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German Pages 441 [444] Year 1996
Untersuchungen zur deutschen Literaturgeschichte Band 85
Magdalene Heuser (Hg.)
Autobiographien von Frauen Beiträge zu ihrer Geschichte
Max Niemeyer Verlag Tübingen 1996
Abbildung S. 403 mit freundlicher Genehmigung des Norman Rockwell Family Trust
Die Deutsche Bibliothek - CIP-Einheitsaufnahme Autobiographien von Frauen : Beiträge zu ihrer Geschichte / Magdalene Heuser (Hg.). Tübingen : Niemeyer, 1996 (Untersuchungen zur deutschen Literaturgeschichte ; Bd. 85) NE: Heuser, Magdalene [Hrsg.]: GT ISBN 3-484-32085-0
ISSN 0083-4564
© Max Niemeyer Verlag GmbH & Co. KG, Tübingen 1996 Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlages unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen. Printed in Germany. Satz: Johanna Boy, Regensburg Druck: Weihert-Druck GmbH, Darmstadt Einband: Hugo Nädele, Nehren
Inhalt
Einleitung
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Florence Koorn A life of pain and struggle. The autobiography of Elisabeth Strouven (1600-1661)
Barbara
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Becker-Cantarino
»Erwählung des bessern Teils«: Zur Problematik von Selbstbild und Fremdbild in Anna Maria van Schurmans »Eukleria« (1673)
24
Helga Meise Die Tagebücher der Landgräfinnen Sophia Eleonora und Elisabeth Dorothea von Hessen-Darmstadt. Höfische Ego-Dokumente des 17- Jahrhunderts zwischen Selbstvergewisserung und Selbstreflexion
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Eva Kormann »Es möchte jemand fragen, wie ich so hoch von Gott geliebt bin worden, und was mein junger Lebens=lauff gewesen«: Anna Vetter oder Religion als Argumentations- und Legitimationsmuster
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Gabriele Jancke Die m n - Q T (Sichronot, Memoiren) der jüdischen Kauffrau Glückel von Hameln zwischen Autobiographie, Geschichtsschreibung und religiösem Lehrtext. Geschlecht, Religion und Ich in der Frühen Neuzeit
Ingrid
93
Guentberodt
Autobiographische Auslassungen: Sprachliche Umwege und nichtsprachliche Verschlüsselungen zu autobiographischen Texten von Maria Cunitz, Maria Sibylla Merian und Dorothea Christiane Erxleben, geb. Leporin
135
VI
Inhalt
Magdalene
Heuser
Zwischen Kochtopf und Verstandeserziehung, Briefen und Gelehrtenautobiographie: Dorothea Friderika Baldinger
152
Petra Wulbusch Die »Jugendgeschichte« Charlotte von Einems. Ein Selbstbild, seine Brüche, Folgen und Funktionen Marion
Roitzheim-Eisfeld
Realität und Fiktion in der Autobiographie der Angelika Rosa Gudrun
175
194
Loster-Schneider
»[...] einen sehr genauen Grundriß von meinem Kopf und meinen Neigungen geben.« Autobiographische Selbstdarstellung und poetologische Selbstreflexion in Sophie von La Roches »Mein Schreibetisch« 214 Annegret Pelz Der Schreibtisch. Ausgrabungsort und Depot der Erinnerungen Chryssoula
Kambas
Zwischen Kosmopolitismus und Nation. Helmina von Chézy als Pariser Chronistin Ortrun
247
Niethammer
»Wir sind von der Natur und durch die bürgerliche Gesellschaft bestimmt, uns mit dem Kleinlichen zu beschäftigen [...]«. Formen und Inhalte von Autobiographien bürgerlicher Frauen in der Mitte des 19. Jahrhunderts Katharina
233
von
Hammerstein
Selbst - Geschichte(n) - Schreiben. Dokumente persönlicher Lebensführung und politischen Engagements einer Vormärzlerin: Louise Aston Eva Dorothea
265
285
Becker
Marie von Ebner-Eschenbach: Meine Kinderjahre (1906)
302
Eda Sagarra Dienstbotenautobiographien der Jahrhundertwende
318
Inhalt
VII
Gabriele Sommer-Krapp »[...] die Musik durfte nicht das Hauptziel meines Lebens sein.« Entscheidungssituationen und Deutungsmuster in der Autobiographie der Pianistin und Redakteurin Anna Grosser-Rilke
330
Gudrun Wedel Vom Wert der Arbeit und der Kunst. Die Lebenserinnerungen der Florentine Gebhardt
350
Michael von Engelhardt Geschlechtsspezifische Muster des mündlichen autobiographischen Erzählens im 20. Jahrhundert
368
Gisela Brinker-Gabler Metamorphosen des Subjekts. Autobiographie, Textualität und Erinnerung
393
Ruth Klüger Zum Wahrheitsbegriff in der Autobiographie
405
Personenregister
411
Verzeichnis der Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter
432
Einleitung
Das Interesse an Autobiographien/ autobiographischem Schrifttum/ Ego-Documents ist seit etwa zwei Jahrzehnten sprunghaft angestiegen und hält bis heute an. 1 Sie sind Gegenstand von Untersuchungen in verschiedenen Disziplinen der Humanwissenschaften, die je nach Forschungsinteresse stärker inhaltliche oder formale Aspekte in den Mittelpunkt rücken und je nachdem eher f ü r eine Erweiterung oder Eingrenzung des Begriffs und der herangezogenen Materialien plädieren. Das verbindende Moment dieser unterschiedlichen Ansätze bleibt jedoch das Interesse am historischen Menschen, der Ausbildung und Entfaltung seines Denkens, Wissens, Fühlens, Verhaltens, Handelns und der Ausdrucks- und Reflexionsmöglichkeiten, die er für deren Darstellung einsetzt. Z u r Autobiographie und ihrer Geschichte gibt es eine reiche und ergiebige Forschungsliteratur, in der jedoch die Autobiographik von Frauen bis in die jüngste Zeit allenfalls am Rande oder aber gar nicht berücksichtigt worden ist. 2 A u f diese Lücke hat Eda Sagarra 1 9 8 6 nachdrücklich hingewiesen und durch eine umfangreiche Bibliographie des autobiographischen
Schrifttums von
Frauen zugleich die Grundlagen zu dessen Erarbeitung geliefert. 3 Zehn Jahre später zeichnet sich ab, daß inzwischen die von Sagarra eingeforderte For-
Als Oberbegriff für interdisziplinäre und internationale Forschungsaktivitäten auf dem Gebiet des autobiographischen Schrifttums setzt sich, in Anlehnung an die niederländische Diskussion, Ego-Documents nur zögernd durch. Vgl. Egodocumenten van Noord-Nederlanders uit de zestiende tot begin negentiende eeuw. Een chronologische lijst. Samengesteid door Ruud Lindeman, Yvonne Scherf, Rudolf Dekker. Rotterdam 1993; Winfried Schulze: Ego-Dokumente: Annäherung an den Menschen in der Geschichte? In: Von Aufbruch und Utopie. Perspektiven einer neuen Gesellschaftsgeschichte des Mittelalters. Für und mit Ferdinand Seibt aus Anlaß seines 65. Geburtstags. Hrsg. von Bea Lundt und Helma Reimöller. Köln 1992, S. 417-450. Auf beiden Tagungen in Bad Homburg (1992 und 1994, s. S. 2) wurden Einwände gegen eine Einführung des Begriffs >Ego-Dokumente< geltend gemacht, da er fachspezifisch und insbesondere in der Literaturwissenschaft Verwirrung stifte. Einen informativen Uberblick über die Entwicklung der Autobiographieforschung bieten Einführung und ausgewählte Textbeispiele in Günter Niggl (Hrsg.): Die Autobiographie. Zu Form und Geschichte einer literarischen Gattung. Darmstadt 1989 (= Wege der Forschung Bd. 565); BIOS, die Zeitschrift für Biographieforschung und Oral History, informiert fächerübergreifend über die wichtigsten nationalen bibliographischen Aktivitäten, methodischen Ansätze und Ergebnisse. Eda Sagarra: Quellenbibliographie autobiographischer Schriften von Frauen im deutschen Kulturraum 1730-1918. In: IASL, Jg.l 1 (1986), S. 175-231.
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Einleitung
schung zur Autobiographik mancherorts in Gang gekommen ist. A u f dem G e biet der Quellenerschließung liegen erste Ergebnisse vor: Einzelne Texte sind neu entdeckt, 4 andere wieder editorisch zuverlässig zugänglich gemacht w o r den, 5 viele müssen textkritisch in Frage gestellt werden. 6 Die kontinuierliche Untersuchung v o n einzelnen Lebensbeschreibungen und v o n systematischen Aspekten der Autobiographik v o n Frauen wird, wie zum Beispiel an den U n i versitäten Osnabrück u n d Saarbrücken, seit Ende der achtziger Jahre auf breiterer Basis durch Seminar-, Examens- u n d Doktorarbeiten
vorangetrieben.
Mehrere Habilitationen sind in Arbeit oder bereits erschienen. 7 U n d schließlich wirken sich auch auf die Analysen und Diskussion dieser literarischen G a t tung neuere subjekttheoretische und feministische Theoriedebatten aus. 8 Es lag also nahe, den ersten Versuch einer Z u s a m m e n f ü h r u n g und Zusammenfassung der Arbeitsansätze und -ergebnisse zur Autobiographik v o n Frauen zu unternehmen. Im Herbst 1 9 9 2 habe ich zu Beiträgen f ü r einen Band u n d einer Arbeitstagung eingeladen, 9 die v o m 2 5 . bis 2 8 . Mai 1 9 9 4 im Haus der Werner-Reimers-Stiftung in Bad H o m b u r g stattgefunden h a t . 1 0 Das T h e m a w u r d e zunächst auf v o n Frauen
verfaßte Autobiographien eingegrenzt, gilt es
doch hier noch eine empfindliche Forschungslücke zu schließen. 1 1 Eine einsei-
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Margarethe Elisabeth Milow: Ich will aber nicht murren. Bd. 1.2. Hrsg. von Rita Bake und Birgit Kiupel. Hamburg 1987 (2. erw. Aufl. 1993). Magdalene Heuser u.a.(Hrsg.): »Ich wünschte so gar gelehrt zu werden«. Drei Autobiographien von Frauen des 18. Jahrhunderts. Texte und Erläuterungen. Göttingen 1994. Die Textgrundlagen der Autobiographien von Therese Forster, Henriette Herz, Karoline Schulze-Kummerfeld, Luise Wiedemann, um nur einige Beispiele zu nennen. Annegret Heitmann: Selbst Schreiben: eine Untersuchung der dänischen Frauenautobiographik. Frankfurt/M. u.a. 1994 (= Beiträge zur Skandinavistik Bd. 12); in Vorbereitung sind Arbeiten von Helga Meise, Eva Kormann und Ortrun Niethammer, vgl. die Beiträge in diesem Band. Vgl. hierzu vor allem die Beiträge von Brinker-Gabler und Loster-Schneider in diesem Band. Michaela Holdenried hat diese Ideen kurz danach ebenfalls aufgegriffen und inzwischen einen Band vorbereitet, der im Erich Schmidt Verlag nach Redaktionsschluß des vorl. Bandes erschienen ist: Geschriebenes Leben. Autobiographik von Frauen. 1995· Im Sommer 1992 habe ich an der Historikertagung in Bad Homburg teilgenommen, die entscheidende Anregungen für diese literaturwissenschaftliche Fortführung der Thematik gegeben hat; vgl. Winfried Schulze (Hrsg.): EGO-DOKUMENTE. Annäherung an den Menschen in der Geschichte. Berlin 1995. Theodor Klaiber: Die deutsche Selbstbiographie. Stuttgart 1921; Felicitas Jellinek: Die weibliche Selbstbiographie im 18. Jahrhundert. Wien, Phil.Diss. [Masch.] 1926; Kay Goodman: Die große Kunst, nach innen zu weinen. Autobiographien deutscher Frauen im späten 19. und frühen 20. Jahrhundert. In: Wolfgang Paulsen (Hrsg.): Die Frau als Heldin und Autorin. Bern, München 1979, S. 1 2 5 - 1 3 5 ; Dies.: Weibliche Autobiographien. In: Hiltrud Gnüg/Renate M ö h r m a n n (Hrsg.): Frauen Literatur Geschichte. Stuttgart 1985, S. 2 8 9 - 2 9 9 ; Dies.: Dis/Closures. Women's Autobiography in Germany Between 1 7 9 0 - 1 9 1 4 . New York u.a.1986; Sagarra: Quellenbibliographie, S. 1 7 5 - 1 8 2 ; Gudrun Wedel: Rekonstruktionen des eigenen Lebens. Autobiographien von Frauen im 19. Jahrhundert. In: Gisela Brinker-
Einleitung
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tige Orientierung der (Literatur-) Wissenschaft am männlichen Lebenslauf hat zu einer Ausblendung anderer Lebenszusammenhänge und Schreib- und Veröffentlichungspraxis - hier: von Frauen - und zu einer Kategorienbildung geführt, die nur bestimmte Typen von Autobiographik ins Blickfeld der Aufmerksamkeit rückte. Ein einseitig an literarischen Formtraditionen ausgerichteter Literaturbegriff erlaubte nur solche Vorstellungen von Bedeutsamkeit eines Lebens und Legitimation für dessen Beschreibung und Veröffentlichung, die mit dem literaturgeschichtlichen Kanon von Texten und Autoren kompatibel waren. Die verdienstvolle Monographie von Niggl dokumentiert diesen circulus vitiosus. 12 Die wenigen von ihm erwähnten Beispiele gehören in den Umkreis der sogenannten religiösen Autobiographie und damit des religiösen Schrifttums, das als mit weiblichem Anstand vereinbar galt. Daß es aber im 18. Jahrhundert auch andere von Frauen verfaßte Lebensbeschreibungen gab, lag offensichtlich außerhalb des Erwartungs- oder Interessenhorizonts. Sie werden nicht berücksichtigt. Dabei war doch bereits Herder von einem entschieden offeneren Menschenbild ausgegangen, als er seine Zeitgenossen zur Sammlung von Lebensbeschreibungen von Menschen aller Stände und beiderlei Geschlechts aufforderte: »Wie wärs, wenn man eine Sammlung solcher >Geständniße von sich selbst< machte, die die merkwürdigsten Leute von der Welt von sich gethan haben? Nicht ganze Leben, sondern nur die treffendsten Züge daraus und facta zur Erläuterung dieser Bekänntniße und Confeßionen. [...] Nur müßten es nicht blos Theologen, oder gar Schwärmer [sein], sondern Leute von allerlei Stande, Männer und Weiber, Alte und Neue.« 13 Eine Vernachlässigung der Kategorie >Geschlecht< hat sich für wissenschaftliche Untersuchungen von Autobiographien als entscheidender Fehler erwiesen; die Lebensbeschreibungen von Frauen werden entweder gar nicht erst beachtet oder aber einseitig an solchen Maßstäben gemessen, die ihnen gar nicht gerecht werden können. Lebensläufe und -zusammenhänge von Frauen unterschieden sich bis weit in unser Jahrhundert grundsätzlich (und unterscheiden sich immer noch) von denen ihrer männlichen Zeitgenossen; gerade darüber geben die überlieferten Autobiographien von Frauen beredt Auskünfte. Einseitig festgelegte Geschlechterrollen bestimmten Bildungschancen, Bewegungsspielräume, Lebensziele und -Orientierungen der Frauen in ganz anderer Weise als die der Männer ihrer Zeit, gesellschaftlichen Klasse und Ethnie. Die Perspektiven der Wahrnehmung und die Möglichkeiten der Inanspruchnahme vorgeprägter literarischer Darstellungsmuster blieben nicht unabhängig von solcher jeweils anderen Realität von Männern und Frauen. Die Autobiographik (wie die übrige Literatur) von
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Gabler (Hrsg.): Deutsche Literatur von Frauen. Bd. 1.2. M ü n c h e n 1988, Bd. 2, S. 1 5 4 - 1 6 5 . Günter Niggl: Geschichte der deutschen Autobiographie im 18. Jahrhundert. T h e o retische Grundlegung und literarische Entfaltung. Stuttgart 1977. Johann Gottfried Herder: Sämtliche Werke. Hrsg. von Bernhard Suphan. Bd. Iff. Berlin 1892 (= repr.), Bd. 18, S. 587.
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Einleitung
Frauen thematisiert und reflektiert, wie die Beiträge dieses Bandes deutlich machen, die weiblich-männlichen Geschlechterverhältnisse und deren Wandel in der Geschichte. Darin unterscheiden sich in der Regel die Lebensrückblicke der Frauen von den von Männern verfaßten Lebensbeschreibungen.14 Inwiefern gegenwärtige gesellschaftliche Veränderungen zu einer Aufnahme dieser bisher überwiegend von Frauen besetzten Thematik - der kritischen Darstellung und Reflexion der Geschlechterrollen - auch durch Männer führen wird, bleibt abzuwarten. Ein zweiter Ausgangspunkt für Planung von Tagung und Band betraf die Textsorte: Autobiographien sollten im Mittelpunkt von Einzelstudien stehen, die auf entsprechend breiter Materialbasis unter Berücksichtigung von Quellen erst die Grundlagen für die noch ausstehende Geschichte der Autobiographie von Frauen bereitstellen. Es gehört zu den genuinen Aufgaben der Literaturwissenschaft und wird durch unterschiedliche methodische Ansätze nur modifiziert, Texte und deren Inhalte unter dem Gestaltungsaspekt und im Kontext der jeweiligen Gattungsgeschichte und anderer Formtraditionen zu untersuchen. Auf diese Weise leistet sie ihren spezifischen Beitrag auch zur Sozial- und Mentalitätsgeschichte. Daher empfiehlt es sich, hier stärker zwischen den einzelnen autobiographischen Genres zu differenzieren. So ist die Autobiographie als literarische Darstellung des eigenen Lebens (oder bedeutender, größerer Abschnitte daraus) aus der Rückschau im Zwischenbereich von Realität und Fiktion angesiedelt und zeichnet sich durch einen hohen Erinnerungs- und Deutungsanteil des gelebten und beschriebenen Lebens aus. Sie hat im Verlauf ihrer Geschichte sowohl im Hinblick auf Lebensläufe und -muster als auch auf Formen des autobiographischen Gestus eine eigene Traditionsbildung entfaltet. Dabei ist sie nicht unbeeinflußt geblieben von der Entwicklung anderer vergleichbarer Textsorten — z.B. Brief, Tagebuch, Memoiren — und deren Ausdrucksmöglichkeiten. Lebensbeschreibungen bedienen sich gelegentlich solcher anderer autobiographischer Genres; Angelika Rosa hat die Form des Briefromans für die Erzählung ihres Lebens gewählt. 15 Sie werden durch andere Aufschreibeformen vorbereitet, von ihnen beeinflußt und durch sie begleitet, wie z.B. Vorreden, Diaristik, Briefe, Reiseberichte und den Bildungsroman. 16 Wir können in Einzelfällen wie bei Therese Huber die Fragmentierung von Lebensrückblick und reflexion beobachten. Und schließlich entwickeln sich andere Medien der Lebensdarstellung, wie das mündliche Erzählen als Verfahren der Oral History
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Die Geschlechterdifferenzen spielen in den Reflexionen der Lebensdarstellungen aus sog. Katastrophenzeiten, w i e i m Beitrag von Engelhardt in diesem B a n d beschrieben, k a u m eine oder gar keine Rolle; vgl. ähnliche Beobachtungen von M a g d a l e n e Heuser: Holocaust u n d Gedächtnis: A u t o b i o g r a p h i e n , Tagebücher u n d autobiographische Gedichte von verfolgten Frauen. In: O r t r u n N i e t h a m m e r u.a. (Hrsg.): Frauen u n d Nationalsozialismus. Historische u n d kulturgeschichtliche Positionen. O s n a brück 1996, S. 8 2 - 9 8 . V g l . den Beitrag Roitzheim-Eisfeld in diesem Band. Hierzu die Beiträge von Guentherodt, Meise, Heuser u n d S o m m e r - K r a p p in d i e s e m Band.
Einleitung
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und der empirischen Soziologie, 1 7 sowie Mischformen aus sprachlicher und bildnerischer Gestaltung wie bei Marie Mareks. 1 8 Die Frage, ob und inwieweit die literarische Gattung oder die Epoche oder gar das Geschlecht die Wahrnehmungsformen bricht (oder umgekehrt?), läßt sich vermutlich nicht - oder noch nicht - generalisierend beantworten. Die Spuren der überlieferten, aber zu wenig beachteten Autobiographik von Frauen durch fundierte Einzelstudien zu sichern und die verschiedenen Forschungsansätze zusammenzuführen, erschienen mir sinnvolle nächste Schritte, die durch Tagung und Band eine entschiedene Förderung erhalten sollten. Auf der Basis solcher Untersuchungen lassen sich theoretische Fragestellungen und geschichtliche Entwicklungslinien neu diskutieren und präzisieren. Darüber hinaus erweist sich erfahrungsgemäß ein wissenschaftlicher Erfahrungsaustauch auch für solche Klärungsprozesse als hilfreich, die einer Weiterführung und Vernetzung bibliographischer und editorischer Projekte dienen. Hier galt es vor allem, Kontakte zu den national orientierten Arbeitsgruppen zur Erforschung von Ego-Documents/ Lebenszeugnissen/ Autobiographischem Schriftt u m herzustellen und zu vertiefen. Die niederländische Historikergruppe u m Rudolf Dekker, die seit über zehn Jahren Ego-Documents in niederländischen Archiven und Bibliotheken erfaßt, beschrieben und bereits einzelne Texte veröffentlicht hat, ist durch Florence Koorn vertreten. 1 9 A m Institut für W i r t schafts- und Sozialgeschichte der Universität W i e n arbeitet und publiziert unter der Leitung von Michael Mitterauer eine Gruppe von Wissenschaftlern zur Erforschung und Dokumentation lebensgeschichtlicher Aufzeichnungen; T h e rese Weber hat diesen Ansatz auf der Tagung vorgestellt und vertreten. 2 0 Die folgenden Kurztexte zu den Beiträgen dieses Bandes geben die Zusammenfassungen ihrer Verfasser wieder:
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Vgl. den Beitrag von Engelhardt, sowie Kormann für das 17. Jahrhundert, in diesem Band. Marie Mareks: Marie, es brennt! Autobiographische Aufzeichnungen. München 1984. Dies.: Schwarz-weiß und bunt. Autobiographische Aufzeichnungen. München 1989. Vgl. Jürgen Limonard (Hrsg.): De vertrouwde van mijn hart. Het dagboek van Alexander van Goltstein (1801-1808). Hilversum 1994; Rudolf Dekker/Antje Dik (Hrsg.): Journal de Magdalena van Schinne 1786-1805. Paris 1994; Florence Koorn bereitet eine niederländische Neuedition der autobiographischen Texte von Elisabeth Strouven vor, die voraussichtlich 1996/7 in Hilversum erscheinen wird. Wegen akuter familiärer Belastungen sah sich Therese Weber leider außerstande, ihren Vortrag für die Publikation weiter zu betreuen. Vgl. stattdessen die Darstellung des Wiener Ansatzes von Christa Hämmerle: »Ich möchte das, was ich schon oft erzählt habe, schriftlich niederlegen...«. Entstehung und Forschungsaktivitäten der »Dokumentation lebensgeschichtlicher Aufzeichnungen« in Wien. In: BIOS, 4.Jg. (1991), H.2, S. 261—277; hierzu die Dokumentations-Reihe von Michael Mitterauer und Peter Paul Kloß (Hrsg.): Damit es nicht verlorengeht... . Wien u.a. 1984ff.
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Einleitung
Elisabeth Strouvens Autobiographie ist, wie Florence Koorn zeigt, das einzigartige Beispiel einer religiösen Autobiographie, die von einer Katholikin aus den nördlichen Niederlanden geschrieben worden ist. Ähnlich wie bei anderen religiösen Autobiographien von Frauen waren auch im Fall der Elisabeth Strouven Priester beteiligt, die sie zu schreiben drängten und nach ihrem Tod ihr Werk in einer verkürzten und veränderten Fassung veröffentlichten. Nächstenliebe (charity) ist der dominierende thematische Aspekt in ihren Schriften. Diese christliche Tugend auszuüben bedeutete für sie eine Quelle von Kampf und Schmerz; dennoch praktizierte sie diese Tugend, weil das dem Willen Gottes entsprach. Diese Art und Weise, ihre Werke der Nächstenliebe den zögerlichen Vertretern der Kirche und den zukünftigen Klosterschwestern gegenüber darzustellen, kann als Elisabeth Strouvens Strategie interpretiert werden, ihre Auffassungen vom klösterlichen Leben zu legitimieren, nämlich als Verbindung von tätiger Nächstenliebe und klösterlicher Zurückgezogenheit. Barbara Becker-Cantarino weist in ihren Ausführungen nach, daß Anna Maria van Schurman die lateinisch abgefaßte »Eukleria« als Rechtfertigung ihres eigenen Lebensweges und Verteidigung der labadistischen Gemeinde geschrieben und veröffentlicht hat, in der sie ihr früheres Leben für die Wissenschaft und Kunst als Irrweg verurteilt. Der autobiographische Gestus der »Eukleria« liegt darin, daß das Ich hier sein Selbstbild gegenüber dem Fremdbild der anderen, der etablierten Kirche und der gelehrten Welt, der das Ich früher angehörte, verteidigt und dabei den eigenen Lebenslauf, sein früheres Selbst ebenfalls zurückerinnert und kritisch beleuchtet. Die Autorin Schurman inszeniert sich nicht als hausfrauliche Martha, sondern als Maria, die dem Wort Gottes zuhört und dabei mitdenkt: Dies ist der Ort, von dem aus das autobiographische Ich spricht und seine Identität erhält (eine in der heutigen Theoriedebatte zum »autobiographischen Schreiben« unbeachtete Position). Indem sie darstellt, wie sie sich von ihrem frühen Bild losgesagt hat, erweist sich die »Eukleria« als paradigmatisch für die Identitätskrise einer Frau in der Frühen Neuzeit, auf deren Artikulation und Bedeutung besonders in dem Schlüsselerlebnis des >Bildersturzes< eingegangen wird. Der Beitrag von Helga Meise führt vor, daß Fürstinnen des 17. Jahrhunderts sich des Tagebuchs zur Selbstvergewisserung bedienten. Das Beispiel der Sophia Eleonora und Elisabeth Dorothea von Hessen-Darmstadt zeigt, wie allmählich neue Ich-Aussagen zustande kommen, die die Eingebundenheit in stände- und geschlechtspsychologische Muster unterlaufen. Insofern erscheint auch das Tagebuch als Textsorte, die die Entstehung der Autobiographie als Gattung mit anbahnt. Der Beitrag von Eva Kormann stellt die Autobiographie von Anna Vetter vor, einer Frau, die 1630 bei Ansbach geboren wurde und sich selbst als Tochter eines Schmieds und als viertes Kind ihrer Mutter einführt. Das Selbstzeugnis der Näherin und Schloßwächtersfrau ist in Gottfried Arnolds »Unparteyischer Kirchen- und Ketzerhistorie« überliefert. Es wird auf seine Argumentations- und Legitimationsmuster hin befragt und darauf, ob sich Erleben und
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Schreibintention in diese Muster fügen wollen oder ob sie sich an ihnen reiben. Religion ist das Diskursfeld der Vetter. Es erlaubt ihr den Ausbruch aus den engen Grenzen des Alltags, und es ist die »Einbruchsteile« (Niggl), an der sich eine Selbstvergewisserung über den eigenen, grenzenüberschreitenden Weg entwickeln kann, eine Selbstvergewisserung, die auch in Konflikt mit den religiösen Diskursmustern gerät. Gabriele Jancke geht der Frage nach, wie das Ich beschaffen ist, das in Glükkel von Hamelns Autobiographie artikuliert wird, und welche Rolle (jüdische) Religion und (weibliches) Geschlecht dabei spielen. Methode: Beschreibung der Autobiographie in ihren Gattungselementen sowie Situierung dieser Lebensbeschreibung als literarisches und zugleich historisches Phänomen im Kontext jüdischer Schriftlichkeit und anderer jüdischer und christlicher Selbstzeugnisse der Frühen Neuzeit. Ergebnis: Die selbstbewußte Ich-Artikulation der Glückel von Hameln als geschäftlich kompetente und religiöse jüdische Frau speist sich aus einem geschlechtsspezifischen, religiösen jüdischen Kontext. Ingrid Guentherodt untersucht autobiographische Auslassungen auf Kompensationen, die einerseits als sprachliche Umwege und andererseits als nichtsprachliche Verschlüsselungen (Zahlensymbolik) realisiert werden. Das wird in dem Beitrag exemplarisch an autobiographischen Texten von drei Wissenschaftlerinnen der Frühen Neuzeit nachgewiesen und führt im einzelnen zu neuen Erkenntnissen: Maria Cunitz, Astronomin, Maria Sibylla Merian, Insektenforscherin, und Dorothea Christiane ErxUben, geb. Leporin, Ärztin. Dorothea Friderika Baldinger hat ihre knappe Lebensbeschreibung in Anlehnung an die Tradition der Gelehrten-/ Berufsautobiographie als »Versuch über meine Verstandeserziehung. An einen meiner Freunde« verfaßt, obwohl sie selbst weder einem Beruf nachgegangen ist noch als Gelehrte gelten konnte. Die Wahl dieser nur scheinbar ungeeigneten Form erweist sich, wie Magdalene Heuser darlegt, jedoch als Glücksgriff; sie erlaubt die unerbittlich kritische Darstellung des Verhältnisses der Geschlechter am Ende des 18. Jahrhunderts, die den literarischen Rang des Textes ausmacht und ihm bis heute ein Leserinteresse sichert. Die (handschriftlich überlieferten) privaten Briefe von D.F. Baldinger an S. von La Roche und A.G. Kästner wiederholen und spiegeln Entstehungsgeschichte, Themen und Deutungen der Autobiographie. Darüber hinaus ergänzen und relativieren sie diese durch Überlegungen der Autorin zu Schreibund Veröffentlichungswünschen und -praxis sowie durch das Zugeständnis ihres »tödlichen Kummers« am Ende ihres Lebens. Dadurch wird schließlich die Kehrseite des angestrebten neuen Verhältnisses der Geschlechter in der Ehe deutlich, dem die bessere Bildung der Frauen doch dienen sollte. Im Licht der Korrespondenz erweist sich der »Versuch über meine Verstandeserziehung« auch als Kritik an einem entscheidenden Fehler der (Früh-) Aufklärung: Von gebildeten Frauen wurde weiter die Unterordnung in der Ehe und damit der Gebrauch ihrer Verstandeskräfte zu entsprechender Selbstdisziplinierung und Vernebelung gefordert. In ihrer »Jugendgeschichte« präsentiert sich Charlotte von Einem als >Landmädchen«. Petra Wulbusch analysiert Funktionen und Brüche dieses Topos. Ge-
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Einleitung
genbilder, d.h. Charakteristiken anderer Personen (Stadtbewohner, Adelige) geben dem Selbstbild Profil und lenken die Lesersympathien. Gleichzeitig weist es manchen Widerspruch auf. Die Folgen des Selbstbilds für das autobiographische Schreiben finden sich in der Schilderung der einzelnen Erziehungsphasen bis möglicherweise unter den Gründen für den Abbruch der Autobiographie. Seine Funktion besteht in der Verdeckung der tieferen Konflikte. Das Selbstbild steht zwar nicht im Widerspruch zur Verteilung der Geschlechterrollen, aber dem Bekenntnis zur Rollenkonformität korrespondiert ein gegenteiliges Handeln. Untersuchungsgegenstand von Marion Roitzheim-Eisfelds Ausführungen ist die Autobiographie der Angelika Rosa, einer bislang unbekannten Autorin des 18. Jahrhunderts, von der nur dieses eine (erst 1908 zur Veröffentlichung gelangte) Werk vorliegt. Angelika Rosa führte ein bürgerliches, aber untypisches Frauenleben: Durch Bildung und Leistung erkämpfte sie sich - überwiegend mittels ihrer Arbeit als Lehrerin und Gouvernante - ihren Platz in der Gesellschaft. Erzählweise und -form der Lebensbeschreibung weisen auf eine Orientierung an zeitgenössischen Briefromanen. Die Rekonstruierung der Biographie läßt erkennen, daß die Autobiographin sich auch auf der inhaltlichen Ebene fiktiver Elemente bedient hat, um zeitgenössischen Moralvorstellungen (Stilisierung und Rehabilitierung im Sinne traditioneller weiblicher Tugendmuster) zu genügen. Biographische Retuschen verfolgten darüber hinaus den Zweck, Rosa emotionale Entschädigung zu verschaffen für Versagungen im realen Leben. Im methodischen Rekurs auf einen klassisch-männlichen Gattungsbegriff einerseits und Theoreme moderner feministischer Literaturgeschichtsschreibung andererseits interpretiert Gudrun Loster-Schneider die >etwas andere< Autobiographie von Sophie von La Roche »Mein Schreibetisch« (1799). Indem der Text diese Andersheit strukturell ausschreibt und gleichzeitig deren Bedingungen meta-textuell reflektiert, artikuliert er als brüchiges und parodistisches Ganzes die >moderne< Ambiguität von einem kohärenten, essentialistischen Ich-Ideal und der konträren Erfahrung einer abgeleiteten, fragmentierten und prozeßhaften Identität. Der Beitrag von Annegret Pelz beschäftigt sich mit Schreibtischbeschreibungen als einer Sonderform der Schriftstellerinnenautobiographien. Der Schreibtisch, der das Autorinnenleben begleitet, wird in diesen Texten mit seinen räumlichen und zeitlichen Dimensionen zu einem Ausgrabungsort und Depot der Erinnerungen. In Analogie zu dem zur selben Zeit expandierenden Museumsgedanken als Ausdruck bürgerlichen Bewußtseins wird in den Schreibtischtexten nach den Beziehungen zwischen den musealen Techniken der Objektivierung von Vergangenheit und den Memorialtechniken der Texte gefragt. In ihnen zeigt sich ein erwachendes Autorinnenbewußtsein, das sich mit der Beschreibung des Schreibtisches ein privates Museum errichtet. Dem räumlich geordneten »Schreibetisch« der Sophie von La Roche aus dem ausgehenden 18. Jahrhundert folgt in den 30er Jahren des 19. Jahrhunderts der chronolo-
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gisch geordnete »Schreibtisch« von Caroline de la Motte-Fouqué und der »Schreibtisch« Caroline Pichlers, in einer bereits etablierten Form. Gelesen werden die Texte mit Bezug auf museumsgeschichtliche Aspekte des Sammeins und Ausstellens und auf Walter Benjamins Überlegungen zum Zusammenhang von Sammeln, Ausgraben und Erinnern. Helmina von Chézy verfaßte zwei Autobiographien. Der Beitrag von Chryssoula Kambas untersucht das jeweilige autobiographische Schema und Motive der von der Autorin selbst in die Wege geleiteten Publikationen. Sozial- und literaturgeschichtliche Faktoren (modernes Berufsschriftstellertum, Berichterstattung aus Paris, die dortige deutsche >Kolonieweiblicher< Identität in Franziska von Reventlows verschlüsselter Selbstbiographie, dem Roman »Ellen Olestjerne«, diskutiert der Beitrag von Gisela Brinker-Gabler die Beziehung weiblicher Autoren zur autobiographischen Praxis im Licht neuer Autobiographieforschung, wie sie sich im Kontext feministischer Kritik und der Post/Moderne Debatte entwickelt hat. Werden Lebensbeschreibungen ausgehend von einer traditionellen autobiographischen Praxis untersucht, die sich am >universellen Selbst< orientiert, dann läßt sich für Frauen ein Spektrum oppositioneller Subjektivität entwerfen, das vom Widerstand gegen traditionelle weibliche Identität (im historisch spezifischen Sinn) qua Anpassung an männlich bürgerliche Individualität bis hin zur >zerstücktenWahl< vgl. auch Mirjam de Baar: >En onder't hennerot het haantje zoekt te blijven.< De betrokkenheid van vrouwen bij het huisgezin van Jean de Labadie (1669—1732). In: Vrouwenlevens 1 5 0 0 - 1 8 5 0 . Jaarboek voor Vrouwengeschiedenis 8 (1987), S. 1 1 - 4 3 , bes. S. 20ff. Seit der Renaissance ist das ein Topos zur Verteidigung der nicht-häuslichen, geistigen Beschäftigung und Fähigkeiten der Frau; vgl. u.a. »Man eilet mit uns zur Küche und zur Haushaltung/ und wird manche gezwungen/ eine Martha zu werden/ die doch etwan lieber Maria sein möchte[...].« In: Sigmund von Birken: Pegnesis, Zweyter Theil begreifend Acht Feldgedichte...meist verfasset/ und hervorgegeben durch Floridan. Nürnberg: Felsenecker 1679. T. 2, S. 509. — Vgl. auch Barbara BeckerCantarino: Ehefrau. Die christliche Lehre und die rechtliche Stellung der Frau vom späten Mittelalter bis zum ausgehenden 18. Jahrhundert. In: Dies.: Der lange Weg zur Mündigkeit. Frau und Literatur ( 1 5 0 0 - 1 8 0 0 ) . Stuttgart 1987, S. 1 9 - 6 6 . Vgl. Leigh Gilmore: Autobiographies. A Feminist Theory of Women's Self-Representation. Ithaca und London 1994, S. 66 ff.; religiöse Identitität als Ort fehlt allerdings im postmodernen Diskurs.
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Barbara
Becker-Cantarino
tisch für die Identitätskrise einer Frau in der Frühen Neuzeit. Mit Identitätskrise meine ich hier die Ablehnung des Selbst (des Bildes, das das Ich von sich selbst hat oder hatte) durch das Ich (das autobiographische Ich im Text). 5 Auf die Artikulation und Bedeutung der Identitätskrise in diesem autobiographischen Text soll im folgenden besonders eingegangen werden.
1. Die moderne Theoriedebatte zur Autobiographie und Autobiographien der Frühen Neuzeit Seit mehr als drei Jahrzehnten gibt es eine immense Produktion an autobiographischen Texten aller Art und eine Theoriewelle zur Autobiographie in ihrem Gefolge, in der zunächst die Definition der Gattung bei den älteren Arbeiten, etwa von Roy Pascal oder Niggl, 6 und der Subjektbegriff 7 bei den neueren poststrukturalistischen und feministischen im Mittelpunkt stehen. Gerade die Vielfalt autobiographischer Texte der Gegenwart und die Erschließung sowie der kritische Blick auf die vielen, unterschiedlichen Autobiographien der Vergangenheit haben bewirkt, daß die ängstlichen Grenzziehungen der älteren Forschung, die immer wieder feste Kategorien für die literarische Gattung >Autobiographie< aufzustellen sich bemühten, überholt erscheinen und uninteressant geworden sind. Die Vorstellung von der »gattungsimmanenten Wahrheit« der Autobiographie 8 ist seit der Erweiterung unseres Literaturbegriffes in den 70er Jahren durch das kritische Interesse an den komplexen Fragen von Identität und Subjekt, Diskursformen und Texten, dem sogenannten autobiographischen Schreiben« verdrängt worden. Allen Theorien der Autobiographie ist jedoch gemeinsam, daß sie einen Zusammenhang zwischen schreibendem Subjekt, Leben und Text, wenn auch oft unreflektiert, annehmen. Ein autobiographisches Ich schreibt über selbst Erfahrenes und Erlebtes; es erhebt den Anspruch, im Text sein Leben zu erin-
Um in eine Identitätskrise zu geraten, muß man zuvor eine Identität gehabt haben, vgl. Erik Erikson: Insight and Responsibility. New York 1964, S. 8 1 - 1 0 7 . Mehr dazu in 4. und 5. Roy Pascal: Design and Truth in Autobiography. London 1960 (Die Autobiographie. Gehalt und Gestalt, 1965); Günter Niggl: Geschichte der deutschen Autobiographie im 18. Jahrhundert. Theoretische Grundlegung und literarische Entfaltung. Stuttgart 1977; Gattungs- und Definitionsfragen stehen auch noch im Vordergrund in: Die Autobiographie. Zu Form und Geschichte einer literarischen Gattung. Hrsg. von Günter Niggl. Darmstadt 1989 (=Wege der Forschung 565). Vgl. hierzu das auf die Theoriedebatte in der Forschung zum 18. Jahrhundert eingehende, interessante Kapitel: The Politics of Subjectivity. In: Felicity Α. Nussbaum: The Autobiographical Subject. Gender and Ideology in Eighteenth-Century England. Baltimore und London 1989, S. 3 0 - 5 7 ; und Robert Folkenflik: The Self as Other. In: The Culture of Autobiography. Hrsg. von Robert Folkenflik. Stanford 1993, S. 2 1 5 - 3 6 . Niggl: Geschichte der deutschen Autobiographie, S. 5.
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nern, selbst erfahrene Realität zu repräsentieren oder Wahrheit zu bezeugen. Als Arbeitshypothese läßt sich ein autobiographischer Text als ein solcher bestimmen (und von rein fiktionalen Texten abgrenzen), indem das Autor-Ich vorgibt, über sein eigenes Leben zu schreiben, und dieses den Lesern (mehr oder weniger) glaubwürdig erscheint. Schurmans »Eukleria« verweist schon im Titel ausdrücklich darauf, daß eine kurzgefaßte Beschreibung des eigenen Lebens im Text enthalten ist, ohne daß er jedoch darauf beschränkt ist. Das eigene Leben erscheint hier, typisch für die religiöse Autobiographie der frühen Neuzeit, im Kontext sozialer und zeitgeschichtlicher Ereignisse und im Rahmen religiöser Überlegungen und Rechtfertigung. Wie dieses autobiographische Ich als Subjekt und Autor-Ich beschaffen ist und/oder im Text fungiert, wie >erlebtes Leben< oder >Realität< oder >wahre Fakten< im Text eingeschrieben sind, wie das Verhältnis von Subjekt und Text sich darstellt, und wie das alles zu lesen und zu verstehen ist, das sind verschiedenartige theoretische Fragestellungen, die höchst unterschiedliche Antworten hervorbringen. Ein gültiges System für die Gattung Autobiographie kann nicht für alle Literaturen und alle Perioden etabliert werden. Ein neues Lesen autobiographischer Texte kennzeichnet besonders die feministische Theoriebildung, für die in etwa die Position von Domna Stanton charakteristisch ist. Stanton plädiert dafür, den (an von ausschließlich Männern einer bestimmten Epoche verfaßten Texten) erarbeiteten Begriff >Autobiographie< mit dem Neologismus »female autograph« (weiblicher Autograph) zu konfrontieren: »The exclusion of bio from autobiography is designed to bracket the traditional emphasis on the narration of a >life,< and that notions facile referentiality.« 9 Der Akt des weiblichen Schreibens, »autogynography«, wird zum wichtigsten Element erklärt; Schreiben hat eine therapeutische Funktion, das Schreiben des Ich ist ein Akt der Selbstbehauptung, das den Objekt-Status der Frau verweigert und in einen Subjekt-Status umkehrt. 10 Haben Frauen eine >andere Stimme< im autobiographischen Schreiben? 11 Wiederholt sich - nach Kristeva - der Kampf mit dem Vater im Text der Toch-
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Autogynography: Is the Subject Different? In: The Female Autograph. Theory and Practice of Autobiography from the Tenth to the Twentieth Century. Hrsg. von Domna Stanton. Chicago und London 1987, S. VII. Fragestellungen sind nicht die a-priori existierenden oder ästhetisch definierten »gültigen« Formen der »Autobiographie«, sondern das schreibende Subjekt. »Autogynography, I thought had a global and essential therapeutic purpose: to constitute the female subject [...] the graphing of the auto was an act of self-assertion that denied and reversed woman's status as object«. Stanton: The female Autograph, S. 14. - Vgl. hierzu auch: Über sich selber reden. Zur Psychoanalyse autobiographischen Schreibens. Hrsg. von Johannes Cremerius. Würzburg 1992 (=Freiburger literaturpsychologische Gespräche. 11). Mary G. Mason: The Other Voice. Autobiographies of Women Writers. In: Autobiography: Essays Theoretical and Critical. Hrsg. von James Olney. Princeton 1980, S. 207-35.
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ter unweigerlich auf der Ebene der Sprache? In den 80er Jahren gab es Stimmen in der feministischen Forschung, die eine klassische >männliche< Autobiographie mit teleologischem Verlauf konstruierten, eine Lebensbeschreibung, die aus der Perspektive des Wissenden auf die Unfreiheit der eigenen Vorgeschichte zurückblicke. Demgegenüber wurde dann einfach das Gegenteil zur erwünschten ästhetischen Form erhoben: »die weibliche Entwicklung voller Brüche und Widersprüche,« da die Entscheidung für eine bestimmte Lebensweise immer Verluste anderer Möglichkeiten impliziert. 12 Diese verengende Darstellung, die dogmatische Vorstellungen von Geschlechterdifferenz verallgemeinert, übersieht, daß bewußt oder unbewußt selektive Erinnerung, zweifelnde Rückschau, Aufwertung und Rechtfertigung oder Verdammung und Verurteilung mit ihren vielen feinen Verästelungen und Schattierungen integraler Bestandteil jeder Autobiographie ist; das Erinnerte ist der verfügbare Stoff der eigenen Lebensgeschichte, die Erinnerung ein produzierender Vorgang, dessen Artikulation immer durch eine Differenz zu vorausgegangenen Erlebnissen gekennzeichnet ist. Die Positionen individueller autobiographischer Ichs sind unterschiedlich markiert, sei es daß das eigene Leben unter dem Gesichtspunkt einer ganzheitlichen Darstellung gesehen wird oder Autobiographiebrüche thematisiert und auch im Text reflektiert werden; höchst unterschiedlich sind auch die historischen Blickwinkel. Historisch spezifische Untersuchungen haben differenzierte Aussagen zu autobiographischem Schreiben von Frauen gemacht. So hat Ulrike Prokop für die Generation der Frauen, die als Schwestern oder Bräute die Generation des Sturm und Drang begleitet haben, festgestellt, daß neben der überschwenglichen, explosiven, kritischen Haltung der Dichter-Brüder die befreundeten und verwandten Frauen stumm sind. Sie haben »nichts zu sagen,« leiden an Depressionen, weil die mit ihnen aufgewachsenen Männer, die gegen ihre Väter und die Gesellschaft rebellieren, sich den Frauen gegenüber noch konservativer zeigen; sie verachten und grenzen, so scheint es, alle Frauen aus: Frauen, die selbständig sein wollen, die (in Umkehrung der Geschlechterhierarchie) Mittelpunkt sind oder die ganz einfach teilhaben und Partner sein wollen. 1 3 Frauen der Kunstperiode schreiben, wie schon Kay Goodman festgestellt hat, 1 4 dann zwar Autobiographien, veröffentlichen diese aber in der Regel nicht oder nicht selbst.
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Vgl. Sigrid Weigel: Die Stimme der Medusa. Schreibweisen in der Gegenwartsliteratur von Frauen. Reinbek 1989, S. 146f. Ulrike Prokop: Die Einsamkeit der Imagination. Geschlechterkonflikt und literarische Produktion um 1770. In: Deutsche Literatur von Frauen. Hrsg. von Gisela Brinker-Gabler. München 1988, Bd. 1, S. 3 2 5 - 3 6 5 ; erweitert in Dies.: Die Illusion vom großen Paar. Bd. 1 : Weibliche Lebensentwürfe im deutschen Bildungsbürgertum. Frankfurt/M. 1991. Kay Goodman: Dis/Closures. Women's Autobiography in Germany Between 1 7 9 0 1914. Washington 1986.
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Demgegenüber hat die Forschung zu Autobiographien von M ä n n e r n für das späte 18. Jahrhundert gezeigt, daß autobiographisches Schreiben auf unverstellte Literarisierung der eigenen Lebensgeschichte zielt. Die Selbstbiographie dieser M ä n n e r ist »eine Geschichte des anthropologisch reflektierten und literarisch Gestalt suchenden Ich,« eine Geschichte des eigenen Herzens, u m es in Rousseaus vielzitierten Worten zu sagen: »Je sens mon cœur et je connois les hommes.« 1 5 Das klingt wie eine Parodie, und ist es wohl auch, auf Augustins vielzitierten Anfang seiner »Bekenntnisse«: »Unruhig ist unser Herz, bis es ruht in dir. Gib mir Herr, daß ich weiß und einsehe, was das erste ist - dich anflehen oder dich loben, dich wissen oder dich anflehen. Aber wer kann dich anflehen, wenn er dich nicht kennt?« 1 6 Rousseau signalisiert dagegen ein narzistisches Ich, eine Art von Selbstverständnis, die im 17. Jahrhundert noch als Vanitas und Selbstüberschätzung verlacht, als blasphemische A n m a ß u n g gegenüber göttlicher Allwissenheit und kirchlicher Autorität geächtet worden wäre. Autobiographische Schriften des 17. Jahrhunderts, und besonders die relativ wenigen von Frauen verfaßten, sind alle noch dem Rahmen der religiösen gesellschaftlichen Ordnung verhaftet, sie sind weniger ein Zeugnis der Individuation als das eines religiösen Werdegangs vor der Folie des anderen, zumeist verworfenen Weltlebens. 1 7 So wäre es verständnislos, gegenwärtige Theorien über — wünschenswertes autobiographisches Schreiben etwa im Sinne der Postmoderne - auf Texte des 17. Jahrhunderts anwenden zu wollen. Das 17. Jahrhundert kann nicht mit Theorieentwürfen und Lieblingsvorstellungen der Goethe-Zeit oder Postmoderne, zumal sie oft Ästhetik-Diktaten ähneln, verstanden oder erklärt werden; es kann lediglich verfälschend für die eigene, als Ästhetik verbrämte Ideologie vereinnahmt werden. Was aus der heutigen Autobiographie-Diskussion an Texte des 17. Jahrhunderts herangetragen werden kann, sind uns interessierende Fragestellungen. Dabei ist aber ihr historischer, sozialer, religiöser und philosophischer Kontext mit zu bedenken. Ein historisch und philosophisch-ästhetisch unseren eigenen Vorstellungen und Wertungen fern liegender Text wie Schurmans »Eukleria« muß, so meine ich, in behutsamer Annäherung an den Text und das Zeitalter erschlossen werden, wobei heutige Fragestellungen einen Einstieg ermöglichen, nicht aber eine rigide Struktur zurückprojizieren sollten in die andere, fern liegende Vergangenheit. Fragen aus der heutigen Theoriedis-
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»Ich will meinesgleichen einen M e n s c h e n in der ganzen N a t u r w a h r h e i t zeigen. Ich allein. Ich lese in m e i n e m Herzen und k e n n e die M e n s c h e n « lautet das P r o g r a m m der »Confessions« ( 1 7 8 2 - 1 7 8 9 ) . Zur W i r k u n g Rousseaus in D e u t s c h l a n d vgl. H e l m u t Pfotenhauer: Literarische Anthropologie. Selbstbiographien u n d ihre Geschichte - a m Leitfaden des Leibes. Stuttgart 1987, S. 2 9 - 5 4 . Aurelius Augustinus: Bekenntnisse. M i t einer Einleitung von Kurt Flasch übersetzt. Stuttgart 1 9 8 9 , S. 3 3 . Es gibt keine U n t e r s u c h u n g spezifisch zur deutschen A u t o b i o g r a p h i k des 17. J a h r h u n d e r t s ; zur englischen u n d spanischen A u t o b i o g r a p h i k des 17. J a h r h u n d e r t s s. A n m . 2 4 .
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kussion an autobiographische Texte des 17. Jahrhunderts lauten: Wie reflektiert das Ich >anthropologischAnthropologie