissenschafter in seinem Kreis. In dem limitierten Verständnis von ,angewandter‘ Psychoanalyse, in das Marie Bonaparte sich mit ihrer Studie über Edgar Poe fügte, waren Unterschiede zwischen der psychoanalytischen Behandlung und den vielfältigen kreativen und selbstreflexiven Prozessen, die das Schreiben oder Lesen von Literatur charakterisieren, noch kaum thematisiert. Der diagnostische Blick verkannte die autonome Leistung des 64 65 66 67 68

Ebd., S. 298. Ebd. Bonaparte: „Le Cas de Madame Lefèbvre“, S. 149 – 198. Bertin: Bonaparte, S. 324. Sándor Ferenczi u. Otto Rank: Entwicklungsziele der Psychoanalyse. Leipzig, Wien, Zürich 1924.

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Dichters, hatte wenig Sinn für Eigenständigkeit des Werks oder Involviertheit der Biographin und führte die Biographik in eine Sackgasse.

P.S. 1939 publizierte Marie Bonaparte „A Defence of Biography“69, einen Artikel, der sich fast ausschließlich mit der Frage befasst, ob und warum Korrespondenzen von Verstorbenen bewahrt werden (sollen) oder nicht. Insbesondere beschäftigt sie das Problem erhaltener Briefe aus heimlichen außerehelichen Liebesbeziehungen, ein Thema, dass sie ja auch in Bezug auf Edgar Allen Poe und seine Mutter bewegt hat. Poe hat diese Briefe als junger Mann angeblich vernichtet. Zum Titel gebenden Thema finden sich in der Arbeit nur wenige, ganz allgemeine Absätze und die Überzeugung: „Biographies of men and women of the past bring to light the unity of human nature and are really like family portraits in which we recognize now one and now another of our features.“70 Literaturverzeichnis Allen, Hervey: Israfel. The Life and Times of Edgar Allen Poe. New York 1926. Bertin, Célia: Die letzte Bonaparte. Freuds Prinzessin. Ein Leben. Freiburg im Breisgau 1989 [Erstausgabe: 1982]. Bonaparte, Marie: „Le Cas de Madame Lefèbvre“. In: Revue FranÅaise de Psychoanalyse I (1927), S. 149 – 198. Bonaparte, Marie: Edgar Poe. tude psychoanalytique. Paris 1933. Bonaparte, Marie: „L’ Homme et son dentiste“. In: Revue FranÅaise de Psychoanalyse VI (1933), S. 84 – 86. Bonaparte, Marie: „A Defence of Biography“. In: International Journal of Psychoanalysis 20 (1939), S. 231 – 240. Bonaparte, Marie: Edgar Poe. Eine psychoanalytische Studie, Bd. I. Frankfurt/M. 1981. Breuer, Josef u. Sigmund Freud: „Studien über Hysterie“. In: Freud Gesammelte Werke. Unter Mitwirkung von Marie Bonaparte, Prinzessin Georg von Griechenland. Hg. v. Anna Freud u. a., Bd. I. Frankfurt/M. 1960, S. 75 – 312 [Erstausgabe: 1895].

69 Marie Bonaparte: „A Defence of Biography“. In: International Journal of Psychoanalysis 20 (1939), S. 231 – 240. 70 Ebd., S. 239.

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Cremerius, Johannes (Hg.): Neurose und Genialit t. Psychoanalytische Biographien. Frankfurt/M. 1971. Ferenczi, Sándor u. Otto Rank: Entwicklungsziele der Psychoanalyse. Leipzig, Wien, Zürich 1924. Freud, Sigmund: „Die Traumdeutung“. In: Freud Gesammelte Werke. Unter Mitwirkung von Marie Bonaparte, Prinzessin Georg von Griechenland. Hg. v. Anna Freud u. a., Bd. II/III. Frankfurt/M. 1960 [Erstausgabe: 1900]. Freud, Sigmund: „Der Witz und seine Beziehung zum Unbewußten“. In: Freud Gesammelte Werke. Unter Mitwirkung von Marie Bonaparte, Prinzessin Georg von Griechenland. Hg. v. Anna Freud u. a., Bd. IV. Frankfurt/M. 1960 [Erstausgabe: 1904]. Freud, Sigmund: „Der Wahn und die Träume in W. Jensens ,Gradiva‘“. In: Freud Gesammelte Werke. Unter Mitwirkung von Marie Bonaparte, Prinzessin Georg von Griechenland. Hg. v. Anna Freud u. a., Bd. VII. Frankfurt/M. 1960 [Erstausgabe: 1907]. Freud, Sigmund: „Der Dichter und das Phantasieren“. In: Freud Gesammelte Werke. Unter Mitwirkung von Marie Bonaparte, Prinzessin Georg von Griechenland. Hg. v. Anna Freud u. a., Bd. VI. Frankfurt/M. 1960, S. 213 – 223 [Erstausgabe: 1908]. Freud, Sigmund: „Eine Kindheitserinnerung des Leonardo da Vinci“. In: Freud Gesammelte Werke. Unter Mitwirkung von Marie Bonaparte, Prinzessin Georg von Griechenland. Hg. v. Anna Freud u. a., Bd. VIII. Frankfurt/M. 1960, S. 127 – 211 [Erstausgabe: 1910]. Freud, Sigmund: „Über ,wilde‘ Psychoanalyse“. In: Freud Gesammelte Werke. Unter Mitwirkung von Marie Bonaparte, Prinzessin Georg von Griechenland. Hg. v. Anna Freud u. a., Bd. II/III. Frankfurt/M. 1960, S. 117 – 125 [Erstausgabe: 1910]. Freud, Sigmund: ,,Vorwort“ zu Marie Bonaparte: Edgar Poe. tude psychoanalytique. Paris 1933. Krutch, Joseph Wood: Edgar Allen Poe. A Study in Genius. New York 1926. Lacan, Jacques: „Der entwendete Brief“. In: Das Seminar von Jacques Lacan, Buch II (1954 – 1955): Das Ich in der Theorie Freuds und die Technik der Psychoanalyse. Freiburg im Breisgau 1980, S. 243 – 261. Laforgue, René: Der gefesselte Baudelaire. Wien 1933. List, Eveline: „Urszene und Weltbild I: Metapsychologisches“. In: texte. psychoanalyse. sthetik. kulturkritik 13 (1993), S. 50 – 75. List, Eveline: „Trieb und Form“. In: Form in der Gegenwartskunst. Hg. v. Eveline List u. Martin Strauss. Wien 1999, S. 14 – 36. List, Eveline: „Dora Bauer und Sherlock Freud“. In: Sigmund-Freud Vorlesungen 2006. Die großen Krankengeschichten. Hg. v. Christine Diercks u. Sabine Schlüter. Wien 2008, S. 98 – 115. Rank, Otto: Der Mythos von der Geburt des Helden. Wien 1909. Rank, Otto: Das Inzestmotiv in Dichtung und Sage. Wien 1912. Rank, Otto: Der Doppelg nger. Eine psychoanalytische Studie. Wien 1925. Roudinesco, Elisabeth: Wien-Paris. Die Geschichte der Psychoanalyse in Frankreich. Weinheim 1994. Schmidt, Arno: Zettels Traum. Frankfurt/M. 1986.

Novellen wie Krankengeschichten gelesen – Marie Bonaparte: Edgar Poe

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Warner, Silas L.: „Princess Marie Bonaparte, Edgar Allen Poe, and Psychobiography“. In: Journal of the American Academy of Psychoanalysis 19 (1991), S. 446 – 461. Werman, David S.: „Edgar Allen Poe, James Ensor, and the Psychology of Revenge“. In: The Annual of Psychoanalysis 21 (1993), S. 301 – 314.

Gesellschaftsbiographik

Individuum und Gesellschaft in Siegfried Kracauers Jacques Offenbach und das Paris seiner Zeit Esther Marian Siegfried Kracauers Jacques Offenbach und das Paris seiner Zeit, 1937 im Exil erschienen, beginnt mit einem programmatischen Vorwort, das der eigentlichen biographischen Erzählung vorangestellt ist. Die ersten Sätze lauten: Dieses Buch gehört nicht in die Reihen jener Biographien, die sich in der Hauptsache darauf beschränken, das Leben ihres Helden zu schildern. Solche Biographien gleichen photographischen Porträts: die in ihnen porträtierte Gestalt erscheint vor einem verschwimmenden Hintergrund. Von derartigen Werken unterscheidet sich das vorliegende grundsätzlich. Es ist keine Privatbiographie Jacques Offenbachs. Es ist eine Gesellschaftsbiographie. 1

Die Erklärung ist herausfordernd und defensiv zugleich. Kracauer macht keinen Hehl daraus, dass er für die Mehrzahl der Biographien nichts übrig hat und sein Buch nicht in ihre Reihen eingeordnet sehen will. Er beansprucht, mit der Prämissen der bisherigen Biographik gebrochen zu haben, und mehr noch: mit einem Werk, das als Biographie die Grenzen des Biographischen hin zu einer Form transzendiert, in der sich biographische Darstellung in eine der Gesellschaft auflöst, die Gattung neu zu definieren, indem er sie transformiert in etwas Neues, in „Gesellschaftsbiographie“. Das impliziert aber noch mehr. Denn nur deshalb, weil die Frage danach, wie das Verhältnis des Individuums zu den „ungeheuren Bewegungen des allgemeinen politischen Weltlaufs“2 in der Realität ungeklärt ist, weil die Aporie, dass einerseits die Individuen selbst es sind, die ihre Geschichte machen, und dass andererseits Individualität gesellschaftlich konstituiert und bis in die feinsten Verästelungen durch einen ihr vorgängigen ge1 2

Siegfried Kracauer: „Jacques Offenbach und das Paris seiner Zeit“. In: Kracauer Werke, Bd. 8. Hg. v. Ingrid Belke unter Mitarbeit v. Mirjam Wenzel. Frankfurt/M. 2005, S. 11. Hervorhebungen, soweit nicht anders angegeben, immer im Original. Johann Wolfgang von Goethe: „Aus meinem Leben. Dichtung und Wahrheit. Erster Teil“. In: Goethe Werke. Hamburger Ausgabe in 14 B nden, Bd. 9. Anmerkungen v. Erich Trunz, textkritisch durchgesehen v. Lieselotte Blumenthal. Hamburg 1955 (= Autobiographische Schriften, Bd. 1), S. 7 – 216, hier S. 9.

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sellschaftlichen Zusammenhang determiniert ist, überhaupt unaufgelöst ist, ist sie es auch in der Biographie. Die Trennung von Biographie und allgemeiner Geschichtsschreibung, seit der Entstehung beider in der Antike ein Gegenstand konstanter Debatte, aufheben zu wollen, läuft darauf hinaus, nicht nur eine neue Textsorte schaffen, sondern das Rätsel lösen zu wollen, das in der gesellschaftlichen Konstitution des Verhältnisses zwischen Individuum und Allgemeinheit liegt. Defensiv sind Kracauers programmatische Sätze, weil sie überhaupt dort stehen, denn warum sollte es nötig sein, ein avantgardistisches Werk mit einer Deklaration zu versehen, was man sich darunter vorzustellen habe? Eine Klassifikation wie „Es ist eine Gesellschaftsbiographie“ dementiert den avantgardistischen Anspruch im selben Atemzug, in dem er vorgetragen wird, denn wenn sich gleich eine Schublade für das findet, was sich eigentlich der Kategorisierung entziehen sollte, dann, ist man geneigt zu denken, kann es so weit nicht damit her sein. Der Beginn des Buchs mit einer Verneinung ist ein Hinweis darauf, dass die ersten Sätze nicht zuletzt dazu dienen, vorweggenommene Einwände abzuwehren – namentlich Einwände dagegen, dass Kracauer überhaupt eine Biographie verfasst hat. Wenn Kracauer mit Widerspruch rechnete, dann waren seine Erwartungen begründet. Das Buch ist in seinem intellektuellen Freundeskreis mit einiger Bestürzung aufgenommen worden. Sowohl Theodor W. Adorno, mit dem Kracauer eine bewegte, durch wechselseitige sexuelle Anziehung bestimmte und von schmerzhaften Konflikten durchzogene Freundschaft verband,3 als auch Walter Benjamin reagierten mit vehementer Ablehnung darauf, die bei Adorno so weit ging, dass er nach Rücksprache mit Benjamin zuerst mit einem langen Brief an Kracauer und dann mit einer öffentlichen, wenn auch zunächst nur einem kleinen Leserkreis zugänglichen Rezension gegen Jacques Offenbach intervenierte.4 3 4

Vgl. Theodor W. Adorno u. Siegfried Kracauer: Briefwechsel 1923 – 1966. Hg. v. Wolfgang Schopf. Frankfurt/M. 2008 (= Theodor W. Adorno Briefe und Briefwechsel, Bd. 7). Vgl. Theodor W. Adorno: Brief an Walter Benjamin, v. 4.5.1937. In: Theodor W. Adorno u. Walter Benjamin: Briefwechsel 1928 – 1940. Hg. v. Henri Lonitz. Frankfurt/M. 1995 (= Theodor W. Adorno Briefe und Briefwechsel, Bd. 1), S. 240 – 241; Walter Benjamin: Brief an Theodor W. Adorno, v. 9.5.1937. In: Adorno u. Benjamin: Briefwechsel, S. 241 – 245; Theodor W. Adorno: Brief an Walter Benjamin, v. 13.5.1937. In: Adorno u. Benjamin: Briefwechsel, S. 248 – 250; Walter Benjamin: Brief an Theodor W. Adorno, v. 17.5.1937. In: Adorno u. Benjamin: Briefwechsel, S. 250 – 253. Theodor W. Adorno: Brief an Siegfried Kracauer, v. 13.5.1937. In: Adorno u. Kracauer: Briefwechsel, S. 352 – 362; Siegfried Kracauer: Brief an Theodor W. Adorno, v. 25.5.1937. In: Adorno u.

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Was Adorno an dem Buch aufstieß, war nicht allein die Tatsache, dass Offenbachs Musik nicht analysiert wurde, sondern die ganze Konzeption: die Konstruktion des Verhältnisses zwischen Gesellschaft und Individuum, die Darstellung der französischen Gesellschaft des 19. Jahrhunderts und die Sprache; in unzähligen Details sah er Zeugnisse eines Ruins von Kracauers einmal brillanten Fähigkeiten als Essayist und Kritiker – einen bewussten, in krassem Gegensatz zum Anspruch des Buches stehenden Schritt hin zu einer marktkonformen Anpassung. Der Zusammenstoß – Kracauer wies die Kritik als töricht zurück – hat nicht nur die vorher schon krisenhafte Freundschaft irreparabel beschädigt, sondern auch weitere Nachwirkungen gehabt. Er macht sich in scheinbar entlegenen Schriften beider Autoren geltend und hat nach dem Zweiten Weltkrieg die Rezeptionsgeschichte der Offenbach-Biographie bestimmt. Keine der vergleichsweise spärlichen Auseinandersetzungen mit Jacques Offenbach, die über das Herausgreifen einzelner Thesen über den Komponisten hinausgehen, ist unabhängig von dem Streit, und noch dort, wo versucht wird, ihn auszuklammern, hat er seine Spuren hinterlassen. Das Konzept der „Gesellschaftsbiographie“ findet sich in Ansätzen bereits in einem Aufsatz Kracauers zur Kritik der Biographie, den Adorno noch in seiner Jahre später gehaltenen, dem Freund gewidmeten Radiorede „Der wunderliche Realist“, in der der Konflikt um Jacques Offenbach eine zentrale Rolle spielt, hervorhebt und indirekt der Offenbachbiographie entgegenstellt: „Die sinistren Implikationen der Biographienmode förderte er als erster zutage.“5 1930 hatte Kracauer in der Frankfurter Zeitung, für die er bis 1933 als Feuilletonredakteur arbeitete, in dem Essay „Die Biographie als neubürgerliche Kunstform“ nach Gründen für den ungeheuren Aufschwung gesucht, den die literarische Biographie nach dem Ersten Weltkrieg nahm.6 Kracauer zufolge handelte es sich bei dieser

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Kracauer: Briefwechsel, S. 362 – 365; Theodor W. Adorno: Brief an Siegfried Kracauer, v. 27.5.1937. In: Adorno u. Kracauer: Briefwechsel, S. 365 – 367. Theodor W. Adorno: „Siegfried Kracauer, Jacques Offenbach und das Paris seiner Zeit“. In: Adorno Gesammelte Schriften, Bd. 19. Hg. v. Rolf Tiedemann unter Mitwirkung v. Gretel Adorno, Susan Buck-Morss u. Klaus Schultz. Frankfurt a. M. 2003 (= Suhrkamp Taschenbuch Wissenschaft, 1719), S. 363 – 365. Theodor W. Adorno: „Der wunderliche Realist“. In: Adorno Gesammelte Schriften, Bd. 11. Hg. v. Rolf Tiedemann unter Mitwirkung v. Gretel Adorno, Susan BuckMorss u. Klaus Schultz. Frankfurt/M. 2003 (= Suhrkamp Taschenbuch Wissenschaft, Bd. 1711), S. 388 – 408, hier S. 401. Siegfried Kracauer: „Die Biographie als neubürgerliche Kunstform“. In: ders: Das Ornament der Masse. Essays. Mit einem Nachwort v. Karsten Witte. Frankfurt/M. 1977 (= Suhrkamp Taschenbuch, Bd. 371), S. 75 – 80.

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Konjunktur, die sich an Massenauflagen von Autoren wie Emil Ludwig und Stefan Zweig ablesen ließ,7 ebenso wenig um eine bloße Mode wie bei der Konjunktur der Kriegsromane. Sie stellte vielmehr eine Panikreaktion auf die Krise der bürgerlichen Gesellschaft dar, die in Weltkrieg und Revolution kulminiert war. Diese Krise betraf nicht allein die Eigentumsformen, sondern veränderte auch die innere Verfasstheit des Individuums. Kracauer benennt die drastischen Auswirkungen, die dies auf die Literaturproduktion hatte: Allzu nachhaltig hat in der jüngsten Vergangenheit jeder Mensch seine Nichtigkeit und die der andern erfahren müssen, um noch an die Vollzugsgewalt des beliebigen Einzelnen zu glauben. Sie aber bildet die Voraussetzung der bürgerlichen Literatur in den Vorkriegsjahren. Die Geschlossenheit der alten Romanform spiegelt die vermeintliche der Persönlichkeit wider, und seine Problematik ist stets eine individuelle. Das Vertrauen in die objektive Bedeutung irgendeines individuellen Bezugssystems ist dem Schaffenden ein für allemal verlorengegangen.8

Die Biographie war eine „neubürgerliche Kunstform“, weil sie dem „Bürgertum […] im Übergang“,9 einer schon in wachsende Angestelltenheere sich auflösenden Klasse, eine Möglichkeit bot, vor seiner historischen Situation die Augen zu verschließen. In der Krise des Romans lieferte sie ein vergleichsweise einfaches Schema „fertig ins Haus“, das sich denjenigen als „Stütze“ und „Garantie der Komposition“ anbot, die im Chaos einer „erweichten unfaßlichen Welt“ nach Halt suchten: sie brauchten nur dem scheinbar vorgegebenen Lebensverlauf einer beliebigen historischen Person folgen und konnten so Formproblemen und

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Leo Löwenthal hierzu: „Die Entwicklung begann schon vor dem Ersten Weltkrieg, aber der Hauptansturm kam erst kurz danach. Seit dem Auftreten der Kurzgeschichte war die populäre Biographie eine der auffälligsten Neuerscheinungen im Reich der Literatur. Die Auflagen der Bücher von Emil Ludwig, André Maurois, Lytton Strachey und Stefan Zweig gingen in die Millionen, und mit jeder neuen Veröffentlichung wuchs die Zahl der Sprachen, in die sie übersetzt wurden.“ Leo Löwenthal: „Der Triumph der Massenidole“. In: Lçwenthal Schriften, Bd. 1. Hg v. Helmut Dubiel. Frankfurt/M. 1980 (= Suhrkamp Taschenbuch Wissenschaft, Bd. 901), S. 258 – 305, hier S. 258 f. Und zu Emil Ludwigs Massenerfolg: „Bis zum Frühling 1939 waren 3,1 Mill. Exemplare seiner Bücher verkauft worden: 1,2 Mill. in Deutschland, 1,1 Mill. in den Vereinigten Staaten, 0,8 Mill. anderswo.“ Ebd., S. 258, FN 3. Kracauer: „Die Biographie“, S. 76. Ebd., S. 79.

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Erkenntnissen ausweichen, die „das Dasein der Bourgeoisie in Frage ziehen“ würden.10 Kracauer zufolge war es für die „literarische Elite der neuen Bourgeoisie“ nur dann möglich, zu einer in der Gegenwart gültigen literarischen Form zu gelangen, wenn sie sich „ohne jede ideologische Schutzhülle an die Bruchstelle unserer Gesellschaftskonstruktion begäbe“ und sich „auf diesem vorgeschobenen Posten mit den sozialen Mächten auseinandersetzte, in denen sich heute die Wirklichkeit verkörpert“.11 Er hielt es für denkbar, dass eine modifizierte Form der Biographie – als ein Beispiel nannte er Leo Trotzkis „Versuch einer Autobiographie“ Mein Leben – 12 dieser Forderung gerecht werden könnte. Das Individuum in einer solchen Biographie würde sich von dem früheren unterscheiden: Kracauer definierte es als „eines, das insofern bereits übergegangen ist, als es nur durch seine Transparenz gegen die Wirklichkeit wirklich wird, nicht aber die eigene Wirklichkeit behauptet“.13 „Wirklichkeit“ ist ein zentraler Begriff in Kracauers Denken. Hier verweist er nicht nur auf die Krise der bürgerlichen Gesellschaft, sondern zugleich auf einen utopischen Zustand, den es durch Eingedenken und Verwandlung erst herzustellen gilt. „Transparenz gegen die Wirklichkeit“ kann verschiedene Bedeutungen haben: es kann eine Beziehung zwischen dem Individuum und der Gesellschaft bezeichnen, in der alle Substantialität dieser zukommt, während jenes insubstantiell ist, und es kann sich auf ein Individuum beziehen, das ein Bote des Utopischen ist und deshalb in einer ihm fremden Umgebung zum Außenseiter wird. In einigen seiner Rezensionen für die Frankfurter Zeitung gibt Kracauer eine spezifische Antwort darauf, was unter einem „transparenten“ Individuum zu verstehen sein könnte, nämlich das Individuum, das sein Leben der Arbeiterbewegung widmet und im Kollektiv der kämpfenden Klasse aufgeht. Obwohl er, anders als ihm nahe stehende Autoren wie Ernst Bloch oder Georg Lukács, nie der KPD beitrat, identifizierte er sich mal zögernd, mal enthusiastisch mit der sowjetischen Revolution und lobte ihre Kunstexperimente, besonders die Revolutionsfilme Eisensteins und Pudowkins und Wertows Mann mit dem Kinoapparat, die er, trotz mancher Kritik im Einzelnen, hoch über die gesamte deutsche Filmproduktion 10 Ebd., S. 76 – 78. 11 Ebd., S. 78. 12 Leo Trotzki: Mein Leben. Versuch einer Autobiographie. Übers. v. Alexandra Ramm. Berlin 1930. 13 Kracauer: „Die Biographie“, S. 78 u. 80.

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stellte. Wenn man seinen Biographieaufsatz, seine Thesen zu Film und Photographie oder auch seine Miniaturen über Dinge wie das Klavier, die Hosenträger oder das Monokel mit dem Programm der sowjetischen „Faktographen“ vergleicht, die eine Neukonzeption des Verhältnisses zwischen alltäglichem Detail und übergreifendem Geschichtsverlauf forderten und im Namen des revolutionären Kollektivs die psychologisierende, auf ein einzelnes Individuum und seine Taten fokussierte, die übrige Welt in Material eines vorab feststehenden Handlungsschemas verwandelnde Heldenbiographik kritisierten,14 wird klar, wie viel seine Texte dieser Diskussion verdanken, oder vielmehr: in welchem Ausmaß sie selbst als Beiträge zu einer weit über die Sowjetunion ausgreifenden Debatte über Kunst und Revolution zu lesen sind. In diesem Zusammenhang stehen auch seine Besprechungen der Biographien und Autobiographien Alexander Schapowalows und Sergej Tretjakows, Büchern, die in Übereinstimmung mit den Prinzipien der sowjetischen Avantgarde darauf angelegt sind, eher das Typische als das Individuelle zu zeigen. Kracauer ist voll des Lobes für Schapowalows Memoiren eines Arbeiterrevolution rs: 15 Entscheidend ist aber nicht so sehr der dokumentarische als der persönliche Wert des Buches; genauer gesagt: sein unpersönlicher. Denn die Person Schapowalows geht so ganz in der Bewegung auf, daß sie mit ihr identisch wird. Es ist das Bild des klassischen Arbeiterrevolution rs, das diese Biographie uns vermittelt. Alle Etappen, die Schapowalow durchläuft, sind für die Gesamtbewegung typisch, alle seine Schicksale und Handlungen exemplarischer Art. […] Alle individuellen Reaktionen scheiden in diesem Dasein aus, das einer objektiven Aufgabe untersteht und nur ein objektives Pathos kennt.16

In seiner Besprechung von Tretjakows Den Schi-Chua, einer Biographie, die auf einem Interview mit einem chinesischen Studenten basiert,17 lobt 14 Vgl. Devin Fore: „Gegen den ,lebendigen Menschen‘. Experimentelle sowjetische Biographik der 1920er Jahre“. In: Die Biographie – Zur Grundlegung ihrer Theorie. Hg. v. Bernhard Fetz. Berlin, New York 2009, S. 353 – 381. 15 Alexander Schapowalow: Auf dem Wege zum Marxismus. Erinnerungen eines Arbeiterrevolution rs. Berlin 1930 (= Internationale Memoiren, Bd. 1) und Alexander Schapowalow: Illegal. Erinnerungen eines Arbeiterrevolution rs, Teil 2. Berlin 1932 (= Internationale Memoiren, Bd. 4). 16 Siegfried Kracauer: „Memoiren eines russischen Revolutionärs“. In: Kracauer Schriften, Bd. 5.3. Hg. v. Inka Mülder-Bach. Frankfurt/M. 1990, S. 183 – 186, hier S. 183 f. 17 Sergej Tretjakow: Den Schi-Chua. Ein junger Chinese erz hlt sein Leben. Bio-Interview. Übers. v. Alfred Kurella. Berlin 1932 (= Universum-Bücherei, Bd. 110). Vgl. hierzu auch Fore: „Gegen den ,lebendigen Menschen‘“, S. 360 – 362, S. 377.

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Kracauer ähnlich, wenn auch nicht ganz so überschwänglich, ihr nichtindividualistisches Konzept: Bewundernswert wie die Hingabe, mit der hier ein Russe in einem Chinesen gleichsam verschwindet, ist der Erfolg, den die sonderbare Verbindung zeitigt. Tretjakow faßt ihn in die Worte: „Chinesen, die Stücke aus diesem Buch zu hören bekamen, sagten: ,Das ist ja unsere Kindheit, unsere Schule, unser Leben‘, so typisch ist die Biographie Den Schi-Chuas für die junge chinesische Intelligenz von heute.“18

Die Rezensionen erschienen im April 1932 und im Januar 1933. Jacques Offenbach, ein Komponist des 19. Jahrhunderts, hat mit den Protagonisten der biographischen und autobiographischen Schriften Trotzkis, Schapowalows und Tretjakows wenig gemein, doch die theoretischen Prämissen der Offenbach-Biographie scheinen zumindest auf den ersten Blick ganz ähnlich zu sein wie die jener Werke. Im Vorwort erklärt Kracauer, das „eigentliche Thema“ des Buchs sei „die gesellschaftliche Funktion Offenbachs“,19 und stellt damit das heraus, was er in der Rezension von Schapowalows Autobiographie den „unpersönlichen Wert“ des biographischen – oder autobiographischen – Protagonisten nennt. Tatsächlich wollte er zumindest im Kontext von Bewerbungen das Buch explizit als soziologische Studie verstanden wissen: in einem Brief an Arnold Wolfers, einem inoffiziellen Bewerbungsschreiben, bezeichnet er es als einen „neuartigen Versuch soziologischer Geschichtsschreibung“.20 Zwar wird Jacques Offenbach nicht als Durchschnittsindividuum verstanden, doch wird er mit Max Nordau, den Kracauer zustimmend zitiert, als „eine der charakteristischen Erscheinungen der Epoche“ bezeichnet.21 Offenbach nimmt „die Mitte seiner Zeit“ ein und seine Operetten sind „der repräsentativste Ausdruck der kaiserlichen Ära“22, so dass es möglich wird, durch ihn wie durch ein Medium die französische Gesellschaft des Zweiten Kaiserreichs darzustellen, die sich wiederum, als „Vorläuferin“ der Gesellschaft des 20. Jahrhunderts, als Modell eignet, aus dem heraus „das ungleich kompliziertere Denken und Verhalten der Gegenwart“ begriffen werden kann.23 Wenn Kracauer die traditionelle Biographie mit 18 Siegfried Kracauer: „Ein Bio-Interview“. In: Kracauer Schriften, Bd. 5.3, S. 52 – 55, hier S. 53. 19 Kracauer: „Offenbach“, S. 11. 20 Siegfried Kracauer: Brief an A. Wolfers, v. 29.10.1936. Deutsches Literaturarchiv Marbach, Nachlass Kracauer (künftig: NL Kracauer), 72.1923. 21 Kracauer: „Offenbach“, S. 12. 22 Ebd. 23 Ebd., S. 11.

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der Porträtphotographie vergleicht und die Vernachlässigung des Schauplatzes als mangelnde Tiefenschärfe kritisiert – die Figur erscheint vor einem „verschwimmenden Hintergrund“ –, und wenn er in Übereinstimmung mit dieser Kritik sein Buch als „Versuch einer Lebensbeschreibung von Paris“ verstanden wissen will, dann entspricht dies genau dem Programm der sowjetischen „Faktographen“.24 Schon im Vorwort machen sich allerdings Unsicherheiten darüber bemerkbar, wie das Verhältnis zwischen Offenbach und der Gesellschaft, in der er lebte, zu denken sei. Kracauer scheut davor zurück, Offenbach und die Operetten, die er komponierte, völlig darauf zu reduzieren, ein Ausdruck gesellschaftlicher Tendenzen zu sein. Statt das Verhältnis Offenbachs zur Gesellschaft durchgängig als Repräsentationsverhältnis zu fassen, wie es die Rede von der „gesellschaftlichen Funktion“ oder vom „repräsentativsten Ausdruck“ nahelegt, oder bei irgendeiner anderen Bestimmung länger zu verweilen, oszilliert er zwischen Formulierungen, in denen sich verschiedene, einander widerstreitende Vorstellungen geltend machen. So wird die Operette einmal als „ein soziales Phänomen“ bezeichnet,25 während sie an anderen Stellen als eine der Gesellschaft entgegengesetzte, ganz dem Individuum angehörige Angelegenheit erscheint: aus dem Programm einer „Gesellschaftsbiographie“ soll folgen, dass „die rein musikalisch interessierten Leser zu kurz kommen werden“.26 Wiederholt spricht Kracauer von Zusammenhängen, Verknüpfungen, Abhängigkeiten und Wechselwirkungen zwischen Komponist, Werk und Gesellschaft, etwa wenn es über das Buch heißt, „daß es mit der Figur Offenbachs die der Gesellschaft erstehen läßt, die er bewegte und von der er bewegt wurde, und dabei einen besonderen Nachdruck auf die Beziehungen zwischen der Gesellschaft und Offenbach legt.“27 Formulierungen wie diese implizieren, dass Komponist und Gesellschaft als 24 Vgl. ebd., S. 11 f., sowie Fore: „Gegen den ,lebendigen Menschen‘“, S. 366 u. 372. In Fores gleichnamigen Vortrag auf der Konferenz ,Die vielen Leben der Biographie. Biographie als kulturwissenschaftliches Paradigma‘, Wien, 25.–27. März 2009, ging es u. a. auch um die Parallelisierung der Biographie und der Porträtphotographie durch die „Faktographen“. Die Kritik, die die „Faktographen“ an der Porträtphotographie leisten, zielte gegen die Isolierung des Individuums von seiner Umgebung, die genau wie bei Kracauer als fehlende Tiefenschärfe bemängelt wurde, und mündete in die Forderung nach der Aufhebung oder Umkehrung der Hierarchie zwischen Figur und Hintergrund. 25 Kracauer: „Offenbach“, S. 13. 26 Ebd., S. 11. 27 Ebd.

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konstitutiv voneinander getrennte Sphären erst nachträglich in Beziehung zueinander treten; Adornos Kritik am Verzicht auf die musikalische Analyse ist auch deshalb so vehement, weil es ihm in seinen zeitgleich entstandenen musiktheoretischen Schriften darum ging, eben diese Vorstellung zu widerlegen und den gesellschaftlichen Charakter von Musik aufzuzeigen.28 Es scheint, als sehe Kracauer die konstitutive Trennung als Voraussetzung dafür, dass sein Protagonist mehr ist als ein passiv ausführendes Werkzeug des gesellschaftlich Allgemeinen: er betont, dass Offenbachs Operetten das Kaiserreich nicht nur „spiegeln“, sondern auch „mit verwandelnder Kraft“ in das Regime eingreifen und es „sprengen“ helfen.29 Andererseits ist es gerade Passivität, die für Offenbach charakteristisch sein soll: er ist von einer so großen „Empfindlichkeit gegen die Struktur der Gesellschaft, die ihn umhegt“, dass man „an ihm wie an einem Präzisionsinstrument die feinsten gesellschaftlichen Veränderungen ablesen“ kann.30 Doch selbst hier noch, wo Offenbachs Kompositionstätigkeit als bloßes Registrieren vorgegebener gesellschaftlicher Veränderungen dargestellt und er selbst mit einem toten Gegenstand verglichen wird, so dass seine Eigenständigkeit fast vollkommen verschwindet, erscheint er als geschieden von der Gesellschaft, gegenüber der er sich rezeptiv verhält: sie „umhegt“ ihn, zeigt sich also durchaus von ihrer freundlichen Seite, bleibt aber von ihm getrennt. Aus all dem lässt sich schließen, dass Kracauer das individuelle Bezugssystem, dessen Auflösung er 1930 proklamierte, zumindest für Offenbach weiterhin oder wieder anerkennt – oder dass er aus seiner These nicht die letzte Konsequenz zieht. In fast diametralem Gegensatz zu der These von Offenbach als einem Repräsentanten des Zweiten Kaiserreichs steht die Art und Weise, in der Offenbachs Charakter im gesamten Buch dargestellt wird – und dieser Charakter wird tatsächlich als so unabhängig von jeder gesellschaftlichen Bedingtheit gedacht, dass Kracauer ihn, vielleicht im Bestreben, ihn gegen alle Anfechtungen abzusichern, als Offenbachs „Natur“, seinen „eingeborenen Geist“ bezeichnet.31 Kracauer zufolge ist Offenbach ein Außenseiter, der zu der Gesellschaft, in der er lebt, nicht ganz dazugehört.32 Er 28 29 30 31 32

Vgl. Adorno: Brief an Kracauer, v. 13. 5. 1937, S. 354 – 357. Kracauer: „Offenbach“, S. 12. Ebd., S. 12 f. Ebd., S. 264 u. 317. In seiner letzten Schrift History betont Kracauer, dass ein Individuum nicht zu seiner Epoche gehören muss: „In sum, the whole assumption examined here stands and falls with the belief that people actually ,belong‘ to their period. This must not be so. Vico is an outstanding instance of chronological exterritoriality“. Siegfried

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ist ein „Spottvogel“, dessen Blick auf die Welt aufgrund seiner inneren Distanz zu ihr von dem anderer Individuen verschieden ist. Da er die Welt mit den Augen eines Fremden betrachtet – und er ist tatsächlich ein Immigrant, der nicht in Paris, sondern als Jakob Offenbach in Köln geboren wurde – stellt sie sich ihm gegenüber als „verkehrt“ dar: „Vieles, was unten zu sein scheint, befindet sich oben; vieles, was gemeinhin für groß erachtet wird, entpuppt sich als klein.“33 Diese Perspektive ermöglicht es ihm, „Spottlieder“ zu komponieren, die sich über Dinge lustig machen, „die sich in den Schein der Heiligkeit hüllen“, und „aufgeblähte Würde, hohle Autorität und angemaßte Gewalt“ zu entzaubern.34 Durch seine satirischen Operetten trägt er dazu bei, das Zweite Kaiserreich, über dessen „Klüfte und Schründe“ er flüchtig und ungreifbar „hinwegschwebt“,35 seiner falschen Legitimation wie seiner Schicksalsschwere zu berauben, ähnlich wie Charlie Chaplin, mit dem er explizit verglichen wird,36 in seinen Filmen die sich ernst gebärdende Welt in Heiterkeit auflöst. Kracauer zufolge rührt Offenbachs Drang zur Entzauberung falscher Autorität daher, dass er in der Vorstellung eines freien und hellen menschlichen Zusammenseins lebt, das aller Angstträume ledig ist. Das Paradies schwebt ihm vor. Wieder und wieder tauchen in seinen Operetten Melodien paradiesischer Heiterkeit auf, – einer Heiterkeit, zu deren wesentlichen Merkmalen es gehört, daß sie sich gern mit der sanften zuwartenden Skepsis verbündet, die Ludovic Halévy, Offenbachs entscheidender Textdichter, in die Libretti einschmilzt.37

Kracauer feiert diese Haltung wiederholt im Verlauf des Buches und identifiziert sich explizit mit ihr, wenn er es als die Absicht der Biographie bezeichnet, dass ihr Geist dem der „echten Operette“, d. h. der op ra bouffe Offenbachs im Gegensatz zu späteren Formen, „nicht ganz unverwandt wäre“.38

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Kracauer: History. The Last Things Before The Last. Completed by Paul Oskar Kristeller with a New Preface. Princeton, NJ 1995, S. 68. Kracauer: „Offenbach“, S. 13. Ebd. Ebd., S. 94. Vgl. ebd., S. 108 u. 157 f. Ebd., S. 13. Ebd., S. 13. Max Tau gegenüber äußerte er das Vorhaben, das Buch selbst „zu einer Offenbachiade […] zu machen“. Vgl. Ingrid Belke: „Nachbemerkung und editorische Notiz“. In: Kracauer Werke, Bd. 8, S. 509 – 552, hier S. 531.

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Kultur und Schrecken: Eine Passage aus Kracauers Manuskript Offenbachs Operetten sind in Kracauers Darstellung also einerseits repräsentativ für das Zweite Kaiserreich und andererseits gehören sie der Sphäre des Utopischen an, die eben diesem Kaiserreich gegenüber als unzugehörig erscheint. Diesen Widerspruch versucht Kracauer dadurch aufzulösen, dass er der Operette Offenbachs selbst einen zwiespältigen Charakter zuschreibt: teils Gesellschaftssatire, teils Affirmation, entzieht sie sich jeder eindeutigen Bestimmung und schlägt allen, die sie einzuordnen versuchen, „ein Schnippchen“.39 Die Spannungen in Jacques Offenbach ergeben sich jedoch nicht nur aus dem Gegenstand des Buches, sondern zeugen auch von Veränderungen in Kracauers Haltung und seinen Schwierigkeiten, sein theoretisches Denken diesen Veränderungen anzupassen. In einem Ausschnitt aus einer unveröffentlichten Manuskriptfassung des Vorworts wird das recht deutlich: Das Buch ist überhaupt nicht für Musiker als solche {geschrieben} bestimmt, sondern wendet sich {viel} eher schon an alle jene, die sich, von den beiden Tendenzen des Individualismus und des Kollektivismus bedrängt, über {das fak} die wirklichen Beziehungen zwischen den Kräften der Gesellschaft und des dem Individuums zu vergewissern wünschen. […] Nicht so, als ob es sich in mehr oder weniger vagen allgemeinen Erörterungen erginge. Aber indem es das soziale Kräftespiel einer zu Demonstrationszwecken besonders gut geeigneten Geschichtsepoche bloßlegt, macht es gewisse hierhergehörige Erkenntnisse transparent, deren eine sich zum mindesten sich {auf} auch in der Form des Buchs ausprägt. Ebenso wenig wie es dieses, seiner ganzen Form nach, das Schema der Allerweltsbiographie befolgt, die das Individuum vergö{tzt}, verfällt es in die Einfältigkeit jener Darstellungen, die das Individuum zum Schnittpunkt {zum} ökonomischer und sozialer Faktoren herabwürdigen. ;was{natürlich} nicht {hindert}, {mag} das Individuum heute {faktisch} nur noch die Rolle einer Ware spielen, immer noch bleibt ihm, und

nur ihm, möchten. Immer noch bleibt dem Individuum, und nur ihm, die Entdeckung und Ausbeutung mancher geistiger Sphären vorbehalten. Das Buch {versucht} bemüht sich, beiden, der Gesellschaft sowohl wie dem Individuum, das zu geben, was ihnen zukommt. gebührt.40

Hiermit bringt Kracauer unmittelbar und unmissverständlich die politischgesellschaftliche Situation der Gegenwart ins Spiel. Obwohl er seine Kritik 39 Kracauer: „Offenbach“, S. 214. 40 Siegfried Kracauer: „Vorwort“. In: NL Kracauer, 72.3530. Der zitierte Ausschnitt ist teilweise in Kurzschrift verfasst. Streichungen, Hochstellungen und Unterstreichungen werden in der Transkription diplomatisch getreu abgedruckt. Randglossen Kracauers werden tiefgestellt in Kleindruck wiedergegeben. Die Lesart der in geschweiften Klammern wiedergegebenen Stellen ist unsicher.

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dessen, was er „Allerweltsbiographie“ nennt, nicht zurücknimmt, ist er angesichts des Siegeszugs des Nationalsozialismus in Deutschland und der spätestens seit den Schauprozessen 1936 bis 1938 offen zutage liegenden autoritären Formierung der Sowjetunion und der kommunistischen Parteien gezwungen, seine Position zu überdenken. Wie alle anderen mussten sich Intellektuelle hierzu positionieren, und auch im Exil war keineswegs vorgegeben, wie man es mit diesen Entwicklungen hielt. Kracauer hatte vielleicht noch mehr Schwierigkeiten hiermit als andere; seine Kritik des sich selbst behauptenden Individuums, die gegen dessen Selbstzurichtung und Verhärtung gegen die Welt gezielt hatte und in der emphatischen Bejahung von Ohnmacht als Gegenbild von Herrschaft gipfelte,41 stand angesichts der Auslöschung des Individuums im repressiven Kollektiv in Gefahr, einfach mit dieser Auslöschung zusammenzufallen und statt auf das Ende von Herrschaft auf die Affirmation ihrer Totalisierung hinauszulaufen. Kracauer betonte deshalb zunehmend die Eigenständigkeit des Individuums gegenüber dem Kollektiv, wandte sich kritisch gegen die in der Weimarer Republik aufgekommene antiindividualistische Reportage- und Romanliteratur und protestierte gegen die Missachtung des Einzelnen,42 ohne deshalb die Forderung nach Selbstdurchstreichung des Ichs fallenzulassen; noch in seiner letzten Schrift, History, steht neben der Kritik der Depersonalisierung die nachdrückliche, 41 Über Chaplin: „Es ist der Paria des Märchens, der durch ihn Existenz gewinnt. Ein Mensch, der ohne rechtes Ichbewußtsein, ohne Selbsterhaltungstrieb oder gar Machtgier durch die verstellte Welt tappt; der ganz und gar hilflos ist und sich auf Schritt und Tritt in den Netzen der Jäger verfängt. Aber immer wieder leuchtet aus ihm hervor, was den Menschen zum Menschen macht. Auch der Chaplin der Filme ist gut und zärtlich und hat Achtung vor jeder Kreatur. Er lächelt das Kind an, er dankt durch ein Lupfen des Hütchens dem Huhn, das ihm Eier schenkt. Zug um Zug gleicht er dem Helden des Märchens, der sich gerade kraft seiner Ohnmacht durch die feindliche Welt schlägt. In Wahrheit ist er ihr König, und das Märchen wäre kein Märchen, wenn es nicht am Schluß die Wahrheit in ihrer Herrlichkeit offenbarte.“ Siegfried Kracauer: „Chaplins Triumph“. In: ders.: Kino. Essays, Studien, Glossen zum Film. Hg. v. Karsten Witte. Frankfurt/M. 1979 (= Suhrkamp Taschenbuch, Bd. 126), S. 176 – 179. Vgl. bes. auch Siegfried Kracauer: „The Gold Rush“. In: ders.: Kino, S. 165 – 167. 42 Vgl. Siegfried Kracauer: „Die deutschen Bevölkerungsschichten und der Nationalsozialismus“. In: Kracauer Schriften, Bd. 5.3, S. 223 – 234, hier S. 226; Siegfried Kracauer: „Mit europäischen Augen gesehen …“. In: Kracauer Schriften, Bd. 5.3, S. 234 – 239, hier S. 236; Siegfried Kracauer: „Les Livres supprimés“. In: Kracauer Schriften, Bd. 5.3, S. 239 – 242, hier S. 242; Siegfried Kracauer: „Über die deutsche Jugend“. In: Kracauer Schriften, Bd. 5.3, S. 243 – 252, hier S. 247 f. u. 251.

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freihlich mit Sicherheitsvorkehrungen versehene Aufforderung an den Historiker, sich selbst im Material verschwinden zu lassen.43 Vermutlich kann sinnvoll überhaupt nicht von einer Alternative zwischen Individuum und Allgemeinheit, sondern nur von ihrer jeweiligen Verfasstheit gesprochen werden. Das, was Kracauer als Offenbachs „eingeborenen Geist“ dem allgemein gesellschaftlichen Geist des Kaiserreichs entgegenstellt, also das Individuelle im emphatischen Sinn, ist seiner Substanz nach selbst etwas gesellschaftlich Allgemeines. An anderer Stelle spricht Kracauer deshalb davon, dass der Einzelne „gerade als Einzelner der Träger metaphysischer Gehalte“ sei.44 Dass sich das Problem in dem Entwurf zum Vorwort der Offenbach-Biographie dennoch als Alternative zwischen zwei gleichermaßen bedrängenden Tendenzen stellt, hat seinen Grund in einer historischen Situation, in der diese metaphysischen Gehalte sich verflüchtigen und dem Individuum nur noch die Alternative einer nahtlosen Einfügung in ein repressives Kollektiv oder einer inhaltsleeren Selbstbehauptung bleibt. Kracauer glaubt nicht mehr an die Möglichkeit einer nichtrepressiven Einheit von Allgemeinheit und Individuum, womit zusammenhängt, dass er – im Briefwechsel mit Adorno ist dies wiederholt und explizit Thema – von zunehmender Skepsis gegenüber allen revolutionären oder auch pseudorevolutionären Bestrebungen erfüllt ist. Darüber zu höhnen, wie es Bloch 1935 tat, als er auf dem Pariser ,Schriftstellerkongress zur Verteidigung der Kultur‘ proklamierte: „Marxistischer Begriff führt von privaten und heimatlosen Wunderlichkeiten fort“,45 ist unwürdig. Noch Jahrzehnte später verübelten Ernst und Karola Bloch Kracauer, dass dieser an dem nach sowjetischen Direktiven ausgerichteten identitätsstiftenden Patriotentreffen nicht teilnahm und legten in einem auch sonst recht gehässigen Interview über Jacques Offenbach seine mangelnde Begeisterung für derartige Aktivitäten und seine Abneigung gegen Brecht als „apolitisch[e]“ Haltung aus.46 Trotzdem liegt 43 Vgl. Kracauer: History, S. 25 f. u. 81 – 87. 44 Kracauer: „Mit europäischen Augen“, S. 237. 45 Ernst Bloch: [o. T.]. In: Paris 1935. Erster Internationaler Schriftstellerkongreß zur Verteidigung der Kultur. Reden und Dokumente. Mit Materialien der Londoner Schriftstellerkonferenz 1936. Einleitung u. Anhang v. Wolfgang Klein. Hg. von der Akademie der Wissenschaften der DDR, Zentralinstitut für Literaturgeschichte. Berlin (DDR) 1982, S. 324 – 326, hier S. 325. 46 Vgl. Ernst Bloch u. Karola Bloch: „Der eigentümliche Glücksfall. Über ,Jacques Offenbach‘ von Siegfried Kracauer. Interview mit Karsten Witte“. In: Text + Kritik (1980) H. 68, S. 73 – 75.

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über Kracauers Suche nach einem „Ausgleich“47 zwischen den beiden Prinzipien kein Segen; denn in dem Maße, in dem sich dieser Ausgleich als unmöglich erweist, führt die Suche danach mitten in den Nationalsozialismus hinein. Die politischen Fronten verliefen auch im Exil nicht eindeutig – so liest sich Kracauers Stellungnahme zur nationalsozialistischen Wirtschaftsgesetzgebung, die 1934 anonym in der französischen Zeitschrift L’Europe Nouvelle erschien, streckenweise wie ein Lob, da Kracauer diese Gesetzgebung wegen ihrer „Verbindung privatkapitalistischer und kollektivistischer Züge“ als „Experiment äußerst interessant“ findet.48 In dieser Orientierungslosigkeit ist Jacques Offenbach bereits ein Versuch, die Gedanken zu ordnen und damit die Krise zu bewältigen: einerseits scheint die Figur Offenbach, ein Anti-Held und trotzdem ein erfolgreicher Komponist, die Unausweichlichkeit der Alternative zwischen der Herabwürdigung des Individuums und seiner „Vergötzung“, d. h. der Verkündung der „Allmacht des Willens“49 zu widerlegen, und andererseits scheint die Aufgabe, eine „Gesellschaftsbiographie“ und zugleich eine Biographie Offenbachs zu schreiben, eine Möglichkeit zu bieten, durch die ästhetische Konstruktion des Textes mehr Klarheit über das Verhältnis zwischen Gesellschaft und Individuum zu gewinnen. Wie groß Kracauers Unsicherheit und Verwirrung während der Entstehung der Offenbachbiographie gewesen sein muss, davon zeugt noch die Wortwahl des zitierten Manuskriptabschnitts. Die Art und Weise, in der „die Allerweltsbiographie“ und die „Einfältigkeit“ der Reduktion des Individuums auf einen Schnittpunkt gesellschaftlicher Faktoren abgetan werden, ist so herablassend, dass die theoretische Sicherheit, die die Worte signalisieren sollen, kaum glaubhaft scheint. Eine Formulierung wie „gewisse hierhergehörige Erkenntnisse“ erweckt den Eindruck, hier verbreite jemand Nebel, um etwas zu verdecken, seien es tatsächliche Erkenntnisse oder Ratlosigkeit. Erst recht scheint die Unsicherheit dort durch, wo erklärt wird, das Buch richte sich an jene, die sich über das Verhältnis zwischen Individuum und Gesellschaft „zu vergewissern wünschen“, denn es ist Ungewissheit, die solch eine Vergewisserung erst notwendig macht und nur sie kann dazu veranlasst haben, zugleich so zu tun, als sei der lebensnotwendige Versuch, über die eigene Macht und Ohnmacht Klarheit zu gewinnen, lediglich eine Frage des persönlichen 47 Vgl. Kracauer: „Les Livres supprimés“, S. 239. 48 Siegfried Kracauer: „Das neue deutsche Wirtschaftsgesetz“. In: Kracauer Schriften, Bd. 5.3, S. 281 – 285, hier S. 283. 49 Vgl. Kracauer: „Mit europäischen Augen“, S. 236.

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Beliebens. Die Zuversicht, die das „immer noch“ ausstrahlt, ist fadenscheinig. Wenn es zutrifft, dass die Bedeutung des Individuums sich auf die „Entdeckung und Ausbeutung mancher geistiger Sphären“ beschränkt, dann ist das sicher kein Grund, sich dabei zu beruhigen, denn die geistigen Sphären werden, so völlig abgetrennt von der Konstitution der Gesellschaft, deren Vormacht durch die Einschränkung schon anerkannt ist, selbst zu etwas Nichtigem. Weil sie nur Zusatz zu einem Weltlauf sind, an dem sie nichts ändern können und zu dem sie daher auch in keinerlei Spannung mehr stehen, taugen sie allenfalls noch zur „Ausbeutung“. So wie „dem Individuum, und nur ihm“, diese Ausbeutung vorbehalten bleibt, so weiß Kracauers Offenbach über Jules Barbiers und Michel Carrés Drama Les Contes fantastiques d’Hoffmann, „daß es ihm, nur ihm gehöre“.50 Dieses „nur ihm“, das mehr als nur individuell-lebenspraktische Berechtigung haben kann, solange der Inhalt des geistigen Produkts noch irgendeine Relevanz hat, wird unter der Voraussetzung, dass das Geistige nicht mehr sein will und sein kann als eine Enklave in einer Welt von Zwangskollektiven, zu einem bloßen Besitzanspruch auf einen seiner Flüchtigkeit und gesellschaftlichen Allgemeinheit beraubten, damit aber schon entschwundenen Geist. „Es wäre nicht erstaunlich gewesen, wenn er sich auf den Cancan wie eine Beute gestürzt hätte, die nur für ihn bereitlag“ und: Offenbach merkte bald, „daß es für ihn in der Celloklasse Vaslins nichts rechtes zu holen gab“,51 schreibt Kracauer und damit ist darüber wohl alles gesagt. Was sich in den Schwierigkeiten mit der sonst von Kracauer so souverän gehandhabten Sprache geltend macht, ist vielleicht die Ahnung, dass Kultur, die, sei es aus Schwäche, sei es aus Opportunismus, ihren Einspruchcharakter gegenüber dem Grauen verloren hat, vom Grauen selbst erfasst und von diesem untrennbar wird. Eike Geisel hat in seiner Einleitung und seinem Nachwort zu seinem zusammen mit Henryk Broder herausgegebenen Buch Premiere und Pogrom über den ,Jüdischen Kulturbund‘, der von 1933 bis 1941 in Deutschland existierte, einiges Instruktive dazu geschrieben. Mit Blick auf die zahllosen SS-Kader, „die nach dem Streß der Vernichtungsarbeit Entspannung bei klassischer Musik suchten, ins Theater gingen oder selbst Verse schrieben, um sich erhebende Gefühle zu verschaffen“, wendet sich Geisel gegen die übliche Entgegensetzung

50 Kracauer: „Offenbach“, S. 343. 51 Ebd., S. 48 u. 29.

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von Kultur und Barbarei.52 Das „Ineinander von Kultur und Terror“, das in den Konzentrationslagern seinen grausigen Höhepunkt fand, prägte bereits den als jüdische Selbsthilfeorganisation von entlassenen Künstlern gegründeten, unter Aufsicht der Gestapo und des Staatskommissars und SS-Brigadeführers Hans Hinkel operierenden, mit Beginn der Deportationen aufgelösten ,Kulturbund‘. Seit 1942 fanden dessen Aktivitäten dann ihre bruchlose Fortsetzung im Kulturbetrieb des Muster-Konzentrationslagers Theresienstadt, der sich zwischen Abtransporten nach Auschwitz und in andere Vernichtungslager abspielte. Kracauers Mutter und seine Tante, Rosette und Hedwig Kracauer, sind durch diesen Betrieb gegangen; sie waren unter denjenigen, die 1942 nach Theresienstadt und von dort in Vernichtungslager deportiert wurden.53 Hans G. Adler, einer der knapp 17.000 Überlebenden von über 140.000 Häftlingen des Lagers, hat in seinem Bericht die Kulturaktivitäten, die unter den Schlagworten „Freizeitgestaltung“ und „Stadtverschönerung“ liefen, so beschrieben: Transporte – das Kulturleben stockte; kaum waren sie abgerollt, kaum war die lähmende Furcht gewichen, und schon stürzte man sich, als ob nichts geschehen wäre, mit doppeltem Eifer in neue Tätigkeit und, ärger, in den oft ungesunden Rummel der gebotenen Genüsse. So viel auch zur Auswahl stand, nie schien es genug, man betrug sich schamlos unersättlich und gedankenlos.54

Die alltägliche Simultaneität von Kultur und Schrecken, die gespenstische Normalität ist es, die, wie Geisel schreibt, schließlich unmöglich macht, zwischen dem Konzentrationslager und der Welt außerhalb, der Vergangenheit und der Gegenwart noch eine klare Grenze zu ziehen.55 Wenn es im Konzentrationslager nicht nur Tod und unvorstellbares Elend, sondern daneben „alles [gibt], was eine Großstadt an kulturellen Einrichtungen und leichtem Vergnügen bietet“, wenn sich dort das Leben 52 Eike Geisel: „Premiere und Pogrom“. In: Premiere und Pogrom. Der J dische Kulturbund 1933 – 1941. Texte und Bilder. Hg. v. Eike Geisel und Henryk M. Broder. Berlin 1992, S. 7 – 35, hier S. 8. 53 „Dokument XIV 1: Lina Katz: Deportationen 1941 und 1942. Geschrieben 1961“. In: Dokumente zur Geschichte der Frankfurter Juden 1933 – 1945. Hg. v. der Kommission zur Erforschung der Geschichte der Frankfurter Juden. Frankfurt/M. 1963, S. 507 – 508, hier S. 508. 54 Hans G. Adler: Theresienstadt 1941 – 1945. Das Antlitz einer Zwangsgemeinschaft. Geschichte – Soziologie – Psychologie. Tübingen 1955, S. 579. Zahlen nach Raul Hilberg: Die Vernichtung der europ ischen Juden. Aus dem Amerikanischen von Christian Seeger, Harry Maor, Walle Bengs u. Wilfried Szepan. Frankfurt/M. 1997, Bd. 2, S. 457 f. 55 Geisel: „Premiere“, S. 9.

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draußen so exakt spiegelt, dass begabte Dirigenten „das Prominentenleben eines vom Publikum umjubelten Lieblings der Musen“ führen können,56 dann verschwindet die spezifische Differenz zwischen Lager und Außenwelt und es wird unklar, was sich schon drinnen und was sich noch draußen befindet. Auch Werke Offenbachs, sonst seit 1933 von den deutschen Spielplänen gestrichen, standen auf den Programmen des ,Jüdischen Kulturbundes‘ neben Veranstaltungen, die Titel wie „Unterhaltungs-Abend“ oder „Heiterer Abend“ trugen.57 Offenbachs Hoffmanns Erz hlungen war die letzte von siebzehn Opern, die bis April 1945 in Theresienstadt aufgeführt wurden – mit Unterstützung der Lagerkommandantur, die gerade diese Aufführung so sehr befürwortete, dass sie extra einen Boten zum Prager National-Theater schickte, um dort eine Partitur zu beschaffen. Nachdem eine Probe aus Hoffmanns Erz hlungen einer Kommission des Internationalen Kreuzes vorgeführt worden war, berichtet Stephan Stompor, besuchten dann der Kommandant Karl Rahm, seine Mitarbeiter und die Bewacher sowie die Mitarbeiter der jüdischen Ghetto-Verwaltung und einige der nach voraufgegangenen Massen-Deportationen und vielen Todesfällen […] noch im Ghetto befindlichen Gefangenen die Aufführung am 10. April 1945. […] So kam es in der Zeit ihrer endgültigen Niederlage zu dem Paradoxon, daß sich Nazis von jüdischen Gefangenen und in deren Gesellschaft mit Opernmusik des sonst verbotenen Offenbach vergnügen ließen.58

Kracauer selbst muss so unzufrieden mit der Manuskriptpassage gewesen sein, dass er sie, offenbar ohne Veranlassung durch den Verleger,59 fast gewaltsam durch einen einzigen, oben schon zitierten Satz ersetzte: „Sein 56 Adler: Theresienstadt, S. 579 u. 588. 57 Vgl. Judith Freise u. Joachim Martini (Hgg.): J dische Musikerinnen und Musiker in Frankfurt 1933 – 1942. Musik als Form geistigen Widerstandes. Eine Ausstellung von Judith Freise und Joachim Martini in der Paulskirche zu Frankfurt am Main vom 7. bis zum 25. November 1990. Ausstellungsbegleitheft. Frankfurt/M. 1990, S. 76, S. 225 u. 227. Eine Zusammenstellung von Offenbach-Aufführungen der jüdischen Kulturbünde findet sich auch in Stephan Stompor: „Die Offenbach-Renaissance um 1930 und die geschlossenen Vorstellungen für Juden nach 1933“. In: Offenbach und die Schaupl tze seines Musiktheaters. Hg. v. Rainer Franke. Laaber 1999 (= Thurnauer Schriften zum Musiktheater, Bd. 17), S. 257 – 266, hier S. 259 – 264. 58 Stompor: „Die Offenbach-Renaissance“, S. 266. 59 Der Verlag Allert de Lange scheint keine Einwände gegen Kracauers Text erhoben zu haben. Vgl. dazu die Korrespondenz Kracauers mit dem Verlag aus dem Jahr 1937, Zentrales Staatsarchiv (ZStA) Potsdam, Verlag Allert de Lange, Nr. 24.

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[des Buches] eigentliches Thema ist viel eher die gesellschaftliche Funktion Offenbachs.“60

Biographische Formeln Wenn man danach fragt, wie sich dies alles in der biographischen Erzählung niederschlägt, so ist zu sagen, dass allein schon die Tatsache, dass es sich überhaupt um eine Erzählung handelt, angesichts der historischen Situation überhaupt keine Selbstverständlichkeit ist. Folgt man dem, was Kracauer im Essay über die „Biographie als neubürgerliche Kunstform“ schreibt, dann ist letztlich jedes Erzählen, da es doch eine Handlung und damit jenes individuelle Bezugssystem, dessen Zerstörung er feststellt, noch voraussetzt,61 die illusorische Bekräftigung eines vergangenen Zustands und hat deshalb zwangsläufig etwas Euphemistisches, etwas von Nicht-Wahrhaben-Wollen. Dieses Nicht-Wahrhaben-Wollen wiederum ist in Jacques Offenbach nicht so naiv, wie es den Anschein haben könnte; es ist, als ob Kracauer sich mit der Feststellung, dass es mit dem Individuum und deshalb auch mit der Objektwelt vorbei ist – „beider Strukturen bedingen einander“, heißt es im Biographie-Aufsatz –62 nicht abgefunden habe: seine Entscheidung für das Erzählen als eine Weise, zu der verlorenen und zersprengten Welt doch noch durchzudringen,63 hat sehr viel von einem Trotzdem. Während das Programm einer „Gesellschaftsbiographie“, die emphatisch von der „Allerweltsbiographie“ abgegrenzt wird, den Abschied von der biographischen Fabel zu implizieren scheint, weigert sich der Text selbst, diesen Abschied zu vollziehen, und hält an der anachronistisch gewordenen Form fest. Es wird tatsächlich eine chronologische Lebensgeschichte Offenbachs erzählt, die durch Montage mit 60 Kracauer: „Offenbach“, S. 11. 61 „Vor jeder inhaltlich ideologischen Aussage ist ideologisch schon der Anspruch des Erzählers, als wäre der Weltlauf wesentlich noch einer der Individuation, als reichte das Individuum mit seinen Regungen und Gefühlen ans Verhängnis noch heran, als vermöchte unmittelbar das Innere des Einzelnen noch etwas: die allverbreitete biographische Schundliteratur ist ein Zersetzungsprodukt der Romanform selber.“ Theodor W. Adorno: „Standort des Erzählers im zeitgenössischen Roman“. In: Adorno Gesammelte Schriften, Bd. 11, S. 41 – 48, hier S. 42. 62 Kracauer: „Die Biographie“, S. 76. 63 „Wer erzählt, der verweilt; er umfährt liebend auch das, was nur ist und verändert werden soll.“ Siegfried Kracauer: „Zwei Deutungen in zwei Sprachen“. In: Ernst Bloch zu ehren. Beitr ge zu seinem Werk. Hg. v. Siegfried Unseld. Frankfurt/M. 1965, S. 145 – 155, hier S. 146. Vgl. auch Kracauer: History, S. 43.

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umfangreichen essayartigen Abschnitten über Paris, die Entstehung der modernen Gesellschaft, das Zweite Kaiserreich oder einzelne Werke Offenbachs und mit dutzenden von Miniaturportraits von Boulevardiers, Kurtisanen, Schauspielerinnen oder Ministern kombiniert wird. Der biographische Plot, der, durchbrochen von Passagen über die Welt des Pariser Boulevards und das gesellschaftliche Gefüge Frankreichs im 19. Jahrhundert, bis zum Ende des Buches durchgehalten wird, liest sich insgesamt beinahe wie der Prototyp einer bürgerlichen Heldenbiographie: In eine jüdische Musikerfamilie in Köln hineingeboren, erweist sich Offenbach früh als talentiert; er erhält Violinunterricht, komponiert schon mit acht Jahren kleine Lieder und bringt sich wenig später selbst das Cellospiel bei. Sobald er als Cellist einige Fertigkeit erlangt hat, bildet sein Vater aus ihm und seinen Geschwistern Julius und Isabella ein Trio, das in Kneipen, Weinstuben und bei Kaffeekränzchen aufspielt, um das magere Familieneinkommen aufzubessern. Nach einigen Jahren ist er so weit fortgeschritten, dass seine Kölner Lehrer ihm nicht mehr genügen, und er wird zusammen mit seinem älteren Bruder Julius nach Paris geschickt, den einzigen Ort, an dem sich jüdische Künstler unangefochten einen Namen machen können. Seines brillanten Spiels wegen wird er im Konservatorium aufgenommen, obwohl die Regeln ausschließlich Franzosen als Schüler vorsehen. Sein langer Weg durch Orchester und Salons beginnt. Er verdient seinen Lebensunterhalt als Orchestermusiker an der ,OpéraComique‘, nimmt bei Fromental Halévy Kompositionsstunden und tritt in Salons als Cellovirtuose auf. Doch sein wahrer Traum und seine Berufung ist das Theater. Einer Karriere als Bühnenkomponist stellen sich Hindernisse entgegen; eine erste Komposition für die Bühne scheitert an einem gleichgültigen Publikum. Erst als Offenbachs Mutter stirbt, ist die Nabelschnur zertrennt, die ihn mit seiner Kindheit verbunden hat, und er ist nun frei, sich in der Welt zu regen. Er heiratet Herminie d’Alcain, die ihn durch das Glück, das sie ihm schenkt, darin bestärkt, von nun an allein seiner wahren Bestimmung nachzuleben. Trotz der Mühsal der ersten Jahre im Theaterbetrieb lässt er sich nicht entmutigen. Als 1855, wenige Jahre nach der Revolution von 1848 und dem Staatsstreich Louis Bonapartes, die Pariser Weltausstellung stattfindet, eröffnet Offenbach auf den Champs Elysées, in der Nähe des auf dem Marsfeld neu errichteten Industriepalasts, ein eigenes winziges Theater, das ,Théâtre des Bouffes Parisiens‘, das sofort zu einer Publikumsattraktion wird. In Henri Meilhac und Ludovic Halévy findet er kongeniale Librettisten, deren Witz entscheidend zum Erfolg seiner Operetten beiträgt. Kleinen satirischen Einaktern folgen Werke, die Offenbach weltberühmt machen, Orpheus in der Unterwelt, Die schçne He-

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lena, Pariser Leben und zahlreiche weitere. Mit der Hochphase des Zweiten Kaiserreichs erreicht seine Karriere ihren Höhepunkt. Als das Kaiserreich in der Krise ist und sich demokratische und republikanische Tendenzen verstärken, lässt das Interesse des Publikums an Offenbach nach. Nach der Revolution von 1870/1871 leitet Offenbach als Direktor des ,Théâtre de la Gaîté‘ noch die Aufführung von Féerien, von denen einige auf seinen früheren Erfolgsstücken basieren, und komponiert daneben einige neue Operetten, aber seine große Zeit ist vorbei. Er fühlt sich schal und verbraucht. Einmal noch verwirklicht er einen lang gehegten Traum und komponiert die große Oper Hoffmanns Erz hlungen. Als er dieses Werk beendet hat, stirbt er. Das alles entspricht so sehr dem traditionellen Schema der Biographie,64 dass man es selbst als untergeordneten formalen Strang in einem sich als avantgardistisch verstehenden Text kaum erwarten würde. Doch obwohl Kracauer Offenbachs Erfolgsgeschichte immer wieder ironisiert – freundlicher Spott über den naiven Wunsch nach Ruhm, der Offenbach und seinem Vater zugeschrieben wird, durchzieht das ganze Buch – scheint der Ernst durch, mit dem die bürgerliche Idee des Individuums, das der Übermacht der vorgegebenen Verhältnisse trotzt und mit Begabung, Ausdauer, Geschicklichkeit und Glück seinen Traum gegen alle sich ihm entgegenstellenden Hindernisse verwirklicht, reaffirmiert wird. Wie brüchig diese Reaffirmation ist, wie sehr sie die Beschwörung von Verhältnissen ist, deren historische Vergänglichkeit der nach Frankreich verjagte, dort mit seiner Frau Elisabeth in einem schäbigen Hotelzimmer hausende, einer völlig ungewissen Zukunft entgegensehende Kracauer gerade am eigenen Leib erfährt, zeigt sich nicht zuletzt an der Forciertheit, mit der die kaum noch geglaubten, nur noch stereotyp wirkenden Elemente der biographischen Form im Angesicht des realen Verfalls des Lebenslaufs wider besseres Wissen festgehalten werden. Es ist kaum anzunehmen, dass Kracauer die Abgedroschenheit einer Formel wie: „Wie schnell er gerade in seiner eigensten Domäne vorwärtsdrang, geht daraus hervor, daß ihm auch Breuer [einer von Offenbachs Lehrern] bald nichts mehr zu bieten vermochte. Köln war damit für den Jungen erledigt“65, 64 Kracauer hatte dieses Schema 1930 so beschrieben: „Sie [die historische Gestalt, die zum Protagonisten der Biographie wird] hebt zu einer bestimmten Zeit an, entwickelt sich im Widerstreit mit der Welt, gewinnt Umriß und Fülle, tritt ins Alter zurück und erlischt.“ Kracauer: „Die Biographie“, S. 77. Löwenthals Feststellung „Die Biographien wiederholen nur, was wir schon immer wußten“ (Löwenthal: „Triumph der Massenidole“, S. 295), gilt auch hinsichtlich dieser Form. 65 Kracauer: „Offenbach“, S. 27.

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nicht spürte. Diese Formel gehört zum eisernen Bestand der Musikerbiographie, so heißt es beispielsweise in Paul Bekkers 1911 zuerst erschienener Lebensbeschreibung Beethovens: Er hatte gelernt, was hier zu lernen war, er hatte sich wenigstens in den letzten Jahren seiner Jugend freuen können. Seines Talentes war er jetzt sicher, die heimischen Nahrungsquellen waren erschöpft. Nun verlangte es ihn nach einem größeren Betätigungsfeld, schwereren Aufgaben, höheren Zielen.66

Was auch bei Bekker schon nicht mehr nach der enthusiastischen Bejahung des Ausbruchs aus der Enge der Provinz in eine Welt unbegrenzter Möglichkeiten, sondern nach dem Abspulen eines Klischees klingt, stößt bei Kracauer auf und wirkt wie eine absichtliche Rohheit. Ebenso scheint Kracauer auch in anderen Fällen die leere Formelhaftigkeit biographischer Floskeln nicht so sehr zu übersehen als sich über die Kritik daran, die seine eigene war, hinwegzusetzen. Es bedarf meist gar keines besonderen Aufwands, um den formelhaften Charakter einer Anekdote oder Wendung zu erkennen – wie vielleicht dort noch, wo berichtet wird, dass sich der junge, im Orchester unterforderte Virtuose Offenbach zusammen mit seinem Pultnachbarn Hippolyte Seligmann die Langeweile mit Eulenspiegeleien vertrieb, die mit kleinen Geldstrafen geahndet wurden.67 Meist geben sich die Klischees selbst als solche zu erkennen: sie sind Reste von Ideen, die nicht verschwinden, weil ihr Wahrheitsgehalt unerfüllt blieb, aber alle Substanz verloren haben, weil sie sich auf eine Weise verwirklicht haben, die sie dementierte; das Sprachgefühl registriert dies und sträubt sich gegen sie als etwas unerträglich Schales und Hohles, der Situation Unangemessenes, historisch Taktloses.68 So, wenn in einer Kurzformel, die den ganzen Plot zusammenfasst, von Offenbachs Theaterkarriere als seiner „wahren 66 Paul Bekker: Beethoven. Berlin 1912, S. 21. 67 Kracauer: „Offenbach“, S. 33. Vgl. Bekkers Beethoven: „Es kursieren so manche Anekdoten aus dieser Zeit, glaubwürdig verbürgt ist nur die eine, wonach [Beethoven] mit dem Sänger Heller eine Wette einging, ihn beim Vortrag der Lamentationen am Karfreitag durch kühne Modulation ,herauszuwerfen‘. Der mutwillige Streich gelang, und Beethoven kam, als der Kurfürst den Zusammenhang erfuhr, mit einem ,gnädigen Verweis‘ davon.“ Bekker: Beethoven, S. 15. 68 Das ist natürlich nicht die einzige mögliche Reaktion. Die andere, die Sucht nach dem Klischee, kann vielleicht damit erklärt werden, dass das Klischee eine große Idee, die Enttäuschungen gebracht hat und Schmerz bereitet, durch Neutralisierung zerstört und damit Bedürfnisse nach Rache an und Schutz vor ihr befriedigt, andererseits aber den Glanz, der einmal mit dieser Idee verbunden war, festhält, so dass sie als entsubstantialisierte gefahrlos und ohne Schmerz genossen werden kann.

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Bestimmung“ die Rede ist69 – eine Wendung, in der der Wunsch nach künstlerischer Erfüllung und damit der Anspruch, dass das Individuum mehr sein soll als bloß vegetierende, dem Tod verfallene Kreatur, untrennbar ist von der Verherrlichung von Karriere als Berufung durch eine höhere Instanz, hier „Glück“ genannt, deren Gunst als „eine Eigenschaft des Genies“ bezeichnet wird, die den Einzelnen aber, wenn sie ihn nicht ausnahmsweise zum „Favoriten“ erwählt und „wie eine Diva anstrahlt“, unbarmherzig zertritt.70 Eine solche „Theologie“ hatte Kracauer 1928 noch kritisiert, als er über eine Art von Filmen, die „mehr von der Prädestination als von den Gewerkschaften“ halten und sich aus der Masse der Arbeiter und Angestellten „stets nur den einen oder anderen vereinzelten Armen aus[suchen], den sie dann selig werden lassen“, spottete: Auch Telephonistinnen, Ladenmädchen und Privatsekretärinnen können hoffen, ohne ihren Berufsverband in Anspruch nehmen zu müssen, denn nicht nur Lotte hat ihr Gl ck gemacht, Lotte, die eine einfache Maniküre war, sondern noch manche andere Kollegin, der es niemand an der Wiege gesungen hatte.71

Nachdem der ,Allgemeine Deutsche Gewerkschaftsbund‘ am 1. Mai 1933, einen Tag vor seiner gewaltsamen Auflösung, zusammen mit den ihm assoziierten Angestellten- und Beamtenverbänden am Massenaufmarsch zum neuen „Feiertag der nationalen Arbeit“ teilgenommen hatte, um „den von leidenschaftlichem Kulturwillen beseelten deutschen Arbeiter“ als „ein vollberechtigtes Mitglied der deutschen Volksgemeinschaft“ in den nationalsozialistischen Staat einzugliedern,72 ist es kein Wunder, dass Kracauer der Prädestination, von der immerhin unbekannt war, wie sie sich entscheiden würde, nunmehr gegenüber der Gewerkschaft den Vorzug gab. Sie konnte als Freundin des ohnmächtigen Individuums auftreten wie im Chaplin-Film: „Gerade rechtzeitig noch kommt immer wieder ein Zufall herbeigeeilt und entreißt ihn den Gefahren, die er nicht ermißt.“73 In From Caligari to Hitler stellt Kracauer den Begriff des Glücks im Sinne von „luck“ nachdrücklich dem des dunkleren, die Unausweichlichkeit des Todes bezeichnenden, in Deutschland beliebteren 69 Kracauer: „Offenbach“, S. 101. Einschränkend ist zu sagen, dass die Wendung durch ein „als ob“ eingeklammert ist, das Kracauers Zweifel auszudrücken scheint. 70 Ebd., S. 73 u. 69. Als vom Unglück geplagte Kreaturen werden in Jacques Offenbach Bettler genannt (S. 155). 71 Siegfried Kracauer: „Film 1928“. In: ders.: Ornament der Masse, S. 295 – 310, hier S. 298. 72 Bundesvorstand des Allgemeinen Deutschen Gewerkschaftsbundes: „An die Mitglieder der Gewerkschaften!“ In: Gewerkschafts-Zeitung 43 (1933) H. 16, S. 1. 73 Siegfried Kracauer: „Chaplin“. In ders.: Kino, S. 167 – 170, hier S. 167.

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Schicksals, „fate“, entgegen und kontrastiert die Filmproduktion der Weimarer Republik mit alten amerikanischen und französischen „screen buffooneries“: They invariably exposed their hero to all kinds of pitfalls and dangers, so that he depended upon one lucky accident after another to escape. When he crossed a railroad, a train would approach, threatening to crush him, and only in the very last moment would his life be spared as the train switched over to a track hitherto invisible. The hero – a sweet, rather helpless individual who would never harm anyone – pulled through in a world governed by chance.74

Jacques Offenbach ist bis ins Detail von der Idee solch zufälligen Glücks bestimmt: zu dessen Eingriffen ins Geschehen zählen Zufallsbegegnungen Offenbachs mit berühmten oder sonst wie für sein Fortkommen nützlichen Personen –75 an einer Stelle spricht Kracauer mit kaum merklicher Ironie von „Prominenten und hohen Persönlichkeiten“76 –, aber auch andere unerwartete Wendungen, die „traurige Situationen mit einem Schlag in die heitersten Bouffonnerien […] verwandeln“,77 wie etwa das unverhoffte Auftauchen einer 20-Francs-Note. Doch muss das Glück, obwohl es unberechenbar und unverlässlich ist, in der Welt Offenbachs, anders als bei Chaplin, auch ergriffen werden, das „Wagnis“78 gehört dazu wie beim Glücksspiel und an der Börse, die immer wieder erwähnt und miteinander parallelisiert werden. Weil es denjenigen belohnt, der Risiken eingeht, nichts unversucht lässt und im entscheidenden Augenblick alles, auch an eigener Arbeitskraft, einsetzt, ist menschliches Handeln nicht ganz und gar vergeblich. Deshalb ist die Überwindung von Nöten und Schwierigkeiten, selbst das beharrliche Warten auf die Gunst der Stunde und die unerschütterliche Überzeugung von den eigenen Erfolgsaussichten, als Voraussetzung wirklichen Erfolgs ein Triumph des Individuums und daher erzählbar. Nur als zumindest partiell vom Individuum selbst errungener kann Erfolg überhaupt so genannt werden, nur als Scheitern potentiell erfolgreicher Unternehmungen kann es Niederlagen geben, und zusammen bilden beide die Grundform der Biographie. Marksteine auf dem Weg Offenbachs zur Verwirklichung seiner „wahren Bestimmung“ sind Erfolgsdaten im konventionellsten Sinn, die in Jacques Offenbach genauso 74 Siegfried Kracauer: From Caligari to Hitler. A Psychological History of the German Film. Princeton, NJ 1947, S. 21. 75 Vgl. etwa Kracauer: „Offenbach“, S. 58, S. 123 – 125 u. 127. 76 Ebd., S. 150. 77 Ebd., S. 68. 78 Ebd., S. 30 f. u. 58.

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aufgezählt werden wie in der „Allerweltsbiographie“ oder im Lebenslauf für Bewerbungs- und Reklamezwecke:79 Geburt und Ausbildung, Konzerte, Werke, die Eheschließung mit Herminie d’Alcain, Theaterlizenzen, wachsende Tantiemen, die Entdeckung künftiger Stars, internationale Aufführungen, prominente Theaterbesucherinnen und Theaterbesucher werden in der üblichen Weise angeführt, ebenso wie auch Widrigkeiten, misslungene Aufführungen usw. Nur weil die Gründung der ,Bouffes Parisiens‘, so wenig ihr Erfolg allein in Offenbachs Hand liegt, als „Sprung“ vorgestellt wird, für den Offenbach einen „langen Anlauf“ genommen hat, kann die Erlangung von Popularität als „Sieg“ bezeichnet werden.80 Diese Sichtweise wird halb parodiert, halb affirmiert, wenn berichtet wird, dass Offenbach „siegreich“ nach Berlin und Bad Ems vordringt, dass die Operette Europa zu „erobern“ beginnt und wenn Kracauer schließlich, in der Phantasie der Allmacht seines Protagonisten schwelgend und sie zugleich ironisierend, proklamiert: „Europa war Offenbach untertan.“81 Erfolg hat in Jacques Offenbach trotz allem noch ein wenig von dem verführerischen Reiz, in dem er einmal erschien, „als er Versprechen und Preis für jeden war, der stark, klug, wendig und nüchtern genug war, um sich ans Werk zu machen“.82 Diese Stärke, die sich vor allem als Zähigkeit in der Hinnahme von Unbill bewährt, wird dort angesprochen, wo es heißt: „Überhaupt war er nicht unterzukriegen. Er klopfte an alle Türen, ließ sich herumstoßen, lief sich die Füße wund.“83 Etwas davon setzt sich fort in dem Flüchtling, dessen Überleben von solchem Verhalten abhängt und der, mehr noch als Offenbach, „seine Sache auf nichts gestellt hat“.84 Aber der Akzent, der auf der Hoffnung auf die unsichere Prädestination liegt, kennzeichnet den Übergang zu einer Situation, in der der Selbsterhaltungswille um so verbissenere Züge annimmt, je weniger durch ihn zu erreichen ist. Wenn es weit eher von Zufällen abhängt als vom eigenem Tun, ob man mit den notwendigen Reisedokumenten in die USA entkommt oder, wie es Kracauer 1940 79 Von überzeugend klingenden Lebensläufen und Beglaubigungsschreiben hing die Vergabe von Visa ab. Lebensläufe zu schreiben wurde daher zu einer Hauptbeschäftigung für Flüchtlinge gerade in dem Augenblick, in dem sich die Vorstellung des Lebens als Erfolgsgeschichte sinnlos und wie ein Hohn auf ihre reale Lage ausnehmen musste. 80 Kracauer: „Offenbach“, S. 145. 81 Ebd., S. 173, S. 234 u. 251. 82 Löwenthal: „Triumph der Massenidole“, S. 282 f. 83 Kracauer: „Offenbach“, S. 71. 84 Ebd., S. 165.

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unmittelbar drohte,85 in französischen Internierungslagern festgehalten wird und von dort in das System der deutschen Konzentrations- und Vernichtungslager gelangt, wird das Beharren darauf, ein handelndes Subjekt und nicht ein beliebig hin- und herschiebbares Objekt zu sein, zu einer so verzweifelten wie lebenswichtigen Beschwörungsleistung. Die Härte, auch im Willen zur Realitätsverleugnung, die der Einzelne dabei auch gegen sich selbst aufzubringen gezwungen ist, muss im Fall Kracauers, der die Herrschaft des Subjekts über sich und andere nicht anerkannte und sich so wenig daran gewöhnen konnte, eines zu sein, dass er zeitlebens etwas von einem staunend und verängstigt durch die Welt laufenden Kind an sich hatte, enorm gewesen sein. Von dieser Anstrengung sprechen viele Stellen in Jacques Offenbach. So lässt sich die zitierte Wendung, Köln sei für Offenbach „erledigt“ gewesen, als Reaktion auf die Zurückweisung durch eine Gesellschaft lesen, die über Kracauer wie über alle Juden ein Todesurteil ausgesprochen hatte: wie andere auch neigte Kracauer dazu, sich aus Selbstachtung einzureden, er habe Deutschland freiwillig verlassen, als wäre er in der gleichen Lage wie beispielsweise Sebastian Haffner, der über das Berliner Kammergericht sagen konnte, in diesem Gebäude habe er „nichts mehr zu suchen“ gehabt und sich für das Exil entschieden in dem

85 Kracauer wurde nach Kriegsausbruch im September 1939 als feindlicher Ausländer interniert und nach zwei Monaten aufgrund von fünf Ehrenerklärungen entlassen; 1940 drohte ihm im Mai und nach der französischen Niederlage erneut, aufgrund der antijüdischen Gesetze der Vichy-Regierung, die Einsperrung in ein Lager. Jedes Mal waren Interventionen französischer und amerikanischer Staatsbürger ausschlaggebend dafür, dass er der dauerhaften Internierung entging. Er entkam zusammen mit seiner Frau im Frühjahr 1941 gerade noch rechtzeitig über Spanien und Portugal in die USA. Vgl. Ingrid Belke u. Irina Renz: Siegfried Kracauer 1889 – 1988. Marbach 1988 (= Marbacher Magazin, Bd. 47), S. 95 – 101. Die antijüdischen Gesetze und Verordnungen der Vichy-Regierung 1940 und 1941, darunter die Ermächtigung der Präfekten zur Internierung ausländischer und staatenloser Juden im Oktober 1940, leiteten parallel zu entsprechenden Maßnahmen im besetzten Teil des Landes in Frankreich den Prozess der schrittweisen Entrechtung, Enteignung und schließlich Vernichtung der Juden ein. 1942 begann die Massendeportation von Juden aus Frankreich, unter ihnen die ausländischen und staatenlosen Juden aus den Internierungslagern der Vichy-Regierung, nach Auschwitz. Weil sich die französischen Behörden nur bei der Auslieferung ausländischer Juden, nicht aber bei der Aufspürung und Zusammentreibung französischer Juden kooperationswillig zeigten, erreichten die Deutschen bis 1945 ihr Ziel der völligen Auslöschung der in Frankreich ansässigen Juden nicht. Vgl. Hilberg: Vernichtung, Bd. 2, S. 641 – 701.

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sicheren und trüben Wissen, „daß es hier keine Zukunft mehr für mich gab.“86 Wohl in denselben Zusammenhang gehört der forcierte, für Kracauer ansonsten völlig untypische Maskulinismus, der sich fast überall dort zeigt, wo von Frauen und von Sexualität die Rede ist. Dies beginnt mit dem Blick auf die Mutter Offenbachs, Marianne Rindskopf. Nach einer archaisch wirkenden Einleitung des Kindheitskapitels mit einer männlichen Ahnenreihe – Offenbach wird sogar zuerst als zweiter Sohn und dann erst als siebtes Kind seiner Eltern vorgestellt –87 und einer knappen Lebensgeschichte des Vaters, aus dessen Perspektive Kracauer den ersten Teil des Kapitels erzählt, findet sich ein ganz kurzer Absatz über sie – und zwar bezeichnet dieser Absatz genau den Augenblick, in dem die Söhne mit dem Vater nach Paris abreisen. Schluchzend legt sie ihren Arm auf eine glühende Ofenplatte und muss von der mit ihr in Köln zurückbleibenden Tochter Julie aus ihrer Versenkung aufgeschreckt werden. Halb sentimental, halb spöttisch imaginiert Kracauer in erlebter Rede ihre Sorge um ihre halbwüchsigen Kinder „in diesem wilden Paris, das so viel Menschen verschlang“.88 Damit wird die Mutter, ohne dass sich die Interpretation zwingend aus der überlieferten Anekdote ergäbe, zur Repräsentantin eines rührenden, aber in seiner Borniertheit lächerlichen Bestrebens, ihr „Jaköble“, um das sie bangt,89 von seinem Schritt in die große Welt zurückzuhalten. Es ist nur folgerichtig, dass erst ihr Tod Offenbach „reif zum Durchbruch“ werden lässt: „Er war“, heißt es später im Buch, „unter schützenden Hüllen zur Selbständigkeit gediehen und konnte sich nun wirklich in der Welt regen.“90 Selbst Offenbachs Trauer muss partout in falsch auftrumpfender Betonung reifer, selbstbeherrschter Männlichkeit ironisch herabgesetzt werden: „Wie jeder fühlende Jüngling ergoß Jakob am Todestag seinen Schmerz in holprige Verse.“91 Komplementär zu solchen Rohheiten verhält sich die Sentimentalität, mit der Kracauer stets von neuem auf eine Walzermelodie zurückkommt, mit der Offenbach von

86 Sebastian Haffner: Geschichte eines Deutschen. Die Erinnerungen 1914 – 1933. Mit einer Vorbemerkung zur Taschenbuchausgabe und einem Nachwort v. Oliver Pretzel. München 2003, S. 190 f. 87 Vgl. Kracauer: „Offenbach“, S. 26. 88 Vgl. ebd., S. 27. 89 Vgl. ebd. 90 Vgl. ebd., S. 70. 91 Ebd.

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der Mutter eingewiegt wurde und der er voller Heimweh auf der Suche nach der verlorenen Kindheit nachgeht.92 So wie das Verhältnis zur Mutter sind auch die erotischen Beziehungen im Pariser Boulevardmilieu in Jacques Offenbach ein Ort, an dem sich das selbstbeherrschte Subjekt bewährt. Adorno hat Kracauer brieflich vorgeworfen, dass das Sexuelle in dem Buch zum Objekt eines „blinzelnden Humors“ werde, in dem „alle bürgerliche Sexualunterdrückung“ nachschwingt – es fällt auch das Wort „Altherrenhumor“.93 In den meisten Rezensionen zum Briefwechsel ist dies, wie auch die übrige Kritik Adornos an Jacques Offenbach, skandalisiert und als verletzende Besserwisserei des „altkluge[n] Junggenie[s]“94 zurückgewiesen worden. Tatsächlich ist blinzelnder Humor, ob Adorno nun altklug war oder nicht, in der Biographie im Detail nachweisbar. So beispielsweise dort, wo Kracauer in seiner Beschreibung Arsène Houssayes, des Direktors der ,ComédieFrançaise‘, den abgeklärten erotischen Kenner mimt, der augenzwinkernd-ironisch von den Abenteuern eines anderen Kenners berichtet: Aus einer rauschartigen Jugend auftauchend, die er inmitten der romantischen Bohème verlebt hatte, erntete er ohne Anstrengungen alles, was begehrenswert war: die Frauen, die Freunde, die literarischen Erfolge, die Annehmlichkeiten einer sorglosen Existenz. Nicht so, als ob er den Dingen auf den Grund gegangen wäre; aber er genoß sie mit Geschmack. Der kultivierte Liebhaber; der ewige Dilettant.95

Fortwährend wird in Jacques Offenbach das Sexuelle aufgereizt, und fast immer macht sich dabei zugleich das Bemühen bemerkbar, es in seiner Unberechenbarkeit auf Sicherheitsabstand zu halten. In nur scheinbarem Widerspruch zur Koketterie, mit der von „charmanten Dessous“, erotischen „Leckerbissen“, der „amouröse[n] Betätigung“ des Kaisers oder der „nicht ganz einwandfreie[n] Vergangenheit“ der kaiserlichen Schwie92 „War es gelegentlich dieses Kölner Aufenthalts, daß Offenbach der Fortsetzung der acht Walzertakte auf die Spur zu kommen suchte, mit denen die verstorbene Mutter ihn eingewiegt?“, lautet eine charakteristische Stelle. Ebd., S. 96. 93 Adorno: Brief an Kracauer, v. 13. 5. 1937, S. 357 f. 94 Vgl. Michael Rutschky: „Adorno und Kracauer. Friedel und Teddie“. In: Frankfurter Rundschau, 23.12.2008. http://www.tinyurl.com/nw3l6g (Stand: 4. 6. 2009) und Wolfram Schütte: „Friedels seltsame Freundschaft mit Teddie. Der Briefwechsel Adorno-Kracauer als ein doppelter Lebensroman gelesen“. In: titel magazin, 29. 12. 2008, http://www.tinyurl.com/m5nmp4, http://www.tinyurl.com/ks7g3r (Stand: 4. 6. 2009). 95 Kracauer: „Offenbach“, S. 124.

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germutter die Rede ist,96 darf Herminie Offenbach beinahe ausschließlich als treusorgende Gattin auftreten, deren Existenz ganz im Dienst der Karriere ihres bewunderten Mannes, freilich auch seiner Selbstbehauptung in schwierigen Zeiten steht: mit einer ihr gewidmeten Romanze reüssiert er, sie beflügelt seinen Ehrgeiz, sie unterstützt ihn. Kurz, sie erwirbt sich „große Verdienste um die Erfolge ihres berühmten Mannes“, wie ein Freund des Ehepaares zustimmend zitiert wird, leistet ihm „stete Hilfe“ und wacht über „sein Glück“: „die Arbeit“.97 Wie eng das verunglückte Verhältnis zum Sexuellen mit der Beschwörung des sich durchsetzenden, gegen Anfechtungen gefeiten und deshalb zur Selbstverhärtung gezwungenen Subjekts zusammenhängt, zeigt sich schlagend, wenn Kracauer eine Bemerkung Anton Henselers, dessen Offenbach-Biographie ihm als Vorlage diente, zum Leitmotiv ausbaut. „Aber seinem unermüdlich weiterstrebenden Ehrgeiz stand noch immer die Opéra-Comique als lockendes Ziel vor Augen“,98 heißt es bei Henseler, und daraus wird bei Kracauer der Vergleich der ,OpéraComique‘ mit einer abweisenden Geliebten, die Offenbach wie eine Festung zu erobern versucht: Ungleich stärker als diese Erkenntnis beflügelte ihn die blinde Sehnsucht des Knaben, die seinem Ringen mit der Opéra-Comique erst die erbitterte Inbrunst verlieh. Er warb um sie wie ein Liebender um ein sprödes Mädchen, er bedrängte sie mit der List und Ausdauer eines Feldherrn, der eine Festung belagert. Da die Verteidiger der Festung noch nicht das geringste Zeichen der Ermüdung geäußert hatten, schritt Offenbach zu einem Angriff von bisher unerreichter Stärke. Seine Streitmacht bildeten sieben neue Opernfragmente.99

Immer wieder kommt Kracauer auf die „Manöver“ zurück, die Offenbach anstellt, um Herrn Basset, den Direktor der ,Opéra-Comique‘, „möglichst lückenlos einzukreisen“, ihn „in die Enge“ zu treiben, in seine Verteidigung „eine Bresche“ zu schlagen; immer wieder betont er die „Zähigkeit“, mit der Offenbach der ,Opéra Comique‘ „zusetzte“, um ihre „Widerstandskraft“ zu brechen, bis die Oper schließlich, nachdem sie zwischendurch diverse „Gebandel mit ihrem Bedränger“ angestellt hat, irgendwann „ihr Zieren sein“ lässt.100 In der Metaphorik, die im Medium der Ironie mit der Idee von Sexualität als Krieg und Vergewaltigung kokettiert, 96 97 98 99 100

Ebd., S. 82, S. 178 u. 139. Ebd., S. 101 u. 241. Anton Henseler: Jakob Offenbach. Berlin 1930, S. 151. Kracauer: „Offenbach“, S. 107. Ebd., S. 107 f., S. 123, S. 140 u. 216, vgl. auch S. 164.

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verrät sich nicht nur etwas über die von Kracauer reaffirmierte, dem ganzen biographischen Schema zugrunde liegende Selbstbehauptungspraxis, die, auf den Durchsetzungswillen als ihren Kern reduziert, von Zwang ununterscheidbar wird. Noch in anderer Hinsicht ist die Stelle aufschlussreich. Kracauer selbst gibt einen Hinweis zu ihrer Deutung: Offenbachs „Vorgehen gegen [!] diese“, die Opéra Comique, „erinnert von fern an die naive Dreistigkeit, mit der sich Chaplin im Zirkus-Film dem Zirkusdirektor gegenüber verhält“.101 Eben hierüber, über das Verhalten des Tramps im Film Zirkus, hatte Kracauer 1928 geschrieben: Drastischer und genauer […] offenbart sich seine Fremdheit und Hilflosigkeit in gewissen Zügen, die beinahe unschön wären, wenn sie bei einem anderen Menschen aufträten. Er erpreßt, nachdem er über seinen Wert für den Zirkus aufgeklärt worden ist, von dem Zirkusdirektor ein hohes Gehalt.

Aber „gerade solche Anmaßungen“, wie auch die Prahlereien des Tramps gegenüber einem Löwen oder die Verwendung eines k.o. geschlagenen Menschen als Fußschemel, verraten, so Kracauer, unzweideutig seinen Mangel an Selbst-Bewußtsein. Nur ein äußerst verwundbarer Mensch, der sich in der Welt nicht zu regen versteht, nimmt derartige Anläufe, um sich in ihr zu behaupten. Sie brechen in sich zusammen und machen ihn lächerlich. Hinter den Masken der Notwehr verbirgt sich die wahre Gestalt, die sich immer wieder in kurzen Augenblicken bezeugt.102

Diese wahre Gestalt des Tramps ist, ebenso wie die Offenbachs, den Kracauer an einer Stelle den „Inbegriff von Zärtlichkeit und Heiterkeit“ nennt,103 die eines Menschen, der gut und zärtlich ist, Achtung vor jeder Kreatur hat und stets bereit ist zu helfen. Er ist „ohne Oberfläche“ und an der Stelle, an der andere Menschen ein Ich haben, klafft bei ihm „ein Loch, in das alles hereinfällt“.104 Ganz ähnlich hat Kracauer sich selbst gesehen; Adorno, der dies wusste, nennt ihn einen Menschen „ohne Haut“.105 Die Offenbach-Biographie ist auch deshalb schwer zu verstehen, weil so viele Motive in ihr „Masken der Notwehr“ sind.106 Hinter diesen verbirgt sich das „mehr als Kierkegaardsche Zittern“ Kracauers „damals und in all jenen 101 102 103 104 105 106

Ebd., S. 107 f. Kracauer: „Chaplin“, S. 168 f. Kracauer: „Offenbach“, S. 205. Kracauer: „The Gold Rush“, S. 166. Adorno: „Der wunderliche Realist“, S. 389. Die Maske ist dann auch ein immer wiederkehrendes Motiv, angefangen mit einer Szene, in der sich ein an Cholera erkrankter Harlekin die Maske vom Gesicht reißt. Vgl. Kracauer: „Offenbach“, S. 22 u. 38 – 46.

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Jahren“,107 das vor allem im letzten Teil der Biographie hervorbricht, der von Offenbachs gesellschaftlichem Abstieg handelt, vom Zusammenbruch des schönen Scheins des Kaiserreichs, der Panik des Außer-Kurs-Gesetzten und seinem Grauen vor dem lückenlos sich schließenden Koordinatensystem von Raum und Zeit, das kein Entrinnen vor dem sicheren Tod mehr zulässt. Weil die Idee des sich durchsetzenden Subjekts eine Maske ist, die aus Not aufgesetzt wird, bleibt unvermittelt die der Vorsehung neben ihr stehen. Tatsächlich unterscheidet sich das Glück zwar durch seinen unausgemachten Inhalt vom stets tödlichen Schicksal, nicht aber darin, dass es als eine über den Individuen waltende Macht jenseits ihrer Kontrolle steht. Kracauers Spott über Louis Bonapartes Sterngläubigkeit108 wirkt schal, wenn daneben ohne jede Ironie von Offenbachs „Unstern“ und vom Theater als dem „ihm vorbestimmten Ort“109 die Rede ist. In einer Formulierung, die Kracauer für so gelungen und so charakteristisch für das ganze Buch hielt, dass er sie für den Klappentext der deutschsprachigen Ausgabe auswählte,110 ist die astrologische Denkweise auf die Spitze getrieben: „Auch künftighin sollte jede große Ausstellung mit einem entscheidenden Abschnitt in Offenbachs Leben zusammenfallen und, dem Vollmond gleich, der die Meeresbrandung erzeugt, sein Glück oder Unglück hoch aufschäumen lassen.“111 Leo Löwenthal hat in seinem 1938 geschriebenen Aufsatz „Die biographische Mode“, der als indirekte Antwort auf Jacques Offenbach gelesen werden kann,112 bei Emil Ludwig und Stefan Zweig die Tendenz festge107 Siegfried Kracauer: Brief an Theodor W. Adorno, v. 21.11.1964. In: Adorno u. Kracauer: Briefwechsel, S. 684 – 687, hier S. 685. Vgl. Sören Kierkegaard: „Furcht und Zittern“. In: ders.: Die Krankheit zum Tode – Furcht und Zittern – Die Wiederholung – Der Begriff der Angst. Hg. v. Hermann Diem u. Walter Rest. Köln, Olten 1956, S. 179 – 326. 108 Kracauer: „Offenbach“, S. 132, S. 142, S. 178 u. 203. 109 Ebd., S. 101 u. 30. 110 Vgl. Siegfried Kracauer: Brief an Walter Landauer, v. 26.3.1937. ZStA Potsdam, Verlag Allert de Lange, Nr. 24, Bl. 312. 111 Kracauer: „Offenbach“, S. 98. 112 Das ,Insitut für Sozialforschung‘ stellte die Veröffentlichung des Aufsatzes zurück, „weil wir keine deutschen Juden im Exil kränken wollten“. Leo Löwenthal: „Erinnerungen an Theodor W. Adorno“. In: Adorno-Konferenz 1983. Hg. v. Ludwig von Friedeburg u. Jürgen Habermas. Frankfurt/M. 1983 (= Suhrkamp Taschenbuch Wissenschaft, Bd. 460), S. 388 – 401, hier S. 396. Möglicherweise bezogen sich diese Bedenken nicht nur auf Stefan Zweig und Emil Ludwig, sondern auch auf Kracauer. Der Aufsatz wurde erst 1955 publiziert.

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stellt, „die Geschichte“ oder „die Zeit“ zum Subjekt der biographischen Handlung und die Menschen zu ihren bloßen Funktionen zu machen. Dieser Fatalismus spiegelt Löwenthal zufolge, wenn auch auf verzerrte Weise, die Realität wider: an den bürgerlichen Mittelschichten, ihren Literaten und den Konsumenten ihrer Erzeugnisse vollzieht sich in der Tat in immer zunehmendem Maße jener eherne Rhythmus der Weltgeschichte, jener unbarmherzige Zeitgeist, so, daß das ,Allgemeine‘, von dem jene Kategorien ihn Phrasen sprechen, das Besondere der Individualität vernichtet.113

In seiner Unbegreiflichkeit und Willkür unterscheidet sich Kracauers „Glück“ letztlich nicht von Zweigs und Ludwigs „Göttin“, die „erhaben“ und „unbestechlichen Blicks“ den „Rhythmus der Epoche“ vorgibt.114 Wenn Löwenthal feststellt, dass Naturanalogien in den von ihm untersuchten Biographien nur ein Ausdruck für die Übermacht der Geschichte, d. h. des hypostasierten gesellschaftlichen Zusammenhangs sind,115 dann gilt dasselbe auch für Kracauers astrologischen Vergleich, in dem es letztlich keine Gesellschaft mehr gibt, kein Individuum und kein Werk, nur noch Natur, die nach dem Gesetz von Ursache und Wirkung auf Natur einwirkt. Dennoch ist Kracauers „Glück“ eine gesellschaftliche Kategorie. Letztlich bezeichnet es nichts als die temporäre Koinzidenz der gesellschaftlichen Allgemeinheit mit den Wünschen und Bedürfnissen des Individuums: „Jetzt, da die für Offenbach empfängliche Gesellschaft blühte, näherte sich ihm wieder das Glück“.116 Adorno, der Kracauer – durchaus zu Unrecht – vorwarf, das Verhältnis zwischen Individuum und Gesellschaft als prästabilierte Harmonie zu konzipieren,117 hätte dies eigentlich sehen müssen; bei ihm gibt es zumindest in späteren Schriften ganz Ähnliches: Ist der individuelle Geist nicht, wie es der vulgären Trennung von Individuum und Allgemeinem gefällt, vom Allgemeinen „beeinflußt“, sondern in sich durch die Objektivität vermittelt, so kann diese dem Subjekt nicht immer nur feindlich sein; die Konstellation verändert sich mit der geschichtlichen Dynamik. In Phasen, da der Weltgeist, die Totalität sich verfinstert, ist es selbst bedeutend Angelegten versagt, zu werden, was sie sind; in günstigen wie der

113 Leo Löwenthal: „Die biographische Mode“. In: Lçwenthal Schriften, Bd. 1, S. 231 – 257, hier S. 235. 114 Vgl. ebd., S. 233 f. 115 Vgl. ebd., S. 242. 116 Kracauer: „Offenbach“, S. 149. 117 Adorno: „Siegfried Kracauer, Jacques Offenbach“, S. 363.

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Periode während und unmittelbar nach der Französischen Revolution wurden Mittlere hoch über sich hinausgetragen.118

Eben dies versucht Kracauer an Jacques Offenbach zu zeigen: dass es spezifischer gesellschaftlicher Bedingungen bedarf, damit jemand Eulenspiegeleien betreiben, Konzertvirtuose sein, die Operette zu einer eigenständigen Form entwickeln und Welterfolge erringen kann, und dass das Individuum, sobald diese Bedingungen nicht mehr gegeben sind, nur noch eine hilflose Kreatur ist: „kein Ariel […], sondern ein Mensch, über den der Tod Gewalt hatte und seine Angst vor der Vergänglichkeit ins Ungemessene wachsen ließ.“119

Die französische Gesellschaft des 19. Jahrhunderts in Jacques Offenbach Die Schnelligkeit, mit der Offenbach während des Bürgerkönigtums Louis-Philippes „eine Sonderstellung errang“, erklärt sich laut Kracauer „nicht zuletzt aus dem Umstand, daß sich gerade damals die Gesellschaft bildete, die seinem Wesen entsprach.“120 Hier herrscht tatsächlich – vorübergehend – Harmonie. Die ungeheuren Perspektiven, die sich mit dem „Durchbruch der modernen Gesellschaft“ eröffnen, wirken auch auf Offenbach beflügelnd. Die Auflösung aller traditionellen Bindungen durch das Geld setzt den Geist frei und befähigt zu Spott und Ironie, die Offenbachs Kompositionen und später die Libretti seiner Operetten kennzeichnen.121 Der Boulevard entsteht, jener Umschlagplatz, der sich, wie Kracauer Alfred de Musset zitiert, mit wenigen Schritten durchmessen 118 Theodor W. Adorno: „Negative Dialektik“. In: Adorno Gesammelte Schriften, Bd. 6. Hg. v. Rolf Tiedemann unter Mitwirkung v. Gretel Adorno, Susan BuckMorss u. Klaus Schultz. Frankfurt/M. 2003 (= Suhrkamp Taschenbuch Wissenschaft, Bd. 1706), S. 7 – 412, hier S. 300 f. Der Abschnitt „Weltgeist und Naturgeschichte. Exkurs zu Hegel“ in der „Negativen Dialektik“ ist eine einzige Kritik des Begriffs des Weltgeistes. Nur hierdurch unterscheidet sich die zitierte Passage von dem Vergleich der Weltausstellungen mit dem Ebbe und Flut erzeugenden Mond. Aber auch Adorno zollt durch die Anerkennung des Weltgeists als Subjekt und durch den Benjamin entlehnten Begriff der Konstellation, der die Verbindung zur Astrologie aufrechterhält, dem „perpetuierten Mythos“ (S. 299) Tribut. 119 Kracauer: „Offenbach“, S. 344. 120 Ebd., S. 72. 121 Vgl. ebd., S. 72 – 77.

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lässt und dennoch die ganze Welt enthält.122 „Die Atmosphäre des Boulevard“, heißt es an einer Stelle, die beinahe wie Adornos Weltgeist-These klingt, „war so trächtig von literarischen Keimen, daß viele, die unter normalen Umständen keinen gedruckten Satz hervorgebracht hätten, plötzlich befruchtet wurden und das Talent zum Romancier oder Librettisten in sich entdeckten.“ Und Kracauer fügt, hier ganz im Gegensatz zur individualistischen Tendenz, hinzu: „In Wahrheit schrieben jedoch gar nicht sie, sondern der Boulevard bediente sich ihrer wie eines Mediums, um sich durch sie hindurch zu äußern.“123 Auch Offenbach braucht sich in dieser Welt nur zu geben wie er ist und treibt „schon, ohne sein Zutun, der Erfüllung entgegen“.124 Als internationaler Ort der Vermittlung, an dem Käufer und Verkäufer, Ware und Geld aufeinander treffen, fällt der Boulevard nach Kracauer aus den gesellschaftlichen Zusammenhängen heraus. „Er war ein dem Zugriff der gesellschaftlichen Realität entrückter Ort. Ein neutraler Treffpunkt. Ein unwirkliches Gelände“.125 In der Topographie der Stadt bildet er die äußere Entsprechung von Offenbachs der Utopie zugekehrtem Wesen; er hat, wie ausdrücklich gesagt wird, „exterritorialen Charakter“.126 Exterritorialität bedeutet hier wie in Kracauers späteren Schriften Nichtzugehörigkeit sowohl in räumlicher als auch in zeitlicher Hinsicht. Sie ist Freiheit von der Leere und Unentrinnbarkeit des Raum-Zeit-Kontinuums, damit aber von Natur und von jeglichem Zwang: Wer sich in den Passagen verlor, glaubte durch eine Zeitlücke abgeirrt und unversehens in eine Märchenhöhle geraten zu sein. Die Lücke schloß sich gleich wieder. Marmor schimmerte, goldene Zierate glühten, und die künstlich erhellten Blumen, Pistolen, Flacons und Leckerbissen hinter den Spiegelscheiben waren ebenso viele Schätze. Hier entfaltete die Stadt mehr als anderswo ihre verwandelnden Kräfte. Dem Himmel und der Erde entrückt, tat sich hier ein Reich auf, das aus allen natürlichen Zusammenhängen her122 123 124 125 126

Vgl. ebd., S. 86. Ebd., S. 92. Ebd., S. 72. Ebd., S. 88. Vgl. ebd., S. 88; sowie Kracauer: History, S. 83 f. Zum Begriff der Exterritorialität bei Kracauer liegt eine Reihe von Arbeiten vor, darunter: Martin Jay: „The Extraterritorial Life of Siegfried Kracauer“. In: Salmagundi (1975/76) H. 31/32, S. 49 – 106 und Inka Mülder-Bach: „Schlupflöcher. Die Diskontinuität des Kontinuierlichen im Werk Siegfried Kracauers“. In: Siegfried Kracauer. Neue Interpretationen. Akten des internationalen, interdisziplinären Kracauer-Symposions Weingarten, 2.–4. März 1989. Hg. v. Michael Kessler u. Thomas Y. Levin. Tübingen 1990 (= Stauffenburg Colloquium, Bd. 11), S. 249 – 266.

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ausgehoben schien und gleich der Bühne die Möglichkeit wunderbarer Illusionen gewährte.127

Der ganze Boulevardkomplex ist „eine künstliche, von unsichtbaren Dämmen umgebene Landschaft“,128 durch den die Natur in „unerreichbare Ferne“ gerückt wird.129 Seine märchenhaften Züge rühren daher, dass auch im Märchen „die bloße Natur um des Sieges der Wahrheit willen aufgehoben“ ist.130 Weil der Boulevard ein Vorschein vollendeter Künstlichkeit ist, verweist er auf „einen Zustand […], in dem sämtliche finsteren Gewalten abgebaut wären“; er liegt „in der Nachbarschaft jener fernen Heimat, die Offenbach bereits in seinem Walzer Rebecca angesprochen hatte“.131 Abgetrennt „von der Scholle“ und „kein Zuhause im üblichen Sinne“,132 ist er mit seinen Cafés, Restaurants und Passagen, seinen exotischen Händlern, Akrobaten, Prostituierten, Bettlern und internationalen Passantinnen und Passanten eine „Heimat der Heimatlosen“. Flüchtlinge aller Art, aus denen sich die Bohème zusammensetzt, finden hier Zuflucht und tauchen in der Menge unter: Schauspielerinnen, Journalisten, Künstler, die Jeunesse dorée und die Dandies, die aus Ekel den Lebensformen der Gesellschaft den Rücken gekehrt haben, aber auch Emigranten im buchstäblichen Sinn: Adlige verschiedener Nationalität, ein stummer Perser und auch Offenbach selbst.133 Der Boulevard ermöglicht Offenbach den ihm gemäßen „Zustand des freien Schwebens“.134 Deshalb liebt Kracauer ihn wie seinen späteren Wohnort New York, der ebenfalls „Exterritorialität ermöglicht“,135 deshalb fühlt er sich gleich seinem Protagonisten wohl im Menschengewimmel, und deshalb verzeiht er den Boulevardiers die Kehrseite der Unterordnung des geistigen und erotischen Lebens unter die Herrschaft des Geldes: „daß sie sich kaufen ließen“.136

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Kracauer: „Offenbach“, S. 37. Ebd., S. 88. Ebd., S. 38. Siegfried Kracauer: „Das Ornament der Masse“. In: ders: Ornament der Masse, S. 50 – 63, hier S. 56. Kracauer: „Offenbach“, S. 94, S. 89. Ebd., S. 89. Ebd., S. 71 – 89. Ebd., S. 94 u. 89. Vgl. Siegfried Kracauer: Brief an Theodor W. Adorno, v. 8.11.1963. In: Adorno u. Kracauer: Briefwechsel, S. 621 f., hier S. 622. Kracauer: „Offenbach“, S. 77.

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„Die Ghettos, die vom Spätmittelalter bis ins achtzehnte Jahrhundert Juden von Christen räumlich trennten“, schreibt Jean Améry, „waren Gefängnisse, gewiß, und insofern kaum anders als das Ghetto von Warschau. Sie waren aber zugleich auch, und das darf niemals vergessen werden, eine Art von Heimat der Heimatlosen.“137 Zum Ghetto steht der Boulevard in unterirdischer Beziehung. Die „ferne Heimat“, in deren Nachbarschaft der Boulevard liegt, ist Kracauer zufolge dieselbe wie die „durch Prophetenwort verkündete Zeit […], in der alle Schranken vorläufiger Art beseitigt und die Menschen endlich zu Hause sein werden.“138 In Offenbachs Musik vereinigt sich daher der Boulevardlärm mit synagogalen Motiven, die er als Kind vom Vater gelernt hat, der seinerseits, bevor er sich in Köln niederließ, „nach der üblichen Art der jüdischen Spielleute als Vorsänger von Synagoge zu Synagoge zog und zugleich in allen Kneipen fiedelte, die er unterwegs antraf“.139 Offenbach wird „ein Ariel“ genannt, und dieser Name verweist nicht nur auf den Luftgeist in Shakespeares Tempest, sondern auch auf eine Passage im Buch Jesaja, die der Konstruktion der Figur Offenbachs als eines weißen Magiers, der Alpträume, Todesängste und feindliche Mächte in Luft auflöst, zugrunde zu liegen scheint.140 Der Boulevard ist das Anti-Ghetto, das jenes „Dunkel“, in dem sich „Offenbachs Ahnen verlieren“,141 aufbricht und Entkommen verheißt. Eine wunderbare Illusion ist der Boulevard, von dem man nicht weiß, ob er unwirklich ist oder ob sich nicht gerade „in diesem Reich die Wirklichkeit selber“ eröffnet,142 weil die große Industrie, der er seine Existenz verdankt, eine von ihm sehr verschiedene Wirklichkeit hervorbringt, eben die Gesellschaft, zu der er sich exterritorial verhält. Diese andere Welt ist gekennzeichnet von Not, Elend und Unruhe, Bürgerkrieg und Tod. Das erste Kapitel der Biographie, „Die Freiheit führt das Volk“, zeigt einen Ausschnitt aus ihr, die Julirevolution 1830, wie sie – nach Kracauers recht anfechtbarer Interpretation – in Eugène Delacroix’ berühmtem Gemälde dargestellt ist: „die Freiheit“, die Allegorie des 137 Jean Améry: „Im Warteraum des Todes“. In: Am ry Werke, Bd. 7. Hg. v. Stephan Steiner. Stuttgart 2005, S. 450 – 474, hier S. 452. 138 Kracauer: „Offenbach“, S. 89, S. 55. 139 Ebd., S. 25. 140 Vgl. Jesaja 29. Gertrud Koch hat m. W. zuerst auf diese Stelle hingewiesen. Gertrud Koch: Kracauer zur Einf hrung. Hamburg 1996 (= Zur Einführung, Bd. 122), S. 93. 141 Kracauer: „Offenbach“, S. 25. 142 Ebd., S. 37.

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„Traums der Republik“, achtet derjenigen nicht, die für sie kämpfen: „unablenkbar schreitet sie über das aufgerissene Pflaster und die vielen Leichen am Boden hinweg.“143 Das Bürgerkönigtum Louis-Philippes, das aus dieser Revolution hervorgeht, ist ein einziges Chaos, ein „Zustand der Zerrissenheit“.144 Kaum verdeckt setzt sich der Bürgerkrieg in einem Hungeraufstand der Lyoneser Seidenweber, in Putschversuchen, Attentaten auf den König, regierungsfeindlichen Manifestationen und blutigen Straßenschlachten fort. Die Arbeiter, von denen viele nicht wissen, wovon sie am nächsten Tag, in der nächsten Woche leben sollen, kümmern sich nicht um das Streikverbot, lesen „eine Unmenge revolutionärer Broschüren“ und singen in den Fabriken zum Takt der Hämmer „Lieder, die in der Hölle gedichtet zu sein schienen“.145 Zahllose Bettler bevölkern als „Vortrupp der Anarchie“ die Straßen, die Menschen ziehen in Banden umher.146 Mit einer allgemeinen Handels- und Wirtschaftskrise wird das Grauen vor der Ödnis der leeren Zeit im Bürgertum zur vorherrschenden Stimmung.147 Schon unter Louis-Philippe sind die Vergnügungen der Boulevardiers in Kracauers Darstellung Fluchtversuche, die von dem, wovon sie ablenken sollen, dem „düstern Ernst der politischen Wirklichkeit“,148 schon ergriffen sind und deshalb einen obsessiven und unheimlichen Charakter annehmen. Musards Bälle, auf denen der Cancan getanzt wird, versetzt die Tanzenden in „rauschartige Zustände“, in denen sich „Lust und Grauen mischen“. Kracauer bezeichnet sie als „Hexensabbat“ und zitiert Chronisten, die sie mit Massakern und den Schreien eines wütenden Panthers vergleichen.149 Ähnliche Züge weist auch der Karneval 1832 auf, der eine drohende Choleraepidemie vergessen machen soll: Obwohl oder richtiger weil sich Paris damals täglich auf das Eintreffen der Cholera aus England gefaßt machen mußte, dachte die Menge nicht daran, das Karnevalstreiben abzubrechen, sondern raste erst recht durch die Straßen und Lokale. […] Im Lauf des nächsten Vierteljahrs raffte die Seuche ungefähr 20 000 Menschen dahin. Gelang es ihr, auch die Lust zu bändigen? Ihrem Verschwinden folgte eine kurze Ermattungspause, und dann brodelte das

143 144 145 146 147 148 149

Ebd, S. 17. Ebd., S. 22 f. Ebd., S. 86. Ebd., S. 36, S. 38. Vgl. ebd., S. 101 – 105. Ebd., S. 29. Ebd., S. 42 f.

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Leben wieder hitzig und ungeschlacht aus den Kratern und Schlünden hervor.150

Es ist, als ob sich in solchen Formulierungen, von denen es in Jacques Offenbach unzählige gibt, das 19. Jahrhundert, das Kracauer schildert, und das 20., in dem er lebt, überblendeten. Die Gegenwart des Todes, der im Fall der Choleraepidemie noch kein vorsätzlich und fabrikmäßig herbeigeführter, sondern ein ungewollt hereinbrechender ist, rückt Kracauers eigene Zeit, in der die Ahnung der von den Nationalsozialisten angekündigten Massenvernichtung mit heiteren Abenden und gesteigerter Kulturaktivität übertönt wird, in beklemmende Nähe. Noch deutlicher als an den Stellen, an denen die „Möglichkeiten kollektiven Taumels“ geschildert werden, mit denen sich die Menschen unter Louis Philippe betäuben, um „das Nichts“ zu vergessen,151 tritt diese Nähe in der Darstellung des Zweiten Kaiserreichs hervor, und Kracauer weiß dies nicht nur, sondern sagt es auch: „Angesichts des Geschehens unserer Tage wird niemand verkennen, daß gerade die Phantasmagorie des Zweiten Kaiserreichs Aktualität besitzt.“152 Diese Phantasmagorie ist nichts anderes als die Erhebung der Flucht vor dem Grauen in Amusement zum Prinzip der ganzen Gesellschaft, wobei sich das Grauen perpetuiert, weil das Kaiserreich auf ihm beruht. Hervorgegangen ist das Kaiserreich aus einem Staatsstreich Louis Napoléon Bonapartes nach der Revolution von 1848, mit der das Bürgerkönigtum beendet und durch eine Republik ersetzt wird. Da die konstituierende Nationalversammlung, unfähig, die Massenarmut zu beheben, das unter dem Namen „Nationalwerkstätten“ kurzzeitig eingeführte System zur Beschäftigung Arbeitsloser wieder auflöst und den Arbeitern harte Bedingungen diktiert,153 kommt es zu einem Arbeiteraufstand, der von den Truppen der Republik niedergeschlagen wird: Vier Tage währte die Schlacht zwischen den Insurgenten und den vom General Cavaignac befehligten Miliz- und Linientruppen – Tage, an denen sich 150 151 152 153

Ebd., S. 22. Ebd., S. 42 u. 103. Ebd., S. 11 f. Kracauer nennt diese Bedingungen nicht. Nachdem zunächst der Zutritt in die „Nationalwerkstätten“ erschwert und der Taglohn in Stücklohn verwandelt worden war, wurde ein Teil der dort beschäftigten Arbeiter, die nicht in Paris Geborenen, in die Sologne zu Erdarbeiten abkommandiert. Das von Kracauer erwähnte Dekret vom 21. Juni 1848 sah vor, die unverheirateten männlichen Arbeiter zwischen 17 und 25 Jahren aus den ohnehin schon erbärmlichen „Nationalwerkstätten“ zu vertreiben oder sie in die Armee einzugliedern.

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Madame de Girardin tief bedrückt fühlte von der unbeschwerten Heiterkeit, mit der die Vögel in den verwaisten Champs Élysées sangen. Nach dem Sieg der Republik über das Proletariat wurden viele Arbeiter niedergemetzelt und Tausende deportiert.154

Das Massaker versetzt, die Bourgeoisie in Schock, laut Kracauer, weil sie mit der Insurrektion nicht gerechnet hat und nun, entsetzt von der Möglichkeit einer Arbeiterrevolution und erschrocken vor dem Bruch mit dem eigenen Gewissen, das Ereignis aus ihrem Bewusstsein verbannt. Eine vielleicht plausiblere, von Kracauer nicht genannte Erklärung für den Schrecken könnte sein, dass die Verhängung der Militärdiktatur und des Belagerungszustandes, die Erschießung von Arbeitern und die Verbannung ihrer Anführer nach Übersee impliziert, dass prinzipiell niemand, auch nicht das Bürgertum, vor solchen Maßnahmen sicher sein kann; die demokratische Fraktion des Kleinbürgertums bekam dies am 13. Juni 1849 zu spüren, als ihre Demonstration für die Verfassung von Linientruppen aufgelöst, ihre Zeitungen geschlossen und deren Mitarbeiter verhaftet wurden. Die Reaktion der Bourgeoisie ist jedenfalls in Kracauers Interpretation „der von Kindern gleich, die, durch eine furchtbare Erscheinung geängstigt, kopfüber aus dem dunklen Zimmer fliehen“.155 Sie beantwortet das Ereignis mit freiwilliger Selbstentmündigung, indem sie, und mit ihr die bäuerliche Mehrheit des Landes, nach einem „starken Mann“ ruft, der „Ordnung“ schaffen soll. Dieses Bedürfnis bedient Louis Bonaparte. Bonaparte vertritt kein Programm, sondern bietet sich als Projektionsfläche an, auf die die verschiedensten Erwartungen projiziert werden können. Kracauer nennt ihn deshalb ein „Phantom“ oder eine „Phantasmagorie“: Nicht daß man den Prinzen Louis Napoléon kannte, sondern daß man ihn gar nicht kannte, ermöglichte seinen überraschenden Anstieg. Die großen Massen fluteten ja infolge des erlittenen Schocks vor der Wirklichkeit zurück, und ihre Sehnsucht nach dem starken Mann war in Wahrheit eine verkrampfte Sehnsucht, hinter der sich die komplexbeladene Abneigung gegen eine Konfrontation mit dem tatsächlichen Geschehen verbarg. Auf die von dieser Sehnsucht erfüllten Menschen mußte freilich die Verschwommenheit Louis Napoléons, in die sich viel hineindeuten ließ, anziehender wirken als eine fest umrissene Gestalt. Sie begehrten, von der Wirklichkeit erlöst zu werden, und suchten Halt an den vagen Illusionen, die der große Name in ihnen erweckte.

154 Kracauer: „Offenbach“, S. 116. 155 Ebd.

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Louis Napoléon hatte das unwahrscheinliche Glück, an eine Gesellschaft zu geraten, die einer Phantasmagorie nachjagte.156

Der Staatsstreich, der 1851 erfolgt – vor ihrer Auflösung beseitigt die Nationalversammlung selbst die Pressefreiheit und das allgemeine Stimmrecht – ist eine blutige Farce: er wird am Jahrestag der Schlacht von Austerlitz und der Kaiserkrönung Napoleons I. inszeniert. Alles an ihm ist Theater, nur die Toten sind echt: Victor Baudin, ein republikanischer Abgeordneter, lässt „auf einer der vereinzelten Barrikaden sein Leben“, und am Tag nach dem Staatsstreich werden „mehrere hundert Personen, in der Hauptsache neugierige Spaziergänger, […] kurzerhand abgeknallt“.157 So wie das Kaiserreich beginnt, so setzt es sich fort: als ein tödliches Blendwerk, das auf der Verleugnung der Krise beruht und deshalb in eine unheimliche, gespenstische Atmosphäre getaucht ist. Zehntausende Sozialisten, Republikaner und Mitglieder geheimer Gesellschaften werden „nach dem Staatsstreich auf höchst summarische Weise verhaftet und wie gemeine Verbrecher deportiert oder in die Verbannung geschickt“, während Louis Bonaparte die Parolen „Freude“ und „Glanz“ ausgibt und die Massen dazu aufruft, sich zu vergnügen.158 Um den Zustand der Realitätsverleugnung aufrechtzuerhalten, verfolgt das Regime eine Politik des gezielten Amusements: Man mußte den Taumel verewigen, die Nation so in Atem halten, daß sie gar nicht zur Besinnung gelangen konnte. […] Es kam darauf an, dem Denken und Handeln des Volkes eine neue, einheitliche Richtung zu schenken, seine Kräfte in einer Weise zu entfesseln und zugleich zu fesseln, daß ihm Hören und Sehen verginge.159

Auch die Sphäre des Boulevards und des Weltmarkts, schon vorher Ziel der Flucht vor der gesellschaftlichen Realität, tritt in den Dienst dieser Politik des angedrehten Rauschs. In der Absicht, „die Massen von der Wirklichkeit wegzuscheuchen“, entfesselt die Regierung Bonapartes einen ungeheuren Betrieb – sie erteilt eine Reihe von Eisenbahnkonzessionen, trifft umfassende Maßnahmen auf dem Gebiet der Schifffahrt, legt Departementstraßen an und lässt Paris umbauen – und gibt damit den entscheidenden Anstoß zur „Entwicklung kapitalistischer Methoden im weltwirtschaftlichen Maßstab“.160 Die Weltausstellung 1855, die 156 157 158 159 160

Ebd., S. 118. Ebd., S. 132 f. Ebd., S. 134. Ebd., S. 135. Ebd., S. 137.

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„Schwärme von Fremden“ anzieht und die ganze Stadt in einen einzigen Vergnügungspark verwandelt, ist Sinnbild der neuen Einheit von Weltwirtschaft, Boulevard, Amusement und Tod: Offiziere, die aus der Krim zurückkehrten, und einige oppositionelle Politiker beanstandeten zwar, daß sich Paris amüsierte, während man in den Gräben vor Sebastopol starb, aber der Kaiser wünschte es so, und er wußte, warum. Für den Boulevard, der schon unter Louis-Philippe ein Asyl der Fremden, der Heimatlosen gewesen war, brachen jetzt gute Zeiten an.161

So wird der Boulevard, der exterritoriale, in der Nähe der Utopie gelegene Ort, dem Offenbach angehört, in die gespenstische Farce hineingezogen. Die Hinweise darauf, dass Bonaparte als früher Vorläufer Hitlers zu verstehen ist, ohne mit ihm gleichgesetzt werden zu können, sind in Jacques Offenbach überdeutlich – Kracauer zufolge war er der „erste der modernen Diktatoren“ und an einer Stelle heißt es ausdrücklich: „Gleichschaltung damals wie heute“.162 Angefangen mit den Kommentaren zu den Verhaftungen derjenigen, „die den Glanz und die Freude hätten trüben können“ – „die Bourgeoisie […] sprach vom Terror wie von einer Polizeiaktion, nannte diese etwas rüde und beruhigte sich dabei“ –163, ähnelt das Kaiserreich bei Kracauer in vielen Aspekten dem Nationalsozialismus in seinen ersten Jahren. Beklemmend an der Konzeption der Offenbachbiographie ist, dass es eben diese Gesellschaft ist, die den Operetten des Helden „zum Triumph verhelfen sollte“,164 dass also ausgerechnet eine Diktatur, die als ein Vorläufermodell des Nationalsozialismus beschrieben wird, für Offenbach zum entscheidenden Glücksfall wird. Tatsächlich ist es das Kaiserreich, über das Kracauer sagt, dass sich „jetzt, da die für Offenbach empfängliche Gesellschaft blühte“, das „Glück“ wieder näherte.165 Offenbach schwimmt in diesem Paris „wie ein Kork obenauf“.166 Er ist betriebsam, knüpft Beziehungen, unter anderem zum Herzog von Morny, der den Staatsstreich organisiert hat, komponiert und beteiligt sich am 161 Ebd., S. 157. 162 Ebd., S. 138 u. 142. Die Parallelen zwischen Bonaparte und Hitler sind wiederholt bemerkt worden, vgl. z. B. Karsten Witte: „Siegfried Kracauer im Exil“. In: Exilforschung 5 (1987), S. 135 – 149, hier S. 140 f. und Harald Reil: Siegfried Kracauers Jacques Offenbach. Biographie, Geschichte, Zeitgeschichte. New York u. a. 2003 (= Exil-Studien, Bd. 5). 163 Kracauer: „Offenbach“, S. 134. 164 Ebd., S. 92. 165 Ebd., S. 149. „Glücksjahr 1855“ heißt auch das Jahr der Weltausstellung und der Eröffnung der „Bouffes“ (S. 160). 166 Ebd., S. 175.

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Spektakel. Noch beklemmender wird die scheinbar ungebrochene Anteilnahme, mit der Kracauer berichtet, wie Offenbach sich „glückselig vervielfältigte“,167 wenn man Kracauers Beschreibung dieses Vergnügens, die sich zusammenfasst in dem Satz: „Selbstvergeßlich lebte die Gesellschaft des Zweiten Kaiserreichs über die Leichen und Ruinen hinweg“168, durch die Folie von Adlers Buch Theresienstadt liest, in dem es unter anderem heißt: „Die SS wollte das Grauen in Musik, Theater und Vergnügungen tauchen“169, und feststellt, dass Kracauer am kulturellen Treiben im Paris des 19. Jahrhunderts Züge wahrgenommen hat, die denen des erst fünf Jahre später eröffneten „schauerliche[n] Karneval[s]“170 in Theresienstadt auf gespenstische Weise gleichen. Viele Formulierungen Kracauers und Adlers lassen sich beinahe austauschen, etwa wenn Adler den Kulturbetrieb eine „schon fast gefährliche Vergnügungssucht“ nennt und feststellt: „Man betäubte sich, man verleugnete die Gegenwart und, was am bedenklichsten ist, man erfüllte ahnungslos willig die Wünsche der SS.“171 Kracauer zufolge besteht Offenbachs Mission darin, den Schrecken des Todes zu bannen und durch Komik die Machthaber zu entzaubern. So lässt sich auch Kracauers Beschwörung von Offenbachs „Melodien von paradiesischer Heiterkeit“172 als Versuch verstehen, den Schrecken zu bannen, seinen eigenen und den seines Publikums – ein Versuch, der letztlich scheitern muss, weil das Unheimliche zwischen den scheinbar unbeschwerten Stellen allzu deutlich hervortritt. Ebenso wie bei seiner Figur Offenbach vermischt sich auch bei Kracauer die illusionslose Aufdeckung der Grundlagen des Kaiserreichs mit der Faszination von Freude und Rausch; die Flucht in Kultur, ohne die blanker Schrecken übrig bliebe, ist nicht zu trennen von dem Betrieb, der veranstaltet wird, um ihn annehmbar zu machen. Indem Bonaparte die internationale Ära einleitet, fördert er der Offenbach-Biographie zufolge ungewollt die internationalistischen, demokratischen und republikanischen Tendenzen, die schließlich 1870/1871 der Republik erneut zum Durchbruch verhelfen. Ob Kracauer einen ähnlichen Ausgang auch im Fall des Nationalsozialismus für denkbar hielt, 167 168 169 170 171 172

Ebd., S. 151. Ebd., S. 174 f. Adler: Theresienstadt, S. 582. Ebd., S. 155. Ebd., S. 588. Kracauer: „Offenbach“, S. 13.

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ist höchst ungewiss. Für seinen Protagonisten bedeutet der Zusammenbruch der Illusionen des Kaiserreichs durch den Einmarsch der Deutschen in Paris, der als „Katastrophe“ bezeichnet wird,173 jedenfalls kein Glück, sondern das Ende seines Lebens, und ihn ergreift das Grauen vor dem Tod, aus dessen Perspektive „die ganze Operettenherrlichkeit“ als seelenloses Getue und automatenhafte Fröhlichkeit erscheint, hinter deren Fassade das Unheil lauert.174 In Hoffmanns Erz hlungen hält Offenbach Gericht über sich, „und wieviele Gespenster während dieses Prozesses auf ihn einstürmten […], verrät die Musik, die von der Panik des im Finstern verlorenen Kindes erfüllt ist.“175

173 Vgl. ebd., S. 261. 174 Ebd., S. 342 – 346. 175 Ebd., S. 346.

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Individuum und Gesellschaft

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Kracauer, Siegfried: Brief an Theodor W. Adorno, v. 25.5.1937. In: Adorno u. Kracauer: Briefwechsel, S. 362 – 365. Kracauer, Siegfried: Brief an Theodor W. Adorno, v. 8.11.1963. In: Adorno u. Kracauer: Briefwechsel, S. 621 f. Kracauer, Siegfried: Brief an Theodor W. Adorno, v. 21.11.1964. In: Adorno u. Kracauer: Briefwechsel, S. 684 – 687. Kracauer, Siegfried: From Caligari to Hitler. A Psychological History of the German Film. Princeton, NJ 1947. Kracauer, Siegfried: „Zwei Deutungen in zwei Sprachen“. In: Ernst Bloch zu ehren. Beitr ge zu seinem Werk. Hg. v. Siegfried Unseld. Frankfurt/M. 1965, S. 145 – 155. Kracauer, Siegfried: Das Ornament der Masse. Essays. Mit einem Nachwort v. Karsten Witte. Frankfurt/M. 1977 (= Suhrkamp Taschenbuch, Bd. 371). Kracauer, Siegfried: „Das Ornament der Masse“. In: ders: Das Ornament der Masse, S. 50 – 63. Kracauer, Siegfried: „Die Biographie als neubürgerliche Kunstform“. In: ders: Das Ornament der Masse, S. 75 – 80. Kracauer, Siegfried: „Film 1928“. In: ders.: Das Ornament der Masse, S. 295 – 310. Kracauer, Siegfried: Kino. Essays, Studien, Glossen zum Film. Hg. v. Karsten Witte. Frankfurt/M. 1979 (= Suhrkamp Taschenbuch, Bd. 126). Kracauer, Siegfried: „The Gold Rush“. In: ders.: Kino, S. 165 – 167. Kracauer, Siegfried: „Chaplin“. In ders.: Kino, S. 167 – 170. Kracauer, Siegfried: „Chaplins Triumph“. In: ders.: Kino, S. 176 – 179. Kracauer, Siegfried: Schriften, Bd. 5.3. Hg. v. Inka Mülder-Bach. Frankfurt/M. 1990. Kracauer, Siegfried: „Ein Bio-Interview“. In: Kracauer Schriften, Bd. 5.3, S. 52 – 55. Kracauer, Siegfried: „Memoiren eines russischen Revolutionärs“. In: Kracauer Schriften, Bd. 5.3, S. 183 – 186. Kracauer, Siegfried: „Die deutschen Bevölkerungsschichten und der Nationalsozialismus“. In: Kracauer Schriften, Bd. 5.3, S. 223 – 234. Kracauer, Siegfried: „Mit europäischen Augen gesehen …“. In: Kracauer Schriften, Bd. 5.3, S. 234 – 239. Kracauer, Siegfried: „Les Livres supprimés“. In: Kracauer Schriften, Bd. 5.3, S. 239 – 242. Kracauer, Siegfried: „Über die deutsche Jugend“. In: Kracauer Schriften, Bd. 5.3, S. 243 – 252. Kracauer, Siegfried: „Das neue deutsche Wirtschaftsgesetz“. In: Kracauer Schriften, Bd. 5.3, S. 281 – 285. Kracauer, Siegfried: History. The Last Things Before The Last. Completed by Paul Oskar Kristeller with a New Preface. Princeton, NJ 1995. Kracauer, Siegfried: Werke, Bd. 8. Hg. v. Ingrid Belke unter Mitarbeit v. Mirjam Wenzel. Frankfurt/M. 2005. Kracauer, Siegfried: „Jacques Offenbach und das Paris seiner Zeit“. In: Kracauer Werke, Bd. 8. Löwenthal, Leo: Schriften, Bd. 1. Hg v. Helmut Dubiel. Frankfurt/M. 1980 (= Suhrkamp Taschenbuch Wissenschaft, Bd. 901).

250

Esther Marian

Löwenthal, Leo: „Die biographische Mode“. In: Lçwenthal Schriften, Bd. 1, S. 231 – 257. Löwenthal, Leo: „Der Triumph der Massenidole“. In: Lçwenthal Schriften, Bd. 1, S. 258 – 305. Löwenthal, Leo: „Erinnerungen an Theodor W. Adorno“. In: Adorno-Konferenz 1983. Hg. v. Ludwig von Friedeburg u. Jürgen Habermas. Frankfurt/M. 1983 (= Suhrkamp Taschenbuch Wissenschaft, Bd. 460), S. 388 – 401. Mülder-Bach, Inka: „Schlupflöcher. Die Diskontinuität des Kontinuierlichen im Werk Siegfried Kracauers“. In: Siegfried Kracauer. Neue Interpretationen. Akten des internationalen, interdisziplinären Kracauer-Symposions Weingarten, 2.–4. März 1989. Hg. v. Michael Kessler u. Thomas Y. Levin. Tübingen 1990 (= Stauffenburg Colloquium, Bd. 11), S. 249 – 266. Reil, Harald: Siegfried Kracauers Jacques Offenbach. Biographie, Geschichte, Zeitgeschichte. New York u. a. 2003 (= Exil-Studien, Bd. 5). Rutschky, Michael: „Adorno und Kracauer. Friedel und Teddie“. In: Frankfurter Rundschau, 23.12.2008. http://tinyurl.com/nw3l6g (Stand: 4. 6. 2009). Schapowalow, Alexander: Auf dem Wege zum Marxismus. Erinnerungen eines Arbeiterrevolution rs. Berlin 1930 (= Internationale Memoiren, Bd. 1). Schapowalow, Alexander: Illegal. Erinnerungen eines Arbeiterrevolution rs, Teil 2. Berlin 1932 (= Internationale Memoiren, Bd. 4). Stompor, Stephan: „Die Offenbach-Renaissance um 1930 und die geschlossenen Vorstellungen für Juden nach 1933“. In: Offenbach und die Schaupl tze seines Musiktheaters. Hg. v. Rainer Franke. Laaber 1999 (= Thurnauer Schriften zum Musiktheater, Bd. 17), S. 257 – 266. Schütte, Wolfram: „Friedels seltsame Freundschaft mit Teddie. Der Briefwechsel Adorno-Kracauer als ein doppelter Lebensroman gelesen“. In: titel magazin, 29. 12. 2008, http://tinyurl.com/m5nmp4, http://tinyurl.com/ks7g3r (Stand: 4. 6. 2009). Tretjakow, Sergej: Den Schi-Chua. Ein junger Chinese erz hlt sein Leben. Bio-Interview. Übers. v. Alfred Kurella. Berlin 1932 (= Universum-Bücherei, Bd. 110). Trotzki, Leo: Mein Leben. Versuch einer Autobiographie. Übers. v. Alexandra Ramm. Berlin 1930. Witte, Karsten: „Siegfried Kracauer im Exil“. In: Exilforschung 5 (1987), S. 135 – 149.

Literarische Biographien

„Weltbildner“ – Stefan Zweigs Essay über Balzac Wilhelm Hemecker und Georg Huemer* „Man kennt diesen großen Autor nicht, wenn man von ihm nur dies oder jenes kennt“1, hat Hugo von Hofmannsthal in seinem Aufsatz über Balzac im Jahr 1908, im gleichen Jahr also, in dem auch Stefan Zweig seinen ersten größeren Balzac-Essay herausbrachte, festgestellt und damit genau jene Begeisterung, jenes ausgreifende Interesse an dem französischen Romancier dokumentiert, dem auch Stefan Zweig verfallen war. Für das Junge Wien war Balzac mehr als ein unangefochtener Meister des Romans, er war „eine große, namenlos substantielle Phantasie, die größte substantiellste schöpferische Phantasie, die seit Shakespeare da war“.2 Bereits 1902 hatte Hofmannsthal ein fiktives Gespräch zwischen Hammer-Purgstall und Balzac unter dem Titel „Charaktere im Roman und im Drama“ veröffentlicht, in dem Balzacs Scheitern als Dramatiker auf ironische Weise thematisiert wird. Hofmannsthal schreibt Balzac darin Eigenschaften zu, die auch Zweig finden sollte, sieht in ihm einen Phantasten im engeren Sinn des Wortes und vergleicht ihn wiederholt mit Napoleon.3 War für Zweig das „einmalige Phänomen Hofmannsthal“, wie er sich in seinen Memoiren erinnert, „die absolute dichterische Vollendung in der * 1

2 3

In den vorliegenden Beitrag fließen Stefan Zweig-Studien ein, die Georg Huemer im Rahmen eines Stipendiums am Deutschen Literaturarchiv in Marbach am Neckar betrieben hat. Hugo von Hofmannsthal: „Balzac“. In: Der Tag, 22. u. 24. 3. 1908; wieder abgedruckt in: ders.: Die Ber hrung der Sph ren. Berlin 1931, S. 122 – 139; sowie in: ders.: Hofmannsthal Gesammelte Werke in zehn Einzelb nden. Reden und Aufs tze I. 1891 – 1913. Hg. v. Bernd Schoeller in Beratung mit Rudolf Hirsch. Frankfurt/ M. 1979, S. 382 – 397, hier S. 382. Ebd. Vgl. Hugo von Hofmannsthal: Gespräch zwischen Balzac und Hammer-Purgstall in einem Döblinger Garten im Jahre 1842. In: Neue Freie Presse, 25. 12. 1902, S. 34 – 36; wieder abgedruckt in: ders.: Unterhaltungen ber literarische Gegenst nde. Berlin 1904; sowie in ders: Hofmannsthal Gesammelte Werke in zehn Einzelb nden. Erz hlungen, Erfundene Gespr che und Briefe, Reisen. Hg. v. Bernd Schoeller in Beratung mit Rudolf Hirsch. Frankfurt/M. 1979, S. 481 – 494.

254

Wilhelm Hemecker und Georg Huemer

Gestalt eines Gleichaltrigen“4, so führte das gemeinsame Interesse an Balzac zu einer Annäherung. Die beiden Dichter informierten einander über Fortschritte in ihren Forschungen und empfahlen einander Bücher.5 Dass dabei auch eine gewisse Rivalität ins Spiel gekommen sein musste, geht aus einem Brief an Franz Servaes aus dem Jahr 1908 hervor, in dem Zweig, durch erste Erfolge in seiner Balzac-Euphorie beflügelt, mit seinem Stolz keineswegs zurückhält: Vielen Dank für Ihre Zustimmung zum Balzac-Essay, die mir sehr wertvoll ist. Auch Hofmannst[h]al hat mir dazu sehr gratuliert, sie sogar ,hors pair‘ genannt: meine Besorgnis, allzusehr gegen ihn abzufallen, beginnt nun endlich zu schwinden.6

Zweigs Balzac-Studien Stefan Zweigs Auseinandersetzung mit dem französischen Romancier sollte ein Leben lang währen.7 Noch in einem Abschiedsbrief aus dem Jahr 1942, in dem er seiner ersten Frau, Friederike, seine Entscheidung, freiwillig aus dem Leben zu scheiden, mitteilt, gelten seine Gedanken Balzac, dem er mit einer umfassenden Biographie8, dem „großen Balzac“, wie er sein Projekt gern nannte, ein Denkmal setzen wollte: Petropolis gefiel mir sehr gut, aber ich hatte nicht die Bücher, die ich brauchte, und die Einsamkeit, die erst so beruhigend wirkte, fing an niederschlagend zu 4 5

6 7

8

Vgl. Stefan Zweig: Die Welt von Gestern. Erinnerungen eines Europ ers. Frankfurt/M. 2006, S. 63. Vgl. Stefan Zweig: Brief an Hugo von Hofmannsthal, v. 16. 2. 1908 und Hugo von Hofmannsthal: Brief an Stefan Zweig, o. D. [April 1908]. In: „Hugo von Hofmannsthal – Stefan Zweig. Briefe. 1907 – 1928“. Mitgeteilt und kommentiert von Jeffrey B. Berlin und Hans Ulrich Lindken. In: Hofmannsthal-Bl tter 26 (1982/ Herbst), S. 86 – 116, insbes.: S. 86 – 89. Stefan Zweig: Brief an Franz Servaes, Wien, o.D. [vermutlich Juli 1908]. In: Stefan Zweig. Briefe. 1897 – 1914. Hg. v. Knut Beck, Jeffrey B. Berlin u. Natascha Weschenbach-Feggeler. Frankfurt/M. 1995, S. 171 – 172, hier S. 171. Vgl. Joseph Peter Strelka: „Die Balzac-Biographie Stefan Zweigs“. In: Stefan Zweig heute. Hg. v. Mark H. Gelber. New York, Wien 1987 (= New Yorker Studien zur Neueren Deutschen Literaturgeschichte 7), S. 130 – 140. Diesem Aufsatz ist die vorliegende Darstellung der Beschäftigung Zweigs mit Balzac verpflichtet. Stefan Zweig: Balzac. Eine Biographie. Aus dem Nachlaß hg. und mit einem Nachwort versehen von Richard Friedenthal. Durchgesehen und mit einer Nachbemerkung ,Stefan Zweigs Weg zu Balzac‘ versehen v. Knut Beck. 14. Aufl. Frankfurt/M. 2004.

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wirken – der Gedanke, daß mein Hauptwerk, der Balzac, nie fertig werden könnte ohne zwei Jahre in ruhigem Leben und mit allen Büchern, war sehr hart […] 9

Bereits in jungen Jahren war es Stefan Zweig gelungen, sich im Kreis der Balzac-Verehrer einen Namen zu machen mit etlichen kleineren Artikeln in Zeitschriften, vor allem aber mit dem Essay, der in der Sammlung Drei Meister – die später den Zyklus Die Baumeister der Welt. Versuch einer Typologie des Geistes 10 eröffnen sollte – Aufnahme fand. Zweigs allererste Veröffentlichung zum Thema ist ein Beitrag mit dem Titel „Anmerkungen zu Balzac“, der 1906 in einer Belletristisch Literarischen Beilage der Hamburger Nachrichten abgedruckt ist.11 Bereits hier finden sich die wichtigsten Grundgedanken Zweigs zu dem französischen Autor: die Identifikation Balzacs mit Napoleon, der Geniegedanke, der Konflikt zwischen innerem und äußerem Leben Balzacs, Charakterisierungen seiner Figuren als Typen, die zusammen gleichsam eine „Armee“12 bilden, und das Komprimierende in Balzacs Narration. Nach dem Abschluss seines Studiums an der Universität Wien, an der er 1904 mit einer Dissertation über Hippolyte Taine13 promoviert wurde, hatte sich Zweig für sechs Monate nach Paris begeben. Hier kommt er in einem Brief an Franz Karl Ginzkey erstmals auf Pläne zu einer umfangreichen Balzac-Studie zu sprechen: „Ich habe die Idee zu einem grossen Buch über Balzac: allerdings würde es die Arbeit von Jahren erfordern und eine wenigstens zeitweise Einstellung meines Wanderlebens.“14 Die Arbeit 9 Stefan Zweig: Brief an Friederike Zweig, Petropolis v. 22.2.1942. In: ders.: Briefe an Freunde. Hg. v. Richard Friedenthal. Frankfurt/M. 1984, S. 350. 10 Stefan Zweig: Die Baumeister der Welt. Versuch einer Typologie des Geistes. Bd. 1: Drei Meister. Balzac, Dickens, Dostojewski. Leipzig 1920; in den Folgejahren erschienen Bd. 2: Der Kampf mit dem D mon. Hçlderlin, Kleist, Nietzsche. Leipzig 1925 u. Bd. 3: Drei Dichter ihres Lebens. Casanova, Stendhal, Tolstoi. Leipzig 1928. Später erschien die gesamte Sammlung leicht überarbeitet in Stefan Zweig: Baumeister der Welt. Balzac, Dickens, Dostojewski, Hçlderlin, Kleist, Nietzsche, Casanova, Stendhal, Tolstoi. Wien, Leipzig, Zürich 1936. 11 Stefan Zweig: „Anmerkungen zu Balzac“. In: Belletristisch literarische Beilage der Hamburger Nachrichten 1906, S. 3 – 4. 12 Ebd., S. 4. 13 Vgl. Stefan Zweig: Die Philosophie des Hippolyte Taine. Phil. Diss., Univ. Wien 1904; gedruckt erschienen als Stefan Zweig: Die Philosophie des Hippolyte Taine. Hg. von Holger Naujoks. Reinhardsbrunn 2005. 14 Vgl. Stefan Zweig: Brief an Franz Karl Ginzkey, o. D. [vermutlich Ende März 1905]. In: Stefan Zweig. Briefe. 1897 – 1914. Hg. v. Beck, Berlin u. WeschenbachFeggeler, S. 97.

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an dem ,großen Balzac’ sollte Stefan Zweig bis an sein Lebensende begleiten und erst mit dem Freitod im Exil enden. Doch reifte zu dieser Zeit schon Zweigs erste geschlossene Darstellung zu Balzac heran. 1908 erschien sie, ein Essay, in Maximilian Hardens Die Zukunft15 und im selben Jahr noch einmal, weitgehend unverändert, als „Vorrede“ zum elften Band der Reihe Aus der Gedankenwelt großer Geister, den ein Bekannter Zweigs, Lothar Brieger-Wasservogel, selbst ein Liebhaber der Romane Balzacs, herausgab. Der „Vorrede“ folgt eine den großen Themen des Essays kongruente Auswahl, in der in über vierhundert Aphorismen ein gedanklicher Querschnitt aus dem mehr als achtzigbändigen Werk Balzacs geboten wird.16 Diese Vorrede, die 1920 wiederum fast unverändert als Essay in die Trilogie Drei Meister Eingang finden sollte, hatte Hugo von Hofmannsthal vor Augen, als er Zweigs „Balzac“ in einem geradezu überschwänglichen Brief als „das wertvollste Stück Prosa“ bezeichnete, das er von Zweig kenne, „und so ziemlich hors pair an Concentration und Vortrag unter den zahllosen Dingen ähnlicher Art, die erzeugt werden.“17 1911 brachte Das literarische Echo noch einen zweiseitigen, von den anderen Balzac-Arbeiten inhaltlich abweichenden Beitrag, eine Rezension, heraus.18 Zweig äußert sich darin über eine Sammlung, zusammengestellt und herausgegeben von W. Fred19, über „Balzacs Codices vom eleganten Leben“ und gibt ganz im Sinne seines bildungsbürgerlichen Publikums eine Leseempfehlung für dieses Buch ab. Psychologische Deutung und biographische Fakten halten sich in dieser kurzen Schrift die Waage. Die wichtigsten Gedanken Zweigs aber sind auch hier wieder zu finden, Zweig benutzt bereits probate Termini, um Balzac einmal mehr zu charakterisieren: „Intensität“, „Genie“, „Kosmos“, „Kompendium“.

15 Stefan Zweig: „Balzac“. In: Die Zukunft 64 (1908), S. 53 – 62 u. S. 100 – 111. 16 Stefan Zweig: „Vorrede“. In: ders.: Balzac. Sein Weltbild aus den Werken. Stuttgart 1908 (= Aus der Gedankenwelt großer Geister Bd. 2, hg. v. Lothar Brieger-Wasservogel), S. 7 – 74. 17 Hugo von Hofmannsthal: Brief an Stefan Zweig, VII [1908]. In: „Hugo von Hofmannsthal – Stefan Zweig. Briefe. 1907 – 1928“, S. 92. 18 Stefan Zweig: „Balzacs Codices vom eleganten Leben“. In: Das literarische Echo. 14 (1911 – 12), Sp. 613 – 616. 19 Vgl. Honoré de Balzac: Physiologie des eleganten Lebens. Unverçffentlichte Aufs tze. Eingel. u. hg. v. W. Fred. München 1911.

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Balzac in Zweigs Handschriftensammlung Stefan Zweigs Interesse an Balzac ist noch auf andere Weise verbürgt, nämlich durch seine Autographensammlung. „Das von Zweig am meisten geschätzte Stück seiner Handschriftensammlung war in der Vorkriegszeit ein Probeabzug von Une t n breuse affaire, eigenhändig vom Autor korrigiert“20, stellt Donald Prater in seiner Biographie fest. Die besondere Aufmerksamkeit Zweigs, der seiner Sammlung mehr Bedeutung beimaß als seinem gesamten eigenen literarischen Schaffen, galt hier Druckfahnen, mehr als 700 Seiten lang, in denen er, in Ehrfurcht vor dem „dämonischen Genie Balzac“ befangen, „unterirdische Bücher“ erblicken wollte: „Diese unterirdischen Bücher Balzacs stellen die merkwürdigsten Amphibien zwischen Buch und Manuskript, zwischen Schrift und Druck dar, die man auszudenken vermag“.21 Auch in dem Balzac-Essay aus den Drei Meistern findet man diesen faszinierten Blick auf Handschriften von Balzac wieder, in denen sich der Schreibprozess eindrucksvoll dokumentiert findet: Man kann sehen, wie die anfangs ruhigen und zierlichen Zeilen aufschwellen gleich den Adern eines Zornigen, wie sie taumeln, rascher werden, wie sie rasend sich überhetzen, […]. Und sieht den nochmaligen impetuosen Ausbruch des ewig Ungenügsamen in den Korrekturbogen, deren starres Gefüge er immer wieder aufriß wie der Fiebernde seine Wunde, um noch einmal das rote pochende Blut der Zeilen durch den schon starren, erkalteten Körper zu jagen.22

Und kurz davor diagnostiziert Zweig: Gerade an jenen Stellen, wo er den Zauber des so sehr ersehnten Reichtums schildert, spürt man stärker als in den erotischen Abenteuern den Rausch des Selbstbezauberten, die Haschischträume des Einsamen […] Bis in seine Manuskripte hat sich dieses Fieber eingebrannt.23

In einem Vortrag über „Sinn und Schönheit der Autographen“, den Zweig 1935 zur Ausstellung der Edward Speyer Collection im Rahmen der 20 Donald A. Prater: Stefan Zweig. Das Leben eines Ungeduldigen. 2. Aufl. München 1982, S. 63. 21 Stefan Zweig: „Die unterirdischen Bücher Balzacs.“ In: Jahrbuch deutscher Bibliophilen 5 (1917), S. 48 – 52. Wieder abgedruckt in: Ich kenne den Zauber der Schrift. Katalog und Geschichte der Autographensammlung Stefan Zweig. Mit kommentiertem Abdruck von Stefan Zweigs Aufsätzen über das Sammeln von Handschriften. Bearbeitet v. Oliver Matuschek. Wien 2005, S. 96 – 99, hier S. 99. 22 Zweig: „Balzac“. In: ders.: Drei Meister, S. 35. 23 Ebd.

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Sunday Times Books Exhibition in London gehalten hat, skizziert er die Bedeutung von Autographen und damit den tieferen Sinn des Sammelns so: Aber in einem ist der Mensch unlösbar an die innere Wahrheit seines Wesens gebunden – in seiner Schrift. Die Handschrift verrät den Menschen, ob er will oder nicht, sie ist einmalig wie er selbst und spricht manchmal aus, was er verschweigt. […] – nicht alles verrät die Schrift, aber das Wesentlichste eines Menschen, gleichsam die Essenz seiner Persönlichkeit ist uns doch gegeben in einer winzigen Abbreviatur.24

Das also bezweckte Zweig mit dem Sammeln von Balzac-Autographen: „in die Wesenheit dieses Mannes tiefer einzudringen“.25

Drei Meister Der Balzac-Essay, den Zweig an die Spitze der Sammlung Drei Meister stellt und 1936 leicht überarbeitet unter die neun Portraits des eigenständigen Sammelbandes Baumeister der Welt aufnimmt, gilt nicht umsonst als eines der Meisterstücke aus der Feder Zweigs. Sigmund Freud betrachtete ihn, zusammen mit demjenigen über Charles Dickens, als „restlos gelungen“, fügte allerdings mit Blick auf den dritten und längsten Essay der Trilogie als Nachsatz hinzu: „Aber das war nicht zu schwer, es sind einfache, geradlinige Typen. Mit dem vertrackten Russen konnte es nicht so befriedigend abgehen.“26 Dem bündigen „Balzac“ folgt der etwa gleich lange „Dikkens“, während sich die zweite Hälfte des Bandes ganz Dostojewski, dem „vertrackten Russen“, widmet. Den drei Lebensbeschreibungen stellte Zweig eine kurze Einleitung voran, eine Rechtfertigung und Erklärung seines Zugriffs: Alle drei Aufsätze setzen Kenntnis der Werke voraus: sie wollen keine Einführung sein, sondern Sublimierung, Kondensierung, Extrakt. Sie können darum, weil sie zusammendrängen, nur das persönlich als wesentlich Empfundene zur Erkenntnis bringen.27 24 Stefan Zweig: „Sinn und Schönheit der Autographen“. Wien, Leipzig, Zürich 1935. Als Beilage zu Philobiblon. Eine Zeitschrift f r B cherfreunde 8 (1935), S. 1 – 13, hier S. 13. 25 Stefan Zweig: „Die Autographensammlung als Kunstwerk“. In: Deutscher Bibliophilen-Kalender 2 (1914), S. 44 – 50, hier S. 45. 26 Sigmund Freud: Brief an Stefan Zweig, v. 19.10.1920. In: Stefan Zweig: ber Sigmund Freud. Portr t, Briefwechsel, Gedenkworte. Frankfurt/M. 1989, S. 127. 27 Zweig: Drei Meister, S. 10.

„Weltbildner“ – Stefan Zweigs Essay über Balzac

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Der „ungeschriebene Untertitel“ des Bandes, erklärt Zweig, könnte lauten: „Psychologie des Romanciers“.28 Ein Romanschriftsteller, erläutert er, „im letzten höchsten Sinne ist nur das enzyklopädische Genie, der universale Künstler, der […] einen ganzen Kosmos baut, eine eigene Welt mit eigenen Typen, eigenen Gravitationsgesetzen und einem eigenen Sternenhimmel neben die irdische stellt.“29 Dem Dreigestirn der Zweig’schen Auswahl sollen in diesem Sinne drei unterschiedliche Sphären entsprechen: Balzac „die Welt der Gesellschaft“, Dickens „die Welt der Familie“ und Dostojewski „die Welt des Einen und des Alls“.30 Nicht zufällig wohl auch wählt Zweig einen Franzosen, einen Engländer und einen Russen und bedauert, „kein Bildnis eines repräsentativen deutschen Romanschriftstellers“31 beifügen zu können. Neben seiner Absicht, dem Überdauernden der europäischen Kultur Denkmäler zu setzen, schien ihm als Paneuropäer daran gelegen, keine der europäischen Großmächte des frühen zwanzigsten Jahrhunderts zu übergehen. Während Dostojewski ganz in der Tradition des 19. Jahrhunderts mythisiert wird und der Essay über Balzac sich stellenweise wie ein Hymnus liest, fällt das Lobeslied auf Dickens fast schon bescheiden aus. Es sind anerkennende Worte, die Zweig für den englischen Schriftsteller findet, sie stehen jedoch in deutlichem Kontrast zum Stil der beiden anderen Essays, die über die bloße Würdigung hinaus Zweigs Faszination an deren schriftstellerischem Werk spürbar machen.

Struktur des Essays Im Unterschied zu „Dostojewskij“ kommt der Essay über den französischen Schriftsteller ohne Unterteilungen in Kapitel aus und bietet sich so formal als eine Einheit dar, was durchaus mit dem Inhalt korrespondiert, der ein dichterisches Konzentrat von Zweigs Gedanken zu Leben und Werk Balzacs bildet. Auch formale Untergliederungen sind rar, insgesamt finden sich lediglich elf Absätze, die sich allerdings zumeist über mehrere Seiten erstrecken und so den Gedankengang in langen Perioden, wie über weit gespannte Schwibbögen führen. Die Übergänge sind zwar auch inhaltlich markiert, verhalten sich aber zugleich fließend: Der Hauptgedanke 28 29 30 31

Ebd. Ebd., S. 9. Ebd., S. 10. Ebd.

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Wilhelm Hemecker und Georg Huemer

eines Absatzes klingt fast immer in dem vorhergehenden bereits an und wird dann später in neuem Kontext wiederholt und variiert. Dadurch entsteht ein komplexes System von Verweisungen und oszillierenden Fokussierungen, das als signifikantes Merkmal des Textes und der Zweig’schen Stilistik angesehen werden kann. Inhaltlich lassen sich drei thematische Blöcke ausmachen: Der erste konzentriert sich auf die Entwicklungsjahre Balzacs in der Ära und unter der Aura Napoleons, im zweiten wird die Figurenwelt seiner Romane in den Blick genommen, und abschließend geht es um eine nähere Charakterisierung des Schriftstellers – das alles betrachtet aus der Perspektive des von Zweig „persönlich als wesentlich Empfundene[n]“.32 Im ersten Teil dominiert das Bild Napoleons. Es sind die Jahre, in denen Balzac heranwächst. Ein biographisches Gerüst allerdings wird von Beginn an nahezu gänzlich ausgespart, einzig das Geburtsjahr wird, sogar wiederholt, genannt. Balzac wächst in der Zeit der Kaiserjahre Napoleons heran, zu „Beginn des Empire“ – „der vielleicht phantastischesten Epoche der Weltgeschichte“.33 Napoleon wird zur sicheren Säule in einer Zeit „ungeheurer Umwälzungen“, in der sich der junge Balzac schon früh der „Relativität aller Werte bewusst“ wird.34 Kein Wort verliert Zweig in dem biographischen Essay über die schwierigen Kindheitsjahre, die – so schildert er erst in der großen, von Richard Friedenthal posthum herausgegebenen Biographie – von einer Hassliebe zur Mutter, Versagen in der Schule, von weitläufigen Zukunftsträumen und dem Wunsch geprägt waren, dem eigenen Elend einen Strich durch die Rechnung zu machen. Zum alles entscheidenden Schlüsselerlebnis wird eine kurze persönliche Begegnung mit Napoleon: „In einer Sekunde war in seine Netzhaut sinnfällig und lebendig ein Bild eingestrahlt, das größer war als alle Beispiele der Geschichte: er hatte den großen Welteroberer gesehen!“35 Fortan sollte Balzac nur mehr danach streben, etwas ähnlich Großes wie der Korse zu vollbringen, selbst „ein Welteroberer“ zu werden. Und wie dieser musste er dafür zunächst nach Paris: Wie Napoleon beginnt er mit der Eroberung von Paris. Dann faßt er Provinz nach Provinz – jedes Departement sendet gewissermaßen seinen Sprecher in 32 33 34 35

Ebd. Stefan Zweig: „Balzac“. In: ders.: Drei Meister, S. 15. Ebd., S. 17. Ebd.

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das Parlament Balzacs –, und dann wirft er wie der siegreiche Konsul Bonaparte seine Truppen über alle Länder.36

Zu einer ausführlicheren Beschreibung der Figuren Balzacs kommt es im zweiten thematischen Block, der durch einen lakonischen Satz eingeleitet wird, der allerdings über einen Vergleich eine signifikante Verschiebung bewirkt: „Und so wie er sind seine Helden.“ Und Zweig nennt das tertium comparationis: „Alle haben sie das Welteroberungsgelüst.“37 In ihrem „Welteroberungsgelüst“ treffen sich Balzac, seine literarischen Helden und Napoleon. Seine Helden streben, so wie er selbst, ausschließlich nach dem Größten. Aus ländlichem Milieu stammend, geraten auch sie zunächst in den Bann der Hauptstadt: „Eine zentripetale Kraft schleudert sie aus der Provinz, aus ihrer Heimat, nach Paris.“ Die militärische Metaphorik wird weitergeführt, Paris zum „Schlachtfeld“ der Figuren, wo sie sich gegenseitig bekämpfen. Balzac zeigt als erster die Härte des Kampfes in der modernen Zivilisation, der „nicht minder erbittert ist als der auf den Schlachtfeldern“.38 Und immer steht dabei alles auf dem Spiel, und Zweig betont, dass alle Figuren Balzacs dies erleben, alle werden sie „Soldaten im Kriege aller gegen alle“, jeder hat „seinen Rubikon, sein Waterloo“.39 In Zweigs Augen sind Balzacs Figuren im Wesentlichen Monomanen, womit die Gedankenführung im letzten thematischen Komplex zur Beschreibung der Person des Schriftstellers zurückkehrt: Dieser ist ein Phantast und harter Arbeiter zugleich mit einem enzyklopädischen Wissen und scharfen Instinkt. Wie beiläufig erwähnt Zweig die gescheiterten Versuche Balzacs, mit einem bürgerlichen Beruf Erfolg zu haben. Als seine größten Leidenschaften werden Geld und Frauen genannt, aber auch hier wird Balzac als realitätsfern beschrieben: Abseits seiner Schreibertätigkeit, gelingt es ihm nicht, Vermögen zu bilden, und seine Beziehungen zu Frauen bleiben ambivalent. Dies wird exemplarisch an seiner Beziehung zu Frau von Hanska gezeigt: Im Innersten liebte er auch nicht Frau von Hanska, sondern die Liebe zu ihr, liebte nicht die Situationen, die ihm begegneten, sondern die er sich erschuf, er fütterte den Hunger nach Wirklichkeit so lange mit Illusionen, spielte so lange

36 37 38 39

Ebd., S. 20. Ebd., S. 21. Vgl. ebd., S. 21 – 22. Ebd., S. 26.

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in Bildern und Kostümen, bis er, wie die Schauspieler in den erregtesten Momenten, selbst an seine Leidenschaft glaubte.40

Auf den letzten Seiten zieht Zweig Resümee. Er schaut noch einmal auf die wichtigsten Charaktereigenschaften Balzacs und seine schriftstellerische Errungenschaft: ein Lebenswerk, das riesig ist, aber unabgeschlossen bleibt – zum Glück für die Nachwelt, denn „sein Werk wäre ins Unbegreifliche gewachsen“.41

Typologie als Methode Der Essay nimmt eine Mittelstellung zwischen den „historischen Miniaturen“, wie Zweig sie nennt und in den Sternstunden der Menschheit vorgelegt hat, und den umfangreichen Biographien zu Joseph Fouché, Marie Antoinette, Maria Stuart, Erasmus von Rotterdam und Magellan ein. Zielen die Miniaturen auf einzelne schicksalsträchtige Szenen oder Lebensabschnitte – das tragische Lebensende des Polarforschers Scott etwa –, so wollen die Essays bereits das Ganze der beschriebenen Persönlichkeiten, unter Einschluss des jeweiligen Lebenswerks, begreifen. Zu einer derart freien Verfügung über Formen der Darstellung sahen sich literarisch arbeitende Biographen dieser Zeit in ihrer Auseinandersetzung mit der akademischen Historiographie ausdrücklich legitimiert, wie Emil Ludwig in der Einleitung zu seiner Sammlung Genie und Charakter. Zwanzig m nnliche Bildnisse erklärt: Er kann die dramatische Form benötigen oder den kurzen Essay, die mehrbändige Lebensbeschreibung oder den Leitartikel; alle diese Formen sollten ihm vertraut sein und je nach Objekt und Zweck der Darstellung von ihm ausgewählt werden; wie sein Bruder, der stumme Poträtist Öl, Stift oder Kohle, Radiernadel oder Wasserfarben wechselweise benutzt.42

Richtete sich in den Sternstunden der Menschheit Stefan Zweigs bündelndes Interesse auf „solche schicksalsträchtigen Stunden, in denen eine zeitüberdauernde Entscheidung auf ein einziges Datum, eine einzige Stunde und oft nur eine Minute zusammengedrängt ist“43, so ist das Band zwischen den Repräsentanten der Drei Meister, aber auch der neun Baumeister der 40 41 42 43

Ebd., S. 37. Ebd., S. 48. Emil Ludwig: Genie und Charakter. Zwanzig m nnliche Bildnisse. Berlin 1928, S. 12. Stefan Zweig: Sternstunden der Menschheit. Zwçlf historische Miniaturen. Frankfurt/ M. 1986, S. 6.

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Welt, viel enger geknüpft. Diese vertreten nach der Intention des Autors „Typen“, die „durch den Kontrast ihrer Persönlichkeiten einander ergänzen“.44 Gleich einem Maler, „der seinen Werken gerne den richtigen Raum sucht“, rückt Zweig Bilder zu „Formen des Geistes“ zusammen, um „die offenbare Analogie des Typus in Erscheinung“ treten zu lassen. Den Vergleich macht Zweig damit zur Methode, zugleich zu einem Merkmal seines Stils, und betrachtet ihn vor allem als „ein gestaltendes Element“45, wie er im Vorwort zu seiner Essay-Sammlung Der Kampf mit dem D mon, der mittleren, den Drei Meistern folgenden Trilogie des Zyklus’ Die Baumeister der Welt, erläutert: Ich suche keine Formeln des Geistigen, sondern ich gestalte Formen des Geistes. Und wenn ich in meinen Büchern immer mehrere solcher Bilder bewußt zusammenrücke, so geschieht dies einzig in der Art eines Malers, der seinen Werken gerne den richtigen Raum sucht, wo Licht und Gegenlicht wirkend gegeneinanderströmen und durch Pendants die erst verborgene, nun aber offenbare Analogie des Typus in Erscheinung tritt. Vergleich scheint mir immer ein förderndes, ja ein gestaltendes Element, und ich liebe ihn als Methode, weil er ohne Gewaltsamkeit angewendet werden kann.46

Typologisches Denken hatte Wilhelm Dilthey gerade zu einer vorzüglichen Methode, geistesgeschichtliche Erscheinungen zu verstehen, erklärt.47 Der Begriff des Typus wurde von verschiedenen Disziplinen – der Anthropologie, der Psychologie und Soziologie – zu Beginn des Jahrhunderts adaptiert und bezeichnet einerseits die Grundgestalt einer Reihe ähnlicher oder verwandter Individuen, andererseits ein Exempel, das eine Gattung oder Art am deutlichsten verritt. Stefan Zweig konnte ihn dem Zeitgeist entnommen haben oder schon während seines Studiums der Philosophie48 auf ihn gestoßen sein. Die typologische Methode hat aber noch eine andere, literarische Wurzel, die tief in die Antike, zu den Anfängen biographischen Schreibens 44 Stefan Zweig: Drei Meister, S. 9. 45 Stefan Zweig: Der Kampf mit dem D mon. Hçlderlin. Kleist. Nietzsche. Frankfurt/M. 2007, S. 11 – 12. 46 Ebd. 47 Wilhelm Dilthey: „Die Typen der Weltanschauung und ihre Ausbildung in den metaphysischen Systemen.“ In: ders.: Weltanschauung. Philosophie und Religion. Hg. v. Max Frischeisen-Köhler. Berlin 1911, S. 3 – 54. 48 Eine Rekonstruktion des Studienverlaufs findet sich in der von Holger Naujoks herausgegebenen Druckfassung der Dissertation Stefan Zweigs in einem Exkurs (Kap. 7). Stefan Zweig: Die Philosophie des Hippolyte Taine, S. 132.

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zurückreicht, zu Plutarchs Parallelbiographien49, in welchen jeweils das Leben eines bedeutenden Griechen und das eines prominenten Römers einander gegenübergestellt und in Bezug auf die Leistung und die dahinterstehende Persönlichkeit gegeneinander abgewogen werden. Stefan Zweig selbst berief sich auf Plutarch,50 und es ist einmal mehr Emil Ludwig, der auf dessen poetologische Bedeutung für seine Generation hingewiesen hat: Der modernste unter allen Porträtisten ist jetzt gerade achtzehnhundert Jahre tot, er hieß Plutarch […] Zur Zeit Trajans hat er die Grundsätze ausgesprochen und selbst erfüllt, denen wir heute wieder zu genügen trachten: ,Nicht Geschichte schreibe ich nieder, sondern Lebensschicksale; nicht in berühmten Taten allein liegt der Beweis von Tugend oder Schlechtigkeit; oft zeigt vielmehr ein kleiner Umstand, ein Wort, ein Scherz den Charakter besser als große Schlachten und Belagerungen. Wie der Maler vor allem nach Gesicht und Zügen die Ähnlichkeit bestimmt, worin sich der Charakter kundgibt, so gestatte man auch mir, mich an die Anzeichen des Geistes zu halten und durch sie dem Porträt seine Form zu geben […]‘„51

Die vielzitierte, von Emil Ludwig um wesentliche Momente verkürzt wiedergegebene Stelle aus Plutarchs Einleitung zu „Alexander“ – dem Caesar gegenübergestellt wird – zeigt auffallende Ähnlichkeiten zum Programm der essayistischen Trilogien Stefan Zweigs: Auch Plutarch wollte nicht als Historiograph wirken, sondern aus Lebenssplittern, Begebenheiten und Anekdoten fesselnde Charakterportraits, suggestive Persönlichkeitsbilder gestalten.52 Ähnlich erklärt auch Zweig, nicht „im Biographisch-Historischen“, sondern „im geistig nachbarlichen Element, im Literarisch-Charakterologischen“ seine Bildnerkunst Gestalten gegenüber zu entfalten, die typologisch miteinander in Beziehung stehen.53 Und auch das didaktische Ziel Plutarchs, durch die Kombinationen eindrucksvoller Akteure wechselseitigen Respekt unter den rivalisierenden Nationen zu erzeugen, war ein Ziel des Paneuropäers Stefan Zweig.

49 Plutarchi Vitae parallelae. Hg. v. Claas Lindskog u. Konrat Ziegler. 4 Bde. Stuttgart 1994 – 1998. 50 Zweig: Der Kampf mit dem D mon, S. 12. 51 Ludwig: Genie und Charakter, S. 11. 52 Vgl. Konrat Ziegler: „Plutarch“. In: Paulys Realencyplop die der classischen Altertumswissenschaft. Neubearbeitet u. hg. v. Georg Wissowa u. Wilhelm Kroll. Bd. 21/2. Stuttgart u. a. 1951. 53 Zweig: Der Kampf mit dem D mon, S. 11 – 12.

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Napoleon Bereits in den frühen „Anmerkungen zu Balzac“ sieht Zweig in Honoré de Balzac den „Napoleon der französischen Literatur“.54 Dieser Gedanke durchzieht als Konstrukt in verschiedenen Transformationen den gesamten Essay. Erst recht rückt die große unvollendete Biographie diese Beziehung ins Bild, der im „Ersten Buch“ sogar ein ganzes Kapitel gewidmet ist. Von Beginn an bereits spielen bedeutende Namen eine wichtige Rolle. Zweig lässt sie als Garanten bevorstehender historischer Größe auftreten: Balzac wurde in „Rabelais heiterer Heimat“ geboren und wird später mit Linné verglichen. Große Namen säumen das Schicksal des Schriftstellers, doch der Größte unter allen, „der größer war als alle Beispiele der Geschichte“55, erhält dabei die führende Rolle: Napoleon. Mit ihm stellt Zweig dem Dichter eine geschichtliche Gestalt zur Seite, der er selbst – ähnlich wie Nietzsche, der in dem Korsen eine Verkörperung seines Übermenschen gesehen hatte – in höchster Bewunderung zugetan war: „Und dieser eine Mensch wieder, Napoleon, welch ungeheure und unübertreffliche Erfindung der Geschichte ist doch dieser Mann“.56 Rhetorisch ließe sich der Kontrast kaum dramatischer anlegen: Hier steht der klein gewachsene siegessichere Aufsteiger, in dessen Schatten der geniale fettleibige Balzac zu einem ebensolchen Repräsentanten des ,Siegertypus‘ heranwachsen sollte. Hier die Macht des Schwertes, die Europa in Schrecken versetzt, dort die Kraft der Feder, die mit einem mehr als achtzigbändigen Lebenswerk Welterfolge erringen wird. Napoleon prägt zunächst biographisch die Kindheitsjahre, und Napoleons Einfluss auf Balzac ist selbst dann noch gegenwärtig, als sein Stern bereits erloschen war und Europa den französischen Eroberer nur noch hinter sich lassen will. Der heranwachsende Balzac wird so zu einem maßlosen Menschen, der fortan nurmehr nach dem Größten greift, „nicht nach einem Marschallstab in der Literatur, sondern nach der Kaiserkrone“.57 Das Konstrukt dieses Einflusses selbst wird von Zweig nirgends 54 Stefan Zweig: „Anmerkungen zu Balzac“. In: ders.: Begegnungen mit B chern. Aufs tze und Einleitungen aus den Jahren 1902 – 1939. Hg. und mit einer Nachbemerkung versehen v. Knut Beck. Frankfurt/M. 1983, S. 169 – 178, hier S. 169. 55 Stefan Zweig: „Balzac“. In: ders.: Drei Meister, S. 17. 56 Stefan Zweig: „Die Geschichte als Dichterin“. In: Erbe und Zukunft. Zeitschrift f r Literatur, Musik, Geschichte und Philosophie 1 (1946/Oktober-Dezember), S. 54 – 64, hier S. 57 – 59. 57 Stefan Zweig: „Balzac“. In: ders.: Drei Meister, S. 18.

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begründet, sondern aus unmittelbarer Evidenz abgeleitet und wie ein Palimpsest seiner gesamten Charakterzeichnung zugrunde gelegt. Im Sinne von Thomas Mann kann man von „mythischer Identifikation“58 sprechen, die Stefan Zweig zwischen Balzac und Napoleon vornimmt, in die er sich aber auch selbst einschließt, etwa wenn er Franz Servaes mitteilt: „Nun bin ich wieder ganz Balzac“.59 Metonymisch wird Napoleon mit zwei weiteren Welteroberern in Verbindung gebracht, ohne dass deren Namen explizit genannt werden: mit Kant, der „die Wirre der Welt sich auflöste in eine Übersicht“, und Goethe, der sie als Dichter in Weimar „nicht minder in ihrer Gänze besaß als Napoleon mit seinen Armeen“.60 Der gehäufte und emphatische Gebrauch des Begriffs „Welt“ ist nicht nur an dieser Stelle augenfällig und befördert Zweigs Intention, das Allumfassende, das er auch in Balzac verwirklicht sieht, hervorzuheben. In verschiedenen Komposita wird „Welt“ massiv eingesetzt: Aus der (europäischen) Geschichte wird so die „Weltgeschichte“, aus dem Eroberer Europas „der Welteroberer“, aus der Fülle die „Weltfülle“, aus dem Willen der „Weltwille“.61 Dem gewichtigen Wort bleibt Zweig bis zum Ende treu, wo von „einer Zeit, einer Welt, einer Generation“62 gesprochen wird, die das Balzac’sche Oeuvre dem Leser eröffnet. In der Einleitung zu seiner späteren Essay-Sammlung Baumeister der Welt charakterisiert Zweig den französischen Schriftsteller schließlich mit einem einzigen Wort, einem mot juste als „Weltbildner“.63 Auf einer weiteren Ebene, der Ebene des literarischen Werkes, greift der Kunstgriff der Analogie erneut, wo Zweig auch in zahlreichen Figuren Balzacs Napoleon gespiegelt sehen will. Leben und Werk werden so durch eine Proportionsanalogie vermittelt: Der Autor und seine Helden entsprechen einander in wesentlichen Zügen, und hinter beiden steht überlebensgroß das Bild Napoleons, das die innere Einheit zwischen Leben und Werk von außen bewirkt. Das Attribut der Größe beschränkt sich indes keineswegs nur auf männliche Charaktere: Exemplarisch nennt Zweig Eugenie Grandet, die „nicht minder tapfer ist als Jeanne d’Arc“.64 58 Thomas Mann: „Freud und die Zukunft“. In: Mann Gesammelte Werke. Bd. 9. Frankfurt/M. 1960, S. 478 – 501, hier S. 492. 59 Stefan Zweig: Brief an Franz Servaes, o.D. Zit. n. Donald A. Prater: Stefan Zweig. Das Leben eines Ungeduldigen, S. 63. 60 Ebd., S. 18. 61 Ebd., S. 18. 62 Ebd., S. 48. 63 Zweig: Baumeister der Welt, S. 7. 64 Zweig: „Balzac“. In: ders.: Drei Meister, S. 27.

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Von Anfang an hebt Zweig den Rang eines Einzelschicksals durch einen kühnen Vergleich, der den Leser keine Sekunde lang an der Tragik, die das Schicksal des Geschilderten begleiten wird, zweifeln lässt. Siegfried Kracauer betont, dass in den Biographien Zweigs das Individuum zentral in den Mittelpunkt gerückt wird, und „wo es auftritt, ist Tragik unausbleiblich.“65 Allerdings blendet Stefan Zweig die Tragik, das Scheitern Napoleons in dem Balzac-Essay konsequent aus. Mit Blick auf die zahlreichen, höchst unterschiedlichen Interpretationen der Gestalt des Korsen reiht Zweig sich in die affirmativen, von Bewunderung geprägten ein. Hier wird Napoleon zu einer Chiffre der Größe, die Stefan Zweig übernimmt und mit Blick auf Balzac anwendet.

Diskurs der Größe In dem Balzac-Essay ist durch und durch ein Diskurs der Größe eingeschrieben, wie er sich im 19. Jahrhundert in verschiedener Ausformung zeigt.66 Eine der wichtigsten Quellen findet sich indes schon in der Mitte des 18. Jahrhunderts, in dem Denis Diderot zugeschriebenen Artikel „Génie“ in der Encyclop die. 67 Gegenläufig zum aufklärerischen Programm dieses Dictionnaire raisonn werden dort unter den Eigenschaften, die das Genie als solches qualifizieren, das Extreme, Exzessive, bis zum Übertriebenen Maßlose, Stürmende, unaufhaltsam Schaffende und Bauende und auf alles Gerichtete, das Allumfassende genannt. Es handelt sich um elementare Eigenschaften, die Stefan Zweig gerade bei Balzac in hohem Maße verwirklicht sieht. Balzacs gesamtes Künstlertum, Leben und Lebenswerk, wird von Zweig in diesem Sinn interpretiert und als aufgehoben

65 Siegfried Kracauer: „Die Erfolgsbücher und ihr Publikum.“ In: ders.: Das Ornament der Masse. Essays. 9. Aufl. Frankfurt 2005, S. 64 – 74, hier S. 71. 66 Vgl. Thomas Carlyle: On Heroes, Hero-worship, and the Heroic in History. London 1841; Jacob Burckhardt: Weltgeschichtliche Betrachtungen. Hg. v. Jakob Oeri. Berlin, Stuttgart 1905, bes. Kap. 5: „Das Individuum und das Allgemeine (Die historische Größe)“; Friedrich Nietzsche: Der Wille zur Macht. Versuch einer Umwerthung aller Werthe. In: Nietzsche Werke. Bd. 10. Leipzig 1906, bes. S. 105 – 188. Das Kapitel findet sich in der ersten Auflage dieser posthumen von Elisabeth Förster-Nietzsche besorgten Kompilation aus dem Jahr 1901 noch nicht. 67 Encylop die ou dictionnaire raisonn des sciences des arts et des m tiers. Nouvelle impression en facsimilé de la première édition de 1751 – 1780. Bd. 7. Hg. v. Denis Diderot u. Jean-Baptiste le Rond d’Alembert. Stuttgart 1995, S. 581 – 584.

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in seiner Genialität betrachtet: „Man wäre versucht zu sagen, er war gar nicht das, was man Künstler nennt, so sehr war er Genie“.68 Inhaltlich ist Zweigs Begriff des Genies zugleich deutlich vom Voluntarismus – es war Zweigs akademischer Lehrer Friedrich Paulsen, der diesen Begriff in die Philosophiegeschichte eingeführt hatte – beeinflusst. Bei Paulsen hatte Zweig als Student in Berlin im Sommersemester 1902 philosophische Lehrveranstaltungen belegt, darunter eine über „Psychologie als Grundlage der Geisteswissenschaften“. Paulsen vertrat einen psychologischen Voluntarismus, nach dem der Wille der Kern alles Psychischen und das Ziel des Lebens nicht Zufriedenheit und Glück, sondern das größtmögliche Ausleben der jeweiligen Fähigkeiten eines Individuums ist. Es sind dem entsprechend der Wille, die „gigantische […] Gier“, die Balzac, als ihm klar wird, dass seine Fähigkeiten nur als Schriftsteller voll zum Zuge kommen werden, und er mit erhöhter Energie einen zweiten schriftstellerischen Anlauf nimmt, ins Extreme, ins Maßlose treiben: Jetzt aber mit jenem ungeheuren Willen auf das Ganze hinzielend, mit jener gigantischen fanatischen Gier, die das Einzelne, die Erscheinung, das Phänomen, das Losgerissene mißachtet, um nur das in großen Schwingungen Kreisende zu umfassen […].69

Und genau hierin wird auch die Ähnlichkeit zwischen Balzac und seinen Helden gesehen. Weitere voluntaristische Kernbegriffe – Energie, Intensität Lebenswille – kommen ins Spiel, wo Balzacs eigentliches literarisches Interesse bestimmt und auf den Punkt gebracht wird: Gerade dieser mörderische und selbstmörderische Kampf der Energien ist es, der Balzac reizt. Die an ein Ziel gewandte Energie als Ausdruck des bewußten Lebenswillens nicht in ihrer Wirkung, sondern in ihrem Wesen zu schildern, ist seine Leidenschaft. Ob sie gut oder böse, wirkungskräftig oder verschwendet bleibt, ist ihm gleichgültig, sobald sie nur intensiv wird. Intensität, Wille ist alles, weil dies dem Menschen gehört […].70

Materialisiert findet sich dieser „ungeheure Wille“ schließlich im Lebenswerk von Balzac, das Zweig unter Berufung auf Hippolyte Taine – wieder ähnlich wie Hofmannsthal – als „das größte Magazin menschlicher Dokumente seit Shakespeare“71 betrachtet. Mit Blick auf seine literarische 68 69 70 71

Zweig: „Balzac“. In: ders.: Drei Meister, S. 44. Ebd., S. 19. Ebd., S. 26. Vgl. ebd., S. 45 – 46.

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Leistung mythisiert Zweig Balzac und hebt ihn damit noch einmal in eine noch höhere Sphäre: Es ist vielleicht mit der fast mythischen Erscheinung Shakespeares das größte Rätsel der Weltliteratur, wie, wann und woher all diese ungeheuerlichen, aus allen Berufsklassen, Materien, Temperaturen und Phänomenen herbeigeholten Vorräte von Kenntnissen in ihm eingewachsen sind.72

Mit Balzac habe „der Gedanke des Romans als Enzyklopädie der inneren Welt“73 begonnen, und mit ihm habe er auch aufgehört.

Ausblick Mit der Kategorie der Größe hat es seine Schwierigkeiten in einer Zeit, die den Autor für tot erklärt und der Autonomie des Subjekts mit Skepsis begegnet. Die Historiographie der Gegenwart entschlägt sich ihr nur allzu gern. Und doch trägt diese Kategorie geschichtsphilosophisch eine wichtige, ja unentbehrliche Funktion: Sie vermittelt in der Dialektik zwischen Individuum und Gesellschaft, hebt das Paradoxon, dass es stets das bereits gesellschaftlich-historisch geprägte Individuum ist, das Historie hervorbringt, zumindest partiell auf. Tatsächlich sind Individuen in höchst unterschiedlichem Maß an der Herstellung symbolischer Ordnung beteiligt und verfügen über ein unterschiedliches Maß an Autonomie. „Und nur an den Maßlosen“, heißt es am Ende des Nietzsche-Essays von Stefan Zweig, „erkennt die Menschheit ihr äußerstes Maß.“74

Bibliographie Balzac, Honoré de: Physiologie des eleganten Lebens. Unverçffentlichte Aufs tze. Eingel. u. hg. v. W. Fred. München 1911. Burckhardt, Jacob: Weltgeschichtliche Betrachtungen. Hg. v. Jakob Oeri. Berlin, Stuttgart 1905. Carlyle, Thomas: On Heroes, Hero-worship, and the Heroic in History. London 1841. Dilthey, Wilhelm: „Die Typen der Weltanschauung und ihre Ausbildung in den metaphysischen Systemen.“ In: ders.: Weltanschauung. Philosophie und Religion. Hg. v. Max Frischeisen-Köhler. Berlin 1911, S. 3 – 54. 72 Ebd., S. 41 – 42. 73 Ebd., S. 46. 74 Zweig: „Nietzsche“. In: ders.: Der Kampf mit dem D mon, S. 285.

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Encylop die ou dictionnaire raisonn des sciences des arts et des m tiers. Nouvelle impression en facsimilé de la première édition de 1751 – 1780. Bd. 7. Hg. v. Denis Diderot u. Jean-Baptiste le Rond d’Alembert. Stuttgart 1995. Hofmannsthal, Hugo von: „Gespräch zwischen Balzac und Hammer-Purgstall in einem Döblinger Garten im Jahre 1842“. In: Neue Freie Presse, 25. 12. 1902, S. 34 – 36. Hofmannsthal, Hugo von: „Über Charaktere im Roman und im Drama. Gespräch zwischen Balzac und Hammer-Purgstall in einem Döblinger Garten im Jahre 1842“. In: ders.: Unterhaltungen ber literarische Gegenst nde. Berlin 1904. Hofmannsthal, Hugo von: „Balzac“. In: Der Tag, 22. u. 24.3.1908. Hofmannsthal, Hugo von: „Honoré de Balzac“. In: ders.: Die Ber hrung der Sph ren. Berlin 1931, S. 122 – 139. Hofmannsthal, Hugo von: „Balzac“. In: ders.: Hofmannsthal Gesammelte Werke in zehn Einzelb nden. Reden und Aufs tze I. 1891 – 1913. Hg. v. Bernd Schoeller in Beratung mit Rudolf Hirsch. Frankfurt/M. 1979, S. 382 – 397. Hofmannsthal, Hugo von: „Über Charaktere im Roman und im Drama. Gespräch zwischen Balzac und Hammer-Purgstall in einem Döblinger Garten im Jahre 1842“. In: ders.: Hofmannsthal Gesammelte Werke in zehn Einzelb nden. Erz hlungen, Erfundene Gespr che und Briefe, Reisen. Hg. v. Bernd Schoeller in Beratung mit Rudolf Hirsch. Frankfurt/M. 1979, S. 481 – 494. „Hugo von Hofmannsthal – Stefan Zweig. Briefe. 1907 – 1928“. Mitgeteilt u. kommentiert von Jeffrey B. Berlin und Hans Ulrich Lindken. In: Hofmannsthal-Bl tter (1982), H. 26, S. 86 – 116. Kracauer, Siegfried: „Die Erfolgsbücher und ihr Publikum“. In: ders.: Das Ornament der Masse. Essays. 9. Aufl. 2005, S. 64 – 74. Ludwig, Emil: Genie und Charakter. Zwanzig m nnliche Bildnisse. Berlin 1928. Mann, Thomas: „Freud und die Zukunft“. In: Mann Gesammelte Werke. Bd. 9. Frankfurt/M. 1960, S. 478 – 501. Nietzsche, Friedrich: Der Wille zur Macht. Versuch einer Umwerthung aller Werthe. In: Nietzsche Werke. Bd. 10. Leipzig 1906. Plutarchi Vitae parallelae. Hg. v. Claas Lindskog u. Konrat Ziegler. 4 Bde. Stuttgart 1994 – 1998. Prater, Donald A.: Stefan Zweig. Das Leben eines Ungeduldigen. 2. Aufl. München 1982. Stefan Zweig. Briefe. 1897 – 1914. Hg. v. Knut Beck, Jeffrey B. Berlin u. Natascha Weschenbach-Feggeler. Frankfurt/M. 1995. Strelka, Joseph Peter: „Die Balzac-Biographie Stefan Zweigs“. In: Stefan Zweig heute. Hg. v. Mark H. Gelber. New York, Wien 1987 (= New Yorker Studien zur Neueren Deutschen Literaturgeschichte 7), S. 130 – 140. Zweig, Stefan: Die Philosophie des Hippolyte Taine. Phil. Diss., Univ. Wien 1904; in Buchform erschienen als Stefan Zweig: Die Philosophie des Hippolyte Taine. Hg. v. Holger Naujoks. Reinhardsbrunn 2005. Zweig, Stefan: „Balzac“. In: Die Zukunft 64 (1908), S. 53 – 62 u. S. 100 – 111. Zweig, Stefan: Balzac. Sein Weltbild aus den Werken. Stuttgart 1908 (= Aus der Gedankenwelt großer Geister Bd. 11, hg. v. Lothar Brieger-Wasservogel). Zweig, Stefan: „Die Autographensammlung als Kunstwerk“. In: Deutscher Bibliophilen-Kalender 2 (1914), S. 44 – 50.

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Schumanns Schatten Ein biographisches Hybrid

Wolfgang Kreutzer „Ich wollte, die Momente meines Lebens folgten aufeinander und ordneten sich wie die eines Lebens, an das man sich erinnert. Genauso gut kçnnte man versuchen, die Zeit am Schwanz zu packen.“ Jean Paul Sartre, Der Ekel

In seiner Biographie zu Friedrich Hölderlin gab Peter Härtling zum poetologischen Konzept seiner biographischen Romane folgende Auskunft: Am 20. März 1770 wurde Johann Christian Friedrich Hölderlin in Lauffen am Neckar geboren – – ich schreibe keine Biographie. Ich schreibe vielleicht eine Annäherung. Ich schreibe von jemandem, den ich nur aus seinen Gedichten, Briefen, aus seiner Prosa, aus vielen anderen Zeugnissen kenne. Und von Bildnissen, die ich mit Sätzen zu beleben versuche. Denn ich kann seine Geschichte nicht nachdenken. Ich kann sie allenfalls ablesen. Ich weiß nicht genau, was ein Mann, der 1770 geboren wurde, empfand. Seine Empfindungen sind für mich Literatur. Ich kenne seine Zeit aus Dokumenten. Wenn ich ,seine Zeit‘ sage, dann muss ich entweder Geschichte abschreiben, oder versuchen, eine Geschichte zu schreiben: Was hat er erfahren? Wie hat er reagiert? Worüber haben er, seine Mutter, seine Geschwister, seine Freunde sich unterhalten? […] Ich bemühe mich, auf Wirklichkeiten zu stoßen. Ich weiß, es sind eher meine als seine. Ich kann ihn nur finden, erfinden, indem ich mein Gedächtnis mit den überlieferten Erinnerungen verbünde. Ich übertrage vielfach Mitgeteiltes in einen Zusammenhang, den allein ich schaffe. Sein Leben hat sich niedergeschlagen in Poesie und in Daten. Wie er geatmet hat, weiß ich nicht. Ich muss es mir vorstellen […].1

Dieses Zeugnis gattungspoetischer Verweigerung stellt Peter Härtling dem 1976 publizierten biographischen Roman Hçlderlin voran. Dass seine Beteuerung, keine Biographie zu schreiben, gerade den Eindruck verstärken muss, es handle sich bei Hçlderlin um einen biographischen Text – 1

Peter Härtling: „Hölderlin. Ein Roman“. In: H rtling Gesammelte Werke, Bd. 5. Hg. v. Klaus Siblewski. Hamburg 1994, S. 11.

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wenn auch um einen unkonventionellen – erscheint kalkuliert. Ein Blick auf Härtlings rund zwanzig Jahre später entstandene Lebensgeschichte zu Robert Schumann,2 die innerhalb kürzester Zeit hohe Auflagenzahlen erreichte, zeigt, dass dieses frühe Bekenntnis des Biographen auch später noch volle Gültigkeit besitzt.3 Zwei wesentliche Merkmale sind für Härtlings biographisches Verfahren charakteristisch: 1. Der Autor setzt im zitierten Einschub ein normatives Gattungsverständnis von ,Biographie‘ voraus. Er will seinen Text abseits all jener Biographien verortet wissen, deren Autoren sich der vermeintlich passivreproduktiven Tätigkeit des „Abschreibens“ und „Ablesens“ verschrieben haben. Solch einem historisch-positivistischen Verfahren steht nach Härtlings Auffassung der produktive Prozess des schreibend kreierenden Dichters diametral entgegen, der „Bildnisse […] mit Sätzen zu beleben versuch[t]“ und den Empfindungen des biographischen Subjektes nachspürt im Bewusstsein, sie nicht fassen zu können. Härtling rückt mit der Frage nach den „Empfindungen“ des biographischen Subjekts die Autorschaft in den Mittelpunkt: Hinter der Fassade der „Gedichte, Briefe, Prosa“ verberge sich ein „atmender“ Mensch, den es nicht zu beschreiben gelte, so wie er war – denn das wäre schlichtweg unmöglich –, sondern der auf Grundlage der Imaginationskraft eines schreibenden Subjekts neu geschaffen werden soll. So führt dieser Gegenentwurf die post-positivistische Herstellung biographischer Wahrheit vor Augen und verweist zugleich auf einen Bruch, der literarische Biographien von nicht-literarischen unterscheidet. Er nimmt auf die Performanz biographischer Texte Bezug und reflektiert die Existenz des Schreibenden, die den Text bedingt: „Ich bemühe mich, auf Wirklichkeiten zu stoßen. Ich weiß, es sind meine.“ Härtling führt die aporetische Konstituiertheit aller Biographik – unabhängig von ihren literarischen Implikationen – vor: Die Annäherung an die Wirklichkeit des Anderen muss misslingen, denn sie führt näher an

2 3

Peter Härtling: Schumanns Schatten. Variationen ber mehrere Personen. 2. Aufl. Köln 1996. Zitate aus dieser Quelle werden fortan im Fließtext durch Angabe der Seitenzahl ausgewiesen. Schumanns Schatten erlebte sieben Auflagen innerhalb eines einzigen Jahres. Der Musikwissenschaftler Matthias Wendt führt dies unter anderem auf das ClaraSchumann-Jubiläum von 1996 zurück. Vgl. Matthias Wendt: „Das SchumannBild in der Belletristik“. In: Schumann Handbuch. Hg. v. Ulrich Tadday. Stuttgart, Kassel 2006, S. 563 – 569, hier S. 566.

Schumanns Schatten

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die Wirklichkeit des Schreibenden als an die Wirklichkeit des biographischen Subjekts.4 Dass gegen Ende der 1970er Jahre – der rezeptionsästhetische Ansatz war gerade en vogue – neben der „Wirklichkeit des biographischen Subjekts“ und der „Wirklichkeit des Biographen“ ausgerechnet eine „Wirklichkeit des Lesers“ nicht ins Spiel gebracht wurde, muss verwundern. Indem die Perspektive des Lesenden aus Härtlings Überlegungen ausgeschlossen bleibt, muss das Bild der biographischen Wirklichkeit unvollkommen bleiben. Jede Wirklichkeit der Gattung Biographie stellt sich nicht nur im Autor, sondern – abweichend – auch im Leser her. 2. Peter Härtling deklariert mehrdeutig: „Seine Empfindungen sind für mich Literatur“. Wenn Härtling mit „Literatur“ Hölderlins Werk meint, so glaubt er, den Ort für Hölderlins Empfindungen – gefasst in einen literarischen Korpus – letztlich in einem Archiv der „Poesie und Daten“ finden zu können. Die Lebensgeschichte hätte Hölderlins literarisches Vermächtnis als Erkenntnismedium zu benutzen, womit der Königsweg der Biographie über das Werk, über eine hermeneutische Annäherung führt. Unter allen Daten garantiere das Werk als Archiv der „Empfindungen“ den einzig gültigen Zugang zu biographischer Wahrheit. Wenn jedoch Hölderlins Empfindungen, vermittelt in „Gedichten, Briefen, Prosa“, adäquat in eine Lebensgeschichte Eingang finden sollen, dann wären diese – so die zweite Lesart der Aussage – als literarischer Text zu gestalten. Härtling nimmt zur Kenntnis, dass sich die biographische Literarisierung dem Wahrheitsanspruch der Gattung Biographie widersetzt. Es handelt sich also nicht um eine kokette Geste des Autors, wenn er betont, dass es sich im Hölderlin-Roman gerade nicht um Hölderlins wahre Empfindungen, sondern, wie er ausdrücklich hervorhebt, um „eher 4

Karin Tebben hat mit Blick auf Härtlings autobiographische Schreibweise darauf hingewiesen, dass Geschichte für Härtling an persönliche Erinnerung gekoppelt ist und „in seinem Verständnis das Erfahrungszentrum von Geschichte grundsätzlich der einzelne Mensch ist. Damit ist auch der Akt des Erzählens individuell und damit verbunden wiederum die Erinnerungsarbeit. Per se ist Erinnerung ,nicht selbstsicher, im Gegenteil: ihre Unsicherheit wird zur Methode des Schreibens.‘ Die Wahrheitsfindung wird somit nicht dem Vermögen ,korrekter‘ Erinnerung anheim gestellt, sondern zu einer Leistung der Phantasie deklariert.“ Karin Tebben: „Poetik des szenischen Erinnerns. Überlegungen zu einer Parallele des geschichtsphilosophischen Verständnisses Johann Gottfried Herders und der autobiographischen Schreibpraxis Peter Härtlings“. In: Herder Jahrbuch 8 (2006), S. 159 – 174, hier S. 166.

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meine als seine“ handelt. Der Autor bekennt sich so zu einem radikalen biographischen Subjektivismus. Zur entscheidenden Frage, ob und inwieweit seinem Subjektivismus Grenzen gesetzt sind, äußert sich der Autor aber nicht und setzt sich damit dem Vorwurf der Beliebigkeit aus: Die Relation zur biographischen Wahrheit bleibt ebenso permeabel wie die Grenze zur Fiktionalität. Beide Lesarten schließen einander, aus der Perspektive des Rezipienten, nicht aus, vielmehr ergänzen sie einander, indem sie der literarischen Biographie doppelte Erkenntnisfunktion zusprechen: als zuverlässiges Archiv gelebten Lebens – und somit als Quelle erzählender Darstellung – wie auch als Medium des biographischen Narrativs. Zwar kann sich der literarisch verfahrende Biograph, der der Illusion der biographischen Wahrheit zu Recht misstraut und seinen Text als subjektives, literarisches Wahrheitskonstrukt ausweist, vordergründig einem zentralen Dilemma der Biographik, nämlich der vergeblichen Annäherung an die Wahrheit, entziehen. Doch die Ziele des sich zu seiner subjektivistischen Position bekennenden Autors – zu ihnen zählt etwa, sich vorstellen zu müssen, wie das biographische Subjekt geatmet hat – verraten ein zutiefst wahrheitsgläubiges und wahrheitsbegieriges Interesse am gelebten Leben. Das subjektivistische Selbstverständnis des literarischen Biographen speist sich neben der Reflexion des eigenen Standpunktes aus der Beliebigkeit des Umgangs mit historischen „Fakten“. Dass der freie Umgang mit historischen „Fakten“ zu einer verzerrten, einseitigen, ja einfältigen Sicht auf biographische Subjekte führen kann, belegt eindrucksvoll die Mehrzahl der literarischen Biographien zu Robert und Clara Schumann. Für die meisten literarisch verfahrenden Biographen gibt das Leben des Künstlerehepaares nur einen belletristisch (miss)brauchbaren literarischen Stoff ab. Der Befund des Musikwissenschafters Matthias Wendt – er zählte zwischen 1910 und 2002 allein über dreißig literarische Biographien zu Clara und Robert Schumann – fällt entsprechend ernüchternd aus: „Nahezu alles, was in den letzten hundert Jahren an Robert- oder ClaraSchumann-Biographien erschienen ist, hat den schier unüberwindlichen Drang zum (Liebes-)Roman.“5 Diese gattungstheoretischen Überlegungen führen zu – in formaler und inhaltlicher Hinsicht – zentralen Fragen im Spannungsfeld von biographischer Fiktionalisierung und biographischer Literarisierung. Zum 5

Matthias Wendt: „Das Schumann-Bild in der Belletristik.“ In: Schumann Handbuch. Hg. v. Ulrich Tadday. Stuttgart, Kassel 2006, S. 563 – 569, hier S. 563.

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einen soll die Konfrontation von Schumanns Schatten. Variationen ber mehrere Personen mit seinen Quellen – allen voran mit dem sogenannten „Endenicher Krankenbericht“ – Aufschluss über die methodischen Verfahren der literarischen Biographik geben. Zum anderen wird anhand von Härtlings biographischem Schumann-Roman nach dem erkenntnistheoretischen Mehrwert einer literarischen Biographie zu fragen sein, die das Gefühlsleben und die subjektive Befindlichkeit eines kranken Helden auszuloten versucht.

Intermedialität: Härtlings Variationen Die auf musikalische und literarische Gattungen rekurrierenden Untertitel in Peter Härtlings Biographien weisen seine Texte als fiktionale Biographien aus. Zugleich belegen sie die skeptische Distanz des Autors zur historiographischen Biographie: Niembsch oder Der Stillstand. Eine Suite (1964); Hçlderlin. Ein Roman (1976); Die dreifache Maria. Eine Geschichte (1982); Waiblingers Augen. Roman (1987); Schubert. Zwçlf moments musicaux und ein Roman (1992); Schumanns Schatten. Variationen ber mehrere Personen. Roman (1996); Hoffmann oder die vielf ltige Liebe. Eine Romanze (2000). Wie die biographischen Darstellungen zu Nikolaus Lenau und Franz Schubert, so wird auch Robert Schumanns Leben als Musikstück, als Variationen bezeichnet, wobei – im Gegensatz zu Suite und zu den Zwçlf moments musicaux – ein repetitives Muster dominiert: Musikalische Variationen wandeln ein Thema melodisch, rhythmisch oder harmonisch vielfältig ab.6 Ebenso wie die Variations s rieuses, op. 54, seines Zeitgenossen Felix Mendelssohn Bartholdy gelten Robert Schumanns tudes symphoniques, op. 13, als Musterbeispiele romantischen Gefühlsausdrucks, die in der Abfolge eines variierten Themas den ständigen Wechsel psychischer Zustände offenlegen. An Baron Fricken schrieb Schumann im September 1834: Variationen sollten das thematische ,Objekt‘ immer neu beleuchten, ähnlich wie es aus buntem Glase zusammengesetzte Scheiben gibt, wodurch die

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Robert Schumann – dessen erstes und letztes Werk im Übrigen Variationen sind – gilt gerade für diese musikalische Gattung als bedeutender Komponist. Vgl. „Variation“. In: Die Musik in Geschichte und Gegenwart. Hg. v. Friedrich Blume. Bd. 13. Kassel u. a. 1966.

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Gegend jetzt rosaroth wie im Abendglanz, jetzt golden wie an einem Sommermorgen erscheint.7

Wie eng Robert Schumann die Gattungen Roman und Variationen verwandt sah, zeigt der Musikwissenschaftler Arnfried Edler unter Hinweis auf einen Jugendbrief Schumanns: Der achtzehnjährige Schumann war von [Franz Schuberts Hérold-Variationen D 903 Anm. d. Verf.] hingerissen; Dahinter steht freilich die erzählerische, romananaloge Konzeption der Variation, die Schumann an Schuberts Werken entwickelt hatte. Er sah darin ,ein[en] vollkommene[n] Tonroman – Töne sind höhere Worte‘ und zum Vergleich zog er Goethes Wilhelm Meister heran.8

Nicht nur die Variation, sondern auch musikalische Großformen – allen voran die Symphonie – deutete Schumann aufgrund ihrer ähnlichen Anlage mit dem Roman als dessen literarisches Analogon.9 Der Musikwissenschaftler Bernd Sponheuer weißt darauf hin, dass Schumanns Wahrnehmung der Symphonie und Friedrich Schlegels Beschreibung des Romans korrelieren: Schumanns Bilder des ,Bandes‘ und des ,Mittelpunktes‘ finden ein sachliches Analogon in […] Friedrich Schlegels ,Brief über den Roman‘ […]. Schlegels lakonische Definition des Romans als ,romantisches Buch‘ […] zielt zum einen auf ,die besondere Qualifikation der Gattung zur Totalität, zur Einheit (,Buch‘) in der Mannigfaltigkeit der Themen, Perspektiven und Sprechweisen‘, zum anderen auf die Verbindung von ,freier Phantastik‘ und unsystematischer Einheitsbildung ,durch die Beziehung der ganzen Komposition auf eine höhere Einheit, als jene des Buchstabens, über die er sich oft wegsetzt und wegsetzen darf, durch das Band der Ideen, durch einen geistigen Zentralpunkt.‘10

Die intermediale Durchdringung von Musik und Poesie, die Musikalisierung der Poesie und die Poetisierung der Musik, ist ein Merkmal romantischen Kunstschaffens und war für Robert Schumann, der selbst 7 Robert Schumann zit. n. Arnfried Edler: „Werke für Klavier zu zwei Händen bis 1840“. In: Schumann Handbuch. Hg. v. Tadday, S. 214 – 257, hier S. 219. 8 Ebd., S. 215. 9 Vgl. Arnfried Edler: Robert Schumann und seine Zeit. Laaber 1982, S. 145 (bes. das Kapitel „Musik und Erzählung“). 10 Ich danke Bernhard Sponheuer, der mir großzügiger Weise das Manuskript seines Vortrags Schumanns Blick auf die Symphonie, den er im Rahmen des musikwissenschaftlichen Symposiums Robert Schumann und die große Form (Bonn, 5.–7. Mai 2006) hielt, zur Verfügung stellte.

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schriftstellerisch tätig war, von großer Bedeutung.11 In seinem frühen Traktat „Ueber die innige Verwandschaft der Poesie und der Tonkunst“ (1826) stellte er hierarchisierend Musik und Literatur über andere künstlerische Ausdrucksformen (Malerei, Bildhauerei, Tanz und Baukunst): […] nicht nur die Vereinigung des Wohlklanges fesselt beide [d. h. Musik und Literatur, Anm. d. Verf.] an einander [sic], nein sie werden noch durch andere u[nd] zartere Bande zusammengekettet und diese sind, dass sie beide gleichen Ursprung, beide gleiche Wirkung haben. 12

Schumanns Biograph Peter Härtling, der die Struktur seiner biographischen Texte häufig aus der intermedialen Spannung von Literatur und Musik ableitete, stellte die Gleichrangigkeit dieser beiden Ausdrucksformen – mit Blick auf die Struktur seiner Lenau-Biographie Niembsch oder Der Stillstand – in Frage:13 Es wäre mir nie eingefallen, diese Arbeit Roman zu nennen. Denn dem Erdachten und als Ziel vorgenommenen Stillstand gehen keine Kapitel, sondern Tanzschritte voraus, seien es die einer Gigue, einer Sarabande. Mit einem Rondo, einer Kreisfigur versuche ich mich erzählend auf den Stillstand vorzubereiten. Er ist, ich weiß es, ich habe es ausprobiert und erfahren, nicht möglich. In der Sprache nicht. In der Musik schon: Durch die unendliche Wiederholung, die ihren Ausgangspunkt im Wiederholen vergisst und dadurch aus sich fällt und aus der Bewegung den Stillstand schafft. Oder wenigstens vortäuscht.14

Die Struktur des Lenau-Romans, dessen Handlung auf einen Stillstand zuläuft, findet in literarischen Kategorien (etwa in der Bezeichnung 11 Vgl. Uwe Schweikert: „Das literarische Werk – Lektüre, Poesie, Kritik und poetische Musik“. In: Schumann Handbuch. Hg. v. Tadday, S. 107 – 126, hier S. 124. 12 Robert Schumann: „Ueber die innige Verwandschaft der Poesie und der Tonkunst“. In: Schumann Neue Ausgabe s mtlicher Werke. Serie VIII, Supplemente, Bd. 1. Robert Schumann. Eine Lebenschronik in Bildern und Dokumenten. Hg. v. Ernst Burger unter Mitarbeit von Gerd Nauhaus und mit Unterstützung des Robert-Schumann-Hauses Zwickau. Mainz u. a. 1998, S. 46. Schumanns künstlerische Doppelbegabung leuchtet Joseph A. Kruse in einer Überblicksdarstellung aus: Joseph A. Kruse: „Robert Schumann als Dichter“. In: Robert Schumann. Universalgeist der Romantik. Beitr ge zu seiner Persçnlichkeit und seinem Werk. Hg. v. Julius Alf u. Joseph A. Kruse. Düsseldorf 1981, S. 40 – 61. 13 Siehe zum Bereich der Musikalität in Härtlings Oeuvre auch Małgorzata Grabowska: Musik und Musiker im Werk Peter H rtlings. Dresden 2006. 14 Peter Härtling: „Das wandernde Wasser. Musik und Poesie in der Romantik. Salzburger Vorlesungen 1994“. In: H rtling Gesammelte Werke, Bd. 9. Erzählungen, Aufsätze und Vorlesungen. Hg. v. Klaus Siblewski. Köln 2000, S. 571 – 669, hier S. 573.

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„Kapitel“) keinen Halt und geht in einer musikalisch-tänzerischen Form, in der Suite, auf.15 Härtling verwebt den musikalischen, literarischen und körperlichen Ausdruck zu einer biographischen Textur, deren Genese eng an seine persönliche Rezeption von Musik gebunden ist: Während ich an meinem Buch Niembsch oder der Stillstand schrieb, […] hörte ich mir oft Mozarts Giovanni an – nicht allein als Stimulans, als Verführung, Musik ins Wort zu locken, sondern auch als strenge Prüfung meiner Gedankengänge: ob ich denn nicht schon abgekommen sei von jener kaltblütig das Grauen umschließenden Figur? 16

So, wie die Lenau-Biographie Niembsch unter dem Eindruck einer MozartOper entstand, verbindet sich für den Autor Schumanns Tonkunst unmittelbar mit Hölderlins Lyrik. Musik, Bewegung und Literatur verdichten sich für Peter Härtling zu einer repetitiven Textur, die der Schumann-Biographie zu Grunde liegt: [Robert Schumanns] Ges nge der Fr he sind nicht seine letzte Komposition; aber sie sind sein Testament auf dem Klavier. Sie summieren ein Leben in scheinbar einfachen Sätzen, und trotzdem kommt es einem vor, als hätten sie die Sprache, aus der sie kommen und denken, schon wieder vergessen. Wer diese fünf Stücke hört, folgt einer Bewegung, die ständig beunruhigt, weil sie Gesetze ausschlägt. Wie fing er an? Wo wollte er hin? Seit ich die Gesänge höre, lese ich gleichzeitig Hölderlin: den ,Hyperion‘, die Gedichte an Diotima und die späteren Turmgedichte. Ich höre sich wiederholende Motive und sich wiederholende Wörter. (S. 362)

Das Funktionsprinzip der Variation lässt sich mit Blick auf den Untertitel, der auf die Protagonisten des Romans Bezug nimmt (Variationen ber mehrere Personen), zumindest auf drei Ebenen verstehen:17 1. In einem dialogischen, variierenden Verfahren respondiert Schumanns Krankengeschichte – einem Wechselgesang ähnlich – auf lebens15 Die Kapitelüberschriften lauten: ,,Präludium“, ,,Rondo“, ,,Gigue“, ,,MenuettGavotte“, ,,Allemande“, ,,Beurée“, ,,Sarabande“, ,,Burlesca-Air“. 16 Peter Härtling: „Giovannis Ziel“. In: H rtling Gesammelte Werke, Bd. 9. Hg. v. Siblewski, S. 372 – 375, hier S. 372. Die E.T.A. Hofmann-Biographie entsteht unter dem Eindruck einer Messe: „Ich höre, während ich schreibe, diese Musik [E.T.A. Hoffmanns Messe in d-Moll], unterbreche die Arbeit, um mich zu konzentrieren.“ Peter Härtling: Hoffmann oder die vielf ltige Liebe. Eine Romanze. Köln 2001, S. 22. 17 Zur Kritik des Variations-Schemas siehe Ute Röller: ,Mein Leben ist ein Roman…‘. Poetologische und gattungstheoretische Untersuchung j ngerer literarischer Musikerbiographien. Würzburg 2007, S. 231.

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geschichtliche Episoden. Die Schilderung der letzten beiden Lebensjahre, die der Komponist infolge eines misslungenen Selbstmordversuchs in der Nervenheilanstalt Endenich bei Bonn zubrachte, nimmt dabei einen bestimmenden Platz im biographischen Text ein. Der alternierende Aufbau, die enge Verzahnung der Biographie von Schumanns „gesundem“ Leben vor der Hospitalisierung (1810 – 1854) mit der Chronik des akut leidenden Patienten (1854 – 1856) bricht unentwegt den chronologischen Erzählstrang und erzählt quasi zwei Leben, die scheinbar synchron verlaufen: eines von der Geburt bis zum Suizidversuch, das andere vom Suizidversuch bis zum Tod. Der Roman folgt einer regelmäßigen, streng rhythmischen Ordnung, die mit der Internierung beginnt und die davor liegenden Lebensphasen als Rückblenden erscheinen lässt.18 Mit der Illusion des vollständigen Verlaufs einer Erzählung sowie mit der Illusion ihres ersten Anfangs und definiten Endes – zwei Fiktionsmodi der klassisch-erzählenden Historiographie – bricht der Autor nur oberflächlich, vielmehr richtet er den Roman auf Schumanns Krankheit aus. Die Juxtaposition des gesunden Lebens und des Spätstadiums der Krankheit verleiht dem Leben Schumanns einen pathologischen Anstrich und erhebt stärker, als jede andere literarische oder historiographische Schumann-Biographie die Krankheit zum Strukturierungs-Prinzip. Sowohl die kontrapunktische Struktur zweier voneinander unabhängiger Erzählungen als auch die musikalischen Satz- und Tempobezeichnungen an Stelle von Kapitelüberschriften verweisen auf das dezidiert intermediale Verfahren des Biographen. 2. Diese kontrastive Anordnung der Kapitel korrespondiert mit einem wiederholten, abrupten Abbruch einer evolutiv angelegten Handlung – Schumann durchläuft Stadien der Kindheit, Jugend, Adoleszenz und Ehe (1810 – 1854) – durch die handlungsärmeren, ja beinahe stagnierenden Sequenzen der Endenicher Periode (1854 – 1856). Das reduzierte Ortsund Personen-Inventar der Bonner Anstalt, die Isolation des Komponisten und seine Fixierung auf den (von Härtling fiktiv eingeführten) Pfleger Klingelfeld, stehen in deutlichem Kontrast zur Schnelllebigkeit, zum flatterhaften Wesen und zum überaus reichen, vielfältigen sozialen Umfeld des Komponisten vor 1854. 18 Jene Kapitel, die die ersten 44 Lebensjahre beschreiben, sind mit Schumanns eigenen Werks- und Tempo-Bezeichnungen überschrieben, während die eingesprengten Endenicher Kapitel protokollartig mit Ort und Datum eingeleitet werden. „Kinderszenen (Schnell und spielend)“ betitelt Härtling etwa das zweite Kapitel, darauf folgt Kapitel 3 „Endenich, 5.4.1854 – 12.11.1854“.

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3. Der Autor stützt sich auf Quellenmaterial, das seinerseits vom Prinzip der Variation durchdrungen ist: Rund zehn Jahre vor der Veröffentlichung im Jahr 2006 hatte Peter Härtling exklusiven Zugang zum Krankenbericht der Endenicher Ärzte Franz Richarz und Eberhard Peters, in deren Obhut sich der Komponist befand.19 In diesem ärztlichen Tagebuch protokollierten die Mediziner den gesundheitlichen Zustand des siechenden Komponisten, der in Folge einer vermuteten Syphilisinfektion unter massiven psychischen Störungen litt. Was Härtling vorfand, war ein starres, repetitives Aufzeichnungsschema, das – dem Strukturprinzip der Variation folgend – Allgemeinzustand, Nahrungsaufnahme, therapeutische Maßnahmen (Dosierung der Medikamente), so wie Verdauungs- und Ausscheidungsverhalten des Patienten festhielt.20 Krankenbericht: Mai 1855 1. [EP.:] Gestern gut gestimmt, Abends von Dämonen […] und Abreise sprechend, sprach Abends lange vor sich hin. schlief und aß gut. Stuhl gestern fest. War heute freundlich. 2.) [FR:] Gestern den Tag über ziemlich gut gestimmt, ging nur kurze Zeit in den Garten; nach dem Abendessen sehr aufgeregt, wahnbefangen, gesticulierend und perorierend. Bei der Abendvisite gegen den Arzt heftig, verweigerte das Pulsfühlenlassen, wies den Arzt fort. War die ganze Nacht unruhig, räsonnirend [sic] und schimpfend. […] Aß gut. Stuhl wenig und fest. Conjunctiva gestern injicirt. Sol. Fowl. Ausgesetzt. – event. bei den Mahlzeiten 14 gr. Ipecacu. – Zu starke Speichelabsonderung. […] 3. [EP:] War gestern meist gut gestimmt. Sprach Mittags und Abends eine kurze Zeit vor sich hin. Schlief gut. Ging nicht aus. Nahm 2x 14 gr Ipecac. Ist heute munter, gelassen, wolle seine Bücher einpacken und dieselben zur Post bringen, könne sie niemanden [sic] anvertrauen. Stuhl gestern fest –21

Schumanns Pathogenese – sie hatte ihren Anfang, wie vermutet wird, in einer Infektion im Jahr 1835 – war von einem chronisch-progredienten Krankheitsverlauf gekennzeichnet: Die Erkrankung generierte über zwei Jahrzehnte neue Symptome und durchlief dabei mehrere Stadien. So deuten die von den Medizinern Richarz und Peters beschriebenen Symptome auf das sogenannte Tertiärstadium einer Syphiliserkrankung 19 Bernhard R. Appel (Hg.): Robert Schumann in Endenich (1854 – 1856). Krankenakten, Briefzeugnisse und zeitgençssische Berichte. Mainz u. a. 2006. 20 Siehe zu Schumanns Krankengeschichte aus psychologischer und medizinischer Sicht Uwe Henrik Peters ausführliche „Erläuterungen zum Krankenbericht Schumanns“. In: Appel: Robert Schumann in Endenich (1854 – 1856), S. 448 – 480. 21 Appel: Robert Schumann in Endenich (1854 – 1856), S. 267.

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hin.22 An den invariablen „geistigen Zentralpunkt“23 des Romans, an die Krankheit und ihren Schatten, mahnte das den Roman einleitende Gedicht von Justinus Kerner Wer machte dich so krank?. 24 Vom dramatischen Ende her, über das auch in Fachkreisen bis dato nur spekuliert wurde, wirft die Krankheit einen „dunklen Schatten“ zurück auf das Leben des Komponisten. Härtlings Absicht, die Geschichte von der zweijährigen Leidensphase ausgehend zu erzählen, deckt sich mit Jean Paul Sartres Auffassung, dass erzähltem Leben immer schon das Ende eingeschrieben und das Leben nur vom Ende her erzählbar sei: Aber wenn man das Leben erzählt, verändert sich alles; bloß ist das eine Veränderung, die niemand bemerkt: der Beweiß ist, dass man von wahren Geschichten spricht. Als ob es wahre Geschichten geben könnte; die Ereignisse entwickeln sich in eine Richtung. Man tut so, als finge man mit dem Anfang an: […] Und in Wirklichkeit hat man mit dem Ende angefangen. Es ist da, unsichtbar und gegenwärtig, es ist das Ende, das diesen wenigen Worten den Pomp und den Wert eines Anfangs verleiht.25

Das Leitmotiv des „Schattens“ verbindet sich zugleich mit dem mehrfach als „Schatten“ titulierten Krankenpfleger Tobias Klingelfeld, der in den Endenich-Kapiteln nicht nur zu einer zentralen Figur des Romans aufrückt, aus dessen Perspektive der körperliche und geistige Verfall des Komponisten geschildert wird, sondern auch als Alter Ego des Autors gelesen werden kann.26

22 In ihrem Tertiärstadium mündet eine unbehandelte Syphiliserkrankung u. U. in ein somatisches (Rückenmarksschwindsucht oder Tabes dorsalis) und psychisches Leiden infolge einer fortschreitenden Lähmung („progressiven Paralyse“). 23 Friedrich Schlegel: „Brief über den Roman.“ In: Kritische Friedrich-Schlegel-Ausgabe, Bd. 2. Charakteristiken und Kritiken I (1796 – 1801). Hg. v. Ernst Behler unter Mitwirkung von Jean-Jacques Anstett und Hans Eichner. München 1967, S. 329 – 339, hier S. 336. 24 Das Gedicht wurde 1840 von Schumann vertont, es handelt sich um Nummer 11 aus „Zwölf Gedichte op.35“. Darin heißt es: „Daß du so krank geworden,/ Wer hat es denn gemacht? –/ Kein kühler Hauch aus Norden,/ Und keine Sternennacht.“ Zit. n. Härtling: Schumanns Schatten, S. 9. 25 Jean Paul Sartre: Der Ekel. Roman. Reinbek 1987, S. 51. Für diesen Hinweis danke ich Caitríona Ní Dhúill. 26 Siehe zum Schatten und dem damit eng verknüpften Echo-Motiv im SchumannRoman Röller: ,Mein Leben ist ein Roman…‘ , S. 227 f.

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„Wirkliches“ und Erfundenes. Faktizität und Fiktionalität Aus gattungsgeschichtlicher Perspektive steht Schumanns Schatten in der Tradition jener Biographien, die in den 1970er Jahren einen „Paradigmenwechsel“ in der deutschsprachigen Biographik einleiteten.27 Mehrere Schriftsteller – zu ihnen zählen Henning Boëtius, Günter de Bruyn, Sigrid Damm, Hans Magnus Enzensberger, Hans J. Fröhlich, Ludwig Harig, Dieter Hildebrandt, Peter Härtling, Wolfgang Hildesheimer, Heinz Knobloch, Dieter Kühn, Ulrich Völkel, Christa Wolf und Gerhard Wolf – stellten die normative Praxis des biographischen Narrativs und den apodiktischen Gestus wissenschaftlicher Biographien grundsätzlich in Frage und fügten den vorherrschenden Paradigmen neuartige, literarisch geprägte Erzählformen hinzu. Parallel zur „Narrativitätsdebatte“ in der Geschichtswissenschaft der 70er-Jahre, in der die „alte, chronologischteleologische Darstellungstechnik“ mit einer offenen Schreibweise konkurrierte, trieben diese Autoren die Auflösung literarischer Konzepte voran, die auf Totalität und ästhetische Harmonie abzielten.28 Die literarische Biographik wählte vor dem Hintergrund strukturalistischer und poststrukturalistischer Debatten neue, experimentelle literarische Darstellungsverfahren, wie sie etwa Siegfried Kracauer schon vor dem Zweiten Weltkrieg gefordert hatte. Der Publizist und Filmwissenschaftler stellte in seinem 1930 entstandenen Essay Die Biographie als neub rgerliche Kunstform die „Geschlossenheit der alten Romanform“ in Frage, die dem Zerfall des Individuums – er spricht vom „selbstherrlichen Subjekt“ – nicht mehr gerecht würde: „Denkbar wäre, dass [der Roman] in einer der verwirrten Welt angepassten Form neu erstünde, dass die Verwirrung selber epische Form gewönne.“29 Anhand von Peter Härtlings Biographien hat die literaturwissenschaftliche Forschung mehrfach grundlegende Überlegun27 Ansgar Nünning konstatiert nach dem viel beschworenem Tod des Romans, nach dem Tod des Autors (Barthes, Foucault) und dem Tod der Geschichte (Fukuyama) in der Historiographie, der Biographik und der fiktionalen Biographie einen ebenso signifikanten Paradigmenwechsel. Vgl.: Ansgar Nünning: „Von der fiktionalen Biographie zur biographischen Metafiktion“. In: Fakten und Fiktionen. Strategien fiktionalbiographischer Dichterdarstellungen in Roman, Drama und Film seit 1970. Hg. v. Christian von Zimmermann. Tübingen 2000, S. 16 – 35, hier S. 16. 28 Helmut Scheuer: „Biographie – Ästhetische Handlungsmodelle und historische Rekonstruktionen“. In: sthetik der Geschichte. Hg. v. Johann Holzner u. Wolfgang Wiesmüller. Innsbruck 1995, S. 134 – 135. (= Innsbrucker Beiträge zur Kulturwissenschaft. Germanistische Reihe, Bd. 54). 29 Siegfried Kracauer: „Die Biographie als neubürgerliche Kunstform“. In: ders.: Das Ornament der Masse. Essays. Frankfurt/M.: 1963, S. 75 – 80, hier S. 76.

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gen zur literarischen Biographik in den wissenschaftlichen Diskurs eingebracht und dabei auf das Spannungsfeld Fiktionalität – Faktizität Bezug genommen.30 Unter den jüngeren Publikationen sticht besonders die fundierte Arbeit der Literaturwissenschaftlerin Ute Röller hervor, die literarische Musikerbiographien auf ihren Fiktionalitäts- und Faktizitätscharakter überprüft hat.31 Wie Röller untersuchte auch der Literaturwissenschaftler Ralf Sudau biographische Texte nach poetologischen und gattungstheoretischen Merkmalen, wobei er sich auf ein dichotomisches Gerüst stützte, das Biographien nach der Qualität ihrer Fakten (wirklich/erfunden) sowie nach der Präsentationsweise des biographischen Materials (pragmatisch/ fiktional) unterscheidet. Seine Taxonomie kennt folgende vier „Aussagemodi“:32

30 Hildegard Fritsch: Peter H rtlings ,Hçlderlin‘. Untersuchung zur Struktur des Romans. Bern u. a.: 1983 (= Europäische Hochschulschriften, Bd. 653); Ralf Sudau: Werkbearbeitung, Dichterfiguren. Traditionsaneignung am Beispiel der deutschen Gegenwartsliteratur. Tübingen 1985; Nathalie Jacoby: Mçgliche Leben. Zur formalen Integration von fiktiven und faktischen Elementen in der Literatur am Beispiel der zeitgençssischen fiktionalen Biographie. Bern u. a. 2005 (= Europäische Hochschulschriften, Bd. 1851). 31 Ute Röller: ,Mein Leben ist ein Roman…‘, bes. S. 225 – 234. 32 Vgl. Ralf Sudau: Werkbearbeitung, Dichterfiguren, S. 104 f. Sudau untersuchte neben Härtlings Hçlderlin auch Peter Weiss Hçlderlin und Günter Grass Die Plebejer proben den Aufstand.

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Anders als Ralf Sudau, der dieses Schema kursorisch behandelte und ausschließlich auf Texte bezog, lässt sich in Härtlings Biographie Schumanns Schatten die enge Verbindung von Wirklichem mit Erfundenem, ja selbst von fiktionaler und pragmatischer Präsentationsweise innerhalb eines Textes, auf der Ebene von Sätzen und Syntagmen, nachweisen. Da die Endenich-Kapitel fast ausschließlich auf dem ärztlichen Krankenbericht basieren, können hier Satz für Satz die Schichten pragmatischer und fiktionaler Aussagen abgehoben,33 und zugleich Wirkliches von Erfundenem getrennt werden. Die genaue Analyse eines Absatzes aus Härtlings Schumann-Biographie soll dies verdeutlichen: Im April 1856, wenige Monate vor seinem Tod, besuchte Johannes Brahms den von seiner Krankheit gezeichneten älteren Komponisten:34 Es gefällt Klingelfeld, dass ihn Brahms mit Herr anredet. Immerhin ist er auch älter als er [absolute Fiktion]. Doktor Peters trägt am 11. April 1856 in das ärztliche Tagebuch ein [dokumentarischer Wirklichkeitsbericht]: ,Hatte gestern Besuch von Herrn Brahms, war erfreut fast gänzlich unverständlich. War von diesem sehr verschlimmert seit seinem letzten Besuch vor einem Jahr gefunden.‘ [dokumentarischer Wirklichkeitsbericht] und gibt die Notiz Klingelfeld zu lesen, zur Nachprüfung [absolute Fiktion]. Er habe nichts daran auszusetzen. Nur habe sie alle, bei der verschobenen Visite am Abend, Schumann mit einigen klar gesprochenen Worten überrascht [dokumentarische Fiktion]. Zum 33 Sudau: Werkbearbeitung, Dichterfiguren, S. 105. 34 Seine Eindrücke hielt er in einem Brief an den Musiker Joseph Joachim vom 25. Mai 1856 fest. Vgl. Appel: Robert Schumann in Endenich (1854 – 1856), S. 373 f.

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Beispiel: Kopf schmerzt und: Kein Wein [absolute Fiktion]. Worauf Doktor Peters nachträgt [absolute Fiktion/dokumentarischer Wirklichkeitsbericht]: ,Bei der Visite einige Worte verständlich‘ [dokumentarische Fiktion] (S. 345).

Der erste Satz schildert die Gedankenrede einer fiktionalen Figur und ist sowohl hinsichtlich der Präsentationsweise der Gedanken (Introspektion) als auch mit Blick auf die Ebene der Fakten (erfundene KrankenwärterFigur) dem Bereich absoluter Fiktion zuzuordnen. Die imaginierte Figur des Krankenpflegers Tobias Klingelfeld unterscheidet sich weder hinsichtlich ihrer Pr sentationsweise, noch in Bezug auf die Ebene der Fakten von einer konventionellen Romanfigur, sie weist den höchsten Fiktionalitätsgrad auf und ist somit per se als fiktionale (absolute) Fiktion zu werten. Nicht fiktional ist der nächste Satz zu verstehen, denn wir haben davon auszugehen, dass der Arzt Dr. Peters tatsächlich am 11. April 1856 genau jene Sätze im Krankenbericht vermerkte, die als Zitat wiedergegeben werden.35 Aussage und Zitat sind überprüfbar, die Faktizität nachweisbar und damit erfüllt die Aussage die Kriterien des dokumentarischen Wirklichkeitsberichts im Sinne Ralf Sudaus. Die Vergegenwärtigung bestimmter Handlungen ist nach Sudau neben dem bewussten Einsatz der Figurenperspektive ein Signal fiktionaler Präsentationsweise. Gegenständliche Beschreibungen „alltäglicher, belangloser, nebensächlicher Handlungen“36 – etwa der Hinweis, Peters habe dem Wärter Klingelfeld die Notiz zur Nachprüfung gegeben – unterstreichen den Fiktionalitätscharakter biographischer Texte (absolute Fiktion). Indem der Autor die Aussage des Krankenberichts (Wirkliches) zitiert, diese aber dem Pfleger Klingelfeld in den Mund legt, wechselt er abermals den Modus (dokumentarische Fiktion). Die Paraphrase wird nun fiktional angereichert und in einem Beispiel konkretisiert, das im Gegensatz zum vorangehenden Satz nicht mehr in der Quelle nachweisbar ist („Kopf schmerzt und: Kein Wein“) (absolute Fiktion). Der letzte Satz („Worauf Peters nachträgt: […]“) ist nur mithilfe einer forensischen Untersuchung zuordenbar. Sollte das Zitat im Manuskript tatsächlich als zeitlich versetzter Nachtrag Peters erkennbar sein, so handelt es sich um eine dokumentarische Fiktionalisierung. Jeder anderslautende Befund aber würde diesen Satz als spekulative Aussage entlarven, die dem Bereich der absoluten Fiktion zugeordnet werden muss. Das Zitat entnahm der Autor wiederum der Eintragung des Arztes Peters vom 11. April im Krankenbericht (dokumentarische Fiktion). 35 Appel: Robert Schumann in Endenich (1854 – 1856), S. 368. 36 Sudau: Werkbearbeitung, Dichterfiguren, S. 113.

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Fiktionalbiographische Manipulationsmuster Am Schnittpunkt von Echtem und Erfundenem, die – wie bereits gezeigt – aufs Engste syntaktisch verzahnt sind, entwickelte der Autor fiktionalbiographische Manipulationsmuster, die nun durch Analyse eines anderen Textausschnitts demonstriert werden sollen. Im Mai 1828 sucht Robert Schumann in Begleitung seines Freundes Gisbert Rosen den Dichter Heinrich Heine in München auf. Härtling verarbeitete Informationen aus einer überschaubaren Zahl von Quellen, die das Treffen dokumentieren, zu einer anschaulichen, lebhaften Episode.37 Neben den Tagebuchaufzeichnungen des Komponisten standen ihm sowohl Wilhelm Joseph von Wasielewskis frühe Schumann-Biographie (1858) – hier flossen persönliche Mitteilungen Gisbert Rosens ein – als auch Friedrich Schnapps Studie Heinrich Heine und Robert Schumann (1924) zur Verfügung.38 […]Heine, trifft er leibhaftig an. Seine ,Reisebilder‘ kennt er, bewundert er. Ein Augsburger Freund hat dafür gesorgt, dass eine Empfehlung an Heine geschickt wurde: ,Ein vielversprechender junger Mann…‘ Heine lebt seit dem Winter 1827 in München, arbeitet als Redakteur an den ,Neuen Allgemeinen Politischen Annalen‘. Er möge kommen, antwortet er postwendend. Schumann hat sich im Hotel erklären lassen, wo sich die Wohnung Heines, das Rechbergsche Palais, befinde. Er nimmt sich Zeit. Es ist Mittwoch der 7. Mai. […] Heine, klein und zierlich, in den Gesten frei ausholend, steht vor ihm, redet auf ihn ein, wartet, dass er antworte, und als Schumann schließlich die Begrüßung gelingt, führt er ihn in einen Salon […] und ein einziges Wort, das Schumann danach in sein Tagebuch einträgt, füllt seinen Kopf. […] Er hat sich vor einem Misanthropen gefürchtet und wird nun überrascht von Freundlichkeit. Ihr Besuch gibt mir die Gelegenheit, dem Schreibtisch zu entfliehen. Ver37 Es handelt sich einerseits um Tagebuchaufzeichnungen Schumanns, andererseits um dessen aussagekräftigen Brief an seinen Augsburger Gastgeber Heinrich von Kurrer (transkribiert und faksimiliert wiedergegeben in: Friedrich Schnapp: Heinrich Heine und Robert Schumann. Hamburg, Berlin 1924, S. 16 – 18). 38 Wilhelm Joseph von Wasielewski: Robert Schumann. Eine Biographie. Dresden 1858; Schnapp: Heinrich Heine und Robert Schumann. Ein weiterer wertvoller Beitrag erschien erst unlängst: Christoph Bartscherer: „Heines Schweigen. Schumanns Besuch in München und sein publizistisches Nachspiel“. In: Das letzte Wort der Kunst. Heinrich Heine und Robert Schumann zum 150. Todesjahr. Hg. v. Joseph A. Kruse. Stuttgart 2006, S. 135 – 155.

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übeln Sie mir das bitte nicht und begleiten Sie mich auf einen Spaziergang, mein junger Freund. (S. 56 f.)

Schumanns Unterredung mit Heine reduziert Peter Härtling auf ein Zwiegespräch. Die dritte dabei zumindest teilweise anwesende Person, den Jugendfreund Gisbert Rosen, nennt die Biographie nicht. Damit steigert der Autor den intimen Charakter des Treffens und blendet bewusst jene Figur aus, die dem Biographen Wasielewski realiter als Kronzeuge für diese Begegnung zur Verfügung stehen wird (Prinzip der Auslassung).39 Im Telegrammstil hielt Schumann selbst die Münchner Tage in seinem Tagebuch fest: Mittwoch d. 7ten May – Einkauf – Bouillon – Architect Krahe – mahlerischer Bart u. freundliche Künstler-aufnahme – Billard im englischen Kaffeehaus – table d’hote im goldnen Kreuz – Wein – Krahe und Heine’s Frühlingswohnung […] Donnerstags den 8ten May – Einkauf – Geschmackssachen – Heine – geistreiche Unterhaltung – ironisches Männchen – liebenswürdige Verstellung – Gang mit ihm auf die Leuchtenbergische Gallerie – der Sessel Napoleons – die Grazien v. Canova nicht edel genug – Magdalena schön – […].40

Darf man dieser autobiographischen Quelle glauben, so traf Schumann wohl an zwei aufeinanderfolgenden Tagen mit Heine zusammen. Anders als in Friedrich Schnapps Darstellung haben sich Komponist und Schriftsteller am 7. Mai 1828 möglicherweise nicht nur gesehen, sondern auch kennengelernt (Schumann könnte ihn in Begleitung des Architekten Krahe aufgesucht haben). Erst am 8. Mai besuchte man gemeinsam mit Gisbert Rosen die Leuchtenberg’sche Galerie. Härtling subsumierte beide Treffen – wie immer sie auch konkret ausgesehen haben mochten – unter dem Datum des 7. Mai (Prinzip der Fusion/B ndelung).41 39 „Über dies Zusammentreffen berichtet uns bereits der Schumann-Biograph Wasielewski, zweifellos auf Grund persönlicher Mitteilungen von Gisbert Rosen.“ Schnapp: Heine und Schumann, S. 7. Tatsächlich dürfte Schumann zu Heine begleitet worden sein, „während Rosen sich verabschiedete, um einen Landsmann aufzusuchen. Alle drei trafen sich aber in der Leuchtenbergschen Galerie wieder, wo den beiden Fremdlingen fortgesetzte reichliche Gelegenheit geboten wurde, die skurrilen Einfälle Heines, dessen Laune sich als eine unerschöpfliche zeigte, teils zu bewundern, teils zu belachen.“ Wasielewski: Robert Schumann, S. 31. 40 Robert Schumann: Tageb cher, Bd. 1 1827 – 1838. Hg. v. Georg Eismann. Basel 1971, S. 64. 41 Schnapp hält zwar für möglich, dass sich Heine und Schumann bereits am 7. Mai sahen, „aber nur aus der Ferne“. Ob die beiden bereits am 7. Mai 1828 einander vorgestellt wurden, entscheidet sich an der Lesart eines Wortes, das Schnapp als „Frühlingsrechnung“ (S. 7) und Eisler – sinnvoller – als „Frühlingswohnung“ liest.

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In ähnlicher Weise bündelte Härtling auch mehrere real verbürgte Personen zu einer fiktiven Figur, der realiter niemand entsprach: Als ich die Papiere las, die Mitschriften der Ärzte, die Protokolle, tauchten drei oder vier Wärter auf. Damals nannte man die Leute noch Irrenwärter, heute sinds Pfleger. Und ich zog diese Wärter allesamt zusammen zu einem, gab ihm den Namen ,Tobias Klingelfeld‘ und der hat meine Augen, hat meine Ohren und hat meine Zuneigung.42

Für die Darstellung von Schumanns Münchner Treffen mit Heine fasste Härtling, seinen Quellen (Wasielewski, Schnapp, Brief an Kurrer) folgend, zwei Details ins Auge: die atmosphärische Beschreibung der Fr hlingswohnung im Rechberg’schen Palais (Prinzip der Ausschm ckung/Illustration) und Schumanns gespannte Erwartung: und als Schumann schließlich die Begrüßung gelingt, führt er ihn in einen Salon, in dem die Stadtsonne sich zu sammeln scheint, und die Tapete Funken sprüht, und ein einziges Wort, das Schumann danach in sein Tagebuch einträgt, füllt seinen Kopf: Frühlingswohnung, Heines Frühlingswohnung. Er hat sich vor einem Misanthropen, einem Spötter gefürchtet und wird nun überraschst von Freundlichkeit. (S. 57)

Härtling hielt sich streng an die Vorlage eines Briefes, den Schumann rund einen Monat nach dem Treffen seinem Augsburger Gastgeber Heinrich von Kurrer schrieb (Prinzip der Paraphrasierung): Ich stellte mir nach der Skizze des Herrn Krahe, in Heine’n einen mürrischen, menschenfeindlichen Mann vor, der schon wie zu erhaben über den Menschen und dem Leben stünde, als daß er sich noch an sie anschmiegen könnte. Aber wie anders fand ich ihn und wie ganz anders war er, als ich mir ihn gedacht hatte. Er kam mir freundlich, wie ein menschlicher, griechischer Anacreon entgegen, er drükte [sic] mir freundschaftlich die Hand u. führte mich einige Stunden in München herum […].43 Denn dann wäre von einer „Frühlingswohnung“ die Rede, die Heine selbst bewohnte und die Schumann am 7. Mai (abends?) betreten haben musste. 42 Peter Härtling in der Radiosendung Schuberts Sonnen und Schumanns Schatten. Die zwei großen Musikerromane des Peter H rtling. Redaktion: Johannes Leopold Mayer. Radio Ö1, 26.12.2007. Die Namen der genannten Wärter konnten nachgewießen werden. Sie hießen Joseph Schmitter und Peter Joseph Meyer (Appelt: Robert Schumann in Endenich (1854 – 1856), S. 87). 43 Robert Schumann: Brief an Heinrich von Kurrer v. 9. Juni 1828. In: Schnapp: Heine und Schumann, S. 16. Der Brief ist wiederabgedruckt in: Robert Schumann: ,Schlage nur eine Weltsaite an‘. Briefe 1828 – 1855. Ausgewählt und kommentiert von Karin Sousa. Mit einem Nachwort von Rüdiger Görner. Frankfurt/M. 2006, S. 11.

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Der im Schumann-Tagebuch beschriebene Spaziergang findet sich im Kapitel „Dichterliebe“ ebenso wieder, wie Napoleons Feldsessel und eine Unterhaltung über den Feldherren: Ein Stühlchen, sagt Heine, unbedeutend, wüssten wir es nicht, wir würden es unter keinen besseren Hintern schieben. Es kann ja auch sein, wir werden angeschmiert. Mir ist das egal, lieber Schumann. Das Ding rührt mich. Mehr als jeglicher kaiserliche Schmuck oder irgendein Degen. Das Stühlchen hat ihn begleitet, ihm geholfen, gedient. An der Beresina, als alles verloren schien, die Schreie, die Flüche seiner Soldaten ihn verfolgten wie ein wüster Chor. In Waterloo, als ihm die Angst aus dem Arsch dampfte. In guten und in schlechten Stunden. Der Kaiser – wenn er auf seine Josephine wartete und die Hinterbacken klemmte oder wenn er sterbensmüde einen Sieg nicht mehr feiern, eine Niederlage nicht mehr beklagen konnte. Ein kleiner Mann, eine weltgeschichtliche Größe – und sein Stühlchen. (S. 60 f.)

Tatsächlich versuchte Härtling hier, der als „sarkastisch, beißend-witzig“ beschriebenen Ausdrucksweise Heines fiktional gerecht zu werden (Prinzip der Illustration).44 Ihre Dramatik bezieht die Szene aus der Wiedergabe Heines Sprechweise in direkter Rede und aus dem lebendigen, überpointierten Redestil der Figur. Ebenso gilt dies für die introspektiv angelegte Annäherung an Schumann beim Spaziergang mit Heine: Lauter verrückte, zusammenhangslose Sätze schießen ihm durch den Kopf: Ich habe zwölf Vatermörder im Gepäck. Oder: Es darf in der nächsten Sitzung unseres Clubs nichts Unartiges oder Ungeschicktes gemacht oder gedacht werden (S. 57 f.)

lässt Härtling den Komponisten auf dem „Gang mit ihm auf die Leuchtenbergische Galerie“ denken, der – einer Leerstelle gleich – in den Quellen nicht dokumentiert ist (Prinzip der Interpolation). Interpolierend verfährt der Autor auch auf der Ebene ganzer Kapitel, wenn er etwa die Erzählung für den Zeitraum vom 28. April 1854 bis 6. September 1854 – die Krankenberichte dieser Periode sind verschollen – nicht stocken lässt, sondern unbeirrt weiter Ereignisse rund um den Patienten detailliert erzählt. Die Begegnung des Schriftstellers mit dem Komponisten im Mai 1828 bildet also insgesamt gesehen ein historisch gesichertes Realienkorsett, das der biographische Erzähler manipulierend ausgestaltet – durch die Prin-

44 Wasielewski: Robert Schumann, S. 31.

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zipien Auslassung, Fusion/B ndelung, Paraphrasierung – und mit fiktionalen Elementen anreichert: mittels Interpolation und Illustration. 45 In einem Interview gab Peter Härtling zu verstehen, dass der Fiktionalisierungsgrad seiner biographischen Darstellung zu Franz Schubert nicht so sehr mit der Quellenlage, sondern vielmehr mit inhaltlichen Aspekten korrespondiere:46 Das heißt, dass ich dort, wo [die Komponisten] sich aber aussprachen, genau sein möchte und muss: In der Kunst. Wenn ich über ihre Musik schreibe, wenn ich […] bei Schubert, über seine Lieder schreibe, bleibe ich so genau wie möglich. Ich werde gelegentlich ungenau, wenn ich von seiner Liebe schreibe, wie er die Peppi in dem Eszterhazyschen Gehöft kennen lernt: Das muss ich mir vorstellen. Aber ich muss mir doch nicht vorstellen, wie er das ,CDur-Quintett‘ geschrieben hat oder wie er die ,Winterreise‘ geschrieben hat. Das muss ich mir nicht vorstellen. Ich kenne seine Lieder und ich setze auch voraus, dass die, die das Buch über Schubert lesen, die Lieder im Kopf haben.47

Den unprätentiösen Begriff „Genauigkeit“ führten auch die Kritiker von Eva Weissweilers 1990 erschienener Biographie zu Clara Schumann im Mund.48 Die Autorin nahm selbst in einem sehr persönlichen Beitrag zur Zulässigkeit fiktionaler und faktischer Durchmischung in biographischen Texten kritisch Stellung: Phantasie contra Quellen. Persönliche Interpretation contra Tatsachen. Aber – was ist das überhaupt, eine Quelle? Was ist das überhaupt, eine Tatsache? 49 45 In einem ähnlichen Bild beschrieb die Clara Schumann-Biographin Eva Weissweiler ihre Erfahrungen und erklärte (in Er-Form) ihrem Auditorium im Rahmen einer Lesung, „dass die Fakten das Gerippe seien und die Phantasie das Fleisch, dass sie in der Tat Quellen miteinander vermischt habe, Tagebücher, Briefe, Kupferstiche, Zeitungsartikel und die besagten Liedersammlungen, dass sie das alles zusammengeklebt habe wie die Szenenbilder eines Films, und dabei habe sie eben auch Geräusche gehört, Schritte, Gesänge, das Zischen von Pritschen oder das Aufklatschen eines Körpers auf dem Wasser, […]“. Eva Weissweiler: „Wie war es denn nun wirklich und warum das alles nebensächlich ist. Biographie – Texte zwischen Wahrheit und Fiktion“. In: „… daß einfach sich diktierte Zeilen legen …“. Autoren schreiben ber ihr Genre. Hg. v. Liane Dirks. Dülmen-Hiddingsel 1995, S. 67 – 99, hier S. 73. 46 Peter Härtling: „Schubert. Zwölf moments musicaux und ein Roman“. In: H rtling Gesammelte Werke, Bd. 6. Hg. v. Klaus Siblewski. Köln 1996. 47 Peter Härtling in der Radiosendung Ö1 Extra: „Schuberts Sonnen und Schumanns Schatten. Die zwei großen Musikerromane des Peter Härtling“. Radio Österreich 1 (ORF) vom 26.12.2007. 48 Eva Weissweiler: Clara Schumann. Eine Biographie. Hamburg 1990. 49 Weissweiler: „Wie war es denn nun wirklich“, S. 76.

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Der vermeintlich „wertfreien“ historiographischen Forschung auf positivistischer Grundlage hält sie polemisch entgegen: Alles Lüge, kann man mit dem gleichen Recht sagen, alles vorgeschobene, pseudo-wissenschaftliche Scheinobjektivität. Schon mit der Auswahl der Quellen fängt es an. Dann kommt der Blick auf sie. Dann die Zitierweise. Dann die Art, sie in biographische Darstellung einzubinden.50

Die Aussagen von Zeitzeugen – „Nehme ich ihr Urteil ernst oder verurteile ich sie als hysterisch?“ – seien ebenso in Frage zu stellen, wie autobiographische Dokumente, die sie mit dem Hinweis auf möglichen „Selbstbetrug“ und „Lebenslüge“ der Biographierten quittiert.51 Wie Eva Weissweiler, so stellt auch Peter Härtling fest, dass sich die kritische Auseinandersetzung mit literarisch ausgeformten biographischen Erzählungen an der Rezeptionshaltung spießt: […] Ich werde ständig von Musikern gebeten, aus dem ,Schumann‘ zu lesen, auch aus dem ,Schubert‘. Dieser Umgang dann mit den Musikern, die Gespräche drüber, die zeigen mir, dass offenbar diese beiden Bücher eine Wirkung gehabt haben wie auch das Buch über Hölderlin: Dass da ein Nachhall da ist, der nicht fragt: Ist das erfunden? Ist es wirklich? Es ist wirklich, wie Literatur eben sein sollte. Und das freut mich auch jedes Mal, wenn ich merk: das lebt.52

Wie anders verhält es sich dagegen bei Kritikern, die Weissweiler vorwarfen, ihr Buch sei „wertlos, unseriös, kolportagehaft, eine Mischung aus Zettelkasten und dem Versuch, dem positiven Mythos ,Clara‘ einen negativen entgegenzusetzen.“53 Auch Christian von Zimmermann erkennt in der Einbettung des vermeintlich „Faktischen“ in eine Ordnung und schon in der Auswahl, Reihung, Montage, Bearbeitung und Durchmischung des Materials mit fiktiven Elementen per se eine Form der Fiktionalisierung und bezeichnet 50 Ebd., S. 77. 51 Die Arbeit der Musikwissenschaftlerin ist im Spannungsfeld verschiedener Disziplinen angesiedelt und entsprechend sieht sie sich mit Vorwürfen aus unterschiedlichen akademischen Disziplinen konfrontiert: „Beim nächsten Mal gucke ich erst gar nicht mehr in die Gesetzesbücher, denn Ausflüge in Nachbarwissenschaften werden von den Kollegen nicht gern gesehen, und von Medizin und Psychiatrie verstehe ich ja nun wirklich nichts.“ Weissweiler: „Wie war es denn nun wirklich“, S. 79. 52 Peter Härtling in der Radiosendung Ö1 Extra Schuberts Sonnen und Schumanns Schatten. Die zwei großen Musikerromane des Peter H rtling. Radio Österreich 1 (ORF) vom 26.12.2007. 53 Weissweiler: „Wie war es denn nun wirklich“, S. 71.

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den der Objektivität verpflichteten, historiographischen Wirklichkeitsbericht als „Nullstufe des Fiktionalen“:54 Die Faktizität einer historischen Wirklichkeit erweist sich als Fiktion, da sie sich nicht auf ein Existentes berufen kann […] sondern nur als vorgestellte Faktizität überhaupt denkbar ist. Eine solche Imagination eines Faktischen wäre aber jedenfalls als Fiktion zu bezeichnen.55

Die „Imagination des Faktischen“ entpuppt sich selbst als Fiktion. In ähnlicher Weise hielt Hans Robert Jauss mit Blick auf die Theoriedebatte der Geschichtswissenschaft fest: Fiktionalisierung ist in geschichtlicher Erfahrung immer schon am Werk, weil das Was eines Geschehens immer schon durch das perspektivische Wann seiner Wahrnehmung oder Rekonstruktion, aber auch durch das Wie seiner Darstellung und Deutung bedingt ist, in seiner Bedeutung also ständig weiter bestimmt wird.56

Der moderne Romancier sei ebenso auf „Mittel der Fiktion angewiesen, sobald das Erzählen beginnt“, wie der moderne Historiker. Diese der historiographischen Praxis und der Dichtung immanente Ästhetik widerspricht jedoch nicht einer Lesart, die aus dem Roman die res factae und aus der wissenschaftlichen Historie die res fictae destilliert: [Walter Scotts] Quentin Durward lässt sich auch historisch als ein Stück mittelalterlicher Geschichte lesen (nach Abzug des Fiktionalen bleibt ein Bild der Vergangenheit mit einer Fülle authentischer Details), Rankes Franzçsische Geschichte hingegen sehr wohl auch als ein ,historisches Kunstwerk‘ ansehen und dann wie ein Scottscher Roman ästhetisch genießen.57

Faktizität und Fiktionalität erweisen sich somit sowohl gattungs-, als auch als rezeptionsbedingt und Faktizität ist daher nicht als ontologischer, sondern vielmehr als relationaler, funktionaler und prozessualer Begriff zu verstehen. Wenn an „die Stelle der Realitätswiedergabe […] die Imagination einer möglichen, ,wahrscheinlichen‘ historischen Wirklichkeit“58 tritt, so hat dies Auswirkungen auf die Gattungstypologie: Zwischen historiographischer Biographie und Romanbiographie – so Zimmer54 Sudau: Werkbearbeitung, Dichterfiguren, S. 108. 55 Christian von Zimmermann: Biographische Anthropologie. Menschenbilder in lebensgeschichtlicher Darstellung (1830 – 1940). Berlin, New York 2006, S. 41. 56 Hans Robert Jauss: „Der Gebrauch der Fiktion in Formen der Anschauung und Darstellung der Geschichte“. In: Formen der Geschichtsschreibung. Hg. v. Reinhart Kosseleck, Heinrich Lutz u. Jörn Rüsen. München 1982, S. 415 – 451, hier S. 416. 57 Jauss: „Der Gebrauch der Fiktion“, S. 419. 58 Zimmermann: Biographische Anthropologie, S. 43.

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manns These – verwischen die Unterschiede. Wenn Härtlings SchumannBiographie klar als literarische Bearbeitung der Lebensgeschichte, als Roman, ausgewiesen wird, so rekurriert sie selbstverständlich auf „gesichertes“ Datenmaterial, das literarisch umgeformt und frei ergänzt wird.

Der metabiographische Bruch Der illusionsfördernden, kohärenten Erzählfassade widersetzen sich in Schumanns Schatten die metadiegetischen, also ,metabiographischen‘ Einschübe des Autors/Erzählers. Im Genre der fiktionalen Dichterbiographien markierten nach Ansicht Ansgar Nünnings die 1970er-Jahre den Wandel von der fiktionalen Biographie zur ,biographischen Metafiktion‘ bzw. zur ,fiktionalen Metabiographie‘.59 Damit bezeichnete der Literaturwissenschaftler biographische Texte, die den Erzählerstandpunkt und das Autoren-Ich einbeziehen und ihre Entstehung (Auswahl, Bearbeitung und Montage des Materials) reflektieren. Sie setzen auf ein geändertes Rezeptionsverständnis, das mit einem veränderten Subjektbegriff korrespondiert. Seinen jungen Protagonisten führt Peter Härtling im SchumannRoman in enger Anlehnung an autobiographische Erfahrungen ein: Ich schreibe von einem Kind, das zu Beginn des letzten Jahrhunderts aufwuchs, lese nach, was über den kleinen Robert erzählt wird, sehe Bilder an, gehe durch die Stadt, die seine Kinderstadt gewesen ist und die ihr wohl kaum mehr gleicht, simuliere Eindrücke und verleihe überlieferten Sätzen einen Tonfall, der meiner ist. Vielleicht gelingt es nur, Kinder zu beschreiben über den Umweg der eigenen Kindheit. Ich messe das Kind mit Kinderaugen und habe zugleich das Verlangen des alten Mannes, es klein zu halten, aufzuhalten im Schutz der väterlichen Buchhandlung, in diesem musizierenden Haus. (S. 18)

Vor dem Auge des Lesers verschmelzen die Lebenserfahrungen Schumanns und Härtlings. Die für den Autor Härtling so typischen illusionsstörenden Parenthesen sind unmittelbar an den Schreibprozess und somit an seine subjektive Wahrnehmung gebunden: Ich ziehe mich immer wieder zurück von der erzählten Person und kommentiere den Prozess, als Gegenwärtigen. Das ist wohl auch die Spannung, aus der heraus ich biografisch schreibe, eine Annäherung, aber auch der ganz 59 Nünning: „Von der fiktionalen Biographie zur biographischen Metafiktion“, S. 18 f.

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plötzlichen Distanzierung: Wenn ich merke, dass ich zu tief drinstecke, schon die Allüren eines Menschen des 18. Jahrhunderts bekomme, dann ziehe ich mich zurück und sage, dass die damals in einer anderen Geräuschwelt gelebt und Kleidung oder Wärme anders empfunden haben als ich heute. Ganz schnelle Rückzüge wieder.60

Härtling betont, dass die Einschübe die Konstellationen zwischen Erzähltem und Erzähler, die Binnenspannung, ordnen,61 daneben aber auch die auktoriale Position des Biographen unterstreichen und auf die Fragilität des bisweilen apodiktischen Erzählkonstrukts verweisen: Er spielt sich Rollen vor, aus denen er ständig fällt, aber nicht aus Not oder zufällig – er will es. Er sieht zu, und wie von selbst vervielfältigen sich seine Emotionen. Mein Zauberlehrling. Das Requiem, an das ich ihn als trauernden Bruder denken lasse, komponiert er fast dreißig Jahre später, kurz bevor er nach Endenich gebracht wird. (S. 33 f.)

heißt es etwa mit Blick auf den Tod von Roberts Schwester Emilie. Mit dem Regiekommentar „Jetzt muss sie auftreten“ (S. 39) führt Härtling Schumanns erste Geliebte, Nanni Petsch, ein und gibt damit die performative Kraft seines Schreibens zu erkennen. Immer wieder berichtet er in Erzählerkommentaren auch von Recherchen, die ihn aus der Gelehrtenstube etwa in den Leipziger „Kaffeebaum“ führten: Fotografiert, in Kupfer gestochen, kann man [die Davidsbündler] heute in ihrem Eck im ,Kaffeebaum‘ betrachten. Ich hab’s getan, in der Hoffnung, stimuliert zu werden von diesem Bildchen, etwas von dem Aufbruchsgeist mitzubekommen oder wenigstens Echos zu hören. Seine Echos. Jedes Mal war das Lokal überfüllt und in dem Getöse eine Unterhaltung nicht möglich. Lauschte ich rundum, blieben die Wörter und Sätze ohne Sinn. Nicht ganz. Eine bestimmte Klangfarbe setzte sich durch. Sie half mir zwar nicht, die Palaver der Bündler zu beleben. Doch sie führte zu einer Einsicht, mit der ich überrascht und vergnügt die Kneipe verließ: Die Davidsbündler haben, mit wenigen Ausnahmen, sächsisch gesprochen. (S. 188) 62

60 Daniel Lenz u. Eric Pütz: Lebensbeschreibungen. Zwanzig Gespr che mit Schriftstellern. München 2000, S. 42. Härtling bezieht sich konkret auf seine Hçlderlin-Biographie. 61 Lenz u. Pütz: Lebensbeschreibungen, S. 43. 62 Eine ähnlich triviale Erkenntnis – der dialektale Sprachgebrauch Hölderlins – brachte Härtling bereits 1976 massive Kritik ein. Siehe dazu: Peter Hamm: „,Des hat uns grad noch g’fehlt‘“. In: Peter H rtling. Auskunft f r Leser. Hg. v. Martin Lüdke. Darmstadt 1988, S. 159 – 164.

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Diese Erläuterung unterscheidet sich von der eigentlichen story durch die Autoreferenz des Schreibenden. Fragt man kritisch nach dem erzählenden Ich, das in literarisch geprägten Biographien in Erscheinung tritt, so wird die auf fiktionale Literatur anwendbare Erzähltheorie, die von der gesicherten Instanz des Erzählers ausgeht, brüchig: Dem in der Erzähltheorie angenommene Konstrukt des Erzählers widersetzt sich das Ich des hybriden literarisch-biographischen Erzählgenres, das nicht den Erzähler, sondern den Autor und dessen metafiktionale Lebenswirklichkeit selbst meint. Nathalie Jacoby betrachtet Erzähler- und Autoren-Ich als identisch und ortet mit Blick auf die Erzähler-Autor-Problematik Spannungen […] zwischen Paratext und eigentlichem Text […] und innerhalb des eigentlichen Textes zwischen Erzählerkommentar und den von ihm gestalteten Passagen, in der fiktiven, kommentierenden Distanz des Autors/ Erzählers zu seinem Werk, der angeblichen Dissoziierung von Autor/Erzähler und Text. Solche Spannungen sind produktiv für den Text und tragen Teile des metafiktionalen und insbesondere metabiographischen Kommentars. In der Paradoxie des Werkstattberichts vermitteln sie den eigentlichen Gehalt des Textes.63

In metafiktionalen und metabiographischen Einschüben artikuliert der Biograph mitunter offen Unsicherheiten und Mutmaßungen („Vermutlich“, „vielleicht“, „es kann sein“): Nur habe ich nicht feststellen können, welche Lieder [Agnes Carus] von Schubert sang und welche sie, nach Schuberts Meinung, nicht gleich begriff. (S. 86) Hat Schumann das Lied von den beiden Grenadieren schon gekannt? In seinem Tagebuch steht davon nichts. (S. 61) Vermutlich hat ihn [Leberecht Gläser] gebeten, ins Haus zu kommen und die ersten Skizzen außerhalb des Ateliers zu machen. (S. 26) Vielleicht war ihm die Fremde von vornherein vertraut. (S. 50) Es kann sein, um den Beginn eines Liedes festzuhalten […]. (S. 62)

An anderer Stelle kommentiert Härtling von ihm benützte Quellen psychologisch: In seinem Tagebuch schlägt sich, was er erfährt, in atemlosen Wörtern und Satzpartikeln zwischen Gedankenstrichen nieder. (S. 50)

Das offene Eingeständnis des unvermeidlich mangelhaften Wissens, aber auch der direkte Bezug auf Quellen wie etwa das Tagebuch unterscheidet diese offene Form der biographie romanc e signifikant von der geschlossenen Form des historischen Romans. 63 Jacoby: Mçgliche Leben, S. 144.

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Schumanns Schatten In den Kapiteln zu dem Lebensabschnitt, in dem die Krankheit bereits von Schumann Besitz ergriffen hat – in den Endenich-Kapiteln also – verstummt der metabiographische Kommentar des Biographen aus dem off. Die aseptische, kühle und abweisende Aura des Endenicher Krankenzimmers, die am stärksten fiktionalisierten Sequenzen der Biographie, durchkreuzt der Autor nicht mit autoreferentiellen Einschüben. Er schildert die Internierung und die Vorgänge um den kranken Komponisten aus der Perspektive des Wärters Tobias Klingelfeld, der einzigen historisch nicht verbürgten Figur der Biographie: So ausgiebig und so ruhig hat er seit langem nicht geschlafen. Wacht er auf, ist er schon wieder müde. Er nimmt kaum wahr, wenn Klingelfeld ihn mit dem Klistier traktiert. Was Klingelfeld stört, weshalb er sich auch an Doktor Peters wendet, ist die künstlich offen und eitrig gehaltene Fontanelle. Sie plage den Kranken mehr und mehr. Peters weist ihn zurecht. Er kenne nicht die Erfolge, die mit dieser Methode vielfach erzielt worden sind. Aber Klingelfeld gibt, um Schumanns willen, nicht auf. Dieser Eiter, dieser Schmerz werden doch mit Absicht erzeugt. Doktor Peters stimmt ihm geradezu enthusiastisch zu: Eben darum geht es, Klingelfeld. Die giftigen, die eitrigen Flüssigkeiten zu entfernen, aus ihm herauszuholen. (S. 299)

In Schumanns Schatten gehört erneut – wie schon mit Blick auf das Tübinger Ehepaar Ernst und Charlotte Zimmer, das zwischen 1707 und 1743 den nervenkranken Dichter Friedrich Hölderlin in Tübingen beherbergte und umsorgte – die Sympathie Härtlings einem Pfleger: Man kann nicht allen Figuren zugeneigt sein, die man beschreibt. Diese beiden, Ernst und Lotte Zimmer, habe ich schreibend, zärtlich geliebt.64

Parallel zum geistigen und körperlichen Abstieg Robert Schumanns verlieren sich auch die Spuren im sonst überaus reichen autobiographischen Quellenfundus des Komponisten.65 Statt höchst subjektiver verstreuter autobiographischer Dokumente aus erster Hand (Korrespondenzen, Einträge in Tage- und Haushaltsbücher), bildet nun ein nüchternes ärztliches Protokoll, das minutiös den Krankheitsverlauf dokumentiert, das einzige historiographische Fundament für Biographen. 64 Peter Härtling: „Hölderlin“, S. 594. 65 Schumann hinterließ neben einer beträchtlichen Zahl von Korrespondenzen auch Tagebücher (hinzu kommt etwa auch das ab 1840 mit Clara Schumann gemeinsam geführte Ehetagebuch), Reisenotizen und Haushaltsbücher mit akribischen kaufmännischen Aufstellungen.

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Der unwiederbringlichen Auflösung der ohnehin inkohärenten, gespaltenen, ja schizophrenen Natur des Künstlers in der Endenicher Anstalt setzte Härtling die klare Perspektive des Pflegers Tobias Klingelfeld entgegen, deren Kohärenz durch seine Fiktionalität bedingt und so für den Autor/Erzähler steuerbar ist. Diese Figur verweist nicht nur in den Bereich des Erfundenen, sondern auch direkt auf den Schreibenden, auf Peter Härtling selbst: „Er ist wie ich, er ist ich“66, erklärte der Schriftsteller, der damit Tobias Klingelfeld ein Höchstmaß literarbiographischer Spannungen zwischen Faktischem (Peter Härtlings eigener Existenz und Sichtweise) und Fiktionalem (der Existenz und Sicht einer künstlichen Figur) zuschreibt. Mit Blick auf Schumanns Krankenwärter Tobias Klingelfeld erinnert Ute Röller an eine ähnliche Technik in Härtlings Schubert: Dennoch bleibt festzuhalten, dass im Schumann-Buch die individuelle Einführung des Erzählers in eine Figur – hier in die des Pflegers – und durch diese in Schumann eine noch stärkere Rolle spielt als in Schubert. Grundlage für diese Schreibstrategie muss die Auffassung Härtlings sein, dass er selbst und der historische Künstler über vergleichbare Erfahrungen oder über eine grundlegend ähnliche Persönlichkeitsstruktur verfügen, die es einem modernen Autor erlaubt, davon auszugehen, er könne sich in die Gefühle und Gedanken eines historischen Menschen hineinversetzen und dadurch den Lebenslauf eines Menschen ,wahrer‘ beschreiben als ein Historiker.67

Die imaginierte Wärterfigur ist ein Kippbild, das nicht nur Fiktionales mit Realem, sondern auch außer- und innerliterarische Realitäten vereint, letztlich auch die Lebensbereiche des Autors und des Biographierten, Autobiographisches und Biographisches also. Sie übersteigt damit jene hybride Schreibpraxis, die Ansgar Nünning mit dem Schlagwort „fiktionale Metabiographie“68 versah und entwirft eine Dialektik, die den Bereich des Metabiographischen ins Biographische zurückholt, zugleich aber das Biographische ins Metabiographische hebt. Die Ineinssetzung des Autors mit seiner Figur setzt endgültig jene erzähltheoretischen Modelle außer Kraft, die strikt zwischen Autor, Erzähler und Figur unterscheiden. Das schwierige Verhältnis des Pflegers – er ist selbst in die biographische Handlung involviert – zu seinem Patienten 66 Peter Härtling in der Radiosendung Ö1 Extra „Schuberts Sonnen und Schumanns Schatten. Die zwei großen Musikerromane des Peter Härtling“. Radio Österreich 1 (ORF) vom 26.12.2007. 67 Röller: ,Mein Leben ist ein Roman…‘, S. 230. 68 Nünning: „Von der fiktionalen Biographie zur biographischen Metafiktion“, S. 22.

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korreliert mit dem nahen Verhältnis des Biographen zu seinem biographischen Objekt. Im Mittelpunkt der Endenich-Kapitel stehen nicht Krankheit, Krankheitsverlauf oder die erlöschende Lebensgeschichte, sondern die intensive Beziehung zweier Figuren, die im Leitmotiv des „Schattens“ Ausdruck findet. Die schattenhafte Existenz des Pflegers, der nicht nur Beobachter, sondern auch Beschreibender ist, die Widerspenstigkeit des kranken Komponisten, der rüde Umgang mit seiner Umgebung, sein aggressives und abweisendes Verhalten, verschmelzen zum Sinnbild eines Konflikts, den der Biograph mit seinem biographischen Objekt austrägt und der das persönliche Verhältnis des Biographen – in der Figur eines aufopferungswilligen Alter Ego – zu seinem schwierigen biographischen Objekt – einem jähzornigen, abweisenden und misstrauischen Patienten – artikuliert. Dem anfangs offen selbstreflexiven Schreiben in metabiographischen Einschüben stellte Härtling damit in den EndenichKapiteln eine verdeckt reflexive Schreibweise bei. In der symbolischen Ordnung einer Krankenanstalt, dem Verhältnis zwischen Patienten und Pfleger, fand Peter Härtling ein Äquivalent, das der Relation Biographierter – Biograph gerecht wird. Zugleich führt er schließlich die Gattung Biographie auf die Urform historiographischer Tätigkeit zurück: auf das protokollarische Festhalten von Ereignissen in einer Chronik: im Krankenbericht.

Zusammenfassung Mit der Analyse qualitativer Veränderungen historischer Substanz, der Manipulation von ,Fakten‘, mit der Untersuchung syntaktischer Verknüpfungen (,Aussagemodi‘), mit dem Hinweis auf metabiographische Brüche und Härtlings verdeckt reflexive Schreibweise sind die wichtigsten literarbiographischen Techniken und Verfahren in Peter Härtlings hybrider Biographik abgeschritten.69 Das unentwegte Changieren zwischen den Bereichen des Faktischen (und dem damit verbundenen Bekenntnis zu den unzulänglichen Quellen) und des Fiktionalen unterlaufen den Erzählpakt der fiktionalen Literatur und kompromittieren zugleich den Anspruch auf historiographisch-wissenschaftlich verbürgte Wirklichkeit. In einem Text, in dem Fiktionales 69 Ansgar Nünning brachte für die Amalgamierung faktischer und fiktiver Elemente in biographischen Texten den Terminus „hybride Biographie“ ein. Vgl. Nünning: „Von der fiktionalen Biographie zur biographischen Metafiktion“, S. 19.

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mit Faktischem konkurriert, ist der Leser gehalten, dem Erzählten zu misstrauen, um sich im Gegenzug vollends einer vom Biographen gesetzten Wirklichkeit, einem unbestimmbaren Hybrid aus Imaginierten und historisch Verbürgtem, hinzugeben. Stärker als jede andere Form der Biographie sind literarische Biographien Ausdruck jenes radikalen Subjektivismus, zu dem sich Härtling ausdrücklich am Beginn seiner Hölderlin-Biographie bekannte (siehe Eingangs-Zitat).

Epilog: Schumann – Homo patiens Historiographisch ungelösten Fragen kommt Härtlings biographische Schreibweise entgegen, da sie sich zwar zu ihrer Einseitigkeit bekennt, der Frage nach dem Wahrheitsgehalt unter Hinweis auf ihre Hybridität aber stets ausweichen kann. So wird etwa die Gretchenfrage der SchumannBiographik, die nach wie vor ungeklärte Erkrankungsursache, von Peter Härtling eindeutig beantwortet. Der Autor zieht sich hier nicht etwa unter Hinweis auf seine Unwissenheit zurück – dazu ist der Roman auch zu sehr auf die Krankheit zugespitzt – sondern er unterstützt eine plausible Erklärung, die eine kohärente Darstellung der Leidens- und Hospitalisierungsgeschichte verlangt. Peter Härtling teilt mit zahlreichen Forschern die Syphilis-Hypothese. Er verabsäumt es nicht, die Umstände der Infektion (interpolierend und ausschmückend) auszumalen und dabei „Christel“– eine flüchtige Frauenbekanntschaft aus Leipziger Tagen (Schumann nannte sie selbst auch „Charitas“) – die den Maestro verführt und ins Verderben gestürzt haben soll, die volle Schuld zuweisen: [Sie ist] eine, die sich die Freiheit nimmt, zu besitzen und zu verlieren, die auf Dauer gar nicht lieben kann, aber dauerhafte Verletzungen hinterlässt. (S. 119) Er schläft mit ihr ein und wacht ohne sie auf. Sie hat sich, wohl kundig in solchen Abschieden, irgendwann davongestohlen. Von nun an wird sie ihn besuchen kommen. Nicht, wenn er es wünscht, sondern wenn es ihr passt. Es verlangt ihn mehr und mehr nach ihr. Sie hat ihn süchtig nach der Liebe gemacht, aber auch krank von ihr. (S. 127)

Es sei nicht Robert Schumann selbst, der für die vermutete Infektion verantwortlich gewesen ist, sondern Härtling bezieht einseitig Stellung gegen eine Frau. Von der ungeklärten Krankheitsursache des Komponisten, sowie von den (bis zum Erscheinen des Krankenberichts) weitgehend unbekannten Lebensjahren 1854 – 1856 strahlte eine ungebrochene Faszination auf die Schumann-Biographik aus, die mitunter weniger am Komponisten

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Schumann, sondern fast ausschließlich an der Darstellung eines Leidenden interessiert war: Ohne musikwissenschaftliche Ambitionen – Schumann von seiner menschlichen Seite [zu] zeigen, als homo patiens, der sich trotz aller Beschwerden immer wieder aufraffte, um seiner Berufung zu folgen, […].70

So lautete etwa die Absicht des Psychiaters Theo R. Payk in seiner Biographie Robert Schumann. Lebenslust und Leidenszeit. Ebenso wie Payks Biographie schreibt sich auch Peter Härtlings Schumanns Schatten in den medizinisch-biographischen Diskurs um Robert Schumann ein, den Wilhelm Joseph von Wasielewski, Konzertmeister noch unter Schumann, 1858 eröffnete.71 In seiner unmittelbar nach dem Tod des Komponisten begonnenen Lebensskizze nannte Wasielewski folgenden Grund für seinen raschen Entschluss zu einer Biographie: Bereits haben sich mancherlei ungenaue und unrichtige Nachrichten über den Lebensgang des Verewigten durch Wort und Schrift verbreitet. Darum schien eine möglichst unparteiische Darstellung, gestützt auf sorgfältig geprüfte mündliche und urkundliche Berichte notwendig, und zwar schon jetzt, damit die Berichtigung unwissentlich von mir begangener Irrtümer durch Zeitgenossen ermöglicht werde.72

70 Theo R. Payk: Robert Schumann. Lebenslust und Leidenszeit. Bonn 2006, S. 10. Tatsächlich aber beschränkte sich der Autor hinsichtlich der Krankheit auf eine konzentrierte Darstellung im letzten Kapitel, das nicht nur einen Exkurs zur Kulturgeschichte der Syphilis, sondern auch eine Aufzählung anderer SyphilisPatienten enthält. Keineswegs jedoch wird hier das Versprechen eingelöst, Schumanns Krankengeschichte in den Mittelpunkt zu stellen. 71 Wilhelm Joseph von Wasielewski wurde 1850 von Robert Schumann als Konzertmeister in Düsseldorf bestellt und stand mit Robert Schumann und nach seinem Tod mit seiner Frau Clara Schumann in enger freundschaftlicher Verbindung. Siehe dazu: Renate Federhofer-Königs: Wilhelm Joseph von Wasielewski im Spiegel seiner Korrespondenz. Tutzing 1975, S. 16 f. und von derselben Autorin: „Wilhelm Joseph von Wasielewski, Schumanns Düsseldorfer Konzertmeister und Biograph“. In: Robert Schumann – ein romantisches Erbe in neuer Forschung. Acht Studien. Hg. v. Robert-Schumann-Gesellschaft Düsseldorf. Mainz u. a. 1984, S. 67 – 85. In einem aufschlussreichen Artikel haben Kazuko Ozawa und Matthias Wendt auf die fatalen Wirkungen eines biographischen Gerüchts Wasielewskis mit Folgen bis zu Härtlings Biographie hingewiesen. Kazuko Ozawa u. Matthias Wendt: „Wer Tische rückt, dürfte auch ganz schön verrückte Musik machen. Schumann-Biographik als Rezeptionsengpass. Eine Dokumentation“. In: Musik und Biographie. Festschrift f r Rainer Cadenbach. Hg. v. Cordula Heymann-Wentzel u. Johannes Laas. Würzburg 2004, S. 106 – 136. 72 Wasielewski: Robert Schumann. Eine Biographie, S. V-VI.

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Die „ungenauen und unrichtigen Nachrichten“ beziehen sich auf Spekulationen um die Krankheit des Düsseldorfer Musikdirektors, die der missglückte Selbstertränkungs-Versuch im Rhein und die Internierung in Endenich ausgelöst hatten.73 „Auf [Wasielewskis] besonderes Ersuchen als Beitrag für die Biographie“ fügte Schumanns Endenicher Arzt Dr. Franz Richarz der Lebensgeschichte einen ärztlichen Bericht an. Berücksichtigt man Richarz Obduktionsbefund aus dem Jahr 1856 – er diagnostizierte als Ablebensgrund eine paralysie g n ral incompl te, also eine Reihe charakteristischer psychiatrischer und neurologischer Symptome, die auf eine LuesInfektion hindeuteten (Syphilis) 74 – so wird klar, dass auch der, die Biographie begleitende, Bericht auf eine in Erwägung gezogene SyphilisInfektion anspielte: Diese vier Punkte stehen in der allernächsten Verbindung mit den seit vielen Jahren vorhanden gewesenen psychischen Zuständen; sie bezeichnen in ihrem Verein ein sehr schweres Leiden der ganzen Persönlichkeit, welches seine zartesten Wurzeln in der Regel schon im frühen Lebensalter des Menschen treibt, immer nur allmählich sich ausbildet, mit der ganzen Individualität verwächst und erst nach langer Vorbereitung in offenbares Irresein auszubrechen pflegt. Dieser Krankheitsverlauf lässt sich auch in Schumanns Leben deutlich genug nachweisen und wird insbesondere die schon seit langem bemerkbar gewesene Schwerfälligkeit seiner Sprache gewöhnlich als die erste der von diesem Hirnzustande ausgehenden Lähmungen beobachtet.75

Ein halbes Jahrhundert später kam es zwischen dem Psychiater Hans Walter Gruhle, einem Verfechter der Syphilis-Hypothese, und dem Leipziger Neurologen Paul Julius Möbius – er war Autor mehrerer pathographischer Biographien zu Goethe, Schopenhauer, Rousseau und Nietzsche – zu einer 73 Wasielewski: Robert Schumann. Eine Biographie, S. 301. Dass auch Franz Richarz’ Bericht dem Umlauf haarsträubender Gerüchte in keiner Weise Einhalt gebieten konnte, beweist der von Gerd Nauhaus publizierte Brief des Theologiestudenten Hermann Budy an Richarz vom 5. November 1861. In diesem Schreiben äußert der Absender die Vermutung, Schumann habe sich „durch Unmäßigkeit um seine Gesundheit gebracht, und sein Ende sei durch seine Trunkliebe und [die] den daraus entspringenden schauderhaften [Hirner]Zitterwahnsinn herbeigeführt.“ Appel: Robert Schumann in Endenich (18541856), S. 433. 74 Appel: Robert Schumann in Endenich (1854 – 1856), S. 402. 75 Wasielewski: Robert Schumann. Eine Biographie, S. 302. Im Übrigen nahm Richarz in einem Zeitungsartikel 1873 nochmals ausführlich Stellung. (Wieder abgedruckt in Appel: Robert Schumann in Endenich (1854 – 1856), S. 436 – 440). Wie Uwe Henrik Peters bemerkt hat, hielt Richarz zwar an der Diagnose einer unvollständigen Paralyse fest, erklärt diese aber in Folge Cesare Lombrosos epochaler Studie Genio e Follia (Mailand 1864) nun als Folge genialen Schaffens.

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fachlichen Auseinandersetzung um den Fall Schumann.76 Moebius stellte Gruhle, einem Vertreter der Syphilis-Hypothese, die Diagnose einer ausschließlich psychisch motivierten Krankheit entgegen und konstatierte für Schumann ein schizophrenes Leiden. Diese antagonistischen Deutungen der Todesursache prägen seither den pathobiographischen Diskurs um Robert Schumann bis in die Gegenwart. Neben Musikwissenschaftlern, deren Interesse sich fallweise mit der Hoffnung auf ein besseres Werkverständnis verband,77 zeigten auch zahlreiche Mediziner und Psychiater Interesse an Schumanns Erkrankung.78 Auf die biographische Lücke reagierte die Schumannbiographik sowohl mit tabuisierender Verhaltenheit als auch mit obsessiver Schaulust. Das breite Spektrum diagnostischer Erwägungen in der Schumann-Literatur reicht von der Annahme einer ,konstitutionellen Psychasthenie‘ und ,Psychoneurose‘ (Pascal, 1908) sowie einer Psychopathie mit Mischung von schizoidem, Zykloidem und von Stimmungsanomalien (Lange-Eichbaum, 1927) über ,Schizophrenie‘ (Boetticher, 1941; Möbius, 1906; Linder, 1959; Payk, 1977, Schnebel, 1981; Schweisheimer, 1959), ,Zyklothymie‘ (Franken, 1984; Gruhle 1906; Nussbaum, 1923), ,Hirnarteriosklerose bei Hochdruck‘ (Edler, 1982; Kerner, 1967, Kleinebreil, 1953, Sutermeister, 1959) bis zur ,Luischen Paralyse‘ (Feis, 1920; Franken, 1984; Gruhle, 1906; Nussbaum, 1923; Slater, 1972; Slater und Meyer, 1959; Vorberg, 1934; Walker, 1972) und zur Diagnose ,Borderline-Persönlichkeit‘ (Oswald, 1985). Weisweiler (1985) schließlich nimmt an, dass Robert Schumann sich letztlich aufgrund einer unlösbaren Konfliktsituation ehelicher und beruflicher Art in regressiver Weise in die psychiatrische Klinik zurückgezogen habe und dort wegen Nahrungsverweigerung (im Grunde in suizidaler Absicht) buchstäblich verhungert sei,79

76 Paul Julius Moebius: ber Robert Schumanns Krankheit. Halle/S. 1906; ders.: J. J. Rousseaus Krankengeschichte. Leipzig 1889; ders.: ber das Pathologische bei Goethe. Leipzig 1898; ders.: ber Schopenhauer. Leipzig 1899; ders.: ber das Pathologische bei Nietzsche. Wiesbaden 1902; ders.: ber Scheffels Krankheit. Halle 1907; ders.: Das pathologische in Goethes Lebenslauf. Leipzig 1917. 77 Die Beliebigkeit, mit der aus Schumanns Krankheit sowohl positive Konnotationen, als auch Defizite abgeleitet wurden, unterstreicht Frank Hentschel. Vgl. Frank Hentschel: „Robert Schumann in Musikgeschichtsschreibung und Biographik“. In: Schumann Handbuch. Hg. v. Tadday, S. 551 – 562, bes. 557 f. 78 Siehe zum medizinischen Diskurs, zur Pathographie und zu Schumanns letzten Lebensjahren die ausführliche Bibliographie in Appel: Robert Schumann in Endenich (1854 – 1856), S. 569 – 573. Sie enthält mehr als 80 (!) Titel. 79 Udo Rauchfleisch: Robert Schumann. Leben und Werk. Eine Psychobiographie. Stuttgart 1990, S. 194.

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resümiert der Schweizer Psychologe und Psychotherapeut Udo Rauchfleisch, der selbst eine Monographie unter dem Titel Robert Schumann. Leben und Werk. Eine Psychobiographie (1990) vorgelegt hat.80 Von den Vorgängern des psychoanalytisch orientierten biographischen Modells – namentlich von Freud, Eissler, Nagera, Chasseguet-Smirgel, Cremerius, Benedetti und Dettmering – grenzt sich Rauchfleisch ab: Während am Beginn der Psychoanalyse vor allem die Triebkonflikte der Künstler und ihre Gestaltung im Werk im Mittelpunkt der Betrachtung standen, hat sich mit der psychoanalytischen Ich-Psychologie das Interesse auf die Untersuchung der Verarbeitungsmechanismen und auf die Rolle des Ich im kreativen Schaffensprozess verschoben. In der psychoanalytischen Literatur der Vergangenheit haben sich die Autoren schließlich mit der Frage beschäftigt, welche Bedeutung dem Narzissmus bei kreativen Menschen zukommt.81

Wie verfälschend, ja tabuisierend andere Autoren mit der Krankheit umgingen, zeigt die umfassende Biographie von Paula und Walter Rehberg, die seit Jahrzehnten den Rang eines biographischen Referenzwerkes behaupten konnte: Robert Schumann hat sein Leben in geistiger Umnachtung beschlossen. Lange schon war er fern den Dingen dieser Welt, und was seine Leier zuletzt gesungen, war nur noch ein schwacher Nachhall der himmlischen Musik, die in ihm selber tönte, nur seinem inneren Ohr vernehmbar. – Es bleibt ein Geheimnis, trotz ärztlichen Berichtes und der Abhandlungen, die darüber verfasst wurden. Wozu auch die Ursache seines Leidens ergründen wollen? Änderte sich etwas, wenn man darum Genaueres wüsste? – Es genüge zu erfahren, wie dieser Mensch gelitten, und wie er sich bewährt hat. Unsere Liebe zu ihm kann daran nur erstarken.82

Mit dieser rechtfertigenden und zugleich pathetischen Stellungnahme beschließen die Autoren eine der umfangreichsten biographischen Arbeiten zum romantischen Komponisten. Wenn sie, unter Hinweis auf den geheimnisvollen Charakter ärztlicher Berichte und Abhandlungen, Krankheitsursache und Krankengeschichte ausblenden, so liegt der Verdacht nahe, dass hier die Vermutung einer möglichen syphilitischen Infektion abgewehrt werden soll. Die Tabuisierung nimmt jene These auf,

80 Vom selben Autor erschien eine weitere Untersuchung zu Schumann: Robert Schumann. Eine psychoanalytische Ann herung. Göttingen 2004. 81 Rauchfleisch: Psychobiographie, S. 10 f. 82 Paula Rehberg u. Walter Rehberg: Robert Schumann. Sein Leben und sein Werk. Zürich, Stuttgart 1954, S. 406.

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die Schumanns Pathographie von einem ursprünglich somatischen Leiden – also letztendlich von der Hypothese der Syphilis-Infektion – entkoppelt: Wir betonen dies, weil wir uns der Auffassung des Biographen Wasielewski nicht anschließen, Schumanns damaliger Zustand sei ,die natürliche Folge allmählich entwickelter organischer Leiden‘ gewesen.83

Unter Hinweis auf ganz unterschiedliche Symptome – Schlaflosigkeit, „dunkle Gedanken“,84 Nervenfieber,85 „Zittern, Mattigkeit und Kälte in den Füßen“, Todesfurcht,86 fortschreitendes Schwinden der Kräfte,87 Apathie, Schwerfälligkeit,88 Rheumatismus,89 Schwindelanfälle, Gehörstäuschungen90 – vertreten die Autoren die Ansicht, Schumanns „zartbesaitetes Gemüt“ hätte an einer „durch und durch romantischen, zur Melancholie neigenden, gesteigert empfindsamen Natur“ gelitten, die einem „Zuviel an Anstrengungen“ und kompositorischer Verausgabung nicht widerstehen konnte.91 Die Frage nach der Diagnose von Schumanns Krankheit auf Grundlage verbürgter Symptome – sie ist Teil eines gesonderten medizinischen Diskurses mit Rückwirkung auf die Biographik – ist von der medizinischbiographischen Anamnese, der der Hospitalisierung vorgelagerten Krankengeschichte, zu trennen. Gewiss forderte das historische Narrativ biographischer Texte nach einer schlüssigen Erklärung der Krankheit, nach einer Aufklärung ihrer Ursachen und den genauen Umständen von Schumanns Hospitalisierung, doch stellte Bernhard Appel, Herausgeber des Endenicher Krankenaktes, den Sinn einer medizinischen, psychiatrischen oder psychologischen Diagnose zu Recht in Frage: Was ist schon mit einer medizinischen, psychiatrischen oder psychologischen Diagnose für den Umgang mit Schumanns Krankheit gewonnen? Die Kernfrage, ob und wie der Hiatus zwischen Krankheit und Werk zu überwinden ist, wird vorerst weiterhin unbeantwortet bleiben müssen.92

83 84 85 86 87 88 89 90 91 92

Rehberg u. Rehberg: Robert Schumann. Sein Leben und sein Werk, S. 281. Ebd., S. 231. Ebd., S. 256. Ebd., S. 280. Ebd., S. 337. Ebd., S. 346 f. Ebd., S. 352. Ebd., S. 353. Ebd., S. 283. Appel: Robert Schumann in Endenich (1854 – 1856), S. 22.

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Auch nach der Veröffentlichung des Obduktionsbefundes im Jahr 1986,93 ja selbst nach Offenlegung des Endenicher Krankenberichts 2006 müssen Ursache und Diagnose der Krankheit als ungeklärt gelten, wie die konträren medizinischen Stellungnahmen zum Krankenbericht belegen. Literaturverzeichnis Appel, Bernhard R. (Hg.): Robert Schumann in Endenich (1854 – 1856). Krankenakten, Briefzeugnisse und zeitgençssische Berichte. Mainz u. a. 2006. Bartscherer, Christoph: „Heines Schweigen. Schumanns Besuch in München und sein publizistisches Nachspiel“. In: Das letzte Wort der Kunst. Heinrich Heine und Robert Schumann zum 150. Todesjahr. Hg. v. Joseph A. Kruse. Stuttgart 2006, S. 135 – 155. Blume, Friedrich (Hg.): Die Musik in Geschichte und Gegenwart, Bd. 13. Kassel u. a. 1966. Burger, Ernst (Hg.): Robert Schumann. Eine Lebenschronik in Bildern und Dokumenten. Unter Mitarbeit von Gerd Nauhaus und mit Unterstützung des RobertSchumann-Hauses Zwickau. Mainz u. a. 1998 (= Robert Schumann: Neue Ausgabe sämtlicher Werke, Serie VIII, Supplemente, Bd. 1). Edler, Arnfried: Robert Schumann und seine Zeit. Laaber 1982. Edler, Arnfried: „Werke für Klavier zu zwei Händen bis 1840“. In: Schumann Handbuch. Hg. v. Ulrich Tadday. Stuttgart, Kassel 2006, S. 214 – 257. Federhofer-Königs, Renate: Wilhelm Joseph von Wasielewski im Spiegel seiner Korrespondenz. Tutzing 1975. Federhofer-Königs, Renate: „Wilhelm Joseph von Wasielewski, Schumanns Düsseldorfer Konzertmeister und Biograph“. In: Robert Schumann – ein romantisches Erbe in neuer Forschung. Acht Studien. Hg. v. d. Robert-SchumannGesellschaft Düsseldorf. Mainz u. a. 1984, S. 67 – 85. Fritsch, Hildegard: Peter H rtlings ,Hçlderlin‘. Untersuchung zur Struktur des Romans. Bern u. a. 1983 (= Europäische Hochschulschriften, Bd. 653). Grabowska, Małgorzata: Musik und Musiker im Werk Peter H rtlings. Dresden 2006. Hamm, Peter: „,Des hat uns grad noch g’fehlt‘“. In: Peter H rtling. Auskunft f r Leser. Hg. v. Martin Lüdke. Darmstadt 1988, S. 159 – 164. Härtling, Peter: „Hölderlin. Ein Roman“. In: H rtling Gesammelte Werke, Bd. 5. Hg. v. Klaus Siblewski. Hamburg 1994. Härtling, Peter: „Schubert. Zwölf moments musicaux und ein Roman“. In: H rtling Gesammelte Werke, Bd. 6. Hg. v. Klaus Siblewski. Köln 1996. Härtling, Peter: Schumanns Schatten. Variationen ber mehrere Personen. 2. Aufl. Köln 1996. 93 Werner Jänisch u. Gerd Nauhaus: „Der Obduktionsbefund der Leiche des Komponisten Robert Schumann – Veröffentlichung und Wertung eines wiederentdeckten Dokuments“. In: Zentralblatt f r allgemeine Pathologie und pathologische Anatomie 132 (1986), S. 129 – 136, hier S. 132 f. (wiederabgedruckt in: Appel: Robert Schumann in Endenich (1854 – 1856), S. 401 – 406).

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Die Grenzen des biographischen Körpers – Peter Handkes Wunschloses Ungl ck Philipp Weiss „Peter Handkes Wunschloses Ungl ck 1 ist …“ – wenn man so zu kommentieren anfangen würde, wäre alles wie erfunden, es wäre nichts als eine Aneinanderreihung unhaltbarer Sätze, man würde sich der „grausigen offenen Wunde“2 dieses Textes dadurch nicht nähern, man müsste den Text vielmehr abschreiben, das heißt, schließen und dadurch verfehlen. Das Abschreiben in einem anderen Sinn wiederum ist es, dem sich der Großteil der Sekundärliteratur zu Handkes Text verschrieben hat. Es wirkt beinahe so, als bliebe der Literaturwissenschaft nichts anderes zu tun bei einem Text, der womöglich seinen eigenen literaturtheoretischen Kommentar bereits in sich selbst trägt, als die mehr oder weniger geglückte Wiederholung, Zusammenfassung und Kontextualisierung des bereits Geschriebenen. Mehr geglückt, wenn vorsichtig und nicht abschließend argumentiert wird, weniger geglückt, wenn nur der Text selbst wiederholt wird, ohne jedoch die fragile Balance und Offenheit desselben zu bewahren. Nun ist aber die Figur der Wiederholung nicht nur wesentlich für Wunschloses Ungl ck, sondern vielleicht auch genau das konstitutive Moment des Kommentars. Folgt man Foucault, so hat dieser nur die Aufgabe, das schließlich zu sagen, was dort schon verschwiegen artikuliert war. Er muß (einem Paradox gehorchend, das er immer verschiebt, aber dem er niemals entrinnt) zum ersten Mal das sagen, was doch schon gesagt worden ist, und muß unablässig das wiederholen, was eigentlich niemals gesagt worden ist. Das unendliche Gewimmel der Kommentare ist vom Traum einer maskierten Wiederholung durchdrungen. […] Er erlaubt zwar, etwas anderes als den Text selbst zu sagen, aber unter der Voraussetzung, daß der Text selbst gesagt und in gewisser Weise vollendet werde. […] Das Neue ist nicht in dem, was gesagt wird, sondern im Ereignis seiner Wiederkehr.3 1 2 3

Peter Handke: Wunschloses Ungl ck. Erz hlung. Frankfurt/M. 2001 (Seitenangaben im Text beziehen sich auf diese Ausgabe). Helmut Scheffel: Rezension aus der Frankfurter Allgemeine Zeitung. Zitiert nach: Handke: Wunschloses Ungl ck, Buchumschlag Rückseite. Michel Foucault: Die Ordnung des Diskurses. Aus dem Französischen von Walter Seitter. Mit einem Essay von Ralf Konersmann. Frankfurt/M. 2003, S. 21.

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Es bleibt also in Bezug auf Handkes Text nur die aporetische Aufgabe, das mit sich selbst zu (un)vollenden, was unvollendet ist. Dies soll hier anhand einer spezifischen Behauptung geschehen. Sie lautet: Peter Handkes Wunschloses Ungl ck ist ein biographischer Text.

Wunschloses Ungl ck ist die Geschichte des stummen unterworfenen Körpers Eine der Geschichten, die Wunschloses Ungl ck zu erzählen scheint, ist die des unterworfenen und stummen biographischen Körpers. Die Mutter und Hauptfigur des Textes – so kann man lesen – „ist der Inbegriff einer stummen Person“, sie ist „das schlechthin nicht zu sich selbst gekommene Subjekt.“4 Oder in einem anderen Kommentar und in etwas anderen Worten: Handkes Erzählung ist eine „Parabel der Sprachlosen, […] Entfremdeten, […] Determinierten“ die zwar „zur Befreiung drängt,“5 diese jedoch nicht erreicht. Dieser Geschichte möchte ich hier nachgehen. Der Mutterkörper wird als „domestizierte Frauenleiche in den Text eingeführt.“6 In einem kurzen Zitat aus der regionalen Sonntagszeitung wird über den Selbstmord einer „Hausfrau“ berichtet. Das Ende des Körpers und dessen Geschichte ist damit vorweggenommen: „In der Nacht zum Samstag verübte eine 51-jährige Hausfrau aus A. (Gemeinde G.) Selbstmord durch Einnehmen einer Überdosis Schlaftabletten.“ (S. 9) Durch die Identifizierung der Mutter über den Tod eröffnet der Text ein Feld der Negativität: „Als Frau in diese Umstände geboren zu werden, ist von vornherein schon tödlich gewesen.“ (S. 17) Das Tödliche weiblicher Existenz wird im weiteren Verlauf der Erzählung als Determination durch die „Kontinuität geschlechtsspezifischer regionaler wie sozialer Umstände“7 fassbar. In einem narrativ bereits präfigurierten Leben ist die mit dem 4 5

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Tilmann Moser: Romane als Krankengeschichten. ber Handke, Meckel und Martin Walser. Frankfurt/M. 1985, S. 156. Walter Weiss: „Peter Handkes ,Wunschloses Unglück‘ oder Formalismus und Realismus in der Literatur der Gegenwart“. In: ders.: Ann herungen an die Literatur(wissenschaft). II. sterreichische Literatur. Stuttgart 1995, S. 215 – 230, hier S. 220 f. Stephan K. Schindler: „Frauengeschichte als Provokation. Peter Handkes ,Wunschloses Unglück‘.“ In: Towards the Millennium: Interpreting the Austrian novel 1971 – 1996. Zur Interpretation des çsterreichischen Romans 1971. Hg. v. Gerald Chapple. Tübingen 2000, S. 47 – 68, hier S. 54. Ebd.

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Tod endende Unterwerfung des weiblichen Körpers bereits von Geburt an vor-geschrieben: Keine Möglichkeit, alles schon vorgesehen: kleine Schäkereien, ein Kichern, eine kurze Fassungslosigkeit, dann zum ersten Mal die fremde, gefaßte Mine, mit der man schon wieder abzuhausen begann, die ersten Kinder, ein bißchen noch Dabeisein nach dem Hantieren in der Küche, von Anfang an Überhörtwerden, selber immer mehr Weghören, Selbstgespräche, dann schlecht auf den Beinen, Krampfadern, nur noch ein Murmeln im Schlaf, Unterleibskrebs, und mit dem Tod ist die Vorsehung schließlich erfüllt. (S. 17 f.)

Erst nach diesem Absatz setzt die eigentliche biographische Erzählung des Mutterlebens ein. Sie generiert sich als Wiederholung des hier bereits elliptisch Vorgeschriebenen. Als Angelpunkt dieser Geschichte der Unterwerfung scheint der „maternal body“8 zu fungieren. Anhand der Darstellung des biographischen Mutterkörpers lässt sich das auf diesen einwirkende Geflecht von Sprache und Macht nachvollziehen. An diesem wird der Prozess versuchter Individualisierung und vor allem deren Negation unmittelbar ablesbar. Die durch die Sprache auf das Subjekt zugreifende Macht – so legt die Erzählung nahe – formt, verändert, unterwirft den (textuellen) Körper.9 Die Mutter des Erzählers wird in „Zustände“ geboren, die an die Zeit „vor 1848“ erinnern: „Praktisch herrschten noch die Zustände von vor 1848, gerade, daß die formale Leibeigenschaft aufgehoben war.“ (S. 13 f.) Verdeckt wird hier bereits formuliert, dass der Leib zwar nicht mehr formal, jedoch durch gesellschaftliche Praktiken weiterhin ein enteigneter bleibt. „Vor 1848“ – das bedeutet jedoch nicht nur eine Enteignung des Körpers, sondern auch mit dieser und durch diese eine Verunmöglichung von Subjektivität und „Freiheit.“ 8 9

Chloe Paver: „Die verkörperte Scham. The Body in Handke’s ,Wunschloses Ungl ck‘“. In: Modern Language Review 94 Part 2 (1999), S. 460 – 475, hier S. 461. Textuell ist das hier zu untersuchende Machtgefüge nicht bloß, weil es schließlich nur eine Erzählung ist, die Auskunft darüber gibt. Biographien, also Texte, haben auch selbst einen bedeutenden Anteil an diesem Prozess. Sie produzieren – wie Henry McKean Taylor konstatiert – Körper, die real und symbolisch sind. (Vgl. Christian Klein (Hg.): Grundlagen der Biographik. Theorie und Praxis des biographischen Schreibens. Stuttgart 2002, S. 15.) Christian Klein sieht eine wesentliche Eigenschaft der Biographie darin, „eine nicht zu unterschätzende Bedeutung bei der Aneignung des Körpers als Repräsentanten der Individualität (oder eben gerade als Repräsentanten von etwas Nicht-Eigenem)“ (ebd.) zu haben. Er schlägt vor, Biographien auf die von Foucault erforschten Wirkungen der Machtstrukturen auf den Körper hin zu untersuchen und zu fragen, inwiefern der biographische Text diese abbildet, mitproduziert oder verändern kann.

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„Das Individuum als individuelles Subjekt, das eigene Meinungen äußert, Verantwortung trägt, Dissens anmeldet und autonom handelt, hat es nicht immer gegeben.“10 Im Feudalismus, so Peter V. Zima, denkt, spricht und handelt der Einzelne „im kollektiven Kontext der religiösen Gemeinschaft, der Gilde, der Sippe. Erst die moderne Marktgesellschaft setzt ihn frei.“11 Auch für den Großvater des Erzählers wirkt die „VERDINGLICHTE FREIHEIT“ (S. 14), also „das Bewußtsein, etwas zu besitzen,“ so befreiend, „daß nach generationenlanger Willenlosigkeit sich plötzlich ein Wille bilden konnte.“ (S. 15) Die „allmähliche Herauslösung des Einzelnen aus der christlich-feudalen Gemeinschaft und seine Freisetzung“12 als Arbeitskraft oder Besitzender verkehrt sich jedoch nicht nur dahingehend, dass Simmel zufolge der Marktmechanismus dessen Einzigartigkeit und Freiheit wieder in Frage stellt, indem das Individuum durch den Marktwert als Tauschwert gerade der Einzigartigkeit wieder beraubt wird.13 In Wunschloses Ungl ck zeigt sich, dass dieser Prozess auch dadurch untergraben wird, dass er in eine „gespenstische Bedürfnislosigkeit“ mündet: „das Sparen“ (ebd.). Die verdinglichte Freiheit wird so zur innerlichen Unfreiheit.14 Die „Frau, als Frau“ gilt zudem „wie naturgemäß“ (ebd.) als bedürfnislos. Es wird hier eine Ökonomie „repressiver Analität“15 etabliert, die für Körper und Leben der Mutter grundlegend und zerstörend wird. Es bleibt nur Zurückhaltung: „Selten wunschlos und irgendwie glücklich, meistens wunschlos und ein bißchen unglücklich.“ (S. 19) Der Alltag ist geprägt durch „Häuslichkeit“ und äußerlich geordnet durch die Zyklen der Natur. Die „weiblichen Gefühle“ sind „wetterabhängig“ (S. 19). Der Körper und dessen Innenleben erscheinen tierhaft, naturnah: „Keine Angst, außer die kreatürliche im Dunkeln und im Gewitter; nur Wechsel zwischen Wärme und Kälte, Nässe und Trockenheit, Behaglichkeit und Unbehagen.“ (S. 18) Darüber legt sich jedoch eine „zweite Natur“16, die des religiösen und sozialen Umfelds: „Die Zeit 10 Peter V. Zima: Theorie des Subjekts. Subjektivit t und Identit t zwischen Moderne und Postmoderne. Tübingen 2007, S. 4. 11 Ebd., S. 4 f. 12 Ebd., S. 5. 13 Vgl. Georg Simmel: Das Individuum und die Freiheit. Essais. Berlin 1984, S. 194. 14 Vgl. Regina Kreyenberg u. Gudrun Lipjes-Türr: „Peter Handke: Wunschloses Unglück“. In: Erz hlen, Erinnern. Deutsche Prosa der Gegenwart. Interpretationen. Hg. v. Herbert Kaiser u. Gerhard Köpf. Frankfurt/M. 1992, S. 125 – 148, hier S. 131. 15 Schindler: „Frauengeschichte als Provokation“, S. 56. 16 Vgl. Kreyenberg u. Lipjes-Türr: „Peter Handke“, S. 131.

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verging zwischen kirchlichen Festen.“ Im hermetisch abgeschlossenen Raum und in einer immergleichen zyklischen Zeit vollzieht sich so „die starre, über Brauchtum, Religion und Dorfklatsch kollektiv aufrecht gehaltene Organisation familiärer Überlebensbedingungen.“17 Körper und Bewusstsein der Mutter werden in diesem Rahmen durchdrungen, produziert und abgesteckt von der Sprache des Umfelds. Wahrnehmen, Denken und Handeln vollziehen sich in vorgefertigten sprachlichen Schablonen, Phrasen, die sich ebenso immergleich wiederholen wie Wetter und Tagesverlauf: „Regen – Sonne, draußen – drinnen.“ (S. 19) „Heute war gestern, gestern war alles beim alten. Wieder ein Tag geschafft, schon wieder eine Woche vorbei, ein schönes neues Jahr. Was gibt es morgen zum Essen? Ist der Briefträger schon gekommen? Was hast du den ganzen Tag zu Hause gemacht?“ (S. 57) Die zur Verfügung stehende Formel verdeckt dabei die tatsächliche Lage und verunmöglicht Veränderung. Patriarchalische Gewalt wird verharmlost: „Wenn er betrunken war, wurde er FRECH, und sie mußte STRENG zu ihm werden. Dann schlug er sie, weil sie ihm nichts zu sagen hatte und er es doch war, der das Geld heimbrachte.“ (S. 32) Elend wird sublimiert: „arm, aber sauber.“ (S. 52) Die entfremdete Arbeit wird personifiziert: „die BEHÄBIGE Waschrumpel, der GEMÜTLICHE Feuerherd, die an allen Ecken geflickten LUSTIGEN Kochtöpfe, […] der KECKE Leiterwagen, die TATENDURSTIGE Unkrautsichel, […] der NECKISCHE Fingerhut.“ (S. 55 f.) Das Gesellschaftssystem wird zur Stufenleiter: „,Kaiser – König – Edelmann / Bürger – Bauer – Leinenweber / Tischler – Bettler – Totengräber‘.“ (S. 24) Der Name wird austauschbar und einsetzbar: „Fräulein . . . hat sich . . . als anstellig erwiesen.“ (S. 21) Alles Unglück wird zur Notwendigkeit: „,Alles hat nun einmal Vor- und Nachteile’, und schon wird das Unzumutbare zumutbar – als Nachteil, der wiederum nichts als eine notwendige Eigenheit jedes Vorteils ist.“ (S. 56) Die Sätze überschreiben das Innenleben, lassen einen sich selbst übergehen: „Heute will ich an nichts denken, heute will ich nur lustig sein.“ (S. 38) „Uns geht es immer noch besser als anderen.“ (S. 39) Man wiederholt und kopiert: „nicht nur den anderen Dialekt, sondern auch die fremden Redensarten.“ (S. 36) Man ist sprachlich entäußert: „nur Stichworte des Katechismus hingemurmelt, in denen das Ich einem wahrhaft fremder als ein Stück vom Mond erschien.“ (S. 45) Man ist allgemein entäußert: „Das Fenster ist die Visitenkarte des Bewohners.“ (S. 52) Man verstummt: „der VernunftReflex – ,Ich bin ja schon still!‘“ (S. 33) 17 Schindler: „Frauengeschichte als Provokation“, S. 57.

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Selbst der eventuelle Ausbruch aus der vorgefertigten Sprache vollzieht sich in dieser selbst. Die Mutter war zwar „imstande, sich ein Leben vorzustellen, das nicht nur lebenslängliches Haushalten war.“ (S. 54) Der Gedanke gewinnt aber nur Form in der repressiven Phrase: „Sie gehörte nicht mehr zu den EINGEBORENEN, DIE NOCH NIE EINEN WEISSEN GESEHEN HATTEN.“ (S. 54) Was sich hier vollzieht, kann man mit Peter V. Zima als „gesellschaftliche und sprachliche Überdeterminierung“18 des Subjekts fassen. Die Mutter findet sich in einer gesellschaftlichen und sprachlichen Situation, die sie nicht global ändern kann. Es bleibt zunächst nichts, als sich anhand des Vokabulars und der Semantik des ländlichen Soziolekts der Dorfgemeinschaft zu orientieren und zu definieren. Diese wird zum übermächtigen Kollektivsubjekt, das den Einzelnen vereinnahmt und dessen Sprache usurpiert. Doch nicht nur Sprache und Denken, ebenso der Körper ist dem Gesetz des Diskurses unterworfen: Meine Mutter stand bei allen Ereignissen wie mit offenem Mund daneben. Sie wurde nicht schreckhaft, lachte höchstens, vom allgemeinen Schrecken angesteckt, einmal kurz auf, weil sie sich gleichzeitig schämte, daß der Körper sich plötzlich so ungeniert selbstständig machte. ,Schämst du dich nicht?‘ oder ,Du sollst dich schämen!‘ war schon für das kleine und vor allem für das heranwachsende Mädchen der von den anderen ständig vorgehaltene Leitfaden gewesen. Eine Äußerung von weiblichem Eigenleben in diesem ländlich-katholischen Sinnzusammenhang war überhaupt vorlaut und unbeherrscht; schiefe Blicke, so lange, bis die Beschämung nicht mehr nur possierlich gemimt wurde, sondern schon ganz innen die elementarsten Empfindungen abschreckte. ,Weibliches Erröten’ sogar in der Freude, weil man sich dieser Freude gehörigst schämen mußte; in der Traurigkeit wurde man nicht blaß, sondern rot im Gesicht, und brach statt in Tränen in Schweiß aus. (S. 29 f.)

Die der Mutter „als Leitfaden“ vorgehaltenen Sätze scheinen weder vorgehalten, das heißt äußerlich, noch Leitfäden zu bleiben. Zusammen mit dem Blick des Anderen entfalten sie eine weit tiefer gehende Wirkung. Ihr Imperativ setzt sich „ganz innen“ fest, er schreibt sich in den Mutterkörper ein. Als Medium der Vermittlung zwischen Sprache und Körper fungiert dabei die Scham: „Shame begins as a set of moral and social norms imposed from the outside, but eventually works its way into the body and lodges itself ,ganz innen‘. From there it works as a censor, regulating be-

18 Zima: Theorie des Subjekts, S. 15.

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havior and, in particular, repressing any expression of individuality.“19 Die Scham wird zu einer „verkörperten Scham.“ (S. 34) Chloe Paver, die in Ihrem Aufsatz zu Wunschloses Ungl ck dem Verhältnis von Körper und emotionaler Unterdrückung nachgeht, argumentiert mit Freud, dass Verdrängung immer nur teilweise erfolgreich sein kann. Emotionen entkommen durch den Körper, wie in der eben zitierten Passage anhand des Errötens oder des Schwitzens ersichtlich wird. Auch das Lachen deutet Paver als Symptom der Unterdrückung: „the fear she cannot express openly finds a vent in a seemingly inappropiate physical form (laughter).“20 Die schamlose Reaktion des Körpers durch das aus dem Inneren kommende Lachen erzeugt wiederum mehr Scham im Körper selbst. Das Äußere in Form von Sätzen wird verinnerlicht und in einem weiteren Schritt wieder entäußert, wie auch eine andere Passage verdeutlicht, in der von der „Umwelt“ die Rede ist, die „im lebenslangen Umgang aus den Kinderalpträumen nach außen geschwitzt“ wird. (S. 29) Sind die Kategorien von Innen und Außen hier noch gültig? Gibt es eine äußere auf das Innere eines Körpers einwirkende Macht? Foucault geht in berwachen und Strafen diesem Verhältnis nach: [D]er Körper steht […] unmittelbar im Feld des Politischen; die Machtverhältnisse legen ihre Hand auf ihn; sie umkleiden ihn, markieren ihn, dressieren ihn, martern ihn, zwingen ihn zum Arbeiten, verpflichten ihn zu Zeremonien, verlangen von ihm Zeichen.21

In der Tradition Nietzsches wird der Körper von Foucault offenbar als etwas gedacht, auf das sich das Gesetz gewaltsam einschreibt. Nietzsche spricht von der „Züchtigung des Menschen zum Mitmenschen“.22 „,Man brennt etwas ein, damit es im Gedächtnis bleibt: nur was nicht aufhört, wehzutun, bleibt im Gedächtnis.‘ […] Es ging nie ohne Blut, Martern, Opfer ab, wenn der Mensch es nötig hielt, sich ein Gedächtnis zu machen.“23 Macht wird von Foucault jedoch nicht als ein Privileg gedacht, das man besitzen oder sich aneignen und 19 Paver: „Die verkörperte Scham“, S. 463. 20 Ebd. 21 Michel Foucault: berwachen und Strafen. Die Geburt des Gef ngnisses. Frankfurt/M. 1977, S. 37. 22 Jan Assmann: „Körper und Schrift als Gedächtnisspeicher. Vom kommunikativen zum kulturellen Gedächtnis.“ In: Speicher des Ged chtnisses. Bibliotheken, Museen, Archive. Hg. v. Moritz Csáky u. Peter Stachel, Bd.1. Absage an und Wiederherstellung von Vergangenheit – Kompensation von Geschichtsverlust. Wien 2000, S. 199 – 213, hier S. 202. 23 Friedrich Nietzsche: Werke in 3 B nden. Bd. 2. Hg. v. Karl Schlechta. München 1960, S. 802.

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das somit von außen auf den Körper einwirken könnte. Vielmehr versteht Foucault diese als ein „Netz von ständig gespannten und tätigen Beziehungen“24, in denen das Subjekt zurück bleibt. Der Körper hingegen wird zum „Schauplatz“, zum „Knotenpunkt“25 der Machtstrukturen. Er ist „etwas Geformtes“, auch „etwas im Dienst einer gewissen Selbstformung Stehendes“.26 Was das für den Mutterkörper bedeutet, wird noch zu fragen sein. Zunächst lässt sich, von der oben erläuterten Passage ausgehend, die eingangs zitierte vorgeschriebene Geschichte der Unterwerfung des Körpers als eine Geschichte des Verstummens und der Fragmentierung beschreiben. Der erste Auftritt des Mutterkörpers geschieht anhand einer Bildbeschreibung. Wenn im davorstehenden Satz auch bereits von einer resignierenden Körper- und Lebenshaltung die Rede ist: vom „demütigen Dabeihocken der Frauen“, so hebt sich die Beschreibung der Mutter auf dem „Foto der Familie“ noch deutlich davon ab, zeigt das einzig intakte, lebendige Körperbild in Wunschloses Ungl ck: „Meine Mutter hatte ein übermütiges Wesen,stützteaufdenFotosdieHändeindieHüftenoderlegteeinenArmum die Schultern des kleineren Bruders. Sie lachte immer und schien gar nicht anders zu können.“ (S. 18) Das Lachen ist hier noch ein positiv konnotiertes. Nachdem die Mutter aber kurz nach der Entbindung ihres ersten Sohnes aus „Pflichtbewußtsein“ einen Unteroffizier der Deutschen Wehrmacht heiratet – und es ist wiederum eine Phrase, die das bewerkstelligt: „dem Kind einen Vater geben“ – schreibt sich die repressive Ordnung zunehmend auf den Körper ein: „zum ersten Mal ließ sie sich einschüchtern, das Lachen verging ihr ein bißchen.“ (S. 28) Kurz darauf findet sich die bereits zitierte Passage: „Meine Mutter stand bei allen Ereignissen wie mit offenem Mund daneben.“ (S. 29) Doch schon bald schließt sich der Mund der Mutter: „Der Mund, bis jetzt immer noch wenigstens ab und zu offengeblieben […] wurde […] übertrieben fest geschlossen, als Zeichen der Anpassung an eine allgemeine Entschlossenheit, die, weil es kaum etwas gab, zu dem man sich persçnlich entschließen konnte, doch nur eine Schau sein konnte.“ (S. 35 f.) Und daraus folgt: „Es gab nichts von einem selber zu erzählen.“ (S. 45) Zunächst verliert sie die „ländlichen Pausbacken“, trägt den „Kopf hoch“ und wird eine „elegante Frau“ (S. 31): „Aus Hilflosigkeit nahm sie Haltung an 24 Foucault: berwachen und Strafen, S. 38. 25 Judith Butler: „Noch einmal: Körper und Macht“. In: Michel Foucault: Zwischenbilanz einer Rezeption. Frankfurter Foucault-Konferenz. Hg. v. Axel Honneth u. Martin Saar. Frankfurt/M. 2003, S. 52 – 67, hier S. 56. 26 Ebd., S. 60.

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und wurde sich dabei selbst über.“ (S. 33) Ist das Gesicht zunächst noch ein „wehrloses“ (S. 34), so wird es bald ein „maskenhaftes“ (S. 36), schließlich, durch die „tägliche Anstrengung, sein Gesicht zu behalten,“ ein „seelenloses.“ (S. 54) Was in Wunschloses Ungl ck beschrieben wird, ist – so der Erzähler – „ein Naturschauspiel mit einem menschlichen Requisit, das dabei systematisch entmenscht wurde.“ (ebd.) Die Scham setzt ihre Wirkung im Körper fort: „Die frühere Lebenslust des ganzen Körpers zeigte sich nur noch manchmal, wenn an der stillen, schweren Hand verstohlen und schamhaft ein Finger zuckte, worauf diese Hand auch sofort von der anderen zugedeckt wurde.“ (S. 58) Der Körper versucht sich hier bereits in einer paradoxen Wendung selbst zu überdecken. Während eine Hand schamlos zuckt, ist die andere zur Hand, um den Verstoß zu verhüllen. Die Sätze haben sich schließlich der Mutter bereits so eingebrannt, dass sie diese auch selbst reproduziert. Den trinkenden jüngeren Bruder des Erzählers kann sie nur in der sie selbst quälenden Sprache ansprechen: „Ihr fehlte der Wortschatz, der auf ihn einwirken konnte. ,Schämst du dich nicht?‘“ (S. 64) Die Mutter ist „von Anfang an erpreßt, bei allem nur ja die Form zu bewahren.“ (S. 53) Doch gerade diese gerät zunehmend außer Kontrolle, verläuft sich, fragmentiert: „Sie saß schief da, ließ den Kopf hängen“ (S. 63); „die Hände rutschten ihr vom Körper herunter“ (S. 66); sie „verlor jedes Körpergefühl“ (ebd.); schließlich findet sie der Erzähler „schamlos […] nach außen gestülpt […]; alles an ihr war verrenkt, zersplittert, offen, entzündet, eine Gedärmeverschlingung.“ (S. 67) Sie kann nicht mehr reden (S. 70) oder spricht mit sich selbst, „weil ich sonst keinem Menschen mehr etwas sagen kann.“ (S. 76) Dem intakten Körperbild der ersten Fotobeschreibung steht zuletzt ein gesichtsloses, verrutschtes Bild gegenüber: „Beim Fotografieren konnte sie kein Gesicht mehr machen. Sie runzelte die Stirn und hob die Wangen zu einem Lächeln, aber die Augen schauten mit aus der Mitte der Iris verrutschten Pupillen, in einer unheilbaren Traurigkeit.“ (S. 77) Kurz vor dem Selbstmord sagt sie – und das ist der Endpunkt der sie beherrschenden analen Logik: „Ich will mich nicht mehr zusammennehmen.“ (S. 78) Der Mutterkörper ist also ein völlig unterworfener und verstummender. Er nimmt jenen Platz in der symbolischen Ordnung ein, der ihm als weiblicher zugeschrieben zu sein scheint. Aber ist es tatsächlich so, dass es keinerlei Handlungsspielraum gibt? Keine Möglichkeit zum Widerstand? Ist die Mutter tatsächlich „der Inbegriff einer stummen Person“, „das schlechthin nicht zu sich selbst gekommene Subjekt“? Es lässt sich – wie ich zeigen möchte – von der oben zitierten Passage ausgehend nicht nur die Geschichte der Unterwerfung und des Verstummens des Mutterkörpers erschließen, sondern auch jene des Widerstands. Der Körper, der sich

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„selbständig“ macht, das Lachen des Mutterkörpers, darin liegt bereits der Keim eines Widerstands. Man kann es nicht bloß, wie Paver das tut, als ein Symptom der Unterdrückung, sondern auch als eine unvorhergesehene Verkehrung der auf den Körper wirkenden Machtwirkung begreifen. Foucault versteht unter Macht, wie bereits ausgeführt, ein „Netz von ständig gespannten und tätigen Beziehungen“, in denen das Subjekt zurück bleibt, in welchem aber der Körper zum „Schauplatz“, zum „Knotenpunkt“ wird. Das Spiel der Macht ist eine immerwährende Schlacht: „Die Beziehungen sind keine eindeutigen Relationen, vielmehr definieren sie zahllose Konfrontationspunkte und Unruheherde, in denen Konflikte, Kämpfe und zumindest vorübergehende Umkehrung der Machtverhältnisse drohen.“27 Die Macht ist eine „Bewirkung ohne Ursprung und Ziel“.28 Wenn auch das Subjekt als Handlungsträger zurückbleibt, so übernimmt der Körper die Handlungsfähigkeit, die zuvor dem Subjekt zugeschrieben war.29 „Die Macht geschieht diesem Körper, aber es bietet auch die Möglichkeit dafür, daß der Macht etwas Unvorhersehbares (und damit Undialektisches) geschieht; er ist einer der Orte ihrer Umlenkung, ihres Überfließens und ihrer Umwertung.“30 Das Lachen des Mutterkörpers kann als ebensolche unvorhersehbare Verkehrung verstanden werden: Jetzt lachte sie die anderen einfach aus. Sie konnte jeden so auslachen, daß er ziemlich still wurde. Vor allem der Ehemann wurde, so oft er von seinen vielen Vorhaben erzählte, jedesmal so scharf ausgelacht, daß er bald stockte und nur noch stumpf zum Fenster hinausschaute. (S. 44)

Die in der Familie herrschenden patriarchalischen Machtverhältnisse werden in der körperlichen Geste des Auslachens „zumindest vorübergehend“ verkehrt. Wenngleich es sich wiederum um die verinnerlichte Bedürfnisunterdrückung handelt, die die Mutter durch ihre Geste kommuniziert und schließlich sogar auf den Körper des Ehemanns überträgt, so wird darin dennoch das bestehende Machtgefälle verkehrt. Man kann dem Mutterkörper keine reine Passivität mehr zuschreiben. Sie wird vom Gesetz umkleidet, markiert, sie wird aber auch selbst Trägerin des Gesetzes. Sie wird durch das Gesetz ein sich selbst verhaftetes, handlungsfähiges Subjekt. 27 28 29 30

Foucault: berwachen und Strafen, S. 39. Butler: „Noch einmal: Körper und Macht“, S. 55. Vgl. ebd. Ebd., S. 58.

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Die Macht, dieses im Körper wirksame und diesen umschlingende Netz von Beziehungen, – so Foucault – konstituiert schließlich auch als einen ihrer Effekte das Subjekt, indem es die Möglichkeiten, wie dieses sich auf sich selbst beziehen und repräsentieren kann, begrenzt. Dieser begrenzende wie konstituierende Zugriff wird „im unmittelbaren Alltagsleben spürbar, welches das Individuum in Kategorien einteilt, ihm seine Individualität aufprägt, es an seine Identität fesselt, ihm ein Gesetz der Wahrheit auferlegt, das es anerkennen muß und das andere in ihm anerkennen müssen.“31 Subjekte sind dabei ihrer „Selbstverhaftung“ unterworfen, die verstanden werden kann als derjenige Prozess, durch den man über vermittelte gesellschaftliche Normen an seine eigene Subjektivität gebunden wird. Sie geben den Sinn für das, was man ist.32 Das Subjekt schließlich muss diese Normen begehren, da es Anerkennung sucht, die wiederum die soziale Existenz gewährleistet. Denn was aus den Normen herausfällt, ist nicht anerkennbar.33 Bereits in Handkes frühem Theaterstück Kaspar wird der Zugriff von Sprache und Macht auf den Körper und in Hinblick auf die Subjektwerdung modellhaft vorgeführt und reflektiert. Der Prozess konzentriert sich im zunächst einzigen Satz der Hauptfigur: „Ich möcht’ ein solcher werden, wie einmal ein andrer gewesen ist.“ Das auf Konformität gerichtete Begehren ermöglicht eine Subjektwerdung bei gleichzeitiger Unterwerfung des Begehrenden. Foucault fasst mit dem Begriff „Subjektivation“ (Assujettissement) eben jene doppelte paradoxale Bewegung der Macht: Sie unterwirft und produziert das Subjekt.34 Zunächst lässt sich sagen, dass diese ambivalente Bewegung auch im Leben der Mutter zu beobachten ist. Durch ihr den ländlichen Gefühlsvorschriften und Normen konformes Verhalten wird sie nicht bloß unterworfen, sondern ebenso als Subjekt und Körper intelligibel, also anerkennbar. Die Mutter ist eben darum Subjekt, da die Macht sie als ein solches konstituiert (und sie nicht bloß unterwirft). In Wunschloses Ungl ck gestaltet sich Subjektivation als ein komplexes Geflecht von Machtwirkungen. Determinierungen, Verkörperungen, Unterwerfungen, aber auch Widerstände werden im Mutterleben beschrieben. „Um zu sein, können wir 31 Michel Foucault: „Warum ich Macht untersuche: Die Frage des Subjekts“. In: Michel Foucault Jenseits von Strukturalismus und Hermeneutik. Hg. v. Hubert L. Dreyfus u. Paul Rabinow. Weinheim 1994, S. 243 – 250, hier S. 246. 32 Vgl. Butler: „Noch einmal: Körper und Macht“, S. 62. 33 Vgl. ebd., S. 63. 34 Vgl. ebd., S. 59.

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sagen, müssen wir anerkennbar sein“35, so Judith Butler im Sinne Foucaults. In dieser Normbefolgung und ihrer Beschränkung jedoch liegt auch die Möglichkeit des Widerstandes. Nach Jacques Lacan strebt das beschriebene Anerkennung suchende Begehren nach narzisstischer Befriedigung. Dabei ist es jedoch ein trügerischer Glaube, dass derjenige, den man durch die Normen eingerahmt sieht, identisch sei mit dem, der sieht. Selbstidentifikation ist – so Lacan – immer fiktiv beziehungsweise imaginär.36 Eine letzte Annäherung an das Spiegelbild ist unmöglich. Der Narzissmus muss notwendig scheitern. In der Normbefolgung liegt zwar ein Moment der Befriedigung, jedoch erfährt man in der Konformität selbst das Zeichen eigener Beschränkung. Genau hier liegt das Moment des Widerstands, den Foucault ausmacht.37 Er ist dann möglich, wenn das Subjekt sich in seiner Beschränkung verhaftet findet. Es geht Foucault zufolge also darum, nach Möglichkeiten des Begehrens zu suchen, die die Bedingungen der anerkennbaren Identität überschreiten. Ich möchte diesem im Folgenden nachspüren und entgegen der eingangs aufgestellten These vom unterworfenen, stummen Körper eine neue entwerfen: Dass nämlich Wunschloses Ungl ck die Geschichte eben dieses Begehrens ist. Sie beginnt auf Seite 19 und zwar wie folgt: „Es fing damit an, daß meine Mutter plötzlich Lust zu etwas bekam: sie wollte lernen; denn beim Lernen damals als Kind hatte sie etwas von sich selber gefühlt. Es war gewesen, wie wenn man sagt; ,Ich fühle mich.‘ Zum ersten Mal ein Wunsch und er wurde ausgesprochen, immer wieder, wurde endlich zur fixen Idee.“ (S. 19 f.) Die Reaktion des Großvaters ist eine sprachlose Verneinung: „Handbewegungen genügten, das abzutun; man winkte ab, es war undenkbar.“ (S. 20) Doch die Mutter geht „einfach von zu Hause weg“ und beginnt eine Lehre als Köchin, sie widersetzt sich und setzt sich damit durch: Der Großvater lässt „ihr den Willen, weil sie nun schon einmal weggegangen war; außerdem war beim Kochen nicht viel zu lernen.“ (ebd.) Der Bruch mit der bestehenden Ordnung hat also eine Veränderung derselben zur Folge, die jedoch sogleich wieder durch Phrasen vereinnahmt werden muss. Die Ordnung behauptet sich schließlich gegenüber der widerständigen Mutter: „Aber es gab schon keine andere Möglichkeit mehr: Abwaschhilfe, Stubenmädchen, Beiköchin, Hauptköchin.“ (ebd.) 35 Ebd., S. 64. 36 Vgl. ebd. 37 Vgl. ebd.

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Doch damit ist es keineswegs vorbei. Es folgt im Text Handkes die Beschreibung der Zeit des Nationalsozialismus, die – wie sich zeigen wird – für die Mutter neue Brüche und Subjektivations-Möglichkeiten eröffnet. Stephan K. Schindler fühlt sich provoziert durch eine „inhaltliche These“, die er in Wunschloses Ungl ck vorfindet: „daß die nicht enden wollende Chronologie weiblicher, auf den Tod vorprogrammierter Leibeigenschaft lediglich von einer vorübergehenden Befreiung unterbrochen wird, in der weibliche Unabhängigkeit und Selbstfindung mit einem historisch-politischen Ereignis koinzidieren: dem nationalsozialistischen ,Anschluß‘ Österreichs.“38 Wie kommt Schindler zu diesem Urteil? Der Erzähler stellt tatsächlich fest: „Diese Zeit half meiner Mutter, aus sich herauszugehen und selbständig zu werden.“ (S. 24) Es kommt zu „Gemeinschaftserlebnissen“, die Mutter ist „aufgeregt“, es entsteht mit einem Mal ein „großer Zusammenhang: es ordnete sich in einer Beziehung zueinander“ und „die werktägliche Langeweile wurde festtäglich stimmungsvoll“ (S. 22), der Raum öffnet sich, man ist „überall zu Hause“, die Mutter wird „stolz, nicht auf etwas Bestimmtes, sondern allgemein stolz, als Haltung, und als Ausdruck eines endlich erreichten Lebensgefühls.“ (S. 23) Es zeigt sich also, dass sich die zyklische und häusliche Enge der „zweiten Natur“, die die Dorfgemeinschaft und deren sprachliche und soziale Ordnung darstellt, aufgebrochen wird: räumlich – „Ein neues Gefühl für Entfernungen“ (S. 25) – wie auch sprachlich – „Gemeinnutz geht vor Eigennutz, Gemeinsinn geht vor Eigensinn.“ (S. 23) Ein anderes – gewiss noch repressiveres – Kollektivsubjekt etabliert damit eine neue Ordnung. Sie ruft das Subjekt in ihrem ideologischen und totalitären Soziolekt an und integriert es in sich selbst, im „großen Zusammenhang.“ Dieser bietet neue Möglichkeiten der Subjektivation. Erstens, da die nationalsozialistische Ideologie gerade auf die narzisstische Befriedigung des Einzelnen durch das Aufgehen im Kollektiv setzt und zweitens – und das erscheint mir als der wichtigere Aspekt –, da es zu einem Bruch mit der dörflichen Ordnung kommt und dadurch auch zu einer Infragestellung derselben. Ich möchte zeigen, dass auch im weiteren Verlauf der Lebensund Körpergeschichte der Mutter Subjektivation genau dann stattfindet, wenn alternative oder konkurrierende Normen und Gesetze aufeinander treffen. Ein völliges Unterworfensein unter die sprachliche und soziale Ordnung der Dorfgemeinschaft ist schließlich nur möglich, so lange diese die einzige Norm gebende Instanz bleibt, so lange sie also die Mutter isoliert 38 Schindler: „Frauengeschichte als Provokation“, S. 48.

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und in der zyklischen und häuslichen „zweiten Natur“ derselben abschließt: „Keine Vergleichsmöglichkeiten zu einer anderen Lebensform: auch keine Bedürftigkeit mehr?“ (S. 19) Schindlers Eingrenzung der „weiblichen Unabhängigkeit und Selbstfindung“ auf die Zeit des Nationalsozialismus ist in jedem Fall ungenau und fragwürdig. In dieser Zeit ist jedoch noch die „erste Liebe“ der Mutter verortet. (S. 25) Sie ist nicht nur die erste, sondern bleibt auch die einzige: „es gab keinen ANDEREN mehr: die Lebensumstände hatten sie zu einer Liebe erzogen.“ (S. 27) Die Beziehung zu „einem deutschen Parteigenossen“ und „Sparkassenangestellten“ (S. 25) bedeutet aber, selbst wenn sie dem Gesetz der Einmaligkeit unterworfen bleibt, auch einen Bruch mit den gesellschaftlichen Verhaltensnormen und Sexualcodes. Denn der Geliebte der Mutter und Vater des Erzählers ist bereits verheiratet. Die Mutter kommt dennoch bald „in andere Umstände“ und gebiert ein uneheliches Kind. Das sexuelle Begehren scheint also dasjenige zu übertreffen, das auf die Normbefolgung ausgerichtet ist. Doch erneut wird der Bruch und Widerstand der Mutter gesellschaftlich vereinnahmt. Sie wird an den ihr vorgeschriebenen Ort in der patriarchalischen symbolischen Ordnung verwiesen: „dem Kind einen Vater geben“. (S. 28) Sie heiratet aus „Pflichtbewußtsein“ einen „Unteroffizier der deutschen Wehrmacht“. (ebd.) Auch das Leben in der Großstadt Berlin eröffnet der Mutter einen neuen Kontext, neue Ordnungen und Gesetze und führt zu einem weiteren Bruch mit dem primär determinierenden dörflichen Kontext. Gerade die Differenz zu den Menschen der neuen Umgebung ermöglicht der Mutter die Herausbildung von (wenn auch stereotyp nationaler) Identität. Sie ist im Blick der anderen „ein österreichisch geselliges, sangesfreudiges Wesen, ein GERADER Mensch, nicht kokett und geziert wie die Großstadtmenschen“. (S. 34) Auch der neue sprachliche Kontext setzt einen Prozess der Individuation frei. Sie spricht mit den dort stationierten Russen slowenisch: „Sie redete dann viel, einfach alles, was sie an gemeinsamen Worten wußte, das befreite sie.“ (ebd.) Doch wiederum vereinnahmt sie die neue Ordnung. Sie wird zum Typ, „von einer Vorkriegserscheinung zu einer Nachkriegserscheinung, von einer Landpomeranze zu einem Großstadtgeschöpf.“ (S. 36) Es entwickelt sich jedoch – und das ist wesentlich – ein deutliches Bewusstsein für die eigene Beschränkung, die gerade in der Normierung liegt: „Versuche, sich doch noch zu behaupten, kläglich, weil man gerade dadurch verwechselbar und austauschbar mit den Umstehenden wurde: etwas Stoßendes Gestoßenes, Schiebendes Geschobenes, Schimpfendes Beschimpftes.“ (S. 35)

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Schließlich treibt sie sich in dieser Zeit auch das erste (von drei) Mal mit einer Nadel heimlich ein Kind ab. Diese Art des Widerstands ist nicht bloß ein Bruch mit dem moralischen, sondern auch mit dem juridischen Gesetz. Bis in die 70er-Jahre waren derartige Abtreibungen in Österreich strafbar.39 Der Akt richtet sich gegen die patriarchalische Festschreibung der Frau als Hausfrau und Mutter, als „Gebärmaschine, Ernährerin und Komplementierung des männlichen Mangels“40, auch gegen die Verfügbarmachung als unterworfenes Sexualobjekt, die dem Ehemann zu „verlegenem Geschlechtsverkehr“ (S. 38) dienen muss und ihren „sexuellen Ekel“ nur in Träume verdrängen kann. (S. 62) Er richtet sich aber auch gegen den eigenen Körper. Die widerständige Praxis gefährdet, verletzt den Körper. Die dritte Abtreibung führt schließlich auch zu einem „schweren Blutsturz.“ (S. 51) Nach dem Krieg wieder zurück im Kärntner Dorf steht die Mutter bereits außerhalb der Ordnung. Die Frauen der Umgebung werden „bis auf Traumreste entpersönlicht und ausgezehrt in den Riten der Religion, des Brauchtums und der guten Sitten,“ (S. 45) die lediglich eine „Trostfunktion“ erfüllen (S. 46), um die Bedeutungslosigkeit der Existenzen zu beschwichtigen. „Die täglichen Nöte versüßende Todessehnsucht“, die religiösen Gegenstände: „Trostfetische“ und die „süße“ Arbeit prägen das Leben. Es wird nichts mehr erwartet. Neugier ist bloß eine „weibische Unart“ (S. 47). Die Mutter aber, die bereits durch ihr Stadtleben eine Existenz abseits der religiösen Riten kennen gelernt hat, ist in der Lage, sich der Ordnung zu entziehen. Mit einem „aber“ setzt der Erzähler an und er setzt – mit Ausnahme des Schlussteils – seine „möglicherweise einmalige Hauptperson“ nirgendwo in der „vielleicht einzigartigen Geschichte“ (S. 39) so deutlich von ihrem Umfeld ab wie an dieser Stelle: „Aber meine Mutter hatte ein neugieriges Wesen und kannte keine Trostfetische. Sie versenkte sich nicht in die Arbeit, verrichtete sie nur nebenbei und wurde so unzufrieden. Der Weltschmerz der katholischen Religion war ihr fremd […]. Immerhin, und das war in ihrer Umgebung schon viel, gewöhnte sie sich das Rauchen an und rauchte sogar in der Öffentlichkeit.“ (S. 47) Das vielleicht wichtigste Feld von Vergleichsmöglichkeiten, die eine Transzendierung der die Mutter unterwerfenden wie erzeugenden Ordnung eröffnen können, tritt durch die Literatur in ihr Leben. Die Bücher, die sie zusammen mit dem Sohn (und Erzähler) liest, geben ihr die Möglichkeit, „die Geschichten mit dem eigenen Lebenslauf [zu] ver39 Vgl. ebd., S. 66. 40 Ebd., S. 64.

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gleichen.“ (S. 58) Sie bieten einen Fundus an alternativen biographischen Lebensmodellen: „Sie las jedes Buch als Beschreibung des eigenen Lebens, lebte dabei auf; rückte mit dem Lesen zum ersten Mal mit sich selbst heraus; lernte, von sich zu reden.“ (S. 58 f.) Durch die Rezeption narrativ konfigurierter Lebensläufe in einer dem dörflichen Soziolekt fernen Sprache beginnt auch sie ihr Leben rückblickend in eine biographische Form zu bringen: „So erfuhr ich allmählich etwas von ihr,“ (ebd.) schreibt der Erzähler, und es ist anzunehmen, dass das so erzählend Hervorgebrachte wiederum in die narrative Form der Erzählung des Sohnes übergeht. Der für das Erzählen charakteristische Blick auf eine Geschichte aus der Perspektive des Endes setzt sich jedenfalls im Blick der Mutter auf ihr Leben fort: „Sie fand darin nur alles Versäumte, das sie nie mehr nachholen würde.“ (S. 59) Die Literatur unterscheidet sich von den bisher beschriebenen die Mutter befreienden Einflüssen in einem wesentlichen Punkt. Sie ist zwar wie kaum ein anderes Medium in der Lage, Kontexte und Möglichkeiten aufzuzeigen, zu reflektieren und kann demnach Anlass und Auslöser sein, ein Begehren an den Grenzen des Anerkennbaren zu entwickeln, sie kann jedoch selbst nicht als anerkennende und dadurch subjektivierende Machtinstanz fungieren. Das Lesen führt die Mutter nicht nur zum Sprechen, sondern auch zum Schreiben. In den Briefen, die sie in dieser Phase an den Sohn richtet, scheint sie „sich selber dabei in das Papier zu ritzen.“ (S. 70) Die Sprache, die sich zuvor in ihren Körper geritzt hat, kann diesem auf diese Weise wieder entweichen, sie ritzt sich in das Schreibmaterial. Dieser Vorgang scheint jedenfalls auch ein körperlicher zu sein: „In dieser Periode war das Schreiben für sie keine Fremdarbeit mehr wie sonst für Leute in ihren Lebensumständen, sondern ein vom Willen unabhängiger Atmungsvorgang.“ (ebd.) Das Schreiben bekommt so eine lebensnotwendige Funktion, in der die Sprache wie Luft in den Körper ein- und ausströmt, ihn durchdringt. Es zeigt sich spätestens hier, dass Zuschreibungen, die die Mutter als stumm oder sprachlos bezeichnen, in keiner Weise zutreffen. Es handelt sich um keinen stummen Körper, es handelt sich hier um einen von Sprache durchdrungenen Körper, dem Sprache nichts „Fremdes“ mehr ist, der es vielmehr geschafft hat, sie sich zu Eigen zu machen. Der Umstand, dass das Schreiben selbst zu einer widerständigen Praxis des Körpers wird, die Literatur jedoch keine Instanz ist, die Anerkennung und damit einen Subjektstatus gewährleisten kann, wird für die Mutter

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zum Verhängnis. „Indem wir uns gegen autoritative Formen der Macht wehren,“ so Butler im Sinne Foucaults, „vergessen wir, wer wir sind.“41 In jenem Bereich „den wir ohne Anerkennung leben, in dem wir durch Verleugnung beharren, für den wir kein Vokabular haben,“ der eine „Distanz zu Regulierungsnormen“ ermöglicht, der auch „Schauplatz neuer Möglichkeiten“ ist, kann eine „Quelle für Leiden liegen“.42 Doch das ist noch nicht alles. Kritik nämlich bedeutet, „den eigenen ontologischen Status zu riskieren“.43 Auf der Suche nach Möglichkeit des Begehrens, das die Bedingungen der anerkennbaren Identität überschreitet, kann es geschehen, dass sich diese gänzlich verliert, dass dem auf diese Weise suchenden Subjekt der Subjektstatus aberkannt wird, dass es aus dem System fällt. Genau das geschieht nun der Mutter in Wunschloses Ungl ck. Gerade das Bewusstsein für die Beschränktheit der eigenen Situation, das auf ein außerhalb der Ordnung stehendes Leben gerichtete Begehren, die zahlreichen Auflehnungen und Widerstände gegen das sprachlich und sozial determinierende Umfeld bei gleichzeitiger Nichtanerkennbarkeit der widerständischen Lebensart der Mutter, all das führt dazu, dass sie nach und nach ihren ontologischen Status verliert. Zunächst ist es nur ihre Rolle als Hausfrau, die nicht mehr lebbar ist: „Sie konnte nicht mehr die Hausfrau spielen.“ (S. 68) Bald darauf wird ihr auch die Mutterrolle abgesprochen, indem der Antrag auf ein „Fürsorgekind“ aufgrund der Erkrankung ihres Mannes abgelehnt wird. (S. 74) Die Mutter bleibt allein „mit ihrem Schmerzenskörper“.44 Es ist jedoch nicht so, wie Stephan K. Schindler schreibt, dass sich die Mutter „nach der Entledigung ihrer Frauenrollen selbst ab[schafft]“.45 Vielmehr fällt sie durch das Netz der symbolischen Ordnung. Sie verliert ihre Seinsberechtigung. Sie ist „gar kein Mensch mehr.“ Sie nimmt sich selbst wahr als „eine Maschine“ (S. 76), sie wird wahrgenommen als „fleischgewordene, animalische Verlassenheit.“ (S. 67) Ihr Menschsein degeneriert durch dessen äußere Aberkennung zu einem mechanischen Maschinen- oder bewusstlosen Tiersein. Die bewusste Negierung der zugeschriebenen Rolle führt zu einer Unmöglichkeit des Fortlebens in der gleich bleibenden Ordnung, in der sie keinen Platz mehr hat. Der Erzähler kommentiert den Selbstmord der Mutter: „Sie wußte nicht nur, was sie tat, sondern auch, warum sie nichts anderes 41 42 43 44 45

Butler: „Noch einmal: Körper und Macht“, S. 60. Ebd., S. 64. Ebd., S. 65. Schindler: „Frauengeschichte als Provokation“, S. 67. Ebd.

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mehr tun konnte.“ Sie selbst schreibt im Abschiedsbrief: „an ein Weiterleben ist nicht zu denken.“ (S. 78) Wunschloses Ungl ck erzählt nicht die Geschichte des unterworfenen und stummen (biographischen) Körpers. Erzählt wird die Geschichte des von Sprache durchdrungenen verstummenden Körpers, der unterworfen wird in der absoluten Negierung der Unterwerfung. Erst durch die Literatur ist die Anerkennung wieder gewährleistet und der Subjektstatus posthum wieder hergestellt. Doch das Erzählen kommt zu spät.

Wunschloses Ungl ck ist ein realistischer Text Die Bemerkung Sigrid Löfflers, dass zeitgenössische Biographien mehrheitlich den „narrativen Konventionen des realistischen Romans des 19. Jahrhunderts“46 verpflichtet bleiben, scheint in mancher Hinsicht auch auf Wunschloses Ungl ck zuzutreffen. Die Aufzählung hierarchisierender Verfahren mit dem Zweck der Konstruktion geschlossener Welten, die Roland Barthes in seinem Buch „Am Nullpunkt der Literatur“ als für das 19. Jahrhundert charakteristisch beschreibt, lässt sich problemlos auf den biographischen Mittelteil des Textes beziehen: Erzählvergangenheit, auktoriale Erzählhaltung, Chronologie, Vollständigkeit, Kausalität und teleologisches Prinzip.47 Handkes Erzählung, so Gudrun Lipjes-Türr und Regina Kreyenberg, ist eine „abgeschlossene Geschichte mit einer Hauptperson und nahezu chronologischem Handlungsverlauf in einer überschaubaren Welt.“48 Tatsächlich konstituiert sich die Erzählung des Mutterlebens als linear strukturierter Rückblick mit dem Ziel, das Leben und vor allem auch den Tod der Mutter nach seinen Determinanten und Ursachen zu befragen. Es wird also ein fassbares Kausalverhältnis vorausgesetzt, das der Erzähler, der nicht nur über das Leben der Mutter, sondern offensichtlich auch über jenes unzähliger anderer Frauen Auskunft geben kann, in der Lage ist, narrativ darzulegen. „Die Biographie als die litera46 Sigrid Löffler: „Biografie. Ein Spiel. Warum die Engländer Weltmeister in einem so populären wie verrufenen Genre sind“. In: Literaturen (2001) H. 7/8, S. 14 – 17, hier S. 15. 47 Vgl. Anne-Kathrin Reulecke: „,Die Nase der Lady Hester‘. Überlegungen zum Verhältnis von Biographie und Geschlechterdifferenz.“ In: Biographie als Geschichte. Hg. v. Hedwig Röckelein. Tübingen 1993, S. 117 – 142, hier S. 123. 48 Kreyenberg u. Lipjes-Türr: „Peter Handke“, S. 125.

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rische Form des Verstehens von fremden Leben“49, wie das biographische Paradigma des 19. Jahrhunderts – insbesondere bei Dilthey – es vorsieht, scheint auch in Wunschloses Ungl ck gattungsbestimmend wirksam zu sein. Ein Leben wird hier als erklärbarer Zusammenhang vorgeführt, indem eine klare – wenn auch negative – Entwicklung stattfindet, die auch (nachträgliche) Vorausdeutungen und sich über das Leben erstreckende Zusammenhänge und Kontinuitäten fassbar macht. Etwa die sich bereits an früher Stelle des Textes findende Deutung des Erzählers: „Als Frau in diese Umstände geboren zu werden, ist von vornherein schon tödlich gewesen“ konstituiert sich im Verlauf des Textes zum zentralen Telos des Mutterlebens. Alle Ereignisse werden vom Endpunkt eines kausal notwendig eintretenden Todes aus betrachtet und erklärt. Die Erzählung des Mutterlebens kann auch als geschlossene betrachtet werden. Angefangen bei den Umständen der Geburt bis zum Begräbnis wird ihr Leben als ein Ganzes in geschlossener Form dargelegt. Wunschloses Ungl ck erzählt nun aber nicht nur vom Leben der Mutter, sondern auch von den Zuständen des Erzählers unmittelbar nach deren Tod und während der Zeit des Schreibens. Der Text setzt ein mit der Nachricht vom Tod und einer darauf folgenden Phase der „stumpfsinnige[n] Sprachlosigkeit“ (S. 9) im Leben des Erzählers. Unmittelbare Antwort auf den Sprach- und Kohärenzverlust sind zwei eng miteinander verknüpfte Verfahren, die eben das Verlorene wieder herzustellen versprechen: die Erinnerung und das Erzählen. „Indem ich sie beschreibe, fange ich schon an mich an sie zu erinnern, als an eine abgeschlossene Periode meines Lebens.“ (S. 11) Der Erzähler wird zur „Erinnerungs- und Formuliermaschine.“ (S. 12) Bereits beim Begräbnis der Mutter fühlt der Erzähler, da er die „unbarmherzig[e]“ Natur betrachtet, eine „ohnmächtige Wut“ und „das Bedürfnis, etwas über [s]eine Mutter zu schreiben.“ (S. 84) Er fasst den Plan, „der so wahrgenommenen Schöpfung seine geistige Gegenschöpfung entgegenzustellen.“50 Diese Gegenschöpfung muss nun als ein „eminent sozial[er]“51 konstruktiver Akt begriffen werden, ein Akt der Erinnerung, der eine Ordnung in die zuvor unfasslichen Ereignisse des Mutterlebens bringen kann. 49 Sigrid Weigel: Genea-Logik. Generation, Tradition und Evolution zwischen Kulturund Naturwissenschaften. München 2006, S. 167. 50 Kreyenberg u. Lipjes-Türr: „Peter Handke“. In: Erz hlen, Erinnern. Hg. v. Kaiser u. Köpf, S. 143. 51 Assmann: „Körper und Schrift als Gedächtnisspeicher“. In: Speicher des Ged chtnisses. Hg. v. Csáky u. Stachel, S. 200.

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Erst der synthetisierende Akt des Erzählens ist imstande, so Paul Ricœur, aus dem Sinnlosen, Chaotischen eine vermittelbare Erfahrung zu machen. Mit Rekurs auf den aristotelischen Mythos stellt er die These auf, dass die Erzählung „das bevorzugte Mittel [ist], durch das wir unsere wirre, formlose, a limine stumme Erfahrung neu konfigurieren.“52 So bedarf es auch einer „Arbeitsanstrengung“ des Erzählers, um nicht nur bloß den immer gleichen Buchstaben auf das Papier zu klopfen, sondern eine zusammenhängende Geschichte zu konstruieren: „Die Arbeitsanstrengung erst skandiert die leere, mechanische Anschlagbewegung, hemmt sie, arrangiert sie, kurz: bringt artikulierten Text hervor, dessen sinnige Fügungen aber immer bedroht bleiben von der Sinnlosigkeit des Drängens des stotternden Buchstabens.“53 Die Erzählung garantiert aber nicht nur eine Harmonisierung der dissonanten Erfahrung, sie bewerkstelligt vielmehr die grundsätzliche sinnvolle Erfahrbarkeit von Zeitlichkeit und Zusammenhang. Ricœur spricht von „narrativem Verstehen“: „Das ganze Problem des narrativen Verstehens ist hier im Keime angelegt. Die Fabelkomposition ist bereits ein Hervortreiben des Intelligiblen aus dem Akzidentellen, des Universellen aus dem Vereinzelten, des Notwendigen oder Wahrscheinlichen aus dem Episodischen.“54 Auch Wunschloses Ungl ck verfolgt den Zweck eines solchen narrativen Verstehens. Einerseits für den Erzähler, andererseits auch für den nicht mit diesem gleichzusetzenden Autor Peter Handke: Ich wollte ja nicht einfach meinen Schmerz deklamieren und irgendwie zu Papier bringen, sondern ich wollte nach den Gründen fragen, warum mich das wirklich so betroffen hat, nach den, und da muß man so ein Klischee verwenden, nach den gesellschaftlichen Gründen, die eine Frau dazu bringen, einen Selbstmord zu begehen, und warum es gerade eine Frau ist und gerade diese Frau in dieser Gegend, in diesem Staat mit dieser Erziehung, also daß dieser Selbstmord gar keine Krankheit war, sondern eine logische Konsequenz aus all der fürchterlichen Logik rundherum und daß diese Frau das bei ganz klarem Verstand, bei überklarem Verstand vollbracht [hat].55

52 Paul Ricœur: Zeit und Erz hlung, Bd. I. Zeit und historische Erzählung. München 1988, S. 10. 53 Rainer Nägele: „Peter Handkes ,Wunschloses Unglück‘“. In: Deutsche Romane des 20. Jahrhunderts. Neue Interpretationen. Hg. v. Paul Michael Lützeler. Königstein 1983, S. 388 – 402, hier S. 394. 54 Ricœur: Zeit und Erz hlung, S. 71. 55 Zitiert nach: Günter Heintz: Peter Handke. München 1974, S. 61 f.

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Der Text vollzieht nun die in Form einer nachvollziehbaren Entwicklung verlaufende Konstruktion einer narrativen Identität, in der ein Subjekt sich durch sozioökonomische, familiäre, patriarchalische, sprachliche und andere Einflüsse geprägt und bestimmt findet. Das Mutterleben wird dadurch im Sinne narrativen Verstehens erklärbar. Die Erzählung bietet mittels einer umfassenden Argumentation eine schlüssige Interpretation eines Lebens, deren zentrale Figur die Kontinuität und Wiederholung des Tödlichen ist. Der Endpunkt dieser möglichen, aber aus narratologischer Perspektive keineswegs apodiktischen Interpretation der Entwicklung ist die Deutung des Selbstmords als „FREITOD“ und somit als Akt letztendlich erreichter Selbstbestimmung. Pointiert formuliert: Es wären ebenso andere Konstruktionen und damit einhergehende Interpretationen des Mutterlebens denkbar und realisierbar. Nicht zuletzt deswegen, weil – wie Hayden White schreibt – „Ereignisse innerhalb der gleichen Ereignisfolge verschiedene Funktionen haben können, um verschiedene Bedeutungen – moralische, kognitive oder ästhetische – innerhalb verschiedener fiktionaler Matrices darzustellen.“56 Der beschriebene Konstruktionscharakter der Erzählung bleibt in Wunschloses Ungl ck jedoch keineswegs – wie White es für die Historiographie des 19. Jahrhunderts formuliert – „uneingestandener – und daher nicht kritisierbarer – Inhalt“57 im Inneren des Diskurses. Handkes Text ist vielmehr als „quasi-fictional narrative of his mother’s life and suicide“58 zu bezeichnen, als Erzählung, die ihre eigenen Konstruktionen und Beschränkungen ebenso bloßlegt wie reflektiert. Wunschloses Ungl ck bildet das Mutterleben und deren Identitätsproblematik nicht mimetisch ab, sondern erschafft bewusst eine textuelle Präsenz, erzeugt eine performative Identität und gibt gleichzeitig autoreferentiell darüber Auskunft. Der fiktive Charakter jedes biographischen Erzählens wird als solcher kenntlich gemacht: [A]ber ist nicht ohnehin jedes Formulieren, auch von tatsächlich Passiertem, mehr oder weniger fiktiv? Weniger, wenn man sich begnügt, bloß Bericht zu erstatten; mehr, je genauer man zu formulieren versucht? Und je mehr man fingiert, desto eher wird vielleicht die Geschichte auch für jemand andern 56 Hayden White: Auch Klio dichtet oder die Fiktion des Faktischen. Studien zur Tropologie des historischen Diskurses. Stuttgart 1991, S. 151. 57 Ebd., S. 151. 58 Thomas F. Barry: „Nazi Signs: Peter Handke’s Reception of Austrian Fascism“. In: Austrian Writers and the Anschluss. Understanding the Past – Overcoming the Past. Hg. v. Donald G. Daviau. Riverside 1990, S. 298 – 312, hier S. 300.

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interessant werden, weil man sich eher mit Formulierungen identifizieren kann als mit bloßen Tatsachen? (S. 24 f.)

Bereits der Beginn der Erzählung des Mutterlebens steht im Zeichen der Skepsis gegenüber einem etwaigen biographischen Wahrheitsanspruch: „es begann mit . . .“: wenn man so zu erzählen anfangen würde, wäre alles wie erfunden, man würde den Zuhörer oder den Leser nicht zu einer privaten Teilnahme erpressen, sondern ihm eben nur eine recht phantastische Geschichte vortragen. Es begann also damit, daß […]. (S. 13)

Durch die von Beginn an in den Text eingeflochtenen Reflexionen des Erzählers wird der Erzählakt gleichermaßen gerechtfertigt, befragt und verfremdet. Kritische Reflexion und der Wunsch nach Konstruktion bleiben hierbei gegenläufige Bewegungen des Textes: [A]ber das sind gerade die schon erwähnten Momente, wo das äußerste Mitteilungsbedürfnis mit der äußersten Sprachlosigkeit zusammentrifft. Deswegen fingiert man die Ordentlichkeit eines üblichen Lebenslaufschemas, indem man schreibt: ,Damals – später‘, ,Weil – obwohl‘, ,war – wurde – wurde nichts‘ und hofft, dadurch der Schreckensseligkeit Herr zu werden. Das ist dann vielleicht das Komische an der Geschichte. (S. 43)

Monika Schmitz-Emans vertritt in einem biographietheoretischen Aufsatz die These, dass zwischen Fiktion und Nicht-Fiktion „noch unterscheiden zu wollen […] ebenso naiv“ sei „wie das unreflektierte Sich-Identifizieren mit Romanfiguren.“59 Beides seien nur unterschiedliche Sprachspiele mit fließenden Übergängen. Die Frage sei darum nicht: „Ist eine Biographie […] ,historisch‘ oder ,fiktiv‘? Stattdessen wäre allenfalls zu fragen, ob der fragliche Text als Bericht über ,Historisch-Faktisches‘ gelesen werden will oder ob er seine ,Fiktionalität‘ hervorkehrt.“60

In Bezug auf Wunschloses Ungl ck muss man zu dem paradoxen Schluss kommen, dass beides der Fall ist. Historischer Referenzpunkt ist der Tod der Mutter, der durch den Erzähler geformt und bestimmt ist und es verbietet, den Text als reine Fiktion zu lesen. Das tatsächlich gelebte Leben der Mutter ist dennoch nur formulier- und vermittelbar mit den symbo-

59 Monika Schmitz-Emans: „Das Leben als literarisches Projekt. Über biographisches Schreiben aus poetischer und literaturtheoretischer Perspektive“. In: BIOS. Zeitschrift f r Biographieforschung, Oral History und Lebensverlaufsanalysen 8 (1995) H. 1, S. 1 – 27, hier S. 25. 60 Ebd., S. 26.

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lischen Mitteln der Sprache. Die Realität des Mutterlebens ist nur im und mit dem Text produzierbar, es ist textuelles Konstrukt. Nun bleibt aber der Text nicht an dieser Stelle stehen. Es gibt noch eine weitere Bewegung, die sich nicht bloß über den synthetisierenden Erzählakt legt, die ihn vielmehr durchdringt und auflöst. Es ist womöglich der stotternde Buchstabe, der bereits auf der ersten Seite des Buches genannt wird. Die beiden bereits kurz erwähnten Konzepte – jenes von Paul Ricœur und jenes von Hayden White – beschreiben zwar die Künstlichkeit und Konstruktion jedes Erzählens, sie beharren aber letztlich auf einem Repräsentationsmodell und der Möglichkeit der Darstellung und Sinnpräsenz durch Konfiguration und Synthese. Was geschieht aber, wenn man nicht an diesen festhält, wenn man sich die Unmöglichkeit der sprachlichen Fassbarkeit eines Menschenlebens eingesteht? Ein tatsächliches In-Präsenz-Rufen der Mutter scheint für den Erzähler jedenfalls nicht möglich: „[I]ch […] versuche mich mit gleichbleibendem starren Ernst an jemanden heranzuschreiben, den ich doch mit keinem Satz ganz fassen kann, so daß ich immer wieder neu anfangen muß.“ (S. 41) „Sie läßt sich nicht einkapseln, bleibt unfaßlich, die Sätze stürzen in etwas Dunklem ab und liegen durcheinander auf dem Papier.“ (S. 42) In seinen „Mémoires für Paul de Man“ legt Jacques Derrida dar, dass Erinnerung nur als Substitut, als Differenz zu dem Vergangenen beziehungsweise Verstorbenen möglich ist, und nicht als Verinnerlichung, als Aufheben der Distanz zur Vergangenheit. Der Tote hinterlässt eine Spur, die jedoch nur Supplement des Vergangenen und Verlorenen ist und nicht dieses selbst: „es ist der andere als anderer, die nicht-totalisierbare [Hervorhebung P.W.], die nicht mit sich selbst und dem Selben übereinstimmende Spur.“61 Mit dem Begriff der Spur fasst Derrida nun etwas, das genau jene Unmöglichkeit, eine Sinnpräsenz herzustellen, bezeichnet. Der Sinn und der Ursprung sind wie das Tier, das eine Spur hinterlässt und immer schon nicht mehr da ist, wenn wir diese Spur wahrnehmen. „Die Unmotiviertheit der Spur muß von nun an als eine Tätigkeit und nicht als ein Zustand begriffen werden, als eine aktive Bewegung.“62 Diese niemals zum Stillstand kommende Bewegung der Signifikanten, die den Sinn immer aufschieben und eine Präsenz unmöglich macht, bezeichnet Derrida be61 Jacques Derrida: M moires f r Paul de Man. Hg. v. Peter Engelmann. Wien 1988, S. 64. 62 Jacques Derrida: Grammatologie. Frankfurt/M. 1983, S. 88.

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kanntermaßen mit dem Begriff „différance“. Die diff rance wiederum hat eine Logik der Supplementarität zur Folge. Es wird versucht, den ständigen Aufschub ungeschehen zu machen, indem die fehlende Präsenz in der Hoffnung ergänzt wird, die Lücke, die der Aufschub hinterlassen hat, zu schließen. Diese Ersetzungsbewegung muss immer wieder durchgeführt werden. „Durch diese Abfolge von Supplementen hindurch wird die Notwendigkeit einer unendlichen Verknüpfung sichtbar, die unaufhaltsam die supplementären Vermittlungen vervielfältigt, die gerade den Sinn dessen stiften, was sie verschieben.“63 Die diff rance als Figur der Abwesenheit und der Wiederholung fasst recht genau die epistemologische Problematik von Wunschloses Ungl ck. Diese führt letztlich zu einer Ästhetik des Undarstellbaren, zum „Unvermögen zur Synthese“64, die an später Stelle noch zu erläutern sein wird. „Das Schreiben war nicht, wie ich am Anfang noch glaubte, eine Erinnerung an eine abgeschlossene Periode meines Lebens, sondern nur ein ständiges Gehabe von Erinnerung in der Form von Sätzen,“ (S. 84) so der Erzähler im Schlussteil des Textes. „Natürlich ist das Beschreiben ein bloßer Erinnerungsvorgang; aber es bannt andrerseits auch nichts für das nächste Mal.“ (S. 85) Genau dieses nächste Mal, das immer wieder kommen muss, in der Bewegung der Verlagerung, da die Mutter mit der totalisierenden Form der Erzählung nicht fassbar wird, erscheint als der einzige Ausweg aus dem epistemologischen Dilemma jeder Biographie. Das Schreiben wird solcherart zu einem Kompensationsversuch im Bewusstsein seiner Zwecklosigkeit. Es bleibt nur das Weitererzählen, wie sich im Schlusssatz von Wunschloses Ungl ck zeigt: „Später werde ich über das alles Genaueres schreiben.“ (S. 89) In diesem „später“ liegt der einzige Weg, im „Genauere[n]“ liegt bereits wieder das Verhängnis. Schreibt doch der Erzähler an früherer Stelle, dass jedes Formulieren fiktiv ist, also das Beschriebene verfehlen muss, und umso „mehr, je genauer man zu formulieren versucht.“ (S. 24) Und doch verhindert nur die Nichtabschließbarkeit eine Monumentalisierung der Erinnerung, wie sie die abschließende, totalisierende Konfiguration einer Erzählung im Sinne Ricœurs bedeuten würde, die „von etwas Ausgestandenem“ und somit von etwas Abgeschriebenem, Vergessenen handelt. Das Schreiben wird 63 Ebd., S. 272. 64 Jean-François Lyotard: „Das Undarstellbare – wider das Vergessen. Ein Gespräch zwischen Jean-François Lyotard und Christine Pries“. In: Das Erhabene. Zwischen Grenzerfahrung und Grçßenwahn. Hg. v. Christine Pries. Weinheim 1989, S. 319 – 347, hier S. 322.

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damit nicht zum Weg, das Wohlsein der Musil’schen Sonne auf dem Magen zu fühlen, das durch die Kohärenz der Erzählung entsteht,65 sondern die Wunde erzählend offen zu halten. Wunschloses Ungl ck verfolgt also mehrere Strategien. Die synthetisierende Figur der narrativen Identität, die auch immer ein mimetisches Verhältnis des Textes zur Wirklichkeit annimmt, und die wiederholende und verlagernde Bewegung der diff rance stehen einander gegenüber. Der Text argumentiert nicht rein (de)konstruktivistisch, sondern fordert eine Referenz ein zu den „übermächtigen Tatsachen.“ (S. 40) Die epistemologisch-sprachtheoretische Argumentation und Einsicht in die Unmöglichkeit der Fassbarkeit des Mutterlebens muss also durch die Einforderung der ethischen Verantwortung gegenüber dem Subjekt der Biographie ergänzt werden. Die Problematik mündet letztlich wiederum in die für den Text konstitutive Ästhetik des Undarstellbaren. (Es muss kaum angemerkt werden, dass auch der Kommentar den gleichen beschränkenden Gesetzmäßigkeiten unterliegt. Auch hier braucht es die Kohärenz eines erzählerischen Akts, es braucht ein Gehabe in der Form von Sätzen, das sich zu schreiben traut: „weil“, „damit“, „also“, „schließlich“. Daraus ergibt sich dann eine Aneinanderreihung von Sätzen, die sich letztlich ebenso eingestehen müssen, dass sie das Beschriebene immer verfehlen. Darum also mein Versuch, um den Text Handkes zu kreisen, einen Satz durch einen anderen zu widerlegen und schließlich beide zu einem Punkt zu führen, wo es unentscheidbar wird, ob nun der eine oder der andere gültig ist.)

„Wunschloses Ungl ck is marked by distance, even estrangement“ „Keiner versteht es, zu schreiben,“ schreibt Lyotard im Vorwort zu seinem Buch Kindheitslekt ren. Es heißt weiter: „Jeder, selbst und vor allem der ,Größte‘ schreibt, um durch den Text und im Text etwas einzufangen, das er nicht schreiben kann. Das sich nicht schreiben läßt, wie er weiß.“66 Es geht Lyotard – im genannten Buch ebenso wie in vielen seiner Schriften seit 65 „Es mag ihm Schlechtes widerfahren sein, oder er mag sich in Schmerzen gewunden haben: sobald er imstande ist, die Ereignisse in der Reihenfolge ihres zeitlichen Ablaufes wiederzugeben, wird ihm so wohl, als schiene ihm die Sonne auf den Magen.“ Robert Musil: Der Mann ohne Eigenschaften, Bd. 1. Hg. v. Adolf Frisé. Reinbek 2002, S. 650. 66 Jean-François Lyotard: Kindheitslekt ren. Hg. v. Peter Engelmann. Wien 1995, S. 11.

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den achtziger Jahren – darum, eine Ästhetik zu beschreiben, die das Moment der Undarstellbarkeit hervorhebt. Im Folgenden möchte ich eben diesem Undarstellbaren in Wunschloses Ungl ck im Kontext biographietheoretischer Überlegungen nachgehen. Es sollen jene Momente befragt werden, in denen die Sprache aussetzt, in denen der Kohärenz stiftende, konstruktive Akt des Erzählens stockt, in denen ein Leben mit einem Mal unerzählbar wird. Dieser Zustand des Stockens bildet zunächst den Ausgangspunkt der Erzählung. Der Erzähler reagiert auf die Todesnachricht mit „stumpfsinnige[r] Sprachlosigkeit“ (S. 9). Doch nicht bloß sprachliche Leerstellen scheinen einander am Beginn des Textes ab- und auszulösen.67 Die „Sprachlosigkeit“, zunächst scheinbar überwunden, geht in „kopflose[s] Dösen“ über, das wiederum unterbrochen wird von Momenten, in denen der Erzähler „fühllos“ ist, einen „widerstandslose[n]“ Körper besitzt, in denen „schmerzlos“ Zeit vergeht, Zustände, die jedoch nicht kommunizierbar sind, da dadurch alles augenblicklich „gegenstandslos“, „sinnlos“ (S. 10) werde, so heißt es etwa bereits auf den ersten beiden Seiten. Die Zustände der Sprachlosigkeit, die als „Schreckensmomente“, „Unwirklichkeitsgefühle“ (S. 11) bezeichnet werden, werden vom Erzähler dabei selbst als Leerstellen wahrgenommen: „Das Bewußtsein schmerzte, so leer war es darin auf einmal geworden.“ (ebd.) Sie sind in einer paradoxen Bewegung das Movens, das den Erzähler zur Schreibtätigkeit bewegt, die wiederum die genannten Momente im Kohärenz, Geschlossenheit, Ordnung und auch Distanz stiftenden Akt des Erzählens zu überwinden sucht: „Wenn ich schreibe, schreibe ich notwendig von früher, von etwas Ausgestandenem.“ (S. 12) Die Distanznahme durch die Sprache scheint zunächst auch zu gelingen. Gretchen E. Wiesehan dazu: „Wunschloses Ungl ck is marked by distance, even estrangement“.68 Der unpersönliche journalistische Ton der Erzählung „contrasts with the sensational nature of the event described.“69 Der Autor erzählt aus einer Position ferner Allwissenheit, „he affects the tone of a social scientist to describe with authority aspects of his mother’s life 67 Vgl. Nägele: „Peter Handkes ,Wunschloses Unglück‘“. In: Deutsche Romane. Hg. v. Lützeler, S. 395. 68 Gretchen E. Wiesehan: „A Sorrow Too Deep For Words. Peter Handke’s Wunschloses Unglück“. In: dies.: A Dubious Heritage. Questioning Identity in German Autobiographical Novels of the Postwar Generation. New York 1997, S. 39 – 50, hier S. 39. 69 Ebd.

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and family background of which he could have no direct knowledge.“70 Der Erzähler möchte das Leben seiner Mutter „zu einem Fall machen“. (S. 12) Er bezeichnet sich selbst als „Erinnerungs- und Formuliermaschine“ (ebd.). Über das Verhältnis des Erzählers zur Mutter gibt der Text indes kaum Auskunft. Nur in den reflektierenden Passagen wird darüber näher berichtet, jedoch, so Wiesehan, graphisch vom Rest abgesetzt, sodass „these moments […] appear rather to reinforce the readers impression of distance“.71 Die Position des Schreibenden liegt also, so kann man zunächst mit dem Text selbst sagen, „weit weg hinter der Schreibmaschine“. (S. 88) Es gibt in Wunschloses Ungl ck jedoch auch eine Nähe zwischen Erzähler und Mutter, die gerade über die Sprache hergestellt wird. Das Buch gibt, wie bereits erwähnt, nur sehr spärlichen Einblick in das alltägliche Verhältnis des Erzählers zu seiner Mutter. Die wenigen beschriebenen Szenen sind aber gerade jene des gemeinsamen Lesens (S. 58 f.) und des Briefeschreibens. (S. 74 – 76) „[T]hey interact chiefly via the written word, a medium the narrator regards elsewhere as limited and limiting.“72 Auch die sprachliche Verallgemeinerung, die Transzendierung des Mutterlebens hin zur allgemeinen Frauenbiographie, zieht die Erzählung vom unmittelbaren Bezug auf das Mutterleben ab und führt zu einer Distanz, die über sprachliche Abstraktion erreicht wird. Dies geschieht, wie bereits erläutert, wesentlich über die dem Text inhärente Wiederholungsstruktur. Dieser durch die Wiederholung erreichten Abstraktion und Distanzierung steht jedoch eine weitere Wiederholungsstruktur entgegen: das immer wieder versuchte sprachliche Fassen-Wollen des Mutterlebens, das ständige im Schreiben Neu-Ansetzen, Wiederbeginnen. Die beiden primären, die Chronologie des Textes unterlaufenden, Wiederholungsstrukturen, also einerseits das immer sich wiederholende Fassen-Wollen, andererseits das Nichtzulassen eines Erfassens durch die Verallgemeinerung, stehen sich somit diametral gegenüber. Einerseits steht die Wiederholung im Zeichen einer narrativen Suche nach Nähe, andererseits im Zeichen einer über die Sprache erfolgenden Suche nach Distanz. Es kommt zu einem paradoxalen Kreisen um die Mutter. Derrida schreibt zu dieser Figur des Kreisens: „Um etwas zu kreisen bedeutet, davon besessen zu sein, aber auch, ihm auszuweichen; gerade, als könne man sich nicht von 70 Ebd. 71 Vgl. ebd., S. 40. 72 Ebd., S. 47 f.

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dem lösen, was einen verfolgt, und zugleich, als vermeide man es, ihm zu nahe zu kommen.“73 Beide Prozesse – die auch beide sprachliche sind – scheitern. Das Schreiben ist, wie sich der Erzähler eingestehen muss, „nur ein ständiges Gehabe von Erinnerungen in der Form von Sätzen, die ein Abstandnehmen bloß behaupteten“ (S. 84), das Distanznehmen gelingt nicht. Und auch das Fassen-Wollen, das in sich bereits eine paradoxale Bewegung ist, in der sich der Erzähler versucht an jemanden „heranzuschreiben“, um „zu einer abgeklärten Vogelperspektive“ zu kommen (S. 41), misslingt. Die Mutter „bleibt unfaßlich“ (S. 42). Der Erzähler sieht sich den sprachlosen „Schreckzuständen“ ausgesetzt. ,Etwas Unnennbares‘, heißt es oft in Geschichten, oder: ,Etwas Unbeschreibliches‘, und ich halte das meistens für faule Ausreden; doch diese Geschichte hat es nun wirklich mit Namenlosem zu tun, mit sprachlosen Schrecksekunden. Sie handeln von Momenten, in denen das Bewußtsein einen Ruck macht; von Schreckzuständen, so kurz, daß die Sprache für sie immer zu spät kommt; von Traumvorgängen, so gräßlich, daß man sie leibhaftig als Würmer im Bewußtsein erlebt. […] nur eben Zustände, keine runde Geschichte mit einem zu erwartenden, so oder so tröstlichen Ende. (Ebd.)

Wie ist dieses „Namenlose“ nun zu fassen? Warum steht es einer „runden Geschichte“ entgegen? Was lässt die Sprache hier aussetzen? Es ist vielleicht eine andere Passage aus Wunschloses Ungl ck, die hier zunächst weiterhelfen kann. Auch in dieser spricht der Erzähler über jene Zustände, die „sprachlosen Schrecksekunden“. Dort heißt es: „und anders als im interesselosen Wohlgefallen, wo alle Gefühle frei miteinander spielen, bestürmt einen dann zwanghaft das interesselose, objektive Entsetzen.“ (S. 85) Worauf Handke hier zunächst – in einer ästhetischen Perspektive – rekurriert, ist Kants Kritik der Urteilskraft, in der „das Schöne“ definiert wird als das, was „ohne alles Interesse gefällt“. Auch der erste und schließlich verworfene Titel der Erzählung stellt diesen Bezug her: „Interesseloser Überdruss“.74 Kant nun setzt seine Ästhetik des Schönen von einer Ästhetik des Erhabenen ab. Erhaben ist, so Kant, „was schlechthin

73 Jaques Derrida: „Zeugnis, Gabe“. In: J disches Denken in Frankreich. Gespräche. Hg. v. Elisabeth Weber. Frankfurt/M. 1994, S. 63 – 90, hier S. 63 f. 74 Vgl. Hans Höller: „Wort- und Sacherläuterungen“. In: Peter Handke: Wunschloses Ungl ck. Erz hlung. Mit einem Kommentar von Hans Hçller unter Mitarbeit von Franz Stadler. Frankfurt/M. 2003, S. 108 – 130, hier S. 129.

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groß ist“, oder „was über alle Vergleichung groß ist“.75 Das Erhabene bei Kant ist die Unform, das Unbegrenzte, etwas inkommensurabel Großes, das heißt letztlich, etwas Undarstellbares. Eine Ästhetik des Erhabenen kommt dabei zustande aus der „Dialektik von Unlust und Lust angesichts des Undarstellbaren. Bei Kant ist es die Vernunftidee, die die Lust garantiert: Die Einbildungskraft scheitert am natürlichen Chaos, woraus Unlust entsteht. Die Vernunft greift ein und ordnet dieses Chaos gewissermaßen. Erst dadurch entsteht Lust.“76 Es kommt also gerade anlässlich dieser Unordnung zugleich zu einer „absolut große[n] oder mächtige[n] Vernunftidee […]. Diese erlaubt zwar nicht, das Loch zu überwinden, aber sie kommt sozusagen aus der Lichtung dieses Lochs hervor.“77 Was der Erzähler von Wunschloses Ungl ck im zweiten Halbsatz nun der Idee des Interesselosen Wohlgefallens entgegensetzt – das zwanghafte „interesselose, objektive Entsetzen“ – scheint eben jener Dialektik des Erhabenen zu folgen. Das Undarstellbare im Sinne Lyotards ist zunächst als eine ästhetische Forderung oder als ästhetisches Phänomen zu verstehen, das er in seinen Analysen als das charakteristische Moment der Kunst und Literatur der Moderne ausmacht. Es basiert auf einem philosophisch Nicht-Erklärbaren, auf der Unmöglichkeit der Sinnpräsenz, wie ich sie mit Bezug auf Derrida bereits erläutert habe. Oder mit Bezug auf Kants Ästhetik des Erhabenen gesprochen: Es ist das „Unvermögen zur Synthese“.78 In seiner Abhandlung Heidegger und ,die Juden‘, in der Lyotard an seine Überlegungen zu einer Ästhetik des Erhabenen anschließend über die Möglichkeit der Darstellbarkeit der Shoa nachdenkt, weist er die Forderung nach der Undarstellbarkeit auch als eine ethische aus. Eine umfassende Darstellung berge die Gefahr, das Geschehen in einer Repräsentation aufzuheben und zu erklären und diese durch eine vollständige Erinnerung dem Vergessen zu überantworten. Eine Darstellung – gleich ob sie sich auf die Shoa bezieht oder nicht – muss darum immer das Undarstellbare, Unsagbare in sich einschreiben, die eigenen Grenzen aufzeigen und reflektieren. Auch in Wunschloses Ungl ck zeigt sich diese Dimension, die neben das Nicht-Fassen-Können durch die mangelhaften Mittel der Sprache auch ein Nicht-Fassbar-Machen-Wollen stellt: „denn man braucht das Gefühl, 75 Immanuel Kant: Kritik der Urteilskraft. Werkausgabe, Bd. X. Hg. v. Wilhelm Weischedel. Frankfurt/M. 1975, S. 169. 76 Lyotard: „Das Undarstellbare – wider das Vergessen“, S. 320. 77 Ebd., S. 321. 78 Ebd., S. 322.

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daß das, was man gerade erlebt, unverständlich und nicht mitteilbar ist: nur so kommt einem das Entsetzen sinnvoll und wirklich vor.“ (S. 10) Ein verständliches Mitteilbar-Machen würde gleichzeitig die dargestellte Mutter ein für alle Mal abschließen, es würde bedeuten, sie als „Ausgestandenes“ zu vergessen. Die Literatur müsse nun versuchen, so Lyotard, „in der Schrift den Rest, das unvergesslich Vergessene zu bergen“.79 Denn der Sinn des erhabenen Ereignisses ist nicht ermittelbar, alle Erklärungen begründen nichts, sie ereignen sich vielmehr „mit der ganzen Ungeheuerlichkeit dessen, was ohne Grund eintrifft. Etwas, das da ist, und dem es doch nicht gelingt, anzukommen, da zu sein […], weil es nicht in ein Netz von Motiven und Argumenten integrierbar ist; etwas, das nicht diskutiert werden kann und keinen Anlaß zur Diskussion bietet.“80 Kunst und Literatur vermögen jedoch weniger vom Erhabenen Zeugnis abzulegen „als von dieser Aporie, an der sie sich abarbeitet, und dem Schmerz, den sie ihr bereitet. Sie sagt nicht das Unsagbare, sie sagt vielmehr, daß sie es nicht sagen kann.“81 Lyotard fordert „ein Schreiben, das das Unmögliche exponiert und ihm sich aussetzt.“82 Im Schreiben geht es um die „Entfaltung eines Satzes, der eben gerade durch seine Entfaltung zu verstehen gibt, daß er beim Entfalten verfehlt, was er ver-sucht.“83 Diese Ästhetik des Undarstellbaren wird an anderer Stelle auch unmittelbar – wie bei Handke, dessen Erzähler die Zustände „leibhaftig“ erlebt – mit dem Körper in Verbindung gebracht: Ästhetisch sein (im Sinne der ersten Kant’schen Kritik) bedeutet, da zu sein, hier und jetzt, im Zeitraum und dem Zeitraum irgendeiner Sache ausgesetzt zu sein, die einen vor jedem Begriff und selbst vor jeder Vorstellung berührt. Dieses vor entzieht sich offensichtlich der Erkenntnis, da es da ist, bevor man selbst da ist. Es ist wie Geburt und Kindheit, die da sind, bevor man da ist. Dieses zur Frage stehende da heißt Körper.84

Eine Ästhetik des Undarstellbaren basiert also auf einer epistemologischen Notwendigkeit ebenso wie auf einer ästhetischen und ethischen Forderung und nimmt letztlich seinen Ursprung im Körper, der jedoch nicht als 79 Jean-François Lyotard: Heidegger und ,die Juden‘. Hg. v. Peter Engelmann. Wien 1988, S. 38. 80 Jean-François Lyotard: „Vor dem Gesetz, nach dem Gesetz“. In: Weber (Hg.): J disches Denken in Frankreich. Gespr che, S. 175. 81 Lyotard: Heidegger und ,die Juden‘, S. 59. 82 Ebd. 83 Lyotard: „Das Undarstellbare – wider das Vergessen“, S. 324. 84 Lyotard: Kindheitslekt ren, S. 50 f.

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ein zeitliches Davor zu denken ist, sondern „für mein ganzes Leben ein für alle Mal da [bleibt].“85 Ziel des Biographen ist es also, das sprach- und formlose Undarstellbare im Sinne Lyotards zu beschreiben: „Da waren eben kurze Momente der Sprachlosigkeit und das Bedürfnis, sie zu formulieren – die gleichen Anlässe zum Schreiben wie seit jeher.“ (S. 12) Damit gesteht sich der Erzähler einerseits das Scheitern narrativen Verstehens ein, welches das Mutterleben „mit einer religiösen, individualpsychologischen oder soziologischen Traumdeutungstabelle wahrscheinlich mühelos auflösen könnte.“ (S. 12) Er gesteht sich aber auch eine ethische Verantwortung gegenüber der Mutter zu, der er dadurch gerecht wird, dass die Erzählung des Mutterlebens letztlich „unverständlich und nicht mittelbar“ bleibt. Und er gibt sich auch dem ästhetischen Reiz des Undarstellbaren hin, indem das Beschreiben „aus den Angstzuständen […] eine kleine Lust“ produziert und „aus der Schreckens- eine Erinnerungsseligkeit.“ (S. 85) Die beschriebenen Momente der Sprachlosigkeit sind nun auch jene, in denen einerseits eine fragmentierte Körperwahrnehmung stattfindet, andererseits auch eine unmittelbare Nähe des Erzählers zur Mutter und zum Mutterkörper geschieht. Die namenlosen Momente werden in der oben zitierten Passage „leibhaftig“ und „als Würmer“ erlebt. Die Sprachlosigkeit scheint bereits hier mit einer fragmentierten Wahrnehmung des eigenen Körpers zu korrespondieren. Diese findet ihre deutlichste Ausformung in folgender Passage, in der der Erzähler an das Bett der kranken Mutter tritt: Wie in einem Zoo lag da die fleischgewordene animalische Verlassenheit. Es war eine Pein zu sehen, wie schamlos sie sich nach außen gestülpt hatte; alles an ihr war verrenkt, zersplittert, offen, entzündet, eine Gedärmeverschlingung. […] Jetzt drängte sie sich mir leibhaftig auf, sie wurde fleischlich und lebendig. (S. 67)

Wieder ist die Erfahrung des Erzählers „leibhaftig“, wieder drängt sich ihm das Fragmentierte in körperlicher Form auf. Es zeigt sich die Nähe zwischen Mutter und Erzähler, die in den Momenten der leiblichen Zerstückelung auftritt. Um diese besser fassen zu können, möchte ich mich dem Phänomen zunächst von einer anderen Seite her nähern: Über die Theorie des grotesken Körpers, die Michail Bachtin mit Bezug auf das Werk von François Rabelais entwickelt hat. Der groteske Darstellungsmodus von Körper und körperlichem Leben ist jedoch nicht nur in Rabelais Werk zu 85 Ebd.

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finden, sondern war „mehrere Jahrtausende lang maßgebend für Kunst und Literatur.“86 Erst in den letzten 400 Jahren hat sich, so Bachtin, die kleine Insel des „Körperkanon[s] von Kunst, Literatur und ,zivilisierter‘ Rede der Neuzeit“87 entwickelt. Bachtin kontrastiert einen „neuen Körperkanon“, in welchem der „fertige, streng begrenzte, nach außen verschlossene, von außen gezeigte, unvermischte und individuelle ausdrucksvolle Körper“88 konstituiert wird, mit dem grotesken Körper, der „ein werdender“ ist. „Er ist nie fertig und abgeschlossen, er ist immer im Entstehen begriffen und erzeugt selbst stets einen weiteren Körper.“89 Bachtin weiter: „So ignoriert die künstlerische Logik des grotesken Motivs die geschlossene, gleichmäßige und glatte (Ober)Fläche des Körpers und fixiert nur seine Auswölbungen und Öffnungen, das was über die Grenzen des Körpers hinaus-, und das, was in sein Inneres führt.“90 In grotesken Motiven gibt es demnach den geschlossenen Körper des biographischen Subjekts nicht. Nur im neueren Konzept sind „alle Handlungen und Ereignisse […] eingeschlossen in den Zeitraum zwischen Geburt und Tod des individuellen Körpers.“91 Ziel des Erzählers bei Handke ist es stets, die Schreckensmomente, in denen die Sprache aussetzt und in denen eine groteske Nähe und Entgrenzung hin zum Mutterkörper stattfindet, zu überwinden. Mit Bachtin lässt sich sagen, dass der Erzähler versucht, im konfigurativen Akt der Erinnerung und des Erzählens der Mutter einen individuellen Körper, der Träger aller Handlungen und Ereignisse zwischen Geburt und Tod sein kann, zu erschreiben, wie auch sich selbst körperlich zu distanzieren und die eigene Abgeschlossenheit wieder durch einen eben solchen individuellen Körper zu gewährleisten: „Deswegen fingiert man die Ordentlichkeit eines üblichen Lebenslaufsschemas.“ (S. 43) Es sind aber die immer wiederkehrenden Momente der grotesken Entgrenzung und Entäußerung des Mutterkörpers, die dieses Vorhaben verunmöglichen: „Jetzt drängte sie sich mir leibhaftig auf, sie wurde fleischlich und lebendig.“ Die Momente der äußersten Fragmentierung, des grotesken Zerfalls des Mutterkörpers sind also zugleich jene, in denen die Distanz, die der Erzähler über die Sprache aufrechtzuerhalten bemüht 86 Michail Bachtin: Rabelais und seine Welt. Volkskultur als Gegenkultur. Hg. u. mit einem Vorwort versehen von Renate Lachmann. Frankfurt/M. 1987, S. 360. 87 Ebd., S. 361. 88 Ebd. 89 Ebd., S. 358. 90 Ebd., S. 359. 91 Ebd., S. 363.

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ist, aufbricht und in denen es zu einer grotesken Überschreitung und Nähe zwischen Mutter und Erzähler kommt, die sich in Bildern der Verdoppelung, der Verschmelzung und der Identität manifestieren: „Höchstens im Traumleben wird die Geschichte meiner Mutter kurzzeitig faßbar: weil dabei ihre Gefühle so körperlich werden, daß ich diese als Doppelgänger erlebe und mit ihnen identisch bin.“ (S. 42) Die Distanz der Erinnerung kann nicht aufrechterhalten werden, es kommt zu einem „fremdkörperartigen Erinnern“, wie Sigrid Weigel es in Bezug auf die körperlichen Formen der Erinnerung traumatischer Erfahrung nennt. Dieses markiert die Lücke der Erinnerung und verdeckt den Zugang zur Erfahrung.92 Eine Folge des Traumas ist wiederum das unablässige Wiederholen, das der Figur der Verlagerung folgt. In ihrem Buch Erinnerungsr ume schreibt Aleida Assmann von der nicht-narrativen Struktur des Traumas, „das den Körper unmittelbar zur Prägefläche macht und die Erfahrung damit der sprachlichen und deutenden Bearbeitung entzieht. Trauma, das ist die Unmöglichkeit der Narration.“93 Das Trauma verunmöglicht die Distanz, die typisch für Erinnerungen ist. Es kommt zu einer direkten unlösbaren Verbindung der Erfahrung mit der Person. Trauma wird hier als eine körperliche Einschreibung verstanden, die der Überführung in Sprache und Reflexion unzugänglich ist und deshalb nicht den Status von Erinnerungen gewinnen kann. Das für Erinnerungen konstitutive Selbstverhältnis der Distanz […] kommt beim Trauma nicht zustande, das eine Erfahrung kompakt, unlösbar und unlöschbar mit einer Person verbindet.94

Auch in Wunschloses Ungl ck zeigt sich diese „nicht-narrative“ Qualität traumatischen Erinnerns. Die Zustände des Erzählers bleiben für diesen ebenso unfassbar wie körperlich. Die Nähe fällt mit der Sprachlosigkeit unmittelbar zusammen: „aber das sind gerade die schon erwähnten Momente, wo das äußerste Mitteilungsbedürfnis mit der äußersten Sprachlosigkeit zusammentrifft.“ (S. 42 f.) In Handkes Text bilden (Körper-)Fragmentierung, Sprachlosigkeit und die Nähe zwischen Erzähler und Mutter also einen unauflöslichen 92 Vgl. Sigrid Weigel: „Téléscopage im Unbewußten. Zum Verhältnis von Trauma, Geschichtsbegriff und Literatur“. In: Trauma. Zwischen Psychoanalyse und kulturellem Deutungsmuster. Hg. v. Elisabeth Bronfen, Birgit Erdle u. Sigrid Weigel. Köln 1999, S. 51 – 76, insbesondere S. 64 – 69. 93 Aleida Assmann: Erinnerungsr ume. Formen und Wandlungen des kulturellen Ged chtnisses. München 1999, S. 264. 94 Ebd., S. 278.

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Motivkomplex. Zugleich sind es diese Momente, die auch die Bedrohung der Identität beider Figuren verkörpern. Das Undarstellbare, das nun genau in dieser sprachlosen Nähe zum fragmentierten Mutterkörper besteht, führt schließlich zu einem ebenso fragmentierten Text: „nur eben Zustände, keine runde Geschichte mit einem zu erwartenden, so oder so tröstlichen Ende.“ (S. 42) Ausgangs- und Endpunkt des Schreibens ist somit der biographische Körper, der der Körper der Mutter ebenso ist wie der Textkörper.95 Zu Beginn steht die Utopie der Kohärenz, der Einheit des Körpers wie des Textes im Modell einer traditionellen Biographie, am Ende steht der groteske Körper und das Undarstellbare, das genau im Körperlichen liegt. Vor dem Selbstmord der Mutter gibt es noch einen letzten Versuch, den „verrenkten, zersplitterten, offenen, entzündeten“ Körper der Mutter mit Gewalt zu einem individuellen, geschlossenen zu machen. Sie zieht sich eine Menstruationshose, Windeln, zwei weitere Hosen und darüber ein Nachthemd an und bindet sich mit einem Kopftuch das Kinn fest. (S. 79) Der Mutterkörper lebt und stirbt im Körper und Text des Sohnes schließlich weiter. Ein Urmotiv des Grotesken: „wie ich bei angehaltenem Atem vor Grausen von einer Sekunde zur anderen leibhaftig verfaule.“ (S. 84) Die Geburt des textuellen Mutterkörpers und der Tod der Mutter schließen sich in einer grotesken Schleife, in der der Sohn die Mutter gebiert, so wie Tod und Geburt im Leben der Mutter auch bereits durch die zahlreichen Abtreibungen eng verknüpft waren. In den vereinzelten Erinnerungen und Sätzen im Schlussteil von Wunschloses Ungl ck vereinigen sich die Motive des fragmentierten Körpers mit der fragmentierten Form des Textes endgültig. Die Stichworte: Schneiden, Stücke, Speichel, Nasenlöcher, Ohren, Notdurft, Krankenhaus, Hand, Rindenreste, Mund. (S. 86) Diese Schluss(ab)sätze lassen sich mit Roland Barthes schließlich als Biographeme bezeichnen – dem nach Sigrid Weigel „prägnantesten Gegenkonzept zur konventionellen Biographik (Einheit von Lebens- und Textkontinuum).“96 Sie verstreuen sich „wie Asche, die man nach dem Tode in alle Winde streut (der Urne und der Stele als handfeste Gegenstände und Schicksalsträger stehen die Splitter der

95 Die Metapher des Textkörpers entlehne ich aus Roland Barthes: Die Lust am Text. Aus dem Französischen von Traugott König. Frankfurt/M. 1974, S. 24 f. 96 Weigel: Genea-Logik, S. 163.

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Erinnerung gegenüber, die Erosion, die vom vergangenen Leben nur ein paar Furchen übrig lässt).“97 Es lässt sich also mit Barthes feststellen, dass die gegenläufigen Strategien des Erzählers sich auch als konventionell anmutende Biographie-alsGefäß-Struktur und Biographem-Splitter-Struktur beschreiben lassen. Der Biograph muss und will sich letztlich der Undarstellbarkeit, der unendlichen Sinnverschiebung ohne Präsenz, der Fragmentierung und der aufrechtzuerhaltenden schmerzlichen Nähe zur Mutter beugen.

Wunschloses Ungl ck ist eine feministische „Frauenbiographie“98 „What we know of history […] has been largely shaped by careers of famous men“99, schreibt Jean Strouse in einem biographietheoretischen Aufsatz Ende der 70er-Jahre. Der Umstand, dass Biographien lange Zeit Texte von Männern über Männer waren, da nach Ansicht vieler Biographen die Realität von Frauen keinen Stoff für Biographien hergebe,100 veranlasste die feministische Biographik seit den 70er-Jahren dazu, sich zur Aufgabe zu machen, die „Lücken in der traditionellen Biographik zu schließen“.101 Die Biographie als „männliches Genre“, das seine geschlechtliche Prägung „unter dem Mantel der Universalität“102 verbirgt, muss als solches wahrnehmbar gemacht und schließlich revidiert werden. Wunschloses Ungl ck – ein Text, der 1972 entstanden ist – erzählt nun das Leben einer Frau (und gleichzeitig vieler Frauen), ein Sujet das zur Zeit der Entstehung „nicht gerade zu den herausragenden Topoi zählt“.103 Indem Handkes Text diesen Umstand reflektiert und unterläuft, nimmt er in der feministischen Biographik eine herausragende Stellung ein: „Damit leistet Handke einen Beitrag zur noch zu schreibenden (feministischen) Mentalitäts- und Alltagsgeschichte einer weder politisch noch kulturell 97 Roland Barthes: Sade, Fourier, Loyola. Frankfurt/M. 1974, S. 13. 98 Weiss: „Peter Handkes ,Wunschloses Unglück‘“, S. 217. 99 Jean Strouse: „Semiprivate Lives“. In: Studies in Biography. Hg. v. Daniel Aaron. Cambridge 1978, S. 113 – 129, hier S. 113. 100 Ebd., S. 117. 101 Caitríona Ní Dhúill: „Am Beispiel der Brontës. Gender-Entwürfe im biographischen Kontext“. In: Spiegel und Maske. Konstruktionen biographischer Wahrheit. Hg. v. Bernhard Fetz u. Hannes Schweiger. Wien 2006, S. 113 – 127, hier S. 113. 102 Reulecke: „Die Nase der Lady Hester“. In: Biographie als Geschichte. Hg. v. Röckelein, S. 117. 103 Schindler: „Frauengeschichte als Provokation“, S. 51.

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repräsentierten, zugleich aber im deutschen Sprachraum relativ weit verbreiteten Frauenschicht.“104 Wunschloses Ungl ck bietet „Ansätze einer überregionalen Typologie der kleinbürgerlichen katholischen Landfrau“.105 Dass das Erzählen eines Frauenlebens jedoch für den Erzähler einer Legitimation bedarf, macht sich etwa bemerkbar durch die Überschreitung des individuellen Mutterlebens – das für sich allein erzählt eine „Zumutung“ (S. 39) wäre – hin zu einer allgemeinen Frauenbiographie. Entlastet wird das Vorhaben auch dadurch, dass der Text weitgehend als (auto)biographischer Text eines „famous man“, nämlich Peter Handkes, rezipiert wurde und wird. Solche „semiprivate lives“ von „wives, daughters, sisters, mothers, and lovers of people who did do things that made them famous“ – so die bereits erwähnte Jean Strouse – sind nicht selten Objekt biographischer Texte und geben Einblick in die „hidden dramas of ordinary private life“.106 Handkes Text entspricht in vielerlei Hinsicht den Ansprüchen früher feministischer Biographik. Die Forderung, private Erfahrungen von Unterdrückung zu verobjektivieren und als allgemeine und politisch relevante kenntlich zu machen107 sowie jene, eine Rekonstruktion der „realen“ Lebenssituation von Frauen, ihrer Funktion in der Reproduktion und ihrer Abwesenheit in der Kulturproduktion zu leisten,108 werden eingelöst. Die Ansprüche der neueren gendertheoretischen Biographieforschung gehen jedoch darüber hinaus. Als solche wären mit Reulecke folgende zu nennen: die Arbeit an der sprachlichen Form; die Dekonstruktion der männlichen Markierung des Genres; eine der Realität des weiblichen Subjekts angemessene moderne Schreibweise anhand von Techniken wie Polyperspektivität, Diskontinuität, Auflösung von Fabel und Chronologie; eine Aneignung des mit der Konstitution des männlichen bürgerlichen Subjekts parallel gelaufenen und Frauen verweigerten Genres Biographie durch „Momente des Um-Baus und der Ver-Wendung“.109 Doch auch diesen avancierteren Ansprüchen scheint Wunschloses Ungl ck Genüge zu tun. „Handkes Beschreibung der Interdependenzen 104 Stephan K. Schindler: „Der Nationalsozialismus als Bruch mit dem alltäglichen Faschismus: Maria Handkes typisiertes Frauenleben in ,Wunschloses Unglück‘“. In: German Studies Review 1 (1996), S. 41 – 59, Zitat S. 42. 105 Ebd. 106 Strouse: „Semiprivate Lives“, S. 114 f. 107 Reulecke: „Die Nase der Lady Hester“, S. 132. 108 Ebd., S. 117. 109 Ebd., S. 136.

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von Klasse, Geschlecht und Diskurs sowie seine Reflexion über die eigene Begrenztheit, die Subjektivität seiner Mutter darstellen zu können, kommt neueren feministischen Analysen des Begriffs ,gender’ erstaunlich nahe“110, so Stephan K. Schindler. Die Erzählung des Mutterlebens verwehrt sich auch einer Reproduktion weiblicher Rollenklischees. Die Mutter „entzieht sich nämlich der Darstellung in tradierten literarischen Bildern von Weiblichkeit („Schöne Seele“, hysterische Tochter oder archetypische Mutter).“111 Stattdessen zeigt Wunschloses Ungl ck eine idyllelose, in der Häuslichkeit verfangene Frauen- und Mutterrolle. Eine „Frau, als Frau“ (S. 15), das heißt in der gesellschaftlich konstituierten Geschlechterrolle, ist nur in dieser wahrnehmbar und kann sich auch selbst nur in dieser Beschränkung begreifen. Auch indirekt, in durch den Kontext gebrochenen Phrasen, wird die Zuschreibung verdeutlicht: „weil man schließlich nur eine Frau war.“ (S. 56) Die „Frau, als Frau“ fungiert als Produktivkraft durch unentgeltliche Hausarbeit und Reproduktions- und Erziehungstätigkeit in der patriarchalischen Überlebenswirtschaft.112 „VIER WÄNDE, und mit diesen allein.“ (S. 38) Sie gilt als „naturgemäß“ bedürfnislos, (S. 15) reduziert zur Dienstkraft für Kinder und Ehemann: „schon schleppte man sich durch das Zimmer, vom Mann zum Kind, vom Kind zum Mann, von einer Sache zur andern.“ (S. 38) Der Ehemann erscheint dabei als eine Union von „Säugling und Beherrscher (,Vater‘) der Frau: Ernährter und Despot.“113 Das Leben der Mutter ist „ein unendlicher Teufelskreis.“ (S. 76) Und doch ist es nichts als eine „Allerweltsgeschichte.“ (S. 31) In Wunschloses Ungl ck wird also die gesellschaftliche Konstituierung und Festschreibung des Geschlechts problematisiert, insbesondere in Bezug auf die zugrunde liegenden und resultierenden Schreib- und Sprechweisen. Der Text veranschaulicht, wie der weibliche Körper durch Sprache und soziale Ordnung unterworfen und geformt wird. Die Biographie selbst muss jedoch auch als eine der dafür wesentlichen kulturellen Praktiken verstanden werden. Biographien haben Modellfunktion, sie bilden nicht bloß ab, sondern wirken performativ auf Körper und Subjekt, da die „Darstellung von Gender mit dessen Konstruktion zusammen110 111 112 113

Schindler: „Frauengeschichte als Provokation“, S. 53. Ebd., S. 51. Vgl. ebd., S. 55. Schindler: „Der Nationalsozialismus als Bruch mit dem alltäglichen Faschismus“, S. 50.

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fällt.“114 Denn Erzählhaltungen strukturieren „Wahrnehmungsmuster, deren Effekt Subjektpositionen sind.“115 Die Frage liegt also nahe, ob es auch als problematisch bewertet werden könnte, die bestehenden Strukturen der Geschlechterdifferenz schreibend zu wiederholen. Insbesondere die Frage, ob der Erzähler mit seinem Verfahren nicht jene Struktur – den „Formelvorrat für die Biographie eines Frauenlebens“ (S. 40) – erst (mit)erzeugt oder zumindest reproduziert, die er zu kritisieren vorgibt, soll nun gestellt werden. Reulecke beschreibt im Anschluss an Adorno/Horkheimer die Konstitutionsmechanismen, die das (männliche) Subjekt als Effekt von Ausschlussmechanismen Ich-heterogener Momente erzeugen. Die ausgeschlossenen Momente wie Natur, Materie, Körper und Unbewusstes werden als „weiblich“ markiert und auf Frauen projiziert. Ergebnis ist der identische, zweckgerichtete männliche Charakter des Menschen, der unter anderem für das Bildungsromanschema wesentlich ist, welchem wiederum die traditionelle Biographie als „männliches Genre“ verhaftet bleibt. In dieser konstituiert sich das biographische Subjekt durch Abgrenzung von den genannten „weiblich“ konnotierten Bereichen.116 Die Folge davon ist eine bürgerliche und männliche Konzeption von Subjektivität, die genau durch die „phantasmatische Sprache des nach Autonomie strebenden Selbst“117 geprägt ist und die eben auf dem Ausschluss des weiblich Markierten basiert. Für die Mutter aus Wunschloses Ungl ck, die auch einem solchem Modell der Individuation zu folgen sucht, erweist sich dieses als verhängnisvoll und zerstörerisch. Denn jener Ort in der symbolischen Ordnung, dessen Überwindung Selbstbestimmung und Subjektivität verspricht, wird ihr selbst zugeschrieben. Auf den Punkt gebracht bedeutet das, dass die Mutter – zumindest nach dem tradierten Modell bürgerlicher Subjektivität – sich selbst als Anderes überwinden, also abschaffen müsste, um souveränes Subjekt zu sein. Durch den Widerstand und die Ablehnung der ihr in der symbolischen Ordnung zugeschriebenen Rolle begibt sie sich somit in ein ontologisches Vakuum. Subjektivität bedeutet damit Selbstüberwindung, was schließlich in einer logischen Konsequenz zum Selbstmord der Mutter führt. Dieser Prozess wird dem Leser in Wunschloses Ungl ck facettenreich und klar vor Augen geführt. Dies geschieht nicht anhand der Geschichte 114 115 116 117

Ní Dhúill: „Am Beispiel der Brontës“, S. 113. Reulecke: „Die Nase der Lady Hester“, S. 123. Ebd., S. 127. Schindler: „Frauengeschichte als Provokation“, S. 52.

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der Unterwerfung der Mutter, sondern anhand jener des Tödlichen. Dieses ist hierbei erstens das völlig unterworfene entindividualisierte Dasein, die körperliche Ausbeutung, zweitens aber die Unmöglichkeit, der Genderzuschreibung zu entkommen, da die scheinbare Autonomie genau das Weibliche als Anderes voraussetzt, um sich dieses überwindend zu konstituieren. Und dennoch bleibt der Erzähler – wie ich zeigen möchte – letztlich der Sprache und patriarchalischen Ideologie einer symbolischen Ordnung verhaftet, die ebenso das Weibliche als Anderes markiert. Dies trifft einen empfindlichen Punkt feministischer Biographik. Einerseits bemüht sich diese, die „Begrenzungen eines individualistischen, ereignisund leistungsorientierten Modells erzählbarer Subjektivität“ zu befragen und stellt „die körperlichen, emotionalen, häuslichen oder alltäglichen Aspekte des Lebens ihrer biographischen Objekte in den Vordergrund“118, andererseits kommt es gerade dadurch wieder zu einer Festschreibung dieser als weibliche. Die „häuslichen oder alltäglichen Aspekte“ werden in Wunschloses Ungl ck durchwegs kritisch befragt, „die körperlichen, emotionalen“ jedoch finden über Seitenwege wieder unreflektiert Eingang in den biographischen Diskurs des Erzählers. Die Mutter wird in der Wahrnehmung des Erzählers an zahlreichen Stellen direkt oder indirekt über das Animalische, das Naturhafte, das Bewusstlose, das Unfassbare, Dunkle, das Sprachlose und Körperliche identifiziert. Die frühe, jugendliche Wahrnehmung der Mutter wird als naturhafter, unbewusster Zustand beschrieben: „Keine Angst, außer die kreatürliche im Dunklen und im Gewitter; nur Wechsel zwischen Wärme und Kälte, Nässe und Trockenheit, Behaglichkeit und Unbehagen.“ (S. 18) Die Gefühle erscheinen „sehr wetterabhängig“ (S. 19), die Mutter ist unmittelbar determiniert durch die Zyklen der Natur. Auch gegen Ende ihres Lebens etwa nach ihrem heilsamen Aufenthalt in Jugoslawien, in einer Zeit also, in der die Mutter wieder kurz auflebt, erscheint auch die Natur „nicht mehr so dunkel“. „Das Wetter war sonnig und mild. Die Fichtenwälder an den Hügeln ringsherum standen den ganzen Tag über in Dunstschleiern, waren eine Zeitlang nicht mehr so dunkel.“ (S. 73) Im Gegenzug heißt es einige Seiten später, nach neuerlich einsetzenden körperlichen und psychischen Auflösungsprozessen: „Tag und Nacht blieb es neblig.“ (S. 77) Auch Tierhaftes haftet der Mutter in den Augen des Erzählers an. Nicht nur sieht er in ihr – im Zustand zunehmender körperlicher Fragmentierung – die „fleischgewordene animalische Verlassenheit“ (S. 67), es ist auch der „Tierarzt“ und nicht etwa der „Seelenarzt“, der der Vertraute der Mutter 118 Ní Dhúill: „Am Beispiel der Brontës“, S. 115.

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ist. Die Mutter erscheint „fleischlich“ (S. 67), ihr Körper steht meist im Zentrum des erzählerischen Blicks, sie erscheint sprachlos, sie bleibt letztlich „unfaßlich“, die sie zu erreichen suchenden Sätze „stürzen in etwas Dunklem ab“ (S. 42), sie bleibt ein „lebenslanges“ (S. 64) und „einzigartiges Geheimnis“ (S. 84). Das Problematische hierbei ist nun, dass durch die Reproduktion der Formeln die Markierung und Ausgrenzung der Frau als Frau in stereotypen Bildern übernommen und dadurch wieder festgeschrieben wird. Der Erzähler reflektiert den Prozess im Leben der Mutter zwar, er reproduziert diesen jedoch auch, indem er auf eben jene Sprache rekurriert, die diese Situation erzeugt. Die wesentliche Frage, die sich also stellt, ist, ob die Geschichte der Mutter auch ohne Rekurs auf die Formel und das gängige Schema erzählt werden könnte. Könnte der Erzähler das Leben seiner Mutter auch anders schreiben, ohne dieses zu reproduzieren? In einer autoreferentiellen Geste bezeichnet sich der Text selbst als einer, der mimetisch auf die Sprache des Mutterlebens rekurriert: „Sicher: diese Schilderungsform wirkt wie abgeschrieben, übernommen aus anderen Schilderungen; austauschbar […] aber das gerade scheint notwendig; denn so […] waren auch noch immer […] die zu schildernden Begebenheiten.“ (S. 51) Das Zitieren des Schemas scheint also legitimiert. Leistet der Erzähler somit nicht eine Fassbarmachung eines Dilemmas und wäre es nicht unangebracht versöhnlich, es anders darzustellen? Nun darf aber, wie bereits erwähnt, auch der performative Charakter eines biographischen Textes nicht außer Acht gelassen werden. Der Erzähler fühlt sich mit einer „übermächtigen Faktenlage“ konfrontiert und will diese durch den bestehenden „Formelvorrat für die Biographie eines Frauenlebens“ (S. 40) fassen. Das Argument des Erzählers, durch die „abgeschrieben[e], „übernommen[e]“ Sprache, „kurz: 19. Jahrhundert“ die ewig gleichen „zu schildernden Begebenheiten“ (S. 51) am ehesten fassen zu können, verblüfft bei einem Autor, der im Sinne der Moderne konstatiert, dass „eine einmal gefundene Methode, Wirklichkeit zu zeigen, buchstäblich ,mit der Zeit‘ ihre Wirkung verliert“119 und zeigen will, dass es „noch eine Möglichkeit der Darstellung der Wirklichkeit gibt.“120 Nun ist selbstverständlich Handkes Text keiner, der sprachliche Muster unreflektiert übernimmt und reproduziert. Das Neue liegt gerade in der Rekontextualisierung, im Bruch mit dem gängigen Kontext des Zitats, durch 119 Peter Handke: Ich bin ein Bewohner des Elfenbeinturms. Frankfurt/M. 1972, S. 20. 120 Ebd., S. 22.

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welche dieses im veränderten, collagierten, sprachlich verformten und mit Reflexionen versehenen Kontext eine neue Bedeutung erlangt. Und dennoch, so behaupte ich, wird mit einer Sprache und Geschichte versucht, ein Leben zu erklären, die den Pauschalisierungen und Typisierungen, kurz: dem „vor allem bei Frauen üblichen Taxiersystem“ (S. 37), die es kritisiert, verhaftet bleibt. Der Erzähler verfängt sich selbst in „der ideologischen Konstruktion von weiblicher Identität, denn er verfügt über keine Sprache, die sich außerhalb der diskursiven (Re-)Produktion von Geschlechtsidentitäten befindet; ganz zu schweigen von seiner imaginären Verstrickung in das Objekt seines Schreibens: die eigene Mutter.“121 Nun kann man sogar noch einen Schritt weiter gehen und nicht bloß fragen, inwiefern der Erzähler den von ihm kritisierten patriarchalischen symbolischen Strukturen verhaftet bleibt, sondern auch, inwiefern deren Aufrechterhaltung nicht für den (männlichen) Erzähler selbst eine Funktion übernimmt. In welchem Verhältnis steht der Erzähler zum weiblichen Objekt der Biographie? Könnte man als Ziel des Erzählens die Überwindung eben jener Momente des Dunklen, Sprachlosen, Tierhaften und also letztlich eine Stabilisierung der Identität des Erzählers ausmachen? Der Erzähler spricht selbst vom therapeutischen Nutzen seines Erzählvorhabens (S. 9), vom Beschriebenen, das im Vorgang des Beschriebenwerdens „etwas Ausgestandene[s]“ wird, es geht dem Erzähler um ein „Distanznehmen“ (S. 41), um die Überwindung der ihn auch in seiner Körperlichkeit bedrohenden „Schreckzustände“ (S. 42). Schließlich „bedeutet die (Re)Konstruktion eines fremden Lebenslaufs für das schreibende Subjekt […] den Entwurf und die Festigung eigener Identität.“122 Oder anders gefragt: Ist die Biographie auch als ein Herrschaftsdiskurs begreifbar? Denn das Erzählbare ist das Beherrschbare und Deutbare. Letztlich handelt es sich um eine Frage der Repräsentation: Es wird einer Gruppe eine Stimme verliehen, die selbst keine hat, deren Sprachlosigkeit, beziehungsweise Unvermögen zum persönlichen Ausdruck zumindest behauptet wird: den Frauen. Der männliche Erzähler hingegen verfügt über Sprache, wenngleich diese ihm immer zu entgleiten droht und eine Stabilisierung der Identität des Erzählers letztlich missglückt.

121 Schindler: „Frauengeschichte als Provokation“, S. 52. 122 Ebd., S. 122.

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Der Autor geschlossener Text-Kosmologien ist nach Roland Barthes als „Demiurg, Gott oder Rezitator“ zu begreifen.123 Das Werk des Autors als Gott wiederum ist ein Akt männlicher Schöpfung, eine geistige Schöpfung und damit eine Negation der Weiblichkeit, so führt Sigrid Weigel Barthes Überlegungen fort. Die biologische Schöpfung wird somit durch eine geistige ersetzt und überwunden.124 Regina Kreyenberg und Gudrun Lipjes-Türr sehen in der Begräbnisszene, in welcher der Erzähler durch die Betrachtung der „unbarmherzigen“ Natur (S. 83) in „ohnmächtige Wut“ gerät und das Bedürfnis in ihm aufsteigt, etwas über seine Mutter zu schreiben, eine ähnliche Disposition am Werk: „indem er der so wahrgenommenen Schöpfung seine geistige Gegenschöpfung entgegenzustellen plant […] will er der Individualität der Mutter – wie der eigenen – zu einem Überdauern verhelfen.“125 Die Biographie der Mutter wäre demnach noch einmal eine Geburt der Mutter durch den Sohn, eine groteske Inversion, die dem Wunsch entspringt, die eigene Identität und auch die der Mutter neu zu konstituieren. Ein unmögliches Vorhaben, das selbst wiederum in die Sprachlosigkeit führt oder aber in die endlose Wiederholung und Verlagerung des unterwerfenden wie subjektivierenden Erzählens. Wunschloses Ungl ck ist „nicht die Geschichte meiner Mutter“126 Handkes Text wurde nicht nur als Biographie rezipiert, sondern ebenso als „verhüllte Autobiographie“.127 Wunschloses Ungl ck „erscheint in gleichem Maße als die Lebensgeschichte Handkes“.128 Der Text befasst sich hintergründig mit der „Aufarbeitung der eigenen Vergangenheit in

123 Vgl. Reulecke: „Die Nase der Lady Hester“, S. 128. 124 Vgl. ebd. 125 Kreyenberg u. Lipjes-Türr: „Peter Handke“. In: Erz hlen, Erinnern. Hg. v. Kaiser u. Köpf, S. 143. 126 Peter Handke: Aber ich lebe nur von den Zwischenr umen. Ein Gespr ch gef hrt von Herbert Gamper. Frankfurt/M. 1990, S. 225. 127 Ursula Love: „,Als sei ich … ihr GESCHUNDENES HERZ‘: Identifizierung und negative Kreativität in Peter Handkes Erzählung ,Wunschloses Unglück‘“. In: Seminar. A Journal of Germanic Studies 17/2 (1981), S. 130 – 146, hier S. 142. 128 Petra Perry: „Peter Handkes ,Wunschloses Unglück‘ als Kritik der Biographie: Geschichte und Geschichten“. In: Orbis Litterarum 39 (1984), S. 160 – 168, hier S. 166.

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Kindheit und Jugend“129 des Autors, ist demnach „ebenso die Geschichte der Mutter wie eine Autobiographie“130 oder zumindest die „Darstellung eines Lebenslaufs mit autobiographischem Einschlag“.131 Diese Interpretation wird gestützt durch allgemeine poetologische Kommentare des Autors wie in folgender Passage aus Ich bin ein Bewohner des Elfenbeinturms: „Ich habe keine Themen, über die ich schreiben möchte, ich habe nur ein Thema: über mich selbst klar, klarer zu werden, mich kennenzulernen […], damit ich mich mit anderen besser verständigen und mit ihnen besser umgehen kann.“132 Doch auch explizit zu Wunschloses Ungl ck nimmt Peter Handke Stellung und argumentiert noch vehementer für eine von der Mutter absehende Lesart als in obiger Passage: Sie müssen auch bedenken – das hat ja noch niemand, obschon es eigentlich so auf der Hand liegend ist, gesehen, daß das ja gar nicht die Geschichte meiner Mutter ist […]. Ich konnte das alles ja gar nicht wissen, es ist ja meine eigene Geschichte Wunschloses Ungl ck. Sonst hätte ichs auch gar nicht erzählen können. […] Ich weiß doch gar nichts von meiner Mutter, ich hab so ein bißchen Instinkt und Ahnung. […] Alles gegen Schluß auch, das ist doch alles erfunden oder übertragen auf die Mutter, was genausogut ich sein könnte.133

„Es ist ja meine eigene Geschichte“, sagt der Autor, und das verführt – „bei aller methodischer Fragwürdigkeit autobiographischer Leseanleitungen“134 – ebenso zu einer autobiographischen wie auch zu einer solchen Lesart, die den Text als fiktiven begreift, in der der Autor sich „auf die Mutter [überträgt].“ Man bemerkt, dass der gesamte Themenkomplex sich in methodisch unhaltbaren Spekulationen verliert. Ich plädiere darum für eine Lesart, die nicht die Opposition von (auto)biographischer Fiktion und Authentizität eröffnet, sondern deren Interaktion in der Komposition des Textes begreift. Die wesentliche Frage, die sich zunächst stellt, ist nicht: Ist der Erzähler authentisch oder fiktiv? Sondern: Wie bewerkstelligt es der Text, eine derart authentisch wirkende Erzählerfigur zu etablieren, die den Text auch gegenüber einer autobiographischen Lektüre öffnet? 129 Kreyenberg u. Lipjes-Türr: „Peter Handke“. In: Erz hlen, Erinnern. Hg. v. Kaiser u. Köpf, S. 125. 130 Jerry. A. Varsava: „Auto-Bio-Graphy as Metafiction: Peter Handke’s A Sorrow beyond Dreams“. In: Clio (1985), S. 119 – 135, hier S. 130. 131 Weiss: „Peter Handkes ,Wunschloses Unglück‘“. In: ders.: Ann herungen, S. 217. 132 Handke: Ich bin ein Bewohner des Elfenbeinturms, S. 26. 133 Handke: Aber ich lebe nur von den Zwischenr umen, S. 225. 134 Schindler: „Frauengeschichte als Provokation“, S. 47.

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Zunächst finden sich im Text selbst Stellen, die eine Verantwortung des Erzählers gegenüber einer außertextuellen Wirklichkeit und Wahrheit suggerieren. Etwa wenn der Erzähler sich danach sehnt, „bald wieder etwas zu schreiben, wobei ich auch ein bißchen lügen und mich verstellen könnte, zum Beispiel ein Theaterstück.“ Darüber hinaus zitiert der Text Dokumente, die auf eine außerfiktionale Wirklichkeit zu verweisen scheinen. Bereits der Ausgangspunkt des Textes ist die Todesanzeige der Mutter aus der „Kärntner ,Volkszeitung‘“.135 (S. 9) Auch die „originalen“136 Brief-Zitate der Mutter vermitteln das Bild einer glaubwürdigen (auto)biographischen Darstellung. Dass jedoch eine bloße Aneinanderreihung von Dokumenten noch keine Darstellung von Wirklichkeit ist, wenn nicht eine gewisse logische oder ästhetische, das heißt fiktive Kohärenz, die die Elemente verbindet, und die anhand topologischer Strategien erzeugt wird, hinzukommt, ist mit Bezug auf Hayden White an dieser Stelle bereits vorausgesetzt. Eine Besonderheit von Wunschloses Ungl ck als biographischem Text besteht nun jedoch darin, dass trotz einiger vom Autor verwendeter Dokumente das Archivwissen, das diesem bezüglich seines biographischen Objekts zur Verfügung steht, ein noch über das gewöhnliche Maß hinausgehend limitiertes ist. Da, was für eine Biographie ebenso außergewöhnlich ist, eine verwandtschaftliche Beziehung zwischen dem Biographen und der Biographierten besteht, dieser demnach auch auf das – nach Aleida und Jan Assmann – „kommunikative Gedächtnis“ zurückgreifen kann, kommt der Erinnerung eine wesentlich bedeutendere Rolle zu, was den Text in unmittelbare Nähe zur Autobiographie rückt. „Natürlich ist das Beschreiben ein bloßer Erinnerungsvorgang“ (S. 85), schreibt der Erzähler. Die Autobiographie ist durch ihr Rekurrieren auf die persönliche Erinnerung „jeder Überprüfbarkeit enthoben“.137 Nun ist Erinnerung immer ein konstruktiver Prozess: „Authentische Erinnerung gibt es nicht. […] Es gibt sie nur als Verfremdung des tatsächlichen Ereignisses, als Schmerz, als einen durchlebten Bruch, als fortwirkende Störung eines Diskurses, der vermeint, der Vergangenheit habhaft zu werden.“138 Erinnerung ist kein mimetischer, vielmehr ein rekonstruktiver Prozess, ein sprachlicher Akt, der von der 135 Die Meldung findet sich tatsächlich in nur geringfügig anderer Form in der Ausgabe der VZ (Volkszeitung) K rnten-Osttirol vom Sonntag, dem 21. November 1971. Vgl. Hans Höller: „Wort- und Sacherläuterungen“, S. 109. 136 Vgl. ebd., S. 127. 137 Weigel: Genea-Logik, S. 168. 138 Hanno Loewy u. Bernhard Moltmann: Erlebnis-Ged chtnis-Sinn. Authentische und konstruierte Erinnerung. Frankfurt/M. 1996, S 7.

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jeweiligen Gegenwartsdeutung geprägt ist und fiktionale wie historische Elemente mit einbezieht. Dass auch Erinnerungen in Form einer Autobiographie einen Wahrheitsanspruch haben oder zumindest den Schein von Wahrheit vermitteln können, führt der französische Theoretiker Philippe Lejeune – durchaus umstritten – auf den sogenannten „autobiographischen Pakt“139 zurück, den der Verfasser einer Autobiographie mit dem Leser schließt. Der autobiographische Pakt garantiert die nominale Identität von Autor, Erzähler und Protagonist und den Willen des Autors, die Wahrheit zu erzählen. Als Authentizitätskriterium fungiert die „Signatur“, das heißt der Eigenname des Autors. Der autobiographische Pakt basiert also letztlich auf der Akzeptanz der Autobiographie durch den Leser, nicht im Sinne historischer Exaktheit, sondern im Sinne der Anerkennung des aufrichtigen Bemühens des Autors. Wenngleich dieser Ansatz fragwürdig einem traditionell-idealistischen Modell folgt, da er eine homogene fass- und darstellbare außertextuelle Realität voraussetzt, so gibt er dennoch die Möglichkeit zu verstehen, wie die Etablierung eines authentisch wirkenden Erzählers bewerkstelligt werden kann. Das redliche Bemühen um eine etwaige wahrhaftige Darstellung ist dem Erzähler in Wunschloses Ungl ck jedenfalls nicht abzusprechen. Er gibt zumindest an „mehr zu wissen“ über den Selbstmord seiner Mutter als „irgend ein fremder Interviewer“ (S. 12), wenngleich gerade die nominale Identität in Wunschloses Ungl ck nicht gegeben ist, da weder der Name des Autors Handke noch der der Mutter oder irgendeiner anderen Person im Text genannt werden. Ein weiterer Aspekt, der dem biographischen Text den Anschein der Authentizität verleiht, ist der Umstand, dass er selbst Teil eines textuellen Gefüges ist, das Annahmen, Erwartungen über den Text und Deutungen desselben verlautbart. Anders gesagt: Der mediale Paratext ist ebenso für die Rezeption als „authentischer Text“ verantwortlich. Immerhin hat etwa das von der Verlagswerbung angekündigte Sujet – das im Selbstmord endende Leben der Mutter – vor Erscheinen des Buches derart großes Interesse an der „biographische[n] Realität“ geweckt, dass die Startauflage von 30.000 Stück bereits vergriffen war, bevor das Buch auf den Markt kam.140 Und auch die ambivalente mediale Rezeption des Werkes las Wunschloses Ungl ck in den meisten Fällen als biographischen oder auch 139 Vgl. Philippe Lejeune: „Der autobiographische Pakt“. In: ders.: Der autobiographische Pakt. Frankfurt/M. 1994, S. 13 – 51. 140 Vgl. Höller: „Wort- und Sacherläuterungen“, S. 79.

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autobiographischen Text, der an die ,Realien des Lebens‘ anknüpft.141 Dass die literaturwissenschaftliche Rezeption das ebenso getan hat und tut, hat sich bereits gezeigt. Ich möchte nun von der Frage nach der (narrativ konstituierten) Authentizität des Erzählers Abstand nehmen und mich einer anderen Frage zuwenden: Inwiefern ist Wunschloses Ungl ck nun die Geschichte des Erzählers und nicht jene der Mutter. Rainer Nägele dazu: „Handke [Hervorhebung d. Verf.] schreibt sich mehrfach in den Text ein: als schreibendes Subjekt, das sich beim Schreiben zusieht und darüber schreibt (das schreibend-geschriebene Subjekt) und als Subjekt und Teil in der Geschichte der Mutter.“142 Nägele merkt an, dass eine augenfällige Diskrepanz besteht zwischen der deutlichen Präsenz des „schreibend-geschriebenen Subjekts“ und einer höchst spärlichen des geschriebenen Subjekts, also des Sohnes im Kontext des Mutterlebens. Die die Biographie der Mutter umrahmende wie mehrmals unterbrechende Erzählung, in der Protagonist und Erzähler in eins fallen, trägt deutlich autobiographische Züge. Während diese Passagen wie auch die Reflexionen des Erzählers, die einen fragmentarischen Einblick in das Leben des Erzählers geben, einen nicht geringen Teil des Buches einnehmen, bleibt der Sohn als handelnde und wahrnehmende Figur in seiner Beziehung zur Mutter bis auf einige Passagen ausgespart. Es wird zunächst nur beiläufig angemerkt, dass die Mutter sich „in andere Umstände gebracht“ (S. 26) findet. Bereits zwei Seiten weiter heißt es: „Mit dem Kind fuhr sie nach Berlin zu den Eltern ihres Mannes.“ (S. 28) Nicht nur die Geburt des Erzählers bleibt ausgespart, dieser führt sich – noch dazu anonym – als „Kind“ in die Erzählung des Mutterlebens ein. Zwischen den beiden zitierten Bemerkungen befindet sich eine von der Erzählung des Mutterlebens losgelöste autobiographische Passage, die als einzige den Hinweis darauf gibt, dass es sich um den Erzähler handelt, der hier geboren wurde: „Nach der Matura sah ich meinen Vater zum ersten Mal.“ Es wird in der Folge kurz von dem Treffen mit dem Vater und einer gemeinsamen Urlaubsreise berichtet. Auch im weiteren Verlauf des Textes spricht der Erzähler von sich als „Kind“ (S. 29), später sogar subsumiert im anonymen Kollektivum „die Kinder“ (etwa S. 50), dann wieder herausgelöst als der „inzwischen studierende Sohn“ (S. 55). Und doch mischen sich vereinzelt persönlich markierte Erinnerungen in die Beschreibungen des Alltags: „Kindheitserinnerungen: das frische Brot, das er manchmal 141 Vgl. ebd., S. 91. 142 Nägele: „Peter Handkes ,Wunschloses Unglück‘“, S. 398.

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nach Hause brachte, die schwarzen fettigen Pumpernickel, um die herum das düstere Zimmer aufblühte, die lobenden Worte der Mutter. In diesen Erinnerungen gibt es überhaupt mehr Sachen als Menschen […] und von den Menschen nur Einzelteile.“ (S. 32) Einige Seiten weiter dann das erinnerte Leid der Mutter: „Ein lächerliches Schluchzen in der Toilette aus meiner Kinderzeit her, ein Schneuzen, rote Hasenaugen.“ (S. 39) In nicht systematisierbaren fragmentarischen Splittern tritt der Erzähler als selbst Wahrnehmender in Erscheinung: „War das dann ein Fest! würde ich schreiben, wenn das meine eigene Geschichte wäre“ (S. 49), schreibt der Erzähler, was indirekt sagt, dass es in derart gebrochener Form tatsächlich seine Geschichte ist. Noch auf der gleichen Seite erzählt er in erster Person über ein Detail seiner Kinderzeit: „ich war aufrichtig dankbar zum Beispiel für die notwendigsten Schulsachen, legte sie wie Geschenke neben das Bett.“ (ebd.) Einige wenige Passagen geben auch über die Nähe zwischen Mutter und Sohn Auskunft. Zunächst die Briefe der Mutter (S. 74 – 76) – die Briefe des Sohnes sind wiederum ausgespart – die indirekt in das Verhältnis Einblick geben. Ein als Ich auftretender Erzähler erscheint in der Passage, die von der gemeinsamen Lektüre berichtet: „Sie las mit mir mit, zuerst Fallada, Knut Hamsun, Dostojekwski, Maxim Gorki, dann Thomas Wolfe und William Faulkner.“ (S. 58) Durch den Kontakt mit der Literatur lernt die Mutter, so der Erzähler, „von sich zu reden […] So erfuhr ich allmählich etwas von ihr.“ (S. 59) Letztlich bleibt der Erzähler in allen zitierten Beispielen nur reduziert wahrnehmbar, schemenhaft. Eine Passage sticht jedoch hervor, in welcher der Erzähler selbst als wahrnehmende Figur greifbar wird. In ihr tritt dieser an das Bett der kranken Mutter, nimmt sie wahr als „verrenkt, zersplittert, offen, entzündet, eine Gedärmeverschlingung.“ Der Mutterkörper wird hier nicht realistisch wahrgenommen, es kommt vielmehr zu einer sehr subjektiven phantasmatischen Lektüre des Körpers,143 die sich sogar auf den Körper des Erzählers überträgt. Es kommt zu der bereits beschriebenen Entgrenzung des Mutterkörpers, zu einer Verschmelzung und Verdoppelung, die eine klare Unterscheidbarkeit von Erzähler und Mutter verunmöglicht. In einem Interview erzählt Peter Handke von dem „Schreckens-, noch besser gesagt Schaudermoment des sich selber Erlebens“ im „Erleben des Doppelgängers“144, den er in seiner Literatur zu fassen suche. Ohne hier Er143 Vgl. ebd. 144 „Das sind Sachen, die mich zum Schreiben bringen“. Peter Handke im Gespräch mit Ulrich Kurtz. In: Das Goetheanum 67 (1988) H. 4., S. 21 – 25, hier S. 22.

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zähler und Autor gleichsetzen zu wollen, ließe sich das eingangs aufgeworfene Problem der Unentscheidbarkeit zwischen Biographie und Autobiographie, zwischen „Geschichte der Mutter“ und „das ist ja meine Geschichte“ nun mit Bezug auf diese imaginäre Verstrickung lösen. Der autoreferentielle Kommentar des Erzählers, nach welchem er „nur der Beschreibende“ ist, „nicht aber auch die Rolle des Beschriebenen annehmen kann“ (S. 41), scheint in jedem Fall fragwürdig. Nägele formuliert den Identitätskonflikt des Erzählers sehr plastisch, was sich hier jedoch bereits als nachträglich durch die Rezeption konstruierte inzestuöse Phantasie ausnimmt: „Je mehr die Mutter im Leben, im Tod und schließlich im Text ,sich‘ nach außen stülpt, desto mehr stülpt der Schreibende sich in sie, ihren Körper und in das ihn repräsentierende Corpus des Textes.“145 Das Begehren nach dem Begehren der Mutter ist jedoch in manchen Passagen des Textes durchaus fassbar. In diesen wird der Versuch des Erzählers deutlich, sich in einer von der Mutter distanzierten und doch durch den Blick der Mutter konstituierten Position darzustellen. So gibt es mehrere Stellen, die den Sohn gegenüber dem Stiefvater in eine privilegierte Position rücken. Heißt es zunächst: „Den Ehemann vergaß sie, sie drückte das Kind an sich“ (S. 29), so ist bald darauf vom „nicht ansprechbare[n] Ehemann“ und den „noch nicht ansprechbare[n] Kinder[n]“ (S. 33) die Rede sowie von der Verachtung gegenüber dem Ehemann, vom Wunsch der Mutter, zu jemandem „hinaufschauen [zu] können“ (S. 60). Dies sind nun Wendungen, „in welchen der Erzähler seine spätere privilegierte Stelle vorwegnimmt.“146 In besonderer Weise zeigt sich das in dem Kommentar des Erzählers, seine Mutter sei „selbstbewußt bei dem Gedanken, daß sie ihm [dem Ehemann] ein lebenslanges Geheimnis blieb“ (S. 61). Während sich also das Selbstbewusstsein der Mutter scheinbar anhand der eigenen Unerreichbarkeit gegenüber dem Ehemann konstituiert, so konstituiert sich das Selbstbewusstsein der Erzählers gerade anhand der Erreichbarkeit der Mutter. Dieser beschreibt eine Szene nach dem Begräbnis der Mutter, in welcher er im Haus „die Treppe hinauf[geht]“, „ein paar Stufen mit einem Satz“ überspringt, kichert, läuft, sich „übermütig die Faust auf die Brust“ schlägt, sich umarmt und schließlich, „langsam, selbstbewußt, wie jemand mit einem einzigartigen Geheimnis [Hervorhebung P.W.]“ (S. 84) die Treppe wieder hinuntergeht. 145 Nägele: „Peter Handkes ,Wunschloses Unglück‘“, S. 398. 146 Höller: „Wort- und Sacherläuterungen“. In: Handke: Wunschloses Ungl ck, S. 84.

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Während Wunschloses Ungl ck auf diese Weise tatsächlich als eine Geschichte des Erzählers im Sinne eines Konflikts oder der Subjektkonstitution desselben lesbar wird, so wird der Text von manchen Seiten der literaturwissenschaftlichen Rezeption auf andere Weise zu einer Geschichte des Erzählers: Nämlich zu einer, die im Dienste eines AutorMythos steht. Wunschloses Ungl ck wird zur Informationsquelle für eine Künstlerbiographie. So schreibt etwa Hans Höller: „Von der Geschichte des Sohnes ist in Wunschloses Ungl ck tatsächlich kaum die Rede. Und dennoch kann man indirekt an der Geschichte der Mutter ablesen, von wo der Autor-Erzähler herkam und wie er wurde, was er ist.“147 Als „Autor-Erzähler“, also als Union, die direkte Informationen über den Autor Peter Handke geben kann, wird der Erzähler auch in weiterer Folge von Höller und anderen begriffen. So heißt es etwa: In Wunschloses Ungl ck „erfahren wir, dass Peter Handke [Hervorhebung P.W.] das uneheliche Kind eines im Zweiten Weltkrieg in Kärnten stationierten deutschen Soldaten ist.“148 Der Erzähler wird nicht nur mit Handke identifiziert, er wird auch zu einem geradezu omnipotenten männlichen Erzähler stilisiert, der als „literarische[r] Erbe und Anwalt der Mutter“149 dargestellt wird, indem Handkes Schreiben „zu einer Art Fortsetzung ihrer abgebrochenen Emanzipation“ wird, er „gleichsam ihr Testament [vollstreckt]“.150 Die sprachlose Mutter findet somit „in der Sprache des Sohnes ihre Identität“.151 Der einmalige Held und Erzähler Handke sieht sich zu der „Erfüllung eines Auftrags“152 berufen und er nimmt „den Auftrag an, die animalisch Verstummte in Sprache zu kleiden“.153 Dies nimmt dann teilweise groteske Formen an, wenn es etwa – womöglich noch ironisch – zu einer Verknüpfung mit religiös-patriarchalischer Macht und Autorität kommt: „Es gab ihr ein Gott dann, um das Goethegedicht abzuwandeln, den Sohn, um ,zu schreiben, was ich fühle‘.“154 Dies wird jedoch spätestens an jenen Stellen unhaltbar, in denen es in eine Inszenierung des Autors als Psychoanalytiker mündet: „Der Sohn ist hier durchaus in der Rolle des Analytikers, der im Erfühlen des Schmerzes dem Patienten vorausgehen 147 148 149 150 151 152 153 154

Ebd. S. 81. Ebd. Weiss: „Peter Handkes ,Wunschloses Unglück‘“, S. 223. Ebd., S. 220. Moser: Romane als Krankengeschichten, S. 156. Ebd., S. 160. Ebd., S. 163. Ebd., S. 164.

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muß, der ihm die mögliche Dimension des ersehnten und gefürchteten Selbstseins erst aufzeigt und die Wege dorthin durch identifikatorisches Vorausgehen öffnet.“155 Hans Höller hingegen sorgt sich um die Sozialisation des Schriftstellers Handke: „Für Kindheit und Jugend des Schriftstellers bedeutete das alles andere als kontinuierliche familiäre und sprachliche Sozialisationsverhältnisse: Der norddeutsche Vater und der mehrjährige Aufenthalt der Familie in der Großstadt Berlin ergaben ein gebrochenes Verhältnis zum Kärntner Dialekt.“156 Dennoch verläuft sie erfolgreich. Wie dem Held eines Bildungsromans gelingt es Handke schließlich, sich von der Mutter zu befreien und Künstler zu werden, da sowohl „die Verbundenheit als auch die notwendige Trennung von der Mutter Voraussetzung dafür sind, selber auf befreiende Weise zu [einem] Hervorzubringenden – zu[m] Autor – zu werden.“157 In diesem Sinn interpretiert Höller auch die Passage auf der Treppe: „Nun, nach dem Tod der Mutter, stellt sich ein neues Selbstbewusstsein ein, Dankbarkeit, am Leben zu sein, höchstes AutorBewußtsein – ,einzigartige[s] Geheimnis‘ – vermittelt mit ,ersten‘ kindheitlichen Regungen des Ich.“158 Während die Rezeption ihre eigenen Wege geht, verwehrt es sich der Erzähler in Wunschloses Ungl ck letztendlich, sich selbst über den Prozess des Erzählens und den Ausschluss weiblich markierter Bereiche als sprachmächtiges und abgeschlossenes Subjekt zu inszenieren. Stattdessen hält der Erzähler die Wunde offen, gesteht sich seine imaginäre Verstrickung in Leben und Körper der Mutter ein, lässt die Sprache der aus den Angstträumen kommenden Fragmentierung folgen und versucht somit nicht, die Mutter ein für alle Mal zu beschreiben, das heißt abzuschreiben und dem Vergessen zu überlassen. Das „literarische Klischee“ der Literatur als Psychotherapie wird in Wunschloses Ungl ck verkehrt. Das Schreiben führt zu einem „intensivierten Bewußtsein der schmerzhaften Realität“.159

155 156 157 158 159

Ebd. Höller: „Wort- und Sacherläuterungen“, S 82. Ebd., S. 85. Ebd. Love: „,Als sei ich … ihr GESCHUNDENES HERZ‘“, S. 130.

Die Grenzen des biographischen Körpers

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Postmoderne

Die montierte Biographie Alexander Kluges Lebensl ufe als Modell ,offener‘ Biographik

Tobias Heinrich Bei Alexander Kluges Lebensl ufen handelt es sich nicht um Biographien im traditionellen Sinn. Die „Erzählungen“ – so das knappe Vorwort – beruhen teils auf wahren Begebenheiten, teils sind sie aber auch reine Fiktion – bloß „erfunden“.1 Die einzelnen Geschichten folgen auch nicht dem narrativen Muster der romanhaften Biographien des 19. Jahrhunderts, die ihre biographischen Objekte von der Wiege zur Bahre begleiten. Vielmehr behandeln Kluges Lebensl ufe nur Ausschnitte aus dem Leben ihrer Protagonisten: meist einige Jahre, manchmal auch nur wenige Tage. Dennoch stellen die Lebensl ufe eine der avanciertesten Formen der Auseinandersetzung mit dem biographischen Diskurs und insofern eine Ausnahmeerscheinung der deutschen Nachkriegsliteratur dar. In neun Erzählungen setzt sich Kluge mit der deutschen Geschichte auseinander. Sein Fokus liegt auf der Zeit des Nationalsozialismus und den Kontinuitäten, die die Nachkriegsgesellschaft Deutschlands zur Zeit der Abfassung der Lebensl ufe – 1962 – mit ihrer totalitären Vergangenheit verbinden. Kluge untersucht in den Lebensl ufen gesellschaftliche Strukturen und politische Prozesse anhand individueller Lebensgeschichten. Die Auseinandersetzung mit der Vergangenheit vollzieht sich in den Lebensl ufen durch einen ,biographischen‘ Blick auf die Verfasstheit der deutschen Gegenwart. Es geht um das Weiterwirken der Vergangenheit innerhalb subjektiver Lebenszusammenhänge. Kluge legt seinen Erzählungen damit ein spezifisches Konzept ,offener‘ Biographik zugrunde, das sich von traditionellen, ,geschlossenen‘ Biographiekonzepten unterscheidet, die sich auf die Einheit und den inhärenten Zusammenhang des Einzellebens im Sinne einer übergeordneten Idee, die dieses Leben ordnet, berufen. Demgegenüber widersetzt sich das Konzept Kluges einer vereinheitlichenden Struktur des Subjektbegriffs. 1

Alexander Kluge: „Lebensläufe“. In: ders.: Chronik der Gef hle, Bd. 2: Lebensläufe. Frankfurt/M. 2000, S. 677 – 825, hier S. 675. Zitate aus dieser Quelle werden im Fließtext durch Angabe der Seitenzahl ausgewiesen.

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Vielmehr lässt er die Inkohärenz und Gebrochenheit von Lebenszusammenhängen deutlich werden und stellt deren Erzählbarkeit im Sinne einer zusammenhängenden Narration per se in Frage. Eine frühe Kritik des Konzepts ,geschlossener‘ Biographien artikuliert im deutschen Sprachraum Siegfried Kracauer, indem er auf die stabilisierende Funktion der literarischen Gattung ,Biographie‘ für das Selbstverständnis der bürgerlichen Klasse hinweist.2 Gerade durch die Krise, in die das traditionelle Individualitätskonzept des 19. Jahrhunderts nach dem Ersten Weltkrieg gekommen war, bestand für Kracauer die „Neigung zur biographischen Darstellung“3. Die veränderten Problemstellungen, denen sich der Mensch im 20. Jahrhundert gegenüber gestellt sieht, schlagen sich laut Kracauer zwar in den avancierten Formen fiktiver Prosa nieder, nicht aber in biographischer Literatur. Ganz im Gegenteil, hier, so Kracauer, manifestiere sich der Versuch, überkommene Vorstellungen aufrechterhalten zu wollen. Die aufkeimende Auseinandersetzung um die Grundlagen biographischen Schreibens wurde im deutschen Sprachraum zu Beginn der 30er Jahre durch die Machtübernahme der Nationalsozialisten jäh unterbrochen. Bis in die Nachkriegszeit orientierte sich die deutschsprachige Biographik damit weiter an Paradigmen der ,geschlossenen‘ Lebenserzählung und der ,großen‘ Persönlichkeiten. Erst die Auseinandersetzung mit wissenschaftstheoretischen Positionen aus dem französischen und angelsächsischen Raum, sowie die Fortsetzung des Projekts der Kritischen Theorie im Umkreis der Frankfurter Schule führte auch in Deutschland zum Paradigmenwechsel im biographischen Diskurs. Ein ,offener‘ biographischer Zugang berücksichtigt sowohl den notwendigerweise fragmentarischen Charakter jeder Annäherung an das Subjekt, als auch die Reflexion jener Mechanismen, durch die im sozialen Kontext aus diesen Fragmenten zusammenhängende Lebensgeschichten geformt werden: Der Forschungsgegenstand des Biographen ist nicht mehr länger ein kohärentes Selbst, sondern vielmehr ein Selbst, das den Eindruck einer Kohärenz kreiert, ein Individuum mit vielen Ausprägungen, deren unterschiedliche Verwirklichungen den Verlauf der Zeit reflektieren, auf die Anforderungen und Optionen unterschiedlicher Handlungsspielräume

2 3

Siegfried Kracauer: „Die Biographie als neubürgerliche Kunstform“. In: ders.: Das Ornament der Masse. Essays. Frankfurt/M. 1963, S. 75 – 80. Ebd., S. 75.

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reagieren oder auf die verschiedenen Zuschreibungen von anderen Personen antworten.4 Pierre Bourdieu erläutert in seinem Essay Die biographische Illusion die Bedeutung des Eigennamens als Instrument der Konvention, um in der biographischen Rede die Identität des Subjekts zusammenzuhalten: Durch den Eigennamen, diese ganz eigentümliche Form des Benennens, wird eine gleich bleibende und dauerhafte soziale Identität gesetzt, die für die Identität des biologischen Individuums in all den möglichen Feldern einsteht, in die es als Akteur hineingerät, das heißt in allen seinen möglichen Lebensgeschichten.5

Bezeichnenderweise sind die einzelnen Erzählungen in Kluges Lebensl ufen zumeist mit dem Namen ihrer Protagonisten überschrieben. Der Eigenname ist jedoch nur einer von mehreren Elementen, die reglementieren, was innerhalb des biographischen Diskurses gesagt werden kann und was nicht. Soziale und juristische Normen, kulturelle und literarische Konventionen, sowie Einflüsse aus Biologie und Psychologie schränken die Rede ein, kontrollieren sie und stecken ihr einen engen Rahmen, sich zu entfalten. Einer der Gründe für die umfangreiche Beschränkung dessen, was als Lebensgeschichte gelten darf, liegt laut Bourdieu darin, dass hier ,privates‘ Erleben auf eine ,öffentliche‘ Bühne gebracht wird: Das eigentliche Objekt des Diskurses […], das heißt die çffentliche Darstellung, und damit Offizialisierung, einer privaten Darstellung des eigenen Lebens impliziert einen Mehraufwand an spezifischen Zwängen und Zensurmaßnahmen […].6 Der Eigenname ist der sichtbare Beleg für die Identität seines Trägers über die Zeit und über die sozialen Räume hinweg, Grundlage der Einheit dieses Trägers in der Abfolge seiner Erscheinungsformen und der sozial anerkannten Möglichkeit, diese Erscheinungsformen zu einem Ganzen zusammenzufassen und aktenkundig werden zu lassen, als curriculum vitae, cursus honorum, Eintrag im Strafregister, Nachruf oder Biographie, lauter Formen der Erfassung, die durch das Verdikt, das sie über eine vorläufige oder endgültige Bilanz fällen, das Leben als fertiges Ganzes setzen.7 4

5 6 7

Hans Erich Bödeker: „Biographie. Annäherung an den gegenwärtigen Forschungs- und Diskussionsstand“. In: ders. (Hg.): Biographie schreiben. Göttingen 2003 (= Göttinger Gespräche zur Geschichtswissenschaft, Bd. 18), S. 9 – 64, hier S. 28. Pierre Bourdieu: „Die biographische Illusion“. In: ders.: Praktische Vernunft. Zur Theorie des Handelns. Frankfurt/M. 1998. S. 75 – 83, hier S. 78. Ebd., S. 81. Ebd., S. 79.

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Der Zusammenhang, der durch die Verwendung des Eigennamens und durch Konventionen des biographischen Schreibens in unterschiedlichsten Textgattungen gestiftet wird, verschleiert die Brüchigkeit des modernen Subjekts: Da das, was er [der Eigenname] bezeichnet, immer nur eine zusammengewürfelte und disparate Rhapsodie aus sich ständig verändernden biologischen und sozialen Eigenschaften ist, käme allen Beschreibungen eine Gültigkeit nur in den Grenzen eines Stadiums oder eines Raums zu. Mit anderen Worten, nur um den Preis einer gewaltigen Abstraktion kann er als Beweis für die Identität der Person als einer sozial feststehenden Individualität dienen.8

Eine kritische Biographik im Sinne Bourdieus müsste das Individuum als Summe seiner einzelnen Konstituenten betrachten, ohne zwischen ihnen einen zwingenden Zusammenhang zu behaupten. Vielmehr sollten jene sozialen Prozesse ins Blickfeld geraten, die die Identität des Individuums im gesellschaftlichen Gefüge fundieren. Eine solche Sichtweise hätte zur Folge, „daß nunmehr der Begriff Verlauf als eine Abfolge von Positionen konstruiert wird, die ein und derselbe Akteur (oder ein und dieselbe Gruppe) in einem selber im Werden begriffenen und einem ständigen Wandel unterworfenen Raum einnimmt.“9 Eine kritische Biographik lenkt ihren Blick auch auf jene gesellschaftlichen Mechanismen und sozialen wie narrativen Konventionen, die die subjektive Erfahrung des Lebens zu einer Einheit formen, die im Akt der ,Lebensbeschreibung’ kommunikabel und erzählbar wird: Zentral für die ganze Identitäts-Diskussion ist es doch zu verstehen, dass die soziale Welt über die Institutionen der Totalisierung und Vereinheitlichung des Ich verfügt, eben weil sie die Normalität mit der Identität identifiziert, mit einer als Konstanz eines ,vernünftigen’ Wesens mit sich selber begriffenen Identität, welche mittels der Konstruktion einer kohärenten und totalisierenden Lebensgeschichte sich ihrer selbst vergewissert.10

Alexander Kluges Lebensl ufe markieren für den deutschsprachigen Raum einen Wendepunkt im biographischen Diskurs, indem sie gerade die jüngere und jüngste Vergangenheit, die traumatischen Erfahrungen des Weltkriegs genauso wie das Grauen des Faschismus aus Opfer- wie aus Täterperspektive als ,Lebensgeschichten‘ in den Blick nehmen, jedoch 8 Ebd., S. 80. Hervorhebungen hier und in allen folgenden Zitaten aus dem Original. 9 Ebd., S. 82. 10 Sarah Vanessa Losego: „Überlegungen zur ,Biographie‘“. In: BIOS 15 (2002), S. 24 – 46, hier S. 30.

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gleichzeitig verbunden mit dem Anspruch, in ihrer narrativen Form eine Ausdrucksweise für die Heterogenität und Gebrochenheit moderner Lebenszusammenhänge zu entwickeln. Die deutsche Geschichte des 20. Jahrhunderts lässt sich mit traditionellen erzählerischen Mitteln nicht ausdrücken, nicht fassen und auch nicht ,aufarbeiten‘. Wo das kollektive Trauma, das Nationalsozialismus und Krieg in der deutschen Nachkriegsgesellschaft hinterlassen haben, in konventionelle narrative Muster gefügt wurde, handelte es sich zumeist um eine Art der ,Aufarbeitung‘, die eigentlich dem Verdrängen Vorschub leistete: Mit Aufarbeitung der Vergangenheit ist […] nicht gemeint, daß man das Vergangene im Ernst verarbeite, seinen Bann breche durch helles Bewußtsein. Sondern man will einen Schlußstrich ziehen und womöglich es selbst aus der Erinnerung wegwischen.11

Den ,geschlossenen‘ Narrativen traditioneller biographischer Modelle setzt Kluge in den Lebensl ufen fragmentarische Erzählungen entgegen, die vom Prinzip der Montage getragen werden. Das biographische Konzept Kluges steht hier im Einklang mit dem Ansatz Pierre Bourdieus: Eine kritische Auseinandersetzung mit biographischem Schreiben soll die Differenzen innerhalb des modernen Subjekts in der Narration nicht zu einer ,künstlichen‘ Einheit verschmelzen, sondern das, was von einem Individuum narrativ fassbar gemacht werden kann, als plurales Nebeneinander dokumentieren. So sind auch bei Kluge die einzelnen Erzählungen keine geschlossenen biographischen Berichte mehr, sondern eine Ansammlung von ,Biographemen‘ im Sinne von Roland Barthes, die durch das narrative Mittel der Montage zusammengehalten werden: Da Kluges Prosa immer noch erzählt und immer noch vorwiegend von Menschen erzählt, gibt es in jedem seiner Lebensläufe die Aktivität einer Figur, die sich gegen ihren geschichtlichen Zuschnitt und gegen ihr Benanntsein in der Akte wehrt. Dadurch erst wird ihr Leben zu einem berichtenswerten Fall. Es gibt also in Kluges Texten, wie auch als Thema in seinem Geschichtsprojekt, die verteilten subjektiven Motive und die Dominanz der Formen. Sie bewegen sich gegeneinander. Diese Gegenbewegung materialisiert sich im Text als ein montierendes Erzählprinzip.12

Kluges Lebensl ufe verstehen sich als Teil einer subjektbezogenen Aufarbeitung deutscher Vergangenheit. Historische Ereignisse werden aus der 11 Theodor W. Adorno: „Was bedeutet: Aufarbeitung der Vergangenheit“. In: ders.: Eingriffe. Neun kritische Modelle. Frankfurt/M. 1963, S. 125 – 147, hier S. 125. 12 Stefanie Carp: Kriegsgeschichten. Zum Werk Alexander Kluges. München 1987, S. 81.

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Perspektive individueller Lebensgeschichten erzählt. Das Einzelschicksal ist jener Referenzpunkt, von dem aus Kluge die komplexen Strukturen historischer Zusammenhänge zugänglich macht. Dabei lenkt die erzählerische Form, in der die Erlebnisse und Erfahrungen der Figuren dargestellt werden, den Blick auf die Verfahrensweisen, nach denen Lebenskonzepte organisiert werden, bzw. darauf, wie die Rede über diese Konzepte funktioniert. Dies kann nur gelingen, indem traditionelle Formen biographischen Erzählens aufgebrochen und damit die geschlossenen Lebensgeschichten seiner ProtagonistInnen (de-)konstruiert werden.

Der Lebenslauf als biographische Gattung Lebenslauf, 1) eigene, oft handschriftl. geforderte Darstellung der wichtigen Stufen u. Ereignisse des Lebens- u. Bildungsganges (Geburt u. Herkunft, Schulzeit u. Berufsausbildung, bisher. Tätigkeit usw., mit jeweil. Angabe von Zeit u. Ort). Der L. läßt bei Bewerbungen die individuellen Eigenheiten des Bewerbers zur Geltung kommen.13

Die knapp gehaltene Definition aus Herders Konversationslexikon von 1957 enthält all jene Aspekte, die für die alltagssprachliche Bedeutung des Begriffs ,Lebenslauf‘ zur Entstehungszeit von Kluges Erzählungen maßgeblich waren. Bereits die Verwendung des Adjektivs ,wichtig‘ kennzeichnet den Lebenslauf in seiner traditionellen Form als (auto-)biographische Textgattung, deren Inhalt wohl markanter als andere einem äußeren Zweck untergeordnet ist. Er enthält aus der Fülle dessen, was es über ein Leben zu berichten gäbe, nur jene ,Ereignisse‘ und ,Stufen‘, die in bestimmter Hinsicht relevant erscheinen. Die Verwendung von Lebensläufen in Zusammenhang beruflicher ,Bewerbungen‘ kennzeichnet die Instrumentalisierung der Textgattung in ökonomischen Diskursen. Im Kontext seiner Erwerbstätigkeit wird der Mensch im Lebenslauf zur Ware, dessen im Arbeitsprozess verwertbare Eigenschaften – die ,individuellen Eigenheiten‘ – anhand seiner Lebensentwicklung hervorgehoben werden sollen. Form und Funktion des traditionellen Lebenslaufes im alltagssprachlichen Verständnis spiegeln die ,geschlossene‘ Form biographischen Schreibens wider: ,Objektivierung‘ komplexer Lebenszusammenhänge auf eine Reihe erzählbarer Fakten. Bereits der Titel von Alexander Kluges 13 „Lebenslauf“. In: Der große Herder. Nachschlagewerk f r Wissen und Leben. Fünfte, neubearbeitete Auflage von Herders Konversationslexikon. Freiburg i. Br. 1957.

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erster Erzählsammlung Lebensl ufe verweist damit auf eine (auto-)biographische Gattung, die selbst wieder Teil eines umfassenden Objektivierungsmechanismus ist: Der Verkürzung der menschlichen Identität auf ihren Warencharakter innerhalb der modernen Arbeitswelt. Die Verwendung des Begriffs ,Lebenslauf‘ in Oskar Negts und Alexander Kluges philosophischem Werk Geschichte und Eigensinn unterscheidet sich grundlegend von seiner oben skizzierten alltagssprachlichen Bedeutung. Das folgende Zitat aus einem Abschnitt mit dem Titel „Die Arbeit von Trennungsprozessen im individuellen Lebenslauf“ erläutert die Bedeutung, die diesem Begriff bei Negt und Kluge zukommt: Im Gegensatz zu den Waren der materiellen Güterproduktion, in deren Resultat die Arbeit, die sie hervorgebracht hat, verschwindet, verschwinden in der Ware Arbeitskraft oder Mensch die Entstehungsgründe niemals. Nicht die ,Summe aller toten Geschlechter‘, nicht die Konflikte, auch nicht die Glücksmomente in der Geschichte oder der Individualgeschichte – sie wiederholen sich mit Zähigkeit, bis sie erneut verwirklicht sind, bis die Geschichte und der Lebenslauf sich erfüllt haben.14

Was hier unter ,Lebenslauf‘ verstanden wird, ist gerade nicht Resultat einer Reduktion. Vielmehr wird dieser Begriff hier zur Bezeichnung der Summe aller menschlichen Erfahrungen verwendet, die innerhalb eines Lebens kumulieren. Im selben Kapitel ist auch die Rede von den ,Trennungsprozessen‘ die das Kind in seiner Begegnung mit den „Urobjekten“15 durchläuft. Negt und Kluge vollziehen hier die für die Kritische Theorie typische Synthese Marx und Freuds. Die Motive und Eigenschaften des Menschen trennen sich im Prozess des Erwachsenwerdens in solche, die sich äußerlichen Gegebenheiten anpassen und solche, die sich als Protest gegen diese Gegebenheiten äußern. Der Lebenslauf als (auto-)biographische Gattung im alltagssprachlichen Sinn dokumentiert dabei nur jene Eigenschaften, die sich in „Anpassungsvermögen“16 verwandeln. Die Protestenergien als äquivalenter Aspekt der menschlichen Identität bleiben dabei ausgespart. Die alltagssprachliche Auffassung des Begriffs ,Lebenslauf‘ erwächst aus der Trennung zwischen Anpassung und Protest, die Negt und Kluge als spezifisch für den modernen Lebenszusammenhang verstehen, insofern im ,Lebenslauf‘ immer nur der angepasste Teil der 14 Oskar Negt u. Alexander Kluge: „Geschichte und Eigensinn“. In: dies.: Der untersch tzte Mensch. Gemeinsame Philosophie in zwei B nden, Bd. 2. Frankfurt/M. 2001, S. 621. 15 Ebd., S. 622. 16 Ebd., S. 623.

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menschlichen Identität berücksichtigt wird. Da ,geschlossene‘ biographische Konzepte von der ,Einheit‘ des Lebenszusammenhangs ausgehen, fehlt ihnen die Möglichkeit, jene ursprünglichen Differenzen zwischen Anpassung und Protest zu dokumentieren. Kluges Lebensl ufe stellen eine Auseinandersetzung mit dieser Lücke im biographischen Diskurs dar. Im Gegensatz zu biographischen Ansätzen, die die einzelnen Überlieferungsstücke aus einem fremden Leben in der Biographie zu einem Ganzen zusammenzufassen bestrebt sind, wird das Leben der ProtagonistInnen in den Lebensl ufen nur durch Fragmente zugänglich. Kein einheitlicher Erzählbogen spannt sich von deren Geburt bis zum Tod, nur Ausschnitte sind es, von denen man erfährt, oft nicht einmal aus einer einheitlichen Perspektive oder in konsequenter Chronologie: „Kluges Prosa radikalisiert […] das Projekt der großen Autoren des frühen 20. Jahrhunderts: der Dissoziation des Wirklichkeitszusammenhangs aus der Perspektive eines gleichfalls von Dissoziation bedrohten und dennoch ,sinnsuchenden‘ Subjekts Ausdruck zu geben.“17

Realismus als Konstruktionsprinzip biographischer Wahrheiten „Zum Begriff des Wirklichen“ schreiben Alexander Kluge und Oskar Negt in Geschichte und Eigensinn: Im Verlauf der Geschichte sind die subjektiven Eigenschaften in ihrer Masse in Produkte eingegangen und liegen in ihnen verstreut. Um die Gravitation dieser toten Arbeit bewegen sich die gesellschaftlichen Verhältnisse und die Menschen. Man müsste zu der wirklichen Bewegung (Verstreuung) hingehen, die subjektiven Splitter wiedererkennen, einsammeln und daraus eine menschlich zentrierte Welt zusammensetzen.18

Das, was uns als sogenannte ,Wirklichkeit‘ anschaulich ist, wird hier von Negt und Kluge als historisch Entstandenes beschrieben. Die menschlichen ,Produkte‘19 haben eine Geschichte, diese ist allerdings nicht kohä17 Jochen Vogt: „Der ratlos-rastlose Erzähler Alexander Kluge. Eine romantheoretische Annäherung“. In: Text + Kritik 85/86 (1985), S. 9 – 21, hier S. 15. 18 Negt u. Kluge: „Geschichte und Eigensinn“, S. 154. 19 Der Begriff ,Produkt‘ greift hier sehr weit: Er meint die konkreten Dinge des Alltags – das Buch in dem man liest, die Gestalt der Arbeitswerkzeuge – führt über zwischenmenschliche Beziehungen, Gespräche, Gedanken, etc. bis hin zu gesellschaftlichen Strukturen, moralischen Prinzipien, Recht, Verfassung, Demokratie.

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rent und unmittelbar einsichtig. Vielmehr liegen die Indizien dafür ,verstreut‘. Ein Zusammenhang müsste erst hergestellt werden. Genau dafür sprechen sich Negt und Kluge aus, wenn sie ein ,Wiedererkennen‘, ,Einsammeln‘ und ,Zusammensetzen‘ dieser Bruchstücke ,toter Arbeit‘ fordern. Ein Zusammenhang mit der Position Brechts liegt nahe, insofern Brecht wie Kluge den Begriff des ,Realismus‘ nicht nur auf das Feld der Literatur angewandt sehen wollen, sondern auch den gesellschaftspolitischen Anspruch hervorheben, der mit ,realistischer‘ Darstellung einhergeht.20 Realismus also nicht als deskriptiver oder gar normativer Begriff der Literaturwissenschaft, sondern als Werkzeug, das Verborgene bzw. Verdrängte der Realität sichtbar zu machen. In den Lebensl ufen findet eine Konfrontation zweier unterschiedlicher Erfahrungszusammenhänge statt: des subjektiv-individuellen und des objektiv-allgemeinen. Diese Darstellungsform nennt Kluge ,realistisch‘, insofern die Wirklichkeit selbst weder rein objektiver noch rein subjektiver Natur ist: „Alle gesellschaftlichen Tatbestände sind Produkt subjektivobjektiver Produktionsprozesse.“21 An der Verfasstheit der Wirklichkeit sind sowohl objektive Tatsachen als auch individuelle Faktoren (Wünsche, Gefühle, Arbeit, etc.) beteiligt. Keiner dieser Aspekte ist ,realer‘ als der andere: Im menschlichen Kopf sind Tatsachen und Wünsche immer ungetrennt. Der Wunsch ist gewissermaßen die Form, in der die Tatsachen aufgenommen werden.22

Die ,Realistische Methode‘ ist laut Kluge daran interessiert, jene Bezüge aufzudecken, die in der Realität zwar vorhanden, für den individuellen Menschen allerdings so nicht wahrnehmbar sind. Fehlen diese Bezüge in der Darstellung der Wirklichkeit, wird sie zur Ideologie. Nur das Aufdecken der Zusammenhänge ermöglicht es der Kunst – insofern sie sich mimetischer Verfahrensweisen bedient – die Realität auch zu kritisieren. Es geht in dieser Form des Realismus also nicht nur um die Aufhebung überkommener Darstellungsformen, sondern um den Widerstand gegen

20 Rainer Stollmann: „Alexander Kluge als Realist“. In: Alexander Kluge. Hg. v. Thomas Böhm-Christl. Frankfurt/M. 1983, S. 81 – 102, hier S. 246. 21 Negt u. Kluge: „Geschichte und Eigensinn“, S. 782. 22 Alexander Kluge: Gelegenheitsarbeit einer Sklavin. Zur realistischen Methode. Frankfurt/M. 1975. S. 204

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die Realität in ihrer derzeitigen Verfasstheit: „Das Motiv für Realismus ist nie Bestätigung der Wirklichkeit, sondern Protest.“23

Manfred Schmidt ,Realistisch‘ kann laut Kluge eine Darstellung nur dann sein, wenn sie nicht monoperspektivisch und damit ideologisch operiert, sondern die Wirklichkeit – oder was wir dafür halten – aus verschiedenen, unterschiedlichen Perspektiven beleuchtet. Jene Erzählung der Lebensl ufe, die mit dem Namen ihres Protagonisten „Manfred Schmidt“ betitelt ist, bringt bereits in ihrer Makrostruktur jene Multiperspektivität zur Geltung, die für Kluge Voraussetzung ,realistischer‘ Wirklichkeitsdarstellung ist. Der Text gliedert sich in drei Teile: „I. Das Fest“, „II. Die Person“ und „III. Beispiel für eine Liebesgeschichte“. Während Manfred Schmidt im ersten Teil im Rahmen einer Karnevalsveranstaltung in Erscheinung tritt und seine Rolle im sozialen Gefüge beleuchtet wird, steht im zweiten Teil die Lebensgeschichte Manfred Schmidts im Vordergrund – sowohl in ihrer Gesamtheit als auch in einzelnen Episoden. Der dritte Teil schließlich greift eine dieser Episoden heraus und stellt über die Individualität des Einzelfalls hinaus exemplarische Bezüge her. In der Liebesgeschichte spiegeln sich Erfahrungen und Erlebnisse aus der Kriegszeit, genauso wie das Verhalten Manfred Schmidts bezeichnend für eine ganze Generation ist. Vor allem im zweiten Teil der Erzählung („Die Person“) wird die Auseinandersetzung mit biographischem Schreiben deutlich. Der Abschnitt wird von zwei Textsequenzen gerahmt, die das Leben des Protagonisten in leicht abgewandelter Form wiedergeben. Die zwei Sequenzen sind mit eigenen Titeln überschrieben („Lebenslauf“ und „Bewerbung“), die auf die funktionale Perspektive der beiden genannten (auto-)biographischen Textgattungen aufmerksam machen. Der Lebenslauf erzählt die Geschichte eines Mannes, der sich 1943 als 17-jähriger zum Militärdienst meldete, desertierte, als er der Waffen-SS eingegliedert werden sollte, und sich in die Schweiz absetzte. Das Motiv der ,Flucht zur rechten Zeit‘ wiederholte sich, als er nach dem Krieg seine Stellung bei einer australischen Ölfirma aufgab, kurz bevor das Unternehmen Bankrott ging. Das Bewerbungsschreiben Manfred Schmidts erzählt die gleichen Fakten, die schon im Lebenslauf erscheinen, allerdings mit verändertem Fokus. Desertion, Flucht in die Schweiz, Gefangen23 Ebd., S. 216.

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nahme, Internierung und erneute Flucht werden im Bewerbungsschreiben zu einem simplen „Aufenthalt in der Schweiz“ (S. 764). Aber auch der Lebenslauf spiegelt keine neutrale Position wider. Das zeigt sich beispielsweise in den verwendeten Epitheta: Die Rede vom „elenden Krieg […]“ und vom „wiedererstandene[n] Europa“ setzt sich zwar klar von der Vergangenheit ab, bedient sich dafür aber abgedroschener Phrasen, die bei genauerer Betrachtung inhaltsleer und befremdend wirken. Von einer ,objektiven‘ Schilderung des Lebenszusammenhangs kann auch keine Rede mehr sein, wenn der Lebenslauf apologetische Funktion übernimmt: „Auf den Bankrott hatte Manfred Schmidt genausowenig Einfluß wie auf die Machtergreifung von 1933 oder den Kriegsausbruch 1939, aber er sah ihn rechtzeitig voraus […]“ (ebd.).

Zur rechten Zeit … Die Frage, inwiefern Menschen auf den Verlauf ihres eigenen Lebens Einfluss nehmen können, mithin auch die politischen und gesellschaftlichen Ereignisse mitbestimmen, vor deren Konturen sich der eigene Lebensverlauf entwickelt, zieht sich wie ein Leitmotiv durch die Lebensl ufe. In der Erzählung „Fräulein v. Posa“ (S. 697 – 706) ist es eine ganze Familie (die sich als ,literarischen Stammvater‘ auf den Marquis von Posa aus Schillers Don Karlos berufen kann) die aktiv handeln will, um ,Gutes‘ zu tun, mit ihren Versuchen allerdings in jeder Generation scheitert, da jedes Handeln zu spät kommt, um noch Einfluss auf die historischen Ereignisse zu nehmen. So haben sich für den Polizeirat v. Kirchheim (aus einem Seitenzweig der Familie v. Posa) im Jahr 1933 die Machtverhältnisse noch nicht endgültig verhärtet. Noch könnte er aktiv auf die Machtergreifung der Nationalsozialisten Einfluss nehmen. Doch von Kirchheim scheut davor zurück, Verantwortung zu übernehmen. Im Rahmen einer Reihe politischer Morde durch die SA bittet ihn die Frau eines Gewerkschaftsführers um Schutz. Darauf von Kirchheim: „Was erwarten Sie von uns? Wir können uns kaum selbst schützen.“ (S. 705) Die Möglichkeit zum Handeln bestünde, doch sie wäre mit Gefahren verbunden. Elf Jahre später führt die Beschwerde von Kirchheims angesichts von Massenmorden im litauischen Grenzgebiet – hier als „Aussiebungen“ (ebd.) bezeichnet – zu seiner Erschießung. Am Ende dann die Stimme der Erzählinstanz: „Welcher Moment, welche Situation von den anstürmenden Gelegenheiten seit 1933 wäre […] für Kirchheims Intervention richtiger gewesen?“ (ebd.) Was Kirchheim, wie alle anderen

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Mitglieder der Familie von Posa, nicht zur rechten Zeit erkennen kann, sind die historischen Dynamiken, die den Verhältnissen, gegen die sie sich zur Wehr setzen wollen, zugrunde liegen. Das Motiv der Posas, ,Gutes‘ zu tun, bleibt über die Jahre und Generationen bestehen. Das Dilemma der Posas ist, dass in den Momenten, in denen ihr Motiv zu konkreten Handlungen führt, nichts mehr zu verändern ist, so auch bei Nata von Posa (dem titelgebenden ,Fräulein‘). Im Jahr 1945 befindet sie sich auf der Suche „nach dem Guten, das zu tun ist.“ (S. 700) Dass jede Veränderung, die die Katastrophe des Krieges noch hätte abwenden können, bereits 20, 30 oder 100 Jahre früher hätte einsetzen müssen, lässt Nata von Posas Bestreben besonders absurd erscheinen: Wenn sie unerwartet gefragt worden wäre, was sie denn unter ,Gutsein‘ verstünde, hätte sie nichts antworten können. Sie war ein kleiner Teil der verwirrten Familie Posa. Aber sie war sicher, daß ihr eine Antwort noch einfallen würde. Es muß schnell gehen. Diesen Frühling noch muß es gehen. Sie betete inbrünstig. (S. 706)

Das idealistische Motiv korrespondiert bei keinem der Familienmitglieder mit einer Einsicht in die gesellschaftlichen Bedingungen, die zu einer Veränderung führen könnten. Alexander Kluge verdeutlicht in den Lebensl ufen die enge Verbindung von Einzelschicksal und Globalgeschichte, zeigt aber gleichzeitig auch, wie gerade eine isolierte Sicht auf die eigene Biographie zum Verlust der Handlungsfähigkeit führen kann. Nach Kluges Modell des Zusammenspiels von Subjektivem und Objektivem kann man Lebensgeschichten nur dann adäquat begreifen, wenn man beobachtet, wie sich die Geschichte eines einzelnen Individuums immer vor dem Hintergrund zahlloser anderer Leben, die aufeinander Einfluss nehmen und ineinander wirken, entwickelt.

Die Subjektlosigkeit des Anderen Auch Manfred Schmidt handelt nur mit Blick auf die eigene Existenz, ohne die größeren Zusammenhänge in den Blick zu nehmen. Es ist Teil seines spezifischen Lebenslaufes, ,keinen Einfluss‘ auf jene Ereignisse zu nehmen, die sein Leben strukturieren – ihnen nur dann, wenn sie bedrohlich werden, auszuweichen. Erfolgreich ist er durch seine „Fähigkeit, sich neuen Situationen rasch einzufügen“ (S. 758). Er weiß, wann der richtige Zeitpunkt zur Flucht gekommen ist. Seine Stärke besteht darin, dem ,Druck der Verhältnisse‘ zu entkommen, sobald sie ihm gefährlich werden

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können. Dieser Umstand macht ihn zu einem erfolgreichen Manager. Gleichzeitig – und das ist das Kernthema dieser Erzählung – hat Manfred Schmidt dieses Verhalten so weit verinnerlicht, dass es auch seine Liebesbeziehungen bestimmt und dort zu einem Klima der menschlichen ,Kälte‘ führt.24 Die montageartig aneinander gefügten Episoden aus Manfred Schmidts Leben verdeutlichen, wie er sein Verhältnis zu Frauen nach zweckrationalen Gesichtspunkten organisiert (vgl. S. 757, S. 759, S. 760 u. S. 762). Dieses Verhalten erreicht seinen drastischen Höhepunkt in einer Sequenz mit dem Titel „Manfred Schmidt besucht seine ehemalige Freundin L. in der Todesstunde“ (S. 760) Bereits die ersten Zeilen verdeutlichen, dass Manfred Schmidt seine ,Freundin L.‘ bloß als Mittel sieht, die eigenen Bedürfnisse zu befriedigen: „Er ging zu L., mit der er vor einiger Zeit einige schöne Ferientage in Trident verlebt hatte; sie war aber zur Zeit ziemlich krank. Trotzdem hoffte er, daß sie ihm keine Schwierigkeiten in den Weg legen würde.“ (S. 760). Die Introspektion in das Denken Manfred Schmidts lässt den Eindruck aufkommen dem Protagonisten fehle das Vermögen, seine ,Freundin L.‘ als Kranke wahrzunehmen. In der Sprache von Negt und Kluge fehlt es Manfred Schmidt an ,Unterscheidungsvermögen‘, da er auf die spezifische Situation, in der sich seine Freundin befindet, nur mit stereotypen Schematismen reagieren kann. Ihre sexuelle Verweigerung interpretiert er zunächst als persönliche Zurückweisung: Gleich nachdem er herein war, wurde sie durch das Telefon in Anspruch genommen […] Nach dem Telefonat (sie wieder in ihrem Bett, ein Klappwecker aufgestellt neben dem Kissen im Bett, auch sonst alles schön hergerichtet) versuchte er, etwas mit ihr anzufangen, was sie aber bloß abwehrte. Wahrscheinlich hatte er zu lange nichts von sich hören lassen. (S. 760)

Keinen Moment scheint Manfred Schmidt hier einen Funken Mitgefühl für die Situation der Kranken zu zeigen. Es ist ihm aus der Distanz seiner Haltung heraus auch völlig unmöglich. Die Strategie des ,Ausweichens‘, die ihm seine berufliche Karriere ermöglicht hat, führt hier zum Fehlen jeglichen Einfühlungsvermögens. „Menschlichkeit, besser: Unmenschlichkeit erscheint als unablösbar verbunden mit den im gesellschaftlichen Lebenskontext vorgegebenen Verhaltens- und Denkweisen.“25 24 Vgl. Paul Mog: „Kälte. Satirische ,Verhaltensforschung‘ in Alexander Kluges Lebensläufen“. In: Alexander Kluge. Hg. v. Thomas Böhm-Christl. Frankfurt/M. 1983, S. 11 – 25. 25 Ebd., S. 14.

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Er verließ die Bettkante und schaltete im Nebenzimmer das kleine Philipsgerät ein und löffelte dort an dem Kaffee, den sie ihm hingestellt hatte. Wenig später kam er zum zweiten Mal an diesem Tag auf den Gedanken, ob sich nicht doch etwas mit ihr anfangen ließe. Aber diese Idee verflüchtigte sich infolge ihrer vorangegangen Ablehnung. […] Später ging er noch einmal hinüber und fragte sie, ob sie ihn überhaupt sympathisch fände, ob sie überhaupt Wert auf seine Nähe lege. Er erinnerte sich an die Tage von Trident. Sie stöhnte, auf einer Seite liegend, die Decke fast über den Kopf gezogen, wenigstens das dünne lakenförmige Ende der Decke, wie man ein Taschentuch in den Mund steckt und darauf beißt. Er versuchte, sie am Bauch zu massieren, aber sie wehrte ihn nur ab, als er zudringlich werden wollte. Er kritisierte ihre Einstellung und ihre Kälte. […] Es erwies sich als schwierig, den Arzt zu bekommen. Schmidt hatte sich anfangs wegen der vielen Beleidigungen, die sie ihm zugefügt hatte, nicht genügend dahintergesetzt. Er versuchte, seine Freundin, der es immer schlechter ging, zu trösten und sie zu küssen; sie verstand ihn nicht, wußte nicht, was er wollte, stellte sich ungeschickt an, als er seine Lippen auf die ihren setzte. Erst wesentlich später merkte er, daß er es mit einer zu tun hatte, die jetzt starb. […] Sie starb, als er gerade dabei war, die Sache richtig in die Hand zu bekommen. (S. 760 – 761)

Die biographische Rede Das Skandalon dieser Erzählung liegt nicht nur im Verhalten des Protagonisten sondern ebenso in der Sprache, mit der davon berichtet wird. Man könnte die Erzählung durchaus als ,tragischen Einzelfall‘ lesen. Doch gerade in der Form der Darstellung – im spezifischen ,Realismus‘ Kluges – zeigt sich, dass das individuelle Subjekt hier exemplarischen Status hat. Die oben zitierte Textpassage, der Tod der ,Freundin L.‘, wird durch eine heterodiegetische Erzählinstanz berichtet – ein Schritt der Distanzierung gegenüber dem Protagonisten. In der Erzählung existieren aber auch Passagen, in denen Manfred Schmidt selbst zur Erzählinstanz wird. Auch im Wechsel zwischen Ich und Er setzt Kluge die Montage als Erzählprinzip ein. Eine spezifische Erzählhaltung, die auch im Falle der heterodiegetischen Erzählinstanz niemals objektiv ,berichtet‘, verbindet allerdings die einzelnen Passagen. So ist es auch für die anonyme Erzählstimme möglich, von einem „erstklassigen blauen Sonnentag“ (S. 760) zu sprechen, oder davon, dass Schmidt versuchte etwas mit L. „anzufangen“ (ebd.), dass diese sich beim Küssen „ungeschickt“ (S. 761) anstellte oder dass „[s]ie starb, als er gerade dabei war, die Sache richtig in die Hand zu bekommen.“ (ebd.) Entscheidend ist hier nicht so sehr das Verhältnis der Erzählhaltung zum Denken des Protagonisten, sondern vielmehr, dass auf solche Weise überhaupt biographisch erzählt werden kann. Die Reduktion L.’s auf ein

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Objekt, mit dem man im Sinne eines Gegenstandes etwas ,anfangen‘ kann, hat ihre Wurzel bereits auf der Ebene der Sprache. Jene Sprache, in die Manfred Schmidt Haltung und sein Verhältnis zu anderen Menschen fasst, ist etabliert; sie geht ihm und seinen Handlungen immer schon voraus. Manfred Schmidts Lebensgeschichte ist in Kluges Lebensl ufen nicht als ,herausragender‘ Einzelfall von Interesse, sondern weil sich in Schmidts Verhalten – vor allem aber in der sprachlichen (auto-)biographischen Darstellung seines Lebens – zeigt, wie sich gesellschaftliche und ökonomische Verhältnisse in der Psyche des einzelnen Individuums manifestieren. Die Erzählung von Manfred Schmidt soll verdeutlichen, welche fatalen Folgen das Konkurrenz- und Erfolgsprinzip einer kapitalistischen Gesellschaft auf die persönlichen Beziehungen von Menschen hat. Wie zwischenmenschliche Verhältnisse unter solchen Bedingungen aussehen, verdeutlicht auch der dritte Teil der Erzählung. Die „Liebesgeschichte“ (S. 764), auf die sich der Titel bezieht, beschränkt sich nicht nur auf Schmidts Beziehung zu Gitta.26 Im Sinne von Kluges RealismusKonzept werden andere Geschichten in diese Liebesbeziehung eingeblendet. Etwa eine Sequenz, die zurück in die Kriegsjahre blickt. Die „Romanze“ (S. 767) der Lazarettschwester Carmela Pichota mit einem „wesentlich älteren Verheirateten“ (ebd.) führt zu mehreren Abtreibungen. Der Mann zieht sich aus der Affäre: „Sobald der das Lazarett verließ, war für ihn die Sache erledigt.“ (S. 767) Noch innerhalb dieser Sequenz finden sich dann die folgenden Sätze, aus denen nicht klar hervorgeht, wem sie zuzuordnen sind: „Ich hätte mich nicht mit ihr abgeben sollen. Ich hatte eigentlich eine Aversion gegen sie. Ich hatte ihr nicht angesehen, was für ein Unglücksmensch sie ist.“ (S. 768) Der erzählerische Rahmen legt nahe, dass es sich dabei um den verheirateten Lazarettinsassen handelt. Andererseits besteht ein direkter Bezug zu dem, was wir davor bereits über Manfred Schmidts Haltung gegenüber Gitta erfahren haben: „Gitta P. gehörte überhaupt zu dem Typ, der Schwierigkeiten bringt. […] M. S. konnte aber solche hilfsbedürftigen Naturen, die aus der Hilfsbedürftigkeit 26 In der Benennung der Frauenfiguren lässt Kluge den geschlechtlich kodierten Umgang mit Namen erkennen. Während uns der Protagonist Manfred Schmidt mit vollem Namen bekannt ist und andere männliche Figuren vor allem durch ihren Nachnamen bezeichnet werden (Boulanger, Korti, Schincke, etc.), dominiert bei Frauen die Erwähnung des bloßen Vornamens (Gitta), einer verkürzten Form des Familiennamens (Anita G.) oder die radikale Reduktion auf einen einzelnen Buchstaben (,die ehemalige Freundin L.‘). Der ,offizielle‘ (öffentliche) Familienname steht hier gegen den ,privaten‘ Vornamen.

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einen Dauerzustand machen, nicht leiden. Schon die Nähe von solchen unglücklichen Menschen schadet.“ (S. 759) Zwei Geschichten – das gleiche Muster. Die ,Liebesgeschichte‘ ist auch hier wieder Beispiel für typisches Verhalten in Krisensituationen: der Verantwortung ausweichen, die Flucht ergreifen. Die immanente Ideologiekritik dieser Textstelle hinterfragt nicht nur das Geschlechterverhältnis sondern generell auch die Frage individueller Verantwortung, insofern Schwangerschaft hier genauso als ein ,Unglück‘ beschrieben wird, auf das man keinen Einfluss hat, wie „die Machtergreifung von 1933“ oder der „Kriegsausbruch 1939“ (S. 758). Die Sprache dieser Erzählung fasst Liebe und Sexualität in Kriegsmetaphern. So wird der Geschlechtsakt als „Sieg“ (S. 766) beschrieben, sein Misslingen als „Fiasko“ (S. 765), die ,Eroberung‘ einer Frau mit den Schlachten um Verdun und Stalingrad verglichen (S. 759). Auch die intimsten Bereiche werden „ganz von jenen gesellschaftlichen Mechanismen […] geprägt, die der einzelne im Zusammenspiel von Lebenslauf, Alltag und Zeitgeschichte verinnerlicht hat.“27 Auffällig ist auch die Wärme/Kälte-Metaphorik, die für die Beschreibung zwischenmenschlicher Beziehungen herangezogen wird: „Es war ein absolut sauberer Raum, weißes nach Waschmittel duftendes Leinen, frisch, sehr heiß, so daß sie rote Ohren hatten […] Es war alles so sauber und gekachelt und so überheizt […] es war so heiß, daß sie nicht auch noch vorsichtig sein wollten.“ (S. 767) Genauso nach der Trennung von Gitta P. und Manfred Schmidt: „Sie fror wie ein Schneider […] Sie hatte sich einen Männerpullover […] entliehen und trug eine Pelzjacke darüber, fror aber weiter. Sie saß verpackt wie im tiefen Winter.“ (S. 769) Der Titel darüber: „Portrait einer glücklich Erkälteten (G.)“ (ebd.). Hinter diesen Bildern verbergen sich jene Gefühle, die von einer rationalen Sprache verdrängt werden. Selbst die Auflösung der Beziehung wird vergegenständlicht und durch die Metaphorik der Geburt der Verantwortung der Frau überlassen: Schmidt und Gitta zogen sich auf eine Woche nach Krefeld zurück, wo keine Seele sie kannte, um in Ruhe ihre Trennung zur Welt zu bringen. Gitta erledigte das für beide. Sie war erschöpft, als das Ergebnis Trennung herauskam bei der Klausur, auf die sie Hoffnungen gesetzt hatte. Schmidt bezahlte ihr eine Reise an die Nordsee und begleitete sie ein paar Tage: ließ Gitta braunbrennen. (S. 768) 27 Ulrich Schmidt: Zwischen Aufbruch und Wende. Lebensgeschichten der sechziger und siebziger Jahre. Tübingen 1993, S. 110.

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Statt von der Lust der beiden Figuren ist von der Hitze des Badezimmers im Hotel die Rede, statt von Enttäuschung von einer ,Erkältung‘ und zur Aufmunterung lässt Schmidt Gitta ,braunbrennen‘. Sprachklischees wie die ,Hitze der Leidenschaft‘ oder ,Gefühlskälte‘ erhalten hier ein Eigenleben und zeigen, wie sehr die Figuren ihrem eigenen Fühlen entfremdet sind. Zuneigung, Liebe, Leidenschaft, aber auch das persönliche Glück und Unglück erscheinen entweder als durch rationale Überlegungen erzeugte Haltungen der Menschen oder als etwas, das zufällig und schicksalhaft über den Einzelnen hereinbricht. Dabei bleibt kein Spielraum für Emotionen. Sie werden in den Jargon der Bürokratie, des Kapitalismus oder des Krieges gezwängt. Der rückwirkende Einfluss dieser Diskurse auf die Gefühle führt zum ,Erstarren‘ aller zwischenmenschlichen Beziehungen und zur Isolation des Individuums. Springen wir nun im Text zurück und betrachten den ersten Teil der Erzählung, so erscheint Manfred Schmidt hier nicht als zentrale Person, sondern als einer von zahlreichen Teilnehmern einer Karnevalsveranstaltung. Das Fest wird aus der Sicht unterschiedlicher Figuren beschrieben. Es handelt sich dabei durchwegs um Personen, die auf der Veranstaltung eine offiziellen Funktion innehaben: ein Beamter der Wach- und Schließgesellschaft, der leitende Lebensmittelchemiker des Gewerbeaufsichtsamtes, ein Vertreter der Finanzverwaltung und ein Polizist. Formal werden diese Texte durch Zwischentitel als ,Interviews‘ gekennzeichnet. (Auch wenn dabei niemals ein Interviewer zu Wort kommt; wir wissen also nicht, auf welche Fragen die einzelnen Figuren antworten.) Der dadurch entstehende extradiegetische Erzählzusammenhang weckt Assoziationen zu filmischen Verfahrensweisen, die auch durch andere Elemente der Erzählung wie dem Personenverzeichnis (S. 769) und der achronologischen Montagetechnik, die dem ,harten‘ Schnitt im Kinofilm ähnelt, gestützt werden. Durchwegs erscheint die Rede der ,Interviewten‘ unverhältnismäßig in Hinblick darauf, dass es hier um ein ,Fest‘ im Sinne einer Vergnügungsveranstaltung geht. Der Beamte der Wach- und Schließgesellschaft spricht davon, dass es darauf ankäme, „in Anpassung und Widerstand unser System der Bewachung und Abschließung zu vervollkommnen“ (S. 750). Der Lebensmitteltechniker vergleicht seine Tätigkeit, in der es „auf eine gesunde Ernährung in Freiheit“ (S. 751) ankommt, mit der „alten Aufklärungsarbeit des Detektivs“ (ebd.). Der Vertreter der Finanzverwaltung zitiert Hemingway, um darzulegen, wie viel Schwierigkeiten die „Erforschung der Wahrheit“ (ebd.) mit sich bringt und der Vertreter der Polizeiaufsicht spricht über das Verhältnis zwischen veralteter Struktur des

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Polizeiapparats und den Anforderungen einer modernen Gesellschaft (S. 751 f.). Wir haben es mit einer vielschichtigen Betrachtung des Zusammenhangs zwischen Verwaltung, Autorität und Gewalt zu tun. Die einzelnen Sprechinstanzen beleuchten dieses Problem von unterschiedlichen Seiten. Ihre Rede ist dabei eher assoziativ als argumentativ aufgebaut. Den Zusammenhang stiften die Figuren als Verkörperung subjektiver Positionen. Eine Sprache, die von bürokratischen und militärischen Begriffen dominiert wird, fungiert dabei als verbindendes Element über die einzelne Figurenrede (die ,Interviews‘) hinaus. Der Krieg lebt in Sprache weiter: „Würde der Durchbruch zum Fest gelingen? Die Offensive durchschlagen?“ (S. 752) Es sind „quasi-militärischen Prinzipien“28 nach denen das Fest organisiert ist. Das zeigt sich im Verhalten der Festgäste – „[d]iszipliniert bewegten sich die Leute zwischen den riesenhaften Dekorationen […]“ (ebd.) – genauso wie im Auftreten des Personals: „Hier waren Trupps tätig, die es übelnahmen, wenn einige sich auszuschließen versuchten.“ (S. 753) Immer wieder wecken Ausdrücke und Begriffe Assoziationen mit der – verdrängten – Vergangenheit: „Ich will Eis essen bis zur Vergasung.“ (ebd.) oder: „Es kommt für die Festleitung darauf an, die erstbeste Gelegenheit, die Stimmung etwas zu erhöhen, brutal wahrzunehmen.“ (S. 754) Da ist die Rede von einer „Einsatzgruppe“ (ebd.) und Biergläsern, die „pflichtgemäß“ (S. 752) ausgetrunken werden. An einer Stelle wird die Präsenz der Vergangenheit explizit in Bezug auf die unterdrückten Bedürfnisse der Festgäste: „Dürften sich doch alle ausziehen, ach, die antiken Bettlaken abtun, die Straßenanzüge aufknöpfen oder wenigstens Nazilieder brüllen (was verboten ist).“ (S. 752) Das Verdrängte, das nach außen hin von „eine[r] Art Lähmung“ (S. 753) überdeckt wird, tritt in der Sprache offen zutage. Die Sensibilität der Lesenden wird hier insofern geschärft, als nun auch bei Begriffen wie „Toilettenzelle“ (S. 753) oder „Weinzwang“ (ebd.) der implizite Ausdruck von Gewalt offenkundig wird. Alexander Kluges Lebensl ufe sind, wie Sigrid Weigel es für das biographische Schreiben schlechthin konstatiert,29 eine Gattung der ,Genealogie‘. Dabei richtet Kluge sein Interesse allerdings nicht auf das indi28 Jörg Drews: „Alexander Kluge.“ In: Der Friede und die Unruhestifter. Herausforderungen deutschsprachiger Schriftsteller im 20. Jahrhundert. Hg. v. Hans Jürgen Schultz. Frankfurt/M. 1973, S. 323 – 334 , hier S. 326. 29 Sigrid Weigel: Genea-Logik. Generation, Tradition und Evolution zwischen Kulturund Naturwissenschaften. München 2006, S. 163.

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viduelle Subjekt, auf Familien- oder Herrschaftsgenealogien, sondern auf die Genealogie der Sprache. Durch die Form der biographischen Rede in den Lebensl ufen – durch den ,discours‘ – vermittelt Kluge, wie weit die bürokratische Verwaltungssprache, und ihre Pervertierung durch die Nationalsozialisten,30 das Leben in Deutschland über den Nationalsozialismus hinaus geprägt hat. Es scheint so, als würde sich das Leben der Menschen – ihre realen Lebensläufe – an der Sprache orientieren, die zu ihrer Beschreibung herangezogen wird und nicht umgekehrt. In die Form eines Bewerbungsschreibens gepresst, erscheint das Leben Manfred Schmidts als ein ,erfolgreiches‘. Wenn es allerdings um die zwischenmenschlichen Beziehungen und um die Liebesverhältnisse Manfred Schmidts geht, zeigt sich, wie sowohl das zweckrationale Denken als auch dessen sprachliche Repräsentation, die bürokratische Verwaltungssprache, an seine Grenzen stößt. Was bedeutet dies nun für die Darstellung des einzelnen Lebens? Die biographischen Splitter in den Lebensl ufen, die durch ihren Fragmentcharakter schon von sich aus die Regeln des biographischen Diskurses in Frage stellen – reduzieren die komplexen Zusammenhänge, in denen ein Menschenleben steht, auf wenige, rational erfassbare Fakten. Egal ob es sich dabei um Anlehnungen an die biographische Gattung des Lebenslaufs (S. 757 f.), die Autobiographie (S. 807 f.) oder das biographische Interview (S. 684 f.) handelt, die klassische Form biographischen Schreibens geht nicht ,realistisch’ – im Sinn Kluges – vor, indem sie Zusammenhänge aufdeckt. Wie einleitend bereits anhand von Bourdieus Text zur Biographischen Illusion gezeigt wurde, ist ihr Verfahren vielmehr das der ,Ausgrenzung’ all jener Sachverhalte, die dem Schematismus der ,geschlossenen’ Biographie nicht genügen. Die Vielschichtigkeit realer Lebenserfahrungen hat in der ,geschlossenen’ Biographie keinen Platz. Ziel der kritischen Auseinandersetzung Kluges mit dem biographischen Diskurs ist es daher, den Blick auf jene Wechselbeziehungen zwischen objektiv-subjektiver Lebenswelt und dem individuellen Lebenszusammenhang zu lenken, die von einer traditionellen Biographik ausgespart bleiben, mithin nicht einmal als Teil einer zu beschreibenden Lebensgeschichte wahrgenommen werden. Die Lebensl ufe bewegen sich hier genau an der Grenze zwischen den Konzepten ,geschlossener’ Biographik und einer noch zu verwirklichenden ,Öffnung’ der Gattung, die es vermag, ihr kritisches Potential als literarisches Korrektiv bestehender sozialer Zusammenhänge zu verwirklichen. 30 Vgl. dazu Victor Klemperer: LTI. Notizbuch eines Philologen. Berlin 1947.

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Perspektiven ,offener‘ Biographik Der Titel, unter dem Oskar Negt und Alexander Kluge ihre gemeinsamen theoretischen Texte 2001 neu veröffentlichten, lautet: Der untersch tzte Mensch. Er verweist darauf, dass die Fortschreibung der Dialektik der Aufkl rung, der sich Negt und Kluge verpflichtet sehen, hier unter veränderter Perspektive geschieht. Zwar bleibt es bei der fundamentalen Kritik an der Instrumentalisierung der Vernunft als Mittel zur Stabilisierung von Herrschafts- und Unterdrückungsmechanismen, doch widmet sich die Untersuchung vor allem jenen menschlichen Eigenschaften, die diesem System Widerstand leisten. Dazu im Vorwort von Geschichte und Eigensinn: Uns interessiert, was, in einer Welt, in der es offenkundig ist, daß Katastrophen eintreten, die stoffverändernde Arbeit leistet. Das sind die geschichtlichen Arbeitsvermögen: Entstanden aus Trennungsprozessen und bewaffnet mit Eigensinn, der sich gegen die Trennung wehrt.31

Negt und Kluge berufen sich auf die kulturkritische Perspektive der Frankfurter Schule, wenn sie die Dissoziation der menschlichen Psyche in einzelne Eigenschaften als Produkt der kapitalistischen Gesellschaftsstruktur beschreiben. So wie die Menschheit in ihrer Gesamtheit, jede Kultur und jedes Individuum, unterliegen nach Negt und Kluge auch einzelne Bedürfnisse, Wünsche und Hoffnungen je eigenen Entwicklungsgeschichten.32 Unter dem Begriff des ,proletarischen Lebenszusammenhangs‘ subsumieren sie all jene Mechanismen und Strukturen, die dazu führen, dass Erfahrungen und Wünsche sich nicht autonom entfalten können. Während ein Teil der menschlichen Psyche in den ökonomischen Verwertungsprozess integriert wird, bleiben bestimmte Aspekte des Bewusstseins ausgespart. In Form des ,Realitätsprinzips‘ führen internalisierte Wertvorstellungen zu einer Aufspaltung der Psyche.33 Dadurch vollziehen sich an den Eigenschaften eines Menschen im Verlauf von dessen Lebenszusammenhang je unterschiedliche Entwicklungen, abhängig davon, ob sie der jeweiligen Verfasstheit der Gesellschaft dienlich sind oder nicht. Historisch haben Gesellschaften zahlreiche Instrumentarien entwickelt, darunter die Institutionen der Bildung und der Justiz, um diese Aufspaltung voran zu treiben. Bestimmte Eigenschaften werden in ihrer Entwicklung gestärkt, andere wiederum gehemmt oder gar unterdrückt. Negt und 31 Negt u. Kluge: „Geschichte und Eigensinn“, S. 5. 32 Ebd. 33 Vgl. Herbert Marcuse: Triebstruktur und Gesellschaft. Ein philosophischer Beitrag zu Sigmund Freud. Frankfurt/M. 1973, S. 141.

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Kluge erläutern, dass einzelne Aspekte der psychischen Erfahrungswelt damit ihr eigenes Schicksal entwickeln, das es aufzuzeichnen und zu untersuchen gälte.34 Eine Biographie könnte dem Leben eines Individuums in diesem Sinne nur gerecht werden, wenn sie die Entwicklungsgeschichten all seiner Eigenschaften versammelte, ohne dabei – wie es im biographischen Diskurs fast ausnahmslos der Fall ist – einzelne hervorzuheben und andere auszublenden. Im Gegensatz zu den Erfolgsgeschichten traditioneller Biographien richtet Kluge seinen Blick in den Lebensl ufen auch auf jene Nischen des menschlichen Bewusstseins, die sich ein gewisses Maß an Freiheit gegenüber dem Realitätsprinzip bewahren konnten. Er beschreibt einerseits den dauernden Druck, der auch auf diesen Eigenschaften lastet, sich den dominierenden Wertsystemen zu unterwerfen, andererseits aber auch das subversive Potential, das in diesem Konflikt liegt: [D]ie unmittelbar der Repression ausgesetzten Eigenschaften und Bedürfnisse [sind] durch ihre, allerdings meist ohnmächtige Konfrontation mit dem Herrschaftsinteresse bestimmt. Sie organisieren sich sehr wohl am Höchststand der Entwicklung, gerade infolge des Drucks, der auf ihnen liegt. Sie verändern ihre Gestalt, aber nicht ihre Energie. Beispiele hierfür sind unter anderem Sexualität, Phantasietätigkeit, Verstöße gegen die Eigentumsordnung.35

Anita G. Im Gegensatz zu Manfred Schmidt kann sich die Protagonistin der Erzählung „Anita G.“ nicht an die gesellschaftlichen Verhältnisse anpassen. Angst, ursprünglich eine verspätete Reaktion auf die Deportation der Eltern und Großeltern, treibt Anita G. in eine Außenseiterposition und führt zur ziellosen Flucht durch westdeutsche Städte, die schließlich in einer Nervenklinik endet. Mit der Abtötung jeglicher Empfindungen bei Anita G. wird die Protagonistin gewaltsam in einen Gesellschaftszusammenhang eingegliedert, der nach außen hin vorgibt, dem Ideal der Humanität verpflichtet zu sein, in seinen Tiefenstrukturen allerdings die Unterdrückungsmechanismen des Nationalsozialismus reproduziert.

34 Oskar Negt u. Alexander Kluge: „Öffentlichkeit und Erfahrung“. In: dies.: Der untersch tzte Mensch. Gemeinsame Philosophie in zwei B nden, Bd. 1. Frankfurt/M. 2001, S. 333 – 674, hier S. 672. 35 Ebd., S. 672 f.

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Die Wurzel für die Gefühle der Protagonistin liegen in einem Erlebnis während des Krieges. Anita G.’s subjektive Reaktion auf das, was ihr durch äußerliche und damit scheinbar objektive Kräfte geschieht, tritt allerdings erst verspätet ein, als sich die Verhältnisse bereits so weit verändert haben, dass Anita G.’s Verhalten aus der Perspektive der Vernunft unverständlich erscheint. Der Verlauf der ,Flucht‘ der Protagonistin wird von einer Erzählinstanz geschildert, die auf den ersten Blick Verständnis für Anita G. zu vermitteln scheint, die eigentlichen Gründe ihres Verhaltens jedoch nicht mehr thematisiert. Während Anita G.’s emotionale Motive auf die Vergangenheit gerichtet sind, beleuchtet der Text ihre Handlungen nur mit Blick auf die Gegenwart. Der Zusammenhang dieser zwei Zeitebenen bleibt damit in der Narration ausgespart. Bereits der erste Satz, mit dem ihre Flucht beschrieben wird, wirkt verstörend: „Natürlich beging sie Diebstähle auf ihrer langen Reise.“ (S. 734) Die Rede von einer ,langen Reise‘ steht im Widerspruch zur eigentlichen Handlung, geht es doch nicht darum, im Stile eines Bildungsromans entlang verschiedener Lebensstationen zum selbstbestimmten Subjekt des eigenen Lebens heranzureifen, sondern um die umgekehrte Entwicklung: ein Ausweichen vor Unterdrückungs- und Disziplinierungsmaßnahmen der Gesellschaft. Weder der Text noch das Verhalten der Figuren enthält ein befriedigendes Angebot für einen – vor allem sprachlich – adäquaten Umgang mit den Emotionen von Anita G. Der Lebenszusammenhang der Protagonistin wird im Verlauf der ersten Episode auf jene Lebensumstände verkürzt, die im juristischen Diskurs relevant erscheinen. Echtes Verständnis für ihre Handlungen im Sinne von Einsicht in deren Motive ist durch einen solchen Zugang nicht möglich: Warum begeht sie auf ihren Reisen immer wieder Eigentumsdelikte? Sie wird unter verschiedenen Namen im Fahndungsblatt gesucht. Weshalb ordnet dieser intelligente Mensch nicht seine Angelegenheiten befriedigend? Häufig wechselt sie ihr Zimmer, sie hat meist keines, weil sie sich mit den Wirtinnen überwirft. Man kann nicht wie ein Zigeuner in der Gegend herumziehen. Warum verhält sie sich nicht dementsprechend? Warum schließt sie sich dem Mann nicht an, der sich um sie bemüht? Warum stellt sie sich nicht auf den Boden der Tatsachen? Will sie nicht? (S. 734)

Wenn in den Lebensl ufen von Gefühlen die Rede ist, wirken diese Passagen meist verstörend auf die Leserin bzw. den Leser. Subjektive Affektzustände verweigern sich der sachlichen Sprache juristischer und wissenschaftlicher Diskurse, wie sie in den Lebensl ufen präsentiert wird. Dennoch spielen sie als Motive der ProtagonistInnen eine entscheidende Rolle in deren Leben

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– egal ob es sich dabei um Ängste und das Streben nach Sicherheit handelt oder um die idealistische Suche nach dem ,Guten‘, die sich auch bei Nata von Posa zuerst gefühlsmäßig äußert. Für alle Figuren stellt sich dabei die Frage, inwiefern sich diese Motive in den Gesellschaftszusammenhang, in dem sie leben, integrieren lassen. Zumeist vollzieht sich dann eine Anpassung an die objektiven Verhältnisse. Sowohl der Gerichtsrat Korti als auch Manfred Schmidt versuchen ihre eigene Sicherheit durch beruflichen Erfolg zu erringen. Dies führt schließlich auch im privaten Bereich zur ,Versachlichung‘ ihrer menschlichen Beziehungen. Die wechselnden Liebesaffären der männlichen Protagonisten sind geprägt von einer rationalen Logik, die andere vor allem als Mittel zur eigenen Bedürfnisbefriedigung wahrnimmt. Das bei weitem häufigste subjektive Motiv in den Lebensl ufen aber ist Angst. Kluge legt im Zusammenhang mit dem Begriff der Phantasie dar, wie aus dem Vorstellungsvermögen die Furcht vor gesellschaftlichen Sanktionen erwächst, wenn sich dieses subjektive Moment menschlicher Identität an die objektiven Verhältnisse anpasst, beispielsweise indem es sich in den kapitalistischen Verwertungsprozess integriert: Die Phantasie und das Vorstellungsvermögen, die in den Herrschaftsprozeß eingehen, kommen vor als die Angst, im Betrieb einfach davonzulaufen, die Angst, aus der Schule zu flüchten, die Angst, Widerstand zu leisten, das heißt als Hemmfaktor, als Vorstellung der Folgen, die einen bedrohen, wenn man irgendetwas macht, das was anderes ist, als jemand zu gehorchen. Diese Vorstellungen in Form von Furcht vor Strafen, Liebesentzug usw., da wird Vorstellungsvermögen im Sinne der Herrschaft gebunden. Das ist auch Phantasie.36

Die Angst ist also jene Form von Gefühl, in der die gesellschaftlichen Unterdrückungs- und Herrschaftsprozesse im Individuum ihren Ausdruck finden. Angst hemmt jene Motive, die das Individuum zum Protest gegen die objektiven Verhältnisse führen könnten. Dass aber auch dieses Gefühl nicht unbedingt die Integration des Individuums in die Gesellschaft fördert, zeigt sich anhand von Anita G. In ihrem Fall wird schließlich jede subjektive Regung durch die gewaltsamen Disziplinierungsmaßnahmen von Justiz und Klinik ausgelöscht. Den LeserInnen stellt sich anhand der Summe der Erzählungen in den Lebensl ufen die Frage nach der Rolle subjektiver Motive, Gefühle und Wünsche in der deutschen Nachkriegsgesellschaft. Die Art und Weise, in der die gesellschaftlichen Disziplinierungsprozesse auf das Individuum 36 Kluge: Gelegenheitsarbeit einer Sklavin, S. 244 f.

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einwirken, mag subtiler geworden sein, dennoch steckt in ihnen die gleiche strukturelle Gewalt, die im Nationalsozialismus offen zutage trat. Von Formen eines positiven Umgangs mit Gefühlen als Ausdruck subjektiver Motive wird in den Lebensl ufen nicht erzählt. Es bleibt in dieser Hinsicht bei der „traurige[n] Geschichte“ (S. 675), von der bereits im Vorwort der Lebensl ufe die Rede ist. In Hinblick auf die biographische Rede über Gefühle vollzieht sich in den Lebensl ufen keine „gewaltsame Richtigstellung der verdrehten Verhältnisse zu den Dingen.“37 Die Lebensl ufe übernehmen – mimetisch – die Sprache rationaler Diskurse. Der Text nimmt jene Aspekte individueller Lebenszusammenhänge in den Blick, die im biographischen Schreiben normalerweise ausgespart werden. Indem er an der Unzulänglichkeit der traditionellen biographischen Rede scheitert, verdeutlicht er die Unmöglichkeit, subjektive Phänomene innerhalb der herrschenden Diskurse adäquat auszudrücken. Solche Erkenntnis setzt allerdings auch produktive Lektüre des Textes durch die Leserinnen und Leser der Lebensl ufe voraus. Da Kluges Prosa immer noch erzählt und immer noch vorwiegend von Menschen erzählt, gibt es in jedem seiner Lebensläufe die Aktivität einer Figur, die sich gegen ihren geschichtlichen Zuschnitt und gegen ihr Benanntsein in der Akte wehrt. Dadurch erst wird ihr Leben zu einem berichtenswerten Fall. Es gibt also in Kluges Texten, wie auch als Thema in seinem Geschichtsprojekt, die verteilten subjektiven Motive und die Dominanz der Formen. Sie bewegen sich gegeneinander. Diese Gegenbewegung materialisiert sich im Text als ein montierendes Erzählprinzip.38

Obwohl Alexander Kluge in seinen Lebensl ufen keineswegs dem dokumentarischen Anspruch traditioneller Biographien folgt, bleiben die Erzählungen ,realistisch‘. Mehr noch: Sie dienen der Selbstreflexion des biographischen Diskurses, indem sie auf jene Mechanismen aufmerksam machen, die traditionelle Formen biographischen Schreibens an ,geschlossene‘ Subjektkonzepte binden. Die ,Geschichten‘, von denen die Lebensl ufe erzählen, betrachten subjektive Lebenszusammenhänge aus objektiver Perspektive, indem sie verdeutlichen, wie sich historische Prozesse in die Biographie des Einzelnen einschreiben. Vor allem zeigt sich aber, wie der biographische Diskurs reglementiert, was sagbar ist von einem Leben, aber auch, welche Aspekte des Lebenszusammenhangs von biographischen Konventionen unterdrückt werden.

37 Ebd., S. 217. 38 Carp: Kriegsgeschichten, S. 81.

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Die Gesamtheit der Lebensl ufe zeigt, wie tief die deutsche Nachkriegsgesellschaft von ihrer faschistischen Vergangenheit geprägt war. Hatte Kracauer in den 20er Jahren festgestellt, dass es in der traditionellen Biographik zumeist zu keiner kritischen Auseinandersetzung mit der Vergangenheit kommt, sondern Biographien häufig als Tragsäulen einer erstarrten Gesellschaftsordnung dienen, so verdeutlicht Alexander Kluges subjektiv-objektive Betrachtung der Geschichte anhand von dokumentarisch-fiktiven Biographien das kritische Potential der Gattung Biographie, dem sich der biographische Diskurs bisher verweigert hatte. Literaturverzeichnis Adorno, Theodor W.: „Was bedeutet: Aufarbeitung der Vergangenheit“. In: ders.: Eingriffe. Neun kritische Modelle. Frankfurt/M. 1963, S. 125 – 147. Bödeker, Hans Erich: „Biographie. Annäherung an den gegenwärtigen Forschungs- und Diskussionsstand“. In: ders. (Hg.): Biographie schreiben. Göttingen 2003 (= Göttinger Gespräche zur Geschichtswissenschaft, Bd. 18), S. 9 – 64. Böhm-Christl, Thomas (Hg.): Alexander Kluge. Frankfurt/M. 1983. Bourdieu, Pierre: „Die biographische Illusion“. In: ders.: Praktische Vernunft. Zur Theorie des Handelns. Frankfurt/M. 1998, S. 75 – 83. Carp, Stefanie: Kriegsgeschichten. Zum Werk Alexander Kluges. München 1987. Der große Herder. Nachschlagewerk f r Wissen und Leben. Fünfte, neubearbeitete Auflage von Herders Konversationslexikon. Freiburg i. Br. 1957. Drews, Jörg: „Alexander Kluge.“ In: Der Friede und die Unruhestifter. Herausforderungen deutschsprachiger Schriftsteller im 20. Jahrhundert. Hg. v. Hans Jürgen Schultz. Frankfurt/M. 1973, S. 323 – 334. Kluge, Alexander: Gelegenheitsarbeit einer Sklavin. Zur realistischen Methode. Frankfurt/M. 1975. Kluge, Alexander: „Lebensläufe“. In: ders.: Chronik der Gef hle, Bd. 2: Lebensläufe. Frankfurt/M. 2000, S. 677 – 825. Kracauer, Siegfried: „Die Biographie als neubürgerliche Kunstform“. In: ders.: Das Ornament der Masse. Essays. Frankfurt/M. 1963, S. 75 – 80. Klemperer, Victor: LTI. Notizbuch eines Philologen. Berlin 1947. Losego, Sarah Vanessa: „Überlegungen zur ,Biographie‘“. In: BIOS 15 (2002), S. 24 – 46. Marcuse, Herbert: Triebstruktur und Gesellschaft. Ein philosophischer Beitrag zu Sigmund Freud. Frankfurt/M. 1973. Mog, Paul: „Kälte. Satirische ,Verhaltensforschung‘ in Alexander Kluges Lebensläufen“. In: Alexander Kluge. Hg. v. Böhm-Christl, S. 11 – 25. Negt, Oskar u. Alexander Kluge: „Öffentlichkeit und Erfahrung“. In: dies.: Der untersch tzte Mensch. Gemeinsame Philosophie in zwei B nden, Bd. 1. Frankfurt/ M. 2001, S. 333 – 674.

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Negt, Oskar u. Alexander Kluge: „Geschichte und Eigensinn“. In: dies.: Der untersch tzte Mensch. Gemeinsame Philosophie in zwei B nden, Bd. 2. Frankfurt/ M. 2001. Schmidt, Ulrich: Zwischen Aufbruch und Wende. Lebensgeschichten der sechziger und siebziger Jahre. Tübingen 1993. Stollmann, Rainer: „Alexander Kluge als Realist“. In: Alexander Kluge. Hg. v. Böhm-Christl, S. 81 – 102. Vogt, Jochen: „Der ratlos-rastlose Erzähler Alexander Kluge. Eine romantheoretische Annäherung“. In: Text + Kritik 85/86 (1985), S. 9 – 21. Weigel, Sigrid: Genea-Logik. Generation, Tradition und Evolution zwischen Kulturund Naturwissenschaften. München 2006.

Postmoderne Biographik Dieter Kühns N und Hans Magnus Enzensbergers Der kurze Sommer der Anarchie

Cornelia Nalepka Der Beitrag untersucht zwei biographische Darstellungen aus dem deutschsprachigen Raum, die der Dezentrierung des Subjekts, wie sie sich in Philosophie, Sprach- und Medientheorie seit den 1960er Jahren bemerkbar macht, in unterschiedlichem Ausmaß Rechnung tragen: Dieter Kühns N und Hans Magnus Enzensbergers Der kurze Sommer der Anarchie. Wenngleich diese biographischen Experimente nicht pauschal als „postmoderne Biographien“ bezeichnet werden können, veranschaulichen sie doch sehr gut Charakteristika postmodernen biographischen Schreibens. Theoretisch untermauert – wenn auch meist nicht explizit – werden diese Experimente vor allem von dekonstruktivistischen und poststrukturalistischen, die Einheit des Subjekts radikal anzweifelnden Positionen. Hier ist vor allem an das Ende der 1960er Jahre von Roland Barthes und Michel Foucault vertretene Konzept vom ,Tod des Autors‘ zu erinnern,1 wie auch an Pierre Bourdieus radikale Kritik an der ,biographischen Illusion‘ Mitte der 1980er Jahre.2 Ausgangspunkt der Untersuchung bieten zwei in den letzten Jahrzehnten zu beobachtende gegenläufige Tendenzen: Während einerseits wissenschaftlich fundierte, umfangreiche – oft als „monumental“ bezeichnete – Biographien den Versuch unternehmen, möglichst detailreich und lückenlos biographisches Faktenmaterial zu einer Person zusammenzuführen,3 kommt es andererseits seit den 1970er Jahren verstärkt zu 1

2 3

Roland Barthes: „La mort de l’auteur“. In: ders.: Le bruissement de la langue. Essais critiques IV. Paris 1984, S. 61 – 67 [Erstausgabe: 1968]; Michel Foucault: „Qu’estce qu’un auteur?“. In: Dits et crits 1954 – 1988. Bd. 1. 1954 – 1969. Hg. v. Daniel Defert u. François Ewald. Paris 1994, S. 789 – 821 [Erstausgabe: 1969]. Pierre Bourdieu: „L’illusion biographique“. In: Actes de la recherche en sciences sociales 62/63 (1986), S. 69 – 72. Siehe etwa Peter-André Alts Biographien über Friedrich Schiller (2000) und Franz Kafka (2005), Reiner Stachs dreibändige Kafka-Biographie (2002 ff.) oder Carl Corinos Biographie Robert Musils (2003).

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Versuchen, sich solchem Vollständigkeitsanspruch und einer traditionellen chronologischen Darstellungsweise des Lebens eines vermeintlich einheitlichen Subjekts zu entziehen.4 Stattdessen spielen die Verfasser und Verfasserinnen mit der Diskontinuität und Uneindeutigkeit des Lebens, was oft in der Aufgabe narrativer Kohärenz zugunsten diskontinuierlicher Plots und multipler Perspektiven zum Ausdruck kommt. Einige der Charakteristika postmodernen biographischen Schreibens, welche die zu untersuchenden Texte – in ganz unterschiedlichem Maß – aufweisen, sind: – das Zugrundeliegen eines dezentrierten Subjektbegriffs, – die Auffassung des Autors als kompilatorischer Schreiber vorgegebenen Materials bzw. als Schnittstelle einander überlagernder Texte, – das Aufweichen der Grenze zwischen Autor/in und Leser/in, – Infragestellen der Faktizität sowie Zweifel an der Objektivität des Quellenmaterials und damit einhergehend das Verfließen der Grenze zwischen der Darstellung von Fakten und Fiktion, – Zweifel an Kohärenz oder gar Teleologie des Lebens, – der fragmentarische Charakter der Darstellung, – Multiperspektivität bis hin zu widersprüchlichen Perspektiven, – diskontinuierliche und nicht-chronologische Erzählweisen, – der offene Möglichkeitsraum, – das Einbeziehen unterschiedlicher Textsorten, – Reflexionen auf einer Metaebene. Charakteristisch für postmoderne, mitunter auch als ,Anti-Biographien‘ bezeichnete Werke ist, dass sie es sorgfältig vermeiden, das Leben als eine kohärente und gerichtete Gesamtheit darzustellen oder die biographische Zeit erzählerisch als lineare Zeit zu konstituieren. Pierre Bourdieu übte 1985 vehement Kritik am hergebrachten Begriff der „Lebensgeschichte“:5 Dieser setzt voraus, dass ein Leben immer die Gesamtheit der Ereignisse einer als Geschichte verstandenen individuellen Existenz und zugleich die Erzählung dieser Geschichte ist. Dabei wird das Leben als ein vorgezeichneter, linear verlaufender Weg mit Kreuzungen verstanden, mit einem Anfang, einer Richtung, Abschnitten und einem Ende im doppelten 4

5

Neben den in diesem Beitrag näher untersuchten Büchern von Hans Magnus Enzensberger und Dieter Kühn sei hier besonders auf Wolfgang Hildesheimers Mozart (Frankfurt/M. 1977) und Enzensbergers Requiem f r eine romantische Frau (Berlin 1988) über Auguste Bußmann hingewiesen. Pierre Bourdieu: „Die biographische Illusion“. In: BIOS 1 (1990), S. 75 – 81, hier S. 75.

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Sinn: als anzustrebendes Ziel und als Ende der Geschichte. Eine bestimmte Philosophie von Geschichte – verstanden als Abfolge historischer Ereignisse – wird vorausgesetzt, die einer bestimmten Theorie der Erzählung inhärent ist. Bourdieu widersprach der Konvention, einzelne Elemente der menschlichen Identität in den scheinbaren biographischen Zusammenhang eines kohärenten Ganzen zu bringen, einer Konvention, welcher nachzukommen sich auch die Verfasser der hier näher betrachteten biographischen Texte – Dieter Kühn und Hans Magnus Enzensberger – weigern.

Zwischen Kunst und Wissenschaft: Dieter Kühns biographische Skizze N Dieter Kühns 1970 erschienene dokumentarisch-fiktive biographische Skizze N über Napoleon6 ist ein geeignetes Anschauungsbeispiel postmoderner Biographik, da sich der Autor – ganz im Sinne Pierre Bourdieus – einer kohärenten, widerspruchsfreien und abgeschlossenen Lebensbeschreibung verweigert und stattdessen mit dem offenen historischen Möglichkeitsraum spielt. Kühns Darstellung umfasst den Lebensabschnitt Napoleons von dessen Geburt bis zum Staatsstreich am 18. Brumaire VIII (1799), in dessen Folge Napoleon als Erster Konsul Alleinherrscher über Frankreich werden sollte, zeichnet jedoch nicht nur den historisch überlieferten Verlauf nach, sondern entwirft von diesem ausgehend parallel mehrere, geschichtlich durchaus mögliche Alternativ-Biographien. N/ Napoleon tritt sowohl als Artillerieoffizier, Marineoffizier, Landwirt, Schriftsteller, Geistlicher wie auch als Hauslehrer auf, wobei all diese Karrieren angesichts der Anlagen Napoleons sowie der Zeitumstände tatsächlich plausibel erscheinen. Dass es Ns Bestimmung gewesen sei, als Sohn eines ehemaligen korsischen Freiheitskämpfers eine französische Militärschule zu besuchen und Artillerieoffizier zu werden, dafür führt Kühn das Stipendium ins Rennen, welches die Familie über Beziehungen für den Sohn erhalten hat. Das Einkommen des Vaters als Anwalt hätte die Kosten für die Ausbildung nicht decken können. Ns ausgeprägtes Interesse für Militär und seine herausragenden Leistungen in Mathematik begründen später den damals für einen Korsen nicht eben selbstverständlichen Eintritt in die Pariser Militärakademie. Jedoch war es seine Bestimmung, 6

Dieter Kühn: N. Frankfurt/M. 1970. Seitenangaben in Klammern beziehen sich ab hier auf diese Ausgabe.

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Landwirt zu werden, was sich während seiner Ausbildung durch die Tendenz, sich von den Kameraden abzusondern und durch seine Verbundenheit mit Korsika ankündigt. „[Liegt] Macht nicht ebenso im Ökonomischen wie im Militärischen?“7, fragt Kühn und lässt N recht erfolgreich ein Mustergut auf Korsika betreiben – schließlich hatte er schon früh in der Maulbeerbaumschule seines Vaters Erfahrungen sammeln können. Doch auch ein starkes Interesse an Geschichtsschreibung und Belletristik machen sich früh bei dem Knaben bemerkbar, und so ist es offensichtlich seine Bestimmung, Schriftsteller zu werden, auch, um eine Geschichte Korsikas zu schreiben und dadurch den Freiheitskampf seiner Landsleute zu unterstützen. Die gleichberechtigte Stellung der alternativen Berufslaufbahnen betont Kühn durch parallele Überleitungen: „Es war nicht seine Bestimmung, Artillerieoffizier zu werden, es war seine Bestimmung, Landwirt zu werden“8, leitet er über von der Schilderung der Offizierslaufbahn zu jener als Landwirt, um kurz darauf zur Schriftstellerkarriere zu wechseln: „Es war nicht seine Bestimmung, Landwirt zu werden, es war seine Bestimmung, Schriftsteller zu werden.“9 Jedoch bereits im folgenden Abschnitt werden Ns Geschicke als Artillerieoffizier während der Hungerrevolten 1789 im Burgund geschildert (S. 28 – 31), nur um wenige Seiten weiter ausführlich Ns Ansichten als junger, aufstrebender Geistlicher über die Staatsordnung darzulegen (S. 32) und ihn sodann als Berater des Königs zu präsentieren (S. 42 – 44). Die politischen Ansichten Ns werden bei dieser Gelegenheit abwechselnd aus der Perspektive des Geistlichen – welcher für eine gemäßigte Verbesserung des bestehenden Systems eintritt – sowie des revolutionären Offiziers – der sich dementsprechend radikaler für die Abschaffung der Privilegien von Adel und Klerus äußert – veranschaulicht. So setzt sich der Reigen der unterschiedlichen Laufbahnen Ns fort, und mit der Zeit wird auch auf die optische Kenntlichmachung des Perspektivenwechsels durch die Einteilung in Abschnitte verzichtet. Mitten im Absatz wird N vom Geistlichen zum Artillerieoffizier. Sowohl persönliche Anlagen als auch äußere Umstände und gesellschaftliche Einflüsse dienen als Erklärung für die unterschiedlichen Karrieren, die N durchläuft. Kühns Buch ist ein Beispiel für den Versuch, Person und Strukturen – entgegen des für traditionelle Biogra-

7 8 9

Ebd., S. 22. Ebd., S. 21. Ebd., S. 23.

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phien typischen eindimensionalen Entelechiegedankens – miteinander zu verbinden.10 Der Autor erklärt die Motivation für dieses Spiel mit dem Wunsch, zu zeigen, dass eine tradierte Entwicklung im Rückblick immer konsequent und folgerichtig erscheint, er selbst sich jedoch vehement gegen einen Fatalismus gegenüber historischen Entwicklungen verwehrt: Es kommt zwar ,so‘, hätte aber auch ,anders‘ kommen können, da es an etlichen Punkten in Ns/Napoleons Leben viele alternative biographische Möglichkeiten gegeben hat.11 Zuvor hatte Kühn sich in seiner Doktorarbeit über Robert Musils Mann ohne Eigenschaften, welche 1965 unter dem Titel Analogie und Variation. Zur Analyse von Robert Musils Roman ,Der Mann ohne Eigenschaften‘ in Bonn erschienen ist, mit dessen „Denkmodell des Möglichkeitssinnes“12 auseinandergesetzt und sich auch in Bezug auf N davon inspirieren lassen. So definiert Ulrich, die Hauptperson in Musils Mann ohne Eigenschaften, den Möglichkeitssinn als „die Fähigkeit […], alles, was ebensogut sein könnte, zu denken und das, was ist, nicht wichtiger zu nehmen als das, was nicht ist.“13 Während Musil den Möglichkeitssinn jedoch lediglich erörtert habe, sieht Kühn in seinem eigenen Buch dessen erste Umsetzung in eine literarische Form.14 Dabei verliert der bei Musil durchaus noch identifizierbare Erzähler seine Konturen: „Erzählend demonstriert [Kühn] unermüdlich den Entwurfcharakter von Erzählen“ und erwirkt so einen „Erzähler ohne Eigenschaften.“15 Kurz nach der Mitte des Buches wird N als befehlsverweigernder Offizier erschossen, erleidet den ersten einer Reihe von nicht natürlichen Toden und entgeht nur durch Zufall der Lähmung, weil gerade kein Knotenstock zur Hand ist, um ihm die Wirbelsäule zu zertrümmern (S. 48). Neben dem Militärgericht sind in kurzer Abfolge (S. 46 – 52) auch ein Querschläger während der Stürmung eines Hauses durch korsische 10 Helmut Scheuer: „N – Dieter Kühn und die Geschichte“. In: Dieter K hn. Hg. v. Werner Klüppelholz u. Helmut Scheuer. Frankfurt/M. 1992, S. 21 – 38, hier S. 30. 11 Dieter Kühn: „Die Wirklichkeit des Hauptweges und die Möglichkeiten der Nebenwege“. Ein Gespräch zwischen Dieter Kühn und Uwe Schultz. In: Dieter K hn. Hg. v. Klüppelholz u. Scheuer, S. 327 – 337, hier S. 327 f. 12 Brief von Dieter Kühn an die Verfasserin v. 10.9.2008. 13 Robert Musil: Der Mann ohne Eigenschaften. Erstes Buch, hg. v. Adolf Frisé. Reinbek b. Hamburg 1981, S. 16. 14 Brief von Dieter Kühn an die Verfasserin v. 10.9.2008. 15 Norbert Mecklenburg: „Dieter Kühn“. In: Deutsche Literatur der Gegenwart in Einzeldarstellungen. Hg. v. Dietrich Weber. Stuttgart 1977, S. 337 – 355, hier S. 349.

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Separatisten im Freiheitskampf, Pascal Paoli, der korsische Widerstandskämpfer und Freund und Mitstreiter von Napoleons Vater, sowie ein Separatist, der Rache an einem Vaterlandsverräter übt, für Ns Tode verantwortlich. Diesen recht fulminanten Abschnitt über Anschläge auf Ns Leben, denen er mitunter knapp – oder eben doch nicht – entgeht, beendet Kühn lakonisch mit den Worten „Es waren wirre Zeiten.“ (S. 52), wodurch die Verwirrung aufgrund der einander gänzlich widersprechenden Handlungsverläufe zweifellos noch betont, aber auch ironisiert wird.

Die Dialektik von Wirklichkeit und Möglichkeit Doch die Verwirrung ist nicht total, denn es handelt sich ja nicht um eine vollkommen beliebige Ansammlung fiktiver Lebensentwürfe. Kühn führt zwar keine Quellen an, erwähnt aber, dass N während seiner Ausbildung Tagebuch führte (S. 21) und sich als junger Offizier Notizen gemacht hatte (S. 37). Es ist dem Text nicht zu entnehmen, ob diese Notizbücher dem Bereich des Wirklichen oder des Möglichen angehören. An anderer Stelle äußert sich Kühn jedoch zur Belegbarkeit auch der durchgespielten biographischen Alternativen durch Briefe, Tagebücher und Aufzeichnungen.16 Im Sinne der Dialektik von Wirklichkeit und Möglichkeit kommt der historischen Biographie die Rolle einer – eben der tatsächlich verwirklichten – unter vielen möglichen Biographien zu, ohne jedoch authentischer zu sein als andere. Gleichwohl aber bilden historische Fakten die notwendige Matrix, vor welcher die historisch möglichen Alternativen ihre Bedeutung erlangen oder überhaupt erst möglich werden. Im Falle einer prominenten Persönlichkeit wie Napoleon kann man davon ausgehen, dass die überlieferten Fakten den Leserinnen und Lesern soweit bekannt sein dürften, dass sie sich nicht einer gänzlich verwirrenden, beliebig erscheinenden Fülle von Möglichkeiten und Alternativen gegenübersehen. Vielmehr sollten sie im Stande sein, einem Spiel innerhalb des offenen Möglichkeitsraums und dem damit einhergehenden Verfließen von Fakten und – auch noch so wahrscheinlicher – Fiktion einiges abzugewinnen. Auf diese Weise eröffnet sich auch die Möglichkeit, der historischen Biographie die Rolle eines „Katalysator[s] der historischpolitischen Phantasie“17 zuzuweisen und so die Imagination von Autor und 16 Kühn: „Die Wirklichkeit des Hauptweges“, S. 327. 17 Wilhelm Voßkamp: „N“. In: Basis. Jahrbuch f r Deutsche Gegenwartsliteratur 2 (1971), S. 302 – 305, hier S. 302.

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Leser zu beflügeln. Kühn schärft die Aufmerksamkeit der Leserinnen und Leser für die Offenheit des historischen Möglichkeitsraumes, aber auch deren Skepsis gegenüber der Faktizität und Vollständigkeit historischer Berichte. Der Autor steht hier nicht mehr – wie in der traditionellen Biographie – als „Garant für die Wahrheit“18, sondern setzt Leser und Leserinnen voraus, welche sich kreativ an der Rekonstruktion gelebten Lebens, dessen tradierter Mythos von Abgeschlossenheit und Determiniertheit durch die verschiedenen Alternativentwürfe zerstört wird, beteiligen. Verstärkt wird der Eindruck der Indeterminiertheit und Offenheit von Ns Leben stilistisch noch durch den extensiven Einsatz des Konjunktivs und unvermittelt aufgeworfener, meist unbeantwortet bleibender Fragen.19 Kühns Methode gipfelt in einem alternativen ,Ende‘, nämlich der gemeinsamen Machtübernahme des Generals Joachim Murat und des Abbé Sieyès in Folge des Staatsstreiches am 18. Brumaire, bei dem N vor der Ratsversammlung erstochen wird, gefolgt von einer fünfseitigen Negation der historisch überlieferten Machtergreifung Napoleons und seiner weiteren Karriere als Kaiser Frankreichs wie auch der Kriegsgräuel und Not im Zuge der Napoleonischen Feldzüge.20 Dass das Buch ohne Satzzeichen schließt, lässt sich als weiterer Hinweis auf die Unabgeschlossenheit des historischen Möglichkeitsraumes lesen, wie auch als Aufforderung an die Leserinnen und Leser, sich nicht mit den vom Autor zur Verfügung gestellten Möglichkeiten zu begnügen, sondern weitere Alternativen zu entwerfen und das vorgeführte Denk- und Erzählmodell auch auf andere Biographien und historische Ereignisse anzuwenden.21 18 Rosemarie Zeller: „Biographie und Roman. Zur literarischen Biographie der siebziger Jahre“. In: LiLi 10 (1980) H. 40, S. 107 – 126, hier S. 115. 19 Zum Einsatz sprachlich-stilistischer Mittel in N siehe Margit Raders: „Literatur als Geschichte. Geschichte als Literatur. Überlegungen zum Werk Dieter Kühns und Golo Manns“. In: Dieter K hn. Ein Treffen mit dem Schriftsteller ber sein Werk. Hg. v. Ofelia Martí-Peña u. Brigitte Eggelte. Bern u. a. 2001, S. 17 – 31, hier S. 29 – 31. und Recio Ariza u. María Ángeles: „Wie ,unverbindlich‘ ist der Konjunktiv? Die Funktion des Konjunktivs in N“. In: Dieter K hn. Hg. v. Martí-Peña u. Eggelte, S. 145 – 150. 20 Diese Negierung hat nach Ansicht von Wolfgang Werth jedoch eher den Effekt, das Geschehen in Erinnerung zu rufen und zu bestätigen, denn es als relativ zu entlarven. Siehe Wolfgang Werth: „Ein Kaiser als Puppe des Zufalls“. In: Die Zeit, 1. 1. 1971, S. 21. 21 Letzteres erhofft sich Kühn dezidiert: Dieter Kühn: „Napoleon durch Zufall?“ [Leserbrief]. In: Die Zeit, 15. 1. 1970, S. 33.

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Die hier geforderte Art der Rezeption verlangt nach einer aktiv-kreativen Leserschaft: Wenn auch der Leser im strengen Sinne nicht mitentscheidet, sondern nur nachvollzieht, was der Autor ihm vorgegeben hat, sollte man dies nicht vorschnell als ein passives Lesen bewerten. Denn in der hin- und herbewegenden Denkübung soll der Leser […] die Fähigkeit des Mit- und Weiterdenkens trainieren und, darüber hinaus, selbst die ,Lust am Erfinden‘ gewinnen.22

Mitunter sind an dem Buch die Kürze und der allzu fragmentarische Charakter der gebotenen Alternativ-Entwürfe bemängelt worden, die im Verlauf des Buches gegenüber der historischen Person und Realität immer stärker zurücktreten.23 Doch lässt sich auch ein positiver Aspekt dieses Fragmentcharakters feststellen: Die fragmentarische Erzählweise führt den Appell Jean Paul Sartres an die Leser zur aktiven Vervollständigung oder zum kreativen Kombinieren und Weiterdenken mit sich: Durch die nebeneinander gestellten widersprüchlichen Entwürfe bietet sich kein abgeschlossener, teleologischer Lebenslauf mehr für die Lektüre an. Hier lässt sich eine Parallele zur Rezeption von Hypertext ziehen, die ja ebenso vom Leser und von der Leserin im Rahmen eines vorgegebenen Gerüsts einen spielerisch-kombinatorischen Umgang und so eine aktivere, eigenverantwortlichere Rolle im Rezeptionsprozess erfordert. Autoren von Hypertexten stellen zwar die Struktur der Knoten und Verweise (Links) zur Verfügung, in welcher Abfolge die Leser diese Knoten jedoch miteinander kombinieren, ist diesen freigestellt und kann nicht vorhergesehen werden. Die Verknüpfung der Knoten bleibt dem individuellen Interesse überlassen und unterscheidet sich von einem Lesedurchgang zum nächsten. Dabei können durchaus einander widersprechende Blickwinkel eingenommen werden.24 Tatsächlich ist das Buch, indem es sich nicht der linearen, stringenten Erzählweise verschreibt, sondern jede Erzählung – also auch die historisch belegte – als lediglich eine unter vielen möglichen gelten lässt, als eine Vorwegnahme biographischen Hypertexts gesehen worden.25 22 Hee-Kwon Jang: Experiment mit der Geschichte. Zur Erz hlform der biographischen Romane Dieter K hns. Bielefeld 2000, S. 197 f. 23 Harald Hartung: „Synthetische Authentizität. Über einige Literaturcollagen“. In: Neue Rundschau 82 (1971), S. 144 – 158, hier S. 155 und Voßkamp: „N“, S. 303. 24 Zur Einführung in die Hypertext-Theorie siehe George P. Landow: „Hypertext. An Introduction“. In: ders.: Hypertext 3.0. Baltimore 2006, S. 1 – 52. 25 David Oels u. Stephan Porombka: „Netzlebenslinien. Probleme der Biographie im digitalen Zeitalter“. In: Grundlagen der Biographik. Theorie und Praxis des bio-

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Proteische Praxis und biographischer Zufall Angesichts der vielen verschiedenen Rollen, in denen N dargestellt wird, fühlt man sich an den Anfang der 1970er Jahre von dem amerikanischen Psychiater Robert Jay Lifton geprägten Begriff des „proteischen Selbst“26 erinnert, welcher eine flexible, vielseitige Persönlichkeit bezeichnet, die fähig ist, sich immer neuen Situationen anzupassen. Dieser Begriff wurde von dem Soziologen Ronald Hitzler aufgenommen, erweitert und in Zusammenhang mit der zunehmenden Zerteilung der alltäglichen Lebenswelt des modernen Menschen in nicht mehr zusammenhängende „Sinnprovinzen“27 gebracht. Er erklärt, wie es Individuen gelingt, aus den großteils völlig verschiedenen Teilzeit-Aktivitäten etwas Zusammenhängendes, eben ihr Leben, zu formen und verwendet dabei den – an Claude Lévi-Strauss Begriff der bricolage angelehnten –28 Ausdruck des „Sinn-Bastelns“.29 Wir erleben die Welt nicht aufgrund eines genetischen Programms, eines metaphysischen oder historischen Gesetzes, sondern aufgrund unserer Interpretationen: Wir produzieren ständig den Sinn, den die Welt für uns hat. Diese Fähigkeit, Sinn zu setzen und Wirklichkeit zu konstruieren, ermöglicht es, aus großteils völlig verschiedenen TeilzeitAktivitäten ein Ganzes zu basteln. Das Sinn-Basteln gestaltet sich zugleich als identitätssichernde Suche nach dem ,Selbst‘. Hitzler wirft die Frage auf, ob die hektische Sehnsucht nach Selbstverwirklichung stetig weiter eskaliert oder ob es gelingen werde, ein – seiner Ansicht nach erstrebenswertes – neues Selbstverständnis zu gewinnen, eines „der unendlichen Inszenierungen und Maskeraden, der situativen Exzentrik, des spielerischen, ja des aleatorischen Lebensvollzugs“.30 Die diesem Selbstverständnis entsprechende Praxis bezeichnet der Soziologe – in Anlehnung an Lifton bzw. an den griechischen Meeresgott, dessen Lebensform in der Veränderung von Aggregatszuständen besteht – als „proteische Praxis“31, welche die Suche nach dem ,eigentlichen‘ Subjekt zugunsten eines spielerischen

26 27 28 29 30 31

graphischen Schreibens. Hg. v. Christian Klein. Stuttgart, Weimar 2002, S. 129 – 142, hier S. 137 f. Robert Jay Lifton: „Protean Man“. In: Archives of General Psychiatry 24 (1971), S. 298 – 304. Ronald Hitzler: Sinnwelten. Ein Beitrag zum Verstehen von Kultur. Opladen 1988, S. 127 (= Beiträge zur sozialwissenschaftlichen Forschung, Bd. 110). Claude Lévi-Strauss: La pens e sauvage. Paris 1962. Hitzler: Sinnwelten, S. 147. Ebd., S. 167. Ebd., S. 168.

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Sich-Einlassens auf beliebige Konstellationen in variierenden Bezugsrahmen aufgibt – eine Praxis, welche ganz offensichtlich eine radikale Dezentrierung des Subjekts bedingt und welcher N in Kühns Buch bereits nachzukommen scheint. Für die Leser hingegen sieht Helmut Scheuer in N ein Angebot, sich in der komplexen und differenzierten Welt des Ungewissen und Vorläufigen auf „biographische ,Planspiele‘“32 im Dienste der Selbstbesinnung und Stärkung der Ich-Autonomie einzulassen. Schwerer als die Fähigkeit des Individuums in immer neuen Situationen Sinn zu setzen, wiegt bei Kühn jedoch der biographische Zufall: So gehört es zu seinen „Grundüberzeugungen […], daß das Individuelle in seiner Präge- und Leitfunktion weit zurücksteh[t] nicht nur hinter der lenkenden und bestimmenden Macht des biographischen Zufalls, sondern auch hinter der des sozialen Rollenschemas.“33 Kühn hält der für klassische Biographien charakteristischen Teleologie und Determiniertheit des Lebens das Zufallsmoment, als den Verlauf der Geschehnisse konstituierenden Faktor, entgegen. Da Zufälle mitunter für vermeintlich überraschende Wendungen sorgen, stellen sie auch ein probates Mittel dar, Lücken im Handlungsablauf erst gar nicht mittels Spekulation füllen zu müssen. Glück (S. 71), ein „guter Stern“ (S. 85), beurlaubte Kompanieführer (S. 45), ein fehlender Holzknüppel (S. 48) oder eine verirrte Kugel (S. 52) werden dafür verantwortlich gemacht, wie die Dinge ihren Lauf nehmen. Ein im Dunkeln übersehener Ast bewahrt die Kutsche, mit welcher N nächtens reist, vor dem Absturz in den Fluss (S. 73). Angesichts der Fülle von Zufällen verstärkt sich noch der Eindruck, dass es auch ein anderer als Napoleon hätte sein können, der zum Kaiser Frankreichs aufsteigt, dass also dieser N selbst in gewisser Weise auch austauschbar ist – N fungiert als anonymer Platzhalter, als „potentieller Napoleon“.34 Der Autor untergräbt dadurch die tradierten Formen der Biographie ,großer Männer‘, der mythischen Heldenverehrung und der teleologisch determinierten positivistischen Geschichtsschreibung, die zudem durch den Einsatz alltagssprachlicher Ausdrücke und ironischer Einwürfe unterminiert werden. So heißt es z. B. im Zusammenhang mit der Seeschlacht bei Abukir: „Die Franzosen, diese schlappen Langschläfer, sollen jetzt mal 32 Scheuer: „N – Dieter Kühn und die Geschichte“. In: Dieter K hn. Hg. v. Klüppelholz u. Scheuer, S. 33. 33 Günter Blöcker: „Zwischen Fakten und Fiktion. Der Erzähler Dieter Kühn“. In: Merkur 27 (1973), S. 1075 – 1078, hier S. 1077. 34 Lothar Baier: „Wie die Macht wächst. Klaus Stiller: ,H‘ / Dieter Kühn: ,N‘ – Dokumentarische Collagen über Hitler und Napoleon“. In: Frankfurter Allgemeine Zeitung, 27. 10. 1970, Literaturblatt S. 2L.

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merken, was harte englische Frühaufsteher sind!“ (S. 83) bzw. spricht die Bevölkerung nach einer von Murat gewaltsam einberufenen Abgeordnetenversammlung vom „Konzil der Hosenscheißer“ (S. 103). Im selben Zusammenhang schreibt Kühn: „Der mitreisende Marinepfarrer ruft den Gott der englischen Marine an, er soll als unsichtbarer Richtkanonier mitwirken: eine Kugel für den bösen N, eine Kugel für den bösen Admiral, je eine Kugel für je einen seiner bösen Marschälle, Kugeln für jeden der bösen Offiziere da drüben, den Rest für die Mannschaft.“ (S. 82), oder: „Späterer Rückblick auf solche Vorgänge führte Marschall Marmont zum Schluß: ,Die Hand der Vorsehung führte uns und bewahrte uns vor der Katastrophe.‘ Amen.“ (S. 85).

Das Spiel mit der virtuell vollständigen Information Kühns Buch erscheint als eine frühe Umsetzung von Jean-François Lyotards postmoderner Idee der Kombination von virtuell vollständiger Information zu neuen, überraschenden Zusammenhängen mittels Phantasie. Den Unterschied zum Umgang mit den Verfallserfahrungen während der D cadence sieht Lyotard 1979 in seiner Studie Das postmoderne Wissen darin, dass das postmoderne Subjekt diese nicht mehr als Verlust betrachtet.35 „Solange die Auflösung der Ganzheit noch als Verlust erfahren wird, befinden wir uns in der Moderne. Erst wenn sich eine andere Wahrnehmung dieses Abschieds – eine positive – herausbildet, gehen wir in die Postmoderne über.“36 Dem gegen die Postmoderne erhobenen Vorwurf der Beliebigkeit37 wird zur Verteidigung eine ihr zugrunde liegende radikale Pluralität als das sie auszeichnende Merkmal entgegen gehalten. Durch die Anerkennung dieser der Gesellschaft zugrunde liegenden Verfassung werden plurale Sinn- und Aktionsmuster dominant und obligat. Als bloßer Auflösungsvorgang wäre diese Pluralisierung jedoch missverstanden, da es vielmehr um die Konfrontation mit der Wirklichkeitsvielfalt realer Lebenswelten 35 Jean-François Lyotard: Das postmoderne Wissen. Graz, Wien 1986, S. 121. 36 Wolfgang Welsch: Unsere postmoderne Moderne. Weinheim 1987, S. 175. Welsch orientiert sich in seiner Einschätzung an Lyotard. 37 So hält etwa Jürgen Habermas als vehementer Kritiker der Postmoderne die „These vom Ausbruch der Postmoderne für unbegründet“ und möchte die Bezeichnung „Postmoderne“ durch den Ausdruck „Neue Unübersichtlichkeit“ ersetzt wissen. ( Jürgen Habermas: Die Neue Un bersichtlichkeit. Frankfurt/M. 1985, S. 145.)

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geht.38 Für den postmodernen Menschen ist es dabei maßgeblich, sich jenseits von Einheitsobsessionen der irreduziblen Vielfalt der Sprach-, Denk- und Lebensformen bewusst zu sein und damit umgehen zu können,39 sich also Fähigkeiten anzueignen, wie sie der proteischen Praxis zugeschrieben werden. Dies wird ihm nach Lyotard durch die heterogenen Sprachspiele ermöglicht, welche sich durch das Schwinden des Glaubens an die einst Orientierung bietenden Metaerzählungen freigesetzt haben. Die Welt des postmodernen Wissens sei demnach von „Spielen mit vollständiger Information“40 geleitet, in welchen die Daten im Prinzip allen Experten zugänglich sind und es kein wissenschaftliches Geheimnis gibt. Im Gegensatz zum Spiel mit unvollständiger Information kann der Vorteil, die „höchste Performativität“41, nicht im Erwerb zusätzlicher Information bestehen, sondern in einer neuen Anordnung von Daten. Diese neue Anordnung wird meist durch Verknüpfung von bislang als unabhängig geltenden Datenreihen erreicht, wobei diese Fähigkeit, zusammen zu artikulieren, was bisher nicht zusammen war, Phantasie voraussetzt: „Bei gleicher Kompetenz hängt der Zuwachs an Performativität letztlich von dieser Phantasie ab, die entweder erlaubt, einen neuen Spielzug durchzuführen, oder die Regeln des Spiels zu verändern.“ Ermöglicht wird dies durch Datenbanken, den „Enzyklopädien von morgen“, welche die Kapazität jedes Benutzers übersteigen. Sie sind die „ ,Natur‘ für den postmodernen Menschen.“ Ausschlaggebend ist dabei die Fähigkeit, „die für das zu lösende Problem relevanten Daten ,hier und jetzt‘ zu aktualisieren und sie zu einer effizienten Strategie zu ordnen.“42 Analog hierzu werden Spiel und Phantasie zur notwendigen Voraussetzung adäquater Lektüre von N, bei der die Leser und Leserinnen die virtuell vollständige Information des historischen Möglichkeitsraumes selbst zu neuen Zusammenhängen verknüpfen, zu einer jeweils aus individuellem Interesse und Vorwissen heraus realisierten Möglichkeit, die stets nur eine unter vielen ist.

38 39 40 41 42

Welsch: Unsere postmoderne Moderne, S. 5 u. S. 156. Ebd., S. 35. Lyotard: Das postmoderne Wissen, S. 152. Ebd., S. 151. Ebd., S. 151 f.

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Geschichte als Prozess Kühns Buch transportiert eine Auffassung von Geschichte als nie abgeschlossener, immer im Wandel befindlicher Prozess. In einer Vielzahl unterschiedlicher Perspektiven werden die Ereignisse zwar in chronologischer Reihenfolge dargelegt, jedoch keiner Teleologie unterworfen. In diesem Zusammenhang ist ein Blick auf Michel Foucaults Geschichtsauffassung hilfreich, wie er sie 1970 in seiner Inauguralvorlesung am Collège de France dargelegt hat und mit welcher Kühns Auffassung starke Parallelen aufweist. Ziel der Geschichtsschreibung, so Foucault, dürfe es nicht mehr sein, Ereignisse in der Einheit eines großen, homogenen und starr hierarchisierten Werdens, in der Relation von Ursache und Wirkung zu verstehen oder Strukturen zu finden, die dem Ereignis vorausliegen. Vielmehr gehe es darum, „die verschiedenen, verschränkten, oft divergierenden aber nicht autonomen Serien zu erstellen, die den ,Ort‘ des Ereignisses, den Spielraum seiner Zufälligkeit, die Bedingungen seines Auftretens umschreiben lassen.“43 Diskursive Ereignisse sollten in homogenen, aber zueinander diskontinuierlichen Serien behandelt werden, wobei es sich bei dem Diskontinuierlichen nicht um die Aufeinanderfolge der Zeit und nicht um die Vielzahl der verschiedenen denkenden Subjekte handle, sondern um die Zäsuren, die den Augenblick zersplittern und das Subjekt in eine Vielzahl möglicher Positionen und Funktionen zerreißen. Eine solche Diskontinuität treffe und zersetze auch noch die kleinsten, bislang immer anerkannten und schwer zu bestreitenden Einheiten, den Augenblick und das Subjekt. Zwischen den Elementen der diskursiven und diskontinuierlichen Serien ließen sich keine Beziehungen in der Art einer mechanischen Kausalität oder einer idealen Notwendigkeit herstellen, vielmehr müsse der Zufall als Kategorie in die Produktion des Ereignisses eingehen.44 Dem Zufall wird hier eine maßgebliche Rolle in historischen Prozessen zugewiesen, die ihm auch in Kühns Buch zugeschrieben wird. Foucaults Geschichtsauffassung vertritt deutlich einen dezentrierten Subjektbegriff, wie er auch bei Kühn zu finden ist, dessen N sich in eine Vielzahl möglicher Positionen und Funktionen aufsplittet. 43 Michel Foucault: Die Ordnung des Diskurses. Inauguralvorlesung am Coll ge de France – 2. Dezember 1970. Frankfurt/M. u. a. 1970, S. 39. 44 Ebd., S. 40 f.

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Der Kreis der Fragmente Das von Kühn angewandte literarische Verfahren zur Infragestellung der Faktizität ist von den Vertreterinnen und Vertretern des Nouveau Roman entwickelt worden, worauf bereits Rosemarie Zeller hinweist: An jeder Stelle, an welcher der nächste Schritt fällig wird, ist dieser als ein nicht notweniger dargestellt, sodass der Lebenslauf in eine Reihe einander ausschließender Varianten aufgelöst wird, welche sich nicht mehr zu einem einheitlichen Bild zusammenfügen lassen.45 Die literarische Strömung des Nouveau Roman und der Nouvelle Autobiographie hat einen bedeutenden Beitrag zur Geschichte der Darstellungsversuche fragmentarischer Erfahrung, sich auflösender Sinnzusammenhänge und hinterfragter Wahrheitsbegriffe und der damit einhergehenden Entwicklung neuer Techniken ,dezentrierten Erzählens‘, wie sie für die postmoderne Romanliteratur charakteristisch wurden,46 geleistet. Die Abwendung von einer strikt chronologischen Erzählweise zählt zu den Charakteristika der Strömung, deren Vertreter sich vor allem im Frankreich der 1950er bis 1970er Jahre gegen die klassische, die Illusionen von Ganzheit und Einheit vermittelnde Romanform stellten. In ihren Bemühungen um eine möglichst neutrale Haltung, aus der die sichtbare Objektwelt registriert und unter Vermeidung jeglicher Individualität geschildert wird, konterkarierten diese Autorinnen und Autoren in ihren Werken Kausalität und Chronologie. Vermieden wird dabei auch jede Deutung des Dargestellten: Die Welt, die Dinge sind einfach da, ohne besondere Bedeutung. Es gilt, der reinen Präsenz mittels Sprache gerecht zu werden. Demnach kommen Adjektive oder Metaphern in diesen Romanen wenig bis gar nicht zum Einsatz – nicht nur in Bezug auf die Dingwelt, sondern auch auf die geschilderten Personen. Es geht nicht mehr um deren Innenleben und Wahrnehmungen, sondern um die bloß vorhandene Oberfläche. Der Ablehnung der Vorstellung von Wirklichkeit als eines vorgegebenen Sinnzusammenhanges entsprechend, wollen die Nouveaux Romanciers die Zusammenhanglosigkeit von Erfahrung vermitteln.

45 Zeller: Biographie und Roman, S. 112. 46 Siehe hierzu v. a. Karl Alfred Blüher: „Die Dezentrierung der Erzählinstanz in Robbe-Grillets Romanen“. In: Robbe-Grillet zwischen Moderne und Postmoderne. ,Nouveau Roman‘, ,Nouveau Cin ma‘ und ,Nouvelle Autobiographie‘. Hg. v. Karl Alfred Blüher. Tübingen 1992, S. 77 – 99.

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Die sich ab den 1980ern aus dieser Strömung herausbildende Nouvelle Autobiographie scheint per se ein Widerspruch zu dieser anti-individualistischen Weltsicht zu sein. Ihr prominentester Vertreter, Alain RobbeGrillet, sieht sie jedoch als eine logische Folgeerscheinung des Nouveau Roman, der immer schon autobiographisch und keineswegs neutral, unparteiisch und objektiv gewesen sei.47 Vielmehr sei es trotz der Fülle der in den Romanen vorkommenden Gegenstände letztlich „doch immer und zuerst der Blick, der sie sieht, das Denken, das sie wiedersieht, die Leidenschaft, die sie verzerrt“48, und so hätten die Gegenstände außerhalb der – wirklichen oder eingebildeten – Wahrnehmung der Menschen keinerlei Existenz. Erklärtes Ziel des Nouveau Roman sei gar die „totale Subjektivität“49, und Robbe-Grillet geht sogar so weit, zu behaupten, seine Romane seien subjektiver als etwa jene Balzacs, der mit einem allwissenden, allgegenwärtigen, also auktorialen Erzähler operiere. Demgegenüber würde der Nouveau Roman, der Chronologie, geschlossene Handlung und einheitliche Charaktere auflöst, der realen Welt der Leser mit ihren schwindenden Normen viel eher entsprechen, in der sich diese wie auch im modernen Roman verlieren.50 Nicht zufällig sei der Nouveau Roman in einer Krisenzeit, nach dem Zweiten Weltkrieg, entstanden, als der Wahrheitsbegriff in Frage gestellt und jedes vorgegebene Muster, die Welt zu verstehen, abgelehnt wurde.51 Für Robbe-Grillet gibt es nicht ,die‘ Wahrheit, sondern er müsse selbst fortwährend eine neue Wahrheit erschaffen, so wie jeder andere Mensch auch.52 Wenn dies für den Nouveau Roman gilt, so auch für die Nouvelle Autobiographie. Zwar beteuert RobbeGrillet in Der wiederkehrende Spiegel,53 nie über etwas anderes gesprochen zu haben als über sich und sein Inneres, jedoch nur, um sogleich die Unmöglichkeit innerer Tiefe und ihrer Repräsentation zu konstatieren und das Ich an sich als hassenswerte Wiederkehr des Biographismus anzuprangern.54 Traditionelle Autobiographien sieht er in dem Drang moti47 48 49 50 51 52 53

Alain Robbe-Grillet: Neuer Roman und Autobiographie. Konstanz 1987, S. 14. Alain Robbe-Grillet: Argumente f r einen neuen Roman. München 1965, S. 85. Ebd., S. 86. Ebd., S. 85. Robbe-Grillet: Neuer Roman und Autobiographie, S. 18. Ebd., S. 13. Alain Robbe-Grillet: Der wiederkehrende Spiegel. Frankfurt/M. 1986; erschien 1985 unter dem Originaltitel Le Miroir qui revient. Daneben werden auch Ang lique ou l’enchantement (1988) und Les Derniers Jours de Corinthe (1994) vom selben Autor der Nouvelle Autobiographie zugerechnet. 54 Robbe-Grillet: Der wiederkehrende Spiegel, S. 9 f.

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viert, dem an sich voller Widersprüche steckenden Leben nachträglich eine Konsistenz zu verleihen. Die dem Wiederkehrenden Spiegel zugrunde liegende Motivation hingegen erklärt der Nouveau Autobiographe wie folgt: Ich bin jetzt über sechzig Jahre alt und kann mich also fragen: ,Was ist mein Leben gewesen, und was bin ich jetzt?‘ Und da habe ich den Eindruck, daß ich aus Stücken, aus Fragmenten bestehe. In dem Buch Le Miroir qui revient […] erzähle ich Dinge, die Bruchstücke meiner Existenz sind. Sie sind unstet, ungewiß und widersprüchlich. Es gelingt mir nicht, sie in eine Ordnung zu bringen.55

Die Neue Autobiographie, erklärt Robbe-Grillet weiter, wäre also genau der Versuch, diesen Fragmenten ihr Einzeldasein, ihre Beweglichkeit und ihnen die Möglichkeit zu bewahren, in jedem Augenblick eine neue Gestalt anzunehmen. Das bedeutet, daß die Fragmente in Bewegung sind und daß sie ununterbrochen versuchen, sich zu etwas wie einer Wahrheit zusammenzuballen. Diese ist aber eine zerbrechliche Wahrheit, die sogleich wieder auseinanderfällt und die von einer anderen Wahrheit unterminiert wird, und diese wieder von einer anderen und so fort.56

In der Folge der oben beschriebenen Entwicklungen verwischt die Nouvelle Autobiographie die Gattungsgrenzen zwischen Roman und Autobiographie, sodass Fakten und Fiktion nahtlos ineinander übergehen. Auch verschwimmen die Identitäten von Autor und Erzähler sowie jene von Erzähler und Hauptfigur, wie sie Philippe Lejeune 1973 als grundlegend für den ,autobiographischen Pakt‘ in der traditionellen Autobiographie definiert hat.57 Die Erzählinstanz büßt nicht nur an Glaubwürdigkeit ein, sondern geht auch ihrer klassischen Rolle als Organisationsprinzip, das den narrativen Text steuert, verlustig. Nunmehr setzt sie sich „aus mehreren unterschiedlichen Instanzen zu einer mehrschichtigen und widersprüchlichen Einheit [zusammen]“.58 Durch die Vielzahl präsentierter Alternativen unter Vermengung von Fakten und Fiktion, den Einsatz salopper alltagssprachlicher oder ironischer Ausdrücke oder auch durch das unvermittelte Abbrechen der Erzählung ohne Satzzeichen gibt die Erzählinstanz einen durchaus eher frag- als glaubwürdigen Eindruck von sich selbst als Steuerungsprinzip. Die von Robbe-Grillet in oben stehendem Zitat erwähnten Fragmente und seine Sicht auf die unstete und zerbrechliche biographische 55 56 57 58

Robbe-Grillet: Neuer Roman und Autobiographie, S. 24. Ebd., S. 25. Philippe Lejeune: Der autobiographische Pakt. Frankfurt/M. 1994, S. 14. Blüher: „Die Dezentrierung der Erzählinstanz“, S. 97.

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Wahrheit entsprechen der Forderung Roland Barthes, sich beim biographischen Schreiben auf die sogenannten ,Biographeme‘ zu konzentrieren. „[D]eren Besonderheit und Mobilität [stehen] außerhalb jeden Schicksals und [berühren] wie die epikuräischen Atome irgendeinen zukünftigen und der gleichen Auflösung bestimmten Körper.“59 Dieses Konzept setzte er 1977 in einer Art Autobiographie mit dem Titel Roland Barthes par Roland Barthes (dt. ber mich selbst) um. Auf eine Reihe von ,objektiven‘ Fotographien aus seiner Kindheit und Jugend lässt er eine alphabetisch angeordnete, jeweils mit Stichwort versehene Anzahl an Fragmenten folgen, in welchen er philosophische und poetologische Überlegungen mit persönlichen Erinnerungen, eigenen und fremden Textzitaten sowie Briefstellen vermischt. Unter dem Stichwort Der Kreis der Fragmente heißt es da: „In Fragmenten schreiben: die Fragmente sind dann wie Steine auf dem Rand des Kreises: ich breite mich rundherum aus, meine ganze kleine Welt in Bruchstücken; und was ist in der Mitte?“60 Ein Zentrum, das immer nur umkreist, nie aber erreicht werden kann und somit leer bleibt. Der Fokus verlagert sich weg vom Zentrum hin zur stets sich in Bewegung befindlichen Peripherie. In N zeigt Dieter Kühn anhand des ,Platzhalters‘ Napoleon, dass die nachträgliche Vereindeutigung des Geschehenen im Dienste eines von den Prinzipien der Entelechie und der Teleologie geprägten Denkens in Bezug auf die Biographie einer historischen Persönlichkeit zu kurz greifen muss. Diese Haltung entspricht der postmodernen Einstellung gegenüber der Vergangenheit als uneindeutig und nicht ,wahrheitsgemäß‘ darstellbar. Kühn lenkt die Aufmerksamkeit stattdessen auf die in N angelegten vielfältigen Möglichkeiten und aktiviert so die Phantasie der Leser.

„Schnitzel-Roman“61 oder Dokumentarbiographie – Hans Magnus Enzensbergers Der kurze Sommer der Anarchie. Buenaventura Durrutis Leben und Tod Auch Hans Magnus Enzensbergers Der kurze Sommer der Anarchie über Buenaventura Durrutis Leben und Tod 62 aus dem Jahr 1972 verweigert sich ,der‘ biographischen Wahrheit, wenngleich sich das Buch in den Augen 59 Roland Barthes: Sade, Fourier, Loyola. Frankfurt/M. 1974, S. 13. 60 Roland Barthes: ber mich selbst. München 1978, S. 101. 61 Joachim Kaiser: „Mehr und weniger als ein Roman. H. M. Enzensbergers ,Kurzer Sommer der Anarchie‘“. In: S ddeutsche Zeitung, 27. 9. 1972, Buch und Zeit, S. 1.

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des Autors nicht als Fakten sammelnde Biographie versteht, sondern mit der Gattungsbezeichnung Roman versehen ist.63 Hier werden Tagebucheintragungen, Interview- und Briefausschnitte, Auszüge aus Pamphleten etc. sowie weitere, vom Tonband transkribierte Zeitzeugenaussagen chronologisch von der Kindheit bis zum Tode Duruttis collageartig nebeneinander gestellt und bieten so ein Bild aus unterschiedlichsten Perspektiven auf die Person Durrutis, einem Protagonisten der anarchistischen Bewegung während der spanischen Revolution. Während bei Kühn die Multiperspektivität darin begründet liegt, dass die Leser und Leserinnen die dargestellten Beinahe-Situationen aus der Perspektive des jeweils zukunftsoffenen Augenblicks der Vergangenheit erleben,64 versammelt Enzensberger die Aussagen verschiedener Personen – Verwandter, Weggefährten im Bürgerkrieg, Journalisten und anderer – mit unterschiedlichen Blickwinkeln auf ein und dasselbe Ereignis zu einer „Biographie in Berichten von Zeitgenossen“65, wie Helmut Heißenbüttel in seiner Besprechung bemerkt. Durch dieses gleichberechtigte Nebeneinander der Berichte unterschiedlicher Zeitzeugen wird die Subjektivität erinnerter Geschichte und auch ein ihr anhaftender Grad an Fiktionalität verdeutlicht. Der Autor äußert sich hierzu selbst in einer der acht Glossen, in denen er sich vor allem über die historischen Zusammenhänge zwischen der Entstehung des Anarchismus in Spanien und der dortigen Revolution, aber auch über das Zustandekommen seines Buches zu Wort meldet. Bereits vor 62 Hans Magnus Enzensberger: Der kurze Sommer der Anarchie. Buenaventura Durrutis Leben und Tod. Frankfurt/M. 1972. Das Buch ging aus Enzensbergers Recherchen für den 1971 im Auftrag des WDR gedrehten Film über Durruti hervor. Seitenangaben in Klammern beziehen sich ab hier auf diese Ausgabe. 63 Enzensberger: Der kurze Sommer, S. 13. Die distanzierte Haltung gegenüber der Etikettierung seines Buches als ,Biographie‘ teilt Enzensberger mit vielen Verfassern experimenteller biographischer Literatur. Siehe etwa auch Wolfgang Hildesheimers Äußerung über sein Mozart-Buch (1977), das er nie als eine Biographie empfunden habe, „da die Absätze weniger die Entwicklung des Themas, als die verschiedenen Sichten auf ein unerschöpfbares Phänomen bezeichnen.“ (Wolfgang Hildesheimer: „Die Subjektivität des Biographen“. In: Das Ende der Fiktionen. Reden aus f nfundzwanzig Jahren. Hg. v. Hans Magnus Enzensberger. Frankfurt/M. 1988, S. 123 – 138, hier S. 123.) 64 Christoph Rodiek: „Prolegomena zu einer Poetik des Kontrafaktischen“. In: Poetica. Zeitschrift f r Sprach- und Literaturwissenschaft 25 (1993), S. 262 – 281, hier S. 266. 65 Helmut Heißenbüttel: „Leben und Tod eines Anarchisten. Biographie in Berichten“. In: Deutsche Zeitung / Christ und Welt, 29. 9. 1972, S. 31.

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Erscheinen von Hayden Whites bahnbrechender, erstmals postmoderne Ansätze in die Geschichtswissenschaften einführender Studie Metahistory (1973) und lange vor dem Einfluss des Linguistic Turn auf die Geschichtswissenschaft sinniert Enzensberger hier über die unvermeidbare Fiktionalisierung faktischer Historie aufgrund ihres narrativen Charakters. Der Geschichtsschreiber tritt als Nacherzähler eines kollektiven Stimmengewirrs auf, da Geschichte immer schon „als Sage, als Epos, als kollektiver Roman“ (S. 13) überliefert worden sei. Anders als Kühn baut Enzensberger eine deutlich markierte Metaebene zur Reflexion über den Text, dessen Gegenstand und Entstehungsprozess ein. In dieser ersten, „Über die Geschichte als kollektive Fiktion“ betitelten Glosse gesteht er dem angesammelten Material eine „verwirrende Vielfalt“ (S. 14) zu, da Form, Tonfall, Gestus, Gewicht von Fragment zu Fragment wechseln, bedingt durch die Vielfalt an Textsorten und subjektiven Blickwinkeln der Quellen. Doch gerade an dieser Widersprüchlichkeit ist dem Autor gelegen, da durch sie die Risse aufgezeigt werden, welche sich durch das Material selbst ziehen.66 Enzensberger thematisiert auch die prinzipielle Unzuverlässigkeit und Fragwürdigkeit dokumentarischer Zeugnisse: „Die Geschichte ist eine Erfindung, zu der die Wirklichkeit ihre Materialien liefert. Aber sie ist keine beliebige Erfindung. Das Interesse, das sie erweckt, gründet auf den Interessen derer, die sie erzählen“ (S. 13). Und weiter: Kaum sehen wir genauer hin, so zerrinnt uns die Autorität unter den Fingern, die das ,Dokument‘ zu leihen scheint. Wer spricht? Zu welchem Zweck? In wessen Interesse? Was will er verbergen? Wovon will er uns überzeugen? Und wieviel weiß er überhaupt? Wieviel Jahre sind vergangen zwischen dem erzählten Augenblick und dem des Erzählens? (S. 15)

Enzensberger erhebt hier Fragen, die nicht nur Historiker, sondern auch Biographen seit Aufkommen poststrukturalistischer und dekonstruktivistischer Theorien besonders Jacques Derridas, Jacques Lacans und Michel Foucaults sukzessiv an das Material überlieferter (Lebens-)Zeugnisse richteten und die den Fokus stärker auf das Material selbst und dessen

66 Hartmut Lange kritisiert allerdings, Enzensberger habe durchaus die Brüche im Material geglättet, habe durch die Überschriften die Substanz der Zeugenberichte paraphrasiert und banalisiert. Hartmut Lange: „Nochmals: Die Revolution als Geisterschiff“. In: ders.: Die Revolution als Geisterschiff. Massenemanzipation und Kunst. Reinbek b. Hamburg 1973, S. 76 – 80, hier S. 76 f.

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Einbettung in den gesellschaftlichen, kulturellen und diskursiven Entstehungskontext lenkten.67

Der Autor als Rekonstrukteur Als Autor tritt Enzensberger stark in den Hintergrund, betrachtet er das Buch doch als „kollektiven Roman“ (s. o.), der immer wieder geschrieben wird, nicht zuletzt vom Leser, was durchaus der postmodernen Sichtweise einer gleichberechtigten Stellung von Autor und Leser hinsichtlich der Produktion von Sinn entspricht. Während jeder Nacherzähler historischer Gegebenheiten erzählt, was er oder sie erinnert (oder zu erinnern glaubt), sieht Enzensberger seine eigene Rolle in der eines Rekonstrukteurs, der aber ebenso wenig objektiv, sondern vielmehr interessegeleitet ist und durch Auswahl der Zeitzeugen und Dokumente und deren Arrangement seine eigene Fiktion zu all den übrigen lediglich hinzufügt (S. 15). Im Unterschied zu Kühns Verfahren kontrafaktischer Geschichtsverfremdung68 arbeitet Enzensberger mit vorgefundenen Materialien, und so liegt hier der fiktive Anteil eher in der Subjektivität der Quellen und ihrer Kompilation begründet als im offenen historischen Möglichkeitsraum. Um die bereits genannte Widersprüchlichkeit der Realität abzubilden, bietet sich die Technik der Collage an: die grundstruktur von collage ist in unserer zivilisatorischen realität selbst angelegt, nämlich im unvermittelten nebeneinander des nichtzusammengehörigen, im harten schnitt zwischen dem benachbarten und umgekehrt in der engen beziehung zwischen entferntem,69

heißt es bei Franz Mon über die literarische Collage, und man versteht, weshalb sich Enzensberger dieser Technik bedient und besonderen Augenmerk auf die „Fugen des Bildes“ (S. 14) legt, vermutet er doch, in ihnen stecke „die Warheit, um derentwillen, ohne daß die Erzähler es wüßten, erzählt wird.“ (Ebd.) Die Collage will

67 Sehr konsequent verfolgt David E. Nye diesen Ansatz in The Invented Self. An Antibiography, from documents of Thomas A. Edison (Odense 1983). Beispiele aus dem deutschsprachigen Raum von in diesem Sinne als ,poststrukturalistisch‘ zu bezeichnenden Biographien liegen m. E. bislang noch nicht vor. 68 Rodiek: „Prolegomena“, S. 275, FN 70. 69 Franz Mon: „Collage in der Literatur“. In: Prinzip Collage. Hg. v. Otto F. Walter. Neuwied, Berlin 1968, S. 50 – 62, hier S. 58.

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statt eines fixierten weltbildes das unerwartete, unvorstellbare aufscheinen […] lassen. […] [Sie zerstört] von vornherein jedes vorformulierte programm und gibt die zwischenräume frei. mit den fragmenten der bekannten realität bringt sie eine neue, unvernutzte, vielleicht nur momentan, vielleicht nur in diesem künstlerisch-künstlichen medium erreichbare wirklichkeit hervor.70

Im Sinne des oben erwähnten ,Sinn-Bastelns‘ dient die Technik der Collage nicht nur bildenden Künstlern, sondern auch Schriftstellern der Bewältigung komplexer Realität, indem Vorgefertigtes kreativ zu einem neuen Sinn-Ganzen verarbeitet wird. Die Techniken der Montage und Collage helfen dem Autor Enzensberger nach eigener Aussage aber auch, „mehrstimmig zu arbeiten“ um „eine überpersönliche Schreibweise zu entwickeln“ und so zuzugeben, „daß hier kein Originalgenie am Werk ist, das alles aus dem eigenen Ärmel schüttelt.“71 Hier scheint Enzensberger das postmoderne Verständnis der Rolle des Autors im Sinne Roland Barthes zu teilen: Barthes proklamiert 1968 den Tod des Autors,72 indem er in ihm lediglich einen Schreiber vorgegebenen Sprachmaterials sieht. Im Unterschied zum ,Autor‘, der bereits vor seinem Buch existierte, entsteht „der moderne Schreiber hingegen […] gleichzeitig mit seinem Text; er besitzt keineswegs ein Sein, das vor oder über seinem Schreiben läge, er ist mitnichten das Subjekt, dessen Prädikat sein Buch wäre.“73 Nicht zuletzt die Linguistik habe ein „wertvolles Instrument zur Zerstörung des ,Autors‘“ entwickelt, weil sie verdeutlicht, dass eine „Äußerung in ihrem ganzen Umfang ein leerer Prozeß ist, der vollkommen funktioniert, ohne daß es nötig wäre, ihn mit den Personen der Sprecher auszufüllen“.74 Ein Text ist nach Barthes ein Gewebe von Zitaten aus unzähligen Stätten der Kultur, sodass der Schreiber immer nur eine schon geschehene, niemals originelle Geste nachahmen kann, indem er die Schriften vermischt und sie miteinander konfrontiert. Das vielheitliche Schreiben ohne Anfang und Ende kann nur entwirrt, nicht aber entziffert werden. Es setzt unentwegt Sinn, um ihn wieder aufzulösen, was zur systematischen Befreiung von Sinn führt, in70 Ebd., S. 58. 71 Hanjo Kesting: „Gespräch mit Hans Magnus Enzensberger“. In: Hans Magnus Enzensberger. Hg. v. Reinhold Grimm. Frankfurt/M. 1984, S. 116 – 135, hier S. 131 [Transkription einer Sendung des NDR, 3. Programm, vom 13. 11. 1979]. 72 Roland Barthes: „Der Tod des Autors“. In: ders.: Das Rauschen der Sprache. Frankfurt/M. 2005, S. 57 – 63. 73 Ebd., S. 60. 74 Ebd., S. 59.

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dem nie ein letzter solcher festgelegt wird.75 Der Ort, an dem die Vielfalt der Schriften zusammentrifft, ist nach Barthes nicht der Autor, sondern der Leser, wobei dieser nicht länger als eine Person verstanden werden kann, sondern als „Mensch ohne Geschichte, ohne Biographie, ohne Psychologie; [als] jemand, der in einem einzigen Feld alle Spuren zusammenhält, aus denen das Geschriebene besteht.“76 Sowohl Autor als auch Leser verlieren bei Barthes ihre Geschichte und ihre Konturen. Parallel hierzu lässt sich die folgende Aussage Enzensbergers in Bezug auf sein von Intertextualität geprägtes Verständnis von Autorschaft lesen: [D]er Kopf eines Autors ist immer ein Radiokopf, voller Stimmen und Echos. Man schreibt, wenn man schreibt, auch immerzu ab oder um. Insofern ist die Literatur eine kollektive Arbeit, in der alle anderen, die an ihr arbeiten, jederzeit gegenwärtig sind; ob sie nun seit zweihundert oder tausend Jahren tot sind oder ob sie im Nebenzimmer sitzen, ist dabei gar nicht das Entscheidende.77

Und in Bezug auf seine Rolle als Rekonstrukteur der mit der Person Duruttis verknüpften historischen Ereignisse heißt es: Er [der Rekonstrukteur, Anm. d. Verf.] ist nichts weiter, als der letzte (oder vielmehr, wie wir sehen werden, der vorletzte) in einer langen Kette von Nacherzählern dessen, was da vielleicht so oder vielleicht anders vorgefallen und im Verlauf des Erzählens zur Geschichte geworden ist. (S. 15)

Doch verabschiedet sich die Autor-Instanz nicht zur Gänze aus Enzensbergers Buch: Zwar gesteht Pier Paolo Pasolini dem Kurzen Sommer der Anarchie zu, „ein Werk außerhalb seines Autors [zu sein,] … der als reine Vermittlungsinstanz eines von selbst entstandenen Buches auftritt.“78 Dennoch gibt der Autor dadurch, dass er die Stimmen der anderen beschneidet, aussucht und zusammenstellt, in Wirklichkeit recht wenig von seiner Verfügungsgewalt ab, wie Enzensberger selbst betont.79 Indem der Autor in den zwischen das Faktenmaterial eingeschobenen Glossen um Erklärung der historisch-politischen Ereignisse bemüht ist und sich auf eine

75 76 77 78

Ebd., S. 62. Ebd., S. 63. Kesting: „Gespräch mit Hans Magnus Enzensberger“, S. 131. Pier Paolo Pasolini: „Hans Magnus Enzensberger: Der kurze Sommer der Anarchie“. In: Hans Magnus Enzensberger. Hg. v. Grimm, S. 73 – 78, hier S. 74. 79 Kesting: „Gespräch mit Hans Magnus Enzensberger“, S. 132.

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außerhalb der Erzählung existierende tatsächliche Wirklichkeit bezieht, tritt er hier doch wieder in der Rolle eines auktorialen Erzählers auf.80 Dem Leser gesteht Enzensberger dabei zu, der vorläufig letzte in der Reihe der „Nacherzähler“ zu sein, indem er die Geschichte wieder verwandelt: durch Zustimmen oder Verwerfen, Weitererzählen oder Vergessen. Hier findet sich der für die Postmoderne typische Gedanke von der Gleichberechtigung von Autor/in und Leser/in bzw. vom Verschwimmen der Grenze zwischen diesen beiden Rollen. Jeder Leser und jede Leserin ist also Ort des Zusammentreffens der verschiedenen Stimmen/ Spuren im Sinne Barthes, produziert seine oder ihre eigene Version der Geschichte. Der Text entsteht somit erst im Akt des Lesens oder des Erzählens und enthält in sich keinen determinierten, vom Autor im Text verpackten ,Sinn‘, den es seitens der Leser zu entdecken gilt. Enzensberger erwartet besonders aufgrund der Widersprüchlichkeit und der Risse im Material ein gewisses Maß an Aktivität: „Die Widersprüche dieser Überlieferung sind von ihrem Inhalt nicht zu trennen. Eine passive Lektüre läßt dieses Material nicht zu. Lesen heißt hier unterscheiden, urteilen, Partei ergreifen.“ (S. 259)

Heldenverehrung und Mystifizierung: Die Figur als Leerform Die Dezentriertheit des Subjekts scheint sich im Falle von Enzensbergers Buch weniger auf das biographierte Subjekt als auf die Erzählinstanz zu beziehen. Diese gibt ihre klassische Rolle als den narrativen Text steuerndes Organisationsprinzip weitgehend auf und bildet den von Roland Barthes verkündeten ,Tod des Autors‘ im Text gleichsam ab. Tatsächlich scheint sie sich durch die Vielzahl der Stimmen zu einer mehrschichtigen und widersprüchlichen Einheit zusammenzusetzen und eine heterogene Verbindung aus biographischen (im dokumentarischen Teil), theoretischen (in den Glossen) und fiktionalen (in der Subjektivität der Zeugenberichte) Textelementen zu bilden.81 Die Dezentriertheit bezieht sich aber auch auf die befragten Zeugen, deren Berichte in Fragmente gesplittet und mit jenen anderer Personen in Bezug auf einen bestimmten Aspekt kombiniert werden, sodass die ver80 Friedemann J. Weidauer: „Autor, Kollektiv und historisches Subjekt. Enzensbergers ,Der kurze Sommer der Anarchie‘“. In: The German Quarterly 66.3 (1993), S. 330 – 338, hier S. 335. 81 Blüher: „Die Dezentrierung der Erzählinstanz“, S. 97 f.

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schiedenen Zeugen kaum als einzelne, klar abgegrenzte Individuen wahrgenommen werden können.82 Im Sinne der Foucault’schen Zersplitterung des Subjekts erscheint dieses hier diskursiv aufgebrochen in Momentaufnahmen, taucht nur als eine kontingente Position in einem größeren Diskurs auf und verunmöglicht es den Leserinnen und Lesern so, sich an einer Erzählung zu orientieren, die von einem identifizierbaren Subjekt ausgeht.83 Durruti hingegen erscheint durch die trotz aller Risse auf Ganzheit und Eindeutigkeit abzielende Auswahl der Zeugnisse und Dokumente gleichsam als „Monolith“84 und wird zudem durch die überwiegend positiven und ehrenden Aussagen zum Helden stilisiert. Eine solche Heldenverehrung ist für die postmoderne Biographik untypisch, gilt sie doch als ein Relikt der traditionellen Biographik, wie sie noch bis in die erste Hälfte des 20. Jahrhunderts vorherrschte. Bei Enzensberger geht sie allerdings einher mit einer Idealisierung der anarchistischen Bewegung.85 Insofern handelt es sich in diesem „kollektiven Roman“ um einen „kollektiven Helden“, der an die Stelle des Helden im bürgerlichen Roman tritt.86 In der siebten Glosse, ber den Helden, betont Enzensberger allerdings, Durruti würde stets ein Unbekannter, ein Mann aus der Menge bleiben, da sich in den Zeugenberichten hauptsächlich Aussagen darüber fänden, was oder wie Durruti nicht gewesen sei: Das Spezifische an Durruti ist als individuelle Besonderheit nicht zu fassen. Was an anekdotischen Details hervortritt, ist bis in die privatesten Handlungen hinein ein gesellschaftlicher Gestus. Die Beschreibungen halten ein proletarisches Profil fest, das unverkennbar ist; sie geben den Umriß einer Person an, ohne ihn psychologisch aufzufüllen. An Durruti versagt jede Einfühlung. Gerade deshalb haben die Massen sich in ihm wiedererkannt. Seine individuelle Existenz ist ganz und gar in einem gesellschaftlichen Charakter, dem des Helden, aufgegangen. (S. 259)

Durruti tritt also nicht als klar umrissenes Individuum samt ihm eigener Charaktereigenschaften auf, wie dies den modernen bürgerlichen Vor82 83 84 85

Weidauer: „Autor, Kollektiv“, S. 334. Ebd. Pasolini: „Hans Magnus Enzensberger“, S. 78. Anne Bösenberg: „Hans Magnus Enzensberger: Der kurze Sommer der Anarchie und Buenaventura Durruti“. In: Erinnern und Erz hlen. Der spanische B rgerkrieg in der deutschen und spanischen Erz hlliteratur und in den Bildmedien. Hg. v. Bettina Bannasch u. Christiane Holm. Tübingen 2005, S. 485 – 496, hier S. 492 – 494. 86 Holger-Heinrich Preuße: Der politische Literat Hans Magnus Enzensberger. Politische und gesellschaftliche Aspekte seiner Literatur und Publizistik. Frankfurt/M. u. a. 1989, S. 149.

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stellungen einer autonomen Persönlichkeit entspräche. Vielmehr erscheint er als ein Knotenpunkt von Projektionen der Anarchisten auf den proletarischen Helden.87 Legenden erhalten, so heißt es bei Enzensberger weiter (S. 259), durch die genaue Auswahl gewisser Details und das Auslassen anderer eine zähe, praktisch unangreifbare Art von Stimmigkeit und Konsistenz. Und auch Enzensberger selbst trägt zur Legenden- und Mythenbildung um Durruti bei, nicht nur durch bewusste Auswahl entsprechend ,getönter‘ Zeugnisse, sondern stark auch durch deren Arrangement: Das Buch beginnt mit dem Bericht nur eines Zeitzeugen über das Begräbnis Durrutis, welches durch die enorm große Menschenmenge, die daran teilnahm, von chaotischen und tumultartigen Ereignissen begleitet wurde. Die Mystifizierung noch verstärkend heißt es: Nein, das war nicht die Beisetzung eines Königs, es war ein Begräbnis, das das Volk in die Hand genommen hatte. Es gab keine Anordnungen, alles geschah spontan. […] Es war einfach ein anarchistisches Begräbnis, und darin lag seine Majestät. Es hatte seine sonderbaren Seiten, aber seine Größe, eine eigenartige, düstere Größe, verlor es nie. (S. 10)

Erst im Anschluss an diesen auf ganz eigene Art hymnischen Bericht blickt Enzensberger zurück und legt Durrutis Werdegang von der Geburt bis zu seinem Tod 1936 mit Hilfe chronologisch angeordneter Zeugenberichte und Dokumente dar. Dabei bleibt das Bild des Helden zwar verschwommen, dieser jedoch als solcher identifizierbar, und erst sein Tod birgt einen höheren Grad an Widersprüchlichkeit: Die Zeugenberichte bieten mehrere einander widersprechende Versionen, die im Sinne der Konzeption des Buches gleichberechtigt und unkommentiert nebeneinander stehen. Ob Durruti durch eine feindliche Kugel, durch einen Hinterhalt seiner Mitstreiter oder durch eigene Unachtsamkeit den Tod gefunden hat, ist nicht mehr ausschlaggebend: „Es kommt nicht mehr darauf an. Es ist nicht zu ändern“, schließt das Kapitel Der Tod mit den Worten von Durrutis Lebensgefährtin Emilienne Morin (S. 280). Hierauf folgen die achte Glosse ber das Altern der Revolution, in welcher Enzensberger vor allem den rund fünfunddreißig Jahre nach Durrutis Tod interviewten „alten Männer[n] der Revolution“ (S. 284) Tribut zollt, sowie das abschließende Kapitel Die Nachwelt, das Kommentare von 87 Dass die eher blass bleibende individuelle Existenz zur Mythenbildung beiträgt, bemerkt Harald Hartung: „Aus der Figur als Leerform kann keine Biographie erwachsen, aber der Mythos, der sich der historischen Relikte bemächtigt und sie zu Reliquien stilisiert.“ Harald Hartung: O. T. [Rezension]. In: Der Tagesspiegel, 18. 2. 1973, S. 57.

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Mitstreitern und Kritikern Durrutis zur Entwicklung des spanischen Anarchismus nach dessen Tod bis hin zum Zeitpunkt der Interviews enthält. Dieses Kapitel macht deutlich, dass es sich bei dem Buch in erster Linie um die „Geschichte derer, die sie erzählen“88 handelt, wie Friedemann Weidauer feststellt: In der Legende von Durruti konvergieren die verschiedenen Selbst-Repräsentationen der überlebenden Anarchisten. Durrutis Geschichte ist die Geschichte der Anarchisten im französischen Exil; an seiner Figur kristallisiert sich ihre Identität. […] Authentisch wäre dieses Buch nur als Aussage einer Gruppe über sich selbst, als authentischer Beleg einer speziellen Form von Identitätsbildung und Subjektivität.89

Enzensbergers Durruti-Buch, das während der Konjunktur der Dokumentarliteratur, wie sie in den 1960er und 1970er Jahren in Deutschland geherrscht hat, entstanden ist, zeigt sehr gut die Problematik der Dokumentation an sich auf. Diese möchte objektiv sein, ist es wegen ihres konstrukthaften Charakters jedoch nie: Weil jemand aus einem gewissen Interesse heraus ausgewählte Fragen an bestimmte Leute stellt und das zu Berichtende selektiert, arrangiert und modifiziert – es also immer noch ein Subjekt gibt, welches im weitesten Sinne erzählt. Eben dieser menschliche Faktor, die Narration, bedingt in den Geschichtswissenschaften spätestens mit Hayden White den inhärent fiktionalen Charakter der Geschichtsschreibung. In der postmodernen Biographik wird der Aspekt der Konstruktion betont, indem Auswahl, vor allem aber Modifikation und Arrangement zunehmend den Leserinnen und Lesern überantwortet werden. Digitale Biographien, wie sie seit etwa 1990 existieren,90 gehen noch weiter: Mit Hilfe von Digitalisierung und vernetzten Datenbanken können nun flexible, multiperspektivisch angelegte Biographien umgesetzt werden, ohne durch die Präsentationsform des gedruckten Buches eingeschränkt zu werden. Digital abgespeicherte biographische Informationspartikel erlauben die Kombination derselben zu immer neuen, nie fixierten Zusammenhängen.91 Ähnlich temporären Collagen kommt es auch hier zum

88 Weidauer: „Autor, Kollektiv“, S. 332. 89 Ebd., S. 332 f. 90 In jenem Jahr erschien George P. Landows The Dickens Web auf Diskette, in weiterer Folge wurden die digitalen Biographien jedoch auf CD-ROM veröffentlicht. 91 Vgl. Oels u. Porombka: „Netzlebenslinien“, S. 136.

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,unvermittelten Nebeneinander des Nichtzusammengehörigen‘ bzw. zum ,harten Schnitt zwischen Benachbartem‘. Sowohl Dieter Kühns N als auch Hans Magnus Enzensbergers Der kurze Sommer der Anarchie stehen – nicht nur in Bezug auf den vermittelten dezentrierten Subjektbegriff – an der Schwelle zur Biographik des digitalen Zeitalters. Indem Kühn das Durchspielen gleichberechtigter Alternativen unter aktiver Beteiligung von kreativen Lesern betont, nimmt er bereits wesentliche Charakteristika solch interaktiver Biographien vorweg, die ein flexibles ,Porträt‘ einer Person transportieren. Auch die in Enzensbergers Der kurze Sommer der Anarchie umgesetzte Multiperspektivität und Polyphonie kommen insofern einem Vorgriff auf die Möglichkeiten digitaler Biographien gleich, als diese oftmals das Konzept einer zentralen Erzählinstanz aufgeben und die Sinnstiftung anhand der zur Verfügung gestellten Fragmente den Benützerinnen und Benützern überlassen. Ganz offensichtlich ergeben sich in diesem Zusammenhang zahlreiche Fragestellungen, welche über die sich in Bezug auf herkömmlich verfasste Biographien ergebenden hinausgehen, etwa die Rolle der Narrativität in fragmentierten digitalen Biographien betreffend, oder aber die Darstellbarkeit des Zusammenhangs von Leben und Werk im Falle von Künstlerbiographien.92 Literaturverzeichnis Ariza, Recio u. María Ángeles: „Wie ,unverbindlich‘ ist der Konjunktiv? Die Funktion des Konjunktivs in N“. In: Dieter K hn. Hg. v. Ofelia Martí-Peña u. Brigitte Eggelte. Bern 2001, S. 145 – 150. Baier, Lothar: „Wie die Macht wächst. Klaus Stiller: ,H‘ / Dieter Kühn: ,N‘ – Dokumentarische Collagen über Hitler und Napoleon“. In: Frankfurter Allgemeine Zeitung, 27. 10. 1970, Literaturblatt S. 2L. Barthes, Roland: „La mort de l’auteur“. In: ders.: Le bruissement de la langue: Essais critiques IV. Paris 1984, S. 61 – 67. Barthes, Roland: Sade, Fourier, Loyola. Frankfurt/M. 1974. Barthes, Roland: ber mich selbst. München 1978. Barthes, Roland: „Der Tod des Autors“. In: ders.: Das Rauschen der Sprache. Frankfurt/M. 2005, S. 57 – 63. 92 Mit diesen Aspekten setze ich mich in meiner Dissertation mit dem Arbeitstitel Fragmentiertes Leben. ber die (Un)Mçglichkeit von Hypertext-Biographien auseinander, die an der Abteilung für Vergleichende Literaturwissenschaft der Universität Wien und am Ludwig Boltzmann Institut für Geschichte und Theorie der Biographie entsteht.

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Marlene Streeruwitz’ Roman Nachwelt als postmoderne feministische Biographie Britta Kallin In ihrem preisgekrönten Roman Nachwelt (1999) unternimmt Marlene Streeruwitz die außergewöhnliche Darstellung des Lebens Anna Mahlers (1904 – 1988), der Bildhauerin und Tochter von Gustav Mahler und Alma Mahler Werfel. Gleichzeitig setzt sich Streeruwitz in diesem Werk kritisch mit der Gattung Biographie auseinander. Der folgende Beitrag wird untersuchen, inwiefern Streeruwitz in Nachwelt über traditionelle biographische Konzepte hinausgeht und damit auch die Vorstellung eines kohärenten und autonomen Ich in Frage stellt – eine zentrale Frage sowohl postmoderner als auch feministischer Kritik. Die Gattungsproblematik wird bereits mit einem Blick auf den Buchumschlag von Nachwelt evident. Dem Titel sind zwei unterschiedliche Gattungsbezeichnungen hinzugefügt: „Reisebericht“ und „Roman“. In der Tat bedient sich Streeruwitz der Struktur von Tagebucheinträgen, Reiseberichten und Interviews als Strukturmittel des Romans, indem die Erzählerin in zehn Kapiteln von ebenso vielen aufeinanderfolgenden Tagen berichtet (1.–10. März 1990).1 Die Protagonistin des Romans ist Margarethe Doblinger, eine österreichische Autorin und Dramaturgin, die aufbricht, das Leben Anna Mahlers zu erforschen. Die Suche führt sie von Wien nach Los Angeles, näherhin Santa Monica, wo Anna Mahler nach Ende des Zweiten Weltkriegs bis kurz vor ihrem Tod 1988 gelebt hat. Die Biographin Margarethe trifft ungefähr ein Dutzend Menschen, die mit Anna Mahler bekannt waren, darunter frühere Ehemänner, Freunde und Nachbarn und führt mit acht von ihnen Interviews. Die Interviewten berichten von ihren Erinnerungen an Anna Mahler. Manche der Geschichten und Anekdoten überschneiden sich. Alles in allem erstrecken sich die acht Interviews jeweils über sechs bis zehn Seiten, insgesamt also circa 80 Seiten, das heißt: 1

Während die zehn Kapitel jeweils ein Datum als Titel tragen, sind die acht Unterkapitel mit dem Namen des Interviewpartners überschrieben. Streeruwitz betont die subjektive Perspektive in den Darstellungen der Interviewten, indem sie diese als „Geschichten“ bezeichnet, beispielsweise „Albrecht Josephs Geschichte“.

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nicht einmal ein Viertel des Buchs. Auf den übrigen Seiten berichtet die Erzählerin in Form von Gesprächen und Sequenzen im Inneren Monolog über Anna Mahlers Leben. Außerdem werden Treffen Margarethes mit einigen Persönlichkeiten, denen Anna besonders nahe stand, beschrieben, sowie Margarethes Gedanken über ihre Tochter und ihren Liebhaber, die beide in Wien geblieben sind, Überlegungen zu ihrer Arbeit als Dramaturgin und Erinnerungen an ihre eigene Kindheit und Erziehung. Von besonderem Interesse sind in diesem biographischen Roman die Vergleiche, die Margarethe zwischen ihrem eigenen Leben und dem von Anna Mahler zieht. Im Nachdenken über die Schwierigkeiten, mit denen sich Anna Mahler konfrontiert sah, gleitet die Protagonistin häufig in Reflexionen über ihre eigene Rolle – als Künstlerin, Mutter oder Österreicherin – ab. Anna Mahler,2 geboren 1904 in Wien, besuchte zuerst eine Wiener Schule, um später in ein britisches Internat zu wechseln. Obwohl ihr Vater Jude war, bestand Annas Mutter darauf, dass sie im katholischen Glauben erzogen wurde. Später jedoch wandte sich Anna wieder dem Judentum zu.3 Anna Mahler war fünf Mal verheiratet, mit dem Kunststudenten Rupert Koller, dem Komponisten Ernst Krenek, dem Verleger Paul von Zsolnay, dem russischen Komponisten Anatole Fistoulari und zuletzt mit Albrecht Joseph, dem langjährigen Sekretär ihres Stiefvaters Franz Werfel. Alle diese Ehen endeten in Scheidung oder Trennung. Anna Mahler war eine begabte Musikerin, musste jedoch von früh an akzeptieren, dass sie für immer im Schatten ihres Vaters stehen würde. Sie versuchte sich anfangs 2

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Nachwelt enthält keinerlei Fotografien von Menschen oder Anna Mahlers Skulpturen. Informationen über Anna Mahlers Leben aus anderen Quellen überschneiden sich in den meisten Punkten mit jenen Fakten, die in Nachwelt wiedergegeben werden. Vgl.: Anna Mahler: Anna Mahler. Wien 1950; Anna Mahler: Anna Mahler. Her Work. Einl. v. H. Gombrich. London 1975; Alma Mahler-Werfel: Mein Leben. Frankfurt/M. 1960, S. 145 ff., S. 187 ff., S. 241 ff. u. S. 277 ff.; Elias Canetti: Das Augenspiel. Lebensgeschichte 1931 – 1937. München 1985; Franz Willnauer u. Marina Mahler-Fistoulari (Hgg.): Die Bildhauerin Anna Mahler. Salzburg 1988; Peter Stephan Jungk: Franz Werfel. A Life in Prague, Vienna, and Hollywood. Übers. v. Anselm Hollo. New York 1990, S. 165, S. 170 f., S. 229 – 233 u. S. 263. Vgl. auch den Film Bride of the Wind und Susanne Keegans gleichnamige Biographie von Alma Mahler-Werfel: Susanne Keegan: The Bride of the Wind. The Life and Times of Alma Mahler-Werfel. New York 1992. Alma Mahler-Werfel verließ die katholische Kirche aufgrund ihres jüdischen Ehemanns, machte diesen Schritt allerdings 1932 wieder rückgängig. Anna Mahler trat nach dem Zweiten Weltkrieg aus der Kirche aus, konvertierte aber niemals offiziell zum Judentum. Vgl. Mahler-Werfel: Lebensgeschichte, S. 231.

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einen Namen als Pianistin zu machen, um unabhängig von ihren berühmten Eltern zu werden, was ihr allerdings nur teilweise gelang, insofern sie als Künstlerin von der Musik in die bildende Kunst wechselte. Neben einigen Auftragswerken und Ausstellungen in Leverkusen und London war ihre Karriere nicht so erfolgreich, wie sie sich erhofft hatte. Anna Mahler starb 1988 im Alter von 84 Jahren, kurz vor Beginn einer Ausstellung in der Stadt Salzburg, die sie als österreichisch-jüdische Künstlerin der Emigration rehabilitieren sollte. Auch wenn Nachwelt auf Anna Mahlers Lebensgeschichte beruht, hat Marlene Streeruwitz in mehreren Interviews ihre ambivalente teils sogar ablehnende Haltung gegenüber der Gattung Biographie artikuliert. Für Streeruwitz stellen Biographien Unwahrheiten als Fakten dar. Sie behauptet, dass es schlicht unmöglich sei, die Komplexität eines Menschenlebens schriftlich festzuhalten. In einem Interview mit Sigrid Berka und Willy Riemer meint Streeruwitz: „[…] das kommt sicher aus der Vorstellung einer Möglichkeit von Biographie, die, glaube ich, auch im vorigen Jahrhundert gelogen war […] die Lüge, daß Menschen ein Leben haben, das man beschreiben könnte“4. In einem anderen Interview antwortet Streeruwitz auf die Frage von Hilmar Klute, ob heutzutage nur noch „gebrochene Biografien“ geschrieben werden könnten: Die ganze Biografie wäre die komplette Lüge. Biografien schreiben hat überhaupt was mit Lüge zu tun, weil es ja immer Auswahl von Fakten bedeutet, Weglassen von Dingen, die für die beschriebene Person wichtig sind. Es kann immer nur eine Form von Annäherung sein.5

Ähnlich äußert sich Streeruwitz in einem Interview mit Günter Kaindlstorfer über Nachwelt: „Es erschien mir unangebracht, ein Urteil über ein Leben zu fällen. Das muss zwangsweise ein hochmütiges Unterfangen sein. […] Eine Biografie zu schreiben ist immer eine Anmaßung“.6 Konsequent greift Streeruwitz in ihren Texten das an, was sie die „Lügen“ der westlichen Kulturgeschichte nennt, das heißt vor allem jene Größen, die man 4 5 6

Marlene Streeruwitz: „Ich schreibe vor allem gegen, nicht für etwas“. Interview mit Willy Riemer und Sigrid Berka. In: German Quarterly 71 (1997), S. 47 – 60, hier S. 55. Marlene Streeruwitz: „Die Wolke Alma Mahler. Autorin Marlene Streeruwitz über Biografie und Identität“. In: S ddeutsche Zeitung, 31. März 2001, S. 17. Marlene Streeruwitz: „Isabel Allende produziert politischen Stillstand.“ Interview mit Günther Kaindlstorfer. 1999. http://www.kaindlstorfer.at/interviews/streeruwitz.html (Stand: 3. 11. 2008).

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gemeinhin als gegeben voraussetzt. Sie weist darauf hin, dass traditionelle Biographien ihr Versprechen, ein Menschenleben in allen Details und mit voller Genauigkeit wiederzugeben, niemals erfüllen. Die Biographie wurde als literarische Gattung kontrovers diskutiert. 1957 nannte Roland Barthes sie einen Roman, der es nicht wagt, seinen Namen auszusprechen.7 und weist auf die fiktiven Anteile von Biographien hin. Dreißig Jahre später äußert sich Dorrit Cohen zur selben Problematik: „[…] biographies that act like novels, far from erasing the borderline between biography and fiction, bring the line that separates them more clearly into view“8. Ina Schabert betont, „[fictional biography] is most successful with obscure lives, where lack of material reduces the factual portrait to a mere sketch or silhouette: figures of the remote past, lower class heroes, artists about whose private lives little is known, and women“9. Sowohl Cohn als auch Schabert und andere Forscher sind der Meinung, dass alle Biographien zu einem kleineren oder größeren Teil fiktionalisiert sind. 1980 bezeichnete Carolyn Heilbrun von weiblichen Autorinnen verfasste Biographien über Frauen als ein neues Genre.10 Zwar, so Heilbrun, existierte diese Gattung auch schon vor den 80er Jahren, aber gerade im Rahmen der zweiten Welle der Frauenbewegung in den USA und Europa entstanden zahlreiche Biographien mit weiblichen Protagonistinnen, als Versuch, bemerkenswerte Autorinnen, Künstlerinnen und Aktivistinnen vor dem Vergessen zu retten.11 In den späten 1990er Jahren stellte Helga Braunbeck in Zusammenhang mit fiktionalen deutschsprachigen Frauenbiographien12 fest: 7 „Toute biographie est un roman qui n’ose pas dire son nom.“ Roland Barthes: „Réponses“. In: Tel Quel 47 (1971), S. 89 – 107, hier S. 89. 8 Dorrit Cohn: „Fictional versus Historial Lives: Borderlines and Borderline Cases“. In: Journal for Narrative Technique 19 (1989), S. 3 – 24, hier S. 11. 9 Ina Schabert: „Fictional Biography, Factual Biography, and Their Contaminations“. In: Biography 5 (1982), S. 1 – 16, hier S. 13. 10 Carolyn G. Heilbrun: „Women’s Biographies of Women: A New Genre“. In: Review 2 (1980), S. 337 – 345. 11 Reinhold Grimm bemerkt dazu, dass sich in Deutschland bereits in den 1970er Jahren ein grundsätzlicher Trend abzeichnete, mehr Biographien zu schreiben. Vgl. Reinhold Grimm: „Elternspuren, Kindheitsmuster: Lebensdarstellungen in der jüngsten deutschsprachigen Prosa“. In: Vom Anderen und vom Selbst. Beitr ge zu Fragen der Biographie und Autobiographie. Hg. v. Reinhold Grimm u. Jost Hermand. Königstein/Ts. 1982, S. 167 – 182. 12 Die bekanntesten Beispiele fiktionaler Frauenbiographien aus der deutschsprachigen Gegenwartsliteratur sind Kein Ort. Nirgends (1979), Kassandra (1983), Medea. Stimmen (1996) von Christa Wolf, sowie Elfriede Jelineks biographische

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For women authors, […] [biographical fiction] often serves the need to establish a genealogy of female precursors while writing in their own voices and in literary forms not limited by paradigms inherited from the male-dominated realm of ,factual’ or ,objective’ biography.13

Braunbeck bescheinigt speziell von Frauen geschriebenen Biographien eine Tendenz zur Fiktionalisierung. Die einheitliche Sprechinstanz wird in solchen Texten häufig durch eine Vielzahl an Stimmen gebrochen, die ein fluktuierendes Bild einer Persönlichkeit entstehen lassen.14 Autorinnen feministischer Biographien neigen außerdem dazu, sich mit ihren Objekten zu identifizieren, so Braunbeck, und laufen dadurch Gefahr, ihre kritische Distanz aufzugeben und sich in Selbstbezüglichkeiten zu verlieren.15 Im Gegensatz dazu spricht Teresa Iles von einem „experiential link between the life of the writer and the way she expresses her understanding of the life of her subject, rather than necessary identification between biographer and biographee“.16 Die Identifikation zwischen Biographin und der biographierten Persönlichkeit ist zwar möglich, aber keinesfalls Voraussetzung: Vor allem Autorinnen jüngerer feministischer Biographien versuchen oft explizit die Idealisierung ihrer biographischen Objekte zu vermeiden. 1997 beschrieb Erika Berroth Biographien, geschrieben aus feministischer Perspektive, wie folgt: Traditional conventions of the writing of lives, such as the claims to objectivity, accuracy, truth, accountability, validity, and worthiness of the subject, prove inadequate in view of feminist projects that question whether so-called scientific objectivity is possible or even desirable. Instead, the blurring of borders between history and fiction is acknowledged, and what used to pass for historical fact is regarded as the biographer’s construct. An awareness of the biographer’s personal involvement in the process of telling another’s life story, be it as researcher or editor, reveals to the reader the unavoidability of bias in the process.17

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Dramen Was geschah nachdem Nora ihren Mann verlassen hatte (1979) und Clara S. (1982). Helga G Braunbeck.: „Biographical Fiction“. In: The Feminist Encyclopedia of German Literature. Hg. v. Friederike Eigler u. Susanne Kord, Westport, CT 1997, S. 47 – 49, hier S. 47. Ebd. Ebd. S. 48. Teresa Iles (Hg.): All Sides of the Subject. Women and Biography. New York 1992, S. 2. Erika Berroth: „Biography“. In: The Feminist Encyclopedia. Hg. v. Eigler u. Kord, S. 50 – 51, hier S. 50.

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Die unvermeidbare Befangenheit („the unavodability of bias“), von der Berroth spricht, lässt sich aus der feministischen Kritik an dem tendenziell männlichen Konzept universeller Wahrheiten erklären. Die kritische Haltung der feministischen Theorie zu universellen Wahrheiten hat auch die Entwicklung der postmodernen Philosophie beeinflusst. Beide Ansätze kritisieren und hinterfragen Ansprüche auf allgemeingültiges oder objektives Wissen. Die methodischen Fragestellungen, nach denen Wissen produziert wird, wie etwa im Fall der Biographie die Frage nach dem Vorleben einer biographierten Person, sind gleichzeitig auch erkenntnistheoretische Probleme. „The fact that ,knowledge about past lives‘ is being problematized and investigated within a feminist framework demonstrates that such questions and arguments matter to feminism“.18 Marlene Streeruwitz problematisiert das Suchen und Sammeln von Hinweisen und Informationen genauso wie deren Interpretation für das Produkt ,Biographie‘ und weicht damit deutlich von traditionellen biographischen Ansätzen ab.19 Ina Schabert betont den Unterschied zwischen zwei Arten von Biographien: Fictional and non-fictional biography thus represent the lives of historical persons by organizing as much factual evidence as possible within an interpretive context. The two modes of interpretation, however, are categorically different. The special claim of the fictional representation, often indicated by labels such as novel or imaginative reconstruction on the title page or in an introduction, is that the truth of poetry as opposed to the truth of an expository statement, that the essential rather than the factual reality is being expressed.20

Streeruwitz sammelt Fakten, aber nicht im Sinne von Ina Schabert – „as much factual evidence as possible“. Nachwelt handelt teils von Anna Mahler, teils aber auch von der fiktiven Erzählerin Margarethe. Streeru18 Liz Stanley: „How Do We Know about Past Lives? Methodological and Epistemological Matters Involving Prince Philip, the Russian Revolution, Emily Walding Davison, My Mum and the Absent Sue“. In: Women’s Lives into Print. The Theory, Practice and Writing of Feminist Auto/Biography. Hg. v. Pauline Polkey. New York 1999, S. 3 – 21, hier S. 17. 19 Eine Reihe deutschsprachiger Biographien des 20. Jahrhunderts relativieren die narrative Struktur der Gattung Biographie. Dazu zählen Thomas Manns Die Bekenntnisse des Hochstaplers Felix Krull (1922), Doktor Faustus (1947) genauso wie Peter Härtlings Hçlderlin (1978), Dieter Kühns Ich, Wolkenstein (1978) und Wolfgang Hildesheimers Marbot (1981). Streeruwitz’ Nachwelt unterscheidet sich von diesen Werken vor allem durch eine postmoderne und feministische Perspektive auf traditionelle biographische Narrative. 20 Ina Schabert: „Fictional Biography, Factual Biography, and Their Contamnations“. In: Biography 5 (1982), S. 1 – 16, hier S. 4.

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witz’ Anspruch ähnelt dem anderer BiographInnen, insofern auch sie durch die ,poetische Wahrheit‘ keine ,faktische‘ sondern eine ,essentielle‘ Wirklichkeit ausdrücken möchte. In ihren Tübinger Poetikvorlesungen hatte sich Streeruwitz bereits gegen psychologischen Realismus am Theater gewandt: „[Es] wird durch die psychologisierte Motivierung der Figuren und Abläufe ein Realismus hergestellt, der sich um die Leere der patriarchal besetzten Insel des Unterbewußtseins anlagert […] Bestätigung des Patriarchats […] Oder des Autoritären“.21 Streeruwitz’ Ansatz kann damit in der Tradition feministischer und postmoderner KritikerInnen gesehen werden, die sich gegen die Annahme wandten, Biographien könnten unvoreingenommen, quasi aus einer objektiven Perspektive, geschrieben werden. Exemplarisch dafür mag Phyllis Rose Kommentar aus dem Jahr 1985 stehen: What I hold against Standard Biographies is not that they are unreadable – the best of them are highly readable – but that they are not, as they pretend to be, impartial [….] [They] inevitably leave things out. That is why this kind of biography, which purports to be so fair and objective, is more deceptive than the most flagrantly partisan biography [….] There is no neutrality. There is only greater or lesser awareness of one’s bias.22

Die besondere Rolle, die der fiktiven Biographin Margarethe in Nachwelt zukommt, zeugt von Streeruwitz’ Bewusstsein von der Unmöglichkeit ,neutraler‘ Biographik. Auf einer Ebene erzeugt der Text eine Verbindung zwischen der biographierten Anna Mahler und dem Leben der Biographin Margarethe Doblinger.23 Auf einer zweiten Ebene verbindet der Text die

21 Marlene Streeruwitz: Sein. Und Schein. Und Erscheinen. T binger Poetikvorlesungen. Frankfurt/M. 1997, S. 82. 22 Phyllis Rose: Writing on Women. Essays in a Renaissance. Middletown, CT 1985, S. 76 f. 23 In zahlreichen Kritiken wurden die sich überlagernden Geschichten von Anna Mahler und Margarethe Doblinger als das eindringlichste Moment von Nachwelt beschrieben: Vgl. dazu Katharina Döbler: „Beschreiblich weiblich. Marlene Streeruwitz gelingt etwas Neues, auf das wir schon lange gewartet haben.“ In: Die Zeit, 14. 10. 1999; Franz Haas: „Nachdenken in der beschädigten Sprache. Nachwelt, Marlene Streeruwitz’ bisher bester Roman“. In: Neue Z rcher Zeitung, 12. 10. 1999; Eva Leipprand: „Ins Leben hinaus verschwinden. Marlene Streeruwitz in Sachen Anna Mahler auf Reisen“. In: S ddeutsche Zeitung, 10. 11. 1999; Christine Loetscher: „Margarethe und die Atemnot auf dem Männerkarussell“. In: Tagesanzeiger, 25. 1. 2000; Ulrich Weinzierl: „Mit den Kräften einer Zauberfrau. Marlene Streeruwitz reist durch die Neue Welt“. In: Frankfurter Allgemeine Zeitung, 30. 11. 1999; Ulrike Winkelmann: „Apfelkuchen in Santa Monica“. In: Die

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Leben von Anna Mahler und Margarethe Doblinger mit dem Leben der Autorin Marlene Streeruwitz. In zahlreichen Anspielungen nimmt der Text auch Bezug auf die Vergangenheit von Marlene Streeruwitz und reflektiert sie in den Leben Anna Mahlers und Margarethe Doblingers.24 Margarethe ist keine passive Figur im Hintergrund der Geschichte, die den Lesern bloß ausgewählte Informationen darbietet, die sie von ihren Quellen erhalten hat. Im Gegenteil, auf ihr liegt der zentrale Fokus des Romans. Während sie mehr über Anna Mahlers Leben und den Beziehung zu ihrer Familie und ihren Freunden erfährt, reflektiert Margarethe auch über ihre eigenen Bindungen zu den Menschen in ihrem Umfeld. Die detailreichen Informationen, die Streeruwitz ihren Lesern vermittelt, deuten darauf hin, dass die Autorin selbst einmal plante, eine Biographie Anna Mahlers zu schreiben. In der Tat hatte sie während eines Aufenthalts in den USA Freunde und Verwandte Anna Mahlers interviewt.25 Darüber hinaus fällt auch die Ähnlichkeit des Vornamens der Protagonistin mit jenem der Verfasserin auf: Margarethe und Marlene. Beide arbeiten als Schriftstellerinnen und Dramaturginnen, müssen sich ihr Geld jedoch auch mit anderen Schreibaufträgen verdienen, um sich selbst und ihre Kinder zu versorgen. Margarethes Name erinnert die LeserInnen an Gretchen in Goethes Faust. In Nachwelt weist Margarethe selbst einmal auf die Analogie ihres Namens mit der Figur Goethes und der Gretel-Puppe im Kasperltheater hin: „Margarethe-Gretel-Margaux“26 Während Goethes Gretchen Tageszeitung, 15. 10. 1999; Robert C. Owen: „Von Musenkindern und Werthers Leiden“. In: Focus Magazin, 17. 1. 2000. 24 Zur Diskussion über die Beziehung von Biographien und den Autobiographien der Biographen vgl. Stanley: „How Do We Know about Past Lives?“, S. 13 ff. 25 In einem Interview mit Günter Kaindlstorfer erinnert sich Streeruwitz: „Ich muss gestehen, dass ich bis zu dem Zeitpunkt, da mir ein befreundeter Verleger im Café Bräunerhof vorgeschlagen hat, eine Anna-Mahler-Biografie zu schreiben, gar nichts von der Existenz dieser Frau wusste.“ Marlene Streeruwitz: „Isabel Allende produziert politischen Stillstand. Interview mit Günter Kaindlstorfer“. In: Der Standard, 25./26. 9. 1999. Streeruwitz reiste 1989 nach Santa Barbara. Dagmar Lorenz und Helga Kraft gegenüber betont sie mehrmals, dass die Interviews in Nachwelt authentisch sind. Vgl. Marlene Streeruwitz: „Schriftsteller in der zweiten Republik Österreichs. Interview mit Marlene Streeruwitz, 13. Dezember 2000.“ In: The German Quarterly 75 (2002), S. 227 – 234, hier S. 228. Sie verschweigt allerdings, dass es sich bei dem Interview mit Manon um pure Fiktion handelt. Auch erläutert sie nicht in welchem Umfang sie die Interviews bearbeitet hat, was sie fortgelassen, hinzugefügt oder verändert hat. 26 Streeruwitz: Nachwelt, S. 116. Manon verwendet den Spitznamen Margaux um die literarischen und kulturellen Konnotationen, die mit dem Namen Margarethe assoziiert werden, zu vermeiden. Margarethe stellt sich einer Figur namens Betsy

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ein Opfer ist und am Ende alles verliert, agiert Margarethe Doblinger in Nachwelt als erfolgreiche Frau, die ihre beruflichen Ziele verfolgt und Verantwortung für sich selbst übernehmen kann. Da beide, die Figur Margarethe und die Autorin Marlene Streeruwitz, im Theater gearbeitet haben, ist ihnen die Tradition der weiblichen Figuren sowohl im Kindertheater als auch in der berühmtesten deutschen Tragödie bekannt, die diesen bloß eine untergeordnete Rolle gegenüber den tragenden männlichen Figuren zuweist. In Nachwelt steht, wie in Streeruwitz’ zahlreichen anderen Theaterstücken und Romanen, eine selbstbewusste Frau, kein Mann, im Zentrum der Handlung. Streeruwitz sieht ihre Erzählhaltung in einer feministischen, aber auch in einer postmodernen Tradition. In einem Interview mit Willy Riemer und Sigrid Berke erklärt Streeruwitz, es irritiere sie nicht, als postmoderne Autorin bezeichnet zu werden. Sie will damit konservativen Kräften entgegenwirken, die behaupten, die Postmoderne sei bloß destruktiv ausgerichtet. Gleichzeitig sieht sie sich durch ihre feministischen Standpunkte von vornherein von der Moderne ausgeschlossen.27 Im Rahmen der Frankfurter Poetikvorlesungen führt Streeruwitz ihren Standpunkt zur Postmoderne näher aus: [ J]ede Verwunderung darüber, daß es sich in der Postmoderne nur prozeßhaft und diskursiv leben läßt, ist ein Angriff aus der Vormoderne. Ein Angriff der direkten Patriarchate der Religionen und des Nationalismus […] Es muß in einer nicht patriarchalen Poetik um Entkolonisierung gehen.28

Zusammen mit anderen VertreterInnen feministischer Theorien ist Streeruwitz davon überzeugt, dass sowohl Feminismus als auch Postmoderne etablierte Normen und traditionelle Werte in Frage stellen und sich

gegenüber als ,Margaux‘ vor. Betsy fragt im Scherz, ob es sich bei Margarethe um die Schauspielerin Margaux Hemingway handelt, die Enkelin von Ernest Hemingway, die unter Depressionen, Essstörungen und Drogensucht litt. Teils sind solche Tendenzen auch bei Margarethe festzustellen. Eine Namensähnlichkeit existiert auch mit der Figur der Madeline in Streeruwitz’ Roman Partygirl. Marlene Streeruwitz: Partygirl. Frankfurt/M. 2002. (Zitate aus Nachwelt werden im Folgenden direkt im Fließtext durch bloße Nennung der Seitenzahl ausgewiesen.) 27 Marlene Streeruwitz: „Ich schreibe vor allem gegen, nicht f r etwas. Interview mit Willy Riemer und Sigrid Berka“. In: German Quarterly 71 (1997), S. 47 – 60, hier S. 47 f. 28 Marlene Streeruwitz: Kçnnen. Mçgen. D rfen. Sollen. Wollen. M ssen. Lassen. Frankfurter Poetikvorlesungen. Frankfurt/M. 1998, S. 22.

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somit in zentralen Punkten ihrer Kritik überschneiden.29 Dennoch ist sich Streeruwitz bewusst, dass die Bezeichnung ,postmodern‘ ihre feministischen Ansprüche nicht unbedingt unterstützt. In diesem Sinne stellte auch Linda Alcoff fest: „[S]ome postmodern feminist theory operates to exclude and discredit feminist practices“.30 Streeruwitz’ Ziel ist es, die historische Identität des biographischen Objekts als privilegierte Frau, als jüdische Emigrantin, als Künstlerin sowie als Österreicherin zu untersuchen und dabei auch den Charakter der Biographin darzustellen und ihre Motivation, Anna Mahlers Leben zu erforschen. Entgegen Linda Alcoffs Auffassung, postmoderne Theorien könnten feministische Interessen unterlaufen, vertritt Streeruwitz die Ansicht, dass postmoderne Ansätze feministische Anliegen sogar verstärken. In Übereinstimmung mit Streeruwitz’ Skepsis gegenüber Biographien im Allgemeinen lässt der Roman Nachwelt offen, ob die Interviews wirklich in der wiedergegebenen Form stattgefunden haben. Doch egal, ob die Stimmen der Interviewten fiktional oder real sind, Streeruwitz erreicht Authentizität auf einer anderen Ebene: Das Portrait der biographierten Person wird durch eine Vielzahl unmittelbarerer Stimmen gezeichnet und erscheint damit authentischer als jene bearbeiteten und für das jeweilige Publikum zugerichteten Lebensgeschichten traditioneller Biographien. Die LeserInnen werden unablässig daran erinnert, dass kein geschlossenes Bild Anna Mahlers intendiert ist. Margarethes Bemühungen, mit ihrer eigenen Familiengeschichte und der Geschichte Österreichs zurechtzukommen, indem sie das Leben einer Künstlerin erforscht, die zur Emigration gezwungen war, führt zu der Frage, was die unmittelbare Nachkriegsgeneration über das Schicksal der ermordeten Juden und Jüdinnen, oder jener die ihre Heimat verlassen mussten, erfahren kann und erinnern muss. In den Interviews weigern sich einige von Anna Mahlers Freunden und Familienmitgliedern, Deutsch mit der Dramaturgin zu sprechen, wie etwa Manon, die das Englische dem Deutschen vorzieht: 29 Vgl. zu den Differenzen zwischen feministischen Ansätzen und postmodernen Standpunkten die Debatte zwischen Judith Butler, Linda Singer und Linda Alcoff: Judith Butler: „Contingent Foundations: Feminism and the Question of ,Postmodernism‘“. In: Feminists Theorize the Political. Hg. v. Judith Butler und Joan W. Scott. New York 1992, S. 3 – 21; Linda Singer: „Feminism and Postmodernism“. In: Feminists Theorize the Political. Hg. v. Butler u. Scott, S. 464 – 475; Linda Martín Alcoff: „The Politics of Postmodern Feminism, Revisited“. In: Cultural Critique 36 (1997), S. 5 – 27. 30 Alcoff: „The Politics of Postmodern Feminism“, S. 15.

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Manon, die nicht nach Wien wollte aus Angst, diese Sprache wieder hören zu müssen. Deutsch hören zu müssen. Wienerisch. Die nicht einmal diese Sprache ertragen konnte. Und sich doch wünschen mußte, die Biografie ihrer Freundin würde in dieser Sprache geschrieben werden. Wenigstens. Anerkennung von der Nachwelt. 31 Das Ausmaß der Zerstörung beschrieben. Zumindest. (S. 382)

Der Titel, Nachwelt, und die wiederholte Verwendung dieses Ausdrucks im Text verstärkt den Zusammenhang zwischen den Welten Annas und Margarethes.32 Margarethe lebt in Anna Mahlers ,Nachwelt‘, bringt diese ,Nachwelt‘ aber auch durch das Buch über sie hervor. Nach dem Tod Anna Mahlers ist es der Wunsch ihrer Freundin Manon, dass Anna Mahler im Kontext der deutschen und österreichischen Kultur nicht einfach vergessen wird. Sie ermutigt Margarethe dazu, die Biographie auf Deutsch für ein österreichisches und deutsches Publikum zu schreiben. Die Nachforschungen über Anna Mahlers Leben machen Margarethe jedoch nicht besonders glücklich. Wiederholt erwähnt sie den ursprünglichen Grund, die Biographie zu schreiben: finanzielle Motive. „Die Anna Mahler-Biographie war ein Versuch gewesen, einen Ausweg zu finden. Kein Geld gehabt hatte“ (S. 32). Sie benötigt das zusätzliche Einkommen für sich selbst und ihre Tochter. Gleichzeitig fragt sie sich, ob nicht das Biographieprojekt, das sie aus finanziellen Gründen angenommen hatte, ihre Beziehung zu ihrem österreichischen Geliebten zerstört hat: „Hatte sie jetzt wegen Anna Mahler diese Liebe verloren. Wegen einer Biografie. Augenblicke wie diesen. Wie könnte man das für jemand anderen beschreiben. Wie sich in das Elend des anderen hineindrängen“ (S. 264). Die Biographin Margarethe hinterfragt wiederholt ihre eigenen Absichten und den Plan, Mahlers Lebensgeschichte zu schreiben. Auch wenn Margarethe in mehreren Schlüsselstellen des Buches den Plan verwirft, eine Biographie zu schreiben, wird diese ausdrückliche Ablehnung gleichzeitig auch immer wieder negiert. Nachwelt verwandelt sich dadurch in eine Mischung von biographischer Recherche und gleichzeitiger Infragestellung eines solchen Unternehmens. Trotz gegenteiliger Beteuerungen der Biographin bietet Streeruwitz ihren LeserInnen ein umfassendes Bild vom Leben der Künstlerin. Gleichzeitig involviert Streeruwitz die LeserInnen in Margarethes und Annas Geschichte, indem sie zeigt, wie die Nachforschungen einer Biographin über das Leben einer anderen Person auch das eigene Leben beeinflussen. 31 Hervorhebung im Original 32 Vgl. S. 137 u. S. 171.

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Entsprechend den Theorien von Jean-François Lyotard und anderen postmodernen und feministischen DenkerInnen, die das Konzept historischer Objektivität und die Möglichkeit der Darstellung eines Menschenlebens an sich in Zweifel ziehen, beginnt Margarethe im Verlauf der Erzählung die konventionellen Auffassungen von Selbst und Individualität zu hinterfragen. Die traditionellen diskursiven Praktiken von Wahrheit und Objektivität im literarischen Ausdruck stellen für Margarethe ein Problem dar, dem sie sich während des Schreibprozesses von Mahlers Biographie stellen muss. Nachwelt ist geprägt von dem Wunsch, verschiedene Diskurse zusammenzuführen, und dieser Umstand zwingt Margarethe dazu, jene Beweggründe, die sie zum Schreiben von Anna Mahlers leben motiviert haben, zu überdenken. Während Lyotard sich gegen Theorien wendet, die Individuen historisch zu verorten versuchen, halten viele FeministInnen solche Theorien für unentbehrlich. Nancy Fraser und Linda Nicholson beispielsweise stimmen Lyotards Ideen nur so weit zu, als sie dabei soziale Kräfte und politische Praktiken berücksichtigen.33 Streeruwitz’ literarische Techniken fordern ihr Publikum dazu heraus, sich in den Prozess der Bedeutungsfindung aktiv einzubringen. Dazu Allyson Fiddler in Bezug auf Streeruwitz Dramen: Streeruwitz’s theatre is not just a degeneration into non-meaning, a denial of politics and history as identified and criticized in some postmodern writing. What Streeruwitz’s texts do produce is a highly fragmented and ,open‘ theatre which relies very much on associative techniques and on the willingness of the audience to try to construct meaning from the disparate pieces which make up the whole.34

Gleichermaßen behauptet Fiddler auch, Streeruwitz’ Texte negierten nicht per se Bedeutung. Die Autorin stelle aber die Suche nach einem endgültigen Sinn durch den Einsatz von Parodie und Ironie deutlich in Frage. Ähnlich kann man auch mit Blick auf die Romane von Streeruwitz argumentieren, in denen Gespräche – trotz ihres teils fragmenthaften

33 Nancy Fraser u. Linda J. Nicholson: „Social Criticism without Philosophy: An Encounter between Feminism and Postmodernism“. In: Feminism/Postmodernism. Hg. v. Linda J. Nicholson. New York 1990, S. 19 – 38, hier S. 34 ff. 34 Allyson Fiddler: „Modernist or Postmodernist? The Absurd Question in Marlene Streeruwitz“. In: Centre Stage: Contemporary Drama in Austria. Hg. v. Frank Finlay u. Ralf Jeutter. Amsterdam 1999, S. 57 – 72, hier S. 63.

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Charakters – noch immer ,sinnvolle‘ Gedanken und Kommunikation ermöglichen.35 In Nachwelt und anderen Werken widmet sich Streeruwitz einer eingehenden Analyse des Schreibprozesses mit besonderem Blick auf das Bemühen, eine Geschichte zu erzählen. Dieses Interesse zeigt sich auch in ihren Poetikvorlesungen, die stark von postmodernem Denken beeinflusst sind: Ich habe durch die Notwendigkeit des Akts der Beschreibung eines Unsagbaren im Ausdruck zu Kunstmitteln wie Stille, Pause, dem Punkt als Würgemal und dem Zitat als Fluchtmittel gefunden, um damit dem Unsagbaren zur Erscheinung zu verhelfen.36

Streeruwitz bedient sich eines postmodernen Erzählstils, wenn sie beschreibt, wie die Biographin Margarethe ihr ursprüngliches Interesse an der historischen Figur Anna Mahlers offenbart. Die Idee entsprang teils aus dem Bedürfnis ihr Leben zu vergessen, indem sie die Geschichte einer Person erzählt, deren Leben komplizierter war als das eigene: „Was machte sie hier. Was hatte sie sich vorgestellt. Andere Leute ausfragen. Schlimmere Schicksale ausgraben, um das eigene ertragen zu können.“ (S. 96). Streeruwitz verwendet grammatikalisch unvollständige Sätze, um die Realität und damit auch die unzusammenhängenden und fragmentierten Formen der Kommunikation darzustellen. Fiddler versteht die Interpunktion in den Texten Streeruwitz’ als Hervorhebung einzelner Wörter und Phrasen: Full stops are used […] throughout Streeruwitz’s writing not as aposiopesis, as some reviewers have thought, but as a type of estranging device. They do not signal tension or doubt in the speaker’s intentions, rather they should force the actor to speak what are in much of Streeruwitz’s work quite ordinary, everyday lines in a distanced and non-natural manner.37

Diese verstörende Technik weist Konzepten, die bislang als universelle Wahrheiten nicht hinterfragt wurden, neue Bedeutungen zu. Streeruwitz bricht ihren Text durch die Verwendung grammatikalischer Elemente auf, 35 Linda Alcoff widerspricht der Auffassung, postmoderne Techniken würden zu bedeutungsleeren Aussagen führen: „No one denies that knowledge and meaning exist […]“ (Alcoff: „The Politics of Postmodern Feminism“, S. 8.) Deshalb, so Alcoff, seien postmoderne Theorien so wirksam, wenn es darum geht, Raum für politische Analysen zu schaffen. Postmoderne Ansätze versuchen innerhalb dieser Welt Bedeutung zu konstruieren, jedoch ohne dabei auf eindeutige Kohärenz abzuzielen. 36 Streeruwitz: Sein. Und Schein. Und Erscheinen, S. 48. 37 Fiddler: „Modernist or Postmodernist?“, S. 70.

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um Brüche und Unvollständigkeiten der Gedanken zu zeigen. Sie segmentiert den Text aber auch, indem sie die Informationen, die Margarethe aus ihren Interviews gewinnt, immer nur häppchenweise darbietet. Die Biographin gibt diese Informationen an die LeserInnen weiter, scheinbar ohne sie zu bearbeiten oder sie in übergreifende Zusammenhänge zu stellen. Der Eindruck der Fragmenthaftigkeit und Komplexität wird zusätzlich noch durch den Einsatz von Stilmitteln aus unterschiedlichen literarischen Gattungen erhöht. Für die Analyse von Nachwelt als postmoderner Biographie ist nicht nur die Form, sondern auch der Inhalt des Romans von Bedeutung. Margarethes Erzählung konzentriert sich auf Anna Mahlers Erlebnisse als Künstlerin und jüdische Emigrantin. Margarethe fühlt sich mit ihrem Objekt verbunden, da auch sie zwischen zwei Welten hin- und hergerissen ist, zwischen dem Leben als Mutter und dem Leben als Künstlerin. Für die Zeit ihrer biographischen Recherchen lebt sie von ihrem Geliebten und ihrer Tochter in Österreich getrennt. Dennoch ist Margarethes ,Exil‘ freiwillig und zeitlich begrenzt. Im Gegensatz zu ihrem biographischen Objekt besteht für Margarethe jederzeit die Möglichkeit, nach Wien zurückzukehren. Margarethes katholische Erziehung stellt sie – anders als Anna Mahler ihr jüdischer Hintergrund – in Österreich vor keine Probleme. Die gemeinsame österreichische Herkunft und die ähnlichen Schwierigkeiten, gegen die Anna, Margarethe und Marlene als Frauen in künstlerischen Berufen ankämpfen müssen, verbinden das historische Objekt der Biographie, die fiktive Biographin und die Autorin. Die Leben von Anna Mahler und Margarethe Doblinger weisen noch weitere Ähnlichkeiten auf. Beispielsweise hatte Anna Mahler eine enge Bindung an ihren Stiefvater Franz Werfel, und Margarethe lebte in einer Beziehung zu einem Dramaturgen namens Franz Wagenberger. Die Biographin untersucht Franz Werfels Schriften im Archiv der Universitätsbibliothek von Los Angeles. Beide Frauen waren mit dem Tod von Brüdern in einem jungen Alter konfrontiert: Margarethes Bruder Werner verstarb noch als Kleinkind und Annas Bruder (Franz Werfels Sohn) kurz nachdem er geboren wurde (Vgl. S. 33 f. u. S. 298). Die auffälligste Verbindung zwischen Anna und Margarethe ergibt sich jedoch durch Anna Mahlers Halbschwester Manon Gropius, die Tochter von Alma Mahler-Werfel und Walter Gropius, die als Jugendliche an Kinderlähmung verstorben war. In Nachwelt hat Manon überlebt und taucht 1990 als eine von Annas engsten Freundinnen auf. Manon hat Atemprobleme, da sie an einer Lungenkrankheit leidet, und muss deshalb einen Sauerstofftank mit sich herumtragen (S. 11 – 13). Die Autorin verwendet Manons Namen, um eine noch

Marlene Streeruwitz’ Roman Nachwelt

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engere Verbindung zwischen der Welt Annas in den 30er Jahren und der Welt Margarethes in den 90er Jahren herzustellen. Die Rolle von Manon in Nachwelt ist die einer Kontaktperson in L.A. und einer wichtigen Quelle über Annas Leben.38 Auch wenn feministischen BiographInnen oft eine unterschwellige Bewunderung für ihr biographisches Objekt zugesprochen wird,39 ist Margarethe in Nachwelt Anna Mahler gegenüber keineswegs immer nur positiv eingestellt. Viel eher beschreibt sie die Protagonistin ihrer Biographie mit allen ihren Schwächen und Fehlern. Elisabeth Young-Bruehl stellt in diesem Zusammenhang fest: „[B]iographers are drawn to subjects who are like themselves, usually in ways that the biographer is initially not consciously aware of“.40 Anna Mahler und Margarethe ähneln sich in bestimmten Aspekten, sind aber unterschiedliche Charaktertypen, was es für die LeserInnen leichter macht, zwischen den beiden Frauenfiguren zu unterscheiden. Das Bild Margarethes muss genauso wie jenes von Anna aus einem weiten Spektrum von fragmentierten Erzählungen zusammengesetzt werden. Die fiktive Figur Margarethe fügt der Biographie Anna Mahlers eine kritische Perspektive hinzu. In allen von Streeruwitz’ Texten spielt die Haltung der Autorin zum Inhalt und den Figuren eine große Rolle. Niemals werden die LerserInnen von einer allwissenden Erzählinstanz durch die Geschichte geführt. Streeruwitz stellt häufig den fiktiven Aspekt ihrer Texte in den Vordergrund, indem sie Figuren einsetzt, die aus 38 Eine Figur namens Manon tritt bereits in einem früheren Werk von Streeruwitz auf. In Tolmezzo (1994) besucht eine 75 Jahre alte Manon Greef ihre Heimatstadt Wien als Touristin nach einem Leben im amerikanischen Exil. Es gibt einige Parallelen aber auch Unterschiede zwischen den beiden Manon-Figuren. Die reale Manon Gropius war nicht jüdisch, sowohl die Manon in Tolmezzo als auch die Manon in Nachwelt sind allerdings Jüdinnen. In Nachwelt entdeckt Margarethe eine Skulptur Anna Mahlers, die Manon darstellen soll und, genauso wie die reale Manon Gropius, als ausgesprochen schön beschrieben wird (S. 319). Die Geschichten über den Alkoholismus von Manons Ehemann und ihre Scheidung sind in beiden Texten ident. Die Tochter Manons in Tolmezzo heißt Linda, während sie in Nachwelt den Namen Lynne trägt. Außerdem wird eine beinahe identische Anekdote in beiden Texten erzählt: Während Manon mit dem Zug aus Österreich floh, bestach sie den Schaffner mit einer großen Summe Geld, so viele Juden wie möglich an einen sicheren Ort außerhalb Deutschlands und Österreichs zu befördern. (Vgl. Marlene Streeruwitz: „Tolmezzo. Eine symphonische Dichtung“. In: dies.: Waikiki-Beach. Und andere Orte. Die Theaterstücke. Frankfurt/M. 1999, S. 293 – 344, hier S. 311; und Nachwelt, S. 311 f.) 39 Braunbeck: „Biographical Fiction“, S. 48. 40 Elisabeth Young-Bruehl: Subject to Biography. Psychoanalysis, Feminism, and Writing Women’s Lives. Cambridge 1998, S. 21.

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der Perspektive der dritten Person sprechen und ihre Ideen genauso wie die Handlung der Erzählung durch eine gebrochene ,stream of consciousness‘Technik vermitteln. In dem Interview mit Dagmar Lorenz und Helga Kraft betont Streeruwitz, dass die Macht des Autors und seine Kontrolle den LeserInnen gegenüber evident gemacht werden sollte, so dass seine Position eindeutig wahrnehmbar ist. Streeruwitz beschreibt, wie Rückblenden, die auf den ersten Blick ein authentisches Bild vergangener Ereignisse wiederzugeben scheinen, die LeserInnen in die Irre führen: Bis dahin [Majakowskiring] gibt es die Rückblende kaum in meinen Texten, in Verf hrungen ganz wenig, und dann immer in Erinnerungen, die über die Autorenposition und die erzählte Figur gehen, also zweimal gebrochen sind. […] Ich war gegen jede Rückblende, die ich als besonders starken Autoreneingriff empfinde, und damit als ein Mittel, das wir aus der patriarchalischen Literatur gut kennen. […] In der doppelten Brechung der Bewusstseinsstromtechnik in der 3. Person bleibt diese Überwältigung des Lesers und der Leserin auf den beschriebenen Sonderfall beschränkt. […] Es wird keine allgemeine Geschichtlichkeit behauptet.41

Streeruwitz bricht ihre Narration, indem sie die kontrollierende und manipulierende Position der Autorin explizit hervorhebt. Im konkreten Fall gelingt ihr das durch die Einführung der fiktiven Figur Margarethe, die gleichzeitig ihr eigenes Leben und das Leben Anna Mahlers erzählt. Die Autorin nimmt damit ganz bewusst Einfluss auf die biographische Narration. Eine der zentralen Fragen jeder Biographie ist die Wahl der biographierten Person. Streeruwitz wählte dafür eine jüdische Künstlerin des 20. Jahrhunderts. Max Hansen, der erste Interviewpartner im Roman, der mit Anna Mahler nach China gereist ist, erinnert sich an ihre Haltung dem Judentum gegenüber: „Anna war stolz darauf, eine Jüdin zu sein. Sie war nicht orthodox. Aber sie war erfreut darüber“ (S. 48). Die Autorin lässt Margarethe über die Situation der jüdischen Exilanten im Kalifornien der 40er Jahre nachdenken und damit ihre eigene Beziehung zum Holocaust analysieren. Im zweiten Interview mit Anna Mahlers letztem Ehemann, Albrecht Joseph, verstärkt sich der Eindruck, Annas Mutter, Alma MahlerWerfel, sei Antisemitin.42 Er erinnert sich an Geschichten aus Anna 41 Streeruwitz: „Schriftsteller in der zweiten Republik Österreichs“, S. 229. 42 Elias Canettis Erinnerungen bestätigen dieses Bild. Vgl. Canetti: Das Augenspiel, S. 59 – 62. In Nachwelt beziehen sich die Interviewpartner Ernst Krenek und Manon auf Canettis Beschreibung von Alma Mahler-Werfel und Anna Mahler (S. 269 bzw. 187).

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Mahlers Kindheit, die sie teilweise fern von ihrer Mutter in einem englischen Internat verbracht hatte, und auch an die Übersiedlung in die Vereinigten Staaten.43 Anna Mahlers Rolle als österreichisch-jüdische Emigrantin, die katholisch aufgewachsen war und einen britischen Akzent hatte, machten es ihr schwer, in den USA Fuß zu fassen. Die Entwicklung von Anna Mahlers Identität und die Art und Weise, in der sie sich selbst beschrieben hat bzw. von anderen beschrieben wurde, ist Gegenstand von Margarethes Interviews und Gedanken. An manchen Stellen scheint sich Margarethe durchaus mit Anna Mahler zu identifizieren, der talentierten Künstlerin, die sowohl in der bildenden Kunst als auch in der Musik um Anerkennung kämpfen musste. An anderen Punkten äußert sich Margarethe hingegen äußerst kritisch über Anna Mahler. Die Biographin zeigt sich mit Anna Mahlers Verhalten ihren Kindern gegenüber keineswegs einverstanden, die sie genauso behandelt wie sie selbst von Alma Mahler-Werfel behandelt wurde. Darüber hinaus lehnt Margarethe die künstlerischen und ästhetischen Prinzipien und Ausdrucksmöglichkeiten Anna Mahlers ab: Wie sollte sie einen Bericht anfertigen über eine Person. Wenn sie keinen objektiven Standpunkt einnahm und sich von einer Sympathie in eine nächste Antipathie fallen ließ. Sie war dem Gegenstand der Beschreibung immer viel zu nah. So war kein Urteil zu fällen. (S. 212)

Streeruwitz verwendet Margarethe als Sprachrohr für die ambivalente Situation, in die die Nähe zu ihrem/seinem Objekt jede/n Biographin/ Biographen führt und damit Objektivität scheinbar verhindert. Judy Long beschreibt dieses Dilemma wie folgt: „The biographer fears that a relationship that is ,too close‘ might obliterate his analytic capacity“.44 Während Margarethe über Anna Mahlers Kunst nachsinnt und versucht, die notwendige Distanz zu halten, betrachtet sie jene Skulptur, für die die Bildhauerin 1937 im Rahmen der Pariser Weltausstellung den einzigen größeren Preis ihrer Karriere gewonnen hatte: Und die Figur. Die, die in Paris 1937 den Preis gewonnen hatte. Die unterschied sich nicht. War jedenfalls nicht ,entartet’ zu nennen. Was für ein Mißverständnis. Diese konservative Revolution. Auf einen Begriff von 43 Alma Mahler-Werfel sorgte sich wenig um ihre Tochter. Annas Beziehung zu ihrer eigenen Tochter Alma II verlief ähnlich. Beispielsweise besuchte sie ihre Tochter in den vier Jahren, die diese auf einem Internat in Südengland verbrachte, kein einziges Mal, obwohl sie zu dieser Zeit selbst auch in England lebte (S. 355 f.). 44 Judy Long: Telling Women’s Lives. Subject, Narrator, Reader, Text. New York 1999, S. 103.

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Klassik zurückzugreifen. Warum hatte Anna Mahler nichts Neues gemacht. (S. 244)

Margarethe erwartet zunächst in Anna Mahlers Skulpturen die von den Nazis als ,entartete Kunst‘ bezeichnete Moderne zu finden, da einige ihrer Kunstwerke während der Herrschaft der Nationalsozialisten zerstört wurden. An einer späteren Stelle im Roman wird Margarethe noch expliziter in ihrer Kritik an den Werken, die Anna Mahler in den USA geschaffen hatte:45 Und vom Körper einfach nur ein Abbild zu machen, das war dann eben ein Abbild. Und nichts darüber hinaus. Nichts Eigenes. Sie hätte mit dem, was sie gemacht hatte, im Sozialismus Erfolg haben können. Da war man dem menschlichen Körper treu geblieben. In einer Linie vom Klassizismus über den Faschismus zum sozialistischen Realismus. Massenideologien mußten Ideale erstellen. (S. 352)

Obwohl Margarethe von sich verlangt, nicht über andere Menschen zu urteilen, äußert sie sich negativ über den Mangel an revolutionärem Engagement bei Anna Mahler, indem sie ihre Kunst in die Tradition des Sozialistischen Realismus stellt. Als sie Mahlers Skulptur ,Maskenturm‘ am Universitätscampus in L.A. sieht, überlegt die Dramaturgin, ob Anna Mahlers Werke vielleicht zu Recht keine Beachtung fanden. Ihren Höhepunkt findet Margarethes Kritik, wo sie Anna Mahlers Werke aufgrund ihrer realistischen Darstellungen mit den ästhetischen Prinzipien des Faschismus in Verbindung bringt (S. 171).46 Eine österreichische NichtJüdin der Nachkriegsgeneration wirft einer jüdischen Emigrantin vor, faschistische Kunst produziert zu haben. Streeruwitz zeigte schon immer Interesse an der Beschreibung jüdischer Figuren und jüdischen Lebens in der deutschsprachigen Literatur. In ihren Betrachtungen zu Berthold Auerbach behauptet Streeruwitz, die Dorfgeschichten seien der Versuch Auerbachs gewesen, sich angesichts an45 Margarethe zieht einen negativen Vergleich zwischen Anna Mahlers Skulpturen und denen von Simon Rodia, einem berühmten Bildhauer und Zeitgenossen von Anna Mahler, dessen Werk sie für revolutionär hält (S. 355 ff.). 46 In einer Lobrede auf Anna Mahler erklärt Ernst Gombrich, dass die Künstlerin es ablehnte, Partei für ,extremistische‘ Kunstformen wie Expressionismus und Surrealismus zu ergreifen. Vgl. Ernst Gombrich: „Eulogy: About Anna Mahler“. Highgate Cemetery London. 19. Juni 1988. http://www.omnibus.co.yu/anna/ reviews_bottomright.htm (Stand: 27. Oktober 2008); Ernst Gombrich: „Grabrede“. In: Die Bildhauerin Anna Mahler. Hg. v. Franz Willnauer und Marina Mahler-Fistoulari. Salzburg 1988, S. 10 – 12; Ernst Gombrich: „Reflections on Anna Mahler’s Oeuvre“. In: Anna Mahler: Her Work. London 1975, S. 5 – 8.

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tisemitischer Attacken, die er schon seit frühester Jugend erleiden musste, einen idyllischen, harmonischen und friedlichen Rückzugsraum zu schaffen.47 Streeruwitz bezeichnet Auerbachs Texte als „Fluchtwelt“48. Sie führt weiter aus, dass die deutschsprachige Literatur des späten 19. Jahrhunderts die Intensität des alltäglichen Antisemitismus nicht reflektiert. Berthold Auberbach hat also erst im Verschweigen der Gewalt den Auftrag zu töten weitergegeben. Erst dieses Verschweigen befördert den stets aufrechten Auftrag zu töten. Jede literarische Beschreibung einer Welt, die besser ist als die, die ist, befördert diesen Auftrag. […] Beschreibt also eine Frau eine Welt, die besser ist als die, die ist, verstärkt sie damit aktiv die dadurch hergestellte Bewußtlosigkeit der Frau.49

Streeruwitz beginnt ihren Essay mit einem Hinweis auf die ,Lizenz zu Töten‘, die in den patriarchalischen westlichen Gesellschaften von einer Generation von Männern an die nächste weitergegeben wurde.50 Sie schreibt in ihren Vorlesungen, dass das, was patriarchalische westliche Gesellschaften seit der Aufklärung als das ,Schöne‘ zu erkennen vermeinen, nicht mehr mit dem ,Richtigen‘ übereinstimmt,51 und die Literatur (wie wahrscheinlich auch alle anderen Künste) einen „anti-idyllischen Gestus“52 anbieten sollte, damit individuelles und kollektives Gedächtnis nicht verloren geht. Wenn die Bildhauerkunst das ästhetisch Schöne von Formen und Körpern darstellen will, wie Anna Mahler es getan hat, privilegiert sie laut Marlene Streeruwitz damit dominante Denkweisen wie den faschistischen Anspruch, Kunst habe ,angenehm‘ und ,schön‘ zu sein, gegenüber ,entarteter‘ Kunst. Hinter der Kritik an der Kunst von Anna Mahler versteckt sich Margarethes postmodernes Kulturverständnis. Margarethes Beobachtungen zeigen auch, wie eine Österreicherin aus der zweiten Generation die eigene Haltung gegenüber der Last österreichischer Komplizenschaft im Holocaust analysiert. Hinter ihrer Haltung überschreitet sie eine Grenze der Kritik, wenn sie die Position von jüdischen KünstlerInnen in Frage zu stellen und antisemitische Tendenzen in ihren Werken auszumachen sucht. Streeruwitz’ Hinweis auf Margarethes Interesse an Michel Foucault (S. 304), einem postmodernen Denker, für den Wahrheit durch die 47 48 49 50 51 52

Streeruwitz: Kçnnen. Mçgen, S. 121. Ebd. Ebd. S. 123 f. Ebd. S. 16. Ebd. S. 134. Ebd. S. 132.

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Ausübung von Macht produziert wird, verstärkt den Eindruck, dass Margarethe postmoderne Positionen der Moderne vorzieht und verdeutlicht ihre kritische Haltung gegenüber Ideen aus Aufklärung und Klassik.53 Neben Margarethes Kritik an Anna Mahlers Kunst lehnt sie Alma Mahler-Werfels antisemitische Äußerungen, wie auch Franz Werfels Bemerkungen und seine Haltung zur Erinnerung an die Shoah ab. Nach der Lektüre von Werfels Tagebüchern und Reden in den Archiven der Universitätsbibliothek in L.A. fragt sich Margarethe: Werfel hatte in der Ansprache auch gesagt, es müsse vergessen werden. Durfte einer das sagen. Hatte einer das Recht dazu, der das noch sagen konnte. Ein Recht zu reden hatten doch nur die Toten. Hier durften doch nur die Toten ihre Stimme heben. Und weil sie es nicht konnten, durfte keiner etwas sagen. Wie konnte sich da einer hinstellen und ,Vergessen‘ sagen. (S. 170)

Margarethe hält es nicht für angemessen, dass ein jüdischer Autor, der in einem fremden Land Schutz gefunden hat, über das Vergessen der Vergangenheit spricht. Hier versucht Margarethe sich in ihr Objekt einzufühlen, indem sie sich für den Einfluss ihres Stiefvaters und ihrer Mutter auf die Entwicklung der jungen Anna Mahler interessiert. Um ihr Ziel zu erreichen und Anna Mahlers Leben zu rekonstruieren, muss sich Margarethe selbst an ihre Stelle setzen. Sie hofft, ein Gefühl für Annas Umfeld zu erlangen, indem sie selbst darin lebt und die Familie und Freunde von Anna Mahler kennen lernt. Elisabeth Young-Bruehl beschreibt zwei verschiedene Arten, in denen sich dieser Wunsch der BiographInnen manifestieren kann: The usual – indeed, the clichéd – way of describing empathy as ,putting yourself in another’s place‘ seems to me quite wrong. Empathizing involves, rather, putting another in yourself, becoming another person’s habitat, as it were, but without dissolving the person, without digesting the person. You are mentally pregnant, not with a potential life but with a person, indeed a whole life – a person with her history.54

Margarethe versucht beides: sich selbst in Anna Mahlers Situation zu versetzen und ihre eigene Reaktion auf Annas Überzeugungen und Urteile zu überprüfen. Durch ihre Beobachtungen und Kommentare der Interviewpartner, die Anna Mahlers Verhältnis zum jüdischen Glauben be53 In ihrer Vorlesung Sein. Und Schein. bedient sich Streeruwitz der Foucault’schen Theorie des Blicks, um Machtverhältnisse in westlichen Gesellschaften zu analysieren. Vgl. Streeruwitz: Sein. Und Schein, S. 8 ff. 54 Young-Bruehl: Subject to Biography, S. 22.

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treffen, sieht sich Margarethe veranlasst, sich zu fragen, wie es gewesen sein muss, während und nach dem Krieg als Jüdin im kalifornischen Exil zu leben:55 Wie war das gewesen, hier 1943 spazierenzugehen? […] Wie war man da nicht verrückt geworden. Wie war Rettung zu ertragen. […] Und wie sollte das nun begriffen werden, daß aus Millionen Menschen […] Formulare gemacht worden waren. Die Landschaft ja eher flach um Auschwitz. […] Der Rauch weithin zu sehen gewesen sein mußte.56 (S. 124)

Die unbegreifliche Vergangenheit ist Teil dieser Überlegung. Die Erzählerin verwendet den Ausdruck „zu sehen gewesen sein mußte“, um die große Wahrscheinlichkeit auszudrücken, mit der die Bevölkerung in der Umgebung der Konzentrationslager von der Vernichtung gewusst hatte.57 Biographien spiegeln die politische Situation einer Zeit im Leben eines Individuums. BiographInnen berichten ihren LeserInnen oft als Hintergrundinformation von der historischen und sozio-politischen Situation zur Lebenszeit ihres biographischen Objekts. In Nachwelt gibt Streeruwitz Einblick in die historische Lage jüdischer Künstler in Deutschland, Österreich und im kalifornischen Exil der 40er Jahre. Während der Recherchen für die Biographie gelangt Margarethe durch das Schicksal der realen Anna Mahler und der fiktiven Manon zu einer Suche nach ihrem eigenen Selbst. Margarethe erinnert sich, was sie als Kind über die Shoah gelernt hat. Am einprägsamsten ist ihr die Erinnerung an den katholischen Priester, der ihr und anderen sechs Jahre alten Mädchen während des Religionsunterrichts Filme aus Konzentrationslagern zeigt, die von Nazis aufgenommen wurden: Die Erbschaft der KZ-Dokumentationen, die er [der Pater] in den Jungscharstunden vor der ersten hl. Kommunion vorgespielt hatte. Er hatte sechsjährigen Mädchen KZ-Dokumentationen vorgeführt und sie dann zum Völkerballspiel hinaus auf die Wiese geschickt. Hatte ihnen gesagt, daß das Böse. Das in den Filmen. Daß das auch in ihnen wohne. Er hatte ihnen die 55 Ein Mitarbeiter des Österreichischen Kulturforums in den USA erzählt Margarethe, dass er nichts von irgendeiner Art von Kompensation für Anna Mahler oder ihre Familie wisse und beendet das Gespräch damit abrupt (S. 177). 56 Wenn sich Margarethe fragt, wie es gewesen sein musste, 1943 die kalifornische Küste entlang zu spazieren, bezieht sie sich nicht auf Anna Mahler, sondern auf Franz Werfel. (Vgl. Anthony Heilbutt: Exiled in Paradise. German Refugee Artists and Intellectuals in America from the 1930 s to the Present. New York 1983, S. 42.) 57 Mit ausdrücklichem Bezug auf Auschwitz meint Manon zu Albrecht, während vom Flugzeug aus Fliegengift über L.A. gesprüht wird, dass sie nicht aus NaziDeutschland nach Kalifornien geflohen seien, um hier vergast zu werden (S. 11).

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Filme vorgeführt, die die Nazis gemacht hatten. Hatte ihnen den Blick der Nazis aufgezwungen und sie doppelt dazu verdammt. (S. 172)

Im Einklang mit der katholischen Religion erklärt der Priester den Mädchen, dass Gut und Böse in ihnen sei und impliziert damit, dass auch sie eine Schuld für die Qualen der Insassen von Konzentrationslagern tragen. Diese albtraumartigen Kindheitserinnerungen tauchen auch später in der Geschichte wieder auf (S. 382).58 In diesem Zusammenhang macht sich Margarethe auch über das Gefühl der Schuld Gedanken, dass sie als nichtjüdische Österreicherin in Hinblick auf den Holocaust verspürt. Sie beschreibt dabei die gängigen Leugnungsstrategien gegenüber der österreichischen Geschichte: Ihre Eltern unterdrückten Erinnerungen an den Krieg und an die Verfolgung von jüdischen Nachbarn. Wütend und verärgert gibt Margarethe ihrer Elterngeneration die Schuld an der Shoah und versucht sich selbst damit von den Schuldgefühlen zu erlösen: Aber es war deren Schuld [die Schuld der Erwachsenen] gewesen. Die hatten sich diesen Mann und diese Partei geholt. Die waren in den Krieg gezogen. Die hatten zugesehen, wie die Nachbarn abgeholt worden, und warn dann in die Wohnungen gegangen und hatten sich die Kaffeehäferln geholt und nachher keine zurückgegeben. Die hatten es gewollt. Ein sauberes Salzburg. Ein judenfreies Salzburg. (S. 370 f.)

Margarethes Verstrickung in die Lebensgeschichte Anna Mahlers zwingt sie als Figur, und damit auch die LeserInnen, die faschistische Vergangenheit Deutschlands und Österreichs neu zu bedenken. Streeruwitz’ Nachwelt unterscheidet sich von den meisten Biographien durch die Einbindung eines Ich, einer fiktiven Figur, zusätzlich zum anderen, zum biographischen Objekt. Nicht allein die Biographin, sondern auch eine Reihe von anderen Stimmen beschreiben Anna Mahlers Leben – Stimmen, die authentisch erscheinen; Stimmen, die die Idee der Objektivität oder des unverfälschten Kommentars negieren. Margarethes Selbsterforschung führt dazu, dass sie den Versuch, das Leben anderer zu untersuchen, gänzlich in Frage stellt, indem sie es buchstäblich ablehnt, die in Auftrag gegebene Biographie zu schreiben: Sie würde diese Biographie nie schreiben. Konnte das nicht. […] Vor ihr war diese Frau sicher. […] Es hatte so einfach ausgesehen. Man fährt an einen Ort. Spricht mit Leuten. Sammelt Unterlagen. Entscheidet, was glaubhaft, was nicht. Und dann faßt man alle Informationen zusammen. […] War verwundert über die Selbstverständlichkeit, dieses Eindringen in andere Leben. 58 Vgl. dazu auch Streeruwitz: Kçnnen. Mçgen, S. 43 u. Marlene Streeruwitz: Marlene Streeruwitz im Gespr ch mit Heinz-Norbert Jocks. Köln 2001, S. 21.

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Weil sie Geld dafür bekommen hätte. Das würde sie nun anders verdienen müssen. (S. 370 f.)

Sie empfindet die Idee, das unvollendete Leben einer anderen Person zu verkaufen, als abstoßend. Obwohl Margarethe wiederholt betont, sie könne und wolle keine Biographie Anna Mahlers schreiben, da sie diesem Leben nicht gerecht würde und gar nicht dazu fähig sei, das Leben einer fremden Person zu erzählen, schreibt sie schließlich eine Geschichte, die Teile von Anna Mahlers Biographie enthält. Indem sie sich auf die Metaebene konzentriert – die Geschichte der Versuche einer Biographin und das theoretische Scheitern, eine Biographie zu schreiben – schreibt sie eine neue Art von Biographie, die sich von traditionellen Biographien in Form und Inhalt unterscheidet. Die strukturierenden Elemente und die Überschriften des Gesamttexts, der einzelnen Kapitel und Unterkapitel brechen die Erzählung auf. Indem die Geschichte verfremdet wird, werden die LeserInnen daran erinnert, dass es sich bei Nachwelt nicht bloß um einen Reisebericht mit Tagebucheinträgen oder eine Interviewsammlung in einem historischen Roman handelt, sondern dass alle diese Elemente mit der fiktiven Erzählung von Margarethe verwoben sind, der Biographin, die über den Text, der Anna Mahlers Lebensgeschichte erzählt, aufragt. Der Inhalt widerspricht damit der erzählerischen Ausgestaltung, da Margarethe wiederholt behauptet, die Geschichte nicht zu schreiben, während sie genau das mehr und mehr tut. Die Widersprüche, die sich aus diesem Ansatz ergeben, werden in Streeruwitz’ Nachwelt wortreich ausgedrückt: Sie kritisiert damit das Modell eines traditionellen Biographen, der die Aussagen von Zeitzeugen mit den übrigen über das biographische Objekt gesammelten Information verbindet und dabei oft Details ausspart, die unwichtig erscheinen und dennoch Teil des Lebens sind. Die Leistung von Nachwelt ist es, beinahe den Anspruch erheben zu können, eine Biographie zu sein, aber diesen Anspruch gleichzeitig zu negieren, indem die Gültigkeit und die Autorität der eigenen Gattung in Frage gestellt wird. bersetzung: Tobias Heinrich

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Film

Lebensgeschichten im Biopic Skizzen zu einem historischen Überblick

Manfred Mittermayer Im vorliegenden Beitrag wird der Versuch unternommen, anhand einer Anzahl repräsentativer Einzelbeispiele sowie zumindest der Andeutung signifikanter Tendenzen des biographischen Films einen Überblick über die mehr als hundert Jahre zu geben, in denen das filmische Medium existiert und sich der Darstellung individueller Lebensläufe gewidmet hat. Neben einer Reihe kürzerer Einführungen1 liegen gegenwärtig mehrere umfangreiche Untersuchungen zum Thema ,Biographie im Film‘ vor. Nach George Custens Buch Bio/Pics: How Hollywood Constructed Public History (1992) 2 ist vor allem die narratologisch orientierte Untersuchung Rolle des Lebens: Die Filmbiographie als narratives System (2002) von Henry M. Taylor zu erwähnen. Abgesehen von diesen Standardwerken und diversen Sammelbänden3 sind zwei ausführliche Studien zu Teilgebieten des Biopics erschienen: John C. Tibbetts beschäftigt sich in dem Band Composers in the movies: Studies in musical biography (2005) mit Komponisten im Biopic, Siegrid Nieberle analysiert unter dem Titel Literarhistorische Filmbiographien. Autorschaft und Literaturgeschichte im Kino (2008) die Darstellung von Autor/ inn/en im biographischen Film. Unter dem Begriff ,Biopic‘, der sich für das Genre herausgebildet hat, fasst Taylor Filme, die „in fiktionalisierter Form die historische Bedeutung 1

2 3

Vgl. Carolyn Anderson: „Biographical Film“. In: A Handbook of American Film Genres. Hg. v. Wes Gehring. Westport 1988, S. 331 – 351; Steve Neale: „Biopics“. In: ders.: Genre and Hollywood. London, New York 2000, S. 60 – 65; Ian Christie: „A Life on Film“. In: Mapping Lives. The Uses of Biography. Hg. v. Peter France u. William St. Clair. Oxford, New York 2002, S. 283 – 301; Carolyn Anderson u. Jon Lupo: „Hollywood Lives: The State of the Biopic at the Turn of the Century“. In: Genre and Contemporary Hollywood. Hg. v. Steve Neale. London 2002, S. 77 – 104. Vgl. auch den Beitrag von George F. Custen: „The Mechanical Life in the Age of Human Reproduction: American Biopics, 1961 – 1980“. In: Biography 23 (2000) H. 1, S. 127 – 159. Vgl. z. B. den gleichzeitig mit diesem Beitrag erscheinenden Band Ikonen Helden Außenseiter. Film und Biographie. Hg. v. Manfred Mittermayer, Patric Blaser u. a. Wien 2009.

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und zumindest in Ansätzen das Leben einer geschichtlich belegbaren Figur“ behandeln. Dabei muss keineswegs eine geschlossene Lebensgeschichte von der Geburt bis zum Tod wiedergegeben werden; oft wird die Handlung durch einen oder mehrere Lebensabschnitte der meist durch die Nennung ihres realen Namens identifizierten Person gebildet.4 Als Grundtypen nennt er eine „klassisch-realistische Form“, die sich durch „harmonische Geschlossenheit am Ende“ auszeichne, während bei der „modernen, offenen Spielart“ ein „problematischer Schluss“ zu beobachten sei.5 Der Historiker Robert A. Rosenstone, der sich vor allem mit der Darstellung historischer Themen und Personen im Film beschäftigt, schlägt eine Dreiteilung vor: „the biopic of Hollywood’s studio era; the ,serious‘ biofilm which has for a long time been made in Europe and other parts of the world, […] and the innovative or experimental bio, which presents a life in the form of a fragmented or achronological drama rather than a traditional linear story“.6 Mein kleiner Überblick ist nicht typologisch, sondern chronologisch angelegt. Dabei werden Beispiele für alle von Taylor und Rosenstone beschriebenen Varianten vorkommen. Der von Rosenstone als vierte Möglichkeit hinzugefügte Dokumentarfilm soll allerdings ausgeblendet bleiben; ich konzentriere mich – nicht zuletzt aus Platzgründen – auf Spielfilme, die im Kino gelaufen sind.7

4

5 6 7

Henry McKean Taylor: Rolle des Lebens: Die Filmbiographie als narratives System. Marburg 2002, S. 22. – Vom historischen Film unterscheidet sich das Biopic nach diesem Verständnis dadurch, dass dort nicht mehr eine Persönlichkeit, sondern ein historischer Sachverhalt im Mittelpunkt steht; vgl. ebd. Ebd., S. 15. Robert A. Rosenstone: „Telling Lives“. In: ders.: History on Film / Film on History. Harlow 2006, S. 89 – 110, hier S. 93. Der vorliegende Artikel ist im Zusammenhang mit meinem Beitrag „Darstellungsformen des Schöpferischen in biographischen Filmen. Beobachtungen an einer Untergattung des Biopics“ für den Band Die Biographie. Zur Grundlegung ihrer Theorie. Hg. v. Bernhard Fetz. Berlin, New York 2009, S. 501 – 533, entstanden; die beiden Arbeiten sind als einander ergänzende Blicke auf das zur Diskussion stehende filmische Genre intendiert.

Lebensgeschichten im Biopic

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Die ersten fünfzig Jahre: Das Biopic bis zum Ende des Zweiten Weltkriegs a) Die Stummfilmzeit Bereits im ersten Jahr der Filmgeschichte entstand auch der erste Film, der sich mit einer historischen Persönlichkeit beschäftigte. William Heise drehte für Thomas Edisons Produktionsfirma The Execution of Mary, Queen of Scots (USA 1895) und setzte dabei jene Mittel ein, die das neue Medium für sein Publikum so faszinierend machten: Trickaufnahmen, mit deren Hilfe sich ein spektakuläres Ereignis wie eine Hinrichtung mit bislang unbekannter Wirklichkeitsnähe darstellen ließ.8 Damit wandte sich der biographische Film von Beginn an einem der Hauptgebiete zu, aus denen er fortan seine Objekte beziehen sollte: der Politik. Darüber hinaus war schon früh die Kunst ein weiteres bevorzugtes Thema, nicht zuletzt in dem Bestreben, dem Image des neuen Mediums als Volksbelustigung aus dem Jahrmarkt-Ambiente zu entkommen (z. B. Moli re, F 1909; Richard Wagner. Ein kinematographischer Beitrag zu seinem Lebensbild, D 1913). Der Film The Life Story of David Lloyd George (Maurice Elvey, GB 1918; Arbeitstitel: The Man Who Saved the Empire) belegt auf exemplarische Weise die Möglichkeiten des Mediums nach zwei Jahrzehnten seines Bestehens. Er orientiert sich am traditionellen Modell einer Biographie des ,Großen Mannes‘; das Publikum erfährt z. B., wie sich Lloyd George schon als Kind durch jene Eigenschaften auszeichnet, für die er später besonders geschätzt wird. In mehreren Sequenzen werden übernatürliche Elemente eingesetzt: Als der kleine David eine Schlacht aus dem kurz zurückliegenden Französisch-Preußischen Krieg nachspielt und dabei in Vorwegnahme seiner späteren Rolle im Ersten Weltkrieg gegen die Deutschen kämpft, verwandelt sich die Szene plötzlich in ein Duell zwischen einem Jugendlichen und einer riesenhaften Figur in antiker Rüstung, als Anspielung auf den Kampf zwischen dem biblischen David (!) und Goliath. Die biographische Darstellung folgt also nicht nur der historischen Überlieferung, sondern auch bekannten Mustern aus dem Bereich des Mythos – eine Narrationstechnik, die in zahlreichen Biopics (oft viel versteckter als in diesem Fall) angewandt wird. Daneben werden aber auch moderne Vermittlungsformen wie die Pressephotographie und die KinoWochenschau in das filmische Darstellungsspektrum integriert: z. B. in 8

Vgl. Taylor: Rolle des Lebens, S. 26. Seinem einleitenden Überblick über das Genre ist auch meine Darstellung verpflichtet; vgl. S. 24 – 44.

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historischen Massenszenen, wenn Lloyd George mit einem aufrührerischen Mob oder mit militanten Suffragetten konfrontiert ist.9 Nur ein Jahr später entstand der Film Madame Dubarry (D 1919) von Ernst Lubitsch, in dem der Aufstieg der hübschen Modistin Jeanne bis zur Mätresse des Königs im Paris zur Zeit Ludwigs XV. nachgezeichnet ist. Der Film war höchst umstritten. Manche sahen darin eine Verhöhnung der Revolution; der Regisseur habe Geschichte ausschließlich psychologisiert, auf private Konflikte reduziert – immerhin bezieht sich eine zentrale Plotlinie auf die enttäuschte Liebe eines Studenten zur Dubarry, der deshalb zum Revolutionär wird und beim vergeblichen Versuch, die von ihm zur Guillotine Verurteilte doch aus dem Kerker zu befreien, ums Leben kommt. Irritierend war für viele, dass das Volk völlig desillusionierend dargestellt wurde, als großteils verkommen und leicht beeinflussbar.10 Inzwischen wird jedoch eher Lubitschs satirischer Umgang mit den Herrschenden betont, sein schonungsloser Blick in die Hinterzimmer der Macht, in denen die vorgebliche Größe der Machtträger plötzlich auf die Lüste und Leidenschaften durchschnittlicher Menschen schrumpft.11 Ernst Lubitschs Filme über historische Persönlichkeiten, neben der Dubarry auch Anna Boleyn (D 1920), werden heute zu den wichtigsten Ausgangspunkten für das sich allmählich ausbildende Genre des Biopic gezählt. Als eines der herausragenden Filmkunstwerke dieser Zeit gilt der monumentale Streifen Napoleon des Regisseurs Abel Gance (F 1927). Zwar diente er vor allem der Überhöhung des Korsen, er war inhaltlich also wenig innovativ. Doch technisch war er revolutionär, etwa in der virtuosen Verwendung der ,entfesselten Kamera‘ zur Herstellung großer Dynamik. Besonderes Aufsehen erregte die ,dreifache Leinwand‘, die bei der heroisierenden Darstellung Napoleons mit großem Effekt eingesetzt wurde: Wenn er bei der Flucht von Korsika gezeigt wird, sieht man ihn auf einem kleinen Boot in der Mitte der Leinwand in einem starken Sturm, während auf den beiden Seiten-Leinwänden der politische Tumult im Pariser Konvent tobt. Beim Marsch der Armee im Italienfeldzug, mit dem der Film endet, wird Napoleon ebenfalls wie auf einem Triptychon in die 9 Vgl. Ian Christie: „The Life Story of David Lloyd George (1918)“. In: Fifty Key British Films. Hg. v. Sara Barrow u. John White. London, New York 2008, S. 7 – 12. 10 Vgl. Helmut Korte: „Geschichte und Realität. Madame Dubarry (1919).“ In: Fischer Filmgeschichte, Bd. 1. 1895 – 1924. Hg. v. Werner Faulstich u. Helmut Korte. Frankfurt/M. 1994, S. 326 – 343, hier S. 334. 11 Vgl. Daniela Sannwald: „Madame Dubarry“. In: Filmklassiker, Bd. 1. 1913 – 1946. Hg. v. Thomas Koebner u. Mitarb. v. Kerstin-Luise Neumann. Stuttgart 1995, S. 44 – 46, hier S. 45 f.

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Mitte gerückt, eingerahmt von den aufbrechenden Truppen auf den Flügelbildern. Der Film, dessen Musik von Arthur Honegger komponiert wurde, blieb unvollendet – und das bei einer Version von sieben Stunden und 20 Minuten, die der Regisseur herstellte; für die Uraufführung in der Pariser Oper wurde das Werk auf 220 Minuten zusammengekürzt.12 Eines der höchst gerühmten Werke der Filmgeschichte ist La passion de Jeanne d’Arc (F 1928) des dänischen Regisseurs Carl Theodor Dreyer. Der Film wurde vor allem durch den wirkungsvollen Einsatz von Großaufnahmen berühmt, mit deren Hilfe das Publikum buchstäblich ins Geschehen hineingezogen wird. Dreyer war fasziniert von der Mimik als menschlichem Ausdrucksmittel: „Nichts in der Welt ist dem menschlichen Gesicht vergleichbar. Es ist ein Land, das zu erforschen man niemals müde wird.“13 Oft sind es nur Detailaufnahmen von Augen oder Mündern; anders als in vielen anderen historischen Filmen spielen Totalaufnahmen keine Rolle. Indem die Richter zumeist in Untersicht aufgenommen werden, Jeanne hingegen von oben, als Opfer, inszeniert Dreyer das zentrale Machtverhältnis des Films; er stilisiert die Heilige dabei z. B. durch die leicht geneigte Kopfhaltung nach Darstellungen der Passion Christi.14 Das Leben der Jeanne d’Arc wurde bis heute immer wieder zum Gegenstand biographischer Filme. Ähnliche künstlerische Bedeutung wie Dreyers Version hatte allerdings kaum eine dieser Produktionen – ausgenommen der Film Proc s de Jeanne d’Arc (F 1962) von Robert Bresson, der völlig auf die expressionistischen Ausdrucksmittel verzichtet, die Dreyers Version so eindrucksvoll machen.15 Bressons minimalistische Darstellungsweise konzentriert sich auf neun Verhöre im Gerichtssaal und in Jeannes Zelle. Anders als im Stummfilm war es mittlerweile möglich geworden, die Aufmerksamkeit auf das gesprochene Wort zu lenken: „I tried, without creating ,theater‘ or ,masquerade‘, to discover a non-his12 Die am ehesten dem Original nahe kommende Fassung stammt von Kevin Brownlow; vgl. dessen ausführliche Darstellung: Napoleon. Abel Gance’s Classic Film. 2. Aufl. London 2004. 13 Zit. nach Dagmar von Hoff: „Von der Akribie zur Passion. Jeanne d’Arc in Carl Theodor Dreyers Passion der Jeanne d’Arc“. In: Jeanne d’Arc oder Wie Geschichte eine Figur konstruiert. Hg. v. Hedwig Röckelein, Charlotte Schoell-Glass u. Maria E. Müller. Freiburg, Basel, Wien 1996 (= Frauen Kultur Geschichte, Bd. 4), S. 220 – 243. 14 Vgl. auch die Analyse von Manfred Polak: „La passion de Jeanne d’Arc“. http:// www.filmzentrale.com/rezis/jeannemp.pdf (Stand: 30.09.2008) 15 Erwähnenswert ist auch noch der zweiteilige Film Jeanne la Pucelle (F 1994; Teil 1: Les batailles, Teil 2: Les prisons) mit Sandrine Bonnaire; Regie: Jacques Rivette.

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torical truth by means of historical words“16, sagt der Regisseur und bringt damit eines der zentralen Probleme des biographischen (wie des historischen) Films ins Spiel: die Frage nach der Wahrheit bzw. der Authentizität der Darstellung. b) Stars, Legenden, Darstellungsmodelle Josef von Sternbergs The Scarlet Empress (USA 1934) über die russische Kaiserin Katharina die Große ist eine weitere bemerkenswerte Frauenbiographie aus den frühen Jahrzehnten des Films; wir befinden uns bereits in der Zeit des Tonfilms. Sternbergs Hauptfigur gehört zur Serie der Königinnen, deren sich der biographische Film mit Vorliebe annahm;17 im selben Jahrzehnt entstand z. B. der Streifen Marie Antoinette (W.S. Van Dyke, USA 1938) mit Norma Shearer in der Hauptrolle,18 ein erfolgreiches Beispiel aus neuerer Zeit ist The Queen (Stephen Frears, GB/F/IT 2005) mit der Oscar-gekrönten Darstellung von Queen Elizabeth II. durch Helen Mirren. Der Film rekonstruiert die ambivalente Lebensgeschichte einer der mächtigsten Frauen der Vergangenheit: Eine aus Staatsräson mit einem Schwachsinnigen verheiratete junge Frau passt sich im Kontext der hohen Politik an die herrschenden Mechanismen von Macht und Terror an und gewinnt dadurch den blutigen Kampf um den Thron. Der Film, in dessen Hauptrolle Marlene Dietrich brilliert, wurde vor allem wegen der opulenten Mise-en-sc ne des Regisseurs berühmt. Sternberg inszeniert nicht nur 16 Zit. nach Joseph Cunneen: Robert Bresson. A Spiritual Style in Film. New York, London 2003, S. 85. Um so nahe an der Realität wie möglich zu bleiben, stützte sich Bresson dabei auf die historischen Protokolle sowie auf Zeugenaussagen. 17 In seiner Untersuchung der Produktion von Biopics innerhalb der Studio-Ära Hollywoods (1927 – 1960) gelangt George Custen zum Ergebnis, dass individuelle Frauen nur in etwa 25 % der Filme im Mittelpunkt stehen (zählt man Frauen als Bestandteil berühmter Paare hinzu, sind es 31 %). Dabei dominieren (anders als bei Männern) drei Themenbereiche: „performers“ (Sängerinnen, Schauspielerinnen etc.), Geliebte und „royalties“. Vgl. George F. Custen: Bio/Pics: How Hollywood Constructed Public History. New Brunswick 1992, S. 103. 18 Fast 70 Jahre später widmete sich die Regisseurin Sofia Coppola in ihrem Film Marie Antoinette erneut der letzten französischen Königin vor der Revolution. Vgl. zu diesem umstrittenen, aber nicht uninteressanten Biopic die Beiträge von Christine N. Brinckmann: „Marie Antoinette (USA 2006) – eine adoleszente Zeitreise“. In: Ikonen Helden Außenseiter. Hg. v. Mittermayer, Blaser u. a., S. 123 – 139, und Eva Warth: „Störung und/als Exzess. Sofia Coppolas Marie Antoinette (USA 2006)“. In: ebd., S. 141 – 152.

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seine Hauptdarstellerin, sondern auch deren Umfeld mit ungewöhnlichen Bildern, etwa in der vielbesprochenen Hochzeitssequenz, in der Katharina buchstäblich zur Gefangenen des russischen Hofes rund um die Zarenmutter und den imbezilen Ehemann wird. In eindrucksvollen sadomasochistischen Bildern wird die politische Gewalt augenscheinlich, z. B. in der Aufnahme eines Bauern, der als Klöppel einer riesigen Glocke zu sehen ist. Robin Wood stellt den Film in die Tradition von Expressionismus und Surrealismus, weit entfernt von Hollywoods Realismuskonzeption. Sternbergs Filme mit Marlene Dietrich scheinen ihm vor allem eine zentrale Frage zu stellen: „How does a woman, and at what cost, assert herself within an overwhelmingly male-dominated world?“ In der Beziehung zwischen der zu Beginn durchaus liebesfähigen Katharina und dem russischen Aristokraten Orloff, der sie aus Deutschland in sein Land gebracht hat, zeige sich ein weiteres wiederkehrendes Thema der Sternberg/Dietrich-Filme: „the perversion of reciprocal love, within a culture built upon power relations, into sadomasochism“.19 So wie The Scarlet Empress ist auch Queen Christina (Rouben Mamoulian, USA 1933) ein Beleg dafür, dass sich zwischen dem StarSystem der Filmindustrie und dem biographischen Film eine fruchtbare Wechselwirkung etabliert hatte. Unter den männlichen Schauspielern ist in dieser Hinsicht besonders George Arliss zu nennen, der in den Filmen Disreali: The Noble Ladies of Scandal (USA 1929, über die Erwerbung des Suez-Kanals durch den britischen Premierminister) und Voltaire (USA 1933) jeweils die Hauptrolle verkörpert hatte.20 Die schwedische Königin war eine der großen Rollen der Schauspiel-Ikone Greta Garbo. Der Film beginnt mit ihrer Krönung; am Ende wird sie abdanken, nachdem sie sich – gegen das diplomatische Heiratskalkül des Hofes – in den neuen Botschafter von Spanien verliebt hat. Indem außerdem die erotische Beziehung Christinas zu ihrer Hofdame Ebba dargestellt und zwischenzeitlich mit ihrer Verkleidung als Mann gespielt wird, erscheint die Darstellung der 19 Roger Wood: „Josef von Sternberg’s The Scarlett Empress“. Begleittext zur DVDEdition, The Criterion Collection, 2001. – Zeitgleich mit diesem Film entstand auch The Rise of Catherine the Great (GB 1934), mit Elisabeth Bergner in der Titelrolle. 20 Am Beispiel von Arliss lässt sich zeigen, wie das Genre ,Biopic‘ durchaus nicht von Beginn an als solches konzipiert war, sondern sich aus den unterschiedlichsten Ursachen heraus (produktionstechnisch, ökonomisch etc.) entwickelte. Dazu gehörte u. a. der Erfolg von Filmen ein und desselben Darstellers (Arliss) über einzelne historische Persönlichkeiten – das kassenträchtige Modell wurde von den Studios sogleich weitergeführt; vgl. dazu Rick Altman: „The biopic“. In: ders.: Film/Genre. London 1999, S. 38 – 44.

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Königin als komplexe Auseinandersetzung mit dem Verhältnis zwischen Männlichkeit und Weiblichkeit. Das Publikum konnte auch die ambivalente Sexualität der Hauptdarstellerin mit assoziieren. Queen Christina sei ein instruktives Beispiel dafür, so eine der Analysen des Films, „how Hollywood, through the biopic, constructs and disseminates conceptions of sexuality, gender, national identity and power“. Die wichtigsten Konfliktfelder, mit denen die Protagonistin konfrontiert sei, seien die folgenden: „power and personal desire“, „duty to the state and romance“ sowie „femininity and its renunciation“.21 Was der Film letztlich behandle, sei die Unmöglichkeit für Christina, gleichzeitig als Königin und als Frau zu agieren, „in other words, the complete incommensurability of these positions“.22 In Großbritannien war zu dieser Zeit der aus Ungarn stammende Regisseur und Produzent Alexander Korda für zwei biographische Filme verantwortlich, die zu Modellen für das Genre wurden. Zunächst drehte er The Private Life of Henry VIII. (GB 1933), die Geschichte der Beziehungen des englischen Königs Heinrich VIII. zu seinen sechs Frauen, die mit aufwändigen Mitteln, aber durchaus aus ironischer Distanz dargestellt wurde. Wie der Titel schon andeutet, spielte bei der Darstellung des von Charles Laughton verkörperten Königs die im Biopic häufig auftretende Frage nach dem Verhältnis zwischen öffentlichem und privatem Leben eines Politikers eine zentrale Rolle. Analog zu Lubitsch wurden die Royals durch die Anpassung an die Alltagserfahrung des Publikums entmystifiziert und diesem dadurch nahegebracht: „The film consequently fluctuates […] between a depiction of monarchy as ,special‘ and one of royalty as ,just like you and me‘.“23 Die Produktion des Films fiel in eine Zeit, in der Großbritannien auf der Suche nach einer neuen nationalen Identität war; man bezog die Elemente für diese Konstruktion einer spezifischen ,Englishness‘ vorzugsweise aus der Tudor-Periode, und das neue Massenmedium bekam in diesem Kontext eine herausragende Funktion.24 Ausgehend vom Erfolg des Films, einem der größten in der Geschichte des englischen Kinos, wandte sich Korda mit einem weiteren wegweisenden Biopic dem zweiten großen Themenbereich dieses Genres zu, den 21 Marcia Landy u. Amy Villarejo: Queen Christina. London 1995 (= BFI Film Classics), S. 69 f. 22 Ebd., S. 65. 23 Greg Walker: The Private Life of Henry VIII. London, New York 2003 (= The British Film Guide, Bd. 8), S. 45 f. 24 Vgl. ebd., S. 29 f.

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Filmbiographien über Künstler/innen. Sein Film Rembrandt (GB 1936, wieder mit Charles Laughton), dessen Drehbuch u. a. von Carl Zuckmayer stammte, legt am Beispiel eines der berühmtesten europäischen Maler Grundlinien für die Erzählmuster im Umgang mit Künstler-Lebensläufen fest. Am Anfang steht die Anekdote mit der Ablehnung des berühmten Gemäldes „Die Nachtwache“ durch die Dargestellten, gleichzeitig verliert Rembrandt seine geliebte Frau Saskia. Nach einer wenig glücklichen Beziehung mit seiner Haushälterin findet er in Hendrikje Stoffels eine neue große Liebe; als er sie aufgrund des Testaments seiner ersten Frau nicht heiraten kann, wird sie von den Bürgern der Stadt wegen Sittenlosigkeit verstoßen. Neben diesen Plotlinien vollzieht sich die zunehmende Verarmung Rembrandts; das Geldgeschenk, das er am Ende von einem ehemaligen Schüler bekommt, investiert er nicht in Nahrung, sondern in Malutensilien. Der unverstandene Künstler, dessen Lebensform vom gesellschaftlichen Mainstream nicht akzeptiert wird, der seine Liebe in Meisterwerken sublimierende Maler, der aber zu seinen Lebzeiten daraus nur wenig Profit schlagen kann, sondern stattdessen in Armut verfällt – das sind Grundmuster, die auch in anderen Filmen (so wie in biographischen Darstellungen allgemein) immer wieder aufgegriffen wurden. Prägend für viele folgende biographische Filme wurden jene ,klassischen‘ Biopics, die in der zweiten Hälfte der 1930er Jahre von der Produktionsfirma Warner Bros. unter der Regie von William Dieterle hergestellt wurden. Dabei sind vor allem die beiden jeweils mit Oscars ausgezeichneten Produktionen The Story of Louis Pasteur (USA 1935) und The Life of Emile Zola (USA 1937) zu nennen; in beiden Fällen spielte der Schauspieler Paul Muni die Hauptrolle, der für seine Rolle des Louis Pasteur einen Oscar als bester Hauptdarsteller erhielt,25 der Film über Emile Zola wurde als bester Film des Jahres ausgezeichnet. Das Biopic über Pasteur behandelt dessen Einsatz für größere Hygiene bei der Ausübung der ärztlichen Tätigkeit, aber auch die Entdeckung neuartiger Impfme25 Bemerkenswert ist, dass sich Muni zuvor als Darsteller von Gangstern einen Namen gemacht hatte: In den Filmen Scarface (USA 1932) und I Am a Fugitive from a Chain Gang (USA 1932), deren biographische Darstellungsmuster für das Biopic durchaus als Vorbilder dienen konnten. Durch den Rollenwechsel konnte Muni für sich eine deutliche Image-Korrektur hin zum Positiven vornehmen. Auch zwei weitere renommierte Gangsterdarsteller, Edward G. Robinson und James Cagney, folgten dieser Praxis; sie übernahmen die Hauptrollen in den Biopics Dr. Ehrlich’s Magic Bullet (USA 1940, über den Nobelpreisträger Paul Ehrlich) bzw. Yankee Doodle Dandy (USA 1942, über den Entertainer und Komponisten George M. Cohan).

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thoden gegen Milzbrand und Tollwut. Zola wird nach einem ersten Abschnitt, der seinen Aufstieg zu Erfolg und Ruhm aus den ärmlichen Lebensumständen eines Bohèmien kurz zusammenfasst, vor allem im Zusammenhang mit seinem Engagement in der Dreyfus-Affäre gezeigt; in einer umfangreichen Gerichtsszene wird er zwar zunächst verurteilt, dann aber – wie auch Dreyfus – rehabilitiert und nach seinem tragischen Unfalltod (Gasvergiftung) von Anatole France in einer Art kurzem Nachruf gewürdigt: „He was a moment in the conscience of man.“26 Das in diesen Filmen entwickelte Schema wurde in zahlreichen weiteren Biopics variiert und weiterentwickelt. Es erwies sich als den dramatischen Gesetzmäßigkeiten des Mediums in idealer Weise angemessen: Ein fortschrittlicher Einzelner kämpft gegen eine dem Vergangenen verhaftete Gesellschaft; er bewährt sich häufig im Kontext einer spektakulären Gerichtsszene, in der er und seine Innovationen mit den Auffassungen seiner Gegner konfrontiert werden und er sich letztlich durchsetzt.27 George Custen prägte dafür die folgende, drei entscheidende Aspekte umfassende Formel: „resistance, the struggle between innovation and tradition, and the importance of the big break – that give shape to the universe in which fame is placed“.28 Auffällig dabei ist, dass die Appelle im Interesse der Toleranz, der Demokratie und des Fortschritts, mit denen diese Filme – oft in Form einer kleinen abschließenden Ansprache der Hauptfigur oder eines Laudators – zu schließen pflegen, im Namen der gesamten Menschheit formuliert sind: „Hollywood itself recognized its function as a universalizing, representative discourse by the very economic power represented by the film industry.“29 Das Modell findet sich in ähnlicher Form in weiteren Dieterle-Filmen wie Dr. Ehrlich’s Magic Bullet (USA 1940) über Paul Ehrlich, den Entdecker eines Serums gegen Diphtherie und eines Behandlungsmittels gegen Syphilis, sowie A Dispatch from Reuters (USA 1940) über Julius Reuter, den Begründer der ersten Nachrichtenagentur, aber auch bei anderen Regisseuren wie Preston Sturges in The Great Moment (USA 1944) über den 26 In Wirklichkeit erfolgte die Rehabilitierung von Dreyfus allerdings erst nach Zolas Tod. 27 Vgl. Bruce Babington: „,To catch a star on your fingertips‘. Diagnosing the medical biopic from The Story of Louis Pasteur to Freud“. In: Signs of Life. Cinema and Medicine. Hg. v. Graeme Harper u. Andrew Moor. London, New York 2005, S. 120 – 131, hier S. 121. 28 Custen: Bio/Pics, S. 178. 29 Thomas Elsaesser: „Film History as Social History. The Dieterle/Warner Brothers Bio-pic“. In: Wide Angle 8 (1986) H. 2, S. 15 – 32, hier S. 30.

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Zahnarzt W. T. G. Morton, der eine Formel für den Einsatz von Äther bei der Anästhesie entwickelte. Alberto Elena weist darauf hin, dass die Zeit zwischen dem Ausbruch des Zweiten Weltkriegs und den frühen 1950er Jahren als „Golden Age of Scientists’ biopics“ gesehen werden kann; er macht dafür die Übereinstimmung zwischen bestimmten ideologischen Strömungen und die zunehmende Bedeutung der Wissenschaften in den entsprechenden Gesellschaften verantwortlich.30 An der filmischen Inszenierung von Forschungsprozessen beobachtet er vor allem zwei Charakteristika, die sich von der Wirklichkeit der oft durch lange Entwicklungsphasen voll Routine und harter Alltagsarbeit gekennzeichneten Tätigkeit der Wissenschaftler abheben: einerseits das so genannte „Heureka-Syndrom“, wonach Erfindungen in einem plötzlichen, unerwarteten und hochdramatischen Vorgang zustande kommen, andererseits das Element des Tragischen, sodass oft erst individuelles Leiden und absolute Selbstverleugnung bzw. heroischer Einsatz des eigenen Lebens zum erstrebten Ziel führen.31 Besondere Beachtung verdient der Film Madame Curie (Mervyn LeRoy, USA 1943), in dem – anders als in den bisher genannten Biopics – eine weibliche Forscherin im Zentrum steht. In diesem Film zeigen sich die für das Genre charakteristischen Widersprüche in der Darstellung von Frauen. Grundsätzlich haben nach Elenas Statistik (Stand: 1997) von 122 Wissenschaftler-Biopics nur 19 Frauen zum Gegenstand, davon sind 11 Krankenschwestern.32 Die Grundannahme dieser Filme lautet – wie in der Realität, in der sie wurzeln –, dass die Wissenschaft eine prinzipiell männliche Domäne ist; erfolgreiche Frauen bilden darin eine Ausnahme. Außerdem hat eine weibliche Wissenschaftlerin nicht nur zu beweisen, dass sie fachlich qualifiziert ist (und das in einem zumeist höheren Ausmaß als ihre männlichen Kollegen), sondern auch „to prove in a domestic setting that she is a real woman“.33 Bezeichnend ist die Bemerkung im Drehbuch, dass Pierre Curie seine Frau „with astonishment and admiration“ anzu30 Alberto Elena: „Exemplary Lives. Biographies of Scientists on the Screen“. In: Public Understanding of Science 2 (1993), S. 205 – 223, hier S. 208. 31 Ebd., S. 212. 32 Vgl. Alberto Elena: „Skirts in the Lab. Madame Curie and the Image of the Woman Scientist in the Feature Film“. In: Public Understanding of Science 6 (1997), S. 269 – 278, hier S. 272. – Der berühmteste Film über eine Krankenschwester aus der ,klassischen‘ Ära des Biopics ist Sister Kenny (USA 1946), der sich mit dem Kampf der Australierin Elizabeth Kenny nicht nur gegen die Kinderlähmung, sondern auch gegen eine bornierte ärztliche Umgebung befasst. 33 Ebd., S. 271.

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sehen habe: „a miracle – a beautiful woman and brilliant scientist in one and the same creature“.34 Hugh Crawford hat herausgearbeitet, wie der Film trotz potentiell feministischer Ausgangslage (die positive Darstellung einer Wissenschaftlerin, die sich auf souveräne Weise in einer männlichen Umgebung durchsetzt) in der Organisation des darin inszenierten Blicks die Grundstrukturen einer nach patriarchalischen Mustern organisierten Realitätskonstruktion beibehält: „Ultimately […] the film rests on masculine tropes of scientific activity, and extends (albeit in a somewhat humorous fashion) the misogyny of the laboratory and the objectification of Marie by the cinematic apparatus.“35 Ein späterer Nachfahre der ,klassischen‘ Forscher-Biopics ist John Hustons Freud (USA 1962) – ein Film über jenen Wissenschaftler, der etwa gleichzeitig mit der Entstehung des neuen (filmischen) Mediums wie kein anderer das moderne Menschenbild und damit auch die Voraussetzungen für die biographische Tätigkeit revolutionierte. Die Produktion sollte zunächst nach einem Drehbuch Jean-Paul Sartres entstehen.36 Der Text war zwar viel zu lang und gelangte nicht zur filmischen Umsetzung; auf Sartre geht jedoch die Idee zurück, aus mehreren realen Patientinnen Freuds (Anna O., Elisabeth von R., Dora etc.) eine zusammengesetzte weibliche Hauptfigur namens Cäcilie Körtner zu konstruieren – ein beliebtes Mittel für die dramaturgische Verdichtung komplizierter historischer Vorgänge. Körtners Behandlung (zunächst durch Breuer, dann durch Freud) bildet den einen Hauptstrang des Filmes. Der andere wird in der zweiten Hälfte der Handlung immer bedeutsamer; es ist die Selbstanalyse des von Montgomery Clift verkörperten Freud, die eine weitere Quelle seiner Forschungen darstellt. Die Zweisträngigkeit der Narration eröffnet u. a. die Möglichkeit, die „innere“ und die „äußere“ Existenz Freuds dialektisch aufeinander zu beziehen: „Erzählt wird eine soziale und eine psychologische Biographie, eine des Forschers und eine des Selbstanalytikers, der sich als Objekt zu betrachten, seine Träume zu deuten und seine Neurose zu verstehen lernt.“37 Norman Holland bezeichnet Hustons Freud als „intellectual thriller“ und „Freud’s intellectual quest“ als dessen 34 Zit. nach ebd., S. 275. 35 T. Hugh Crawford: „Glowing dishes: Radium, Marie Curie, and Hollywood“. In: Biography 23 (2000) H. 1, S. 71 – 89, hier S. 78. 36 Vgl. Jean-Paul Sartre: Freud. Das Drehbuch [1984]. Reinbek bei Hamburg 1995. 37 Ursula von Keitz: „,Ich weiß nicht, was ich werd’. Jedenfalls kein Arzt!‘ Zwei filmische Zugänge zur Person Freud.“ In: Psyche im Kino. Sigmund Freud und der Film. Hg. v. Thomas Ballhausen, Günter Krenn u. Lydia Marinelli. Wien 2006, S. 225 – 243, hier S. 228.

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dominantes Motiv.38 Allerdings weicht der Film von den Konventionen des klassischen Forscher-Biopics ab, wo die Karriere des Protagonisten nach allen Kämpfen und Rückschlägen schließlich durch die öffentliche Anerkennung ans Ziel geführt wird: Die beiden gezeigten Präsentationen von Freuds Forschungsresultaten bescheren dem Protagonisten innerhalb der Handlung noch nicht den ersehnten Durchbruch, vor allem seine Darlegung seiner Theorie des Ödipuskomplexes kurz vor Filmende stößt auf vehemente Ablehnung.39 Die Durchsetzung von Freuds Ideen wird erst später erfolgen, außerhalb der filmischen Diegese. c) Politische Kontexte In seinem Überblick über Forscher-Biopics vergleicht Elena die USamerikanische Version dieses Sub-Genres, deren Hauptfiguren in der Regel besonders mutige und abenteuerlich veranlagte Charaktere seien, mit der sowjetischen Variante, bei der zumeist eine Beziehung zum militärischen Apparat bestehe und deren Grundmodell keiner individualistischen, sondern einer kollektivistischen Ausrichtung folge. Er nennt als typisches Beispiel den Film Mitschurin (UdSSR 1948) von Oleksandr P. Dowschenko, in dessen Mittelpunkt ein russischer Botaniker und Pflanzenzüchter steht; seine wissenschaftlichen Errungenschaften werden deutlich im Kontext der politischen Veränderungen nach der Oktoberrevolution interpretiert, als Beitrag zu den Reformen im Bereich der Landwirtschaft.40 Bereits aus den 1930er Jahren stammt eines der berühmtesten Werke der sowjetischen Filmgeschichte, der Streifen Tschapajew von Georgi und Sergej Wassiljew (UdSSR 1934). Auch dieses Biopic steht deutlich im Kontext der politischen Rahmenbedingungen, unter denen es produziert wurde. Seine narrative Basis verweist außerdem eindringlich auf den Anteil fiktionaler Elemente bei der Entstehung biographischer Filme: Es geht auf einen Roman des Schriftstellers und Offiziers Dmitri Furmanow zurück und erzählt die Geschichte des Bürgerkriegshelden Tschapajew, der als Kommandeur der 25. Kavalleriedivision an der Mittleren Wolga und im Ural gegen die Weißgardisten kämpft. Orientiert am Sozialistischen 38 Norman N. Holland: „Seeing Huston’s Freud.“ http://www.clas.ufl.edu/users/ nholland/huston.htm (Stand: 10.11.2008). 39 Vgl. Keitz: „,Ich weiß nicht, was ich werd’. Jedenfalls kein Arzt!‘“, S. 226. 40 Vgl. Elena: „Exemplary Lives“, S. 211.

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Realismus, wird die historische Figur zum Helden der russischen Revolution stilisiert, wobei die Unterschiede zwischen Buch und Film deutlich mit ideologischen Anliegen des Letzteren in Verbindung stehen: „The film traces a more definitive path than the novel from Chapaev as unenlightened, impulsive peasant leader to Chapaev as disciplined Bolshevik commander.“41 Naturgemäß ganz anders stellen sich die amerikanischen Biopics dar, in denen nationale Identifikationsfiguren für das US-Publikum inszeniert werden. Als prototypisch kann John Fords Young Mr. Lincoln (USA 1939) gelten, in dem ein Abschnitt aus dem Leben des späteren US-Präsidenten Abraham Lincoln nachgezeichnet wird. Zu Beginn erlebt man Lincoln bei einer Wahlversammlung, auf der er als einfacher, redlicher, unprätentiöser Mann aus dem Volk auftritt. Höhepunkt des Films ist – wie so oft im Biopic – eine Gerichtsszene, in der Fords Protagonist seine Fähigkeiten im Kontext des (mit Unterstützung seiner früh verstorbenen Braut Ann Rutledge) erlernten Berufs als Anwalt unter Beweis stellen kann: Er bewahrt ein zu Unrecht eines Mordes bezichtigtes Brüderpaar davor, von der erbosten Menge gelyncht zu werden, und überführt den Hauptbelastungszeugen der Tat.42 Die berühmte Sequenz am Ende des Films, wenn Lincoln den Gerichtssaal verlässt und vor dem sich verdüsternden Himmel als Bild für die bevorstehenden politischen Kämpfe des Bürgerkriegs davon reitet, wurde in einer viel zitierten Diskussion in den Cahiers du cin ma 1970 als hintergründig-subversive Entmythologisierung durch den Regisseur gelesen. Nach Taylor bleibt allerdings das „Moment der monumentalen Inszenierung“ im Vordergrund, obgleich Fords eigentümliche „Nosferatu-Einstellung“ (so die Cahiers-Kritiker) aus dem sich bereits seinem eigenen Denkmal annähernden Lincoln gleichzeitig eine latent unheimliche Figur mache.43 In den Jahren der nationalsozialistischen Herrschaft in Deutschland entstand eine ganze Reihe von Filmbiographien, in denen Führer-Figuren 41 Stephen Hutchings: „Chapaev“. In: The Cinema of Russia and the former Soviet Union. Hg. v. Birgit Beumers. London 2007, S. 69 – 77, hier S. 72. – Zu weiteren sowjetischen Helden-Biopics vgl. Anja Tippner: „Das Leben eines bemerkensˇ kalov (UdSSR 1941) werten Menschen: Michail Kalatozovs Fliegerfilm Valerij C als Beispiel des stalinistischen Biopics“. In: Ikonen Helden Außenseiter. Hg. v. Mittermayer, Blaser u. a., S. 85 – 103. 42 Vgl. die Analyse des Films bei Tag Gallagher: „Passage: John Ford’s Young Mr. Lincoln“. http://www.sensesofcinema.com/contents/06/39/young_mr_lincoln.html (Stand: 04.11.2008). 43 Taylor: Rolle des Lebens, S. 369.

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im Sinn der NS-Ideologie verherrlicht wurden. Erneut war dabei die Präsenz bestimmter Schauspieler von Bedeutung, etwa die Darstellung Friedrichs des Großen durch Otto Gebühr (in Fridericus / Der alte Fritz, D 1936, und Der große Kçnig, D 1942).44 Politiker (Bismarck, D 1940), Wissenschaftler (Robert Koch, D 1939) und Künstler (Friedemann Bach, D 1941) wurden Gegenstand dieser biographischen Filme. Darunter war auch der schon von Korda porträtierte Rembrandt van Rijn, diesmal inszeniert als nordischer Meister, dessen Widersacher als Gegner der Volksgemeinschaft stilisiert sind: In Hans Steinhoffs Film Rembrandt (D 1942) wird das Leiden des Künstlers an der Gesellschaft als „Mißachtung durch das ,Volksfremde‘, das Kranke und Jüdische“ suggeriert.45 Der scheinbare Misserfolg zu Lebzeiten, der durch die Nachwelt auf triumphale Weise kompensiert wird, lässt sich als „Versprechen des Überlebens der Nation“ angesichts der Angst vor einer militärischen Niederlage Deutschlands deuten.46 Auch der Film Wen die Gçtter lieben (Karl Hartl, D/A 1942) über W. A. Mozart enthält Bezüge auf die aktuelle Wirklichkeit im dritten Kriegsjahr. In diesem Sinn ist die Sterbeszene inszeniert, in der Mozart auf dem Totenbett das „Confutatis“ aus seinem Requiem dirigiert. Die Formulierung des Filmtitels enthält das Angebot, „Mozarts Sterben als Heldentod“ wahrzunehmen – das Zitat aus einem Vers des Menander, das bei Plutarch einem Vater als Trost für den Verlust eines Sohnes dient, wäre dann „mit dem zeitgenössisch aktuellen Trost angesichts gefallener Soldaten“ gleichzusetzen.47 Ein interessantes Beispiel für die Komplexität der politischen Botschaft, die auf diese Weise vermittelt wurde, ist der Film Friedrich Schiller – Triumph eines Genies (Herbert Maisch, D 1940). Was darin im Kontext der leidvollen Jahre Schillers in der Internatsschule des Herzogs Karl-Eugen von Württemberg zunächst wie ein Protest gegen Willkürherrschaft und 44 Die Tradition der Filme über Friedrich den Großen hatte bereits zur Zeit der Weimarer Republik begonnen; vgl. Helmut Regel: „Die Fridericus-Filme der Weimarer Republik“. In: Preußen im Film. Hg. v. Axel Marquardt u. Heinz Rathsack. Reinbek bei Hamburg 1981 (= Preußen. Versuch einer Bilanz, Bd. 5), S. 124 – 134. 45 Barbara Schrödl: „Rembrandt im NS-Film. Das ,leidende Genie‘ als Versprechen nationalen Überlebens“. In: Genie und Leidenschaft. K nstlerleben im Film. Hg. v. Jürgen Felix. St. Augustin 2000, S. 35 – 54, hier S. 39. 46 Ebd., S. 48. 47 Cornelia Szabó-Knotik: „Der Mann Mozart. Konstruktionen des Schöpfermythos im Film“. In: Mozart im Kino. Betrachtungen zur kinematografischen Karriere des Johannes Chrysostomus Wolfgangus Theophilus Mozart. Hg. v. Günter Krenn. Wien 2005 (= Edition Film + Text, Bd. 8), S. 30 – 58, hier S. 38.

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autoritäre Erziehungssysteme erscheint, ist seiner Struktur nach durchaus mit der NS-Ideologie kompatibel. In einem Streitgespräch Schillers mit dem Herzog tritt der selbstbewusste Zögling gegen die Meinung seines Herrn, große Geister seien Produkte der Erziehung, dafür ein, dass sie dazu geboren würden – und zwar vom Volk, um dann als „außergewöhnliche Menschen“ ihren Willen durchzusetzen. Der Film verschmilzt Fakten aus Schillers Lebensgeschichte mit Elementen aus seinem fiktionalen Werk (etwa aus Kabale und Liebe) und konstruiert aus diesem Material einen Kampf zwischen den zentralistischen, rationalistischen Mächten des Aufgeklärten Absolutismus und der Rebellion des „Herzens“, das sich der mechanistischen Autoritätskonzeption der überkommenen Herrschaft unter Bezugnahme auf das Volk und die eigene, intuitiv erspürte Berufung widersetzt – durchaus im Rahmen der Genievorstellungen des Nationalsozialismus: „Within the framework of modernity (here: school or prison), a nonauthoritarian leader emerges who promises to lead his followers out of misery (read: alienation).“48 Der sowjetische Regisseur Sergej Eisenstein hatte kurz vor dem Zweiten Weltkrieg mit Aleksandr Newskij (UdSSR 1938) ein Filmepos über eine historische Persönlichkeit vorgelegt, das als Spiegelung einer aktuellen Problematik aufgefasst werden wollte: Angesichts der Bedrohung durch Deutschland sollte die Episode aus dem 13. Jahrhundert, als ein Vorstoß durch Deutschordensritter in einer Schlacht auf dem vereisten Peipus-See unter der Führung des Titelhelden zurückgeschlagen wurde, zu Patriotismus und nationalem Widerstand motivieren. Nun machte sich der Regisseur an eine Trilogie über Zar Iwan den Schrecklichen, den Begründer des Großrussischen Reiches im 16. Jahrhundert, mit dem sich Stalin identifizierte. Doch nur die ersten beiden Teile von Ivan Groznyj (UdSSR 1944/46) wurden verwirklicht. Nachdem Eisenstein in Teil 1 den Aufstieg Iwans zur Macht und den Kampf um die nationale Einheit gezeigt hatte (er wurde dafür mit dem Stalin-Preis ausgezeichnet), widmete er sich in Teil 2 dem Kampf Iwans, der dabei vor blutigem Terror nicht zurückschreckt, gegen seine politischen Widersacher. Die Analogien zur aktuellen Politik waren allerdings zu deutlich; der Film wurde vom Zentralkomitee der Partei verdammt, Eisenstein musste Selbstkritik üben, vor einem möglichen dritten Teil erkrankte er und starb 1948. Der Film bezieht seine filmhistorische Bedeutung vor allem aus dem Einsatz ex48 Linda Schulte-Sasse: „National Socialism’s Aestheticization of Genius. The Case of Herbert Maisch’s Friedrich Schiller – Triumph eines Genies“. In: The Germanic Review 66 (1991) H. 1, S. 4 – 15, hier S. 11.

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pressionistischer Schauspielkunst, für die sich der Regisseur an kunsthistorischen Vorbildern orientierte,49 und der streng stilisierten Inszenierung, die durch die kongeniale Musik Sergej Prokofieffs unterstützt wird.

Nach dem Zweiten Weltkrieg Ein Überblick über die Zeit nach dem Zweiten Weltkrieg muss sich angesichts der immer mehr anwachsenden Menge an Filmen auf einzelne thematische Sektoren konzentrieren. Dies soll im Folgenden auch geschehen, wobei zum einen herausragende Filme charakterisiert, zum anderen repräsentative Tendenzen und Darstellungstechniken beschrieben werden. Auf manche weiteren Themenkomplexe, denen ebenfalls jeweils eine Reihe erfolgreicher Biopics zuzuordnen sind, kann darüber hinaus nur kurz verwiesen werden. Dazu gehört etwa die Untergattung der Sportler-Biopics, für die exemplarisch drei Filme über Boxer genannt seien: Somebody Up There Likes Me (Robert Wise, USA 1956, über Rocky Graciano), Martin Scorseses Raging Bull (USA 1980, über Jake LaMotta), den man vielfach als einen der künstlerisch gelungensten Filme der 1980er Jahre bezeichnet hat, und die Großproduktion Ali (Michael Mann, USA 2001, über Cassius Clay bzw. Muhammad Ali). Eine weitere Serie biographischer Filme beschäftigt sich mit den Lebensläufen bekannter Verbrecher, wobei die beiden unterschiedlichen Annäherungen an Ruth Ellis, die letzte Frau, die in Großbritannien (wegen des Mordes an ihrem Liebhaber) hingerichtet wurde, besonderes Interesse verdienen: Yield to the Night ( J. Lee Thompson, GB 1956; hier trägt die Protagonistin allerdings den Namen Mary Hilton) und Dance With a Stranger (Mike Newell, GB 1985).50 Außerdem ist z. B. auf den Film Stavisky (F/IT 1974) von Alain Resnais hinzuweisen, der sich mit der Karriere eines französischen Hochstaplers und Finanzbetrügers zur Zeit der Dritten Französischen Republik beschäftigt. Damit ist die Sphäre der Politik angesprochen, aus der das Genre des Biopics von Beginn an einen großen Teil seiner Stoffe bezog. Auch nach 1945 entstanden auf diesem Gebiet eine ganze Reihe bemerkenswerter Filme; erwähnt seien beispielsweise Warren Beattys Reds (USA 1981) über das Journalisten-Ehepaar Louise Bryant und John Reed, den Autor des 49 Vgl. Yuri Tsivian: Ivan the Terrible. London 2002 (= BFI Classics), S. 67. 50 Vgl. Sue Tweg: „Not the full story. Representing Ruth Ellis“. In: Biography 23 (2000) H. 1, S. 1 – 29.

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Buchs Ten Days That Shook the World (über die russische Revolution) 51, sowie Oliver Stones Nixon (USA 1995), dessen hochkomplexe Erzählstruktur mit Henry Taylor als „Ausdruck der enormen Beschleunigung im digitalen Informationszeitalter“ verstanden werden kann, aber auch als Reflexion des scheiternden Versuchs, das politische „System“ noch irgendwie „zu durchschauen oder gar zu kontrollieren“.52 a) Revisionen: Am Beispiel des Musiker-Biopics In den Jahrzehnten nach 1945 haben sich einerseits die während der ersten Phase des biographischen Filmgenres entwickelten inhaltlichen und formalen Muster – vor allem im Bereich der kommerziell ausgerichteten Produktion – in erstaunlichem Maße erhalten. Andererseits wurden aber zahlreiche Versuche unternommen, allzu klischeehaften Konstruktionen von Lebensläufen, die angesichts der Erkenntnisse durch die biographische Forschung nicht mehr aufrecht zu erhalten waren, mit Hilfe differenzierterer Gegenbilder entgegenzutreten. Beispiele dafür bietet eines der fruchtbarsten Sub-Genres des Biopics, die Musiker-Biographie. Ein Prototyp für die stark konventionalisierte Wiedergabe von Lebensgeschichten aus dem Bereich der Musik ist der Film A Song To Remember (Charles Vidor, USA 1945). John Tibbetts nennt ihn das wichtigste Musiker-Biopic aus der großen Zeit des Studio-Systems in Hollywood – zumindest was die Ausbildung prägender Darstellungsschemata anbelangt.53 Er handelt von Frederic Chopin, präsentiert uns den Komponisten jedoch nicht nur als Musiker, sondern auch als eine Person, die sich im Verlauf der Filmhandlung zu einem politisch bewussten und aktiven Menschen im Dienste des Kampfes für individuelle Freiheit entwickelt; es ist ein instruktives Beispiel für die Anpassung einer künstlerischen Lebensgeschichte an eine zu vermittelnde politisch-ideologische Botschaft. Im Film erhält Chopin (Cornell Wilde) den von dem Biopic-Spezialisten 51 Robert Rosenstone rühmt an diesem Film, dass seine Mischung des dramatischen mit dem dokumentarischen Genre (indem zahlreiche Aussagen von Zeitzeugen zwischen die einzelnen Handlungssequenzen montiert sind) bewusst macht, „that there can be no single historical or biographical truth. That Biography, like history, is always a story created by competing voices.“ Ders.: „Telling Lives“, S. 107. 52 Taylor: Rolle des Lebens, S. 154. Dort auch eine ausführliche Analyse der narrativen Struktur, vgl. S. 145 – 149. 53 Vgl. John C. Tibbetts: Composers in the movies. Studies in musical biography. New Haven 2005, S. 81.

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Paul Muni verkörperten Lehrer Joseph Elsner an die Seite, der ständig als Mahner gegen die Entpolitisierung seines ehemaligen Schülers auftritt: „My dear boy, music and freedom are like one. They both belong to the world. A real artist wants freedom in every country.“54 Während seines Musikstudiums in Warschau hat Chopin noch als polnischer Patriot mit Revolutionären konspiriert. Doch nach seiner Emigration gerät er unter den Einfluss der Autorin George Sand, die mit ihm eine Liebesbeziehung beginnt und ihn, als eine Art Karrieremanagerin, zum unpolitischen Künstler machen will: „Shut the world out“, lautet ihr Motto, sein Aufenthaltsort sei „a place apart, away from the petty struggles of men.“55 Erst nach Elsners energischem Eintreten für die scheinbar aufgegebenen Ideale entschließt sich Chopin zu einer – fiktiven – Konzerttournee, deren Einkünfte für die Freilassung polnischer Gefangener bestimmt sein sollen; er erschöpft dabei seine bereits durch die Tuberkulose angegriffenen Kräfte und stirbt zuletzt verklärt. Bemerkenswert ist, wie der Klavierkünstler Chopin – in genauer Umkehrung der historischen Realität – im Sinn der politischen Indienstnahme maskulinisiert, George Sand hingegen deutlich feminisiert wird, als Hollywood-Stereotyp der selbstsüchtigen, possessiven Frau, aus deren verhängnisvollem Einfluss sich der Mann zu befreien hat, will er zu seiner wahren Bestimmung finden.56 Ein Fallbeispiel für die unterschiedlichsten Bilder ein und desselben Komponistenlebens im Spielfilm bildet der bereits angesprochene Wolfgang Amadeus Mozart.57 Einer der im deutschsprachigen Bereich am stärksten rezipierten Filme über ihn kam 1955 ins Kino, in einem Jahr, das in Österreich eine politische Zäsur markiert – das Land erlangte mit der Unterzeichnung des Staatsvertrags seine politische Unabhängigkeit. Im Bereich der Kulturpolitik, wo mit der Bezugnahme auf das reiche künstlerische ,Erbe‘ des Landes eine neue österreichische Identität etabliert werden sollte, vollzogen sich im selben Jahr ebenfalls symbolhafte Ereignisse: Nach den Zerstörungen des Krieges wurden die Wiener Staatsoper und das Wiener Burgtheater wiedereröffnet, zwei Institutionen mit nationaler Strahlkraft. Mit dem ersten Teil der Trilogie Sissi (Ernst Marischka, 54 55 56 57

Zit. nach ebd., S. 87. Zit. nach ebd., S. 87 f. Vgl. ebd., S. 92 f. Für einen Überblick über die biographischen Darstellungen Mozarts im Film vgl. Peter Dusek: „,Kichernde Kreatur‘ oder nordischer Lebemann? Das Mozart-Bild im Wandel von sieben Jahrzehnten Film- und Fernsehgeschichte“. In: Wolfgang Amadeus Summa summarum. Das Ph nomen Mozart: Leben, Werk, Wirkung. Hg. v. Peter Csobádi. Wien 1990, S. 289 – 298.

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A 1955, mit Romy Schneider und Karlheinz Böhm) wurde damals jene Filmserie begonnen, deren Identifikation mit der internationalen Wahrnehmung Österreichs über Jahre hinaus bestehen bleiben sollte.58 Auch Mozart wurde im Medium eines biographischen Films als repräsentative Figur für die Selbstinszenierung des Landes neu dargestellt.59 In Karl Hartls Mozart (auch: Reich mir die Hand, mein Leben, A 1955) verleiht ihm der Schauspieler Oskar Werner das „dem romantischen Klischee entsprechende Flair eines emotionalen, melancholischen Künstlers“60, der Film enthält in besonderer Häufung Aspekte des spezifisch Österreichischen bzw. Wienerischen, auch aus dem volkstümlichen Bereich. Die Handlung spielt im letzten Lebensjahr des Komponisten, ihr zentrales Element ist Mozarts angebliche Liebesbeziehung zu Annie Gottlieb, der Darstellerin der Pamina in seiner Oper Die Zauberflçte. In diesem Sinn werden alle musikalischen Zitate aus der Komposition eingesetzt: Mozarts Musik wird aus der lebensgeschichtlichen Erfahrung abgeleitet und dient gleichzeitig zur Illustration der einzelnen Geschehnisse innerhalb der Diegese. Auch die Musik des Requiems spielt eine wesentliche Rolle; neben der Produktion der Zauberflçte bildet die Entstehungsgeschichte der Totenmesse einen weiteren Handlungsstrang des Films. Angesichts der Entstehungszeit ist die von Emanuel Schikaneder abschließend artikulierte Aufforderung bemerkenswert, im Sinne des verstorbenen Genies weiterzuspielen, als optimistische Hinwendung zur Zukunft: „In seiner Musik ist er bei uns geblieben, und er will, dass wir singen und spielen, wie er es uns gelehrt hat.“ Die spektakuläre Neu-Definition des Mozart-Bilds, die der aus der Tschechoslowakei stammende Regisseur Milos Forman61 mit seinem Amadeus (USA 1984) unternahm, ist bis heute eines der erfolgreichsten

58 Später folgten noch Sissi, die junge Kaiserin (A/BRD 1956) und Sissi – Schicksalsjahre einer Kaiserin (A 1957). 59 Vgl. Cornelia Szabó-Knotik: „Zwischen Heldensaga und Homestory. Österreichische Komponistenfilme als Dokumente der Identitätsstiftung“. In: Ikonen Helden Außenseiter. Hg. v. Mittermayer, Blaser u. a., S. 71 – 84, hier S. 83. 60 Szábo-Knotik: „Der Mann Mozart“, S. 45. 61 Forman ist einer der großen ,Biopic-Spezialisten‘ des internationalen Kinos: Von ihm stammen auch The People vs. Larry Flynt (CA/USA 1996) über den Gründer des Männermagazins Hustler, Man on the Moon (GB/D/JP/USA 1999) über den US-amerikanischen Comedian Andy Kaufman sowie Goya’s Ghosts (USA/ES 2006) über den spanischen Maler.

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Biopics geblieben.62 Der auf dem gleichnamigen Stück des britischen Autors Peter Shaffer (1979) basierende Film erzählt das Leben des Komponisten aus der Perspektive Antonio Salieris, der als alter und kranker Mann nach einem gescheiterten Selbstmordversuch im Rahmen einer Beichte seine Erinnerungen vorträgt. Salieri hat als junger Knabe ein Gelübde abgelegt, seine ganze Arbeitskraft und auch seine Keuschheit Gott zum Opfer zu bringen, wenn ihn dieser im Gegenzug zu einem unsterblichen Komponisten mache. Als der inzwischen zum Hofkomponisten Josephs II. Avancierte aber dem jungen Mozart begegnet, muss er feststellen, dass ihm dieser als kreativer Künstler unendlich überlegen ist, obwohl er sich als vulgärer, alle gesellschaftlichen Konventionen missachtender Kindskopf und Säufer erweist. Salieri bricht mit Gott, von dem er sich betrogen fühlt, und schwört, dessen Kreatur Mozart zu vernichten. Im Zusammenhang mit der Uraufführung der Oper Don Giovanni entdeckt er die gespaltene Beziehung seines Rivalen zum Vater und treibt ihn, indem er symbolisch an die Stelle des verstorbenen Leopold Mozart tritt und bei dessen Sohn eine Totenmesse in Auftrag gibt, in den Tod – wie in Hartls Mozart bildet die Entstehung des Requiems ein entscheidendes Handlungselement. Wenn sich der alte Salieri abschließend zum Schutzheiligen aller Mittelmäßigen erklärt und diesen die Absolution erteilt, wird ein letztes Mal die Differenz zwischen menschlicher ,Normalität‘ und außerordentlicher Begabung als Hauptthema des Films angesprochen – gleichzeitig ein zentrales Darstellungsproblem zahlreicher Biopics. Der Film beruht somit auf einer psychoanalytischen Interpretation des Don Giovanni durch Salieri: „Musik als Spiegel der Seele.“63 Was als Sublimation von Mozarts Schuldkomplex gedeutet wird, dient gleichzeitig als Vehikel für das Racheprojekt des Gedemütigten. Der subjektive Blickwinkel, aus dem die Lebensgeschichte Mozarts erzählt wird, macht paradoxerweise aus dem Komponisten, dessen allzu menschliche Seiten in der Darstellung durch Tom Hulce (und zum Entsetzen Salieris) besonders deutlich herausgestellt werden, erst recht einen Künstler, der dem traditionellen Genieparadigma entspricht – es ist ein „Porträt aus der Sicht des Feindes“, das den übernatürlich Begabten umso mehr „überhöht“.64 In die 62 Der Streifen errang insgesamt acht Oscars, u. a. in den Kategorien ,Bester Film‘, ,Regie‘ und ,Männlicher Hauptdarsteller‘ (F. Murray Abraham als Antonio Salieri). 63 Alexander Bartl: „Vom Dienstmann zum Popstar. Zur Darstellung Mozarts bei Karl Hartl und Milos Forman“. In: Genie und Leidenschaft. Hg. v. Felix, S. 129 – 144, hier S. 139. 64 Ebd., S. 141.

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Entstehungszeit des Films weist andererseits die Inszenierung des Musikers nach dem Muster eines Stars aus dem Bereich der Konsumindustrie des 20. Jahrhunderts: Forman inszeniert in der Gestalt seines Amadeus „ein Popidol, einen lebenden Anachronismus“.65 Die Interpretation des klassischen Komponisten als Popstar war schon fast ein Jahrzehnt vor der Entstehung von Amadeus in wesentlich radikalerer Form von dem britischen Regisseur Ken Russell vorgenommen worden. Russell hatte zunächst Pjotr Iljitsch Tschaikowski zur Hauptfigur seines Films The Music Lovers (GB 1970) gemacht und durch die „spielerische Invention von Bildern und allegorischen Szenen“66, die er zu den in die Handlung integrierten Kompositionen hinzuerfand, eine neuartige Form der Visualisierung von Musik entwickelt. Radikalisiert hatte er diese Technik in dem Film Mahler (GB 1974); dort wird die Hauptebene des Geschehens, die Zugfahrt Mahlers zurück nach Wien, die der Schwerkranke nach seiner Rückkehr von den USA 1911 unternahm, von einer ganzen Serie an Rückblenden und musikalischen Phantasien durchbrochen. Sie beziehen sich auf Mahlers Kindheit, aber auch auf die Zeit seiner Ehe, seinen Übertritt zum Katholizismus und den Tod seiner Tochter. Dabei gestaltet Russell teilweise wüst-groteske Szenarien auf der Basis Mahler’scher Kompositionen, etwa einen skurrilen Auftritt zusammen mit Cosima Wagner in Nazi-Uniform, bei dem sich Mahler durch seine Konversion vom Rabbi zum jüdischen Siegfried verwandelt.67 Stilistisch am weitesten ging Russell in seinem Film Lisztomania (GB 1975), den John Tibbetts als das neben A Song to Remember vermutlich 65 Ebd., S. 142. – Ein weiteres interessantes Beispiel für die Revision früherer, über den Film transportierter biographischer Klischees ist Franz Schubert. In seinem Fall war es zunächst der Film Blossom Time (GB 1934) mit dem Tenor Richard Tauber in der Rolle des Komponisten; dort war Schubert – auf der Grundlage des Romans Schwammerl (1912) von Rudolf Bartsch sowie des darauf basierenden Singspiels Das Dreim derlhaus (1916) von Heinrich Berté – der Protagonist einer sentimentaltragischen Liebesgeschichte. Nach einer Filmversion von Das Dreim derlhaus (A 1958) durch das aus den Sissi-Filmen bekannte Duo Ernst Marischka (Regie) und Karlheinz Böhm (Hauptdarsteller) legte der Regisseur Fritz Lehner fast dreißig Jahre später mit dem dreiteiligen Film Mit meinen heißen Tr nen (A 1986) eine radikale Umdeutung des Schubert-Bilds vor; vgl. dazu Horst Fritz: „Der Tod und der Künstler. Fritz Lehners Schubert-Trilogie“. In: Genie und Leidenschaft. Hg. v. Felix, S. 115 – 128. 66 Thomas Koebner: „Exzentrische Genies. Ken Russells Umgang mit Gipsbüsten“. In: Genie und Leidenschaft. Hg. v. Felix, S. 102 – 114, hier S. 106. 67 Vgl. dazu die ausführliche Darstellung bei Tibbetts: Composers in the movies, S. 182 – 194.

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bekannteste aller Komponisten-Biopics bezeichnet, vor allem aber als „the most notorious (and condemned) of all“.68 Die Hauptstationen der Handlung bilden Liszts Beziehungen zur Gräfin Marie d’Agoult und zur Prinzessin Caroline von Wittgenstein, sein Rückzug von der politischen Revolution in Dresden 1848 und sein Entschluss, Abbé zu werden. Besonders spektakulär wird seine fortlaufende Auseinandersetzung mit Wagner gestaltet, dessen korrumpierenden Einfluss auf die moderne Musik und Politik er aufs Heftigste bekämpft: Wagner erscheint u. a. als Vampir, der Liszt am Flügel aussaugt, und er wird mit der Kreation eines künstlichen Menschen als Modell einer künftigen Herrenrasse in Verbindung gebracht. Zuletzt fährt der von Cosima Wagner zuvor getötete Liszt in einer Art Raumschiff zur Erde hinab, um Wagner endgültig zu vernichten. Mit krass anachronistischen Mitteln wird der Klaviervirtuose Franz Liszt als Popstar des 19. Jahrhunderts inszeniert, sexuelle Inhalte werden unverblümt thematisiert, und die einst hoch verehrten Präsentationsformen aristokratisch-bürgerlicher Kunst werden respektlos ironisiert und parodiert. Im Mittelpunkt stehen die bevorzugten Angriffsziele Russells: „the false excesses of Romanticism and the failure of art and artists to defeat and transcend the seductive corruptions of mass culture and society“.69 Abschließend soll jener Film besprochen werden, der sich am meisten von den gängigen Darstellungen von Musikern im Biopic entfernt hat; er ist allerdings schon lange vor den eben diskutierten ,Revisionen‘ entstanden. Chronik der Anna Magdalena Bach (BRD/IT 1968) von Jean-Marie Straub und Danièle Huillet durchbrach einen Großteil jener Konventionen, die man zu diesem Zeitpunkt mit biographischen Filmen assoziierte. Ausgangspunkt war nach Straub die Idee, „einen Film zu versuchen, in dem man Musik nicht als Begleitung, auch nicht als Kommentar, sondern als ästhetische Materie benutzt“.70 Er richtete sich gegen jene Art Musikfilm, wie er etwa durch die NS-Produktion Friedemann Bach (D 1941) repräsentiert wurde, in der am Beispiel einer Vater-Sohn-Geschichte die traditionelle „Schaustellung des Geniekults“ erfolgte. Bei Straub/Huillet wird hingegen kein dramatischer Plot nach den bekannten 68 Ebd., S. 194 f. – Eineinhalb Jahrzehnte zuvor war Liszt bereits zum Protagonisten eines US-amerikanischen Biopics im Stil von A Song to Remember geworden: Dirk Bogarde spielt den Komponisten in Charles Vidors Song Without End (USA 1960). 69 Ebd., S. 198. 70 Zit. nach Karsten Witte: „Jean-Marie Straub / Danièle Huillet.“ In: Herzog / Kluge / Straub. Mit Beiträgen v. Ulrich Gregor, Rudolf Hohlweg u. a. München, Wien 1976 (= Reihe Film, Bd. 9), S. 179 – 218, hier S. 185.

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Mustern gezeigt, sondern Musik als „Arbeit“, als „Bachs Kunstmittel und Kunstübung“.71 In langen, ruhigen Einstellungen sind Aufführungen Bach’scher Kompositionen zu sehen, die nicht durch virtuose Kamerapositionen und Schnitte aufgelockert werden, sondern sich auf den Vorgang der Musikproduktion konzentrieren. Die Darsteller der Hauptfiguren sind keine Berufsschauspieler, sondern professionelle Musiker; Ähnlichkeit mit den historischen Vorbildern wird nicht angestrebt. Bach selbst wird von dem Amsterdamer Cembalisten Gustav Leonhardt dargestellt, der damals 35 Jahre alt war und am Amsterdamer Konservatorium als Professor für alte Musik wirkte.72 Er spricht, seiner realen Persönlichkeit entsprechend, mit holländischem Akzent und bemüht sich, wie auch alle anderen Darsteller, nicht um Einfühlung in die zu verkörpernden Charaktere. Das Leben Bachs bzw. seiner Familie wird aus der Perspektive seiner zweiten Frau Anna Magdalena wiedergegeben, auf der Basis einer fiktiven Chronik. Neben den ausgedehnten, ungekürzten Musikdarbietungen wird das Alltagsleben innerhalb der Familie geschildert, kurze Spielsequenzen und berichtende Passagen wechseln einander ab; Briefzitate, Texte aus Kantaten und historische Dokumente ergänzen die heterogene Darstellung, die sich jeglicher Romantisierung nach den traditionellen Mustern von Musiker-Biopics widersetzt. b) Gesellschaftliche Konflikte, Außenseiter, politische Kämpfe Im Verlauf der 1960er Jahre erschloss sich das Genre des biographischen Films eine neue Gruppe von Protagonist/inn/en: Nicht mehr nur ,große Persönlichkeiten‘ wurden dargestellt, sondern zunehmend auch gesellschaftliche Außenseiter, die auf andere und wesentlich prinzipiellere Weise mit dem sozialen Mainstream in Konflikt gerieten. Einer der größten internationalen Erfolge aus diesem Bereich war der amerikanische Film Bonnie and Clyde (Arthur Penn, USA 1967), der auch filmhistorisch einen Wendepunkt markiert – er hatte für das ,New American Cinema‘ eine ähnliche Bedeutung wie die etwa gleichzeitig entstandenen The Graduate (USA 1967) und Easy Rider (USA 1969). Den politischen Hintergrund dieser Filme bildete die Eskalation des Vietnamkriegs. In ästhetischer Hinsicht machte sich auch in den USA zunehmend der Einfluss des eu71 Ebd. 72 Auch der Begründer des Concentus Musicus Wien und spätere Dirigent Nikolaus Harnoncourt wirkt als Darsteller mit.

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ropäischen Kunstkinos bemerkbar.73 Die Anfang der 1930er Jahre in Texas spielende Geschichte des Gangsterpaars Bonnie Parker und Clyde Barrow handelt, signifikant für die Leitvorstellungen dieser Jahre, von Menschen, die radikal mit der bürgerlichen Gesellschaft brechen. In den Protagonisten konnte man in verdichteter Form die „Charakteristika der postadoleszenten Gegenkultur“ wiederfinden: „instinktives, spontanes Handeln, Energie, Emotionalität, Experimentierfreudigkeit, aber auch Orientierungs- und Ziellosigkeit“.74 Penns Gangsterballade macht aber auch die Entstehung der Legende von Bonnie und Clyde zum Thema, etwa wenn gezeigt wird, wie die beiden Fotos und selbst verfasste Gedichte an Zeitungen schicken. Auffällig ist der Kontrast zwischen der blutig-gewalttätigen Handlung und der romantisierenden Heiterkeit, mit der die Beziehung und die kriminelle Karriere der beiden Hauptfiguren dargestellt sind. Der große Kassenerfolg des Streifens und die Vorbildwirkung für zahlreiche andere Filme des Neuen Hollywood hatte vor allem damit zu tun, dass sich hier einer neuen Zuschauer-Generation während einer Zeit der Jugendproteste und der Bürgerrechtsbewegungen die Möglichkeit zur Identifikation mit gesellschaftlichen Außenseitern im Konflikt mit einer als restriktiv erlebten Gesellschaft bot. „They’re young … they’re in love … and they kill people“, lautete die provokante Textzeile, mit deren Hilfe der Film auf Plakaten beworben wurde. Über die Inszenierung der Hauptdarstellerin Faye Dunaway löste Bonnie und Clyde geradezu einen Modetrend aus, in dem sich die neue Rolle des weiblichen Bevölkerungsteils spiegelte: die professionelle, berufstätige Frau, die dennoch ihre Weiblichkeit offensiv zeigt.75 Nicht nur New Hollywood, auch der ,Neue Deutsche Film‘ machte den Konflikt zwischen Individuen, die sich dem gesellschaftlichen Mainstream widersetzten, und den herrschenden Strukturen zu einem ihrer Hauptthemen. Das Genre des Biopic gehört nicht zu den wichtigsten Äußerungsformen dieser Filmemacher. Dennoch finden sich immer wieder Beispiele, und sei es zu einer Zeit, da die einst rebellischen Filmkünstler längst etabliert waren – wie etwa Rosa Luxemburg (CZ/BRD 1986) von Margarethe von Trotta, mit Barbara Sukowa in der Titelrolle. 73 Vgl. Lester D. Friedman: Bonnie and Clyde. London 2000 (= BFI Film Classics), S. 7. 74 Lars Dammann: Kino im Aufbruch. New Hollywood 1967 – 1976. Marburg 2007 (= Aufblende, Bd. 11), S. 63. 75 Vgl. Friedman: Bonnie and Clyde, S. 40 f.

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Rainer Werner Fassbinder wählte das Leben der Schauspielerin Sibylle Schmitz als Vorlage für seinen Film Die Sehnsucht der Veronika Voss (BRD 1982).76 Eine wichtige Protagonistin des biographischen Films in Deutschland wurde die Widerstandskämpferin Sophie Scholl; hervorzuheben sind Die weiße Rose (BRD 1982) von Michael Verhoeven, der eine wichtige Rolle bei der Rehabilitierung der zum Tode verurteilten Mitglieder der Gruppe spielte, sowie Sophie Scholl – Die letzten Tage (D 2005), dessen Regisseur Marc Rothemund sich auf die inzwischen zugänglich gewordenen Verhörsprotokolle der damaligen Prozesse stützen konnte.77 Die vielleicht radikalste Variante eines gesellschaftlichen Außenseiters stammt von einem zentralen Regisseur des ,Neuen Deutschen Films‘, von Werner Herzog. In Jeder f r sich und Gott gegen alle (BRD 1974) erzählt er die Geschichte von Kaspar Hauser, der 1828 als Findelkind in einem Nürnberger Keller entdeckt wurde. Bei Herzog erscheint er als im positiven Sinn unzivilisierter Mensch, der noch nicht von der Gesellschaft zugerichtet und beschnitten worden ist. Im Hintergrund dieser Darstellung steht der romantisch grundierte Gegensatz zwischen ursprünglicher Natur und deformierender Zivilisation: „Die Zivilisation wird als letztlich obskure Zwangseinrichtung, die menschliche Sozialisation als eine Art von Vergewaltigung verstanden.“78 Kaspar Hauser hat noch Zugänge zu vor-rationalen Wahrnehmungen, die in der sozial normierten Welt verschüttet sind. Visionen von der Sahara und von einer Karawane mit einem blinden Karawanenführer, der dennoch den Weg weiß, repräsentieren diese außergesellschaftlichen Existenzbereiche. Die Logik der Zivilisation wird von Hauser durch verblüffende Schlussfolgerungen aus den Angeln gehoben, besonders wenn sie rein mechanistischen Schematismen folgt. Zu seinen Lebzeiten wird er als Kuriosum im Zirkus ausgestellt; nach seiner Ermordung untersucht man das Gehirn, um seine Abnormität aus einer organischen Deformation ableiten zu können, und ordnet das Lebewesen, 76 Eine analoge Vorgangsweise (die Verwendung einer realen Lebensgeschichte als Basis für eine Filmbiographie mit einer anders benannten Protagonistin) findet sich bei Oskar Roehlers Film Die Unber hrbare (D 2000); dort verbirgt sich hinter der Protagonistin Hanna Flanders die Autorin Gisela Elsner, gleichzeitig die Mutter des Regisseurs. 77 Vgl. dazu Daniela Berghahn: „Sophie Scholl Biopics. Wandel im öffentlichen Gedächtnis einer weiblichen Ikone des Widerstands“. In: Ikonen Helden Außenseiter. Hg. v. Mittermayer, Blaser u. a., S. 105 – 121. 78 Knut Hickethier: „Jeder f r sich und Gott gegen alle“. In: Filmklassiker, Bd. 3. 1865 – 1981. Hg. v. Thomas Koebner u. Mitarb. v. Kerstin-Luise Neumann. Stuttgart 1995, S. 348 – 351, hier S. 351.

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das nicht in die bürgerliche Welt passen wollte, wenigstens posthum in die geltenden Kausalitätssysteme ein: „Wir haben endlich eine Erklärung für diesen befremdlichen Menschen, wie man sie besser nicht finden kann!“79 Ab den 1960er Jahren spielten sich viele der gesellschaftlichen Konflikte, die im biographischen Film am Beispiel individueller Lebensläufe abgehandelt wurden, im Bereich der Politik ab. Dabei wurde zunehmend deutlich, dass sich das erzählerische Anliegen eines ,seriösen‘ Biopics nicht mehr mit den Mitteln der ,klassischen‘ Plotstruktur der Dieterle-Filme vermitteln ließ. Bereits zu Beginn des Jahrzehnts belegt dies eindrucksvoll Francesco Rosis Salvatore Giuliano (I 1961), der sich der Lebensgeschichte des gleichnamigen sizilianischen Banditen anzunähern sucht. Giuliano wurde am 5. Juli 1950 in einer kleinen Ortschaft tot aufgefunden. Er hatte sich nach einem Mord an einem Polizisten in die Berge geflüchtet und dann von Raub, Kidnapping und Erpressung gelebt. Vor Gericht gab sein engster Vertrauter Gaspara Pisciotta an, ihn umgebracht zu haben; er selbst wurde jedoch in seiner Zelle vergiftet, Hinweise auf Kontakte Giulianos zu Vertretern der Politik vertuschte man. Die Figur Giulianos ist im Film kaum zu sehen; es geht Rosi eher um das Geflecht von politischen Machenschaften, das den Protagonisten umgibt. Der Film beginnt am Todestag des Banditen, dann wird in einer Reihe von Rückblenden erzählt, wie es zu diesem Lebensende gekommen ist – soweit sich das überhaupt rekonstruieren lässt.80 Vieles bleibt bewusst im Dunkeln. Einen beträchtlichen Teil der Handlung nimmt der Prozess gegen mehrere Mitglieder der Bande Giulianos ein; damit wird der Vorgang der Suche nach der Wahrheit über das Leben und die Taten des biographischen Objekts zum Thema. Widersprüchliche Aussagen vor Gericht werden ebenso miteinander konfrontiert und bleiben vielfach nebeneinander stehen; ein Erzählerkommentar liefert ein Angebot an historischen Fakten, auch die Selbst-Stilisierung Giulianos, die er mit Hilfe der Presse vornimmt, wird deutlich. Die filmische Umsetzung dieses komplexen inhaltlichen Zusammenhangs erfolgt durch eine Mischung aus Spielhandlung und dokumentarischen Formen: Sowohl die Kameraführung als auch der Schnitt wechseln beständig zwischen den Darstellungsmodi, „ranging from quasi-

79 Zit. nach Kraft Wetzel: „Werner Herzog. Kommentierte Filmografie“. In: Herzog / Kluge / Straub, S. 85 – 112, hier S. 111. 80 Zur Erzählstruktur des Films vgl. Taylor: Rolle des Lebens, S. 222 – 226.

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newsreel, to investigate reportage, to moments of full-blown action-movie fiction“.81 Auf andere Weise als Francesco Rosi erweitert der Kino der sogenannten ,Dritten Welt‘ die Darstellungsmittel des traditionellen Biopics, wenn die Lebensgeschichte eines Individuums im Konflikt mit dem herrschenden politisch-ökonomischen System vermittelt werden soll. Der Film Ant nio das Mortes (F/BR/BRD 1969, aka O Drag¼o da Maldade contra o Santo Guerreiro) von Glauber Rocha spielt im brasilianischen Sertão, einer kargen Region im Nordosten des Landes. Die Hauptfigur basiert auf einer historischen Person, einem Kopfjäger, der 1939 einen berühmten cangaceiro (Banditen) des Sertão tötete. In Ant nio das Mortes wird er zunächst als Killer verpflichtet, um im Auftrag eines reichen Großgrundbesitzers den letzten der cangaceiros zu beseitigen. Tatsächlich erledigt Antônio sein Opfer Coirana in einem ritualartig choreographierten Zweikampf. Dabei wird deutlich auf den Mythos vom Heiligen Georg angespielt – der ursprüngliche Titel des Films lautet auf Deutsch: Der Drache des bels gegen den Heiligen Krieger. Coirana, der den christlichen Drachenkämpfer verkörpert, transferiert dessen Rolle auf seinen Überwinder; tatsächlich wechselt Antônio in der Folge die politischen Fronten. Zuletzt tötet eine weitere Symbolgestalt, der Afrobrasilianer Antão, der für die afrikanischen Wurzeln der Bevölkerung steht, mit seiner Lanze (als weitere Sankt-GeorgsFigur) den Landbesitzer. Der Film bildet einen der herausragenden Versuche, ein „Cinema Novo“ zu realisieren, frei von der künstlerischen Kolonisation der lateinamerikanischen Kinematographie durch die USamerikanischen Darstellungsmittel; Glauber Rocha propagierte seine „Ästhetik des Hungers“, der für die Europäer höchstens ein „fremder tropikaler Surrealismus“ sei, während er sich bei den Menschen, die ihn wirklich kennenlernen, in Form von Gewalt ausdrücke.82 In Ant nio das Mortes werden Folklore, Tanz, Musik und religiöse Elemente zu einem eigentümlichen Stilgemisch amalgamiert; in seiner Grundstruktur erinnert der Film außerdem an die Konventionen des Italo-Western. Das letzte Bild verbindet die archaische Welt des Sertão mit der modernen Realität: Antônio, der mythische Held, geht mit dem Gewehr in der Hand einen

81 Geoffrey Nowell-Smith: „Salvatore Giuliano“. In: The Cinema of Italy. Hg. v. Giorgio Bertellini. London 2004, S. 133 – 141, hier S. 139 f. 82 Zit. nach Martin Schaub: „Das ,Cinema novo‘ und seine Erben“. In: Brasilien. Entdeckung und Selbstentdeckung. Hg. v. Kunsthaus Zürich u. a. Bern 1992, S. 430 – 437, hier S. 432.

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Highway entlang, im Hintergrund sieht man die Leuchtschrift einer ShellTankstelle.83 Das Verhältnis jener Gesellschaften, in denen das filmische Medium zunächst entwickelt wurde, zur ,Dritten Welt‘ wurde auch in Biopics aus eben diesen Ländern kritisch behandelt. Der Film Walker (USA/MEX/ES 1987) von Alex Cox wurde in der Forschung vor allem im Zusammenhang mit der Frage diskutiert, was ein postmoderner Historienfilm leisten könne. Er handelt von dem Abenteurer William Walker, der Mitte des 19. Jahrhunderts aus wirtschaftlichen Gründen von reichen Sponsoren, unter ihnen Cornelius Vanderbilt, für die Durchführung eines Staatsstreichs in Nicaragua engagiert wird. Nach zwei Jahren brechen jedoch Aufstände der Bevölkerung aus; Walkers Söldner werden von einem US-amerikanischen Hubschrauber evakuiert, Einheimische, die mit ausfliegen wollen, werden erschossen. Auch Walker, der sich als Präsident Nicaraguas deklariert, wird nicht in den Hubschrauber gelassen und später hingerichtet. Cox nimmt in seinem Film, der als Historienfarce über den Einfluss wirtschaftlicher Interessen auf politische Entscheidungen, auf kriegerische Handlungen und kolonialistische Unternehmungen angelegt ist, prononciert Stellung zur US-amerikanischen Mittelamerika-Politik der 1980er Jahre. Manche Aussagen der durchwegs negativ dargestellten Mächtigen (ein Beispiel dafür ist der als infantiler Psychopath karikierte Vanderbilt) sind auch aus der offiziellen Politsprache des späten 20. Jahrhunderts vertraut: „Our American brothers came here to bring Peace, Democracy, and Liberty“, sagt einer von Vanderbilts Gefolgsleuten in dem eroberten Land – mit dem bezeichnenden Nachsatz: „To improve our civilization. And strengthen our economy.“84 Für Irritation sorgten bei Publikum und Kritik die zahlreichen Anachronismen: der schon genannte Hubschrauber, aber auch die Präsenz von Marken wie Coca Cola und Marlboro, der Hinweis auf Medien wie Newsweek und People sowie der Einsatz von Computerterminals. Rosenstone nennt als Anliegen des Films: „to demystify the pretensions of professional history, cast into doubt notions of historical distance and objectivity, and insist that the questions we take to the past always arise from our current concerns“.85 83 Vgl. dazu Hans Peter Kochenrath: „Sankt Georg in Brasilien. Glauber Rochas Film Antonio das Mortes“. In: Die Zeit, 12.06.1970, S. 24. 84 Zit. nach Sumiko Higashi: „Walker and Mississippi Burning. Postmodernism versus Illusionist Narrative“. In: Revisioning History. Film and the Construction of a New Past. Hg. v. Robert A. Rosenstone. Princeton, NJ 1995, S. 188 – 201, hier S. 191. 85 Robert A. Rosenstone: „Walker. The Dramatic Film as (Postmodern) History.“ In: Revisioning History. Hg. v. Rosenstone, S. 202 – 213, hier S. 211.

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c) Showbusiness und Darstellende Kunst: Entertainment, Film Kein anderer Film aus der Geschichte des Biopics hat auf ähnlich komplexe Weise die biographische Tätigkeit selbst zum Thema gemacht wie Lola Mont s (F/BRD 1955): am Beispiel der als Elizabeth Rosanna Gilbert geborenen Tänzerin, die durch ganz Europa reiste und durch eine Anzahl von Affären (u. a. mit Franz Liszt) bzw. die dadurch ausgelösten Skandale (vor allem am Hof des bayerischen Königs Ludwig I.) berühmt wurde. Der Regisseur Max Ophüls lässt seinen Film am Ende der Laufbahn von Lola Montez spielen. Sie tritt in den 1850er Jahren in einem Zirkus in New Orleans auf, wo sie vom Ringmeister (Peter Ustinov) dem Publikum präsentiert wird. Die Zuschauer dürfen ihr bis hin zu intim-voyeuristischen Details Fragen stellen; die Episoden aus der Vergangenheit, die zur Sprache kommen, werden von den Mitgliedern des Zirkus nachgespielt, und der Ringmeister moderiert mit ironisch-sarkastischen Texten, deren Stil an Moritatensänger erinnert, das Programm. Der Film führt somit in einer Art Vorwegnahme später populärer medialer Vermittlungsformen des Biographischen („Das war Ihr Leben“), als eine „dem Fernsehen vorauseilende, vorausgedachte und es gleichzeitig schon ironisierende Kino-Show“86, selbst vor, wie eine Biographie entsteht: einerseits durch die autobiographische Rekonstruktion der Tänzerin, andererseits durch die Funktion des Ringmeisters als Erzähler (bzw. ,Biograph‘). Gleichzeitig kritisiert Ophüls die erzwungene (Selbst-)Vermarktung der Frau; er stellt nicht nur die Strategien skandalträchtiger Biographien bloß, sondern auch die Mechanismen des Showbusiness und der Medienmaschinerie.87 Der Film folgt dem „Prinzip des ständigen Wechsels der Darstellungsebenen“.88 Neben den lebenden Bildern im Zirkus stehen ausgedehnte Flashback-Episoden, besonders die mehr als 40 Minuten lange Darstellung der Affäre mit Ludwig I., die eine Art Film im Film bildet. Der Darstellungsstil, den Ophüls einsetzt, ist durch ein ausgeprägtes Zusammenspiel von Illusionsherstellung und Illusionsdurchbrechung gekennzeichnet. Virtuos ist der Umgang mit den neuen filmischen Techniken von Eastmancolor und Cinemascope; Ophüls variiert das opulente Breitwandformat zwischen großangelegten Rauminszenierungen und völlig redu86 Peter W. Jansen: „Kommentierte Filmografie“. In: Max Oph ls. Mit Beiträgen v. Helmut G. Asper, Wolfgang Jacobsen u. a. München, Wien 1989 (= Reihe Film, Bd. 42), S. 109 – 258, hier S. 242. 87 Vgl. zu diesen Aspekten ebd., S. 248. 88 Ebd., S. 239.

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zierten Bildausschnitten, wobei der gezielt eingesetzte Kasch, der die Funktion eines Theatervorhangs erfüllt, als Mittel der Fokussierung auf einzelne Individuen dient. Die Gestaltung des Raumes betont einerseits das Eingeschlossensein der Figuren, vor allem der Protagonistin; immer wieder verstellen Objekte (z. B. Säulen, Pflanzen oder Gitter) die Sicht und verringern den Aktionsradius. Andererseits wird die Isolation und das Ausgesetztsein der Tänzerin deutlich; die zentrale Metapher des Films ist der Seiltanz in der Zirkusmanege. Den Höhepunkt eines jeden Auftritts bildet der allabendlich durchzuführende Todessprung ohne Netz.89 Die moderne Unterhaltungsindustrie gehört zu den beliebtesten Gegenstandsbereichen biographischer Filme. Mit dem Streifen The Glenn Miller Story (USA 1954) entstand kurz vor Lola Mont s eines der prototypischen Performer-Biopics der Farbfilm-Ära. Wir sehen einerseits die Erfolgsgeschichte des jungen Posaunisten und Arrangeurs Glenn Miller, die in zahlreichen Details die Struktur vieler weiterer biographischer Filme über Künstler aus dem Showbusiness vorgibt; dieser Karriere-Plot beginnt damit, dass Miller im Amerika der Depressionszeit zunächst so arm ist, dass er immer wieder sein Instrument im Pfandleihhaus versetzen muss, ehe ihm schließlich der Durchbruch gelingt. Ein romantischer Subplot involviert Millers alte Freundin Helen, die zwar mit einem anderen Mann liiert ist, der er aber – zielstrebig, wie er sich auch als Künstler erweisen wird – ankündigt, dass er sie heiraten werde. Damit ist die Handlung ähnlich aufgebaut wie im Film The Benny Goodman Story (USA 1956), der von Taylor als charakteristisches Beispiel für diesen Typus des Biopics analysiert wurde. Er folgt konsequent der von David Bordwell beschriebenen klassischen Doppelplot-Struktur des Hollywood-Films: „Ein romantischer Handlungsstrang (eine Liebesgeschichte) wird mit einem anderen (professionellen) Strang verknüpft und verwoben, wobei charakteristischerweise die Auflösung der einen Linie mit der Auflösung der anderen gekoppelt und im selben Segment zu vollziehen ist.“90 Millers Durchbruch gelingt – charakteristisch für viele analoge Karrieremuster – durch einen Zufall: Aufgrund der Erkrankung des Trompeters muss Miller an seiner statt einen Klarinettisten einsetzen – und entdeckt auf diese Weise den 89 Vgl. zur Dokumentation der Entstehungsgeschichte des Films die hervorragende Publikation von Martina Müller u. Werner Dütsch: Lola Montez. Eine Filmgeschichte. Köln 2002. Dort auch das vollständige Drehbuch mit allen Versionen; der ursprünglich 114 Minuten lange Film wurde nach diversen Kürzungen für den europäischen Markt in den USA bis auf 75 Minuten verstümmelt. 90 Ebd., S. 121; vgl. dazu auch David Bordwell: Narration in the Fiction Film. Madison 1985, S. 157.

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später berühmten ,Glenn-Miller-Sound‘.91 Eine Reihe von musikalischen Einlagen strukturiert die Handlung und integriert das künstlerische Schaffen Millers in die Filmhandlung; gerade an diesem Sub-Genre des Biopics erweist sich Henry Taylors Beobachtung, dass die Gattung „stark zu Episoden- und Nummernhaftigkeit neigt, und in diesem Zusammenhang auch zu Performance“.92 Bis heute ist die Darstellung von musikalischen ,Performers‘ im biographischen Film fruchtbar und populär geblieben. Die behandelten Bereiche erstrecken sich vom Jazz, wo insbesondere Clint Eastwoods Film Bird (USA 1988) über den Saxophonisten Charlie Parker hervorzuheben ist, bis zum Bassisten der Punkband „Sex Pistols“, Sid Vicious, dessen Beziehung zu Nancy Spungen, einem heroinsüchtigen Groupie, vom Regisseur Paul Cox in dem Film Sid & Nancy (GB 1986) thematisiert wird. Biopics über Frauen sind z. B. Lady Sings the Blues (Sidney J. Furie, USA 1972) über die Jazz-Sängerin Billie Holiday, der besonders erfolgreiche Film Coal Miner’s Daughter (Michael Apted, USA 1980) über die CountrySängerin Loretta Lynn, Sweet Dreams (Karel Reisz, USA 1985) über Patsy Cline93 sowie What’s Love Got to Do with It? (Brian Gibson, USA 1993), die Emanzipationsgeschichte der Sängerin Tina Turner. Beleg für den anhaltenden Erfolg des Performer-Biopics – wie für die Bedeutung des gesamten Genres bis heute – sind u. a. die Academy Awards, die gerade auf diesem Gebiet während der letzten Jahre den jeweiligen Hauptdarsteller/ inne/n zugesprochen wurden: dem Schauspieler Jamie Foxx als Ray Charles in dem Film Ray (USA 2004) sowie Reese Witherspoon als June Carter in dem Johnny-Cash-Biopic Walk the Line (USA/D 2005) und Marion Cotillard als Edith Piaf in La M me (aka La Vie en Rose, F/GB/CZ 2007), nachdem bereits 1980 Sissy Spacek für ihre Verkörperung der Sängerin Loretta Lynn in Coal Miner’s Daughter ausgezeichnet worden war. Unter den weiteren Oscars für die beste Hauptrolle finden sich überhaupt eine auffällig große Anzahl an Musiker-Darstellungen, auch aus dem ,nicht-populären‘ Bereich: Neben dem schon genannten F. Murray Abraham (Salieri in Amadeus) waren dies Geoffrey Rush in der Rolle des Pianisten David Helfgott in Shine (Scott Hicks, AU 1996) und Adrien

91 Vgl. dazu auch das oben beschriebene dramaturgische Mittel des „HeurekaSyndroms“ im Wissenschaftler-Biopic, S. 425. 92 Taylor: Rolle des Lebens, S. 159. 93 Vgl. zur Struktur dieses Films Cynthia A. Hanson: „The Hollywood Musical Biopic and the Regressive Performer“. In: Wide Angle 10 (1988) H. 2, S. 15 – 23.

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Brody als Helfgotts Berufskollege Wladyslaw Szpilman in Roman Polanskis The Pianist (F/D/GB/PL 2002).94 Gegen Ende des 20. Jahrhunderts befassen sich auch Filme über Protagonisten aus dem Bereich der Unterhaltungsindustrie, der bereits beschriebenen Tendenz des Genres entsprechend, zunehmend mit Außenseiterfiguren. Drei Beispiele, die sich mit dem Filmbusiness auseinandersetzen, seien stellvertretend genannt. Der Film Frances (Graeme Clifford, USA 1982) zeichnet die Lebensgeschichte der HollywoodSchauspielerin Frances Farmer nach, die nach einem viel versprechenden Karrierebeginn aufgrund ihrer Weigerung, sich den Vorgaben der Unterhaltungsindustrie zu beugen, ruiniert wurde. Schon in einer frühen Sequenz sieht man sie, wie sie im Mädchenalter einem irritierten Publikum ihren preisgekrönten Schulaufsatz über den Tod Gottes vorträgt. Später provoziert die junge Frau u. a. mit einer Reise in die Sowjetunion, nachdem sie einen von einer links orientierten Zeitschrift ausgerichteten Schauspielwettbewerb gewonnen hat. Jene Person, die am rücksichtslosesten die Eingliederung der jungen Nonkonformistin in die gesellschaftliche Normalität fordert, ist ihre Mutter. Sie lässt die Tochter in eine Nervenheilanstalt einweisen und sie dort mit Hilfe von Elektroschocks und zuletzt durch eine Lobotomie von ihrer Eigenständigkeit ,kurieren‘. Am Ende des Films erlebt man Frances Farmer als Gast der populären Show 94 Die weiteren Oscars für die beste Hauptrolle in einem Biopic nach 1945 gingen an: Paul Scofield als Thomas More in A Man for All Seasons (GB 1966), George C. Scott als Gen. George S. Patton jr. in Patton (USA 1970), Robert de Niro als Boxer Jake LaMotta in Martin Scorseses Raging Bull (USA 1980), Ben Kingsley als Mahatma Gandhi in Gandhi (GB/IN 1982), Daniel Day Lewis als Christy Brown in My Left Foot (IE/GB 1989), Philip Seymour Hoffman als Truman Capote in Capote (CA/ USA 2005) und Forest Whitaker als Idi Amin in The Last King of Scotland (GB 2006), sowie Katharine Hepburn als Eleonore von Aquitanien in The Lion in Winter (GB 1968), Sally Field als Norma Rae Webster in Norma Rae (USA 1979), Hilary Swank als Brandon Teena in Boys Don’t Cry (USA 1999), Julia Roberts als Erin Brockovich in Erin Brockovich (USA 2000), Nicole Kidman als Virginia Woolf in The Hours (USA 2002) und Helen Mirren als Queen Elizabeth II. in The Queen (GB/F/ IT 2006). – Folgende Biopics wurden mit dem Oscar in der Kategorie ,Bester Film‘ ausgezeichnet: The Great Ziegfeld (USA 1936) über Florenz Ziegfeld jr., The Life of Emile Zola (USA 1937), Lawrence of Arabia (GB 1962) über T. E. Lawrence, A Man for All Seasons (GB 1966) über Thomas More, Patton (1970), Gandhi (GB/IN 1982), Amadeus (USA 1984), Out of Africa (USA 1985) über Karen Blixen, The Last Emperor (GB, FR, IT 1987) über den chinesischen Kaiser Pu Yi, Schindler’s List (USA 1993), Braveheart (USA 1995) über William Wallace, Shakespeare in Love (USA/GB 1998) und A Beautiful Mind (USA 2001) über den Mathematiker John Forbes Nash.

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„This Is Your Life“; dabei ist sie nicht mehr wiederzuerkennen: eine gebrochene Frau ohne erkennbare eigene Persönlichkeit. Der Film zeigt „die systematische Zurichtung eines Individuums durch das Ineinandergreifen psychologischer, kultureller, institutionslogischer und kapitallogischer Momente“.95 Gewaltsam wird sie den gesellschaftlichen Vorstellungen angepasst; es ist letztlich ihr Verhängnis, dass „eine mächtige Industrie vom schauspielerischen Können der Protagonistin profitiert und die Psychiatrie sie dazu zwingen soll, ihr Können auch dem entsprechenden Markt zur Verfügung zu stellen“.96 Der Protagonist des Films Ed Wood (USA 1994) von Tim Burton wurde in Umfragen wiederholt zum schlechtesten Regisseur Hollywoods gewählt. Burton versucht in seinem in Schwarzweiß gedrehten Streifen, nicht nur die Atmosphäre der behandelten Zeit nachzuzeichnen, sondern auch die Ästhetik von Woods Filmen, in denen sich auf tragikomische Weise die Diskrepanz zwischen einem hohen Anspruch und den eingeschränkten Fähigkeiten des Filmemachers niederschlug. Produktionen wie Plan 9 from Outer Space (USA 1959) gelten heute als Klassiker des Trashfilms. Ihre Entstehungsgeschichte wird jedoch als Abfolge von Unzulänglichkeiten und Pannen gezeigt: Aufgrund des knappen Budgets wird fast jede Einstellung nur einmal gedreht, wenn Requisiten fehlen, stiehlt sie der von Johnny Depp gespielte Wood kurzerhand; als mitten in den Dreharbeiten der Hauptdarsteller Bela Lugosi stirbt, werden private Aufnahmen in den Film montiert, um das Projekt zu Ende zu bringen. Burtons Biopic verweigert sich damit der traditionellen Konzeption vom ,Genie‘ und vom ,großen Meisterwerk‘. Wood erscheint als unangepasster Visionär in einem Amerika, in dem der gesellschaftliche Konformitätsdruck besonders hoch ist – ohne Chance auf den im traditionellen Biopic gezeigten Durchbruch. Seine Sexualität verharrt ebenfalls zwischen den klaren Trennlinien zwischen ,männlich‘ und ,weiblich‘. Er schockiert seine Freundin mit dem Filmskript Glen or Glenda (USA 1953), das vor allem von Transvestiten handelt, und fällt durch seinen Fetischismus für weibliche Kleidung auf; im Weltkrieg habe er Damenunterwäsche getragen, sagt er, und sich weniger vor dem Sterben gefürchtet als davor, im Falle einer Verwundung von Ärzten aufgedeckt zu werden: „I know what it’s like to live with a secret, and worry about what people are gonna think of you.“ 95 Markus Fellner: psycho movie. Zur Konstruktion psychischer Stçrung im Spielfilm. Bielefeld 2006, S. 163. 96 Ebd., S. 167.

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Auch Gods and Monsters (Bill Condon, GB/USA 1998) behandelt die Karriere eines Außenseiters in der glamourösen Welt Hollywoods. Der Film konzentriert sich auf die letzten Monate vor dem mysteriösen Selbstmord des britischen Regisseurs James Whale, der durch die Filme Frankenstein (USA 1931) und Bride of Frankenstein (USA 1935) berühmt wurde. Zu Beginn der Handlung lebt er zurückgezogen in seiner Villa und widmet sich der Malerei; zur ,feinen Gesellschaft‘ passt er nicht, weil er sich offen zu seiner Homosexualität bekennt. Als er während eines Interviews einen leichten Gehirnschlag erleidet, verliert er allmählich die Kontrolle über seine Gedanken; sein Unbewusstes spült Bilder hoch, die ihn an seine von Armut geprägte Kindheit und die traumatischen Erlebnisse während des Ersten Weltkriegs erinnern. In Anspielung auf den Pygmalion-Mythos wird gezeigt, wie Whale den gutaussehenden Gärtner Clayton zu seinem Modell und zugleich auch zum Objekt seiner sexuellen Begierde macht; der homophobe junge Mann zeigt sich durch diese Art der Zuwendung stark irritiert. In der Inszenierung des Films werden die dargestellte Wirklichkeit und das filmische Werk Whales, dessen Bilder seine Imagination noch immer durchsetzen, miteinander in Verbindung gebracht; in einem Traum des Regisseurs verwandelt er sich gemeinsam mit Clayton in Figuren aus dem Film Frankenstein. Die Szenen aus dem Krieg, von denen Whale ebenfalls nicht loskommt, verweisen nicht nur auf seine seelischen Verletzungen, sondern legen gleichzeitig eine Interpretation seiner zentralen Beiträge zur ersten großen Welle von Horror-Filmen Anfang der 1930er Jahre als künstlerische Verarbeitung des Weltkriegs-Horrors nahe. Gerade in Filmen über die moderne Unterhaltungskultur wird oft deren Funktion in der zeitgenössischen Konsumgesellschaft zum Thema, außerdem wird häufig das Verhältnis von Entertainment und Darstellenden Künsten zur Wirklichkeit reflektiert. Man on the Moon (GB/D/JP/ USA 1999) 97 von Milos Forman widmet sich dem Komiker und Entertainer Andy Kaufman, der wie kaum ein anderer die Grenzen des Zulässigen im Showgeschäft ausgelotet und durch bis heute imitierte Praktiken erweitert hat. Kaufman machte sein Publikum zum Bestandteil seiner Shows und führte es lustvoll in die Irre: Er täuschte den Herzinfarkt einer älteren Dame auf der Bühne vor, um kurz danach ihre Wiedergenesung zu feiern. Mit Vorliebe setzte er den kalkulierten Tabubruch ein, wobei er alle Regeln des politisch korrekten Auftritts missachtete: Er provozierte die Frauen im Publikum, indem er sie mit reaktionären Rollenmustern 97 Der Titel des Films geht auf den gleichnamigen Song der US-Band R.E.M. (1992) zurück.

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identifizierte; in einer spektakulären „Intergender-Wrestling“-Show trat er gegen eine große Zahl von Frauen an, die er durch seine Beleidigungen herausgefordert hatte. Durch seine prolongierten Auseinandersetzungen mit einem bekannten Ringer hielt er die Zuschauer in Atem, ehe sich diese Kämpfe als inszeniert herausstellten. Schon der Beginn des Films folgt dem von Kaufman perfektionierten Muster, jeglichen Ernst in Ironie aufzulösen und damit alle Gewissheiten zu relativieren: Der von dem Komiker Jim Carrey gespielte Protagonist erklärt dem Publikum, dass ihm der Film nicht gefalle und er deshalb fast alle Szenen herausgeschnitten habe; begleitet von Musik aus der TV-Serie Lassie, die er von einer Schallplatte abspielt, lässt er gleich den Abspann herunter laufen – ehe er dann doch wiederkommt und seinem Erstaunen Ausdruck verleiht, dass die Zuschauer noch im Kino sitzen. In einer eindringlichen Szene wird zuletzt demonstriert, wie sich Kaufmans prinzipielle Verweigerung von Ernsthaftigkeit auch auf die Wahrnehmung seiner eigenen Person auswirkt: Vergeblich bemüht er sich darum, seinen Freunden die Nachricht über seine unheilbare Krebserkrankung beizubringen; sie halten auch diese Mitteilung eines Komödianten, der für seine Umgebung stets nur als Inszenierung existiert hat, für Theater. Als eines der gelungensten neueren Biopics über Personen aus der Filmbranche gilt The Life and Death of Peter Sellers (Stephen Hopkins, USA/ GB 2004). Darin wird die Karriere des britischen Filmschauspielers nachgezeichnet, von seinen ersten Erfolgen über die großen Rollen, mit denen sein Name assoziiert ist (Inspector Clouseau, Dr. Strangelove), bis zum letzten Film Being There (USA 1979). Die Beschreibung des Mr. Chance aus diesem Film, mit dessen Darstellung Sellers eine seiner bedeutendsten Leistungen ablieferte, passt auch auf den Charakter, den das Biopic seinem Protagonisten zumisst. „The main character is a man with no self, no discernible personality“, sagt Geoffrey Rush als Peter Sellers über dessen Rolle als Mr. Chance, und er stellt sich vor, „how marvellous“ ein solches Leben sein muss: „He has no future, no past, no responsibilities. […] People expect nothing from him, and then love it when they get just that.“ Der Film verdeutlicht, dass die viel bewunderte Wandlungsfähigkeit des Schauspielers Sellers die positive Kehrseite einer fundamentalen Identitätsschwäche ist: „Peter Sellers never had a face, because there was no person there to begin with“, sagt im Biopic der Regisseur Stanley Kubrick. „He was a vessel into which characters and personalities ran like phantoms.“ Die Grenzen zwischen Leben und Filmrolle sind fließend: Sellers probiert seine Darstellung des Clouseau auf einem Transatlantikflug aus, und er weigert sich, aus der im Studio angenommenen Rolle des Dr. Strangelove

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herauszutreten, wenn er dort von seiner Mutter besucht wird. Bei der Wiedergabe einer Szene, in der die Trennung von seiner Ehefrau gezeigt wird, versucht er seine Rolle dadurch zu beschönigen, dass er den gesprochenen Dialog neu synchronisiert. Abgesehen von diesem filmimmanenten Illusionsbruch lässt Regisseur Hopkins seine Schauspieler auch wiederholt aus ihren Rollen heraustreten und sich ans Kinopublikum wenden. The Life and Death of Peter Sellers reflektiert somit die Tätigkeit des Schauspielers und das Verhältnis zwischen gefilmter und gelebter ,Wirklichkeit‘. Es handelt sich jedoch auch um einen selbstreflexiven Film; er macht bewusst, dass die Darstellung von ,wirklichem‘ Leben im biographischen Film nie als direkte Abbildung der Realität, sondern als Rekonstruktion nach bestimmten medialen Gesetzmäßigkeiten und Mechanismen erfolgt. d) Ein exemplarischer Längsschnitt: Künstler/innen-Biopics aus fünf Jahrzehnten Im letzten Teil dieses Rundblicks über mehr als ein Jahrhundert biographischer Filme ist eine kleine Serie herausragender Biopics aus den letzten fünf Jahrzehnten zusammengestellt, wobei jede Dekade durch jeweils einen Film repräsentiert wird. Das verbindende inhaltliche Element besteht darin, dass es sich in allen Fällen um die Darstellung von Künstler/ innen handelt: um Vertreter der Bildenden Kunst, aber auch um einen Puppenkünstler und einen Schriftsteller. Nach dem Zweiten Weltkrieg konnten Biopics über Bildende Künstler erstmals die Möglichkeiten des Farbfilms nützen; damit waren neue technische Voraussetzungen zugänglich, um die Werke der dargestellten Persönlichkeiten im Medium des Films einigermaßen dem Vorbild adäquat reproduzieren zu können. Schon zu Beginn der fünfziger Jahre widmete sich der Film Moulin Rouge ( John Huston, GB 1952) dem Leben des Malers Henri Toulouse-Lautrec, Mitte des Jahrzehnts folgte Vincente Minnellis Biopic Lust for Life (USA 1956) über Vincent van Gogh (mit Kirk Douglas in der Titelrolle). Zahlreiche erfolgreiche Künstler/innen-Biopics folgten: Zwei weitere (auch künstlerisch herausragende) Van-GoghFilme unternahmen nochmals den Versuch einer von dem stilprägenden Film Lust for Life abweichenden Darstellung: Vincent and Theo (NL/GB/F 1990) von Robert Altman widmete sich vor allem der Beziehung zwischen den beiden Brüdern van Gogh, wobei das Verhältnis zwischen Kunst und Geld im Mittelpunkt stand. Maurice Pialat konzentrierte sich in seinem

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Van Gogh (F 1991) auf das Alltagsleben des Malers, ohne Minnellis dramatische Stilisierung nach dem Muster von ,Genie und Wahnsinn‘; in seinem Film wird vielmehr gezeigt, wie der Mensch van Gogh selbst zur Projektionsfläche für seine Umgebung wird.98 Einige Filme beschäftigten sich mit Künstlerinnen: Camille Claudel (Bruno Nuytten, F 1988, mit Isabelle Adjani) über die gleichnamige französische Bildhauerin und ihre verhängnisvolle Beziehung zu Auguste Rodin, Carrington (Christopher Hampton, GB/F 1995) über die englische Malerin Dora Carrington und ihre Beziehung zur Bloomsbury Group, besonders zum Schriftsteller Lytton Strachey, und Artemisia (Agnès Merlet, F/D/IT 1997) über die italienische Malerin Artemisia Gentileschi; zwei Filme behandelten Leben und Werk der mexikanischen Künstlerin Frida Kahlo: Frida – naturaleza viva (Paul Leduc, MEX 1986), vor allem aber die äußerst erfolgreiche Produktion Frida ( Julie Taymor, USA/CA/MEX 2002) mit Salma Hayek in der Titelrolle.99 Erwähnt werden sollten außerdem Basquiat (USA 1996), bei dem mit Julian Schnabel ein Malerkollege des Dargestellten Regie führte, Love Is the Devil: Study for a Portrait of Francis Bacon ( John Maybury, GB/F/JP 1998), der – ähnlich wie die beiden Frida-Kahlo-Filme – die stilistische Eigenart des Malers zum eigenen Darstellungsprinzip macht,100 Pollock (USA 2000), in dem Ed Harris sowohl die Titelrolle verkörperte als auch die Regie übernahm,101 sowie Goya en Burdeos (Goya in Bordeaux, ES/ IT 1999) von Carlos Saura. Drei weitere Künstlerfilme seien im Folgenden repräsentativ für die Jahrzehnte zwischen 1960 und 1990 besprochen. Der Film Andrej Rubljow (UdSSR 1964/66) von Andrej Tarkowskij lässt sich als „Diskurs über die Position des Künstlers im Kontext sozialer, politischer und religiöser Zerrissenheit“ verstehen, der gleichzeitig einer „selbstreflexiven Ausein-

98 Vgl. dazu Andrea Grunert: „Ein Künstler und seine Legende. Drei Filme über das Phänomen Vincent van Gogh. Von Sonnenblumen, Kornfeldern, Krähen und abgeschnittenen Ohren.“ In: Filmforum Nr. 28, Juni/Juli 2001, http:// www.filmzeitschrift.de/film/f-002/artikel-002.html (Stand: 30.10.2008). 99 Vgl. dazu Verena Berger: „Frida Kahlo – Ikone, Märtyrerin und Mythos. Filmische Künstlerporträts zwischen Mexiko und Hollywood“. In: Ikonen Helden Außenseiter. Hg. v. Mittermayer, Blaser u. a., S. 53 – 69. 100 Henry Taylor spricht vom „Overflow-Effekt“; vgl. ders.: Rolle des Lebens, S. 320. 101 Vgl. dazu Doris Berger: „Show me how to become a great artist: Biopics über Künstler/innen“. In: Ikonen Helden Außenseiter. Hg. v. Mittermayer, Blaser u. a., S. 35 – 51.

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andersetzung“ des Regisseurs diente.102 Der einleitende Prolog führt mit dem Aufstieg eines Heißluftballons und dem unmittelbar folgenden Absturz das Modell des (künstlerischen) Aufschwungs und der anschließenden Zerstörung ein, das den gesamten Film strukturiert. Die in acht Kapitel unterteilte Handlung wird durch Einbrüche der Gewalt und des Terrors beherrscht: Ein Gaukler wird von Soldaten davon geschleift, nachdem er eine Gruppe Bauern mit seiner Kunst erfreut hat; der Großfürst lässt einigen Malern und Handwerkern die Augen ausstechen, damit sie nicht auch seinem Bruder ihre Kunstfertigkeit zur Verfügung stellen können. Ein orgiastisches heidnisches Ritual, in dem sich die gesellschaftlich verdrängten Äußerungen des Körpers und der Sinne nächtens Bahn brechen, endet mit dessen brutaler Auflösung durch die Truppen des Großfürsten. In den Dienst einer Hinwendung zum beständig leidenden Volk stellt Tarkowskijs Protagonist auch seine eigene Arbeit, deren Ausgangsposition er von der auf Gott und das Jenseits orientierten Kunst des spätbyzantinischen Malers Theophanes abgrenzt: „[Ü]ber den Bauern bricht immer neues Unheil herein: einmal sind es die Tataren, […] mal der Hunger, mal die Pest. Aber er arbeitet und arbeitet, […] trägt ruhig sein Kreuz, verzweifelt nicht, sondern schweigt und leidet.“103 Als Rubljow bei der Erstürmung einer Kathedrale durch die Tataren einen Soldaten tötet, um ein Mädchen vor der Vergewaltigung zu retten, legt er vor Entsetzen über seine Tat ein Schweigegelübde ab. Erst in der letzten Episode bricht er diese jahrelang durchgehaltene Sprachlosigkeit, als er voll Bewunderung einen jungen Glockengießer bei der Herstellung einer großen Glocke beobachtet; er entschließt sich, seine Kunst der Ikonenmalerei fortzuführen. Der erzählerische Rahmen schließt sich in Form eines Epilogs, in dem nach den Abschnitten aus der Lebensgeschichte auch die künstlerische Arbeit Rubljows gezeigt wird, u. a. seine berühmte Dreieinigkeits-Ikone des Troiza-Sergejewskij-Klosters in Moskau, wobei das ansonsten eingesetzte Schwarzweiß für mehr als acht Minuten zur Farbe wechselt.104 Die Biographie des mittelalterlichen Künstlers ist von der „Passivität der Titelfigur“ gekennzeichnet; ihr Status ist der eines Beobachters, vor 102 Astrid Schünemann und Nikolas Hülbusch: „Kunst als Offenbarung des Göttlichen. Andrej Rubljow von Andrej Tarkowski“. In: Genie und Leidenschaft. Hg. v. Felix, S. 55 – 76, hier S. 55. 103 Andrej Tarkowskij: Andrej Rubljow. Filmtext und Dokumente. Berlin 1969 (= Kinemathek, Bd. 41), S. 33 f. 104 Tarkowskij folgt damit dem Vorbild Eisensteins in Ivan Groznyj, der ebenfalls gegen Ende des zweiten Teils von Schwarzweiß zu Farbe wechselt.

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dessen Augen ein „historisches Tableau“ abläuft.105 Der Künstler wird zum Märtyrer stilisiert, der sich im „Bewußtsein des Auserwählt-seins“ weiterhin den ihn erfüllenden Idealen „der moralischen Verpflichtung und der Aufopferung“ hingibt.106 Dabei lässt sich die Darstellung der mittelalterlichen Geschichte durchaus als „Parabel über das Rußland des 20. Jahrhunderts“ lesen – ein Land, das „Bürgerkrieg, Zwangskollektivierung und faschistische Okkupation erlebt und überstanden“ hat.107 In der filmischen Wiederbelebung einer Künstlerfigur an der Schwelle zwischen Spätbyzantinismus und osteuropäischer Renaissance, der einen neuen Subjektivismus des Gefühlsausdrucks und einen folgenreichen „Humanisierungsprozeß“ in die Kunst einbrachte, wäre dann Tarkowskijs „Gegenentwurf zu jener bigotten Ikonenmalerei des sozialistischen Realismus“ zu sehen, die „in den patriotischen Geschichtsfilmen der fünfziger Jahre zu einer besonderen Form von stalinistisch-dogmatischem Byzantinismus erstarrt war“.108 Mitte der 1970er Jahre befasst sich der Regisseur Peter Watkins in dem Film Edvard Munch (SE/NO 1974) mit einem entscheidenden Jahrzehnt aus dem Leben des norwegischen Malers (1884 – 1894). Als Grundlage benützt er vor allem authentische Tagebuchfragmente des Protagonisten, wobei sich der Filmemacher selbst wiederholt als Erzähler (durch Voiceover) zu Wort meldet und das Geschehen kommentiert – ausdrücklich hat er seine weitgehende Identifikation mit dem von ihm dargestellten Künstler einbekannt: „I quickly came to understand that in making a film about Edvard Munch, I was also making a film about myself“.109 Die Darstellungsmethode des Films ist überaus komplex: Einerseits besteht er aus Spielszenen, für die Watkins seine durchwegs nicht-professionellen Schauspieler/innen immer wieder improvisieren ließ, um ihre eigenen Ansichten und Gefühle in den Film einzubringen und dadurch die Künstlichkeit des konventionellen Kinos aufzubrechen.110 Dies geschieht 105 Taylor: Rolle des Lebens, S. 212. 106 Schünemann u. Hülbusch: „Kunst als Offenbarung des Göttlichen“, S. 72. 107 Klaus Kreimeier: „Kommentierte Filmografie“. In: Andrej Tarkowskij. Mit Beiträgen v. Wolfgang Jacobsen, Klaus Kreimeier u. a. München, Wien 1987 (= Reihe Film, Bd. 39), S. 81 – 180, hier S. 108. 108 Ebd. 109 Peter Watkins: „Edvard Munch: A Self Interview“. In: Edvard Munch. Begleitheft zu DVD-Edition, The Criterion Collection, 2007, S. 46 – 67, hier S. 47. 110 Joseph A. Gomez: „Edvard Munch: Film Biography as Self-portrait and Exemplum“. In: Edvard Munch. Begleitheft der DVD-Edition, The Criterion Collection, 2007, S. 8 – 45, hier S. 25.

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vor allem auf einer zweiten inhaltlichen Ebene, mittels der zahlreichen simulierten Interviews mit den Figuren der Handlung, die dem Film phasenweise dokumentarischen Charakter verleihen. Besonders gerühmt wurde der kunstvolle Einsatz des Filmschnitts, mit dessen Hilfe Watkins den kreativen Prozess bei Edvard Munch zu visualisieren sucht. Fortwährend überlagern sich Vergangenheit und Gegenwart, Bilder aus früheren Phasen des Lebens kehren in einer Art Leitmotiv-Technik wieder. Dabei spielt auch die Zusammenführung heterogener Bild- und Tonelemente eine wichtige Rolle. Ein Beispiel für diese Schnitt-Technik ist die obsessive Präsenz bestimmter prägender Todes- und Krankheitserfahrungen des jungen Munch: der Tod seiner Schwester Sophie und seiner Mutter an Tuberkulose, aber auch die eigene lebensgefährliche Krankheit im jugendlichen Alter. Den Höhepunkt der filmischen Engführung vergangener und gegenwärtiger Erlebnisse bildet der Schlussteil, wenn in einem deutschen Tanzsaal im Zusammenhang mit Munchs bekanntem Bild „Tanz des Lebens“ eine komplexe Montage aus Bildern aus der zuvor rekonstruierten Lebensgeschichte zu sehen ist, als formale Umsetzung des spezifischen Zeit- und Geschichtskonzepts von Peter Watkins: „I believe that we are all history, past, present, future“, so der Regisseur; alle Menschen wären erfasst von einem „common sharing and sensing of experiences which flow about us, forwards and backwards, sometimes simultaneously“.111 Derek Jarman, der Regisseur des Films Caravaggio (GB 1986), nähert sich seinem biographischen Objekt auf experimentelle Weise. Er strebt keine auf Illusion bedachte Abschilderung des 17. Jahrhunderts an, sondern betont in seiner Inszenierung die Kulissenhaftigkeit der Darstellung. Außerdem durchbrechen Details aus der Entstehungszeit des Films die Homogenität der dargestellten Welt: elektrische Barbeleuchtung, ein Taschenrechner, eine Schreibmaschine. Die Biographie Caravaggios wird mit Hilfe seiner Gemälde rekonstruiert; insgesamt sind es etwa ein Dutzend Bilder, die im Film nachgestellt werden: „Jarman’s biography of Caravaggio is his interpretation of Caravaggio’s paintings.“112 Wie bei vielen Biopics hat auch Jarmans Filmhandlung einen Erzählrahmen: Der sterbenskranke Maler liegt nach Jahren der Flucht in der Nähe von Mailand im toskanischen Porto Ercole; als Fieberträume inszeniert, werden in Rückblenden die entscheidenden Episoden seines Lebens sichtbar. Be111 Zit. nach ebd., S. 9. 112 Leo Bersani u. Ulysse Dutoit: Caravaggio. London 1999 (= BFI Film Classics), S. 23.

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sonders hervorgehoben wird die von Sexualität und Gewalt geprägte Dreiecksbeziehung zwischen Caravaggio und zweien seiner Modelle, dem Spieler Ranuccio Thomasonio und dessen Frau, der Prostituierten Lena. Sie endet im Mord: Als Lena, die einen Kardinal verführt und von ihm schwanger wird, die beiden verlässt, wird sie von Ranuccio getötet, worauf dieser von Caravaggio erstochen wird. Die Szene ist ein Beispiel für Jarmans Wiederaufnahme früherer Bildmotive und für die Widersprüchlichkeit der Gefühle, die er darstellt: Caravaggio hatte schon zuvor einmal mit Ranuccio gekämpft und war dabei verletzt worden, sein Blut hatte er daraufhin wie Malerfarbe auf dem Gesicht seines Widersachers verschmiert. Jetzt tötet er ihn mit demselben Messer und nimmt ihn doch zuletzt liebevoll in die Arme. Jarman war von Caravaggio nicht nur deshalb fasziniert, weil er in dessen Umgang mit Licht als Mittel der Dramatisierung die Technik der filmischen Beleuchtung vorweggenommen sehen konnte; in Caravaggios Homosexualität und der daraus resultierenden Mischung aus Schuldgefühlen und Isolation konnte der Regisseur seine eigene gesellschaftliche Problematik wiederfinden.113 Der Film Hsimeng Rensheng (Der Puppenmeister, TW 1993) des taiwanesischen Regisseurs Hou Hsiao-hsien situiert die Lebensgeschichte des Protagonisten durch die Art der Darstellung noch deutlicher als die bisher besprochenen Biopics im Kontext der Gesellschaft mit ihren den Einzelnen dominierenden Strukturen. Die Hauptfigur Li Tien Lu ist in der filmischen Handlung in zweifacher Gestalt präsent. Zum einen kommentiert der reale Puppenmeister 1993, zum Zeitpunkt der Produktion, als 84-Jähriger die linear erzählten Episoden aus seinem Leben, wobei er die Kamera direkt anspricht – nach Taylors Analyse ein Mittel, den Film „authentisierend zu verankern“.114 Zum anderen wird Li Tien Lu in der Spielhandlung des Films von Schauspielern verkörpert, in verschiedenen Lebensaltern. Die Mise-en-sc ne von Hou Hsiao-hsiens Biopic betont die Dominanz überindividueller Instanzen: Selten sind die Personen aus der Nähe zu sehen, oft sind sie in Gruppen integriert, die Kadrierungen sind eher starr, der Regisseur folgt einer „milieubezogenen, nicht-individua113 Vgl. ebd., S. 9. – Ein weiteres Biopic von Derek Jarman ist der Film Wittgenstein ( JP/GB 1993), der sich mit noch radikaleren experimentellen Mitteln als Caravaggio mit dem österreichischen Sprachphilosophen auseinandersetzt. Bemerkenswerter Weise hatte für diesen Film zunächst Terry Eagleton ein erstes Script verfasst, das dann jedoch nicht zur Ausführung gelangte. Vgl. Wittgenstein. The Terry Eagleton Script. The Derek Jarman Film. London 1993. 114 Taylor: Rolle des Lebens, S. 216.

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listischen Figurenauffassung“.115 Auch in den Außenaufnahmen herrschen Totale oder Panoramaaufnahmen vor, in denen die Menschen winzig erscheinen; der Mensch „erleidet die Geschichte eher“, bemerkt Taylor, der Film widersetzt sich in auffälliger Weise den Darstellungskonventionen Hollywoods.116 Die Handlung des Films ist allerdings auf die allmähliche Herauslösung der Hauptfigur aus den Zusammenhängen von Großfamilie und Gesellschaft ausgerichtet. Als ihn sein Vater mit einer anderen als der geliebten Frau verheiraten will, rebelliert der Sohn. Im Zuge seines Aufstiegs als Puppenspieler verwirklicht er eine eigenständige Existenz, mit 22 Jahren gründet er seine eigene Truppe. Der Film verfolgt seine Laufbahn vor dem Hintergrund der historischen Ereignisse, des Japanisch-Chinesischen Kriegs und des Zweiten Weltkriegs, wobei gezeigt wird, wie sich der Puppenkünstler auch anzupassen versteht – um anders als die meisten anderen Familienmitglieder in schwierigen Zeiten zu überleben. In den letzten Jahren wurden nicht nur die traditionellen Muster des Biopics weitergeführt – das Genre blüht zu Beginn des 21. Jahrhunderts wie nie zuvor –, sondern es lässt sich an einer Reihe von Filmen auch erkennen, wie Regisseur/e/innen mit experimentellen Mitteln die eingefahrenen Geleise filmischer Darstellung zu verlassen suchten und durch die formale Gestaltung ihrer Arbeiten auf die aktuellen theoretischen Reflexionen über die Tätigkeit des Biographen reagierten.117 Um zwei Beispiel zu nennen: Der Film Thirty Two Short Films About Glenn Gould (PT/CA/FI/ NL 1993) des kanadischen Regisseurs François Girard versucht in 32 völlig heterogen gestalteten Kurzfilmen eine Annäherung an den kanadischen Klavierkünstler, die einerseits die Fragmentarik jeder biographischen Arbeit betont und sich andererseits durch ihre demonstrativ eingesetzte Vielstimmigkeit von der Eindimensionalität des herkömmlichen Biopics absetzt. Auch I’m Not There (USA/D 2007) von Todd Haynes, der sich mit dem Leben des US-amerikanischen Sängers Bob Dylan beschäftigt, durchbricht die gängigen Regeln des Genres; diesmal wird die Hauptfigur nicht von einzelnen Kurzfilmen umkreist, sondern von sechs unterschiedlichen Darstellern verkörpert, darunter sogar von einer Frau (Cate Blanchett), als Umsetzung der unterschiedlichen (Selbst-)Inszenierungen

115 Ebd., S. 217. 116 Ebd., S. 218. 117 Vgl. dazu Hans Erich Bödeker: „Biographie. Annäherung an den gegenwärtigen Forschungs- und Diskussionsstand“. In: Biographie schreiben. Hg. v. Hans Erich Bödeker. Göttingen 2003, S. 9 – 63.

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Dylans, aber auch als Reaktion auf neue postmoderne Konzeptionen von Identität.118 Das erste Jahrzehnt des 21. Jahrhunderts soll durch einen Film vertreten sein, der sich mit einem Wort-Künstler befasst und dessen Darstellungsmethode ebenfalls neue Wege geht, indem das Ausdrucksmedium des biographischen Objekts, die Literatur, auf ungewöhnliche Weise einbezogen wird. Literarische Biopics gehören zu den besonders fruchtbaren Subgenres des biographischen Films.119 Besonders hervorzuheben sind die umfangreiche filmische Lebensbeschreibung Moli re (F/IT 1978) von Ariane Mnouchkine, der kunstvoll stilisierte Film Mishima: A Life in Four Chapters (Paul Schrader, USA 1985) über den japanischen Autor Yukio Mishima,120 sowie der Oscar-gekrönte Streifen Capote (Bennett Miller, CA/USA 2005) mit Philip Seymour Hoffman als Truman Capote.121 Von Autorinnen handeln Les soeurs Bront (André Techiné, F 1979) über Charlotte, Emily und Anne Brontë, in dem übrigens Roland Barthes einen kleinen Auftritt als William M. Thackeray absolviert, Waiting for the Moon ( Jill Godmilow, GB/F/USA/BRD 1987) über Gertrude Stein, Mrs Parker and the Vicious Circle (Alan Rudolph, USA 1994) über Dorothy Parker und Iris (Richard Eyre, GB/USA 2001) über die letzten Jahre von Iris Murdoch. Bemerkenswerte Verfilmungen literarischer Autobiographien sind darüber hinaus An Angel at My Table ( Jane Campion, GB/AU/NZ 1990) über die Australierin Janet Frame und Before Night Falls ( Julian Schnabel, USA 2000) über den Kubaner Reinaldo Arenas. Für seinen Film Brinkmanns Zorn (D 2006) verwendete der Regisseur Harald Bergmann die von dem deutschen Autor Rolf Dieter Brinkmann hinterlassenen Tonaufnahmen, die im Rahmen eines Arbeitsauftrags durch den WDR 1973 entstanden waren: Der Sender wollte mit Brink118 Vgl. dazu ausführlich meinen eingangs erwähnten Beitrag „Darstellungsformen des Schöpferischen in biographischen Filmen“, S. 528 – 530 (siehe FN 7). 119 Vgl. dazu die umfangreiche Studie von Siegrid Nieberle: Literarhistorische Filmbiographien. Autorschaft und Literaturgeschichte im Kino. Mit einer Filmographie 1909 – 2007. Berlin, New York 2008. 120 Vgl. Manfred Mittermayer: „Darstellungsformen des Schöpferischen in biographischen Filmen“, S. 523 – 525; John Howard Wilson: „Sources for a Neglected Masterpiece: Paul Schrader’s Mishima“. In: Biography 20 (1997) H. 2, S. 265 – 283. 121 Zur narrativen Konstruktion von Capote vgl. Nieberle: Literarhistorische Filmbiographien, S. 230 f. Die Autorin zeigt, wie in diesem Film drei dominante Narrative (Investigation, Suchtkrankheit, sexuelle Devianz) kombiniert werden. Außerdem sei er durch eine gelungene Verschmelzung von Elementen mehrerer Genres gekennzeichnet; Nieberle verweist in diesem Zusammenhang auf das klassische Biopic, den Thriller, den Gerichtsfilm und das Melodram.

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mann ein Selbstporträt des Schriftstellers produzieren; dieser besprach hierauf viele Stunden hindurch das vom WDR zur Verfügung gestellte Tonband – mit alltäglichen Beobachtungen und Reflexionen, aber auch mit Gesprächen, die er vor allem mit seiner Frau Maleen und seinem sprachbehinderten Sohn Robert führte. Der umfangreiche Ton-Nachlass wurde 2005 in der CD-Box Wçrter Sex Schnitt veröffentlicht; Harald Bergmann fügte eine Auswahl aus den authentischen Sprachaufnahmen des 1975 bei einem Verkehrsunfall in London ums Leben gekommenen Autors zusammen und verpflichtete Schauspieler, um die nur akustisch überlieferten Szenen lippensynchron nachzuspielen. Das Prinzip der Darstellung ist also „nichts Anderes als das der umgekehrten SprachSynchronisation“.122 Er habe einen Film machen wollen, der „Brinkmanns Gestaltungsprinzipien berücksichtigt“, sagt der Regisseur.123 Gleichzeitig sei im Grunde ein neues Genre daraus entstanden, weil seine Arbeit zunächst aus dem Tonmaterial heraus folge, das „dokumentarisch, historisch und definitiv nicht fiktiv“ sei. Die konkrete Umsetzung entspreche hingegen der eines „komplett durchkomponierten Spielfilmes“124 : Die Einhaltung von Grundregeln des Biopics wie der Präsentation des ,Werks‘ und der abschließenden Darstellung des Todes bildet selbst in diesem experimentellen Film eine deutliche formale Anknüpfung an die Konventionen des Genres. An Beispielen wie diesen lässt sich erkennen, dass das Genre des biographischen Films auch mehr als ein Jahrhundert nach der Erfindung des Kinos noch viele Möglichkeiten zur Innovation bereithält. Der in diesem Beitrag versuchte Überblick, dessen räumliche Begrenztheit eine eingehende Diskussion der Vorzüge und Probleme biographischer Darstellung im Film nicht mehr zulässt, schließt mit einem Plädoyer Robert Rosenstones für die Stärken des Biopics, in dem er gleichwohl die Defizite des biographischen Films im Vergleich mit der Subtilität und dem Detailreichtum einer geschriebenen Biographie nicht verschweigt: „Film may lack the ability to provide deep psychological insight, or extensive de122 Joachim Paech: „Die Töne und die Bilder: Brinkmanns Zorn (Harald Bergmann 2005 [sic!])“. In: Literaturverfilmung. Perspektiven und Analysen. Hg. v. Eugenio Spedicato u. Sven Hanuschek. Unter Mitwirkung von Tomas Sommadossi. Würzburg 2008, S. 183 – 195, hier S. 184. 123 Harald Bergmann, zit. nach: „Film nach Worten. Harald Bergmanns Film Brinkmanns Zorn (D 2006). Patric Blaser im Gespräch mit dem Regisseur“. In: Ikonen Helden Außenseiter. Hg. v. Mittermayer, Blaser u. a., S. 187 – 194, hier S. 188. 124 Ebd., S. 190.

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scriptions of particular intellectual or political milieus, but it can suggest with a terrifying immediacy how the past looked, and how people moved, felt, spoke and acted – in time.“125 Literaturverzeichnis Altman, Rick: „The biopic“. In: ders.: Film/Genre. London 1999, S. 38 – 44. Anderson, Carolyn u. Jon Lupo: „Hollywood Lives: The State of the Biopic at the Turn of the Century“. In: Genre and Contemporary Hollywood. Hg. v. Steve Neale. London 2002, S. 77 – 104. Anderson, Carolyn: „Biographical Film“. In: A Handbook of American Film Genres. Hg. v. Wes Gehring. Westport 1988, S. 331 – 351. Babington, Bruce: „,To catch a star on your fingertips‘: diagnosing the medical biopic from The Story of Louis Pasteur to Freud“. In: Signs of Life. Cinema and Medicine. Hg. v. Graeme Harper u. Andrew Moor. London, New York 2005, S. 120 – 131. Bartl, Alexander: „Vom Dienstmann zum Popstar. Zur Darstellung Mozarts bei Karl Hartl und Milos Forman“. In: Genie und Leidenschaft. Hg. v. Felix, S. 129 – 144. Berger, Doris: „Show me how to become a great artist: Biopics über Künstler/ innen“. In: Ikonen Helden Außenseiter. Hg. v. Mittermayer, Blaser u. a., S. 35 – 51. Berger, Verena: „Frida Kahlo – Ikone, Märtyrerin und Mythos. Filmische Künstlerporträts zwischen Mexiko und Hollywood“. In: Ikonen Helden Außenseiter. Hg. v. Mittermayer, Blaser u. a., S. 53 – 69. Berghahn, Daniela: „Sophie Scholl Biopics. Wandel im öffentlichen Gedächtnis einer weiblichen Ikone des Widerstands“. In: Ikonen Helden Außenseiter. Hg. v. Mittermayer, Blaser u. a., S. 105 – 121. Bersani, Leo u. Ulysse Dutoit: Caravaggio. London 1999 (= BFI Film Classics). Bödeker, Hans Erich: „Biographie. Annäherung an den gegenwärtigen Forschungs- und Diskussionsstand“. In: Biographie schreiben. Hg. v. Hans Erich Bödeker. Göttingen 2003, S. 9 – 63. Bordwell, David: Narration in the Fiction Film. Madison 1985. Brinckmann, Christine Noll: „Marie Antoinette (USA 2006) – eine adoleszente Zeitreise“. In: Ikonen Helden Außenseiter. Hg. v. Mittermayer, Blaser u. a., S. 123 – 139. Brownlow, Kevin: Napoleon. Abel Gance’s Classic Film. 2. Aufl. London 2004. Christie, Ian: „A Life on Film“. In: Mapping Lives. The Uses of Biography. Hg. v. Peter France u. William St. Clair. Oxford, New York 2002, S. 283 – 301. Christie, Ian: „The Life Story of David Lloyd George (1918)“. In: Fifty Key British Films. Hg. v. Sara Barrow u. John White. London, New York 2008, S. 7 – 12. Crawford, T. Hugh: „Glowing dishes: Radium, Marie Curie, and Hollywood“. In: Biography 23 (2000) H. 1, S. 71 – 89. 125 Rosenstone: „Telling Lives“, S. 108.

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Auswahlbibliographie zur neueren deutschsprachigen Biographik Wolfgang Kreutzer und Esther Marian Die Bibliographie verzeichnet ausgewählte Publikationen zur Geschichte der neueren deutschsprachigen Biographik. Sie enthält neben philologischer und sozialwissenschaftlicher Forschungsliteratur auch theoretische Studien verschiedener Disziplinen, die in der Geschichte der Biographie produktiv rezipiert worden sind und komplementiert die ausführliche Bibliographie des Bandes Die Biographie – Zur Grundlegung ihrer Theorie. Berlin 2009. Aspetsberger, Friedbert: „Metaphysische Grimassen. Zum biographischen Roman der Zwischenkriegszeit“. In: sterreichische Literatur der dreißiger Jahre. Ideologische Verh ltnisse, Institutionelle Voraussetzungen, Fallstudien. Hg. v. Klaus Amann u. Albert Berger. Wien 1985, S. 247 – 276. Berschin, Walter (Hg.): Biographie zwischen Renaissance und Barock. Zwçlf Studien. Heidelberg 1993. Bertram, Ernst: „Einleitung: Legende“. In: ders.: Nietzsche. Versuch einer Mythologie. Mit einem Nachwort v. Hartmut Buchner. 8. Aufl. Bonn 1965, S. 9 – 18 [Erstausgabe: 1918]. Bird, Stephanie: Recasting Historical Women. Female Identitiy in German Biographical Fiction. Oxford, New York 1998. Braune-Steiniger, Wolfgang: „Das Fremde im Eigenen. Zur lyrischen Biographie der achtziger Jahre“. In: Lyrikertreffen M nster. Gedichte und Aufs tze 19871989-1991. Hg. v. Lothar Jordan u. Winfried Ubesler. Bielefeld 1993, S. 250 – 271. Bridge, Helen: „Biographical Fiction by GDR Women Writers. Reassessing the Cultural Heritage“. In: Travellers in Time and Space / Reisende durch Zeit und Raum. The German Historical Novel / Der deutschsprachige historische Roman. Hg. v. Osman Durrani u. Julian Preece. Amsterdam, New York 2001 (= Amsterdamer Beiträge zur neueren Germanistik, 51), S. 155 – 165. Dilthey, Wilhelm: „Einleitung“. In: ders.: Leben Schleiermachers. Auf Grund des Textes der 1. Aufl. v. 1870 u. der Zusätze aus dem Nachlaß. 3. Aufl. Hg. v. Martin Redeker. Berlin 1966 – 1970, S. XXXV–XLV. Dilthey, Wilhelm: „Die Biographie“. In: ders.: Der Aufbau der geschichtlichen Welt in den Geisteswissenschaften. Frankfurt/M. 1970, S. 303 – 310 [Erstausgabe: 1910]. Dörfelt, Thomas: Autoren mittelhochdeutscher Dichtung in der literarischen Biographik der Siebziger Jahre. Göppingen 1989.

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Wolfgang Kreutzer und Esther Marian

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Auswahlbibliographie zur neueren deutschsprachigen Biographik

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Wolfgang Kreutzer und Esther Marian

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Künstlerbiographien der deutschen Gegenwartsliteratur“. In: Erkenntniswunsch und Diskretion. Erotik in biographischer und autobiographischer Literatur. 3. Siegener Kolloquium Homosexualit t und Literatur. Hg. v. Gerhard Härle, Maria Kalveram u. Wolfgang Popp. Berlin 1992 (= Homosexualität und Literatur, Bd. 6), S. 41 – 50. Uecker, Heiko: „Romanbiographien der Achtziger Jahre. Eine Zusammenfassung“. In: Deutsch-nordische Begegnungen. 9. Arbeitstagung der Skandinavisten des deutschen Sprachgebiets 1989 in Svendborg. Hg. v. Kurt Braunmüller u. Mogens Brøndsted. Odense 1991, S. 206 – 213. Vischer, Friedrich Theodor: „Friedrich Strauß als Biograph“. In: ders. (Hg.): Kritische G nge. 2. Aufl. München 1922, S. 217 – 279. Waas, Adolf: „,Historische Belletristik‘. Eine kritische Auseinandersetzung mit Emil Ludwig“. In: Hefte f r B chereiwesen 15 (1931), S. 177 – 189. Weiss, James Michael: Friendship and rhetoric. The development of humanist’ biographies in sixteenth-century Germany. Univ. Diss. Chicago 1980. Wertheim, Ursula: „Zu Problemen von Biographie und Autobiographie in Goethes Ästhetik“. In: dies.: Goethe-Studien. Berlin (DDR) 1968, S. 89 – 126. Wiggers, Johann Georg: Ueber die Biographie. Mitau 1777. Winkelbauer, Thomas (Hg.): Vom Lebenslauf zur Biographie. Geschichte, Quellen und Probleme der historischen Biographik und Autobiographik. Waidhofen/Thaya 2000. Wulf-Mathies, Monika: Typologische Untersuchungen zum deutschen Gelehrten-Nekrolog des 19. und 20. Jahrhunderts, dargestellt am Beispiel des Historiker-Nachrufs. Diss. Hamburg 1969. Zeller, Rosemarie: „Biographie und Roman. Zur literarischen Biographie der 70er Jahre“. In: Zeitschrift f r Literaturwissenschaft und Linguistik 10 (1980) H. 40, S. 107 – 126. Zimmermann, Christian von (Hg.): Fakten und Fiktionen. Strategien fiktionaler biographischer Dichterdarstellungen in Roman, Drama und Film seit 1970. Beitr ge des Bad Homburger Kolloquiums 2, 23.6.1999. Tübingen 2000 (= Mannheimer Beiträge zur Sprach- und Literaturwissenschaft, Bd. 48). Zimmermann, Christian von: „Biographie und Lebenslauf. Der Mythos der ,Großen Männer‘ und die biographischen Forschungen Wilhelm Ostwalds (1853 – 1932)“. In: Jahrbuch f r Internationale Germanistik/A (2002) H. 61, S. 323 – 330. Zimmermann, Christian von: „Biographik und Individualität. Überlegungen zum Problemhorizont biographischer Schreibformen“. In: Biographie als religiçser und kultureller Text/Biography as a Religious and Cultural Text. Hg. v. Andreas Schüle. Münster, Hamburg u. a. 2002 (= Literatur – Medien – Religion, Bd. 4), S. 21 – 40. Zimmermann, Christian von (Hg.): (Auto)Biographik in der Wissenschafts- und Technikggeschichte. Heidelberg 2005 (= Cardanus. Jahrbuch für Wissenschaftsund Technikgeschichte, Bd. 4). Zimmermann, Christian von: Biographische Anthropologie. Menschenbilder in lebensgeschichtlicher Darstellung (1830 – 1940). Berlin, New York 2006 (= Quellen und Forschungen zur Literatur- und Kulturgeschichte, Bd. 41).

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Wolfgang Kreutzer und Esther Marian

Zimmermann, Nina von u. Christian v. Zimmermann (Hgg.): Frauenbiographik. Lebensbeschreibungen und Portr ts. Tübingen 2005 (= Mannheimer Beiträge zur Sprach- und Literaturwissenschaft, Bd. 63). Zweig, Stefan: „Die Geschichte als Dichterin“ [1939]. In: ders.: Die schlaflose Welt. Aufs tze und Vortr ge aus den Jahren 1909 – 1941. Frankfurt/M. 1983, S. 249 – 270.