Die Bestimmung des Menschen bei Kant 9783787318445, 3787318445

Nach Kant liegt der Zweck der menschlichen Existenz in der Moral und damit der Freiheit, auf sie richtet sich unser gesa

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German Pages 628 [630] Year 2007

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Die Bestimmung des Menschen bei Kant
 9783787318445, 3787318445

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Reinhard Brandt

Die Bestimmung des Menschen bei Kant

Meiner

Bibliographische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliographie; detaillierte bibliographische Daten sind im Internet über ‹http://dnb.ddb.de› abrufbar. ISBN9783787318445

www.meiner.de © Felix Meiner Verlag Hamburg 2007. Alle Rechte vorbehalten. Dies betrifft auch die Vervielfältigung und Übertragung einzelner Textabschnitte durch alle Verfahren wie Speicherung und Übertragung auf Papier, Transparente, Filme, Bänder, Platten und andere Medien, soweit es nicht §§ 53 und 54 URG ausdrücklich gestatten. Gestaltung: Jens-Sören Mann. Satz: Type & Buch Kusel, Hamburg, Druck und Bindung: Druckhaus Nomos, Sinzheim. Werkdruckpapier: alterungsbeständig nach ANSI-Norm resp. DIN-ISO 9706, hergestellt aus 100% chlorfrei gebleichtem Zellstoff. Printed in Germany.

Inhalt

Vorrede . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

7

 Einleitung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

13

 Die Bestimmung des Menschen – ein Thema der

zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts in Deutschland, speziell bei Kant . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

57

 Der stoische Ursprung der Bestimmungsfrage . . . . . . . . . . 139  Der Mensch und die Geschichte der Menschheit . . . . . . . . 179  Kopernikus und Newton, Hypothese und Gewißheit . . . . 223  Was kann ich wissen? Was soll ich tun?

Was darf ich hoffen? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 259  Kritik der reinen Vernunft: Der Gerichtshof . . . . . . . . . . . 271  Kritik der praktischen Vernunft: Die Gegenkritik . . . . . . . 351 Kritik der Urteilskraft: Das Brückenwerk der Zwecke . . . . 393

Die Vierte Kritik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 497

Schluß . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 533 Inhaltsübersicht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 535 Anmerkungen Kapitel 1–6 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Anmerkungen Kapitel 7–10 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Literatur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Personenregister . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

539 567 595 621

Vorrede

Die sittliche Bestimmung des einzelnen Menschen und der Menschheit im Ganzen ist das dirigierende Zentrum der Kantischen Philosophie. Die drei Kritiken (1781 bis 1790) und mit ihnen die übrigen Schriften zur Anthropologie, Geschichtsphilosophie, zur Rechtsphilosophie, Ethik und Aufklärung sehen in der Beantwortung der Frage nach der »ganzen Bestimmung« oder dem Endzweck der Menschen das eigentliche Thema und Interesse unserer Vernunft und damit der philosophischen Reflexion. Diese prägnante Zielbestimmung ist nicht das Ergebnis einer isolierten Überlegung, sondern entsteht aus dem Zusammendenken vieler tradierter Systeme und avancierter Zeitgenossen; Kant stellt sich an die Spitze einer Modernisierung der deutschen Philosophie, bei der die schwerfällige Gelehrtenmetaphysik des Wolffianismus durch ein leicht handhabbares Konzept aus Logik, Physik und Ethik1 abgelöst wird; die Ethik behandelt die moralische Bestimmung des Menschen und damit den einzig unbedingten Wert. Von ihm aus wird die Philosophie organisiert; sie zeigt, »daß die Natur in dem, was Menschen ohne Unterschied angelegen ist, keiner parteiischen Austeilung ihrer Gaben zu beschuldigen sei, und die höchste Philosophie in Ansehung der wesentlichen Zwecke der menschlichen Natur es nicht weiter bringen könne, als die Leitung, welche sie auch dem gemeinsten Verstande hat angedeihen lassen.« (A 831) In diesem Sinn ist jeder Mensch Metaphysiker, der Philosoph klärt dieses Existential nur auf und verteidigt es gegen die Angriffe einer dogmatischen oder empiristisch-skeptischen Theorie. Hier liegt die einheitstiftende Idee der kritischen Philosophie, selbst die KrV wird verständlich nur von ihrem Ende her, der »ganzen Bestimmung des Menschen« (A 840), die alle Teile der Vernunft in einem Zwecksystem im Ganzen bestimmt und verlangt, daß die KrV sich als Gerichtshof begreift. Vor diesen Gerichtshof werden Thron und Altar zitiert, er ermöglicht die rechtliche Deduktion der Anwendung der Verstandesbegriffe auf Erscheinungen in Raum und Zeit (Analytik) und destruiert im | 7

Gegenzug die vorgebliche theoretische Vernunfterkenntnis von Gott, Freiheit und Unsterblichkeit (Dialektik). Wenn diese drei Gegenstände unseres Glaubens, Tuns und Hoffens aus dem Zugriff der theoretischen Erkenntnis befreit sind, dann können sie zur eigentümlichen Domäne der praktischen Vernunft werden. So wandert bei Kant das Zentrum der Philosophie von der Theorie der Schulmetaphysik zur Praxis, vom Erkennen zum Wollen, vom »Selbst denken« (Christian Wolff )2 zum »Selbst denken«, von der Frage nach der statischen Wesenbestimmung des Menschen, »Was ist der Mensch?«, zur Untersuchung seiner Zweckbestimmung in praktisch-dynamischer Hinsicht, damit aber von einer Orientierung an der Vergangenheit zum Selbstentwurf der Zukunft. Bei ihm wendet sich die Menschheit ab von der arché, dem Zeitanfang und der Herrschaft des Geburtsadels und der Erbsünde, hin zu dem, wozu der Mensch generell bestimmt ist. Kant beantwortet die Frage nach der finalen Bestimmung des Menschen so, daß sie in seiner Freiheit und moralischen Selbstbestimmung liegt, und er erweitert diese Idee vom einzelnen Individuum zur Menschheit im Ganzen; er gelangt aus der Reflexion über die Bestimmung der Menschheit zu einem einheitlichen philosophischen Begriff der Geschichte, der nicht mehr nur die Vergangenheit, sondern auch die Gegenwart und die Zukunft der Menschheit umfasst. Der Primat des Praktischen ist nicht nur ein Phänomen der Kantischen Philosophie und der zweiten Epoche der Aufklärung (1750– 1800), sondern er ist vorstrukturiert in der hellenistisch-römischen, vor allem stoischen Philosophie; der Neostoizismus löst den Aristotelismus und die Scholastik ab, die in Christian Wolffs System ihr Ende fanden. Die gemeinsamen Grundüberzeugungen der Autoren nach Wolff, nach 1750, lassen sich nur erklären durch die systematischen Konzepte, die sich Winckelmann und Rousseau, Adam Smith und Kant gleichermaßen durch die Lektüre besonders von Cicero und Seneca aneigneten, sie aktivieren ein gemeinsames Kulturgedächtnis und können sich in ihm verständigen. Der von der Bestimmungsfrage in Deutschland durchzogene Zeitraum ist die zweite Jahrhunderthälfte, 1750–1800. Es erweist sich unter diesem Aspekt als günstig, vom Hellenismus, ca. 320 v. Chr. bis kurz nach der Zeitenwende, als der ersten Moderne, und von der Überwindung mittelalterlicher Vorstellungen in der Neuzeit als der zweiten 8 | vorrede

Moderne zu sprechen; die zweite greift auf die hellenistische Moderne in vielfältigen Formen zurück, zunächst in England (Francis Bacon, Hobbes) und Frankreich (Descartes, Gassendi), erst um 1750 in Deutschland, der hier nun nachweislich verspäteten Nation. Wie sich die erste Moderne der Ideen- und Polis-Philosophie von Platon und Aristoteles entgegenstellt und den Menschen als autonomen Weltbürger konzipiert, so opponiert die zweite Moderne gegen die Binnenraum-Philosophie des Mittelalters und entwirft den Menschen als Weltbürger in vertraglich zu organisierenden Staaten. Wie die hellenistischen Schulen durchgängig von einem Primat der Lebensphilosophie vor der Theorie um ihrer selbst willen ausgehen, so drängt die zweite Moderne zunehmend zu dem Bekenntnis des »man is born for action«.3 Zugleich gilt, daß die genannten Philosophen kreative Denker sind und nach dem Vorbild der Eklektiker sich jeweils die Gedanken zueigen machen, die sie überzeugen; dazu gehört auch die antike Vormoderne von Demokrit, Platon und Aristoteles. Kant ist wie seine Zeitgenossen in diesem Sinn Eklektiker; die ungeheuren Ressourcen, über die er beim kreativen Weiterdenken der Metaphysik verfügt, kommen aus allen antiken Schulen und aus den drei modernen Ländern England, Frankreich und Deutschland. In der Antike dominieren die hellenistischen Schulen, besonders die Stoa, aber niemand ist im 18. Jahrhundert noch bekennender Stoiker wie etwa Justus Lipsius um 1600; so greift Kant auch auf platonisch-aristotelische Lehren zurück, etwa bei der Benutzung des Formbegriffs. Die kritische Philosophie ist als Philosophie der Philosophie konzipiert, sie versteht sich als Summe und Vollendung der nach ihrem Selbsterkennen strebenden Vernunft und damit als Übergang in eine im Prinzip geschichtslose Metaphysik als Wissenschaft. Eklektik ja, aber unter einem jetzt gewonnenen Vernunftprinzip. Mit der Avantgarde aus England und Frankreich, immer noch mit John Locke, dann jedoch den beiden zeitgenössischen Denkern David Hume und vor allem Rousseau wird die Modernisierung der Reflexion und die Überwindung der absolutistisch orientierten Wolffschen Metaphysik, aber im Gegenzug auch des englischen Empirismus und Skeptizismus versucht. Es gehört zur heuristischen Methode der vorliegenden Untersuchung, die Lehren und Systeme herauszupräparieren, mit denen vorrede | 9

sich die kritische Philosophie auseinandersetzte, die sie angriff oder aufgriff und weiterführte. Man kann philosophische Texte als fertige isolierte Produkte benutzen und dann über sie im je eigenen Horizont, etwa der Ontologie oder Anthropologie, verfügen; hier soll umgekehrt das Problem aufgesucht werden, auf das in der Philosophie eine Antwort gesucht wird, häufig im Rückgriff auf überzeugende Lösungen und Teillösungen, die aus verwandten Situationen schon bereitliegen. Die Rekonstruktion der Auseinandersetzungen, aus denen die Schriften, Vorlesungen und Notizen Kants entstanden, schützt wenigstens tendenziell vor Überformungen des Autors durch spätere Meinungen des Interpreten. Zu klären ist u. a., wie es möglich war, daß Kants Philosophie von den Zeitgenossen enthusiastisch begrüßt wurde, die Universitäten eroberte, daß sie sich selbst als Revolution begriff und sofort nach 1789 mit der Französischen Revolution in eine Parallele gesetzt wurde. Die Bestimmungsphilosophie ermöglicht u. a. die Apotheose der Freiheit und Vernunft auf derselben Grundlage, die in Frankreich von der Monarchie zur Republik der »vertu« und der »liberté, égalité, fraternité« führte. In der ersten Jahrhunderthälfte hätte sich jedermann mit Entsetzen abgewendet, 1789 wußte man, wovon geredet und wofür gehandelt wurde, und stimmte zu, sicher nicht aus ontologischen Gründen. Es soll versucht werden, das komplexe Reflexionssystem der kritischen Philosophie besser als bisher zu durchdringen und seine Faszination, die bis heute dauert, verständlicher zu machen. Dazu gehört, daß die klassizistische Orientierung Kants ernst genommen wird; die antiken Autoren sind im 18. Jahrhundert, also vor dem Historismus, präsente Autoritäten, an denen sich die eigenen Gedanken bemessen. Diese Präsenz wird die Interpretation Schritt für Schritt begleiten; sie will damit die Texte aus dem Oktroy späterer Verstehenshorizonte befreien und die Auseinandersetzungen Kants nicht nur auf die Konstellationen der Zeitgenossen beschränken, sondern in allen nachweislich relevanten Gedankenbezügen aufsuchen. Die Bestimmung oder auch die »ganze Bestimmung des Menschen« wurde bisher nicht als Leitidee Kants ab ungefähr 1765 entdeckt;4 die Herkunft der drei Fragen »Was kann ich wissen? Was soll ich tun? Was darf ich hoffen?« aus dem Neuen Testament (d. h. dem Hellenismus) und ihr Zusammenhang mit der Dialektik der KrV 10 | vorrede

blieb unter den je eigenen Gedanken der Interpreten verdeckt; bei der sog. kopernikanischen Wende wurde die Erde betrachtet und die Sonne vergessen, während Kant beides und damit den Menschen als Bürger zweier Welten im Blick hat. Die KrV von 1781 wurde punktuell als juridischer Traktat freigelegt, als den sie sich überdeutlich selber darstellt, aber worin beruht die Notwendigkeit der Rechtsform des Werks im Ganzen? Diese Frage wurde noch nicht gestellt. Die KpV ist als Gegenkritik konzipiert, die eine neue Willensmetaphysik auf der Grundlage des nicht kritisierbaren Machtworts des kategorischen Imperativs errichtet; die bequeme Auffassung, Kant fordere die Universalisierbarkeit unserer Maximen; unser Entschluß etwa, alle Zäune der Natur zuliebe grün anzustreichen, ist für alle Beteiligten und Betroffenen verallgemeinerbar; aber das kann nicht gut Kants reiner Wille sein. Die Universalisierungsfalle tut sich unvermeidlich auf, wenn man Kants Grundprinzip der Moralphilosophie zeitgemäß auf Menschen restringiert – daß Kant von Vernunftwesen spricht und man da mit der Universalisierung für »alle Menschen« nicht gut vorankommt, merkte schon Schopenhauer an. Die KdU erörtert in ihrem ersten Teil das ästhetische Urteil wegen seines Anspruchs auf notwendige Geltung; ohne diese postulierte Notwendigkeit gäbe es diese Kritik nicht. Schon die Romantik und Schiller nehmen diese Urteilslehre nicht mehr zur Kenntnis und eliminieren damit den Rechts- und Pflichtcharakter, den das ästhetische Urteil mit sich führt. Im zweiten Teil der KdU werden zwei teleologische Ansätze künstlich verbunden, der des Naturzwecks und der der moralischen Bestimmung. Der eine ist Gegenstand der theoretisch reflektierenden, der zweite der praktisch reflektierenden Urteilskraft. In einer bislang nicht entdeckten Mittelkomposition zeigt die Schrift den Ort des Rechtsnachweises des ersten Urteils, während das zweite so wenig einer Deduktion bedarf wie der kategorische Imperativ und das Erhabenheitsurteil. Daß auch die publizierte Einleitung der KdU den Gedanken durch die Mittelkomposition zeigt (wie David Hume in seiner zweiten Inquiry), wurde übersehen. Kant behauptet im Vorwort und in der Einleitung der KdU die Position einer Vierten Kritik, aber die Kantforschung wollte diese wiederholte Behauptung nicht zur Kenntnis nehmen, weil in den Bibliotheken nun einmal nur drei Kritiken vorrede | 11

akkreditiert sind. Nur wenn man die Metamorphose der kritischen Philosophie von 1781 (KrV) und 1788 (KpV) genau beobachtet, kann man nachvollziehen, wie es in der KdU von 1790 zum Gedanken dieser bislang unbemerkten Vierten Kritik kommen kann, nach Kant: kommen muß. In ihr steckt die nicht ausgeführte Frage der letzten Begründung und damit der Einheit der kritischen Philosophie überhaupt. Die Ausführungen verstehen sich, wie schon deutlich geworden sein dürfte, auch als Beiträge zur Kantforschung; das im Titel angekündigte Thema ist nicht genau begrenzbar, und so wird das Buch auch zu einem Kompendium von vermeintlichen oder wirklichen Entdeckungen im erweiterten Gravitationszentrum der Bestimmungsfrage. Gegenüber der reichen, höchst subtilen und detaillierten Forschung zu Kant ist schon vorweg einzuräumen, daß das hier gewagte Vorhaben nur mit »terribles simplifications« möglich ist. Wir können den Stand der Forschung nur noch peripher ermitteln und erschließen. Erich Adickes erfaßte in seiner German Kantian Bibliography (1895) 2832 Titel, der jetzige Stand beläuft sich auf ca. 34500 Veröffentlichungen.5 Teile des Buches wurden im Sommer 2005 im Wissenschaftskolleg zu Berlin vorgestellt und weiter entwickelt; im Oktober 2005 fand in Bologna eine Erörterung der juridischen Konzeption der KrV unter der Leitung von Carla de Pascale statt; im Sommer 2006 wurden ausgewählte Thesen des Buches in Halle (Rainer Enskat) diskutiert. Für vielfache kenntnisreiche Hilfe danke ich besonders Ulrike Santozki; Tanja Gloyna (Potsdam) spürte Fehler und Mißlichkeiten im fast fertigen Manuskript auf, Herr Hai-In bereinigte die Orthographie – vielen Dank.

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Einleitung

Die These der Ausführungen Die Frage nach der Bestimmung des Menschen, dem Zweck oder Endzweck meines Daseins und meines Handelns war in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts von Spalding zu Fichte und Schlegel, von Mendelssohn zu Kant, Goethe und Schiller ein Thema der Konversation, der Predigten, der Popularphilosophie und der Spekulation. Der in der Bestimmung enthaltene Zweck des »Wozu bin ich da?« ist im Gegensatz zur akademischen metaphysischen Definitionsfrage »Was ist der Mensch?« durch eine interne Spannung geprägt. Es muß ein höchstes Wesen – die Natur, Gott, die Vorsehung – geben, das den Zweck und damit den Grund des Daseins der Dinge verbindlich vorgibt und das bestimmt, wozu die Steine, die Pflanzen, die Tiere und am Ende auch der Mensch überhaupt existieren. Einzig der Mensch ist aufgerufen, seine Bestimmung zu erkennen und sie in seinem Tun und Lassen wissentlich zu erfüllen. Während die Frage »Was ist der Mensch?« nach der definierbaren Essenz des Menschen fragt,6 richtet sich die Rede von der ZweckBestimmung auf die Existenz: Wozu ist der Mensch da? Was soll er tun? Oder besser: Wozu bin ich da? Was soll ich tun? Die ontologische Wesensfrage zu stellen und zu beantworten ist Sache von Gelehrten, die ihre Erkenntnisse zwar den übrigen Menschen mitteilen können, aber an der Antwort ist eigentlich niemand interessiert, weil sich niemand außerhalb der Universitäten und der Schulen die Frage nach dem Wesen irgendwelcher Dinge oder auch des Menschen stellt. Anders unsere finale Bestimmung; wozu ich als Subjekt bestimmt bin, dies zu fragen und eine Antwort zu finden, daran ist jeder, so die generelle Auffassung in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts, originär interessiert; bei Kant ist die Erkenntnis der Aufgabe und des Zwecks seines Daseins das höchste Interesse jedes Menschen überhaupt und damit auch der Philosophie. Hier dreht sich die Frage um: Der Mensch ist nicht mehr Gegenstand einer einleitung | 13

gelehrten Definition, sondern er selbst stellt die Frage und wird zum Subjekt der Antwort. Die Gelehrten wie Christian Wolff mögen die Frage »Was ist der Mensch?« vollkommen korrekt und schulgerecht beantworten – das Dasein jedes Menschen selbst kommt in ihren Definitionen jedoch nicht vor, denn das Sein ist kein Prädikat, auf das ich durch genaue begriffliche Analyse stoßen könnte; bei der Frage dagegen, wozu ich bestimmt bin, oder, »warum es denn nöthig sei, daß Menschen existiren« (V 378,26) kann ich getrost voraussetzen, daß ich existiere, denn meine eigene Existenz bedarf keines Beweises und keines »ergo sum«. Es sei schon hier darauf verwiesen, daß Kant auch sonst die Wesensfrage zugunsten der Frage nach den mathematischen Relationen und den Kausalfunktionen der Dinge und einer erforschbaren inneren Struktur beiseite läßt. In der KrV ist von einem Fluß und einem Haus die Rede, von einem Hund und einem Teller und natürlich von Menschen; man sucht jedoch vergeblich in der kategorialen Ausrüstung des Verstandes und auch der Vernunft nach einer Möglichkeit, diese Dinge als solche zu erkennen. Kants Antwort: Wir kennen zwar nicht das Wesen und die Realessenz eines Flusses; wir können jedoch einen Gegenstand x annehmen und z. B. Funktionen des fließenden Wassers mathematisch und experimentell erkennen und damit unsere Erkenntnis dessen, was flüssig (und nicht gasförmig oder fest) ist, korrigieren und erweitern.7 Die KrV ist keine Theorie der Alltagserfahrung, sondern der wissenschaftlichen Klärung der Frage, was eigentlich notwendig als Erfahrung prätendiert werden kann und was nicht. So könnte man sagen, daß wir zwar nicht wissen, was der aus der Alltagserfahrung vorausgesetzte Mensch in seinem Wesen ist, daß sich jedoch trotzdem die Eigentümlichkeit seiner Bestimmung erkennen lässt. Genau dies ist das gegen die Scholastik gerichtete Erkenntnisverfahren der Neuzeit: Eigenschaftsund Relationenerkenntnis gegen Wesenswissen, Funktionen, nicht Substanzen können erkannt, d. h. in beliebig wiederholbarer Form demonstriert werden. Während die Wesenserkenntnis die weitere Forschung blockiert, setzt die neue Konzeption eines Gegenstandes x (Lockes »I know not what«) mit einer in die Zukunft hinein offenen Erkenntnis der im und durch das x gebündelten Eigenschaften und Relationen die Forschung frei; dies ist genau die Selbstgewinnung der modernen, bis jetzt praktizierten Wissenschaft. 14 | kapitel 

Die Bestimmungsfrage ist stoisch und entspricht den neustoischen Konsensen in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts, die von Rousseau zu Adam Smith, von Diderot zu Kant reichen. Im Einklang mit der Stoa lautet das Ergebnis der Nachfrage der Menschen, daß alles andere Seiende dieser Welt keine eigenen, in ihm selbst liegende Zwecke und Absichten hat, sondern nur für den Menschen da ist und daß nur dem Menschen eine Zweckbestimmung an ihm selbst zukommt. Seine Bestimmung ist, wie es Kant pointiert entwickeln wird, seine Selbstbestimmung. Mit dieser Pointe entfallen sogleich zwei Anwärter, die Bestimmung des Menschen auszumachen: Das hedonistische Leben (Epikur) einerseits und das rein theoretische Leben (Platon) andererseits; zum Hedonismus kann der Mensch nicht bestimmt sein, weil er sich in der Erfüllung der Bedürfnisse der außengelenkten Neigungen selbst verliert statt sich selbst zu bestimmen; zur reinen Theorie als solcher kann der Mensch nicht bestimmt sein, weil sie seine wesentlichen Lebensinteressen nicht befriedigt und sie nur einer kleinen Elite zugänglich ist, wie es Platon vorsieht. So bleibt nur der mittlere Weg der »vita activa«, der praktischen Bestimmung, übrig, die nun tatsächlich die Defizite des Hedonismus und der Theorie kompensieren und sich als die wahre Bestimmung jedes Menschen ausweisen kann. Der Übergang vom statischen objektiven Wesen der ontologischen Frage »Was ist der Mensch?« zur dynamischen, subjektbezogenen und praktischen Bestimmung markiert in der deutschen Philosophie den Weg von Christian Wolff und den Wolffianern zu Kant, oder auch von der ersten zur zweiten Phase der Aufklärung mit der Bruchstelle um 1750. Die Wolffsche Philosophie wird heute korrekt als Schulmetaphysik geführt; sie sieht die Fragen von Gott, der Welt und der menschlichen Seele, aber auch das menschliche Handeln und die Politik primär als Gegenstand der akademischen Erkenntnis. Das Handeln folgt der Erkenntnis, die entsprechend den Vorrang gegenüber der Praxis behauptet, auch wenn sie sich dieser Praxis verpflichtet weiß, wie Christian Wolff betont. Kant fragt: »Was kann ich wissen? Was soll ich tun? Was darf ich hoffen?« Hätte Wolff diese, auf die drei christlichen Tugenden des Glaubens, Hoffens und Liebens zurückdatierbaren Fragen formuliert, hätte er schreiben müssen: »Was kann der Mensch wissen? Was soll der einleitung | 15

Mensch tun? Was darf der Mensch hoffen? Und abschließend: Was ist der Mensch?« Bei Kant dagegen erscheint das dreifache, an der Antwort durch seine eigene Vernunft interessierte »Ich«, und die vierte Frage wird in keiner der Druckschriften gestellt, weil die Wesensbestimmung des Menschen obsolet geworden ist. Dies steht für Kant mindestens seit 1764 fest.8 Der Mensch ist nur als homo in spe bestimmbar, als Mensch in seiner nie endenden moralischen Selbstgenese mit dem Blick auf den einzigen absoluten Wert und Zweck, die Moral. An die Stelle der noch von Wolff kultivierten Ontologie tritt um 1750 eine Existenzphilosophie, die sich im praktischen Ich-Bewußtsein verankert weiß. Die Leitfrage unter den drei genannten IchFragen ist, das läßt sich genau verfolgen, entgegen der scholastischen Tradition die zweite: »Was soll ich tun?« Für Platon und Aristoteles und noch den Spätscholastiker Wolff ist das A und O des Menschen und damit auch der Philosophie die theoretische Erkenntnis; das wird von Platon an verschiedenen Stellen seiner Schriften ausdrücklich gesagt,9 Aristoteles wiederholt es in der Nikomachischen Ethik10 und bei Descartes und noch bei Christian Wolff setzt die praktische Philosophie die Metaphysik voraus, also die theoretische Ontologie, Theologie, Kosmologie und Psychologie.11 Die Brüche, die Kant vollzieht, sind subtil und kompliziert, weil sie immer zugleich Bruch und Bewahrung sind, weil sich die Reform im Medium der alten Metaphysik vollzieht und daher für den Außenstehenden schwer sichtbar ist. Sie beinhalten jedoch diese Zeitenwende: Fort von der letztlich noch mittelalterlichen Metaphysik zum Wagnis einer Philosophie, in der jeder die moralische Bestimmung des Menschen kennt und dem Philosophen nur die entscheidende Rolle einer Aufklärung dieser Kenntnis und der Verteidigung gegen vermeintliche Ansprüche der spekulativen Vernunft zukommt. Die Bestimmungsliteratur löst die cartesische Frage nach der Gewißheit meiner Erkenntnis durch die Frage nach dem Ziel meines Tuns ab und stellt sich ihr entgegen: Ich finde meine Identität und Bestimmtheit dezidiert nur im eigenen Handeln, das nur als selbstbestimmtes möglich ist. Entsprechend ist der Endzweck des Menschen, sich aus der animalischen Fremdbestimmung zur Autonomie »empor zu arbeiten«12 und sich gänzlich aus sich selbst in 16 | kapitel 

allem Erkennen, Handeln und ästhetischen Fühlen zu bestimmen. Diese paradoxe Selbst-Verwirklichung aus einem dafür zweckmäßig angelegten Naturfundus ist die Bestimmung und Aufgabe jedes Einzelnen und der menschlichen Gattung insgesamt. Die Folie der Bestimmungsfrage bewahrt von vornherein vor einer nihilistischen Haltung im Unterschied etwa zur Sinnfrage, die noch offen läßt, ob es einen »sensus vitae« überhaupt gibt und ob unser Dasein nicht am Ende sinn- und zwecklos ist. Die vorausgesetzte Bestimmungsmacht gleicht dem Vater in Cervantes’ Don Quijote, der drei Söhne hat und sie zu gegebener Zeit zu sich ruft und ihren Beruf und Lebensweg festlegt: Einer von ihnen soll dem König als Kaufmann dienen, der zweite im Wehrstand als Soldat, und der dritte soll Priester werden.13 Das sind die klassischen, nach den drei Ständen von Nährstand, Wehrstand und Lehrstand geordneten Lebenswege, zu denen der einzelne Mensch jeweils bestimmt wird. Wozu, so die Frage in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts, hat der Weltvater, die Natur oder die Vorhersehung oder der Weltlogos mich generell bestimmt? Welches ist mein Lebensberuf als Mensch, was soll ich hier – im Rahmen der vorausgesetzten Vernunft – nun genau tun und nicht tun? Vielleicht können wir ergänzen: Wozu bin ich als Bürger oder Mensch schlechthin bestimmt, nachdem die Orientierungsfunktion der drei besonderen Stände unter der Obhut des Königs oder des Vaters der Feudalgesellschaft zerfällt oder schon zerfallen ist und auch die Kirche mir keine überzeugende Antwort mehr gibt? Kant (gemäß einer Vorlesungsnachschrift): »Allgemein führen wir noch an: daß es ganz und gar nicht hier unserer Bestimmung gemäß ist, uns um die künftige Welt viel zu bekümmern; sondern wir müssen den Kreis, zu dem wir hier bestimmt sind, vollenden, und abwarten, wie es in Ansehung der künftigen Welt seyn wird. Die Hauptsache ist: daß wir uns auf diesem Posten rechtschaffen und sittlich gut verhalten, und uns des künftigen Glücks würdig zu machen suchen. […] Die Hauptsache ist immer die Moralität: diese ist das Heilige und Unverletzliche, was wir beschützen müssen, und diese ist auch der Grund und der Zweck aller unserer Untersuchungen. Alle metaphysische Speculationen gehen darauf hinaus. Gott und die andere Welt ist das einzige Ziel aller unserer philosophischen Untersuchungen, und wenn die Begriffe von Gott und von der andern Welt nicht mit der Moralität zusammenhingen, einleitung | 17

so wären sie nichts nütze.« (XXVIII 300,38–301,22) Wir sind der Endzweck der Schöpfung und fühlen uns dazu »berufen« (B 426), dieser unserer Bestimmung gerecht zu werden. Die Perspektive ist durch das Woher und Wohin immanent und transzendent; die »ganze« Bestimmung bezieht sich auf das Leben hier und, im moralischen Vernunftglauben, dort. »Die Hauptsache ist immer die Moralität« – die Bestimmung des Menschen kann entsprechend nicht in eine Richtung gehen, die später Kierkegaard, Heidegger oder z. B. der späte Tugendhat suchen, die Religion, das Sichsammeln auf sich selbst oder auch die Mystik.14 Nach Kant sind dies alles feine Gedanken, die aber den unbedingten Zweck unseres Hierseins verfehlen, die Moral unseres Handelns. Es kommt nicht auf Analysen des Daseins an, sondern auf die verbindliche Angabe des Zwecks unseres Hierseins; ohne gesetzliche Freiheit und Moral findet man nach Kant keine konsistente Antwort. Die Bestimmungsfrage schließt außer der Sinnfrage auch eine Spekulation über das Schicksal oder »fatum« aus. Kants Kommentar: »Es gibt indessen auch ursurpierte Begriffe wie etwa Glück, Schicksal, die zwar mit fast allgemeiner Nachsicht herumlaufen, aber doch bisweilen durch die Frage quid juris, in Anspruch genommen werden, da man alsdann wegen der Deduktion derselben in nicht geringe Verlegenheit gerät […].« (A 84). Die Bestimmung des Menschen ist deswegen nicht sein Schicksal, weil das Schicksal uns blind von außen trifft, die vernunftgeleitete Bestimmung des Menschen liegt dagegen in seiner Vernunft und Natur, in seinem internen Telos, sich selbst zu bestimmen. Und doch – zitiert Kant nicht zustimmend das stoische Diktum »Quem fata non ducunt, trahunt« (»Wen das Schicksal nicht führt, den schleppt es gewaltsam mit sich«)? Sind wir also dem »fatum« unterworfen? Zum einen ist das stoische »fatum« nicht blind, sondern ist nichts anderes als der Weltlogos.15 Zum anderen unterliegen wir unausweichlich der moralischen Vernunftbestimmung, die uns zur Selbstgesetzgebung und zum Gehorsam gegen das Selbst-Gesetz zwingt. Unsere Freiheit besteht in der Unterwerfung unter die Notwendigkeit der Vernunft. Mit dieser Selbstbastion und der mitgesetzten Realität von Gott und Unsterblichkeit sind wir vor dem blinden unvernünftigen Schicksal gewappnet; es hat in der Kantischen Welt keinen Ort. 18 | kapitel 

Der Mensch, der die Bestimmung des Menschen zum Thema seiner eigenen Reflexion macht, ist auf seine eigene Vernunft angewiesen, um die Antwort zu finden, denn die Natur oder Vorsehung sagen ihm nur, was er nach guter Prüfung aller Argumente sich selber sagt; da tritt kein Vater auf, der ihn zu sich ruft, auch die christliche Offenbarung, die man nur genau zu lesen brauche, wird nicht mehr ins Spiel gebracht, es sei denn, um im Hinblick auf ihre Vernünftigkeit (Lockes »reasonableness«) überprüft zu werden. Der Mensch also eruiert mit seiner eigenen Vernunft, wozu ihn die über alles waltende Vernunft in das Hier gerufen haben könnte. Die Antworten, die die Autoren der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts in Deutschland auf diese Frage geben, fallen unterschiedlich aus. Johann Joachim Spalding, der 1748 mit seiner Betrachtung über die Bestimmung des Menschen den Anstoß zu der Epochendebatte gab, ist, wie sich zeigen wird, konservativ; er hält an der Vorstellung fest, durch seine Vernunft erschließen zu können, was der verborgene Vater der Menschen beschlossen hat. Kant dagegen zieht die Antwort auf die vom Menschen selbst gestellte Frage noch einmal auf den Menschen zurück: Wir sind durch unsere eigene Vernunft dazu bestimmt, uns selbst zu bestimmen. Der Plan der Natur ist, paradox formuliert, daß wir uns gemäß unserer Natur von der Natur emanzipieren. Unsere Vernunftnatur bestimmt uns zum »sapere aude«, zur Freiheit und damit zur Selbstgesetzgebung. Die Formel erhält dadurch ein transitorisches Programm: Es operiert zunächst mit einer dem Menschen externen göttlichen Instanz; sie bewahrt ihn davor, in einem sinn- und richtungslosen Atomismus ins Nichts zu fallen oder an ein blindes Schicksal zu glauben. Die Antwort auf den genauen Inhalt der Bestimmung fällt dann jedoch so aus, daß die externe Instanz den Menschen auf sich selbst zurückverweist, wir also aus einer drohenden Fremdbestimmung (wie die drei Söhne durch den Vater) in die Selbstbestimmung gerettet werden. Unsere eigene Vernunft entdeckt und diktiert, wozu wir bestimmt sind und was wir hier tun sollen; aber dies geschieht nicht durch eine Selbstermächtigung, auf die wir aus eigener Willkür auch verzichten könnten. In einer Zeit, in der Rousseau seinen Staat weder christlich noch atheistisch konzipiert, sondern Gott in einer Zivilreligion als unverfügbare Macht einführt, in dieser Zeit wird in der deutschen Moralphilosophie eine ähnliche Figur entwickelt: Eine überpositive einleitung | 19

Macht wird in einer Art »invocatio Dei« gesetzt, aber nicht mit einer besonderen inhaltlichen Kompetenz ausgestattet. Die Namen »Vorsehung« oder »Gott« bezeichnen keine erkennbare Entität oder gar den Gott einer Offenbarung, sondern eine Idee, die jedoch für alles Handeln denknotwendig ist. Eben dies ist der Sinn einer Idee, der Kant objektiv-praktische Realität zuschreibt. Sie wird in der besonderen subjektivistischen Wende notwendig aus der Selbstbestimmung generiert. »Deus est in nobis«, lautet eine der Formeln der aufgeklärten Selbstfindung oder Selbsterzeugung. Es gibt keine Kantische Schrift mit dem Titel »Die Bestimmung des Menschen«, und doch läßt sich gut dokumentieren, daß Kant selbst dieses Thema häufig als das eigentliche Zentrum seiner Philosophie bezeichnet; in ihm konvergieren nach seinen Selbstaussagen die drei Kritiken von 1781 bzw. 1787, 1788 und 1790, und auf dieses Thema zielen in der Autorintention mehr oder weniger die Publikationen und Überlegungen, die neben und nach den drei Kritiken auf verschiedenen Gebieten des menschlichen Wissens entstehen. Alles Vernunftinteresse der Menschen und alle Bemühungen der Philosophie zielen letztlich, so die KrV, auf »die praktische Bestimmung des Menschen« (A 464). Der erste Satz der KrV lautet: »Die menschliche Vernunft hat das besondere Schicksal in einer Gattung ihrer Erkenntnisse: daß sie durch Fragen belästigt wird, die sie nicht abweisen kann; denn sie sind ihr durch die Natur der Vernunft selbst aufgegeben, die sie aber auch nicht beantworten kann; denn sie übersteigen alles Vermögen der menschlichen Vernunft.« (A VII)16 Um 1777 zitierte Kant wörtlich aus der Metaphysik von Aristoteles;17 er mußte wissen, daß deren erster Satz lautet: »Alle Menschen streben von Natur aus nach Wissen« – diese Feststellung wird, so vermuten wir, hier aufgenommen und gezielt umformuliert. Nicht das Streben aller Menschen nach – für Kant: theoretischem – Wissen ist das grundlegende Datum einer Metaphysik, sondern das Vernunftinteresse an der praktischen Bestimmung im Rahmen von Bedingungen, die die theoretische Vernunft nicht mehr erfüllen kann und, so fordert die autonome Moral, erfüllen darf. Der Philosoph weiß um den metaphysischen Hunger und Durst, der die Menschen umtreibt. Um welche Vernunft-Fragen, deren Beantwortung unser Erkenntnisvermögen überfordert, handelt es sich genauer? Kant be20 | kapitel 

ginnt sein ungefähr anderthalb Jahrzehnte meditiertes Hauptwerk sicher nicht ohne eine punktgenaue Zielvorstellung dieses Anfangs. Hier also liegt die erste Aufgabe des Interpreten: Worauf richten sich die offensichtlich zentralen, alles in Gang setzenden Fragen der menschlichen Vernunft, also von jedermann? Betreffen sie die beiden Themen der »Transzendentalen Ästhetik«, Raum und Zeit? Oder den Bereich der »Transzendentalen Analytik«, den Verstand, also die Urteilstafel, die Kategorientafel, die Grundsätze? Mit Sicherheit nicht, denn hier handelt es sich um spezielle Themen der Philosophie als einer Angelegenheit von Gelehrten, aber nicht um Fragen, die jeden Menschen als Vernunftwesen angehen und um derentwillen die Gelehrten ihr Geschäft betreiben. Kant sagt nicht, die Probleme der transzendentalen Ästhetik und Analytik seien mit einem Interesse der menschlichen Vernunft verbunden. Außerdem zeigt ja die KrV, daß die Bereiche von Anschauung und Verstand keineswegs »alles Vermögen der menschlichen Vernunft« übersteigen, sondern eindeutig in der Transzendentalphilosophie beantwortet werden können. Die Fragen, mit denen das Hauptwerk beginnt, können sich folglich nur auf die drei Themen der »Dialektik« beziehen, also die rationale Theologie, Kosmologie und Psychologie. Hier werden Dinge verhandelt, die nach der Überzeugung des 18. Jahrhunderts jeden interessieren und umtreiben, Gott, die Welt im ganzen und die Natur der menschlichen Seele, besonders im Hinblick auf die Unsterblichkeit. Entsprechend heißt es, daß der Mathematiker für die Auflösung dieser drei Fragen und die Erkenntnis der praktischen Bestimmung des Menschen »gerne seine ganze Wissenschaft dahingäbe« (A 463–464); es handelt sich bei ihnen um den »uns so innigst angelegenen Theil[e] menschlicher Erkenntnisse« (X 269,2–23), »die größeste Angelegenheit des Menschen, womit die Metaphysik als ihrem Endzweck umgeht« (XX 329,9–10). Und es sind notorisch die Themen und Fragen, die der alles zermalmende Kant für theoretisch unbeantwortbar hält (entgegen der Meinung der bisherigen Metaphysik, die in ihrer dreiteiligen »metaphysica specialis« gelehrte Antworten präsentierte). Nun korrespondieren den drei Bereichen der »Dialektik« die bekannten drei Fragen aus der »Methodenlehre«: »Was kann ich wissen? Was soll ich tun? Was darf ich hoffen?« In ihnen vereinige sich »alles Interesse meiner Vernunft« (A 805). Dieser Zusammenhang einleitung | 21

soll später näher erläutert werden: Die erste Frage bezieht sich ursprünglich18 auf Gott, die zweite auf unser freies Handeln in der Welt und die dritte auf die Unsterblichkeit der Seele; das kann eine nähere Untersuchung klar vor Augen führen. »Alles Interesse meiner Vernunft« soll sich in den drei Fragen vereinigen. Später wird diese Einheit in der nachgeschobenen (aber nie publizierten) älteren Frage: »Was ist der Mensch?« thematisiert werden; vorerst aber stellt Kant sich mit dem Hinweis auf die Vereinigung und Einheit in eine Tradition, die in der Einheit der moralischen Bestimmung des Menschen die einzige Möglichkeit seiner eigenen Einheits- und Identitätsfindung sieht. In der KpV heißt es z. B.: »[Die Glückseligkeit] ist die Materie aller seiner Zwecke auf Erden, die, wenn er sie zu seinem ganzen Zwecke macht, ihn unfähig macht, seiner eigenen Existenz einen Endzweck zu setzen und dazu zusammen zu stimmen.« (V 431,19–22) Ohne die Erfüllung der Vernunftbestimmung des Menschen zerfällt das Leben in eine bunte Vielfalt, und wir wissen nicht, wer wir sind. Der Mensch bedarf eines einheitlichen Endzwecks seines Daseins, um eine bestimmte, mit sich identische Person zu sein. Und diese Identität ist am Ende sein eigenes Werk, weil sie die Leitidee seines Handelns ist. Eben dies ist die Tat-Bestimmung des Menschen, nicht seine Definition, denn was er in seinem Wesen ist, ließe sich – wenn es möglich wäre – nur erkennen, nicht aber selbst bewirken. Die antischolastische Frage lautet: Was soll ich tun, um ich selbst zu sein? Die KrV und damit die gesamte kritische Philosophie entspringen in der Selbstdarstellung des Autors einer existentiellen praktischen, nicht einer akademisch-spekulativen Aufgabenstellung. Demokrit, der Atomist und Zeitgenosse Platons, schrieb, er wolle lieber eine einzige ursächliche Erklärung finden, als daß ihm das Perserreich zueigen werde,19 dieselbe Hochschätzung der Theorie um ihrer selbst willen äußern Platon und Aristoteles.20 Nach Kant dagegen gäbe, wie wir sahen, der Wissenschaftler par excellence, der Mathematiker, für die Erkenntnis der praktischen Bestimmung des Menschen gerne seine ganze Wissenschaft dahin, vermutlich eine bewußte Gegenpointe zu Demokrits tradierter Äußerung. Zur Bestätigung kann eine Passage aus dem Nachlaßwerk dienen: »Der Zweck den die Vernunft mit der Mathematik hat ist sie als das Ausgebreitetste und sicherste Instrument zu jeder technischen Absicht 22 | kapitel 

(der Kunst) in seiner Gewalt zu haben also irgendeinen Nutzen für Objecte der Sinnlichkeit. – Ein besserer Mensch zu seyn oder zu werden liegt nicht in diesem Plane und obgleich jede Cultur der Vernunft vornehmlich je reiner und dem Einfluß der Sinne aufs Begehrungsvermögen unabhängiger sie ist den Geist zum Denken überhaupt stärckt so bleibt es doch unbestimmt welchen Endzweck die Vernunft ihm anweise und an dem vollendetsten Mathematiker hat man nicht den mindesten Grund einen moralisch/besseren Mensschen anzutreffen […].« (XXI 244,2–11) Die Klärung spekulativer Probleme ist nur ein Mittel, die praktische Bestimmung des Menschen vor theoretischen Zweifeln und Einwänden zu bewahren. Ein Eigenwert kommt ihnen entschieden nicht zu, und zwar sowohl in der philosophischen Spekulation wie auch psychologischempirisch: Die Frage, wozu er in diesem Leben bestimmt ist, findet der Wissenschaftler spannender und wichtiger als die Lösung eines Problems seiner speziellen Disziplin, womit jedoch über die interne Autonomie und Interesselosigkeit der theoretischen Erkenntnis als solcher nichts gesagt ist.21 Die KrV sieht ihr eigenes Zentrum also in der praktischen Vernunftbestimmung des Menschen, in deren Dienst die gelehrten Untersuchungen über Anschauung und Verstand unternommen werden. Ihr Ergebnis ist nur negativ, wie es zunächst heißt. Zunächst, denn diese Auffassung wird nach 1781 geändert und passt nicht mehr, wie wir sehen werden, in die Selbstinterpretation von 1790, in der die KrV umstilisiert wird zu einer »Kritik des Verstandes«. Diese ist der Theorie gewidmet, sie steht jedoch nach wie vor unter der Ägide der Bestimmungsfrage, die nun in anderen Teilen der Philosophie thematisiert wird. Am alles bestimmenden Ende der KrV wird im Architektonikkapitel gesagt, Philosophie sei »die Wissenschaft von der Beziehung aller Erkenntnis auf die wesentlichen Zwecke der menschlichen Vernunft (teleologia rationis humanae), und der Philosoph ist nicht ein Vernunftkünstler, sondern der Gesetzgeber der menschlichen Vernunft.« (A 839) Ohne den mosaischen Tiefsinn dieses Satzes ausloten zu wollen, greifen wir die Formel von der Teleologie der menschlichen Vernunft heraus: Wenn die gesamte kritische Philosophie unter der Zweckidee der Bestimmung des Menschen steht, dann muß sie final auf diesen Zweck hin organisiert sein; die Vernunftnotwendigkeit, die sich in ihr geltend macht, hängt nicht an einleitung | 23

zielblinden Demonstrationen, sondern an strategischen Überlegungen der Zielerfüllung. Wenn gesagt wird, Gedanken ohne Inhalt seien leer, Anschaungen ohne Begriffe seien blind (A 51),22 dann können sich die Gedanken der kritischen Philosophie selbst keinen Inhalt in einer Anschauung suchen, sondern bedürfen eines anderen Kriteriums oder dirigierenden Zentrums: Eben dies läge gemäß der Teleologie der menschlichen Vernunft in der Bestimmung des Menschen und damit im höchsten Vernunftinteresse. Verfolgt man die wahrhaft halsbrecherischen Kantischen Beweise, man denke an so spekulative Begriffsbewegungen wie die in der Erhabenheitsanalyse der KdU, dann kann die Annahme erlösend zu sein, daß über Gelingen und Misslingen der Zweck des Ganzen entscheidet. Es heißt z. B., die praktische Freiheit sei angewiesen auf den theoretischen Nachweis der transzendentalen Freiheit im negativen Sinn;23 aber was geschähe, wenn einerseits der kategorische Imperativ ein Faktum des Bewusstseins ist und andererseits die Transzendentalphilosophie die Meinung, wir seien frei, als Illusion erwiese, so wie es z. B. David Hume tat? In der »teleologia rationis humanae« ist offenbar die theoretische Vernunft a priori auf das praktische Ziel gerichtet und erfüllt das Desiderat der praktischen Vernunft so, wie die Postulatenlehre der KpV die objektive praktische Realität von Gott und Unsterblichkeit nur auf Grund des Bedürfnisses der reinen praktischen Vernunft nachweist. Die Definitionsfrage »Was ist der Mensch?« ist ein Problem der Erkenntnis; die Bestimmung des Menschen führt dagegen auf eine weitere epistemische Komponente, die des Bewusstseins. Der Mensch kann sich seiner Bestimmung genau bewußt sein, auch wenn er sie nicht wie der Philosoph klar und deutlich zu erkennen vermag. Im Bewusstsein bin ich selbst engagiert, es teilt sich meinem ganzen Dasein mit und kann als Selbstgefühl gespürt werden; die Erkenntnis dagegen bewegt sich von vornherein auf dem ichneutralen Gebiet austauschbarer Propositionen. Mit der Dominanz der praktischen Philosophie und der Bestimmungs- und Zweckfrage meines Daseins muß notwendig die Rückbindung der Erkenntnis an das agierende Subjekt wachsen und damit der Bewußtseinsbegriff gegenüber der rationalistischen Schulmetaphysik an Bedeutung gewinnen. Hierzu gehört auch die neue Relevanz des Interesses, das zum höchsten Bereich in der kritischen Philosophie 24 | kapitel 

avanciert; an der Bestimmung unseres Daseins nehmen wir notwendig ein Vernunftinteresse und sind somit immer schon latente Metaphysiker, denn über dieses Vernunftinteresse hinaus gibt es auch keine Philosophie mehr. Die Vorläuferfigur des Interesses ist die stoische »cura«, Lockes »concernment«, die Selbstsorge des Menschen und Lebewesens. Die Frage nach der Bestimmung des Menschen ist Kant vorgegeben; sie bildet ein zentrales Motiv der zeitgenössischen deutschsprachigen Literatur, aber sie ist schon vertraut als Thema der stoischen Philosophie. Wozu sind wir geboren,24 welches Ziel hat uns »die« (nicht »unsere«) Natur gestellt, fragen die Stoiker und erblikken in der Beantwortung dieser Fragen Zentrum und Ziel ihrer Bemühung, auch in der Theorie, denn alle theoretische Bemühung folgt einer praktischen Zwecksetzung. »Die« Natur gerät in der stoischen Philosophie zu einem Gesamtsubjekt, das es weder bei Platon noch Aristoteles gibt; »die« Natur ist geistdurchwirkt, sie ist göttlich und identisch mit der Vorsehung. Es ist kein Zufall, daß sich in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts ein Neostoizismus ausbreitet und den Platonismus und Aristotelismus verdrängt; die Stoiker geben mit ihrer teleologischen Vorsehungsphilosophie, ihrem Kosmopolitismus, ihrer Naturapotheose und ihrer Selbst- und Existenzphilosophie entscheidende Vorlagen für die Selbstkonzeption und die Orientierung in einer neuen Menschheitssituation, in der alte Einhegungen von Thron und Altar zerfallen und der nachdenkende Mensch den Zweck seines Daseins und Handelns selbst bestimmen muß. Die hellenistischen Ideen konnten mutatis mutandis neu verwendet werden, von Rousseau so gut wie von Kant. Die systematische Ausgestaltung jedoch im Netz eigenständiger Probleme der überkommenen Metaphysik, etwa der neuzeitlichen Positionen des Rationalismus (Leibniz, Wolff ) und des Empirismus (Locke, Hume), und der Entwurf eines dynamischen, progredierenden Welt-, Rechts- und Erkenntnissystems, das sind Kants eigentümliche Leistungen, die den Übergang aus einer eher traditionalistischen Denkweise in eine moderne markieren. Die Bestimmungsphilosophie der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts leistet einen entscheidenden Beitrag bei der Überführung der christlichen Offenbarungsreligion in eine universalistische Moralphilosophie. Man nehme folgende eher marginale Bemerkung einleitung | 25

Kants in der »Kritik der ästhetischen Urteilskraft«: Die bloße Rhetorik und Beredsamkeit könne »weder für die Gerichtsschranken, noch für die Kanzeln angerathen werden. Denn wenn es um bürgerliche Gesetze, um das Recht einzelner Personen, oder um dauerhafte Belehrung und Bestimmung der Gemüther zur richtigen Kenntniß und gewissenhaften Beobachtung ihrer Pflicht zu thun ist: so ist es unter der Würde eines so wichtigen Geschäftes, auch nur eine Spur von Üppigkeit des Witzes und der Einbildungskraft, noch mehr aber von der Kunst zu überreden und zu irgend jemandes Vortheil einzunehmen blicken zu lassen.« (V 327,9–17) Die Prediger auf den Kanzeln unterrichten die Bürger über ihre Pflichten und sonst nichts! Es ist dies die Quintessenz auch der Religion innerhalb der Grenzen der bloßen Vernunft (1793). Was in Frankreich zur selben Zeit mit einem starken antichristlichen Affekt in die Tat umgesetzt wird, fordert Kant als innere Konsequenz des Christentums selbst. Spalding schrieb als Kirchenmann 1748 von der Bestimmung des Menschen, ohne der Erlösungsreligion noch eine Funktion zuzubilligen und sie in den ersten Auflagen auch nur zu erwähnen. Die stoisierende Vernunftreligion ließ sich als Fortentwicklung und Aufklärung des eigentlichen christlichen Gedankens fassen. Die Lehre von der Erbsünde, von der uns Christus erlösen sollte, war obsolet geworden unter der aus England kommenden Selbst-Philosophie: Man kann nicht gut von Sünden erlöst werden, die man nicht selbst begangen hat. Damit ist der Kreuzestod liquidiert; es kommt nun darauf an, die christliche Kirche friedlich in eine Schule der Moral zu verwandeln. Der Glaube, so lehren Spalding und auch Kant, ist ein Folgephänomen der Moral, er ist nicht umgekehrt deren Voraussetzung, wie die Kirche wollte. Gegen diese stille Umkehr von Grund und Folge hatte die Orthodoxie keine guten Argumente, und bis zur Romantik konnte die Vernunft ihren Primat behaupten. Mit einem späteren Begriff: Spalding und Kant treiben Ideologiekritik, indem sie den Menschen aus der subtilen paternalistischen Fremdherrschaft befreien und zur praktischen Selbstbestimmung führen. Das Thema der Bestimmung des Menschen gehört ursprünglich zur Popularphilosophie, wie nachher dokumentiert werden soll; die Einbettung dieser jedermann zugänglichen Frage in höchst gelehrte Untersuchungen ist ein Charakteristikum der Kantischen Philoso26 | kapitel 

phie, die den Riß zwischen exoterischer und esoterischer Reflexion überbrückt und so im Gegensatz etwa zur Philosophie von Platon, Aristoteles, von Descartes und Leibniz das Versprechen enthält, in ihr werde die Sache aller Menschen überhaupt verhandelt; jedes »Ich« stellt selbst die Fragen, die Kant anfänglich aufruft und zum Leitmotiv seines Werks macht. Die KrV zeigt, daß die überkommene Philosophie auf Irrtümern beruhte; daher tritt Kant als Alleszermalmer auf. Auch hier gibt es die Vorzeichnung in der hellenistischen Philosophie, die entschieden und explizit für die Bestimmung des Zwecks unseres Daseins entwickelt wird und die theoretische Fragen wie die der Logik, der Erkenntnistheorie oder Kosmologie nur zum Abweis von Systemen behandelt, die andere Lebensorientierungen aufweisen wollen, so die Stoiker gegen die Epikureer und Skeptiker, die Skeptiker gegen die Stoiker und Epikureer und diese gegen Stoa und Skepsis. Kant gibt dem durch die römisch-stoische und die zeitgenössische Literatur vorgegebenen Thema eine besondere Wende. Sie liegt erstens in der Zuspitzung darauf, daß der Mensch zur Selbstbestimmung bestimmt ist und daß dies impliziert, daß er auch seine Bestimmung selbst schon bestimmt, denn über die Bestimmung kann und soll nur die allgemeine, ergo auch eigene Vernunft befinden. Die zweite, schon kurz genannte Zuspitzung liegt in der Ausweitung vom Individuum zur Menschengattung, von der Einzelexistenz zur Menschheit in ihrer Geschichte.25 Es ist die Aufgabe des Philosophen, nicht nur zu erforschen, wozu genau der Einzelne in seinem Leben bestimmt ist, sondern auch, den Zweck der Menschheitsgeschichte zu benennen. Die Zuspitzung der Bestimmung zur Selbstbestimmung radikalisiert die alte Autonomie-Formel, gemäß der der Weise sich selbst das Gesetz sei. Die Ausweitung zur Bestimmung der Menschheit im ganzen nimmt Motive von Rousseau auf, wendet sie jedoch in eine moralische Fortschrittsgeschichte, die den Blick von der Vergangenheit und Gegenwart in die Zukunft richtet, vom Betrachten und Rousseauschen Lamentieren fort ins vernunftgeleitete Handeln.26 Daß hier die Aufklärungsformel, das erneuerte Fanal des »sapere aude« stillschweigend immer schon einformuliert ist, versteht sich von selbst. »Sollen wir den wahren Menschen in den Wäldern von Nordamerika suchen?«27 Diese Frage von Isaak Iselin beantwortet (idealeinleitung | 27

typisch) Rousseau mit Ja, Kant (wie Iselin) mit Nein. Nach Rousseau erzeugt der Mensch in der Gottesschöpfung Unheil und ruiniert und verliert sich selbst, nach Kant ist es dagegen seine nie endende Bestimmung, sich aus der Tierheit der Natur emporzuarbeiten und sich selbst zu bestimmen. Entsprechend dieser den Urwäldern abgewandten Richtung benutzt Kant die Rede vom »wahren Menschen« nie in seinen publizierten Schriften: Den wahren Menschen gibt es nicht, weder am Anfang der Geschichte noch am nie erreichten Ziel. Die Pflanzen und Tiere haben den Zweck, geschichtslos in einem individuellen Lebenszyklus zu entstehen, zu blühen und zu vergehen und die ihnen in der großen Symbiose der Natur zugedachten Funktionen zu erfüllen, deren Zweck nicht (wie bei Platon und Aristoteles) in ihnen, sondern immer außerhalb ihrer liegt. Die Autonomie, zu der nur der Mensch von der Natur bestimmt und befähigt ist, transzendiert dagegen die Natur; sie ist eine dynamische Aufgabe der Selbstfindung und Selbstverwirklichung des Vernunftwesens Mensch durch die eigene Vernunft. Durch die Erweiterung der Frage nach dem Wozu der Existenz des menschlichen Vernunftwesens vom Individuum zur Menschheit im ganzen gewinnt die Bestimmungsfrage zwei Formulierungen und zwei Adressaten, jeden einzelnen und alle insgesamt; es wird sich zeigen, daß die beiden Bestimmungen teils konvergieren, teils aber in einen Konflikt geraten, der nur mit dem nicht erlebbaren Ende der Geschichte aufgehoben würde. Der einzelne ist dazu bestimmt, sich von den Einflüsterungen der Neigungen bei der Handlungsentscheidung zu befreien und dem Moralgesetz seiner eigenen Vernunft zu folgen, die Menschheit im ganzen ist dagegen bestimmt, die bisherige Naturgeschichte der Gattung endlich in eine Geschichte der Menschen selbst nach dem Prinzip rechtlicher Autonomie zu verwandeln. Beide sind dazu bestimmt, sich ihre Vernunftbestimmung zueigen zu machen und endlich mündig zu werden und sich des eigenen Verstandes zu bedienen. Die Gattungsbestimmung führt jedoch im Konfliktfall dazu, daß das Individuum zum bloßen Mittel der Verwirklichung des Gesamtzwecks, der menschheitlichen Selbstbestimmung, wird, denn die kollektive Vorsehung oder Natur verfährt zur Erreichung ihres Ziels rein utilitaristisch, ihr heiligt der Zweck jedes Mittel, der Einzelne dagegen ist distributiv zum Handeln un28 | kapitel 

ter der strikten Bedingung der Gesinnungsethik bestimmt: Er soll jedes Mittel prüfen, ob es den Kriterien der Sittlichkeit gerecht wird oder nicht. In diesem Kontrast kooperieren und konfligieren zwei Subjekte; auf der einen Seite ist es die zweckorientierte providenzielle Natur, die die Menschheitsgeschichte mit der entfesselten Ehrsucht, Herrschsucht und Habsucht, des Willens zur Macht eines jeden gegen alle anderen vorantreibt, auf der anderen Seite steht das singuläre menschliche Subjekt, das seine Handlungen einer strikten Mittelkontrolle und Moral unterwerfen soll. Diese Natur, dieser Naturdämon, nimmt an der moralischen Qualität der Handlungen einzelner Menschen keinerlei Interesse, und entsprechend ist unsere moralische Anstrengung oder Korruption im privaten oder öffentlichen Leben für die Menschheitsgeschichte völlig belanglos. Kant liefert die Diagnose einer schizophrenen Welt: Auf der einen Seite steht die liberale Konkurrenzökonomie, in der der einzelne agierende Mensch verdinglicht und einer von keinem greifbaren Subjekt beherrschten Gesetzmäßigkeit unterworfen ist, auf der anderen Seite fordert der kategorische Imperativ ein Moralverhalten, von dem die progredierende Ökonomie keine Notiz nimmt. Nur der Vernunftglaube an Adam Smiths »unsichtbare« (bei Schiller: »stille«)28 Hand der Vorsehung schützt vor dem Blick in den Abgrund. Auf eine andere Weise als beim singulären Individuum und der Gattungsgeschichte treten Natur- und Vernunftbestimmung bei bestimmten Menschentypen auseinander. Es sind die Farbigen und die Frauen. Neben der bisher genannten Vernunftnatur, die den Menschen und die Menschheit zur moralischen Selbstbestimmung bestimmt, gibt es eine andere, eine biologische Natur, die einen Teil der Menschheit, numerisch den weitaus größeren, zu einem anderen Dasein, wenigstens nicht zur Selbstbestimmung bestimmt. Eine Frau ist weder zur wissenschaftlichen Erkenntnis befähigt noch zur sittlichen Autonomie und bürgerlichen Selbständigkeit, und daßelbe gilt im großen ganzen für die farbigen Rassen oder gar alle Nichteuropäer; hierauf ist einzugehen, auch um den Preis, daß damit in das frohgemute Bild der Kantpublizistik düstere, uns heute abstoßende Farben eingetragen werden. Wenn von der Bestimmung des Menschen gesprochen wird, ist immer zugleich ein Ganzes mitgesetzt, von dem die Bestimmung einleitung | 29

ausgeht und innerhalb dessen sie spezifizierbar ist; es ist in concreto zunächst das Ganze einer finalistisch konzipierten Welt im Diesseits und Jenseits, aber auch der Natur, in der alles wie in einem Organismus seine zweckbezogene Funktion hat und des näheren gefragt werden kann, welches die besondere Bestimmung des Menschen sei – und nicht einer anderen Tiergattung oder einer Pflanzensorte. Also: Das Stichwort der Bestimmung führt in ein holistisches Konzept, welches die speziellen Ausführungen stets im Auge behalten müssen. Es ist wichtig zu sehen, daß die Kantische Philosophie überhaupt meist von einem Ganzen ausgeht, das sie dann im Lauf der Untersuchung (zirkulär?) als wirklich erweist. Ein Beispiel: Die »Rechtslehre« (der erste Teil der Metaphysik der Sitten) beginnt mit dem Rechtsbegriff, bezieht ihn jedoch auf ein Ganzes von Gesetzen, innerhalb deren er überhaupt denkbar ist. Thomas Hobbes dagegen führt den Rechtsbegriff ein als eine Qualität, die dem Individuum zukomme, das in bestimmten Situationen nicht anders handeln könne als mit einer Abwehrreaktion; eine Handlung, die man nicht vermeiden könne, müsse erlaubt sein, zu ihr habe man ergo ein Recht.29 Bei Kant realisieren die Rechtspersonen das Ganze, aus dem und zu dem sie als Personen bestimmt sind, bei Hobbes dagegen haben alle ein Recht gegen alle und lassen sich nur mit angedrohter Gewalt in ein friedliches, von allen notwendig gewolltes Ganzes eingliedern. Wir werden versuchen nachzuweisen, daß die kritische Philosophie von einer derartigen teleologischen Gesamtvision geleitet ist, auch dann, wenn sie dieses Ganze nicht thematisiert. Sie ist entschieden finalistisch, nicht atomistisch und physikalistisch; Kants Philosophie sucht dieses zweckhafte Ganze in seinem finalen System zu rekonstruieren und als den eigentlichen Zielpunkt der Philosophie und der menschlichen Vernunft überhaupt aufzuzeigen – hier liegt die »Seele des Systems« (IV 374,11–12) und das Zentrum seiner Philosophie und der Vernunft selbst: in der selbstbezüglichen »teleologia rationis humanae« (A 839). Der Mensch ist moralischer Endzweck und der letzte Zweck der Natur; das ganze Universum ist auf ihn, den einzigen Vernunft-Bewohner des Erdplaneten, ausgerichtet, nichts anderes in dieser Welt hat eine eigene Bestimmung, sondern fungiert nur als Mittel für ihn, den Menschen. Kant vertritt einen radikalen Anthropozentrismus und rettet aus dem Selbst des Menschen zugleich wiederum 30 | kapitel 

das zweckhafte Ganze. Deswegen greift die Vorstellung vom Subjektivismus der kritischen Philosophie um die Hälfte zu kurz; denn das Selbst des Menschen ist nicht subjektiv, sondern im höchsten Maße objektiv, so objektiv, daß es im Praktischen durch keinen Gott übertrumpft werden kann. Um dies zu zeigen, soll die sog. kopernikanische Wende, von der die »Vorrede« der 2. Auflage der KrV spricht, genauer untersucht werden; in ihr wird die Erdposition der Erscheinungserkenntnis des Verstandes relativiert, aber nur, um die Sonnenposition der reinen praktischen Vernunft und damit der Moral zu verabsolutieren. Hier ist jeder Mensch »roi soleil« und keinem Gott in seiner Gesetzgebung untertan. Die Bestimmung des Menschen führt auf seine eigene Nobilitierung. Die Spannung zwischen dem häufig kläglichen Sein und der seelenerhebenden Bestimmung, die den Menschen hinaufreißt in die eigentliche Aufgabe seines Hierseins, liegt schon im Zweck seiner Existenz. Der Bürger, der in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts nach seiner Bestimmung fragt, nimmt die Stafette der Aristokratie auf und adelt sich selbst; zur moralischen Selbstbestimmung bestimmt, ist er keiner Macht auf Erden unterworfen, seine Souveränität entspringt keiner schwer durchschaubaren Vergangenheit, sie ist nicht absolutistisch, sondern steht unter dem selbstgegebenen Vernunftgesetz, das gleichermaßen für alle anderen Vernunftwesen gilt. Dieses Bewusstsein der gleichen Freiheit unter Gesetzen führte von den Anfängen der Bestimmungsfrage hin zur Rede vom Enthusiasmus der Revolutionierenden und aller Zuschauer der Französischen Revolution. Wir können schon hier sehen, daß im Thema der Bestimmung des Menschen unterschiedliche Stränge der Philosophie verbunden, vielleicht auch nur gebündelt werden; Kant widmet der Einheit der schon genannten Bereiche keine besondere Untersuchung. Moral als Selbstbestimmung, die Geschichtsidee der Menschheit, die Rechtsphilosophie, die der Moral entspringt und den Leitfaden für die Geschichtsphilosophie abgibt, des weiteren die Erkenntnistheorie in der KrV, in der der Mensch als Gesetzgeber der Natur fungiert, also selbst die – doch gegebenen – Quellen, den Umfang und die Grenzen seiner Erkenntnis bestimmt. Diese heterogenen Bereiche werden unter den Stichwörtern der Bestimmung des Menschen, der Selbstbestimmung, der Selbstgesetzgebung und Selbstaffektion einleitung | 31

behandelt, die Thematisierung der Einheit und internen Struktur dieser Bereiche ist jedoch Aufgabe des Interpreten, die jetzt auf Grund zahlreicher Forschungen besonders der letzten Jahrzehnte besser lösbar ist als früher. Ein Beispiel ist die Rechtsphilosophie, die erst in den letzten Jahrzehnten des vorigen Jahrhunderts eine angemessende Beachtung fand. Hiermit konnte der Blick frei werden für den Befund, daß die gesamte KrV von einem juridischen Vokabular durchdrungen ist. »Man kann die Kritik der reinen Vernunft als den wahren Gerichtshof für alle Streitigkeiten derselben ansehen; denn sie ist in die letzteren, als welche auf Objekte unmittelbar gehen, nicht mit verwickelt, sondern ist dazu gesetzt, die Rechtsame der Vernunft überhaupt nach den Grundsätze ihrer ersten Institution zu bestimmen und zu beurteilen.« (A 751) Die KrV ist das Ende des Naturzustandes und des Absolutismus Hobbesscher Prägung, sie ist der Gerichtshof der Vernunft, sie ist der »oberste Gerichtshof aller Rechte und Ansprüche unserer Spekulation« (A 669). »Auf dieser Freiheit beruht sogar die Existenz der Vernunft, die kein diktatorisches Ansehen hat, sondern deren Ausspruch jederzeit nichts als die Einstimmung freier Bürger ist.« (A 738) Es muß untersucht werden, welche Funktion dieser rechtliche Aspekt in der neuen Transzendentalphilosophie hat; es kann sich nicht bloß um austauschbare Metaphern oder ein Analogon handeln,30 sondern um ein wesentliches Moment in der Selbstkonstitution der neuen Philosophie. Die Feststellung, die Vernunft selbst sei rechtlich,31 trifft auf die Vernunfttradition vor der KrV nicht zu; gesucht ist der Grund, warum Kant diese Neuerung 1781 einführt. Die juridische Verfassung der KrV wird dadurch notwendig, daß die praktische Vernunft, die die Bestimmung und den Endzweck des Menschen als absolute Norm enthält, fordern muß, über die objektive praktische Realität Gottes und der Unsterblichkeit ohne eine mögliche Gefährdung durch theoretische Beweise zu verfügen (vgl. bes. V 146–148). Die KrV hat diese erste fundamentale Aufgabe, die Erkenntnisbehauptungen der theoretischen Vernunft grundsätzlich zu prüfen; dies kann nicht mit den Mitteln wiederum einzelner theoretischer Beweise geschehen, sondern nur durch die transzendentale Klärung der generellen Beweismöglichkeit. Diese transzendentale Klärung ist qua Forderung der praktischen Vernunft normativ-rechtlicher Natur, denn 32 | kapitel 

ihr absolutes Soll enthält analytisch das Recht auf die Mittel, die zur Verwirklichung des Gebotenen notwendig sind, hier: den theoriefreien Vernunftglauben an Gott und Unsterblichkeit. Die praktische Vernunft erzwingt also den Überschritt aus einem rein epistemischen Vernunftverfahren in ein deontologisches, speziell rechtliches. Damit ist es zugleich notwendig, Erkenntnissätze als Erkenntnisbehauptungen oder -ansprüche zu fassen, die sich an eine Öffentlichkeit wenden; sie besagen also nicht nur etwas über bestimmte Sachverhalte, sondern prätendieren zugleich das Recht, diese Sätze aufstellen zu können, »justifiziert« zu sein. Hier liegt eine der spannenden Innovationen der KrV, die genau untersucht werden muß: Die Rechtfertigung von Erkenntnisansprüchen, nicht ihr Wahrheits- oder Konsistenzausweis. Und dies alles ist zu beziehen auf die Natur der Vernunft als eines einheitlichen Zwecktotums. Die Neubestimmung der Vernunft in dieser teleologia rationis humanae führt dazu, daß das Urteil zu bestimmen ist als eine öffentliche Handlung zum Zweck der öffentlichkeitsfähigen Erkenntnis. Die Öffentlichkeit kann in der KrV kein Freiraum für menschenfreundliche Diskurse sein, sondern ist rechtlich geordnet unter dem neuen höchsten Gerichtshof der Kritik, der Rechtsfindung im Namen der praktischen Vernunft. Aber zugleich bleibt im Werk eine weitere Spannung zwischen zwei Polen. Auf der einen Seite ist die Einheit des »Ich denke« nach Kant selbst das Zentrum der Selbstreflexion: »Und so ist die synthetische Einheit der Apperzeption der höchste Punkt, an dem man allen Verstandesgebrauch, selbst die ganze Logik, und nach ihr, die Transzendental-Philosophie heften muß, ja dieses Vermögen ist der Verstand selbst.« (B 134) Auf der anderen Seite steht der öffentliche Gerichtshof der Vernunft als das höchste Entscheidungsorgan in der Verfassung der Vernunft, die sie sich in der KrV selbst gibt. Während im subjekttheoretischen Teil das »Ich denke« nichts von der Öffentlichkeit und vom Gericht zu wissen braucht, tritt das »Ich denke« umgekehrt nicht als solches im Gericht auf. Diese beiden, von Kant getrennten und doch verschränkten Aspekte von Teil und Ganzem der KrV haben später unterschiedliche Karrieren erlebt; wobei schon bei Kant in der 2. Auflage der KrV von 1787 der subjektive Aspekt überwog, während der öffentliche in die praktische Philosophie hinüberwanderte, die von vornherein auf dem Weltbeeinleitung | 33

griff – »mundus« sensibilis und »mundus« intelligibilis und kosmologische Antinomie – aufbaute. Eine besonders komplexe Verbindung von Subjekt- und Öffentlichkeitsseite werden wir in der »Kritik der ästhetischen Urteilskraft« finden. Die KpV ist das ethische Werk, das der KrV als einer »rechtsphilosophischen« Schrift komplementär zur Seite und entgegen tritt. In dieser zweiten Kritik wird der prometheische Akt des sich frei bestimmenden Menschen gezeigt. Daß die Ethik selbst wiederum juridisch konzipiert ist, wurde schon zu Lebzeiten Kants gesehen; das Vernunftgesetz ist nichts anderes als die volonté générale, mit der mein Privatwollen übereinstimmen, ja, die es generieren soll. Die KpV ist Kritik und zugleich die Gegenkritik, weil sie mit einem, in der ersten Kritik verfemten, »Machtspruch« (sc. des kategorischen Imperativs) einsetzt, den zu kritisieren unmöglich ist, weil er nichts anderes als die eigene praktische Vernunft ist. Aber das bedeutet, daß der Mensch paradoxerweise der Mündigkeit und der Fähigkeit beraubt wird, im Einzelnen zu prüfen, ob das, was das Gesetz als Machtspruch befiehlt, auch gut ist. Was gut ist, wird vom Gesetz bestimmt, und nicht das Gesetz vom vorgängigen Guten. Auch in der Ästhetik der KdU von 1790 finden wir die gleiche Figur: Es »gibt« nichts Schönes, sondern das Schönheitsurteil ist Ausdruck des Wohlgefallens des menschlichen Gemüts im Spiel der beiden eigenen Erkenntniskräfte, der sinnlichen Einbildungskraft und des diskursiven Verstandes. Von der Vorstellung im Geschmacksurteil heißt es: »Man sieht leicht, daß es auf das, was ich aus dieser Vorstellung in mir selbst mache, nicht auf das, worin ich von der Existenz des Gegenstandes abhänge, ankomme, um zu sagen, er sei schön, und zu beweisen, ich habe Geschmack.« (V 205,10–13) Auch hier also ist entscheidend die Selbstbestimmung, zu der wir von der Natur bestimmt sind (»Natur« – nach Maßgabe unserer Erkenntnisvermögen sprechen wir von ihr). Es ist leicht erkennbar, daß die Theorie des Geschmacksurteils des Schönen in Analogie zum Erkenntnisurteil der KrV konzipiert ist; in beiden Fällen treten zwei Komponenten der menschlichen Vermögen, die Sinnlichkeit qua Anschauung oder Einbildungskraft und zweitens der diskursive Verstand, in eine Beziehung, dort mit dem Zweck der Erkenntniserzeugung, hier in freiem, zwecklosem Spiel, das unbeabsichtigt zum ästhetischen Urteil des Schönen oder Erhabenen 34 | kapitel 

führt. Das Erhabenheitsurteil folgt der Anlage des Geschmacksurteils; es gründet sich jedoch nicht in der Korrelation von Einbildungskraft und Verstand, sondern von Einbildungskraft und Vernunft. In beiden Fällen wird das Urteil aus inneren Ressourcen bestimmt – etwas an sich Schönes oder Erhabenes gibt es nicht. In beiden Bereichen der Ästhetik erweist sich als eigentliches Fundament die reine praktische Vernunft und damit das Autonomie-Prinzip. Dies lässt sich im Detail gut nachzeichnen, hier nur als Schlagwort: Die letzte Begründung des Geltungsanspruchs des Geschmacksurteils über das Schöne liegt darin, daß es ein Symbol des Sittlich-Guten ist, und das Geistesgefühl des Erhabenen ist begründet in der Würde unserer selbst als moralischer Wesen. Von hier aus ergibt sich dann auch die Brücke zur zweiten Hälfte der KdU, der »Kritik der teleologischen Urteilskraft«, die ebenfalls moralunabhängig beginnt und dann im souveränen Selbst der reinen praktischen Vernunft endet. Beide Teile der KdU gehören, ganz im Gegenteil zur KrV und KpV, zur neu geschaffenen Lebens- und Geistphilosophie; im Schönheits- und Erhabenheitsurteil sprechen sich ein »Lebensgefühl« (V 204,8) und ein »Geistesgefühl« (V 192,10) aus, und die Teleologie kennzeichnet die Natur- und die Vernunftbestimmung im Zwecktotum der sinnlichen und moralischen Welt. Das ästhetische Urteil ist ein Urteil, das ich jetzt und hier fälle; eine derartige Existenzbeziehung des Urteils gibt es nicht in den beiden vorhergehenden Kritiken, zu denen die Rückbeziehung durch diese unvorhergesehene Wende höchst artifiziell wird. Das juridische Motiv wird in der Konstitution eines »sensus communis«, eines Gemeinsinns als der Aufgabe einer »volonté générale esthétique« fortgeführt. In der »Kritik der teleologischen Urteilskraft« wird ausgegangen von Gegenständen der Erfahrung, den Pflanzen, die wir nur so in ihrer »inneren Möglichkeit« erkennen können, daß wir sie in unserer reflektierenden Urteilskraft als paradoxe, sich selbst organisierende Wesen begreifen: »Ein organisiertes Product der Natur ist das, in welchem alles Zweck und wechselseitig auch Mittel ist.« (V 376,11–13) Die organisierten Naturprodukte verweisen auf einen Zweckmäßigkeitszusammenhang der Natur im Ganzen, in der wir als selbst Zwecke setzende Naturwesen ein letzter Zweck sind. Die Vernunftfrage, wozu es überhaupt ein derartiges Zwecksystem gibt, einleitung | 35

transzendiert die Natur und die Kompetenz der theoretischen reflektierenden Urteilskraft und gelangt zum Endzweck, der moralischen Bestimmung des Menschen als dem höchsten Punkt bzw. Endzweck im finalen Gesamtsystem. Die Aufgabe, die Kantische Philosophie aus dem von ihr selbst markierten Zentrum, der Bestimmung des Menschen, darzustellen, führt entsprechend nicht nur in die praktische Philosophie (Ethik, Recht) inklusive Geschichtsphilosophie, sondern auch in die Grundkonzeption der KrV und der KdU. Das mit der KdU erreichte triadische Totum weist nach Überlegungen der KdU und zeitgleicher Schriften auf eine Fundierung in einer Kritik, die in die Kritik des Verstandes (1781 bzw. 1787), der Urteilskaft und der praktischen Vernunft zerfällt. Wir werden diese systematisch von Kant geforderte, aber nicht näher ausgeführte umgreifende Kritik der reinen Vernunft unter dem Titel einer Vierten Kritik am Schluß behandeln; sie ist das systemlogische Resultat der Metamorphose, die die kritische Philosophie von 1781 bis 1790 durchläuft. Der Kantforschung war dieser Zusammenhang bislang verborgen. Die moralische Bestimmung des Menschen ist der höchste Zweck, auf den alle Vernunftinteressen und damit alle Philosophie des Menschen abzielen. Nun gibt es eine gegenläufige Tendenz im Kantischen Werk, das die Rezeptionsgeschichte wesentlich stärker als die zentripetale Einheitsfrage bestimmt. Die Wirkungsmacht bis in die heutigen Diskussionen geht von verschiedenen Problemkreisen aus, die wenig mit einander zu tun: Die Geometriebegründung, die Unterscheidung von analytischen und synthetischen Urteilen, die Struktur der Dialektik, die Theorie des Schönen und Erhabenen, die deontologische Ethik, die Begründung der Menschenrechte, das Friedensprogramm, um nur die wichtigsten der Interessenregionen zu nennen. Sie werden mit systematischer Absicht erörtert, ohne daß auf das Ganze der Kantischen Philosophie oder auch die anderen Teile Rücksicht genommen werden muß. Diese relative Selbständigkeit der Teile vom System gibt es weder bei Leibniz und Wolff noch in den idealistischen nachkantischen Systemen; sie hat zur Folge, daß Kant wohl der präsenteste deutsche Philosoph ist. Einer der Gründe für dies Phänomen wird in der Liberalität liegen, die sich seine Philosophie zum Ziel setzt; sie propagiert die Eigenständigkeit, das Selbstdenken, die Freiheit der Urteilsbildung, des 36 | kapitel 

Handels gegen Eingriffe des Staates, und diese Freisetzung kennzeichnet die Philosophie selbst.

Kant als Autor und die Aufgabe der Interpretation Die Interpretation philosophischer Werke als solcher kann nur kritisch sein, denn die Philosophie konfrontiert den Leser und Interpreten mit expliziten oder nicht genannten Problemen, mit Lösungen und mit deren Begründung, die er nicht repetieren oder glauben, sondern prüfen und dann annehmen oder auch abweisen soll. Die dabei vorausgesetzte historische Recherche des »sensus literalis«, dessen also, was eigentlich im Text steht, führt zu dem Befund, daß die Werke in der Auseinandersetzung mit überkommenen oder zeitgenössischen Vorstellungen und Theorien entstehen; der Autor operiert mit ihnen und gegen sie. Kant ändert in diesen Auseinandersetzungen nicht nur, wie er wiederholt sagt, die Darstellung seiner kritischen Philosophie, sondern modifiziert diese selbst.32 Eine entscheidende Änderung dieser Art findet sich in den beiden Auflagen der KrV von 1781 und 1787. In der Auseinandersetzung mit seinem eigenen Werk entwickelt Kant Ideen, die der ersten Kritik eine neue Funktion zuweisen und ihr ursprüngliches Konzept entsprechend überformen. Geht man bei der Lektüre von der 2. Auflage aus, wie schon die meisten Editionen nahe legen, ist bereits alles verloren, weil die ursprüngliche Idee nicht mehr oder nur unpräzise sichtbar wird, wenn man sie aus der Perspektive der späteren Änderungen wahrnimmt. Dies ist keine Frage der unterschiedlichen Bewertung der ersten und zweiten Auflage, sondern des gut belegbaren Faktums, daß die Ausgabe von 1787 nicht nur Verbesserungen in einzelnen Details bringt, sondern die Richtung ändert. Dies muß im Gesamtprozeß der Metamorphose der kritischen Philosophe zunächst erkannt werden, bevor man mit der Beurteilung der A- und B-Auflage beginnt. 1749 heißt es in der Erstlingsschrift Gedanken von der Schätzung der lebendigen Kräfte kühn: »Ich habe mir die Bahn schon vorgezeichnet, die ich halten will. Ich werde meinen Lauf antreten, und nichts soll mich hindern ihn fortzusetzen.« (I 10,25–27) Wir wissen nicht, wie konkret diese Vorzeichnung33 für den Drei- oder Viereinleitung | 37

undzwanzigjährigen34 aussah und welche Rolle die Vorzeichnung für den »young man as a philosopher« im preußischen Dublin gespielt hat. Jedenfalls spricht aus dem Satz das umwerfende und faszinierende Selbstbewusstsein des Revolutionärs, des Gesetzgebers, des Gelehrten, des kreativen Schul- und Weltphilosophen. Der Mensch folgt in der üblichen Vorstellung der von der Vorsehung festgelegten Bestimmung, Kant dagegen legt die Bahn und die Bestimmung prometheisch selbst fest. In seinem Brief vom 18. Dezember 1787 an Carl Leonhard Reinhold nimmt er die Bahn-Metapher und das Konzept der Vorzeichnung auf: »Ich darf ohne mich des Eigendünkels schuldig zu machen, wohl versichern daß je länger ich auf meiner Bahn fortgehe desto unbesorgter ich werde es könne jemals ein Widerspruch oder so gar eine Alliance (dergleichen jetzt nicht ungewöhnlich ist) meinem System erheblichen Abbruch thun. Dies ist eine innigliche Uberzeugung die mir daher erwächst, daß ich im Fortgange zu anderen Unternehmungen nicht allein es immer mit sich selbst stimmig befinde, sondern auch wenn ich bisweilen die Methode der Untersuchung über einen gewissen Gegenstand nicht recht anzustellen weiß, nur nach jener allgemeinen Vorzeichnung der Elemente der Erkentnis und der dazu gehörigen Gemüthskräfte zurük sehen darf um Aufschlüsse zu bekommen, deren ich nicht gewärtig war.« (X 514,13–23) Bei der Dreiheit von Gemütskräften würden sich drei Kritiken ergeben, heißt es im Folgenden; darauf soll später unter dem Titel einer Vierten Kritik eingegangen werden. Vorerst zu dem zitierten Abschnitt. Die wieder aufgenommenen Begriffe der – sc. kontinuierlichen – Bahn und der Vorzeichnung suggerieren eine bruchlose Heuristik des déjà-vu. Tatsächlich ist die Selbstinterpretation der ersten Kritik darauf bedacht, das Werk als Ergebnis eines Bruches, eines neuen »glücklichen Einfalls« vorzustellen; und im Brief selbst wird das erstaunliche Phänomen präsentiert, daß die erste Kritik vor mehr als sechs Jahren erschien und die zweite, 1781 nicht vorgesehene, gerade ausgeliefert wird, und dem Autor jetzt, 1787, erst klar wird, daß sie Teile eines doch drei- (damit aber vier-)teiligen Systems sind! Der Kantleser muß mit einer Eigenschaft rechnen, die durch die Rede von der vorgezeichneten kontinuierlichen Bahn verdeckt wird; man lernt sie kennen beim genauen Studium z. B. der Nachschriften seiner Vorlesung über Anthropologie und Physische Geographie, 38 | kapitel 

aber auch des eben herangezogenen Briefes an Reinhold: Der Autor schleudert immer neue Gedankenmassen hinaus, die frühere Entwürfe überdecken, die aber selbst plötzlich wieder unter neuen Einsichten verschwinden können. Die vorgezeichnete Bahn ist vom Anfang bis zum Lebensende, das im Opus postumum zerrinnt, ein Kontinuum der Umkippungen und Wenden, der Brüche und der sprunghaften Erneuerungen, eine Qual für die entwicklungsgeschichtliche Untersuchung, also für den zugleich einzig möglichen Text- und Theoriezugang. Bei den Interpreten zeichnen sich fast naturnotwendig zwei Richtungen ab; die einen setzen auf die Konstanz, die anderen auf den Bruch; und häufig ist der Dissens bei gleichem Wortlaut, der unterschiedliche Konzepte abdeckt, und bei unterschiedlicher Darstellung, die denselben Gedanken bringt, kaum entscheidbar. Die Autor-Behauptung der Identität seiner Theorie ist häufig eine Fassade, hinter der eine permanente Revolution der Lehre von 1781 stattfindet. Ich habe den ungewöhnlichen Titel »Die Vierte Kritik« in das Buch aufgenommen, nicht wegen einer idiosynkratischen Suche nach dem Vierten, sondern um anzuzeigen, daß Kant 1790 abschließend zu der Überzeugung gelangt, daß die KrV in den beiden Auflagen von 1781 und 1787 eigentlich eine »Kritik des reinen Verstandes« ist und daß eine »Kritik der reinen Vernunft« die Aufgabe hat bzw. hätte, die drei tatsächlich verfassten und publizierten Kritiken in ihrer Notwendigkeit zu begründen. Das ist eine Einsicht, die in der Phase zwischen 1781 und 1790 ohne spektakuläre Erklärungen verläuft und die doch einen Wandel in vielen Details, u. a. bis in die Geometrieauffassung, gedanklich zu bewältigen sucht. Selbst der Kritikbegriff wird in wenigstens zwei unterschiedlichen Bedeutungen gebraucht, ohne daß Kant dies anmerkt. Einmal bedarf die Vernunft einer Selbst-Kritik, weil sie als Vermögen der Schlüsse auf einem natürlichen Weg in eine scheinbar ausweglose Dialektik gerät. Die KrV bezeichnet sich selbst als den Gerichtshof, vor dem diese Dialektik verhandelt und im Rückgriff auf die Unterscheidung von Ding an sich und Erscheinung gelöst wird. Also: Wenn die Vernunft dialektisch wird, bedarf es ihrer Kritik. Zum anderen wird die Kritik eines Vermögens dann aktuell, wenn es mit synthetischen Notwendigkeitsurteilen auftritt. Dadurch ist allererst die Rede von einer »Kritik des Verstandes« möglich, denn der Verstand als solcher gerät in keine Dialektik, ereinleitung | 39

hebt jedoch den Anspruch notwendiger synthetischer Urteile apriori, die die Kritik auf den Plan rufen und die sich durch eine Deduktion legitimieren müssen. In der KdU heißt es: »In dieser Modalität der ästhetischen Urtheile, nämlich der angemaßten Nothwendigkeit derselben, liegt ein Hauptmoment für die Kritik der Urteilskraft.« (V 266,9–11) Hier also: Nicht eine Dialektik, sondern der Anspruch der ästhetischen Urteile auf allgemeine und notwendige Geltung ruft die Kritik wach. Die Metamorphose der kritischen Philosophie von 1781 bis 1790 arbeitet nicht nur mit diesem doppelten Kritikbegriff, sondern auch mit vielfältigen retrospektiven Änderungen eigener Texte. So behauptet die KpV im Rückblick auf die KrV, deren »Transzendentale Analytik« umfasse die Ästhetik und die Logik: »Die Analytik der theoretischen reinen Vernunft wurde in transcendentale Ästhetik und transcendentale Logik eingetheilt, […]« (V 90,12–13; vgl. 16,20–26; 89,20–25) – das ist eklatant nicht die Meinung der KrV von 1781, die die Ästhetik der Logik entgegenstellt und letzte in eine Logik der Wahrheit, die Analytik, und eine Logik des Scheins, die Dialektik, gliedert. Die Ästhetik unter die Analytik zu subsumieren, ist ein Gedanke, der dem ganzen System von 1781 zuwiderläuft. Schon in der Vorrede zur KrV von 1787 steht: »Daß Raum und Zeit nur Formen der sinnlichen Anschauung […] sind, […], wird im analytischen Teile der Kritik bewiesen; […].« (B XXV–XXVI) Hiermit soll nicht in die interne Systematik der KrV eingegriffen, sondern das Arrangement vorbereitet werden, das eine zweite Kritik mit sich bringt.35 Und diese Neuerung wird schon 1787 angedeutet; Kant spricht in der Vorrede von dem »Plan, die Metaphysik der Natur sowohl als der Sitten, als Bestätigung der Richtigkeit der Kritik sowohl der spekulativen als praktischen Vernunft, zu liefern« (B XLIII) – die erste Kritik ist somit die der spekulativen, die zweite wird die der praktischen Vernunft sein. Im Ewigen Frieden wird die sog. transzendentale Formel der Publizität vorgestellt, zuerst als negatives Kriterium der Rechtlichkeit einer politischen Maxime, danach als positives, notwendiges und hinreichendes Kriterium. Von der letzteren Formel heißt es, sie nenne die Bedingung, »unter der ihre [der Politik, RB] Maximen mit dem Recht der Völker übereinstimmen.« (VIII 384,33–34) Von der negativen Formel wird rückblickend gesagt: »Man hat hier nun 40 | kapitel 

zwar nach dem Princip der Unverträglichkeit der Maximen des Völkerrechts mit der Publicität ein gutes Kennzeichen der Nichtübereinstimmung der Politik mit der Moral (als Rechtslehre).« (VIII 384,30–32) Der untrainierte Leser wird nicht bemerken, daß Kant mit einer geringen Wortänderung das Thema wechselt. Er macht gewissermaßen unter der Hand aus dem alten Völkerrecht (ius publicum gentium) das neue Recht der Völker, er wechselt von der Außen- zur Innenpolitik, von der Publizität der politischen Maximen, die analytisch im Begriff des öffentlichen Rechts steckt, zu einem Anspruch des Publikums, d. h. der Bürger auf eine bestimmte Politik. 1783 heißt es in den Prolegomena: »Ich gestehe frei: die Erinnerung des David Hume war eben dasjenige, was mir vor vielen Jahren zuerst den dogmatischen Schlummer unterbrach und meinen Untersuchungen im Felde der speculativen Philosophie eine ganz andere Richtung gab.« (IV 260,6–9) Hier wird der Topos aus der Philosophiegeschichte benutzt, daß der Skeptiker den Dogmatiker aus dem Schlummer weckt,36 und da kam für Kant nur der Skeptiker Hume in Frage. Kant sah seine Hauptschrift, »die« Kritik (1781), von vornherein als geschichtliche Wende und stilisierte entsprechend ihre Entstehung mit der alten Dogmatiker-Skeptiker-Kritiker-Legende. Das besagt nicht, daß dieser Konstruktion der Geschichte kein historischer Sachverhalt zugrunde lag. Kant hat Humes Vermischte Schriften, die 1754–1756 erschienen, tatsächlich gründlich studiert37 und sich mit der Quintessenz besonders der in ihnen enthaltenen Philosophischen Versuche über die menschliche Erkenntnis in den sechziger Jahren, aber auch nach 1770 auseinander gesetzt. Mit dem Diktum von 1783 tritt er jedoch als IdeenBiograph auf, für den sich die »Kritik« aus präzisen systematischen Prämissen ergibt; die kritische Philosophie immunisiert sich gegen mögliche Einwände, indem sie sich als einzig mögliche Synthesis von dogmatischer Thesis und negierender Antithesis darstellt. Die von neueren Historikern unternommenen Versuche, den anonym publizierten Humeschen Treatise of Human Nature statt der schon länger zurückliegenden Vermischten Schriften in die Bruchzone um 1770 einzubringen, sind heroische Fehlunternehmen38. Es ist kein Zufall, daß sich Kant nie für den Geschichtsablauf als solchen interessiert hat, sondern nur für den notwendigen Gang der Geschichte einleitung | 41

im ganzen.39 In den Prolegomena verwies er implizit auf das im Deutschen allgemein zugängliche Werk in den Vermischten Schriften; wann dessen Skeptizismus genau wirkte, ließ er offen, denn wichtig war nicht ein biographisches Datum, sondern eine Konstruktion der Philosophie(geschichte). Auch der Hinweis gegenüber Christian Garve von 1798 (XII 257,31–258,3) fixiert eine Einsicht als den alles entscheidenden Wendepunkt, der, so werden wir später sehen, nach Kants eigenen Angaben dann in der späten Mitte der siebziger Jahre liegen muß. Die »Vorrede« der zweiten Auflage der KrV bedient sich eines anderen Modells, dem gemäß Wissenschaften nach einer Phase des Versuchens durch den »glückliche[n] Einfall eines einzigen Mannes« (B XI) zustande kommen. Kant stellt in seinen wechselnden Gründungsmythen der kritischen Philosophie jeweils den singulären plötzlichen Umschlag heraus, während der Historiker die tatsächliche Genese in vielen einzelnen Schritten entdeckt. Das Verfahren Kants vereinigt wenigstens zwei Konzepte: Einmal wird auf vielen Gebieten ein Einheitspunkt unter Vernachlässigung der wirklichen, historisch belegbaren langsamen Genese isoliert herausgestellt, zum anderen gibt es dazu passend die Figur des »protos heuretes«, des Ersterfinders, seit der Antike.40 Der Autor stilisiert sich selbst zum Gründungsheros einer neuen Epoche der Menschheit. Er konstruiert die ihm zuvorliegende Geschichte als eine blinde Naturgeschichte der Vernunft, die KrV als die einmalige Revolution, in der die Vernunft ihre Verfassungsschrift erhält und damit der Wissenschaft der Metaphysik ihren sicheren Gang vorzeichnet; jetzt bedarf es nur noch der literarisch besseren Darstellung und kleiner Ergänzungen im Detail – an der grundlegenden Erkenntnis wird sich nichts mehr ändern. Sucht man unabhängig von den Selbstaussagen des Autors nach dem entscheidenden Punkt des Umschlags vom Wolff-Leibnizschen Rationalismus oder Lockeschen Empirismus zum Kritizismus, so steht ein ganzes Jahrzehnt von 1765 bis ungefähr 1775 zur Verfügung. Man kann in den Träumen eines Geistersehers, erläutert durch Träume der Metaphysik, verfasst 1765, erschienen im Januar 1766, den entscheidenden Bruch markieren, man kann als Jahr des Durchbruchs 1769 annehmen und mit vielen Gründen verteidigen (Lothar Kreimendahl), man kann in die Phase kurz nach 1770 gehen (Klaus Reich) oder auch nachweisen, daß von einer KrV nicht vor 42 | kapitel 

der Mitte der siebziger Jahre gesprochen werden kann, wie Wolfgang Carl überzeugend zeigt.41 Legt man den Hinweis Kants gegen Garve aus dem Jahr 1798, die Antinomien hätten ihn aus dem dogmatischen Schlummer geweckt und zur Kritik der Vernunft getrieben, »um das Scandal des scheinbaren Wiederspruchs der Vernunft mit ihr selbst zu heben« (XII 257,31–258,3), dann gelingt der entscheidende Durchbruch sogar noch später zur Zeit der Entdeckung und Systematisierung der Dialektik, die die Antithetik im Weltbegriff erst ermöglicht. Das Problem, mit dem wir es im Kantischen Oeuvre zu tun haben, liegt jedoch noch tiefer. Man muß nicht nur die Entwicklung zwischen einzelnen Werkstufen und die Stilisierung von Selbstaussagen beachten, sondern man ist gezwungen, in den Werken selbst bestimmte Teile oder auch das Konzept im ganzen als bloßes Provisorium zu nehmen, das schon im Werk oder in der nächsten Phase der Beschäftigung als Zwischenstufe behandelt oder verworfen wird. Alle Schriften sind Übergangswerke, Übergangsfragmente einer immer erneuten Bearbeitung und Transformation; sie werden zwar für sich publiziert und erheben daher notwendig als Einzelschriften einen Wahrheits- oder Geltungsanspruch, der Kant-Interpret jedoch, der die gesammelten Schriften vor sich liegen hat, sieht die Verbindungen der Schriften und ihre eigene Binnenstruktur in einem permanenten Bedeutungswandel. Darauf wurde schon hingewiesen: Es werden neue Entwürfe hervorgezaubert und danach wieder ad acta gelegt oder auch in verwandelter Form weiter benutzt. Frühere Positionen werden beibehalten, aber sie werden überschrieben und überformt von neuen Gedanken, so daß sich häufig beide Positionen auf den Wortlaut berufen können: die konservierende Richtung, nach der Kant die alte Idee nur besser darstellt, und die Richtung der Innovation, die in der geänderten Darstellung den neuen Gedanken aufspürt. In der hier vorliegenden Untersuchung soll diese komplizierte Dualität oder Mehrfachkodierung in zentralen Schriften herausgearbeitet werden. Zugleich gibt es stabilisierende Faktoren in der noch zu wenig beachteten Architektur sowohl der Schriften wie auch der Theorien. In beidem ist Kant unmodern und denkt in ordo-Gefügen, die im 19. und 20. Jahrhundert eliminiert wurden. Kant ist ein konstellativer Denker, der häufig bestimmten Begriffsgefügen folgt oder sie einleitung | 43

entwirft; das isolierende Verfahren, mit dem in den Lexika und in der späteren Interpretationskultur ein Text stückweise abgehandelt oder auch in ein späteres Verstehen hineingedacht wird, widerspricht dem Denkstil Kants, der uns hier interessiert. Die Begriffskonstellationen sind grundsätzlich so angelegt, daß sie die Vollständigkeit und eine bestimmte Abfolge der Begriffe festlegen; die Interpretation gewinnt an ihnen wichtige Indizien für die Theorieabsicht, die immer auf ein System, also ein begrifflich artikuliertes und als notwendig ausweisbares Ganzes zielt. Die vorliegende Interpretation wird versuchen, Kants konstellatives Denken heraus zu präparieren und es gegen willkürliche Teilzugriffe und spätere Überformungen zu retten. »Ich habe mir die Bahn schon vorgezeichnet, die ich halten will. Ich werde meinen Lauf antreten, und nichts soll mich hindern ihn fortzusetzen.« (I 10,25–27) Wir haben diesen Lebensentwurf schon oben zitiert. Es ist nützlich, ihn bei der Lektüre Kantischer Schriften im Gedächtnis zu behalten und die dauernden Innovationen hier und den nunmehr »gesicherten Gang der Wissenschaft« dort als Pole der einen Vorzeichnung zu erkennen. Bis zum Opus postumum bleibt diese Bahn ein Prozeß der Korrekturen und Ergänzungen und Lücken, und am Ende des Prometheischen Unterfangens steht ein »Tantalischer Schmertz« (XII 257,7): Kant wußte, daß er das Ziel der Bahn nicht erreichen würde und damit offen blieb, ob sie nicht im Ganzen verfehlt war.

Kants Verhältnis zu anderen Autoren42 Kants publizierte Werke, also die Bücher und Aufsätze, umfassen 8 Bände in der Akademie-Ausgabe.43 Die Äußerungen in ihnen, die sich ohne literarische Vermittlung auf sein eigenes Leben beziehen, umfassen vielleicht ein oder zwei Seiten, alles andere verdankt sich dem literarischen input und dessen mentaler Verarbeitung. Verarbeitung heißt: Bestätigung und Ablehnung, Antwort auf Probleme und Scheinlösungen, alles in bestimmten schriftlichen Vorlagen mit ihren vergangenen und zeitgenössischen Debatten und Auseinandersetzungen. Wie viele und welche Bücher und Aufsätze bilden die Lektüre-Grundlage der Kantischen Werke? Füllen sie 500 oder 44 | kapitel 

5000 Bände vom Umfang der 8 Bände der Akademie-Ausgabe? Kant las nach dem übereinstimmenden Urteil seiner Zeitgenossen »unheimlich viel«, und man wird bei ihm wie bei Platon, Aristoteles oder Hegel damit rechnen können, daß er nichts vergaß, was er nicht vergessen wollte. Die genaue Erfassung des von ihm Gelesenen ist nicht möglich, denn seine relativ kleine Bibliothek gibt keine Gewähr der Lektüre, und die Lektürenachweise sind für das Lebenswerk im Ganzen nicht bearbeitet worden.44 Insgesamt ist das Kantische Oeuvre (wie das aller großen Autoren) eine lebendige Karawanserei von Tausenden von alten und neuen Publikationen, die in ihr ein- und ausgehen und ihre Spuren hinterlassen. Philosophie erwächst wie alle kunstmäßige Tätigkeit in einer bestimmten Tradition; Dichtung ist immer Dichtungsdichtung, Malerei ist Malereimalerei und Philosophie ist Philosophiephilosophie; trotz dieser Bedingtheit erheben sie im einzelnen Fall einen eigenen absoluten sei es kognitiven, sei es ästhetischen Geltungsanspruch. Die Lesekultur, die Kant in der Schule erhielt,45 bestand in Schriften und Auszügen besonders römischer Werke und neuerer Sachbücher und Dichtungen, auch des griechischen und lateinischen Alten und Neuen Testaments; dabei wurde vermutlich kein Wert auf die Interpretation der Werke im Ganzen gelegt, sondern auf die Lektüre und Erörterung von kurzen Mustertexten, die später im Studium und im akademischen Beruf, besonders im Predigeramt, für bestimmte hermeneutische Zwecke verwendet werden konnten. Es gibt in den Schriften Kants keine Dokumente dafür, daß er sich für fremde Schriften so interessierte, daß er z. B. Einhilfen für das Verständnis suchte, und er trat nie philologisch hervor wie etwa Pierre Gassendi, dessen Textkonjekturen noch in heutigen Ausgaben von Lukrez’ De rerum natura mitgeführt werden. Ganz undenkbar, daß Kant als Editor der Schrift eines anderen Autors auftritt. Was er von Platon schrieb, gilt generell von allen Autoren: »Ich will mich hier in keine literarische Untersuchung einlassen, um den Sinn auszumachen, den der erhabene Philosoph mit seinem Ausdruck (Idee) verband.« (A 313–314) In eine derartige Untersuchung lässt sich Kant bei keinem Autor ein, auch bei sich selbst nicht, und die schiefen Behauptungen über seine eigenen früheren Schriften sind Orte der tortura spritualis für jeden Interpreten.46 Kant behauptet, wie es sein mußte, nicht, wie es war. In der praktischen einleitung | 45

Bibelexegese ist der Gott in uns, unsere Vernunft entscheidet, was in der Bibel zu stehen hat, nicht der Wortlaut im Text, der vor uns liegt.47 Hegel schreibt in Glauben und Wissen: »[…] wie denn Kant überhaupt durchaus eine Unwissenheit mit philosophischen Systemen und Mangel an einer Kenntniß derselben, die über eine rein historische Notiz ginge, besonders in den Widerlegungen derselben zeigte.«48 Dieses Urteil ist partiell richtig. So wenig wie Kant sich je für die politische oder ökonomische Faktengeschichte interessiert hat, sondern eine Philosophie der Geschichte entwickelte, so wenig hat er sich für die geschichtlichen Einzelphänomene der Philosophie interessiert, sondern eine Philosophie der Philosophiegeschichte entwickelt, die aus eigenbegrifflichen Gründen die Plazierungen vornimmt. Auf der anderen Seite vernachlässigt das Urteil die Kantische Gabe, bestimmte Schriften eines Autors – etwa die von Hume und Rousseau – zur Kenntnis zu nehmen und sich ein sachlich häufig unübertroffenes Urteil zu bilden, das er jedoch keiner weiteren Neugier und Prüfung aussetzt. Ein Ergebnis der Beobachtung von Kants Umgang mit anderen Autoren lautet: Er eignet sich die Theorien anderer Philosophen in ihren vermeintlich zentralen Thesen an, er bringt sie auf den Begriff und nimmt dann kein weiteres, gar kritisch-philologisches Interesse an deren näherer Ausführung. Es gibt, wenn ich nichts übersehen habe, keine Nachfrage Kants nach einer Edition oder gar einer bestimmten Auflage irgendeines philosophischen Werks; nie wird ein Textstück aus seinem Kontext philologisch genau zu bestimmen versucht. Johann Georg Hamann schreibt am 30. November 1785 an Jacobi: »Kant hat mir gestanden den Spinoza niemals recht studiert zu haben und von seinem eigenen System eingenommen hat er weder Lust noch Zeit in fremde sich einzulassen.«49 Natürlich hat sich Kant in fremde Systeme eingelassen, aber nur in deren für ihn sichtbar werdende Vernunft, nicht in den Wortlaut der Texte. Er verstehe, wie er verschiedentlich schreibt, einen anderen Autor besser als dieser sich selbst (u. a. A 314 und A 834). Der Grund dafür liegt nicht in einer allgemeinen hermeneutischen Lizenz oder notwendigen Geschichtlichkeit des Verstehens fremder Texte, sondern in dem Vorteil, den Kant gemäß seiner eigenen Philosophie von einem Standpunkt der schon weiterentwickelten, nunmehr 46 | kapitel 

ultimativen Erkenntnis hat. Da die Vernunft in einem Prozeß der Selbstaufklärung steht, kann die inzwischen erreichte Kenntnis gegen einen früheren Entwicklungsstand ausgespielt werden. Dies ist z. B. der Fall in der Anordnung von drei Rousseauschen Schriften in dem Aufsatz über den Mutmaßlichen Anfang der Menschengeschichte (VIII 116–118). Kant arrangiert sie aus dem besseren Erkenntnisstand, den er gegenüber dem Autor und anderen Interpreten hat. Aber die spätere hat hier gegenüber der früheren Erkenntnis nicht nur einen graduellen Vorteil (und könnte dann selbst wieder korrigiert werden), sondern es gibt einen qualitativen Sprung. Kant ist der festen Überzeugung, die Philosophie oder Metaphysik nach Jahrhunderten tastender Versuche oder Fehlwege endlich in die Verfassung einer sicheren Wissenschaft zu bringen. Er hat also nicht nur das relative Privileg der fortgeschrittenen Erkenntnis, sondern den absoluten Vorteil des gefundenen richtigen Weges. Locke z. B. konnte nicht wissen, welchen Fund er mit dem schon anvisierten synthetischen Urteil a priori gemacht hatte; erst der Überschritt der Philosophie aus ihrer Vorgeschichte zur Wissenschaft führt zutage, daß dieses Urteil das alles entscheidende Problem überhaupt darstellt. Locke hielt es in Händen, aber er wußte es nicht. Die kritischen Schriften, also die Werke ab 1781, enthalten gemäß ihrem eigenen vernunftgeschichtlichen Anspruch eine systematisch vollständige Darstellung der vorhergehenden relevanten Positionen, die in ihnen aufgehoben werden: Sie werden bewahrt, und sie werden zugleich in ihrem eigenen, noch blinden und fehlerhaften Anspruch abgewiesen. So müssen wir jedes kritische Werk als eine systematische Theorie und zugleich als eine auf ihren Begriff gebrachte Vernunftgeschichte der Philosophie lesen, denn alle Autoren, die zählen, sind versammelt, in der neuen Topologie verortet und werden somit notwendig besser verstanden, als ihre Autoren selbst es je vermochten. Das wird in den Werken, mit denen wir uns befassen, immer wieder zu verfolgen sein: Kant schreibt in den drei Kritiken eine Summe der Philosophie, die sich gegen jede Kritik durch die schon vorliegenden, jetzt begriffenen Positionen immunisiert, indem sie sie im eigenen, finalen Gedanken aufhebt und rettet. Von den bereits vorliegenden philosophischen Lehren wird gezeigt, daß sie systematisch vollständig sind, so daß eine künftige Kant-Kritik keine Chance haben wird. Der Kantianer einleitung | 47

Johannes Bering schreibt in einer moralphilosophischen Abhandlung von 1790, die – im Ansatz falschen – eudaimonistischen Grundlegungen seien vor dem Auftreten der kritischen Philosophie erschöpfend behandelt worden, die Vernunftgeschichte hat demnach die Unvernunft dazu genötigt, die Verfehlungen vollständig zu begehen (»[…] non potuisse non scrutari«)50. Diese Überzeugung liegt auch z. B. der Tafel der vier systematisch notwendigen Positionen der »praktischen materialen Bestimmungsgründe« (V 40) zugrunde, zu denen jeweils ein antiker oder neuzeitlicher Autor aufgeführt wird. Selbstverständlich wußten diese Autoren nicht, was sie in Wahrheit taten. Die Nennung von Autoren hat entsprechend häufig eine strategische Funktion. Die KrV will eine Summe der bisherigen Philosophie sein und ihr nicht nur etwas revolutionär Neues entgegenstellen, sondern die wesentlichen Positionen auch als partiell oder im Ansatz wahr retten und ihnen einen Ort im neuen System erteilen. Die durchgreifende Trennung von Verstand und Vernunft und damit von Begriff und Idee eröffnet 1781 die Möglichkeit einer strategischen Zuweisung von Aristoteles und Platon. Aristoteles ist der Begriffs-, Platon der Ideenphilosoph, beide erhalten ihren Platz innerhalb der »Transzendentalen Logik«, der erstere in der »Analytik«, Platon in der »Dialektik«: Damit sind zugleich Locke und Leibniz systematisch integriert, denn Leibniz selbst hatte in den 1765 edierten Nouveaux Essais geschrieben: »En effect, quoyque l’Auteur de l’ Essay [sc. John Locke] dise mille belles choses où j’ applaudis, nos systemes different beaucoup. Le sien a plus de rapport à Aristote, e le mien à Platon, quoyque nous nous eloignions en bien des choses l’un et l’autre de la doctrine de ces deux anciens.«51 Kant nostrifiziert die beiden hiermit angezeigten Richtungen der Philosophie in sein neues System, wie immer es bei einer näheren historischen Erforschung bestellt sein mag; es geht um die großen Formationen der Geistesgeschichte in den Systempositionen, die die Vernunftphilosophie selbst, also die Kantische, anbietet und historisch ausgefüllt sieht. Damit ist ein gewissermaßen strategischer Vorteil gewonnen, denn in der Einverleibung der Vernunft-Vorgeschichte in das eigene Denkarchiv liegt eine Anweisung, wie die Geschichte vernünftig zu erfassen ist; sie ist insgesamt in ihrem eigentlichen Gedanken ausgerichtet auf das System von 1781, alles 48 | kapitel 

andere ist Folklore und gehört zur bloß historischen Forschung, an der sich Kant nie beteiligen wollte. Wie die Geistesgeschichte durch freie Metamorphosen dem eigenen Gedanken einverwandelt wird, lässt sich an den drei Ulpianischen Formeln (VI 236–237), an den drei Fragen, die alles Vernunftinteresse enthalten sollen (A 804–805) und an der Revolution des Kopernikus (B XVI ff.) zeigen. Von den Ulpianischen Formeln »honeste vive, neminem laede, suum cuique« heißt es, es solle ihnen ein Sinn untergelegt werden, »den er sich zwar nicht deutlich gedacht haben mag, den sie aber doch verstatten daraus zu entwickeln, oder hinein zu legen.« (VI 236,21–23) Knapper kann man die Kantische Interpretationsauffassung nicht formulieren. Man erinnere sich des Umgangs der antiken Dichter und Philosophen mit den Mythen, aber auch mit der Figur des Sokrates; Platon publizierte kurz nach 399 v. Chr. eine Apologie des Sokrates, die dieser, wie alle Athener wußten, so nicht gehalten hatte, aber sie traf das Wesentliche der nicht gehaltenen Rede, sie war Sokrates ähnlicher als er sich selbst, wie von guten Porträts in der Malerei gesagt wurde.

Der Zustand der Texte Die Durchsicht des Kapitels »Lesarten« im Anhang der Werkbände der Akademie-Ausgabe zeigt, wie erstaunlich unsicher die Textgrundlage der meisten Kantischen Druckschriften ist. Bekannt ist die 1879 von Hans Vaihinger entdeckte Blattversetzung in den Prolegomena52. Hier ist der Defekt genau lokalisierbar, er besagt nichts über den Zustand des übrigen Bestandes. Daßelbe gilt mit einer gewissen Einschänkung für den Streit der Fakultäten, der in seiner Fakultätenanlage eindeutig falsch disponiert ist.53 In der Anthropologie in pragmatischer Hinsicht finden sich viele Stellen, bei denen der Leser in gut begründete Zweifel gerät, ob der Drucktext tatsächlich vom Autor geschrieben oder auch nur gemeint sein kann.54 Schwerwiegender ist die Lage in den »Metaphysischen Anfangsgründe der Rechtslehre«. Es ist seit der Entdeckung durch Gerhard Buchda 1929 und der Wiederentdeckung 1949 durch Friedrich Tenbruck55 unbestritten, daß eine Vorarbeit in die Druckfassung gelangt ist. Bernd Ludwig hat zahlreiche weitere Inkongruenzen in der einleitung | 49

Disposition der Schrift gefunden und auf dieser Grundlage eine experimentelle Neuedition unternommen.56 Nun gehen die Textturbulenzen weit über die bisher verzeichneten hinaus, aber so wenig es sinnvoll ist, eine nach dem Rostocker Manuskript gereinigte Edition der Anthropologie in pragmatischer Hinsicht zu veranstalten, so wenig dürfte es möglich sein, bei allen Inkongruenzen in den Text der Rechtslehre einzugreifen und ihn in Ordnung zu bringen. Wie tief die – durch Eingriffe nicht korrigierbare – Zerrüttung reichen kann, zeigt die musterhafte Studie von Hans Kiefner: »§ 39 der Metaphysischen Anfangsgründe der Rechtslehre Kants«57. »Der gedruckte Text des § 39 ist nicht widerspruchsfrei und in sich konsistent. […] Das ius ad rem ist entweder mißverstanden oder in unpassender Analogie verwendet. […] Die Überschrift zu § 39 ist irreführend. Die vier ›Divergenz‹fälle betreffen, außer dem des § 39, gar nicht Erwerbungen im eigentlichen Sinn; der Fall der cautio iuratoria ist zudem einer, den es nur im status civilis geben kann, also gar kein Divergenzfall. Und es sind schließlich gar nicht nur vier Fälle; die Miete kommt hinzu, und sie auch nur als Beispiel, weitere Fälle bleiben offen.«58 Zugleich zeigt Kiefner, wie man aus einem Interesse an der verhandelten Sache die Überlegungen Kants systematisch artikulieren und interpretieren kann, aber die zitierte Diagnose des Textbestandes ist dafür die Grundlage. Wie schon Norman Kemp Smith schrieb, ist die KrV sicher kein »patch-work«; aber der Text hat Qualitäten, die zu dieser Meinung einladen. Das ist weder von einem Dialog Platons noch etwa von den Schriften David Humes oder Rousseaus zu sagen; die Lage bei Kant ist eine der Ausnahmen bei den großen Autoren. Daß die Interpretation sich nach dem Text und sich nicht dieser umgekehrt nach der Interpretation zu richten hat, ist eine billige Maxime; manchmal lässt sie sich jedoch nicht einhalten. Der Kantleser muß auch bei kritischen Editionen der Werke permanent auf der Hut sein, ob der Text haltbar ist oder nicht und im letzten Fall die Hermeneutik ihre eigenen Pirouetten über dem schon gebrochenen Eis vollzieht. Zugleich ist es desaströs, vorschnell Dissonanzen im Text und dann auch in der Theorie festzustellen; es gibt Fälle, in denen Kant eine Struktur mit einer zweiten überformt und der Interpret die gegenläufigen Gedanken zugleich als widersprechend und konsonant behandeln muß. Ein Beispiel dafür ist die höchst 50 | kapitel 

komprimierte Behandlung des Erhabenen in der KdU. Der »Analytik des Erhabenen« entspricht keine systemlogisch geforderte »Dialektik des Erhabenen«, und sie zerfällt nicht, wie an sich zu fordern, in die beiden Teile der Exposition und Deduktion, wofür jedoch ein inhaltlicher Grund geliefert wird (V 279,25–280,15). Das Erhabenenheitsurteil wird nach Quantität, Qualität, Relation und Modalität abgehandelt, die wiederum in die beiden Grundformen des Mathematisch- und Dynamisch-Erhabenen zerfallen. Dadurch entsteht ein Konflikt bei der Modalität, die als vierte den vorhergehenden drei Momenten insgesamt gegenüber tritt (vgl. A 74; 219) und auf keinen Fall zur Relation der Kausalität oder des Dynamischen gezogen werden darf. Entsprechend wird auch bei der Modalität nicht nur vom Dynamisch-Erhabenen gehandelt, sondern vom Gefühl des Erhabenen überhaupt. Die Modalität der Notwendigkeit begründet, warum die Erhabenheitsurteile in die Transzendentalphilosophie »hinüberzuziehen« sind (V 266,17). Hier ist nicht mit dem Text zu hadern, sondern dessen Mehrfachbelegung zu beobachten und in der Interpretation zu berücksichtigen. – Einer von vielen Fällen: In der KdU – V 448,13 – ist weder die Variante der ersten noch der folgenden Auflagen haltbar, der Satz läßt sich nicht retten. Man muß annehmen, daß Kant seine Schriften als mehr oder weniger provisorische Vehikel der endgültigen Theorie ansah und daß diese letztere ihm entsprechend in vielen literarischen Formen darstellbar schien, die durchaus adäquater sein konnten als seine eigenen Schriften. Daher der laxe Umgang mit den eigenen Druckschriften und die vorbehaltlose Freude über die Reinholdschen Briefe über die Kantische Philosophie (1786 ff.) oder auch die Erläuterungen über des Hrn. Prof. Kants Kritik d. r. V. (1784) von Johann Schultz. Andererseits mußte, als der Geist der kritischen Philosophie sich zu diversifizieren begann, notwendig auch die Gegenmeinung gelten: »[…] daß die Critik allerdings nach dem Buchstaben zu verstehen« sei (XII 371,12–13). Für das gesamte Oeuvre gilt, was Norbert Hinske festhielt, daß die Werke »nicht das endgültige Resultat […], sondern eher ein momentaner Querschnitt durch einen nie zur Ruhe kommenden Reflexionsprozeß«59 sind. Höchst problematisch ist die Meinung, Kant habe sich wie ein Journalist in das geplante Werk hineingeschrieben und am Anfang nicht gewusst, was einleitung | 51

am Ende wohl heraus kommen werde. Man kann im Gegenteil damit rechnen, daß der Anfang jeder Schrift die genaue Kenntnis des Endes voraussetzt und ihr in diesem Sinn der Charakter eines Systems zukommt. Wie genial Kant als Schriftsteller sein kann, wird die Analyse der Analytik der teleologischen Urteilskraft im wörtlichen Sinn vor Augen führen. Unsere häufigen Verweise auf ältere, besonders auch antike Autoren dienen der Orientierung im geistigen Umfeld Kants, in dem ihm Seneca sicher näher stand als sein Diener Lampe; letztlich stammt das wohl bekannteste Diktum Kants vom bestirnten Himmel über mir und dem moralischen Gesetz in mir weder von dem ehemaligen preußischen Soldaten Lampe noch von Kant selbst, sondern wortwörtlich vom römischen Stoiker Seneca. Die Kantische Philosophie ist das Produkt der kreativen Auseinandersetzung mit Gedanken oder Schriften der Antike und Neuzeit und läßt sich daher auch kaum aus im wesentlichen zeitgenössischen »Konstellationen« eines präsenten Denkraumes im Sinn von Dieter Henrichs Idealismusforschung rekonstruieren.60 Der Leser wird daher um eine unübliche Geduld gebeten, wenn zeitlich und räumlich ferne Autoren als Akteure im Pro und Contra der kritischen Philosophie nachgewiesen werden. Wir werden des weiteren die Frage berücksichtigen, wie denn die Kantische Philosophie von den Zeitgenossen mit Enthusiasmus begrüßt und mit der Französischen Revolution verglichen werden konnte; in Kants Votum für Popes Metaphysik und gegen die von Leibniz steckt, wie wir sehen werden, das Plädoyer für eine moderne liberale Gesellschaft gegen den Absolutismus und seine Monopolwirtschaft. Hier werden also Faktoren der Politik und der bürgerlichen Ökonomie wichtig sein, die die reine Konstellations-, meistens aber auch die reine Begriffsforschung ausblendet.61 Das folgende erste Kapitel der Untersuchung bedarf einer besonderen Rechtfertigung, denn es enthält weitgehend Zitate von Autoren zwischen 1748 und 1800, in denen unser Leitbegriff der finalen Bestimmung vorkommt. Ein solches Vorgehen ist glücklicherweise unüblich, weil der Leser nicht mit Aufzählungen, sondern Gedanken angelockt und belehrt werden sollte. Wenn jedoch im Jahr 2007 eine Publikation mit dem Anspruch auftritt, die Kantische Philosophie unter einem sie leitenden Problem vorzustellen, 52 | kapitel 

das der gesamten Forschung bislang entgangen ist, wird man vernünftigerweise höchst mißtrauisch sein. Die Strategie ist daher, den Leser zuerst vor ein überwältigendes Material zu stellen und dann gemeinsam zu sehen, welche Konsequenzen daraus zu ziehen sind.

Literatur zum Zentrum der Kantischen Philosophie Es läßt sich keine andere Zielbestimmung im Kantischen Werk ausmachen und der »Bestimmung des Menschen« ein anderes ebenbürtiges zentrales Thema gegenüber stellen. Wenn es z. B. heißt: »Der Kosmopolitismus ist das Zentrum von Kants Philosophieren«62, so ist völlig korrekt, daß das Zentrum in der praktischen Philosophie gesucht wird; aber es läßt sich leicht zeigen, daß der tatsächlich wichtige Kosmopolitismus ein Element nur innerhalb der grundlegenderen praktischen Bestimmung des Menschen und der Menschheit ist. Axel Hutter sieht Kants dirigierende Idee, seine »ursprüngliche Einsicht«, im »Interesse der Vernunft«.63 Auch hier: Die grundlegendere Konzeption ist die der Bestimmung, die sich als das von Kant selbst benannte Zentrum ausweisen lässt und die das Interesse der Vernunft in sich begreift. Die in den achtziger (noch nicht siebziger!) Jahren in den Vordergrund gestellte Frage »Wie sind synthetische Urteile möglich?«64 ist kein Selbstzweck der Philosophie, sondern ein Problem, dessen Auflösung für alle drei kritisch berücksichtigten Vermögen notwendig ist, um den Endzweck der Vernunft systemisch realisieren zu können. Klaus Konhardt nennt als Programm seiner Untersuchung Die Einheit der Vernunft. Zum Verhältnis von theoretischer und praktischer Vernunft in der Philosophie Immanuel Kants (1979): »Daß Kant selbst seine Vernunftkritiken als gelungenen Beitrag zur Bestimmung des Menschen als eines sowohl unter dem Anspruch des moralischen Vernunftgesetzes stehenden als auch natürlichen Neigungen folgenden, mithin in gewisser Weise zerrissenen Wesens verstanden hat, ja seine gesamte Philosophie in den Dienst dieser Aufgabe gestellt wissen wollte, hat für diese Arbeit den Rang einer in der Folge einzulösenden Argumentationsprämisse.« (8) Aber der Begriff der Bestimmung wird in der sonst sorgfältigen Dissertation einleitung | 53

nicht weiter untersucht; es fehlt auch eine präzise Erfassung der Entwicklung der Kantischen Systematik. Hermann Schmitz sucht in seinem kenntnisreichen Buch Was wollte Kant? (1989) die vorkritische und kritische Philosophie auf einen Begriff zu bringen, aber wie schon der Titel unheilvoll ankündigt, ist die Antwort am Ende biographischer Natur: Immanuel Kant wollte sich selbst, er denkt »aus der Gesinnung des sozialen Aufsteigers«(363). Damit sinkt Schmitz in dem Punkt, auf den alles ankommt, unter das Niveau seiner immensen Teilkenntnisse; es ist symptomatisch, daß der letzte Absatz der Zusammenfassung bei der Mutterbindung und Kants Vater, einem aufstrebenden kleinen Mann, verendet (369). Wir suchen keine psychologischen Motive oder Ursachen, sondern die dirigierende Idee der kritischen Philosophie, die Kant explizit als solche benennt. Hier liegt auch die Schwäche des Buches Das Andere der Vernunft von Hartmut und Gernot Böhme (1983). Es werden die Geheimkammern seiner Psyche analysiert, statt theoretischer Begründungen treten anankastische Kausalitäten auf, und aus der lädierten Kindheit werden die Texte abgeleitet, die zu ihrer Erschließung dienten. Für Kant ergeben sich einige interessante Beobachtungen und Aperçus, mehr ist auf Grund des Ansatzes nicht möglich. Ernst Cassirers Schrift Kants Leben und Lehre (1918) enttäuscht sowohl in den Detailfragen (gemessen am Stand der heutigen Erörterungen) wie auch der Bündelung der vielen Einzelstücke zu einem Ganzen. George di Giovannis Schrift Freedom and Religion in Kant and His Immediate Successors. The Vocation of Mankind, 1774–1800 (2005) befasst sich mit Kant und seinen Kritikern und Schülern im angegebenen Zeitraum, jedoch nicht mit dem besonderen Thema der Bestimmung. Im Index wird für das Wort »vocation« nur ein Hinweis gegeben mit dem Zusatz »Weishaupt« und einer Rückbeziehung auf Leibniz; in der sonst sehr lehrreichen Darstellung wird auf die Tatsache, daß die »vocation of mankind« für Kant zentral ist, nicht eingegangen. Norbert Hinske du seine Schüler haben zahlreiche wichtige Beiträge zu Spalding und seinem Umkreis geliefert, jedoch nicht den noch fehlenden Schritt vollzogen, der Bestimmungsfrage bei Kant nachzugehen. Im Ganzen erweist sich die philologisch notwendige Rückdatierung des Neuen als hinderlich; wenn Kant zu einer Col54 | kapitel 

lage von Wolff und Baumgarten herunter interpretiert wird, mögen viele Einzelnachweise stimmen, aber eine einheitliche philosophische Idee wird bei der Strategie des »nihil novi« nicht sichtbar. Warum faszinierte Kant so viele Dichter und Denker, warum nimmt er bis heute an allen philosophischen Tagungen teil, während niemand aus Wolff oder Baumgarten noch systematische Funken schlägt? So läuft die Forschung Gefahr, Kant schon zu Lebzeiten zum toten Hund zu machen. Zu den überzeugendsten Forschungen zur kritischen Philosophie gehören die Bücher von Paul Guyer; seine Arbeiten sind zusammengefasst in dem Band Kant (2006), der in vielen Bereichen komplementäre Betrachtungen zu den hier entwickelten bringt. Guyer beabsichtigt eine historisch-systematische Einführung in die Kantische Philosophie, hier wird versucht, nicht gesehene Teile und Aspekte freizulegen. Höchst lehrreich sind besonders viele italienische Studien, die hier nur marginal berücksichtigt werden können. Dieter Henrich und Henry Allison haben wichtige Debatten angeregt. Wollte das Buch auch nur einem Bruchteil der intensiven Forschung gerecht werden, würde es alle Grenzen sprengen; aus diesem äußerlichem Grund wird auf die Sekundärliteratur höchst ungerecht nur wenig und fragmentarisch verwiesen. Stellvertretend nenne ich hier zwei monumentale Forschungsarbeiten, die ein Schattendasein als Mikrofilm und Mikrofiche führen: Michael Joseph Seidler, The Role of Stoicism in Kant’s Moral Philosophy, Ann Arbor, 1981, 717 Seiten, und Maximiliano Hernández Marcos, (1993): La Crítica de la razón pura como proceso civil. Sobre la interpretación jurídica de la filosofía trascendental de I. Kant, Salamanca (Microfiche), 1993, 805 Seiten. Jedem Kantforscher zum Studium empfohlen.

Die Bestimmungsfrage heute Die Kantische Philosophie ist mit vielen Teilbereichen der Erkenntnistheorie, der Ethik und des Rechts, der Ästhetik des Schönen und Erhaben und der Anthropologie65 an den heutigen Debatten beteiligt, die Frage nach der Bestimmung des Menschen im Sinn der zweiten Epoche der Aufklärung und Kants hat jedoch keine Nacheinleitung | 55

folge gefunden. Sie ist anderen ähnlichen Problemstellungen bzw. Antworten gewichen. Einerseits werden Prognosen des technischen und ökonomischen Fortschritts der Menschheit gestellt mit immer neuen Daten und Erhebungen besonders im Hinblick auf die ökologischen Grenzen, andererseits gewinnen die Religionen an Boden gegenüber der von der reinen Moral geführten Bestimmungsfrage. Die religionsfreie Ethik befasst sich mit den für ein gutes Leben erforderlichen Handlungsnormen, jedoch nicht unter dem Gesichtspunkt, daß der Mensch dazu bestimmt ist, sich selbst zur Sittlichkeit zu bestimmen. Der Fortschritt bezieht sich auf das risikoreiche, exponentiell wachsende Herstellen des Menschen, das sich aus ökonomischen Gründen nicht begrenzen kann; die Religion hält eine davon getrennte positive Antwort auf die Sinnfrage bereit. Die Bestimmungsfrage findet hier keinen Ort mehr; man wird keine Sektion eines Philosophiekongresses entdecken, die der Bestimmung des Menschen gewidmet wäre, und in den Lexika fristet der Begriff allenfalls ein rückgewandtes Dasein. Wir können entsprechend die Kantische Bestimmungsphilosophie nicht mit späteren und gar gegenwärtigen Entwicklungen konfrontieren, sondern nur den Ideenkomplex vergegenwärtigen, der unter dem Titel der Bestimmung des Menschen in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts verhandelt wurde.

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Die Bestimmung des Menschen – ein Thema der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts in Deutschland, speziell bei Kant

Das Wort und der Begriff »Bestimmung« besonders bei Kant 66 Bei der Bestimmung kann es sich bei physischen Phänomenen einmal um eine metrische Feststellung handeln; wir bestimmen messend die intensive oder extensive Größe von etwas, die Bestimmung kann den Ort und die Dauer eines Dinges betreffen. Eine Bestimmung kann auch durch eine Wirkursache erfolgen: Die Masse und die Geschwindigkeit von a bestimmen die Wirkung in b; b ist dann durch a bestimmt oder determiniert. Im Modell des »homme machine« ist der Mensch durch seine mechanischen Versatzstücke bestimmt.67 Wir können auf diese Weise der Kategorientafel folgen und von der quantitativen extensionalen und intensionalen Größe und der Kausalität sprechen. In der theoretischen Philosophie treten zwei weitere Bestimmungsbegriffe auf. Man kann erstens Mineralien, Pflanzen und Tiere bestimmen, indem man sie in ein vorgegebenes topologisches System einträgt, das nach den Prinzipien der Gleichartigkeit, der Varietät und der Affinität organisiert ist (A 650–668). Wenn eine Kantische Schrift jedoch den Titel trägt »Bestimmung des Begriffs einer Menschenrasse« (1775; VIII 89–106), so wird damit nicht angezeigt, daß die Menschenrasse auf Grund ihrer Merkmale in einer begrifflichen Naturordnung wie von Linné lokalisiert werden soll, sondern auf Grund neuer, von Buffon entlehnter Kriterien genetisch bestimmt wird.68 Zweitens nimmt Kant das alte metaphysische Prinzip der »omnimoda determinatio« in seine Philosophie, auch die kritische, auf. Alles Seiende ist »durchgängig bestimmt« (I 27,5; auch II 72,19 u. ö.).69 Es ist festgelegt im Hinblick auf alle möglichen Prädikate, ob sie ihm jeweils zukommen oder nicht. Dieses Prinzip bildet die Grundlage der bisher erwähnten Bestimmungsformen der Natur; die bestimmung des menschen | 57

der Akt der metrischen oder kausalen Bestimmung setzt voraus, daß das zu Bestimmende tatsächlich immer schon bestimmt ist. Hier nur ein kurzer Hinweis auf die Gegenstimme eines Zeitgenossen. August Ludwig Schlözer schreibt (einigermaßen überraschend für einen Historiker) in der Vorstellung der Universal-Historie: »Der Mensch ist von Natur nichts, und kann durch Conjuncturen alles werden: die Unbestimmtheit macht den zweiten Teil seines Wesens aus.«70 Der Mensch ist nach Schlözer also seiner Natur nach unbestimmt, und aus diesem Grund kann es keine determinierte Geschichte und Geschichtsphilosophie geben; aber dazu kommen wir später. In der Naturforschung wird nach Kant des Weiteren mit einer der causa efficiens entgegengesetzten, weil zeitverkehrten causa finalis gearbeitet, in der die (Vorstellung der) Wirkung der Tätigkeit der Ursache vorhergeht. Die causa efficiens a in t1 bewirkt eine Zustandsänderung von b in t2 wie etwa im Fall einer bewegten Billardkugel a, die auf die Billardkugel b stößt und deren Bewegungszustand ändert, d. h. in t2 bestimmt. Die causa finalis dagegen wird in der Kantischen Konzeption so gedacht, daß in t1 der beabsichtigte Zustand von b antizipiert wird und daß dann Wirkursachen so gelenkt werden, daß der antizipierte Zustand von b in t2 wirklich realisiert wird; a ist dazu bestimmt, b zu verwirklichen. Außer diesen beiden Kausalformen des Wodurch und Wozu kann es aufgrund der linearen Zeitstruktur keine weitere geben (V 372,33–373,3). Bei Kant erscheint der Begriff des Bestimmens und der Bestimmung zuerst im mathematischen und physikalischen Sinn, im Schlußteil der Allgemeinen Naturgeschichte und Theorie des Himmels (1755) kommt auch der finale Gebrauch vor (I 342,25; 347,25). Etwas ist bestimmt zu etwas, also Mittel zu einem Zweck. In der KdU bestimmt Kant ein organisiertes Produkt als etwas, »in welchem alles Zweck und wechselseitig auch Mittel ist. Nichts in ihm ist umsonst, zwecklos, oder einem blinden Naturmechanism zuzuschreiben.« (V 376,12–14) Und in modifizierter Form vom Weltganzen: »Alles in der Welt ist irgend wozu gut; nichts ist in ihr umsonst« (V 379,5–6). Kant meidet es in der KdU generell (wie schon in diesen Zitaten), von einer finalen Bestimmung in den Zweck- oder Funktionssystemen der Natur zu sprechen, obwohl hier der Sachverhalt zwei58 | kapitel 

fellos vorliegt, daß jeder Teil der Natur zu etwas bestimmt ist. Der Wortgebrauch ist jedoch eingeschränkt auf die finale Bestimmung speziell des Menschen und seiner geistigen, aber auch natürlichen Fähigkeiten und Beschaffenheiten, also seine Vernunft- und seine Naturbestimmung. Die erstere besagt, daß wir dazu bestimmt sind, aus Freiheit zu handeln, d. h. nach dem Gesetz der Freiheit, das dieser allererst Realität gibt (KpV). Dieses Freiheitsgesetz tritt uns als Norm unserer eigenen Vernunft entgegen, wir sollen unsere natürlichen Handlungsmaximen daraufhin kontrollieren, ob sie sich zu einem allgemeinen Gesetz qualifizieren können. Was das heißt, soll später erläutert werden; hier nur zur Illustration: Der Mensch ist durch seine eigene Vernunft dazu bestimmt, selbst ein Gegenreich zur Natur zu schaffen; es hat eine äußerlich-rechtliche und eine innerlich-sittliche Dimension. Auf dem Gebiet des Rechts lautet der Imperativ, unsere Handlungen der Norm zu unterwerfen, nach der »die Freiheit der Willkür eines jeden mit jedermanns Freiheit nach einem allgemeinen Gesetze zusammen bestehen kann.« (VI 230,29– 31) Auf dem Gebiet der Sittlichkeit sollen wir (gemäß der GMS) das Zwecksystem der Natur, »in welchem alles Zweck und wechselseitig auch Mittel ist« reproduzieren als ein Reich der Zwecke, in dem keine Person nur Mittel, sondern immer zugleich Zweck ist. Unsere Bestimmung ist also die Verwirklichung der Freiheit, sei es, indem wir gemäß dem Freiheitsgesetz handeln, sei es, indem wir aus Achtung vor diesem Gesetz handeln. (Diese Stufung des gemäß und aus wird uns bei der Analyse der »Kritik der teleologischen Urteilskraft« erneut beschäftigen). Rousseau schreibt zu Beginn des zweiten Spaziergangs seiner Rêveries du Promeneur Solitaire, er wolle sein, wozu die Natur ihn bestimmt habe, »ce que la nature a voulu«71. Die Bestimmung des Menschen ist der Wille der Natur. »Die Natur hat gewollt: daß […].« (VIII 19,18) Hier wird das, wozu unsere eigene Vernunft uns bestimmt, noch einmal überhöht und als Bestimmung der (stoisch gedachten) Natur oder Vorsehung gefasst. Francis Hutcheson, der die Bestimmungsphilosophy von Shaftesbury fortführte, spricht im späten System of Moral Philosophy durchgehend von den »determinations of our nature«72; sie entspringen dem Naturgesetz, mit dem ein allmächtiger und gütiger Gott die Welt in Ordnung hält; »determination« ist entsprechend zugleich faktisch und normativ. Heutige die bestimmung des menschen | 59

Autoren ziehen es meist vor, bei der normativen Bestimmung von »vocation« oder auch »destination« zu sprechen; Kant selbst benutzt statt der finalen Bestimmung auch die Wörter »Zweck«, »Endzweck«, »Behuf«, »Beruf«. Wir finden bei Kant zuweilen einen Wortgebrauch, der sich schwer in diesen Alternativen verorten läßt. In der »Vorrede« der Metaphysischen Anfangsgründe der Naturwissenschaft heißt es: »[…] so kann es so vielerlei Naturwissenschaften geben, als es specifisch verschiedene Dinge giebt, deren jedes sein eigenthümliches inneres Princip der zu seinem Dasein gehörigen Bestimmungen enthalten muß.« (IV 467,4–7) Was ist hier mit »Bestimmungen« genau gemeint? Sind es die essentialia? Die grundlegenden Qualitäten, die dieser und nur dieser Dingklasse zukommen? Meistens läßt sich dem Kontext genau entnehmen, was mit »Bestimmung« gemeint ist, und dann ordnen sich die Gebrauchsformen einer der oben genannten Gruppen zu. Das isolierte Wort »Bestimmung« ist also unterbestimmt, es bedarf immer eines Kontextes, in dem die genaue Wortbedeutung festgelegt wird. Während Kunstsprachen isolationistisch verfahren und die letzten Bausteine verbindlich definieren, verfährt die mit den natürlichen Sprachen operierende Philosophie kontextualistisch und bietet dem Leser verbale Zusammenhänge, die er nachvollziehen muß, um den letzten Bausteinen, den Wörtern, ihre möglichst genaue Bedeutung genau an dieser einen Stelle zu geben. Diese allgemeine Regel wird im Fall der Verwendung des Wortes »Bestimmung« immer zu beachten sein. Es wird im Folgenden zuerst das Gründungsdokument der Bestimmungsphilosophie von 1748 analysiert; im zweiten Teil wird in einer ungewöhnlichen Weise ein Prospekt wichtiger und auch weniger wichtiger Äußerungen verschiedener Autoren, auch Kants, zur Bestimmung des Menschen entrollt. Dieses Verfahren soll mögliche Bedenken des Lesers zerstreuen, es handle sich am Ende doch um eine zu Recht als marginal angesehene Problematik, die hier künstlich und sachfremd in den Vordergrund geschoben wird.

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Der Beginn der neuzeitlichen Bestimmungsphilosophie Im Jahr 1748 publizierte der 34jährige studierte Theologe Dr. D.73 Johann Joachim Spalding anonym die Broschüre Betrachtung über die Bestimmung des Menschen;74 mit diesem Werk lieferte der sonst kaum bekannte Autor das Stichwort und den Leitbegriff für eine der zentralen philosophischen Debatten der zweiten Jahrhunderthälfte in Deutschland.75 Das populär gehaltene Buch wurde von der preußischen Königin ins Französische übersetzt, in Raubdrucken verbreitet und 11 Mal – meist mit Zusätzen – neu aufgelegt, zu Lebzeiten des Autors zuletzt 1794. Im selben Jahr 1794 eröffnete Johann Gottlieb Fichte mit der Bestimmung des Gelehrten einen neuen und letzten Höhepunkt der Bestimmungsliteratur; 1800 folgte seine Bestimmung des Menschen, danach ebbte das Interesse ab. Der Neostoizismus wurde durch ein wieder belebtes Christentum und erneuerten Platonismus ersetzt. Zuvor galt: »Handeln, handeln, das ist es, wozu wir da sind!« »Man is born for action!« Spalding: »Der Mensch ist zur Thätigkeit bestimmt.«76 Zu dieser Antwort drängt schon die Themenstellung der finalen Bestimmung, denn weder der Epikureer noch der Platoniker wird das Ergebnis seiner eigenen Lebensauffassung unter dem Titel einer allgemeingeltenden Bestimmung des Menschen zur Diskussion stellen; beide wollen ihre Lebensauffassung für eine Genuß- oder Erkenntniselite entwickeln, aber nicht damit den Lebensweg aller bestimmen. Mit einer noch nicht ins Praktische gewendeten Akzentsetzung schreibt Immanuel Jacob Pyra in seiner kurzen Schrift Über das Erhabene (um 1740) in Anlehnung an eine stoisierende Passage von Pseudo-Longinos: »Der Mensch ist zur Hoheit geboren. Der Schöpfer hat ihn dazu bestimmt. Aus der Betrachtung seiner Natur erkennen wir es, die Erfahrung bestätiget es.«77 Bei näherer Betrachtung erweist sich Spaldings kleines Buch als die Programmschrift der zweiten Phase der deutschen Aufklärung; kein Zufall, daß zeitgleich das deutsche Wort »Selbstbewusstsein«78 geprägt wird und wie das Wort »Bestimmung« seine zugleich populäre wie auch akademische Karriere beginnt. Die Abwendung von der spekulativen Metaphysik hin zu einer lebenspraktischen, selbstbewußten Philosophie war in England mit Francis Bacon und John Locke und Shaftesbury schon vollzogen und in Frankreich mit die bestimmung des menschen | 61

Voltaire begonnen worden, Rousseau setzte diese Tendenz ungefähr zeitgleich mit Spalding fort.79 »Programmschrift der zweiten Phase der deutschen Aufklärung« – Christian Wolff, der bedeutendste Repräsentant der ersten Phase, vertritt die Vorstellung, daß der Staat in seiner Verfassung dem Projekt des »ungehinderten Fortschritts zum Zweck der Gesellschaft«80 verpflichtet ist; der Fortschritt ist eine zunehmende Aufhellung der partiell noch dunklen Welt. Im Zentrum dieses Programms steht die theoretische Erkenntnis, mit deren Hilfe alle Teile von Staat und Gesellschaft zunehmend verbessert werden. Wenn jedoch die Bestimmung des Menschen in den Vordergrund rückt, ist die Aufklärung am Ende nur ein Mittel der praktischen Aufgaben des Menschen, nicht das ultimative Ziel. Kant wird die Stafette des Primats der Praxis übernehmen und damit die Kultivierung und Zivilisierung des Menschen zu Vorstufen der Moralisierung erklären – diese letzte ist das eigentliche Ziel der Geschichte, und wie jeder gelernt hat, kann der ungebildete römische Bauer dem sophistisch zivilisierten Griechen weit überlegen sein, zwar nicht in der Wolffschen Aufklärung, wohl aber in der Moral. Das ist zutiefst stoisch; die Spaldingsche Schrift importiert das moralisch Unbedingte und trägt damit den Keim der Zerstörung in die Aufklärung der zunehmenden Erkenntnis. Während es bei dieser ersten auf die zunehmende Helligkeit ankommt, ist die zweite daran interessiert, daß dieses Licht von mir selbst stammt – es heißt nicht, daß man die Erkenntnis voranbringen, sondern sich des eigenen Verstandes bedienen soll. Das Selbst mit dem Primat des Praktischen gerät in den Vordergrund, und die Lichtmetapher wird vergessen. Die Aufklärung verschiebt sich nach 1748 von der theoretischen in die praktische Vernunft, vom Erkennen (weniger) zum Wollen (aller). Der Titel Betrachtung über die Bestimmung des Menschen (ab der 7. Auflage 1763: Die Bestimmung des Menschen) enthält eine Innovation. Das Wort »Bestimmung« wurde nach der Auskunft der einschlägigen Lexika vor Spalding nicht gebraucht. Das Wort also ist neu, aber nicht die Sache, wie offenbar Albrecht Beutel (in: Spalding 2006) meint. Es gibt, wenn ich richtig sehe, keinen Gedanken bei Spalding, den er nicht der Lektüre römischer Autoren und Shaftesburys verdankte. Dies soll im Folgenden dokumentiert wer62 | kapitel 

den; Spalding formuliert nur höchst gelungen, was seine gebildeten Leser schon kannten oder auch z. B. bei Rousseau finden konnten. Inhaltlich präsentiert sich die Betrachtung als praktische Komplementär- und Oppositionsschrift der theoretischen Meditationes de prima philosophia (1641) von Descartes. Was Descartes durch die spekulative Metaphysik zu erreichen versuchte, das zeigt Spalding ohne alle Metaphysik durch die Meditation über die praktische Aufgabe des Menschen. Dort die Frage: Was kann ich mit Gewißheit erkennen? Hier das praktische Pendant: Was soll ich tun? Wozu bin ich bestimmt? In beiden Schriften zieht sich das Ich zurück und reflektiert über die entscheidende Frage dort seines Erkennens, hier seines Lebens und Handelns; es ist die ernsthafteste Überlegung darauf zu richten, »worauf mein eigentlicher Wehrt und die ganze Verfassung meines Lebens ankömmt. Es ist doch einmal der Mühe wehrt, zu wissen, warum ich da bin, und was ich vernünftiger Weise seyn soll.«(1)81 Descartes’ Problem ist elitär und Sache nur der Spekulation, weil die Frage einer absolut gewissen Erkenntnis in der Lebenspraxis der Menschen nicht vorkommt; Spalding dagegen richtet seine Betrachtung auf ein Problem, das das Vernunftinteresse jedes Menschen ausmacht: Was soll ich tun? Und im Anschluß daran: Gibt es einen Gott? Ist meine Seele unsterblich? Die theoretischen Beweise von Gott und Unsterblichkeit, die Descartes in den Meditationen bringt, werden teils ersetzt, teils ergänzt durch den moralisch-praktischen Beweis, den jeder nachvollziehen kann. Wir können nicht umhin, hier aus der Retrospektive eine Vorzeichnung des Kantischen Unternehmens zu sehen: Die alte Metaphysik wird zermalmt und destruiert, um der Moral und durch sie dem Glauben aus praktischer Vernunft Platz zu machen, und bei der Durchführung in der KpV legt Kant in der Konsequenz dieses Gedankens genau den Aufbau der Bestimmungs-Schrift zugrunde. Spaldings Ausführungen enthalten keine explizite Widerlegung, sondern eine entschiedene implizite Absage an die zeitgenössische Metaphysik und deren lateinische »determinatio« aller existierenden Dinge. Mit der schulphilosophischen Frage der Vollkommenheit, »perfectio«, oder gleichbedeutend »omnimoda determinatio«, der durchgängigen ontologischen Bestimmtheit hat die Spaldingsche Bestimmung nichts zu tun, sondern steht von der ersten bis zur die bestimmung des menschen | 63

letzten Zeile in einer gänzlich anderen Welt. Hier wird kein gelehrter Vortrag gehalten, sondern eine populäre Mahnung zur Tugend und zum Glauben, hier befinden wir uns nicht im akademisch-peripatetischen oder cartesischen Auditorium, sondern in der stoischen Halle, in die jedermann eintreten kann und soll. »Bestimmung« ist von vornherein final zu lesen; es wird an den Anfang die Frage gestellt, wozu, nicht wodurch der Mensch bestimmt ist.82 Kein Zufall, daß kein Motto und kein eingeflochtenes Zitat von Platon und Aristoteles kommen, sondern aus der römischen Stoarezeption. Die Betrachtung ist an stoischen, durch Shaftesbury erneuerten »Soliloquien«83 orientiert und bringen in gedrängter, aber leicht lesbarer Form die Leitgedanken der nachfolgenden Bestimmungsliteratur; ihr Erfolg beruhte nicht nur auf dem einen, zu einer Tendenz des Zeitalters passenden Stichwort, sondern auf der literarischen Form und der gedanklichen Konsequenz, mit der die entscheidenden Gedanken aufgerufen und behandelt werden. Spalding assimiliert die umgehenden Überzeugungen und schreibt sie wirkungsvoll nieder. Seine Shaftesbury-Übersetzung Die Sitten-Lehrer oder Erzehlung philosophischer Gespräche, welche die Natur und die Tugend betreffen von 1745 trug schon wirkungsvoll die Devise der Aufklärung: »Sapere aude«.84 Ob Kant diese Schrift und die Bestimmung des Menschen von Spalding gelesen hat, ist, wenn ich richtig sehe, ungewiß85; die letztere ist jedoch in der durch sie angeregten Debatte präsent, und an ihr ist auch Kant beteiligt. Auf sie bezieht sich Moses Mendelssohn in seinem Phädon von 1767, den Kant genau kannte und auf den er sich später explizit beruft (B 413). Kant absorbiert die Spaldingsche Schrift oder die Tendenz, die sich in ihr ausdrückt, im exoterischen Teil seiner Philosophie, durch den er noch heute ein gewissermaßen populärer Autor ist. Es ist der Kant nicht der subjektiven Formen der Anschauung, nicht der Kategorientafel und der synthetischen Urteile a priori, sondern der Kant des eindeutigen Pflichtgesetzes, des Friedens als eines Rechtspostulats, der Erhabenheit des gestirnten Himmels und der Moralität in der eigenen Brust. Aus der Retrospektive scheint es ein existentielles Erweckungserlebnis gegeben zu haben, das vor dem intellektuellen von 1769 liegt (»gab mir großes Licht«, XVIII 69,21–22) und vielleicht auch vor dem berühmten »Rousseau hat mich zurecht gebracht.« (XX 44,12–13). Hier mußte eine Nähe zum Menschheits64 | kapitel 

pathos von Spalding entstehen. Unten soll darauf noch einmal eingegangen werden. Die Einleitung der Bestimmung in den Ausgaben ab 1768 organisiert den Weg zu der nachfolgenden Untersuchung in drei Schritten: Zuerst wächst der Autor auf mit den »freudigsten Empfindungen der Gewissensruhe, der Zuversicht zu Gott und der Hoffnung auf die Ewigkeit« (39). Sodann folgt in klassischer Reihung der Zweifel: Der Mensch lernt nach der kindlichen Phase naiver Selbstgewißheit die Welt von einer Seite kennen, »wo sie beynahe das völlige Gegentheil von demjenigen an sich zeiget, was er sonst für den einzigen geraden Weg der Glückseligkeit gehalten hatte.« »Zweifel«, »Wollust«, »stürmisches Meer« und »Rand des Lasters« – die Gefahr ist groß und erzwingt die Selbstverständigung des Menschen über die Frage, »was er seyn soll« (39–40). Die Untersuchung führt zur reflektierten Selbstbewußtheit oder Erkenntnis dessen, wovon der Mensch zuerst naiv glaubend überzeugt war. Es ist die typische biographische Bewegung im Dreischritt von ursprünglicher Selbstgewißheit und Einheit, der nachfolgenden Haltlosigkeit und Selbstverlorenheit im Getümmel der Meinungen und Begierden, und drittens der Rückgewinnung des eigenen Ich in einer jetzt höheren, reflektierten Selbstverfassung. Das erste und berühmteste Beispiel dieses Erinnerungsverlaufs findet sich in den Bekenntnissen Augustins; dort folgt jedoch auf die Epoche des Selbstverlustes in der Sinnlichkeit die Kehre zum Christentum. Das Muster wird nicht nur in der Strukturierung der praktischen Lebenshaltung verwendet, sondern auch in der theoretischen Erkenntnis. Man denke an den platonischen Dialog Menon; der Knabe oder Sklave meint zuerst fest zu wissen, wie ein Quadrat verdoppelt wird; er stürzt sodann in die Tiefe des Nichtwissens und gewinnt drittens eine gegen Zweifel gefeite mathematische Erkenntnis. In der antiken Skepsis wird die Etikettierung mit »dogmatisch«, »akademisch«. »skeptisch« vorgenommen,86 die bei Kant im Dreischritt von Dogmatismus, Skeptizismus und Kritizismus wiederkehrt. In die Biographie der Vernunft, ihre Phylogenese, projiziert: »Der erste Schritt in Sachen der reinen Vernunft, der das Kindesalter derselben auszeichnet, ist dogmatisch. Der eben genannte zweite Schritt ist skeptisch, und zeugt von Vorsichtigkeit der durch Erfahrung gewitzigten Urteilskraft. Nun ist aber noch ein dritter Schritt nötig, der die bestimmung des menschen | 65

nur der gereiften und männlichen Urteilskraft zukommt, welche feste und ihrer Allgemeinheit nach bewährte Maximen zum Grunde hat; […] welches nicht die Zensur, sondern Kritik der Vernunft ist, […].« (A 761) Die KrV verortet sich also in dieser Topographie an derselben Stelle, an der Spalding die Bestimmung des Menschen lokalisiert. Der Autor – aus dem »Er« wird bei der Rückgewinnung des eigenen Selbst das »Ich«; gegen die widersprüchlichen Meinungen aller anderen wendet sich die zweifelnde unruhige Seele zurück in sich selbst. Diese Wegfindung kann an niemanden delegiert werden, jeder muß durch sich selbst zu sich gelangen. Das Wort »selbst« wird nicht übermäßig strapaziert, auch nicht die Wendung, daß der Mensch sich jetzt nur noch seines eigenen Verstandes bedienen kann und daß diese Selbstfindung immer ein Akt der Freiheit sein muß; aber diese von John Locke und vor allem Shaftesbury und dann von späteren Autoren mit Emphase herausgestellten Leitbegriffe liegen dem Gedanken Spaldings implizit zugrunde. Wir werden später mit dem Problem konfrontiert werden, warum das nicht von außen gelenkte, nicht auf Autoritäten gestützte Selbstdenken als solches gegen Irrtum und Täuschung immun sein soll; die Antwort ist die gleiche wie bei Rousseau und liegt in der gemeinsamen Quelle der Stoa: Im reinen Ich findet sich die reine Natur und damit ohne alle verfälschende Gelehrsamkeit die pure Wahrheit. Dabei ist die Ich-Form nicht das neutrale »das Ich« oder »to ego« der Schulmetaphysik, es ist auch nicht das subjektiv bekennende Ich, das Individuum Augustinus, Montaignes oder von Jean-Jacques, das um seine singuläre Bestimmung ringt. Sondern es ist »ich«, als der sich jeder Mensch tatsächlich findet; genau so wird Kant die drei Fragen stellen: »Was kann ich wissen? Was soll ich tun? Was darf ich hoffen?« Hier ist jeder selbst involviert. Fichte schreibt in der abschließenden Bestimmung des Menschen (1800) in der Fortsetzung dieses Ich-Gedankens, »daß der Ich, welcher im Buche redet, keineswegs der Verfasser ist, sondern daß dieser wünscht, sein Leser möge es werden; – dieser möge nicht bloß historisch fassen, was hier gesagt wird, sondern wirklich und in der That während des Lesens mit sich selbst reden, […] und durch eigene Arbeit und Nachdenken, rein aus sich selbst, diejenige Denk66 | kapitel 

art entwickeln, und sie in sich aufbauen, deren bloßes Bild ihm im Buche vorgelegt wird.«87 Der Autor, d. h. sein Jedermann-Ich auf dem Weg der Selbstfindung, fragt, »warum ich da bin, und was ich vernünftiger Weise seyn soll« (1). Die erste Reflexion folgt in alter Anordnung der Lebenswegphilosophie in drei Stufen; auf der ersten wird der Weg der Sinnlichkeit geprüft und verworfen, auf der zweiten der Lebensweg des geistigen Vergnügens, der auch nicht befriedigen kann, auf der dritten das Tugendleben in den Formen der Selbstsorge, des Familienlebens und des Lebens in der bürgerlichen Gesellschaft.88 Die Reflexion über die am Wohl anderer orientierte Seele in der Gesellschaft führt zur Betrachtung der harmonischen Natur überhaupt, und von hier eröffnet sich nach dem Durchschreiten der Welt der Ausblick auf Gott und die Unsterblichkeit. Es folgt ein kurzer Abriß einer deistischen Theologie, die nun ihrerseits die Grundlage der Erkenntnis der Unsterblichkeit unserer Seele ist. Spalding bestimmt diese Seele – das Ich – als Einheit (gegenüber dem Auseinander der räumlichen Weltphänomene) und als im Zeitverlauf selbst-identisches Denken (Descartes’ »cogitatio«).89 Hierauf läßt sich der Faden des ersten Meditationsteils wieder aufnehmen: Die im irdischen Leben noch nicht vollendete Tugend weist konsequent über dieses Leben hinaus zur Unsterblichkeit; nach dem Tode also führt der Weg erstens zur weiteren Vervollkommnung; zugleich verheißt Gott zweitens, daß dann »jeder das erhält, was ihm zukömmt« (20), daß also »Rechtschaffenheit und Glückseligkeit« (173) zusammenfinden. (Auf diese beiden Aspekte der Unsterblichkeitshoffnung werden wir verschiedentlich erneut stoßen.) In der bisherigen Literatur zu Spalding ist der Gedanke übersehen worden, der das Vorgehen in seiner Schrift bestimmt. Wir hatten gesehen: Nach zwei für die Bestimmungsfrage nicht ergiebigen Lebensformen (Sinnlichkeit, geistiges Vergnügen, d. h. die reine Theorie) bleibt der Weg des Handelns übrig, und dieser ermöglicht die praktische Gewißheit von Gott und Unsterblichkeit. In der näheren Programmausarbeitung bei Kant wird der defizitäre Charakter der theoretischen oder spekulativen Erkenntnis durch eine kritische Untersuchung des menschlichen Erkenntnisvermögens gezeigt; Spalding dagegen begibt sich nicht auf das Gebiet der Theorie selbst, sondern beurteilt das Wissenschaftstreiben mit Kriterien, die die bestimmung des menschen | 67

ihm äußerlich sind; es gehe dem Wissenschaftler am Ende nur um seinen eigenen Besitz, um sein eigenes Ego, und das sei moralisch nicht haltbar. Ein Topos nicht der platonisch-aristotelischen, sondern der stoischen Tradition, den wir ebenso bei Rousseau und bei Kant finden – »Die Eitelkeit der Wissenschaft entschuldigt gerne ihre Beschäftigung mit dem Vorwande der Wichtigkeit, und so giebt man auch hier gemeiniglich vor, daß die Vernunfteinsicht von der geistigen Natur der Seele zu der Überzeugung von dem Dasein nach dem Tode, diese aber zum Bewegungsgrunde eines tugendhaften Lebens sehr nötig sei; […] Allein die wahre Weisheit ist eine Begleiterin der Einfalt, und da bei ihr das Herz dem Verstande die Vorschrift giebt, so macht sie gemeiniglich die große Zurüstungen der Gelehrsamkeit entbehrlich, und ihre Zwecke bedürfen nicht solcher Mittel, die nimmermehr in aller Menschen Gewalt sein können.« (II 372,12–23) Dieser Gedanke der Träume findet seine systematische Fortsetzung u. a. in der KdU: Es sei nicht das Erkenntnisvermögen, durch das unser Dasein einen Wert bekomme, auch sei es nicht »das Gefühl der Lust und der Summe derselben, in Beziehung auf welches wir einen Endzweck der Schöpfung als gegeben denken« (V 442,30–31) und beantworten könnten, wozu wir überhaupt da sind. Also sei es nur das Begehrungsvermögen, nur »ein guter Wille ist dasjenige, wodurch sein Dasein allein einen absoluten Werth und in Beziehung auf welches das Dasein der Welt einen Endzweck haben kann.« (V 443,10–13) Es ist daßelbe Verfahren, es ist daßelbe Ergebnis, zu dem Spalding und Kant gelangen. Zuerst das Handeln, dann folgen der Glaube an Gott und die Hoffnung auf Unsterblichkeit. Dies ist also die Grundlage für die Struktur des Gedankens im Ganzen, wie inzwischen deutlich wurde, und es ist nicht schwer zu erraten, worauf Spalding zurückgreift: Es sind die drei christlichen Tugenden des Glaubens (an Gott), der Hoffnung (der Unsterblichkeit meiner Seele) und der Liebe (im weltlichen Handeln). Das tugendhafte Handeln wird jedoch an den Anfang gestellt, dann folgen der Glaube und die Hoffnung. Diese Inversion in der Abfolge ist bedeutsam, denn sie besagt, daß die Bestimmung des moralischen Handelns nicht durch den zuvor erkannten Gottesbegriff erfolgt, sondern umgekehrt der Glaube an Gott eine Folge der Moralität ist. Damit wendet sich der Neologe Spalding gegen die pietistische Orthodoxie, die erbittert (und gegen 68 | kapitel 

Christian Wolff in Halle erfolgreich) für die Abhängigkeit aller Moral vom Glauben gekämpft hatte. Die gesamte Moralphilosophie Kants wird in der Nachfolge Spaldings (und damit Shaftesburys) um den Primat der Moral vor der theoretischen Erkenntnis und der Religion kämpfen. Wie die Orthodoxie das Verhältnis von Glauben und Moral sah, geht aus einer Königsberger Schriftensammlung von 1747 hervor, die Georg Christoph Pisanski 1790 so angibt: »Dieses Werk ist eine Sammlung von zehn seit dem Jahr 1732 gehaltenen Disputationen, worinnen er [Konrad Gottlieb Marquard] die natürliche Gottesgelahrtheit mit der Moral verbindet, und die Pflichten des Menschen, besonders gegen sich selbst, aus den Bewegungsgründen vom Daseyn, den Eigenschafften und Werken Gottes herleitet.«90 Spalding und Kant revolutionieren diese Reihenfolge in Deutschland und machen den Glauben und die Hoffnung umgekehrt von der Moral abhängig! Spalding wendet sich unmittelbar an die Natur: »Die bloße einfältige Natur mag bey mir reden; ihre Entscheidungen sind ohne Zweifel die zuverläßigsten.« (45) Oder: »Wenn ich ohne die Benebelung meiner Sinnlichkeit in mich selbst gehe, so sehe ich wol, daß wahre Verbesserungen, Vollkommenheiten und Vortheile meiner selbst bey mir möglich sind; daß meine Natur mich innerlich antreibet, danach zu trachten, […].« (6) »Das ist alles meiner Natur gemäß […]« (7) – »naturgemäß«, »naturae convenienter«, der Autor folgt stoischen Impulsen, vor allem aus Senecas De vita beata, und aufgrund der gemeinsamen stoischen Quellen klingt vieles genau so wie bei Rousseau. Das »naturae convenienter« und die innere Lust, mit der die Natur das ihr Gemäße begleitet,91 ist der Leitfaden und das Kriterium bei der Suche nach der Bestimmung. Wenn ich meine Wohlfahrt auf die Welt erstrecke (die stoische »kosmopolis«), dann »gefalle ich mir selber; dann bin ich mir bewußt, daß das so seyn soll; und das giebt mir eine so reine und so innerlich befriedigende Lust, daß ich daran gnugsam erkenne, wie sehr solches meiner Natur gemäß ist.« (89) Handle ich der Natur gemäß, »wird in meiner Seele ein Gleichgewicht, eine Heiterkeit und Ruhe zuwege gebracht werden, die über die Anfälle äußerlicher Widerwärtigkeiten weit hinaus ist.« (13) Der innere Seelenfriede, die mit Lust empfundene Stille in allen widrigen Umständen der Welt – im Rückgriff auf den die bestimmung des menschen | 69

stoischen Weisen antizipiert Spalding, was Winckelmann 1755 vom Laokoon schreiben wird. Spalding: »Alles Böse, was mich etwa treffen mag, dringet höchstens nicht weiter, als auf meinen Leib, und bringet seine Verwüstungen niemals in meine Sele, so lange ich in einer gelassenen Beschauung mich selbst billigen, so lange ich zu mir selbst sagen kann: ich thue das, was ich thun soll; ich bin das, was ich seyn soll.« (81) Winckelmann: »So wie die Tiefe des Meeres allezeit ruhig bleibt, die Oberfläche mag noch so wüten, ebenso zeiget der Ausdruck in den Figuren der Griechen bey allen Leidenschaften eine große und gesetzte Seele.«92 Physisch leidet Laokoon, aber der Schmerz dringt nicht in seine Seele – das ist die Botschaft beider Autoren. Wir brauchen nicht anzunehmen, daß Winckelmann die Schrift von Spalding gelesen hat; aber es ist unabweislich, daß beide an denselben stoischen Texten, unmittelbar oder vermittelt, ihre geistige Bildung erfahren haben und die Seelenruhe, die ataraxia, preisen. Spalding entdeckt im eigenen Sein und damit in der menschlichen Natur, was er ist und was er sein soll oder wozu er bestimmt ist. Suchen wir nach unserer eigentlichen Bestimmung, dann brauchen wir, so Spalding, nur der einfältigen Stimme der Natur zu folgen, die im Denken und Fühlen zu uns spricht. »Auf die Art fällt die Vermuthung völlig hinweg, daß jene Triebe des Rechts und der Güte ein Vorurtheil, eine Wirkung der Erziehung bey mir seyn könnten.« (9) Also auch nicht der christlichen Erziehung. Eine irrationale Bruchstelle nun erzwingt den schon angesprochenen Überschritt vom Diesseits zum Jenseits und entsprechend die Vergewisserung eines einheitlichen und somit immateriellen Ich, das durch den Zerfall im materiellen Tod nicht berührt wird. Der dramatische Umschwung kommt überraschend und wird nur mit wenigen Worten geschildert: »Ich folge hin und wieder den Schicksalen in diesem Leben mit meinen Beobachtungen bis zum Ende; und ich finde den Knoten nicht aufgelöset. Erst der Tod endiget hier die Unterdrückung der Tugend, und dort das stolze Glück des Lasters. Dieß widerspricht aller meiner Erwartung, die auf die Begriffe von der Ordnung gegründet war. Können denn die unwandelbaren Regeln von der Billigkeit verstatten, daß einer Seele, die so ist, wie sie seyn soll, die natürlichen glückseligen Folgen ihrer innerlichen Richtigkeit, die ihr sonst schon Belohnung genug seyn wür70 | kapitel 

den, durch eine boshafte Gewalt auf immer geraubt, geschwächet, oder verbittert werden? Schickt es sich, daß ein rechtschaffenes Gemüth, welches allein glücklich zu seyn verdienet, das ganze Leben durch ein Raub der Bosheit, ein Spiel ungerechter Verfolgungen sey?« (19) Dieser Einbruch des Bösen kommt in der Inszenierung des Autors überraschend; denn in der Harmonie und Sympathie von Natur und Menschen, die als Folie der Tugendentfaltung diente, zeigte sich davon nichts. Jetzt tritt das Böse mit aller Macht auf, es verhindert die billige, schickliche Proportion von Tugend und Glück und Laster und Unglück und dreht diese Zuteilung geradezu um. Der Ausweg aus dieser irdischen Misere bietet sich in der Idee der Unsterblichkeit unter der Herrschaft eines guten und gerechten Gottes. Dieselbe Verknüpfung von Tugend und berechtigter Hoffnung, die durch einen guten und gerechten Gott erfüllt werden muß, findet sich in vielen zeitgenössischen Schriften, man denke nur an Rousseaus Emile (1762) mit dem Bekenntnis des »Vicaire Savoyard«93. Bedingung dieser Lösung ist eine Seele, die nicht mit dem physischen Tod enden muß; die Erkenntnis des Selbst als eines immateriellen Wesens erscheint entsprechend nicht im grundlegenden ersten Teil, sondern im zweiten. Unsterblichkeit wird aus Gründen der Sittlichkeit gefordert, und die Theorie kann (denn sie muß und wird natürlich) zeigen, daß die immaterielle Seele tatsächlich zur Unsterblichkeit befähigt und bestimmt ist. Wie die Gewißheit Gottes aus der Moral folgt und dieser nicht umgekehrt als Grundlage dient wie in der alten Metaphysik, so wird das Wesen der Seele aus dem praktischen Bedürfnis bestimmt und nicht umgekehrt als dessen Vorbedingung eruiert. Wir sahen schon oben bei der Lebensweganalyse, daß Spalding mit dem Abweis des »geistigen Vergnügens« als des besten Lebensweges gegen Platon und Aristoteles votierte, denn beide hatten den Primat der reinen Theorie vor jeglicher Praxis behauptet und begründet, Platon zuerst im Phaidon94, danach auch in der Politeia95, und Aristoteles in der Nikomachischen Ethik96. Wir werden bei Kant auf daßelbe Votum stoßen: Die praktische Vernunft erhält den Primat gegenüber der theoretischen, die nicht dazu in der Lage ist, ihrer Tätigkeit einen eigenen autonomen Wert zu verleihen. Das Streben nach Wahrheit und wissenschaftlicher Erkenntnis ist nur die bestimmung des menschen | 71

bedingt gut, nämlich dann, wenn die reine praktische Vernunft ihr dieses Prädikat verleiht. Antiplatonisch und antiaristotelisch ist auch die erkenntnistheoretische Absicherung des Vergewisserungsweges. Wo Platon einen komplizierten Gang der Erkenntnis entwirft (»Ohne Geometriekenntnisse möge hier niemand eintreten!«97) und Aristoteles das politische und kulturelle Wissen der Polis einsetzt, um die Wesenserkennntis des Menschen zu ermöglichen, zeigt Spalding, wie dieses Wissen ohne alle äußeren Hilfsmittel und Einreden zu erlangen ist – es liegt in dir selbst, du mußt es dort nur mit Verstand und Empfindsamkeit entdecken. Die christliche Lehre der Prädestination, der göttlichen Vorbestimmung jedes einzelnen Menschen, war auf doppelte Weise dem Menschen selbst entzogen. Einmal war sie das Resultat der Gelehrsamkeit von Geistlichen, die darüber mit anderen Geistlichen unvermeidlich in einen Zwist gerieten, und dieser Zwist war für Laien nicht durchschaubar, obwohl es sich dabei um das Heil ihrer eigenen Seele handelte. Zum anderen hat Gott beschlossen, uns nicht mitzuteilen, wozu wir genau prädestiniert sind. Wozu wir dagegen nach Spalding bestimmt sind, das liegt für jedermann offen zutage. Stillschweigend wird damit die Offenbarungsreligion dispensiert und mit ihr jeder Gedanke an die Erlösung: Der von Spalding bestimmte Mensch gelangt auf natürliche Weise zu den Ideen von Gott und Unsterblichkeit, weil in beiden erst das Ganze der Natur und der menschlichen Existenz gefunden wird, und er ist zur Vervollkommnung seiner selbst hier und im Jenseits bestimmt. Die fremde Einhilfe durch den Erlösungstod Christi, eines anderen Menschen oder Gottes also, widerspricht dem Pathos der Selbstbestimmung und -verantwortung des Menschen. Dieses Votum für eine natürliche Religion wird sich die nachfolgende deutsche Aufklärung zueigen machen; erst mit dem Ende der Bestimmungsliteratur gewinnt der christliche Glaube wieder an Bedeutung. Und weiter: Die Bestimmung meiner selbst und also des Menschen zu finden ist Sache eines jeden, der auf das eigene Nachdenken und die eigenen natürlichen Empfindungen zu hören versteht; es bedarf also keiner Gelehrsamkeit und keiner schwierigen Deduktionen, um die wesentliche Frage des menschlichen Daseins zu stellen und zu lösen, denn die Natur selbst führt uns zur rechten Antwort, die wir im Gefühl unserer Seele ergreifen. 72 | kapitel 

Und diese Antwort betrifft alles Seiende überhaupt, die Welt, Gott und die menschliche Seele, so daß kein Raum für gelehrte oder sonstige Einwände bleibt. Wenn die Moral an den Anfang gestellt wird und der Glaube an Gott und die Hoffnung auf Unsterblichkeit zu Epiphänomenen der Moralität werden, dann gibt es nicht nur eine Moral der Natur oder Vernunft, sondern auch ein Natur- oder Vernunftrecht, das keine Konkurrenz eines kanonischen Rechts zu fürchten braucht, sondern seinerseits als Modell für die Sittlichkeit überhaupt dienen kann, wie es in der Kantischen Gesetzesethik geschieht. Sie kann in der Tradition des römischen Rechts juridisch konzipiert werden und diktieren, was gut und böse ist. Die Frage nach der Bestimmung des Menschen wird nicht in, sondern außerhalb der Kirche gestellt, und zwar so, daß die Gemeinde kaum bemerkt, daß der christliche Theologe Spalding die Predigt vom Erlöser in eine moralische Lehranstalt fortentwickelt hat; das Christentum der Offenbarung wird aufgehoben in einer neuen Vernunftreligion, verkündet Spalding, ohne es zu sagen.98 Vergleichbar ist das Bekenntnis Rousseaus, er bete nicht in geschlossenen Räumen, sondern in der freien Natur. Worin nun genau dieses Gebet noch bestehen soll, wird nicht gesagt. Inhaltlich läßt sich eigentlich kein wesentlicher Punkt der Differenz zwischen Spalding und Kant benennen, sogar im Ablauf der Gedankenführung konnte eine Übereinstimmung notiert werden. Der Unterschied liegt in der theoretischen Begründung. Spalding verweist auf die Stimme der Natur; er schreibt seine Konfession als einen Bildungsgang, an dessen Schluß die verbürgte Wahrheit steht; auf sie hin ist die Mahnung zum Tugendleben, als die die Schrift qua Predigt verfasst ist, komponiert. Sie ist exoterisch und fordert vom Leser nicht mehr als die sittliche Reflexion, die auch das bürgerliche Zusammenleben fordert. Ungereimtheiten werden übersehen: Der naturalistischen Tugendbegründung wird jedoch durch die Einführung des Bösen in der Welt, das den Übergang zur Unsterblichkeit erzwingt, der Boden entzogen. Kant wird den populären Grundgedanken aufnehmen, ihn jedoch epistemisch auf eine haltbare Grundlage zu stellen versuchen. Spalding appelliert an das Hinhören auf die Stimme der Natur; er gewinnt seine Selbsterkenntnis aus dem ihm gegebenen Gefühl, beide Erkenntnisquellen sind jedoch die bestimmung des menschen | 73

nach der kritischen Theorie dogmatisch und untauglich; musterhaft zeige sich dies darin, so könnte Kant argumentieren, daß die Natur und das ihr zustimmende Gefühl zunächst besagen sollen, daß die Tugend der Weg zum wahren Glück ist, dann aber zerstöre das Böse diese natürliche Verbindung, also müsse die Stimme der Natur irren. Es muß eine grundsätzlich andere Grundlegung der Tugendlehre gestiftet werden, und die Moral muß in der Vernunft, nicht aber im Gefühl begründet werden. Die historische Bedeutung der Spaldingschen Schrift für die deutsche Aufklärung ist naturgemäß nicht genau bestimmbar. Das Buch begleitet die deutsche Geistesgeschichte in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts in immer neuen Auflagen; dadurch ist während dieser Zeit ein direkter Einfluß gesichert. Es ist Symptom für eine Epochenwende, an der es teilnimmt, an deren Spitze es kurze Zeit steht, die von ihm mitformuliert wird, die aber durch eine Broschüre allein nicht erregt werden kann; Spalding partizipiert hier an einer neuen Tendenz der zweiten Jahrhunderthälfte. Einige dieser neuen Phänomene sollen aufgezählt werden, weil sie für die gesamte Bestimmungsdebatte wichtig sind. Spaldings Schrift vermittelt zwischen barockem Christentum und einem im Prinzip unchristlichen Klassizismus. Während Leibniz und Wolff noch bekennende Christen sind und dies in ihren philosophischen Schriften dokumentieren, ist die zweite Hälfte des 18. Jahrhunderts, wenn man dies so pauschal sagen darf, nicht mehr christlich orientiert. Es kommt jedoch bis in die neunziger Jahre und damit bis zu den Wöllnerschen Edikten und ihrer terreur zu keinem klamorösen Zusammenprall von Christentum und Aufklärung. Die Möglichkeit einer friedlichen Vermittlung wird von Spalding geboten; es ist der Neostoizismus, zu dem sich keiner der Intellektuellen öffentlich bekennt und der trotzdem das Denken bestimmt. Wären hier die Weichen anders gestellt worden, hätte statt der Stoa der Epikureismus oder Skeptizismus das »climate of opinion« bestimmt, wäre ein offener Konflikt zwischen Thron und Altar einerseits und der nicht-christlichen Überzeugung vieler Intellektueller andererseits unvermeidlich gewesen. Der SpinozismusStreit zeigt in seinem kurzen Auflodern, welche Probleme mit der Ablösung des Christentums und dem Bekenntnis zum Atheismus verbunden waren. Die irenische Schrift von Spalding trug zu einem 74 | kapitel 

Friedenszustand bei, in dem sich die zweite Phase der Aufklärung entwickeln konnte. Die Erörterung der Bestimmung des Menschen ist an die Frage geknüpft, was der Mensch tun soll. Was ihn erwartet, richtet sich nach seinem moralischen Sollen und dessen Erfüllung; die Hoffnung der Unsterblichkeit ist, wie wir sahen, erstens in der inneren Notwendigkeit eines Fortschritts der Sittlichkeit nach dem physischen Tod und zweitens in der billigen Erwartung eines proportionierten Ausgleichs von sittlicher Leistung und Glück begründet. Beide Hoffnungsbezüge schließen eine Beziehung auf das drohende Infernum nach dem Tod praktisch aus – die christliche Hölle spielt in den Erörterungen über die Bestimmung des Menschen keine Rolle mehr.99 Eine nähere Ausführung zu dem ersten Unsterblichkeitsgedanken – dem des Fortschritts im Streben der Seele nach weiterer Vervollkommnung – konnte jeder Gebildete im Spectator von Addison und Steele vom 7. Juli 1711 finden. Addison nennt einige Gottesbeweise, findet jedoch nur den einen »of the perpetual Progress which the Soul makes towards the Perfection of its Nature« stichhaltig.100 Die Tiere, »which are formed for our use«101, finden ein Genügen in dem irdischen Leben, in dem sie alles realisieren, wozu sie geschaffen sind; der Mensch dagegen hat Seelenpotentiale, die weit über sein irdisches Leben hinausgehen. »Would an infinitely wise Being make such glorious Creatures for so mean a Purpose? Can he delight in the Production of such abortive Intelligences, such shortlived reasonable Beings? Would he give us Talents that are not to be exerted? Capacities that are never to be gratified?« Kurz: Ein irdisches Leben ohne Nachleben nach dem irdischen Leben wäre eines Gottes nicht würdig, also können wir gewiß sein, daß dieses Leben nur der Beginn eines unendlichen Fortschritts im Jenseits ist.102 Spalding hat ein Resümee seiner Betrachtung schon vorweg in dem Schreiben publiziert, mit dem er 1747 die Shaftesbury-Übersetzung der Untersuchung über die Tugend einführte. Das stoisch anmutende Motto kommt von Horaz: »Amoto quaeramus seria ludo«103 »Das Spiel sei weggeräumt, lasst uns Ernstes untersuchen«. Dies Zitat richtet sich gegen die als Spiele bezeichneten Platonischen Dialoge; was hier verhandelt wird, ist stoisch-ernst und kein Zeitvertreib weniger Gelehrter. Darüber steht die Inschrift eines die bestimmung des menschen | 75

Medaillons: »Sapere aude«, das Motto der zweiten Phase der Aufklärung. Tatsächlich wird die Grundidee von Spaldings Bestimmung des Menschen schon von Shaftesbury in seinem Essay entwickelt und mit dem im Titel benannten Thema gleich im ersten Satz benannt; das Problem ist die genaue Bestimmung der Tugend und des Verhältnisses der Tugend zur Religion, wobei Spalding die Angewiesenheit auf Religion stärker betont.104 Die Religionsfrage ist Shaftesbury und Spalding und Kant unausweichlich dadurch aufgegeben, daß eine Ethik das Interesse zeigen muß, das der Mensch am sittlichen Handeln nehmen kann; oder: das »honestum« muß sich als »utile« erweisen, jedenfalls darf es nicht in einen nicht aufhebbaren Dissens zum Glücksinteresse des Handelnden geraten. Damit ist die Aufgabe gestellt, folgende Antithetik zu lösen: Das reine sittliche Handeln kann sich einerseits nicht abhängig machen von Lohn und Strafe, ohne seine Sittlichkeit und sein eigentümliches Verdienst (»merit«) zu verlieren; wird es jedoch darauf hin für sich allein genommen, sieht es sich dem Einwand ausgesetzt, daß es unter den Bedingungen dieser Welt zur Ursache des Unglücks wird oder werden kann und nur der Narr sittlich handelt, denn der Tugendhafte schließt die Klugheit als höchste Leitlinie des Handelns aus, damit aber ist nur der Dumme ehrlich. Diese Antinomie von Moral und Klugheit oder Interesse lässt sich nach den drei Autoren Shaftesbury, Spalding und Kant nur dadurch lösen, daß zunächst die reine Sittlichkeit das Handeln motivieren muß, daß dann jedoch nur der Glaube an einen allmächtigen gerechten Gott und an die Unsterblichkeit der Seele die Vernunft davor rettet, unvernünftig zu sein.105 Wir können die Linie ausziehen: Kant teilt die Vorstellung eines Primats der Moral vor der Gotteserkenntnis, er treibt jedoch anders als Shaftesbury und Spalding diese Auffassung bis zu dem Punkt, daß er eine theoretische, moralfreie Erkenntnis von Gott und Unsterblichkeit als unmöglich erweisen will, denn gäbe es sie, würde die Moral zerstört; so die Lehre im Schlusskapitel der Dialektik der reinen praktischen Vernunft: »Von der der praktischen Bestimmung des Menschen weislich angemessenen Proportion seiner Erkenntnisvermögen« (V 146,14–16). Wenn dies mit einer exakten Analyse unserer Erkenntniskräfte gezeigt werden kann, dann läuft die Moralität nicht mehr Gefahr, in die Abhängigkeit der Theologie und 76 | kapitel 

des Offenbarungsglaubens zu geraten oder durch Skepsis und Atheismus bedroht zu werden. Wenn der Mensch also zum moralischen Handeln bestimmt ist, dann können die Voraussetzungen dieses Handelns nicht in einer theoretischen Gotteserkenntnis oder gar einer Offenbarung liegen, die nicht »innerhalb der Grenzen der bloßen Vernunft« liegt und nicht zur Grundlage die autonome Moral hat. Dieser Gedanke muß zum Umsturz der scholastischen Metaphysik führen, wie er von Kant 1781 konsequent vollzogen wird. Wichtig für die vorhergehende und die nachfolgende Diskussion ist die schon angeführte Unterscheidung zweier Gründe für das Postulat der Unsterblichkeit. Der erste Grund wird in den menschlichen Anlagen gesehen, die im Unterschied zu den tierischen hier im Erdenleben keine Erfüllung finden und konsequent für ein Nachleben nach dem Tod vorgesehen sind. Der zweite Grund ist die sonst drohende Unvernunft in einer Weltverfassung, die von uns sittliches Handeln fordert, jedoch häufig nicht die Tugend, sondern die Bosheit belohnt; die Schöpfung muß ein Nachleben nach dem Tod vorsehen, um Glück und Sittlichkeit in eine angemessenes Verhältnis zu setzen. Kant wird beide Argumente aufnehmen, das erste aber auch geschichtlich wenden und die Menschheit im Ganzen als eigentliches Subjekt der in die Zukunft weisenden Naturintention benennen (VIII 18–19), das zweite Argument wird durch alle Phasen der kritischen Philosophie ohne Änderung übernommen.

Der Bestimmungsgedanke in der weiteren Literatur der Aufklärung106 In Johann Georg Walchs Philosophischem Lexicon (1725, 1740) sucht man vergeblich zwischen »Bestialität« und »Bestürzung« nach dem Wort »Bestimmung«. Auch »Selbstbestimmung« fehlt entsprechend. Daßelbe gilt für den III. Band von Zedlers UniversalLexicon (1733). Im Grimmschen Wörterbuch107 wird irreführend Kant als erster Autor genannt, der das Wort »Bestimmung« verwendet habe. 108 Schon im selben Jahr 1748 folgen Johann Melchior Goezes Gedancken über die Betrachtung von der Bestimmung des Menschen. Es ist faktisch ein Nachdruck der Schrift von Spalding mit einer klugen die bestimmung des menschen | 77

Einleitung. Goeze schreibt sehr richtig, daß der Verfasser sich nicht auf die Offenbarung beziehe, sondern alle Erkenntnis aus der eigenen Natur zu gewinnen vorgebe und die sittlichen Forderungen aus eigenem Vermögen erfüllen wolle: »Kann ich aus eigenen Kräften mir diese so nothwendige innerliche Richtigkeit selbst geben?« Ohne göttliche Mithilfe und Gnade bleibe es »bey einem ohnmächtigen und kraftlosen ›Ich will‹.«109 Goeze hat den nicht mehr christlichen Charakter des Buches genau gesehen: Wir sind nicht moralisch, weil wir glauben, sondern glauben, weil wir moralisch sind, also nach eigner Vernunft. Hier ermächtigt der Mensch sein Selbst und seinen eigenen Willen, eingebettet in eine (stoisch interpretierte) Natur. Friedrich Christoph Oetingers Die Wahrheit des Sensus Communis (1753) enthält im zweiten Anhang einen »Tractat von der Bestimmung des Menschen, worinn alles aus dem Sensu Communi hergeleitet ist«. Der dann folgende III. Anhang bringt eine Übersetzung von Shaftesburys »Buch«, »Sensus Communis«. »Ich muß denken, warum ich auf der Welt bin« (125); der Zwang zu Entscheidungen führt zur Vorüberlegung, »welcher Weg der sicherste, anständigste und vortheilhafteste sey.« (125). So wird es notwendig »zu wissen, warum ich da bin, und was ich vernünftiger Weise seyn soll.« (126) Ehre und Reichtum können nicht ernsthaft das Lebensziel sein, und daßelbe gilt für die »Ergötzung der Sinne« (127). So entdecke ich am Ende eine Anlage in mir, die Zwecke anderer und des Ganzen mir zum Ziel meiner Handlungen zu setzen, einen »sensus communis« (136). »So habe ich die ewigen Regeln des Rechts und der Ordnung erkannt […]«, sie stimmen mit meiner Natur überein und lösen daher bei meinen entsprechenden Handlungen Selbstzufriedenheit aus; hierzu also ist der Mensch bestimmt (139). »Ich thue das, was ich thun soll; ich bin das, was ich seyn soll.« (140) Die Natur- und Weltbetrachtung führt sodann zu dem Bekenntnis »Es ist ein Gott« (141). Weitere Stichpunkte: Gewissen, göttliche Allgegenwart, Vorsehung, Beruhigung im Unglück, »Beweiß, daß ein Gericht sey«, Beweis der Unsterblichkeit der Seele, Erhebung über das Elend, »wenn ich nur unverrückt der Bahn folge, die mir die ewige Wahrheit vorschreibt« (152), Gewißheit, das höchste Ziel im Jenseits zu erreichen, »dazu ich durch meine Natur und von meinem Urheber bestimmet bin, nemlich rechtschaffen, 78 | kapitel 

und in der Rechtschaffenheit gückselig zu seyn.« (153, Schlußsatz) Hier wird unverkennbar Spalding ausgeschrieben und über Spalding hinaus, wenn man von der theologischen Schlußpartie absieht, Shaftesbury. Wenn der Text nicht täuscht, folgt auch der siebzigjährige Christian Wolff der Innovation und benutzt den finalistischen Bestimmungsbegriff. In der unpaginierten »Vorrede« der Grundsätze des Natur- und Völckerrechts, die zwar erst 1754 publiziert, aber am 4. September 1749 unterschrieben wurde, heißt es: »Da aber der Mensch vermöge der Natur überhaupt bestimmet ist das Gute zu begehren und das Böse zu verabscheuen; so ist die innere Güte ein Bewegungsgrund gewisse Handlungen auszuüben, und die innere Hässlichkeit ein Bewegungsgrund gewisse Handlungen zu unterlassen. Daraus erzeuget sich nun die natürliche Verbindlichkeit; und die Lenckung der Handlungen, wovon ich geredet habe, nimmt die Gestalt eines Gesetzes an, so von der Natur selbst gegeben worden.« Diese generelle Normbegründung durch das Konzept der Bestimmung des Menschen ist neu im Werk von Wolff. Im Text selbst wird von diesem Bestimmungsbegriff kein Gebrauch gemacht, sondern nur von der traditionellen »determinatio«, etwa: »Der Mensch ist eine sittliche Person (persona moralis), in so weit als er als das Subject von gewissen Verbindlichkeiten und von gewissen Rechten angesehen wird. Und daher wird sein sittlicher Zustand (status moralis) derjenige genannt, welcher durch Rechte und Verbindlichkeiten bestimmt wird; und er heißt der natürliche, in so fern als die Verbindlichkeiten und Rechte, durch welche er bestimmt wird, oder nach dem Gesetze der Natur ihm zukommen, […].«110 Das siebente Kapitel von Hermann Samuel Reimarus’ Die vornehmsten Wahrheiten der natürlichen Religion (zuerst 1754) trägt die Überschrift »Vergleichung der Menschen mit den Thieren, wozu sie bestimmt sind«. Nirgends wird die Frage »Was ist der Mensch?« und »Was ist das Tier?« gestellt. Das Kapitel beginnt mit dem Satz: »Wenn wir nun ferner die Art des Lebens, wozu wir von dem Schöpfer bestimmt sind, in Betracht nehmen wollen: so können wir nicht besser thun, als daß wir zwischen uns und den Thieren eine Vergleichung anstellen. […] Eines jeden Lebensart ist auch der Zweck, wozu es bestimmet ist […].«111 Viele Autoren seien der Meinung, es gebe kaum einen Unterschied in der Natur von Mensch und Tier; die bestimmung des menschen | 79

»sie suchen sich und andere, gleichsam nach Anleitung der Natur selbst, viehisch zu machen: nicht aber die Menschlichkeit in uns aufzuwecken, und sie zu einem höheren Grade der Vollkommenheit und Glückseligkeit, der unserer Natur so wohl möglich als eigenthümlich ist, zu führen.« Eben dies setzt sich Reimarus zum Ziel; er will zeigen, daß die Tiere weder ihrer selbst noch anderer Dinge auf dieselbe Art wie wir bewusst sind, daß sie sich nicht ändern, sondern ohne alles Bemühen immer schon in ihrer Art vollkommen sind, der Mensch dagegen eine unbeschränkte Fähigkeit zu einer immer höheren Vollkommenheit in den Künsten, in Schiffahrt und Handel habe; die Nachwelt werde uns in allem übertreffen. Der Tenor ist also: Sowohl Tiere wie Menschen stehen unter einer Naturbestimmung; bei den Tieren jedoch zielt die Natur auf etwas anderes als beim Menschen; dieser solle seine tierische Natur überwinden und zur eigenen, man könnte sagen: Kulturnatur vordringen. In der Ausgabe von 1766 ist ein kurzer polemischer Passus gegen Rousseaus 2. Discours eingeschoben: »Es kann ja wohl niemanden unbekannt seyn, was z. B. der Herr Rousseau vor einiger Zeit von der natürlichen Bestimmung des Menschen geschrieben hat.« Seine Anwort auf die Preisfrage der Akademie von Dijon gehe dahin, »daß wir Menschen ganz von unserm natürlichen Zustande abgerathen wären, und durch alle die Erfindungen, welche von der Reflexion abstammen, durch die Sprache, Gesellschaft, Künste, Wissenschaften, durch den Landbau, die Handlung, und das Eigenthum, durch Stiftung einer bürgerlichen Herrschaft und Ungleichheit der Stände, alles mögliche Elend eingeführt hätten. Der ursprüngliche Mensch sey nach seiner natürlichen Bestimmung ein zweyfüßiges Thier, welches unter anderen Thieren, in den dicken Wäldern des Erdbodens, zerstreut und einzeln, seine Nahrung reichlich finde, sein Leben mit der Flucht oder Gegenwehre zu schützen wisse, sein Geschlecht mit einer jeden, die ihm etwa aufstößt, fortpflanze, und dabey gesund, stark, hurtig sey, übrigens aber, wenn es diese Begierden gestillet, nichts weiter zu verlangen oder zu fürchten habe, sich weiter um nichts bekümmere, sondern völlig zufrieden ruhe und schlafe.«112 Rousseau mache seine paradoxen Sätze durch seine Rhetorik plausibel; in Wirklichkeit sei der Mensch nicht zum tierischen, sondern zum Leben in einer progredierenden Kultur, Technik und Moral bestimmt. Die stoische Frage nach der Be80 | kapitel 

stimmung des Menschen führt bei Reimarus zu einer starken Opposition gegen die Linie Diogenes der Kyniker, Seneca, Rousseaus 2. Discours und ihr »retour à la nature«; die Natur bestimme den Menschen zum Kulturwesen – genau diese Position wird auch Kant einnehmen, der Reimarus schätzte.113 1755: Ein wichtiges Jahr für die zweite Hälfte der deutschsprachigen Aufklärung; es erscheinen Johann Jacob Winckelmanns Gedanken über die Nachahmung der griechischen Werke in der Malerei und Bildhauerkunst. Hier interessiert an diesem Werk und der 1764 folgenden Kunstgeschichte die Umwandlung einer Gelehrtendisziplin in eine von Enthusiasmus erfüllte Befassung mit der Kunst, die den Menschen selbst betrifft. Die Skribenten wüssten nichts vom Wesen und vom Inneren der Kunst, der Latinist, der in Rom an einer philologisch perfekten Horaz-Ausgabe arbeite, möge alles von seinem Dichter wissen und »glauben, den Begriff der besten Welt durch seine Arbeit zu erhöhen,«114 und doch habe er von der Schönheit der Dichtung nichts begriffen. Winckelmann bedient sich eines Topos der Philosophie und Religion: Es kommt auf das Eine an, nicht das Viele, auf das Wesentliche, nicht auf das vielfältige Beiwerk. Heraklit: »Die Vielwisserei lehrt nicht Verstand haben.«115 Auch die Bestimmungs-Philosophie ist einhellig der Meinung, daß der Mensch zu Einem Endzweck bestimmt ist und sich nicht in der bunten Vielfalt immer neuer Anregungen oder in der Aufhäufung von Gelehrsamkeit verlieren soll; das Leben soll auf dieses Eine seines Zwecks im Ganzen ausgerichtet werden. Hier finden wir das Präludium des Gegensatzes von Werther und Albert und von Faust und Wagner und vom exzentrischen Hölderlin und dem realistischen Bankmann Gontard, in Dichtung und Wahrheit derselbe Kontrast. Nun wäre die emphatische Rückwendung zur antiken Kunst und die Abwehr der nur gelehrten Vermessung und Identifizierung der Werke eine bloße Bildungsepisode neben anderen geblieben, wenn Winckelmann die antike Kunst nicht mit der Natur verbunden hätte. Die antike Kultur ist natürlich, die barock-feudale dagegen künstlich und abwegig. Winckelmann formulierte im Medium der Vergegenwärtigung der griechischen Werke und des »retour aux anciens« zugleich Rousseaus »retour à la nature« und machte diese Rückkehr zu den griechischen Ursprüngen zu einer Möglichkeit der die bestimmung des menschen | 81

eigentlichen Menschwerdung – hier ging es um die Bestimmung des Menschen, um das Auffinden und Wiederbeleben des wesentlichen Zwecks und Inhalts seines Daseins. Winckelmanns Griechenlandbild verbindet Faktum und Norm, es schildert und erhebt in der Schilderung ethische und ästhetische Forderungen an das Individuum und die Gesellschaft, die unverhohlen anti-aristokratisch sind. Gegen die Formulierung von Wünschen und Normen in der Schilderung der Vergangenheit konnte sich die Aristokratie schwer wehren, im Gegenteil, zahlreiche Aristokraten wurden selbst in das Ideal hineingezogen. Und Winckelmann stellte seinen Gegenstand, die antike Kunst, wenigstens partiell an den Seelenort, an dem bis dahin religiöse Inhalte standen und zur Identitätsbildung aufriefen. Aber die Paradoxie in der Umwertung aller Werte konnte auch die antike Lebensphilosophie liefern: Sokrates und die Kyniker stellten die geltenden Werte auf den Kopf und waren sich dieser Revolution bewusst. In der Sicht Winckelmanns: Man kramt in den Worten, statt in den Geist vorzudringen. Winckelmann beherrscht diesen antiken Topos, den das Christentum übernahm, vorzüglich und stellt Philosophen wie Kant vor die Frage, ob sie weiterhin ziellos Gelehrsamkeiten aufhäufen oder aber zum Zweck des menschlichen Daseins selbst vordringen wollen. Nicht nur Rousseau hat Kant bekehrt, sondern auch der von ihm intensiv gelesene Winckelmann. Der Mensch. Eine moralische Wochenschrift, herausgegeben von Samuel Gotthold Lange und Georg Friedrich Meier, schreibt 1756 im 436. Stück: »Die wahre Freiheit zu denken ist eine so edle und schätzbare Sache, daß man mit Wahrheit sagen kann, sie sey eins der wichtigsten Stücke der menschlichen Glückseligkeit. Der Mensch ist, seiner Bestimmung nach, ein vernünftig freyes Wesen, und soll also durch sein eigenes Nachdenken, und durch einen der Natur gemäßen Gebrauch seiner Kräfte, sich selbst, die Welt und Gott richtig kennen lernen, und nach dieser Erkentniß handeln, und dadurch seine Glückseligkeit aufs möglichste befördern.«116 Dieser genau reflektierte Text formuliert in nuce die Postulate der Aufklärung: Die Denkfreiheit als Teil des menschlichen Glücks; das »soll«, das »sapere aude«, das Selbstdenken und »eigene Nachdenken«, das an niemanden delegiert werden kann; dann das stoische »naturgemäß«, »naturae convenienter«, das einen ungefähren Rah82 | kapitel 

men des menschlichen Gebrauchs der eigenen Kräfte vorgibt; die Erkenntnis, die sich auf die drei großen metaphysischen Themen des Ich (»sich selbst«), der Welt und Gottes richtet, und die Ausrichtung des Wollens und Handelns durch die Vernunft, die die ihrer Natur gemäße umfassende und wesentliche Erkenntnis in der Bestimmung des Menschen findet; die stillschweigende Abwendung von der Offenbarungsreligion ohne jede Polemik. Alle angesprochenen Elemente sind bei Kant präsent; auf das Selbst, auf die Welt und auf Gott richtet sich, wie wir sehen werden, alles Vernunftinteresse des Menschen, und wenn die KrV auch die metaphysische Erkenntnisprätention der reinen Vernunft kritisiert, wie der Titel des Hauptwerks besagt, so restituiert die KpV die drei Themen der Metaphysik und allen Interesses der menschlichen Vernunft. Und die Freiheit des Denkens, das eigene öffentliche Nachdenken, das Sichselbst-bestimmen aus eigenem kontrolliertem Willen wird das dominierende Thema der Frage: »Was ist Aufklärung?« 1764. Das »Schreiben an die menschenfreundliche Gesellschaft in der Schweiz«, das Isaak Iselin seiner Geschichte der Menschheit (1768) voranstellt, beschwört die Bestimmung der Menschheit als das Leitmotiv: »Der einzige Gegenstand der Sittenlehre und der Gesetzgebung, ist der Mensch. Dem Philosophen liegt es ob, die Pflichten und die Bedürfnisse desselben zu entwickeln, und ihn [2. Auflage: »dessen Seele« RB] zur Erfüllung seiner [2-Auflage: »ihrer«, RB] grossen Bestimmung vorzubereiten. Es erfordert eine sorgfältige Anbauung der Seele, und eine glückliche Uebereinstimmung vieler Umstände, einen einzelnen Menschen fähig zu machen, auf der ihm von der Weisheit vorgezeichneten Bahn unverrückt fortzugehen.117 Noch weit brauchet es bis ein ganzes Volk, oder nur eine beträchtliche Mänge von Menschen, zu dieser glücklichen Reife gelangen. Noch sind alle Völker unendlich weit von diesem erwünschlichen Zeitpunct entfernt.«118 Das menschliche Geschlecht ist zur Vollkommenheit bestimmt. »Diese großen Gefühle […] eröfnen der Seele ein unumschränktes Feld für ihre Wirksamkeit, eine unabsehbare Folge großer Hofnungen. Sie machen ihr erst die Würdigkeit ihres Wesens, und die Erhabenheit ihrer Bestimmung in ihrem wahren Umfange bekannt.«119 Groß und unendlich – in jedem der zitierten Texte spürt man den Enthusiasmus, an der neu entdeckten Bestimmung der Menschen und der Menschheit teilzudie bestimmung des menschen | 83

nehmen und frei das eigene Leben zu bestimmen. Eine Jugendbewegung wendet sich gegen die alte Schulmetaphysik und vermißt ihr Dasein neu und aus eigenen Kräften. An die Spaldingsche Schrift schließt sich der kurze Bestimmungsstreit zwischen Thomas Abbt und Moses Mendelssohn an. Abbt zweifelt nicht, daß jeder Mensch eine Bestimmung hat – aber welche ist es? Sie muß von jedem selbst erkannt werden können, sie muß erfüllbar sein von jedem Menschen, auch im Fall des früh sterbenden Kindes – aber welche von ihm selbst erkannte und realisierte Bestimmung hatte dieses Kind? Hat Mendelssohn eine Antwort? Mendelssohn behauptet es und folgt dabei dem Leibnizschen Optimismus. Das Ganze sei gut, auch wenn es als solches nicht in allen seinen Teilen von uns erkannt werde. Die Bestimmung jedes Menschen ist »die Uebung, Entwickelung und Ausbildung aller menschlichen Kräfte und Fähigkeiten, in einem ihrem Standorte angemessenen Verhältnisse.«120 Im Ganzen der Schöpfung sei jedes Teil ein wahrhaftes Glied, sei zugleich Mittel und Endzweck. »In der göttlichen Ordnung herrscht Einheit des Endzwecks. Alle untergeordneten Endzwecke sind zugleich Mittel; alle Mittel sind zugleich Endzwecke. Denke nicht, dieses Leben sey bloß Vorbereitung, das künftige bloß Endzweck. Beyde sind Mittel, beyde sind Endzwecke. Mit gleichen Schritten gehen die Absichten Gottes und die Veränderungen einer jeden Substanz ins Unermeßliche fort.«121 Jedes Glied im Organismus des Ganzen der Welt ist apriori in seiner Bestimmung gerettet, auch wenn wir dies nicht zu erkennen vermögen. 1767. Phaedon oder über die Unsterblichkeit der Seele von Moses Mendelssohn. »Dieses endlose Bestreben, das sein Ziel immer weiter hinausstreckt, ist dem Wesen, den Eigenschaften und der Bestimmung der Geister angemessen, […]. Wir können also, fuhr Sokrates fort, mit gutem Grunde annehmen, dieses Fortstreben zur Vollkommenheit, dieses Zunehmen, dieses Wachsthum an innerer Vortrefflichkeit sey die Bestimmung vernünftiger Wesen, mithin auch der höchste Endzweck der Schöpfung.«122 Auch diese Bemerkung ist ganz stoisch gedacht, wie später en detail aufgewiesen werden soll. Klarer als es bei Spalding formuliert wird, vollzieht Mendelssohn die Abwendung von einer platonischen »Kette des Seienden« zum stoischen Anthropozentrismus: In der Bestimmung 84 | kapitel 

vernünftiger Wesen liege der höchste Endzweck der Schöpfung, also: Alles in der Natur, sogar ihre Existenz selbst, ist für den Menschen da. – Die stillschweigende Herauslösung der Bestimmungsfrage aus einer spezifisch christlichen Orientierung ermöglicht es, daß Christen und Juden gemeinsam ein Problem erörtern und zu konfessionsübergreifenden Ergebnissen gelangen. Die Möglichkeit dafür bot die Bestimmungsfrage, lanciert von einem Autor, der an einem englischen Autor – Shaftesbury – geschult war und sich an der Antike zu orientieren vermochte. Aber das bedeutet, daß Mendelssohns platonische Vorlage durch eine spätere, hellenistische Denkrichtung neu modelliert wird. Dafür gibt es viele Beispiele, es sei nur auf ein kuntgeschichtliches hingewiesen, das auch den Platonischen Dialog Phaidon betrifft. Es ist das Gemälde La mort de Socrates von Jacques Louis David aus dem Jahr 1787.123 David tranformiert die Szene des Dialogs in eine Schaustellung stoischer Todesverachtung und Tugendmahnung; aus Platons pythagoreisierenden Überlegungen zum Übergang der Seele aus dem körperlichen Leben in das Jenseits wird eine höchst irdische Szene, die in einer römisch stilisierten Katakombe spielt; das »oben« ist nicht der Himmel, sondern die Erde, auf der wir in Freiheit leben. Hier kommt es also zu einer ganz auffälligen Parallele von Literatur und Malerei; beide nehmen teil an derselben Tendenz der Epoche 1750–1800, die nicht platonisch oder aristotelisch ist, sondern neustoisch. Auch Davids Bild handelt von der Bestimmung des Menschen, aber schon restringiert auf das irdische Dasein, so wie die Bestimmungsliteratur auch in Deutschland den Blick für das Dort zugunsten des Hier gegen Ende des Jahrhunderts verliert. Im späteren Werk von Mendelssohn, Jerusalem oder über religiöse Macht und Judentum (1783), wird von der festen Formulierung der »[ganzen] Bestimmung des Menschen« am Anfang und Schluß als dem Einigungspunkt der divergierenden Religionen Gebrauch gemacht. »[…] warum wollen wir denn einander durch trügliche Worte hintergehen? […] warum denn noch in solchen Dingen, die unser zeitliches und ewiges Wohl, unsere ganze Bestimmung angehen. Warum uns einander in den wichtigsten Angelegenheiten unsers Lebens durch Mummerei unkenntlich machen, da Gott einem jeden nicht umsonst seine eigenen [sc. Gottes, RB] Gesichtszüge die bestimmung des menschen | 85

eingeprägt hat? Heißt dieses nicht, soviel an uns liegt, sich der Vorsehung widersetzen, den Zweck der Schöpfung, wenn es möglich ist, vereiteln; unserm Beruf, unserer Bestimmung in diesem und jenem Leben geflissentlich zuwider handeln?«124 Die »ganze Bestimmung«, eine wiederkehrende Formulierung, gewährleistet die Einheit des Zeitlichen und des Ewigen oder dieses und jenes Lebens. Wie bei den übrigen Philosophen, besetzt das Bestimmungsvokabular die höchste Systemstelle. In der Bestimmung des Menschen ist schlechthin alles enthalten, auf sie richtet sich daher alles praktische Interesse und das kognitive nur insofern, als die Erkenntnis der Bestimmung zurückführt in die Praxis, in die Notwendigkeit, unserem Beruf nicht zuwider zu handeln. Das »soll« der Bestimmung richtet sich nicht auf die Theorie und Erkenntnis als Endzweck unseres Daseins, auch nicht auf den Hedonismus, sondern das sittliche Handeln, zu dem jeder Mensch schlechthin bestimmt ist. Mendelssohns Beitrag Über die Frage: was heißt aufklären? (1784) könnte nach seinem zentralen Inhalt auch den Titel tragen: »Über die Bestimmung des Menschen«. Nur eine der vielen Äußerungen zu diesem Thema: »Ich setze allezeit die Bestimmung des Menschen als Maaß und Ziel aller unserer Bestrebungen und Bemühungen, als einen Punkt, worauf wir unsere Augen richten müssen, wenn wir uns nicht verlieren wollen.«125 Eine höchst bemerkenswerte Formulierung: Die praktische Zielvorgabe ist essentiell für unsere Identität. Wir verlieren uns, wenn wir unser Handeln nicht fokussieren können auf einen Punkt, der im Laufe des Lebens gleich bleibt. Der Punkt muß also außerhalb unseres wechselnden Lebens liegen. Dafür kommt in der Philosophie der Zeit entweder die Unsterblichkeit in Frage oder die Zukunft der Menschheit. Hier wird deutlich, wie die Bestimmungsfrage mit der Selbstidentität in praktischer Hinsicht zusammenhängt. Ein Kommentar Kants dazu: »[Die Glückseligkeit] ist die Materie aller seiner Zwecke auf Erden, die, wenn er sie zu seinem ganzen Zwecke macht, ihn unfähig macht, seiner eigenen Existenz einen Endzweck zu setzen und dazu zusammen zu stimmen.« (V 431,19–22) 1772. Johann Christian Kestner notiert am 9. August: »Dann ging ich mit Goethe [von Wetzlar, RB] nach Garbenheim. […] Unterwegs handelten wir ein ganzes System von des Menschen Bestim86 | kapitel 

mung hier und dort ab; eine merkwürdige wichtige Unterredung […]«.126 »Hier und dort« – in der Welt und im Jenseits, beides wird im Zusammenklang gehört. Kant wird dafür wie die schon zitierten Autoren die Formel der »ganzen Bestimmung des Menschen« (A 840) benutzen. Im Oktober 1774 erschienen die Leiden des jungen Werther; »O was ist der Mensch, daß er über sich klagen darf,« heißt es gleich im 1. Brief vom 4. Mai 1771 (nach Psalm 8,5); und im Brief vom 17. Mai folgt die neue Formel: »O Bestimmung des Menschen!«127 »[…] ein ganzes System von des Menschen Bestimmung« – dieses System war keine auf den Lehrstühlen verwaltete Metaphysik, sondern eine existentielle Frage, die Werther von Albert, dem Mann der Verwaltung, trennt. Von entscheidender Bedeutung für die weitere Bestimmungsdebatte sind Isaak Iselins Philosophische Muthmaßungen. Ueber die Geschichte der Menschheit, 1764 in zwei Bänden. Iselin bündelt die französischen, englisch-schottischen und deutschen Diskussionsstränge und bestimmt das Telos der Menschheit unter der Führung der Vorsehung als den Fortschritt der menschlichen Vernunft. Die »grosse Bestimmung des Geistes ist der unbegränzte Fortgang zur Vollkommenheit« (I 42 und 58). »Es scheinet also gleichsam ein Gesetz der Natur zu seyn, daß der Mensch, den nicht eine höhere Vorsicht unmittelbar in den Stand der Vernunft versetzet hat, oder den nicht besonders glückliche Umstände begünstigen, für eine gewisse Zeit in die Wildheit gerathen müsse. Es scheinet unausweichlich, daß die meisten Völker diese öden und düstern Stellen durchwandern müssen, um zu der Vollkommenheit zu gelangen, zu welcher das menschliche Geschlecht bestimmet ist.« (I 329 f.) An die Menschheit gewandt: »Wie groß, wie edel ist nicht eure Bestimmung! Habet nur diese vor Augen; fliehet die schlüpfrige Bahn derer, welche nur dem Schimmer eines eitlen Ruhmes und einer falschen Größe nachjagen. Die Glückseligkeit der Nachwelt sey euch mehr angelegen, als die Bewunderung euerer Zeitgenossen.« (II 422) Hier wird mit Spalding von der finalen Bestimmung gesprochen, aber noch mit Wolff der Fortschritt zur Vollkommenheit, zur »perfectio«, imaginiert; diese Vollkommenheit wird dann mit der Glückseligkeit identifiziert, die auch der illuminierte Despotismus erreichen kann. Wenn nur die Bürger gehorchen, ist der aufgeklärte Absolutismus der beste Weg zur Vollkommenheit. Hier sieht man die bestimmung des menschen | 87

den Unterschied zur individuellen Bestimmung bei Spalding und zur Bestimmung insgesamt bei Kant; Spalding wendet sich nicht nur gegen den hedonistischen Lebensweg, sondern auch gegen die geistigen Vergnügen, wir ergänzen: der intellektuellen Vollkommenheit, des Erkenntnisfortschritts. Entscheidend ist bei ihm und seinen Nachfolgern das »Ich selbst« in praktischer Hinsicht, und das bedeutet für das menschliche Geschlecht die Emanzipation vom Paternalismus zur Selbstherrschaft. Diese wird in der Kantischen Version in den Vordergrund treten; in ihr wird der allgemeine Fortschritt der Menschheit ersetzt durch den Fortschritt der gesetzlichen Freiheit. In beiden Fällen schafft die Fortschrittsidee eine Einheitskonzeption der Menschheit in der Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft und stiftet damit den Kollektivbegriff »der« Geschichte schlechthin, die nicht mehr in viele nationale Geschichten zerfällt und dann vom Historiker zu »der« Geschichte128 gebündelt wird, sondern die unter einer einheitlichen Idee tatsächlich als eine Einheit existiert. Hier und dort – in Wielands Aufsatz Ueber die Behauptung, daß ungehemmte Ausbildung der menschlichen Gattung nachtheilig sei wird das Motiv angeführt: »Eine vollkommnere Art von allgemeiner Glückseligkeit ist uns zugedacht. Noch sind zwar die Erdebewohner von diesem letzten Ziel ihrer Bestimmung hienieden nur allzu weit entfernt; aber alle Veränderungen, welche wir bisher durchlaufen haben, haben uns demselben näher gebracht; alle Triebräder der moralischen Welt arbeiten diesem großen Zweck entgegen; und so bewundernswürdig hat der Urheber der Natur sie zusammengestimmt, daß ihre anscheinenden Abweichungen und Unordnungen selbst im Ganzen zu Beförderungsmitteln derselben werden müssen.«129 Hier wird wie bei Iselin die Geschichte als eine teleologische Einheit begriffen, als ein großes Zweck-System, das nur scheinbare Abweichungen und Unordnungen enthält, tatsächlich jedoch auf dem bestmöglichen Weg voranschreitet. Wenn Wieland von der moralischen Welt spricht, stellt er sie wie in der Theodizee-Literatur üblich der physischen Welt entgegen, und er folgt der Losung der älteren Theodizee, die moralischen wie auch physischen Übel als nur scheinbar zu interpretieren, denn ein überlegener Geist könnte sie als einzig mögliche und damit auch gute Mittel der Durchsetzung des Guten erkennen. 88 | kapitel 

Sowohl bei Iselin und Wieland wie auch dann bei Kant zeigt sich die stoische providentielle Natur als das einheitsstiftende Subjekt der Geschichte des Menschengeschlechts. Diese Einheitsidee ist erst möglich nach dem Ende der Heilsgeschichte, wie sie bekanntlich noch bei Bossuet in seinem Discours sur l’histoire naturelle (1681) formuliert wird. Wenn die Geschichte unter der Idee der Ankunft Christi und des Jüngsten Gerichts begriffen wird, gibt es keinen Platz für die Naturgeschichte der Menschheit, wie sie in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts neu konzipiert wird. Hier handelt es sich also um einen überraschenden Höhepunkt der Naturgeschichte. Er wird ermöglicht durch die Vereinigung von Vernunft und Geschichte innerhalb der stoischen prónoia-Lehre. In den siebziger Jahren entsteht eine Opposition gegen die Bestimmungs-Philosophie. Johann Gottfried Herder setzt sich dabei besonders mit Spalding und Mendelssohn auseinander.130 Herder meidet in seinen beiden geschichtsphilosophischen Werken – Auch eine Philosophie der Geschichte zur Bildung der Menschheit (1774) und Ideen zur Philosophie der Geschichte der Menschheit (1784– 1791) – den Bestimmungsbegriff, man möchte sagen: dezidiert, und ersetzt ihn durch andere Termini wie z. B. das Titelwort der »Bildung«. Seine Geschichtsvorstellung schließt es aus, daß der Mensch oder die Menschheit unter dem Aspekt einer finalen Bestimmung aus der übrigen Natur herausgehoben und thematisiert werden kann; er will gerade das Gegenteil in der Vorstellung eines Kontinuums der Naturbildungen; er spricht vom Fortgang, nicht vom Fortschritt, er will keinen Bruch zwischen Mensch und Tier, sondern eine Weiterentwicklung, in der die Vorstufen nicht bloßes Mittel sind, dem Vollkommensten in der Schöpfung zu dienen: »Aber kein Ding im ganzen Reiche Gottes, kann ich mich doch überreden! ist allein Mittel – alles Mittel und Zweck zugleich […].«131 Herder vertritt eine profilierte Gegenposition gegen die Bestimmungs-Idee, bei der der Mensch sich anmaße, der »Repräsentant des Zwecks der Komposition in allen Szenen«132 zu sein. Herders Auffassung läßt sich in unserem Themenbereich mit den Stichworten charakterisieren: Keine Bestimmung und damit Sonderbestimmung des Menschen im Ganzen der übrigen Schöpfung; also Kontinuum vom Tier zum Menschen. Man findet eine analoge Frontstellung in der Europa-Diskussion: Kant vertritt mit anderen Autoren die These eines die bestimmung des menschen | 89

qualitativen Bruchs zwischen der europäischen und den nicht-europäischen Kulturen, Herder dagegen sieht ein gleichberechtigtes Nebeneinander; Kant läßt alle wirkliche Geschichte und Kultur mit den Griechen beginnen, für Herder dagegen gibt es ein Kontinuum von den Anfängen im Orient über die Ägypter und Phönizier hin zu den Griechen.133 Eine andere Gegenreaktion gegen den inflationären Gebrauch des Wortes oder Begriffs »Bestimmung« kommt von einem Historiker, der damit den späteren Angriff gegen die Geschichtsphilosophie überhaupt einleitet. August Ludwig Schlözer schrieb in der Vorstellung der Universal-Historie in der schon zitierten Opposition: »Der Mensch ist von Natur nichts, und kann durch Conjuncturen alles werden: die Unbestimmtheit macht den zweiten Teil seines Wesens aus.«134 Friedrich Heinrich Jacobi weicht ebenfalls dem Spaldingschen Grundgedanken aus und entwickelt eine Menschheitsphilosophie aus dem Bündnis von Skepsis (Hume) und Glauben (Christentum), in dem die stoische Vorsehung und Bestimmung der Menschen keinen Platz hat, im Gegenteil: Sie kann und muß mit Spinoza zusammen aus der Philosophie exkommuniziert werden. »Ich nehme den ganzen Menschen, ohne ihn zu theilen, und finde, daß seyn Bewußtseyn aus zwey ursprünglichen Vorstellungen, der Vorstellung des Bedingten und des Unbedingten zusammen gesetzt ist.«135 Der Mensch legt sich nicht als Wesen aus, das bestimmt ist, sich moralisch selbst zu bestimmen. In Johann Georg Sulzers Theorie der schönen Künste (zuerst 1771–1774) wird der Schnittpunkt der dualen Schönheit von äußerlich gelungener Form und innerer Beseeltheit (auf die wir später zurückkommen)136 so formuliert, »[…], daß derjenige der schönste Mensch sey, dessen Gestalt den, in Rücksicht auf seine ganze Bestimmung, vollkommensten und besten Menschen ankündiget.«137 »Oh Jupiter! Und du Schicksal! Führet mich dahin, wozu ihr mich bestimmt habet. Ich will unverdrossen folgen. Sollte ich mich auch verschlimmern, und nicht gern wollen, so will ich dennoch folgen. Wir halten den für einen Weisen und Kenner der Natur, der sich in die Nothwendigkeit gut schicket«, schreibt Anton Friedrich Büsching in seinem Grundriß einer Geschichte der Philosophie.138 Jupiter, Schicksal – hier wird der Neostoizismus wieder unmittel90 | kapitel 

bar greifbar; Büsching hat den Zeushymnus des Kleanthes vor Augen, der 1786 auf Deutsch in Göttingen erschien und in dem sich Theologie, Naturphilosophie und Ethik verbinden.139 Diese Bestimmungsfigur mit der Anrufung Jupiters und des Schicksals ist weder bei Platon und Aristoteles noch bei Epikur und im Christentum möglich, sondern einzig und eindeutig in der stoischen Philosophie. 1776. In einem Brief vom 27. Mai schreibt der preußische Staatsminister Karl Abraham Freiherr von Zedlitz an den Hallenser, später Jenenser Philosophie- und Pädagogikprofessor und Kantianer Christian Gottfried Schütz: »[…] Leben Sie wohl und bedenken Sie, daß man sich durch nichts dem grosen Geist dem Schöpfer der Welt mehr nahet, als wenn man Menschen besser und zum allgemeinen Endzweck brauchbarer macht. Lassen Sie uns stolz seyn, daß wir zu so einem Amt berufen sind, und wir wollen nicht müßige Hände in den Schooß legen.«140 Der Minister formulierte, was man unter der Bestimmung des Menschen zu verstehen hat und widmete diesem Endzweck sein Leben. »Unsere Schulen, ich bin vollkommen davon überzeugt, werden niemals von allgemeinem Nutzen für alle Classen der Unterthanen seyn, wenn man nicht Mittel findet, jeden Schüler seiner Bestimmung gemäß zu unterrichten.«141 »[…] woher kommts, daß die Schulen fast gar keine Subjekte, zu ihrer künftigen Bestimmung vorbereitet, liefern?«142 Die Bestimmung in der bürgerlichen Gesellschaft und der göttlichen Vorsehung sind identisch. Es war derselbe Geist, der Kant bewegte, von Zedlitz die erste und die zweite Auflage der KrV zu widmen und die Dedikation damit zu enden, er widme ihm diese Schrift und zugleich »alle übrige Angelegenheit meiner literarischen Bestimmung.« Hier wird das Schlüsselwort »Bestimmung« auch von Kant benutzt mit dem Verweis auf die eigene praktische Funktion in der Gesellschaft und im Staat. Warum »literarisch«? Denkt man an die Aufklärungsschrift von 1784, so steht dem privaten Vernunftgebrauch in nur mündlicher Rede in Predigt und Auditorium der öffentliche entgegen, der sich literarisch äußert und an ein Weltpublikum gerichtet ist; so widmet der Weltbürger Kant dem Richter nicht in amtlicher Hinsicht in dem einen zufälligen Staat, sondern in weltbürgerlicher Funktion sein literarisch-öffentliches Werk. Auf die Widmung an die bestimmung des menschen | 91

den »gültigen Richter« werden wir unter einem anderen Aspekt, dem juridischen, später zurückkommen. Johann Nicolas Tetens erörtert in seinen Philosophischen Versuchen über die menschliche Natur und ihre Entwicklung (1778) wie Kant in seiner Anthropologie am Schluß der Schrift den »Charakter der Menschheit«143; er nimmt dabei Rousseaus »perfectibilité« auf und verbindet sie mit der Spaldingschen Bestimmungsfrage: »Der Mensch ist unter allen empfindenden Mitgeschöpfen auf der Erde das meist perfektible Wesen, dasjenige, was bey seiner Geburt am wenigsten von dem ist, was es werden kann, und die größte Auswicklung annimmt. Es ist das vielseitigste, das beugsamste Wesen, das am mannigfaltigsten modificiret werden kann, seinem ausgedehnten Wirkungskreis, zu dem es bestimmt ist, gemäß. Am schwächsten zu einer Form allein bestimmt kann es die mehresten annehmen.«144 Hier wird darauf verzichtet, den Endzweck der Menschen und ihre Bestimmung außerhalb aller Mitgeschöpfe anzugeben, sondern nur die instrumentelle Variabilität betont; dieser Topos begegnet bei Kant beim Hinweis auf die exzeptionelle Vielseitigkeit der menschlichen Hand, die nicht auf eine Tätigkeit festgelegt ist wie die Organe der Tiere (VII 323,14–20)145. In der Berlinischen Monatsschrift wird die Frage nach der Bestimmung des Menschen zu einem Leitmotiv. In einem »Vorschlag, die Geistlichen nicht mehr bei Vollziehung der Ehen zu bemühen« wird 1783 eine Natur- und Zivilreligion in Aussicht gestellt. »Die weisesten und besten unter den Menschen ersannen, um ihre Brüder zu beglükken, die bürgerliche Gesellschaft: sie gründeten kleine Staaten, ordneten Hausstand, Zucht, Ruhe, Sicherheit, setzten Recht und Sitte fest; und hiessen Väter des Volks und Gesetzgeber. Die weisesten und besten unter den Menschen ersannen, um ihre Brüder zu beglücken, tiefe Weisheit, abgezogne Wissenschaft: dachten über Natur und Schöpfer und Bestimmung des Menschen und sein Verhältniß zu Gott nach […].«146 Ein vorzügliches Dokument ist die kleine dialogische Schrift Cato des dreiundzwanzigjährigen August Wilhelm Rehberg von 1780. Cato ist der römische Stoiker, der sich beim Sieg Cäsars das Leben nimmt; ihm hatte auch Joseph Addison ein Theaterstück gewidmet, Gottsched ließ seinen Sterbenden Cato folgen, seine Frau übersetzte 1732 das Stück von Addison.147 Was den Autor an der 92 | kapitel 

Titelfigur interessiert, wird gleich in den ersten Sätzen gesagt: »Bei unsern148 ersten Unterredungen über die Bestimmung des Menschen, versprachen wir uns viel Vergnügen und Unterricht davon, uns nach Erfahrungen von mehreren Jahren über diese Gegenstände zu unterhalten […], so haben so viele große Köpfe über die Bestimmung des Menschen, über Glückseligkeit und Tugend geschrieben, daß es schwer wird, etwas darüber zu sagen, das nicht schon besser gesagt wäre.«149 Rehberg gibt nach dem Vorbild des Platonischen Phaidon (den Cato in seiner Todesnacht liest) ein Gespräch über die Bestimmung des Menschen wieder, das Catos Freunde mit ihm vor seinem Freitod führen. Wir sind sicher nicht zum Vergnügen bestimmt, aber auch, so Cato gegen den Platoniker, nicht zur Vervollkommnung unserer Erkenntnis; Menschen können eine vollkommene Kenntnis in dieser Welt nicht erreichen, und sie könnte niemals der Daseinszweck des Landmannes150 sein. Die Wissenschaft kann nicht unser Daseinszweck sein: »Wenn der Mathematiker zu einer gewissen Höhe gekommen, vergleicht er nicht mehr die Begriffe selbst, er spielt nur noch mit Zeichen. Und so nicht blos in dieser Wissenschaft. Wir gerathen endlich dahin, wenn wir immer höhere Abstractionen bilden, wo wir die Zahl der Gegenstände selbst nicht mehr fassen, und die Welt aus dem Auge verlieren.«151 Eine für die zeitgenössische Diskussion wichtige Konsequenz: »Das was wir aufgeklärte Denkungsart nennen, ist der Natur nach nur weniger Menschen Bestimmung.« Patriotismus, Vorbilder der Ahnen, aber kein Weltbürgertum!152 Wir sind zum Handeln aus eigenen Grundsätzen bestimmt, das mit dem Gefühl der Selbstzufriedenheit belohnt und beim Zuwiderhandeln mit Gemütsqualen bestraft wird, also brauchen wir keine Lohn- und Strafandrohung in einer anderen Welt. Rehberg weist also beide Argumente, die die Notwendigkeit der Unsterblichkeit stützen sollen, zurück; weder die (platonisierende) Auffassung, unser hier nur begonnenes Vollkommenheitsstreben in der Erkenntnis könne erst in einem Nachleben nach dem Tod zu seinem intendierten Ende gelangen, noch die (christliche) Meinung, Sittlichkeit sei auf der Erde nicht möglich ohne Lohn und Strafe im Jenseits, erweisen sich als stichhaltig: Die Erkenntnis findet ihren Wert und damit ihre Grenze in unseren Lebensproblemen, und Tugend und Laster belohnen und bestrafen sich selbst durch Zufriedenheit und Qual in der eigenen irdischen die bestimmung des menschen | 93

Seele. Cato interessiert als sittlich hochstehender Weltphilosoph, mit dem sich Rehberg identifizieren kann. Die Bestimmungsfrage dient dem Abweis der platonisch-christlichen Weltflucht und des epikureischen Hedonismus. Auch die Wissenschaften vom Lebendigen benutzen den Bestimmungsbegriff, um in der Ablösung von mechanistischen Ansätzen ein neues Konzept zu entwickeln. Vorerst soll hier nur aus Johann Friedrich Blumenbachs Schrift Über den Bildungstrieb und das Zeugungsgeschäfte (1781) zitiert werden. Blumenbach lehnt die Präformations- und Evolutionstheorie ab und schreibt, er sei davon überzeugt, daß »keine präformirten Keime präexistiren: sondern daß in dem vorher rohen ungebildeten Zeugungsstoff der organisirten Körper, nachdem er zu seiner Reife und an den Ort seiner Bestimmung gelangt ist, ein besonderer, lebenslang thätiger Trieb rege wird, ihre bestimmte Gestalt anfangs anzunehmen, dann lebenslang zu erhalten, und wenn sie ja etwas verstümmelt worden, wo möglich wieder herzustellen.«153 Die Vorbestimmung ist dem einzelnen Lebewesen jederzeit inhärent und bestimmt seine Leistung derart, daß es Abweichungen wie Verstümmelungen selbsttätig wieder herzustellen vermag. Kant wird dies Motiv ohne den Keimbegriff ausführlich in der KdU am Beispiel eines Baumes auseinander setzen (V 371–372). »Ort der Bestimmung«, der Trieb, »die bestimmte Gestalt anzunehmen«: so kann jetzt die gesamte Erörterung von biologischer und kultureller Bildung der Lebewesen an der Bestimmungsdebatte teilnehmen und dieser ein naturwissenschaftliches Fundament geben. Kants durchgängiger Finalismus in aller Natur und zur Natur gehörigen Kultur wird dieses neostoische Projekt näher ausgestalten, ohne jedoch hierbei den Bestimmungsbegriff zu benutzen, er reserviert ihn für die Bestimmung nur des Menschen. Sodann Friedrich Schiller. In einer nicht genau datierten Abhandlung »Philosophie der Physiologie«, die Friedrich Schiller auf der Karlsschule verfaßte, lautet der Titel des ersten Paragraphen: »Bestimmung des Menschen«.154 »Gottgleichheit ist die Bestimmung des Menschen. Unendlich zwar ist diß sein Ideal: aber der Geist ist ewig. Ewigkeit ist das Maas der Unendlichkeit, das heist, er wird ewig wachsen, aber es niemals erreichen«, fährt dann der Text fort, und: »Was den Menschen jener Bestimmung näher bringt, es sei nun mittelbar oder unmittelbar, das wird ihn ergözen.«155 »Es ist 94 | kapitel 

gewiß von keinem Sterblichen Menschen kein größeres Wort noch gesprochen, als dieses Kantische, was zugleich der Innhalt seiner ganzen Philosophie ist: Bestimme dich aus dir selbst: So wie das in der theoretischen Philosophie: Die Natur steht unter dem Verstandesgesetze. Diese große Idee der Selbstbestimmung strahlt uns aus gewissen Erscheinungen der Natur zurück, und diese nennen wir Schönheit.«156 Das Bestimmungsmotiv begleitet als basso continuo die nachfolgenden Schriften. Über Anmut und Würde (1793): Die Schönheit ist sinnlicher Natur, die Würde des Menschen dagegen liegt in seiner »sittlichen Bestimmung«157; damit wird der Bestimmungsbegriff zum zentralen Element der nach Kantischem Vorbild dualen Ästhetik. 1795 publiziert Friedrich Schiller seine Briefe Über die ästhetische Erziehung des Menschen. Der Leit- und Orientierungsbegriff ist auch hier der der Bestimmung, wiederum zerlegt in die Natur- und Vernunftbestimmung des Menschen.158 Vom bestehenden Staat heißt es: »Aber mit diesem Nothstaat, der nur aus seiner [sc. des Menschen] Naturbestimmung hervorgegangen, und auch nur auf diese berechnet war, konnte und kann er als moralische Person nicht zufrieden seyn – und schlimm für ihn, wenn er es könnte. […] So holt er, auf eine künstliche Weise, in seiner Volljährigkeit seine Kindheit nach, bildet sich einen Naturzustand in der Idee, der ihm zwar durch keine Erfahrung gegeben, aber durch seine Vernunftbestimmung nothwendig gesetzt ist […].«159 Die Antithese von Naturund Vernunftbestimmung durchzieht die Schillersche Schrift. Die eigentliche Bestimmung ist die der Vernunft: »Jeder individuelle Mensch, kann man sagen, trägt, der Anlage und Bestimmung nach, einen reinen idealischen Menschen in sich, mit dessen unveränderlicher Einheit in allen seinen Abwechselungen übereinzustimmen, die große Aufgabe seines Daseyns ist.«160 Ab dem zwanzigsten Brief wird die Terminologie von Bestimmung, Bestimmbarkeit, Unbestimmtheit für sich thematisiert; darauf können wir hier im ersten Überblick nur verweisen und das Kantische Präludium in der KdU angeben (V 196,12–22). Der ästhetische Zustand des Spiels antizipiert den Zustand der Vollendung; durch den schönen Schein vermittelt er dem Subjekt »eine vollständige Anschauung seiner Menschheit, und der Gegenstand, der diese Anschauung ihm verschaffte, würde ihm zum Symdie bestimmung des menschen | 95

bol seiner ausgeführten Bestimmung, folglich (weil diese nur in der Allheit der Zeit zu erreichen ist) zu einer Darstellung des Unendlichen dienen.«161 Schiller denkt mit Kant gegen Kant. Mit Kant, weil er die dynamische Zukunftsstruktur im Bestimmungsbegriff fruchtbar macht; gegen Kant, weil dieser die Kunst nicht in das sittliche Bestimmungsprogramm einbezieht, sondern ihr das gegenläufige Privileg einräumt, am Anfang der griechischen Geschichte in ihrer menschenmöglichen und für immer paradigmatischen Form da zu sein. Sie nimmt nicht teil an einem triadischen Geschichtsprozeß, gemäß dem am Anfang die naive Phase der Versöhntheit von Idee und Wirklichkeit steht, sodann die Diremtion in Form der Reflexion des Verstandes folgt und nun der Kunst die Aufgabe zufällt, die vollendete Menschheit antizipierend symbolisch darzustellen. In der Schrift Über das Erhabene wird ein kompliziertes Gefüge mit den Begriffen von schön und erhaben, Verstand und Vernunft entwickelt. Der Kantische Primat der praktischen Vernunft wird extrapoliert zu dem Gladiatorensatz: »[…] der Mensch ist das Wesen, welches will.«162 Die Doppelbestimmung des Menschen: »Das Schöne macht sich bloß verdient um den Menschen, das Erhabene um den reinen Dämon in ihm; und weil es einmal unsre Bestimmung ist, auch bey allen sinnlichen Schranken uns nach dem Gesetzbuch reiner Geister zu richten, so muß das Erhabene zu dem Schönen hinzukommen, um die ästhetische Erziehung zu einem vollständigen Ganzen zu machen, und die Empfindungsfähigkeit des menschlichen Herzens nach dem ganzen Umfang unsrer Bestimmung, und also über die Sinnenwelt hinaus, zu erweitern.«163 Die Antrittsvorlesung Was heißt und zu welchem Ende studiert man Universalgeschichte stellt sogleich im zweiten Absatz fest: »Es ist keiner unter Ihnen allen, dem Geschichte nicht etwas wichtiges zu sagen hätte; alle noch so verschiedenen Bahnen Ihrer künftigen Bestimmung verknüpfen sich irgendwo mit derselben; aber Eine Bestimmung theilen Sie alle auf gleiche Weise mit einander, diejenige, welche Sie auf die Welt mitbrachten – sich als Menschen auszubilden – und zu dem Menschen eben redet die Geschichte.«164 Goethes und Kestners »und dort« ist säkularisiert, der Blick auf Geburt und Tod »führt das Individuum unvermerkt in die Gattung hinüber.«165 Aber in der peroratio klingt das Jenseitsmotiv noch einmal metaphorisch an: »Wie verschieden auch die Bestimmung sey, 96 | kapitel 

die in der bürgerlichen Gesellschaft Sie erwartet – etwas dazu steuern können Sie alle! Jedem Verdienst ist eine Bahn zur Unsterblichkeit aufgethan, zu der wahren Unsterblichkeit meyne ich, wo die That lebt und weiter eilt, wenn auch der Nahme ihres Urhebers hinter ihr zurückbleiben sollte.«166 Unsterblich, aber anonym, ist die neue Losung. Die wahre Unsterblichkeit? Sie wird gegen die unwahre gestellt, die die Religion im Jenseits bereit hielt; die wahre also ist die der Menschheitsgeschichte. Schiller vollzieht dieselbe Wende wie die Spätaufklärung allgemein; aus der Bestimmung des Menschen »hier und dort« wird die Bestimmung des Menschen jetzt für die irdische Zukunft, für die künftigen Generationen. Auf die Antrittsvorlesung werden wir noch einmal bei der Erörterung der Kantischen Geschichtsphilosophie zurückkommen. Der Blick beschränkt sich zunehmend auf das Hier des Menschen, wenn die Bestimmungsfrage gestellt wird. Wilhelm von Humboldt 1792: »Der wahre Zweck des Menschen – nicht der, welchen die wechselnde Neigung, sondern die ewig unveränderliche Vernunft ihm vorschreibt – ist die höchste und proportionirlichste Bildung seiner Kräfte zu einem Ganzen.«167 1793. Karl Heinrich Heydenreich: Encyclopädische Einleitung in das Studium der Philosophie nach den Bedürfnissen unsers Zeitalters: »Der höchste Zweck aller Philosophie ist, dem Menschen die Bestimmung seynes Daseyns begreiflich zu machen, und in diesem Zielpunkte müssen sich die Theorien des Vorstellungs – Begehrungs – und Gefühlsvermögens vereinigen.«168 »Die Philosophie […] hat kein anderes Geschäft, als den Charakter der Menschheit darzustellen und den Menschen über die Bestimmung seiner Gattung, durch in ihm selbst nothwendig gegründete Wahrheiten, mit sich selbst vollkommen einig zu machen. ›Alles Interesse meiner Vernunft, sagt Kant, vereinigt sich in den drey Fragen: 1) Was kann ich wissen? 2) Was soll ich thun? 3) Was darf ich hoffen?‹«169 Heydenreich vermischt zwei Ebenen, die Kant sorgfältig trennt, die individuelle und die der Gattung; korrekt ist, daß auch die zuletzt genannten Fragen zur Bestimmungsproblematik gehören. Wenn jedoch die beiden Ebenen zusammengenommen werden, dann ist die Verknüpfung der Frage »Was soll ich tun?« mit dem Jenseits und dem Postulat der Unsterblichkeit nicht mehr möglich, weil sich die Bestimmung der Gattung ausschließlich im Diesseits vollzieht. Genau die bestimmung des menschen | 97

dies ist die Intention der Bestimmungsphilosophie am Ende des Jahrhunderts. Fichtes Bestimmung des Gelehrten (1794)170 löst eine neue und letzte Woge der Bestimmungsdiskussion aus. Am 18. Juni 1794 wurde die »Litterärische Gesellschaft der freien Männer in Jena« mit einem Vortrag des »freien Mannes Pesarovius« eröffnet: »Über die in unsern Zeiten hervordämmernde vernunftmäßige Freiheit d. Menschen in d. Gesellschaft.«171 Auf der Sitzung vom 25. Juni verlas ein Herr Berger einen »Zuruf an unsere Gesellschaft zu der allgemeinen Bestimmung der Menschheit in ihrem ganz eigentl. dazu versammelten Zirkel, möglichst wirksam zu sein.«172 Hier wird ganz im Stil Fichtes das Ziel der Gesellschaft als die praktische Wirksamkeit für die allgemeine Bestimmung der Menschheit angegeben – eine solche Brisanz enthielt die Formel noch kurz vor ihrem Verblassen. Hören wir auch ein Echo aus der zeitgenössischen Pariser Szene? Am 10. Mai 1793 hatte der freie Bürger Robespierre in seiner Rede zur Revolutionsverfassung ausgerufen: »Die Zeit ist gekommen, jeden zu seiner wahren Bestimmung aufzurufen. Der Fortschritt der menschlichen Vernunft hat diese große Revolution vorbereitet, und gerade Ihr seid es, denen die besondere Pflicht auferlegt ist, sie zu beschleunigen.«173 Der revolutionäre Elan hat sicher dazu beigetragen, die Gesellschaft der freien Männer zu gründen; sie endete zeitgleich mit der Französischen Revolution im Jahr 1799, als Napoleon erklärte: »La révolution est terminée!« Der Titel des Vortrags vom 16. Juli 1794 lautet »Über die Bestimmung des Menschen«.174 Die Gesellschaft der freien Männer bediente sich damit desselben Schlüsselworts wie Carl Gottlieb Svarez 1791 bei seinen Kronprinzenvorträgen. »Der Anfangssatz der gesammten Vorträge lautet: ›Die Bestimmung des Menschen, der Zweck seines Daseins ist Glückseligkeit‹.«175 – Am 17. September 1794 verständigten sich die freien Männer in Jena: »Ueber das Gemeinschaftliche aller Ideen von der Bestimmung u. dem letzten Wunsche des Menschen«.176 Am 4. Dezember übrigens: »Über die Eudaimonien der Stoiker u. Epikuräer«, am 21. Juni 1796 folgte ein Vortrag zum »Einfluß des Stoicism auf die Cultur«.177 Hierzu ist anzumerken, daß die Gesellschaft keine philosophiegeschichtlichen Interessen hatte, sondern ausschließlich praktisch-systematische; die Teilnehmer wußten um ihre stoische Herkunft und wollten diese 98 | kapitel 

näher erkunden; entsprechend fehlt selbstverständlich jedes Interesse an Platon und Aristoteles. Zum Thema der Bestimmung gehört wieder der Vortrag vom 5. Februar 1795: »Wiefern ist Unglück zur Erreichung des Zwecks der Menschheit nothwendig?«178 Fichtes Die Bestimmung des Menschen (1800) enthält den Satz: »Wir handeln nicht, weil wir erkennen, sondern wir erkennen, weil wir zu handeln bestimmt sind; die praktische Vernunft ist die Wurzel aller Vernunft. Die Handelnsgesetze für vernünftige Wesen sind unmittelbar gewiß: ihre Welt ist gewiß nur dadurch, daß jene gewiß sind. Wir können dem ersteren nicht absagen, ohne daß uns die Welt, und mit ihr wir selbst in das absolute Nichts versinken; wir erheben uns aus diesem Nichts und erhalten uns über diesem Nichts lediglich durch unsere Moralität.«179 Günter Zöller paraphrasiert: »Die Bestimmung des Menschen im Doppelsinn von dessen originärer Beschränktheit und finaler Ausrichtung besteht in der Bestimmung zur Selbstbestimmung: ›Diese Bestimmtheit [,] die meinen Hauptcharakter ausmacht, besteht darin, daß ich bestimmt bin, mich auf gewisse Weise zu bestimmen.‹«180 Fichtes Die Bestimmung des Menschen stellt den Kantinterpreten vor eine folgenreiche Frage: Wenn die Bestimmung des Menschen das Zentrum der kritischen Philosophie darstellt, findet sich dann nicht ihre Quintessenz bei Fichte, der in der gegen Jacobis Vorwürfe gerichteten Schrift von 1800 die praktische Bestimmung des Menschen zum archimedischen Punkt macht, von dem sich alle philosophischen Probleme befriedigend lösen lassen? Auf diese Frage soll im Zusammenhang der KpV näher eingegangen werden. Die Bestimmung oder der Zweck des Menschen ist der höchste Punkt, auf den Christoph Wilhelm Hufelands Die Kunst, das menschliche Leben zu verlängern gerichtet ist: »Wer kann vom menschlichen Leben schreiben, ohne mit der moralischen Welt in Verbindung gesezt zu werden, der es so eigentümlich zugehört? Im Gegentheil habe ich bey dieser Arbeit es mehr als je empfunden, daß sich der Mensch und sein höherer moralischer Zweck auch physisch schlechterdings nicht trennen lassen, und ich darf es vielleicht dieser Schrift als ein kleines Verdienst anrechnen, daß sie nicht allein die Wahrheit und den Wert der moralischen Gesetze in den Augen vieler dadurch erhöht, daß sie ihnen die Unentbehrlichkeit derselben auch zur physischen Erhaltung und Verlängerung des die bestimmung des menschen | 99

Lebens zeigt, sondern daß sie auch mit unwiderleglichen Gründen darthut, daß schon das Physische im Menschen auf seine höhere moralische Bestimmung berechnet ist, daß dieses einen wesentlichen Unterschied der menschlichen Natur von der thierischen macht, und daß ohne moralische Kultur der Mensch unaufhörlich mit seiner eignen Natur im Widerspruch steht, sowie er hingegen durch sie auch physisch erst der vollkommenste Mensch wird.«181 Friedrich Hölderlin nimmt die Bestimmungsimpulse der Fichteschen Philosophie auf und modelliert die Dreistufen-Folge der menschlichen Entwicklung neu, die wir bei Spalding (und schon bei Augustin) fanden. Am Anfang steht die geschlossene Einheit des Kindes als »Organisation der Natur«; darauf folgt das herrische, reflexions- und freiheitssüchtige Jünglingsalter auf seiner »exzentrischen Bahn«, und dann die Rückkehr zur Einheit in der reifen Humanität der »dritten Vollendung« und »Organisation, die wir uns selbst zu geben im Stande sind«. Hierin fallen die Bestimmung des Menschen und die Bestimmung der Poesie zusammen: »[…] also wenn diß der Gang und die Bestimmung des Menschen überhaupt zu seyn scheint, so ist ebendaßelbe der Gang und die Bestimmung aller und jeder Poesie.«182 Im Hyperion heißt es mit genau dieser Idee in der vorletzten Fassung: »Meine Plane gab ich allmählich auch auf. Du verkanntest deine Bestimmung, sagt’ ich mir, die sonderbaren Zufälle deiner frühern Jahre trieben dich aus deinem Kreise heraus, und es ist Zeit, daß du in deine Grenzen zurücktritst!«183 Auf die allgemeinste Struktur dieses Dreischritts von ursprünglicher Einheit, Zerfall in die im Prinzip unendliche Zweiheit und Grenzsetzung des Entzweiten durch die Einheit in einem dritten Schritt werden wir in einem anderen Zusammenhang ausführlicher zurückkommen.184 Auch Friedrich Schlegel nimmt von 1796 bis wenigstens 1800 teil an der Bestimmungsphilosophie. In Überlegungen zur Dichtkunst von 1796 heißt es: »Der Zweck aller menschlichen Handlungen ist die Menschheit. […] Die Menschheit ist aber eben der Inbegriff von dem, was nothwendigen Werth für den Menschen hat, die Bestimmung des Menschen.«185 »Kein Einzelner ›Mensch‹ kann die Bestimmung des Menschen erreichen […]. Und eben diese Disharmonie giebt dem Menschen den Schein des Unglücks, der Unvollkommenheit, des Unzusammenhangs. Die Bestimmung des Menschen 100 | kapitel 

ist, das Unendliche mit dem Endlichen zu vermählen; die völlige Coincidenz ist aber ewig unerreichbar.«186 Man sieht wieder den Dreischritt, der schon bei Spalding und dann auch bei Hölderlin den Bestimmungsgedanken untergründig beherrschte. Die Vorlesungen zur Transzendentalphilosophie (Jena 1800–1801) behandeln die »Theorie des Menschen« unter die Frage nach dessen Bestimmung: »Unsere Theorie geht auf die Bestimmung des Menschen«, wird gleich zu Beginn festgelegt,187 und später resümiert: »Hier kann die Anfrage des gemeinen Verstandes an die Philosophie gar nicht verwerflich seyn; so wird auch das Problem der praktischen Philosophie das seyn, was allgemein an die Philosophie geschieht, nämlich die Frage nach der Bestimmung des Menschen.«188 Auf die kunstvoll-künstliche Verflechtung von Kant und Fichte kann hier nicht eingegangen werden. Hinzugefügt sei noch Georg Friedrich Rebmann: »Die kommende Generation wird der Bestimmung der Menschheit nähergerückt werden, ich sage absichtlich näher, denn diese Revolution ist nur erst der Anfang einer weit größeren, ohne welche alles, was bisher geschehen ist, eitles Spielwerk sein würde.«189 Das in den Streit der Fakultäten übernommene Schreiben von Carl Arnold Wilmans (VII 69–75) sieht in der kritischen Philosophie eine Wissenschaft vom Menschen und seiner Bestimmung: »Der Mensch muß für zwei ganz verschiedene Welten bestimmt sein, einmal für das Reich der Sinne und des Verstandes, also für diese Erdenwelt: dann aber auch noch für eine andere Welt, die wir nicht kennen, für ein Reich der Sitten.« (VII 70,19–22) Wilmans zieht Sinne und Verstand in die durchgängig determinierte »Erdenwelt«, d. h. die gesamte Erkenntnis der Erscheinungen gehört selbst zur Erscheinungswelt und unterliegt deren Gesetzen; auf diese gefährliche Konsequenz des Kantischen Dualismus von Natur und moralischer Freiheit werden wir später zurückkommen. Und das letzte Dokument von 1845. In einem symphonischen Nachklang greift Alexander von Humboldt in den »Einleitenden Betrachtungen« des Spätwerks Kosmos. Entwurf einer physischen Weltbeschreibung (1845) das Motiv der Bestimmung des Menschen auf: »Das wichtigste Resultat des sinnigen physischen Forschens ist daher dieses: in der Mannigfaltigkeit die Einheit zu erkennen, von dem Individuellen alles zu umfassen, was die Entdeckungen der die bestimmung des menschen | 101

letzteren Zeitalter uns darbieten, die Einzelheiten prüfend zu sondern und doch nicht ihrer Masse zu unterliegen, der erhabenen Bestimmung des Menschen eingedenk, den Geist der Natur zu ergreifen, welcher unter der Decke der Erscheinungen verhüllt liegt. Auf diesem Wege reicht unser Bestreben über die enge Grenze der Sinnenwelt hinaus, und es kann uns gelingen, die Natur zu begreifen, den rohen Stoff empirischer Anschauung gleichsam durch Ideen zu beherrschen.«190 Vierzig Jahre lang hatte Kant über Physische Geographie gelesen (ca. 1756 bis 1796); beide Autoren waren Plinius verpflichtet, dessen Naturgeschichte Alexander von Humboldt das Motto seines Werks entnimmt: »Naturae vero rerum vis atque majestas in omnibus momentis fide caret, si quis modo partes ejus ac non totam complectatur animo«191; beide sprachen mit größter Emphase von der erhabenen Bestimmung des Menschen. Es gibt jedoch einen Unterschied, der dem flüchtigen Leser entgehen wird: Alexander von Humboldt kehrt mit seiner Bestimmungsidee zu einer stoischen Konzeption zurück, die auch Plinius teilt, die Kant jedoch in einem für ihn entscheidenden Punkt zu überwinden suchte. Kant unterscheidet den »mundus sensibilis« vom »mundus intelligibilis« derart, daß die stoische Konzeption eines einheitlichen moralischen und natürlichen Logos-Kosmos zerstört wird. Humboldt will ihn dagegen als Einheit restituieren.

Kant: Was ist der Mensch? versus: Die Bestimmung des Menschen In einer Nachschrift der Kantischen Metaphysikvorlesung (Metaphysik L 2, Pölitz) findet sich folgende Einteilung: »Das Feld der Philosophie in sensu cosmopolitico läßt sich auf folgende Fragen zurückbringen: 1) Was kann ich wissen? Das zeigt die Metaphysik. 2) Was soll ich thun? Das zeigt die Moral. 3) Was darf ich hoffen? Das lehrt die Religion. 4) Was ist der Mensch? Das lehrt die Anthropologie. Man könnte alles Anthropologie nennen, weil sich die drei ersten Fragen auf die letzte beziehen.« (XXVIII 533,36–534,4; mit geringfügigen Änderungen übernommen in IX 25,1–10) Ähnlich schreibt Kant am 4. Mai 1793 an den Göttinger Theologen Carl Friedrich Stäudlin: »Mein schon seit geraumer Zeit gemachter Plan 102 | kapitel 

der mir obliegenden Bearbeitung des Feldes der reinen Philosophie ging auf die Auflösung der drei Aufgaben: 1) Was kann ich wissen? (Metaphysik) 2) Was soll ich thun? (Moral) 3) Was darf ich hoffen? (Religion); welcher zuletzt die vierte folgen sollte: Was ist der Mensch? (Anthropologie; über die ich schon seit mehr, als zwanzig Jahren jährlich ein Collegium gelesen habe).« (XI 429,10–16) In diesen viel zitierten Äußerungen ergänzt Kant die drei erst genannten Fragen der KrV (A 804–805) durch die Frage nach dem Wesen des Menschen und weist im Brief von 1793 auf seine eigene Anthropologie hin. Die Frage »Was ist der Mensch?« wird jedoch weder in den Vorlesungsnachschriften zur Anthropologie (XXV) noch in der 1798 edierten Anthropologie oder einer anderen Druckschrift erwähnt, aber auch in ihrem Inhalt ist diese Ergänzung problematisch.192 Die – schon bei Platon formulierte193 – Definitionsfrage bezieht sich auf das unveränderliche Wesen des Menschen; eine derartige ungeschichtliche Essenz kann die Anthropologie nicht finden, von der Bestimmung des Menschen ist jedoch, wie gleich gezeigt werden soll, immer wieder die Rede. Die Frage »Was ist der Mensch?« ist eine Definitionsfrage, die Kant schon als solche in der Nachfolge von Francis Bacon und John Locke und auf Grund eigener Überlegungen in den sechziger Jahren meidet. Die eigene Epistemologie zielt nicht, wie schon angedeutet, auf festzuschreibende Definitionen, denn schon in den sechziger Jahren heißt es, die Mathematik könne und müsse zwar Definitionen an den Anfang stellen und könne dann in deduktiver Methode Erkenntnisse gewinnen, die Philosophie dagegen könne an Definitionen allenfalls am Ende aller Tage denken. »Die Mathematik gelangt zu allen ihren Definitionen synthetisch, die Philosophie aber analytisch«, lautet die Überschrift des § 1 der Preisschrift von 1764, Untersuchung über die Deutlichkeit der Grundsätze der natürlichen Theologie und der Moral (II 276,5–6).194 Der Verzicht auf ein »more geometrico« der Philosophie ist gleichbedeutend mit einer fundamentalen Absage an die scholastische, d. h. platonisch-aristotelische Tradition, die die Definition von Realien für möglich und notwendig ansah. An die Stelle der abschließbaren Definition tritt die in die Zukunft hinein offene Forschung. Diese wissenschaftstheoretische Vorstellung, die schon bei die bestimmung des menschen | 103

Locke entwickelt wird und die Kant von ihm übernimmt, ist ein fundamentaler Bruch mit der geschlossenen Metaphysik, die mit Wolff praktisch enden wird. Die Entgegenstellung der Methoden von Mathematik und Philosophie stimmt auffällig mit der Konfrontation der Rousseauschen und der eigenen Methode überein. Rousseau gehe synthetisch vor, er, Kant, dagegen analytisch. Das bedeutet in diesem Kontext: Rousseau bestimmt das Wesen des Menschen aus dem Beginn der Natur, und er kann dann die weiteren Entstellungen im Geschichtsfortgang registrieren – zu dieser Verfallsgeschichte war der Mensch, so das Resümee des 2. Discours, nicht durch seine Natur bestimmt. Kant will dagegen den Menschen in der gegenwärtigen Gesellschaft betrachten, um dann durch Analysis bis zu seinem Ursprung und seiner eigentlichen Natur zu schreiten. Wie immer er zur Erkenntnis der Bestimmung des Menschen und später der Menschheit gelangt, im methodischen Grundsatz des analytischen Vorgehens ist eine Beantwortung der Definitionsfrage »Was ist der Mensch?« nicht vorgängig nötig und möglich. Sie kann auf jeden Fall nicht als Leitfrage an den Anfang gestellt werden. Die Definitionsfrage »Was ist der Mensch?« ist des weiteren rein theoretischer, rein gelehrter Natur und war schon in der Antike als lebensfremd persifliert worden, man denke nur an die Suche nach der Definition des Menschen in der Platonischen Akademie, karikiert von Diogenes von Sinope: »Als Platon die Definition aufstellte, der Mensch ist ein federloses zweifüßiges Tier, und damit Beifall fand, rupfte er einem Hahn die Federn aus und brachte ihn in Platons Schule mit den Worten ›Das ist Platons Mensch!‹. Infolgedessen ward der Zusatz gemacht ›Mit platten Nägeln‹«.195 Die Frage nach der Bestimmung des Menschen zielt dagegen auf Popularität und Praxis: welche Aufgabe hat der Mensch in diesem seinem Leben? Das Horaz-Motto der Spaldingschen Schrift Die Bestimmung des Menschen trifft im Inhalt auch auf Kants Bemühung zu: »—quod – ad nos / Pertinet et nescire malum est, agitamus«196. Wenn Kant betont, daß es sich hier um Philosophie im »sensus cosmopoliticus«, im weltbürgerlichen und nicht im Schulsinne handelt, dann stellt er auch dabei auf unser praktisches Leben ab, genau das aber ist die Richtung der Bestimmung des Menschen, nicht der Definitionsfrage »Was ist der Mensch?« 104 | kapitel 

So wenig wie Kant in der Vorlesung über Physische Geographie die Frage stellt, »Was ist die Erde?«, so wenig begegnet in der Anthropologie die korrespondierende Frage nach dem Menschen. Es gibt eine mathematische, physische und politische Geographie als etablierte Wissenschaften, die erfolgreich nach ihrer jeweiligen Methode die Erde erforschen, und es wäre albern, den Gang dieser Wissenschaften von einer Einheitsdefinition des gemeinsamen Gegenstandes abhängig zu machen. Im Fall der Anthropologie sind es u. a. Medizin, Rassenkunde, politische Geschichte, empirische Psychologie, Ästhetik, Ökonomie (Adam Smith), die ohne eine Antwort auf die Frage »Was ist der Mensch?« nach einem erweiterten Wissenschaftsbegriff erfolgreich arbeiten.197 Die Definitionsfrage »Was ist der Mensch?« ist statisch; wenn einmal das Wesen des Menschen vom Philosophen bestimmt ist, lässt sich die Suche nicht weiterführen, das Ergebnis kann den anderen nunmehr arbeitslosen Philosophen mitgeteilt werden. Die Bestimmung dagegen verzeitlicht das Wesen; der Mensch erzeugt sich im Lebensprozeß selbst als moralisches Wesen; der Mensch vollzieht in der Selbstbestimmung seine eigene Bestimmung, der Kantische Mensch ist nicht, sondern wird, ließe sich leicht pathetisch sagen. Kehren wir noch einmal zum Anfang dieses Kapitels zurück. Die von Platon gestellte Frage »Was ist der Mensch?« spielt keine Rolle mehr; sie wird ersetzt durch die verzeitlichte stoische Idee einer Natur- und Vernunftbestimmung des Menschen. Epistemisch tritt damit die Schwierigkeit auf, daß die Bestimmung von etwas erörtert wird, das man nicht eigentlich kennt und definieren kann. Zwingt nicht dieser Sachverhalt zu einer Rückkehr zur Frage, was der Mensch ist, um von deren Beantwortung überzugehen zu einem Attribut, nämlich seiner Funktion oder Bestimmung? Ich denke, daß hier verschiedene Faktoren wirken, die die Frage Platons ausblenden helfen. Ein erster Punkt dürfte in der cartesischen Philosophie liegen; Descartes wehrt in den Meditationen die scholastische Wesensfrage ab und setzt an ihre Stelle die Selbstgewißheit des »ego cogito«; mit dieser Gewißheit ist jedem Menschen zugleich eine Selbsterkenntnis gegeben, die den Umweg über eine Definition des Menschen durch Gelehrte obsolet macht. Gegen den Zweifel der ersten »Meditation« die bestimmung des menschen | 105

wird in der zweiten ein archimedischer Punkt gesucht: »Nichts als einen festen und unbeweglichen Punkt verlangte Archimedes, um die ganze Erde von ihrer Stelle zu bewegen, und so darf auch ich Großes hoffen, wenn ich nur das geringste finde, das sicher und unerschütterlich ist.«198 Man sieht: Es kommt auf die unbezweifelbare Gewißheit des Standpunktes an, nicht etwa auf die ausformulierte Erkenntnis. Entsprechend wird eine Erkenntnis des Menschen und die Beantwortung der Frage »Was ist der Mensch?« explizit für nichtig erklärt: »Was habe ich vordem geglaubt zu sein? Doch wohl ein Mensch. Aber was ist der Mensch? [Sed quid est homo?] Soll ich sagen: ein vernünftiges, lebendes Wesen? Keineswegs, denn dann müsste man ja hernach fragen, was ein lebendes Wesen und was vernünftig ist, und so geriete ich aus einer Frage in mehrere und noch schwierigere. Auch habe ich nicht so viel Zeit, daß ich sie mit derartigen Spitzfindigkeiten vergeuden möchte.«199 Descartes findet das »cogito« als eine unbezweifelbare Gewißheit, die sich sogleich auch auf die eigene Substantialität, das »res cogitans«-Sein, erstreckt. Hier wird also an der berühmtesten Wende zur neuzeitlichen Subjektphilosophie die Frage »Was ist der Mensch?« als scholastische Quisquilie beiseite geschoben. Das »existere« hat nach dem Nominalismus den Vorrang gegenüber der »essentia« erhalten, und an dieser Form der Existenzphilosophie wird auch die Reflexion über die Bestimmung des Menschen teilnehmen. Nun hat Kant unleugbar die Formulierung »Was ist der Mensch?« benutzt, wenn auch in keiner Druckschrift. Wie kommt es bei ihm zu dieser Frage? Ich denke, der Grund ist ganz äußerlich. Die Reflexion über die Bestimmung des Menschen, die 1748 in Deutschland einsetzt, orientiert sich an genau dieser Redeweise, während vom Wesen des Menschen seit Platon in der Frageform verhandelt wird. Nun wird der Bereich von Wissen, Tun und Hoffen ebenfalls seit dem Mittelalter als Frage gebracht, und Kant schließt sich dieser kanonischen Festlegung an; so war es nur natürlich, die Frage »Was ist der Mensch?« als vierte Frage auf die vorhergehenden drei Fragen anzuschließen und nicht kleinlich an der genauen Differenz von Bestimmung und Wesen des Menschen zu haften. Erst die mikroskopische Deutung des Textes sieht die dann doch entscheidende Differenz, an deren Wortlaut Kant selbst nicht interessiert zu sein brauchte. 106 | kapitel 

Während der Kant-Rezeption im deutschen Idealismus stand in der theoretischen Philosophie die Subjektkonstruktion des »Ich denke« im Vordergrund; sie geriet in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts in den Sog der Psychologie, so daß die Transzendentalphilosophie in eine empirische Psychologie zurückformuliert wurde. Der Neukantianismus suchte die Wissenschaftsprinzipien zu rekonstruieren und verzichtete dabei auf das Subjekt, sei dieses nun transzendental oder psychologisch bestimmt. In den zwanziger Jahren des 20. Jahrhunderts wurde die philosophische Anthropologie kreiert, und von dieser Ausrichtung der Philosophie erwuchs ein Interesse an der vermeintlich Kantischen Frage »Was ist der Mensch?« Bei der Kant-Retrospektive im Jahr 2004 war dies zur meistbenutzten Formel geworden, um die verschiedenen Disziplinen Kants zu bündeln. Im übrigen benutzt Kant m. W. den Begriff einer philosophischen Anthropologie nicht, weil die Philosophie es mit begrifflicher Notwendigkeit und die Anthropologie mit empirischen Materialien (die häufig ins Apriorische ausgeweitet werden) zu tun hat. Kants Erkenntnistheorie ist, das soll nachher detaillierter gezeigt werden, weit von Platon und Aristoteles entfernt. So wie die Definitionsfrage »Was ist der Mensch?« nicht in das Gesamtkonzept der Kantischen Philosophie passt, so kann umgekehrt die Bestimmung des Menschen für Platon und Aristoteles keine Rolle spielen, denn die Vorstellungen von Bestimmung und Selbstbestimmung beziehen sich auf den Menschen und die Menschheit schlechthin, Platon und Aristoteles dagegen nehmen eine Stufung nach drei grundsätzlich unterschiedlichen Begabungen und psychischen Dispositionen vor und zeichnen danach den je angemessenen Lebens- und Berufsweg. Die meisten Menschen halten sich nach Neigung und Begabung im Ökonomischen auf, wenige Bewohner haben ein aktives Mutprinzip, noch weniger sind für die reine Theorie und damit für den höchsten Wert geeignet. Es gibt also nicht eine pauschale Bestimmung des Menschen im Sinn einer gehaltvollen Aufgabe, die allen gestellt ist. Kant spricht dagegen von »dem« Menschen und legt seine praktische Aufgabe fest, nicht hierarchisch, sondern egalitär, nicht in theoretisch komplizierter Weise, sondern einfach und jedem zugänglich – wer sich der Sittlichkeit als seines Kompasses bedient, weiß auch um seine Bestimmung, dazu bedarf es keiner die bestimmung des menschen | 107

Gelehrsamkeit. Auch dies führt wieder in den Hellenismus, nicht zu Platon. Aus den hellenistischen Impulsen lassen sich bestimmte Stärken und Schwächen der Kantischen Philosophie genetisch begreifen, und zwar sowohl auf der Seite der rein akademischen Philosophie wie auch der öffentlichen Wirkung. Kant erzielte eine populäre Tiefenwirkung, wie sie die Stoa in der hellenistischen und römischen Antike hervorbrachte und dann in der frühen Neuzeit erneuerte. Der Neustoizismus, der mit Justus Lipsius200 einsetzte, wirkte im Praktischen mit zwei Postulaten: Selbstdisziplin und die Würde gleicher und freier Menschen. Diese sittlichen und rechtlichen Konzepte der Neostoiker werden zu Gestaltungskräften der sich konsolidierenden Nationalstaaten. Kant nimmt in einer Phase der Neubelebung der stoischen Popularphilosophie diese Tradition auf und gibt ihr einen neuen geschichtsmächtigen Impuls. Hier gehen auch Gedanken Platons ein, auf die Kant ausdrücklich hinweist – die Ideenlehre ist nicht stoischen, sondern platonischen Ursprungs, desgleichen das gesamte Formprogramm, aber das begriffliche Milieu im Ganzen, die Kantische Weltanschauung stammt vornehmlich von Cicero und Seneca und ihrer neuzeitlichen Rezeption.

Die Bestimmung des Menschen bei Kant, ein Überblick 1749 erscheint die erste Schrift, Gedanken von der wahren Schätzung der lebendigen Kräfte. Das stoische Motto zielt auf die Bestimmungsfrage: »Nihil ergo magis praestandum est quam ne pecorum ritu sequamur antecedentium gregem, pergentes non quo eundum est sed quo itur.«201 Man beachte, wie viele Bedeutungen und Mitbedeutungen hier anklingen. Die Herde, das spätere »man«, folgt niedergebeugt den vorangehenden Schafen; keines der Herdentiere hat einen eigenen Überblick, ein eigenes Urteil, eine eigene Entscheidung; der Mensch ist jedoch dazu bestimmt, aufrecht zu gehen und selbst den Weg zu finden, zu entscheiden, welcher Weg zu dem vorbestimmten Ziel führt. (Mit »Nachtreter« wird Schleiermacher den Topos neu formulieren)202. Der Normcharakter des »praestandum est« und »eundum est« stellt sich gegen das Faktum der Herde und das faktische »itur«. Im aufrechten Gang des Menschen liegt 108 | kapitel 

seine natürliche Berufung203, selbständig er selbst zu werden. In unendlichen Variationen ist dieses Motto mit dem Kontrast von dumpfer Schafherde und dem aufrechten Gang des Menschen seit der römischen Stoa wiederholt worden. Der aufrechte Gang ist begründet in der Vernunftbestimmung des Menschen, wie Kant später gegen die witzige Meinung ausführt, der Gang auf allen Vieren sei für den Menschen vielleicht doch gesünder und eigentlich von der Natur gewollt; darauf ist gleich näher einzugehen.204 Eine frühe zaghafte Einbeziehung der Erkenntnis um ihrer selbst willen in die Bestimmungsfrage findet sich in der Physischen Geographie Messina 60: »Quaestio Wie viel ist uns von der Welt bekannt? Responsio In vielen Stücken können wir sagen, daß uns diese Kentnieß nicht viel interessiret; Die wahren Vortheile aber davon bestehen in der Bestimmung der Menschheit; daß er seine Kentnieße erweitere, seinen Wohnplatz nach allen seinen Theilen kennen lerne, und überhaupt daß er seine WißbeGierde befriedige.« Grundsätzlicher und nicht nur auf Verstandeskenntnis, sondern auch auf die moralische Perfektion zielend ist eine Überlegung schon im dritten Teil der Allgemeinen Naturgeschichte und Theorie des Himmels (1755), noch ohne das Wort »Bestimmung«: Wenn man das Leben der meisten Menschen ansehe, so scheine auch der Mensch eine Kreatur zu sein wie die Pflanzen und seinen Zweck darin zu haben, »Saft in sich zu ziehen und zu wachsen, sein Geschlecht fortzusetzen, endlich alt zu werden und zu sterben. Er erreicht unter allen Geschöpfen am wenigsten den Zweck seines Daseins, weil er seine vorzügliche Fähigkeiten zu solchen Absichten verbraucht, die die übrigen Creaturen mit weit minderen und doch weit sicherer und anständiger erreichen.205 Er würde auch das verachtungswürdigste unter allen Lebewesen zum wenigsten in den Augen der wahren Weisheit sein, wenn die Hoffnung des Künftigen ihn nicht erhübe und den in ihm verschlossenen Kräften nicht die Periode einer völligen Auswicklung bevorstände.« Die grobe Materie, in die sein geistiger Teil jetzt eingesenkt sei, liefere dem Menschen »nur grobe und undeutliche Begriffe, und weil er der Reizung der sinnlichen Empfindungen in dem Inwendigen seines Denkungsvermögens nicht genugsam kräftige Vorstellungen zum Gleichgewichte entgegen stellen kann: so wird er von seinen Leidenschaften hingerissen, von dem Getümel der Elemente, die seine Maschine die bestimmung des menschen | 109

unterhalten, übertäubt und gestört. […] Diese Trägheit seiner Denkungskraft, welche eine Folge der Abhängigkeit von einer groben und ungelenksamen Materie ist, ist nicht allein die Quelle des Lasters, sondern auch des Irrthums« (I 356,14–357,14). Ein Grundtext, den Kant später umschreiben, aber nicht aufgeben wird. Der Ort, an dem sich die in uns schlummernden Kräfte nach dem physischen Tod in leichterer Materie ganz entfalten können, liegt 1755 im Sonnensystem; später wird die allgemeine Jenseitsvorstellung übernommen, um die Vervollkommnung der Seele zu ermöglichen, zugleich wird jedoch der Fortschritt in die künftige Entwicklung der Menschheit verlegt, wird also zu einer rein immanenten Frage werden. Das Fortschreiten wird sich nur auf die Moral, dezidiert nicht auf die Erkenntnis beziehen. Zu dem Nebeneinander von Laster und Irrtum, von Moral und Erkenntnis in der Konzeption von 1755 sei eine Kontrastposition aus dem Jahr 1616 angeführt; es handelt sich um De providentia numinis et animi immortalitate libri duo von Leonard Lessius. Lessius stellt fest, daß der Geist sich in diesem Leben nur verworren und dunkel erkennen könne (»Animus in hac vita non potest seipsum cognoscere, nisi admodum confuse et obscure«). Er sehe alles in einen Nebel eingehüllt, entsprechend komme es zu den verschiedensten Meinungen über eben diesen Geist. Sollte er zusammen mit dem Körper vergehen, könnte er sich nie selbst kennen lernen, sondern würde in Unkenntnis seiner selbst geboren, leben und sterben. Daher sei es am stimmigsten (»maxime consentaneum«), daß er sich und sein Wesen und seine Natur dereinst betrachten könnte.206 Die im Geist angelegte Potenz der Selbsterkenntnis lässt sich erst im Jenseits verwirklichen, es ergibt sich also das Nachleben nach dem Tod aus dem epistemischen Defizit auf Erden. Diese Position wird in der zweiten Phase der Aufklärung nicht mehr vertreten, nicht der Fortschritt der Erkenntnis vom Verworrenen und Dunklen hin zum Deutlichen und Klaren interessiert, sondern der Fortschritt in der Moral. Folgen wir den weiteren Bestimmungs-Dokumenten. In Kants Gedanken bei dem frühzeitigen Ableben des Herrn Johann Friedrich von Funk (1760) werden Leben und Tod unter den Titel der Bestimmung gestellt: »Ein jeder Mensch macht sich einen eigenen Plan von seiner Bestimmung auf dieser Welt« (II 41,9–10)207, und: Gott, 110 | kapitel 

der oberste Beherrscher, »verbirgt das Ende unserer Bestimmung auf dieser Welt in unerforschliche Dunkelheit […]. Unter diesen Betrachtungen richtet der Weise (aber wie selten findet sich ein solcher!) die Aufmerksamkeit vornehmlich auf seine große Bestimmung jenseit dem Grabe.« (II 42,5–15) »Der letzte Zweck ist die Bestimmung des Menschen zu finden«, konstatieren kurz und entschieden die »Bemerkungen in den Beobachtungen über das Gefühl des Schönen und Erhabenen (XX 175,29). »Alles Interesse meiner Vernunft […]« (A 804) wird die KrV formulieren; in den »Bemerkungen« steht: »Die größte Angelegenheit des Menschen ist zu wissen […] wozu er bestimmt ist.« (XX 41,19–28).208 Kant wird nicht müde, dies zu wiederholen: Im Zentrum des Vernunftinteresses und damit seiner Philosophie steht die Bestimmung des Menschen. Ganz entscheidend für die historische Konturierung der Kantischen Philosophe ist folgender Passus in den Träumen eines Geistersehers (1765–1766): »Die Eitelkeit der Wissenschaft entschuldigt gerne ihre Beschäftigung mit dem Vorwande der Wichtigkeit, und so giebt man auch hier gemeiniglich vor, daß die Vernunfteinsicht von der geistigen Natur der Seele zu der Überzeugung von dem Dasein nach dem Tode, diese aber zum Bewegungsgrunde eines tugendhaften Lebens sehr nötig sei; […] Allein die wahre Weisheit ist eine Begleiterin der Einfalt, und da bei ihr das Herz dem Verstande die Vorschrift giebt, so macht sie gemeiniglich die große Zurüstungen der Gelehrsamkeit entbehrlich, und ihre Zwecke bedürfen nicht solcher Mittel, die nimmermehr in aller Menschen Gewalt sein können.« (II 372,12–23) Den letzten Nebensatz – »in aller Menschen Gewalt« – lese man erneut, um zu spüren, welch ein politisches Erdbeben sich hier ankündigt. Unmittelbar darauf folgt in rhetorischer Hochform: »Wie? ist es denn nur darum gut tugendhaft zu sein, weil es eine andere Welt giebt, oder werden die Handlungen nicht vielmehr dereinst belohnt werden, weil sie an sich selbst gut und tugendhaft waren? Enthält das Herz des Menschen nicht unmittelbar sittliche Vorschriften, und muß man, um ihn allhier seiner Bestimmung gemäß zu bewegen durchaus die Maschinen an eine andere Welt setzen?« (II 372,26–29) Eine revolutionäre Wende gegen Thron und Altar. »Maschinen« – das Wort ist politisch negativ konnotiert209 und zeigt, wie realistisch die philosophische Kritik in den Träumen gemeint ist. Auf den Umbruch, der mit den Träumen volldie bestimmung des menschen | 111

zogen wird, soll später in einer kurzen Skizze der Genese der kritischen Philosophie erneut eingegangen werden. Wir verfolgen die weiteren Stationen mit einschlägigen Zitaten. Aus der Logik Philippi (um 1770): »Das ist die wahre Weißheit wodurch wir erkennen lernen 1. unsere große Bestimmung 2. die Mittel den Zweck zu erreichen.« (XXIV 323,3–4) Die Vorlesungen zur physischen Geographie und zur pragmatischen Anthropologie sind nach der Ankündigung von 1775 akademische Veranstaltungen, »wodurch der fertig gewordene Lehrling auf den Schauplatz seiner Bestimmung, nämlich die Welt, eingeführt wird.« (II 443,17–19). So werden die beiden sehr erfolgreichen Privat-Vorlesungen Kants unter die gemeinsame Frage der Bestimmung des Menschen subsumiert. In der Vorlesungsnachschrift zur Philosophischen Enzyklopädie wird die Bestimmung des Menschen plakativ ins Zentrum der Philosophie gestellt: »Der Philosoph sieht die Regeln der Weisheit ein, der Weise handelt aber darnach. Von dem kann ich nur sagen, daß er philosophire, der sich bemüht die obersten Zwecke und die Bestimmungen seiner Vernunft vestzusetzen. […] Der Philosoph als ein Führer der Vernunft, leitet den Menschen zu seiner Bestimmung. Seine Erkenntnisse gehen also auf die Bestimmung des Menschen. Als Künstler vermehrt er unsere Einsichten und Wissenschaft. (Die Wissenschaft ist eigentlich nicht unsere Bestimmung.) […] Wenn der Philosoph alle seine Spekulation, Wißenschaft etc. mit den Zwecken, mit der Bestimmung des Menschen verbindet, dann ist er ein Führer und Gesetz Geber der Vernunft.« (XXIX 8,21–23) Kants Kenntnis des antiken Ursprungs der Bestimmungsfrage: »Nehmen wir die alten griechischen Philosophen wie Epicur, Zeno, Socrates etc., so finden wir, daß die Bestimmung des Menschen und die Mittel dazu zu gelangen, das Haupt Object ihrer Wissenschaft gewesen sind. Sie sind also der wahren Idee des Philosophen weit getreuer geblieben, als in den neueren Zeiten geschehen ist. […] (Socrates) lehrte, die Speculationen helfen nichts unsere Bestimmung zu erfüllen.« (XXIX 9,3–13) Der erstzitierte Passus muß zur Interpretation des letzten Satzes dienen: Die Spekulation für sich ist wertlos, weil sie nicht »die wahre Zwecke enthält« (XXIX 9,18). Die Frage nach der Bestimmung des Menschen gehört nicht in die Metaphysik oder Schulmetaphysik des Mittelalters und der Neu112 | kapitel 

zeit, sondern schließt originär an antike Impulse an. In der Antike sticht für diese antispekulative Wende der Name des Sokrates hervor; wieder der stellare Großraum: Er holte die Philosophie vom Himmel auf die Erde: »Es war eben der Socrates von dem man sagte, daß seine Philosophie vom Himmel genommen wäre.« (XXIX 9,11–12)210 »Man sagte« – ein hellenistisches Diktum, das wir durch Cicero kennen. Einige Beispiele aus den ungefähr zeitgleichen Reflexionen: »Die Philosophie ist die Wissenschaft der Angemessenheit aller Erkentnisse mit der Bestimmung des Menschen.« (XV 44,11–12 – Refl. 4970) »Meine Absicht ist zu untersuchen, wie viel die Vernunft a priori erkennen kann und wie weit sich ihre Abhängigkeit von der Belehrung der Sinne erstreke. Welches also die Grentzen sind, über die sie ohne Beyhilfe der Sinne nicht hinausgehen kann. Dieser Gegenstand ist wichtig und groß, denn er zeigt dem Menschen seine Bestimmung mit der Vernunft. Um zu diesem Endzweke zu gelangen […].« (XV 59,8–18 – Refl. 5013) »Die philosophie ist das organon der Weisheit und muß von der Bestimmung meiner Natur, den Grentzen und Zweken meiner Vermögen handeln.« (XV 87,17–19) Die Anthropologie Friedländer vom Winter 1775–1776 endet und gipfelt in der Bestimmungsfrage: »Der Mensch hat 2 Bestimmungen, eine in Ansehung der Menschheit, und eine in Ansehung der Thierheit.« (XXV 682,10–11) Es ist die Differenz von Vernunft- und Naturbestimmung, die das ganze Werk durchzieht und hier zu einer Auseinandersetzung mit Rousseau führt (XXV 684,17 ff.) Es soll später erläutert werden, wie die Bestimmung der Menschheit im Ganzen neben die des Einzelnen tritt. Hier zunächst nur ein einschlägiges Zitat aus einer Ethik-Vorlesung vom Sommersemester 1777. Im Zusammenhang der Selbstmordfrage heißt es: »Wir sind in diese Welt zu gewissen Bestimmungen und Absichten gesetzt; ein Selbstmörder wiederstreitet aber dem Zwek seines Schöpfers, er kommt in jene Welt als ein solcher an, der seinen Posten verlassen hat, […].«211 »Die Vollkommenheit der Disciplin des Körpers besteht darin, daß der Mensch seiner Bestimmung gemäß leben kann, […].«212 Und dann folgt unter dem scholastischen Titel der »Officia eruditorum et ineruditorum« (»Pflichten der Gelehrten und Nichtgelehrten«) eine großartige nähere Ausführung des Diktums »Rousseau hat mich zurecht gebracht« (XX 44,12–13). Unter die bestimmung des menschen | 113

den verschiedenen Ständen scheine einer die übrigen nicht nur im äußeren, sondern auch im inneren Wert der Menschen zu übertreffen: Der Stand der Gelehrten. Haben sie nicht durch ihre Erkenntnis der Schönheit der Welt ein privilegiertes Verhältnis zu Gott? »Rousseau kehrt dieses aber um und sagt: Der Zwek der Menschheit ist nicht die Gelehrsamkeit, […].«213 Kant sucht eine salomonische Lösung. Die Beschäftigung des Gelehrten sei privilegiert, »das bringt schon sein Stand, seine Bestimmung mit sich.« Persönlich treibe ihn meist die Eitelkeit214, aber »die Sprache der wahren Vernunfft ist demüthig. Alle Menschen sind einander gleich und nur der hat einen innern vorzüglichen Werth vor allen, der moralisch gut ist. Die Wissenschaften sind Principien der Verbesserung der Moralität; um die moralische Begriffe einzusehen gehört Erkenntnis und erleuterte Begriffe.«215 Unter dieser Maxime steht die gesamte kritische Philosophie – kann ein Autor deutlicher das Zentrum seiner eigenen Bestimmung benennen? Wie in den Anthropologie-Vorlesungen ab der Mitte der siebziger Jahre steht die Bestimmung nicht des Einzelnen, sondern der Menschheit im Ganzen am Schluß und Zielpunkt der Ausführungen: »Von der letzten Bestimmung des menschlichen Geschlechts. Die letzte Bestimmung des menschlichen Geschlechts ist die gröste moralische Vollkommenheit, so fern sie durch die Freyheit des Menschen bewerkstelliget wird, wodurch alsdenn der Mensch der grösten Glükseligkeit fähig ist. Gott hätte die Menschen schon so vollkommen machen und jedem die Glükseligkeit ausgetheilt haben, allein alsdenn wäre es nicht aus dem inneren principio der Welt entsprungen, das innere principium der Welt ist aber die Freyheit. Die Bestimmung des Menschen ist also die gröste Vollkommenheit durch seyne Freyheit zu erlangen«216. Die Vorlesung kulminiert in dieser Bestimmung des Zwecks des menschlichen Daseins und damit der Philosophie. Ein Blick in die von Rink zusammengestellte Pädagogik-Vorlesung (IX bes. 441–454) zeigt, daß diese zuerst 1776–1777 gehaltene Vorlesung die Erziehung als das Hauptmittel der Realisierung der Bestimmung der Menschheit ansieht, »denn hinter der Education steckt das große Geheimniß der Vollkommenheit der menschlichen Natur.« (IX 444,18–20) »Es liegen viele Keime in der Menschheit, und nun ist es unsere Sache, die Naturanlagen proportionierlich zu entwickeln und die Menschheit aus ihren Keimen zu 114 | kapitel 

entfalten und zu machen, daß der Mensch seine Bestimmung erreiche. […] Der Mensch muß erst suchen, sie zu erreichen, dieses kann aber nicht geschehen, wenn er nicht einmal einen Begriff von seiner Bestimmung hat.« (IX 445,16–22) In diese Phase fällt eine Reflexion über die moralische Bestimmung des Menschen und der Menschheit gemäß den Keimen, die in uns liegen; für die rechtliche und moralische Entwicklung der Menschheit und die Herbeiführung des Weltfriedens ist entscheidend »die Erziehung der Regenten« (XV 606,21–22 – Refl. 1393). Auf den Begriff der Keime und Anlagen ist später einzugehen, das nächste hier zu erwähnende Werk stellt die Frage nach der Bestimmung des Menschen in ihr exzentrisches Zentrum: 1781 erscheint die KrV in erster Auflage. Der höchste Punkt der Architektonik und Systemidee ist der Endzweck oder die »ganze Bestimmung des Menschen«: »Wesentliche Zwecke sind darum noch nicht die höchsten, deren (bei vollkommener systematischer Einheit der Vernunft) nur ein einziger sein kann. Daher sind sie entweder der Endzweck, oder subalterne Zwecke, die zu jenem als Mittel notwendig gehören. Der erstere ist kein anderer, als die ganze Bestimmung des Menschen, […].« (A 840) Es zeigte sich, daß Kant von demselben Gedanken spricht, wenn er den Endzweck unseres Daseins thematisiert oder unser höchstes Vernunftinteresse oder den Zweck und Endpunkt aller Metaphysik wie in folgendem Passus der Metaphysischen Anfangsgründe der Naturwissenschaft: »Denn wenn […] man findet, daß Metaphysik so viel Köpfe bisher nicht darum beschäftigt hat und sie ferner beschäftigen wird, um Naturerkenntnisse dadurch zu erweitern […], sondern um zur Erkenntnis dessen, was gänzlich über alle Grenzen der Erfahrung hinausliegt, von Gott, Freiheit und Unsterblichkeit, zu gelangen: […]« (IV 477,21–30) – wie schon bei Spalding, führt die Frage nach unserer Bestimmung auf die drei Themen der Metaphysik, genauer, der metaphysica specialis mit ihren drei Bereichen der Theologie, Kosmologie und Psychologie. Immer, wenn Kant von ihnen handelt, ist die Bestimmungsfrage präsent. Die Untersuchung richtet sich also auf die Bestimmungsfrage in diesem weiten Sinn: Auf »alles unser Vernunftinteresse« oder den Endzweck unseres Daseins und auf das zur Beantwortung unserer Vernunftfragen und zur Klärung unseres Endzwecks nötige Wissen die bestimmung des menschen | 115

um Gott, Freiheit und Unsterblichkeit, das Thema ist jeweils nur ein Aspekt in der »ganzen Bestimmung des Menschen«. In der 2. Auflage der KrV von 1787 ist die Widerlegung des Idealismus von »großer Wichtigkeit« im Hinblick auf die »Bestimmung unserer Natur« (B 293–294). Isaak Iselin weist in seiner Geschichte der Menschheit (1764) auf eine Alternative hin, die mit der Morphologie des menschlichen Körpers in der zeitgenössischen Diskussion verbunden ist: Nach der verfehlten Meinung der Naturalisten, denen er Rousseau zurechnet, habe der Mensch eine »vernunftlose Bestimmung«, Vernunft sei ihnen zweckwidrig.217 Dieses Argument greift Kant am Anfang der GMS auf: »Denn da die Vernunft dazu nicht tauglich genug ist, um den Willen in Ansehung der Gegenstände desselben und der Befriedigung aller unserer Bedürfnisse (die sie zum Theil selbst vervielfältigt) sicher zu leiten, als zu welchem Zwecke ein eingepflanzter Naturinstinct viel gewisser geführt haben würde, gleichwohl aber uns Vernunft als praktisches Vermögen, d. i. als ein solches, das Einfluß auf den Willen haben soll, dennoch zugetheilt ist: so muß die wahre Bestimmung derselben sein, einen nicht etwa in anderer Absicht als Mittel, sondern an sich selbst guten Willen hervorzubringen, wozu schlechterdings Vernunft nöthig war, wo anders die Natur überall in Austheilung ihrer Anlagen zweckmäßig zu Werke gegangen ist.« (IV 396,14–24) Kant rechnet fest mit einer »teleologia rationis humanae« (A 839) und stellt eine Natur vor, die »zu Werke« geht und die menschliche Vernunft in ihrer Bestimmung festlegt. Hier also wird argumentiert, die Bestimmung der reinen praktischen Vernunft könne nicht instrumenteller Art sein, sondern müsse sich auf einen an sich selbst guten Willen beziehen, der keinem anderen Zweck mehr als Mittel diene. In dem höchst gedrängten und komplexen Aufsatz Was heißt: Sich im Denken orientieren? (1786) verbindet Kant die beiden unhaltbaren Positionen von Mendelssohn (die rationale gesunde Vernunft stiftet die Orientierung) und Jacobi (nein, es ist der Glaube) im Konzept des Vernunftglaubens – eine dialektische Versöhnung, in der die beiden Parteien aufgehoben werden. »Ein reiner Vernunftglaube ist also der Wegweiser oder Compaß, wodurch der speculative Denker sich auf seinen Vernunftstreifereien im Felde übersinnlicher Gegenstände orientiren, der Mensch von gemeiner, doch 116 | kapitel 

(moralisch) gesunder Vernunft aber seinen Weg sowohl in theoretischer als praktischer Absicht dem ganzen Zwecke seiner Bestimmung völlig angemessen vorzeichnen kann; […].« (VIII 142,1–6, kursiv RB) In der Orientierungsschrift wird ein Element der Bestimmung des Menschen besonders deutlich: Die Beihilfe der Natur in der Bereitstellung dessen, was der Mensch selbst nicht in seiner Gewalt hat, jedoch zur Realisierung der Zwecke seiner Natur und seiner Vernunft voraussetzen muß. Wir müssen voraussetzen, daß es sinnvoll ist, moralisch zu handeln, also hoffen, daß es ein unserer Moralität angemessenes Glück in dieser Welt oder im Jenseits gibt. Oder: Wenn die Vernunft zur Ausübung ihrer gesetzlichen Erkenntnis voraussetzen muß, daß die Natur nach Ordnungsprinzipien der Homogeneität, Spezifikation und Kontinuität strukturiert ist, dann kann dies als transzendentales Prinzip geltend gemacht werden: »Man sieht aber leicht, daß auch dieses logische Gesetz ohne Sinn und Anwendung sein würde, läge nicht ein transzendentales Gesetz der Spezifikation zum Grunde […]« (A 656) – die Prämisse dieser Realitätsannahme liegt in der finalen Konzeption unserer Erkenntnisvermögen.218 Der Mensch ist zur Selbstbestimmung bestimmt; er soll und wird sich aus der Naturbestimmung lösen, aber er bleibt angewiesen auf eine Zusicherung dessen, was nicht in seiner Macht liegt. Wie der Vernunftglaube sich auf einen objektiv wirklichen Gott und sein Reich bezieht, die ihre Wirklichkeit aus dem Glauben selbst durch die Vermittlung der Vorsehung herleiten, so kann die logische Ordnung unserer Erkenntnis mit einer korrespondierenden Naturordnung rechnen; in beiden Fällen erzeugt die unumgängliche Annahme auch die Realität des Angenommenen, weil die Natur kein genius malignus sein kann und ergo ist. Ohne die Zwecknatur, innerhalb derer der Mensch seine Vernunftbestimmung erfüllt, ist der Übergriff vom Hoffen auf das Erhoffte und vom Ordnungsdenken auf die Ordnung der Dinge völlig unverständlich. Der Mensch, so heißt es 1788 in der KpV, ist »doch nicht so ganz Thier, um gegen alles, was Vernunft für sich selbst sagt [sc. also die autonome, moralische Vernunft] gleichgültig zu sein und diese bloß zum Werkzeuge der Befriedigung seines Bedürfnisses als Sinnenwesens zu gebrauchen. Denn im Werthe über die bloße Thierheit erhebt ihn das gar nicht, daß er Vernunft hat, wenn sie ihm nur zum die bestimmung des menschen | 117

Behuf desjenigen dienen soll, was bei Thieren der Instinct verrichtet; sie wäre alsdann nur eine besondere Manier, deren sich die Natur bedient hätte, um den Menschen zu demselben Zwecke, dazu sie Thiere bestimmt hat, auszurüsten, ohne ihn zu einem höheren Zwecke zu bestimmen. Er bedarf also freilich nach dieser einmal mit ihm getroffenen Naturanstalt Vernunft, um sein Wohl und Weh jederzeit in Betrachtung zu ziehen [sc. das Sinnenwohl und –weh mittels der Klugheit], aber er hat sie überdem noch zu einem höheren Behuf, nämlich auch das, was an sich gut oder böse ist, und worüber reine, sinnlich gar nicht interessirte Vernunft nur allein urtheilen kann, nicht allein mit in Überlegung zu nehmen, sondern diese [sc. moralische] Beurtheilung von jener gänzlich zu unterscheiden und sie zur obersten Bedingung der letzteren zu machen.« (V 61,29–62,7) »Zu einem höheren Behuf« – eben das ist die eigentümliche Bestimmung der reinen praktischen Vernunft, die nicht der Lebenswohlfahrt dient.219 Die Kritik der reflektierenden Urteilskraft, speziell die Geschmackskritik, eröffne, »wenn man sie in transcendentaler Absicht behandelt, dadurch, daß sie eine Lücke im System unserer Erkenntnisvermögen ausfüllt, eine auffallende und, wie mich dünkt, viel verheißende Aussicht in ein System aller Gemüthskräfte, so fern sie in ihrer Bestimmung nicht allein aufs Sinnliche, sondern auch aufs Übersinnliche bezogen sind, […].« So der Text der ursprünglichen Einleitung der KdU (XX 244,30–35). Auch die Erkenntnisvermögen sind funktionale Teile eines finalen Gesamtkonzepts und können wie körperliche Organe auf ihr jeweiliges Telos hin geprüft werden. In der Vorrede der 1. Auflage der KrV wurde hierauf zurückgegriffen: »Allein, das war wohl auch nicht die Absicht der Naturbestimmung unserer Vernunft; und die Pflicht der Philosophie war: das Blendwerk, das aus Mißdeutung entsprang, aufzuheben […].« (A XIII) Bei der reinen praktischen Vernunft wird ebenfalls nach deren Bestimmung gefragt, wozu uns uns dieses Vermögen von der Natur gegeben wurde (IV 396,20–24). Die Vernunft würde »gerade wider ihre Bestimmung verfahren, indem sie sich eine Idee zum Ziele setzte, die der Natureinrichtung ganz widerspräche.« (A 651) Die Vernunft ist also als Natureinrichtung des Menschen mit einer Aufgabe betraut, und das Geschäft des Philosophen besteht darin, diese ihre Zweckbestimmung zu erken118 | kapitel 

nen. Dadurch wird die vorsorgliche Natur, die uns unsere Vermögen der Erkenntnis gab, zur höchsten Instanz überhaupt, und die KrV wird zu einer Zwecklehre, in der alles schon um den Zweck aller Zwecke, den Endzweck des Menschen, eben um seine ganze Bestimmung geht. Die KdU zeigt im Haupttext mit folgenden Worten ihr Ziel und Zentrum an: »Dazu kommt noch die Bewunderung der Natur, die sich an ihren schönen Producten als Kunst, nicht bloß durch Zufall, sondern gleichsam absichtlich, nach gesetzmäßiger Anordnung und als Zweckmäßigkeit ohne Zweck, zeigt: welchen letzteren, da wir ihn äußerlich nirgend antreffen, wir natürlicherweise in uns selbst und zwar in demjenigen, was den letzten Zweck unseres Daseins ausmacht, nämlich der moralischen Bestimmung, suchen (von welcher Nachfrage nach dem Grunde der Möglichkeit einer solchen Naturzweckmäßigkeit aber allererst in der Teleologie die Rede sein wird).« (V 301,17–25) »Gott, Freiheit und Seelenunsterblichkeit sind diejenigen Aufgaben, zu deren Auflösung alle Zurüstungen der Metaphysik, als ihrem letzten und alleinigen Zwecke, abzielen.« (V 473,7–9) Dieser letzte und alleinige Zweck der Metaphysik ist zugleich der »Endzweck unserer Bestimmung« (V 481,35). Die KdU nimmt im § 86 den Faden der Spaldingschen Bestimmung des Menschen wieder auf. Die drei Lebenswege werden hier in den drei Gemütsvermögen der Erkenntnis, des Gefühls der Lust und Unlust und des Begehrungsvermögens verortet; der Endzweck der Welt kann nicht darin liegen, daß sie theoretisch betrachtet und erkannt wird, desgleichen nicht in einem gesteigerten Glücksgefühl der Menschen; so bleibt nur der dritte Weg übrig, der des Begehrungsvermögens, des näheren des guten Willens (V 442,13–443,13); und eben dies läßt sich auch positiv als Endzweck des Daseins der Welt und des Menschen nachweisen. Alles läuft auf unsere moralische Bestimmung hinaus. In der »Kritik der ästhetischen Urteilskraft« liegt der ultimative Bezugspunkt des Geistesgefühls des Erhabenen in der Vernunftbestimmung: »Also ist das Gefühl des Erhabenen in der Natur Achtung für unsere eigene Bestimmung, die [sc. Achtung, RB] wir einem Objecte der Natur durch eine gewisse Subreption (Verwechselung einer Achtung für das Object statt für die Idee der Menschheit in unserm Subjecte) beweisen, welches uns die Überlegenheit der die bestimmung des menschen | 119

Vernunftbestimmung unserer Erkenntnisvermögen über das größte Vermögen der Sinnlichkeit gleichsam anschaulich macht. […] Es ist nämlich für uns Gesetz und gehört zu unserer Bestimmung, alles, was die Natur als Gegenstand der Sinne für uns Großes enthält, in Vergleichung mit Ideen der Vernunft für klein zu schätzen; und was das Gefühl dieser übersinnlichen Bestimmung in uns rege macht, stimmt zu jenem Gesetze zusammen.« (V 257,20–36) Hier wird es einiger Mühe bedürfen, herauszufinden, warum nicht das Schöne, sondern erst das Erhabene auf unsere ganze Bestimmung führt; wenn es heißt, daß die »Unangemessenheit der Einbildungskraft in der ästhetischen Größenschätzung« (V 257,28) zur Erweckung der Vernunftideen in uns führt, so ist zunächst unklar, warum das Ungenügen der Sinnlichkeit nicht einfach zur Depression führt. Die Unzweckmäßigkeit kann in eine höhere Zweckmäßigkeit (und damit verbunden das Gefühl der Lust) dadurch umschlagen, daß auch die Sinnlichkeit ein finaler Teil unserer Vernunftbestimmung ist und in diesem Zwecktotum das notwendige Scheitern gut sein muß, hier: gut für das Erwecken des Bewusstseins unserer eigentlichen Bestimmung. Ohne diesen Bestimmungskontext ist die Konzeption des Erhabenen nicht möglich: nach unserer »übersinnlichen Bestimmung« ist es zweckmäßig und mit Lust besetzt, »jeden Maßstab der Sinnlichkeit den Ideen der Vernunft unangemessen zu finden.« (V 258,7–9) Mit der höchsten Bestimmung der Philosophie und damit des Menschen selbst erreicht das kritische Werk aus der Perspektive von 1790 seinen höchsten Punkt; es ist der Systemabschluß als Einheit von Natur und Freiheit, von Natur- und Vernunftbestimmung, von KrV und KpV. In der Bestimmung des Menschen laufen die Pfade des Philosophierens und des Ziels allen Handelns zusammen. Und man nehme schon die etwas kryptische Andeutung in der »Vorrede« der KdU: Die Kritik der menschlichen Gemütsvermögen leite den Verstand in der Betrachtung der Natur, um so »die Endabsicht alles Erkenntnisses zu befördern.« (V 168,4–5) Diese Endabsicht aller theoretischen Erkenntnis wird nicht näher erläutert; implizit verweist der Autor damit den Leser auf die späteren Ausführungen, denn er kann nicht gut alles schon in der »Vorrede« sagen. Damit ist jedoch die Interpretation eindeutig: Die Endabsicht aller Erkenntnis ist praktisch-moralischer Natur, auch die theoretische Ver120 | kapitel 

nunft fügt sich der ganzen Bestimmung des Menschen, und diese liegt im moralischen Zweck seines Daseins. Die »Preisschrift über die Fortschritte der Metaphysik« stellt die Frage: »Was die Vernunft eigentlich mit der Metaphysik will? Welchen Endzweck sie mit ihrer Bearbeitung vor Augen habe? Denn220 groß, vielleicht der größeste, ja alleinige Endzweck, den die Vernunft in ihrer Speculation je beabsichtigen kann, weil alle Menschen mehr oder weniger daran Theil nehmen, und nicht zu begreifen ist, warum bey der sich immer zeigenden Fruchtlosigkeit der Bemühungen in diesem Felde, es doch umsonst war, ihnen zuzurufen: sie sollten doch endlich einmal aufhören, diesen Stein des Sisyphus immer zu wälzen, wäre das Interesse, welches die Vernunft daran nimmt, nicht das innigste, was man haben kann.« (XX 259,25– 260,2) Das Vernunftinteresse aller Menschen richtet sich auf den Endzweck, auf die Erkenntnis von Gott, Freiheit und Unsterblichkeit.221 »[…] imgleichen von Gott, Freyheit und Unsterblichkeit die Frage ist, die hauptsächlich die letztern drey Gegenstände betrifft, daran die Vernunft ein praktisches Interesse nimmt, […].« (XX 263,15–18) Die Religion innerhalb der Grenzen der bloßen Vernunft (1793) fixiert folgende komplexe Bestimmung: »Von der ursprünglichen Anlage zum Guten in der menschlichen Natur. – Wir können sie in Beziehung auf ihren Zweck füglich auf drei Klassen, als Elemente der Bestimmung des Menschen, bringen: 1. Die Anlage für die Thierheit des Menschen, als eines lebenden; 2. Für die Menschheit desselben, als eines lebenden und zugleich vernünftigen; 3. Für seine Persönlichkeit, als eines vernünftigen und zugleich der Zurechnung fähigen Wesens.« (VI 26,1–11; auch 418,5–23) Man könnte hier von einer Gesamtbestimmung des Menschen als eines lebendigen, mit einer instrumentellen und einer moralischen Vernunft ausgestatteten Wesens sprechen.222 In der »Summe der pragmatischen Anthropologie«, einem Abschnitt der Anthropologie in pragmatischer Hinsicht, wird diese Bestimmung so festgelegt, daß sie die bloß finale Naturbestimmung transzendiert und den Menschen in eine moralische, also jeder Erfahrung entzogene Ordnung der Würde der Menschheit stellt: »Die Summe der pragmatischen Anthropologie in Ansehung der Bestimmung des Menschen und die Charakteristik seiner Ausbildung ist die bestimmung des menschen | 121

folgende. Der Mensch ist durch seine Vernunft bestimmt, in einer Gesellschaft mit Menschen zu sein und in ihr sich durch Kunst und Wissenschaften zu cultiviren, zu civilisiren und zu moralisiren, wie groß auch immer sein thierischer Hang sein mag, sich den Anreizen der Gemächlichkeit des Wohllebens, die er Glückseligkeit nennt, passiv zu überlassen, sondern vielmehr thätig, im Kampf mit den Hindernissen, die ihm von der Rohigkeit seiner Natur anhängen, sich der Menschheit würdig zu machen.« Und: Der Mensch fühle sich durch das Bewußtsein veredelt, »zu einer Gattung zu gehören, die der Bestimmung des Menschen, so wie die Vernunft sie ihm im Ideal vorstellt, angemessen ist.« (VII 324,33–330,2) Es ist dies die Summe nicht nur der Anthropologie, sondern der Kantischen Philosophie im Ganzen. Der zitierte Text steht in einem Kapitel mit der Überschrift: »Der Charakter der Gattung« (VII 321,11); wir erfahren hier eine Bestätigung für den Abweis der Frage »Was ist der Mensch?«, über den wir oben gesprochen hatten. Kant tritt in die Frage nach dem Charakter der Menschengattung dadurch ein, daß er sich am Definitionsschema von genus proximum und differentia specifica orientiert und den gesuchten Begriff der Definition durch die Charakterisierung ersetzt, schon deswegen, weil, so interpretieren wir, eine Definition von Realien sich sowieso verbietet. Jetzt kommt beim Menschen die Schwierigkeit hinzu, daß sich für ihn als das einzige uns bekannte irdische Vernunftwesen weder der höhere Begriff eines Vernunftwesens bestimmen lässt, weil wir das einzig bekannte Exemplar sind, noch es die Möglichkeit der spezifischen Unterscheidung von irdischen Nachbarwesen unter demselben Oberbegriff gibt. In einer etwas abenteuerlichen Weise wird der Ausweg aus diesem Dilemma, den Menschen schulgerecht in seiner Eigentümlichkeit zu charakterisieren, darin gesehen, »daß er einen Charakter hat, den er sich selbst schafft, indem er vermögend ist, sich nach seinen von ihm selbst genommenen Zwecke zu perfectioniren; […].« (VII 321,31–32) Nach einigen Erläuterungen folgt dann die zitierte »Summe der pragmatischen Anthropologie in Ansehung der Bestimmung des Menschen« (VII 324,33–34). Eine allgemeinere Erläuterung: Nur der Mensch und die Menschheit haben einen Charakter, nicht die Tiere und deren Gattungen. Der empirische Charakter des Menschen ist das »sinnliche Zeichen« (eine der Bedeutungen der Vokabel »Charakter«; A 546) des intelli122 | kapitel 

giblen Charakters, der den ersteren auf eine notwendig denkbare, aber unerkennbare Weise bestimmt. Wir werden in der Ästhetik der KdU auf eine verwandte Stufung der Schönheit stoßen; die nur phänomenale Normalidee der Schönheit kann allerdings auch eine Kuh für sich reklamieren, das Ideal der Schönheit verwirklicht dagegen nur der Mensch als zugleich sinnliches und intelligibles Geistwesen, nur beim Menschen kann die schöne Form das sinnliche Zeichen der »schönen Seele« sein. Wie die »Bestimmung des menschlichen Geschlechts […] der Bestimmung des einzelnen Menschen entgegen« ist (XXV 233,35– 36), so auch die Natur- der Vernunftbestimmung: Es sind leicht »Beispiele dieses Widerstreits zwischen der Bestrebung der Menschheit zu ihrer sittlichen Bestimmung einerseits und der unveränderlichen Befolgung der für den rohen und thierischen Zustand in ihrer Natur gelegten Gesetze andererseits beizubringen […]« (VIII 116,22–25). Die Vernunftbestimmung hat natürlich die absolute Präzedenz vor der Naturbestimmung. Die bloße Klugheit ist Instrument der sinnlichen Lebensziele und hebt uns aus dem Tierreich nicht heraus (V 449,4–10). Es kommt ein anderes erschwerend hinzu – sucht der Mensch nach einer bestimmten Bestimmung im Felde seiner unvermeidlichen natürlichen Glücksbegierde, dann stellt er überrascht fest, daß er nicht weiß, »was er eigentlich wünsche und wolle« bzw. »was er eigentlich hier wolle« (IV 418,4 und 11). Wir suchen unvermeidlich das Glück, aber wir können unseren chamäleonhaften Glücksvorstellungen nie etwas Bestimmtes abgewinnen. Suchen wir die Bestimmung des Menschen im »pursuit of happiness«, wissen wir nicht, was wir wollen. Recht und Moral machen unsere eigentliche Bestimmung aus: »Sich als ein nach dem Staatsbürgerrecht mit in der Weltbürgergesellschaft vereinbares Glied zu denken, ist die erhabenste Idee, die der Mensch von seiner Bestimmung denken kann und welche nicht ohne Enthusiasm gedacht werden kann«, heißt es in einer Vorarbeit zum zweiten Abschnitt des Streits der Fakultäten (XIX 609,1–4 – Refl. 8077). Noch im Opus postumum klingt die Bestimmung der eigenen Person nach: »Es liegt aber in meinem Plane und so zu sagen in meiner ersten Bestimmung [verbessert in: in meinem natürlichen Beruf] mich was Philosophie betrifft, innerhalb den Grentzen des a priori erkennbaren zu halten das Feld womöglich auszumessen die bestimmung des menschen | 123

und in einem Kreise (orbis) der einfach und einig ist, d. i. einem nicht willkührlich ausgedachten sondern durch reine Vernunft vorgezeichneten System darzustellen welches mit Aufsammlen empirischer Elemente der Erkenntnis nicht geschehen könnte als die, nur fragmentarisch zusammengetragen, keine Überzeugung der Vollständigkeit hoffen lassen.« (XXI 524,17–22) »Der höchste Standpunkt der transc. Philosophie ist die Weisheitslehre welche ganz auf das Practische des Subjects abzweckt.« (XXI 95,19–20; auch 195,13–19) Wir enden hiermit unsere erste Zusammenstellung von Erklärungen Kants, die zeigen, daß die finale Bestimmungsfrage des Menschen in ihren verschiedenen Formen der Opposition (Naturund Vernunftbestimmung; einzelner Mensch und Menschheit) die Leitidee seiner Philosophie ist, besonders dezidiert ab der Mitte der siebziger Jahre. Was sich auf diese Weise nicht zeigen, sondern nur bis zur Widerlegung behaupten lässt, ist, daß es bei Kant keine Zielbestimmung der menschlichen Vernunft und der Philosophie gibt, die der hier dokumentierten zuwiderliefe und sich also nicht unter den Titel der Bestimmung des Menschen subsumieren ließe. Ob Kant Spaldings Schrift gelesen hat? In der AnthropologiePhilippi wird auf Spalding verwiesen, aber nicht explizit auf dessen Bestimmung des Menschen (XXV 9,16), daßelbe gilt für die EthikKaehler223. Die Kenntnis lässt sich, wenn ich richtig sehe, nicht durch Zitate und Nennung nachweisen, sie ist jedoch angesichts der weiten Verbreitung und der Diskussionen über ihr Thema höchst wahrscheinlich. So setzt sich Mendelssohns 1767 erstmals erschienener Dialog Phädon oder über die Unsterblichkeit der Seele intensiv mit Spaldings Bestimmung des Menschen auseinander. Gleich in der Vorrede verweist Mendelssohn auf Spaldings Schrift und seine eigene Korrespondenz mit Abbt über die Bestimmungsfrage, und das letzte der drei Gespräche, die den Hauptteil des Phädon bilden, ist in Anlage und Argumentation stark von Spalding beeinflußt.224 Wenn man in den schon einbezogenen »Bemerkungen in den Beobachtungen über das Gefühl des Schönen und Erhabenen« liest: »[…]. Rousseau hat mich zurecht gebracht. […] ich lerne die Menschen ehren u. würde mich unnützer finden wie den gemeinen Arbeiter wenn ich nicht glaubete daß diese Betrachtung allen übrigen einen Werth ertheilen könne, die rechte der Menschheit herzustellen« 124 | kapitel 

(XX 44,12–16)225, so fühlt man sich entfernt erinnert an Spaldings Satz: »Ich muß daher nothwendig den gesellschaftlichen Zustand lieben, der meinem Daseyn einen neuen und so viel wichtigern Grad von Würdigkeit gegeben hat; ich muß mich verbunden achten, mit patriotischem Edelmuthe der allgemeinen Wohlfahrt meine besondere aufzuopfern; und ich muß die Neigungen in mir, die so unleugbar auf diesen Endzweck des gemeinschaftlichen Nutzens abzielen, unterhalten und thätig werden lassen.«226 Spalding schreibt auch: »Ich fühle es, daß ich, bey dem unleugbaren Streben meiner Natur nach größerer Vollkommenheit, mir selbst nicht genug bin, sondern dazu auch fremder Hülfe bedarf.«227 Spalding bleibt freilich auf dem Boden der englischen Moralphilosophie, Kant macht den entscheidenden Schritt zum Vernunftrecht, beide jedoch bekunden in einer für Deutschland neuen Weise ihre soziale Verpflichtung. Spalding spricht von den Keimen und Anlagen228 zu gesellschaftlicher Wirkung; diese stoische Idee wird Teil der Kantischen Philosophie bis in die achtziger Jahre.

Rückblick Mit der Vorstellung von der Bestimmung des Menschen wird ein Geistesgefühl mitgeteilt, das ein wichtiges Element in der Selbstauffassung der zweiten Aufklärungsphase bildete. Die Bestimmung bezieht sich immer auf das ganze Dasein des Menschen, sei es nur hier, sei es hier und dort. Die Evozierung des Daseins im Ganzen der Welt und vor Gott ist nach allen Ausdrucksformen mit Enthusiasmus begleitet, denn schon das Ganze der eigenen Existenz, sodann hineingestellt in das irdische Leben überhaupt und das Leben nach dem Tod, diese Schau oder Imagination des Unüberbietbaren, des Wichtigsten, das wir in uns befassen, ist erhaben. So wie der Raum des Universums, im ganzen von Newtonischen Kräften durchwaltet, das Gemüt in eine enthusiastische Stimmung versetzt, so auch der Gedanke an die Bestimmung, der jeden ergreifen, beleben und erschüttern kann. Die Vorstellung von der Bestimmung des Menschen ist ernst-moralisch und zugleich ästhetisch mitreißend (immer: nach dem Bekunden Kants und seiner Zeitgenossen). – Vergegenwärtigt man sich nicht die Gemütskräfte, die hiermit freidie bestimmung des menschen | 125

gesetzt werden, und fasst die Rede von der Bestimmung fälschlich als Teil einer Gelehrtenphilosophie, kann man die Faszination des Bestimmungsgedankens und seine Wirksamkeit nicht verstehen. Es ist keine bloße Verstandessache, die hier verhandelt wird, sondern ein Existenzial des ganzen Menschen und aller Menschen. Die sittliche Bestimmung des Menschen richtet sich gegen die hedonistische Zerstreuungs-und Bagatellkultur des Rokoko und gegen ausufernde Wissenschaften, in denen alles Mögliche vorkam, nur nicht das Ich-Selbst des Menschen. Von der Bestimmung des Menschen ließ sich in zwei verschiedenen Ebenen reden, in einer populären und einer gelehrt-anspruchsvollen. In populärer Rede konnte jedermann vorgeben, er verstehe, was mit dieser Bestimmung gemeint sei und woher sie ihre normative Kraft beziehe; philosophisch war eben dies exakt aufzuhellen, und es stellte sich heraus, daß die ungeklärte Naturbestimmung in eine luzide Vernunftbestimmung zu verwandeln war, wie analog das Naturrecht zum Vernunftrecht wurde – eben dies vollzieht Kant mit der Zuspitzung auf die ethische Selbstbestimmung hier und die rechtliche Menschheitsbestimmung dort. Auf diese Weise erhält der populäre Begriff ein philosophisches Profil.

Vorschau Kant pflegte die vorkritische Philosophie in einer vagen Orientierung an der wirklichen Datengeschichte rein systematisch zu rekonstruieren; dieser nicht kalendarisch datierte, sondern begrifflich notwendige Geschichtsverlauf der in Konstellationen reflektierenden Vernunft sieht ungefähr so aus: Der (rationalistische) Dogmatismus, repräsentiert durch Leibniz, Wolff und Baumgarten, hält dem Ansturm des (empiristischen) Skeptizismus, repräsentiert durch Hume, nicht stand. Als einziger Ausweg bietet sich an, nicht sogleich in den Objekten nach sicheren Erkenntnissen zu suchen, sondern zunächst im Subjekt zu eruieren, welche Erkenntnisse wir im Prinzip überhaupt gewinnen und welche wir nicht gewinnen können. Dieser Weg wurde zuerst von John Locke beschritten, jedoch ohne wirklichen Erfolg. Seine mißlungene, weil narrativ-psychologische Proto-Kritik führte nur zur Indifferenz bei einem an sich an der 126 | kapitel 

Philosophie oder Metaphysik dringend interessierten Publikum. In diese Situation hinein stellt sich die Kantische Philosophie; sie will Lockes erste Bestimmung der Quellen, des Umfangs und der Grenzen unserer Erkenntnis wieder aufnehmen, dieses Mal jedoch nicht als Geschichte des menschlichen Verstandes (»historical plain method«), sondern aus Prinzipien. Damit ist das Programm der kritischen Philosophie, speziell der KrV, bezeichnet. In näherer Betrachtung ergibt sich Folgendes: Der dogmatische Rationalismus von Platon bis zu Wolff und Baumgarten hatte zu einer Metaphysik geführt, in der nach einem allgemeinen Teil, der Ontologie oder »metaphysica generalis«, drei Teile einer »metaphysica specialis« folgten, die von drei substantiell verschiedenen Gegenständen handelten: von der menschlichen Seele, von der Welt und von Gott; als Disziplinen sind es die rationale (und häufig auch empirische) Psychologie, die Kosmologie und die natürliche Theologie. Dieses vollständige System, das sich nicht gegen den Empirismus und damit Skeptizismus wehren konnte, soll von der kritischen Philosophie durch eine skepsisresistente, im erkennenden Subjekt selbst begründete neue Systematik ersetzt werden. In ihr wird das erkennende Ich so bestimmt, daß es zwar Welt-Erscheinungen in den eigenen Formen der Anschauung, Raum und Zeit, mit den eigenen Kategorien und Grundsätzen zu erkennen vermag, nicht aber die Welt im ganzen und an sich und auch nicht die beiden weiteren Objekte der reinen Vernunft, Gott und die eigene substantielle Seele. Diese drei aus dem Bereich der erkennbaren Gegenstände ausgeschlossenen Entitäten lassen sich zwar denken, müssen sogar notwendig gedacht werden, wir können sie jedoch nicht erkennen. Kants Doktrin läuft darauf hinaus, daß die erkennbare Welt der äußeren Erscheinungen transzendentalphilosophisch (Näheres später) dem erkennenden Subjekt appropriiert wird, denn Erscheinungen sollen uns nur unter der Bedingung der subjektiven Formen der Anschauung von Raum und Zeit und unserer subjektiven Kategorien und Grundsätze gegeben sein, gegeben als Objekte des äußeren und inneren Sinnes, aber nicht an sich. Sie sind also, transzendental gesehen, »in uns«. Unter dieser subjektiven Restriktion ist somit eine wahre Erkenntnis nicht der Dinge an sich, sondern nur der subjektiv bedingten Erscheinungen möglich. Gott und die nichtphänomenale Seele sind dagegen wie die Welt an sich dem Zugriff die bestimmung des menschen | 127

der menschlichen Erkenntnis entzogen. Sie gewinnen jedoch im Großprojekt der kritischen Philosophie eine objektiv praktische Realität durch die reine praktische Vernunft, und zwar durch den Gedanken, daß deren unbedingtes Selbst-Gesetz nur dann befolgbar ist, wenn wir auf ein Weiterleben in einem Gottesreich und »mundus intelligibilis« hoffen können. Die unbedingte Moral ermöglicht, ja sie erzwingt die Realität der metaphysischen Entitäten, die die KrV der menschlichen spekulativen Erkenntnis entzogen hatte. Die drei auf die Gegenstände der Metaphysik zielenden Fragen »Was kann ich wissen?« (ursprünglich: im Hinblick auf Gott), »Was soll ich tun?« (als frei Handelnder in der Welt) und »Was darf ich hoffen?« (meine Unsterblichkeit) (A 805), diese drei Fragen finden in der KrV keine positive durchgeführte Antwort, sie werden jedoch auch nicht als sinnlos liquidiert, wie die spätere materialistische oder positivistische Metaphysikkritik es wollte. Für unser Thema ist bedeutsam, daß Kant die »Selbsterkenntnis« (A XI) an die Stelle der früheren Ontologie229 stellt und aus ihr die Seelen-, Weltund Gotteserkenntnis bzw. -nichterkennbarkeit bestimmt. Dabei wird die Welterkenntnis so limitiert, daß sie eine Binnenbestimmung des Subjekts wird, wie bereits gesagt, denn dadurch, daß Raum und Zeit zu subjektiven Anschauungsformen werden, ist die erkennbare Welt dem Subjekt transzendentalphilosophisch »einverleibt«230; das Weltverhältnis wird umgemodelt zu einem Problem im subjektiven Selbstverhältnis, so daß apriori gewährleistet ist, daß die Erkenntnisansprüche bezüglich der subjektiven Erscheinungen als legitim deduzierbar sind, man lese die letzten Sätze der »Transzendentalen Deduktion der reinen Verstandesbegriffe« in der Auflage von 1781! Es bedarf nicht mehr des übermenschlichen Schritts von der »res cogitans« zur »res extensa«, bei dem ohne die Hilfe der dritten Substanz, also Gottes, nichts gelingen wollte.231 Kant entledigt sich also der Erkenntnis einer von uns substantiell getrennten Welt und geht über zu dem empiristisch-skeptischen »way of ideas«, also zu einer bloßen Vorstellungsphilosophie, er bestimmt jedoch die immer nur subjektiven Vorstellungen so, daß sie einer geometrischen, arithmetischen und dynamischen Gesetzlichkeit unterliegen und in dieser ihrer Gesetzlichkeit von uns objektiv erkannt werden können. Die gesetzliche Ordnung, die wir erkennen, ist somit von 128 | kapitel 

uns selbst gestiftet, und die Beziehung zwischen »res cogitans« und »res extensa« ist zu einer Beziehung zwischen unseren Begriffen und unseren Anschauungen geworden. In einer Reflexion heißt es entsprechend: Unsere Erkenntnis »geht nur auf Erscheinungen (die an sich zufallig und ohne Einheit sind), so daß man sich eigentlich nur sich selbst als das denkende Subiect erkennt, alles andere aber als in diesem Einen, Heautognosie.« (XVI 267,16–19 – Refl. 5636) Unsere Erkenntnis hat es nur mit Erscheinungen zu tun, deren Möglichkeit und deren Verknüpfung in uns liegt (A 130) – Welterkenntnis ist nur als Selbsterkenntnis möglich. Gott und Unsterblichkeit werden dagegen zu moralischen Epiphänomenen der reinen praktischen Vernunft; sie sind also ebenso, wenn auch auf andere Weise, Setzungen des Selbst und seines Binnenverhältnisses. Das moralische Gesetz entspringt unserer eigenen praktischen Vernunft; als von Neigungen affizierte Menschen können wir dem selbst gegebenen Gesetz jedoch nur folgen, wenn ein Vernunftglaube uns legitimiert, Gott und Unsterblichkeit als objektive Realitäten zu postulieren. Eine klare Folge der Verkehrung in der Reihenfolge von Glaube und Liebe ist das »vacat« einer eigenständigen Pflicht gegen Gott; das gottgefällige Leben ist jetzt notwendig identisch mit dem Handeln gemäß und aus dem moralischen Gesetz unserer eigenen unüberbietbaren Vernunft. Es gibt, so scheint es, kein Problem der kritischen Philosophie, das sich nicht in diesem neuen Aufriß der Selbst-Metaphysik verorten lässt, und umgekehrt folgen alle Systemanstrengungen Kants von den immer erneuten Widerlegungen des Idealismus und dem, wie es in einem Brief an Christian Garve heißt, »tantalischen Schmerz«, das Ganze der Philosophie nicht abschließen zu können,232 bis zu den letzten begrifflichen Suchbewegungen im Opus postumum aus dem kritischen Konzept von 1781. Die große revolutionäre Befreiung, die Kants Philosophie auslöste, lag in dem Selbst, das von sich aus die Beziehung zur Welt und zu Gott, zur Gesellschaft und zur Unsterblichkeit als ein aufklärbares Selbstverhältnis begreifen ließ. Die Selbsterkenntnis der reinen Vernunft im Hinblick auf ihre Fähigkeit des Erkenntniserwerbs wäre zirkulär, wenn sie sich wie Lockes Essay Concerning Human Understanding darauf einließe, die psychologischen Prozeduren zu überprüfen, die beim Menschen in die bestimmung des menschen | 129

seinen Erkenntnisakten faktisch in Gang gesetzt werden. Gegen diesen Fehler schützt die Ebenenverlagerung, die durch den aus der Metaphysik stammenden Begriff des Transzendentalen angezeigt wird. »Ich nenne alle Erkenntnis transzendental, die sich nicht so wohl mit Gegenständen, sondern mit unsern Begriffen a priori von Gegenständen überhaupt beschäftigt.« (A 11–12) Zu dieser transzendentalen Erkenntnis gehören: Die Begriffe (nicht die Anschauungen!) von Raum und Zeit, die Kategorien, die Grundsätze und die Ideen der Vernunft, am Ende auch die gesamte Methodenlehre. »Wir haben oben die Begriffe des Raumes und der Zeit, vermittelst einer transzendentalen Deduktion zu ihren Quellen verfolgt, und ihre objektive Gültigkeit a priori erklärt und bestimmt.« (A 87) Sodann folgt zweitens die mühselige Deduktion der Verstandesbegriffe, und in der »Transzendentalen Dialektik« geht es drittens um die »transzendentale Deduktion aller Ideen der spekulativen Vernunft« (A 671). Diese Begriffe a priori von Gegenständen überhaupt sind Bestandteile des Selbstsystems unseres Verstandes oder unserer Vernunft; der Nachweis der Geltung für die Erkenntnis der nicht-begrifflichen Anschauung wird dadurch möglich, daß auch Raum und Zeit in uns sind. Desgleichen bestimmt unsere reine praktische Vernunft das Gesetz, dem wir uns aus Pflicht unterwerfen sollen, und das Spiel unserer eigenen Einbildungskraft zu unserem Verstand ist drittens die Grundlage des Geschmacksurteils über das Schöne. Das soll im Einzelnen gezeigt werden. Wir stellten die Frage der finalen Bestimmung des Menschen der Definitionsfrage »Was ist der Mensch?« gegenüber; es zeichnet sich jetzt ab, daß dieser Kontrast symptomatisch ist für die gesamte kritische Philosophie. Sie verzichtet auf die Wesenserkenntnis des Menschen an sich und ersetzt sie durch die Erkenntnis einer funktionalen Bestimmung. So verzichtet auch die reine praktische Vernunft auf die Voranstellung des Guten an sich, sie stellt emphatisch das sittliche Selbstgesetz an den Anfang der KpV und lässt aus ihm die Bestimmung dessen, was gut und böse ist, allererst folgen (V 57–71). Auch der postulierte Gott ist kein Gott an sich, sondern ein Gott nur für uns.233 Drittens kennt die Ästhetik kein Schönes an sich, sondern nur die subjektive Harmonie im Spiel von Einbildungskraft und Verstand; aus ihr wird das, was schön ist, subjektiv bestimmt. In einer anderen Darstel130 | kapitel 

lungsform seiner kritischen Philosophie hätte Kant diese objektiven Werte des Wahren, Guten und Schönen in einer »Transzendentalen Dialektik« als zwar denknotwendig, aber als nicht erkennbar aufweisen können. Das dreifache »an sich« wird jeweils durch das einzig erkennbare »für uns« ersetzt; d. h. aber das »an sich« wird als unerreichbar aus der menschlichen Erkenntnis entlassen und durch das systemimmanente Verfahren restituiert, mit dem wir zu einem Wahren, Guten und Schönen für uns kommen können. Kant bestimmt aus dem Selbst-System im Erkennen, Wollen und Fühlen das Wahre (KrV), das Gute (KpV) und das Schöne (KdU) in seiner subjektiven Brechung, nachdem sich der Zugriff auf diese Dinge oder Werte selbst als nicht möglich erwiesen hat und die Seins- und Substanzphilosophie einer Analytik subjektiver Funktionen weichen muß. Die subjektiven Modi der Bestimmung sind subjektive Regeln und Gesetze oder Methoden, die nur als formale notwendige Bedingungen fungieren, jedoch nicht den Inhalt selbst erzeugen; insofern ist die Selbstbestimmung auf etwas anderes angewiesen, an dem sie die wahre Erkenntnis, das gute Handeln und das Schönheitsurteil im einzelnen realisieren können. Die KrV hat es als Analytik subjektiver Verstandesfunktionen nicht mit »individuals« (Strawson)234 und nicht mit unserer Erfahrung direkt zu tun, sondern nur mit den subjektiv notwendigen (nicht hinreichenden!) formalen Bedingungen der Möglichkeit gesetzmäßiger Erfahrung. Die KpV erörtert die Vernunftgesetze und die Postulate ihrer Befolgung als die formalen Bedingungen einer moralischen Welt, und die Lehre vom Geschmacksurteil gibt die formalen Bedingungen an, unter denen ein Mensch zu allgemeinen und notwendigen Geschmacksurteilen befähigt ist. Wahr ist die Erkenntnis, die den subjektiven Bedingungen der Erkenntniserzeugung entspricht, gut ist die Handlung, die aus Pflicht dem Gesetz folgt, und schön ist für uns ein Phänomen, dessen Beurteilung dem freien Spiel von Einbildungskraft und Verstand entspringt. Was also wahr, gut und schön ist, bestimmt das Subjekt notwendig und allgemein aus seiner Selbstbestimmung, es unterliegt nicht umgekehrt der Fremdbestimmung durch diese Objekte. Hierbei mag nun die Natur und ihre Erkenntnis durch unsere zufällige drei- und nicht vier- oder fünfdimensionale Raumform oder durch unsere zufällig lineare Zeitform und diese zwölf und keine anderen Kategorien geprägt sein,235 es die bestimmung des menschen | 131

mag folglich auch sein, daß das Schöne und Erhabene von unserer zufälligen Form der Sinnlichkeit abhängt, so daß an unserer Naturerkenntnis und unserer Ästhetik keine anderen Wesen als nur wir Menschen teilnehmen können; in der Moral ist jedoch jeder Mensch auf Grund des Freiheitsgesetzes von einer metaphysisch unüberbietbaren Allgemeinheit und Notwendigkeit; unsere Moralität ist durch kein anderes Vernunftwesen, auch nicht durch Gott, relativierbar, unser Handeln unter den absoluten Gesetzen der Moralität ist daher unsere eigentliche metaphysische Tätigkeit. Es lässt sich mit einfachen Mitteln zeigen, wie auch die Ästhetik und die Erscheinungserkenntnis ihrerseits auf dieses absolute Zentrum, von dem unsere Bestimmung ausgeht, bezogen sind.

Selbstphilosophie und Ökonomie Kant hat der Ökonomie so wenig wie der Realgeschichte eine eigene Untersuchung gewidmet und sich für beide Disziplinen in ihren Details wenig interessiert. Es wäre jedoch vorschnell, hieraus zu schließen, die Selbst- und Bestimmungsphilosophie habe nichts mit den wechselnden ökonomischen und gesellschaftspolitischen Konzeptionen und Gegebenheiten zu tun. Der Zusammenhang geht schon aus der Polemik Kants gegen die kameralistische Wirtschaftsauffassung des Freiherrn Christian von Wolff unter dem Stichwort der paternalistischen Glücksfürsorge hervor, der er eine andere, liberale Konzeption ökonomischer Selbständigkeit (VI 316,34– 317,8) gegenüberstellt. Die KrV ist als juridischer Traktat verfasst, in dem das Privat- und das öffentliche Recht die Vorzeichnungen bilden; durch diese Verbindung ist gewährleistet, daß zwischen dem Kern der Theorie und der antiabsolutistischen Entwicklung der bürgerlichen Gesellschaft ein enger Zusammenhang hergestellt ist, ohne daß ihn die Hermeneutik oder Ideologiekritik hineinzuverstehen braucht. Die politische Revolution, mit der Kants Philosophie verknüpft wurde, ist der eine Aspekt des durchgreifenden Erfolgs der kritischen Philosophie außerhalb der Universitätsphilosophie; der andere ist die damit verbundene ökonomische Befreiung des Bürgertums von der kameralistischen, monopolistischen Bevormundung durch die absolutistische Herrschaft, der Christian 132 | kapitel 

von Wolff noch diente. Ein Freiherr Immanuel von Kant blieb uns erspart. Es sei daran erinnert, daß der Konflikt zwischen absolutistischem Paternalismus mit der Vergabe von Monopolen und der liberalen Wirtschaftsform (und der Meinungsfreiheit) in extenso bei Shaftesbury, dem Inspirator der Bestimmungsphilosophie von Spalding, vorformuliert ist. Wollte eine Handelsstadt wie Königsberg nicht freiwillig samt ihrer Universität untergehen, mußte dies das »climate of opinion« bilden. Mit den Kaufleuten Green und Motherby wird sich Kant weniger über den frühen Tod seiner Mutter und dessen seelische Folgen für sein Denken unterhalten haben236 als über Handelsbilanzen, die Probleme der Mascopey und die Befreiung der Wirtschaft vom Berliner Dirigismus.

Die Zweiteilung der Aufklärung: Vor und nach 1750 Epocheneinteilungen sind notwendig und trotzdem mit guten Gründen angreifbar; wir brauchen sie, und sie lassen sich mit tausend Einzelfällen widerlegen. Es »gibt« eine antike und eine neuzeitliche Moderne, und die Aufklärung findet in zeitlich verschobenen Phasen in den europäischen Ländern statt; so kann man die Aufklärung in Frankreich mit Descartes beginnen lassen, in England mit Bacon, in Deutschland mit Leibniz oder Christian Thomasius und Christian Wolff. In Deutschland wird von einer Frühaufklärung und einer Spätaufklärung gesprochen, Bezeichnungen, die sich in anderen europäischen Ländern nicht durchgesetzt haben. Die deutsche Dreiteilung hat den Mangel, daß sich für den Mittelteil zwischen Früh- und Spätzeit kein schlüssiger Name eingestellt hat; es kommt als belastend hinzu, daß die berühmten Selbstklärungsversuche bei der Beantwortung der Frage »Was ist Aufklärung?« (1784) in die Spätzeit fallen müssten, obwohl sie doch in der Retrospektive den oder einen Höhepunkt darstellen. Es soll hier mit einem Konzept zweier Phasen der Aufklärung gearbeitet werden, d. h. einer Zäsur um 1750; mit dem Tod Christian Wolffs (1754) lässt sich das Ende der scholastischen Metaphysik verknüpfen, und das Erscheinen des kleinen Werks von Spalding 1748 ist das Fanal einer die bestimmung des menschen | 133

neuen Selbstauffassung der Menschen, die um 1800 endet. 1749 erscheint Kants Schätzung der lebendigen Kräfte; in ihr wird, man kritisiere nicht die Übertreibung, in Deutschland das »more mathematico« abgelöst und durch ein »more Nevtoniano« ersetzt, bis gegen 1800 in der Romantik und dem Deutschen Idealismus das Interesse an Platon und dem Neuplatonismus erwacht und Kant und Newton ihre Aktualität verlieren. Gemeinsam ist der Aufklärung in den verschiedenen Ländern und Zeiten die Opposition gegen den Platonismus und Aristotelismus in der Gestalt der Scholastik. Die Scholastik ist aus der neuen Sicht steril, verliert sich in immer neuen sachleeren Distinktionen, ist in der Theorie auf Worte statt auf die »res ipsa«237, die Sache selbst, fixiert, in der Praxis ineffizient und in beidem irreführend. Von Bacon bis Hume, von Descartes bis Condorcet, von Thomasius bis zum Ende der Aufklärung gibt es diese stabile Front und das damit verbundene gemeinsame Projekt der Welt- und Selbsterkenntnis. Die Wolffsche Phase der Aufklärung sieht ihr Ziel in der Verbesserung von allem und jedem: Landwirtschaft und Strafvollzug, deutsche Sprache, staatliche Verwaltung, Schulen und Universitäten. Verbesserung bemißt sich am Zustand des Objekts und der Brauchbarkeit für den Menschen; sie kann entsprechend vom Fürsten gelenkt und an Experten delegiert werden. Das Licht der Aufklärung soll sich allmählich, aber unwiderstehlich durchsetzen, das Licht ist jedoch eine anonyme Qualität, an der auch der »roi soleil« wesentlich teilhat. Es kommt in der ersten Aufklärungsphase auf die allgemeine Aufhellung der Verhältnisse an, auf das nützliche Ergebnis, nicht auf das Ich-Selbst der Handelnden. Kein Zufall, daß Kant sich für die Lichtmetaphorik nicht mehr interessiert und die Sonne nicht mehr für das Licht, sondern für das Gravitationszentrum steht. Die Sachignoranz der Scholastik, gegen die die Erneuerung der Antike und die Aufklärung ausgerufen wurden, ließ sich an vielen Phänomenen plastisch darstellen: Die Stagnation der Wissenschaften in den »artes liberales«, die bedrückenden Phänomene des Glaubens und Aberglaubens, die Unfähigkeit der Medizin, ein Kausalwissen aufzubauen, Hungersnöte aufgrund einer dilettantischen Ökonomie und Geldwirtschaft, das unheilvolle Neben- und Gegeneinander der geistlichen und weltlichen Macht, aber auch einer 134 | kapitel 

doppelten Jurisprudenz, die Regression der hellenistischen, längst »kopernikanischen« Astronomie und der geographischen Forschung in pure Albernheiten. Die neuzeitliche Moderne versuchte, an die erste, hellenistische Moderne anzuknüpfen und die Menschen aus der selbstverschuldeten Unmündigkeit zu befreien und nicht mehr die Worte verschieden zu interpretieren, sondern die erfahrbare Welt verbindlich zu erkennen. Die aufgeführten Beobachtungen sind durch eine weitere zu ergänzen. Bewegt man sich in der Literatur der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts und des Beginns des 19. Jahrhunderts, gewinnt man den Eindruck, die ganze Nation sei mit dem Bestimmen von Pflanzen und Tieren, der Höhe der Berge und der Geschwindigkeit der Winde, der Physiognomie der Genies und Verbrecher, der Gründe des Heimwehs und der Langeweile in Postkutschen und endlich auch der Bestimmung des Menschen befaßt. Alles wird charakterisiert und bestimmt, nach Zahl, Maß und Gewicht, nach Klassen und nach Gattungen, aber vornehmlich, motiviert durch Newton, nach Gesetzen. Gesetze ermöglichen die durchgängige Bestimmung aller Dinge oder Erscheinungen, und Gesetze bestimmen, wie wir handeln sollen. Eine Furie des taxonomischen Bestimmens durchzieht die Köpfe und die literarischen Äußerungen, und die Epoche sticht dadurch hervor, daß sie sich selbst als das Zeitalter der Aufklärung bestimmt. »Die Bestimmung des Menschen« ist also auch so lesbar, daß der Mensch das alles bestimmende und so auch sich selbst bestimmende Wesen ist. Die zweite Epoche der Aufklärung, die Zeit von ca. 1750 bis 1800, ändert die Weltanschauung der intellektuellen Wortführer in Deutschland profund. Der Leitbegriff dieser Änderung ist die finale Bestimmung der Menschen, mit der der christliche Kirchenglaube praktisch durch eine neostoische Weltanschauung ersetzt wird. Die Entchristianisierung kann sich ohne Märtyrer und Scheiterhaufen vollziehen, weil wichtige Teile der christlichen Religion erhalten und unbequeme Lehren wie die Erbsünde, der Erlösertod und die spektakulären Höllenstrafen des Mittelalters und des Barock im Einverständnis aller Beteiligten stillschweigend getilgt werden. Die Institution der Kirche kann erhalten und für die Volksaufklärung und einen allgemeinen Deismus oder Theismus (wie immer die genauen Grenzen in den verschiedenen Ländern gezogen werden) die bestimmung des menschen | 135

genutzt werden. Ein ähnlicher Wandel vollzieht sich in der Auffassung der Institution des Staates. Macht man das Gedankenexperiment und versetzt die Nachricht von der Französischen Revolution in das Jahr 1749, dürfte man kaum einen Intellektuellen gefunden haben, der nicht seinen Abscheu geäußert hätte. 1789 gibt es umgekehrt kaum einen, der nicht seinen anfänglichen Enthusiasmus äußerte. Die Vorstellung, daß der Mensch zur Freiheit bestimmt ist, hatte zu einer Erosion der absolutistischen Staatsgesinnung geführt und die Sympathie für die Republik entfacht. Im Kulturbewußtsein wird die Romantik den neustoischen Kosmopolitismus und Republikanismus durch andere Orientierungen ersetzen: durch die Besinnung auf die eigene nationale Geschichte, die Vorbildhaftigkeit der eigenen Gotik und der eigenen Epen, die Anschmiegung an die Königshäuser. Thron und Altar kehren in die Köpfe zurück, sofern sie nicht auswandern. Die Frage nach der Bestimmung des Menschen interessiert praktisch niemanden mehr. Die Annahme einer Zäsur der Aufklärung um 1750 wird in der neueren Forschung in verschiedenen Kontexten vertreten. Carsten Zelle spricht in seinem Aufsatz: »Sinnlichkeit und Therapie. Zur Gleichursprünglichkeit von Ästhetik und Anthropologie um 1750« von einer »anthropologischen Wende«, die er in profilierter Form in Johann August Unzers Philosophische Betrachtung des menschlichen Körpers überhaupt von 1750 aufdeckt. Ohne Spalding zu erwähnen, kann Zelle an einem zweiten anthropologischen Interessenfeld einen Neuanfang um 1750 dokumentieren. Hier ist es nicht die praktische Bestimmung des Menschen, sondern die Konzentration auf den »ganzen Menschen«238 als psycho-physische Einheit; es bedürfe, schreibt Unzer, einer »mitlere[n] Wissenschaft, die so zu sagen, zwischen der Weltweisheit und Arzneiwissenschaft zu stehen kommen müste.«239 In diese mittlere Wissenschaft werden Impulse der von Baumgarten lancierten Ästhetik aufgenommen und für die neue Erkenntnis zwischen Physiologie und Psychologie fruchtbar gemacht. Wolfram Mauser plädiert für die »epochale Blickumkehr«240, die schon im 17. Jahrhundert einsetzte, aber an den Schriften des »Weltweisen und Arztes« Johann Gottlob Krüger um 1750 manifest werde. Krüger emanzipiert die Disziplinen der Naturlehre und der Psychologie bzw. Diätetik oder Ethik aus der Schulmetaphysik 136 | kapitel 

und stellt sie als die für ihn entscheidenden Interessengebiete vor. Die rationale Kosmologie wird ebenso wie die Rationalpsychologie gänzlich aufgegeben, an ihre Stelle treten die Naturlehre und die Experimental=Seelenlehre als Lehrbücher für angehende Ärzte oder ganz allgemein: für Menschen.241 Wie immer Krüger seine Zweiteilung der inhaltlichen Disziplinen begründete, das Resultat führt zu den beiden stoischen Disziplinen der Physik und Ethik, die bei Kant in den beiden empirischen Disziplinen der Physischen Geographie und Anthropologie und der Metaphysik der Natur und der Metaphysik der Sitten weitergebildet werden. Wolfgang Riedel spricht von einer »anthropologischen Achsendrehung« bei Johann Georg Sulzer.242 Diese Achsendrehung entspringt einem neuen Selbstbewusstsein im Alltagssinn des Wortes; die Neuprägungen von Wörtern mit dem Präfix »selbst« haben Konjunktur. Die Gelehrtenzunft, die Dichter und Künstler lernen von den avancierten Nationen England und Frankreich und machen sich die neue Moderne mit Enthusiamus zueigen, eine Aufbruchstimmung, gut vorbereitet, durchdringt und überwindet in Gedanken die deutschen Fürstentümer. Kant nimmt das neue »climate of opinion« osmotisch auf und verstärkt es mit einer bis in die Gegenwart wirkenden Kraft. Zum Stand der Forschung insgesamt ist jedoch symptomatisch, daß das von Werner Schneiders herausgegebene Lexikon der Aufklärung. Deutschland und Europa (2001) kein Stichwort zur Bestimmung des Menschen enthält. Das Historische Wörterbuch der Philosophie (1971 ff.) bringt zwar das Stichwort »Bestimmung des Menschen«, erörtert es jedoch nur marginal. In Dieter Henrichs Studie Grundlegung aus dem Ich. Untersuchungen zur Vorgeschichte des Idealismus Tübingen – Jena 1790–1794 (2004) kommt das Thema, das den zentralen Gegenstand der Jenenser Gesellschaft freier Männer bilden sollte, nicht vor; von der Bestimmung des Menschen und ihrer stoischen Fundierung ist keine Rede. Eine derartige Punktlandung im Ich ist zweifellos möglich unter Ausklammerung der »mental geography«, die sie von der Antike bis in die Gegenwart umgibt; bezieht man diese jedoch ein, ist es unvermeidlich, die Bestimmungsphilosophie zu klären und die stoische oikeiosis-Lehre, die – im Gegensatz zu Platon und Aristoteles – die Vorzeichnungen der Ichphilosophie lieferte. die bestimmung des menschen | 137

Wir beabsichtigen also mit unseren Ausführungen nicht weniger als eine Revision der bisherigen Sicht der Aufklärung und ihrer Folgen, nicht an der Peripherie, sondern im Zentrum.

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Der stoische Ursprung der Bestimmungsfrage

Die mentale Geographie der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts ruht wie die anderer Epochen auf älteren Formationen, aus denen post festum überraschende Problemstellungen und Lösungen erst verständlich werden. Die Quellenanalyse ist entsprechend eine Heuristik, die ursprünglich wirksamen Gedanken wieder zu gewinnen. Im Folgenden wird so vorgegangen, daß einleitend die Zäsur in der Mitte des Jahrhunderts durch drei Bücher gekennzeichnet werden soll, die aus den drei Hauptländern der Aufklärung stammen und den drei Hauptrichtungen der hellenistischen Philosophie verpflichtet sind. Die dominierende Schule ist besonders in Deutschland die Stoa; ausgehend von Spalding soll zweitens die stoische Herkunft der Bestimmung des Menschen gezeigt werden. Drittens werden die Natur- und Vernunftbestimmung des Menschen bei Kant aus ihren stoischen Quellen, u. a. an zwei besonderen Merkmalen des Menschen, aufgewiesen, dem aufrechten Gang und der Hand. Mit dem Rückgriff auf den Hellenismus tritt die deutsche Philosophie entschieden in die Moderne ein. Auf der Grundlage stoischer Vorgaben, aber auch Epikurs wird der homogene Weltraum (wieder) zur Selbstverständlichkeit, damit aber auch die Einheit von Physik und Astronomie unter einheitlichen Gesetzen des Raumes und der Materie; der Bürger begreift sich (wieder) nicht mehr als Glied einer sittlichen Poliseinheit, sondern als freie Rechtsperson in einem kontraktualistisch begründeten Staat. Die hellenistische Philosophie stellte die Theorie in den Dienst praktischer Interessen; eben dies tut Kant ab der Mitte der siebziger Jahre, die praktische Vernunft erhält jetzt den Primat gegenüber der theoretischen. Ein Nachbeben dieses Primats ist das Marxsche Diktum, die Philosophen hätten die Welt verschieden interpretiert, es komme darauf an, sie zu verändern. Bei Kant kommt es darauf an, nicht die Welt, sondern die Moral und das Recht der einzelnen Menschen und der Menschheit zu verändern. der stoische ursprung der bestimmungsfrage | 139

Der Hellenismus ist die Moderne der Antike; diese erste Moderne inspirierte die europäische Ablösung vom Mittelalter und nach 1750 die deutsche Philosophie, den Stand der anthropologisch orientierten Reflexion in Frankreich und England zu erreichen und partiell zu überbieten. Die folgenden Ausführungen sind unzeitgemäß. Sie widersprechen z. B. der hermeneutischen Maxime von Richard Rorty, daß »wir Kant nur insoweit verstehen, als wir in klaren und zeitgenössischen Ausdrücken sagen können, welches seine Probleme waren, welche von ihnen immer noch Probleme sind, und welchen Beitrag Kant zu ihrer Lösung macht.«243 »[…] welches seine Probleme waren« – welches waren seine Probleme? diese lassen sich nur erkennen durch die Untersuchung der Auseinandersetzungen, in die Kant involviert war und aus denen seine Probleme erwuchsen. Diese Auseinandersetzungen umfassen alle jeweils berücksichtigten Theorien, wie leicht dokumentiert werden kann. Und dem Verstehen von Rorty müsste fairerweise hinzugefügt werden, daß die genaue Kenntnis früherer Probleme und ihrer Lösungen vielleicht auch dazu führen kann, aus ihnen zu lernen und spätere Problemstellungen als überholt zu durchschauen.244 Aber auch, daß »wir« Kant nur insoweit verstehen, als wir seine Probleme in zeitgenössischen Ausdrücken reformulieren können.245 Wer ist »wir«?

Hellenistische Richtungen der Philosophie 1750–1800 In der Mitte des 18. Jahrhunderts beginnt ein Orientierungswechsel in der deutschsprachigen Philosophie; die Schulmetaphysik, die ihren Grundriß aus der Scholastik übernahm, wird abgelöst durch ein anthropologisches Interesse, an die Stelle der Ontologie und der drei Seins- und Lehrbereiche der Theologie, Kosmologie und Psychologie treten das Erkennen, Fühlen und Wollen bzw. Handeln der Menschen. Damit stellt sich der akademischen Gelehrtenmetaphysik eine in ihrer Tendenz populäre, in der Existenz und Natur des Menschen begründete Philosophie entgegen. Sie »zermalmt« nicht nur die an Aristoteles orientierte Schulmetaphysik, sondern auch den noch zögerlich vorhandenen Platonismus.246 140 | kapitel 

»Selbst« wird zum reflexiven Zauberwort der Epoche, eine Vokabel, die es in der traditionellen Metaphysik nicht zu geben braucht: Das »Ich selbst« kam in ihr nicht vor, sie kultivierte die Erkenntnis, aber nicht das Selbstbewusstsein und die Selbstbestimmung. Kant, der bedeutendste Philosoph des neuen Selbstbewusstseins, kann besonders auf zwei Gedankenbereiche zurückgreifen, die hellenistischen Schulen der Skeptiker, Stoiker und Epikureer, die gegen Überhänge des Platonismus und Aristotelismus aktiviert werden und die praktischen Interessen des Menschen artikulieren helfen, und die nicht-akademischen Werke von Locke, Shaftesbury, Hume und Rousseau. Ihnen ist gemeinsam, daß sie die reine Theorie, die sich der Ontologie und Theologie widmete, ablösen durch eine Untersuchung des Menschen und der menschlichen Erkenntnisvermögen. Lockes Essay Concerning Human Understanding ist das Grundbuch dieser anthropologischen Neuerung. Kant greift die Impulse auf, rettet sie jedoch aus dem Empirismus und drohenden Skeptizismus in eine neue Transzendentalphilosophie und Metaphysik. Drei Werke aus dem Jahr 1748 können das neue »climate of opinion« (Joseph Glanvill) charakterisieren:

David Hume, der Skeptiker David Hume vollendet die Position von John Locke im Skeptizismus247, verbunden mit einem empiristischen Programm, in dem die Newtonsche Naturforschung auf die menschliche »mind« angewendet werden soll. Bücher der Metaphysik sollen verbrannt werden. 1748 erscheinen die Philosophical Essays (später: Inquiry) Concerning Human Understanding, in denen mit der übelbeleumdeten Metaphysik am Schluß kurzer Prozeß gemacht wird: »Wenn wir, von diesen Grundsätzen überzeuget, die Büchersäle durchgehen, welche Verheerung müssen wir nicht anrichten? Wenn wir irgend einen Band, zum Exempel von Schultheologie oder Metaphysik, in die Hand nehmen: so lasset uns fragen; enthält es einige abgezogene Vernunftschlüsse in Ansehung der Größe oder Zahl? Nein. Enthält es experimental Vernunftschlüsse, in Ansehung geschehener oder wirklicher Dinge? Nein. Schmeißet es denn ins Feuer; denn es kann der stoische ursprung der bestimmungsfrage | 141

nichts enthalten, als falsche und betriegliche Schlüsse und Verblendungen.«248 Humes Skepsis ist in ihrer Intention politisch indifferent; die Konfliktzone bildete das Verhältnis zur Kirche, und entsprechend ließ Hume die Dialogues Concerning Natural Religion erst postum veröffentlichen. Die stoische beseelte Natur wird skeptisch destruiert, in den Dialogues wird gesprochen von »that vague, undeterminate Word, Nature, to which the Vulgar refer every thing.«249 Für Kant wird Humes Werk von 1748 (in der Übersetzung in den Vermischten Schriften) zur Aufforderung zu zeigen, welche Erkenntnisansprüche sich gegen den Skeptiker retten lassen. Der deutsche Idealismus wurde u. a. dadurch ausgelöst, daß ein Kritiker der kritischen Philosophie, Aenesidemus Schulze,250 ein negatives Fazit zog: Kant hat Hume nicht überwunden.

La Mettrie, der Epikureer Im selben Jahr wie Humes Philosophical Essays und Spaldings Gedanken über die Bestimmung des Menschen erschien der programmatische Gegenentwurf in Frankreich, La Mettries skandalträchtiges (man denke an Goethes Reaktion) eben so kurzes Buch L’homme machine. Hier ist weder von einer Wesensbestimmung des Menschen noch von seiner »destination« die Rede oder exklusiv von seinen mentalen Eigenschaften, sondern vom vorgeblich puren Faktum seines Daseins. »Wer weiß übrigens, ob der Sinn der Existenz des Menschen (»la raison de l’Existence de l’Homme«) nicht in seiner Existenz selbst liegt? Vielleicht ist er aufs Geratewohl auf einen Punkt der Erdoberfläche geworfen worden, ohne daß man wissen kann, wie und warum; sondern nur, daß er leben und sterben muß, jenen Pilzen ähnlich, die von einem Tag zum anderen erscheinen, oder jenen Blumen, die die Gräber begrenzen und das Gemäuer bedecken.«251 Entsprechend ist es sinnlos, den Fragen des Woher und Wohin und vor allem des Wozu nachzugrübeln und am Ende unbeweisbare Antworten zu ersinnen, und der Begriff der »raison« sollte auf die pure epikureische »causa efficiens« beschränkt werden, auf blinde Ursachen also und keine Gründe. Die menschliche Existenz 142 | kapitel 

ist zweifellos verursacht, aber es gibt keine höhere Vernunft, in der man einen Grund oder Zweck seines Daseins entdecken könnte. La Mettrie widersprach den vitalen Überzeugungen der deutschen Gebildeten in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts (mit einigen Ausnahmen, zu denen Friedrich II. zählte). Elemente der Philosophie Epikurs waren willkommen, so die Raum- und Materietheorie, die Welt jedoch aus dem Zufall und der blinden Gesetzlichkeit der Atome abzuleiten, das hielt schon Cicero für »stulte arrogans«252, und Kant folgte ihm mit seinem »unverschämt«: »Epikur war gar so unverschämt, daß er verlangte, die Atomen wichen von ihrer geraden Bewegung ohne alle Ursache ab, um einander begegnen zu können.« (I 227,19–22)253

Spalding, der Stoiker Spaldings Publikation konzentrierte das Interesse deutscher Literaten und Philosophen auf die Frage, wozu der einzelne Mensch und dann auch die Menschheit im ganzen bestimmt seien; in dieser Bestimmung liegt der Sinn und Endzweck unseres Daseins und damit das objektive Ziel unseres Handelns. Keinem der Autoren, die wir uns oben vergegenwärtigten, war die Theorie von La Mettrie unbekannt, denn in jeder Schule wurde das materialistische Lehrgedicht von Lukrez, De rerum natura, gelesen, so daß auch jeder die Spaldingsche Botschaft als Gegenposition gegen den Materialismus oder auch gegen den Nihilismus254 begriff. Dieser Antagonismus war in der hellenistischen Philosophie intensiv ausgetragen worden, und für beide Positionen lagen gut durchdachte Argumente bereit, man brauchte nur Cicero und Seneca zu lesen, wie es auch jeder Lateinschüler tat. Die Opposition von La Mettrie dort und Spalding hier aus dem Jahr 1748 sind nur die Neuformulierung der Alternative von Epikur und Stoa, wie sie von römischen Autoren aufbereitet wurde. Wenn in der Gesellschaft freier Männer in Jena (1794–1799) nicht nur verschiedene Vorträge zur Bestimmung des Menschen gehalten werden, sondern auch die stoische mit der epikureischen Lehre verglichen wird,255 dann greifen die Teilnehmer auf eine Diskussion zurück, über die sie mit genau dem Titel bei Cicero gelesen hatten. Das erleichterte die Debatte und gab die Möglichkeit, Beder stoische ursprung der bestimmungsfrage | 143

obachtungen über die Stoikerfraktion der freien Männer in Paris einzuflechten, ohne sie zu nennen. Robespierre, der stoische Tugendfanatiker, hatte dieselben Texte gelesen. Jacques Louis David stellt den »Tod des Sokrates« nicht nach platonischen, sondern stoischen Prinzipien dar.256 Im Gegensatz zu früheren Orientierungen an exklusiven Schulmeinungen führen die genannten drei Schriften, die einer prononcierten Richtung angehören, zu keinem expliziten Schulbekenntnis, so daß in jeder Situation ein Spielraum für die Einbeziehung anderer Lehren, für Kritik und für die Modernisierung antiker Schemata bleibt. Dazu passt, daß es keine philologischen Bemühungen um die Neuedition antiker Texte gibt, wie sie Justus Lipsius und auch Pierre Gassendi bei stoischen und epikureischen Werken leisteten. In der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts nehmen die Autoren besonders in Deutschland Anregungen der Antike auf, sind jedoch nicht am genauen Wortlaut interessiert, sondern an brauchbaren Ideen. Es gibt keine Versuche der Erneuerung der Stoa oder des Gartens von Epikur, wie z. B. in der Florentiner Renaissance die Platonische Akademie neu gegründet wurde und Lipsius einen streng stoischen Kreis um sich versammelte. Die allgemeine Lebenshaltung ist von stoischem, wenn auch bürgerlich bequem gemachtem Ernst: »Die strenge Mäßigkeit, z. B. Kants, forderte eine Philosophie, die diesen seinen angeborenen Neigungen gemäß war. Leset sein Leben, und ihr werdet bald finden, wie artig er seinem Stoizismus […] die Schärfe nahm, ihn zurechtlegte und mit der Welt ins Gleichgewicht setzte.«257 Der stoisierenden Lebenshaltung, die Goethe beobachtet, entspricht eine stoisierende Philosophie bei Kant und den meisten anderen Autoren der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts in Deutschland. Neben, aber auch gegen stoische Lehrstoffe treten entsprechend problemlos epikureische, skeptische und auch platonische und aristotelische Lehren. Diese Mischlage wird auch dadurch fast unumgänglich, daß bereits in der Antike selbst besonders stoische und platonische Positionen verbunden wurden; dies geht ein in die Antikenrezeption z. B. von Shaftesbury, der einen platonisierenden Stoizismus vertritt, der seinerseits für die deutsche Vorstellungen wichtig wurde, weil Spalding als Shaftesbury-Übersetzer von dieser Verknüpfung abhängig war. 144 | kapitel 

Shaftesbury ist ein bedeutender Ideenvermittler des 18. Jahrhunderts;258 Kant schreibt aus einem taktischen Grund, Shaftesbury sei ein Epikureer (II 396,9), Herder zählt ihn zu den Platonikern,259 es gibt jedoch weder eine platonische Ideenlehre bei ihm noch die Lehre von der blinden mechanischen Naturkausalität der Atome. Die Naturteleologie, die er durchgehend vertritt, ist stoisch, und sein Naturhymnus der »Moralists« (»O glorious nature! […]«)260 ist eine Neufassung des Zeushymnus von Kleanthes, der später in zwei deutschen Übersetzungen erschien.261 Eine von ihnen stammt von einem sonst wohl unbekannten Hermann Heimart Cludius: Kleanthous humnos eis Dia. Kleanths Gesang auf den höchsten Gott. Griechisch und deutsch nebst einer genauen Darstellung der wichtigsten Lehrsätze der stoischen Philosophie (1786), die zweite von dem Repetenten des Tübinger Stifts, Karl Philipp Conz (oder Konz).262 Wie schon Seneca in den Epistulae morales, so nehmen auch Autoren des 18. Jahrhunderts naturphilosophische Motive des Epikureismus auf, vermittelt durch das Lehrgedicht von Lukrez, De rerum natura, das mit einem Naturhymnus beginnt und partiell in einen stoisch-teleologischen Zusammenhang integriert werden kann, wie es bei Kant tatsächlich geschieht. Gegen die Stoa wird wiederum die Wichtigkeit der Leidenschaften gestellt, die die Stoiker gern in ihrer propagierten Apathie vernichten möchten. Am Ende dominiert jedoch der Stoizismus bei weitem in den Ländern der Aufklärung, besonders in Deutschland.

Die stoische Herkunft der Bestimmung des Menschen Die These der folgenden Ausführungen besagt, daß der Ursprung der Bestimmungsphilosophie in der Stoa liegt und nicht auf platonische, aristotelische oder epikureische Vorstellungen zurückgeht. Dies festzuhalten ist wichtig, weil dadurch klar wird, daß die Bestimmung des Menschen eingebettet ist in die Vorstellung einer göttlichen, zweckmäßig eingerichteten Allnatur, der zu folgen der Mensch berufen ist. Die Bestimmungsphilosophie fällt zusammen mit einer Epoche der Natürlichkeit – die Kleidung, die Gesetze, die Ökonomie, die Kunst, das Empfinden und das Denken, alles soll natürlich sein. Daniel Nicolas Chodowiecki publiziert im Göttinger der stoische ursprung der bestimmungsfrage | 145

Taschenkalender von 1780 eine Kupferstichfolge mit dem Titel »Natürliche und affektierte Handlungen«. Kant in der Schätzung der lebendigen Kräfte: »Sein [Hambergers, RB] Gedanke ist schön, denn er ist einfach und also auch der Natur gemäß.« (I 60,31–32) »Der Weg der Natur ist nur ein einziger Weg.« (I 61,22) »Die Natur« ist das Zauberwort der antiken Stoa und keiner anderen Schule, die zweite Hälfte des 18. Jahrhunderts holt aus diesem Gedankenfundus ihre Dynamik und Sprengkraft gegen die vorhergehende Formation des Barock und des Absolutismus. Hier liegt der Konsens von Winckelmann und Rousseau, von Kant und Adam Smith und am Ende Robespierre. Das Phänomen ist bekannt: Alles, was gut und wahr und schön ist, erhält den Ehrentitel des Natürlichen. Wir begegneten den Vornehmsten Wahrheiten der natürlichen Religion von Hermann Samuel Reimarus. Gleich zu Beginn wird in den ersten beiden Sätzen festgehalten: »Wer ein lebendiges Erkenntnis von Gott hat, dem eignet man billig eine Religion zu: und soferne dieses Erkenntnis durch die natürliche Kraft der Vernunft zu erhalten ist, nennet man es eine natürliche Religion.«263 Rousseau schrieb, wie schon zitiert, zu Beginn des zweiten Spaziergangs seiner Rêveries du Promeneur Solitaire, er wolle sein, wozu die Natur ihn bestimmt habe, »ce que la nature a voulu«264. Die Natur oder besser: das Natürliche, ist die Norm des Handelns im Privatbereich, in der Ökonomie und in der Medizin gegen die Hindernisse, die »obstacles«, die die Menschen dem natürlichen Gang der Dinge, der »euroia biou«, dem leichten Fluß des Lebens,265 in den Weg legen. Bei der Reform des Privatrechts in Preußen in den siebziger und achtziger Jahren wird das natürlich-vernünftige Gerichtsverfahren gegen die aristotelisch-scholastische Methode gestellt.266 Das Vernunft- und Naturrecht stellt sich gegen die widernatürliche Feudalherrschaft und bricht in der Französischen Revolution gewaltsam mit dem unnatürlichen Feudalregime. Hegel leitet die Herkunft der Bestimmungsfrage aus dem Niedergang der Polis ab und schließt deswegen Platon und Aristoteles von vornherein aus. »Wenn die Religion, die Verfassung, die Gesetze eines Volkes gelten, […]: so tritt nicht die Frage auf, was hat das Individuum für sich zu thun. Dieß ist vielmehr vorhanden, und ist in ihm vorhanden. Wenn hingegen diese Befriedigung nicht mehr da ist, das Individuum nicht mehr in der Sitte eines Volkes steht, 146 | kapitel 

[…], so fängt es an, für sich zu sorgen267; […]. In einem gesitteten, religiösen Zustande findet es die Bestimmung des Menschen gegeben in dem Vorhandenen. Seine Bestimmung ist es, rechtlich, sittlich, religiös zu seyn; […]. Ist aber der Zweispalt entstanden, so muß das Individuum sich in sich vertiefen, muß da seine Bestimmung suchen.« Die Kyniker fangen »mit der vollkommenen Freiheit und Unabhängigkeit als Bestimmung des Menschen an.«268 Die Stoiker folgen ihnen; auch bei ihnen ist »die höchste Bestimmung in das Subject als solches gesetzt. […] In Nichts also soll man seine Bestimmung oder Befriedigung suchen, als eben darin, seiner Vernunft gemäß zu seyn, sich in sich, nicht aber in etwas äußerlich Bedingtem zu befriedigen.«269 Hegel spricht eine historische Situation an, die sich nicht schlecht auf die Zeit um 1750 übertragen lässt: Die christliche Kirche und das absolutistische Königtum verlieren ihre Bindekräfte, so daß die Individuen sich um eine neue Orientierung aus eigener Vernunft bemühen. Der Stoiker entdeckt die göttliche Natur als die Instanz, nach der er sein Handeln richten soll, und die Aufklärung führt ähnlich zu einer Apotheose der Natur, der zu folgen wir bestimmt sind. Aber gibt es nicht schon bei Aristoteles eine finale Anlage des Menschen, so daß wir bei ihm die antike Vorform der neuzeitlichen Bestimmungsphilosophie entdecken können? Ist der Mensch nicht dazu bestimmt, ein politisches Lebewesen zu sein?270 Aristoteles sucht am Anfang der Nikomachischen Ethik das eigentümliche »ergon« des Menschen zu bestimmen. »[…] indem man zu erfassen sucht, welches die dem Menschen eigentümliche Leistung [ergon] ist. Wie nämlich für den Flötenkünstler und den Bildhauer und für jeden Handwerker oder Künstler, kurz überall da, wo Leistung und Tätigkeit gegeben ist, eben in der Leistung, wie man annehmen darf, der Wert und das Wohlgelungene beschlossen liegt [t’agathon einai kai to eu], so ist das auch beim Menschen anzunehmen, wenn es überhaupt eine ihm eigentümliche Leistung gibt. Sollte er […] zu dumpfer Trägheit geboren sein [argon pephyke]? […] Das oberste dem Menschen erreichbare Gut stellt sich dar als ein Tätigsein der Seele im Sinn der ihr wesenhaften Tüchtigkeit.«271 Natur ist die Natur des Menschen, die sich für sich manifestiert und die in ihrem Wesen erfasst werden kann. Auch in der Physik wird eine Theorie von Einzelnaturen, φύσει ὄντα, d. h. von Dingen, deren spezifische der stoische ursprung der bestimmungsfrage | 147

Bewegungsursache (αἰτία) in ihnen selbst liegt, nämlich als ihre φύσις gebracht. Es ist also von vornherein von einer Einzelnatur die Rede, für die Aristoteles auch die Begriffe ousia, eidos oder ti en einai gebraucht.272 Zur Bestimmungsphilosophie gibt es zwei markante Differenzpunkte, die zur Stoa zurückführen. Erstens spricht Aristoteles mit ein oder zwei Ausnahmen so wenig wie Platon von einer Gesamtnatur, die allen Dingen ihre Bestimmung zuweist; zum anderen sind bei Platon und Aristoteles die einzelnen Naturdinge durch einen ihnen eigentümlichen Zweck definiert, in der Stoa dagegen schafft die Naturtechnik alles für die Menschen und die Götter.273 Die Teleologie der Natur ist anthropozentrisch und führt den Menschen wiederum zur Annahme eines Gottes, der die Welt gesetzlich lenkt und sich in der Natur darstellt. »The main current of the thought of the Enlightenment was deistic, not atheistical or even agnostic; there were doubts about revelation, about the Christian plan of salvation, but few about the goodness of God and the existence of a life to come.«274 Rousseau betet nicht in geschlossenen Räumen, wie er in den Confessions festhält.275 Die Intellektuellen verlieren in den Zentralländern der Aufklärung den persönlichen Kontakt zur Kirche, weder Smith noch Hume noch Rousseau etc. nehmen am christlichen Gottesdienst teil oder interessieren sich für kirchliche Probleme wie Locke und Leibniz. Diese Entchristianisierung führt jedoch meistens zu keinem Eklat, weil der Vernunftglaube Konsense mit einer Kirche ermöglicht, die ihrerseits an der Aufklärung teilnimmt. Die Schmerzgrenze lag dort, wo der stoisch gefärbte Deismus oder Theismus zum Spinozismus umschlug, man also mit der Losung »deus sive natura« auf einen außerweltlichen Gott verzichtete. Jacobi hat diese Grenze genau benannt, als er Lessing als Spinozisten hinstellte und eine für alle gefährliche Debatte inszenierte.276 Der politisch dechiffrierte Spinozismus besagt für jeden im Klartext, daß der absolutistische Weltherrscher in Gedanken entthront, aber der irdische Fürst realiter gemeint sei und jetzt die bürgerliche Gesellschaft sich selbst ihre Gesetze gibt. Die stoische Auffassung der Göttlichkeit der Natur277 kann mit kleinen anti-spinozistischen Retouchen als christlich angesehen werden; wenn es in der Apostelgeschichte 17,27–28 heißt: »In ihm 148 | kapitel 

leben, weben und sind wir«, so kann daraus der stoische Gedanke einer organischen Verwobenheit alles Seienden hergeleitet werden. Kant zeigt in der KdU, daß die Natur im ganzen auf den Menschen als ihren letzten Zweck und auf ihn als Endzweck zukomponiert ist (V 377,25–381,7 u. ö.). Man kann also nicht Platon oder Aristoteles ins Spiel bringen, und natürlich fällt auch Epikur als das Zentrum der Orientierung fort. Bei Epikur und entsprechend bei Lukrez gibt es keine übergreifende Zwecknatur, keine Vorsehung, die alles in der Welt durch ihren Logos bestimmt – das ganze Theoriegebäude wird aufgeführt, um genau das als abwegig nachzuweisen. Es gibt Atome, einen leeren Raum und die hin und wieder unregelmäßige Abbiegung der Atome (»inclinamen«) ohne die Eingriffsmöglichkeit eines göttlichen Geistes; die teleologische Interpretation von Organen und deren Funktionen bei Menschen und Tieren wird strikt abgelehnt.278 Entsprechend dieser nicht strittigen Lehre Epikurs schreibt Kant zwar in der KrV, in seinen Maximen des spekulativen Gebrauchs der Vernunft habe Epikur »einen echteren philosophischen Geist, als irgendeiner der Weltweisen des Altertums« (A 472) gezeigt.279 In der Ethik jedoch gibt es keinen Anhaltspunkt für eine sittliche Bestimmung des Menschen; Epikur »propagiert als oberstes Ziel die Freiheit von körperlichem Schmerz und seelischer Unruhe«280, also am Ende die Maximierung der Lust. Keines der essentiellen Elemente der teleologischen und moralischen Bestimmungsphilosophie lässt sich bei Epikur finden. Im Folgenden soll an ausgewählten Beispielen die Präsenz der stoischen Naturauffassung und Ethik im Umfeld der Bestimmungsphilosophie vor Augen geführt werden. Ohne den Rückbezug auf die Texte, die den gemeinsamen Fundus an Überzeugungen enthielten, lassen sich die Konsense und Differenzen in den Auseinandersetzungen der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts nicht verstehen. Wir nähern uns dem geistigen Bezugsfeld ganz äußerlich, indem wir die Mottosammlung von Spaldings Schrift betrachten. Von Horaz stammt der Spruch des Titelblattes,281 von Persius das Motto der Einleitung282 (und eine kursiv gesetzte Metapher der »Vorrede« der Ausgabe von 1794283), und Cicero steuert das Schlußmotto der ersten Auflage bei: »[…] nos ad iustitiam esse natos« – wir sind zur Gerechtigkeit geboren.284 Das Werk deklariert damit, daß es in der der stoische ursprung der bestimmungsfrage | 149

Nachfolge der natürlichen Religion steht, wie sie von hellenistischen und römischen Autoren überliefert und von den englischen Autoren wie Shaftesbury und Addison oder Steele erneuert wurde. Die eigene Vernunft führt uns zur Überlegung und Beantwortung der Frage, »worauf mein eigentlicher Wehrt und die ganze Verfassung meines Lebens ankömmt. Es ist doch einmal der Mühe wehrt, zu wissen, warum ich da bin, und was ich vernünftiger Weise seyn soll.«285 Ich greife einige Stellen heraus. Cicero schreibt in De officiis: »Neque enim ita generati a natura sumus, ut ad ludum et iocum facti esse videamus, ad severitatem potius et ad quaedam studia graviora atque maiora.« Christian Garve übersetzt: »Wir sind von der Natur nicht bloß zum Scherz und zum Zeitvertreib in die Welt gesetzt worden. Unsre Bestimmung ist ernsthaft; unsre Geschäfte sind groß und wichtig.«286 Der Begriff der Bestimmung gibt den Zweck der stoischen Teleologie wieder. Cicero: »[…] in hoc naturam debemus ducem sequi […]«287; Garve: »[…] so müssen wir dieser Bestimmung der Natur folgen […]«288 »Ita fit, ut ratio praesit, appetitus obtemperet.«289 Garves Übersetzung: »Von diesen beyden Kräften ist der Verstand bestimmt zu befehlen, die Begierde, zu gehorchen.«290 Diese Bestimmung geht von der Vorsehung aus, von der stoischen »pronoia«, der »natura dux«, die alles zweckhaft durchwaltet und jedem Ding im Netz der finalen Kausalität seine Bestimmung verleiht. Nur die der Vernunft teilhaftigen Menschen und Götter, für die der gesamte Kosmos da ist,291 haben den Zweck ihrer Existenz in sich selbst, wenn auch im Fall der Menschen in der Weise, daß sie die Vernunftnatur, zu der sie bestimmt sind, selbst erkennen und verwirklichen müssen. Pseudo-Longinos, der stoisch orientierte Rhetor des 1. nachchristlichen Jahrhunderts, schreibt ganz in diesem Sinn, daß wir von der Natur zum Großen und Erhabenen geboren sind.292 Eduard Norden übersetzt: »Deshalb genügt der Spekulation und dem Sinnen des menschlichen Unternehmungsgeistes nicht einmal die ganze Welt, sondern oftmals schreiten seine Gedanken hinaus über die Grenzen der Atmosphäre, und wenn Jemand von da rings einen Umblick auf die Welt tun und erkennen könnte, welche Überfülle des Erhabenen und Großen und Schönen in ihr waltet, so würde ihm bei solcher Schau bald die Bestimmung des Menschen offenbar werden (tacheos eisetai pros ha 150 | kapitel 

gegonamen).«293 Diese Bestimmung zur Betrachtung des Kosmos wird in der römischen Stoa umformuliert zur Praxis: Wir sind zum Handeln geboren. Wir vergegenwärtigen uns noch einmal die bekannte Paraphrase der stoischen »oikeiosis«-Lehre von Diogenes Laertius: »Der erste Trieb, so sagen sie, der sich in einem lebenden Wesen regt, sei der der Selbsterhaltung; die Natur eigne es sich selbst von Anbeginn an zu, wie Chrysipp im ersten Buch ›Über die Endziele‹ sagt mit den Worten: für jedes lebende Wesen sei seine erste ihm von selbst zugewiesene Angelegenheit sein eigenes Bestehen sowie das Bewußtsein [syneidesin] davon. Denn es war doch nicht zu erwarten, daß die Natur das lebende Wesen sich selbst entfremde, oder auch, daß sie, nachdem sie das Geschöpf einmal hervorgebracht, sich weder die Selbstentfremdung noch die Selbstbefreundung habe angelegen sein lassen. Es bleibt also nur übrig zu sagen, daß sie es nach vollzogener Schöpfung mit sich selbst befreundet habe. Denn so wehrt es alles Schädliche ab und verschafft allem, was seiner Eigenart dienlich ist, freien Zutritt. Wenn aber einige [sc. die Epikureer] behaupten, die Lust sei der erste Trieb für die lebenden Wesen, so weisen sie [sc. die Stoiker] dies als falsch nach.294 Denn wenn es überhaupt eine Lust gibt, so sei sie, sagen sie, nur eine Folgeerscheinung, die dann eintritt, wenn die Natur nach Aufsuchen des ihr Gemäßen in den Besitz des für ihren Bestand Erwünschten gekommen sei. Das ist, was den lebenden Wesen die heitere Stimmung und den Pflanzen das fröhliche Wachstum bringt. […] Da aber den Vernünftigen die Vernunft zu vollkommener Führung verliehen sei, so sei das vernunftgemäße Leben die richtige Entwicklung des naturgemäßen Lebens; denn die Vernunft wird zur eigentlichen Bildnerin des Triebes.«295 Bestimmung, Selbstbestimmung, sodann Selbsterhaltung, Selbstgefühl, Selbstbewusstsein: Dies sind die Signalwörter, die die »oikeiosis« charakterisieren und die für die zweite Hälfte des 18. Jahrhunderts so zentral werden. Wichtig ist auch: Es gibt eine Binnendimension der epistemischen und emotionalen Selbstreferenz, die man nicht als eigentliche Erkenntnis bezeichnen kann, sondern als Bewusstsein und Gefühl. Es ist klar, daß die »syneidesis«, das Selbstwissen oder Selbstbewusstsein, keine in Urteilen formulierbare Selbsterkenntnis ist. Eine unserer Thesen lautet: Das Selbstbewusstsein der stoische ursprung der bestimmungsfrage | 151

des Ich im 17. und 18. Jahrhundert hat hier seinen Ursprung. Das Bewusstsein ist das epistemische Selbstverhältnis, das selbst keine Erkenntnis ist, aber jede Erkenntnis begleitend ermöglicht; daher seine fundierende Rolle, die nun ihrerseits zum Untersuchungsobjekt philosophischer (und nur philosophischer) Erkenntnis wird. Ohne einen schon vorbereiteten Bewußtseinsbegriff hätte Kant den kategorischen Imperativ als ein jeder Kritik entzogenes, jenseits aller falliblen Erkenntnis stehendes Machtwort nicht konzipieren können. Mit dem (Kunst-)Terminus »oikeiosis« wird in der stoischen Philosophie das differenzierte Selbstverhältnis und das von diesem bestimmte Außenverhältnis organischer und vernünftiger Wesen bezeichnet. Die Lehre ist sowohl in der (noch nicht so benannten) Biologie wie auch in der Ethik und Anthropologie296 ausgearbeitet worden und bildet einen der Ecksteine des stoischen Systems. Das Streben der Selbsterhaltung und Selbstverwirklichung zerfällt in zwei Stufen. Die erste wird als die »prote horme« bezeichnet, die zweite, die der »ratio«, holt den Gesichtspunkt des ganzen Kosmos ein, den sich das Vernunftwesen Mensch zu eigen machen kann und soll.297 Das Wort deutet auf eine Tätigkeit hin; das organische Gebilde hat im Gegensatz etwa zu den demokritischen und epikurischen Atomen eine nicht mehr mechanisch erklärbare Rückkopplung der Teile zum Ganzen und zu einander und existiert nur auf Grund des reflexiven, vom Organismus selbst zu leistenden Prozesses. Er beinhaltet, daß Lebensförderliches gesucht und assimiliert wird, Lebensschädliches gemieden wird. Dazu bedarf es bei Tieren und Menschen dreier Komponenten: Der Organismus muß erstens über irgendeine Form von Selbstbewußtsein verfügen, zweitens über eine praktische Selbstsorge; und drittens wird die gelingende »oikeiosis« vom Gefühl der Lust, die mißlingende vom Gefühl der Unlust begleitet. Die »oikeiosis« kann vom Selbstbereich aus auf andere lebende Wesen ausgedehnt werden, auf die Hausgenossen, die eigenen Kinder und andere verwandte Personen und mit der ratio auf die gesamte Menschheit in der »kosmopolis«. Der Weise ist sich selbst das Gesetz, indem er das göttliche Weltgesetz internalisiert und sich selbst zu einem Stück dieser »zeusdurchherrschten« Natur macht. 152 | kapitel 

Die Wiedergabe des Kunstwortes »oikeiosis« im Lateinischen, aber auch in anderen Sprachen ist schwierig, so daß der griechische terminus technicus durch kein entsprechendes neueres Wort erfolgreich ersetzt wurde. Cicero übersetzt mit »commendatio« oder »conciliatio«298; beides ist jedoch nicht akzeptiert und in eine neuere Sprache als adäquater Terminus übernommen worden; Long und Sedley schlagen »appropriateness« vor;299 hierauf werden wir später zurückkommen; vorerst nur so viel, daß auch mit dieser Wiedergabe die terminologische Barriere nicht überwunden ist, denn niemand erkennt unter diesem Titel die damit gemeinte »oikeiosis« wieder; außerdem werden damit weder im Deutschen noch in den romanischen Sprachen die Übersetzungsprobleme gelöst. Das deutsche »Selbsterhaltung«300 ist zu weit, denn es wird auch auf rein physikalische Sachverhalte wie die Selbsterhaltung von Ruhe und Bewegung angewendet. Wir müssen also damit rechnen, daß in nicht-griechischen Texten unter einer sehr divergierenden Terminologie von derselben Sache, der stoischen »oikeiosis«, gehandelt wird. Die Theorie selbst bildet eines der zentralen Lehrstücke der stoischen Philosophie; es ist also sehr unwahrscheinlich, daß es in Phasen der Stoa-Rezeption der Neuzeit nicht ebenfalls adaptiert wurde; nur läßt es sich nicht aufgrund eines terminologischen Befundes sofort identifizieren. Auf der Grundlage der »oikeiosis« mit einer ersten animalischen und, beim Menschen, zweiten eigen-logos-bestimmten Etappe ist sowohl die Bestimmungsfrage beim Individuum wie auch in der menschlichen Gattung vorgeformt. Zu den wichtigen Innovationen gehört die dynamische Geschichtsphilosophie, die an die Stelle der statischen kosmopolis tritt, die die Antike als Verpflichtungsraum des Menschen entwarf. Seidler schreibt korrekt in seiner momumentalen Studie zur Rolle der Stoa in der Kantischen Moralphilosophie: »Both [die Stoiker und Kant, RB] are concerned to situate man in a meaningful universe and to indicate his role therein. Speculative or theoretical concerns, even though zealously pursued, are in the end subservient to ethical or morally practical ones.«301 Cicero erteilt der Theorie um ihrer selbst willen eine klare Absage: »Es gilt daher, daß die Pflichten der Natur angemessener sind, die aus der Gesellschaft, als die, die aus der Erkenntnis hergeleitet werden […]. Denn die Erder stoische ursprung der bestimmungsfrage | 153

kenntnis und die Betrachtung der Natur ist in gewisser Weise mangelhaft und unvollendet, wenn keine Handlung folgt. Die Handlung aber wird am meisten geschätzt, die auf den Nutzen der Menschen zielt und zur Gesellschaft der Menschheit gehört; daher verdient sie den Vorzug vor der bloßen Theorie. Dies zeigt jeder besonders gute Mensch durch die Tat und durch sein Urteil.«302

Die Hand, der aufrechte Gang, das Geschrei des Kindes und andere stoische Spuren bei Kant Die Hand »Die Charakterisirung des Menschen als eines vernünftigen Tieres liegt schon in der Gestalt und Organisation seiner Hand, seiner Finger und Fingerspitzen, deren theils Bau, theils zartem Gefühl, dadurch die Natur ihn nicht für eine Art der Handhabung der Sachen, sondern unbestimmt für alle, mithin für den Gebrauch der Vernunft geschickt gemacht und dadurch die technische oder Geschicklichkeitsanlage seiner Gattung als eines vernünftigen Thieres bezeichnet hat.« (VII 323,14–20) »Die« Natur stattet den Menschen vorsorglich mit einem Körper aus, der für den Gebrauch der Vernunft geeignet ist; es ist nicht umgekehrt so, daß der Körper gewissermaßen von unten nach oben die Vernunft ermöglicht. Diese Alternative in der Reihenfolge und Kausalität verfolgt die Philosophen seit der griechischen Aufklärung bis in die Neuzeit. Auf der Seite des Primats der Vernunft stehen unter vielen anderen Aristoteles, Galen, die Stoiker und Kant, auf der anderen Seite Anaxagoras303, Epikur, Lukrez304 und Herder. Wenn Kant »die« Natur allgemein benennt, so bedient er sich einer stoischen Anschauung.

Der aufrechte Gang 1771 publiziert Kant anonym eine »Recension von Moscatis Schrift: Von dem körperlichen wesentlichen Unterschiede zwischen der Structur der Thiere und Menschen« in den Königsbergischen gelehrten und 154 | kapitel 

politischen Zeitungen (II 421–425).305 Pietro Moscati (1739–1824) will beweisen, daß der aufrechte Gang des Menschen eine Fehlentwicklung ist; der Mensch sei ursprünglich so gebaut, daß er wie die Tiere auf allen Vieren zu gehen habe; der aufrechte Gang sei dagegen die Ursache vieler Krankheiten und Mißlichkeiten. Eine paradoxe akademische Disputationsübung, wie Kant launig vermutet? Wenn die Vorsehung eine so wichtige Entscheidung, ob der Mensch, die Krone der Schöpfung, aufrecht oder auf allen Vieren geht, nicht im Griff hat, wenn die gesunde Haltung die der Vierbeiner wäre, die der Mensch aber seit Beginn der Kultur nicht mehr praktiziert, dann braucht man vielleicht mit keiner Vorsehung zu rechnen, und gegen diese Unterstellung polemisiert Kant: Die Vernunftbestimmung der vorsorglichen Natur hat die Naturbestimmung des Menschen geleitet, der aufrechte Gang ist die Intention der Vorsehung und kann daher nicht gut unnatürlich sein. »Weil der Mensch Vernunft haben sollte; so ist er bestimmt auf 2 Füßen zu gehen, indem sie dadurch am besten excolirt wird […].« (XXV 676,13–15)306 So mögen die Menschen am Beginn ihrer Entwicklung immer vierbeinig wie die Kleinkinder gewesen sein, die eigentliche Bestimmung der konstanten Gattung »Mensch« führt zum aufrechten Gang. Moscati behauptet den Primat der Vernunft gegenüber der Materie, hat jedoch das Gottvertrauen, daß der Geist auf eine »erhabenere Quelle« als den Körper zurückgeht und nicht auf den aufrechten Gang angewiesen ist.307 Die Hauptfront der Auseinandersetzung verlief in der europäischen Philosophie nicht in der Opposition von Moscatis Vierbeinigkeit und Kants aufrechtem Gang, sondern in der Gegnerschaft bei der Diskussion, ob die Materie von sich aus (doch wohl zufällig) zur Vernunft geführt hat oder umgekehrt die Vernunft sich ihre adäquate körperliche Gestalt schuf. Beim aufrechten Gang folgten die Stoiker der Teleologie in Platons Timaios, Kants unmittelbare Quelle ist jedoch Cicero, De natura deorum.308 Dem Kantleser ist diese Alternative aus der Polemik Kants gegen Herder vertraut. Herder schreibt: »Nicht unsre Vernunft wars, die den Leib bildete, […],«309 und Kant resümiert Herders Auffassung in seiner Ideen-Rezension: »Nicht weil er zur Vernunft bestimmt war, ward ihm zum Gebrauch seiner Gliedmaßen nach der Vernunft die aufrechte Stellung zugewiesen, sondern er bekam Vernunft der stoische ursprung der bestimmungsfrage | 155

durch die aufrechte Stellung, als die natürliche Wirkung eben derselben Anstalt, die nöthig war, um ihn bloß aufrecht gehen zu lassen.« (VIII 48,24–28) Dagegen Kants stoisierender Einwand: »Allein bestimmen zu wollen, welche Organisirung des Kopfs äußerlich in seiner Figur und innerlich in Ansehung seines Gehirns mit der Anlage zum aufrechten Gang nothwendig verbunden sei, noch mehr aber, wie eine blos auf diesen Zweck gerichtete Organisation den Grund des Vernunftvermögens enthalte, dessen das Tier dadurch theilhaftig wird, das übersteigt offenbar alle menschliche Vernunft, sie mag nun am physiologischen Leitfaden tappen, oder am metaphysischen fliegen wollen.« (VIII 54,32–55,2) Nur wenn man eine »Technik der Natur« annehme, gelange man zu einer vernünftigen Lösung, also dem Primat der Vernunft vor der nur materiellen Natur. Die Antwort Kants auf Moscatis Paradoxie umreißt die Grundposition, die er in der geschichtsphilosophischen Bestimmung der Gattung bis zum Lebensende einnehmen wird: Der Mensch ist zum Tier- und zugleich zum Vernunftwesen bestimmt, und die Vernunftbestimmung nötigt ihn zum aufrechten Gang: »Man sieht hieraus: die erste Vorsorge der Natur sei gewesen, daß der Mensch als ein Thier für sich und seine Art erhalten werde; und hiezu war diejenige Stellung, welche seinem inwendigen Bau, der Lage der Frucht und der Erhaltung in Gefahren am gemäßesten ist, die vierfüßige; daß in ihm aber auch ein Keim von Vernunft gelegt sei, wodurch er, wenn sich solcher entwickelt, für die Gesellschaft bestimmt ist, und vermittelst deren er für beständig die hiezu geschickteste Stellung, nämlich die zweifüßige, annimmt, wodurch er auf einer Seite unendlich viel über die Thiere gewinnt, aber auch mit Ungemächlichkeiten vorlieb nehmen muß, die ihm daraus entspringen, daß er sein Haupt über seine alte Cameraden so stolz erhoben hat.« (II 425,1–12)310 Die Vorsorge der Natur bestimmt den Menschen zur Vernunft – hier wird jedem zeitgenössischen Leser indiziert, daß der Autor sich der stoischen πρόνοια-Lehre anschließt und die λόγος-Natur »unendlich« über die Tiernatur stellt. Die Vernunftnatur des Menschen führt zur physischen Organisation der Hand, die nur dem Menschen zu seinem beliebigen Gebrauch eigen ist, und sie führt zum Recht, die Tiere als Sachen zu gebrauchen. Nimmt Kant in sei156 | kapitel 

ner Moscati-Rezension den Dualismus von »mundus sensibilis« und »mundus intelligibilis« der Dissertation auf? Außer der harten Trennung zwischen der sinnlichen und der intelligiblen Bestimmung des Menschen gibt es wenigstens noch eine, für die weitere Entwicklung wichtige Übereinstimmung: Die Vernunftsphäre übt ihre gestalterische Kraft auf die sinnliche Natur aus, nicht umgekehrt. Kant wird an der These einer »unendlichen« Differenz zwischen dem Menschen und den vernunftlosen Tieren zeitlebens festhalten; sich also gegen die Kontinuums-Vorstellung der Gegner stellen, und er wird zweitens die Einwirkung der Vernunft in die vernunftlose Natur annehmen, des mundus intelligibilis der Freiheit in den mundus sensibilis der durchgängigen Determination.311 Das wird alles später genauer zu erörtern sein. Die Moscati-Rezension ist zugleich in einem zeitgenössischen Zusammenhang zu sehen, der hier nur aufs kürzeste angedeutet werden soll. Im antiken Athen und Korinth schleuderte Diogenes der Kyniker (von kuon, Hund) seiner Zeit und besonders den Oberen aus dem Faß in Hundehöhe seinen Protest und das »Zurück zur Natur« entgegen. Dem König und Eroberer Alexander, der aufrecht vor ihm stand und die Sonne verdeckte, ihm jedoch schenken wollte, was immer er wünschte, antwortete er von unten nach oben, bottom-up: »Geh mir aus der Sonne!« In Paris wurde Rousseau auf der Bühne mit einem Menschen persifliert, der zur Natur zurückgekehrt war und wieder auf allen Vieren ging; Voltaire hatte gestanden, daß er dazu beim Zustand seiner rheumatischen Glieder nicht mehr in der Lage sei.312

Gicht und Vorsatz Aus den vielfachen Belegen einer neustoischen Atmosphäre in der zweiten Hälfte des 18. Jhdts. soll noch einer herausgegriffen werden. Es ist die späte Abhandlung »Von der Macht des Gemüts, durch den bloßen Vorsatz seiner krankhaften Gefühle Meister zu werden«, abgedruckt im Streit der Fakultäten von 1798. »Ich bin gewiß, daß viele gichtige Zufälle, wenn nur die Diät des Genusses nicht gar zu sehr dawider ist, ja Krämpfe und selbst epileptische Zufälle (nur nicht bei Weibern und Kindern, als die dergleichen Kraft des Vorder stoische ursprung der bestimmungsfrage | 157

satzes nicht haben), auch wohl das für unheilbar verschriene Podagra bei jeder neuen Anwandlung desselben durch diese Festigkeit des Vorsatzes (seine Aufmerksamkeit von einem solchen Leiden abzuwenden) abgehalten und nach und nach gehoben werden könnte.« (VII 107,10–16)313 Hier ist nicht nur eine bestimmte Passage aus Ciceros Tusculanae Disputationes (II 61–62), sondern auch das virile Ethos der Stoa überhaupt präsent. Ähnlich argumentiert Kant auch in seiner Rektoratsrede von 1786: Über die Heilung des Körpers, soweit sie Sache der Philosophen ist. (XV 939–959)314 Er greift mit der Rede in die Debatte um Moses Mendelssohns plötzlichen Tod Anfang 1786 ein: Nicht ein in sich desolater Körper war der Grund für diesen Tod, sondern Mendelssohns eigene mangelhafte Fürsorge (cura) für die Gesundheit; es liegt in der Macht der Vernunft, den Körper in diätetischen Fragen gesund zu halten und seine Schwächen zu meistern.

Die Logosnatur der Embryonen und das Geschrei der Neugeborenen Der Mensch ist Person – mit dem Beginn der Schwangerschaft hat der biologisch entstehende Mensch den Status einer Rechtsperson aufgrund der Logosnatur, die keimhaft in ihm liegt. Eine schwangere Frau, die Selbstmord begeht, ermordet entsprechend zwei Personen (VI 422,9). Das Kind »tritt mit lautem Geschrei in die Welt […] weil es sein Unvermögen, sich seiner Gliedmaßen zu bedienen, für Zwang ansieht und so seinen Anspruch auf Freiheit (wovon kein anderes Thier eine Vorstellung hat) sofort ankündigt.« (VII 268,28– 31) Die Vernunftbestimmung des Menschen durchherrscht die Naturbestimmung und lässt das Neugeborene durch eine »Analogie mit dem Rechtsbegriff« (VII 269,11) gegen den vermeintlich rechtswidrigen Zwang lauthals protestieren. Vernunftlose Tiere dagegen weisen keine Keime des Rechtsbegriffs auf und betreten die Weltbühne mit schweigendem Unverständnis. Kinder haben ein Recht gegen ihre Eltern auf Versorgung, denn es sei eine »nothwendige Idee, den Act der Zeugung als einen solchen anzusehen, wodurch wir eine Person auch ohne ihre Einwilligung auf die Welt gesetzt und eigenmächtig in sie herübergebracht 158 | kapitel 

haben; für welche That auf den Eltern nun auch eine Verbindlichkeit haftet, sie, so viel in ihren Kräften ist, mit diesem ihrem Zustande zufrieden zu machen.« (VI 281,1–6) Hier geht also von der Vernunftnatur – »wie durch einen Machtspruch der Vernunft« (VI 280,30) – ein kategorischer Imperativ aus, der aus dem Naturakt der Zeugung eine Rechtspflicht gegen eine Person erwachsen lässt.315 Die Hand des Menschen als eines vernünftigen Tieres ist zur beliebigen Handhabung der Naturdinge bestimmt, die Vernunft bestimmt ihn zum aufrechten Gang, sodann zur sittlichen Autonomie und im Aufklärungsprogramm zum Selbstdenken. Wir können dieser Bestimmungsskala eine weitere Stufe hinzufügen. In der Rechtslehre wird entwickelt, daß alle Menschen als Personen geboren werden; entsprechend ist ihnen die gesetzliche Freiheit und durch diese die Gleichheit angeboren.316 Die Staatsbürger stehen dadurch qua freie und gleiche Weltbürger unter gleichgeltenden Freiheitsgesetzen; sie sind jedoch nicht schon als solche fähig und ergo befugt, selbst als Gesetzgeber zu fungiern; bei Kleinkindern ist dieser Ausschluß evident; Kant zählt zu den natürlichen Kindern auch die Frauen317 und die »Staatsgenossen«, die nicht ökonomisch selbständig sind. Die männlichen unselbständig Tätigen müssen jedoch ihre Vernunftbestimmung, nur selbstgegebenen Gesetzen unterworfen zu sein, realisieren können; entsprechend gilt für die staatliche Gesetzgebung in der Republik, daß zwar alle »fordern können, von allen Anderen nach Gesetzen der natürlichen [sc. vernunftrechtlich angeborenen, RB] Freiheit und Gleichheit als passive Theile des Staats behandelt zu werden«, aber daraus folge nicht das Recht, »auch als active Glieder den Staat selbst zu behandeln, zu organisiren oder zu Einführung gewisser Gesetze mitzuwirken: sondern nur daß, welcher Art die positiven Gesetze, wozu sie stimmen,318 auch sein möchten, sie doch den natürlichen der Freiheit und der dieser angemessenen Gleichheit Aller im Volk, sich nämlich aus diesem passiven Zustande zu dem activen empor arbeiten zu können, nicht zuwider sein müssen.« (VI 315,13–22) Jeder naturaliter dazu befähigte passive Bürger muß also das Recht haben, sich zum aufrecht-selbständigen Gang im Staat selbst »empor arbeiten« zu können und seiner Vernunftbestimmung zu entsprechen, im Rahmen der äußeren Freiheitsgesetze Gesetzgeber zu sein.319 Durch das stoisierende Prinzip des Emporarbeitens zur Selbständigkeit des der stoische ursprung der bestimmungsfrage | 159

Staatsbürgers und die Rechtspflicht, eben dies mithilfe staatlicher Gesetzgebung zu ermöglichen, vermeidet Kant, daß die bürgerliche Gesellschaft der passiven und aktiven Staatsbürger zu einer Zweikasten- und Klassengesellschaft erstarrt. Aristoteles ringt mit demselben Problem im III. Buch seiner Politik, Platon löst es durch eine komplizierte Lüge der Regierenden, um geeignete Kandidaten aus dem unteren Stand für die obere Klasse auszuwählen.320 Bei Kant führt der eigene effort in der bürgerlich-ökonomischen Gesellschaft zum Aufstieg auch in der bürgerlich-politischen Gesellschaft, die eigene Vernunftanstrengung führt über die pragmatische zur rechtlichen Autonomie. Jede Rückbindung an eine kluge Lüge der Regenten oder an ererbte Privilegien entfällt, der aktive Staatsbürger ist in seinem Bestimmungsprofil nicht nur Teil321, sondern ein Glied der Gesellschaft, ein eigenständiger »self-made-man«.

Anthropozentrik Sich über anthropozentrische Ideen zu entrüsten oder zu mokieren, gehört zum guten Ton der wechselnden Zeiten. Alexander Pope fasst 1733–1734 die Quintessenz der Entrüstung in seinem Essay on Man so zusammen: »Know, Nature’s children divide her care; The fur that warms a monarch warm’d a bear. While man exclaims, ›See all things for my use!‹ ›See man for mine!‹ replies a pamper’d goose: And just as short of reason he must fall, Who thinks all made for one, not one for all.«322 Da wird sich ein Streit um die Gänse und die Mäuse und die Zwecke zwischen Voltaire und Albrecht von Haller anschließen.323. Goethes Kommentar: Wozu diene denn »alle der Aufwand von Sonnen und Planeten und Monden, von Sternen und Michstraßen, von Kometen und Nebelflecken, von gewordenen und werdenden Welten, wenn sich nicht zuletzt ein glücklicher Mensch unbewußt seines Daseins erfreut.«324 Kant ist Anthropozentriker wie Goethe, und wie dieser sagt er nicht mehr, wie viele christliche Autoren es taten, daß zwar im Universum alles auf den Menschen ausgerichtet sei, aber nur 160 | kapitel 

deswegen, weil einzig der Mensch Gott erkennen und ihm huldigen kann.325 Damit stünde im metaphysischen Dreieck (Mensch, Welt, Gott) nicht der Mensch, sondern Gott an der Spitze. Die menschliche Existenz, der bei Kant alles auf Erden und im Universum dient, ist ihrerseits nicht mehr für den Gottesdienst bestimmt; diese Abwendung ist durch die Praxis-Bestimmung des Menschen möglich, nicht zum Lobsingen und Beten, sondern zum Arbeiten und Handeln ist der Mensch geboren. Kants Konzept ist damit nicht atheistisch, denn die Stellung des Menschen im Kosmos ist das Werk der göttlichen Vorsehung. Kant: »[…] daß ohne den Menschen die ganze Schöpfung eine bloße Wüste, umsonst und ohne Endzweck sein würde.« (V 442,20– 22) Diese Auffassung gibt es in der Vulgärsokratik,326 aber in keiner anderen philosophischen Richtung der Antike außer in der Stoa.327 Sie kommt durch die scharfe Zäsur zwischen den Menschen (und Göttern) auf der einen Seite und allen übrigen Naturdingen auf der anderen und durch die Annahme einer durchgängigen Abzweckung von allem auf die Logoswesen, d. h. neben den Göttern auf die Menschen. Alles andere, das Üble und Gute, das Belebte und Unbelebte, richtet sich in seiner Zweckbestimmung faktisch auf die Menschen und ist von ihnen nach Gutdünken als Sache zu gebrauchen. Die Sonderstellung des Menschen verbietet es, von einer »scala naturae«, einer »Stufenleiter der Geschöpfe« zu sprechen, denn das Kontinuum bricht mit den Tieren ab, und der Mensch folgt erst nach einer »unendlichen Kluft« nach eigenen Regeln. Genau hier platziert sich Rousseaus Stichwort der »perfectibilité«: Ausschließlich dem Menschen kommen das aus der Natur nicht ableitbare Bewusstsein der Freiheit, die Spiritualität der Seele und die »faculté de se perfectionner« zu, wie es im 2. Discours heißt.328 Die Vorstellung der Selbstvollendung, des »perfectibilis«, ist zwar bekannt aus dem mittelalterlichen Aristotelismus und der Lehre, alles Lebendige tendiere zur »perfectio« und sei somit perfektibel,329 aber eben ohne die Zäsur zwischen den übrigen statischen Wesen und den sich selbst vervollkommenden Vernunftwesen. Diese Erneuerung des stoischen Dualismus unter dem Eindruck des Fortschritts der Menschen hat revolutionäre Folgen für die Anthropologie, die entstehende Geschichtsphilosophie und die Wissenschaften der belebten Wesen, die spätere Biologie. Hier nur ein der stoische ursprung der bestimmungsfrage | 161

herausgegriffener Punkt. Die Philosophie, die Kant gegen die alte Metaphysik entwickelt, soll zwei Sachgebiete enthalten: Physik und Ethik (dazu IV 387,2–16).330 Entsprechend gibt es eine Metaphysik der Natur und eine Metaphysik der Sitten, und entsprechend, so ließ sich vermuten, werden die Vorlesungen zur physischen Geographie und pragmatischen Anthropologie ab 1772–1773 parallel geführt.331 Im übrigen gilt die stoische Maxime: »Alles, was die Natur selbst anordnet, ist zu irgend einer Absicht gut. Selbst Gifte dienen dazu, andere Gifte welche sich in unseren eigenen Säften erzeugen, zu überwältigen.« (A 743) In der KpV wird gehandelt »Von der der praktischen Bestimmung des Menschen weislich angemessenen Proportion seiner Erkenntnisvermögen.« (V 146,14–16) Wir werden bei der Erörterung der Teleologie in der KdU zwei Formen der durchgängigen Finalität unterscheiden; die erste ist die der Technik der Natur und der theoretisch reflektierenden Urteilskraft, die sich insgesamt auf die niedere Natur und den Menschen als Naturwesen beziehen, die zweite dagegen die Bestimmung des Menschen, die die Vernunftnatur zum Gegenstand hat.

Die Zweiweltenlehre »Die alte griechische Philosophie theilte sich in drei Wissenschaften ab: Die Physik, die Ethik und die Logik.« (IV 387,2–3) Die ersten beiden Disziplinen seien material, die letzte formal. »Auf solche Weise entspringt die Idee einer zwiefachen Metaphysik, einer Metaphysik der Natur und einer Metaphysik der Sitten.« (IV 388,9–10) Die Einteilung, die Kant der griechischen Philosophie zuweist, ist weder für Platon noch Aristoteles relevant, und sie widerspricht fundamental der vierteiligen neueren Metaphysik; sie wird dominant in der hellenistischen, auch Augustinischen Philosophie und in der Moderne der Neuzeit. John Locke: Die Wissenschaften teilen sich ein in Physik, Ethik und Logik oder Semiotik.332 Bei Kant selbst läßt sich diese Struktur zurückverfolgen bis 1765–1766. In den Träumen eines Geistersehers, erläutert durch Träume der Metaphysik (1766) gibt es neben der materiellen Welt einen »mundus intelligibilis« (II 329,34) der Sittlichkeit, so daß wir Menschen Bürger zweier 162 | kapitel 

Welten sind. »Die menschliche Seele würde daher schon in dem gegenwärtigen Leben als verknüpft mit zwei Welten zugleich müssen angesehen werden, […].« (II 332,15–17) Die Geisteswelt wird Rousseau, die Sinnenwelt wird Newton im ernst gemeinten Scherz zugeteilt: »Dadurch sehen wir uns in den geheimsten Beweggründen abhängig von der Regel des allgemeinen Willens, und es entspringt daraus in der Welt der denkenden Naturen eine moralische Einheit und systematische Verfassung nach bloß geistigen Gesetzen.« (II 335,8–12)333 Und Newton nannte »das sichere Gesetz der Bestrebungen aller Materie sich einander zu nähern die Gravitation derselben […]« (II 335,16–17)334. So gibt es ein Einheitsgesetz sowohl im mundus intelligibilis wie auch im mundus sensibilis, damit aber sind wir bei den beiden Gegenständen der neuen, gegen Christian Wolff gerichteten Metaphysik, der Metaphysik der Sitten und den Natur angelangt. 1767 ist von der »Metaphysik der Sitten« (X 74,17–18) die Rede, deren Gegenpart ist die Metaphysik der Natur. 1773: »[…] alsdenn gehe ich zur Metaphysik die nur zwey Theile hat: die Metaphysik der Natur und die Metaph: der Sitten wovon ich die letztere zuerst herausgeben werde und mich darauf zum voraus freue.« (X 145,19–22) Der Titel der Dissertation von 1770 ist irritierend vieldeutig: De mundi sensibilis atque intelligibilis forma et principiis. Der Weltbegriff, den wir eben in den Träumen fanden, kündigt eine Schrift zur Kosmologie an, dann aber wird die eine Welt nach den beiden subjektiven Erkenntnisvermögen von Sinnlichkeit und Verstand aufgeteilt, wobei offen bleibt, ob die Welt oder Welten auf unsere Erkenntnisvermögen zukomponiert sind – handelt es sich bei der doppelten Welt um zwei Welten oder um zwei Aspekte einer Welt? Der im Titel folgende Formbegriff ist eher der Sinnlichkeit zuzurechnen, die Prinzipien dem Intelligiblen,335 wobei in der Schrift selbst zwei Formen der Sinnlichkeit und damit der Sinneswelt vorgestellt werden, Raum und Zeit, also eigentlich »formis et principiis«. Der Weltbegriff als solcher führt nicht auf die zwei Erkenntnisstämme des menschlichen Subjekts, und umgekehrt verweisen Sinnlichkeit und Verstand nicht ohne weiteres auf den Kosmos, denn in der Tradition, in der Kant die Dualität von »sensibilis« und »intelligibilis« zurückdatiert,336 ist von einer zugeordneten Welt nicht die Rede, sondern von zugeordneten Objekten. der stoische ursprung der bestimmungsfrage | 163

Das Ergebnis wird lauten: Es ist eine Welt (immer »mundus«, nie »mundi«) mit einem, für sinnlich affizierte Vernunftwesen wie uns Menschen, notwendigen sinnlichen und intelligiblen Aspekt, und es sind zwei Welten, der mundus sensibilis und der mundus intelligibilis; in diesem letzteren Fall muß es eine weitere substantielle Fundierung geben, die die Einheit der beiden Welten gewährleistet, denn daß sie realiter völlig getrennt sind, scheidet durch den identischen Weltbegriff von vornherein aus. Die Rückführung auf die Erkenntnisvermögen des Subjekts ändert nichts an dieser doppelten Interpretationsmöglichkeit. Während der mundus intelligibilis der Dinge an sich 1770 noch als erkennbar gilt (als Welt von eigentlich isolierten Substanzen, die durch Gott in eine gesetzliche Verbindung gebracht werden)337, lehrt die KrV ihre theoretische Unerkennbarkeit. Das Feld der theoretisch unerkennbaren Dinge an sich wird 1781 bzw. in der GMS besetzt vom Willen unter dem Freiheitsgesetz – nichts Neues, sagt der Leser der Träume, denn so sahen die beiden Welten schon 1765–1766 aus. In der erkennbaren Erfahrungswelt gelten die Landmarken der Natur zur Orientierung, in der Welt der Freiheit orientiert uns dagegen der Kompaß der Moral. Die KdU wird die Einheit des bestirnten Himmels über uns und des moralischen Gesetzes in uns, der phaenomena also und der noumena, der Erscheinungen und der Dinge an sich, thematisieren, immer genauestens bemüht, jeden Anschein von Spinozismus zu vermeiden. Häufig nimmt Kant die Position der zwei Aspekte ein, häufig trennt er jedoch die beiden Welten von Erscheinung und Ding an sich.338 Die doppelt interpretierbare Zweiheit der Welt ist der Reflex eines grundsätzlichen Problems der subjektivistischen Wende, die damit vollzogen wird, daß Raum und Zeit ihren ontologischen Status einbüßen und als Formen der Sinnlichkeit des Subjekts dechiffriert werden; damit wird zwar die Antinomie im Weltbegriff lösbar, aber jetzt bleibt die Frage: Worin besteht die Objektivität unserer subjektiven Erkenntnis? Sie kreiert keine eigene Welt, sondern muß sich auf etwas von ihr Unabhängiges beziehen, auf Erscheinungen, nämlich eines Dinges an sich; aber wie soll das möglich sein, wenn Erkenntnis nicht in gestammelten Assoziationen besteht, sondern in der legitimen Behauptung notwendiger Zusammenhänge? Darauf wird später einzugehen sein. 164 | kapitel 

Der viergliedrige Metaphysikpalast wird zermalmt und abgerissen, nachdem er als Traumgebilde verhöhnt und Wolff als Mitgenosse Swedenborgs bloßgestellt war. Wird die Grenze der menschlichen Erkenntnis überschritten, dann gibt es somnambule Antworten auf falsch gestellte Fragen. Der zweigliedrige Neubau stellt die Physik an den Platz, der vorher der Ontologie gehörte, und die Ethik nimmt den Platz der metaphysica specialis ein, nachdem die drei alten Disziplinen als unzulänglich und dialektisch-zerstritten vorgeführt waren. Die Logik wird aus dem Umbau herausgenommen, aber als Grundlage benötigt, so daß das stoische Konzept von Logik, Physik und Ethik das Erbe der alten scholastischen Metaphysik antreten kann. Blicken wir auf die stoische Tradition der Neuzeit, so stellt sich genau dieses Phänomen dar: Die Sachdisziplinen zerfallen in Physik und Ethik, und wie bei Kant wird die letztere durch den Glauben an einen transzendenten Gott und die Unsterblichkeit ergänzt: ein festes neustoisches Schema.339 Kant legt Wert auf die Feststellung, daß die Unterscheidung des Sinnlichen und Intelligiblen antik und nicht neuzeitlich ist. Die erstere erfasse die Objekte unter der subjektiven Restriktion unserer besonderen Sinnlichkeit, die zweite dagegen »sicuti sunt« (II 392,29). Hier »sensibile«, dort »intelligibile«. »Prius scholis veterum phaenomenon, posterius noumenon audiebat.« (II 392,18–19) »[…] nobilissimum illud antiquitatis de phaenomenorum et noumenorum indole disserendi institutum« (II 395,11–12). Auch in dem Abschnitt »Von dem Grunde der Unterscheidung aller Gegenstände überhaupt in Phaenomena und Noumena« in der KrV (A 235–260) wird kein antiker Autor genannt; und es wird der Lehre der Antike nur ein allgemeines »in den Schriften der Neueren« (A 256) entgegengestellt, wobei sowohl die Rationalisten (Leibniz – Wolff ) wie auch die Empiristen (Locke) gemeint sind, die beide eine graduelle Stufung zwischen Sinnlichkeit und Verstand und deren Objekten annehmen, eine Stufung, die dem Weg vom Dunklen und Verworrenen zum Klaren und Deutlichen entspricht. Kant dagegen: Es gibt eine klare und deutliche Erkenntnis auch des Sinnlichen, etwa in der Geometrie, und es gibt Situationen, in denen intelligible Begriffe wie die des Rechts höchst dunkel und verworren sind. In der entscheidenden Abkehr von der neuzeitlich-mittelalterlichen der stoische ursprung der bestimmungsfrage | 165

Metaphysik und der Grundlegung der sog. kopernikanischen Revolution greift Kant auf die durch Winckelmann aufgewertete Antike zurück.340 Die von ihm selbst als klassisch begriffene Unterscheidung des Sinnlichen und Intelligiblen, neu in den beiden Erkenntnisstämmen der Sinnlichkeit und des Verstandes begründet, ist schon von Zeitgenossen als die Geburt des Idealismus aus dem Geist der platonischen Philosophie begriffen worden, die Filiation dieser Meinung führt von Aenesidemus Schulze und seinem Schüler Arthur Schopenhauer341 zum Neukantianismus. Hier wurde die Linie Platon – Newton – Kant – Cohen gezogen,342 Paul Natorp, der zweite bedeutende Neukantianer, schrieb ein kantianisierendes Platon-Buch, in dem die Ideen als Gesetze gefasst wurden und so Platon wiederum kantianisiert wurde. So gab es für die nachfolgende Forschung eine feste Achse, die Kant mit Platon verband. Platon wird jedoch im Zusammenhang der beiden Erkenntnisstämme nicht genannt, obwohl, wie Kant wußte, der Kontrast von »sensibile« und »intelligibile« ein entferntes Echo aus Platons Politeia ist, gerade aus der Passage, in der Platon die Ideenlehre einführte und von nooumena und horomena sprach.343 Und es wird Platon in der Dissertation auch genannt: »Maximum perfectionis vocatur nunc temporis ideale, Platoni idea (quemadmodum idea reipublicae) […].« (II 396,11–13) Kant ist jedoch in doppelter Hinsicht Anti-Platoniker. Die Sinnenwelt war von vornherein anti-platonisch eingestellt, denn es gibt durch die neue Kreation der reinen Form von Raum und Zeit, denen Platon eine exakte Erkenntnis gerade abgesprochen hatte, eine Wissenschaft des Sinnlichen; Kant versucht auf diese Weise die neuzeitliche mathematische Naturwissenschaft philosophisch zu begründen. Und nach 1770 wird komplementär die moralische Welt von allen Relikten des Platonismus und einer Prärogative der Erkenntnis befreit, indem sie ausschließlich dem Willen zugewiesen wird, der sich bei seinem Machtspruch »sic volo, sic iubeo, stat pro ratione voluntas« alle theoretische vorhergehende Belehrung verbittet. Mag die Vorstellung einer IdealRepublik immer auf Platons Polis-Idee zurückgehen, die Grundlage ist für den kritischen Kant der freie Wille bzw. die reine praktische Vernunft, nicht die Ideenlehre des Guten. Entsprechend versagt Platon auf beiden Gebieten: Er entzieht dem Sinnlichen nach Kant 166 | kapitel 

fälschlich die Erkennbarkeit, und er gerät beim Intelligiblen auf den Abweg einer theoretischen Erkenntnis dessen, was nur der praktischen Vernunft und ihrem Freiheitsgesetz zugänglich ist. Die KrV ist also eine doppelte Widerlegung Platons, indem die Analytik die Möglichkeit einer exakten Wissenschaft der sinnlichen Erfahrungswelt eröffnet und die Dialektik die Prätentionen spekulativer Erkenntnis des Intelligiblen abweist. Weil Platon die Erkenntnisgrenze der Menschen überschritt, kann er als Schwärmer bezeichnet werden.344 In der Auseinandersetzung mit den »vornehmen« Philosophen Schlosser und Jacobi, die sich im aufkommenden Platonismus der neunziger Jahre auf Platon berufen, erklärt sich Kant zum Antiplatoniker und Aristoteliker (VIII 393), sicher im Anschluß an Leibniz’ Vorrede der Nouveaux Essais mit der Zuordnung seiner Philosophie zu Platon und der Lockeschen zu Aristoteles.345 Trotzdem wird die gesamte Ideenlehre der reinen Vernunft unter Platons Schirmherrschaft (vgl. bes. A 313 ff.) gestellt; auch dies ist eine vage Zuweisung mit dem Zweck, die bedeutenden Philosophen der Vergangenheit in der eigenen »Summe«, der »Philosophie der Philosophie«, aufzuheben und ihren jeweiligen Platz zuzuweisen. Von Platon stammt ein jedoch stark modifizierter Formbegriff, ohne den die Kantische Philosophie nicht denkbar ist und der sicher nicht aus dem Hellenismus kommt. Aber dies war unsere Prämisse: Kant ist Eklektiker mit Elementen aus vielen Lehren und einer stoischen Grundtönung.

Stoisch-kantische Verweigerung: Die Ausklammerung des technischen Fortschritts Man spürt den Atem des Fortschritts, des Aufwärtsschreitens in die Zukunft bei Kant fast überall, es ist der Fortschritt der Menschheit und der Metaphysik, der Kultivierung, der Zivilisierung und der Moral. Man entdeckt jedoch rasch, daß auch der Fortschritt, zu dem die Natur den Menschen zwingt und den die Vernunft gebietet, nur in der letzteren, der Moral, ihr Ziel und ihren Wert hat. Der neue Fortschritt von Ökonomie und Technik, der von Francis Bacon und von Wolff, von den französischen Enzyklopädisten und den schottischen Ökonomen und Philosophen mit Neugier verfolgt und geder stoische ursprung der bestimmungsfrage | 167

fördert wurde, wird von Kant kaum beachtet. Nie ist davon die Rede, der Mensch sei zur Herrschaft über die Natur bestimmt.346 Der Leser der genannten Autoren nimmt also mit Erstaunen wahr, daß der Fortschritt aller Fortschritte, der Fortschritt der Technik und der Ökonomie, der Herrschaft des Menschen über die Natur, praktisch an keiner Stelle notiert wird. Europas Siegeszug über die anderen Kulturen auf diesem Globus wird ermöglicht durch die Technik des Schiffsbaus und der Waffen; umgekehrt finanziert das Raubgut aus den Kolonien einen Teil der europäischen Kultur – von all dem kaum ein Wort bei Kant. Die Ablösung der Zünfte auch in Königsberg durch eine neuartige Industrieproduktion, der neue Typ der Arbeitsteilung, den die Encyclopédie und auch Adam Smith an der Produktion von Nägeln (épingles, nails) exemplifizieren,347 die rechtliche Stellung des Industriearbeiters, der nicht mehr zur Hausgesellschaft gehört, das alles ist kein Thema bei Kant. Die Hinweise zu technischen und spezifisch ökonomischen Problemen lassen sich vermutlich auf einem DIN-A-4-Blatt unterbringen – die eigentliche Bestimmung des Menschen kann nicht im technischen Wissen und in der Verbesserung der Produktion und Zirkulation und am Ende im Konsum von Waren liegen. Daß die kritische Philosophie trotzdem die Prinzipien einer liberalen, gegen den Staatsmonopolismus gerichteten Wirtschaftsauffassung formuliert, lässt sich u. a. am Leitfaden des imperativischen »Selbst« leicht zeigen. Das im Streit der Fakultäten (1798) zitierte Prinzip des »laissez faire, laissez aller« (VII 19–20, »laß uns [selbst] machen«) findet seine juridische Form im Privatrecht und im Öffentlichen Recht, das eine republikanische, auf eigener Glücksfürsorge der Bürger berechnete bürgerliche Gesellschaft vorsieht. Der Gerichtshof der KrV ist eine Einrichtung freier Bürger, also eines liberalen, nicht-despotischen, nicht-paternalistischen, nicht-merkantilistischen Staats. Es wird weder sentimental eine größere Naturnähe der früheren Menschen zurückgesehnt noch wird rational überlegt, wohin die wissenschaftsgestützte progredierende Technik führen wird. Alle Kultur und Zivilisation und mit ihnen die bisherige Menschheitsgeschichte gehören zur Naturgeschichte der Menschheit. Mit dieser Hintergrundannahme wird sich der technische Fortschritt immer in dem Rahmen bewegen, der der Moralisierung der Menschen und damit ihrer Vernunftbestimmung zuträglich ist. Die beiden empiri168 | kapitel 

schen Vorlesungen über die Physische Geographie und Pragmatische Anthropologie erwecken den Eindruck, daß die Technik, die die empirische Erkenntnis der Erdkugel und damit der Grundlage einer globalen Friedensordnung als dem Rechtsziel der Menschen ermöglicht, ihr Naturziel erreicht hat und daß sich diese Instrumente des Menschen in einigen Bereichen perfektionieren mögen, aber keine wesentlichen Fortschritte mehr nötig sind und also wohl auch nicht stattfinden werden. Die Stoiker hielten nichts von der Technik und einer hochgradig arbeitsteiligen Ökonomie, und Kant stimmt ihnen stillschweigend zu, ohne je in eine nostalgische Technikfeindschaft zu geraten. Vielleicht darf man in diesem Zusammenhang daran erinnern, daß Königsberg als freie Hansestadt gegründet wurde, daß es eine florierende Wirtschaftsmetropole war, an der sich Berlin nicht messen konnte, daß es eine vorzügliche Kooperation zwischen den Latifundien der Umgebung, der Stadt und den benachbarten Nationen gab, so daß Innovationen der Technik und Umschwünge in der Ökonomie keine Rolle spielten, als ob die Natur dieses Gleichgewicht selbst gewollt hätte.

Antistoische Elemente in der Kantischen Philosophie Die Formenlehre Man kann mit Fug und Recht die Kantische Philosophie als FormPhilosophie bezeichnen;348 Kant benutzt den Begriff der Form von den frühesten metaphysischen Schriften bis ins Opus postumum als selbstverständlichen »Reflexionsbegriff« (A 266–268) in der festen Opposition gegenüber der Materie (die ihrerseits nicht materieller Natur zu sein braucht); die Form steht mit der subjektivistischen Wende auf der Seite des tätigen Subjekts, das das ihm gegebene Mannigfaltige der Sinne seinen Anschauungs- und seinen Denkformen unterwirft und dadurch erst in den Status wirklicher Erscheinungen versetzt. »Nam per formam seu speciem obiecta sensus non feriunt; […]«. (II 393,7–8) Die praktische Philosophie und die Ästhetik sind Formgebungslehren. Der Formbegriff geht jedoch über die Schulmetaphysik der stoische ursprung der bestimmungsfrage | 169

(VIII 404,13) auf Platon und Aristoteles, nicht auf die Stoa zurück. Immer gilt »forma dat esse rei«349, so wie bei Platon und Aristoteles die hyle erst durch das eidos zu einem wirklichen Ding werden kann. Im Gegensatz zur platonischen oder aristotelischen idea oder dem eidos ist die Kantische Form jedoch keine subjekt-objekt-neutrale Entität, sondern ist ein Ausstattungsstück des Subjekts. Die Affektion durch das Mannigfaltige oder Ding an sich ist ein transzendentaler Gedanke, kein wirklicher Vorgang. Raum und Zeit, so die neuartige Theorie ab 1770, sind subjektive Anschauungsformen; dieser Akt der Versubjektivierung lässt sich wiederum auf der Folie der stoischen oikeiosis als eine »appropriatio«350 oder auch »Einverleibung« (A 76) beschreiben; wie mir nach Descartes das »Ich denke« irrtumsimmun zugänglichlich ist, so nach Kant die subjektiven Formen der Anschauung und des Denkens, die die Bedingungen der Möglichkeit meiner Erfahrung sind und als formale Anschauung irrtumsimmun in der Geometrie und Zeitlehre erkannt werden. In der Stoa gewährleistet die Rückkehr des Menschen zur Natur in der Gestalt des Weisen die Wahrheit seiner Erkenntnis; bei Kant liegt die »Wahrheit« in der Formgebung des urteilenden Subjekts. Dies wird besonders deutlich in der Ästhetik der KdU; das ästhetische Urteil wird dadurch mitteilbar und notwendig auch das Urteil aller anderen, daß es gänzlich entprivatisiert nur noch Ausdruck der apriori allgemeinen Form ist, womit die geforderte Einstimmung aller anderen, wenn sie nur die Störung (das »affici«) von Reiz und Rührung abblenden können, notwendig gewährleiset ist. Hierdurch stellt sich jedoch die kritische Ästhetik in einen schroffen Gegensatz zu Baumgarten und Herder, die in der Formgebung des sinnlichen Materials einen Akt der verarmenden Abstraktion sehen.351 Bei Kant hat umgekehrt die Form eine welterschließende Funktion und ist zwar abstrakt, aber nicht abstrahiert, d. h. nicht durch Abstraktion gewonnen (II 394,15–28). Daßelbe gilt für den sittlich Handelnden, der seine Maxime als formales Gesetz zu fassen versucht und, wenn das Gedankenexperiment mißlingt, auf die nach dieser Maxime geplante Handlung verzichtet, sonst aber an ihr festhält; das entprivatisierte Gesetz ist seinerseits notwendig das Urteil aller anderen, die daßelbe Experiment vornehmen. Der Begriff der Universalisierung von Maximen 170 | kapitel 

trifft diesen Kern der notwendigen Form nicht, weil universell auch der zufällig gleiche materiale Privatwahn aller sein kann. Es wird wie in den anderen Bereichen der Form-Philosophie zu klären sein, auf welche Weise die Form die Welt der Erkenntnis, der Ästhetik und des Sittlichen erschließt und sich damit in die Platonisch-Aristotelische Tradition stellt. In der Mitte der siebziger Jahre stand Kant vor der Aufgabe, die schon fertige Lehre der Form der Anschauung (Raum und Zeit) und die ungefähr fertige Lehre der Formen des Denkens und Erkennens (Urteils- und Kategorientafel) in das kritische Projekt zu integrieren. Das Ergebnis ist die KrV, in der die transzendentale Ästhetik und transzendentale Logik relativ selbständige Blöcke bilden, die nur an wenigen Stellen in die Lehre vom Zweck des Ganzen und die »ganze Bestimmung des Menschen« integriert werden. Es steht jedoch apriori fest, daß die Dopplung von Anschauung und Verstand für unser Erkennen zweckmäßig sein und sich in die Teleologie der menschlichen Vernunft fügen muß.

Die Transzendentalphilosophie Transzendental sind diejenigen Bestimmungen, die unmittelbar (Raum, Zeit, Kategorien, Ich denke) oder mittelbar (Ideen der Vernunft) objektive Erfahrung ermöglichen. Die Transzendentalien sind daher weder im Äußeren noch im Inneren erfahrbar oder vorstellbar oder nach den Maßregeln der KrV erkennbar, sondern nur durch Begriffe denkbar. »Der Raum ist kein Gegenstand möglicher Erfahrung.« (XXII 194,17) Daßelbe gilt für die Zeit und damit die Zahlen und z. B. die Kausalrelation, die als solche denkbar, aber nicht vorstellbar und nicht erfahrbar ist. Fichte schreibt in der Einleitung seines Versuch einer neuen Darstellung der Wissenschaftslehre (1797–1798): »Merke auf dich selbst: kehre deinen Blick von allem, was dich umgiebt, ab, und in dein Inneres; ist die erste Foderung, welche die Philosophie an ihren Lehrling thut. Es ist von nichts, was außer dir ist, die Rede, sondern lediglich von dir selbst.«352 Das »Ich denke« der transzendentalen Apperzeption kann dagegen kein Gegenstand der Selbsterfahrung werden, sondern gehört zu den in der begrifflichen Reflexion thematisierbaren Bedinder stoische ursprung der bestimmungsfrage | 171

gungen aller, der inneren und der äußeren, Erfahrung. Dieses Ich ist der Introspektion des Ich selbst also genauso entzogen wie der Raum der äußeren Anschauung in der »Transzendentalen Ästhetik«. Die transzendentalen Bestimmungen werden nicht aus der Erfahrung abstrahiert, sondern werden bei Gelegenheit der Erfahrung (»occasione experientiae«, II 395,22–23) gewonnen, sie sind in der Reflexion für sich thematisierbar und lassen sich in ihrer Zweckfunktion als Bedingungen möglicher Erfahrung erweisen. Für sich thematisierbare rein intelligible Begriffe kennt die stoische materialistische Philosophie nicht, daher gehört die Transzendentalphilosophie nicht zu ihrer Tradition. Kants praktische Philosophie ist kein Teil der Transzendentalphilosophie, weil sie ihre Formen nicht bei Gelegenheit der Erfahrung »aufweckt«353, sondern umgekehrt gegen Widerstände in die Erfahrung überführt.

Die Integration anderer antiker Schulen und Systeme Von Aristoteles stammt die Logik (B VIII); der Lehrbuchtradition der aristotelischen Logik verdankt sich die Gliederung der gesamten Schrift in Elementarlehre und Methodenlehre, die Dreiheit von Begriff, Urteil und Schluß, die die Urteilstafel und die Anlage von Analytik und Dialektik bestimmt,354 sodann die Kategorienlehre, die nach Kant aus ihrer kontingenten Aufzählung bei Aristoteles (A 81) in eine disziplinierte Ordnung überführt wird. Insgesamt lässt sich Aristoteles die Verstandeslehre zuweisen, dann folgt Platon mit der reinen Vernunft und ihrer korrigierten Ideenlehre (A 313). Die Trennung von Begriff und Idee, die Kant ab der zweiten Hälfte der siebziger Jahre systematisch vertritt, bezieht sich nach ihm historisch auf Aristoteles und Platon. Die Vorstellung einer scheinbaren, wiewohl natürlichen Dialektik der reinen Vernunft orientiert sich außer am modernen Rechtsverfahren an der pyrrhonischen Skepsis, besonders die Isosthenie von These und Antithese in der Antinomie der Vernunft ist gemäß dem Verfahren der Pyrrhoniker konzipiert. Und Epikur? Wenn Kant die Grundsätze des reinen Verstandes gemäß den Kategorien der Relation nach der Trias von Substanz, Kausalität und Wechselwirkung darstellt, dann bleibt als Gegenstand, mit dem es die Erfahrung wissenschaftlich zu tun hat, 172 | kapitel 

eigentlich die materielle Natur Epikurs als einzig denkbare übrig, modifiziert um eine dynamische Monadologie anstatt der materiellen Atome. Die Kategorientafel und die Grundsätze entscheiden: Kant ist – vielleicht paradoxerweise – mit Epikur Physikalist. Epikur erhält sodann mehr beiläufig eine Statistenrolle in den »Grundsätzen« im Hinblick auf die Antizipation der Wahrnehmungen (A 166–167). Kant sieht in ihm weiter explizit einen konsequenten Empiristen und damit den einzigen wirklichen Opponenten Platons: Epikur vertrete, wie wir seit dem 19. Jahrhundert sagen würden, ein offenes, Platon dagegen ein geschlossenes Weltbild (A 471–472). Und die Stoa? Wir lassen hier in der Erkenntnislehre zunächst ihren Platz offen. In der KrV gibt es nur einen Satz zum Stoizismus, und zwar in praktischer Hinsicht: »Der Weise des Stoikers ist ein Ideal, d. h. ein Mensch, der bloß in Gedanken existiert, aber mit der Idee der Weisheit völlig kongruiert.« (A 569) Die Stoiker sind klarerweise in der Moralphilosophie präsent (V 111,25 u. ö.), sodann unausgesprochen in der Naturteleologie der KdU355 und damit in der gesamten Geschichtsphilosophie. Kant hat offenbar versucht, die bisherige Philosophie, besonders die der Antike, in die KrV zu integrieren und damit im Hegelschen Sinne aufzuheben. Seine Koordination der divergierenden Meinungen in seinem System ist ein Meisterwerk der Architektonik und der Politik – keiner der genannten Philosophen kann gegen Kant ins Feld geführt werden, denn er hat sie, so die Konzeption, in ihrer eigentümlichen Intention erkannt und in seine Philosophie der Philosophie integriert.

Explizite Abweise stoischer Lehrmeinungen Erstens: Der wichtigste Punkt der neuzeitlichen Distanzierung von der Stoa ist deren Hoffnungslosigkeit; ohne christliche Hoffnung auf Unsterblichkeit bleibe der stoische Rigorismus illusorisch, der stoische Weise sei im Grunde ein Narr und seine Forderung eine Chimäre. Der rigorosen Pflichterfüllung nachzukommen sei töricht, wenn sich mit dieser Haltung nicht die Hoffnung verbinde, nach dem Tod ein der eigenen Sittlichkeit proportioniertes Glück zu erlangen. Die Stoiker mögen deklamieren, daß die Tugend ihr der stoische ursprung der bestimmungsfrage | 173

eigener Lohn sei; auf dieser Grundlage werde jedoch vernünftigerweise niemand sein Leben aufs Spiel setzen. Die vernunftlose Vernunftforderung werde entsprechend auch nicht befolgt, sondern bleibe ein hohles Ideal, das jeder beim wirklichen Handeln als rhetorisches Trugbild beiseite schiebe.356 Blickt man auf die KpV, so kann man die Pflichtenlehre der Analytik als stoisch bezeichnen, die Postulatenlehre aber der Dialektik führt mit den Prinzipien von Glaube und Hoffnung über die Stoa hinaus in die christliche Tradition. Zweitens: Die Stoa ermöglicht die Selbsttötung. Kant dagegen sieht in Übereinstimmung mit Platon und dem Christentum im eigenen Leib keine Sache und kein Eigentum, über das man nach Belieben verfügen und dessen man sich im Zustand der Verzweiflung entledigen kann. Das Suizid-Verbot wird von Kant immer vertreten, wenn auch unterschiedlich begründet.357 Drittens: Seneca sagt (in Übereinstimmung mit Platon): »Kein vernünftiger Mensch straft, weil verbrochen wurde, sondern damit nicht verbrochen wird.«358 Kant dagegen sieht im Verbrechen selbst die notwendige und hinreichende Bedingung für die Strafe und findet in ihm auch das einzig mögliche Maß der Strafe (VI 331–337). Es gibt weitere Gegensätze. Es fehlt in der Aufklärung offenbar eine ganz entscheidende Bastion der antiken und der frühneuzeitlichen Stoa: Die exzessiv negative Bewertung der bloßen Meinung, der doxa oder opinio; wir finden vielfältige Belege in allen antiken Stoikertexten (die Affekte sind falsche Meinungen) und auch bei Justus Lipsius, bei Du Vair359, bei Descartes: Der Hauptfeind ist die Meinung, man lese die ersten Sätze der Meditationen. Diese Auffassung ist Teil eines Theorieensembles, das im 18. Jahrhundert aufgegeben wird. In der frühen Neuzeit bildet die Seele für die Neostoiker eine geistige Einheit; in dieses geistige Ganze dringen von außen Bilder oder Vorstellungen der Wirklichkeit, die nun nicht problemlos korrekt beurteilt werden, sondern die den Geist in die Irre führen, besonders in den avancierten gesellschaftlichen Verhältnissen. Da melden sich verlockende Schönheiten und erregen die Meinung, sich auf diese Schönheiten einzulassen müsse auch gut sein. Das Gegenteil ist der Fall; bevor jedoch der Geist die Lage durchschaut, nimmt das Unglück seinen Lauf. »Car levons-leur le masque de l’opinion, nous y trouverons la nature toute pure. […] l’opinion se 174 | kapitel 

bande contre la raison […].360 Die verheerenden Leidenschaften sind nichts anderes als die Ausdrucksformen der bloßen Meinungen, trete die Vernunft bzw. »la nature pure« an die Stelle dieser Idole, dann folge die Apathie und Seelenruhe automatisch. Der frühneuzeitliche Rationalismus setzt sich zum Ziel die Stärkung der Vernunft gegen die Meinungen und damit die Schwächung oder gar Beseitigung der Affekte und Leidenschaften. Wir haben es in der äußeren Natur und in der menschlichen Seele immer mit rationalen Strukturen zu tun, klaren und dunklen, distinkten oder verworrenen. Die philosophische Psycho-Analyse bringt Licht in die düsteren Regionen, in denen die opiniones ausgebrütet werden, die in der Form von Leidenschaften und Affekte gefühlt werden, im Prinzip jedoch nur Irrtümer sind, die die Seelen und Häuser und Imperien der Menschen infizieren und zerstören. Dieses Syndrom fehlt in der Philosophie Kants und seiner Zeit generell. Rousseau schreibt noch: »[…] c’est l’opinion que j’attaque«361, aber hier steht die Meinung nicht gegen das Wissen, sondern das eigene Ich gegen die Meinung der anderen, von der man innerlich abhängt. Dogmatiker und Skeptiker werden von Kant nicht dargestellt als Philosophen, die einer bloßen Meinung anhängen. An die Stelle der einheitlichen neostoischen Geistseele tritt wie bei Platon und Aristoteles eine dreiteilige Seelenvermögenslehre; damit aber ist einem Hauptlehrstück der Stoa der Boden entzogen. Die Philosophie hat es nicht mehr mit der einfachen Opposition von falschheitsbedrohter Meinung und gewisser, irrtumsimmuner Erkenntnis wie noch bei Descartes zu tun, sondern entfaltet ein sensibles System für unterschiedliche Regionen der Urteilsbildung. In der Erkenntnislehre kommt es zur Stabilisierung von drei Vermögen, Anschauung, Verstand und Vernunft; im Gefühlsbereich kann sich die neue Ästhetik relativ autonom zwischen Verstand und Vernunft entfalten, die praktische Vernunft kann und muß neu beurteilt werden, alles im Rahmen einer finalen, nun wiederum stoischen Doktrin. Die drei Vermögen werden zur Grundlage der drei Kritiken, die von Kant in strenger Parallelführung zur politischen Gewaltenteilung entwickelt werden. Aus der Einstimmigkeit des analytischen Rationalismus und Absolutismus wird die Mehrstimmigkeit einer liberalen, synthetisch verfahrenden Komposition. der stoische ursprung der bestimmungsfrage | 175

Die Lehre von den irrationalen Affekten und Leidenschaften ändert ihre Stellung; Kant will sie nicht bis zur Apathie aufhellen und damit vernichten, sondern sucht den Zweck, den sie in den Gemütsanlagen für den Menschen haben können.362 Die Philosophie des 18. Jahrhunderts folgt nicht mehr der frühneuzeitlichen Huldigung der prudentia, die konsequent die wertvollste Tugend war, weil mit ihr theoretisch die wirkliche Natur erkannt wurde und die irrationalen Leidenschaften der Einsicht wichen. Die prudentia steht bei Lipsius an der Spitze des Tugendkataloges,363 und Du Vair schreibt: »Or ce qui peut le plus pour nous mettre en ce chemin; et nous apprendre à avoir les mouvements de l’esprit droits, et la volonté reglée par la raison, c’est la Prudence, qui est à mon advis et le commencement et la fin de toutes les vertues.«364 Die raison reguliert bei Du Vair den Willen. Der Stoiker gibt seine synkatathesis, den willentlichen assensus, nur in Kenntnis der wahren Natur der Dinge. Diese Auffassung immunisiert die Stoa zunächst gegen den spätmittelalterlichen Voluntarismus, der den nominalistisch entmachteten Intellekt aus seiner Funktion, den Willen zu leiten, hinausdrängt und gewissermaßen zu einem »stat pro ratione voluntas« gelangt. Der stoisch besetzte Rationalismus der frühen Neuzeit ist hier anderer Meinung. Im 18. Jhdt. jedoch gewinnt der Voluntarismus an Raum; man denke nur an die Rousseausche »volonté générale«, sie ist nicht mehr epistemisch gelenkt, sondern dokumentiert gewissermaßen blind das je eigene Interesse aller, das bei günstigen Umständen identisch mit dem eines jeden und somit allgemein ist. Es werden keine Universitäten dazu benötigt, um den Gemeinwillen darüber zu belehren, was er vernünftigerweise wollen sollte. Ein anderes Element, das die antike und die frühneuzeitliche Stoa von ihrer späteren Variante im 18. Jhdt. unterscheidet, ist die antiautoritäre Wendung, das Selbstdenken. Während zuvor die Wahrheit und Gewißheit der Erkenntnis entscheidend sind, wird es jetzt zunehmend wichtig, daß ich diese Erkenntnis selbst erwerbe, daß ich sie mir mit meinen eigenen Mitteln zu eigen mache. Kehren wir noch einmal zu Lockes Aufklärungsdeklaration zurück. Locke wendet sich gegen die Mehrheit der Menschen, »[…] taking things upon trust, misemploy their power of Assent, by lazily enslaving 176 | kapitel 

their Minds, to the Dictates and Dominion of others, in Doctrines, which it is their duty carefully to examine; and not blindly, with an implicit faith, to swallow: […] For, I think, we may as rationally hope to see with other Mens Eyes, as to know by other Mens Understanding.« »Employ our own Reason«, ist die Losung.365 Das bekannte Echo in der Aufklärungsschrift: »Habe Muth, dich deines eigenen Verstandes zu bedienen!« (VIII 35,6–7) Locke bezeichnete diesen Imperativ als »duty«. Man könnte einwenden, auch in der stoischen Ethik gebe es ein ähnliches Prinzip. Seneca sagt in den Epistulae morales: »Die Handlung wird nicht recht sein, wenn der Wille nicht recht war: von ihm nämlich stammt die Handlung.«366 Oder in De beneficiis: Es komme nicht auf die materielle Größe der Wohltat an, sondern auf die Gesinnung, aus der heraus sie geleistet wird, so wie auch bei den Götteropfern das Wichtige nicht im Reichtum des Opfers liege, »sed pia ac recta voluntate venerantium.«367 Aber man sieht schon an der Diktion, daß der Akzent anders ist. Bei Locke und der ihm folgenden Aufklärung liegt er in der Opposition gegen die anderen, gegen die Autorität: Bediene dich deines eigenen Verstandes und folge nicht dem Urteil anderer. Diese Pointe leuchtet bei Platon auf,368 ist aber der dogmentreuen Stoa eher fremd. Justus Lipsius und Du Vair werben für die feste Lehre der Schule; eben dieses Schulprinzip ist in der zweiten Hälfte des 18. Jhdts. obsolet geworden, jeder will und soll selber denken. Ein letzter Differenzpunkt: Die Stoiker haben nur wenig zu sagen über ein individuelles Nachleben nach dem Tod, und sie kennen so wenig wie eine andere antike (oder auch mittelalterliche) Schule »die« Zukunft. Kant verzeitlicht die Kosmosphilosophie zuerst in der Allgemeinen Naturgeschichte und Theorie des Himmels (1755), danach macht er (in der Nachfolge von Iselin) die Zukunft zu einem Teil der Menschheitsgeschichte. Dazu das folgende Kapitel.

der stoische ursprung der bestimmungsfrage | 177



Der Mensch und die Geschichte der Menschheit

Die sittliche Bestimmung der Menschheit bildet eine notwendige Ergänzung zur Moral des Einzelnen: Wir handeln nicht in eine für dieses Handeln indifferente oder gar feindliche Menschenwelt hinein, sondern haben gute Gründe anzunehmen, daß die Geschichte der Menschheit im Ganzen in einem Fortschritt zum moralisch Besseren begriffen ist. So wird die Moralität nicht nur durch den Vernunftglauben auf das verwiesen, was nicht in unserer Macht steht – das eigene Glück in Übereinstimmung mit der Moral –, sondern wir werden auch durch eine Geschichtsidee vom Gleichklang der Menschheit im Ganzen mit unserer moralischen Anstrengung überzeugt. Der Glaube und die Hoffnung auf eine der Moral angemessene Glückseligkeit im Jenseits findet eine Ergänzung in einer Idee der Geschichte im Ganzen, die einzig unter der Idee des rechtlichen und damit moralischen Fortschritts dechiffrierbar ist. Dies scheint Kants Idee der komplementären moralischen Zukunft hier und dort zu sein. Die Bestimmung des einzelnen Menschen ist als höchstes Vernunftinteresse des Menschen selbst und damit der Philosophie ausgezeichnet. Die Grundlage ist die reine praktische Vernunft und ihr Freiheitsgesetz. Ob die Geschichte der Menschheit dagegen überhaupt zur Philosophie im engeren Systemsinn gehört, kann man bezweifeln, denn diese Geschichte beruht auf anthropologischen Annahmen, und die Anthropologie gehört als empirische Wissenschaft nicht zur Philosophie im strikten Sinn.369 Andererseits wird die Bestimmung der Menschheit und ihrer Geschichte nicht als empirisches Phänomen vorgeführt, sondern erscheint als Idee, die als solche den Anspruch der Notwendigkeit erhebt. Die Darlegungen bilden ein System, das als einzig mögliches gerechtfertigt werden kann, das in sich kohärent und das wahr ist. Wir lassen die genaue Verortung, die vielleicht gar nicht möglich ist, auf sich beruhen und sprechen auch bei der Reflexion über die Bestimmung der Menschheit von Philosophie. Das Wort »Geschichtsder mensch und die geschichte der menschheit | 179

philosophie« wird von Kant in den uns bekannten Texten nicht benutzt. Es sollen folgende Gedanken der Kantischen Geschichtsphilosophie erörtert werden: Es wird in ihr ein Geschichtsbegriff entwikkelt, der mit der von Rousseau ins Gespräch gebrachten »perfectibilité« des Menschen die Menschheitsgeschichte aus der allgemeinen Naturgeschichte herausnimmt und in eine eigene Fortschrittsgeschichte stellt. Kant begeistert sich kurze Zeit für eine Revolution der Erziehungsanstalten; durch sie könne die Geschichte der Menschheit versittlicht werden. Dieser Gedanke wird schon in den siebziger Jahren aufgegeben und durch die Beobachtung der allmählich wachsenden Rechtlichkeit der Staaten ersetzt; dies ist zunächst ein Prozeß, der durch die Bewegungskräfte in den Naturanlagen des Menschen unausweichlich stattfindet, am Ende aber soll er zur vernunftgelenkten Selbstbestimmung der Rechtsgesellschaft führen. Bis dahin ist die Menschheitsgeschichte eine Veranstaltung der Natur, deren bewegende Kräfte im Hinblick auf die Mittel moralisch indifferent sind, denn vielleicht bildet ein großartiges Verbrechen einen gewichtigeren Beitrag zum Fortschritt der Menschheit als eine sittliche Kleinhandlung. Wie verhält sich unser Handeln aus Pflicht zum Räderwerk der Menschheits-Naturgeschichte? Am Schluß kommt es zu einer Dichotomie von Freiheit und Natur; die Idee der Freiheit führt im Fortschreiten der Rechtsverhältnisse zum (nie erreichbaren) Ewigen Frieden, die Natur dagegen läßt die Gattungsgeschichte wieder zu einer Veranstaltung werden, für die die Moral weder im Hinblick auf die Mittel noch das Ziel eine Rolle zu spielen scheint.

Die Geschichte Das Schicksal der Menschheit im Ganzen war Gegenstand von Mythen und Visionen; Hesiod entwarf ein Panorama der Degeneration der Menschheit vom glücklichen Beginn bis zur gegenwärtigen finalen Verwahrlosung (vgl. in Kants Religionsschrift VI 19–20); im Buch »Daniel« (7. Kapitel) des Alten Testaments wurde die Vision einer Abfolge von vier auf einander folgenden Reichen als der Epochen der Menschheit entwickelt, die spätere Spekulationen inspi180 | kapitel 

rierte. Die christliche Heilsbotschaft griff aus auf die Zukunft als nahe Parusie des Erlösers und des Jüngsten Gerichts. Die im Hellenismus entwickelte Universalgeschichte suchte dagegen den bisherigen Geschichtsverlauf zu dokumentieren, sie endete in einer früheren Epoche oder in der Gegenwart, niemals in der Zukunft, so noch Jacques-Bénigne Bossuets berühmter Discours sur l’histoire universelle (1681), denn die Geschichtswissenschaft untersucht vernünftigerweise nur die bereits geschehene Geschichte, sei es der einzelnen politischen Gemeinwesen, sei es, als Universalhistorie, der bekannten Völker oder Staaten. Diese letztere ist »die« Geschichte, »historia« griechisch und lateinisch im Kollektivsingular.370 Voltaire benennt die allgemeine vergleichende Reflexion über die bisherige, d. h. über »die« Geschichte, »la philosophie de l’histoire«371 (1765); hier gibt es, wenn ich richtig sehe, wiederum keinen Grund, warum dieser Begriff nicht in der griechischen oder lateinischen Literatur hätte benutzt werden können wie etwa »he peri ta anthropeia philosophia«372 oder die hellenistischen Universalgeschichten. Die Kantische Idee zu einer allgemeinen Geschichte in weltbürgerlicher Absicht reflektiert nicht (nur) über die geschehene Weltgeschichte, sondern umfasst gleichermaßen die Vergangenheit, Gegenwart und die notorische Nichtgeschichte, die Zukunft. Sie schließt damit einmal an die Mythen und Visionen an, indem sie auch die Geschichte einbezieht, die noch keine Geschichte ist; aber sie wendet sich zugleich gegen den Mythos, indem sie das Totum der Geschichte als vernünftig erschließbar behandelt; die nicht in ihren Fakten zu erzählende, sondern in ihrer Vernunftbestimmung notwendig verlaufende und erkennbare Geschichte der Gattung Mensch ist das Thema dieser neuen Disziplin. Hegel wird die Geschichtsphilosophie wieder zurücknehmen auf die wirklich abgelaufene Geschichte. In den Schmelztiegel der Kantischen Geschichtsphilosophie gehen Lehren unterschiedlicher Disziplinen ein: Pragmatische Anthropologie (als deren letzter Teil sich die Geschichtsphilosophie ab ca. 1775 entwickelt), Theorie der Materie, der Astronomie und des Organischen, Theorie der bürgerlichen Gesellschaft und der Entwicklung des Staats-, des Völker- und des Weltbürgerrechts und, in schwer einzuschätzender Bedeutung, das Motiv einer Theodizee, der mensch und die geschichte der menschheit | 181

denn die Geschichte, die in dieser Vorstellung bis in die Gegenwart bloße Naturgeschichte ist, soll gegen den Vorwurf der Sinnlosigkeit legitimiert werden.373 Die Vorsehung in der Geschichte ist gerechtfertigt, wenn die »Lieblingsidee« Kants, »daß der Endzweck des Menschengeschlechts die Erreichung der vollkommensten Staatsverfassung sei«374, sich als eine notwendige und wirksame Vernunftidee erweisen lässt. Aus der Mischung der Bestandteile wird man schon vermuten, daß die Überführung der Lieblings- und Vernunftidee in die historische Wirklichkeit die Sache eines Kentaurs sein wird, in dem sich Natur und praktische Vernunft unnatürlich verbinden und die Notwendigkeit einerseits die erkannte Naturgesetzlichkeit ist, andererseits das Soll der Freiheit und der praktischen Vernunft. Der Mensch wird in diesem Totum als Doppelwesen und als Täter und Opfer erscheinen.

Die Perfektibilität des Menschen Eine der Voraussetzungen der neuen Geschichtsphilosophie ist die Herauslösung der Menschheitsgeschichte aus dem universellen Naturprozeß. Die geschaffene Natur mag immer ihre Geschichte haben, beide, Mensch und Natur, bilden in dem interessierenden Punkt jedoch keine Einheit mehr, wie noch in der Metaphysik von Leibniz375 und bei Alexander Pope, bei Christian Wolff und beim frühen Kant. In der Allgemeinen Naturgeschichte und Theorie des Himmels (1755) ist die Menschheit noch ein Teil dieser Naturgeschichte wie ähnlich im Lehrgedicht von Lukrez, nur gibt es zusätzlich die dichterischen Ausschweifungen, in denen Kant dem Nachleben der Seelen in andere planetarische Welten folgt (I 351,1– 368,7). Die entscheidende Herauslösung der Menschengattung aus dem Geschick des Universums geschieht durch Rousseaus 2. Discours und die dort näher entfaltete und vielfach wiederholte Vorstellung der »perfectibilité« der Menschen.376 Hiermit ist der Gegenstand der Geschichtsphilosophie genau bezeichnet; es geht um den Fortschritt der Menschheit als einer natürlichen und zugleich der einzigen vernunftbegabten Gattung. Unter dem Eindruck der neuzeitlichen Entwicklung wird mit Staunen 182 | kapitel 

festgestellt, daß sich die Fortschritte der Menschheit, wie immer man sie bewertet, auf einer Weltbühne vollziehen, die an diesen Änderungen nicht teilnimmt. So weit die nichtmenschliche Natur eine Geschichte hat – und zweifellos gibt es seit der Vorsokratik eine zunehmend exakt erforschte Naturgeschichte – spielt sie sich in anderen Zeitdimensionen ab als die Fortschrittsgeschichte der Menschheit und kann daher als relativ stabiler Hintergrund angenommen werden. In der zweiten Phase der Aufklärung stellt man des weiteren fest, daß sich die außereuropäischen sog. »Natur«Völker an dieser Fortschrittsentwicklung nicht beteiligen; selbst die von Leibniz und Wolff bewunderte chinesische Geschichte ist für den Fortschritt der Gattung taub.377 In der Vorlesungsnachschrift zur Anthropologie vom Winter 1775–1776 (Friedländer) wird unter dem Titel »Charackter der Menschheit überhaupt« der historische und systematische Ausgangspunkt bezeichnet: Es ist Rousseaus 2. Discours. »Dieses ist ein wichtiges Stück, worüber sich schon sehr viele Autores gewagt haben zu schreiben, unter denen Rousseau der vornehmste ist. Was soll man von der Menschheit überhaupt urtheilen? Was hat sie für einen Charackter unter den Thieren, und unter allen Wesen? Wie viel gutes und wie viel böses ist darinn? Hält er in sich einen Quell zum guten oder bösen?« (XXV 67,5–11) Rousseau habe »den Menschen der Natur dem Menschen der Kunst« vorgezogen, »es scheint auch würcklich seine Meinung auf der Seite des natürlichen Menschen zu hängen. Dieses dient378 aber auf der anderen Seite dazu, daß die Aufmercksamkeit der Philosophen rege gemacht werde zu untersuchen wie die Vollkommenheiten des bürgerlichen Zustandes sollten gebildet werden, so daß die Vollkommenheiten der Natur nicht zerstöret, und der Natur keine Gewalt angethan würde, und wie die Laster und das Unglück, das durch die bürgerliche Ordnung entsteht, dadurch unterdrückt werden könnte […].« (XXV 684,25–35) Also keine Heimkehr in die Wälder der Natur, sondern die Fortsetzung der bürgerlichen Gesellschaft mit dem Ziel, Natur und Kultur am Ende zu versöhnen. Nur durch dieses »per aspera ad astra« verdanke sich der Mensch nicht mehr der Natur, sondern sich selbst, wie es seiner Bestimmung entspreche. Der erste Satz von Rousseaus Emile lautet: »Tout est bien, sortant des mains de l’auteur des choses: tout dégénére entre les mains de l’homme.«379 Kants der mensch und die geschichte der menschheit | 183

Antwort: »Die Geschichte der Natur fängt also vom Guten an, denn sie ist das Werk Gottes; die Geschichte der Freiheit vom Bösen, denn sie ist Menschenwerk.« (VIII 115,32–34) Nur der Mensch unter allen Lebewesen hat die Gabe der »perfectibilité«, der Selbstvervollkommnung im individuellen und im Gattungsleben; durch sie emanzipiert er sich von der übrigen Schöpfung.380 Gegen Rousseau sieht Kant den Zielpunkt aller »perfectibilité« nicht in der Kultur und Zivilisation als letzten Werten, sondern in der moralisch-rechtlichen Freiheit. Sie ist nicht in einem Contrat social außerhalb der Verfallsgeschichte anzusiedeln, sondern läßt sich als internes Ziel der bisherigen Natur- und Rechtsgeschichte der Menschheit nachweisen. Die Entwicklung, in der sich die Menschen aus dem bloß tierischen Dasein381 emporarbeiten und sich von der Natur emanzipieren, ist jetzt der einzige Zweck der gesamten Schöpfung. Welchen Sinn und welche Bedeutung sollte ein irgendwann entstandenes Schwarzes Loch, ein Planet, ein sich auswickelndes und immer perfekteres Universum haben ohne den Menschen, und zwar nicht als Betrachter und Anbeter göttlicher Prachtentfaltung, sondern als moralisches Wesen, das sich selbst vervollkommnet? Welchen Wert haben Erkenntnisse, die ohne alle Funktion für die Moral sind? Kant sieht, um dies gleich erneut anzumerken, weder in der Erkenntnis als solcher noch in der Technik einen Wert, sondern nur in der praktisch-moralischen Kultivierung und Zivilisierung, die den Menschen einübt in den selbstbeherrschten Umgang mit sich selbst und mit anderen Menschen. Die ersten Dokumente der Mitte der siebziger Jahre sind die kurzen Schriften zur Erziehungsanstalt des Philanthropin in Dessau und die Vorlesungsnachschriften zur Moralphilosophie; wir greifen aus ihnen zunächst nur den Teil heraus, der sich mit dem Hoffnungsträger »Erziehung« befasst.

Erziehung In der Mitte der siebziger Jahre ist auch Kant erfasst von einer Erziehungs-Euphorie: Wenn die Erziehungsformen und -anstalten nicht langsam und partiell, sondern plötzlich und radikal verbessert 184 | kapitel 

werden, dann wird sich der Weltzustand ändern. Das Philanthropin von Johann Bernhard Basedow in Dessau, für dessen Unternehmen sich Kant einsetzte,382 soll die Keimzelle einer Revolution der Menschheit werden. »Es ist aber vergeblich dieses Heil des menschlichen Geschlechts von einer allmählichen Schulverbesserung zu erwarten. Sie müssen umgeschaffen werden, wenn etwas Gutes aus ihnen entstehen soll: weil sie in ihrer ursprünglichen Einrichtung fehlerhaft sind, und selbst die Lehrer derselben eine neue Bildung annehmen müssen. Nicht eine langsame Reform, sondern eine schnelle Revolution kann dieses bewirken.« (II 449,17–22)383 1784 findet sich davon keine Spur mehr, und 1798 wird der Gedanke offiziell ad acta gelegt (VII 87,11–38; 92,15–93,9): Die Verbesserung komme nicht von unten, sondern von oben. Der republikanische Staat wird die richtigen Erziehungsanstalten für seine Bürger einführen, aber es kann nicht umgekehrt die geänderte Erziehung die Keimzelle des Neuen Menschen oder auch nur der Republik werden. Die neuzeitlichen Erziehungsschriften von Johann Amos Comenius, Didactica Magna (1633) und John Lockes Some Thoughts Concerning Education (1693) bis zu Rousseaus Emile (1762) trennten Erziehung und Politik; erst die Aufklärung konnte hier die antike Verbindung wieder herstellen, jetzt unter dem Vorzeichen einer Verbesserung aller Kultur und damit auch der Lehranstalten. Kant profilierte den Gedanken zu einer politischen Mission. Schiller wird die politikverändernde Rolle der Bildung in einer durch Kant ermöglichten Variante aufnehmen und in seinen Briefen zur ästhetischen Erziehung des Menschen (1795) als eine Revolution mit friedlichen Mitteln ins Spiel bringen. Es erstaunt daher nicht, daß in den zweiten Abschnitt des Streits der Fakultäten (1798) bewußt oder unbewußt Reminiszenzen aus der Revolutions- und Werbeschrift von 1777 für das Philanthropin mit dem Titel »An das gemeine Wesen« (II 449,5) einfließen. Es ist dieselbe Sache, die verhandelt wird, an die Stelle der Erziehungsanstalten in staatlichem Schutz tritt nur 1798 der Staat selbst, der umgewendet wird. Am Anfang dort die Kampfansage an die gegenwärtigen Schuleinrichtungen: Sie sind widernatürlich und verderben mehr als sie verbessern; es sei bewiesen, »daß sie insgesamt im ersten Zuschnitt verdorben sind«, alles in ihnen arbeite »der Natur entgegen« (II 449,10). Da das Widernatürliche nicht reformierbar der mensch und die geschichte der menschheit | 185

sei, helfe einzig eine Revolution, eine unvermittelte Umkehr zur ursprünglichen Absicht der Natur. »Nicht eine langsame Reform, sondern eine schnelle Revolution kann dieses bewirken. Und dazu gehört nichts weiter, als nur eine Schule, die nach der ächten Methode von Grund aus neu angeordnet [wird] und während ihrem Forschritte zur Vollkommenheit von dem aufmerksamen Auge der Kenner in allen Ländern beobachtet und beurtheilt, […] würde.« (II 449,21–29) »Eine solche Erziehungsanstalt ist nun nicht mehr bloß eine schöne Idee, sondern zeigt sich mit sichtbaren Beweisen der Thunlichkeit dessen, was längst gewünscht worden, in thätigen und sichtbaren Beweisen. Gewiß eine Erscheinung der Zeit, die obzwar von gemeinen Augen übersehen, jedem verständigen und an dem Wohl der Menschheit teilnehmenden Zuschauer viel wichtiger sein muß, als das glänzende Nichts auf dem jederzeit veränderlichen Schauplatze der großen Welt, wodurch das Beste des menschlichen Geschlechts, wo nicht zurückgesetzt, doch nicht um ein Haar breit weiter gebracht wird.« (II 450,14–22)384 Hier haben wir 1777 die Kernstücke der Abhandlung von 1798. »Die Revolution eines geistreichen Volkes« (VII 85,19) und die Teilnehmung der Zuschauer werden abgesetzt von den Taten und Untaten der üblichen Geschichte, die zum Fortschritt der Menschheit nicht beitragen, 1777 ist es (frei nach Augustin) das »glänzende Nichts«. Die Teilnehmung aller Zuschauer ist es 1798, und 1777 heißt es, das Dessauische Institut sei »der Menschheit und also der Theilnehmung jedes Weltbürgers gewidmet« (II 451,1–2). Also derselbe Kontrast des singulären einen Ereignisses hier der Schulgründung in Dessau, dort der Revolution in Frankreich mit einer jeweils kosmopolitischen Teilnehmung, weil beides der Vernunftnatur des Menschen entspricht. 1777 sind es die »gemeinen Augen«, die die Weltenwende in Dessau nicht wahrhaben wollen, 1798 die Juristen, die sich oberflächlich an die Gräuel in Paris halten, statt die »Erscheinung der Zeit«, das »Phänomen in der Menschengeschichte« (VII 88,12) als moralischen Umbruch zu erkennen. Gemeinsam ist beiden Phänomenen, daß sie singulär sind und als solche eine globale Ausstrahlungskraft entwickeln werden. Kant ist in den wesentlichen Dingen der Menschheit strikter Einzigkeitsphilosoph: Es gibt nur eine Welt – die »pluralité des mondes« ist dagegen eine poetische Spielerei; am Anfang der Menschheitsge186 | kapitel 

schichte steht ein Menschenpaar – die Vorstellung pluralen Entstehens von Menschen, wie sie Georg Forster propagierte, scheitert an inneren Widersprüchen. Es gibt nur eine Kulturgenese, nämlich die europäische,385 – und nicht eine Vielheit von Kulturen, die neben einander existieren, wie Herder meinte; es gibt, wie wir in der Werbeschrift für das Dessauische Philanthropin erfahren, nur eine naturgemäße Schule, gegründet durch »den feurigen und standhaften Eifer eines einzigen einsehenden und rüstigen Mannes« (II 447,13– 14) – und keine Möglichkeit der allmählichen Reform der vielen existierenden Schulen; es gibt nur einen Gründungsakt der Republik, nämlich die Französische Revolution – und nicht schon die nordamerikanische. Gemeinsam ist weiter den beiden Phänomenen von Erziehung und Rechtsstaat, Dessau und Paris, daß sie die Bestimmung der Menschheit zum Thema und Ziel ihres Handelns machen; an diesen beiden Orten nehmen begeisterte Menschen die Sache der Vernunft und der Menschheit selbst in ihre Hand, während die Menschen in allen anderen Verhältnissen widernatürlich leben und denken; dazu gleich Näheres unter dem Titel der Geschichte der Menschheit. Und, der alles entscheidende Gipfel in der Vernunftgeschichte der Menschheit, es gibt nur eine Revolution der Denkart und der Metaphysik: die Kantische KrV. Platon und Aristoteles hatten der unsäglichen Korruption im Denken und Handeln der Griechen die Utopie eines Ideen- und Erziehungsstaats entgegengestellt mit der These: Politik und Pädagogik müssen vereint werden, sonst gibt es keinen Ausgang aus dem Unheil der Menschheit (so der Kernsatz genau in der Mitte von Platons Politeia). Kant hat das Wort »Utopie« nie benutzt, und er malt keinen Idealstaat aus, in dem die Einwohner durch eine allgegenwärtige Erziehung zu guten Menschen und Bürgern werden. In den Erziehungs-Ideen der siebziger Jahre wird er jedoch zum Ideologen einer punktuellen Revolte, die alles ergreifen wird: Hier und jetzt, die Wende der Weltgeschichte aus dem herrschenden Elend kommt aus einer Schule in Dessau! Die preußische Administration reagierte gelassen; es ist die Blütezeit der zweiten Epoche der Aufklärung, in der man die Kantischen extravaganten Ideen als interessantes Gedankenexperiment zur Kenntnis nahm. Die Vorlesung zur Moralphilosophie (1776–1777) endet wie die Anthropologie-Friedländer mit einer geschichtsphilosophischen Under mensch und die geschichte der menschheit | 187

tersuchung und Vision. Beide Texte sehen das Heil der Menschheit in der Erziehung, die eine Moralisierung von unten bis hinauf zu den Thronen und dann einen globalen Frieden ermöglichen wird, ein »Reich Gottes auf Erden«386, ein »Paradies auf Erden«, wie die Anthropologie schreibt (XXV 696,34). Die Anthropologie nennt an keiner Stelle des geschichtsphilosophischen Finales die Freiheit als einen für Ethik und Recht relevanten Faktor, während die Vorlesung zur Moralphilosophie vom Freiheitsgedanken durchpulst ist. Das Endkapitel »Von der letzten Bestimmung des menschlichen Geschlechts« beginnt: »Die letzte Bestimmung des menschlichen Geschlechts ist die gröste moralische Vollkommenheit, so fern sie durch die Freyheit des Menschen bewerkstelliget wird, wodurch alsdenn der Mensch der grösten Glükseligkeit fähig ist. Gott hätte die Menschen schon so vollkommen machen und jedem die Glükseligkeit ausgetheilt haben [können], allein alsdenn wäre es nicht aus dem inneren principio der Welt entsprungen, das innere principium der Welt ist aber die Freyheit. Die Bestimmung des Menschen ist also die gröste Vollkommenheit durch seyne Freyheit zu erlangen.«387 Dieses Fanal der Freiheit ist dem Passus in der Anthropologie-Friedländer (noch?) völlig fremd;388 und so gehört die Vorlesung zur Moralphilosophie (1777) zu den ersten Dokumenten der Kantischen Freiheitsphilosophie überhaupt.389 Eine Alternative dazu wäre, daß der Unterschied der beiden Auffassungen durch die unterschiedlichen Themen von Ethik und Anthropologie bedingt ist, aber hierfür lassen sich kaum Belege anführen. Aus der Sicht der Geschichtsphilosophie der achtziger und neunziger Jahre nimmt die Schlußvision in beiden Vorlesungen geradezu rührende Züge an: Das Reich Gottes und das Paradies auf Erden sind die »promesse de bonheur«, mit der der Philosoph seine Vorlesung beim Ferienbeginn schließt. Einmal ist dieses glückliche Ende »nach Verlauf vieler Jahrhunderte«390 zu erhoffen, zum anderen werden »noch Jahrtausende erfordert werden« (XXV 696,33; auch 697,3 und die dazugehörige Anm. 138). Um den Zukunftsteil der Geschichte, der noch nicht und der doch zur Geschichte im Ganzen gehört, vorstellbar zu machen, greift Kant zuerst, wie zitiert, auf eine religiöse Vorstellung zurück, die jedoch in Kürze nicht mehr erwähnt wird; er setzt schon in der Idee zu einer allgemeinen Geschichte in weltbürgerlicher Absicht ganz auf die Extrapolation der 188 | kapitel 

bestehenden Rechtsstrukturen zu einem globalen völkerrechtlichen Frieden. Die Ekliptik spielt auch 1784 noch eine Nebenrolle (VIII 27,12–22) und wird dann sich selbst überlassen. 1777 probt Kant den Aufstand, der jedoch scheitert. Von Dessau und dem Philanthropin kann nicht gesagt werden: »[…] ein solches Phänomen in der Menschengeschichte vergißt sich nicht mehr« (VII 88,12). Rasch wurden die Fehler und Defekte der Schule und ihres Leiters sichtbar; die oben einbezogene Collage von Notizen der Pädagogik-Vorlesung, die Kant zuerst 1777–1778 hielt, distanziert sich: »Es ist entzückend sich vorzustellen, daß die menschliche Natur immer besser durch Erziehung werde entwickelt werden, und daß man diese in eine Form bringen kann, die der Menschheit angemessen ist.« (IX 444,22–25) Kant urteilte allmählich ähnlich skeptisch wie von Zedlitz, der den Versuch in Dessau mit vorsichtigem Optimismus begrüßt, aber zugleich die von Kant abgelehnte Reform der bestehenden preußischen Schulen in Angriff genommen hatte.391 Von Zedlitz gründete 1780 eine Musterschule in Berlin: »Habe ich nur erst eine Schule unter meiner privaten Aufsicht, und diese […] weist bald ihren Nutzen, so sollen andere bald nachfolgen, und Eltern bitten, daß ihre Kinder auch so unterrichtet werden.«392 Kant wandte sich radikal von seinem Erziehungs-Enthusiasmus ab und sah im Wesentlichen zwei andere Schubkräfte, die den Fortschritt der Menschen erzeugen müssten. Einmal wirkte, so die neue Erkenntnis, die Vorsehung in eine vernunftkonforme Richtung, und zweitens zeigte sich in den neunziger Jahren die Möglichkeit, daß ein Volk bei günstiger Gelegenheit den Schritt zur Republik wagen und damit erst ein Muster, dann ein Glied in der Reihe friedenswilliger Staaten bilden würde. Wir befassen uns zuerst mit der Naturgeschichte der bürgerlichen Gesellschaft, danach mit der in sie eingebetteten und aus ihr entspringenden Evolution des Naturrechts. Doch zuvor noch die Frage: Was sollte eigentlich den Schülern des Philanthropin beigebracht werden? Hatte Kant ein Bildungskonzept wie später Wilhelm von Humboldt? In den beiden kurzen Aufrufen werden die Keime und Anlagen der Menschen erwähnt, die Orientierung an der Natur und die Weltperspektive, die genaueren Methoden und Inhalte des Unterrichts fehlen jedoch gänzlich. der mensch und die geschichte der menschheit | 189

Kant subsumiert das Philanthropin unter eine allgemeine Idee der notwendigen Revolution der Menschheit – das mußte scheitern.

Die Republikanisierung der Staaten Geschichte und Naturwissenschaft: Astronomie, Biologie und Physik Da die Philosophie bei Kant nicht mehr more geometrico oder mathematico verfährt, wendet sie sich den Naturwissenschaften als den Disziplinen zu, die methodisch vorbildlich sind und inhaltlich für Analogiebildungen zur Verfügung stehen; damit vollzog Kant den Wandel von Euklid und Descartes zu Newton, wie er im 18. Jahrhundert durchgängig zu beobachten ist; hinzu kommt die biologische Annahme von Keimen, die zeitweilig für die Moralgeschichte fruchtbar gemacht wird. Die Verwendung von unterschiedlichen Reflexionsbereichen der Naturwissenschaft in der näheren Artikulation der Geschichte der Menschheit besagt, daß diese Geschichte kein menschliches dirigierendes Subjekt hat, sondern das anonyme Geschehen einer anderen, wiewohl vernünftigen und vorsorglichen Macht ist.

Astronomie: Die exzentrische Bahn der Planeten Nach dem Vorbild Buffons393 wird die Menschheitsgeschichte im Vorspann der Idee zu einer allgemeinen Geschichte in weltbürgerlicher Absicht (1784) in eine Analogie zur Astronomie der Planetenbahnen gesetzt. »Wir wollen sehen, ob es uns gelingen werde, einen Leitfaden zu einer solchen Geschichte zu finden, und wollen es dann der Natur überlassen, den Mann hervorzubringen, der im Stande ist, sie darnach abzufassen. So brachte sie einen Kepler hervor, der die eccentrischen Bahnen der Planeten auf eine unerwartete Weise bestimmten Gesetzen unterwarf, und einen Newton, der diese Gesetze aus einer allgemeinen Naturursache erklärte.« (VIII 18,11–17)394 Hiernach ist das Paradigma, an dem sich der Geschichtsphilosoph orientiert, die neuzeitliche Astronomie. Wenn 190 | kapitel 

vom »regelmäßigen Gang« (25,16) der Menschheitsgeschichte gesprochen wird, dann in Anspielung auf die Planetenbewegung, die nach Kepler und Newton nicht im Hin und Her ptolemäischer Zyklen und Epizyklen stattfindet, sondern in einem regelmäßigen Gang der Ellipsen um die Sonne. In dem juridischen Abschnitt des Streits der Fakultäten (1798) wird das Revolutionsgeschehen in Frankreich in den neunziger Jahre rechtlich-politisch analysiert. Wie sind die Turbulenzen und Greuel in der benachbarten Nation zu beurteilen? Und wie die Menschheitsgeschichte im Ganzen? Gibt es einen Fortschritt in moralisch-rechtlicher Hinsicht? »Durch Erfahrung unmittelbar ist die Aufgabe des Fortschreitens nicht aufzulösen« (VII 83,2–3) – was heißt hier »Erfahrung« und »unmittelbar«, und wie ist die »Aufgabe« (doch wohl nicht des Fortschreitens) der Beurteilung aufzulösen, wenn nicht durch Erfahrung? Die unmittelbare Erfahrung lehrt, so die Meinung Kants, nur ein Hin und Her von Fortschritt und Rückschritt. »Vielleicht liegt es auch an unserer unrecht genommenen Wahl des Standpunkts, aus dem wir den Lauf menschlicher Dinge ansehen, daß dieser uns so widersinnisch scheint. Die Planeten, von der Erde aus gesehen, sind bald rückgängig, bald stillstehend, bald fortgängig. Den Standpunkt aber von der Sonne aus genommen, welches nur die Vernunft thun kann, gehen sie nach der Kopernikanischen Hypothese ihren regelmäßigen Gang. Es gefällt aber einigen sonst nicht Unweisen, steif auf ihrer Erklärungsart der Erscheinungen und dem Standpunkte zu beharren, den sie einmal genommen haben, sollten sie sich darüber auch in Tychonische Cyclen und Epicyclen verwickeln.« (VII 83,20–29) Diese »sonst nicht Unweisen«, wie sie hier höflich genannt werden, sind verstockte Empiriker, die nur Fakten der Politik ohne einen Leitfaden der Beurteilung registrieren und die die komplizierte Welt nicht mehr verstehen. Die Pariser Ereignisse von 1789, die als Revolution interpretiert wurden und in deren Folge das revolutionäre Frankreich versuchte, sich selbst als Republik zu konstituieren, führten Kant in eine paradoxe Lage: Unter Gesichtspunkten des Naturrechts ist eine Revolution zweifelsfrei und deutungsimmun rechtlich verboten. Recht und Revolution sind ein hölzernes Eisen. Die rechtliche lex continui steht also im Gegensatz zur Revolution der Denkart, die in der Sittder mensch und die geschichte der menschheit | 191

lichkeit und in der Wissenschaft möglich und notwendig ist. Andererseits war die Folge von 1789, der Versuch der Republikanisierung des Staats, ein naturrechtliches Desiderat. Kant mußte diese Versuche als Übergang zu einer wirklich rechtlichen Verfassung begrüßen. Was tun? Kant sah eine Möglichkeit, den Bruch von 1789 nach dem Kontinuitätsprinzip zu interpretieren (der König war, als er die Nationalversammlung einberief, ohne es zu merken, zurückgetreten)395 und in Übereinstimmung mit dem Sprachgebrauch die Umwälzungen der neunziger Jahre als Revolution zu fassen, in der das französische Volk sich zu republikanisieren suchte. So ist das strikte Verbot jedes gewaltsamen Umsturzes einer machthabenden Regierung mit der Rechtfertigung der Französischen Revolution, d. h. der Republikanisierung der neunziger Jahre, problemlos vereinbar. Kehren wir zurück zu dem eingangs zitierten Text des Streits der Fakultäten. Der Standpunkt, der dort in Analogie zum Standpunkt auf der Sonne eingenommen wird, ist der der praktischen Vernunft (Kant spricht explizit nur generell von der Vernunft); das Thema ist rechtlicher Natur. Der sonst verworrene Gang der Geschichte wird zu einem regelmäßigen Fortgang unter dem Gesichtspunkt der Sittlichkeit. Während der Empiriker der Geschichte in den Wirren der Französischen Revolution nur ein neues Massaker sieht, wie es so viele in der Geschichte gab, zeigt der Vernunft-Standpunkt des Rechts und der Moral ein ganz neues Phänomen: Ein Volk ergreift die günstige Gelegenheit der Abwesenheit einer machthabenden Regierung und versucht, sich eine republikanische, also rechtskonforme Verfassung zu geben. Wo sich dem Empiristen nur Verwirrung und Rückgang präsentiert, kann der moralische Idealist der reinen praktischen Vernunft den steten Fortgang in der evolutio juris naturalis erkennen. Es ist also essentiell für das Verständnis der kopernikanischen Hypothese im Analogsystem der Kantischen Philosophie, daß mit ihr nicht mehr wie mit dem »ersten Gedanken« (B XVI) eine subjektivistische Wende gemeint ist, sondern im Gegenteil eine Sehweise der Dinge, wie sie an sich sind. Genau so formuliert Kant schon in der 1. Auflage der KrV: »[…] denn das Recht kann gar nicht erscheinen, sondern sein Begriff liegt im Verstande, und stellt eine Beschaffenheit (die moralische) der Handlungen vor, die ihnen an sich selbst zukommt.« (A 44) Eben das wird mit der Trennung von Ding an sich und Erscheinung möglich; es läßt sich 192 | kapitel 

der bloße abschreckende Phänomencharakter der Handlungen in Frankreich unterscheiden von der rechtlichen Beschaffenheit, »die ihnen an sich selbst zukommt«. Der empirisch orientierte Beurteiler ist also notwendig blind für den Gegenstand, mit dem er sich befaßt; nur der kopernikanisch-kantische Moral- und Rechtsphilosoph kann das Geschehen richtig dechiffrieren und entsprechend handeln.

Biologie: Die Keime des Guten »Am Menschen (als dem einzigen vernünftigen Geschöpf auf Erden) sollten sich diejenigen Naturanlagen, die auf den Gebrauch seiner Vernunft abgezielt sind, nur in der Gattung, nicht aber im Individuum vollständig entwickeln.« (VIII 18,29–32) Das Menschengeschlecht wird im Hinblick auf den Vernunftgebrauch zum makròs ánthropos, zu einem nicht simultanen, sondern sukzessiven Gattungs-Großmenschen, der im Ganzen die Anlagen und Keime des partikularen, in ihm als temporäre Zelle agierenden Kleinmenschen zur Vollendung bringt. Wurde diese vollständige Entwicklung unserer intellektuellen oder moralischen Anlagen vorher als Grund angesehen, die Weiterexistenz der menschlichen Seele nach dem leiblichen Tod anzunehmen, so wird dieses Defizit des irdischen Individuums jetzt im Fort-Koloß der irdischen Menschheit im Ganzen ausgeglichen. Schon Iselin hatte so argumentiert und den Bildungsroman der Menschheit nach der individuellen Lebensbahn modelliert. Um diesen selbstläufigen Entwicklungsprozeß sprachlich zu simulieren, benutzt Iselin inflationär das Vokabular der neuen Anthropologie, besonders der Biologie.396 Hier wird kein externes Modell zur besseren Erkenntnis eingeführt wie beim Gang der Planeten, sondern eine, der lebenden Natur inhärente, Steuerungszentrale angenommen. Uns interessieren folgende Eigentümlichkeiten. Die Keime und Anlagen sind zuständig für das organische Leben und die Selbsterhaltung einer bestimmten Gattung und nur dadurch auch des Individuums, in dem sie jeweils als (mikroskopisch aufspürbare?) Teilstücke enthalten sind. Sie sind ebenso wie die Bestimmung eines Lebewesens zuständig sowohl für die physische Natur wie auch, im Fall des Menschen, für seine der mensch und die geschichte der menschheit | 193

Vernunftnatur, und zwar sowohl im Intellektuellen wie auch in der Moral. So gibt es Keime des Guten in den Menschen, aber auch der Entzweiung: »[…] daß die Natur den Keim der Zwietracht in sie gelegt […] hat« (VII 322,5–6). 1771 sind die Keime der Vernunft eine Berufungsinstanz: »[…] daß in ihm aber auch ein Keim der Vernunft gelegt sei, wodurch er, wenn sich ein solcher entwickelt, für die Gesellschaft bestimmt ist […]« (II 425,5–7). Die Keime und Anlagen sind also die Erbstücke der Generationen, die ihre Selbstund Arterhaltung verschlüsselt enthalten. Die jeweilige Entwicklung oder Entfaltung ist die Entschlüsselung des Codes der Keime durch die Tat. Kant operiert mit ihnen seit der Mitte der siebziger Jahre, gewiß keine ad hoc-Erfindung, sondern ein Kernstück der stoischen Theorie des Lebendigen, das über die Lebensanalyse Kants und seiner Zeitgenossen weitergereicht wird in die moderne Biologie, die die Keime unter dem Namen von Genen verifizieren konnte und ihnen ungefähr die Qualitäten zuschreibt, die die stoische Tradition den spermata oder semina oder Keimen zuerkannt hatte. Die Überlegungen zur Bestimmung des Menschen passen zur finalen Ausstattung des Menschen mit den entsprechenden Keimen oder Anlagen, und entsprechend stießen wir schon oben bei Spalding und in der Pädagogik-Vorlesung Kants397 auf die Keime, die uns auf unseren Endzweck lenken. In der Rezension der Herderschen Ideen zur Philosophie der Geschichte der Menschheit (1785) wird gegen die Vorstellung einer generellen »genetischen« oder »organischen Kraft« der Natur überhaupt (VIII 48,6; 54,25; 59,29; 62,22) das Konzept der gattungsbezogenen Keime und Anlagen ausgespielt. Während Herder die Vernunft des Menschen aus einem Kontinuum der sich organisierenden Materie herleiten will, rechnet Kant mit den spezifischen Keimen und Anlagen der Vernunftbestimmung, die es umgekehrt ermöglichen, daß der zu ihrer Verwirklichung geeignete Leib gebildet wird: »[…] weil er zur Vernunft bestimmt war, ward ihm zum Gebrauch seiner Gliedmaßen nach der Vernunft die aufrechte Stellung angewiesen« (VIII 48,24–25; auch 50,20–21).398 Nach allen Äußerungen, die man unter diesen Stichwörtern von 1771 bis 1798 findet, scheint Kant die theoretische Haltbarkeit der Keime und Anlagen nicht zu bezweifeln. Aber warum werden die Keime in der KdU an keiner Stelle erwähnt? Werden sie dort durch 194 | kapitel 

das eigentlich kritische Konzept eines sich selbst fortzeugenden Naturprodukts oder Naturzwecks ersetzt? Für die Entfaltung der Menschengattung ist nach Kant die Überbietungssucht in den drei Bereichen der Habe, der Macht und der Ehre unverzichtbar; ohne Habsucht, Herrschsucht und Ehrsucht bleibt die Gattung im friedvollen Nebeneinander der Herdentiere. Die Menschheit wird durch die Anlagen der Natur dazu gezwungen, sich selbst in der Kultur, Zivilisation und am Ende auch der Moral zu perfektionieren. Das Mittel ist die Physik der Antagonismen, in Szene gesetzt durch die Vorsehung. Die Keime des Guten haben in diesem Konzept keine Funktion, sie gehören im Gegenteil zu einer Präformationsvorstellung, gemäß der die Geschichte nicht – wie in der von Kant unterstützten Lehre der Epigenesis399 – kreativ ist, sondern nur das schon Vorhandene auswickelt.

Physik: Attraktion und Repulsion im gesellschaftlichen Antagonismus »Das Mittel, dessen sich die Natur bedient, die Entwickelung aller ihrer Anlagen zu Stande zu bringen, ist der Antagonism derselben in der Gesellschaft, so fern dieser doch am Ende die Ursache einer gesetzmäßigen Ordnung derselben wird.« (VIII 20,26–29) Kant greift dabei auf das Konfliktmodell von Attraktion und Repulsion zurück, das er 1755 in der Allgemeinen Naturgeschichte und Theorie des Himmels benutzt hatte. Die Materieteile, so die Newton fortführende Lehre, seien mit ihren gegenstrebigen Kräften so vorprogrammiert, daß der reine Mechanismus der Gravitation und Abstoßung zur Bildung des Planetensystems und anderer stellarer Systeme führte. Die Leitung der Vorsehung am Anfang mache spätere Eingriffe, wie sie Newton vorsah, unnötig. Sowohl in der kosmischen Geschichte von 1755 wie in der Menschheitsgeschichte von 1784 haben wir es mit einem dualen System zu tun, in dem es einerseits die mechanischen blinden Kräfte gibt, andererseits jedoch eine Vorsehung, die den Mechanismus von Attraktion und Repulsion auf ein Ziel hin lenkt. 1755 war dieser Zweck ein sich zunehmend vervollkommnender Kosmos, 1784 (aber auch schon 1775) ist es eine sich zivilisierende und kultivierende globale Menschheitsgesellschaft. Kant hätte den der mensch und die geschichte der menschheit | 195

Titel von 1755 auch 1784 benutzen können: »Allgemeine Naturgeschichte und Theorie der Menschheit«, denn genau dies wird gezeigt: Wie die (stoische) Vorsehung die (epikureischen) blinden Antagonismen der Menschen so auf einander wirken läßt, daß sich hinter dem Rücken der blind-mechanisch-triebhaft agierenden Subjekte (eigentlich Nicht-Subjekte) eine zunehmende Zivilisierung und Kultivierung durchsetzt. »Durch Neigung bilden sich kleine Gesellschaften, durch Bedürfnis bürgerliche und durch Krieg Staaten. Dieser Wachsthum ist unabsehlich, aber sich selbst und den Menschen verderblich. Was ist die letzte Folge? Daß der Staat ein Korper freyer bürgerlicher Gesellschaften ist, welcher wiederum mit noch größeren ein Corps ausmacht, so wie die systeme der Sterne.« (XV 607,28–33 – Refl. 1394) Kant übernimmt den materialistischen Prädarwinismus von Lukrez, bettet ihn jedoch in eine stoische Vorsehung ein, wie man an der folgenden Passage sieht: »Alle Kriege sind demnach so viel Versuche (zwar nicht in der Absicht der Menschen, aber doch in der Absicht der Natur), neue Verhältnisse der Staaten zustande zu bringen und durch Zerstörung, wenigstens Zerstückelung alter neue Körper zu bilden, die sich aber entweder in sich selbst oder neben einander nicht erhalten können und daher neue, ähnliche Revolutionen erleiden müssen; bis endlich einmal theils durch die bestmögliche Anordnung der bürgerlichen Verfassung innerlich, theils durch eine gemeinschaftliche Verabredung und Gesetzgebung äußerlich ein Zustand errichtet wird, der, einem bürgerlichen Zustand ähnlich, so wie ein Automat sich selbst erhalten kann.« (VIII 24,35– 25,8) Beim »epikurischen Zusammenlauf« (VIII 25,9) denkt Kant an eine Schilderung der Entstehung lebensfähiger Tiere bei Lukrez im 5. Buch von De rerum natura: »Auch verschiedene Arten der Mißgeburten hat damals / Die Erde zu schöpfen versucht (»conatast«), von seltsamen Formen und Gliedern: / Nämlich das Mannweib, Doppelgeschlecht, zu keinem gehörig; / Andere der Füße beraubt, und andere wieder der Hände«400. Entscheidend das »conatast«: Die Erde hat diese verschiedenen Kreationen versucht, bis endlich eine Lösung zufällig gelingt und sich das Tierwesen als Gattung reproduzieren kann. Aber was die Materialisten der mechanischen Natur aufbürden, kann diese ohne 196 | kapitel 

göttliche Vorsehung, die die Versuche lenkt, niemals leisten.401 So entsteht das Konzept, daß sich die Vorsehung der mechanischen Naturgesetze bedient, um dort den Kosmos, hier das System der Menschheit als Rechtsgemeinschaft zu errichten. In den beiden ursprünglichen Theorien waren die Epikureer so verfahren, daß sie höher geordnete, organische Systeme aus dem Zufall herleiteten (dazu Kants Kommentar: »Epicur war gar so unverschämt402, daß er verlangte, die Atomen wichen von ihrer geraden Bewegung ohne alle Ursache ab, um einander begegnen zu können.« I 227,19–22), die Stoiker nahmen dagegen eine Einheit von Kausalität und Finalität an: Alles Geschehen in der Welt ist zugleich mechanisch und zweckmäßig determiniert. Es ist leicht erkennbar, daß ein derartiges Konzept der Identität von causa finalis und efficiens den Anforderungen der neuzeitlichen Experimentalund Gesetzeswissenschaft nicht standhält; Kant nimmt daher beides auseinander und formuliert die Grundsätze des Verstandes in der KrV für eine zweckindifferente Welt der causa efficiens. Die Finalstruktur kann diese Theorie nur in der Form einer paradoxen Überformung des Naturgeschehens sei es durch die Vorsehung und die Technik der Natur, sei es durch Begriffe der reflektierenden Urteilskraft einsetzen. Im Folgenden sollen einige Momente in der Entwicklung der Kantischen Geschichtsphilosophie vergegegenwärtigt werden; u. a. wird ein Dilemma erörtert, das unaufhebbar scheint. Das Individuum ist sich einerseits seiner moralischen Bestimmung bewusst, denn der kategorische Imperativ spricht in jedem sein Machtwort und duldet kein Wenn und kein Aber. Aber: das Individuum ist andererseits Teil der Menschheit, und nur wenn es hoffen kann, daß sein moralisches Handeln zur Moralisierung der Menschheit im Ganzen beiträgt, ist das Handeln aus Pflicht nicht bedeutungslos und chimärisch. Wenn sein moralisches Tun jedoch für den Fortschritt der Menschheit absolut irrelevant ist, wenn im Gegenteil die eigentlichen Triebkräfte der Weltgeschichte Ehrsucht, Herrschsucht und Habsucht sind, dann geraten die Bestimmung des Einzelnen und die Bestimmung der Menschheit im Ganzen in einen unlösbaren Konflikt. Die praktische Vernunft, die die einzelnen Handlungen einer moralischen Kontrolle unterwirft, wird von derselben Vernunft, die die Geschichte mit »private vices« auf ihr moralisches der mensch und die geschichte der menschheit | 197

Ziel hin lenkt, unvermeidlich für nichtig erklärt. Der Mensch soll aus Vernunft moralisch handeln, die Vernunftgeschichte verfährt jedoch rein utilitaristisch und kennt in ihrem Räderwerk keinen Unterschied von Verbrechen und Moral. Während sich die theologische Einheit von Moralität und Hoffnung in der Postulatenlehre der KpV im luftigen Element der Ewigkeit widerstandslos nachweisen ließ, zerfällt die neue säkulare Einheit von Moralität und Menschheitsgeschichte in ein hoffnungsloses Auseinander. Es scheint so, daß Kant in der Französischen Revolution den Ausweg aus diesem Dilemma sieht, den Übergang aus der Naturgeschichte in die Freiheitsgeschichte der Menschheit.

Ehrsucht, Herrschsucht, Habsucht Herkunft und innere Logik der Trias Es ist eine konstante Begriffsfiguration, die Kant offensichtlich als vollständigen einschlägigen Lasterkatalog übernimmt und sich zueigen macht. Woraus bezieht er seine innere Festigkeit und äußere Abgeschossenheit? Kant behandelt die Dreierkonstellation ausführlich in der Anthropologie in pragmatischer Hinsicht (VII 270–274)403, und sie ist ständig in der Anthropologie-Vorlesung von 1772–1773 bis zum Schluß (wohl 1795–1796) präsent. Das Einheitsmoment der drei Leidenschaften ist das Vermögen, auf andere Menschen Einfluß zu haben.404 »Dieses Vermögen enthält gleichsam eine dreifache Macht in sich: Ehre, Gewalt und Geld; durch die, wenn man im Besitz derselben ist, man jedem Menschen, wenn nicht durch einen dieser Einflüsse, doch durch den andern beikommen und ihn zu seinen Absichten brauchen kann. – Die Neigungen hiezu, wenn sie Leidenschaften werden, sind Ehrsucht, Herrschsucht und Habsucht.« (VII 271,24–29) Hiermit ist die Herkunft und Konstanz eindeutig angegeben. Die Nachfrage führt in die europäische Kulturgeschichte, und hier ist die gesuchte Konstellation besonders wirksam in der Platonischen Politeia formuliert worden.405 Sie enthält bekanntlich die Lehre von drei Ständen der Gesellschaft, schlagwortartig: Nährstand, Wehrstand und Lehrstand. Dieser triadischen Struktur der 198 | kapitel 

Gesellschaft entspricht eine Dreiteilung der menschlichen Seele mit den korrespondierenden Kardinaltugenden der temperantia, fortitudo und prudentia. Die erste Tugend bezieht sich auf die Zurückhaltung gegenüber den körperlichen Dingen und den Sinnesreizen, die zweite ist der ausgewogene Mut in der Konfliktsphäre mit anderen Menschen, die dritte ist die Erkenntnis der Seele. Die negativen Gegenstücke dieser Tugenden finden sich im Dreierkatalog der Leidenschaften. Die Habsucht ist die niederste Form, die sich um äußere Güter (des Nährstandes) bemüht; die Herrschsucht pervertiert die Sphäre des Mutes, und die Ehrsucht verfälscht das eigentliche geistige Ziel. »Competition of Riches, Honour, Command«, heißt es im Hobbesschen Leviathan;406 und Giambattista Vico sagt in geänderter Reihenfolge: »Die Gesetzgebung betrachtet den Menschen so wie er ist, um daraus einen guten Gebrauch für die menschliche Gesellschaft zu machen: von der Herrschsucht, der Habsucht und der Ehrsucht, die die drei Laster sind, die durch das ganze Menschengeschlecht gehen […]«.407 »Qual è«: Wie der Mensch wirklich ist und nicht, wie er sein soll, und dies letztere bezieht sich auf das Paradies oder den Platonischen Idealstaat mit den drei bzw. vier Kardinaltugenden. Die drei »vizi« sind die Triebkräfte in der wirklichen Sündenfall-Menschheit; die Gesetzgebung benutzt sie, um sie für die Errichtung und den Bestand der societas civilis zu gebrauchen.

Die Funktion der Laster in der bürgerlichen Gesellschaft Bei Platon zerstören die Personen, die sich nicht den vier Kardinaltugenden fügen, den Zusammenhalt der Stadt, wie im VIII. und IX. Buch der Politeia geschildert wird. Dasselbe gilt im Großen und Ganzen für die übrigen Staatstheorien der Antike und des Mittelalters. In der Neuzeit ändert sich dagegen die Rolle der Laster; die nachparadiesische, nichtplatonische reale Gesellschaft verdankt ihnen ihre Blüte und ihr Wohlleben, und sie regrediert zum tierischen Anfang, wenn man die Laster vertreibt und nur auf das Gute im Menschen setzt: Für die Politik ist hier Machiavelli mit seinem Principe (1513) der Lehrmeister, für Ökonomie und Gesellschaft zeigt dies Bernard de Mandeville in seiner Fable of the Bees (zuerst der mensch und die geschichte der menschheit | 199

1705 bzw. 1714) mit der Losung »private vices, public benefits«. Die naive Opposition von Gut und Böse im Staat greift nicht mehr, weil die einzig lebensfähige Stadt oder Gesellschaft angewiesen ist auf das Triebwerk der Leidenschaften und Laster. Die Sonntagsmoral der Kardinaltugenden hat im Alltag der Geschäfte nichts zu suchen, die Mißachtung dieser Regel, die Moralisierung der Ökonomie, hat im Gegenteil verheerende Folgen, wie Mandeville, der Machiavelli der Wirtschaft, drastisch vor Augen führt: Eine »gute Stadt« ist eine sterbende Stadt, die üble Stadt dagegen blüht und gedeiht, wie es in der vorneuzeitlichen Moral nicht vorgesehen war. Die Theorie wendet sich ab von Platons erträumten Idealmenschen und legt den Menschen zugrunde, wie er wirklich ist – so die vielfach wiederholte Devise, der auch Kant folgt. Der Antiplatonismus findet seinen Ausdruck darin, daß nicht die Kardinaltugenden wirksam sind, sondern ihr exaktes Gegenteil, die Kardinallaster. Das Leben und gute Leben verdankt sich diesen Lastern: »private vices – public benefits« lautet das alternativlose Motto der Neuzeit. (Der Sozialismus versuchte, den Platonismus zu erneuern und konnte zwar die Unmoral der Gegenseite verhöhnen, aber mußte das Gute befehlen und unterlag dann der durch »vices« betriebenen Wirtschaft). In musterhafter Klarheit zeigt Christian Thomasius, daß die menschliche Gesellschaft seit Kains Auszug aus der Vereinigung der Gutgesinnten auf einer Maximierung des Profits für die drei Laster beruht. »Aber dieses einfache Leben (simplicitas vitae) und die einfache Religion mißfielen bald dem Kain, einem Mann, der der Lust, der Ehrsucht und der Habsucht (voluptatibus, ambitioni, & avaritiae) ergeben war. […] So mißbrauchte er seine Geisteskräfte und wich vom einfachen Väterleben ab, er gründete eine Stadt, verkündete Gesetze und erfand Künste, die das Leben des Menschen bequemer, angenehm und genussreich werden ließen.«408 Auch hier die Konsequenz des Gedankens, daß die Wohlfahrt der Kains-Gesellschaften angewiesen ist auf die drei Laster als der eigentlichen Triebkräfte des Zusammenlebens. Zum Leben mögen die Gutgesinnten in der Lage sein, das angenehme Leben (Hobbes’ »live well«) übersteigt ihre Fähigkeiten. 1753 publizierte die Berliner Akademie der Wissenschaften eine Preisaufgabe mit dem Thema, das System von Alexander Pope zu untersuchen, »welches sich in dem Satze befindet: Alles ist gut. Es 200 | kapitel 

kömmt 1) darauf an, den wahren Sinn dieses Satzes, der Hypothesi des Verfassers gemäss, zu bestimmen; 2) selbigen mit dem Systemate des Optimismi, oder der Wahl des Besten, zu vergleichen, um die besondern Gleichheiten davon, und den Unterschied auf das genaueste anzumerken, und 3) die allerwichtigsten Ursachen anzuführen, diese Systemata vest zu setzen, oder solche zu zernichten.« (zit. nach XVII 229,18–23) Es sind Skizzen Kants zu einer Beantwortung der Preisfrage erhalten, in denen er die beiden unterschiedlichen Systeme charakterisiert und dann gegen Leibniz für Pope votiert (XVII 229–239). In der Leibnizschen Welt seien die zugegebenen Mängel Defizite in der Durchsetzungskraft des Allmächtigen, während Pope umgekehrt die Mängel als Quellen des Guten sehe. Pope gehe die Schöpfung stückweise durch besonders da, »wo es ihr am meisten an Übereinstimung zu fehlen scheint; doch er zeigt, daß jedes Ding, welches wir gern aus dem Plane der größten Vollkommenheit wegwünschen möchten, auch vor sich erwogen gut sey […]. Die Wesentliche und nothwendige Bestimmungen der Dinge, die allgemeine Gesetze, die durch keine (ihnen abgenothigte fremde) (erzwungene) Vereinung in einen harmonirenden Plan gegen einander in Beziehung gesetzt sind, werden sich gleichsam von selber zu erhaltung volkommner Zwecke anschicken. Die Eigenliebe, die nur daß eigene Vergnügen zur Absicht hat und die augenscheinlich die Ursache der moralischen Unordnung zu sein scheint, die wir beobachten, ist der Ursprung derjenigen schönen Übereinstimmung, die wir bewundern. (Der Reichtum kann sich selbst) Alles, was sich selbst nützt, findet sich in der nothwendigkeit, zugleich andern nützlich zu seyn. Die allgemeine Bande, die das Gantze auf eine unerforschte Art zusammen verknüpfen, machen, daß die einzelne Vortheile sich immer auf den Vortheil der andern Dinge und zwar duch eine natürliche Folge beziehen. Also setzt ein allgemeines Naturgesetz diejenige Liebe (fest durch die Triebe), die das Gantze Erhält, fest, und zwar durch solche BewegungsUrsachen, die natürlicher Weise auch dasjenige Übel hervorbringen, deßen Quellen wir gerne vernichtet sehen möchten.« (XVII 234,2–23 – Refl. 3704) Es bedarf keines ideologiekritischen Röntgenblicks, um in den beiden Optimismus-Varianten bei Leibniz das metaphysische Manifest des kontinentalen Despotismus, bei Pope das der liberalen Marktwirtschaft zu entdecken. Im vertikalen System von Leibniz sind die Übel der mensch und die geschichte der menschheit | 201

der Untertanen in der Schöpfung ein Unvermögen des Herrschers, seinen Willen zu verwirklichen, im horizontalen System von Pope sind die sichtbaren moralischen Mängel tatsächlich die Kräfte der Erhaltung des Ganzen von unten. Bei Pope gibt es keine abgenötigte, fremde, erzwungene Vereinigung, sondern eine Gesellschaft, in der jeder sein Eigeninteresse realisiert und dadurch – »auf unerforschte Art« – das Interesse der andern und des Ganzen fördert. Der Modernisierer Deutschlands, Kant, steht natürlich auf der Seite von Alexander Pope. Daß er den politisch-ökonomischen Kern des metaphysischen Pudels erkannt hat, steht außer Frage. Es mag für die Mandevillesche Analytik ökonomischer Antriebskräfte, vielleicht auch den Locke-Kenner Thomasius verstärkend hinzugekommen sein, daß John Lockes Two Treatises of Government in der Eigentumslehre des zweiten Traktats zeigen, daß die Reichen reicher werden müssen, damit die Armen reicher werden, denn je mehr Boden aus dem Allgemeinbesitz in das Eigentum der produktiven Bürger überführt wird, desto wohlhabender werden auch die, die dadurch vom Eigentum am Boden ausgeschlossen werden. Der Reiche, der die Armen übervorteilt, macht sie reicher, so lautet die dialektische Formel der Produktivkräfte, die an die Stelle der gerechten Distribution einer fixen Gütermenge tritt. Auch hier eine paradoxe Verkehrung der überkommenen Werteverteilung, in der die gerechte Verteilung gut und die ungerechte schlecht war. Herrschaft, Ehre und Reichtum sind knappe Güter im Sozialgefüge; die drei rivalisierenden Süchte der Ehrsucht, Herrschsucht, Habsucht sind bei Kant die blinden Triebkräfte der Menschheitsgeschichte; sie erzeugen, was ihre Akteure nicht wollten: Das Gute des Ganzen. Noch im Ewigen Frieden (1795) wird an die selbstsüchtigen Neigungen und bösen Gesinnungen appelliert, die sich bei aller Gegenstrebung so austarieren, daß sie die Menschen in ein geordnetes Ganzes mit Zwangsgesetzen nötigen. Der Mechanismus der Laster ist so programmiert, daß der private Gewinn eines jeden maximiert wird, wenn es ein funktionierendes Rechtssystem gibt. Deshalb kann Kant 1795 sagen: »Das Problem der Staatserrichtung ist, so hart wie es auch klingt, selbst für ein Volk von Teufeln (wenn sie nur Verstand haben) auflösbar und lautet so: ›Eine Menge von vernünftigen Wesen, die insgesammt allgemeine Gesetze für ihre Erhaltung verlangen, deren jedes aber insgeheim sich davon auszunehmen ge202 | kapitel 

neigt ist, so zu ordnen und ihre Verfassung einzurichten, daß, obgleich sie in ihren Privatgesinnungen einander entgegen streben, diese einander doch so aufhalten, daß in ihrem öffentlichen Verhalten der Erfolg eben derselbe ist, als ob sie keine solche böse Gesinnungen hätten.« (VIII 366,15–23) Aus den konfligierenden Interessen kann bei verstandesmäßiger Organisation ein sich selbst erhaltendes Ganzes entstehen, in dem die Begehrungen aller und eines jeden optimal befriedigt werden können. Hier ist jedoch in einem kurzen Nebengedanken davor zu warnen, diesen Staat der äußeren Freiheitsverwaltung für den Kantischen Rechtsstaat zu halten. Wir werden dabei eine Komponente einbeziehen, die schon angesprochen wurde: Das Lasterprogramm soll nicht nur die diabolische Staatserrichtung ermöglichen und den Bestand gewährleisten, sondern darüber hinaus den Fortschritt der Menschengattung in rechtlich-moralischer Hinsicht garantieren. Der von den Teufeln projektierbare Staat ist jedoch so wenig der Kantische Rechtsstaat, wie eine sich administrativ organisierende Piratenbande die Platonische Polis darstellt. Die entgegengesetzte Meinung ist allerdings selbst von Kant-Kennern immer wieder zum Schaden der Wahrheit publiziert worden. Kant lässt seiner Rechtslehre von 1797 einige Prämissen vorangehen, die ausschließen, daß Wesen, die nur über einen instrumentellen Verstand409, aber nicht über eine reine praktische Vernunft und damit Personenqualität verfügen, Eingang in die Rechtslehre finden. Das gesamte Recht ist im kategorischen Imperativ begründet (VI 226,1–3); jeder Mensch hat die Würde einer Person, die u. a. im Eherecht, im Kinderrecht, im Strafrecht eine handlungsfordernde und handlungslimitierende Funktion unabhängig von allen allgemeinen Nutzerwägungen hat. Warum sollten Teufel die Tötung des Embryos einer schwangeren Frau als strafbaren Mord ansehen (VI 422,5–9)? Warum sollten Teufel die Tortur im Strafrecht ausschließen oder die Verwendung von zum Tod Verurteilten für medizinische Zwecke verbieten? Nur als Vernunftwesen genießt der Verbrecher im Kantischen Strafrecht den Schutz der »angeborenen Persönlichkeit« (VI 331,27–28); nur für den Menschen als Vernunftwesen ist die Grundlegung des Rechts in der reinen praktischen Vernunft möglich und nötig (vgl. VI 268,11 und 273,23–25). der mensch und die geschichte der menschheit | 203

Es ist abwegig, die Rechte und Pflichten auf Wesen zu applizieren, für die das rein sittliche »honeste vive« (VI 236,24) keine Geltung hat. Die Gegenstellung von Engeln und Teufeln im Ewigen Frieden (VIII 366,4 und 16) hat Kant dazu verlockt, die alte Idee einer Räuberbande, die auf eine partielle interne Gerechtigkeit angewiesen ist, für das Problem der Staatserrichtung zu benutzen. Er hätte auf den nur experimentellen Charakter seiner Überlegung und die Distanz zum eigenen Rechtsstaat hinweisen sollen, um Mißverständnise zu vermeiden. Der Teufelsstaat erfüllt eine partielle notwendige Bedingung für einen menschlichen Rechtsstaat (die gesetzliche Übereinstimmung der äußeren Freiheit eines jeden mit der aller anderen), aber keine hinreichende. Die drei Süchte sind wohldosiert und rational, es sind keine barock wütenden Leidenschaften, deren Wirken in einem Trauerspiel endet. Sie sind domestiziert durch den Austausch von Interessen, die im Selbstbewusstsein der Agenten als Ehrsucht, Herrsucht und Habsucht auftreten und die nötige Schubkraft gewinnen. Hier sind wir selbstverblendete Instrumente der Natur, die uns für ihre Zwecke benutzt, ohne daß wir es wissen, also blind und fremdgesteuert. Ähnlich zu beurteilen sind die renommierten Laster »Faulheit, Feigheit und Falschheit« (VII 276,12), bei deren Nennung Kant zustimmend anmerkt, daß ein gewisser Demetrius der Feigheit und Faulheit einen Altar errichtete. Die produktiven Übel, die im einzelnen aufgeführt werden, sind keine bloßen Scheinübel, die sub specie aeternitatis und aus der Perspektive des Ganzen als Übel verschwinden (wie in der traditionellen Theodizee), sondern sind real wirksame Leidenschaften, die, als unabdingbare Mittel der Natur, den Menschen zur moralischen Emanzipation und zur Autonomie zu führen. Weil der Mensch nicht sogleich moralisch ist (wozu die reine praktische Vernunft ihn unablässig auffordert), muß er den langen schmerzlichen Weg durch die selbstbereiteten Qualen der Geschichte gehen. Die Übel also peitschen ihn voran, weil er sich von der Pflicht nicht anziehen läßt. Daraus folgt das gleiche Ergebnis wie in der alten Theodizee, nur aufs Praktische gestellt: Alle Übel sind, richtig betrachtet, gut, gut jedoch nicht in sich, sondern als reale Mittel zur Herbeiführung des wirklich Guten, das einzig im autonomen Willen des Menschen liegt. Da dieser sich nur in einer vollendeten bürgerlichen Gesell204 | kapitel 

schaft wirklich entwickeln kann, muß diese letztere noch unter dem Zwangsregime der Natur dem Menschen heteronom abgenötigt werden. – Es ist deutlich, daß der Leitfaden, mit dem der regelmäßige Gang der Geschichte sichtbar wird, moralisch-rechtlicher Natur ist und somit der Newton der Geschichte seinen Sonnen-Standpunkt in der reinen praktischen Vernunft findet. Dieser Standpunkt überwindet die Sehweise, die sich von den verwirrenden Erscheinungen irritieren läßt und in der Menschheitsgeschichte ein sinnloses Hin und Her erblickt, ein Infernum, das überschrieben ist mit den Worten »Lasciate ogni speranza«. Dazu gleich Näheres in der Analyse der »kopernikanischen Wende«. Man beachte: Die Übel sind selbstverschuldet, weil die Menschen nicht seit Beginn und auf Dauer moralisch sind, sondern ihre Freiheit mißbrauchen. Nun ist dieser Mißbrauch der Freiheit von der vorsorgenden Natur gewollt, denn nur unter seiner Bedingung kann die von ihr intendierte Besiedlung der Erde im ganzen und damit eine kosmopolitische Rechtsgesellschaft verwirklicht werden, nur unter dieser Bedingung gelangt der Mensch zur Kultivierung seiner Anlagen und zur Zivilisierung des gesellschaftlichen Umgangs. Felix culpa – der freie Mißbrauch der Freiheit entpuppt sich unter dem Blick des Finalisten als glückliche Inszenierung der Natur. Kant spricht möglichst nicht von Gott, sondern bezeichnet in der Anthropologie in pragmatischer Hinsicht (1798) den mephistophelischen Diener als Demiurgen (VII 331,33)410. Die Natur soll Keime der Moral in den Menschen gelegt haben, die sich am Ende der Menschheitsgeschichte entfalten; auf den blutigen Wegen hin zum Ende führt der Demiurg die Regie. Dieses Ende wiederum ist für die krummgesinnten Menschen so wenig erreichbar wie der Ewige Friede. Schopenhauer zieht aus den von Kant zugestandenen Übeln die pessimistische Konsequenz, daß das Weltgeschehen das Produkt eines bösen Willens ist und daß das menschliche Leiden gänzlich hoffnungslos ist, es sei denn, die Hoffnung richte sich auf die Erlösung durch das Nichts.411 Marx schlußfolgert aus der von Kant (und vielen anderen Autoren des 18. Jahrhunderts) zugestandenen Situation, daß die menschliche Geschichte und das gegenwärtige gesellschaftliche Geschehen nicht von menschlichen Subjekten, sondern von einer unsichtbaren Hand der Natur gelenkt wird, daß es einer der mensch und die geschichte der menschheit | 205

Änderung der Gesellschaft selbst bedarf, um aus der Naturgeschichte blinder Akteure endlich eine vom Menschen für den Menschen gelenkte Gesamtgesellschaft und -geschichte zu machen. Die Strategie der Vorsehung führt dazu, daß das Mitglied der bürgerlichen Gesellschaft sich aufteilt in Dr. Jekyll und Mr. Hyde; er (der Mann, nicht die Frau) agiert unvermeidlich im System der Antagonismen von gesellschaftlicher Ehrsucht, Herrschsucht und Habsucht und realisiert zugleich eine im Prinzip folgenlose Sittlichkeit, denn die Vorsehung wird den Gang zum Ziel der Geschichte kollektiv erzwingen, was immer die einzelnen Menschen tun. Der eine Akteur handelt bewusst als verantwortliches Subjekt, der andere unbewußt als heteronom gelenkte Natur, als bloße (soziologisch gesprochen) Macht, als (psychologisch gesprochen) bloßes subjektloses Es. Nur die Idee, dieses Macht-Es sei die Vorsehung und sie führe alles auf ein gutes Ende hin, bewahrt die Theorie vor der gänzlichen Dissoziation von Moralität und geschichtlicher Wirklichkeit. Daß die Vorsehung die Geschichte auf das gute Ziel von Recht und Moral hinlenkt, ist kein theoretischer Beweis, sondern ein praktisches Postulat, das uns vor der Verzweiflung retten soll. In derselben Differenz ist die unterschiedliche Handlungslogik der Theory of Moral Sentiments (1759) und der Wealth of Nations (1776) von Adam Smith begründet; auf der einen Seite steht das Prinzip der »sympathy«, auf der anderen gilt: »Das oberste Gesetz eines jeden, der mit jemand ein Geschäft macht, heißt, er darf sich nicht in die Lage des Anderen versetzen. Mitgefühl lähmt.«412 Ehrsucht, Herrschsucht und Habsucht sind nicht nur die unentbehrlichen Gründungs- und Wohlstandskräfte der Menschengesellschaft, wie sie von Mandeville mit poetischem Realismus dargestellt werden, sondern auch das selbst blinde Mittel der Vorsehung, die die Geschichte vom Anfang bis zu ihrem naturgeschichtlichen Ende lenkt. Es ist die Herrschaft der Natur, die uns zu unserer Bestimmung, zur Freiheit, d. h. zur Emanzipation von der Natur und dem Beginn der Menschheitsgeschichte mit allen erdenklichen Mitteln zwingt und am Ende aller nicht mehr möglichen Tage die Moral zu unserer zweiten Natur werden ließe. Der Natur und ihrem kategorischen Vorwärts heiligt der Zweck jedes Mittel, sie verfährt insofern rein utilitaristisch, sie nötigt den Menschen mit Feuer und Schwert zur globalen Besiedlung, sie zwingt ihn mit kriegerischen 206 | kapitel 

Verwüstungen zur Gründung von Staaten, sie treibt ihn mit den Geißeln der Ichsucht zur Zivilisierung und Kultivierung, die immer noch in die Domäne der Natur fallen, bis endlich der Überschritt zu wirklichem Recht und allgemeiner Moral gemacht werden kann und die Menschheit ihre innere Spaltung von instrumenteller Leidenschaft und vernünftiger Selbstbestimmung überwunden hat und damit als Menschheit nicht mehr existiert. Die Zukunft des guten Gottes liegt im Jenseits, die des Demiurgen dagegen auf der Erde, denn die Menschheit im Ganzen ist ein Naturgebilde, das keine Jenseitshoffnung kennt. So hat der Mensch zwei Zukünfte, zwei Theoilogien, zwei Seelen in einer Brust, wobei die eine von der anderen nichts weiß, es sei denn, durch die Instruktion des Philosophen. Aber diese Instruktion löst das Rätsel der bürgerlichen Doppelexistenz nicht auf und ist insofern vielleicht wahr, aber nicht nützlich. Kant wollte aus dem eklatanten Konflikt keine Tragödie inszenieren, sondern unterwarf sich dem Primat der praktischen Vernunft, der den theoretischen Optimismus zur Pflicht erhob. Was bleibt dem Menschen, der zum Handeln in der Zeit und der Geschichte gezwungen ist, sonst übrig? Man kann aus der Retrospektive für die deutsche Situation sagen, daß die Wolffsche Philosophie die Spannung zwischen bürgerlichem Liberalismus und Staatsmonopol noch zugunsten der patriarchalisch fürsorgenden Staatsseite entscheidet und sich beides erst in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts als unverträglich auseinander entwickelt. Dann bleibt auf der Staatsseite nur die Leistung des äußeren Rechtsschutzes übrig, allenfalls inklusive der Infrastruktur von Schulen, Universitäten, Straßen etc. Die abgekoppelte Wirtschaft folgt den Impulsen der einzelnen freien Akteure im »laisser faire, laisser aller« (vgl. VII 19–20), sie bietet als solche jedoch nicht mehr die bewußte Gewähr, das Gute des Ganzen und den Reichtum der Nationen zu befördern. Dies ist die Problemsituation bei den Diagnostikern der freien Wirtschaft, etwa Mandeville und Adam Smith. Der erste stellt fest, daß die antagonistische, moralisch hemmungslose Wirtschaft die einzige Quelle des public benefit ist; bringt man sie zum Versiegen, gibt es für die Volkswirtschaft keine Rettung – so das nüchterne Fazit des Bienen-Fabel-Experiments. Der Arzt Mandeville steht nur für dieses »Wenn – dann« ohne philosophische Zutat. Adam Smith dagegen führt die neostoder mensch und die geschichte der menschheit | 207

ische »invisible hand« als Staatssurrogat ein, und Kant entwickelt mit derselben Zielsetzung seine Geschichtsphilosophie: Der amoralische Antagonismus ist der von der Vorsehung gewollte Motor der Menschheitsentwicklung; die Vorsehung ist die Erklärung und der Garant des »public benefit«, auf den alles intern blind und doch von der Vorsehung wunderbar gesteuert hinausläuft. (Diese Lösung konnte die neostoische Epoche nicht überdauern; bei Marx wurde die Gesellschaft als Gesamtsubjekt gedacht, der Staat als das Äußere der Gesellschaft aufgehoben und in diese selbst hinein gelegt; bei den liberalen Rivalen wurde der Staat als Wohlfahrtsstaat mit der Aufgabe betraut, die Wirtschaft durch Steuern und Soziallenkung für das nationale Wohl zu domestizieren. Wie diese Aufgabe zu bewältigen ist, wenn die Ökonomie der staatlichen Einhegung entwächst und sich zur Globalökonomie wandelt, können diese Gedankenmodelle des 18. Jahrhunderts nicht mehr beantworten.) Die Akteure sind blind für alles, was ihre Gier überschreitet und auf das Ganze zielt, und diese Blindheit oder Vernunftlosigkeit ist konstitutiv für das System. Wer als ökonomischer Akteur mit seinen Operationen selbst und unmittelbar auf das Wohl der Gesellschaft zielt, begeht einen Kategorienfehler und pfuscht der Natur ins Handwerk. Aber derselbe Akteur, in dessen Naturrepertoire am Ende der Trias das Verbrechen steht, ist als moralisches Subjekt unerbittlich der Mittelkontrolle seiner Maximen unterworfen. Wie ist beides zu vereinen? Die Tagnacht-Existenz von Dr. Jekyll und Mister Hyde als Entwurf der provisorischen Vernunft, die eines Tages nur noch die Moral kennt und so den Anfang im Tierischen endgültig abgestreift hat und ihre eigene Einheit findet? Bis dahin ist der skrupellose Akteur der Gesellschaft das fremdbestimmte Instrument der zukunftsorientierten Vorsehung. Bei Kant und seinen moralisch-gesellschaftlichen Subjekten gibt es keine Reflexion über das Verhältnis der beiden Handlungsebenen. Die gesellschaftlichen Triebkräfte sind rechtlich kanalisiert, aber nicht ethisch sozialisiert; die Tugend ist nicht aufgerufen, gegen die drei Suchtformen zu opponieren. Mandeville hatte gewarnt: Wenn die Tugend tatsächlich in das Triebwerk der Gesellschaft eingreift, führt sie sie in den Ruin und vom Luxusstaat zurück in den primitiven Baumstamm. Kant wird annehmen, daß die Furcht vor einer Übermacht der Tugend gegenstandslos ist, weil die Natur dafür gesorgt hat, daß das Sollen 208 | kapitel 

der Einzelnen und der ethischen Kirche es mit der faktischen Gewalt im Kampf um Anerkennung beim krummen Holz, das wir sind, nicht aufnehmen kann. Wir können sogleich eine Beobachtung anschließen, die für die Postulatenlehre der KpV und überhaupt für die Theologie der Folgezeit wichtig ist: Wenn das Leben in der Monarchie besonders von der Herrschsucht, in der Aristokratie von der Ehrbegierde und in der Demokratie von der Habsucht abhängt, dann kann man das Böse oder den Bösen nicht mehr als Höllenkräfte brandmarken. Wenn der Bestand der Gesellschaft nicht angewiesen ist auf die Moral, wie man bis tief ins Mittelalter annahm, sondern auf die dynamischen Kräfte der Mißgunst und Selbstsucht, dann muß in ihnen eine Potenz liegen, die nicht im binären Schema von Gut und Böse stigmatisiert werden kann. Dann aber verliert die Hölle jede Funktion, denn sie ist ins irdische Leben integiert und braucht sich nicht an einem dritten Ort neben Himmel und Erde zu verbergen. Wir werden sehen, wie sich Kants Gedanken-Gott jede Drohung mit Höllenstrafen versagt und nur noch ein Nachleben nach dem Tod gewährt, in dem Glück und Moral justiert werden; der Verbrecher braucht keine ewige höllische Strafe zu befürchten, sondern er hofft auf ein allenfalls reduziertes Glück. Vielleicht hat er, getrieben von Ehrsucht, Herrschsucht oder Habsucht, der Weltgeschichte die entscheidende Wende zum Fortschritt im Zivilisieren und Kultivieren gegeben. Kann dieser verdienstvolle Mensch nach seinem Tod auf Ewigkeit in die lodernden Flammen der Hölle geworfen werden? Die Hölle eignet sich nur noch für das Theater, für Faust II und Don Giovanni, und das »Dies irae« verklingt mit dem Gesang in der Kirche. Astronomie, Biologie und Physik liefern die anschaulichen und begrifflichen Ressourcen für die neue Wissenschaft der Menschheitsgeschichte. Sie sind nach keinem Prinzip geordnet und sind offenbar nicht aufeinander abgestimmt. Sie dokumentieren, daß die Menschheit in ihrer Geschichte in die vorsehende Natur integriert ist. Die Idee der Keime des Guten passt jedoch kaum zur antagonistischen Entfaltung unserer Kräfte, denn die erste wird eingeführt mit dem Hinweis, daß sie, die Keime, in unserer Gattung zu derjenigen Stufe der Entwicklung getrieben würden, »welche ihrer Absicht vollständig angemessen ist« (VIII 19,9–10).413 der mensch und die geschichte der menschheit | 209

Hinzuzufügen ist ein Gedanke, der wieder aus England stammt, dem Land mit der avanzierten Ökonomie und Politik und mit dessen Philosophie Kant die Adels- und Zopfmetaphysik des Freiherrn von Wolff zermalmte. John Locke hatte sich gefragt, wodurch eigentlich die Menschen zum Handeln bewegt werden, durch die Attraktion des vorgestellten, künftigen Guten oder die Repulsion des jetzt spürbaren Übels. Er kannte die Lösung von Aristoteles, gemäß der die wenigen Elitemenschen dem Guten um seiner selbst willen folgen, während die Masse nur durch die Angst vor der Strafe zum sittlichkeitskonformen Handeln zu bewegen ist.414 Auf diese Zweiteilung wollte man in der Neuzeit ungern zurückgreifen, weil sich die erste Gruppe vielleicht als Leerklasse erweisen konnte. Nach Locke galt als anthropologische Konstante, daß der Mensch zum Handeln nur durch präsente »uneasiness« zu bewegen ist, nicht aber durch das vielleicht doch recht ferne Gute. Der jeweils gegenwärtige Schmerz ist der unentbehrliche Antrieb zum Handeln, »the spur of action«.415 Eine Negativanthropologie, der auch Kant in seinen anthropologischen Vorlesungen folgte.

Die Evolution des Naturrechts Die Transformation des Völkerrechts »Damit aber alle Kriege nicht nöthig wären, so müste ein Völckerbund entspringen, wo alle Völcker durch ihre Deputirte einen allgemeinen Völcker Senat constituirten, der alle Streitigkeiten der Völcker entscheiden müßte, und dieses Urtheil müste durch die Macht der Völcker executirt werden, denn stünden auch die Völcker unter einem foro und einem bürgerlichen Zwange.« (XXV 696,11– 17) Diese Vorstellung der Anthropologie-Friedländer (1775–1776) gibt Kants Idee zu einer Völker-Vereinigung wieder, die nach dem Vorbild der staatlichen Vereinigung von Individuen gedacht ist. Gesetzgebung und Exekution sind die beiden Säulen des Staats und des Staatenstaats. Derselbe Grundtext steht in der Idee zu einer allgemeinen Geschichte in weltbürgerlicher Absicht (VIII 28,20–37) und im Gemeinspruch (VIII 312,25–29; 313,10–11). Die Staaten müssen ihre »wilde Freiheit« aufgeben und sich einem Völkerbund unter210 | kapitel 

werfen, der, wie schon der Abbé von Saint Pierre und Rousseau vorgeschlagen hatten, zu gemeinsamen Willensbildungen gelangt und die Beschlüsse notfalls mit Gewalt gegen renitente Gliedstaaten durchsetzen kann. 1784 ist es eindeutig Kants Auffassung, daß es in einem Zustand des äußeren latenten oder offenen Krieges nicht möglich ist, den einzelnen Staaten eine wirklich rechtliche Verfassung zu geben. Jeder einzelne Staat ist genötigt, in Gladiatorenhaltung den Angriff seiner Nachbarn zu erwarten, sie durch Höherrüstung abzuschrekken und ihrem Angriff bei günstiger Gelegenheit zuvorzukommen. Der Hobbessche Naturzustand mit seinem Krieg aller gegen alle ist die unvermeidliche Lage der Staaten in ihrem äußeren gesetzlosen Verhältnis. Und es gibt nur eine Lösung: Die Regenten müssen ihr eigenes Interesse in der Gründung und im Beitritt zu einem Völkerbund realisieren. Dieser Völkerbund ist jedoch kein lockerer Staatenbund, sondern ein Bundesstaat. Er reproduziert auf neuer Ebene exakt die Struktur der Staaten, in die die einzelnen Menschen zur Vermeidung der Übel des Naturzustandes in einer vergangenen Geschichtsphase flüchteten. Kant meidet es, von einem Weltstaat zu sprechen, weil sich der neue Staatskörper nicht direkt auf die Bürger, sondern auf die in ihm vereinten Staaten bezieht. Die Staaten treten in einen Völkerbund, »wo jeder, auch der kleinste Staat seine Sicherheit und seine Rechte nicht von eigener Macht, oder eigener rechtlichen Beurtheilung, sondern allein von diesem großen Völkerbunde (Foedus Amphictyonum), von einer vereinigten Macht und von der Entscheidung nach Gesetzen des vereinigten Willens erwarten könnte.« (VIII 24,24–28) Man beachte die Dualität: einerseits Sicherheit und Macht, andererseits Beurteilung und Entscheidung nach Gesetzen. Ebendies sind die entscheidenden Funktionen auch des einzelnen Staats. Er soll erstens die Rechte seiner Bürger nach Gesetzen bestimmen, und er soll zweitens diese Rechte schützen: Der Mensch soll »in einen Zustand treten, darin jedem das, was für das Seine anerkannt werden soll, gesetzlich bestimmt und durch hinreichende Macht (die nicht die seinige, sondern eine äußere ist) zu Theil wird […].« (VI 312,18–21) Am Schluß des 8. Satzes ist von einem »Staatskörper« die Rede (VIII 28,30), der als »weltbürgerlicher Zustand« erläutert wird (VIII 28,34–35) – also handelt es sich um einen status civilis aller Staaten, »von dem die Vorwelt kein Beider mensch und die geschichte der menschheit | 211

spiel aufzuzeigen hat.« (VIII 28,29) Hiermit wird der Vergleich mit einem lockeren Bündnis im Sinne eines »foedus Amphictyonum« revoziert und klargestellt, daß es eine derartige, im Prinzip alle Staaten umfassende Staatenkongregation, deren Gliedstaaten ihre Souveränität verloren haben, bisher nie gegeben hat. Diese Auffassung findet sich noch am Ende des Gemeinspruchs von 1793: »Kein Staat ist gegen den andern wegen seiner Selbständigkeit oder seines Eigenthums einen Augenblick gesichert. […] Nun ist hierwider kein anderes Mittel, als ein auf öffentliche mit Macht begleitete Gesetze, denen sich jeder Staat unterwerfen müßte, gegründetes Völkerrecht (nach Analogie eines bürgerlichen oder Staatsrechts einzelner Menschen) möglich […].« (VIII 312,20–29) In diese Argumentation gehört folgende, in der Literatur übersehene (weil unter dem Titel »Medicin« versteckte) Reflexion aus der Phase bis 1793: »Die Wissenschaften stehen so wie die Menschen unter der Vorhergehenden Bestimmung, daß, nachdem sie lange Zeit wie Wilde sich abgesondert angebauet haben, sie zuletzt in Gesellschaft, zuerst in kleine, dann größere Zusammen stoßen, bis sie endlich ein System bilden, darin ein jeder Theil dem anderen behülflich ist, ohne sich doch zu vermischen, sondern ihre Grenzen genau von einander zu unterscheiden, wie Staaten, die nicht in eine Universalmonarchie, sondern zuletzt in einen großen Volkerbund vereinigt werden, da eine jede [sc. Wissenschaft] sich innerlich fruchtbar und wohlgeordnet macht und jede ein Centrum ist, auf dessen Erhaltung sich die übrige beziehen und keine mit Abbruch der anderen wachsen kann.« (XV 953,16–26) Hier wird die Vorstellung eines Staatensystems evoziert, das den einzelnen Staaten die Souveränität beläßt und das trotzdem gewährleistet, daß sich die Staaten unter einander wie Glieder eines Organismus verhalten.416 Die Lösung nach 1793 wird durch die Beobachtung eines naturnotwendigen internen Wandels der Staaten vorbereitet in den achtziger Jahren, die staats- und völkerrechtliche Realisierung bringt jedoch erst die Schrift Zum ewigen Frieden. Es ist ungeklärt, welches Interesse die Fürsten haben sollten, in einen Völkerbund zu treten, der ihrem Staat die Souveränität nimmt, und es ist ebenfalls ungeklärt, warum es im »status civilis cosmopoliticus« noch der intermediären Staaten bedarf – sie geben nicht nur ihre Souveränität in der Entscheidung über Krieg und Frieden ab, 212 | kapitel 

sondern stehen zur Disposition des »vereinigten Willens« (VIII 24,27). Im Hinblick auf den ersten Punkt macht Kant nicht die Fürsten, sondern die Staaten zu handelnden Subjekten: »[…] so ist es doch der unvermeidliche Ausgang der Noth, worein sich Menschen einander versetzen, die die Staaten zu eben der Entschließung (so schwer es ihnen auch eingeht) zwingen muß: seine brutale Freiheit aufzugeben und in einer gesetzmäßigen Verfassung Ruhe und Sicherheit zu suchen.« (VIII 24,30–35) Aber wie sollte dies anders geschehen als durch die Unterwerfung des einen Staats unter den mächtigeren, der die zunehmend schwächeren Staaten absorbiert und am Ende ein Weltstaat werden könnte? Eben dies ist nicht Kants Ziel, denn in einem derartigen Großstaat herrscht nach seiner durchgängigen Auffassung (belehrt durch das Beispiel Rußlands) unweigerlich der größte Despotismus, weil sich ohne eine tyrannische Regierungsart die Gesetze nicht durchführen lassen – eben dies ist Kants verschiedentlich geäußerte Meinung. Man sieht: Die Position ist unhaltbar. Die Korrektur erfolgt 1795 im Ewigen Frieden; jetzt ist es möglich, daß ein einzelner Staat sich trotz anfänglicher kriegerischer Intervention anderer Mächte eine republikanische Verfassung gibt und daß dann andere Staaten sich ebenfalls in Republiken verwandeln. Da die Republiken nach einem bestimmten Neigungsmechanismus prinzipiell friedfertig sind, können sie sich problemlos zu lockeren Bündnissen vereinen. Der Weltfriede wird somit von den einzelnen friedlichen Staaten und Staatenbünden realisiert; er bedarf keines einheitlichen großen »Staatskörpers«, innerhalb dessen sich allererst eine rechtliche Verfassung der Einzelstaaten verwirklichen läßt. Zwischen 1793 und 1795 entdeckte Kant durch die Beobachtung des revolutionären Prozesses in Frankreich, worin eine rechtskompatible und erfahrungsnahe Lösung liegen könnte: Es ist die Republikanisierung eines einzelnen Volks. Die Französische Revolution (der neunziger Jahre! Nicht die der Ereignisse von 1789) führt Kant dazu, seine Anhängerschaft an Rousseau und den Abbé von Saint Pierre aufzukündigen (sie werden 1795 nicht mehr erwähnt, im Gegensatz zu 1784 und 1793), seine bisherige Auffassung stillschweigend aufzugeben und durch eine neue zu ersetzen. In der neuen triadischen Gliederung von Staats-, Völker- und Weltbürgerrecht wird das Gewicht vom Völkerrecht in das Staatsder mensch und die geschichte der menschheit | 213

recht zurückverlagert; wenn ein Staat intern republikanisch verfasst ist, folgt die völkerrechtliche Friedfertigkeit von selbst, es genügt, um der Friedensbestimmung der Menschheit gerecht zu werden, ein freier Föderalismus innerlich freier Staaten. Hier scheint sich die rechtlich-politische Argumentation von allen ökonomischen Überlegungen fortbewegt zu haben – was hat die Republik mit der Ökonomie zu tun? Tatsächlich stoßen wir jedoch auf die freie Marktwirtschaft im Zentrum der Argumentation. Die Möglichkeit der Republik als der einzig rechtlichen Staatsform im Unterschied zur Despotie liegt in einer nicht-monopolistischen Wirtschaftsform, denn im Rechtsstaat wird erstens die französische Trias von »liberté, égalité, fraternité« übernommen und für die Aktivbürger in »Freiheit, Gleichheit, Selbständigkeit« verwandelt; d. h. politische Teilnahme an der Gesetzgebung erwerben nur diejenigen freien und gleichen Bürger, die sich in der Gesellschaft als Wirtschaftssubjekte oder Beamte bewährt haben. Das Staatsrecht ist also ohne eine ökonomisch-liberale Substruktur nicht denkbar. Zweitens folgt hieraus für das Völkerrecht die Friedfertigkeit der Republik, weil die Bürger ihr eigenes Vermögen nicht leichtfertig aufs Spiel setzen werden; damit aber wird der Weg zum Frieden beschritten; auch hier ist also der entscheidende Faktor die Ökonomie. Kant erörtert die drei staatsbürgerlichen Eigenschaften im Gemeinspruch (VIII 289–296), in der Friedensschrift (VIII 349–353) und in der Rechtslehre der Metaphysik der Sitten (VI 313–315). Die Freiheit des Menschen als einer Rechtsperson begründet die Gleichheit;417 in einer Republik sind alle Menschen, sogar die noch nicht geborenen (Tötung eines Embryos ist Mord, VI 422,6–9) wie auch die bereits toten (Testamentsrecht), Personen, frei und gleich. Der für uns entscheidende Punkt ist der dritte, in dem das Begriffsritual ins Stocken gerät: »Freiheit, Gleichheit, Ungleichheit«, denn die Bürger sind ungleich im Hinblick auf das Recht, aktiv an der Gesetzgebung teil- oder nicht teilzunehmen (VIII 294–296; VI 314,11– 315,22). Die Bruchstelle zwischen (formaler) Freiheit und Gleichheit und (inhaltlicher) Ungleichheit der Bürger einer Polis oder eines Staats bedürfte einer gesonderten Studie, in der Kant einen Platz zwischen Aristoteles418, John Locke419 und John Rawls einnehmen müsste. 214 | kapitel 

Das Sachproblem, um das es sich handelt, ist schnell umrissen; es müssen einerseits Kriterien festgelegt werden, um zu entscheiden, wer überhaupt Bürger eines bestimmten Staats ist; die großen Alternativen sind das jus soli und das jus sanguinis. In einer Republik ist nach Kant jeder anerkannte Bürger des Staats notwendig frei und gleich, selbst wenn noch ungeboren, debil oder schon tot. Daß die Teilnahme an der Gesetzgebung jedoch auf einen Teil dieser Bürger eingeschränkt sein muß, leuchtet jedermann ein, wie können Embryos, Kleinkinder und Debile als aktive Staatsbürger agieren? Die Losung der »fraternité« übertüncht nur das Problem der notwendigen Ungleichheit der Gleichen und eignet sich eher für Deklamationen als für das Staatsrecht. Wer hat das aktive und passive Wahlrecht unter den freien und gleichen Bürgern, wer kann unmittelbar oder durch Repräsentanten vermittelt an der Gesetzgebung teilnehmen und ist damit aktiver Staatsbürger, mitorganisierendes Glied und nicht nur Teil des Gemeinwesens? Nur der aktive Staatsbürger ist rechtlich autonom.420 Die einfachste Grenze ist die der naturalen Mündigkeit, die zwar individuell schwankt, jedoch auf einen Mittelwert zwischen 15 und 20 Jahren festlegbar ist. Mit der Mündigkeit ist im Prinzip die natürliche Fähigkeit erreicht, durch eigenes Urteil an der Gesetzgebung teilzunehmen. Die Ungleichheit unter den Gleichen kann dadurch rechtlich bestimmt werden, indem die zur Teilnahme an der Gesetzgebung Befähigten dazu auch rechtlich befugt werden. Der Unmündige ist auf jeden Fall ausgeschlossen (so wie das Tier nicht das Ideal des Schönen verwirklichen kann). Kant markiert die Grenze allgemeiner so, daß aktiver citoyen nur der selbständige bourgeois sein kann (VI 314–315); die Bestimmung des öffentlichen Rechts greift damit auf Qualifikationen des Privatrechts zurück, die nun ihrerseits schwer genau anzugeben sind. »Folgende Beispiele […]« (VI 314,24) – an die Stelle einer begrifflichen Bestimmung treten Beispiele, die die Grenze ungefähr markieren; sie besagen, daß der rechtlich Selbständige mit eigenen Produkten auf dem Markt Handel treibt oder aber Beamter des Staats ist. In beiden Fällen ist damit das Eigeninteresse mit dem öffentlichen Interesse verbunden, die »volonté de chacun« kann zur »volonté générale« werden, da der bürgerlich Selbständige seine eigene Wohlfahrt mit dem Wohlergehen des bestimmten einzelder mensch und die geschichte der menschheit | 215

nen Staats auf Dauer verbindet (im Gegensatz etwa zum Wanderarbeiter). Während das Mündigkeitsprinzip die Selbständigkeit zu einer Naturgabe, also zu etwas Äußerlichem macht, verbindet die allgemeinere Kantische Bestimmung die höchste rechtliche Befugnis mit dem Nachweis einer eigenen Tätigkeit; die Qualifikation zum Staatsbürger muß in der bürgerlichen Gesellschaft selbst erworben werden, und entsprechend sind die Gesetze so zu gestalten, daß sich jeder naturaliter dazu Begabte aus dem passiven Zustand zum aktiven muß »empor arbeiten« (VI 315,21) können. Die entsprechende Arbeit wird auf dem Gebiet der Wirtschaft oder der Qualifikation zum Beamten des Staats so erbracht, daß sie problemlos erkennbar ist. Mit dieser Bestimmung ist die aktive Staatsbürgerschaft weder ein Geschenk an jeden volljährigen Bürger noch wird sie an geschichtliche Privilegien titulierter oder begüterter Familien gebunden, sondern steht jedem offen, der sich dazu in der bürgerlichen Gesellschaft selbst qualifiziert und dadurch ein Interesse an dem Staat nimmt, dessen Gesetzgebung er mitgestaltet. Die Rückbindung des öffentlich-rechtlichen Status des aktiven Staatsbürgers an privatrechtliche Tatbestände ermöglicht es, Frauen aus dem Kreis der selbständigen Bürger auszuschließen (VI 314,29), weil sie im Privatrecht keine Selbständigkeit erlangen können. Dies wiederum ist in der Kantischen Anthropologie begründet, gemäß der Frauen zu einem Handeln aus moralischen Grundsätzen nicht befähigt sind, sondern nur pflichtgemäß handeln und sich nach Gefühlen und nach Vorbildern richten. Wenn die »Beistimmung der Staatsbürger« (VIII 351,5) zu einem Krieg erforderlich ist, so werden sie sich sehr bedenken, »ein so schlimmes Spiel anzufangen« (VIII 351,13), weil sie damit praktisch ihr eigenes Unglück beschießen.421 Das bedeutet aber, daß die Republik im Gegensatz zur Despotie eine innere Tendenz zum Frieden hat. Eben dies war das völkerrechtliche Postulat; Despotien leben notwendig in einem zügellosen Naturzustand, während sich Republiken in lockere, aber rechswirksame Bündnisse fügen und so auf natürliche Weise zum ewigen Frieden hinwirken.

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Das Dilemma: Die moralische Bestimmung eines jeden und die geschichtliche Bestimmung aller 422 Schillers Vortrag Was heißt und zu welchem Ende studiert man Universalgeschichte (1789) enthält in Anführungszeichen den verdächtigen Satz »daß der selbstsüchtige Mensch niedrige Zwecke zwar verfolgen kann, aber unbewußt vortrefliche befördert«.423 Und wozu studiert man Universalgeschichte? Aus zwei Gründen: sie ist anziehend und nützlich, »Licht wird sie Ihrem Verstande, und eine wohltätige Begeisterung in Ihrem Herzen entzünden.«424 Wir erkennen in ihr, wie »die stille Hand der Natur425 schon seit dem Anfang der Welt die Kräfte des Menschen planvoll entwickelt, und mit Genauigkeit andeutet, was in jedem Zeitraume für diesen großen Naturplan gewonnen worden ist: […]. Unser menschliches Jahrhundert herbey zu führen haben sich – ohne es zu wissen oder zu erzielen – alle vorhergehenden Zeitalter angestrengt. […] kostbare theure Güter, an denen das Blut der Besten und Edelsten klebt, die durch die schwere Arbeit so vieler Generationen haben errungen werden müssen! […] Jedem Verdienst ist eine Bahn zur Unsterblichkeit aufgethan, zu der wahren Unsterblichkeit meyne ich, wo die That lebt und weiter eilt, wenn auch der Name ihres Urhebers hinter ihr zurückbleiben sollte.«426 Der triumphalistische Schluß, der von der Verstandeserkenntnis zur begeisterten Tätigkeit überleitet, verdeckt dieselbe Dissonanz, die Kant zu übertönen versucht: Der stillen oder unsichtbaren Hand der Natur ist es absolut gleichgültig, wie die Taten der Geschichte moralisch beschaffen waren und, so wird man annehmen müssen, sind und sein werden. Wenn ihr Regiment nicht abgelöst wird durch die Menschen selbst und diese aufgerufen sind, moralisch für einen moralischen Zweck zu handeln, der nur durch eben diese Handlungen zustande kommt, können die Hörer das Gemälde der Universalgeschichte betrachten und mit der, von Schiller allerdings übermalten, Moral der Geschichte nach Hause gehen, daß es auf ihre Moral nicht im geringsten ankommt. Wir treffen auf dieselbe Aporie wie schon oben bei Kant: Der säkulare Verbrecher wird geschichtlich mehr ausrichten als die vielen moralisch gebeugten Geschichtsstudenten. Wir sind auf zweierlei Weise bestimmt: Als einzelne Person unterliegen wir der Bestimmung der Moral, als Teile der Menschheit der mensch und die geschichte der menschheit | 217

sind wir dagegen subjektlos-antagonistische Kräfte, die dem fortschreitenden Totum der Gattung als anonymes Werkzeug dienen. Die Moral besagt, daß keine Person nur als Mittel fungieren dürfe, sondern immer auch Zweck sein soll, die Natur dagegen verfährt rein utilitaristisch und kennt auf ihrem Weg zum finalen Bonum keinen Unterschied zwischen Person und Sache. 1784 wurde es als »befremdend« vorgestellt, »daß die ältern Generationen nur scheinen um der späteren willen ihr mühseliges Geschäft zu treiben« (VIII 20,12–14); in der Vision des Opus postumum wird darüber hinaus der Weltkörper als organisches Wesen vorgestellt, in dem »Menschen als Vernünftige um anderer, der Species (Race) nach verschiedener Menschen willen da sind als welche um eine Stufe der Menschheit höher stehen […].« (XXI 214,15–18) In der teleologischen Struktur der Naturgeschichte (»um…willen«) tritt an die Stelle der Wechselseitigkeit der instrumentelle Nutzen, denn den Späteren sind die Früheren nicht auch wechselseitig Zweck, sondern nur Mittel. Nun wird der Handelnde paradoxerweise trotzdem auf die Vorsehung der Natur verwiesen, um nicht daran zu verzweifeln, daß seine moralische Tat vielleicht objektiv nichtig ist wie im Danteschen Infernum, denn ob die Verdammten unmoralisch oder auch gelegentlich moralisch handeln, ist für sie und die Hölle im Ganzen vernichtend gleichgültig. Nach Kant soll es auf Erden anders sein. Der Fortschritt der Menschheit zum Besseren gibt uns die für die Praxis ausreichende Gewißheit, daß unser moralisches Handeln in diesen Fortschritt einstimmt, die Bestimmung der Menschengattung (VIII 22,15) und die Bestimmung des Individuums (VIII 23,36) sind auf daßelbe Ziel gerichtet. Sowohl Kant wie auch Schiller suggerieren die Vorstellung, das individuelle moralische Handeln sei Teilbeitrag zum moralischen Endzweck; sie gehen hierbei von einer Vorsehung aus, die zwar für die alten Stoiker galt, für die die Welt im Ganzen gut war und wir in dieses Gute durch das eigene moralische Handeln einstimmen, Kants und Schillers Vorsehung ist jedoch in ihrer Mittelwahl moralisch rücksichtslos und lädt ein zur Feier des Verbrechers. Vor Beginn der Neuzeit war die ethische Losung des »naturae convenienter« zu leben vernünftig; mit der Meinung jedoch, die Natur oder Vorsehung bediene sich des objektiv Bösen und Üblen als des Mit218 | kapitel 

tels, ihr Ziel zu verwirklichen, verbietet sich diese Orientierung im Sittlichen von selbst. Die Idee zu einer allgemeinen Geschichte in weltbürgerlicher Absicht (1784) dokumentiert die Inkongruenz des Ganzen und der Teile noch an einer anderen Stelle. Die Idee soll einem künftigen Newton der Geschichte als Leitfaden bei der Abfassung der Geschichte der Menschheit dienen. Auf diesen Sinn des Titels kommt Kant am Schluß der kurzen Schrift zurück. Es ist die philosophische Geschichte, die dem Vernunftinteresse folgt und nur noch »aus dem Gesichtspunkte dessen, was Völker und Regierungen in weltbürgerlicher Absicht geleistet oder geschadet haben« (VIII 31,3–5), geschrieben wird. Nun wird in dem zitierten Satzteil ein Dilemma zuformuliert, das in dem Vorhaben liegt und das die ganze Schrift durchzieht: Die Menschen, die Völker, die Regierungen sind einerseits die Subjekte, die die Geschichte in weltbürgerlicher Absicht bewusst positiv vorantreiben, deren eigenes Werk (VIII 19,34) sie ist, die sich selbst emporarbeiten; andererseits jedoch haben wir es mit der Naturgeschichte der Menschheit zu tun, die sich in die Kultur hinein fortsetzt und die an einer zielkonformen Mitarbeit der Menschen nicht interessiert ist, so wenig wie der Reichtum der Nationen auf die Handlungen setzt, die nicht den Marktgesetzen, sondern den Spenden und der direkten Güte der Akteure entspringen. Die Natur setzt nicht auf die wissende Mitarbeit der Menschen, sondern benutzt für ihre eigenen übergreifenden Zwecke deren Handlungen, die notwendig aus geschichtsblinden Zielsetzungen erfolgen. »Einzelne Menschen und selbst ganze Völker denken wenig daran, daß, indem sie, ein jedes nach seinem Sinne und einer oft wider den andern, ihr eigene Absicht verfolgen, sie unbemerkt an der Naturabsicht, die ihnen selbst unbekannt ist, als an einem Leitfaden fortgehen und an derselben Beförderung arbeiten, an welcher, selbst wenn sie ihnen bekannt würde, ihnen doch wenig gelegen sein würde.« (VIII 17,21–26) Ein jeder nach seinem Sinn und einer gegen den anderen: Getrieben von Ehrsucht, Herrschsucht und Habsucht handelt jeder für sich und wirkt dadurch blind für das Ganze. Der Newton der Geschichte bleibt ratlos zurück. Er soll nicht historistisch die Fakten und Annalen eruieren und aufhäufen, sondern sie auf ein bestimmtes Ziel hin auswählen und darstellen, »was der mensch und die geschichte der menschheit | 219

Völker und Regierungen in weltbürgerlicher Absicht geleistet oder geschadet haben«, eine Geschichte zum Nutzen der Bestimmung der Menschheit. Die Leistung und der Schaden, den Völker und Regierungen angerichtet haben, soll dargestellt werden, aber beides ist schwer zu ermessen, wenn doch selbst ein Tamerlan oder Dschingis Khan als Mittel für die ihm unbekannten Zwecke dient. Kain (in der Version von Thomasius427) käme das höchste Verdienst zu, weil er mit seinen ungezügelten Neigungen die Gattungsgeschichte in Gang gesetzt hat; den größten Schaden dürften dagegen die Völker des Nichtstuns, etwa die Feuerländer, angerichtet haben, aber selbst als Ballast fallen sie nicht ins Gewicht. Kant selbst macht schon früh in seiner Anthropologie-Vorlesung auf eine Dissonanz von Individuum und Gattungsgeschichte aufmerksam (XXV 682,10 ff.; VII 327,12 ff.). Aber diese Unstimmigkeit betrifft die Erziehung des Einzelnen zum moralischen Ganzen, nicht die Irrelevanz seiner Moral für das Ganze, sie wird, wenn ich richtig sehe, nie thematisiert. Vielleicht kann man sagen, daß es für den Demiurgen der Geschichte einen moralischen Ausnahmezustand in Permanenz gibt, für den Staat zuweilen geben kann und für den einzelnen Menschen nie geben darf. Der Unterschied zwischen Staat und Individuum ergibt sich daraus, daß die Existenz des Staats unverzichtbar ist zur Rechtsverwirklichung, das Individuum dagegen steht unter dem höchsten Gebot der Sittlichkeit, auch wenn in Konfliktfällen dadurch das Leben verloren wird. Wie der Staat sich unter dem Existenzgebot zur Sittlichkeit verhält, lehrt der dritte Abschnitt des Privatrechts in der MdS (VI 296–305). Damit das Recht im Staat real wird und bleibt, muß in bestimmten Zonen das Vernunftrecht suspendiert werden und auch das Verbotene auf Dauer in die Rechtspraxis Eingang finden wie z. B. die »tortura spiritualis« (VI 303,26–305,30). Aus Rechtsgründen darf der Staat nicht zugrunde gehen, auch wenn er sich mit rechtswidrigen Mitteln am Leben hält.

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Die Ohnmacht der Vorsehung In das frohe, gutgelaunte Kantbild der meisten Freunde und Forscher ist eine weitere düstere Farbe einzutragen. Während das moralische Gift von Habsucht, Ehrsucht und Herrschsucht das unentbehrliche Mittel des Geschichtsdemiurgen ist, versagt seine Macht vor der Tobsucht der äußeren Natur. Der moralische Fortschritt sei allen Ungläubigen zum Trotz ein »für die strengste Theorie haltbarer Satz«, heißt es im Streit der Fakultäten (VII 88,35–36). Aber sogleich wird eingeschränkt, denn es könnte eine Naturrevolution eintreten, die das Menschengeschlecht insgesamt vernichtet. »Denn für die Allgewalt der Natur, oder vielmehr ihrer uns unerreichbaren obersten Ursache ist der Mensch wiederum eine Kleinigkeit.« (VII 89,9–10) Für den Anfang muß ein nicht weiter erklärter Urorganismus in Form einer ursprünglichen »Gebärmutter« (V 419,18) angenommen werden; im Opus postumum wird dieses Gedankenabenteuer noch in einer anderen Variante fortgeführt: »Die organisirte Geschöpfe machen auf der Erde ein Ganzes nach Zwecken aus, welches a priori als aus einem Keim (gleichsam bebrüteten Ey) entsprossen wechselseitig einander bedürfend seine und seiner Geburten Species erhält. Auch Revolutionen der Natur die neue Species wozu der Mensch gehört hervorbrachten.« (XXII 241,22–27) Aber auch hier versucht Kant, die blinde Macht der Naturrevolutionen im Fortschrittsprogramm einer obersten Weltursache einzudämmen; wieviele solcher Umstürze es schon gegeben habe, wisse man nicht, »und welche vielleicht mit vollkommenerer Organisation noch bevorstehen dürften, ist unseren ausspähenden Blicken verborgen.« (XXI 215,10–11) Es sei gut möglich, daß »hiebey auf keinen moralischen [Urheber] Rücksicht genommen wird.« (XXI 214,36–37) Es ist also durchaus möglich, daß unser Menschengeschlecht die Vorstufe einer anderen, höher stehende species ist, »wenn durch Erdrevolutionen unser selbstorganisirte, vorher chaotisch aufgelösete, nun neugebärende Erdglob anders organisirte Geschöpfe zum Vorschein brächte, die wiederum nach der Zerstörung ihrerseits anderen Platz machten […]« (XXI 214,19–215,1) Der moralische Fortschritt der Menschheit wäre eine quantité négligeable für den neugebärenden Erdglobus, und der Demiurg der Geschichte ebenso am Ende seiner Künste wie unsere Moral. der mensch und die geschichte der menschheit | 221

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Kopernikus und Newton, Hypothese und Gewißheit

Kopernikus’ erste Gedanken und seine anfängliche Hypothese »In einem wirkungsgeschichtlich kaum überbietbaren Vergleich hat Kant in der Vorrede zur zweiten Auflage der Kritik der reinen Vernunft von 1787 die Formel von der ›kopernikanischen Wendung‹, ohne sie selbst zu gebrauchen, geprägt«, schreibt Hans Blumenberg.428 Der mit dieser Formel gemeinte Gedanke bringt höchst anschaulich einen Kerngedanken der kritischen Philosophie zum Ausdruck, aber sie verstellt zugleich die Idee im Ganzen, die Kant 1787 im astronomischen Vergleich vorträgt. Denn was in ihm dargestellt wird, ist nicht nur die eine kopernikanische Wende oder Wendung, sondern eine Dualität von Erdrotation und Heliozentrik, von Kopernikus und Newton, von Subjektivismus der Naturerkenntnis und absolutem Standpunkt der Moral. Während die Naturerkenntnis sich nur auf die subjektiv bedingten Erscheinungen – und nicht die Dinge an sich – beziehen kann, nehmen wir in der Moral den Sonnenstandpunkt ein. Wir sind Erdbewohner, und wir sind sonnengleich, unüberbietbar; wir sind sinnenbezogene Verstandes- und freie absolute Vernunftwesen, hier gebunden an die Sinnlichkeit, dort Gesetzgeber unserer durch nichts als eben das Gesetz bedingten Freiheit, Souveräne in eigener Vernunftbestimmung. Welche Rolle spielt in diesem Doppelstück Kopernikus? Und Newton? Die von Kant nicht gebrauchte Rede von der kopernikanischen Wende isoliert den einen Gedanken, der in einer schwer zu dechiffrierenden Gedankenkonstellation entfaltet wird. So erscheint die Rede von der »kopernikanischen Wende« als Instrument, eine komplexe Gedankenkonstellation zu zerstören und als Stückware zu verkaufen. Der erste elliptische Text lautet: »Man versuche es daher einmal, ob wir nicht in den Aufgaben der Metaphysik damit besser fortkommen, daß wir annehmen, die Gegenstände müssen sich nach unserem Erkenntnis richten, welches so schon besser mit der verkopernikus und newton, hypothese und gewissheit | 223

langten Möglichkeit einer Erkenntnis derselben a priori zusammenstimmt, die über Gegenstände, ehe sie uns gegeben werden, etwas festsetzen soll. Es ist hiermit ebenso als mit den [Erdmann: »dem«429, RB] ersten Gedanken des Kopernikus bewandt, der, nachdem es mit der Erklärung der Himmelsbewegungen nicht gut fort wollte, wenn er annahm, das ganze Sternenheer drehe sich um den Zuschauer, versuchte, ob es nicht430 besser gelingen möchte, wenn er den Zuschauer sich drehen, und dagegen das Sternenheer in Ruhe ließ.« Warum die »ersten Gedanken« oder, mit Erdmann, der erste Gedanke? Worin besteht in der Erdmannschen Variante der zweite Gedanke des Kopernikus, der mit dem Hinweis auf den ersten angekündigt wird? Oder was ist bei »den ersten Gedanken« gemeint und welches ist der notwendige Gegenbegriff des Komplexes der ersten Gedanken? Das Werk von Kopernikus, De revolutionibus orbium coelestium libri VI (1543), erschien mit einer nicht von Kopernikus selbst verfassten Vorrede »Ad lectorem de hypothesibus huius operae«, in der beschwichtigend darauf hingewiesen wird, daß es sich nur um Hypothesen handle, die nicht wahr zu sein brauchen (»Neque enim necesse est eas hypotheses esse veras, […].«); Kant scheint sich mit den »ersten Gedanken« genau hierauf zu beziehen, sonst wäre auch kaum erklärlich, daß er an anderen Stellen (B XXII; XXV 1225,32) die Wahrheit dieser Hypothesen betont.431 Es gibt für den Erdbewohner zwei Bewegungen, denn er dreht sich in der täglichen Erdrotation um die Erdachse, und er dreht sich im Jahresrhythmus um die Sonne. Das Wort »revolutio«, das im Titel des Kopernikanischen Werks De revolutionibus orbium coelestium libri VI im Plural benutzt wird, kann beides bedeuten, Rotation der Erde und Umlauf der Planeten.432 Während im Kopernikus-Titel jedoch nur die Umläufe der Planeten um die Sonne gemeint sind, bezieht sich die nähere Ausgestaltung im zitierten Kantischen Text (B XVI) auf die Erdrotation mit der paradoxen These, daß nur diejenigen Bewegungen der Sterne astronomisch erkennbar sind, die vom Betrachter durch seine Eigenbewegung erzeugt werden.433 Mutatis mutandis: Die Ordnung und die Gesetze der Erscheinungen sind apriori erkennbar durch die Analyse der anschaulichen und begrifflichen Formen, die vom Subjekt stammen; die Dinge an sich dagegen erkennen wir nicht. Wir suchen als Transzendentalphilosophen im Subjekt selbst die Bedingungen der 224 | kapitel 

Möglichkeit der Gegenstandserkenntnis und können folglich über die Dinge nur so weit urteilen, wie sie von diesen subjektiven Bedingungen bestimmt sind. Das ist so weit gut verständlich. Aber mit dem Namen des Kopernikus verbindet sich gemäß dem Titel der Schrift von 1543 jetzt und verband sich auch im 18. Jahrhundert die weitere Auffassung, daß nicht die Erde, sondern die Sonne im Mittelpunkt des Planetensystems steht und die Erde einer der um die Sonne kreisenden Planeten ist. Vom Standpunkt der Sonne würde man die Planeten in Ellipsen um sich kreisen sehen, »[…] comme si j’ étais dans le soleil«, wie die kopernikanische Kurzfassung bei Voltaire lautet.434 Mit Kopernikus verbindet sich beides, Erdrotation und Heliozentrik, die »cotidianae revolutiones« und die jährlichen »revolutiones orbium caelestium«, weitere gibt es für uns nicht. Wenn Kant also von »den ersten Gedanken des Kopernikus« spricht, dann können zunächst beide Bewegungen gemeint sein, wir brauchen jedoch einen Gegenbegriff zu »den ersten«. Die ersten Gedanken könnten die vorerst nur hypothetischen Annahmen sein, deren Gegensatz die Gewißheit auf der Grundlage einer Theorie der Kräfte ist. Für die Heliozentrik ist vorausgesetzt die Annahme, daß die sichtbare Bewegung der Sterne, z. B. die der Sonne, das Resultat der Erdrotation ist; deren Erkenntnis oder Hypothese also hat zur Konsequenz, »daß man die Sterne in Ruhe« 435 läßt (B XVI). Obwohl also die Sonne sich bewegt, steht sie still, während die Erdkugel sich um ihre eigene Achse dreht. Die Abfolge: zuerst Erdrotation, dann Heliozentrik, ist im Hinblick auf die Erkenntnisfolge zwingend, desgleichen die Abfolge: zuerst der erste Gedanke einer Hypothese, dann die Gewißheit. Es folgt erwartungsgemäß in einer Anmerkung von Kants Vorrede ein zweiter Hinweis auf Kopernikus. »So verschafften die Zentralgesetze der Bewegung der Himmelskörper dem, was Kopernikus anfänglich nur als Hypothese annahm, ausgemachte Gewißheit und bewiesen zugleich die unsichtbare, den Weltbau verbindende Kraft (der Newtonischen Anziehung) […].« (B XXII) Die Zentralgesetze beziehen sich auf die »Centralbewegungen« der Planeten in »Zirkelkreisen« (I 336,2) um den Zentralkörper, die Sonne. Die »Hypothese« des Kopernikus meint natürlich dasselbe Phänomen, das durch Newtons Gravitationsgesetz mit ausgemachter Gewißkopernikus und newton, hypothese und gewissheit | 225

heit erklärt wird. Man vergleiche die Darstellung im Streit der Fakultäten: »Vielleicht liegt es auch an unserer unrecht genommenen Wahl des Standpunkts, aus dem wir den Lauf menschlicher Dinge ansehen, daß dieser uns so widersinnisch scheint. Die Planeten, von der Erde aus gesehen, sind bald rückläufig, bald stillstehend, bald fortgängig. Den Standpunkt aber von der Sonne aus genommen, welches nur die Vernunft tun kann, gehen sie nach der Kopernikanischen Hypothese beständig ihren regelmäßigen Gang fort.« (VII 83,20–26) Dies ist die Erkenntnisstufung: Kopernikus stellt die Hypothese der Planetenumläufe auf, und Newton verschafft der Hypothese Gewißheit; die anfängliche Phoronomie gibt eine mögliche Beschreibung, die dynamische Gravitation erklärt und beweist im zweiten Schritt den Planetenbau. So auch in der ersten Auflage der KrV: Man habe zuerst die Kreisförmigkeit der Planetenbahnen entdeckt, dann aber sei man auf die einheitliche Ursache, die Gravitation, geraten (A 662–663; vgl. auch VIII 18,14–17). In der von Gottlob Benjamin Jäsche edierten Logik werden die vielfältigen Hypothesen des Tycho Brahe getadelt. »Dagegen ist das Copernikanische System eine Hypothese, aus der sich Alles, was daraus erklärt werden soll, soweit es uns bis jetzt vorgekommen ist, erklären läßt.« (IX 86,2–4) Der Kontrast der beiden Hypothesen bezieht sich auf die unterschiedliche Deutung der Planetenbewegung, nicht der Erdrotation.436 Durch Kopernikus wurde die Erde zu einem der die Sonne umkreisenden Planeten: Die »Idee von der Wichtigkeit unserer Erde wurde durch das Copernicanische System aufgehoben.« (XXV 1472,32–33) Kant memoriert vage Johann Heinrich Lambert, der in seinem Novum Organum (1764) geschrieben hatte: »Sodann müssen wir, so lange wir die Gründe zu Beurtheilung dessen, was die Dinge an sich sind, noch nicht haben, fast nothwendig bey solchen Vergleichungen der Empfindungen und des Scheins anfangen. So lange der Schein mit dem Wahren zusammentrift (Kants Analytik in der KrV, RB] geht es damit richtig. Hingegen wo der Schein anfängt, von dem Wahren abzugehen, da zeigen sich nach und nach bey genauern Vergleichungen, Anomalien darinn, welche bey dem Wahren nicht seyn können und folglich den Schein verrathen [Kants Dialektik in der KrV, RB]. Auf diese Art ist aus der anfänglich [vgl. »anfänglich nur als Hypothese«, B XXII, RB] bloß sphärischen Astro226 | kapitel 

nomie die theoretische erwachsen, worinn man den Weltbau [B XXII! RB] ganz anders als nach dem Urtheil der Sinnen vorstellt.«437 Wir haben es auch hier mit einer Opposition von anfänglicher bloß geometrischer, phoronomischer Astronomie und dann nachfolgender theoretischer Kräfte-Erkenntnis desselben Sachverhalts zu tun. Ist der Lambert-Bezug nachhaltiger, dann spielt in die Auseinandersetzung noch hinein, daß Lambert nicht wußte, was eigentlich die Dinge an sich sind, Kant aber eine Erkenntnis von Newtonischer Gewißheit gewonnen hat: Es ist der mundus moralis mit seinem Freiheitsgesetz, zu dem die Gravitationstheorie in eine Analogie gesetzt wird. Nun heißt es, die Zentralgesetze verschafften »dem, was Kopernikus anfänglich nur als Hypothese annahm, ausgemachte Gewißheit« (B XXII); der Leser muß rückblickend eine der beiden Alternativen wählen: »verschafften der Achsendrehung der Erde, die Kopernikus anfänglich nur als Hypothese annahm, Gewißheit«, oder aber: »verschafften den Planetenumläufen, die Kopernikus anfänglich nur als Hypothese annahm, Gewißheit«. In der Opposition von Hypothese und Gewißheit ist, wie schon gesagt, nur die zweite Variante sinnvoll, und sie ist nach Kant einzig historisch korrekt. Die erste Variante führt zum artifiziellen Zweischritt: Zuerst Hypothese der Erdrotation, dann deren Gewißheit durch die Newtonische Anziehung, wobei die »Zentralgesetze der Bewegung der Himmelskörpers«, d. h. der Planetenumläufe, als unnötig fortfallen. Die zweite Variante wird dadurch erzwungen, daß Kant die Achsendrehung der Erde als unabhängig von den Zentralgesetzen interpretiert. So heißt es in der Arbeit Ob die Erde in ihrer Umdrehung einige Veränderung erlitten habe (1754): »Die Erde wälzt sich unaufhörlich um ihre Achse mit einer freien Bewegung, die, nachdem sie ihr einmal zugleich mit ihrer Bildung eingedrückt worden, fortan unverändert […] fordauren würde […].« (I 186,8–11) Die Achsendrehung ist ein Problem der Kantischen Kosmogonie der Allgemeinen Naturgeschichte und Theorie des Himmels (s. I 285,28–290,26), nicht der von Newton behandelten Kosmologie. Wie immer: Der Doppelschritt ist in seiner Erkenntnis-Abfolge festgelegt: Zuerst wird (hypothetisch) die Erdrotation erkannt, die gewährleistet, daß die Sonne sich objektiv nicht bewegt, sondern ruht (B XVI), dann wird in einem zweiten Schritt (erst hypothetisch und nachfolgend kopernikus und newton, hypothese und gewissheit | 227

durch Newton gewiß) erkannt, daß die somit ruhende Sonne das Zentrum der kreisförmigen Planetenbewegungen ist. Also: Die anfängliche Hypothese (B XXII) des Kopernikus bezieht sich auf die Umläufe der Planeten um die Sonne, nicht auf die Erdrotation. Kant hatte von »den ersten Gedanken des Kopernikus« (B XVI) gesprochen und dabei vermutlich beide Formen der »revolutiones« gemeint. »Erste Gedanken«, weil beide Bewegungen noch bloße Hypothesen sind, keine ausgemachten Gewißheiten, die erst durch Newton (und Kant selbst in seiner Kosmogonie der Allgemeinen Naturgeschichte und Theorie des Himmels) geleistet wurden. Im nachfolgenden Text heißt es, die Newtonische Anziehung wäre auf immer unentdeckt geblieben, wenn Kopernikus »es nicht gewagt hätte, auf eine widersinnische, aber doch wahre Art, die beobachteten Bewegungen nicht in den Gegenständen des Himmels, sondern in ihrem Zuschauer zu suchen.« (B XXII) Dies trifft sowohl auf die Erdrotation wie auf die Planetenbewegung um die Sonne zu. Für die letztere Annahme spricht und entscheidet jedoch, daß hier die Gegenstände des Himmels nicht mehr in Ruhe gelassen werden, es können also auch die übrigen Planeten sein; in einer Anthropologie-Nachschrift aus der Phase unmittelbar vor der Abfassung der zweiten Vorrede der KrV heißt es: »Es giebt auch Paradoxe Sätze, die wirklich wahr sind zE der Satz des Copernicus von dem Umlauf der Erde um die Sonne.« (XXV 1225,31–33) Auf eine paradoxe, »aber doch wahre Art«: Der Text der Fußnote B XXII war also von Beginn an auf die Heliozentrik zu beziehen. Es gibt zwei Kopernikanische Revolutionen, die der Achsendrehung der Erde und die der Planetenumläufe um die Sonne, jeweils als Hypothesen. Die Gravitationsgesetze Newtons werden als »unsichtbar« (B XXII) bezeichnet, ein Attribut, das ihnen sonst bei Kant nie zukommt, wohl aber dem Reich der Sittlichkeit.438 Es wird mit diesem »unsichtbar« in das Gleichnis der Hinweis eingeblendet, wofür die mit der Schwerkraft erklärten und also bewiesenen Zentralgesetze im Bild stehen: Sie sind mutatis mutandis die Gesetze der reinen praktischen Vernunft. Im Haupttext, den die Anmerkung erläutert, wird gesagt, die spekulative Vernunft habe ihre Erkenntnisansprüche auf die Erfahrung eingeschränkt und damit im Übersinnlichen Platz für praktische »Data« geschaffen (B XXI–XXII), den jetzt die praktische Vernunft einnehme. In dieser Stufung setzt sich folgen228 | kapitel 

der Gedanke durch: In der kopernikanischen Wende qua Erkenntnis der Objekte unserer theoretischen Erkenntnis als bloßer subjektiver Erscheinung liegt die Depotenzierung der Dinge zu bloßen Erscheinungen, zu bloßen substanz- oder kraftlosen Gestalten und Relationen; die wirklichen Dinge an sich dagegen, die die Erscheinungen verbergen und zur Erscheinung bringen, sind die Gesetze der Moral des souveränen Menschen. – Wir werden dieser Stufung von Vorschein der Idee und wirklicher Idee in verschiedenen Theoriebereichen wieder begegnen, besonders in der KdU.439 Mit dem Kontrast von spekulativer und praktischer Vernunft wird der komplexe astronomische Gegensatz von Erdrotation und Heliozentrik einerseits und Hypothese und ausgemachter Gewißheit andererseits überformt. »Ich stelle in dieser Vorrede die in der Kritik vorgetragene, jener Hypothese analogische, Umänderung der Denkart auch nur als Hypothese auf […].« (BXXII) »Jene Hypothese«, das ist im dualen Schema der erste Gedanke des Kopernikus, die Erdrotation. Schon 1781 heißt es, daß die transzendentale Raum-Zeit-Auffassung keine scheinbare Hypothese sei, die um Gunst nachsuche, sondern »so gewiß und ungezweifelt [ist], als jemals von einer Theorie gefordert werden kann« (A 46), wiederholt am Ende der Anmerkung von B XXII. Die Erdrotation tritt aus der Sicht der Kantischen Theorie selbst (sc. in der KrV) also nicht als Hypothese auf, sondern als ausgemachte Gewißheit. Kant sucht sich aus diesem Dilemma durch die Vorstellung zu retten, daß er den hypothetischen Charakter der spekulativen Vernunft nur in der Vorrede unterstellt habe: »Ich stellte in dieser Vorrede die in der Kritik vorgetragene, jener Hypothese [sc. der Erdrotation! RB] analogische, Umänderung der Denkart auch nur als Hypothese auf, ob sie gleich in der Abhandlung selbst […] apodiktisch bewiesen wird […].« (B XXIII) Die theoretische Erkenntnis ( = der erste der beiden hypothetischen Gedanken des Kopernikus) ist für sich apodiktisch bewiesen und hat in ihrer Gewißheit und ihrem Fortschritt nichts mit der Moral und ihrer Freiheit zu tun. Wenn in der Vorrede der KrV von 1787 von einer Bestätigung der Analytik durch den negativen Ausgang der Dialektik gesprochen wird (B XVIII–XIX), dann erfolgt diese Bestätigung der theoretischen Erscheinungserkenntnis eben nicht durch die Moral, d. i. der erste Gedanke des Kopernikus verkopernikus und newton, hypothese und gewissheit | 229

dankt seine Gewißheit nicht der Newtonischen gewissen Erkenntnis der Gravitation. Die Erdrotation genügt sich selbst (mit der Bestätigung des scheiternden Erkenntnisversuchs des Sternenheeres an sich in der Dialektik der KrV); und wir werden bei der Erörterung des Bestimmungsgedankens in der KpV sehen, daß auch die Moral sich selbst genügt und als gewisse Erkenntnis der reinen praktischen Vernunft sogar umgekehrt den bloßen Erscheinungscharakter theoretischer Naturerkenntnis erzwingt. Kant behauptet zwar, die KpV hänge vom Ergebnis der KrV ab, aber diese Behauptung kann 1788 nicht mehr zutreffen: Der Machtspruch des kategorischen Imperativs ließe sich durch theoretische Bedenken nicht einschüchtern (ein Glück, daß es sie auch nicht gibt, denn alles passt in der teleologia rationis humanae zueinander). Kant will die Dopplung von Erdrotation und Heliozentrik mit der Opposition von geometrischer Hypothese und dynamisch bewiesener Theorie identifizieren, um den komplementären Kontrast von spekulativer und praktischer Vernunft herauszuarbeiten. Aber ist die spekulative Rotation die conditio sine qua non der moralischen Heliozentrik? Oder dreht sich das Verhältnis um? Oder sind Verstand und Wille am Ende unabhängig von einander, so daß die Erkenntnis nichts mit der Moral und die Moral nichts mit der Erkenntnis zu tun hat? Beide, die KrV und die KpV, kommen unabhängig von einander zur entscheidenden Differenz von Ding an sich und Erscheinung. Das soll später gezeigt werden. Die Dopplung von Natur und Freiheit im Hinblick auf Erkenntnis und Moral wird dadurch wiederum einfacher, daß sich in beiden Bereichen eine paradoxe Wende von der Fremd- zur Selbstbestimmung vollzieht. Die vorkopernikanische Astronomie folgte den sichtbaren Sternbewegungen, während Kopernikus deren Gesetz in der eigenen Erdrotation entdeckte und so paradoxerweise (XXV 254,20 u. ö.) eine objektive Erkenntnis auf dieser subjektiven Grundlage ermöglichte. Die parallele Wende in der Moral besagt, daß wir natürlicherweise durch die Gegenstände und unsere auf sie gerichteten Neigungen bestimmt werden, also durch ein heteronomes Gutes, das Autonomie-Gebot uns jedoch auf das nur formale Gesetz unserer reinen praktischen Vernunft führt; jetzt bestimmt unser Wille den Begriff des Guten, während zuvor das vermeintlich Gute unseren Willen bestimmte. Der kopernikanischen Wende der 230 | kapitel 

Erscheinungserkenntnis tritt das »Paradoxon der Methode« zur Seite, »daß nämlich der Begriff des Guten und Bösen nicht vor dem moralischen Gesetze (dem er dem Anschein nach sogar zum Grunde gelegt werden müsste), sondern nur […] nach demselben und durch daßelbe bestimmt werden müsse.« (V 62,36–63,4) Wir suchen das Gute und Böse nicht mehr in den Dingen und lassen unseren Willen nicht durch die feine (Platon) oder grobe (Epikur) Lust, die sie erregen, bestimmen, sondern erzeugen umgekehrt das Objekt des Guten und Bösen durch das Gesetz des freien Willens. Folgt man der vorkopernikanischen Weltsicht, dann bilden unsere Vorstellungen die Dinge als solche ab, aber die Regeln der Abbildung oder Repräsentation entziehen sich jeder Kontrolle. Mit der ersten kopernikanischen Wende wird das Ding an sich durch den transzendentalen Gegenstand x ersetzt, den wir gemäß unserer raum-zeitlich und kategorial kontrollierten Erfahrung wenn nicht konstituieren, so doch mit konstanten Erscheinungsprädikaten ausstatten. Im Astronomie-Vergleich: Was Sterne sind, ist nicht durch das naive Hinsehen zu entscheiden (»Siehst du, wie die Sonne aufgeht?«), sondern durch die Bedingungen der Möglichkeit unserer wissenschaftlichen Erfahrung. Folgt man der vorkopernikanischen, vornewtonischen Moral, dann spiegeln uns die Irrlichter der Dinge und die auf sie bezogenen Neigungen (Epikur) und vermeintlichen Erkenntnisse (Platon) das vor, was einzig gut und böse ist. Mit der kopernikanisch-newtonischen Sonnenwende wird das vorgestellte Gute und Böse durch die Willensbestimmung der reinen praktischen Vernunft ersetzt. Was gut und böse ist, läßt sich nicht durch unser Fühlen und das wechselvolle Meinen der theoretischen Vernunft entscheiden, sondern durch das Machtwort des roi soleil in jedem, die reine praktische Vernunft. Die spektakuläre Anrufung der Astronomie impliziert verschiedene Stufungen. Einmal präfiguriert die würdigste Naturerkenntnis, die Astronomie, die notwendige Selbstfindung der Metaphysik – die Menschen beginnen mit dem Niederen, der Natur, und steigen von dort zum Höheren, dem Geistigen, auf. Sodann gibt es die Stufung von »ersten Gedanken« bzw. Hypothesen und demonstrierter Gewissheit, aber auch von der Erde zur Sonne und, bei Kant, von der spekulativen zur moralischen Erkenntnis und damit zur eigentlikopernikus und newton, hypothese und gewissheit | 231

chen Bestimmung des Menschen. Löst man aus diesen binären Stufungen eines der Stücke heraus, hat man es mit einem eigenen strategischen Machwerk, aber nicht mit der ursprünglichen Theorie zu tun. Wir werden in der Folge auf etliche Probleme dieser Doppelwelten stoßen, vorweg jedoch eine Frage: Wo ist in dem Dualsystem von irdischer Rotation und Sonnenfreiheit das über beide reflektierende Subjekt unterzubringen? Gibt es ein dem planetarischen System und Geschehen entzogenes »Ich denke«, das in galaktischer Ferne oder in der nahen Milchstraße über das Ganze nachdenkt, aber auch beiden, der Erde und der Sonne, z. B. seine Kategorientafel (A 70 und V 66,16–36) zur Verfügung stellt? Ist dies das identische, erkennende und handelnde Ich-Selbst des Menschen? Und wo bleiben die Erscheinungen des inneren Sinnes? Gehören sie zur Äußerlichkeit des Kopernikus oder zur Innerlichkeit von Newton? Das kopernikanisch-newtonische System von Erdrotation und Heliozentrik verlangt ein Entweder-Oder. Darauf wird später zurück zu kommen sein.

Newtons Gravitationsgesetz und das Gesetz der Freiheit Kant ist der Kopernikus und Newton der Erscheinungswelt und des Reichs der Freiheit. Ein spätes Echo für das letztere aus dem Opus postumum: »Die Newtonische Attraction durch den leeren Raum und die Freyheit des Menschen sind einander analoge Begriffe sie sind categorische Imperative Ideen.« (XXI 35,4–6) Und: »Die Attraction durch den leeren Raum (nach Newton, actio in distans) die Freyheit die ein Princip der Causalität in der Welt (als Wirkung ohne Ursache) Postulirt blos durch sein veto im categorischen Imperativ […].« (XXI 51,29–52,1) »Zu den wirkenden Ursachen im Weltganzen gehört auch die moralisch-practische Vernunft nach dem categorischen Imperativ der Rechtspflichten dem unbedingten Sollen.« (XXII 114,12–14) 1793 merkt Kant in der Religionsschrift an: »Wenn Newton sie [die Schwerkraft, RB] gleichsam wie die göttliche Allgegenwart in der Erscheinung (omnipraesentia phaenomenon) vorstellt, so ist das kein Versuch, sie zu erklären […], aber doch eine erhabene Analogie, in der es bloß auf die Vereinigung 232 | kapitel 

körperlicher Wesen zu einem Weltganzen abgesehen440 ist, indem man ihr eine unkörperliche Ursache unterlegt; und so würde es auch dem Versuch ergehen, das selbständige Princip der Vereinigung der vernünftigen Weltwesen in einem ethischen Staat einzusehen und die letztere daraus zu erklären. Nur die Pflicht, die uns dazu hinzieht, erkennen wir […].« (VI 138,29–37) Das Gravitationsgesetz ist das Beispiel eines Naturgesetzes, an das Kant denkt, wenn er in der KpV von der Typik der reinen praktischen Vernunft schreibt: »Wenn die Maxime der Handlung nicht so beschaffen ist, daß sie an der Form eines Naturgesetzes überhaupt die Probe hält, so ist sie sittlich unmöglich.« (V 69,36–70,1; IV 421,18–20) Mit der Beanspruchung der Newtonschen Gravitationsgesetze als Analogon für die Freiheitsgesetze greift Kant zurück auf seine scherzhaft-ernste Vorzeichnung in den Träumen eines Geistersehers (1766), zugleich aber eine überwältigende Newton-Mode unter den Denkern des 18. Jahrhunderts. Wir wenden uns kurz diesen beiden Gedankenformationen zu. In den Träumen entwirft Kant eine Skizze seiner neuen Metaphysik, die die alte Metaphysik à la Wolff ins Reich der belachenswerten Träume einer eingeschlafenen Vernunft verweist.441 Wir sehen uns, so heißt es dort, »abhängig von der Regel des allgemeinen Willens, und es entspringt daraus in der Welt aller denkenden Natur eine moralische Einheit und systematische Verfassung nach bloß geistigen Gesetzen. Will man diese in uns empfundene Nöthigung unseres Willens zur Einstimmung mit dem allgemeinen Willen das sittliche Gefühl nennen, so redet man davon nur als einer Erscheinung dessen, was in uns wirklich vorgeht, ohne die Ursachen desselben auszumachen. So nannte Newton das sichere Gesetz der Bestrebungen aller Materie sich einander zu nähern die Gravitation derselben […].« (II 335,9–17) Die sittliche unsichtbare Welt und ihre fühlbare Attraktion wird mit Rousseaus allgemeinem Willen charakterisiert und diesem Freiheitssystem das Natursystem der Newtonschen Gravitation gegenüber gestellt. Die Physik dient als Modell der Moraltheorie.442 Im Treatise of Human Nature (1739–1740) hatte Hume die entscheidende Zäsur der Astronomiegeschichte in der »kopernikanischen Wende« gesehen: »Die Geisteswissenschaft ist hier in derselben Lage, in der die astronomische Naturwissenschaft [moral phikopernikus und newton, hypothese und gewissheit | 233

losophy is in the same condition as natural] vor der Zeit des Kopernikus war. Des Kopernikus Vorgänger [the ancients] waren sich des Grundsatzes wohl bewusst, daß die Natur nichts Überflüssiges tut. Trotzdem erfanden sie ein Himmelssystem, das durch seine Verworrenheit mit wahrer Wissenschaft [true philosophy] unverträglich war, und schließlich einer einfacheren und natürlicheren443 Betrachtungsweise weichen mußte. Wenn wir ohne Bedenken für jede neue Erscheinung ein neues Prinzip aufstellen, anstatt sie den alten anzupassen; wenn wir unsere Hypothesen mit einer Menge solcher Prinzipen belasten, so beweisen wir, daß keines derselben das richtige ist, daß wir nur bestrebt sind, unsere Unkenntnis der Wahrheit durch eine große Anzahl von Unwahrheiten zu verdekken.«444 Kopernikus steht also für die Beseitigung des Ptolemäischen Systems, das zu verworren war, um wahr zu sein; Kopernikus vereinfacht das Himmelssystem und ermöglicht so, neue Forschungen in dieses System zu integrieren. Hume folgt mit dem ersten Satz des Treatise der Maxime der Einfachheit: »All the perceptions of the human mind resolve themselves into two distinct kinds, which I shall call IMPRESSIONS and IDEAS.«445 Das entspricht der heliozentrischen Hypothese des Kopernikus. Der Untertitel des Werks kündigt jedoch an, daß der Autor der Newton der »moral science« oder »science of man« bzw. »science of human nature« sein will: »A Treatise of Human Nature: Being an Attempt to introduce the experimental Method of Reasoning into Moral Subjects«. »Moral Subjects« sind die mentalen Phänomene, von denen ein Teilbereich die Moral im engeren Sinn ist (Buch III: »Of Morals«). Newton folgt konsequent (ungenannt) an zweiter Stelle: »These are therefore the principles of union or cohesion among our simple ideas, and in the imagination supply the place of the inseparable connexion, by which they are united in our memory. Here is a kind of ATTRACTION, which in the mental world will be found to have as extraordinary effects as in the natural, and shew itself in as many and as various forms.«446 Auf die einfache Phoronomie des kopernikanischen Systems folgen die Gravitationsgesetze, die die Bewegungen erklären. Man sieht, wie sich hier Kant und Hume gleichen und unterscheiden. Hume parallelisiert im Untertitel des Treatise die Physik der äußeren Körper mit der Psychologie des mentalen Geschehens; dort die physische Gravitation, hier die psychische Assoziation ein234 | kapitel 

zelner Vorstellungen. Auf beiden Seiten wirken Gesetze, die wir zwar, wie der Skeptiker Hume schlüssig zeigen kann, nicht zu beweisen vermögen, die aber auch nicht in ihrer Realität bezweifelt werden können: auch der Skeptiker unterliegt ihnen zweifelsfrei in der Empirie. Kant dagegen setzt die Physik der Raum-Zeit-Welt in eine Analogie mit einem »regnum morale« und konstruiert eine mentale Welt der Freiheitsgesetze nach dem Vorbild der Newtonischen Gravitationsphysik. Hume, den Skeptiker und Psycho-Empiristen, interessiert der Weltbegriff überhaupt nicht; Kant dagegen, den Neostoiker, interessiert die Parallelkonstruktion von Physik und Ethik als Gesetzeswissenschaften zweier Welten oder zweier Aspekte einer Welt. Hume ermöglicht in seinem Modell nicht die eigene Theorie, denn er scheitert schon mit dem ersten Satz des Treatise, weil die Aussage die Möglichkeit der Negation voraussetzt, die in den assoziativen Vorgängen seiner »mental world« nicht vorkommt; Kants Transzendentalphilosophie ist theoretischer Natur, bezieht sich aber nicht auf Erscheinungen – ist sie nach ihren eigenen Prinzipien möglich? Vom Ich denke gilt natürlich, daß es »nicht als zur Sinnlichkeit gehörend angesehen werden« kann (B 132). Aber es kann auch nicht als zum mundus intelligibilis der Sonne gehörend angesehen werden, denn die Spontaneität des subjektiven Ich denke hat so wenig mit der Freiheitsgesetzgebung zu tun wie der von ihm konstituierte Gegenstand. Auf die Bedrängnis, in die der theoretische Verstand und die philosophische Erkenntnis zwischen Sinnenwelt und Sonne geraten, wird noch später zurückzukommen sein. Ähnlich gestaltet Hume die Parallelisierung und AstronomieAbstufung in der Kant bestens vertrauten ersten Inquiry concerning human understanding (1748), auf Deutsch erschienen unter dem Titel Philosophische Versuche über die menschliche Erkenntnis (1755). Nachdem Hume in der ersten Sektion auf die Notwendigkeit der Unterscheidung mentaler Vermögen in einer Art »geistliche[r] Erdbeschreibung« [mental geography]« hingewiesen und an das Vorbild der Astronomen appelliert hatte, die das wahre System der Planeten im Hinblick auf ihre »Stellung und Ordnung« erkannt hätten, folgt ein zweiter Schritt: »Aber können wir nicht hoffen, daß die Weltweisheit […] ihre Untersuchungen allezeit weiter fortsetzen, und wenigstens in einigem Grad die Quellen und Grundsätze kopernikus und newton, hypothese und gewissheit | 235

[the secret springs and principles] entdecken könne, durch welche das menschliche Gemüth in seinen Wirkungen [operations] angetrieben wird? Die Sternkundigen haben sich lange begnüget, aus den Erscheinungen die wahren Bewegungen, die Ordnung und Größe der himmlischen Körper zu beweisen [also Kopernikus gegen Ptolemaeus, RB], bis zuletzt ein Weltweiser [Newton, RB] aufstund, welcher aus den glücklichen Vernunftschlüssen auch die Gesetze und Kräfte bestimmet zu haben scheint, durch welche ihre Umwälzungen [revolutions] [sc. Umläufe, nicht Rotationen, RB] eingerichtet und geordnet werden.«447 Während Kopernikus schon die richtigen phoronomischen Beschreibungen der »revolutions of the planets« vorlegt, entdeckt erst Newton die sie bestimmenden Kräfte. Also derselbe Zweischritt wie bei Kant von der anfänglichen Hypothese zur endgültigen Gewißheit. In dem Abriß des notwendigen Ganges der Astronomiegeschichte in der KrV sahen wir schon dieselbe Stufung; es müssen zuerst die verschiedenen Bahnen der Kometen und Planeten als Ausformungen der Kreisbewegung begriffen werden (Parabel, Ellipse). »So kommen wir […] auf Einheit der Gattungen dieser Bahnen in ihrer Gestalt, dadurch aber weiter auf Einheit der Ursache aller Gesetze ihrer Bewegung (die Gravitation) […].« (A 663). Also: Erst die Gestalt, dann die Ursache, erst Kopernikus (Kepler) mit der äußeren Formbestimmung, dann Newton mit seiner nicht mehr bezweifelbaren Theorie der inneren bestimmenden Kräfte. Hier verbleibt die Astronomie natürlich im Bereich der Erscheinungen, und Kant kritisiert an anderer Stelle Autoren (»in den Schriften der Neueren«, A 256), die mit der Differenz von Erscheinung und Ding an sich: oder phaenomena und noumena keine verschiedenen Dingklassen bezeichnen, sondern nur unterschiedliche Betrachtungsweisen derselben Gegenstände. »Die theoretische [sc. »theoreo« = schauen, beobachten, RB] Astronomie, welche die bloße Beobachtung des bestirnten Himmels vorträgt, würde die erstere, die kontemplative [sc. erklärende, RB] dagegen (etwa nach dem kopernikanischen [sc. heliozentrischen, RB] Weltsystem, oder gar nach Newtons Gravitationsgesetzen erklärt), die zweite, nämlich eine intelligible Welt vorstellig machen.« (A 257) In der Vorrede der B-Auflage macht Kant, wie wir sahen, genau hiervon Gebrauch, allerdings nur im Gleichnis. Weder Hume noch Kant vor 1787 ma236 | kapitel 

chen aus den »revolutiones« der Planeten, mit denen sich Kopernikus befasst, eine Erdrotation des Kopernikus, die zum Stichwort für die spätere Ideengeschichte werden sollte. Der Mensch muß einen doppelten Standpunkt einnehmen, um die Widersprüche der alten Metaphysik aufzulösen. Kant vergegenwärtigt dieses sein Prinzip am Ende der Antithetik im Weltbegriff: Die Opponenten würden Standpunkte vertreten, die »der gemeinen Menschenvernunft ganz angemessen« seien, etwa so wie beim Streit zweier berühmter Astronomen, von dem Herr von Mairan berichte: »Der eine schloß nämlich so: der Mond dreht sich um seine Achse, darum, weil er der Erde beständig dieselbe Seite zukehrt; der andere: der Mond dreht sich nicht um seine Achse, eben darum, weil der Erde beständig dieselbe Seite zukehrt. Beide Schlüsse waren richtig; je nachdem man den Standpunkt nahm, aus dem man die Mondbewegung beobachten wollte.« (A 461) Die gemeine Menschenvernunft und die aus ihr entwickelte Metaphysik verfallen nicht darauf, daß beide objektiven Aussagen von unterschiedlichen Standpunkten des Subjekts erfolgen und, derart versubjektiviert, objektiv wahr und kompatibel werden. Man erinnere sich des Kreisels in der platonischen Politeia, der sich bewegt und zugleich stillsteht.448 Nach dem Prinzip des ausgeschlossenen Widerspruchs kann dies nicht die letzte Ansicht sein, und tatsächlich betreffen die Aussagen Verschiedenes am Kreisel, seine Rotation und sein Verharren an derselben Stelle des Bodens. Kants Kreisel ist der Mond, zu dem unsere translunare Erkenntnis inzwischen freien Zugang hat; der Widerspruch wird nicht durch verschiedene Attribute am Objekt, sondern die unterschiedlichen Standpunkte des Subjekts aufgehoben. Mutatis mutandis: Die kritische Philosophie ermöglicht die Lösung der Welträtsel, so weit sie in die Kompetenz der menschlichen Vernunft fallen, durch die Unterscheidung von Erscheinung und Ding an sich als fundierter Standpunkte zweier Welten. Die bloße Beobachtung des Mondes hat, so können wir paraphrasieren, ein Entscheidungsdefizit im Hinblick auf die einander widersprechenden Aussagen; es bedarf einer weiteren Größe, um den Konsens in der Antithetik herzustellen. Eine formal ähnliche Begriffssituation fand sich schon in der Schätzung der lebendigen Kräfte (1749) und dann wieder an einer markanten Stelle der Gekopernikus und newton, hypothese und gewissheit | 237

nese und der Ausarbeitung der kritischen Philosophie. Die einschlägige These Kants von 1749 lautet: Die bloß formalen Wissenschaften der Logik und der Mathematik sind notwendige, aber keine hinreichenden Bedingungen für die Erkenntnis der Wirklichkeit. Leibniz konnte das wahre Kräftemaß nicht bestimmen, weil er seine Untersuchung nur mit mathematischen Mitteln führte; so blieb er letztlich bei der cartesischen Gleichung stehen, die er widerlegen wollte. Sowohl Descartes wie auch sein Opponent Leibniz irren, weil sie ihr Objekt unterbestimmen, indem sie den »Körper der Mathematik« als »Körper der Natur« nehmen (I 140,1–4) Habe man dieses in der Mathematik als solcher liegende Entscheidungsdefizit bemerkt, sei es einfach, die lebendige Kraft der natürlichen Körper zu messen. 1763 folgt die offizielle Ablösung von der rationalistischen Metaphysik und ihrer Methode more geometrico bzw. dem bloßen Widerspruchsprinzip. Hiermit wird eine Tradition von Platons »oudeis ageometretos eisito«, »niemand trete ohne Geometriekenntnisse ein«449, zu Descartes, Hobbes, Spinoza, Leibniz und Wolff abgebrochen; für sie galt die Mathematik als Modell der Philosophie, von jetzt an wird es dagegen die Naturwissenschaft sein. Die Raumschrift von 1768 argumentiert ähnlich wie die Untersuchung der lebendigen Kräfte von 1749: Die Leibnizschen Begriffe haben ein Entscheidungsdefizit beim »Unterschied der Gegenden im Raum«, sie versagen bei der Erfassung der Differenz von inkongruenten Gegenstücken wie rechter und linker Hand (II 382–383). Gegen den Rationalismus läßt sich generell entsprechend einwenden, er betreibe nicht die Logik der Sache, sondern die Sache der Logik, er versuche, inhaltliche Erkenntnis bloß aus Begriffen zu gewinnen. Es kommt darauf an, Begriff und Anschauung miteinander zu verknüpfen, so wie die KrV es in ihrem zentralen Lehrstück, der »Transzendentalen Deduktion der Verstandesbegriffe«, vollziehen und in der Dialektik den Mangel dieser Möglichkeit kritisieren wird. Wir mußten die Oppositionen aus einem vielschichtigen Text herausholen und die Interpretation durch andere Kantische Äußerungen stützen. Man darf die textliche Mehrfachbedeutung als Ausdruck eines inhaltlichen Problems werten, denn die beiden Bildzentren von rotierender Erde und ruhiggestellter Sonne im Zentrum des Planetensystems operieren unabhängig voneinander. Das Pla238 | kapitel 

neten-System fordert die Einheit des Ganzen, die Erde jedoch rotiert als einer der Planeten um die eigene Achse und erkennt die erscheinenden Bewegungen nur noch im Raster der eigenen Rotation. Damit wird in das einheitliche Planetensystem die Dualität zweier Welten eingetragen: Es gibt keinen sachlichen Übergang von den Erscheinungen (der rotierenden Subjekt-Erde) zum Ding an sich des kategorischen Imperativs auf der unüberbietbaren Höhe der Sonne. Hier befasst sich die theoretische Erkenntnis mit den Erscheinungen und verzichtet auf das Ausgreifen auf die Dinge an sich, dort findet die Moral den von theoretischen Ansprüchen freigeräumten Platz der Dinge an sich und legt die Bestimmung des Menschen fest. Es gibt kein metaphysisches Kontinuum, wo das Bild der kopernikanischen Wende mit einem räumlich-physischen kontinuierlichen Zusammenhang von Erde und Sonne operiert. Erst post festum wird die KdU einen Übergang im Zweckbegriff suchen, diese Brücke der unüberbrückbaren Kluft jedoch als einen subjektiv abgenötigten Zusammenhang nur der Reflexion bewerkstelligen.

Die Sonne, die Erde Nach Aristoteles haben wir die theoretische Vernunft mit den Göttern gemeinsam, nicht aber die praktische450; das besagt, daß die höchsten Prinzipien unserer Erkenntnis bei allen Vernunftwesen identisch sein müssen, während umgekehrt das praktische Verhalten anthropologisch bedingt ist und die philosophische Ethik die kontingenten Bedingungen und Konsequenzen klärt, unter denen und mit denen wir gesellschaftlich handeln. Kant stellt diese Ordnung auf den Kopf, bei ihm ist umgekehrt unsere Erkenntnis geozentrisch restringiert, nicht aber das Wissen um die Gesetzlichkeit der Freiheit. Die göttliche Vernunft hat entsprechend keinen Zugang zur Erkenntnis, die sich mit einem Wahrheits- und Geltungsanspruch auf subjektiv bedingte Erscheinungen bezieht: es ist ein »Widerspruch […] zu sagen, Gott sei ein Schöpfer von Erscheinungen« (V 102,22); umgekehrt jedoch ist die eigentliche Moral völlig unabhängig von der menschlichen Natur. In der Moral haben wir ein göttlich-absolutes Wissen, weil es über den Sonnenstandpunkt kopernikus und newton, hypothese und gewissheit | 239

der Gesetzlichkeit hinaus keinen privilegierten Ort des Willens gibt und es unmöglich ist, daß es etwas moralisch Gutes geben könnte, das nicht durch unser Sittengesetz bestimmt wäre. Entsprechend können wir die moralischen Gesetze ansehen als göttliche Gebote (u. a. V 481,13–14 u. ö.). Wir merken hier an, daß die reine Logik und die Transzendentalphilosophie selbst im Kantischen Dualsystem zwischen oder über Erde und Sonne offenbar heimatlos werden; war in der Antike der Gott weise und bei Christian Wolff noch ein begnadeter Philosoph (»Deus est philosophus absolute summus«451), wird es bei Kant schwer, die Erkenntnis der Erkenntnis und ihre Prinzipien irgendwo unterzubringen, nachdem der Sitz des eigentlichen Metaphysicus durch den reinen Willen eines jeden eingenommen wurde: Die eigentlich metaphysische, sonnenhafte Tätigkeit des Menschen ist nicht das Philosophieren und nicht die Kunst, sondern seine Moral. Die Sonne wird nicht wie in der ersten Epoche der Aufklärung und im Barock, aber auch bei Platon als Quelle des Lichtes und der Aufhellung des düsteren Mittelalters und des Höhlendaseins gefasst, sondern als Gravitationszentrum in Analogie zum souveränen Subjet der moralischen Gesetzgebung und Handlung. Der Erkenntnismodus des kategorischen Imperativs wird nicht geklärt, sondern mit dem neuen Zentralbegriff des Bewusstseins indiziert. In dem Aufsatz Von einem neuerdings erhobenen vornehmen Ton in der Philosophie (1796) nimmt Kant Stellung gegen das präromantische Ahnen; »[…] die Sonne muß geahnt werden. […] Zwar in die Sonne (das Übersinnliche) hinein sehen ohne zu erblinden, ist nicht möglich; aber sie in der Reflexe (der die Seele moralisch erleuchtenden Vernunft) und selbst in praktischer Absicht hinreichend zu sehen, wie der ältere Plato that, ist ganz thunlich; […].« (VIII 399,12–16)452 Hier wird die Lichtmetapher zwar aus dem fremden Text übernommen und im Kontext der eigenen Begrifflichkeit interpretiert; in der Kantischen Philosophie selbst hat die Sonne jedoch keine Funktion mehr als Licht- und Erkenntnisquelle. Das Licht der morgenfrohen Aufklärung entspringt jetzt unserer eigenen Vernunft, nicht den göttlichen Strahlen eines überirdischen Gestirns wie in der ersten Epoche, besonders bei Christian Wolff.453 Die Erde figuriert als Ort der Naturerkenntnis. Wir leben auf einem 240 | kapitel 

kleinen, wahrhaft gottverlassenen Planeten. »[…] die Ordnung und Regelmäßigkeit […] an den Erscheinungen, die wir Natur nennen, bringen wir selbst hinein, und würden sie auch nicht darin finden können, hätten wir sie nicht, oder die Natur unseres Gemüts, ursprünglich hineingelegt.« (A 125; vgl. XVIII 91,16–20) An die Stelle der Erkenntnis vorgegebener Dinge tritt die Strukturierung eines Mannigfaltigen durch unsere subjektiven Prinzipien des Raumes, der Zeit und der Kategorien, wodurch wir Gegenstände oder Objekte für uns erkennen. Das surreale Bild der kopernikanischen Wende lädt zu zwei Lesarten ein, von der aber nur eine durch Kant autorisiert ist. Diese Kantische Version besagt, daß es, transzendental gesehen, kein Sternenheer dort oben gibt, das wir in Ruhe lassen, sondern nur ein von uns zu sortierendes Mannigfaltiges, das sich seltsamerweise unseren transzendentalen Regieanweisungen fügt; die zweite, illegitime Lesart besagt dagegen, daß es sehr wohl lebensweltliche Dinge wie die sich bewegende Sonne gibt, sowohl für Menschen wie auch andere Tiere.454 Aber nur wir Menschen können durch einen künstlichen, wissenschaftlichen Zugriff erkennen, daß die Sonne qua Gegenstand unserer Erkenntnis z. B. ruht, wir selbst dagegen allem animalischen Sinnenschein zuwider auf einer rotierenden Kugel sitzen; in dieser zweiten Fassung haben wir erstens eine Lebenserfahrung etwa der Sonne, die sich unleugbar am Himmel bewegt, wir können jedoch alle Dinge der Welt zugleich durch die neuzeitliche Wissenschaft systematisch zu Gegenständen einer subjekt- und situationsinvarianten Erkenntnis machen. »Sonne« wird aus einem lebensweltlichen Eigennamen zu einem wissenschaftlichen Begriff (mit der Möglichkeit des Plurals). »Die Sonne ist […]« was? In der ersten, von Kant legitimierten Fassung besagt die (von ihm selbst jedoch nicht benutzte) Rede von der »Konstitution« der Objekte, daß wir die Sonne, die Flüsse und Häuser etc. des Alltags nicht vorfinden, sondern aus einem Mannigfaltigen der Affektion zustande bringen; in der zweiten Fassung sind diese vorgefundenen, relativ stabilen Alltagsdinge eben das Mannigfaltige, das wir der wissenschaftlichen Methode unterwerfen und dadurch zu wirklichen Gegenständen einer objektiven, allgemeingültigen und notwendigen Erfahrung gelangen. In der ersten Variante sind die subjektiven Bedingungen der Erfahrung die Bedingungen der Gegenstände der kopernikus und newton, hypothese und gewissheit | 241

Erfahrung, in der zweiten bestimmt die KrV nur die wissenschaftliche Erfahrung; in ihr ist jeder Gegenstand als solcher theorieabhängig, in der ersten dagegen hängt der Urwald der Indios nicht von ihrer wissenschaftlichen Theorie ab.455 Um die Wunder des Zauberns, des christlichen Glaubens und der Geisterseherei von Swedenborg ist es in der Wissenschaft geschehen, obwohl ihnen in den Annalen der Krankheiten des Kopfes weiterhin ein Platz einzuräumen ist. In dieser zweiten Fassung »konstituiert« die KrV also nicht die Dinge der lebensweltlichen Erfahrung, sondern nur die Gegenstände methodisch dirigierter Naturwissenschaft, die KrV ist dann tatsächlich ein »Traktat von der Methode« (B XXII) – hiermit werden wir 1787 eben doch eingeladen, das Werk nicht als die Darlegung der Bedingungen der Möglichkeit der Erfahrung überhaupt zu lesen, sondern nur der methodisch angestellten, wissenschaftlichen Erfahrung. Dazu passt, daß Raum und Zeit nur als wissenschaftliche Relationensysteme eingeführt werden, nicht jedoch mit den Modi unseres tatsächlichen vorwissenschaftlichen Alltags, die wir z. B. partiell mit den übrigen Primaten teilen. Im Hinblick auf die Zeit behandelt Kant diese modale Zeiterfahrung von Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft in der empirischen Anthropologie (z. B. VII 182–189; 193–194), nicht aber in der KrV, die nur am experimentell wiederholbaren Früher-Später und Zugleich interessiert ist (A 30 ff.), wie sie die Uhr (ohne Datumsangabe) im wiederholbaren Experiment bestimmbar macht. Für den Raum der KrV gilt analog, daß es sich nicht um den perspektivischen Lebensraum der Menschen handelt, sondern um das geometrische Relationensystem, das die perspektivlose Bühne der physikalisch zu bestimmenden Objekte darstellt. Wann und wo sich die experimentelle Abfolge des »Wenn-dann« kalendarisch und lokal tatsächlich realisiert, ist völlig gleichgültig, aber die Analytik der KrV stiftet die Erkenntnis a priori, daß, was auch immer irgendwann und irgendwo geschieht, den Grundsätzen des reinen Verstandes unterliegt.456 Während sich in der modalen, gewissermaßen vorwissenschaftlichen Zeit der Anthropologie nichts wiederholt, sondern alles einmalig ist, ist in der Zeit der KrV nichts einmalig, sondern umgekehrt nur dann von Belang, wenn es beliebig wiederholbar ist (der glückliche Einfall, der zu ihrer systematischen Erfassung führte, gehört noch in die vorkopernikanische, vorwissenschaftliche Zeit). 242 | kapitel 

Der Unterschied der alltäglichen und wissenschaftlichen Raumund Zeitformen wird von Kant nicht für sich thematisiert, und es wird nicht gezeigt, wie wir von der Form der Anschauung von Raum und Zeit, die nur relationale Bestimmungen enthält, zur anthropologischen (und partiell animalischen) Anschauung gelangen oder umgekehrt. Ist es sinnvoll, von der letzteren als einer transzendentalen Form der Anschauung apriori zu sprechen? Kant wenigstens tut es nicht, aber wie verhalten sich beide zueinander? Für die zweite Lesart, daß also in einer vorkopernikanischen Einstellung die sich bewegenden Fixsterne als Dinge an sich (und Mannigfaltigkeitsreservoir für wissenschaftliche Erklärungen) weiterhin die Erde umkreisen, spricht auch die Vorstellung einer natürlichen Dialektik der menschlichen Vernunft, die nicht mit der Auflösung der Antinomien im Weltbegriff endet, sondern in unseren natürlichen Ansichten ungerührt verharrt. Das hieße, daß die Dinge an sich als überzeugende, nur im Grenzfall auch »widersprüchliche« Gegebenheiten unserer Alltagserfahrung weiterhin da sind und daß sie das sonst ominöse Mannigfaltige bilden, das der Naturwissenschaft zur Verfügung steht, um aus ihm die objektiven Erscheinungsgegenstände zu »konstituieren«: Die sich bewegende Sonne ist in dieser wissenschaftlichen Wirklichkeit ein Zentralstern, der Regenbogen eine bestimmte Brechung von Lichtwellen und die Liebe und leider auch die Philosophie eine Regung der Gene oder auch Synapsen im Gehirn. Wir leben gemäß dieser Interpretation im Spagat zweier Welten, einmal in der Welt der alten und alltäglichen Dinge an sich und zweitens in der der Gegenstände der theoretischen Erkenntnis. Die Widersprüche brachen da auf, wo die Alltagsmetaphysik der Dinge an sich auch die Unikate Gott und Welt und die zeitfreie Seite der Seele zu erkennen vorgab. In der Wissenschaftsvariante ist der Zugriff des Verstandes auf die zu erkennenden Gegenstände durch subjektive, Objektivität generierende Handlungen geleitet. Deswegen beginnt die Kategorientafel nicht mit dem Substanzbegriff wie bei Aristoteles, sondern mit der Vermessung von extensiven und intensiven Größen und gelangt erst dann zur dynamischen Substanz als dem Beharrlichen, das wir zur Ermöglichung der relationalen Erkenntnis annehmen müssen. Die Ontologie wird schon hier und folglich auch in der Urteilstafel durch eine Analytik des Verstandes ersetzt (A 247: »[…] und der kopernikus und newton, hypothese und gewissheit | 243

stolze Name einer Ontologie […] muß dem bescheidenen, einer bloßen Analytik des Verstandes, Platz machen«), damit aber wird die Beziehung kopernikanisch auf den Kopf gestellt: Das Seiende bestimmt nicht mit seinen Substanzen und Attributen unsere Erkenntnis, sondern die Erkenntnis bestimmt umgekehrt, was seiend ist und löst dies folgerichtig in Funktionen auf. So haben wir ein Tableau zweier Welten, in denen wir leben, einmal der Welt der vertrauten Dinge an sich und zweitens der Welt der wissenschaftlichen Gegenstände, nicht des Seins, sondern des menschlichen Verstandes. Kant macht Raum und Zeit überhaupt zu subjektiven Anschauungsformen und läßt damit keine Alltagsdinge an sich in einer vorwissenschaftlichen Anschauungs-Lebensweltidylle zu. Es werde »klar gezeigt: daß, wenn ich das denkende Subjekt wegnähme, die ganze Körperwelt wegfallen muß, als die nichts ist, als die Erscheinung in der Sinnlichkeit unseres Subjekts und eine Art Vorstellungen desselben.« (A 383) Damit thematisiert die KrV notwendig ungetrennt beides, die Erfahrung des Alltags und die der Wissenschaft. Wie hierbei mit der Raumanschauung anderer Tiere, etwa der anderen Primaten, zu verfahren ist, bleibt, wenn ich richtig sehe, ein Rätsel: Sie müssen sich selbständig im Raum orientieren, sie machen Erfahrungen von Dingen, die vom eigenen Körper »unterschieden« werden, sie synthetisieren gegenwärtige mit früheren Eindrücken, kurz, sie steckten bis zum Hals in der KrV, wenn diese sich nicht als ein Traktat nur wissenschaftlicher, also nur menschlicher Erkenntnis von allen Annäherungen der Tiere distanzierte. Für die letztere, die von Kant einzig autorisierte Lesart der KrV, sind sie konsequent und problemlos so wie auch wir animalischen Menschen selbst Objekte unserer menschlichen Raum-Zeit-Erkenntnis und verschwinden, wenn diese aufhört. Kant gestattet weder den Tieren noch Gott, mit eigener Anschauung unsere transzendentale Raum-Zeit-Welt zu betreten, sei es die des Alltags, sei es die der methodischen Wissenschaft. Unsere Welterkenntnis wird zur Binnenerkenntnis des menschlichen Subjekts, denn dadurch, daß Raum und Zeit zu unseren Anschauungsformen werden, ist die erkennbare Welt dem menschlichen Subjekt einverleibt; damit bedarf es nicht mehr des problembeladenen Überschritts von der »res cogitans« zur »res extensa«, bei 244 | kapitel 

dem ohne die Hilfe der dritten Substanz, also Gottes, nichts gelingen wollte.457 Kant entledigt sich der Erkenntnis einer von uns substantiell getrennten Welt und geht über zu dem skeptischen »way of ideas«, also zu einer bloßen Vorstellungsphilosophie, er bestimmt jedoch die immer nur subjektiven Vorstellungen so, daß sie einer geometrischen, arithmetischen und relationalen Gesetzlichkeit unterliegen und in dieser ihrer Gesetzlichkeit von uns objektiv erkannt werden können. Die gesetzliche Ordnung, die wir erkennen, ist somit von uns selbst gestiftet, und die Beziehung zwischen »res cogitans« und »res extensa« ist zu einer Beziehung zwischen unseren Begriffen und unseren Anschauungen geworden. In einer Reflexion heißt es entsprechend: Unsere Erkenntnis »geht nur auf Erscheinungen (die an sich zufallig und ohne Einheit sind), so daß man sich eigentlich nur sich selbst als das denkende Subiect erkennt, alles andere aber als in diesem Einen, Heautognosie.« (XVI 267,16–19 – Refl. 5636) Wenn es in der Bibel (nach griechischen Vorgaben, pace Hamann und Herder) heißt: »Aber du hast alles nach Maß, Zahl und Gewicht geordnet«458, dann verortet Kant Geometrie, Arithmetik und alles Würfeln (mit durch dynamische Gravitation bestimmten Würfeln) in den Binnenraum der Form des inneren und äußeren Sinnes; die Mathematik befasst sich mit den formalen Strukturen der menschlichen Anschauung, die Gott apriori verschlossen ist, der menschliche Verstand nimmt sich der dynamischen Funktion der Gewichte an. Wenn Leibniz einerseits und die Romantiker, etwa Novalis, andererseits die Mathematik als göttlich zu begreifen suchen, dann sind sie von der Kantischen Transzendentalphilosophie meilenweit entfernt. Sie haben die Solidität und Schwere der Körper nicht begriffen.459 In der Dissertation von 1770 trennte Kant Raum-Zeit-Erscheinungen als bloß subjektive Phänomene von den Dingen an sich, den »res ipsae«. Von diesen letzteren gab es eine rein rationale Erkenntnis in der Form einer Substanzmetaphysik, die uns die Gewißheit vermittelt, daß die Erscheinungswelt und die Ding-an-sich-Welt isomorph sind; die Erscheinungen also sind kein Gaukelspiel in den nur subjektiven Formen von Raum und Zeit, kein lebenswährender Trickfilm unserer Seelen-Höhlen-Monaden, sondern wahrer Ausdruck der eigentlichen, von Gott geordneten Weltwirklichkeit, über kopernikus und newton, hypothese und gewissheit | 245

die hinaus es nichts zu suchen gibt. 1781 ist die Situation dadurch verändert, daß die Substanzmetaphysik im Prozeß einer zehnjährigen, stillschweigenden Kritik destruiert wird; eben dies ist die titelgebende Tat der Kritik der reinen Vernunft. Damit aber geraten die Erscheinungen in einen Schwebezustand der transzendentalen Bestimmtheit, aber metaphysischen Beliebigkeit, denn wir erkennen dasjenige nicht mehr, was sie eigentlich zur Erscheinung bringen. Sind sie Eingebungen Gottes oder eines anderen Genius? Sind sie Bilder der wahren Welt und Wirklichkeit? Sind sie Fiktionen unseres Gemüts?460 Der Verstand mag immer die wahre Erkenntnis von Erscheinungen als solcher beteuern; kann er jedoch selbst gewährleisten, daß seine Gegenstände etwas anderes sind als die raum-zeitlich geordneten Bilder an der Wand der Platonischen Höhle? Im Opus postumum heißt es: »Wenn es keine directe Beweise von der Wesenlosigkeit der Gegenstände der Sinne als Dinge an sich selbst gibt so kann die Mathematik es durch die Formen ihrer Erscheinung in der Anschauung a priori apagogisch mit Evidenz darthun.« (XXI 195,27–30) Geometrie an der Höhlenwand? Soll die bloße Form ihre sinnliche Existenz beweisen? Kant sucht in der KrV zu zeigen, daß die Erfahrungserkenntnis sich transzendental notwendig auf subjektive Erscheinungen beziehen muß; ohne diese Selbstrestriktion des Begriffs wahrer Erkenntnis ist das Humesche Zweigespann von Skeptizismus und Empirismus unvermeidlich. Den metaphysischen Halt findet, so scheint es, unsere systemimmanent wahre Erscheinungserkenntnis nicht in einem höchsten Sein, sondern im Sollen unserer Bestimmung, dem höchsten unüberbietbaren Punkt unserer Vernunft. Aber was haben Sein und Sollen miteinander zu tun? Soll das Sollen das Ding an sich des Seins sein? Wir können unsere doppelte Leserichtung des ersten Gedankens des Kopernikus bei seinem zweiten Gedanken, der anfänglichen Hypothese und der Newtonischen Bestätigung, wiederholen. Es gibt das Freiheitsgesetz und die Bestimmung des Guten und Bösen kraft dieses Sonnen-Gesetzes; die vorkopernikanische, vornewtonische Lebenswelt ist damit aufgehoben und als bloßer Schein entlarvt. Im mundus moralis hat einzig der kategorische Imperativ Kraft und Wirksamkeit. Andererseits bleibt jedoch die natürliche Lebenswelt und Willensbestimmung bestehen; was gut und böse ist, 246 | kapitel 

bestimmt hier die sinnliche Erfahrung oder auch die theoretische Vernunft. Bei diesem Pendant ist die zweifache Leserichtung jedoch integrierender Bestandteil der Kantischen Theorie und bildet die Quelle des »Soll«, das sich gegen die natürlichen sinnlichen und intellektuellen Neigungen und ihre verlockenden Fremdbestimmungen des Willens wendet.

Kopernikus und die Revolution der Denkart Der von Kopernikus erneuerte Vorschlag, die Sonne ins Zentrum des Planetensystems zu stellen, ist von allen um Erkenntnis bemühten Autoren mit Bewunderung und dem Gefühl der Befreiung begrüßt worden, Kepler, Galilei, Bacon, Locke, Newton, um nur wenige zu nennen. Leibniz fasst den Konsens gut in der Schrift Von dem Verhängnisse zusammen; nachdem er ausgeführt hat, daß alles in der Natur nach Zahl, Maß und Gewicht oder Kraft »abgezirkelt« und im Gegenwärtigen das Zukünftige schon enthalten sei, spricht er über die Astronomie: »Zwar können wir solche Ordnung nicht sehen, weilen wir nicht in dem rechten Gesicht-Punkt stehen, gleichwie ein prospectivisch Gemählde nur aus gewissen Stellen am besten zu erkennen, von der Seite aber sich nicht recht zeigen kann. Allein wir müssen uns mit den Augen des Verstandes dahin stellen, wo wir mit den Augen des Leibes nicht stehen, noch stehn können. Zum Exempel wenn man den Lauf der Sterne auf unsrer Erdkugel betrachtet, darin wir stehen, so kommet ein wunderliches verwirretes Wesen heraus, so die Stern-Kündige kaum in etlich tausend Jahren zu einigen gewissen Regeln haben bringen können, und diese Regeln sind so schwer und unangenehm, daß ein König von Castilien, Alphonsus genannt, so Tafeln vom Himmelslauf ausrechnen lassen, aus Mangel rechter Erkenntnis gesaget haben solle, wenn er Gottes Rathgeber gewesen, da er die Welt geschaffen, hätte es besser herauskommen sollen. Aber nachdem man endlich herausgefunden, daß man das Auge in die Sonne stellen müsse, wenn man den Lauf des Himmels recht betrachten will, und daß alsdann alles wunderbar schön herauskomme, so siehet man, daß die vermeinte Unordnung und Verwirrung unsers Verstandes schuld gewesen, und nicht der Natur.« Wenig später heißt es, diese Entdeckungen kopernikus und newton, hypothese und gewissheit | 247

gäben »ein solches Liecht vom ganzen Hauptwerk der Natur und solche daher entstehende Vergnügung, daß die, so dessen ermangeln, denen zu vergleichen, die allezeit im Finstern tappen müssen; die aber, so darin erleuchtet, können sich in die Höhe schwingen, und alles von oben herab, gleichsam aus den Sternen unter sich sehen.«461 Von der Erde aus gesehen ist die Bewegung der Sterne voller Wirren, wohingegen sie von der Sonne aus »wunderbar schön herauskomme.«462 Es lässt sich auch ohne historische Dokumente vermuten, daß die Kirche und die Scholastik über Kopernikus nicht glücklich waren. Bruno wurde verbrannt, und nach einem glaubwürdigen Gerücht konnte Galilei noch 1633 sein »Und sie bewegt sich doch« nur zur Seite murmeln, um zu überleben. Die Erdrotation und die Heliozentrik gehörten schon zum Wissensbestand des Hellenismus, der in der christlich-scholastischen Phase der Spätantike und des frühen Mittelalters den kindlichen Erzählungen der Bibel für über tausend Jahre weichen mußte. Wolfgang Philipp dokumentiert in seinem materialreichen Buch Das Werden der Aufklärung die Nachwirkungen des Mittelalters in dem Kapitel »Die bleibende Beunruhigung durch die Kopernikanische Wende im 18. Jahrhundert«463. Überraschend wurden nicht die berühmten Bewunderer, sondern die obskuren Beunruhigten später dadurch geehrt, daß die Kopernikanische Erkenntnis zur Kränkung des Selbstbewusstseins der Menschheit stilisiert wurde (Sigmund Freud), und die Sekundärliteratur wälzte diese psychologisch suggestive »Kränkung« wiederum in einem nachhallenden Jammer vielfach hin und her.464 Wie häufig an derartigen Versammlungsorten, gibt auch hier Friedrich Nietzsche eine synästhetische Auskunft: »Seit Copernikus rollt der Mensch aus dem Centrum ins x«465. Die von Kant ausgerufene Revolution der Denk(ungs)art setzt sich durch die äußerliche Wortbrücke in ein imaginäres Verhältnis zu Kopernikus und sein Werk De revolutionibus, dessen permanente »revolutiones« mit der einen, einmaligen Wende der »kopernikanischen Revolution« nichts zu tun haben. In der ersten Rezension der KrV, die Kant als angemessen empfinden wollte, wird die KrV als Revolution bezeichnet: »Mit Hn. Kant’s Critik der reinen Vernunft, welche vor einigen Jahren erschien, ist eine neue Epoche der Philo248 | kapitel 

sophie angegangen […]. Noch wird dieses tiefsinnige Werk von den besten Köpfen der Nation studirt; noch ist es als neu zu betrachten; die Revolution, die es stiften wird, und stiften muß, ist nur erst im Anfang begriffen.«466 Und im Brief vom 18. Februar 1785 schrieb der Rezensent Christian Gottfried Schütz an Kant: »Noch in dem März oder April der Allg. Lit. Zeitung soll bey Gelegenheit des HofPr. Schulz eine Darstellung der Revolution, die die Metaphysik Ihnen zu danken hat erscheinen.« (X 339)467 Ludwig Heinrich Jakob nimmt in seiner Prüfung der Mendelssohnschen Morgenstunden oder aller speculativen Beweise für das Daseyn Gottes (1786) das Motiv auf und schreibt in der »Vorrede«: »Daß die Kritik der reinen Vernunft der ganzen Philosophie eine Revolution verkündige und ihr eine ganz andere Wendung geben müsse, ist leicht einzusehen, […].«468 Der Begriff der Revolution ist hier positiv ausgezeichnet, wobei die Autoren an zwei Traditionslinien anschließen. Einmal steht im Höhlengleichnis der Platonischen Politeia: »Wenn einer entfesselt wäre und gezwungen würde, sogleich aufzustehen und den Hals herumzudrehen, zu gehen und gegen das Licht zu sehen […].«469 Und im Neuen Testament wird von der »metanoia«, der Umkehr im Glauben gesprochen.470 Den drei Wenden, der Platonischen, der christlichen und der Kantischen »kopernikanischen Wende«471 ist gemeinsam, daß sie nicht aus dem vorhergehenden Zustand methodisch ableitbar sind. Die Kehren und Wenden sind entsprechend immer aus der Sicht der Vergangenheit und Gegenwart irrational, sie sind einmalig und geschehen plötzlich472. Sie haben erst post festum den Vorzug, daß sie den vorhergehenden Zustand in seinem Defizit zu begreifen vermögen und sich als rational erweisen. Sie sind dadurch nicht nur ein neues, sondern ein qualitativ höheres, abschließendes Paradigma. Die drei Wenden sind ihrem eigenen Anspruch nach irreversibel und schließen eine zyklische oder andere Form der Rückkehr aus. Wer die Höhle verlässt, wird nicht nach einiger Zeit erfahren, daß er erneut erkenntnislos in der oder überhaupt einer Höhle sitzt und erneut befreit werden muß, desgleichen kann es über die christliche Kehre und Bekehrung hinaus keine weitere geben; ebenso eröffnet die Kantische Revolution den endgültigen Übergang zur Stabilität der Metaphysik als Wissenschaft. Kant sieht zwar kopernikus und newton, hypothese und gewissheit | 249

für verschiedene Wissenschaften je eine Wende vor, die abschließende Wende in der Metaphysik ist jedoch die entscheidende und weltgeschichtlich einzige. Etwas grundsätzlich Neues wird nicht mehr geschehen. Platons »periagoge«, »conversio«, teilt mit der Kantischen Konstruktion den Bruch mit der sinnlichen Naivität – wir können weder durch die Beobachtung der bewegten Figuren an der Höhlenwand noch durch das Hinaufschauen zu den Sternenbewegungen wirkliche Erkenntnisse gewinnen, und es entsteht (entgegen Aristoteles) keine Moral dadurch, daß man sich nach anthropologischen Mittelwerten richtet. Bei beiden entsteht mit der neuen Metaphysik aus dem Zwang, dem die Menschen durch die Abhängigkeit von der Sinnlichkeit erliegen, der Überschritt zur eigenständigen Erkenntnis mit dem Charakter der Notwendigkeit und dadurch auch der Allgemeinverbindlichkeit, vom bloßen versuchenden Meinen zur eigentlichen Erkenntnis. Kants zwei neue Welten: In der ersten tritt das Subjekt an die Stelle der Eindrücke, die es von außen bestimmen und nicht zu sich selbst kommen lassen, in der zweiten verliert es alles nur Subjektive in der sittlichen notwendigen und allgemeinen autonomen Gesetzlichkeit. Platon handelt vom einzelnen, einzigartigen Erkennenden, Kant von der Revolution im Erkennen, besonders aber im Willen eines jeden Menschen. Die Platonische und Kantische Revolution sind kein Paradigmenwechsel im Sinn von Thomas Kuhn, der mit der Inkompatibilität zweier aufeinander folgender Wissenschaftsformen rechnet. Platon und Kant operieren mit einer schroffen Dualität; auf das Herumraten der Höhleninsassen und die Versuche der Meinungsmacher folgt ein nicht projektierbarer, glücklicher Einfall und Umschwung, der die vorhergehenden Defizite erkennt und seinerseits keinem weiteren Paradigma weichen wird. Die Kuhnsche Theorie immer erneuter Revolutionen ist skeptisch oder relativistisch und entwirft damit den Zustand, den Platon und Kant je auf ihre Weise überwinden wollen.

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Kants tatsächliche allmähliche Reform, nicht plötzliche Revolution der Metaphysik Die Kopernikus-Metapher enthält die Vorstellung eines abrupten und irrationalen Bruchs mit bisherigen Vorstellungen und des Beginns auf der Grundlage einer gänzlich neuen Einsicht. Es wird unterstellt, daß es keinen akkumulativen Weg von dem vorherigen zum neuen Paradigma gibt. Die Anwendung der Idee der kopernikanischen Wende auf die Genese der kritischen Philosophie suggeriert entsprechend eine plötzlich Wende, mit der sich Kant von der stagnierenden, in lauter Aporien geratenen Metaphysik ab- und dem neuen Konzept zuwendet. So war es nahe liegend für die Kantforschung, den Wendepunkt historisch zu fixieren, möglichst zusammen mit der Notiz »Das Jahr 69 gab mir großes Licht.« (XVIII 69,21–22 – Refl. 5037), mit der von Kant bezeugten Hume-Erwekkung (IV 260,6–9) und mit der 1798 festgehaltenen Erweckungsfunktion der dritten Antinomie (XII 257,31–258,3). Erleuchtung und Erweckung, beide sind plötzlich und keine Sache von mehr als zehn Jahren; in Wahrheit sind beide tradierte Topoi, deren sich der Selbstbiograph bedient. In der Kant-Interpretation gibt es die Partei der abrupten Wende, zu der, wie schon gesagt, auch Kant in seinen Selbsterklärungen gehört. Auf der anderen Seite stehen die Vertreter der verschiedenen Schritte, mit denen die KrV und auch die KpV allmählich erarbeitet wurden; zu ihnen zählt z. B. Zammito: »[…] that only conceiving the emergence of critical philosophy as a sequence of difficult breakthroughs, rather than a single, transfiguring moment, can be adequate to the historical evidence«473. Die allmähliche Entstehung der kritischen Philosophie läßt sich mit relativ einfachen Mitteln gut dokumentieren.

Zur Entstehung der kritischen Philosophie In dem Gedankenmassiv der Zeit von den Träumen bis zur KrV lassen sich folgende bedeutungsvolle Etappen erkennen474: 1765–1766 nimmt Kant Abschied von der Wolffschen Metaphysik durch eine launige Schrift über die monströsen Gedanken, die kopernikus und newton, hypothese und gewissheit | 251

der Schlaf der Vernunft in seinen Träumen erzeugt.475 Wolff hatte z. B. in seiner Ontologia (1730) geschrieben, daß der Raum die Folge der Möglichkeit der Koexistenz von Substanzen ist (»spatium […] resultat ex possibilitate coexistendi«).476 Nun koexistieren zweifellos Seele und Körper, also sind beide im Raum, also ermöglicht die Wolffsche Metaphysik die Geisterseherei. Wie lässt sich das Raumproblem lösen, wenn Wolff derart ad absurdum geführt werden kann? Blendet man in die Skizze von 1765–1766 eine Erkenntnis aus der Retrospektive ein, ohne genau zu wissen, ob sie Kant schon vorschwebte, so ergibt sich ein Wechsel von der ridikülisierten Schulmetaphysik zum hellenistischen Konzept der Dreiheit von Logik, Physik und Ethik, für das sich Kant 1785 erklärt (IV 387,2– 7). Während für die Stoiker Physik und Ethik zwei Aspekte der einen »Substanz« sind, die Spinoza als Grundlage seiner Einheitsphilosophie wählt, teilt Kant die stoische Allnatur in zwei Teile mit unterschiedlichen Gesetzen: Die Welt der Physik mit Newtons Gravitationsgesetzen (II 335,17–23), und die Welt der Ethik mit den analog zu denkenden Freiheitsgesetzen (II 335–337).477 Während Spinoza der einen Substanz hier die Extensio, dort die Cogitatio attribuierte, verläuft die Grenze bei Kant zwischen Natur und Freiheit. Das Übersinnliche der KdU, also die alte einheitliche Allnatur, ist das gemeinsame Substrat nicht von Denken und ausgedehntem Sein wie bei Spinoza, sondern von Freiheit und Natur. Wie in der KrV und in der KpV und noch im Opus postumum (u. a. XXI 195) ist Kant schon in den Träumen der Meinung, daß die theoretische Erkenntnis (Physik) auf den mundus sensibilis beschränkt ist, die komplementäre Ethik dagegen den mundus intelligibilis erschließt.478 Physik und Ethik, Natur und Freiheit stehen sich als vollständige Alternative gegenüber. Kants Biograph Ludwig Ernst Borowski hielt bereits 1804 richtig fest, Metaphysik sei für Kant schon in den Träumen »eine Wissenschaft von den Grenzen der menschlichen Vernunft. […] Hier ward schon damals die Erwartung einer künftigen Welt an den moralischen Glauben angeknüpft. Überhaupt fand jeder aufmerksame Leser schon hier die Keime der Kritik der reinen Vernunft und dessen, was K. uns späterhin gab.«479 Genauer: Kant begrenzt 1765 das theoretische Wissen, um für die Moral Platz zu bekommen.480 Die Moral ihrerseits begründet sich selbst und ist die Grundlage für den Glauben und 252 | kapitel 

die Hoffnung (II 372,8 ff.). Der erste, negative Gedanke stammt von Locke, der positive von Spalding. Der erste besagt die Inkompetenz des theoretischen Erkennens auf dem Gebiet der metaphysica specialis (Gott, Freiheit, Unsterblichkeit); der zweite rettet diese Metaphysik durch die Umstellung: Das Freiheitsgesetz hat eine Gewißheit sui generis, und die Moral bedarf der objektiven praktischen Realität Gottes und der Unsterblichkeit (Freiheit, Gott, Unsterblichkeit). Die praktische Vernunft begründet sich also unabhängig sowohl vom Wissen (nach Lockes Grenzbestimmung) wie vom Glauben (nach Spaldings Umstellung) im Freiheitsgesetz. Das Wissen der Natur kann in seinen Quellen, seinem Umfang und seiner Grenze auf die metaphysica generalis oder Ontologie, jetzt: Analytik des Verstandes, beschränkt werden (KrV). Dies Programm ist in einer Vorskizze in den Träumen enthalten und wird bis hin zum Opus postumum auszuführen versucht. Fälschlich werden die Träume fast durchgängig für eine nur skeptische Schrift gehalten.481 Aber Kant zweifelt 1765 so wenig wie 1781 an der Naturerkenntnis Newtons und der Erkennbarkeit der Bestimmung des Menschen. Der Zweifel bezieht sich, wie der Titel sagt, auf die Schau von Geistern und die dogmatische Metaphysik, 1765 wie 1781. 1768: In einer vollständigen begrifflichen Bestimmung der internen Relationen bestimmter Körper wie z. B. einer Hand wird der Unterschied von rechter und linker Hand nicht erfaßt. Dieser Unterschied ist jedoch, so lautet die These der kurzen Schrift von 1768, Über den Unterschied der Gegenden im Raum, dieser Unterschied ist ein Faktum des Raumes, das wir zur Kenntnis nehmen müssen, aber nicht, wie Leibniz in seiner Analysis situs möchte, begrifflich zu fassen vermögen. Wir können den linken Handschuh nicht auf die rechte Hand ziehen, damit aber versteht der (besonders Leibnizsche) Verstand an dieser Stelle die Welt nicht mehr, denn begrifflich läßt sich zwischen den beiden inkongruenten Gegenstücken kein Unterschied ausmachen. Es gibt, so die allgemeinere These, ein begriffliches Defizit im Hinblick auf wesentliche Merkmale der Körperwelt. Damit ist nach Kant der Anspruch der rationalistischen Philosophie gebrochen, die Welt insgesamt begrifflich erfassen zu können 1769–1770: »Das Jahr 69 gab mir großes Licht.« (XVIII 69,21– 22 – Refl. 5037) Die nicht näher gekennzeichnete Erleuchtung muß kopernikus und newton, hypothese und gewissheit | 253

bezogen sein auf die Raumschrift von 1768 und ihre ungelösten »Schwierigkeiten« (II 383,27) und die Dissertation, die mit der Einhilfe John Lockes, des Protokritikers482, die menschliche Erkenntnis aus zwei unterschiedlichen Stämmen, der Anschauung und dem Denken, begründet und aus der subjektiven Dualität einerseits einen mundus sensibilis, andererseits einen mundus intelligibilis herleitet. Jetzt wird das Begriffsdefizit der Rationalisten von 1768 ausgeglichen durch eine originäre Anschauung, die uns die wesentlichen Raum- und Zeitqualitäten unmittelbar vor Augen führt.483 Die von uns einverleibten Formen der Sinnlichkeit stehen jetzt gleichberechtigt neben den Formen des Denkens. Die Zweiheit der Seelenvermögen zerstört den Monismus der Wolffschen Psychologie, der die Immaterialität und die Unsterblichkeit der Seele gewährleisten sollte: »Wir treffen in der Seele weiter nichts an als eine Kraft, sich die Welt vorzustellen […], und diese ist dasjenige, was in ihr fortdauret und sie zu einem für sich bestehenden Wesen machet […]. Alle Veränderungen demnach, die man an ihr wahrnimmet, sind nichts denn verschiedene Einschränkungen derselben Kraft wodurch sie determiniret wird.«484 In der Nachfolge dieser Seelenzerspaltung wird Kant einerseits die theoretische Unerkennbarkeit der Seelensubstanz nachzuweisen suchen (in den Paralogismen der KrV), andererseits die Frage der Hoffnung auf Unsterblichkeit in die Moralphilosophie ziehen. Das Wolffsche Konzept diente der ersten Phase der Aufklärung als Paradigma: Die Auflärung drang mit ihren Strahlen kontinuierlich in die dunklen und verworrenen Vorstellungen der niederen Sinnlichkeit und hob sie dadurch auf; Kant löst dieses Aufklärungskontinuum 1770 endgültig ab, gibt den Formen der Sinnlichkeit den gleich hohen Erkenntniswert wie den Begriffen und sucht anstelle einer progredierenden Rationalität der Welt eine zunehmende Moralität des Menschen selbst. 1770–1780: Von diesem Jahrzehnt schreibt Kant 1796, er hätte das System, das er allerdings in seinem Kopf trug, allererst in diesem Zeitraum zu Stande bringen können (XII 361,9–11). In der Dissertation meint Kant noch, er könne eine rein begriffliche Erkenntnis der unsinnlichen Wirklichkeit gewinnen; 1781 unterwirft er eben diese vermeintliche Erkenntnis der Kritik, eben der Kritik der reinen Vernunft. 1770 also gibt es eine Korrespondenz von einerseits Sinnlichkeit und Verstand in uns und andererseits der 254 | kapitel 

realen Erscheinungswelt und intelligiblen Welt. Im ersteren Fall ist dies dadurch gewährleistet, daß die zweifache »forma mundi sensibilis« in uns liegt; im zweiten Fall verfügen wir wunderbarerweise über die rationalen »principia«, gemäß denen die Dinge an sich existieren. Wir wissen: Dieser letztere Bezug wird 1781 als bloßer Schein entlarvt und also gestrichen. Die Dinge an sich müssen wir zwar notwendig denken, wir können sie jedoch mangels Anschauung nicht erkennen. Von einer Kritik der reinen Vernunft im Sinn der Vernunftkritik von 1781 kann bis in die Mitte der siebziger Jahre keine Rede sein. Wenn Kant 1798 an Garve schreibt, die Antinomie im Weltbegriff habe ihn zuerst aus dem Dogmatismus aufgeweckt und zur Kritik der Vernunft getrieben (XII 257,31–258,2), dann ist diese Antwort durch zwei Schwierigkeiten belastet; einmal ist die Antinomie auch 1788 die systematisch notwendige Veranlassung der KpV (V 7,35–8,3; 107,25–108,2), also liegt es nahe, daß Kant eine systematische Notwendigkeit über die biographischen Fakten blendet; zum anderen setzt die Vorstellung einer Antinomie im Weltbegriff die Konzeption des Werks der KrV voraus; der Gegensatz von sinnlichem und intellektuellem Weltbegriff in der ersten Sektion der Disseration ist gewiß keine Antinomie im Weltbegriff.485 1773–1775: Die pragmatische-praktische Wende. Der höchste Zweck – keimhaft deutet sich diese Ausrichtung des theoretischen Unternehmens schon 1771 in einem Brief an Marcus Herz an: »Sie wissen welchen großen Einflus die gewisse und deutliche Einsicht in den Unterschied dessen was auf subiectivischen principien der menschlichen Seelenkräfte nicht allein der Sinnlichkeit sondern auch des Verstandes beruht von dem was gerade auf die Gegenstände geht in der gantzen Weltweisheit ja sogar auf die wichtigsten Zwecke der Menschen überhaupt habe.« (X 122,30–35) In diesen »wichtigsten Zwecken« liegt schon der Primat des praktischen Vernunftinteresses. Vielleicht korrespondiert diesem Wandel in den siebziger Jahren die neue Konzeption der Geschichtsphilosophie als Bestimmung des Menschengeschlechts und die Änderung der Anthropologie aus der empirischen Psychologie von Baumgarten, als die sie entstand, zur pragmatischen Anthropologie mit einer praktischen Ausrichtung. Das Vernunftinteresse an den höchsten Fragen als dem dirigierenden Zentrum der KrV setzt sich erst in der zweikopernikus und newton, hypothese und gewissheit | 255

ten Hälfte der siebziger Jahre durch. Es gibt also eine Vielzahl von einzelnen Schritten, die Kant von der Wolffschen Metaphysik zur eigenen Kritik von 1781 führten; die Rede von der plötzlichen Revolution ist eine Selbstlegende.

Zur Entstehung der kritischen praktischen Philosophie Zur Entstehung der zweiten (und dritten) Kritik hat sich Kant nicht programmatisch geäußert, und so kann sie nur ohne Autormeinungen aus den überlieferten Schriften und Dokumenten erschlossen werden. Beim Nachweis einer allmählichen Entstehung der Position, die Kant in der KpV vertritt und die unten besprochen werden soll, können wir uns sehr kurz fassen. Vom Beginn der sechziger Jahre experimentiert Kant mit den antiken und neueren Theorien der praktischen Philosophie, und die Interpretationen begleiten die Experimente wiederkehrend mit dem Ruf, alles Spätere sei schon in dieser Phase da.486 Wir drehen hier die Untersuchungsordnung um und gehen von der Analytik der KpV aus und fragen, welche essentiellen Lehrstücke in früheren Phasen eindeutig noch nicht vorhanden sind. Nach den Äußerungen im ersten Hauptstück der KpV ist der kategorische Imperativ ein aus keiner Theorie deduzierbares Faktum des Bewusstseins; dies nun steht im Widerspruch zum dritten Abschnitt der GMS, in dem der (zuvor in seiner einzig möglichen Form festgelegte) Imperativ auf der Grundlage der KrV und ihrer Zweiweltenlehre deduziert wird.487 Also: 1785 ist Kant noch nicht bei der eigentlichen kritischen Lehre angelangt. Freiheit und Moralgesetz sind koextensional wie das spiegelbildliche Gegenstück von Natur und Naturgesetz; in der KrV dagegen sind wir frei auch im Bereich pragmatischer Imperative. Folge ich dem Imperativ: »Stehe jetzt auf, wenn du dein langfristiges Glück verwirklichen willst«, dann beweise ich durch die Niederschlagung der Neigung, einfach sitzenzubleiben, meine Freiheit (u. a. A 802–803); folgen wir der langfristigen Überlegung statt dem sinnlichen Impuls der Bequemlichkeit, beweisen wir »eine Kausalität der Vernunft in Bestimmung des Willens« (A 803). Hypothetische Imperative sind »pragmatische Gesetze des freien Verhaltens« (A 800); sie werden 256 | kapitel 

noch in der GMS erörtert, in der KpV nicht mehr einbezogen und in der KdU ausdrücklich der Natur und theoretischen Philosophie zugewiesen (V 171,13–173,36). Der Ursprung dieser Freiheit ist das subjektive Selbstbewußtsein, die »bloße Apperzeption« (A 546), die es mir ermöglicht, »mit völliger Spontaneität« (A 548) eine eigene Ordnung meiner Handlung zu entwerfen und ihr zu folgen. Man sieht, daß Kant hier noch partiell an die Lehre der Anthropologie anknüpft, gemäß der das Selbstbewußtsein in uns die eigene Freiheit entdeckt (XXV 10,22–27). Klemme schreibt bündig und korrekt, Kant vertrete 1781 »eine hedonistische Konzeption menschlichen Wollens: Alle Imperative beruhen auf der Voraussetzung, daß ich mein Glück erreichen will. Ich bin klug, moralisch zu sein, weil die Moral ein Mittel ist, mein Glück zu erreichen.«488 Die Freiheitsproblematik wird jedoch in der KrV in der Kosmologie (schon mundus sensibilis, mundus intelligibilis) verhandelt, woraus die KpV die Konsequenz zieht: Die intelligible Welt ist für uns die Welt unter dem Freiheitsgesetz, und eine andere Freiheit gibt es nicht. Es ist eine Willensfreiheit, die mit der Spontaneität und Apprehension der Erkenntnisvermögen nichts zu tun hat.489 Im zweiten Hauptstück der KpV werden die Begriffe des Guten und Bösen aus dem Imperativ gewonnen; dies steht im Widerspruch zum Platonismus der Dissertation von 1770, gemäß dem die moralischen Urteile von apriorischen Ideen abhängen (II 395,28–396,17). Im dritten Hauptstück wird gezeigt, daß das Gesetz der reinen praktischen Vernunft das Gefühl der Achtung erzeugen kann. Nun experimentiert Kant zwar schon in den siebziger Jahren mit dem Achtungsgefühl als einer Bewegkraft beim moralischen Handeln,490 ihm fehlt jedoch der Begriff der reinen praktischen Vernunft oder des praktischen Gebrauchs der reinen Vernunft, um das Gefühl der Achtung aus dem Ensemble vieler psychologischer feiner oder unfeiner Neigungen und Affekte herauszuheben. Erst 1785 (IV 401,17– 40) bzw. 1788 wird die Lösung491 präsentiert: Das Faktum des Freiheitsgesetzes schlägt alle Neigungen nieder und erzeugt so die gefühlte Hochachtung vor einer Macht, die über alle Gefühle erhaben ist. Bevor die »kopernikanische Wende« als anfängliche Hypothese der Heliozentrik der reinen praktischen Vernunft und zweitens ihr Beweis durch Newton mutatis mutandis 1787–1788 vollzogen kopernikus und newton, hypothese und gewissheit | 257

wurde, gab es also viele Vorformen der Kantischen Ethik, die gar nicht oder nur partiell kritisch im Sinn der KpV sind. Mit diesen wenigen Strichen läßt sich zeigen, daß auch die zweite kritische Hauptschrift das Produkt vieler Reformen und Umkippungen ist. Erst die KpV und ihr apriori erzeugtes Gefühl machen ihrerseits den Weg frei, die ästhetische Geschmackslehre aus der Anthropologie in die kritische Philosophie hinüber zu retten.

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Was kann ich wissen? Was soll ich tun? Was darf ich hoffen?

Die KrV beginnt mit dem Satz: »Die menschliche Vernunft hat das besondere Schicksal in einer Gattung ihrer Erkenntnisse: daß sie durch Fragen belästigt wird, die sie nicht abweisen kann; denn sie sind ihr durch die Natur der Vernunft selbst aufgegeben, die sie aber auch nicht beantworten kann; denn sie übersteigen alles Vermögen der menschlichen Vernunft.« (A VII)492 Das Motiv wird in der »Vorrede« zur zweiten Auflage erneut in den Mittelpunkt gerückt: »[…] wie wenig haben wir Ursache, Vertrauen in unsere Vernunft zu setzen, wenn sie uns in einem der wichtigsten Stücke unserer Wißbegierde nicht bloß verläßt, sondern durch Vorspiegelungen hinhält und am Ende betrügt!« (B XV) Wir sahen gleich zu Beginn, daß die Fragen, durch die die menschliche Vernunft nach Kant belästigt wird, sich nur auf die drei Themen der Transzendentalen Dialektik (Seele, Welt, Gott) beziehen können und in dem Satz aufgenommen werden: »Alles Interesse meiner Vernunft (das spekulative sowohl, als das praktische) vereinigt sich in folgenden drei Fragen: 1. Was kann ich wissen? / 2. Was soll ich tun? / 3. Was darf ich hoffen?« (A 804–805) Diese Fragen beziehen sich auf den Endzweck des Menschen, seine ganze Bestimmung, dasjenige, »was jedermann notwendig interessiert« (A 840–841). Es soll zuerst auf die zentrale Stellung des Interessenbegriffs eingegangen werden, danach auf die drei Fragen, auf ihre Themen und auf ihre Herkunft.

Vernunftinteresse und cura, concernment »Alles Interesse meiner Vernunft« – was heißt »Interesse«? Der Begriff steht undefiniert an einer ganz zentralen Stelle; wir können hier keine Definition nachliefern, sondern das Gemeinte nur ungefähr zu umgrenzen suchen. Statt vom Interesse kann auch vom was kann ich wissen? | 259

Bedürfnis der Vernunft gesprochen werden: »Denn die menschliche Vernunft geht unaufhaltsam, ohne daß bloße Eitelkeit des Vielwissens sie dazu bewegt, durch eigenes Bedürfnis getrieben bis zu solchen Fragen fort, die durch keinen Erfahrungsgebrauch der Vernunft und daher entlehnte Prinzipien beantwortet werden können […].« (B 21)493 Kant spricht den Tieren und Gott das Vernunftinteresse ab, den ersteren, weil ihnen die Vernunft fehlt (u. a. V 79), und bei einem »göttlichen Willen kann man sich kein Interesse denken« (IV 413,30–31; V 79,34–35). Der Mensch ist ein Mittelwesen, wie ihn Platon im Symposion kennzeichnet; der Eros der Erkenntnis erwächst zwischen gänzlicher Unkenntnis und völligem Reichtum, die Menschen sind weder Tiere noch vollendete Weise, sondern erkenntnisbedürftige Philo-Sophen.494 Kant hat um 1777 in der Aristotelischen Metaphysik geblättert (XV 923,8–924,2 – Refl. 1525) und ist dabei oder schon früher auf den Anfangssatz gestoßen: »Alle Menschen streben von Natur aus nach Wissen«. In der praxisbestimmten kritischen Philosophie ist der Mensch dagegen nicht wesentlich an theoretischer Erkenntnis interessiert, daher mußte der Eröffnungssatz der KrV anders ausfallen. Man kann dagegen mit großer Sicherheit davon ausgehen, daß Kant dem Beginn des Lockeschen Essay folgt. Dort stand im »Brief an den Leser«: »[…] having in all Ages exercised the learned part of the World, with Questions and Difficulties, that have not a little perplex’d Morality and Divinity, those parts of Knowledge, that Men are most concern’d to be clear.«495 Alles Vernunftinteresse ist hier auf die Erkenntnis Gottes und die Einsicht in die eigenen Pflichten gerichtet. Auf diesen Text bezieht sich Kant. Später folgt: »[…] it yet secures their [sc. der Menschen] great Concernments, that they have Light enough to lead them to the Knowledge of their Maker, and the sight of their own Duties.«496 Hier schießen die beiden Komponenten zusammen, die bei Kant wiederkehren: Moral und Religion und das »concernment«, das Besorgtsein und Bedürfnis oder Interesse des Menschen um beides. Diese existentielle Sorge entstammt der stoischen Philosophie und ist im Konzept der oikeiosis enthalten. Ein wichtiger Referenztext der Sorgestruktur des menschlichen Daseins ist Senecas Brief 121 der Epistulae morales ad Lucilium. Dem Menschen ist demnach 260 | kapitel 

ein Selbstgefühl, »constitutionis suae sensus«497 eigen, nicht in expliziter propositionaler Erkenntnis, sondern als unmittelbares Bewußtsein, er verfügt bei allem Lebenswechsel über Selbstidentität, »ego tamen idem sum.«498 Die Selbstsorge begleitet seine Existenz: »Zuerst wird das Lebewesen mit sich selbst versöhnt (sibi ipsum conciliatur animal); es muß nämlich etwas dasein, worauf die anderen Dinge bezogen werden. Ich erstrebe Lust, aber für wen? Ich trage also Sorge um mich selbst (ergo mei curam ago). Wenn ich alles um meiner selbst willen tue, dann steht die Selbstsorge allem voran (ante omnia est cura mei).«499 In diesem vorgängigen Selbstsinn und der Selbstsorge sind die einzelnen Lebensakte fundiert. Das Lockesche »concernment« und Kants »Interesse« sind Formen der Selbstsorge und des Selbstinteresses, während in der Platonischen Liebe zur Idee und dem Aristotelischen Streben nach Wissen diese selbstreflexive Struktur fehlt. Bei den Stoikern, bei Locke und Kant geht es jeweils um uns selbst, um die eigene Bestimmung, nach der wir unsere Praxis ausrichten.500 Wenn die vorsorgliche Natur uns mit der Sorge um oder dem Interesse an Moral und Religion ausgestattet hat, dann hat sie diesem wesentlichen Interesse sicher auch Rechnung getragen. Wir haben gewissermaßen ein Recht darauf, hier Klarheit zu gewinnen. Nur ein genius malignus könnte uns an dieser existenziell wichtigsten Stelle das Interesse oder die Sorge eingeben und uns dann ohne Antwort lassen; Gott oder die Natur dagegen haben beides aufeinander zukomponiert, das subjektive Interesse und die Antwort in der Natur der Dinge, die wir aufklären können. So wie in der lebendigen Natur die Tiere kein natürliches Bedürfnis haben, das sie nicht befriedigen können, so gibt es im Intelligiblen unter der Obhut der Vorsehung kein Interesse und kein Bedürfnis ohne die organische Befriedigung und Möglichkeit der Erfüllung. Daß diese zu finden ist, unterliegt keinem Zweifel; es bedarf jedoch einer mühevollen Untersuchung, warum die Metaphysik die Antwort auf diese einfachen Fragen bisher verstellte und wie sie gefunden werden kann.

was kann ich wissen? | 261

Die Themen der drei Fragen In einer anonymen Schrift von 1796, Originalideen über die empyrische Anthropologie nach Kantischen Grundsätzen, wird präzise angegeben: »§ 32. Der Zweck der Philosophie ist demnach eine gründliche und also auch für wissenschaftliche Denker befriedigende Belohnung über alles dasjenige, wozu der Mensch durch seyn vernünftiges Daseyn bestimmt ist. § 33. Diese Belohnung muß eine befriedigende Antwort auf die drei Fragen enthalten: was kann ich wissen? was soll ich thun? was darf ich hoffen? § 34. Alles was die Menschheit überhaupt vernünftigerweise interessiert, steht in Beziehung auf die vorigen drei Fragen. § 35. Die menschliche Vernunft sucht eine befriedigende Antwort auf dieselben in den Ideen der Gottheit, des Weltganzen, der Seele, ihrer Freiheit und Unsterblichkeit.«501 Der Autor hat gesehen, daß die drei Fragen identisch sind mit dem Problem, »wozu der Mensch durch seyn vernünftiges Daseyn bestimmt ist«, und daß sie auf die drei Themen der Dialektik (Gottheit, Weltganzes, Seele) zu beziehen sind. Nur am Schluß der zitierten Passage kommt es zu einem zwar verständlichen, aber doch gravierenden Fehler, denn die Freiheit gehört beim kritischen Kant nicht zum Seelen-, sondern zum Weltbegriff. Sonst ist hier jedoch schon vorzüglich herausgehoben, was Kant als selbstverständlich annahm und eben deswegen nicht so unmißverständlich sagte, daß die Interpretationsgeschichte nicht von den größten Turbulenzen heimgesucht wurde. Georg Christoph Lichtenberg: »Was bin ich? Was soll ich thun? Was kann ich glauben und hoffen? Hierauf reducirt sich alles in der Philosophie.«502 Lichtenberg variiert die drei Weisungen von Liebe, Glaube, und Hoffnung; er stellt jedoch an den Anfang eine Frage aus einer anderen Tradition, die bei David Hume greifbar wird: »Where am I, or what? From what causes do I derive my existence […]?«503 Oder bei Fénélon in der Démonstration de l’Existence de Dieu : » O Raison, où me jettez-vous? Où suis-je? que suis-je!»504 Dann folgen die Liebe in der Form des »quid agas», Glaube und Hoffnung sind zusammen genommen. Mit dem »Hierauf reduziert sich alles in der Philosophie« stimmt Kants Aussage über seine drei Fragen überein: »Alles Interesse meiner Vernunft […].« 262 | kapitel 

Es ist zunächst irritierend, daß Kant die drei Fragen in dem nachfolgenden Text anders kommentiert als hier und z. B. bei dem Anonymus und bei Lichtenberg angenommen wird. Darauf ist später zurückzukommen, wir tragen zunächst weitere Gründe vor, die für die Richtigkeit unserer Annahme sprechen, und gehen dann auf die mit dieser Interpretation übereinstimmende Herkunft der drei Fragen ein. A 463 steht: »[…] indem sie die Grundlage zu unseren größesten Erwartungen und Aussichten auf die letzten Zwecke, in welchen alle Vernunftbemühungen sich endlich vereinigen müssen, verheißt.« Darauf folgt A 464 die »Bestimmung des Menschen« oder auch die »ganze Bestimmung des Menschen«.505 »Wenn ich höre, daß ein nicht gemeiner Kopf die Freiheit des menschlichen Willens [1. Kosmologie], die Hoffnung eines künftigen Lebens [2. Rationale Psychologie], und das Dasein Gottes [3. Theologie] wegdemonstriert haben sollte, so bin ich begierig, das Buch zu lesen, […].« (A 753) Man beachte weiter die Ausführung in der »Vorrede« der 2. Auflage der KrV. Hat, so wird gefragt, die kritische Zerstörung der alten Metaphysik zu einem Verlust geführt? Der Verlust treffe nur das Monopol der Schulen, »keineswegs aber das Interesse der Menschen [wir notieren: »Alles Interesse meiner Vernunft«]. Ich frage den unbiegsamsten Dogmatiker, ob der Beweis von der Fortdauer unserer Seele nach dem Tode aus der Einfachheit der Substanz [1. Rationale Psychologie], ob der von der Freiheit des Willens gegen den allgemeinen Mechanismus durch die subtilen, obzwar ohnmächtigen Unterscheidungen subjektiver und objektiver praktischer Notwendigkeit [2. Kosmologie], oder ob der vom Dasein Gottes aus dem Begriffe eines allerrealsten Wesens [3. Theologie] […], nachdem sie von den Schulen ausgingen, jemals haben bis zum Publikum gelangen und auf dessen Überzeugung den mindesten Einfluß haben können? […]; hat vielmehr, was das erstere [1. Rationale Psychologie] betrifft, die jedem Menschen bemerkliche Anlage seiner Natur, durch das Zeitliche (als zu den Anlagen seiner ganzen Bestimmung unzulänglich) nie zufrieden gestellt werden zu können, die Hoffnung eines künftigen Lebens, in Ansehung des zweiten [2. Kosmologie] die bloße klare Darstellung der Pflichten im Gegensatze aller Ansprüche der Neigungen das Bewußtsein der Freiheit, und endlich, was das dritte [3. Theologie] anlangt, die herrliche Ordnung, was kann ich wissen? | 263

Schönheit und Fürsorge, die allerwärts in der Natur hervorblickt, allein den Glauben an einen weisen und großen Welturheber, die sich aufs Publikum verbreitende Überzeugung, sofern sie auf Vernunftgründen beruht, ganz allein bewirken müssen: […].« (B XXXII–XXXIII) Hier also werden die drei Gebiete alles meines Vernunftinteresses benannt; es ist die Hoffnung eines künftigen Lebens, das Bewußtsein der Freiheit und der Glaube an einen weisen und großen Welturheber. – Es mag auf den ersten Blick verwundern, daß der Frage »Was soll ich tun?« der Begriff der Freiheit und der Weltbegriff zugeordnet sind. Aber diese Beziehung ist für Kant ganz klar: Die Freiheitsproblematik ist mit der Frage der Gesetzlichkeit (als Erkenntnisgrund der Freiheit) und damit der Welt verbunden; Natur- und Freiheitsgesetze sind Gesetze hier der phänomenalen, dort der noumenalen Welt. Die Freiheitsproblematik wird konsequent in der KrV unter dem Titel der rationalen Kosmologie abgehandelt, nicht der Psychologie. Das wird später ausführlicher zu erörtern sein. Im Kapitel »Von dem Interesse der Vernunft bei diesem ihrem Widerstreite«, dem dritten Abschnitt der »Antinomie der reinen Vernunft« heißt es, die Vernunft schreite von der Erfahrung zu den »erhabenen Ideen« fort und zeige darin eine Würde, »welche, wenn sie ihre Anmaßungen nur behaupten könnte, den Wert aller anderen menschlichen Wissenschaften weit unter sich lassen würde, indem sie die Grundlage zu unseren größesten Erwartungen und Aussichten auf die letzten Zwecke, in welchen alle Vernunftbemühungen sich endlich vereinigen müssen, verheißt. Die Fragen: ob die Welt einen Anfang und irgendeine Grenze ihrer Ausdehnung im Raum habe [1. Kosmologie], ob es irgendwo und vielleicht in meinem denkenden Selbst [2. Rationale Psychologie] eine unteilbare und unzerstörliche Einheit, oder nichts als das Teilbare und Vergängliche gebe, ob ich in meinen Handlungen frei, oder, wie andere Wesen, an dem Faden der Natur und des Schicksals geleitet sei [1. Kosmologie], ob es endlich eine oberste Weltursache gebe, oder die Naturdinge und deren Ordnung den letzten Gegenstand ausmachen, bei dem wir in allen unseren Betrachtungen stehenbleiben müssen [3. Theologie]: das sind Fragen, um deren Auflösung der Mathematiker gerne seine ganze Wissenschaft dahingäbe; denn diese kann ihm doch in Ansehung der höchsten und angelegentsten 264 | kapitel 

Zwecke der Menschheit keine Befriedigung verschaffen.« (A 463– 464)506 Es werden also auch hier die Psychologie, die Kosmologie und die Theologie angesprochen, das Schicksal also meiner Seele [»Was darf ich hoffen?«], die Freiheit oder Determiniertheit meines Handelns [»Was soll ich tun?«] und die Frage der Weltursache [»Was kann ich wissen?«]. Dies ist die Grundstruktur des Textes, der den zentralen Punkt der drei Vernunftinteressen ganz auf die Antinomienlehre zurückbezieht. Unter dem Gesichtspunkt des praktischen Interesses werden die Gegenstände in demselben Kapitel noch einmal genannt: »Daß die Welt einen Anfang habe, daß mein denkendes Selbst einfacher und unverweslicher Natur, daß dieses zugleich in seinen willkürlichen Handlungen frei und über den Naturzwang erhoben sei, und daß endlich die ganze Ordnung der Dinge, welche die Welt ausmachen, von einem Urwesen abstamme, […], das sind so viel Grundsteine der Moral und Religion.« (A 466) Nach der Erwähnung der mathematischen Antinomie finden wir die Sequenz Seele, Welt (mit der Möglichkeit der Freiheit trotz Naturzwang) und Gott, wieder in derselben Reihenfolge. »Die Metaphysik hat zum eigentlichen Zwecke ihrer Nachforschung nur drei Ideen: Gott, Freiheit, und Unsterblichkeit, […] Theologie, Moral, und durch beider Verbindung, Religion, mithin die höchsten Zwecke unseres Daseins […]«, lautet eine Zufügung der 2. Auflage der KrV (B 395). »Die Endabsicht, worauf die Spekulation der Vernunft […] zuletzt hinausläuft, betrifft drei Gegenstände: die Freiheit des Willens, die Unsterblichkeit der Seele, und das Dasein Gottes.« (A 798) Diese denknotwendigen Gegenstände der reinen Vernunft hätten »gar keinen immanenten, d. i. für Gegenstände der Erfahrung zulässigen, mithin für uns auf einige Art nützlichen Gebrauch« (A 799)507, sondern zielten einzig auf das Moralische: »Die ganze Zurüstung also der Vernunft […] ist in der Tat nur auf die drei gedachten Probleme gerichtet. Diese selber haben wiederum ihre entferntere Absicht, nämlich, was zu tun sei, wenn der Wille frei, wenn ein Gott und eine künftige Welt ist. Da dieses nun unser Verhalten in Beziehung auf den höchsten Zweck betrifft, so ist die letzte Absicht der weislich uns versorgenden Natur, bei der Einrichtung unserer Vernunft, eigentlich nur aufs Moralische gestellt.« (A 800–801) Die gesamte »Geschichte der reinen Vernunft« (A 852) wird unter die drei Themen von Gott, Unsterblichkeit und Moral was kann ich wissen? | 265

oder guter Lebenswandel (A 853) gestellt. Durch die Dichotomie von Ding an sich und Erscheinung und die Besetzung des Ding-ansich-Feldes durch die Moral wird die mittlere Frage: »Was soll ich tun?« zur insgesamt dominierenden. Hiermit stimmt auch überein, daß die Hoffnung aus der christlichen Bindung gelöst und gänzlich in den Dienst der Moral gestellt wird. Die christliche Tugend der Hoffnung bezog sich auf die Erlösung; wir können durch den Tod unseres Erlösers hoffen, nicht in Ewigkeit auf Grund der Erbsünde verdammt zu sein. Der Erlösungsgedanke spielt in der Kantischen aufgeklärten Religion so wenig eine Rolle wie die Hölle und deren Strafen. Die Hoffnung bezieht sich vielmehr entweder auf den moralischen Progreß über den irdischen Tod hinaus oder auf eine unserer Tugend angemessene Glückseligkeit. Dieselbe These wie 1781 finden wir in einer späteren Reflexionen: »Es sind drey Ubersinnliche Gegenstände, mit denen die Menschliche Vernunft unablaßig und zu aller Zeit beschaftigt gewesen ist und bleiben wird: Gott, Unsterblichkeit und Freyheit.« Und dann die Position, die 1788 in der KpV ausgearbeitet wird: »Von der letzteren allein haben wir eine unmittelbare Uberzeugung ihrer Wirklichkeit, ohne sie doch einsehen zu können. Es ist natürlich, davon auszugehen, um unser mögliches Erkentniß der Ubrigen danach zu beurtheilen.« (XVIII 629 – Refl. 6317, um 1790–1791) Also auch hier die Fokussierung der menschlichen Vernunft, unablässig und zu allen Zeiten. Kant interpretiert die erste der drei Fragen – »Was kann ich wissen?« – im Folgetext (A 805–806) weiter. Die erste Frage sei bloß theoretisch, die zweite bloß praktisch, die dritte verbinde beides. Auf die erste Frage habe die KrV eine Antwort gegeben. Gemäß den bisher referierten Passagen sollte es nur die Wissensfrage sein, die sich auf Gott bezog; die beiden nachfolgenden Punkte stimmen mit den schon vertrauten Gebieten der moralischen Freiheit und der Hoffnung auf Unsterblichkeit überein. Kant hat sicher nicht die drei Kritiken im Blick, denn 1781 ist die vorgelegte KrV die einzig mögliche; und es wird auch keine hermeneutische Anstrengung je die KdU zum Hoffnungslogos machen können, das passt weder zu deren Inhalt noch zu den Selbsterläuterungen noch zu der Tatsache, daß deren Programm nie mit der dritten Frage in Verbindung gebracht. Die KpV ist wie schon die GMS eine Schrift über die mora266 | kapitel 

lische Freiheit, und der dritten Frage ordnet Kant 1793 post festum die Religion innerhalb der Grenzen der bloßen Vernunft (XI 429) zu. Die Erweiterung der ersten Frage zum Bereich des Wissens überhaupt paßt zu Kants historischer Unbekümmertheit, Vorlagen umzufunktionieren. Man erinnere sich der drei Ulpianischen Formeln in der Rechtslehre und ihre nach Kant selbst eigenwillige Interpretation.508 Die Konstellation als solche bleibt erhalten, und sie bezieht sich in den übrigen Texten der KrV eindeutig auf die drei Themen der Dialektik.

Die historische Filiation der drei Fragen Die drei Fragen gehen mit Sicherheit auf die drei christlichen Kardinaltugenden des Glaubens, der Hoffnung und der Liebe zurück. – nyni de menei pistis, elpis, agape, ta tria tauta.509 Ruedi Imbach verfolgt die Transformation der drei christlichen Tugenden in die Themen der Metaphysik und des dreifachen Schriftsinnes, u. a. bei Bonaventura: »Neben dem wörtlichen Sinne des Textes postuliert Bonaventura deswegen mit einer ehrwürdigen theologischen Tradition drei weitere Sinnebenen des Bibeltextes. […] Der dreifache geistliche Sinn der Schrift […] steht in Beziehung zu den drei theologischen Tugenden von Glaube, Hoffnung und Liebe.«510 Es ist zu vermuten, daß sich der überwältigende Erfolg dieser Dreiheit und die Möglichkeit, sie auf die drei Themen der Metaphysik zu beziehen, einem spekulativen Hintergrund in der hellenistischen Philosophie verdankt. Aus dem Mittelalter ist folgende interpretatorische Regel überliefert: »Littera gesta docet; quid credas, allegoria; / Moralis, quid agas; quid speres, anagogia.«511 Das heißt: Der Literalsinn informiert uns über die Fakten, die res gestae; der allegorische Schriftsinn sagt, was du glauben sollst, der moralische, was du tun sollst, und der anagogische, was du hoffen sollst. Diese symbolischen Schriftsinne reflektieren die drei christlichen Tugenden. Bei Kant tritt an die Stelle des Glaubens das Wissen; das »quid agas« und »quid speres« der mittelalterlichen Lehre ist dagegen gänzlich erhalten. Eine vielleicht entscheidende Brücke zu Kant ist Johannes Amos Comenius’ Didactica Magna von 1633; man lese Kapitel XXII 21: was kann ich wissen? | 267

»Was immer aus der Schrift gelernt wird, das wird auf den Glauben, die Liebe und die Hoffnung bezogen (refertur). – Diese drei sind nämlich jene höchsten Werte (summae illae classes), auf die alles bezogen wird, was uns in seinen Worten zu offenbaren Gott gefallen hat. Bestimmtes nämlich offenbart er, damit wir es wissen (revelat, ut sciamus), Bestimmtes befiehlt es, damit wir es tun (mandat, ut faciamus), Bestimmtes verspricht er auch, damit wir es aus seiner Güte in diesem und im künftigen Leben erwarten. […]. 22. Glaube, Liebe, Hoffnung sollen für das Handeln unterrichtet werden (Fides, caritas, spes ad praxin doceantur). Zur Praxis fähige Christen, nicht zur Theorie sollen daher vom ersten Unterricht gebildet werden (Practicos enim formare christianos, non theoreticos jam inde a prima formatione opus est), wenn wir wahrhafte Christen haben wollen. Die Religion ist eine lebendige, keine gemalte Sache (viva res est, non picta) […]. 23. Glaube, Liebe Hoffnung werden für das praktische Handeln richtig unterrichtet werden, wenn die Knaben (und alle) in Stärke lernen, was Gott offenbart, zu glauben, was er befiehlt, auszuführen, und was er verspricht, zu hoffen (quae Deus revelat, credere, quae mandat, exsequi, quae promittit, sperare).«512 Daß hier die drei Bereiche des Kantischen Vernunftinteresses vorformuliert sind, kann nicht gut bezweifelt werden. Es wird noch an der ersten Stelle von »fides« (dem »quid credas« des allegorischen Schriftsinns) gesprochen, aber der Glaube wird schon zunächst durch das »ut sciamus«, das Wissen also, ersetzt. Aus der christlichen Liebe war bereits in der Lehre vom Schriftsinn das »quid agas« der moralischen Sinnebene geworden, und Comenius sagt klar und entschieden, daß das Handeln, die Praxis, im Zentrum der Erziehung zu stehen hat; so wird hier die Wendung, die Liebe sei die größte unter ihnen, dem umformulierten System eingeordnet. Bei Spalding fanden wir denselben Vorrang der Praxis, und Kant realisiert eben diese Tendenz in seiner Lehre einmal vom Primat der praktischen Vernunft gegenüber der theoretisch-spekulativen, zum anderen in der Vorrangstellung des Freiheitsgesetzes, das seinerseits zu den Postulaten von Gott und Unsterblichkeit führt. Comenius steht in der christlichen Tradition, gemäß der Gott uns offenbart, was wir wissen können, befiehlt, was wir tun sollen, und verspricht, was wir erwarten dürfen. Bei Kant ist aus dem »du« und dem »wir« das »ich« geworden, und die treibende Kraft ist 268 | kapitel 

mein eigenes Vernunftinteresse; alles Interesse meiner Vernunft vereinige sich in den drei Fragen, eben den Fragen, von denen schon der erste Satz des gesamten Werks sprach. Die Fragen entspringen nicht einer beliebigen Neugier des Menschen, sondern betreffen unsere gesamte Existenz in ihrem Kern, sie stehen im Zentrum unserer Selbstsorge. Dem Menschen steht kein Gott und kein christlicher Erzieher und Prediger mehr gegenüber, sondern der Philosoph, der sich des Bedürfnisses der Vernunft annimmt und die Fragen zu beantworten sucht. Aus der kunstvollen Konstellation der drei Fragen wird im 19. Jahrhundert das pistolenhafte »Was tun?« von Tschernyschewskij (1863) und Lenin.513 Die Isolierung der einen Frage ist symptomatisch für die Phase nach der Aufklärung; in der das konstellative Denken in der zunehmenden Segmentierung von Kultur, Wissenschaft und seriell produzierender Technik stark reduziert wird. Das isolierende Verfahren ist auch als eine der hermeneutischen Barrikaden anzusehen, die verhindert haben, daß die Kantischen drei Fragen als Ganzes genommen und ihre Entstehung aus den drei christlichen Tugenden und ihre systematische Funktion für die Metaphysik untersucht wurden. Stattdessen konzentrierte sich die Aufmerksamkeit auf eine von Kant nicht publizierte Einzelfrage: »Was ist der Mensch?« Einfach so.

was kann ich wissen? | 269



Kritik der reinen Vernunft: Der Gerichtshof

»Rousseau hat mich zurecht gebracht. Dieser verblendende Vorzug verschwindet, ich lerne die Menschen ehren u. ich würde mich unnützer finden wie den gemeinen Arbeiter wenn ich nicht glaubete daß diese Betrachtung allen übrigen einen Werth ertheilen könnte, die rechte der Menschheit herzustellen.« (XX 44,12–16) Ende Mai, Anfang Juni 1781 wurde die KrV veröffentlicht. Für Kant war das Buch das zentrale Lebenswerk, auf das alles Vorhergehende hinauslief und das von allen Folgewerken nur noch näher ausgeführt und erweitert wurde. Die KrV ist in der Selbstauffassung des Autors auch die Weltenwende in der Vernunftbestimmung der Menschheit; auch hier läuft wie in Kants Biographie die Vorgeschichte auf das Werk zu und kann nach 1781 den gesicherten und damit eigentlich geschichtslosen Gang der Metaphysik als einer sich erweiternden Wissenschaft gehen. In der KrV werden die höchsten Interessen des Menschen, seine Bestimmung oder der Endzweck seines Daseins vorgestellt, und alle Einzelausführungen zur Raum- und Zeittheorie, zur Urteils- und Kategorientafel, der Deduktion der Verstandesbegriffe und der dialektischen Zermalmung der alten »metaphysica specialis« stehen im mittelbaren Dienst dieser höchsten Zielsetzung. Kant ruft im Prolog seines Werks die Weltgeschichte auf und lokalisiert sich in ihr. Nicht die Bibel ist in einem Zitat wie in Goethes Faust präsent, sondern Homer (vermittelt durch Ovids Metamorphosen), Hekuba, die Königin Trojas. Seit der Zerstörung Trojas das Elend einer in sich zerstrittenen Metaphysik! Dieses Elend währt bis in die Gegenwart hinein und wird erst jetzt durch die Selbstkritik und Selbstbestimmung der Vernunft in einem faustischen Unterfangen beendet. Francis Bacon hatte 1620 sein Novum Organum publiziert und schon in seinem beziehungsreichen Titel verkündet, daß er das »Organum« der logischen Schriften des Aristoteles überwinden und sich weltgeschichtlich neben das Novum Testamentum stellen wollte. Die KrV steht der kritik der reinen vernunft: der gerichtshof | 271

Schrift von Bacon, der er das Motto der 2. Auflage entnimmt, in ihrem maßlosen, aber bescheiden vorgetragenen Anspruch nicht nach. Der All-Anspruch der KrV wird 1781 erhoben, aber schon 1790 sieht Kant selbst die KrV nur als erstes Element in einer Konfiguration von drei bzw. sogar vier Kritiken; diese Relativierung beginnt mit den Prolegomena, sie führt zu einer Überarbeitung der KrV anlässlich der zweiten Auflage 1787 und findet 1790 ihren Abschluß in einem neuen Kritik- und Vernunftsystem, um endlich im Opus postumum in der Agonie nie zu lösender Probleme zu enden. 1781 dient der Erkenntnistheoretiker John Locke als Leit- und Gegenfigur; 1787 der Wissenschaftstheoretiker Francis Bacon mit seinem »De nobis ipsis silemus«. Die 2. Auflage der Kritik geht in eine neue Richtung und formuliert Kants eigenen Neukantianismus. Im Folgenden wird ein Problem der KrV besonders in ihrer ersten Auflage erörtert, ihre juridische Selbstdarstellung und die systemnotwendige Fassung der kritischen Erkenntnislehre als eines Rechtsproblems. Das erste kann man nicht leugnen, wenn man nur den Text überfliegt, das zweite dagegen ist bis heute nicht im ganzen Umfang dieser Selbstaussagen untersucht worden. Eine andere Frage ist es, ob Kant die Aufnahme der Rechtfertigung in das Problem des Erkenntnisurteils 1781 gelungen ist. Es soll zunächst einleitend die in unserem Titel enthaltene These skizziert werden; danach wird ausführlich dokumentiert, daß sich die KrV selbst als eine Rechtsabhandlung versteht; sie hält sich im Durchgang eng an den Aufriß von Privat- und öffentlichem Recht, dem auch die Rechtslehre von 1797 folgen wird. Drittens soll gezeigt werden, daß die Rechtskonstitution nach der Selbstauffassung der KrV systemisch notwendig ist. Damit bleibt jedoch die Möglichkeit erhalten, Teilprobleme der KrV unter Abstraktion ihrer systemischen Funktion im rechtlichen Totum des Werks für sich zu erörtern. Die systemische Notwendigkeit der juridischen Fassung wird hier auf das Vernunftinteresse der Menschen zurückgeführt; mitgewonnen wird die These, daß im Prinzip keine Erkenntnis monologisch möglich ist, sie bedarf eines Forums, an das sie ihren Geltungsanspruch auf Wahrheit richten kann; dieses Forum ist die Institution des Gerichtshofes der reinen Vernunft in der KrV.

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Erste Skizze der These

Die Vorstellung klingt befremdlich. Es wurde und wird gestritten, ob das eigentliche Zentrum der KrV die Erkenntnistheorie der Analytik ist oder die Metaphysikkritik der Dialektik; aber was haben Erkenntnis und Metaphysik mit Rechtsvorstellungen zu tun? Die KrV konfrontiert den Leser mit Problemen der transzendentalen Raum- und Zeittheorie, der Einbildungskraft und des Schematismus, des Kausalgesetzes und des Gottesbeweises, aber die kritische Philosophie als eine rechtsphilosophische Idee? Davon findet sich keine Spur in der bisherigen dominierenden Kantrezeption. Weder Fichte noch Schelling oder Hegel und Schopenhauer nehmen in ihren Stellungnahmen zur KrV auf deren juridischen Charakter Rücksicht; die nachfolgende Losung »Zurück zu Kant« hat keine rechtsphilosophischen Intentionen, und die Philosophie des Neukantianismus wird auf dem Auge der Rechtsphilosophie zunehmend blind, und entsprechend enthalten die Rückbezüge keine Erwähnung einer in der KrV oder in der kritischen Philosophie im Ganzen vielleicht enthaltenen Rechtsstruktur. Diese bis heute stark präsente Rezeption der Kantischen Philosophie evoziert von vornherein den schalen Beigeschmack, der mit Rechtsfragen seit Idealismus und Romantik verbunden ist. Die angelsächsische Kantreflexion steht in der Tradition von David Hume, für den eine rechtsphilosophische Fassung von Erkenntnisproblemen schlechtweg absurd wäre, denn bei ihm ist das Recht ein Erzeugnis unserer Eindrücke und Assoziationen unter gesellschaftlichen Bedingungen, es kann nicht umgekehrt für die Konstitution unserer Erkenntnis relevant sein. Man sucht in den neueren angelsächsischen Kant-Publikationen entsprechend vergeblich nach Schriften, in denen die von Kant selbst behauptete Rechtlichkeit seiner kritischen Philosophie beachtet würde. Paul Guyers einflussreiche Schrift Kant and the claims of knowledge (1987 u. ö.) trägt den richtigen normativen Ansatz im Titel, aber das Buch geht auf Kants eigene Theorie des Rechtsanspruches bestimmter Urteilsklassen nicht ein; »claim« kommt kritik der reinen vernunft: der gerichtshof | 273

entsprechend in den Ausführungen und im Sachindex nicht mehr vor. Und die Gegenfrage lautet: Ist dies falsch? In Holm Tetens’ systematischer Rekonstruktion der KrV1 z. B. fehlt der juridische Aspekt ebenfalls völlig, ohne daß hieraus Fehler (wohl aber Defizite) in der Argumentation auftreten. Bedarf es der Rechtsdimension, um den Skeptizismus zu widerlegen?2 Auch Platon und Descartes rekurrieren bei diesem Unterfangen nicht auf das Recht; und der Skeptiker, an den Kant denkt, wird sich nur geschlagen geben, wenn er mit stichhaltigen theoretischen Argumenten widerlegt wird; warum sollte er sich auf Rechtsargumente einlassen? Spielen Rechtsfragen in Kants Philosophie des Subjekts (Klemme 1996) eine Rolle? Kann man also nicht tatsächlich von der Rechtsebene als einem zeitbedingten Kolorit abstrahieren und zur philosophischen Sache kommen? In einigen wenigen Publikationen wird die bekannte Figur der juridischen Deduktion und des Gerichtshofes verfolgt,3 aber diese partiellen Analysen stellen sich nicht die Frage, ob und wie die KrV als rechtliches Werk im ganzen interpretiert werden kann und muß. Wenn Interpretationen das hermeneutische Ergebnis der Textgeschichte sind, dann sind wir schon verloren. Das Eigentliche der Kritik, so orientiert den Leser sein hermeneutisches Gefühl, liegt in anderen Bereichen des menschlichen Seins und Verstehens. Daß sogar die Ästhetik der KdU partiell ein Rechtstraktat sein soll, verstößt gegen den guten Geschmack und alle Vormeinungen über das Schöne und Erhabene, die sich seit Schiller und der Romantik gebildet haben. Nun lässt sich andererseits nicht gut bestreiten, daß die KrV sich selbst besonders in der 1. Auflage in immer neuen Formulierungen als juridisches Werk vorstellt; eine der bekannten Äußerungen lautet, die KrV sei der »oberste Gerichtshof aller Rechte und Ansprüche unserer Spekulation« (A 669). Die Rechtsvorstellungen in der KrV sollen im Folgenden detailliert dargestellt werden, und vielleicht gibt es dafür in einer neueren Entwicklung der Philosophie ein gewisses Interesse. Die Diskurstheorie verknüpfte Wahrheitsmit Norm- und Geltungsfragen, und in der von ihr unabhängigen analytischen Erkenntnislehre finden sich neuerdings Werke mit dem Titel von »Wahrheit und Rechtfertigung«. Auch die analytische 274 | kapitel 

Philosophie stößt hiermit auf das Problem der »justification«. Besonders bekannt geworden ist der Aufsatz von Edmund L. Gettier: »Is Justified True Belief Knowledge?«4 »Justified true belief«: Was lässt sich rechtfertigen, und was bedarf einer Rechtfertigung? Keine Tatsachen, keine Stimmungen, Träume und Reflexe, sondern bestimmte menschliche Urteile und urteilgeleitete äußere Handlungen. »Justified true belief« ist kein unmittelbares Gefühl und kein Begriff, sondern ein Urteil, »Ich weiß, vermute, meine, daß …« Das Erkenntnisurteil hat nicht nur einen anzunehmenden Referenzbereich, über den es etwas bejahend oder verneinend und wahr oder falsch aussagt, sondern auch öffentliche Adressaten, gegenüber denen es einen notwendigen Geltungsanspruch erhebt. Die zentrale Rolle des Urteils und der mit dem Urteil verbundenen Handlung lässt sich für unseren Zweck plausibel machen durch die Konfrontation mit dem Empirismus (Locke, Hume) und Rationalismus (Leibniz, Wolff ). Man verzeihe auch hier die Vereinfachung im Scherenschnitt. Die Empiristen untersuchen die faktische Genese der Vorstellungen, die sich in uns von der Welt, von uns selbst und vielleicht auch Gott bilden. Erkenntnis ist ein faktischer psychologischer Prozeß. Die Rationalisten leiten umgekehrt mit dem Satz vom Widerspruch Erkenntnisse analytisch aus höchsten Begriffen ab. Ihre vorgeblichen Erkenntnisse sind zwar notwendig, aber leer, weil sie aus den Begriffen selbst keinen selbständigen Referenzbereich gewinnen können; die der Empiristen sind blind, weil ihre inhaltlichen Vorstellungen selbst immer nur psychologische Fakten sind.5 Kant konzipiert ein Erkenntnisurteil, das sich auf einen begriffsexternen Inhalt bezieht und trotzdem mit dem Anspruch der Notwendigkeit auftritt. Die Notwendigkeit des Rationalisten ist selbstevident und bedarf deswegen keiner Rechtfertigung; die Psychologie des Empiristen behauptet nur Fakten, keine Notwendigkeit, und bedarf deswegen ebenfalls keiner Rechtfertigung.6 Kants dazwischen gestelltes inhaltsbezogenes notwendiges Urteil, das synthetische Urteil a priori, vollzieht eine Erwerbshandlung mit dem Rechtsanspruch der öffentlichen Geltung. Dieser Rechtsanspruch wird mit der Institution eines Gerichtshofes verbunden, wie genauer ausgeführt werden soll. kritik der reinen vernunft: der gerichtshof | 275

Die gesamte kritische Philosophie ist demnach eine UrteilsHandlungsphilosophie, und zwar nicht jedes beliebigen oder auch symptomatischen Urteils (das gehört in die Anthropologie oder physische Geographie), sondern der Behauptung der Notwendigkeit (gegen den Empirismus) nicht-analytischer (gegen den Rationalismus) Urteile des Verstandes, der Urteilskraft und der reinen praktischen Vernunft. In allen drei Kritiken wird die Frage verhandelt: »Wie sind synthetische Urteile a priori möglich?« Die Kritik ist das (näher zu erläuternde) Gerichtsverfahren, in dem nach bestimmten Regeln über die jeweilige öffentliche Geltungsprätention nicht von Bagatellsätzen des Alltags, auch nicht von logischen Regeln in Lehrbüchern, sondern von notwendigen synthetischen Erkenntnisurteilen befunden wird. Es ist längst herausgestellt worden, wie in der Herkunft von krinein und judicare eine rechtliche Dimension entweder dominiert oder auch mitschwingt.7 Die Vernunft muß in der KrV den Prozeß nach selbstgegebenen Regeln selbst führen und in einem Gerichtsurteil zu Ende bringen. Die Vorgaben, die sie zur Durchführung benötigt, sind einmal die Sinnlichkeit mit ihren uns gegebenen, also nicht herleitbaren beiden Formen der Anschauung, Raum und Zeit; durch die Erkenntnis des Status von Raum und Zeit als bloß subjektiver Formen der Anschauung wird die Differenz von Ding an sich und Erscheinung gewonnen. Und zweitens ist die allgemeine Logik (und das »Ich denke«) eine Vorgabe, die nicht zur Diskussion steht; man kann die allgemeine Logik unterschiedlich darstellen, jedoch als solche nicht ohne Selbstwiderspruch bezweifeln.8 Mit diesen Grundlagen in den Bereichen von Anschauung und Begriff lassen sich die systematisch notwendigen, jedoch irrtumsanfälligen Prätentionen entwickeln und rechtfertigen oder abweisen. Das »quid juris« der gelingenden Rechtfertigung oder Deduktion gehört zur Analytik, der Abweis von nicht haltbaren, in bestimmten Fällen notwendig konfligierenden Prätentionen gehört in die Dialektik. In der Analytik wird die Unterscheidung von Ding an sich und Erscheinung beachtet und der Erkenntnisanspruch nur auf Erscheinungen erhoben, in der Dialektik dagegen nicht, in ihr gibt es drei Fälle der Grenzüberschreitung, die die Vernunft selbst begeht und in der Kritik zu Tage bringt. Aber worin liegt die Notwendigkeit der Rechtsform? Es ist zu 276 | kapitel 

zeigen, daß die Selbstauffassung der KrV ihren Rechtscharakter erzwingt – darin liegt die eigentliche Aufgabe der Interpretation. Wenn dies nicht geleistet werden kann, dann muß die KrV auf ihre Rechtsform auch verzichten können, und diese wird zur bloßen Metapher. Sieht man sich die beiden Rechtszentren an, die transzendentale Deduktion der reinen Verstandesbegriffe und die Antithetik im Weltbegriff, dann spricht zunächst vieles für diese letzte Meinung – die gesamte KrV hätte, so scheint es, ohne alle juridische Inanspruchnahmen verfasst werden können. Denn was genau geht verloren, wenn man alle tatsächlichen Appellationen an Gerichte und quid-juris-Deduktionen etc. ersatzlos streicht? Auf den ersten Blick gar nichts. Die Deduktion selbst bildet einen Beweis ohne nennenswerten internen Rekurs auf Rechtsfragen,9 und die Antithetik ließe sich als Gegenstellung von Sätzen im Stil von Sextus Empiricus verfassen, wobei das Ergebnis nicht die Isosthenie und der Skeptizismus sein müssen, sondern die Auflösung der Gegensatzpaare durch die Einführung eines doppelten Bezugsfeldes, nämlich der Differenz von Ding an sich und Erscheinung.10 Das ist der harte Kern der Kantischen Argumentation, die ohne juridische Aspekte nachzuvollziehen ist! Gegen diese Vorstellung muß jedoch und kann nur die systeminterne Notwendigkeit des Rechtscharakters der KrV angeführt werden. Menschliche Erkenntnis, so lautet die These der KrV, gibt es nur unter der Bedingung ihrer institutionalisierten Rechtfertigung. Diesem entscheidenden Punkt werden wir uns am Schluß zuwenden müssen. Im Vorfeld lässt sich schon festhalten: In der Selbstdarstellung ist die KrV von 1781 eine subversive Schrift, die republikanische Ideen gegen die Machtsprüche von Thron und Altar stellt und dabei auf das allgemeine Menschenrecht pocht, dem sich alle menschlichen Institutionen verdanken. Aus reiner Menschenvernunft wird hier bewiesen, daß der freie Mensch das Recht hat, die ursprünglichen Interessen und Bedürfnisse der eigenen Vernunft öffentlich zu erörtern; wenn sich die KrV als öffentlichen Gerichtshof deklariert, vor dem die wesentlichen Fragen jedes Menschen erörtert und ohne die Machtsprüche der Machthaber entschieden werden, dann macht sich die KrV zu einem Manifest derselben Opposition, die nach 1789 in Frankreich versuchte, einen Staat nach Prinzipien der Vernunft einzurichten. kritik der reinen vernunft: der gerichtshof | 277

Bezogen auf die Antipoden Locke und Wolff bedeutet diese politisch-rechtliche Dimension der KrV: Lockes Empirismus führt zum Skeptizismus von David Hume und damit zur Anarchie des status naturalis. Dagegen stellt der Mensch – und sein Anwalt Kant – das Recht, in einem rechtlichen Gemeinwesen zu leben. Umgekehrt hat Wolffs Rationalismus eine leicht sichtbare Affinität zur Despotie. Die Logik mit dem Satz vom Widerspruch und der Urteils- und Schlußlogik gehören zu der Grundausstattung des menschlichen Verstandes, über die kein sinnvoller Streit möglich ist (wie analog im Recht nicht über das Mein und Dein des eigenen Körpers gestritten werden kann; dazu später Näheres). Der Streit entbrennt bei der Frage, was diese logische Grundausstattung leistet. Wolff (in der Kantischen Rezeption): Sie ist die notwendige und hinreichende Bedingung der gesamten menschlichen Erkenntnis des Möglichen und Wirklichen; Kant: Der Traum dieser aus der bloßen Logik herleitbaren Erkenntnis ist seit 1766 ausgeträumt (s. Träume eines Geistersehers). Wenn die Metaphysik à la Wolff durchführbar wäre, dann brauchte man niemandem den Geltungsanspruch der eigenen Erkenntnisbehauptung anzutragen, denn er würde automatisch durch die bloße Logik zum Einverständnis genötigt. Diese Metaphysik ist absolutistisch, weil sie jedermann mit dem Satz vom Widerspruch zur kritiklosen Einstimmung in ihre Erkenntnisbehauptungen zwingt. Erinnern wir uns, daß Hobbes den Absolutismus in der Gefährdung des je eigenen Körpers begründete, also beim inneren Mein und Dein stehen blieb; seine Erkenntnistheorie war strikt analytisch und sah den Satz vom Widerspruch als notwendiges und hinreichendes Kriterium aller theoretischen und praktischen Probleme an. Ein Irrtum in der Geometrie (einer analytischen Wissenschaft) und der Ungehorsam gegenüber den Befehlen des Leviathan sind gleichermaßen »absurd«11. Erst John Locke sprengte diese Fessel des analytischen Absolutismus und erweiterte das Rechtsproblem vom eigenen Körper hin zum äußeren Eigentum, logisch: vom analytischen Identitäts- zum synthetischen Erweiterungsurteil. Kant sieht in ihm konsequent nicht nur den ersten kritischen Philosophen, sondern auch den Autor, der sich zum Kernproblem der Erkenntnistheorie vortastete: Wie sind synthetische Urteile möglich? Schade, daß Locke dies selbst nicht merkte und zudem bei synthetischen empirischen Urteilen stehen blieb. 278 | kapitel 

Kant konzipiert gegen die Anarchie der Skeptiker und die Despotie der Rationalisten in der Nachfolge Lockes einen liberalen Rechtsstaat, in dem über nicht-triviale, kontroverse Erkenntnisansprüche öffentlich verhandelt und geurteilt wird. Dadurch, daß er die Rechtsstruktur aus einem Interesse der Menschenvernunft eines jeden ableitet (wie später gezeigt werden soll), sprengt er die elitäre Vorstellung einer Republik der Gelehrten und erweitert sie zur republikanischen Menschheitsgesellschaft überhaupt, der stoischen »societas generis humani«. Eine Konsequenz dieses Gedankens ist die Auffassung der KrV als eines Gegenentwurfs zu Platons Politeia; mutatis mutandis entwirft Kant einen republikanischen Erkenntnis-Welt-Staat, in dem die Gesetzgebung und Gerichtsbarkeit mit ihrer Streitschlichtung und Anerkennung von Besitzansprüchen einen Friedenszustand bewirkt, und zwar nicht als Staat der Sittlichkeit und der Erziehung, nicht als Regentschaft einer ethik- und seinskundigen Elite, sondern als freien Bürgerstaat. In ihm wird dem Vernunftinteresse eines jeden Rechnung getragen, und jeder kann öffentlich seine Meinung vortragen und für Einstimmung plädieren; die Geschworenen des Gerichtshofs, freie Bürger, sind aufgerufen, zu den Prätentionen auf der Grundlage der Vernunftverfassung Stellung zu beziehen und ihre Sentenz auszusprechen. Politisch frei ist nur, wer sich im Privatrecht durch äußeren Besitz (oder als Beamter) betätigt hat; deswegen geht die Deduktion des Erkenntniserwerbs dem Geschworenengericht der Dialektik voran. Hiermit ist der antiken Polis ihr neuzeitliches Pendant entgegengestellt.12 Die innere Affinität von liberalem Rechtsstaat und kritischer Philosophie der Philosophie tritt noch in folgender Konzeption zutage. Es wurde oben gezeigt, daß alles Vernunftinteresse des Menschen und damit die existentielle Frage seiner Bestimmung sich ursprünglich auf die drei Themen der transzendentalen Dialektik beziehen. Die KrV ist nun so konzipiert, daß sie die Übergriffe der theoretischen Vernunft auf die denknotwendigen Gegenstände der Seele selbst, der Welt im Ganzen und Gottes rekonstruiert und dann als nicht haltbare Prätentionen in einem teils bloßen Beweis-, teils Gerichtsverfahren abweist. Im Hinblick auf diese drei Themen des höchsten Gutes und Endzwecks des Menschen bleibt die gesamte spekulative oder theoretische KrV negativ; sie sichert die Denkbarkritik der reinen vernunft: der gerichtshof | 279

keit, auch die Besetzbarkeit dieser theoretischen Leerstellen durch andere Instanzen, aber sie selbst muß ihre Inkompetenz im Hinblick auf die positive Erkenntnis eingestehen, während die in der KrV destruierte Metaphysik hier genaueste Auskünfte gab. Der von Kant selbst immer wieder ins Spiel gebrachte politische Parallelismus besagt, daß der vorliberale Staat sich die Besetzung dieser Leerstellen anmaßt und selbst den Zweck des menschlichen Daseins bestimmt, d. h. aber, gegen das originäre Vernunftinteresse jedes freien Menschen verstößt. Das Gericht der Vernunft, vor das Kant Staat und Kirche mit ihren Ansprüchen zitiert, weist also dem Rechtsstaat seine Grenzen; die Ethik, die mit ihrer eigenen Gesetzgebung die drei Themen der metaphysica specialis durch ihre Postulate besetzt, ist Sache nicht des Staats, sondern des kosmopolitischen Menschen. Kants erste Kritik wurde zu dem Manifest der deutschen Aufklärung schlechthin. Um die Wucht, mit der die Schrift die gesamte nachfolgende Moderne beeinflusste, besser zu verstehen, sollte an einen Motivbereich erinnert werden, der in der wertvollen Detailforschung leicht vergessen wird. »Von der Freyheit« lautet der Titel eines unfertigen Kantischen Essays aus der Mitte der sechziger Jahre (XX 91–95). Es ist ein aufrührender Protest im Stil des »Sturm und Drang« gegen die Erniedrigung der Menschen, wenn sie in den Besitz anderer Menschen geraten. »Anstatt daß die Freyheit mich schiene über das Vieh zu erheben so setzet sie mich doch unter daßelbe denn ich kann besser gezwungen werden. Ein solcher ist gleichsam vor sich nichts als ein Hausgeräthe eines andern. Ich konnte eben so wohl den Stiefeln des Herrn eine Hochachtung bezeigen als seinem Laquey.« (XX 93,26–94,1) Das sind utrierte Werther-Töne, natürlich Rousseau im Hintergrund, aber auch das selbstbewußte Königsberg, das 1242 von Lübischen Kaufleuten gegründet und 1340 bzw. 1368 Mitglied der Hanse wurde, das nie unter dem fremden Glanz und eigenem Elend eines Fürstenhofes leiden mußte, das zur Zeit Kants zwar dem preußischen König mit Sitz in Berlin unterstand, aber über eine ungleich größere Wirtschaftsmacht und über eine bedeutendere Geschichte und Weltläufigkeit als die sandige Hauptstadt in Brandenburg verfügte. Kant sah sich als freier Bürger13 einer freien Stadt. Das Hauptthema und leitende Interesse seiner Philosophie ist die »Bestimmung des Menschen«, die dahingehend 280 | kapitel 

präzisiert wurde, daß der Mensch sowohl als Individuum wie auch in der Gattung insgesamt zur Freiheit, d. h. zur Selbstbestimmung bestimmt ist. Aus diesem Mittelpunkt der Freiheitsphilosophie erfolgte die Zerstörung der umständlichen Gelehrtenmetaphysik von Christian Wolff und Alexander Baumgarten, hier entstand die Idee einer Kritik, die Thron und Altar vor ihren Gerichtshof zitierte. Diese Philosophie, die nicht mehr bizarre Seins- und Wesensfragen hin- und herwenden wollte, konnte zwischen 1750 und 1780 vermutlich nur in Königsberg verfasst werden.14 Der handlungstheoretische und juridische Aspekt der kritischen Philosophie wurde schon in der frühesten Rezeption übersehen, die Probleme wurden substantialisiert und damit verdreht und verkehrt. Während Kant z. B. in der »Kritik der ästhetischen Urteilskraft« das Schönheits- und Erhabenheitsurteil der Menschen als öffentliche Handlungen zu rechtfertigen sucht, reden die Interpreten seit der ersten Veröffentlichung über das Schöne und Erhabene und töten damit den vitalen Kern der Kantischen Ästhetik, die Urteilshandlung und ihre Rechtfertigung. Wenn der Handlungsaspekt übersehen wird, kann auch die juridische Form keine Rolle spielen, denn dem Schönen und Erhabenen und dem Sein und dem Dasein ist das Recht völlig gleichgültig. Im symmetrischen Zentrum der »Kritik der teleologischen Urteilskraft« wird nicht von der Wahrheit oder Funktion des Zweck-Urteils gesprochen, sondern es wird seine Berechtigung deduziert; also auch hier haben wir es mit einer in der späteren Hermeneutik verdrängten Rechtsfrage zwischen öffentlich Urteilendem und Adressaten zu tun.

Die Rechtsverfassung der KrV Drei bzw. vier für die KrV relevante Rechtsbereiche Kant widmete die KrV »Sr. Exzellenz, dem Königl. Staatsminister Freiherrn von Zedlitz«; er unterzeichnete die Widmung am 29. März 1781. Am 26. April 1781 wurde das erste Buch des »Corpus Juris Fridericianum«, die Zivilprozessordnung, publiziert.15 Die KrV erschien ungefähr einen Monat später. Den Freiherrn von Zedlitz nennt Kant in der 1. Auflage einen »aufgeklärten, gültigen Richkritik der reinen vernunft: der gerichtshof | 281

ter[s]«, also einen kompetenten κριτής (Richter) der Kritik.16 Karl Abraham von Zedlitz und Leipe wurde am 18. November 1770 von Friedrich II. zum Wirklichen Geheimen Etats- und Justizminister ernannt.17 1779 wandte sich von Zedlitz im berühmten Müller-Arnold-Prozeß gegen den Eingriff des Königs in einen Zivilprozeß durch einen Machtspruch;18 wenn Kant sich gegen Machtsprüche in seinem kritischen Verfahren wendet (s. A XII) und das Werk dem Staatsminister von Zedlitz widmet, wird eine juridische Tendenz der KrV wenigstens angedeutet. Wilhelm Dilthey gab hellsichtig seiner Einleitung in die Abhandlung über das Allgemeine Landrecht den Titel »Der friderizianische Staat und die Objektivierung seines Geistes im Landrecht«.19 Im Allgemeinen Landrecht für die preußischen Staaten von 1794 lautet der § 22 der »Einleitung«: »Die Gesetze des Staats verbinden alle Mitglieder desselben, ohne Unterschied des Standes, Ranges und Geschlechts.«20 Damit war auch der König nicht mehr legibus absolutus, sondern den Gesetzen unterworfen, mit Kant: Seine Handlungen unterliegen der Kritik des Gerichtshofs: »Unser Zeitalter ist das Zeitalter der Kritik, der sich alles unterwerfen muß Religion, durch ihre Heiligkeit, und Gesetzgebung durch ihre Majestät, wollen sich gemeiniglich derselben entziehen. Aber alsdann erregen sie gerechten Verdacht wider sich und können auf unverstellte Achtung nicht Anspruch machen, die die Vernunft nur demjenigen bewilligt, was ihre freie und öffentliche Prüfung hat aushalten können.« (A XI) Getrennt von dem innerpreußischen Bemühen um eine neue Zivilprozessordnung und ein neues Allgemeines Landrecht für die preußischen Staaten wurde in der entscheidenden Phase vor der endgültigen Redaktion der KrV ein Werk publiziert, das sich auf eine spezielle Rechtsproblematik in ganz Deutschland bezog: Die Deductions-Bibliothek von Teutschland nebst dazu gehörigen Nachrichten (1778). Hiermit wird auf eine aktuelle Rechtsfigur aufmerksam gemacht, die in die Kantischen Überlegungen Eingang fanden.21 Während die Frage der Neuordnung des Zivilprozeßrechts eine preußische Unternehmung ist,22 die 1781 ihren Abschluß findet, ist das Deduktionsrecht Kant im Rahmen der deutschen Rechtsvorstellungen zugänglich; ein Analogon dazu gibt es z. B. nicht im römischen Corpus Juris Civilis. 282 | kapitel 

Will man die juridische Modellierung der KrV von der rechtssystematischen (und noch nicht philosophischen) Seite her verstehen, muß man eine dritte Komponente berücksichtigen. Dies ist das Natur- und Staatsrecht, wie man es z. B. bei Thomas Hobbes, Samuel Pufendorf oder auch Gottfried Achenwall und 1797 bei Kant selbst in seinen »Metaphysischen Anfangsgründen der Rechtslehre« findet. Für diese umfassende neuzeitliche Rechtssystematik sind Gedanken bestimmend, die weder in das kodifizierte Zivilrecht noch in die Deduktion von Rechtsansprüchen (etwa eines Staats auf das Territorium eines anderen) gehören. Es handelt sich um fundamentale Bestimmungen, die die Kompetenz der beider Jurisdiktionen überschreiten, wie z. B. die Unterscheidung von »status naturalis« und »status civilis«. Der erste ist ein Zustand des Krieges, der zweite ein Zustand, in dem jedem das Seine gesetzlich vor einem Gerichtshof bestimmt und geschützt werden kann. Im Bereich des »status naturalis« wird etwas verwirrend schon bei Hobbes das (wiewohl noch nicht in Kraft gesetzte) Privatrecht abgehandelt, während das dann folgende öffentliche Recht aus den rechtlichen Aporien des status naturalis folgt. Diese Systematik findet sich nicht nur bei Hobbes, sondern auch bei Locke und Kant selbst, während Rousseau im Contrat social schwankt; er benötigt einerseits eine bestimmte Rechtlichkeit der Menschen auch vor dem »pacte fondamental« und will auf der anderen Seite alles Recht erst durch die neue Gesellschaft generieren. Aber unabhängig davon kann man für das neuzeitliche Natur- oder Vernunftrecht die Doppelbelegung des »status naturalis« als eines bloßen Naturzustandes und als der Entwicklung des Privatrechts festschreiben. Im Privatrecht von Gottfried Achenwall konnte Kant die Unterscheidung von quid facti und quid juris finden.23 In den »Metaphysischen Anfangsgründen der Rechtslehre« (1797) finden sich die drei hier benannten Komponenten; die Rechtslehre nimmt Impulse des neuen preußischen Zivilrechts auf, sie kennt das Problem der rechtlichen Deduktion von Besitzansprüchen und steht in der Tradition des neuzeitlichen Natur- oder Vernunftrechts, im Rahmen der Lehre von der Gewaltenteilung handelt sie im »Öffentlichen Recht« von der Gerichtsbarkeit, die zugleich als das entscheidende Merkmal des erreichten Zivilzustandes geführt wird. kritik der reinen vernunft: der gerichtshof | 283

Es muß hier weiter angeführt werden eine Tradition der metaphorischen Präsenz von Rechtsansprüchen und Rechtsinstitutionen in philosophischen Schriften. Ich greife willkürlich heraus: Bacon, der den Erkennenden als frei Handelnden bestimmt, der nicht durch Idole und Obsessionen unterjocht ist. Kant war das Novum Organum vertraut, und das Motto der 2. Auflage ist der Instauratio Magna entnommen; das letzte Wort ist »legitimus«, also wieder ein Hinweis auf die Rechtssphäre. Am Ende der kurzen Schrift Parasceve ad Historiam Naturalem et Experimentalem (ca. 1622) schreibt Bacon, er wolle zunächst eine Topik von Untersuchungsgegenständen erstellen. »In other words, I mean (according to the practice in civil causes) in this great Plea or Suit granted by the divine favour and providence (whereby the human race seeks to recover its right over nature), to examine nature herself and the arts upon interrogatories.«24 Es gibt zahlreiche andere Rückgriffe Bacons auf das Zivilrecht als dem Modell des Erkenntnisprozesses. Nun ist Bacons theologischer Hintergrund in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts nicht mehr aktuell, und niemand will mehr mit der naturwissenschaftlich-technischen Durchdringung der Natur ein Recht geltend machen, das uns ursprünglich eingeräumt wurde; aber daß das Erkennen selbst in juridischer Fassung artikuliert wird, konnte auf Kant suggestiv wirken. Bei Bacon wird in der Beziehung zur Natur häufig an den Kriminalprozeß erinnert, so wie auch Kant meint, die Naturforscher müssten die Natur nötigen, auf ihre Fragen zu antworten (B XIII) – das ist kein zeitgenössischer Zivilprozeß mehr. »Man kann observationes u. Versuche zum Behuf der möglichen Erfahrung anstellen und der Natur gleichsam ihre Geheimnisse abfragen tortur« (XXII 317,17–19). Und im Hintergrund wieder John Locke mit seiner herausgehobenen Unterscheidung von angeborenen und erworbenen Vorstellungen und Prinzipien. Gegen die Möglichkeit der ersteren wendet er sich im Buch I des Essay, während II – IV von den Erwerbsformen von Vorstellungen und Urteilen handeln. Diese Differenz entspricht traditionell der Unterscheidung zweier Klassen des Besitzes, der entweder angeboren oder erworben ist, und erworben wiederum als acquisitio originaria oder derivativa. Diese Unterscheidung finden wir in der Kantischen Rechtslehre, speziell im Privatrecht, und sie wird in der Theorie des legitimen, deduzierbaren und 284 | kapitel 

des nicht legitimen Erkenntniserwerbs in der KrV benutzt, ersteres in der Analytik, das zweite in der Dialektik. Locke schreibt in seiner Theorie der persönlichen Identität, »§ 26. Person, as I take it, is the name for this self (Persona, ut opinor, hujus ipsius nomen est). Where-ever a Man finds, what he calls himself, there I think another may say is the same Person. It is a Forensick Term appropriating Actions and their Merit; and so belongs to intelligent Agents capable of a Law, and Happiness and Misery (Ubicunque quis invenit illud quod seipsum vocat, ibi puto fas est alteri dicere eandem esse personam. Terminus est forinsecus assumptus, qui actiones, et illarum merita propria alicui tribuenda esse ostendit, ad agentes itaque tantum pertinet intelligentia praeditos, qui legum, qui beatitudinis aut miseriae compotes sunt).«25 Hier ist es allerdings die philosophische Rekonstruktion des Titels »Person«, der in der Zivilgesellschaft zur Anwendung kommen soll. Bei Kant wird die KrV dadurch praktisch, daß das Recht zum freien Erkenntniserwerb in der Sphäre der Erfahrung etabliert wird und sich umgekehrt jeder Bürger einen staatlichen oder kirchlichen Erkenntniszwang im Hinblick auf Gott, Freiheit und Unsterblichkeit verbitten kann. In der Theologie gab es wenigstens zwei gedankliche Vorformen der juridischen Fassung der Selbstkritik der Vernunft. Die eine findet sich in der Literatur zur Antithetik der Konfessionen, in der gesagt wird, diese Antithetik finde sich in der Vernunft eines jeden, zugleich wird auf den rechtlichen Charakter von These und Antithese verwiesen.26 Die konfessionelle Antithetik wird musterhaft in Johann Wilhelm Baiers Collatio doctrinae pontificiorum et protestantium (1686) dargestellt, wobei Thesis und Antithesis drucktechnisch genauso dargestellt werden wie später bei Kant. Auf der Seite der Thesen steht die katholische, affirmative Meinung, die Antithesis formuliert die protestantische negative Position etwa in der Frage, ob es einen Richter (judex) in den Kontroversen zwischen Glauben und Vernunft (fides et ratio) gebe. Die Antithesis beginnt ihre Darlegung mit dem Hinweis, daß sie die Thesis negiert, keine der beiden führt jedoch den eigenen Wahrheitsbeweis in der Form, daß sie die jeweilige Gegenposition widerlegt, wie dies bei Kant der Fall sein wird. Daß Kant diese theologische Antithetik aufnimmt, ist von Hinske durch wörtliche Abgleichungen außer Zweifel gesetzt kritik der reinen vernunft: der gerichtshof | 285

worden. Besonders im Hinblick auf die »Disziplin der reinen Vernunft im polemischen Gebrauche« (A 738–769) sind hier noch wichtige Anregungen und Gedankenrichtunge freizulegen. Es gibt eine Vorform des Gerichtshofes und der »Selbsterkenntnis« (A XII; 849)27 der Vernunft in der Existenz oder Gründung eines »oikeion dikasterion«, des Gewissens. Unter dem Stichwort der »Anklage des Gewissens« schreibt Johann Georg Walch in seinem Philosophischen Lexicon (1740): »Denn das Gewissen ist nichts anders, als ein Urtheil der Vernunfft von der Vernunfft- und Unvernunfftmäßigkeit unserer Verrichtungen. […] daher auch Gregorius Nazianzenus das Gewissen ganz artig oikeion dikasterion genennet. Denn es wird so zu reden hier ein ordentliches Gericht, ein Prozeß angestellet. Der Beklagte ist der Mensch; der Gegenpart, oder der Ankläger die Vernunfft, sofern sie erkennet, wie unvernünfftig gehandelt worden; der Richter ist die Vernunfft abermahl, sofern sie nach der Anklage, nach der Erkänntniß, wie die That unrecht sey, das Urtheil ertheilet, […].«28 Kant bemüht sich jedoch, die sittliche Gewissensproblematik aus der Selbstprüfung der Vernunft in der KrV und ihrer Gerichtshoffunktion herauszuhalten. In beiden Fällen handelt es sich um eine Auseinandersetzung mit oder besser »in uns selbst« (A 778), das sittliche Gewissen aber hat ein jeder ursprünglich in sich (VI 400,24–25), während der Gerichtshof der reinen Vernunft eine künstliche, erst in einer bestimmten Phase der Vernunftgeschichte mögliche »Institution« (A 751) ist, um nur einen der Unterschiede zu benennen.

Das rechtlich geprägte Zeitalter Über die rechtliche Verfassung der Kantischen Moralphilosophie gibt es keinen Zweifel und keinen Streit mehr.29 Daßelbe gilt für seine geschichtsphilosophischen Schriften, denn ihre interne Logik ist die »evolutio juris naturalis«, die Evolution des Naturrechts vom Naturzustand bis hin zum Ewigen Frieden; erst das Recht macht die Freisetzung des guten Willens wirklich möglich, und dieser gute Wille wiederum ist juridisch verfasst. Wie präsent rechtliches Denken für Kant war, zeigt weiterhin seine Interpretation der Trinitätslehre nach dem Muster der staatlichen Gewaltenteilung. Der all286 | kapitel 

gemeine wahre Religionsglaube sei »der Glaube an Gott 1) als den allmächtigen Schöpfer Himmels und der Erden, d. i. moralisch als heiligen Gesetzgeber, 2) an ihn, den Erhalter des menschlichen Geschlechts, als gütigen Regierer und moralischen Versorger desselben, 3) an ihn, den Verwalter seiner eigenen heiligen Gesetze, d. i. als gerechten Richter.« (VI 139,23–27)30 Die Dreieinigkeit wird also juridisch als das Ensemble der drei öffentlichen Gewalten vorgestellt. »Unter Gott versteht man eine Person die über alle rechtliche Gewalt hat.« (XXI 35,24–25) Ebenso wie diese Rechtsverfassung Gottes wird auch die Kirche nach Rechtsgesichtspunkten interpretiert; der bis jetzt noch waltende historische Glaube gehöre zur sittlichen Heteronomie, während die wahre Autonomie des Menschen zu einem ethischen Gemeinwesen nach rein moralischrechtlichen Prinzipien führe. Der Glaube an einen dreieinigen Gott im Sinn einer juridischen Gewaltenteilung liege »in dem Begriffe eines Volks als eines gemeinen Wesens, worin eine solche dreifache obere Gewalt (pouvoir) jederzeit gedacht werden muß, nur daß dieses hier als ethisch vorgestellt wird, daher diese dreifache Qualität des moralischen Oberhaupts des menschlichen Geschlechts in einem und demselben Wesen vereinigt gedacht werden kann, die in einem juridisch-bürgerlichen Staate nothwendig unter drei verschiedenen Subjecten vertheilt sein müsste.« (VI 140,5–11)31 Es kann also über die innere Affinität von sittlicher und rechtlicher Vereinigung der Menschen kein Zweifel bestehen. Ohne die Rechtsstruktur zerfallen sowohl der Gottesbegriff, der Vernunftglaube und der Imperativ der Kirche als eines sittlichen Reiches. Es wird im Folgenden zunächst der rechtliche Charakter der KrV dokumentiert. Bei der umfänglichen Präsenz des Juridischen kann es sich nicht um eine austauschbare Metapher handeln, sondern nur um einen integralen Bestandteil der kritischen Philosophie – aber worin besteht die Theoriefunktion genau? Kant benutzt in der KrV die genannten Rechtsbereiche, ohne sie klar als solche zu benennen und in ein Verhältnis zueinander zu setzen. So changiert die Rechtskonstruktion zwischen unverbindlichen Anspielungen und einer Bezeichnung von Problemen, die für die KrV essentiell sind. Wir werden zu zeigen versuchen, daß sich die KrV nach ihrer Selbstauffassung in einer Rechtsform darstellen muß. Wenn im Folgenden der Nachweis einer umfassenden Präsenz kritik der reinen vernunft: der gerichtshof | 287

der Rechtsdiktion in der KrV geführt wird,32 dann gilt grundsätzlich, daß sich das Konzept einer Rechtsnormierung erst in der zweiten Hälfte der siebziger Jahre herausbildete, in der Dissertation von 1770, aus deren Problemen die KrV erwächst, ist von Rechtsfragen außer in metaphorischer Weise noch keine Rede.

Der mehrfache Anfang der KrV Gleich zu Beginn der Vorrede der 1. Auflage geht es um Fragen der Herrschaft der Vernunft und der Anarchie und um die »Aufforderung an die Vernunft, das beschwerlichste aller ihrer Geschäfte, nämlich das der Selbsterkenntnis aufs neue zu übernehmen und einen Gerichtshof einzusetzen, der sie bei ihren gerechten Ansprüchen sichere, dagegen aber alle grundlosen Anmaßungen, nicht durch Machtsprüche, sondern nach ihren ewigen und unwandelbaren Gesetzen abfertigen könne, und dieser ist kein anderer als die Kritik der reinen Vernunft selbst. – Ich verstehe aber hierunter nicht eine Kritik der Bücher und Systeme, sondern die des Vernunftvermögens überhaupt, in Ansehung aller Erkenntnisse, zu denen sie, unabhängig von aller Erfahrung, streben mag, mithin die Entscheidung der Möglichkeit oder Unmöglichkeit einer Metaphysik überhaupt und die Bestimmung sowohl der Quellen, als des Umfanges und der Grenzen33 derselben, alles aber aus Prinzipien.« (A XI– XII)34 Die Kritik ist demnach (auch) die Ausübung des Richteramtes, dies ist also eine der Bedeutungsebenen im Titel der »Kritik der reinen Vernunft«, der im übrigen von einer wahrhaft biblischen Vieldeutigkeit ist. So stellt sich das Werk in der »Vorrede« von 1781 bei der ersten Nennung des Titels im Text vor: Der Gerichtshof sei »kein anderer als die Kritik der reinen Vernunft selbst.« (A XII) Die Einrichtung des Gerichtshofes wird im Laufe der KrV häufig ins Spiel gebracht; am bekanntesten ist die Darstellung in der »Methodenlehre«: »Man kann die Kritik der reinen Vernunft als den wahren Gerichtshof für alle Streitigkeiten derselben ansehen; denn sie ist in die letzteren, als welche auf Objekte unmittelbar gehen, nicht mit verwickelt, sondern ist dazu gesetzt, die Rechtsame der Vernunft überhaupt nach den Grundsätzen ihrer ersten Institution zu bestimmen und zu beurteilen.« (A 751) Die KrV ist der »oberste 288 | kapitel 

Gerichtshof aller Rechte und Ansprüche unserer Spekulation« (A 669). Der Einrichtung des Gerichtshofes muß eine Vernunftgeschichte zuvorliegen, in der Rechte strittig waren: Der juridische Anfang der KrV setzt also eine mißglückte, wenn auch vielleicht notwendige Vernunftgeschichte voraus und nimmt wesentlich Bezug auf diese Vorgeschichte ihrer selbst. In der Vorgeschichte der Kritik wurden alle Mittel erschöpft, und es wurde doch nichts erreicht außer Streit und am Ende Gleichgültigkeit in einer nicht gleichgültigen Sache. Kant ruft im Prolog seines Werks die Weltgeschichte auf und lokalisiert sich in ihr, wie wir sahen. Seit der Zerstörung Trojas das Elend der Metaphysik! Die Vorgeschichte ist also nicht ein Naturzustand als Barbarei vor aller Kultur, sondern bildet eine Epoche mißglückter Versuche der Vergesellschaftung.35 Kant benutzt diese Vorstellung, ohne sie getrennt zu thematisieren, und wenn es besser passt, bedient er sich nicht des triadischen Konzepts von kulturlosem Anfang, schlechter Vergesellschaftung und rechtlicher Lösung, sondern des dualen Konzepts von Natur- und Zivilzustand, um in ihm die Institution des Gerichtshofes im Übergang vom einen zum anderen Zustand zu lokalisieren. Es ist kein Zufall, daß der Dualist Hobbes gleich nach der erneuten Deklaration der KrV als eines Gerichtshofes genannt wird (A 750 f.). Wir sehen schon hier das Problem einer doppelten Lokalisierung des Zustandes der noch nicht gefundenen Rechtlichkeit, also des Anfangs. Einmal steht dieser Zustand vor der Kritik in ihrem Vorwort, zum anderen begegnet er noch einmal in ihr in der »Dialektik«, hier aber unter der Jurisdiktion der Vernunft, die zeigt, wie sie in einem ordentlichen Verfahren die Streitfälle lösen und das Recht durchsetzen kann. Die erste Gedankenfigur macht darauf aufmerksam, daß sich die KrV in eine Tradition der Vernunftgeschichte stellt, die insgesamt auf sie hinführt, in ihr eine Wende erfährt und eine neue Zukunft eröffnet. Sie ist keine creatio ex nihilo, sondern setzt ihre eigene Vorgeschichte, die sich in ihr versammelt, voraus; andererseits lässt sich die KrV nicht aus der bisherigen Geschichte als logische Konsequenz ableiten, sondern verdankt sich einer irrationalen Rationalitätsbegründung, eines qualitativen Sprungs.36 Dieser qualitative Sprung ist einmal präsent im Übergang vom Natur- zum Zivilzustand, der nicht methodisch herstellbar ist, denn kritik der reinen vernunft: der gerichtshof | 289

der Naturzustand ist nicht die hinreichende Ursache des Staats als einer notwendigen Wirkung, sondern es bedarf der glücklichen Umstände und eines Sprunges; analog fasst Kant den Übersprung aus der Vorgeschichte in die wahre Vernunftgeschichte als Wirkung eines »glücklichen Einfalls«. Die Gründung, so erklärt die zweite Auflage der KrV, wurde durch eine neue »Denkungsart« (KrV B XVIII u. ö.) möglich. Eine irrationale Rationalitätsbegründung, aber unter der Obhut der Vorsehung. Die Institution des Gerichtshofes teilt die Gesamtgeschichte der menschlichen Erkenntnis in zwei Epochen, das Davor und das Danach. In dieser Epochenzäsur folgt Kant den neuzeitlichen Rechtslehren, besonders Thomas Hobbes und Rousseau, nach deren Konzept die Staatsgründung mit dem »contrat social« den Naturzustand beendet und der Rechtszustand beginnt. Es versteht sich von selbst, daß in dem Epochenwerk der KrV auch die Zeitenwende ante et post Christum natum im Bereich der Metaphysik wiederholt wird: Nach dem »vetus organum« tritt jetzt endlich das »novum organum« in Kraft, wie Kant (erst 1787) im Anschluß an Francis Bacon verkündet. Der Vergegenwärtigung des Vernunftgeschehens im Medium der Zeit tritt eine räumliche Veranschaulichung zur Seite. Der Gerichtshof ist nur auf dem festen, befriedeten Lande möglich, außerhalb des Landfriedens und des Landrechts tobt dagegen, so scheint es, der Streit des Naturzustandes; die Grenzziehung ist eine Sache der Vernunft, die den grundsätzlich schrankenlosen Erkenntniserwerb nach inneren Prinzipien rechtlich ermöglicht und begrenzt – jenseits der Gerichtsbarkeit endet die Möglichkeit des Erwerbs und der friedlichen Streitbeilegung im Rahmen des Landrechts. Aber genau dieses Bild ist ambivalent, denn einerseits ist der Gerichtshof zuständig für das befriedete Land; andererseits verläuft die Grenze zwischen »Analytik« und »Dialektik« und den Streitigkeiten der letzteren auf dem Gebiet der Jurisdiktion der KrV. Mit der schon hier sichtbar werdenden Janushaftigkeit des Grenzbegriffs ist die Doppelinterpretation der KrV durch Kant selbst verbunden, denn sie ist 1781 für den Autor die einzig mögliche Kritik der Vernunft, deren Gerichtsbarkeit Analytik und Dialektik umfasst und damit auch die Grenzbestimmung zwischen beiden, 1790 jedoch regrediert sie im Ensemble der drei Kritiken zur »Kritik des reinen Ver290 | kapitel 

standes« (V 179,12–13), deren Kompetenz auf die »Analytik« eingegrenzt ist.37 Ein anderer Anfang, der als conditio sine qua non der Kritik zu beachten ist, liegt in der empirischen Vorzeichnung des kritischen Unternehmens durch John Locke. In seinem Essay Concerning Human Understanding (1690) hat die menschliche Vernunft das in der Erfahrungswissenschaft versucht, was nun als Transzendentalphilosophie zur Reife kommen kann. So charakterisiert Kant das parallele Unternehmen von Edmund Burke mit seiner empirischen Exposition des Ursprungs unserer Begriffe vom Schönen und Erhabenen als den Anfang seiner transzendentalphilosophischen Grundlegung (V 277–278): »Also mag die empirische Exposition der ästhetischen Urtheile immer den Anfang machen, um den Stoff zu einer höheren Untersuchung herbei zu schaffen; eine transzendentale Erörterung dieses Vermögens ist doch möglich und zur Kritik des Geschmacks wesentlich gehörig. Denn ohne daß derselbe Principien a priori habe, könnte er unmöglich die Urtheile anderer richten und über sie auch nur mit einigem Scheine des Rechts Billigungs- und Verwerfungsaussprüche fällen.« (V 278,29–35) Hier hat Burke genau die Funktion, die Locke von Kant in der KrV zugeschrieben wird: Sie bildet den empirischen Anfang, sie liefert das Material, das nun durch die transzendentale Formgebung zur Vernunft gebracht werden muß. In beiden Fällen führt die kontinuierliche Verfeinerung der empirischen Forschung nicht zur Transzendentalphilosophie, sondern ein »glücklicher Einfall« oder eine nicht ableitbare, aber von der Vernunft vorgesehene Revolution der Denkart. Also ein Anfang, der sein Ende nicht selbst erzeugt. Nun gibt es einen weiteren Anfang, er steht am Schluß der schriftlichen Fassung; er verrät, was man eigentlich zu Beginn wissen müsste: Die Vernunft ist ein zweckmäßiges Organ, und der Philosoph ist der Biologe der »teleologia rationis humanae« (A 839). In dieser Teleologie erklärt sich alles vom Endzweck her, der also der Sache nach am Anfang steht. Kant folgt zwar dem empirischen Aufstieg von der Sinnlichkeit zum Verstand und zur Vernunft, aber erst am Schluß des Aufstiegs gewinnt der Leser die Erkenntnis ihrer zweckmäßig-vernünftigen Anlage. Der Anfang lässt sich erst vom Ende als Anfang begreifen. Es ist die These unserer Untersuchung, daß vom Ende der juridische Charakter der Untersuchung in seiner kritik der reinen vernunft: der gerichtshof | 291

Notwendigkeit einsichtig wird; ohne dieses Ende – die moralische Bestimmung des Menschen – bleiben alle Untersuchungen zwecklos. Ein letzter Anfang war schon Gegenstand unserer Untersuchung: Historisch liegt der Anfang nicht in einem abrupten glücklichen Einfall, sondern in einer allmählichen fünfzehnjährigen Arbeit.38 Es soll im Folgenden so vorgegangen werden, daß wir uns zuerst der Aufgabenstellung der Festlegung der Quellen, des Umfangs und der Grenzen der menschlichen Erkenntnis zuwenden. Kant zitiert hiermit wörtlich John Locke, und mit dem hinzugefügten »alles aber aus Prinzipien« wendet er sich gegen dessen Empirismus. Es soll gezeigt werden, daß sich die Quellen, wenn sie nur rein sind, der Nachfrage nach ihrer Rechtlichkeit entziehen, damit jedoch zwei Felder verbleiben, der Umfang und die Grenzen. Die Umfangsbestimmung ist Aufgabe des positiven Rechtsnachweises in der »Transzendentalen Deduktion der reinen Verstandesbegriffe«, die Grenzbestimmung ist Aufgabe des Gerichtsverfahrens, dem die Prätentionen der Metaphysik unterworfen werden; hier ist das Ergebnis negativ. Nicht gelöst ist die Frage, um welche Prinzipien es sich handelt, die Kant gegen Locke anführt. Bei der näheren Untersuchung dieser Prinzipien stoßen wir sowohl auf die Transzendentalphilosophie wie auch auf den höchsten Rechtfertigungsgrund der Kritik, aus dem sich die gesamte Anlage als zwingend ergibt und die Rechtsverfassung nicht nur eine mögliche Überformung der Erkenntnislehre bildet, sondern sich als notwendig erweist: Es gibt, so wird von hier aus sichtbar, keine menschliche Erkenntnis ohne ihre Rechtfertigung, wobei der Primat der praktischen Vernunft mitzudenken ist. Es wird entsprechend dieser Überlegung zuerst die Aufgabenstellung der KrV erörtert, danach folgt die Analyse der positiven Deduktion, drittens die KrV als Gerichtshof und viertens die Bestimmung des dirigierenden Prinzips, der Vernunftidee, deren notwendiger Teil das Rechtsverfahren bildet und bei freien Menschen bilden muß.

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Quellen, Umfang und Grenzen In der Vorrede der ersten Auflage der Kritik skizziert Kant mit wenigen Strichen das Schicksal der bisherigen Vernunfterkenntnis. Von einfacher Erfahrung anfangend, habe sie sich über alle Erfahrungsgrenzen hinaus bewegt und sei in ein Feld endloser Streitigkeiten geraten; der Kampfplatz heiße Metaphysik. »In neueren Zeiten schien es zwar einmal, als sollten allen diesen Streitigkeiten durch eine gewisse Physiologie des menschlichen Verstandes (von dem berühmten Locke) ein Ende gemacht und die Rechtmäßigkeit jener Ansprüche völlig entschieden werden; […].« (A IX) Aber Lockes Unternehmen mußte scheitern, da er die Metaphysik aus der Erfahrung herleiten wollte. Die Reaktion auf dieses Scheitern sei der jetzige Indifferentismus. Er sei nicht die Wirkung des Leichtsinns, »sondern der gereiften Urteilskraft des Zeitalters, welches sich nicht länger durch Scheinwissen hinhalten läßt, und eine Aufforderung an die Vernunft, das beschwerlichste aller ihrer Geschäfte, nämlich das der Selbsterkenntnis aufs neue zu übernehmen und einen Gerichtshof einzusetzen39, der sie bei ihren gerechten Ansprüchen sichere, alle grundlosen Anmaßungen, nicht durch Machtsprüche, sondern nach ihren ewigen und unwandelbaren Gesetzen, abfertigen könne, und dieser ist kein anderer als die Kritik der reinen Vernunft. – Ich verstehe aber hierunter nicht eine Kritik der Bücher und Systeme, sondern die des Vernunftvermögens überhaupt, in Ansehung aller Erkenntnisse, zu denen sie, unabhängig von aller Erfahrung, streben mag, mithin die Entscheidung der Möglichkeit oder Unmöglichkeit einer Metaphysik überhaupt und die Bestimmung sowohl der Quellen, als des Umfangs und der Grenzen derselben, alles aber aus Prinzipien.« (A XI–XII) Lockes Essay setzt sich genau dieses Ziel, er will »the Original, Certainty, and Extent of humane Knowledge (Cum nostri itque instituti sit, originem, certitudinem, et extremos limites humanae cognitionis)«40 untersuchen. Kant nimmt dieses Programmotiv auf – »alles aber [jetzt gegen Locke, RB] aus Prinzipien«. Wenn es heißt, das Geschäft der Selbsterkenntnis der Vernunft solle aufs neue in die KrV übernommen werden, dann bezieht sich das »aufs neue« ebenfalls auf den einzigen in der Vorrede genannten Philosophen (A IX) zurück, John Locke.41 Er ist für Kant der Vorgänger in der Vernunftkritik: Die kritik der reinen vernunft: der gerichtshof | 293

ausdrücklichen Verweise, die zu John Locke und seiner kritischen Philosophie führen, lassen sich um und vor 1770 in der Logik Blomberg entdecken. »Lock hat den allerwesentlichsten Schritt gethan dem Verstand den Weg zu bahnen. Er hat ganz neue Criteria angegeben. Er philosophirt subjektive, da Wolff und alle vor ihm objective philosophirten. Er hat die Genesin die Abstammung und den Ursprung der Begriffe untersucht. Seine Logic ist nicht dogmatisch, sondern kritisch. Wolf frägt: was ist ein Geist? Lock: wo kommt die Idee vom Geist in meiner Seele her? Sie hat niemals einen Geist gesehen; woher kommen diese Gedanken?« (XXIV 338,27–34)42 Die Bemerkung in der Vorlesungsnachschrift ist mit der Dissertation von 1770 verbunden, in der Kant gleich zu Beginn nicht den Geist-, sondern den Weltbegriff zu klären versucht und sagt: »Bei dieser Erörterung des hier behandelten Begriffs habe ich nicht nur auf die Merkmale, die zur deutlichen Erkenntnis des Gegenstandes gehören, Rücksicht genommen, sondern ein wenig auch auf seinen doppelten Ursprung aus der Natur des Geistes; so scheint sie sich mir einigermaßen zu empfehlen, weil sie für ein tieferes Eindringen in die Methode der Metaphysik als Beispiel dienen kann.« (II 387,7–11)43 Das ist das kritische Programm, das Kant an den Anfang seiner Schrift stellt. Er will die Begriffe der Metaphysik (dort der Psychologie im Anschluß an die Träume eines Geistersehers, hier der Kosmologie) nicht einfach objektiv nehmen, sondern ihre zwiefache »genesis« im menschlichen Erkenntnisvermögen untersuchen – exakt das, was er Locke in der Logik Blomberg zuschreibt. Und das verkündet schon der Titel der Dissertation; sie will keine objektive Kosmologie entwickeln, wie es in der Wolffschen »metaphysica specialis« geschieht, sondern einen Weltbegriff aus den beiden fundamentalen subjektiven Erkenntnisvermögen, der Sinnlichkeit und dem Verstand, also eine Kosmologie aus den geistigen Vermögen des Subjekts. Man könnte paraphrasieren: »Die« Welt der traditionellen Kosmologie gibt es nicht mehr, sondern »es gibt« einen »mundus sensibilis« und einen »mundus intelligibilis« gemäß den zwei grundsätzlich unterschiedenen Erkenntnisvermögen des Menschen, Sinnlichkeit und Verstand. Die Sektion I der Dissertation zeigt, daß diese subjektivistische Wende notwendig ist, um sonst drohende Widersprüche im Weltbegriff aufzulösen; die Widersprüche ergeben sich durch die beiden sub294 | kapitel 

jektiven Zugänge, den sinnlichen und den intellektuellen, zur Welt. Wir schließen die Beobachtung an, daß die Raum-Zeit-Welt entschieden anthropologischer Natur ist, während man beim »mundus intelligibilis« vermuten darf, daß auch Wesen ohne alle Sinnlichkeit wie Gott oder Wesen mit gleichem Verstand wie wir, aber mit einer Sinnlichkeit etwa von 4-dimensionalen Räumen mit unseren Erkenntnissen übereinstimmen würden. Im Bereich des mundus sensibilis bewegen wir uns im Horizont des »human understanding«, im mundus intelligibilis könnten wir uns problemlos mit Gott und anderen höheren Geistern verständigen. Noch in der KrV ist im Bereich der Ästhetik und ihrer transzendentalen Raum-Zeit-Anschauung von Menschen die Rede (A 26: »Wir können demnach nur aus dem Standpunkte eines Menschen vom Raum, von ausgedehnten Wesen etc. reden.« Auch A 42; A 45; schon II 397,24: »humanus«), während die Urteilstafel nicht als spezifisch menschlich bezeichnet wird. Aber kümmert sich Gott mit seinen Heerscharen um die Urteils- oder gar Kategorientafel? Sind es spezifisch menschliche Denkformen? Die Logik Blomberg wendet sich gegen Wolff; in der Dissertation wird Wolff erst im § 7 der II. Sektion genannt, aber er besetzt schon hier die Stelle des Opponenten, denn Wolff vertritt eine monistische Psychologie mit der einen »vis repraesentativa« und ihren gleitenden Übergängen von dunklen und verworrenen Vorstellungen zu klaren und deutlichen, dieser Monismus aber verhindert die Auflösung der Widersprüche im Weltbegriff. Hier hilft, so der implizite Schachzug Kants gegen die Rationalisten, nur die Lehre von zwei Erkenntnisstämmen und der Nachweis, daß in ihnen zwei unterschiedliche Weltbegriffe, der sensible und der intelligible, ihren Ursprung haben. In der Dissertation beginnt Kant also mit einem, wie er es später einschätzt, spektakulären Widerspruch im Weltbegriff des Rationalismus, den er mit dem kritischen, von Locke gelernten Regreß in das Subjekt der Erkenntnis auflöst. Wir merken an, daß hier von einem Rechtsstreit und einem Gerichtshof noch keine Rede ist. In den ebenfalls 1690 erschienenen Two Treatises of Government trägt der zweite Teil, der »Second Treatise of Government«, den Untertitel »An Essay Concerning the True Original, Extent, and End of Civil Government«.44 Das »civil government« sei die einzige legikritik der reinen vernunft: der gerichtshof | 295

time Regierung. In der Kant mit Sicherheit unbekannten Letter Concerning Toleration steht: »This is the original, this is the use, and these are the bounds of the legislative.«45 In der Staatsphilosophie wird nicht in einer »historical plain method (historice)« untersucht, was Regenten alles faktisch tun, sondern es wird eine Staatsverfassung entworfen, die als einzige eine rechtliche Grundlage hat und deren Ursprung, Umfang und Grenzen entsprechend genau bestimmbar sind.46 Kants KrV steht diesem normativen Rechtstraktat in der Zielsetzung näher als dem Essay mit seiner rein empirischen »Physiologie des menschlichen Verstandes«. Im »Second Treatise of Government« fehlt die »Gewißheit«, weil sie in der rechtsphilosophischen Erörterung keine Funktion hat; sie ist wie bei Kant durch »extent«, »Umfang« ersetzt. Allgemein ist dazu anzuführen, daß die Frage der Gewißheit in der Erkenntnislehre des 17. Jahrhunderts eine bedeutende Rolle spielt, im 18. Jahrhundert jedoch zunehmend an Bedeutung verliert, um erst in den sonnenklaren Gewißheiten bei Fichte erneut aktuell zu werden. An die Stelle der subjektiven Gewißheit tritt in der Aufklärungsphilosophie die qualifizierte Mitteilbarkeit an eine bestimmte Öffentlichkeit. Daß Kant also seinen Vorgänger Locke in der Vernunftkritik als Leitautor wählt, kann man nicht bezweifeln. Welche Bedeutung die gemeinsame triadische Ausgangsfigur für ihn hat, können einige willkürlich zusammen gestellte Texte dokumentieren. Quellen, Umfang, Grenze – Kant wiederholt die Lockesche Formel innerhalb der »Einleitung« der KrV im Zusammenhang einer Bestimmung dessen, was für ihn »transzendental« bedeutet: »[…] so können wir eine Wissenschaft der bloßen Beurteilung der reinen Vernunft, ihrer Quellen und Grenzen, als die Propädeutik zum System der reinen Vernunft ansehen.« (A 11) Im Brief vom 21. Februar 1772 an Marcus Herz spricht Kant vom Plan einer »Critick der reinen Vernunft, […] wovon ich den ersten Theil, der die Quellen der Metaphysic, ihre Methode u. Grentzen enthält, […] herausgeben werde.« (X 132,12–18) 1776 heißt es vom Feld der reinen Vernunft: »Um nun den ganzen Umfang desselben, die Abtheilungen, die Grenzen, den ganzen Inhalt desselben nach sicheren principien zu verzeichnen und die Marksteine so zu legen, daß man künftig mit Sicherheit wissen könne, ob man auf dem Boden der Vernunft, oder der Vernünfteley sich befinde […].« (X 199,19–24) 296 | kapitel 

Die Programmformel findet sich, häufig verkürzt, auch leicht verändert, im gesamten späteren Werk Kants, etwa in der KpV: die besondere Bestimmung der Pflichten als Menschenpflichten gehöre nicht »in eine Kritik der praktischen Vernunft überhaupt, die nur die Principien ihrer Möglichkeit, ihres Umfanges und Grenzen, vollständig ohne besondere Beziehung auf die menschliche Natur angeben soll.« (V 8,20–23) »Wenn es um die Bestimmung eines besonderen Vermögens der menschlichen Seele nach seinen Quellen, Inhalte und Grenzen zu thun ist, […].« (V 10,3–4) »Auf diese Weise wären denn nunmehr die Principien apriori zweier Vermögen des Gemüths, des Erkennntniß- und des Begehrungsvermögens, ausgemittelt und nach den Bedingungen, dem Umfange und Grenzen ihres Gebrauchs, bestimmt, […].« (V 12,1–4) In der ursprünglichen Einleitung der KdU: »[…] welchen Ursprung diese Idee habe und ob sie in einer Quelle a priori anzutreffen, imgleichen welches der Umfang und die Grentze des Gebrauchs derselben sey.« (XX 205,12–17) Besonders intensiv begegnet die Formel in der Vorlesungsnachschrift Metaphysik Volckmann, die auf eine nach 1781 und vor 1785 gehaltene Vorlesung zurückgeht. Eine der vielen Formulierungen: Es solle untersucht werden, welches »die Bedingung, der Gebrauch und die Grenzen unsrer Vernunft-Erkentniße seyn können.« (XXVIII 378,7–8; s. a. 621,8–11) Wenn Kant diesen Lockeschen Dreischritt an die Spitze der KrV setzt und ihn später unermüdlich als autorisiert wiederholt, so sicher in noch weiteren Abwägungen. Dazu gehört die Reflexion, daß die drei Positionen die Trias von Einheit, Vielheit und Ganzheit variieren. Die Einheit liegt im Ursprung, die Vielheit im unbeschränkten Weiterschreiten im Erwerb neuer Erkenntnisse und die Totalität in der grenzsetzenden Verbindung von Einheit und Vielheit. Dies ist die Konzeption der Kategorie der Quantität, die ihre geschichtlichen Wurzeln in der Platonischen Philosophie hat. Diese Fundierung ist eines der Motive der permanenten Wiederkehr der genannten Formel. Hierauf muß später erneut eingegangen werden; vorher kehren wir zu Kants Lockenachfolge zurück. Locke wird, wie sich zeigte, nicht nur zum Leitautor gemacht, er wird zugleich kritisiert. Locke spricht vom »original« (»origo«), Kant von »Quellen«; diese Korrektur ist leicht zu dechiffirieren; an die Stelle der einen Quelle der Sinnlichkeit bei Locke treten bei Kant kritik der reinen vernunft: der gerichtshof | 297

zwei Erkenntnisstämme, Anschauung und Verstand; nur aus dieser Dualität lässt sich die menschliche Erfahrungserkenntnis deduzieren und in der Dialektik durch sich selbst begrenzen. Sodann zweitens: Kant nannte das Unterfangen tadelnd eine »Physiologie des menschlichen Verstandes«, und entsprechend setzt er den Kontrast kursiv: »unabhängig von aller Erfahrung«. Erfahrung zählt in der Anthropologie und Physischen Geographie, aber nicht in einer Theorie der philosophischen Notwendigkeit. Das Sinnenmaterial, so meint der Pragmatiker Locke, bestimme zugleich den Umfang aller menschlichen Erkenntnis. Dieser sei völlig ausreichend für unsere praktische Lebensführung. Kant setzt dagegen: »Ein solches Nachspüren der ersten Bestrebungen unserer Erkenntniskraft, um von einzelnen Wahrnehmungen zu allgemeinen Begriffen zu steigen, hat ohne Zweifel seinen großen Nutzen, und man hat es dem berühmten Locke zu verdanken, daß er dazu zuerst den Weg eröffnet hat.« (A 86) Eine Deduktion komme durch diese »physiologische Ableitung« (A 87) jedoch nicht zustande. Hier wird in den Ausführungen zu den »Prinzipien einer transz. Deduktion überhaupt« (A 84) noch einmal rekapituliert, was in der Vorrede schon zu lesen ist: Locke gibt eine Analyse »kath’hemin«, nicht aber wie gefordert »kata ten ousian«47, er zeigt, wie wir faktisch zu bestimmten Erkenntnissen gelangen, aber nicht, wie sie der Sache nach, also aus Prinzipien und aus ihren Rechtsquellen, begründet sind. In der Vorrede folgt entsprechend auf die drei Lockeschen Momente der Quellen, des Umfangs und der Grenzen ein »aber«: »aber alles aus Principien«. Dieses vierte Moment ist offenbar das Entscheidende, mit dem die KrV über den Empirismus der bloßen Physiologie hinausgeht. Aus diesem Vierten muß am Ende die ganze KrV zu verstehen sein, d. h. erstens die Prinzipien im Einzelnen, die die drei Momente durchdringen,48 und zweitens die Einheit dieser Prinzipien. Sie durchdringen die drei Momente, wie man in den beiden ersten Bereichen sehen kann, in denen in der transzendentalen Ästhetik an die Stelle der empirischen »sensations« die reinen Formen der Sinnlichkeit treten,49 und in der Logik, speziell der Analytik, an die Stelle der faktischen »reflections« die reinen Formen des Verstandes. Baumgarten hätte noch umgekehrt die Logik an die Spitze der KrV stellen müssen, um dann die »soror minor«, die Ästhetik, folgen zu lassen. Kant dagegen folgt Locke beim Auf298 | kapitel 

stieg von der Sinnlichkeit zum Denken, um dann in der Frage nach dem Endzweck und der Aufgabe der kritischen Untersuchung den dirigierenden Endpunkt zu erreichen. Der in diesem Sinn höchste Punkt der KrV wird sich als die »ganze Bestimmung des Menschen« (A 840) erweisen, das Ganze geordnet in einer Zweckstruktur der Vernunft. Descartes, Leibniz, Wolff und alle Cartesianer, Leibnizianer und Wolffianer: Sie suchen die prima philosophia, die Metaphysik, auf eine sichere Grundlage zu stellen, sie zu perfektionieren und für die Erkenntnis fruchtbarer zu machen. Dieses scholastische Ziel verfolgt Descartes mit der Idee, eine sichere Erkenntnis im eigenen unbezweifelbaren »cogito« zu gewinnen und diese zum Muster (nicht zur Quelle!) aller weiteren sicheren, im Prinzip unbegrenzten Erkenntnis zu machen. Keiner dieser Autoren stellt sich die Lockesche Frage: Was kann der Mensch überhaupt erkennen? Wie sind die Quelle, die Gewißheit und der Umfang seines Verstandes beschaffen? Keiner schreibt einen Essay Concerning Human Understanding mit der Zielsetzung, vor allen metaphysischen Spekulationen das Firmenvermögen des Menschen zu prüfen und sich erst dann an den Erwerb von metaphysischen Sacherkenntnissen zu machen. Es muß also der Ursprung der menschlichen Erkenntnis freigelegt, sodann die Sicherheit und die Reichweite des sicheren Erkenntniserwerbs vermessen und die Grenze markiert werden, bei deren Nichtbeachtung der Mensch in haltlose Spekulationen besonders auf dem Gebiet der Religion gelangt. Das alles läßt sich nicht am empirischen Stammtisch ausmachen, sondern bedarf einer Ebene der notwendigen Entscheidungen. Die drei Themen der »metaphysica specialis«, also der Dialektik der KrV, bilden den eigentlichen Interessenpunkt der KrV; wie sie mit der Lockeschen Ausgangsposition verbunden sind, wird in einer späten Reflexion zur Metaphysik (Refl. 6317) gesagt. Es sei wichtig, »die Bedingungen des uns möglichen Erkenntnisses der Dinge nicht zu Bedingungen der Moglichkeit der Sachen zu machen; denn thun wir dieses, so wird die Freiheit aufgehoben und Unsterblichkeit, und wir können von Gott keine andere als widersprechende Begriffe bekommen. Dieses nöthigt uns nun, die Möglichkeit, den Umfang und die Grentzen unseres speculativen ErkenntnisVermögens genau zu bestimmen, damit sich nicht epicurikritik der reinen vernunft: der gerichtshof | 299

sche Philosophie des ganzen Vernunftfeldes bemächtige und Moral und religion zu Grunde richte, oder wenigstens die Menschen nicht inconsequent mache.« (XVIII 626,11–19, auch ein Nachhall von II 411,28 ff.) Hier ist Locke einmal mit der schon erörterten Programmformel präsent, sodann mit dem Ausgangsproblem der selbstkritischen Untersuchung und drittens mit der Frage der Inkonsequenz. Zum Ausgangsproblem: Locke hatte in der »Epistle to the Reader« des Essay geschrieben, das Thema von Freiheit und Willen »having in all Ages exercised the learned part of the World, with Questions and Difficulties, that have not a little perplex’d Morality and Divinity, those parts of Knowledge, that Men are most concern’d to be clear in.«50 Das Pendant bei Kant ist, wie wir sahen, das auf die moralische Freiheit, Gott und Unsterblichkeit konzentrierte Vernunftinteresse des Menschen, das in den »Fragen« präsent ist, mit denen die KrV (A VII) einsetzt. Und drittens die Konsequenz: Epikur ist konsequent, Locke dagegen nicht: »Wenigstens verfuhr Epikur seinerseits viel konsequenter nach seinem Sensualsystem (denn er ging mit seinen Schlüssen niemals über die Grenze der Erfahrung hinaus), als Aristoteles und Locke, vornehmlich aber der letztere« (A 854). »Der berühmte Locke hatte, aus Ermangelung dieser Betrachtung [er verfuhr eben nicht nach Prinzipien, RB], und weil er reine Begriffe des Verstandes in der Erfahrung antraf, sie auch von der Erfahrung abgeleitet, und verfuhr doch so inconsequent, daß er damit Versuche zu Erkenntnissen wagte, die weit über alle Erfahrungsgrenze hinausgehen.« (B 127) Man sieht, wie in dieser Begriffskonstellation Locke präsent ist, ohne genannt zu werden. In England ist das 18. Jahrhundert philosophisch und überhaupt literarisch damit beschäftigt, die Lockeschen Gedanken aufzuarbeiten und in die Konsequenzen hinein zu verfolgen. Auch die französische Aufklärung ist ohne Locke nicht zu denken. Voltaires lapidares Bekenntnis zu Locke contra Leibniz lautet: »Tant de raisonneurs ayant fait le roman del’âme, un sage est venu qui en a fait modestement l’histoire«.51 D’Alembert schreibt im Discours préliminaire de l’Encyclopédie von 1750, Locke habe in der Metaphysik vollbracht, was Newton in der Physik geleistet habe: »En un mot, il réduisit la métaphysique à ce qu’elle doit être en effet, la physique expérimentale de l’âme.«52 Es gab wohl außerhalb der Wolffschen Orthodoxie 300 | kapitel 

keinen Autor in Deutschland nach 1750 bis ca. 1790, der in Locke nicht den großen Philosophen des Umbruchs sah, der die Maßstäbe für die weitere Philosophie gesetzt hatte. Die KrV ist das erste und einzige Werk in Deutschland, das das Programm des Lockeschen Essay vollständig aufnimmt und sich als dessen Fortsetzer erklärt, allerdings auf einem grundsätzlich anderen Niveau, als es Locke möglich war. Die Gegenstücke sind in England David Humes Treatise of Human Nature (1739–1740) und in Frankreich eigentlich erst Condorcets Esquisse d’un tableau historique des progès de l’esprit humain (1795). Vom ersten Versuch der Locke-Nachfolge nahm Kant an, daß er ihn mit seiner Transzendentalphilosophie außer Kraft setzten würde, den zweiten lernte er nicht mehr kennen. Diese Hinweise sollen die Meinung stützen, daß mit der von Locke übernommenen Aufgabenbestimmung ein für Kant wesentlicher Ausgangspunkt der KrV benannt ist. Nietzsche hatte ohne Kenntnis von der unphilosophischen Rasse der Engländer geschrieben und zitiert: »Je méprise Locke«,53 und der Nietzsche-Anhänger Vaihinger ging in seinem ausführlichen Kommentar der KrV auf die Passage zu den Quellen, dem Umfang und den Grenzen weder systematisch noch quellenkritisch ein.54 In der späteren Rechtstheorie faszinierte der Machttheoretiker Hobbes, den Carl Schmitt verehrte, während er die liberale Theorie von John Locke als bürgerlich-glanzlos beiseite ließ – was hätte sie ihm 1934 sagen können? Oder 1936 beim Duce in Rom? Diese Stimmung hat die Kantlektüre über ein Jahrhundert partiell aus dem Gleis gebracht. Lockes Untersuchung trägt den Verweis auf das »human understanding« im Titel; David Humes Hauptwerk heißt A Treatise of Human Nature. Bei Kant dagegen taucht der Hinweis auf den Menschen in keinem Kritik-Titel mehr auf, weil er sie in einem neu geschaffenen Rahmen durchführt, der nun gerade nicht empirischanthropologisch ist und der es ermöglicht, den englischen Empirismus und darauf folgenden Skeptizismus als unzureichend für das ursprüngliche Programm zu kritisieren. Mit Kants Gegenfanal »alles aber aus Prinzipien« wird das erkenntniskritische Problem auf ein neues Niveau gehoben; die kritische Philosophie will nichts über empirische Tatsachen der Psyche berichten, sondern etwas Notwendiges als Erkenntnis der Erkenntnis deduzieren und damit allererst kritik der reinen vernunft: der gerichtshof | 301

»Rechts«-Sicherheit stiften. Gegen die Empiristen gewandt heißt es in der KrV später: »[…] daß der bloß mit seinem empirischen Gebrauche beschäftigte Verstand […] zwar sehr gut fortkommen, aber eines gar nicht leisten könne, nämlich sich selbst die Grenzen seines Gebrauchs zu bestimmen, und zu wissen, was außerhalb seiner ganzen Sphäre liegen mag; denn dazu werden eben die tiefen Untersuchungen gefordert, die wir angestellt haben. Kann er aber nicht unterscheiden, ob gewisse Fragen in seinem Horizonte liegen, oder nicht, so ist er niemals seiner Ansprüche und seines Besitzes sicher, […] wenn er die Grenzen seines Gebiets (wie es unvermeidlich ist) unaufhörlich überschreitet, und sich in Wahn und Blendwerke verirrt.« (A 238) Als metaphorischer Hintergrund dient die Erdkugel mit den Hinweisen auf den Horizont und die »ganze Sphäre«. Das wird später noch einmal aufgenommen: »Wenn ich mir die Erdfläche (dem sinnlichen Scheine gemäß [mit dem sich Philosophen wie John Locke und David Hume dann doch begnügen, RB]) als einen Teller vorstelle, so kann ich nicht wissen, wie weit sie sich erstrecke. […] Bin ich aber doch so weit gekommen, zu wissen, daß die Erde eine Kugel und ihre Fläche eine Kugelfläche sei, so kann ich auch aus einem kleinen Teil derselben, z. B. der Größe eines Grades, den Durchmesser, und, durch diesen, die völlige Begrenzung der Erde, d. i. ihre Oberfläche, bestimmt und nach Prinzipien a priori erkennen; und ob ich gleich in Ansehung der Gegenstände, die diese Fläche enthalten mag, unwissend bin, so bin ich es doch nicht in Ansehung des Umfanges, den sie enthält, der Größe und Schranken derselben.« (A 759)55

Locke: Festland und Ozean Kant nimmt hiermit die ihm wohlbekannte Metaphorik John Lokkes auf, der in der Einleitung seines Essay anmahnt, daß wir weder deswegen resignieren sollen, weil wir keine Flügel zum Fliegen haben56, noch wegen der mangelnden Möglichkeit, den Ozean auszumessen. Menschliche Erkenntnis gibt es nur auf dem sicheren Boden der Erde. »This was that which gave the first Rise to this Essay concerning the understanding. For I thought that the first Step towards satisfying several Enquiries, the Mind of Man was very apt to 302 | kapitel 

run into [die natürliche schlechte Metaphysik, RB], was, to take a Survey of our own Understanding, examine our own Powers, and see to what Things they were adapted. Till that was done I suspected we began at the wrong end, and in vain thought for Satisfaction in a quiet and secure Possession of Truths, that most concern’d us (in quibus momenta sunt maxima ad beate vivendum)57, whilst we let loose our Thoughts into the vast Ocean of Being, as if all that boundless Extent, were the natural, und undoubted Possession of our Understandings, […]. Thus Men, extending their Enquiries beyond their capacities, and letting their Thoughts wander wander into those depths, where they can find no sure Footing; ’tis no Wonder, that they raise Questions, and multiply Disputes, which never coming to any clear Resolution, are proper only to continue and increase their Doubts, and to confirm them at last in perfect Scepticism.58 Whereas were the Capacities of our Understandings well considered, the Extent of our Knowledge once discovered, and the Horizon found, which sets the Bounds between the enlightned and dark Parts of Things; […].« Kant hat von Locke das naturalistische Bild des Kontrastes von Festland und Ozean übernommen, es mit Lukrez ausgestaltet und mit eigenen Mitteln in seine neue Rechtsphilosophie menschlicher Erkenntnis gezogen. »Wir haben jetzt das Land der reinen Verstandes nicht allein durchreist, und jeden Teil davon sorgfältig in Augenschein genommen, sondern es auch durchmessen, und jedem Dinge auf demselben seine Stelle bestimmt. Dieses Land aber ist eine Insel, und durch die Natur selbst in unveränderliche Grenzen eingeschlossen. Es ist das Land der Wahrheit (ein reizender Name), umgeben von einem weiten stürmischen Ozeane, dem eigentlichen Sitze des Scheins, wo manche Nebelbank, und manches bald wegschmelzendes Eis neue Länder lügt, indem es den auf Entdeckungen herumschwärmenden Seefahrer unaufhörlich mit leeren Hoffnungen täuscht, ihn in Abenteuer verflechtet, von denen er niemals ablassen und sie doch auch niemals zu Ende bringen kann.« (A 235–236)59 Die Insel sei das einzige Land des Anbaus; es bleibe zu fragen, »unter welchem Titel60 wir denn selbst dieses Land besitzen, und uns wider alle feindselige Ansprüche gesichert halten können.« (A 236) Muß es nicht heißen »feindselige Angriffe«? Nein, der Text biegt von der kriegerischen kritik der reinen vernunft: der gerichtshof | 303

Aggression zur rechtlichen Vernunftnatur des Menschen ab und spricht von »feindlichen Ansprüchen«, also falschen, nicht deduzierbaren Rechtstiteln. Zur Erläuterung: »Kann er aber nicht unterscheiden, ob gewisse Fragen in seinem Horizonte liegen, oder nicht, so ist er niemals seiner Ansprüche und seines Besitzes sicher, sondern darf sich nur auf vielfältige beschämende Zurechtweisungen Rechnung machen, wenn er die Grenzen seines Gebiets (wie es unvermeidlich ist) unaufhörlich überschreitet, und sich in Wahn und Blendwerke verirrt.« (A 238) Die Rede von den Ansprüchen oder auch Anmaßungen ist dem Zivilrecht entnommen: »praetentio«, wie gleich erläutert werden soll; Feinde jedoch gibt es vor und außerhalb des Zivilzustandes – die Wendung »feindselige Ansprüche« markiert genau die Ambivalenz der Sache. Im Paralogismen-Kapitel wird die Insel-Metapher aufgenommen; die Kritik befreie uns von dem dogmatischen Blendwerk und schränke unsere spekulativen Ansprüche auf das Feld möglicher Erfahrung ein, »nicht etwa durch schalen Spott über so oft fehlgeschlagene Versuche, oder fromme Seufzer über die Schranken unserer Vernunft, sondern vermittels einer nach sicheren Grundsätzen vollzogenen Grenzbestimmung derselben, welche ihr nihil ulterius mit größter Zuverlässigkeit an die herkulischen Säulen heftet, die die Natur selbst aufgestellt hat, um die Fahrt unserer Vernunft nur so weit, als die stetig fortlaufenden Küsten der Erfahrung reichen, fortzusetzen, die wir nicht verlassen können, ohne uns auf einen uferlosen Ozean zu wagen, der uns unter immer trüglichen Aussichten, am Ende nötigt, alle beschwerliche und langwierige Bemühung, als hoffnungslos aufzugeben.« (A 395–396) Mit ökonomischrechtlichem Aspekt gegen David Hume: »Ein völliger Überschlag aber seines ganzen Vermögens und die daraus entspringende Überzeugung der Gewißheit eines kleinen Besitzes, bei der Eitelkeit höherer Ansprüche, hebt allen Streit auf, und bewegt, sich an einem eingeschränkten, aber unstrittigen Eigentume friedfertig zu begnügen.« (A 768) Die »Rechtslehre« von 1797 sekundiert: Es sei »das gemeinsame Interesse Aller, im rechtlichen Zustande zu sein« (VI 311,16–17). Der »status naturalis« war ein Zustand der Rechtlosigkeit, »wo, wenn das Recht streitig (ius controversum) war, sich kein kompetenter Richter fand, rechtskräftig den Ausspruch zu thun.« (VI 312,24–27) Die KrV ist der kompetente Gerichtshof, vor dem in 304 | kapitel 

gesicherten Grenzen über Besitzansprüche befunden wird; mutatis mutandis: die Insel ist die Erscheinungswelt, innerhalb deren jetzt legitime Erkenntnisansprüche erhoben werden können. Zum Kontrast: Die KrV ist kein Buch der Landwirtschaft, in dem gezeigt wird, was man bei sandigem und was bei lehmigem Boden anbauen kann; es zielt nicht auf die Erkenntnis der Gegenstände direkt, sondern auf die grundsätzliche Möglichkeit und Unmöglichkeit menschlicher öffentlichkeitsfähiger Erkenntnisprätentionen. Die eingehegte Erkenntnisinsel ist der »mundus sensibilis«, der durch die Staatsgründung zur rechtskräftigen Aneignung freigegeben wird. Der junge Kant war noch anderer Meinung, er schlug sich auf die Seite der kühnen Seefahrer mit ihrem »plus ultra«. Zu Beginn der Monadologia physica (1756) heißt es, in der Naturwissenschaft sei es ein anerkannter Grundsatz, sich keinen Erdichtungen hinzugeben, sondern alle Erkenntnis auf Experiment und Geometrie zu gründen. Dies habe aber einige dazu geführt, daß sie bei der Suche nach der Wahrheit sich nicht mehr auf das hohe Meer wagten (I 475,9–11). Und 1763 folgt im Beweisgrund zu einer Demonstration des Daseins Gottes daßelbe Bekenntnis: Um zur theoretischen Erkenntnis Gottes »zu gelangen, muß man sich auf den bodenlosen Abgrund der Metaphysik wagen. Ein finsterer Ocean ohne Ufer und ohne Leuchtthürme, wo man es wie der Seefahrer auf einem unbeschifften Meere anfangen muß, welcher, sobald er irgendwo Land betritt, seine Fahrt prüft und untersucht, ob nicht etwa unbemerkte Seeströme seinen Lauf verwirrt haben, aller Behutsamkeit ungeachtet, die die Kunst zu schiffen nur immer gebieten mag.« (II 65,25– 66,6) Eine Notiz in den Beobachtungen über das Gefühl des Schönen und Erhabenen klingt wie ein Zurückschrecken: »Wo finde ich feste Punkte der Natur die der Mensch niemals verrüken kann ihm die Merkzeichen geben können an welches Ufer er sich zu halten hat« (XX 46,13–15). Von einer Rechtsfrage ist hier wie überhaupt vor 1781 keine Rede. Auch die Prolegomena kennen die Seefahrt quer über den Globus, ohne sich auf einer Insel in Sicherheit zu bringen: »[…], statt dessen es bei mir darauf ankommt, ihm einen Piloten zu geben, der nach sicheren Principien der Steuermannskunst, die aus der Kenntnis des Globus gezogen sind, mit einer vollständigen Seekarte und einem Compaß versehen, das Schiff sicher führen könne, kritik der reinen vernunft: der gerichtshof | 305

wohin es ihm gut dünkt.« (IV 262,7–11) Aber die Prolegomena sind schon mit einer anderen Zielrichtung als die KrV von 1781 verfaßt, und zu ihnen paßt die entdramatisierte moderne Seefahrt, für die die Fahrt über den Atlantik kein großes Problem darstellt. 1781: Die Insel der Wahrheit, des sicher zu bestimmenden Besitzes, auf dem Erkenntnis angebaut oder erworben (als acquisitio originaria vel derivativa) werden kann. Der Ozean ist dagegen mit dem Nomos der Erde nicht zu bestimmen, sondern mit dem Kompaß der Moral, wie es in der GMS (IV 404,1; s. a. 262,10)61 heißt. Die Kantische Metaphorik zwingt zu diesem Schluß: Die Orientierung auf dem Lande geschieht nach sinnlichen Merkzeichen, die auf dem Ozean fortfallen, nur die Magnetnadel und die Sterne können hier den Weg anzeigen und zwingen zu einer gänzlich anderen Orientierung. Wie in der »kopernikanischen Wende« ein duales Gegenüber aus theoretischer Erdrotation und heliozentrischer Moral gebildet wird, so hier aus dem Kontrast von Insel und Ozean. Es sind jeweils unterschiedliche in sich abgeschlossene Systeme, in denen sich der Mensch hier und dort orientiert; die theoretische Erkenntnis hat nichts mit der Moral zu tun, und die Moral duldet keine Einrede der Erd- und Landbewohner. In der Erkenntnis der Naturphänomene befaßt sich der Mensch mit Erscheinungen und ihrer verstandesgeregelten Gesetzlichkeit, in der Moral dagegen mit sich und anderen Wesen als Personen, und er hat das Recht, die Realien zu postulieren, die er zur Pflichtausübung braucht, z. B. Gott und Unsterblichkeit. Natur und Freiheit stehen einander 1788 diametral mit einer je eigenen in sich abgeschlossenen Gesetzlichkeit gegenüber, und es wird konsequent in den späten achtziger Jahren die Klugheit ganz in den theoretischen Teil der Philosophie überstellt, weil sie kein Teil der moralischen Gesetzgebung ist. Erde oder Sonne, Insel oder Ozean – es gibt kein erkennbares Kontinuum, das in der Manier der Leibniz-Wolffianer oder auch Herders oder eigentlich aller anderen Philosophen einen Übergang von der einen zur anderen Dimension unseres Daseins ermöglicht. Und doch ist es eine einzige Welt, ein einziger »mundus sensibilis atque intelligibilis«, in dem wir leben; diese Welt-Einheit von Erde und Sonne, von Land und Meer wird für den Betrachter durch die Metapher mühelos hergestellt, für den Autor und Leser zweier Kritiken steckt jedoch der Dualismus voller Probleme. 306 | kapitel 

Die Verbindung zwischen der Logik der Wahrheit oder des Scheines und dem juridischen Charakter der KrV lässt sich durch folgende gedankliche Engführung zeigen. Die Erkenntnis-Insel mit ihrer Grenze gegen den Ozean kann, so zeigte sich schon implizit, überführt werden in die besiedelbare Erdkugel mit ihrer Grenze gegen den Himmel. Es gibt einen ursprünglichen Gemeinbesitz der Erde »wegen der Einheit aller Plätze auf der Erdfläche als Kugelfläche: weil, wenn sie eine unendliche Ebene wäre, die Menschen sich darauf so zerstreuen könnten, daß sie in gar keine Gemeinschaft mit einander kämen, diese also nicht eine nothwendige Folge von ihrem Dasein auf Erden wäre.« (VI 262,22–26) Die Kugelgestalt ermöglicht und erzwingt auf Grund ihrer limitierten Oberfläche das Privat- und damit auch das Öffentliche Recht; analog ermöglichen die Anschauungsformen von Raum und Zeit eine apriori Limitierung der menschlichen Erkenntnis; die Ontologie dagegen spiegelte eine grenzenlose Fläche vor und verhinderte damit den Erwerb wahrer Erkenntnis. Locke unterscheidet keinen faktischen vom rechtlichen Besitz, und genau hier setzt Kant mit seiner transzendental-rechtlichen Deduktion ein. Einen doppelten Gebrauch des Grenzbegriffs wird man auch Locke zugestehen; einerseits findet die erkennende Vernunft ihre Grenze dort, wo das Festland und seine nächste Umgebung endet, andererseits ist es die Vernunft, die innerhalb ihrer philosophischen Erkenntnis die Grenze zieht. Der Gerichtshof, so zeigte sich oben, enthält genau diese Äquivokation. Locke und Kant wissen, daß sie mit ihrer Absage an das »plus ultra« der stoischen Philosophie folgen, die die Schiffahrt über das Meer als widernatürlich, gewissermaßen gegen die Ökologie des Menschen und der Natur gerichtet darstellte.62 Es kommt jedoch eine weitere überraschende, bisher nicht entdeckte Inspirationsquelle hinzu. In der KrV sei, so heißt es, nur die Rede davon, »wie weit die Vernunft es wohl in ihrer von allem Interesse abstrahierenden Spekulation bringen könne, und ob man auf diese überhaupt etwas rechnen, oder sie lieber gegen das Praktische gar aufgeben müsse. Anstatt also mit dem Schwerte drein zu schlagen, so sehet vielmehr von dem sicheren Sitze der Kritik diesem Streite geruhig zu, der für die Kämpfenden mühsam, für euch unterhaltend, und bei einem gewiß unblutigen Ausgange, für eure Einsichten ersprießkritik der reinen vernunft: der gerichtshof | 307

lich ausfallen muß.« (A 747) Kant bezieht sich auf Lukrez, und zwar auf eine der berühmtesten Stellen der lateinischen Literatur überhaupt. »Süß ist’s, anderer Not bei tobendem Kampfe der Winde / Auf hochwogigem Meer vom fernen Ufer zu schauen; / Nicht als könnte man sich am Unfall andrer ergötzen, / Sondern dieweil man es sieht, von welcher Bedrängnis man frei ist. / Süß auch ist es, zu schaun die gewaltigen Kämpfe des Krieges / In der geordneten Schlacht, vor eignen Gefahren gesichert. Aber süßer ist nichts, als die wohlbefestigten heitern / Tempel innezuhaben, erbaut durch die Lehre der Weisen: / Wo du hinab kannst sehn auf andere, wie sie im Irrtum / Schweifen, immer den Weg des Lebens suchen und fehlen; / Streitend um Geist und Witz, um Ansehn, Würden und Adel; / Tag und Nacht arbeitend mit unermüdetem Streben, / Sich zu dem Gipfel des Glücks, empor sich zu drängen zur Herrschaft.«63 Kant folgt Lukrez in den drei Ebenen des Bildes: Er sieht erstens die »Analytik« als das Festland im tobenden Meer; zweitens gibt es die Schlacht der Kämpfenden, und drittens die Beziehung auf den nicht mehr metaphorischen Sachverhalt: Philosophen streiten sich in einem Feld außerhalb des Landes der Wahrheit – Epikur / Kant können dem getrost zusehen, weil weder ein Sieg noch eine Niederlage in diesen Scheingefechten zählen. Dies alles mutatis mutandis: Das Festland ist zu einer Insel geworden; der Streit der Kämpfenden steht bei Kant für den Naturzustand im Gegensatz zu dem von der KrV errichteten Gerichtshof und »status civilis«, und die theoretische Lehre ist nur der negative Teil des Ganzen, denn nur für die Spekulation ergibt sich die geschilderte Szene, mit der sich Epikur und Lukrez zufrieden geben; Kant dagegen blickt hinüber zur reinen praktischen Vernunft, die allererst die Interessen der menschlichen Vernunft befriedigt; in diesem zweiten Teil ist der Atomismus und der durch ihn begründete Seelenfriede untauglich, denn er gibt keine Antwort auf die Fragen, in denen sich alles Interesse unserer Vernunft vereinigt (A 804–805). Der auf der atomistischen Lehre begründete Seelenfriede ist die Ruhe des Nihilismus, wie schon vor Kant diagnostiziert wurde.64 Die eigene Lösung sieht so aus, daß wir mit der Selbsterkenntnis der Vernunft vorerst die Erfahrungserkenntnis gegen den Skeptizismus sichern, die Ideen der Vernunft als dazu notwendige regulative Leitbegriffe gewinnen und die Einsicht haben, daß 308 | kapitel 

sich hierin nicht alle objektive Realität erschöpfen muß, sondern die Vernunft in ihrem praktischen Gebrauch über eine objektive Realität praktisch-freiheitlicher Art verfügen kann. »[…] oder die Kritik wird den dogmatischen Schein leicht entdecken, und die reine Vernunft nötigen, ihre zu hoch getriebenen Anmaßungen im spekulativen Gebrauch aufzugeben und sich innerhalb der Grenzen ihres eigentümlichen Bodens, nämlich praktischer Grundsätze, zurückzuziehen.« (A 794) Hier also ein neues Eigentum der Vernunft, das nicht auf der phänomenalen Insel liegt, sondern in der noumenalen Realität der Freiheit und ihrer Gesetze. Der Rückzug vom Ozean zur wohlbebaubaren Insel wird wiederholt im Bescheidenheitstopos, im eigenen Werk nur den Boden zu sondieren und zu festigen für die Großgebäude der Meisterdenker, »[…] ’tis ambition enough«65; das Echo bei Kant: »[…] beschäftigen wir uns jetzt mit einer nicht so glänzenden, aber doch auch nicht verdienstlosen Arbeit, nämlich, den Boden zu jenen majestätischen sittlichen Gebäuden eben und baufest zu machen, in welchem sich allerlei Maulwurfsgänge einer vergeblich, aber mit guter Zuversicht, auf Schätze grabenden Vernunft vorfinden, und jenes Bauwerk unsicher machen.« (A 319) Wozu der umständliche, auf den Wegen langer Zitate geführte Nachweis, daß John Locke für Kant der Protokritiker ist, dem er z. T. wörtlich folgt? Uns interessiert die gemeinsame Position der beiden Privatrechtsphilosophen; Kant entdeckte, daß Locke, der Philosoph der Glorious Revolution, schon 1690 die anti-absolutistischen Ideen vertreten hat, zu denen er selbst in seiner Metaphysikkritik mit deutscher Verspätung gelangt. Kants metaphysische Revolution erneuert die Revolution von Locke und übertrumpft sie mit dem »alles aber aus Prinzipien«.

Die Rechtlichkeit der Deduktion der reinen Verstandesbegriffe Nach den bisherigen Darlegungen können wir mit folgendem Gedankenaufriß der KrV rechnen: Mit der Raum-Zeit-Lehre (und der durch sie notwendigen Differenz von Ding an sich und Erscheinung) und der allgemeinen Logik, die sich (auch) in der Urteilstafel findet, also mit Anschauung und Verstand, sind die reinen oder kritik der reinen vernunft: der gerichtshof | 309

apriorischen, erkenntnisermöglichenden (also transzendentalen) Quellen der menschlichen Erkenntnis angegeben, die nicht strittig sind. Es folgen die beiden Rechtszentren, erstens das quid juris der Deduktion in der Analytik des Verstandes und zweitens der Gerichtshof der Vernunft in der Dialektik. Der Erkenntnisanspruch in der Beziehung der Kategorien auf die Anschauung lässt sich als rechtens ausweisen, der Ausgriff der Vernunft in der Metaphysik auf Gegenstände außerhalb jeder menschlichen Anschauung muß jedoch vom Gerichtshof abgewiesen werden. Projizieren wir diese Anlage in die Rechtslehre von 1797, so gehören Anschauung und Verstand zum nicht-strittigen, nicht deduzierbaren inneren Mein und Dein,66 die Deduktion nimmt den Platz des Privatrechts ein, der Gerichtshof der Dialektik gehört dagegen in das Öffentliche Recht. In der Methodenlehre werden wir belehrt über die Notwendigkeit der juridischen Verfassung der Kritik. Betrachtet man dagegen, wie das System der alten Metaphysik durch die stoische Gliederung von Logik, Physik und Ethik überbaut und destruiert wird, dann stehen reine Anschauung und reiner Verstand für das vorausgesetzte Organum, die Analytik für die Erkenntnis der Natur und die Dialektik für den nunmehr freien Platz, auf dem die Ethik bzw. Moral anzusiedeln ist. Für die Interpretation, daß die nur formale Anschauung von Raum und Zeit zur nichtstrittigen Grundausstattung der menschlichen Erkenntnis gehört, spricht einmal die Tatsache, daß in der transzendentalen Ästhetik kein Verweis auf eine Deduktion erscheint.67 Das topologische Parallelstück68 in der KpV ist der kategorische Imperativ, von dem nun ausdrücklich gesagt wird, daß er nicht deduzierbar ist (V 47,15–20). Wir müssen beides als Faktum des Bewusstseins hinnehmen, die Form unserer Sinnlichkeit, nämlich Raum und Zeit, und die Form unserer praktischen Vernunft, nämlich das Freiheitsgesetz. Am Beginn des zentralen Kapitels »Von der Deduktion der reinen Verstandesbegriffe« (A 84) wird der Leser in die juridische Form des zentralen Beweisstückes der KrV eingeführt: »Die Rechtslehrer, wenn sie von Befugnissen und Anmaßungen reden, unterscheiden in einem Rechtshandel die Frage über das, was Rechtens ist, (quid juris) von der, die die Tatsache69 angeht, (quid facti) und indem sie von beidem Beweis fordern, so nennen sie den ersteren, 310 | kapitel 

der die Befugnis oder auch den Rechtsanspruch dartun soll, die Deduktion.« (A 84)70 Und: »Ich nenne daher die Erklärung der Art, wie sich Begriffe a priori auf Gegenstände beziehen können, die transzendentale Deduktion derselben, und unterscheide sie von der empirischen Deduktion, welche die Art anzeigt, wie ein Begriff durch Erfahrung und Reflexion über dieselbe erworben worden, und daher nicht die Rechtmäßigkeit, sondern das Faktum betrifft, wodurch der Besitz entsprungen.« (A 85) »Erfahrung und Reflexion über dieselbe« – das ist John Locke mit seiner »sensation and reflection« und der »historical plain method«71. Locke hat Fakten aufgewiesen, aber keine Rechtstitel (»Befugnis«; »Rechtsanspruch«) und deren Notwendigkeit. Wir können die Ansätze von Locke und Kant in ihrer Verschiedenheit unter die Begriffe von Fremd- und Selbstbestimmung bringen. Locke lässt sich durch das Sinnen- und das davon abhängige Reflexionsmaterial als das »original« der Erkenntnis von außen vorgeben, wie es mit dem Umfang und der Grenze menschlicher Erkenntnis bestellt ist, Kant dagegen bezieht sich auf die in uns liegenden Formen von Sinnlichkeit und Verstand und kann dadurch die Entscheidung ganz in das erkennende Subjekt selbst legen: Umfang und Grenze menschlicher Erkenntnis bestimmen sich in und durch uns in der einfachen Weise, daß wir dort und so weit erkennen können, wie sich die formalen Elemente des Denkens (reine Verstandesbegriffe) auf die formale Anschauung beziehen. Der Schritt von Locke zu Kant führt somit von der faktischen Fremdbegrenzung zur prinzipiellen Selbstbegrenzung. Wir verfügen über die Formen der Anschauung und die Formen des Denkens; Erfahrung und damit theoretische Erkenntnis dessen, was unter den Bedingungen der Formen unserer Anschauung erscheint, wird dadurch möglich, daß die Bedingungen der Möglichkeit der Erfahrung sich als die Bedingungen der Möglichkeit der Gegenstände der Erfahrung erweisen lassen. Das bedeutet, daß unsere Form der Erfahrungserkenntnis die Ontologie von selbständigen Dingen als den fremden Objekten, auf die wir uns beziehen, aufhebt und durch eine Erfahrungserkenntnis der Erscheinungen ersetzt. Wenn Kant von Gegenständen unserer Erkenntnis spricht, so ist immer darauf zu achten, daß sie keine Gegenstände im Sinn kritik der reinen vernunft: der gerichtshof | 311

von Platon und Aristoteles sind, es geht nicht um ein Weberschiffchen oder eine Schere als solche. Beides interessiert Kant so wenig wie es einen jetzigen theoretischen oder experimentierenden Physiker interessiert. Die Erkenntnis richtet sich einzig auf willkürlich ausgewählte Komplexe von extensiven, intensiven und kausalen Relationen. Wähle ich das Weberschiffchen oder das Planetensystem aus, so wird es als das mannigfaltige Gegebene bezeichnet; die physikalische Bestimmung (der räumlichen und zeitlichen Maße, der Materialbeschaffenheit und kausalen Beziehungen) muß der Wissenschaftler am Leitfaden der Grundsätze selbst vollziehen. Von den einfach gegebenen Objekten der Ontologie (von Platon bis Christian Wolff ) könnten wir niemals eine konstante Erkenntnis gewinnen, weil wir in unserer Erkenntnis von ihnen und ihrer etwaigen Regel- oder Unregelmäßigkeit abhängig wären. Damit aber ist auch das Erkenntnisurteil seiner binären objektiven Beziehung enthoben und wird zum Kontrollverfahren, ob und wie das in Raum und Zeit mathematisch und durch den Verstand mit den Relationskategorien dynamisch bestimmbare Etwas in das Totum möglicher Erfahrung passt. »Es ist also der Verstand nicht bloß ein Vermögen, durch Vergleichung der Erscheinungen sich Regeln zu machen: er ist selbst die Gesetzgebung für die Natur […].« (A 126, auch A 127) Der menschliche Verstand ist die Gesetzgebung, er gibt der Natur qua Erscheinung die Gesetze – und nicht Gott, wie für jeden zeitgenössischen Leser im Sub- und Zwischentext stand. 1770 gab es noch eine Erkenntnis der Substanzenwelt und der höchsten Substanz, Gottes; durch diesen Halt waren die Erscheinungen, die sich unseren Sinnen bieten, in ihrer Gesetzlichkeit transzendent abgesichert. 1781 ist dagegen der Rückgriff auf ein isomorphes An-sich der Erscheinungswelt nicht mehr möglich, und die Stiftung einer gesetzlichen Ordnung ist eine transzendentale Funktion des menschlichen Verstandes – ein prometheischer Akt, wie er kühner nicht zu denken ist. Gott ist aus der Erscheinungskonstitution und -erkenntnis ausgeschlossen, an seine Stelle tritt der Mensch mit der Formgebung seiner Anschauung und seiner Verstandesbegriffe. Aber eben dadurch wird, wie wir sahen, die Naturerkenntnis zur Selbsterkenntnis, zur Heautognosie, weil die Erscheinungen in uns sind und nur nach Maßgabe unserer Anschauungsformen und unserer Kate312 | kapitel 

gorien und Grundsätze erkannt werden können. Das Analogon in der Rechtslehre ist der ursprüngliche Gemeinbesitz des Bodens, der den Menschen zukommt (nicht Gott, den Tieren oder den Marsmigranten) und dem Erwerb von äußerem Mein und Dein zugrunde liegt. Die Reflexion 5636, vermutlich eine Vorarbeit der KrV, beginnt mit dem Satz: »Quaestio facti ist, auf welche Art man sich zuerst in den Besitz eines Begrifs gesetzt habe; quaestio iuris, mit welchem Recht man denselben besitze und ihn brauche.« (XVI 267,6–9) Wie in der KrV nehmen auch hier die nachfolgenden Ausführungen den Rechtsgedanken nicht wieder auf. »[…] mit welchem Recht man denselben besitze« – hier wird die »metaphysische Deduktion« der Verstandesbegriffe angetönt (implizit A 79), »und ihn brauche«: die transzendentale Deduktion. Und man beachte die Formulierung »auf welche Art man sich zuerst in den Besitz eines Begrifs gesetzt habe« und vergleiche sie mit der parallelen Aussage im § 2 der »Rechtslehre«: »weil wir zuerst sie [sc. gewisse Gegenstände, RB] in unseren Besitz genommen haben«, VI 247,6) Das »zuerst« gibt natürlich die »prima« occupatio wieder. Wir befinden uns am Anfang des »Privatrechts«. Sowohl in der Analytik der KrV wie auch im Privatrecht der »Metaphysischen Anfangsgründe« steht das Problem der notwendigen Verbindung zweier Dinge im Vordergrund; in der KrV soll ein Begriff paradoxerweise mit einer Anschauung notwendig verknüpft sein, im Privatrecht dagegen soll eine Person mit einem ihr äußeren Gegenstand so verbunden werden, daß sie durch die fremde, nicht eingewilligte Handhabung dieses Äußeren selbst in ihrem Recht lädiert wird. Wie sind synthetische Sätze apriori möglich? Wie ist ein mir äußeres Mein möglich? Beide Fragen werden von Kant als strukturidentisch entwickelt. In beiden Fällen haben wir es mit einer Binnenproblematik zu tun, denn im Erkenntnisbereich beziehen sich meine Begriffe auf meine Anschauungen (und nicht die »res extensa« an sich), und im Privatrecht ist vorweg gewährleistet, daß alle zu erwerbenden Sachen in einem Gemeinbesitz der Personen sind, die den Erwerb und Besitz nach bestimmten Regeln vollziehen. Kämen, wie gesagt, Marsbewohner auf den Erdplaneten, hätten die Rechtsregeln ihnen gegenüber so wenig Geltung wie gegenüber den Tieren; beide Klassen von Lebewesen sind apriori vom rechtlikritik der reinen vernunft: der gerichtshof | 313

chen Erwerb und Besitz irdischer Güter ausgeschlossen und können problemlos verjagt werden. Nun brauchen auch Adam ante Evam natam und Robinson vor Freitag adveniens keine Vorlesung über das Privatrecht zu besuchen, weil für sie die Differenz von physischem Besitz und beliebigem Hinlagern einerseits und dem rechtlich legitimen Besitz andererseits keine Bedeutung hat. Man kann mit Kant einen Schritt weiter gehen: Wenn die Erdkugel eine unendliche Fläche wäre, könnten wir jedes Zusammenleben und jeden Konflikt durch ein weiteres Ausweichen vermeiden und brauchten kein Privatrecht und folglich auch kein Öffentliches Recht. Die Begrenztheit der Erdoberfläche als einer Weltall-Insel zwingt die Menschheit jedoch in eine kosmopolitische Einheit und damit zu einer Vernunftlösung der unausweichlichen Konflikte. Die Vernunftlösung soll gewährleisten, daß die Freiheit eines jeden mit der aller anderen nach einheitlichen Gesetzen zusammen bestehen kann. Angewandt auf die KrV: Lockes unendliche Fläche macht eine Bestimmung des Ursprungs, des Umfangs und der Grenzen unserer erwerbbaren Erkenntnis unmöglich, erst die Kugelform der Erde ermöglicht und erzwingt das Kantische Verfahren (A 238)72. Die Behauptungen der Dogmatiker und die Gegenbehauptungen der Empiristen und Skeptiker sind keine Robinson-Rufe auf verschiedenen Inseln, es sind auch keine Sprüche am Stammestisch, sondern Urteile, die sich an eine einheitliche Öffentlichkeit von Menschen als Vernunftwesen richten und einen Anspruch auf Beistimmung erheben. An dieser Vernunfteinheit scheitern sie. Hätten die Menschen keine Vernunft, sondern nur Anschauung und Verstand, so gäbe es für sie zwar Quellen und Umfang der Erkenntnis, jedoch keine Grenzen; sie würden als Polypheme der Naturerkenntnis den Umfang als unbeschränkt ansehen, als Feld immer genauerer Naturforschung, und sie könnten mit dem Grenzbegriff keinen Sinn verbinden, so wenig wie zweidimensionale Wesen die Kugelfläche als limitiert erkennen können. Die Grenze menschlicher Erkenntnis wird erst dadurch thematisierbar, daß sie an ihrer Nichtbeachtung scheitert. Wie der Sündenfall von Kant immer als das Beste gefeiert wurde, was den Menschen passieren konnte (u. a. V 107,27–29), so auch die Hybris der überkommenen Metaphysik. Sie meinte, das Wesen der Seele, der 314 | kapitel 

Welt im Ganzen und Gottes mit theoretischen Begriffen erforschen zu können, und muß jetzt ihren kläglichen Bankrott mit ansehen. Aber im Scheitern erwächst uns unter der Obhut der Vorsehung die Selbsterkenntnis der Vernunft; sie räumt den Platz von der grenzüberschreitenden Theorie und entdeckt sich selbst als reine praktische Vernunft, die ihre intelligible moralische Welt dem mundus sensibilis entgegenstellt.73 Hier versagt jeder Nomos der Erde, jede Landvermessung am Leitfaden der schematisierten Kategorien, und es verbleibt einzig der Kompaß der Freiheit und ihres Gesetzes. Kant wird die Grundstruktur 1790 noch einmal in der Erörterung des Erhabenen verwenden: Im Scheitern unserer theoretischen mathematischen und dynamischen Erkenntniskräfte offenbart sich uns die intelligible Natur unserer moralischen Person. Wo die Natur mit Eklat endet, beginnt für uns das Reich der Freiheit. Aber zugestanden, daß die transzendentale Deduktion der Kategorien zeigt, daß die Erfahrung und damit die Gegenstände der Erfahrung den Gebrauchsregeln unseres Verstandes in seiner Beziehung auf die räumlichen und zeitlichen Formen der Anschauung folgen. Handelt es sich nicht tatsächlich um eine bloße Manufaktur von Erkenntnis, deren einzelne Herstellungsschritte detailliert aufgewiesen werden? Alles transzendental, also apriori und notwendig und somit austauschbar allgemein – was ist jedoch daran das quid juris? Wir können ausschließen, daß die Beziehung des Verstandes zum Mannigfaltigen der Anschauung eine rechtliche Konnotation hat. Mutatis mutandis gilt hier, was Kant im Sachenrecht der Rechtslehre von 1797 schreibt, es gebe eine »insgeheim obwaltende[n] Täuschung, Sachen zu personificiren und, gleich als ob jemand sie sich durch an sie verwandte Arbeit verbindlich machen könne, […] unmittelbar gegen sie sich ein Recht zu denken.« (VI 269,6–9) Eine Rechtsbeziehung ließe sich weder gegenüber den Dingen an sich in der Ontologie herstellen noch jetzt gegenüber den Objekten der Erfahrungserkenntnis. Die Rechtsbeziehung referiert zwar auf ein Etwas, benötigt jedoch einen Adressaten, der als Person zu denken ist und gegen den sich der Rechtsanspruch richtet. Es wird in den beiden Fassungen der Deduktion kein Gebrauch von rechtlichen Vorstellungen gemacht;74 man lese besonders die beiden Zusammenfassungen am Schluß, in denen nur die Korrelation des einheitlichen kritik der reinen vernunft: der gerichtshof | 315

Verstandes und des Mannigfaltigen der Anschauung als die beiden notwendigen und hinreichenden Bedingungen einer möglichen Erfahrung angesprochen werden. Kein Wort von einer Rechtsaufgabe. Wir müssen, um den juridischen Charakter der transzendentalen Deduktion zu dechiffrieren, noch einmal vom Text zurücktreten und uns vergegenwärtigen, daß die KrV sich selbst als Gerichtshof bezeichnet (A XI–XII). Der Gerichtshof ist in der Analytik so konzipiert, daß er nicht bei einem Streit um bestimmte Erkenntnisprätentionen zusammentritt, sondern seine Funktion darin sieht, »die rechte der Menschheit herzustellen« (XX 44,16). Das ursprüngliche Recht der Menschheit, wirkliche Erfahrungserkenntnis zu erwerben, ist durch den Empirismus und Skeptizismus auf der einen und die rationalistische Metaphysik auf der anderen Seite außer Kraft gesetzt worden. Die Ontologie forderte vom Menschen, die Dinge als Dinge an sich zu erkennen, sie scheiterte und macht erst dem Lockeschen Empirismus, dann konsequent dem Skeptizismus und endlich der unnatürlichen Resignation Platz. So sichert der Gerichtshof die Vernunft »bei ihren gerechten Ansprüchen« (A XI), indem sie ihr das Terrain zuweist, auf dem sie tatsächlich von ihrem Verstand Gebrauch machen kann und keine den Erwerb und Besitz störenden »grundlosen Anmaßungen« (A XI–XII) des Dogmatikers und Skeptikers zu fürchten braucht und die Bestimmung seines Erkenntnisvermögens realisieren kann. Der Skeptiker wird von Kant ausdrücklich in den Prolegomena (1783) genannt; es ist David Hume, der nicht nur die Möglichkeit der Metaphysik, sondern auch der Erfahrungserkenntnis mit dem exemplarischen Zweifel an der Kausalrelation als einer objektiv notwendigen Verknüpfung von Ereignissen außer Kraft setzte. Hier macht sich die KrV selbst zum Anwalt des Rechts der Menschheit, eine gültige Entscheidung zu bekommen; entsprechend treten im Prozeß keine streitenden Parteien auf, sondern die rechtliche Deduktion, die »probatio juris«, wird vom Philosophen im Namen der Menschheit geführt. Damit wird auf die Analytik der KrV verwiesen; Humes Problem werde in der transzendentalen Deduktion der Kategorien gelöst (IV 260,18– 261,5). In der Streitschrift gegen Eberhard, Über eine Entdeckung, nach der alle neue Kritik der reinen Vernunft durch eine ältere entbehrlich 316 | kapitel 

gemacht werden soll (1790), stellt Kant noch einmal die Analytik der KrV in eine genaue Parallele zum Privatrecht und operiert mit der naturrechtlichen Vorstellung von angeborenem Vermögen versus erworbenen Erkenntnissen und bei den letzten wiederum mit der Unterscheidung von urspünglicher und abgeleiteter Erwerbung. Wie es ein angeborenes Recht in Form des inneren Mein und Dein gebe, so den angeborenen Grund im Subjekt (VIII 221,36–222,2 und 222,28–34) für die Möglichkeit der Erwerbshandlung, die nun entweder »originaria« (VIII 223,3) oder »derivativa« (VIII 221,37) sei. Im Einzelnen nimmt Kant 1790 Spezifikationen vor, die genau auf die beiden Auflagen der KrV zurückbezogen werden müssen. Gegen den Leibnizianer Eberhard steht Kant auf der Seite Lockes, der sich gegen die Philosophie der angeborenen Erkenntnisse wendet und den Besitz unter die Bedingung des Selbsterwerbs stellte. Kant stellt diese Position nur genauer innerhalb des Privatrechts dar.75 – Hier wird ein kohärentes juridisches Vokabular benutzt, das sich nicht als bloße Metapher abtun läßt; worin jedoch die Notwendigkeit liegt, zur Rechtsebene überzugehen, scheint noch nicht entdeckt zu sein. In der Analytik der KrV geht es um den Abweis der Prätention des Skeptikers; in der Dialektik folgt der komplementäre Abweis des Anspruchs der Dogmatiker. In seinem Brief an Christian Garve vom 1798 hatte Kant darauf hingewiesen, daß er durch das Problem der 3. bzw. 4. Antinomie aus seinem philosophischen Schlaf gerissen worden sei. Garve hatte seine Uebersicht der vornehmsten Principien der Sittenlehre, von dem Zeitalter des Aristoteles an bis auf unsre Zeiten (Breslau 1798) an Kant gesendet; dieser antwortete am 21. September auf die Zueignung und einen beigefügten Brief: »Beym flüchtigen Durchblättern desselben [sc. des Buches, RB] bin ich auf die Note S. 339 gestoßen: in Ansehung deren ich protestiren muß. – Nicht die Untersuchung vom Daseyn Gottes, der Unsterblichkeit etc. ist der Punct gewesen von dem ich ausgegangen bin, sondern die Antinomie der r[einen] .V[ernunft]: Die Welt hat einen Anfang – : sie hat keinen Anfang etc. bis zur vierten: Es ist Freyheit im Menschen, – gegen den: es ist keine Freyheit, sondern alles in ihm ist Naturnothwendigkeit; diese war es welche mich aus dem dogmatischen Schlummer zuerst aufweckte und zur Critik der Vernunft selbst hintrieb, um das Scandal des scheinbaren Wiederkritik der reinen vernunft: der gerichtshof | 317

spruchs der Vernunft mit ihr selbst zu heben.« (XII 257,31–258,3)76 1788 wird die Antinomie der reinen Vernunft als die wohltätigste Verirrung bezeichnet, »in die die menschliche Vernunft je hat gerathen können, indem sie uns zuletzt antreibt, den Schlüssel zu suchen, aus diesem Labyrinthe herauszukommen […].« (V 107,27– 29)77 Die Analytik befreit die Erfahrungserkenntnis von der Gefährdung durch den Skeptizismus und sein Zuwenigwissen, die Dialektik befreit dagegen die Moral vom Zuvielwissen der Dogmatiker. In beiden Gebieten, der Natur und der Freiheit, setzt die KrV die Rechte der Menschheit auf wahre Naturerkenntnis und auf freiheitsgesetzliches Handeln ein, zu dem sie bestimmt ist. Zur kompletten Rechtssicherheit der Naturerkenntnis gehört nicht nur der Nachweis, daß der Verstand sich tatsächlich auf Anschauung beziehen kann, sondern der weitergehende, daß ein Verstandesgebrauch nur in dieser Bezugnahme möglich ist. Sonst könnte hinterrücks der alten Ontologie wieder Tür und Tor geöffnet werden, indem sich irgendwie auch eine Bezugnahme der Erkenntnisvermögen auf die Dinge an sich als möglich erweist. Diese zweite, schärfere Behauptung könnte auch dadurch ersetzt oder wenigstens ergänzt werden, daß ein derartiger ontologischer Anspruch tatsächlich scheitern muß. Kant führt dies nicht durch die explizite Widerlegung der metaphysica generalis (Ontologie), sondern der drei Formen der metaphysica specialis (Psychologie, Kosmologie, Theologie) in der Dialektik vor. Hier ist zugleich ein anderes Recht der Menschheit gegen eine despotische Entmündigung (wieder) herzustellen, das Recht der eigenen Sittlichkeit. Um es hier schon vorwegzunehmen: Moral ist nach Kant nur möglich unter der Bedingung des theoretischen Agnostizimus im Hinblick auf Gott, Freiheit und Unsterblichkeit. Tatsächlich wird die Theorie hier nicht nur eingeschränkt, um dem Glauben Platz zu machen (B XXX), sondern zuerst und vor allem, um die Moral zu ermöglichen. So gelangen wir im Vorblick zu der Systematik »der Alten«, die Kant auch für sich reklamiert: Logik (und Ästhetik) als formale Vorgaben, dann die Physik (Analytik, Erkenntnis der Erscheinungen) und Moral, die letzteren ausgeführt in einer Metaphysik der Natur und einer Metaphysik der Sitten (IV 387–388). Und hier liegt vermutlich der Grund der Notwendigkeit, im Epistemischen juridisch zu argumentieren: 318 | kapitel 

Die Moral hat einen alleinigen Rechtsanspruch auf die Ideen, die sie für ihre Realisierung benötigt. Hierauf werden wir zurückkommen müssen. Der dogmatische Rationalismus von Platon bis zu Wolff und Baumgarten hatte zu einer Metaphysik geführt, in der nach einem allgemeinen Teil, der Ontologie oder »metaphysica generalis«, drei Teile einer »metaphysica specialis« folgten, die von drei substantiell verschiedenen Gegenständen handelten: von der menschlichen Seele, von der Welt und von Gott; als Disziplinen sind es die rationale (und häufig auch empirische) Psychologie, die Kosmologie und die natürliche Theologie. Dieses vollständige System, das sich nicht gegen den Skeptizismus wehren konnte, soll von der kritischen Philosophie durch eine skepsisresistente neue Systematik ersetzt werden. In ihr wird das erkennende Ich so bestimmt, daß es zwar WeltErscheinungen in den eigenen Formen der Anschauung, Raum und Zeit, mit den eigenen Kategorien und Grundsätzen zu erkennen vermag, nicht aber die Welt im ganzen und an sich und auch nicht die beiden weiteren Objekte der reinen Vernunft, Gott und die eigene substantielle Seele. Die aus dem Bereich der erkennbaren Gegenstände ausgeschlossenen Entitäten lassen sich zwar denken, müssen sogar notwendig gedacht werden, wir können sie jedoch nicht erkennen. Kants Doktrin läuft darauf hinaus, daß die erkennbare Welt der äußeren Erscheinungen transzendentalphilosophisch dem erkennenden Subjekt »einverleibt« (A 76; V 105,12) wird, die Erscheinungen sind also, transzendental gesehen, »in uns«. Unter dieser subjektiven Restriktion ist somit eine wahre Erkenntnis nicht der Dinge an sich, sondern der subjektiven Erscheinungen möglich. Gott, Freiheit und die nicht-phänomenale Seele sind dagegen dem Zugriff der menschlichen Erkenntnis entzogen; sie gewinnen jedoch eine objektiv praktische Realität in der Moral durch die reine praktische Vernunft, deren unbedingtes Selbst-Gesetz nur dann befolgbar ist, wenn wir auf ein Weiterleben in einem Gottesreich und »mundus intelligibilis« hoffen können.

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Der Gerichtshof der Dialektik Mit dem Gerichtshof und seiner Rechtspraxis ist in der zeitgenössischen und auch Kantischen Rechtslehre der »status civilis« erreicht, in dem der Naturzustand des gesetzlosen Streitens und Kämpfens beendet ist. In der »Rechtslehre« der Metaphysik der Sitten (1797) heißt es entsprechend, man nenne den Gerichtshof selbst »die Gerechtigkeit eines Landes«, und es könne, »ob eine solche sei oder nicht sei, als die wichtigste unter allen rechtlichen Angelegenheiten gefragt werden« (VI 306,14–16)78. In die Vorstellung des Gerichtshofes mischen sich entsprechend privatrechtliche und öffentlichrechtliche Komponenten, denn der Gerichtshof behandelt einerseits die privaten Streitigkeiten von Bürgern untereinander, ist also zuständig für die Zivilgerichtsbarkeit und setzt damit den etablierten Staat voraus, andererseits ist seine »erste[n] Institution« (A 751), der Akt der »institutio«, in vielen Darstellungsfacetten identisch mit der Staatsgründung, der Staat, die res publica, ist die austeilende Gerechtigkeit. Die bisherige Metaphysik befinde sich im Naturzustand, mit dieser Deklaration eröffnet Kant praktisch seine Schrift: »Der Kampfplatz dieser endlosen Streitigkeiten heißt nun Metaphysik.« (A VIII) Dies gibt das Stichwort für eine Darstellung des Schicksals der Metaphysik mit den Rechtstermini des (dogmatischen) Despotismus und der (skeptischen) Anarchie. Locke schien die Streitigkeiten beenden und die »Rechtmäßigkeit« (A IX) der jeweiligen Ansprüche entscheiden zu können, er war jedoch inkonsequent (B 127); er wollte den Herrschaftsanspruch der alten dogmatischen Metaphysik empirisch ableiten, scheiterte damit und veranlasste durch sein Scheitern einen Zustand des Indifferentismus. Es gibt eine andere Opposition des Gerichtshofs; er steht nicht nur gegen Kampf und Streit ohne verbindliche Rechtsfindung oder die bloße Zensur, sondern auch gegen eine Rechtsfindung durch despotischen Machtspruch. Wenn Kant gleich zu Beginn sagte »nicht durch Machtsprüche«, dann wandte er sich gegen die Beendigung von Streitsachen in der Manier des Absolutismus; in einer Verordnung König Friedrichs I. vom 18. 9. 1708 heißt es, daß »unter streitenden Partheyen in Justiz-Sachen eine endliche Decision durch einen Macht-Spruch oder sonsten auf Sr. Kgl. Maj. Spezialen allergn. Befehl gegeben werden« kann.79 Nun sollte durch diese Be320 | kapitel 

endigung des Streits keineswegs das Recht aufgehoben werden,80 aber so sieht es in der Polemik der späteren Zeit aus, denn die Entscheidung wird aus dem Gericht in eine inappellable Instanz des Herrschers »legibus solutus« gelegt. »Machtsprüche« und willkürliche »Zensur« sind die Kurzformeln, mit denen die zeitgenössische Praxis besonders in Preußen angezeigt und verfemt wird.81 Die KrV kündigt sich also in dieser Opposition gegen den Absolutismus als eine republikanische Schrift an, in der die Streitigkeiten der Vernunft von der Vernunft selbst untersucht und entschieden werden, nicht aber durch Willensakte von außen. Kant wird den Begriff des Machtspruchs erst in seiner Spätzeit positiv verwenden, als der Absolutismus nach allgemeiner Überzeugung schon aus der relevanten Geschichte verschwunden war. In der Metaphysik der Sitten (1797) heißt es: »Daß sie aber (wir Menschen) doch frei sind, beweiset der kategorische Imperativ in moralisch-praktischer Absicht, wie durch einen Machtspruch der Vernunft, […].« (VI 280,28–30) Die zweite Kritik entzieht sich dem Gerichtshof der ersten, denn der kategorische Imperativ läßt sich so wenig deduzieren wie die menschliche Anschauung von Raum und Zeit; dazu später Näheres. In der Anthropologie in pragmatischer Hinsicht wird Kant die Konstellation einer republikanischen Friedensordnung noch einmal bündig darstellen und sie abgrenzen gegen Anarchie (Freiheit ohne Gesetz) und Despotismus (Gesetz ohne Freiheit) (VII 330– 331); dies ist die Figur, in der sich schon die KrV selbst als eine gesetzlich-freiheitliche Ordnung positioniert. Wir müssen zwei Formen des Gerichtshofes unterscheiden; die erste Form wurde unausgesprochen bei der Erörterung der juridischen Deduktion in der Analytik in Anspruch genommen, von der zweiten spricht schon das Vorwort und dann wieder die Dialektik. Hier, in der Analytik, demonstriert die reine Vernunft durch eine transzendentale Deduktion das Recht des Verstandes im Erwerben und Besitzen von Erfahrungswissen gegen die Opposition von Skeptizismus und ontologischem Dogmatismus. In der zweiten Form setzt die Vernunft einen Gerichtshof ein, um über Streitfälle zu entscheiden, die in der Kosmologie zutage treten. Eine Variante der ersten Form des Gerichtshofes ist der Abweis der Erkenntnisansprüche der Metaphysik in der rationalen Psychologie und Theologie. Hier wird nicht gestritten und kein Gerichtskritik der reinen vernunft: der gerichtshof | 321

hof angerufen wie in der kosmologischen Antithetik, sondern die Gegenstände der praktischen Vernunft werden unmittelbar von der Fremdherrschaft der vorgeblichen theoretischen Erkenntnis befreit. Wie im Fall der Kategoriendeduktion nimmt sich hier die Philosophie als Kritik der reinen Vernunft des Rechts der Menschheit auf – hier: moralische – Selbstbestimmung an. Sie tritt gewissermaßen als Staatsanwalt auf, denn es gibt keine Partei oder Parteien, von denen im Streit um bestimmte Ansprüche des äußeren Mein und Dein das Gericht angerufen würde, um den Streit zu schlichten. Die Vernunft verhilft der Bestimmung des Menschen durch Selbstkritik zu ihrem Recht.

Das rechtliche Verfahren in Psychologie und Theologie Um 1785 versucht Kant in einer nicht publizierten Skizze, in der sich schon die KpV als selbständiges Werk ankündigt, den an sich rein theoretisch gedachten Dreischritt von Dogmatismus, Skeptizismus und Kritizismus in die juridische Konzeption des kritischen Unternehmens zu übersetzen. Dogmatismus sei die Denkungsart, ohne kritische Prüfung der Prinzipien Behauptungen nachzuhängen. Skeptizismus sei ein nicht natürlicher, sondern »gewählter Grundsatz, dem Dogmatismus Abbruch zu thun, […] nur, um die Uberredung andrer zu stürzen. Die Neigung hiezu ist nicht natürlich, sondern gekünstelt und kan nur aus dem Misfallen an der Usurpation des Dogmatisms entspringen.« In den Vernunfterkenntnissen beziehe sich die widerrechtliche Besitznahme auf die »Metaphysik und allgemeine Moral mit ihren Behauptungen vom höchsten Gut«, der Skeptizismus sei eine Bosheit »der menschlichen Vernunft alle Hofnung in den wichtigsten Fragen der Vernunft zu rauben«; »aber nicht ungewitzte Bosheit, denn der Dogmatism als usurpirender Eigendünkel kan über den Widerstand des Misologen wenigstens nicht als über Unrecht klagen.« Kritik spüre »der Natur und dem Vermögen der menschlichen Vernunft so wohl in ihrem speculativen Gebrauch in der Metaphysik als dem practischen in der Moral nach […] [um] ihre Grenzen, imgleichen ihren Umfang und die nothwendigen Principien des letzteren überzeugend auszumachen.« (XVIII 293,34–295,5. – Refl. 5645) 322 | kapitel 

Uns interessiert hier die Isosthenie von Dogmatiker und Skeptiker; der erstere könne, so hieß es, über den Widerstand des letzteren »wenigstens nicht als über Unrecht klagen«. Die Formulierung kehrt 1797 in einer Fußnote des letzten Paragraphen des Privatrechts wieder, also genau beim Übergang zum Öffentlichen Recht und damit zur Einrichtung des Gerichtshofs: Wenn der Vertrag zur Beendigung kriegerischer Handlungen von einem der Gegner gebrochen werde, »kann [dieser] nicht über Unrecht klagen, wenn sein Gegner bei Gelegenheit ihm denselben Streich spielt. Aber sie thun überhaupt im höchsten Grade unrecht, weil sie dem Begriff des Rechts selber alle Gültigkeit nehmen und alles der wilden Gewalt gleichsam gesetzmäßig überliefern und so das Recht der Menschen überhaupt umstürzen.« (VI 308,3–6)82 Dies letztere widerspricht einer moralischen Norm: Der Mensch soll das »Recht der Menschen überhaupt« nicht umstürzen, er soll in den gesetzlich geordneten und gesicherten Zustand übertreten. Diese Norm ist natürlich begründet im kategorischen Imperativ. Im Ganzen mischen sich hier, wenn ich richtig sehe, drei Konzepte. Es gibt einmal die duale Anlage von status naturalis und status civilis; zweitens die sie überlappende triadische Struktur von reinem Naturzustand, falscher Vergesellschaftung unter Despoten und der Befreiung aus der Despotie durch die Gründung des eigentlichen Rechtsstaats.83 Dem letzteren entspräche die Abfolge von skeptischen Nomaden, dogmatischen Absolutisten und kritischer Vernunft. Diese letzte Abfolge liegt jedoch drittens in einem Konflikt der festen Anordnung, in der der Dogmatismus am Anfang steht, auf den dann der Skepizismus folgt, der seinerseits vom Kritizismus überwunden wird. Je nach Theorieort und -bedürfnis bedient sich Kant einer der Versionen, ohne sie explizit von einander zu unterscheiden. Die Grenzüberschreitung der rationalen Psychologie und Theologie läßt sich an keiner Antithetik von gleichberechtigten, wiewohl nicht haltbaren Behauptungen ablesen wie im Begriff der Welt an sich, sondern an anderen Formen des Versagens, hier der Paralogismen, dort der drei im Prinzip möglichen, aber scheiternden Gottesbeweise. Der »deuteros plous«84 der dem Menschen dennoch möglichen Seelen- und Gotteserkenntnis ist die einer Seele und eines Gottes für uns.85 Die Seele für uns ist erkennbar als Erscheinung im kritik der reinen vernunft: der gerichtshof | 323

inneren Sinn und der Phänomenologie der Introspektion, Gott dagegen ist für uns erkennbar in der Form eines Vernunftglaubens in der Moral.

Der Gerichtshof der kosmologischen Antithetik Beim Gerichtshof der Antithetik treten wie in üblichen Zivilprozessen zwei Parteien auf, vertreten durch ihre Advokaten. Am Schluß der »Elementarlehre« wird dieser letztere Prozeß als der colmo des Ganzen angeführt; es wird von den »dialektischen Zeugen« und ihrer »Abhörung«86 gesprochen (A 703), und dann die Schlussworte: »[…] so war es ratsam, gleichsam die Akten dieses Prozesses ausführlich abzufassen, und sie im Archive der menschlichen Vernunft, zur Verhütung künftiger Irrungen ähnlicher Art, niederzulegen.« (A 704) In einem bestimmten Zusammenhang scheint Kant zwei Instanzen im Zivilprozeß anzunehmen, so daß nach der Anhörung von Klage und Gegenklage in eine Appellationsinstanz gegangen werden kann. Dies sah die preußische Zivilprozessordnung vor, wobei das zuerst anzurufende Obergericht nach 1781 den nicht gelösten Fall der Gesetzeskommission vorlegen konnte.87 In der Erörterung der »Disziplin der reinen Vernunft in Ansehung ihres polemischen Gebrauchs« (A 738) soll die dogmatische Vernunft »vor dem kritischen Auge einer höheren und richterlichen Vernunft erscheinen« (A 739). »Ganz anders ist es bewandt, wenn sie es nicht mit der Zensur des Richters, sondern den Ansprüchen ihres Mitbürgers zu tun hat, und sich dagegen bloß verteidigen soll.« In diesem Verfahren bekämpfen sich zwei dogmatische Positionen in der Antithetik; es finde eine Rechtfertigung statt, »die wider alle Beeinträchtigung sichert, und einen titulierten Besitz verschafft, der keine fremden Anmaßungen scheuen darf, ob er gleich kat’ aletheian nicht hinreichend bewiesen werden kann.« (A 739) Wer vor diesem ersten Gericht siege, hänge vom Zufall ab; ein Advokat widerlege den anderen, und es siege, wer das letzte Wort hat.88 Aus dieser Beobachtung der Antithetik und ihres nur zufälligen Ausgangs erwächst die Notwendigkeit der Institution eines anderen Gerichtshofes, der die Aporie des ersten aufdeckt und löst. Kant konstruiert offensichtlich 324 | kapitel 

das Verfahren der Vernunft nach der Struktur der preußischen Prozessordnung, in der es eine Appellationsinstanz gibt, die angerufen wird, wenn nicht der König den Prozeß durch einen Machtspruch beendet. Bei Kant wird der entweder fortdauernde oder durch Zufall entschiedene Streit in der Antithetik durch die Appellation an den höheren Gerichtshof entschieden; die Vernunft sieht hier dem Spiel der Streitenden nicht mehr zu, sondern bringt die Sache zu ihrem Ende durch ihre Kenntnis der Differenz von Ding an sich und Erscheinung – hiermit ist die Sentenz möglich, die im Fall der mathematischen Antinomien den Erkenntnisanspruch beider Parteien abweist, im Fall der dynamischen Antinomien beiden Parteien jeweils eine Sphäre zuweist, in denen ihre Ansprüche wahr sind.

Erkenntnis, Freiheit, rechtlich verfasste Öffentlichkeit »Weil es aber doch einem nachdenkenden und forschenden Wesen anständig ist, gewisse Zeiten lediglich der Prüfung seiner eigenen Vernunft zu widmen, hierbei aber alle Parteilichkeit gänzlich auszuziehen, und so seine Bemerkungen anderen zur Beurteilung öffentlich mitzuteilen; so kann es niemanden verargt, noch weniger verwehrt werden, die Sätze und Gegensätze, so wie sie sich, durch keine Drohung geschreckt, vor Geschworenen von seinem eigenen Stande (nämlich dem Stande schwacher Menschen) verteidigen können, auftreten zu lassen.« (A 475–476) These: Wer diesen Text kritisch liest, stutzt – was sollen die »schwachen Menschen« hier? Ist nicht das Wort »schwacher« durch »freier« zu ersetzen? Kant verbindet mit dem Gerichtshofmodell die gegen die Politik der Machtsprüche des Absolutismus, aber auch gegen die Gesetzlosigkeit des »status naturalis«89 gerichtete Freiheit der Richter und Geschworenen, nicht aber deren Schwäche. Erst im Staat unter Freiheitsgesetzen könne ein Gerichtshof eingerichtet werden – »Zu dieser Freiheit gehört denn auch, seine Gedanken, seine Zweifel, die man sich nicht selbst auflösen kann, öffentlich zur Beurteilung auszustellen, ohne darüber für einen unruhigen oder gefährlichen Bürger verschrieen zu werden [»durch keine Drohung geschreckt«, RB]. Das liegt schon in dem ursprünglichen Rechte der menschlichen Vernunft, welche keinen anderen Richter erkennt, als kritik der reinen vernunft: der gerichtshof | 325

selbst wiederum die allgemeine Menschenvernunft, worin ein jeder seine Stimme hat.« (A 752) Die Freiheit bezieht sich auf den Bürgerstand der Menschen und ihre Freiheitsgesetze. Wir befinden uns im Bereich einer Rechtsinstitution – was soll da der Appell an die Schwäche? Gibt es einen bürgerlichen Stand der Schwachen? Nein. »Die Mittheilende Neigung der Vernunft ist nur unter der condition billig, daß sie zugleich mit der theilnehmenden Verbunden sey. Andere sind nicht Lehrlinge, auch nicht richter, sondern Collegen im großen Rathe der Menschlichen Vernunft und haben ein votum consultativum, und unanimitas votorum est pupilla libertatis«, heißt es in einer früheren Reflexion (XVI 419,18–420,2 – Refl. 2566). Die Prüfung setzt die Freiheit der Votierenden voraus, sonst ist sie wertlos, eine seit der Antike tradierte Meinung, nachzulesen bei Cicero in De divinatione.90 Die Publizität ist konstitutiv für die menschliche Erkenntnis, sie ist als solche nicht privater Natur, sondern öffentlich und bedarf daher idealiter der res publica, in der die jeweilige Erkenntnisprätention republikanisch verhandelt und beschieden wird. Das Ergebnis der freien Gerichtsverhandlung wird sein, daß weder Satz noch Gegensatz gilt oder daß beide gelten könnten. Nun kommt hinzu, daß Kant zuvor (A 475) den Menschen charakterisiert, der zwischen These und Antithese hin- und herschwankt – ein schwacher Mensch, dem der nachdenkende und forschende Mensch entgegengesetzt wird, der nun entschlossen vor dem Gerichtshof erfahren will, wie es um die Ansprüche der beiden Parteien steht. Auch im nachfolgenden Text wird emphatisch dafür argumentiert, daß der Mensch das Problem der Antinomie und seine Auflösung in seiner eigenen Vernunft findet und daher »die Verantwortung nicht von sich abweisen und auf den unbekannten Gegenstand schieben kann.« (A 479) Erst die Freiheit des Gerichtshofes und der Geschworenen macht die Verknüpfung von Wahrheitssuche und Rechtsforum möglich. In der Rechtslehre von 1797 wird das Geschworenengericht ausgestaltet: »Das Volk richtet sich selbst durch diejenigen ihrer Mitbürger, welche durch freie Wahl, als Repräsentanten desselben, und zwar für jeden Act besonders dazu ernannt werden.« (VI 317,20–22) Es folgt die nähere Begründung des »Selbst-Gerichts« der freien Bürger: Handelte es sich bei den Geschworenen nicht um Bürger des 326 | kapitel 

eigenen Standes, könnte es der oder den Parteien vor dem Gerichtshof Unrecht tun. Refl. 7781: »Alles Richten muß öffentlich seyn. Die Glieder des Gerichts müssen von den magistratus, die das publicum vorstellen, ernannt werden.« (XIX 516,3–4) Die Geschworenen werden von den Magistraten als den Repräsentanten des bürgerlichen Publikums ernannt. Es geht nicht um eine Bagatelle, sondern um eine zentrale Selbstreferenz der KrV. Zur Erinnerung: »Man kann die Kritik der reinen Vernunft als den wahren Gerichtshof für alle Streitigkeiten derselben ansehen; denn sie ist in die letzteren, als welche auf Objekte unmittelbar gehen, nicht mit verwickelt, sondern ist dazu gesetzt, die Rechtsame der Vernunft überhaupt nach den Grundsätzen ihrer ersten Institution zu bestimmen und zu beurteilen.« (A 751) Die KrV ist das Ende des Naturzustandes hier und des Absolutismus der Machtsprüche dort, sie ist der Gerichtshof der Vernunft. Die KrV ist der »oberste Gerichtshof aller Rechte und Ansprüche unserer Spekulation« (A 669). »Auf dieser Freiheit beruht sogar die Existenz der Vernunft, die kein diktatorisches Ansehen hat, sondern deren Ausspruch jederzeit nichts als die Einstimmung freier Bürger ist.« (A 738) Die Einstimmung freier, nicht aber schwacher Bürger. Hat es hier irgendeinen Sinn, die Formulierung »vor Geschworenen von seinem eigenen Stande« durch »(nämlich dem Stande schwacher Menschen)« zu ergänzen? Nach der deutschen Niederlage im 2. Weltkrieg schreibt Heinz Heimsoeth in seinem Kommentar zur Stelle: »Die Anspielung auf die Geschworenen (Laienrichter) will auf eine solche Prüfung weisen, welche, der Endlichkeit unseres Vermögens den großen Daseinsfragen gegenüber wohl bewußt, das uns allen Gemeinsame in der Menschenvernunft zur Sprache kommen läßt, – entgegen hochmütig verstiegenem Anspruch der SchulLager und -Systeme, wie er in den Thesen und Antithesen zum Ausdruck kommt.«91 Kants Text klingt anders als Heimsoeths larmoyanter Appell an »das uns allen Gemeinsame in der Menschenvernunft« in »großen Daseinsfragen«92. Wer seine Bemerkungen öffentlich mitteilt, ist selbst »durch keine Drohung geschreckt«, eben ein freier Bürger, der sein Recht geltend macht und sich wenig schert um das »uns allen Gemeinsame«, das »zur Sprache kommt«. Heimsoeth verkennt den Rechtsstatus, auf den nicht angespielt wird, sondern der in der gesamten Schrift nachmodelliert wird. Vor dem Gerichtskritik der reinen vernunft: der gerichtshof | 327

hof der Vernunft findet die »freie und öffentliche Prüfung« (A XI Anmerkung) der publizierten Meinungen statt. In die Betrachtung muß die Frage einbezogen werden, warum Kant den Hinweis auf die Standesgleichheit von Geschworenen und streitenden Parteien überhaupt durch den Klammerausdruck ergänzt. Man könnte meinen, daß mit der Angabe, daß hier Bürger über Bürger urteilen und sich die Regierung als von einem anderen Stande nicht einmischt, alles Sachdienliche gesagt ist. Ein Grund der Ergänzung könnte darin liegen, daß es sich gerade nicht um einen Zivilprozeß in einem bestimmten Staat handelt, sondern um einen Gerichtshof in der, stoisch gesprochen, »societas generis humani«; deshalb heißt es dann in der Klammer emphatisch »Menschen«, nicht »Bürger«. Die Fragen der Vernunft werden in der »kosmópolis« der Menschheit verhandelt; sie ist die Öffentlichkeit, vor der die Fragen verhandelt werden, die »alles Interesse meiner Vernunft« (A 804) zum Gegenstand haben. Die Klammer stellt dann eben dies klar: Der Leser denke nicht an eine nationale Institution, als die ihm die Geschworenengerichte vertraut sind, sondern an die Menschen überhaupt. Natürlich auch hier: »Omnes homines liberi nascunter«, und sie bleiben frei, wie Locke, Rousseau und Kant zu begründen versuchen. Und das wäre die Emphase der Klammer: In diese Freiheit, die jedem als einem Menschen zukommt, darf kein Staat eingreifen. Damit wäre der Klammerausdruck verbunden mit einer Vielzahl von Äußerungen, in denen Kant eben dies herausstellt; am bekanntesten der Ausruf im Gemeinspruch: »Also ist die Freiheit der Feder […] das einzige Palladium der Volksrechte.« (VIII 304,15–20) Oder schon in der Logik Blomberg: »Man muß also der Bekanndtmachung der Urtheile, das ist der Aussetzung derselbigen, denen Einsichten aller keine Hindernisse entgegen setzen. Das ist ja das allgemeine Recht eines jeden Menschen, und der einzige sichere Weeg, zur Wahrheit zu gelangen.« (XXIV 93,13–16) »Die Beraubung der Freyheit Ungezwungen zu dencken, und diese seine Gedancken ans Licht zu bringen, ist wirklich eine Beraubung der ersten Vorzüge des menschlichen Geschlechtes, und besonders des menschlichen Verstandes.« (XXIV 151,6–9) Beim Erstreiten und Begründen der Pressefreiheit beruft man sich auf ein »common right of mankind.«93 Der Stand und das Recht des Menschen geht dem des Standes des Bürgers in einem bestimmten Staat voraus und 328 | kapitel 

setzt diesem letzteren Grenzen. Der Staat also kann es dem Bürger qua Menschen weder verargen noch verwehren, seine Meinung »öffentlich mitzuteilen«. Die Menschen mögen schwach sein, aber das ist keine Bestimmung ihres Standes. Ich habe keinen Hinweis auf das Schwachsein der Menschen in einem der einschlägigen Texte finden können. Es handelt sich auch nicht um eine momentane Reverenz gegenüber Gott: Der Mensch ist so schwach, verglichen mit dem Allmächtigen! Also ein poetisch eingefügter Seufzer. Aber einmal ist auch in einem theologischen Bezug die Rede vom Stande schwacher Menschen bei Kant nicht zu belegen,94 zum anderen kann der Stand, von dem in der Klammer gesprochen wird, nur eine explikative Funktion haben, er muß also zur vorhergehenden Gerichtshofvorstellung gehören und kann nicht plötzlich von etwas ganz anderem reden. Nach dem Verfahren der Parallelstellen, aber auch der sachlichen Erfordernis müsste, wäre in der Klammer vor »Menschen« eine Leerstelle im Text zu besetzen, »freier« gewählt werden; für »schwacher« dagegen gäbe es kein Argument, und niemand käme auf die Idee, es hier zu fordern. Also: Der Stand freier Menschen, der in der KrV A 476 von einem ängstlichen oder verschlafenen Amanuensis oder Drucker in einen Stand schwacher Menschen herabgewürdigt wurde, muß wieder hergestellt werden. Antithese: Der Text ist auffällig, aber korrekt. Der entscheidende Punkt ist, daß die unparteiisch Streitenden die von ihnen vertretenen Sätze und Gegensätze jeweils mit der Widerlegung des Gegners »verteidigen können«. Hier wird die reine Vernunft nur polemisch gebraucht, worunter nach der »Disziplin der reinen Vernunft in Ansehung ihres polemischen Gebrauchs« zu verstehen ist »die Verteidigung ihrer Sätze gegen die dogmatischen Verneinungen derselben« (A 739). In diesem rein intellektuellen Schlagabtausch kommt es nicht darauf an, »ob ihre Behauptungen nicht vielleicht auch falsch sein möchten, sondern nur, daß niemand das Gegenteil jemals mit apodiktischer Gewißheit […] behaupten könne.« Und dann der Jammer, der zu den »schwachen Menschen« führt: »Es ist etwas Bekümmerliches und Niederschlagendes, daß es überhaupt eine Antithetik der reinen Vernunft geben, und diese, die doch den obersten Gerichtshof über alle Streitigkeiten vorstellt, mit sich selbst kritik der reinen vernunft: der gerichtshof | 329

in Streit geraten soll.« (A 740) Das eben ist das Geschworenengericht, von dem Kant bei der Beurteilung der Antithetik nicht die Freiheit hervorhebt, sondern das Bekümmerliche und die Schwäche. Der Stand schwacher Menschen verteidigt sich also erfolgreich gegen den Angriff der Freiheit. Die Streitenden stehen einander gegenüber und können jeweils den Gegner widerlegen. Kant sieht mit seiner skeptischen Methode und sucht die Bedingung der Möglichkeit dieser paritätischen Streitsituation. »Denn die skeptische Methode geht auf Gewißheit, dadurch, daß sie einem solchen, auf beiden Seiten redlich gemeinten und mit Verstande geführten Streite, den Punkt des Mißverständnisses zu entdecken sucht, um, wie weise Gesetzgeber tun, aus der Verlegenheit der Richter bei Rechtshändeln für sich selbst Belehrung, von dem Mangelhaften und nicht genau Bestimmten in ihren Gesetzen zu ziehen. Die Antinomie, die sich in der Anwendung der Gesetze offenbart, ist bei unserer eingeschränkten Weisheit der beste Prüfungsversuch der Nomothetik, um die Vernunft, die in abstrakter Spekulation ihre Fehltritte nicht leicht gewahr wird, dadurch auf die Momente in Bestimmung ihrer aufmerksam zu machen.« (A 424)95 Schluß: Vielleicht hat Kant die Klammer nach der Niederschrift, also äußerlich und post festum, eingefügt, als er über das Bekümmerliche und Niederschlagende der Antithetik im »Kanon«-Kapitel nachdachte. Der Sache nach sind die angesprochenen Menschen natürlich frei, nicht schwach! Wie der Text der KrV zu drucken ist, muß hier ausnahmsweis der freie Leser selbst entscheiden.

Das »jus praetensum«, der Anspruch, die Anmaßung Der Prozeß, an den Kant denkt, ist kein Straf-, sondern ein Zivilprozeß; in ihm geht es um ein »jus praetensum, den vom Kläger in der Klage geltend gemachten, als ihm zustehend behaupteten Anspruch gegen den Beklagten«96. Über das »jus praetensum« lehrt Gottfried Achenwall im ersten Teil seines Kant wohlvertrauten Ius naturae von 1767 (§ 286). Die Rede von Ansprüchen und Anmaßungen, die in der Kantischen Transzendentalphilosophie durchgängig begegnet, lässt sich zum großen Teil als genau das »jus prae330 | kapitel 

tensum« interpretieren, über das in einem Zivilprozeß, d. h. vor dem Gerichtshof der reinen Vernunft, entschieden wird. Diese gut dokumentierbare Rede von Ansprüchen und Anmaßungen lässt sich nur auf eine juridische Konstruktion beziehen, also auf den Gerichtshof, den die Kritik der reinen Vernunft darstellt. Die relevanten Urteile werden nicht in ihrer formalen Logik, sie werden nicht als psychologische Ereignisse gefasst, sondern als Handlungen, die allgemeine und notwendige Erkenntnisse bezüglich eines bestimmten Sachverhalts gegenüber anderen prätendieren und über die im Gerichtsverfahren der reinen Vernunft entschieden wird. Ihr Anspruch kann bestätigt oder abgewiesen werden gemäß den transzendentalen Geltungsprinzipien der reinen Vernunft. Außer dem jus praetensum im speziellen Gebrauch des Zivilprozesses wird von Kant häufig vom Anspruch oder der Anmaßung eines Urteils gesprochen; besonders gedrängt begegnet diese Redefigur in der »Kritik der ästhetischen Urteilskraft«, über die noch zu sprechen ist. Man wird im Sinne Kants zwei Urteilsarten aus dem Kreis der Anspruchs- oder Anmaßungsurteile ausschließen; es sind einmal die Sätze der reinen Logik und die analytischen Urteile der Rationalisten und zum anderen die synthetischen Erfahrungsurteile, die keine Notwendigkeit prätendieren. Es bleibt die von Kant kreierte oder entdeckte Klasse der synthetischen Urteile apriori, die dadurch ausgezeichnet sind, daß sie ihre Erkenntnis weder rein begrifflich noch empirisch ausweisen können. Nur in diesem mittleren Bereich taucht das Problem der Rechtfertigung auf, weil man aus dem Begriff hinausgehen muß und doch nicht zur platten Alternative des bloßen Wahrnehmungsurteils gelangt; weder das »denk doch nach« noch das »sieh doch hin« hilft hier weiter. Vom Adressaten des Urteils wird verlangt, daß er eine darüber hinausgehende Leistung vollzieht, auf die sich der besondere Geltungsanspruch bezieht.

Die Bestimmung des Menschen und die Notwendigkeit einer rechtlichen Fassung der KrV Es wurde gezeigt, daß und wie sich die KrV als eine rechtlich verfaßte Untersuchung des menschlichen Erkenntnisvermögens bekritik der reinen vernunft: der gerichtshof | 331

greift. Der juridische Charakter kann damit keine nur mögliche und austauschbare Metapher sein, sondern muß am Status der Notwendigkeit teilhaben. Die in sich kohärenten Rechtsvorstellungen entstammen im wesentlichen dem Privatrecht (Deduktion) und dem Zivilprozeßrecht (Dialektik), die in der KrV systematisch nachgebildet werden. Kant hält den Rechtsbereich nicht durch ein distanzierendes »wie« aus dem eigentlich gemeinten Sachverhalt fern; es heißt z. B. in aller Härte, die Vernunft »ist« der oberste Gerichtshof (A 669). Zugleich wird natürlich auch keine wirkliche Rechtslehre entwickelt wie später in den »Metaphysischen Anfangsgründen der Rechtslehre« oder gar eine verbindliche Rechtsverfassung, wie sie zeitgleich für Preußen entstand. Es handelt sich also um eine begrifflich notwendige kohärente Rechtsfiktion. Damit greift auch die oben benutzte Wendung des »Modells« des Gerichtshofes zu kurz; sie hält zwar fest, daß es sich nicht um ein wirkliches Rechtsverfahren handelt, lässt aber nicht erkennen, daß ein Stück rechtlicher Normierung essentiell für den Gedanken ist. Das Recht muß notwendig zur verhandelten Sache gehören. Die Rekonstruktion dieser von Kant angenommenen Notwendigkeit ist noch zu leisten. Dabei ist zugleich die Ebene zu bestimmen, in der überhaupt in uneigentlicher, fiktionaler Redeform von Rechtlichkeit in der KrV gesprochen werden kann. Was also erzwingt die Rechtsform der KrV? Gesucht ist der notwendige Übergang von der theoretischen zur praktisch-normativen Philosophie, speziell in ihrer juridischen, nicht ethischen Fassung. Der Grund muß ein einziger sein, und er muß eindeutig identifizierbar sein im Werk selbst, wenn auch nicht so offensichtlich, daß ein Zitat aus erster Lektüre zur Beantwortung genügt, andernfalls wäre die Antwort auf unsere Frage längst Gemeingut geworden. Er liegt nicht in der pars construens, der Analytik, und auch nicht in der pars destruens der rationalen Psychologie, der alten Kosmologie und rationalen Theologie. Denn die Widerlegung des Humeschen Skeptizismus und der Ontologie durch den Nachweis der Möglichkeit synthetischer Urteile a priori in der Analytik lässt sich rein theoretisch führen; dadurch, daß der Bezugsrahmen nicht mehr die einzelnen Sinneseindrücke und Vorstellungen sind, auch nicht die Dinge an sich, sondern die Bedingungen der Möglichkeit 332 | kapitel 

der Erfahrung in Raum und Zeit, werden der Zweifel des Vorstellungsphilosophen hier und die unkritische Dingerkenntnis dort gegenstandslos. Wir hatten schon beobachtet, daß das juridische Vokabular des quid iuris nicht wirklich in den Nachweis der Anwendbarkeit der Verstandesbegriffe auf die Anschauung und das Mannigfaltige in ihr eindringt, daß also Hume Kant wohl aus dem dogmatischen Schlaf geweckt haben mag, aber das war kein Grund, aus der reinen Theorie in die praktische Philosophie überzuwechseln und die rechtliche Legitimität, nicht nur die theoretische Möglichkeit der Erfahrungserkenntnis nachzuweisen. Daßelbe gilt für die Beweise in der Dialektik, denn auch die abschlägigen Antworten an die Lehren der metaphysica specialis haben mit der praktischen Philosophie nichts zu tun, weil auch hier die Widerlegung der metaphysischen Theorie mit rein theoretischen Mitteln gelingen muß, andernfalls kann man getrost zu Christian Wolff zurückkehren. Hier gilt dieselbe Logik wie in anderen Zweigen der Wissenschaft. Aber bildet die Antinomie im Weltbegriff keine Ausnahme? Hier gibt es die Streitfälle, von denen sogleich in der Vorrede gesprochen wurde, hier und nur hier gibt es das näher ausgeführte Verfahren vor dem Gerichtshof der reinen Vernunft, hier steht schon im Titel der Antinomie ein ursprünglich rechtlicher Begriff.97 Kant führt die Antithetik jedoch in ihrer schulmäßigen Form vor und zeigt, daß es nur drei Weisen des Umgangs mit den Sätzen und Gegensätzen gibt, also ein Trilemma: Entweder den willkürlichen Abbruch oder das unendliche Weiterschreiten der gegenseitigen Widerlegungen oder drittens eine den Streitenden unbekannte Lösung. Gibt es hier eine Intervention der praktischen Vernunft, die eine Antwort fordert auf die Fragen, die ihr gesamtes Interesse und den Endzweck oder die Bestimmung ihres Daseins ausmachen: Was kann ich wissen? Was soll ich tun? Was darf ich hoffen? Erzwingt sie eine rationale Lösung der Widersprüche, die den beiden Parteien jeweils verborgen bleibt? Ergibt sich die Lösung aus dem Trilemma, aus dem die in der alten Metaphysik befangene rein theoretische Vernunft keinen Ausweg wußte? Davon kann keine Rede sein. Auch das Argument zur Auflösung der Antithetik ist rein theoretisch und besteht in der ohne praktische Einhilfe gewonnenen Erkenntnis der Differenz von Ding an sich und Erscheinung. Das ist alles. kritik der reinen vernunft: der gerichtshof | 333

Wir haben also den Ursprung der rechtlichen Verfassung der KrV noch nicht entdeckt. Man erinnere sich jedoch der Lockeschen Aufgabenstellung; es sollte das menschliche Erkenntnisvermögen untersucht werden, um zu sehen, ob und wie die Fragen der Moral und Religion und damit des Glücks der Menschen, die im Mittelpunkt des menschlichen Interesses (concern) stehen, zu beantworten sind. Lockes Untersuchung wies dem Menschen einen begrenzten sicheren Besitz zu, der für sein Erdenleben völlig ausreicht – so will es die Vorsehung. Der Sorge des Menschen ist Rechnung getragen, wenn er nur von den hybrischen Ausfahrten ins ewig Unbekannte ablässt und sich auch theoretisch mit dem begnügt, was für sein Leben praktisch ausreicht. Alles ist zweckmäßig aufeinander eingestimmt, der Mensch muß dies nur erkennen und sich bescheiden mit dem für ihn vorgesehenen Besitz. Kant nun lässt keinen Zweifel daran, daß die gesamte KrV auf den praktischen Endzweck des Menschen, auf seine Bestimmung und damit auf sein Interesse an Moral und moralitätsbestimmter Religion hinausläuft. Hierin kulminiert »alles Interesse meiner Vernunft«. »Von dem letzten Zwecke des reinen Gebrauchs der reinen Vernunft« ist der erste Abschnitt im »Kanon der reinen Vernunft« überschrieben (A 797). Welche Aufgabe macht den letzten Zweck der Vernunftbemühungen aus? Die Endabsicht der Spekulation laufe auf die drei Gegenstände des Daseins Gottes, der Freiheit des Willens und der Unsterblichkeit der Seele hinaus entsprechend den drei Fragen: Was kann ich wissen? Was soll ich tun? Was darf ich hoffen? Die ganze Zurüstung der Vernunft sei »in der Tat nur auf die drei gedachten Probleme gerichtet. Diese selber aber haben wiederum ihre entferntere Absicht, nämlich, was zu tun sei, wenn der Wille frei, wenn ein Gott und eine künftige Welt ist. Da dieses nun unser Verhalten in Beziehung auf den höchsten Zweck betrifft, so ist die letzte Absicht der weislich uns versorgenden Natur, bei der Einrichtung unserer Vernunft, eigentlich nur aufs Moralische gestellt.« (A 800–801) Weiter ist zu beachten, daß die Vernunft in sich zweckmäßig strukturiert ist; in ihr gilt wie in anderen organisierten Gebilden der Natur, daß alles Gesetzmäßige in ihr einen Zweck hat und selbst Zweck ist. Alles, auch eine gesetzmäßige Illusion, hat »ihre gute und zweckmäßige Bestimmung in der Naturanlage unserer Vernunft« 334 | kapitel 

(A 669). Die menschliche Vernunft ist ein einheitliches Zweckgebilde, Philosophie ist die Wissenschaft »von der Beziehung aller Erkenntnis auf die wesentlichen Zwecke der menschlichen Vernunft (teleologia rationis humanae).« (A 839) In dieser Teleologie der menschlichen Vernunft ist alles so eingerichtet, daß es dem Endzweck dient. Der Philosoph als Biologe der Vernunft muß also zeigen, wie im Einzelnen die einzelnen Teile der Vernunft auf den Endzweck bezogen sind. Drei dieser Aussagen werden besonders im »Kanon der reinen Vernunft« vielfach wiederholt: 1. Der Endzweck, die »ganze Bestimmung des Menschen« (A 840) und damit seiner Vernunft, liegt in der Moral. 2. Die Moral ist nur möglich unter der Bedingung der Freiheit des Menschen und der objektiv praktischen (nicht theoretisch bestimmbaren!) Realität von Gott und Unsterblichkeit. 3. Der Endzweck und sein Sollen generieren also ein Recht auf die Mittel, die zur Erfüllung der moralischen Aufgabe dienen, ein Recht der nicht okkasionellen, sondern prinzipiellen Abwehr spekulativer Einwürfe.98 Also unterliegen die drei Gegenstände der metaphysica specialis der Bestimmung durch die Moral und nicht durch die theoretische Erkenntnis. In der zweckmäßig konzipierten Vernunft muß es also nachweisbar sein, daß die alte Metaphysik nicht nur irrtümlich, sondern auch widerrechtlich ein Gebiet okkupiert hatte, das nicht ihr, sondern der reinen praktischen Vernunft gehört. Diesen Beweis führt die theoretische Vernunft rein theoretisch, realisiert damit jedoch im Zweckgebilde der Vernunft einen Rechtsanspruch der praktischen Vernunft. Daher liegt hier eines der Zentren der Gerichtsbarkeit der Vernunft. Weiter erfordert der moralische Endzweck des Menschen, daß nicht nur die metaphysica specialis destruiert wird, sondern auch die metaphysica generalis oder Ontologie. Wenn die Naturerkenntnis sich auf Dinge an sich bezieht, ist nicht gewährleistet, daß diese Erkenntnis sich nicht grenzenlos ausweitet und das Gebiet des Intelligiblen besetzt, damit aber die Moral durch theoretische Argumente verwundbar macht. Die teleologia rationis humanae und ihr Endzweck fordern also eine völlige Trennung von Physik und Ethik. Entsprechend weist die KrV gegen Skepsis und Ontologie nach, daß zwar eine wahre Naturerkenntnis möglich ist, aber nur bezogen auf kritik der reinen vernunft: der gerichtshof | 335

Erscheinungen. Das Intelligible der Freiheit ist also durch die Naturgesetzlichkeit nicht gefährdet. Die juridische Grundidee wird auch 1786 im Aufsatz Was heißt: Sich im Denken orientieren? formuliert. Die reine praktische Vernunft finde keine wirkliche Orientierung in den bloßen Begriffen, die die Theorie liefert. »Nun aber tritt des Recht des Bedürfnisses der Vernunft ein, als eines subjectiven Grundes etwas vorauszusetzen und anzunehmen, was sie durch objective Gründe zu wissen sich nicht anmaßen darf; und folglich sich im Denken, im unermesslichen und für uns mit dicker Nacht erfüllten Raume des Übersinnlichen, lediglich durch ihr eigenes Bedürfniß zu orientieren.« (VIII 137,7–12) Es ist die Orientierung nicht an den Landmarken, sondern durch die ganz eigene Ordnung des Kompasses. Sie stiftet ein Recht durch ihre eigene Nomothetik, die Dinge als real anzunehmen, die für die Orientierung im Intelligiblen vorausgesetzt sind; das Recht richtet sich gegen mögliche Einsprüche der theoretischen Vernunft. In der »Rechtslehre« von 1797 formuliert Kant den Grundsatz in folgender Weise im Hinblick auf das äußere Mein und Dein: »Denn wenn es nothwendig ist, nach jenem Rechtsgrundsatz zu handeln, so muß auch die intelligible Bedingung (eines bloß rechtlichen Besitzes) möglich sein.« (VI 252,21–24)99 Wenn diese Rekonstruktion der KrV von ihrem Ende und Endzweck her richtig ist, dann leitet sich die juridische Verfassung aus einem Rechtsanspruch des Interesses der Vernunft und der Moral her, und damit ist die Rechtlichkeit keine austauschbare Metapher, sondern eine normative Rede auf der Ebene der Moral und ihrer Voraussetzungen. In der Erörterung »Von dem regulativen Gebrauch der Ideen der reinen Vernunft« wird gesagt, unser notwendiges logisches Prinzip der Vernunfteinheit der Regeln leite seine »Befugnis« (A 651) aus einem vorauszusetzenden transzendentalen Prinzip der Natureinheit her, andernfalls würde die Vernunft »gerade wider ihre Bestimmung verfahren, indem sie sich eine Idee zum Ziele setzte, die der Natureinheit ganz widerspräche.« (A 651) Das Recht, die Korrelation von Denken und Sein anzunehmen, folgt aus der praktischen Bestimmung der Vernunft! Der Überschritt vom Denken zum Sein, von der bloß logischen Operation zur transzendental abgesicherten Wahrheit wird durch die Bestimmung des Menschen bzw. seiner 336 | kapitel 

Vernunft ermöglicht, die damit an die Stelle des cartesischen Gottes tritt, der die Gewähr dafür bot, daß das von uns klar und deutlich Erkannte sich nicht nur auf unsere Vorstellungen (»ideae«) bezieht, sondern auf die Gegenstände der »res extensa« selbst. Das Vernunftinteresse ist die Grundlage dafür, daß die KrV nicht ein theoretisches Werk ist, an dessen Stelle auch eine Geometrie des fünfdimensionalen Raumes hätte geschrieben werden können, für Kant ein zwar denkbares, aber gänzlich uninteressantes Unternehmen. Das Vernunftinteresse überwindet den Indifferentismus (A X) und dringt auf eine Beantwortung der Anfangsfragen, mit denen die KrV beginnt: »Die menschliche Vernunft hat das besondere Schicksal in einer Gattung ihrer Erkenntnisse: daß sie durch Fragen belästigt wird, […].« (A VII) Diese Fragen betreffen den absoluten einheitlichen Endzweck des Menschen und damit auch der Philosophie. Ohne ein konstitutives Interesse der Vernunft könnten die menschlichen Gedanken so gleichgültig im Kopf herumfahren wie Lockes »unregarded shadows« der Wolken am Nordpol. Man könnte zu anthropologisch, also empirisch bedingten Konsensen oder auch zu aufregenden Dissensen kommen, die geographisch und zeitlich bedingt wechseln. Man könnte die Tätigkeiten, die die Technik fördern, als »wissenschaftlich« bezeichnen und sich auf Standards der Überprüfbarkeit wie auf DIN-Formate einigen oder auch nicht einigen. Das alles vielleicht als Gedankenspiel einiger Denkeliten, sogenannter Philosophen, in der Unterwelt. Sokrates wollte unbekümmert im Leben nach dem Tod weiterdiskutieren100 und theoretische Probleme lösen; Kant winkt ab; die Einheit des Lebens und des Lebens nach dem Tod ist keine Sache der Spekulation, sondern der Moral. Der Bezug auf den Endzweck oder die Bestimmung des Menschen reißt die Überlegung aus dem Schlaf und Schattendasein der bloßen Technik und Gedankenspiele heraus und zwingt zu einer im absoluten Endzweck jedes Menschen fundierten Wachheit. Damit sind Urteile über die Möglichkeit der menschlichen Erkenntnis keine solipsistischen Robinsonaden, die von Insel zu Insel verschieden sind oder sein können, sondern Ansprüche vor einer verbindlichen menschheitlich-kosmopolitischen Öffentlichkeit. Es genügt also nicht der Hinweis auf eine beliebige Öffentlichkritik der reinen vernunft: der gerichtshof | 337

keit, denn öffentlich sind auch die Diskurse der öffentlichen MultiMeinung, die in ihrer folkloristischen Vielstimmigkeit zu belebenden Vorstellungen gelangt. Die von Kant intendierte Öffentlichkeit muß verbindlich und verfasst sein. An dieser Stelle, so unsere Rekonstruktion, gibt es nur noch ein Analogon: Das vom Menschen selbst institutionalisierte allgemeine Recht. In der juridischen Konzeption gibt es nur eine Öffentlichkeit, eine res publica, die im Rechtsgedanken der KrV mitgesetzte Kosmopolis, vor deren Forum provisorische Erkenntnisansprüche verhandelt und peremtorisch beschieden werden. Die KrV ist die ideelle Verfassungsschrift dieser res publica. Im Rückgriff auf die Stoa setzt Kant in der KrV der Platonischen Politeia und Polis den neuzeitlichen republikanischen Staat entgegen, der nach Prinzipien bürgerlicher Selbstbestimmung über Erkenntnisprätentionen positiv oder negativ befindet. Dogmatiker und Skeptiker oder Empiristen werden vor dem neu etablierten Tribunal gehört und beurteilt und so die Einheit der Erkenntniswelt realisiert. Während Kant aus seiner Vernunftuntersuchung politisch-rechtliche Maximen für die bürgerliche, staatlich verfasste Gesellschaft gewinnt, will Platon aus der gerecht verfassten Polis Aufschlüsse über die Vernunftvermögen des Einzelnen gewinnen. Das Zusammenspiel dieser beiden Dimensionen ist jeweils problemlos möglich.101 Der Gerichtshof ist der »wahre«, der »oberste« und damit der einzige, denn gäbe es mehrere, von einander unabhängige Instanzen, dann hätte die Rechtsfindung keine Funktion. Nach innen, also für das Gebiet der KrV überhaupt, gewährt die Jurisdiktion eine Einheit im Sinn des Friedenszustandes. Weder die nur formale Logik der Rationalisten (Wolff ) noch die Naturgeschichte des Verstandes der Empiristen (Locke) können die Vernunfteinheit wirklich etablieren, sondern verlieren sich in Unzulänglichkeiten (Wolff ) oder Inkonsequenzen (Locke). Wir hatten oben gefragt, wo sich im Dualsystem von theoretischer (irdischer, rotierender) Erscheinungserkenntnis und praktischer (sonnenhafter) Moral das »Ich denke« der KrV und auch des Transzendentalphilosophen befindet. Kant gibt darauf keine explizite Antwort. Vielleicht kann man konjizieren, daß sich die Spontaneität des theoretischen »Ich denke« und auch die Reflexion des 338 | kapitel 

kritischen oder Transzendentalphilosophen unter der Schirmherrschaft des kategorischen Imperativs befinden, der dem Menschen die weite Pflicht der Erkenntnisverbesserung und Selbsterhellung auferlegt. Auch hier stoßen wir, wenn diese Antwort haltbar ist, auf den höchsten Punkt der Bestimmung des Menschen, in deren Dienst das Ich denkt und der Philosoph philosophiert.

Schwierigkeiten des Rechtsgedankens Ein Problem der rechtsphilosophischen Fassung der KrV liegt darin, daß Kant den Gedanken der Transzendentalphilosophie nicht explizit mit der rechtlichen Überformung verbindet. Gegen den Empirismus der Lockeschen Physiologie schützte die Ebenenverlagerung, die durch den aus der Metaphysik stammenden Begriff des Transzendentalen angezeigt wird. »Ich nenne alle Erkenntnis transzendental, die sich nicht so wohl mit Gegenständen, sondern mit unsern Begriffen a priori von Gegenständen überhaupt beschäftigt.« (A 11–12) Zu dieser transzendentalen Erkenntnis gehören: Die Begriffe (nicht die Anschauungen!) von Raum und Zeit, die Kategorien, die Grundsätze und die Ideen der Vernunft, am Ende auch die gesamte Methodenlehre. »Wir haben oben die Begriffe des Raumes und der Zeit, vermittelst einer transzendentalen Deduktion zu ihren Quellen verfolgt, und ihre objektive Gültigkeit a priori erklärt und bestimmt.« (A 87) Die Transzendentalphilosophie erstellt die Argumentationsebene, in der es nicht um Sacherkenntnis, sondern um die Begriffe dieser vorgeblichen Sacherkenntnisse geht. Sie wird vorgestellt als eine systematische Einheit, die keiner außersystemischen Jurisdiktion unterliegt, sondern rein theoretisch angelegt ist. Wie verhält sich diese die Begriffe von Raum und Zeit, die gesamte Analytik und in der A-Version auch die Dialektik und die Methodenlehre umfassende transzendentale Ebene der Argumentation zur juridischen Gesamtverfassung? Ist das »quid juris?« eine notwendige Ergänzung der transzendentalphilosophischen Gedankenführung, oder stehen beide in einer Konkurrenz bzw. auf Grund ihrer unterschiedlichen Herkunft und Zielsetzung beziehungslos nebeneinander? kritik der reinen vernunft: der gerichtshof | 339

Die juridische Verfassung der KrV ist in der Lehre von der moralischen Bestimmung des Menschen und einer teleologia rationis humanae begründet. Diese Idee ist so gefasst, daß das Sollen das Recht generiert und einen Gerichtshof einsetzt, dessen Befunde demjenigen Recht entsprechen, das das unbedingte Sollen zur Realisierung seiner selbst benötigt. Die Transzendentalphilosophie ist somit Teil des zweckmäßigen Ganzen. Diese Koinzidenz sieht zunächst wie ein Zufall aus oder wie das Ergebnis einer rechtswidrigen Intervention des moralischen Interesses, tatsächlich soll sie jedoch begriffen werden als das natürliche Zusammenspiel in einer umfassenden Teleologie unserer Vernunft. Dem zu folgen und zuzustimmen ist nicht einfach. Ist jedoch die Prämisse haltbar, daß das Recht einem Postulat des unbedingten Sollens entspringt? Kant selbst hat diese Auffassung in der Vorbereitung seiner Rechtslehre von 1797 abgelehnt.102 In der Rechtslehre jedoch kann Kant auf den einen kategorischen Imperativ als das gemeinsame Prinzip von Recht und Ethik zurückgreifen, um dann die Rechtsgesetze separat als die Gesetze äußeren Handelns zu entwickeln. Eine derartige Emanzipation des Rechts von der Ethik und deren Zwecklehre ist innerhalb der reinen Vernunft von 1781 natürlich nicht möglich. Scheitert damit aber aufgrund der späteren Einsicht, daß das Recht nicht in direkter Abhängigkeit von der Ethik zu entwickeln ist, die normative Konstruktion der KrV, so daß sie umzuformen wäre in eine rein theoretische Kritik des reinen Verstandes – so wie es 1790 Kants Absicht mit der Umfunktionierung der ersten Kritik in eine »Kritik des Verstandes« tatsächlich geschieht.103 Wir formulierten oben: »Menschliche Erkenntnis, so lautet die These der KrV, gibt es nur unter der Bedingung ihrer institutionalisierten Rechtfertigung.«104 Ja und nein. Wenn man vom grundlegenden Vernunftinteresse und dem Primat der reinen praktischen Vernunft ausgeht, gibt es ein aus der Pflicht abgeleitetes Recht, die Erkenntnisprätentionen der theoretischen Vernunft im Hinblick auf ihre Legitimität zu überprüfen; eben dies geschieht vor dem Gerichtshof der KrV. Bleibt man jedoch in der Ebene der rein theoretischen Transzendentalphilosophie, hat die KrV nicht gezeigt, daß sie notwendig auf juridische Probleme stößt und es folglich neben der Wahrheitsfrage einer gesonderten Meta-Institution der »justi340 | kapitel 

fication« bedarf. Aus der rein theoretischen Sicht ist die juridische Fassung der Transzendentalphilosophie möglich, aber nicht notwendig. Nun läßt sich jedoch mit Kantischen Mitteln folgendermaßen argumentieren. Auf Wahrheit zielendes Denken und Erkennen sind Tätigkeiten, zu denen wir durch unsere Vernunftnatur bestimmt sind. Während Gott sogleich alles und die Tiere nichts erkennen, ist das menschliche Denken irrtumsgefährdet, und zwar so, daß der Mensch allein seine Idiosynkrasien und Fehler nicht durchschaut; daher muß ihm zur Prüfung seiner Urteile das Recht zugestanden werden, diese Urteile frei in einer institutionalisierten Öffentlichkeit vorzulegen und zu rechtfertigen. Die Öffentlichkeit wird im wörtlichen Sinn durch schriftliche Publikation der vermeinten Erkenntnis hergestellt. Mit der menschlichen Erkenntnis ist also das »heilige Recht« der Veröffentlichung verbunden, und umgekehrt sind Überlegungen, die nicht veröffentlicht sind, keine Erkenntnisse im eigentlichen Sinn.105 Die deontologische Komponente des allgemeingültigen Urteilens entspringt in dieser Überlegung dem Wahrsein-Sollen jedes Erkenntnisakts, der nicht nur ein naturales Phänomen ist, sondern die Norm des Wahrseins mit seiner Äußerung in sich trägt. Es wird sich zeigen, daß die Situation beim ästhetischen Urteil in der KdU anders ist, weil dort der Anspruch einer Urteilsart zu rechtfertigen ist, deren einzelnen Urteilen die Möglichkeit fehlt, wahr oder falsch oder kohärent zu sein. Eine andere Problemzone ist die Konkurrenz zweier letzter Einheiten. Der gut belegbaren Rechtsverfassung der Kritik der Vernunft und ihrer Institution (als) eines »oberste[n] Gerichtshof[s] aller Rechte und Ansprüche unserer Spekulation« (A 669) steht das »Ich denke« gegenüber: »Und so ist die synthetische Einheit der Apperzeption der höchste Punkt, an dem man allen Verstandesgebrauch, selbst die ganze Logik, und, nach ihr, die TranszendentalPhilosophie heften muß, ja dieses Vermögen ist der Verstand selbst.« (B 134) Kann man beides in eine Beziehung setzen, die synthetische Apperzeption als den höchsten Punkt und das oberste Gericht? Das »Ich denke« kann als höchste Instanz der Reflexion gefasst werden, die sich auf die Erkenntnisstämme, die verschiedenen Vermögen und ihre Tätigkeiten und auch sich selbst bezieht; das oberste Gericht ist die Institution, die die Reflexion benötigt, um den Ansprükritik der reinen vernunft: der gerichtshof | 341

chen der Sittlichkeit gerecht zu werden. Es wird formuliert »Alles Interesse meiner Vernunft […]«; und dann folgt das dreimalige Ich (A 804–805). Es muß also vorweg ein Ich denke geben, das dazu befähigt ist, sich die Vernunft und damit auch das höchste Vernunftinteresse zuzuschreiben. Aber hier stehen sich vielleicht die beiden divergierenden Auflagen der KrV gegenüber. Man darf vermuten, daß die KrV der ersten Auflage die moralische Bestimmung für den höchsten Punkt hält, daß die B-Auflage dagegen den höchsten Punkt in die Analytik verlegt und daß sie damit vorbereitet, was die KdU ausdrücklich vollzieht, indem sie die KrV umbenennt zu einer Kritik des Verstandes. Aber hiermit bewegen wir uns in bloßen Konjekturen. In der Sache kann man über den Rangstreit von Endzweck und Ich denke unabhängig von der Differenz von A- und B-Auflage folgendermaßen reflektieren: Es scheint so, als ließe sich die Dopplung von Ich und Vernunft auf die Zweiheit von Erde und Sonne im Gleichnis der Kopernikanischen Wende abbilden. Das Ich denke ist die höchste synthetische Einheit, die die Erscheinungserkenntnis organisiert, die reine praktische Vernunft dagegen ist das organisierende Prinzip der moralischen Welt.

»Of the Reason of Animals« (Hume) Die kritische oder Transzendentalphilosophie gibt dem Menschen das Recht, die gesamte Welt der äußeren und inneren Sinne als sein Phänomen zu betrachten, das durch unsere Bedingungen der Möglichkeit der Erfahrung allererst zu einem möglichen Gegenstand wird; die Weltobjekte haben damit umgekehrt keine Möglichkeit, uns als selbständige Dinge gegenüber zu treten. Folgende Überlegung nun überschreitet den Kantischen schriftlich niedergelegten Reflexionsrahmen: Wir sind mit dieser Festlegung genötigt und berechtigt, die anders modellierten Empfindungs- oder Wahrnehmungsformen und damit »Welten« von Tieren unserer Erkenntnisapparatur zu unterwerfen und unsere Raum-Zeitformen und Kategorien zu benutzen, um die Erfahrungsmodalitäten von Fledermäusen und Schimpansen objektiv zu erkennen; diese können also nicht als konkurrierende Modalitäten ins Spiel gebracht werden, so daß 342 | kapitel 

die Welterfahrung der Fledermaus gleichberechtigt neben der unsrigen stünde – davor werden wir bewahrt, und wir brauchen unsere Ausflucht nicht darin zu suchen, daß die Tiere einfach ganz anders sind als wir. Durch die transzendentalphilosophische oder kritische Begründung unserer Erkenntnis und Moral sind wir aller Natur so enthoben, daß wir sie insgesamt zu Recht als bloße Sache der Erscheinung erkennen und behandeln können. Anders John Locke: Seinem Versuch über den menschlichen Verstand könnte idealiter ein Versuch entgegen gestellt werden, der aus der Binnenperspektive der Psychologie einer anderen Tiergattung verfasst wäre. Beide Weisen des »understanding« stünden einander in unterschiedlichen Welten gegenüber, und nur Gott hätte eine Metatheorie, die die Einheit der Welt retten könnte.

Das Desinteresse an der juridischen Konzeption in den Prolegomena und der 2. Auflage der KrV Es wurde schon oben auf den Textbefund hingewiesen, daß die Prolegomena und die 2. Auflage der KrV kein Interesse an der Vertiefung der rechtsphilosophischen Dimension der Schrift von 1781 nehmen. Während die 1. Auflage den Titel der »Kritik der reinen Vernunft« bei der ersten Erwähnung sogleich rechtlich faßt und damit das gesamte Buch als eine juridische Verfassung der Vernunft vorstellt (A XI–XII), weist die 2. Auflage bei der Ersterwähnung des Titels in eine ganz andere Richtung: Die KrV sei ein Versuch, das bisherige Verfahren der Metaphysik umzuändern und nach dem Beispiel der Geometer und Naturforscher eine Revolution mit ihr vorzunehmen; darin »besteht nun das Geschäft dieser Kritik der reinen spekulativen Vernunft. Sie ist ein Traktat von der Methode […].« (B XXII) Hier wird, könnte man sagen, ein bis heute währender Paradigmenwechsel vollzogen. Während Kant 1781 gegen Lokkes empiristische »historical plain method« und Wolffs rationalistische »methodus scientifica« oder den »mos geometricus« eine rechtliche Grenzbestimmung der Vernunft schlechthin stellte, kehrt er 1783 und 1787 zu einem modifizierten Wolffianismus zurück; Leitwissenschaften sind jetzt die Physik und Astronomie. »In der Ausführung also des Plans, den die Kritik vorschreibt, d. i. im künfkritik der reinen vernunft: der gerichtshof | 343

tigen System der Metaphysik, müssen wir dereinst der strengen Methode des berühmten Wolf, des größten unter allen dogmatischen Philosophen, folgen […]« (B XXXVI), das sind Schalmeientöne, die der KrV von 1781 zuwider waren. 1781 wird die Menschheit von dringenden, die Metaphysik betreffenden Fragen heimgesucht (A VII), in ihnen vereinigt sich alles Interesse unserer Vernunft (A 804), und das Zeitalter ist philosopisch genug, um nicht aus historischen Gründen gegenüber der Bestimmung des Menschen indifferent zu werden (A X–XI) – dies ist philosophische Atmosphäre der KrV 1781. Der Trakat von der Methode, in den sich die Schrift 1787 verwandelt hat, ist allen Menschen außer den Gelehrten völlig gleichgültig, wie es ähnlich die gelehrten Gottesbeweise sind. Kant hat nicht seine Meinung in der Sache geändert, sondern bestimmt die Funktion der ersten Kritik neu und ändert entsprechend den Titel in seinen Aussagen über das Werk in »Kritik der reinen theoretischen [und nicht praktischen, RB] Vernunft«. Kant führt diese Neuorientierung aus, ohne zur Umwandlung der ersten Kritik explizit Stellung zu nehmen. Die Prolegomena konzentrieren sich auf den Status der KrV als einer Grundlegungsschrift der Wissenschaften und der Metaphysik als einer Wissenschaft. Diese Wissenschaftsbetonung führt in eine Richtung, die Kant konsequent bis 1790 durchhalten wird: Die KrV fungiert zunehmend als »Kritik der spekulativen Vernunft« bzw. »Kritik des Verstandes« neben einer systematisch notwendigen »Kritik der praktischen Vernunft«; in der ersteren wird die Leistung der Analytik (inklusive der Ästhetik) in den Vordergrund gestellt, während der Bereich der Dialektik zunehmend an die KpV delegiert wird; die erste Kritik ist für die Natur, die zweite für die Freiheit zuständig; damit aber verlagert sich das Zentrum der KrV von 1781 aus der Kritik einer sich selbst verkennenden Vernunft, also der Dialektik, in den ersten Teil, die Ästhetik und Analytik bzw. eine diese beiden umfassende neue Analytik (wie wir gleich sehen werden). Die Analytik ist nicht der Ort großer Streitigkeiten zwischen verschiedenen metaphysischen Richtungen; damit aber entfällt das Motiv der Selbstinszenierung der KrV als des Gerichtshofes, an dem die bisherigen Dissense friedlich beigelegt werden. So bleibt an rechtlichem Bestand die Figur der Deduktion; sie mutiert jedoch de facto zu einem wissenschaftlichen Verfahren; der Rechtsaspekt spielt hierbei kaum noch 344 | kapitel 

eine Rolle, zumal er schon 1781 nicht in den Deduktionsgang selbst eingriff und so das eigentlich wissenschaftliche Ziel, die Ermöglichung synthetischer Urteile apriori, bestehen bleibt. Die Neuformierung der Funktion der Dialektik in den beiden Fassungen von 1781 und 1787 zeigt sich in aller Deutlichkeit im Verzicht sowohl der Jurisdiktion wie auch der Transzendentalphilosophie in diesem Gebiet. 1781 werden die Ansprüche der alten »metaphysica specialis« in ihren drei Gebieten vor dem Gerichtshof der reinen Vernunft verhandelt, wobei das Ergebnis für die Metaphysik niederschmetternd ist: Ihre Ansprüche scheitern insgesamt, so daß die rationale Psychologie, Kosmologie und Theologie als eigenständige Wissenschaften zermalmt und vernichtet sind und ihre jeweilige Idee nur noch eine regulative Funktion für die Verstandeserkenntnis haben kann – aus Königinnen sind durch den Urteilsspruch des republikanischen Gerichtshofes Dienerinnen geworden. In der Folgezeit wird deutlich, daß die Alternative von Natur und Freiheit zur Zweiheit von Kritik der reinen Vernunft, zuständig für die Natur, und Kritik der praktischen Vernunft, zuständig für die Freiheit, führt. Damit aber entsteht eine Kollision zwischen der Rehabilitierung der drei metaphysischen Entitäten in der KpV einerseits und ihrer Dienstfunktion qua bloß regulativer Ideen in der KrV andererseits. Kant konzentriert entsprechend die Aufgabenbestimmmung der ersten Kritik ganz auf die eigenständige Naturerkenntnis und zieht sich aus der positiven Funktionsbestimmung der Ideen der Vernunft zurück. Die Orientierung der später so genannten »kopernikanischen Revolution« an dem Vorbild der Astronomie weist in diese Richtung: Es geht um eine rein theoretische Forschung dort am Sternenhimmel, hier in der Erkennbarkeit der Erscheinungen. Entsprechend ist die Annahme, daß die KrV eine nur spekulative Theorie entwickelt, gut verständlich, und so werden sowohl die juridischen wie auch die transzendentalphilosophischen Aufgabenbestimmungen modifiziert. Zur Transzendentalphilosophie steht in der 1. Auflage: »Ich nenne alle Erkenntnis transzendental, die sich nicht so wohl mit Gegenständen, sondern mit unsern Begriffen a priori von Gegenständen überhaupt beschäftigt.« (A 11–12). In der 2. Auflage steht: »Ich nenne alle Erkenntnis transzendental, die sich nicht so wohl mit Gegenständen, sondern mit unserer Erkenntnisart von Gegenkritik der reinen vernunft: der gerichtshof | 345

ständen, so fern diese a priori möglich sein soll, überhaupt beschäftigt.« (B 25)106 Bei allen Komplikationen der Differenz dieser beiden Texte scheint eine Tendenz klar zu sein: In der 1. Auflage beziehen sich die »Begriffe a priori von Gegenständen überhaupt« auch auf die transzendentalen Ideen der reinen Vernunft; in der 2. Auflage ist die »Erkenntnisart von Gegenständen, so fern diese a priori möglich sein soll«, auf die Naturerkenntnis der transzendentalen Analytik eingeschränkt. Damit aber wäre auch die transzendentale Jurisdiktion auf die Analytik eingeschränkt, und hier hat sie keine eigentliche Funktion mehr, denn es treten keine Ansprüche und Gegenansprüche auf, sondern in der Deduktion der reinen Verstandesbegriffe werden die Gegenpositionen von Locke/Hume und Wolff durch den Beweis selbst außer Kraft gesetzt. Ein Wandel findet auch stillschweigend im Gesetzesbegriff statt. In der KrV wird noch der revolutionäre Akt herausgestellt, daß der menschliche Verstand nunmehr der Gesetzgeber der Natur ist; wir sahen: Nicht Gott, sondern der Mensch gibt der Natur das Gesetz! Schon 1783 und dann forciert 1787 wird der Gesetzesbegriff ohne alles Pathos zum Sachprinzip von Natur und Freiheit: Alles schlechthin unterliegt dem Gesetz, alles hängt in seiner Existenz von der immanenten Gesetzlichkeit ab. Da wird von keinem Législateur von außen ein Gesetz erlassen und eine Welt in Gang gesetzt, sondern eine Notwendigkeit aufgedeckt, die den beiden Reichen als solchen inhärent ist. Der rechtlich-praktische Gesichtspunkt, den die Gesetzgebung der Natur in der 1. Auflage der KrV hatte, weicht einem naturwissenschaftlichen Gesetzesbegriff; das Naturgesetz entspringt dem spontanen Verstand, aber eben dieser Ursprung läuft Gefahr, der Natur selbst zugeschlagen zu werden. Worin sollen sich Verstand und Natur noch unterscheiden? Das muß an anderer Stelle näher analysiert werden. In der Erstfassung stellte sich die KrV als Aufgabe die »Bestimmung sowohl der Quellen, als des Umfanges und der Grenzen derselben, alles aber aus Prinzipien.« (A XI–XII). Hieran ändert auch die Zweitfassung nichts, sie konkretisiert jedoch das Gebiet zwischen Quellen und Grenze so, daß eine juridische Behandlung ausgeschlossen ist: Die Kritik, heißt es, sei »nicht ein System der Wissenschaft selbst; aber sie verzeichnet gleichwohl den ganzen Umriß derselben, sowohl in Ansehung ihrer [sc. der Wissenschaften], als 346 | kapitel 

auch den ganzen inneren Gliederbau derselben.« (B XIII) Wenn im folgenden von einem »Vorriß zu einem System der Metaphysik« gesprochen und diesem Vorriß die Eigenschaft einer in Ansehung der Erkenntnisprinzipien für sich bestehenden Einheit zugebillgt wird, »in welcher ein jedes Glied, wie in einem organsierten Körper, um aller anderen und alle um eines da sind« (B XXIII), dann füllt Kant das Feld des Umfanges mit Inhalten aus, die mit der Rechtsidee nichts mehr zu tun haben. Der hier an einigen Punkten aufgewiesene Wandel von 1781 über 1783 zur 2. Auflage der KrV 1787 soll bei der Erörertung der nächsten beiden bzw. drei Kritiken weiter beobachtet werden.

Notizen zu Rezeption und Forschung Der juridische Charakter der ersten Kritik ist in der Kant-Geschichte bis in die Gegenwart übersehen worden. Dafür lassen sich folgende Gründe namhaft machen. Kants eigene Strategie im Umgang mit seinen Schriften lief auf die These hinaus, daß die 2. Auflage der KrV zwar einiges in der Darstellungsweise geändert habe, jedoch nicht in der Sache (B XXXVII–XLIV). Entsprechend dieser Vorstellung sahen sich die späteren Herausgeber verpflichtet, der Edition von 1787 den Vorrang vor der Erstauflage zu geben; hieran hielt sich noch die Akademie-Ausgabe, die fast allen fremd- und deutschsprachigen Editionen als Leitedition diente. Noch die sorgfältigen Arbeiten, die den Rechtscharakter sei es der Deduktion, sei es der Antithetik untersuchen (Ishikawa, Henrich, Marcos) stellen nicht klar, mit welcher Ausgabe sie arbeiten wollen. Ein anderes wichtiges Faktum für die Rezeption und Forschung ist dadurch gegeben, daß die nachfolgende Generation der deutschen Idealisten Zugriff nur zur 2. Auflage hatte; so bezogen sich Fichte, Schelling und Hegel, um nur die drei bedeutendsten ersten Autoren der großen Auseinandersetzung um die Kantische Philosophe zu nennen, auf das Werk von 1787.107 Diese Präferenz wurde durch den Neukantianismus entschieden verstärkt; es wurde die kritische Philosophie vornehmlich als Wissenschaftstheorie sei es rezipiert, sei es weiter entwickelt; die genauere Kantlektüre bezog sich auf die Prolegomena und die 2. Auflage der KrV. kritik der reinen vernunft: der gerichtshof | 347

Ein weiterer Grund der Vernachlässigung des juridischen Aspekts der ursprünglichen KrV liegt darin, daß die Kantische Rechtsphilosophie bis tief in die zweite Hälfte des 20. Jahrhunderts relativ wenig beachtet wurde. Schopenhauer, der so wenig vom Recht wie die übrige Romantik hielt, fand die Begründung seines Desinteresses in der These, die Metaphysik der Sitten sei senil.108 So brauchte er sich mit der Rechtslehre von 1797 nicht zu beschäftigen und stieß so wenig wie die übrigen Kantleser auf die Antizipationen von Rechtsstrukturen in den vorsenilen Werken. Eine Nebenfolge dieser Verdrängung ist eine weitere Rezeptionsgeschichte der KrV, in der ein Hauptgedanke des Werks nicht auftaucht. Die analytische Philosophie kappt die Verbindung der Urteilslehre mit der Freiheitsphilosophie in ihrer eigenen Konzeption und wird entsprechend auch bei Kant nicht aufmerksam auf diese Verbindung; für Heidegger sind die Wörter »Freiheit« und »Recht« Fremdwörter, in seiner Publikation Kant und das Problem der Metaphysik kommt z. B. die Kantische Metaphysik der Sitten schlicht und entwaffnend nicht vor. Gadamer gestand gegenüber Julius Ebbinghaus, auf dem Auge der Rechtsphilosophie sei er blind,109 und Hannah Arendt entwickelte gegen Kant eine Kantische politische Philosophie aus der »Kritik der ästhetischen Urteilskraft« statt mit Kant aus den »Metaphysischen Anfangsgründen der Rechtslehre«.110 Hans Vaihingers Kommentarsatz bleibt symptomatisch: »Einen Gerichtshof einsetzen. Dieses Bild des Processes liegt der ganzen Kritik zu Grunde und wird von Kant so oft wiederholt, daß eine systematische Zusammenstellung der Äußerungen hierüber zweckdienlich erscheint.«111 Es wird fast alles zusammengestellt, was nach einem Gerichtshof und Prozeß klingt, aber die Frage, was Kant mit dieser Redeweise eigentlich bezweckt, wird nicht gestellt. Summa summarum: Die Rechtsideen der KrV sind für Vaihinger eine unmaßgebliche Marotte des Autors. Entscheidende Impulse brachte Dieter Henrich,112 Ishikawa hat die Anregungen aufgenommen und aus einem speziellen Problem der Urteilstafel entwickelt.113 Friedrich Kaulbach hat in seinen Studien zur späten Rechtsphilosophie Kants und ihrer transzendentalen Methode (1982) zu zeigen versucht, daß die Rechtsphilosophie sehr wohl ein Teil der Tran348 | kapitel 

szendentalphilosophie sei und man dies an der besonderen Methode der Gewinnung allgemeiner Rechtsbegriffe beobachten könne. Nun ist die Vorstellung einer »transzendentalen Methode«, die Kant, wie man weiß, als solche nicht kennt,114 nicht ohne methodische Vorbehalte auf die Rechtsphilosophie anzuwenden; Kaulbach exponiert jedoch nicht, was er genau unter Transzendentalphilosophie und ihrer Methode versteht, noch berücksichtigt er die Fundierung der reinen praktischen Philosophie ausschließlich im kategorischen Imperativ in der KpV. Es kommt hinzu, daß die »Rechtslehre« Kants zwar die (auch) transzendentalphilosophische Trennung von Ding an sich und Erscheinung expressis verbis voraussetzt, jedoch selbst nicht Teil der Transzendentalphilosophie ist. Wolfgang Kersting hat in einer geduldigen Rezension des Weiteren darauf hingewiesen, daß der rechtliche Imperativ die Grundlage der »Rechtslehre« stiftet und schon deswegen von einer transzendentalphilosophischen Methode in ihr keine Rede sein könne.115 So hofft man vergebens, bei Kaulbach konkrete Gedanken zu dem Thema des Verhältnisses von Transzendentalphilosophie und Rechtlichkeit erfahren zu können.

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Kritik der praktischen Vernunft: Die Gegenkritik

Der kategorische Imperativ Der kategorische Imperativ lautet in einer seiner verschiedenen Fassungen: »Handle nach der Maxime, die sich selbst zugleich zum allgemeinen Gesetze machen kann« (IV 436,30–437,1).116 Er präsentiert sich als »formula«, die nach Kant zwar näher explizierbar, aber doch für jeden Menschen, der seiner Vernunftausübung mächtig ist, wie der Satz vom Widerspruch oder ein Kompaß unmittelbar einsichtig und anwendbar ist, denn er formuliert nur, was jeder immer schon weiß und kann. In diesem sittlichen Wissen steht der römische Bauer dem gelehrten Griechen und der einfache Handwerker Kant selbst nicht nach. Der kategorische Imperativ hat durch seine Kürze und – wenigstens scheinbare – Evidenz und leichte Handhabbarkeit eine gewisse Popularität erhalten und bis heute bewahrt. Andererseits ist Kants theoretische Durchdringung dieses einfachen Sittenprinzips höchst kompliziert; sie änderte sich noch 1788 in der KpV, und auch hier scheint der zweite Teil der Elementarlehre, die Dialektik, mißlungen, wenigstens kam Kant auf ihn systematisch nie zurück, so daß unsicher ist, ob er diesen Teil seiner Theorie auch nach 1788 für angemessen hielt; am Inhalt jedoch, dem für die Moral unabdingbaren Vernunftglauben an Gott, Freiheit und Unsterblichkeit, hat er auch später festgehalten. »Der Gebrauchswert des kategorischen Imperativs liegt in seiner Erhabenheit, die seine Unanwendbarkeit sicherstellt.«117 So Peter Sloterdijk, der von der ganzen Moralphilosophie sowieso nichts hält und mit der zitierten Pirouette die Kantische Moralphilosophie ins Kabarett der Menschheitsgedankengeschichte stellt. Umgekehrt Jürgen Habermas, der Kant zunächst auf die Ebene der empirischen Psychologie herunterinterpretiert, um dann seine eigenen, entfernt ähnlichen, aber absolut unpopulären Moralformeln zum Kommunikationsgebrauch zu entwerfen. Der entscheidende Punkt der herunterziehenden Fehlinterpretation ist die Auffassung, Kant spreche kritik der praktischen vernunft: die gegenkritik | 351

von einer Universalisierung der Maxime unter Menschen (dazu gleich Näheres). Hiermit ist alles vertan, denn das Eintrittsbillett in die Kantische Philosophie ist grundsätzlich die Notwendigkeit; wo diese fehlt, bewegen wir uns in der Anthropologie118 oder der Physischen Geographie, zwei empirischen Disziplinen. Habermas streicht in der postmetaphysischen Philosophie generell die Notwendigkeit und zeigt damit implizit die Schwierigkeit, Zugang zu den Kantischen Gedanken zu finden. Der kategorische Imperativ ist weder hypererhaben, so daß eine Anwendung ausgeschlossen ist, noch lässt er sich auf eine Diskussion ein, ob denn bitte alle Beteiligten und Betroffenen meine Maxime inhaltlich annehmen könnten. Der kategorische Imperativ enthält die Modalität der Notwendigkeit in drei Ebenen: 1. Der Imperativ ist das einzig mögliche Pflichtprinzip: Wenn es also ein derartiges Prinzip gibt, dann muß es notwendig der kategorische Imperativ sein. 2. Der Imperativ ist ein selbsterzeugtes Faktum des Bewußtseins bzw. der praktischen Vernunft, das mit ultimativer Befehlsgewalt die Befolgung ohne Wenn und Aber will. 3. Der Imperativ enthält eine strukturelle Notwendigkeit, die sich aus der Idee einer vollständigen gesetzlichen Ordnung der moralischen Welt von Vernunftwesen ergibt. Die drei Formen der Notwendigkeit lassen sich nach den Modalitäten der Möglichkeit (einzig möglich), der Wirklichkeit (Faktum) und der Notwendigkeit (notwendige und hinreichende Bedingung des mundus intelligibilis) ordnen. Die Notwendigkeit ist allgemein sowohl nach 2 wie nach 3; nach 2, weil das Faktum des Bewußtseins die Privatheit ausschließt und als solches jeder moralischen Vernunft als Selbstgesetz inhärent ist, also eine distributive Allgemeinheit einschließt; nach 3, weil das Gesetz ein Weltgesetz ist und damit für die kollektive Gesamtheit der Vernunftwesen gilt, also kollektiv allgemein ist. – Das Beispiel einer Notwendigkeit ohne Allgemeinheit ist das »ens necessarium« der Schulmetaphysik, etwa der Gott Spinozas als causa sui. In der neueren Literatur wird meistens angenommen, der kategorische Imperativ gebiete die Universalisierbarkeit der Maximen und ihrer Inhalte. So paraphrasiert Habermas das von ihm häufig 352 | kapitel 

herangezogene Kantische Moralprinzip als Forderung, »daß gültige moralische Gebote ›universalisierbar‹ sein müssen,«119 hierin wird ein notwendiges und hinreichendes Kriterium gesehen. Mein Vorsatz der Selbsttötung ist verallgemeinerbar, denn warum sollen sich nicht alle Menschen umbringen? Wie kommt es, daß Kant dagegen den Selbstmord als Beispiel eines strikten Verbots anführt, auch wenn alle Menschen eine gegenteilige Neigung hätten? Warum spricht Kant durchweg vom allgemeinen Gesetz? Es ist kein kosmetischer Fehler, der hier von der Buchstabenarchäologie bemängelt wird, sondern ein Verfehlen des Clous der Kantischen und damit der besseren Hälfte aller Moralphilosophie. Sie wird in der Literatur des 19. und 20. Jahrhunderts in den Horizont der Anthropologie und empirischen Psychologie gebracht, um sich nach dieser vorhergehenden hermeneutischen decapitatio (Detranszendentalisierung) und Entdifferenzierung im ungefähren Einklang mit ihr zu wissen. Universalisieren heißt natürlich, bei allen Menschen nachfragen, ob sie einverstanden sein und alle daßelbe, also denselben Inhalt wollen können; in Kants Moralbegründung sind jedoch Vernunftwesen die Adressaten, von denen Menschen eine Teilklasse bilden (ob es andere Vernunftwesen gibt oder nicht, ist dabei gleichgültig). Kant warnt immer wieder davor, die Moral in der Anthropologie zu begründen und die Gesetzlichkeit mit der inhaltlichen Verallgemeinerung zu verwechseln. Eine verwandte Empirisierung wird vorgenommen, wenn man den Imperativ aus dem verallgemeinerten Nutzen gewinnen will;120 auch hier werden aus hermeneutischer Eigenmacht die Vernunftwesen gestrichen und durch die uns nahe stehenden Menschen ersetzt; daß die im Imperativ formulierte Gesetzlichkeit dabei verloren geht, liegt auf der Hand. – Ich erläutere die drei Formen der Notwendigkeit: 1. Sowohl in den beiden ersten Abschnitten der GMS (IV 393– 445) wie auch in den sie resümierenden Anfangsparagraphen der KpV (V 19–26) wird gezeigt, daß der kategorische Imperativ das einzig mögliche Prinzip der Pflicht ist. Die Alternative zu ihm wäre die Fundierung von Vorschriften entweder in irgendwelchen materialen Gegenständen oder in den auf diese Gegenstände gerichteten Neigungen. Die Objektbeziehung ist epistemischer Natur, denn ich muß einen Gegenstand als solchen erkennen; die Subjektbestimmung betrifft dagegen das Gefühl der Lust und Unlust. Durch den kritik der praktischen vernunft: die gegenkritik | 353

Nachweis, daß beide Seiten, das Objekt des Erkennens und das von ihm stimulierte subjektive Gefühl, unfähig sind, die Merkmale des Pflichtbegriffs zu erfüllen, bleibt nur das dritte Vermögen, der Wille, als die Instanz übrig, in der die Pflicht, wenn es sie denn gibt, lokalisierbar sein muß. Mehr besagt bei genauem Hinsehen auch der Anfangssatz im ersten Abschnitt der GMS nicht: »Es ist überall nichts in der Welt, ja überhaupt auch außer derselben zu denken möglich, was ohne Einschränkung für gut könnte gehalten werden, als allein ein guter Wille.« (IV 393,5–7)121 Ob es diesen einzig denkmöglichen guten Willen gibt, bleibt bis zum dritten Abschnitt offen. Dieses Verfahren ist Kant aus der Schulmetaphysik vertraut, etwa der rationalen Theologie, in der der einzig mögliche Begriff Gottes (als eines allmächtigen, intelligiblen etc. Wesens) gegen konkurrierende Möglichkeiten bestimmt wird; die Wirklichkeit des vollständig bestimmten Begriffs soll dann in einem zweiten Beweisschritt gezeigt werden. So verfährt auch Rousseau im Contrat social, in dem er zuerst den »pacte fondamental« als einzig mögliches Prinzip der Assoziation freier Menschen zeigt, um dann die reale Durchführbarkeit aufzuweisen. Die Notwendigkeit ist hier logischargumentativer Art; es ist zulässig, einzelne Schritte zu untersuchen und Alternativen zu erörtern. Nota bene: Es geht nicht um die Eliminierung der Objekte und der durch sie erregten Neigungen überhaupt, sondern um die Notwendigkeit, den materialen Inhalten die Entscheidungsbefugnis über das Handeln von Vernunftwesen zu nehmen. Das ist der Formalismus der Kantischen Moralphilosophie, der verknüpft ist mit der Lehre, aus der Form notwendige sittliche Inhalte zu generieren. 2. Es läßt sich nicht schlußfolgernd beweisen, daß das einzig mögliche Pflichtprinzip auch wirklich ist. Generell gilt: Kein Satzsystem enthält seine eigene Wahrheit bzw. Sein ist kein Prädikat (Gassendi, Kant)122. An dieser letzten Erkenntnis scheiterten der ontologische und mit ihm auch die übrigen Gottesbeweise. Kant führt in der KpV ein neues, gewissermaßen deiktisches Verfahren ein, das die rationale Metaphysik nicht kannte und von dem der Empirismus nichts zu erzählen wußte. Es wird an ein unbedingtes intelligibles Faktum des sog. Bewusstseins appelliert, das sich als solches jeder (grundsätzlich irrtumsgefährdeten) Beweisbarkeit und Er354 | kapitel 

kenntnis, jeder verbesserbaren Vorstellung und jeder menschlichen Anschauung und psychologischen Verifikation entzieht und das doch unleugbar im sittlichen Bewusstsein identifizierbar »da« ist, so wie in der theoretischen Welterkenntnis der KrV Raum und Zeit als Form aller Erscheinungen zweifelsresistent unmittelbar »da« sind. Als Pendant sind es jetzt gewissermaßen »intellectuale Anschauungen vom freyen Willen« (XVII 467,8 – Refl. 4228), wie Kant experimentierend in den siebziger Jahren sagt. Es gibt keine intellektuelle Anschauung, aber das Faktum des Sittengesetzes steht im mundus moralis genau an dem Platz, wo in der Sinnlichkeit das Faktum der formalen Raum- und Zeitanschauung steht, jeweils am Anfang der zuständigen Kritik. Fichte: »Des kategorischen Imperativs ist man nach Kant sich doch wohl bewusst? Was ist denn dies nun für ein Bewusstseyn? Diese Frage vergaß Kant sich vorzulegen, weil er nirgends die Grundlage aller Philosophie behandelte […]. Dieses Bewusstseyn ist ohne Zweifel ein unmittelbares, aber kein sinnliches; also gerade das, was ich intellectuelle Anschauung nenne.«123 Die geistige Präsenz entzieht sich der von Fichte vorgeschlagenen begrifflichen Bestimmung, weil es ein Unicum ist. Es spricht unhinterschreitbar die Verbindlichkeit gegenüber dem empirischen Willen aus, sich ihm zu unterwerfen. Diese Präsenz des kategorischen Imperativs kann (idealiter, und immer nach Kant) nicht wie eine allmählich zu erwerbende theoretische Verstandeserkenntnis graduell gedacht werden, ähnlich wie wir uns nicht des Raumes und der Zeit graduell bewusst werden können, es sei denn, als apriori uns immer schon bestimmender Formen. Wer eine andere, durch keine Einflüsterungen verdorbene Person fragt, warum sie nicht einfach lügt und sich so aus einer beklemmenden Lage hilft, gleicht jemandem, der eine andere Person fragt, warum sie Gegenstände in Raum und Zeit erkennt. Die gefragte Person ist perplex und kann nicht antworten, es sei denn, ihr stehe in einer Metaebene das Instrument der kritischen Philosophie zur Verfügung, die umständlich und kompliziert die Nichtbeantwortbarkeit der beiden Fragen demonstrieren kann. Teufeln ist dieses Faktum des Bewusstseins so wenig zu übermitteln, wie man Wesen, die keine Raum- und Zeitanschauung haben, telefonisch von deren nicht-diskursiver Qualität berichten könnte: »Raum und Zeit sind folgendermaßen beschaffen […]«124. kritik der praktischen vernunft: die gegenkritik | 355

Die Präsenz des kategorischen Imperativs ist in einer derivativen Form auch fühlbar im irrtumsimmunen Gefühl der Achtung vor dem Gesetz. (Dazu gleich Näheres). Auch dieses Gefühl kann nur deiktisch »da« sein und lässt sich niemandem andemonstrieren. Das derart unleugbare und unbeweisbare Faktum des kategorischen Imperativs erweist seine reale Einzigkeit durch den Nachweis, daß die unter Punkt 1 ausgeschlossenen Formen der Willensbestimmung (Begriffe, Gefühle) jetzt nicht mehr nur ausgeschlossen, sondern umgekehrt integriert werden können, wenn sie nur durch den kategorischen Imperativ bestimmt werden: Die Begriffe des Guten und Bösen und das moralische Gefühl sind derart abhängig vom kategorischen Imperativ und werden auf diese Weise als Teile des Systems der Sittlichkeit integriert. Der kategorische Imperativ ist, wie nachher näher erläutert werden soll, per analogiam staatsstiftend; auch im Staat hört die Möglichkeit auf, sich nach dem eigenen Urteil über das Gute und Böse und nach dem eigenen Gefühl zu richten (vgl. VI 312,11). Der kategorische Imperativ ist innerhalb der Vernunft und der sie explizierenden Vernunftphilosophie der »höchste Punkt« überhaupt, von dem aus auch alle Belange der theoretischen Vernunft mittelbar geordnet werden und die reflektierende Urteilskraft mit ihren Notwendigkeitsbehauptungen ihre letzte Legitimation erfährt. Er ist die Grundlage eines inneren Zwanges zur Befolgung der Tugendgesetze und eines äußeren Zwanges zur Befolgung der Rechtsgesetze, die jeweils die Freiheit gesetzlich bestimmen und damit realisieren sollen. Der kategorische Imperativ ist jeder sinnlich beschränkten Vernunft qua Vernunft bzw. jedem sinnlich affizierten Willen als Nötigung bewußt. Es gibt also idealiter keine Notwendigkeit, sich mit anderen Personen über Moralitätsurteile auszutauschen, weil jeder an einer Diskussion Beteiligte das Ergebnis immer schon monadisch in sich selbst realisiert. Die distributive Allgemeinheit des Imperativs ist somit in der Identität der Vernunftwesen als solcher begründet, und die Verallgemeinerbarkeit der gesetzesfähigen Maxime folgt analytisch aus dieser selbst. Wäre die Moralität nicht in der identischen reinen praktischen Vernunft eines jeden begründet, sondern entspränge der Verallgemeinerung meiner inhaltlichen Maximen (»was alle wollen können«), würde ich dem inhaltlichen 356 | kapitel 

Willen aller unterworfen und damit jeder Autonomie beraubt. Wir wären vom Kantischen Imperativ abgebogen zum Sozialismus und aus der Republik zurück in die Despotie gelangt, denn wenn die Vergesellschaftung durch die gemeinsamen Inhalte des Willens aller gewonnen wird, über die Frage jedoch, worin diese Inhalte bestehen, in der Praxis (im Gegensatz zur Theorie) nicht debattiert, sondern entschieden werden muß, gibt es notwendig Agenten, die den inhaltlichen Willen aller zu kennen vorgeben und durchsetzen; im 18. Jahrhundert hießen sie Despoten. Wir werden auf eine analoge Annahme bei der Analyse des ästhetischen Urteils in der KdU stoßen, denn die geforderte Mitteilbarkeit ist nicht in der Kommunikation als einem empirischen Prozeß begründet, sondern in der Identität der Menschen als sinnlich affizierter, aber erkenntnis- und moralitätsfähiger Wesen. Dies alles freilich in der Ebene der Theorie, nicht als Rezept für die empirische Geselligkeit unter den Menschen. Hier also liegt die Notwendigkeit im Machtspruch des moralischen Gesetzes, und wer nach dem Warum und Wozu fragt und eine Freiheit der Wahl braucht, ist nach Kant nur entschuldigt, wenn er/sie Probleme mit der deutschen Sprache hat.125 3. Der kategorische Imperativ richtet sich an ein Vernunftwesen, das als souveränes Glied zu einer Welt, einem mundus intelligibilis126, gehört. Mit der Verlagerung der Freiheit aus der Psychologie in die Kosmologie127 ist die Sittlichkeit zu einem Prinzip der kollektiven Einheit aller Menschen qua Vernunftwesen geworden. Diese strukturelle Notwendigkeit ergibt sich also aus der internen Logik eines gänzlich entprivatisierten, zunächst inhaltsleeren Gesetzes der notwendigen Kompatibilitäts-Bestimmung aller menschlichen Handlungen überhaupt. Alle möglichen Pflichtsituationen des Menschen – und wie ließe sich apriori irgendeine inhaltlich definierte Handlung ausnehmen? – unterliegen dem Gesetz, die moralische Welt durch gesetzesfähige Maximen zu ermöglichen und folglich mit allen anderen Pflichtsituationen beliebiger Vernunftwesen übereinzustimmen. Vergleichbar ist die Kompatibilität aller Erscheinungen untereinander aufgrund der Struktur der einen RaumZeitwelt und der Newtonschen Gravitation.128 Die Republikanisierung der Moral wurde begonnen bei den Engländern mit dem »moral sense« eines jeden Menschen, von Spalding in die Bestimkritik der praktischen vernunft: die gegenkritik | 357

mung des Menschen übernommen und von Kant zu einem Prinzip der eigenen Vernunft gemacht, das jeden zum Mitgesetzgeber der moralischen Republik macht; »civis moralis sum« ist das geforderte Bekenntnis jedes Wesens mit nicht-instrumenteller praktischer Vernunft. Das Gesetz muß als Verfassungsgesetz einer intelligiblen Welt mindestens zweierlei gewährleisten: Die Nichtzerstörung der substantiellen Entitäten – hier: der Personen – und der Möglichkeit ihrer Verbindung. Das erste wird durch Mord und Selbstmord, das zweite durch Lüge im Grundsatz zerstört, beides ist also strikt verboten. Diese einfachste Bestimmung von Gesetzen ist der Grund, warum Kant diese beiden Verbote immer wieder exemplarisch anführt. Selbstmord und Lüge: Nicht Tötung und unwahre Behauptung, denn dies letztere sind Fakten, die als solche nicht intendiert oder gewollt werden müssen. Die Nichtläsion der gemeinsamen Welt von Personen kann auch so ausgedrückt werden, daß keine Person nur Mittel, sondern auch limitierender Zweck ist. Positiv ist der intelligible mundus moralis durch Gesetze gekennzeichnet, die die gegenseitige Mittelverwendung durch das Zwecksein der Personen nicht nur limitieren, sondern auch ergänzen; alle sind als Glieder auch Zweck jeder Handlung, die Moralwelt ist also teleologisch organisiert, also ein Reich der Zwecke und damit der Inhalte. Damit enthält die vom kategorischen Imperativ aufgetragene Ganzheit nicht nur die Newtonsche Gesetzesordnung, sondern darüber hinaus die Zweckordnung eines natürlichen Organismus.129 Wie dies zu geschehen hat, hängt von den Umständen der Sinnen-, Sozial- und Kulturwelt ab, in der wir uns zufällig befinden. Bis hierher gilt die Freiheitsordnung auch für sinnlich affizierte Vernunftwesen in Naturwelten mit vielleicht anderen Raumund Zeitformen und anderen dynamischen Gesetzen. Der sich so in einer dreifachen Notwendigkeit zeigende kategorische Imperativ ist das Gesetz der Freiheit im Gegensatz zu den Gesetzen der Natur, er fungiert als ratio cognoscendi der Freiheit und diese umgekehrt als ratio essendi des moralischen Gesetzes (V 4.28–37). Kant formuliert verschiedentlich die scharfe Reziprozitätsthese,130 die schon aus der Gegenposition von Natur und Freiheit und ihrer jeweiligen Gesetzlichkeit folgt. Nun kann dies nicht Kants tatsächliche Meinung sein, denn er spricht durchgehend 358 | kapitel 

von unterschiedlich motivierten freien Akten der Willkür. Wie ist beides zu vereinbaren? Wir werden uns dieser Frage bei der Erörterung von Problemen der »Kritik der teleologischen Urteilskraft« zuwenden. Wenn unsere Interpretation korrekt ist, dann bildet diese Gesetzesstruktur die Grundverfassung der sittlichen Welt, die identisch ist mit unserer praktischen, gesetzgebenden Vernunft. Der kategorische Imperativ trägt uns folglich die Realisierung dieser unserer Vernunft auf, und mit der drohenden Alternative des Selbstverlustes unterstehen wir der »volonté générale« unseres eigenen organischen Welt-Willens. Der Versuch der Empirisierung des kategorischen Imperativs sei es in Form der inhaltlichen Allgemeinheit oder auch der Reduktion auf ein verallgemeinertes Nutzenprinzip ersetzt die Idee der volonté générale der Vernunftwesen durch die empirisch kontrollierbare zufällige volonté de tous, sc. aller Menschen. Das war nicht Kants Absicht. Anders ist die Lage in der Metaphysik der Sitten (1797); in beiden Teilen, der Rechtslehre und der Tugendlehre, sind anthropologische Gegebenheiten relevant, die in der Metaphysik (in dem dort gebrauchten Wortsinn) einen quasi-apriorischen Status haben wie z. B. die Kugelform der Erde als unseres folglich limitierten Wohnsitzes oder die Zweigeschlechtigkeit der Menschen mit der Folge eines Ehe- und spezifischen Kinderrechts.131

Die Systemanlage der KpV Die Analytik der Elementarlehre zerfällt in drei Teile mit einer abschließenden, vierten »Kritischen Beleuchtung der Analytik der reinen praktischen Vernunft«; auf die Analytik folgt wie in den anderen Kritiken die Dialektik, und die Elementarlehre wird wie auch sonst durch die Methodenlehre ergänzt. In der Analytik wird zuerst der Grundsatz des kategorischen Imperativs, danach werden die beiden von ihm bewirkten Begriffe des Guten und Bösen und drittens die ebenfalls vom kategorischen Imperativ bestimmte Triebfeder des moralischen Handelns, das Gefühl der Achtung, entwickelt. Die Anlage folgt also einem praktischen Syllogismus: Es werde »die Eintheilung der Analytik der reinen praktischen Vernunft der eines kritik der praktischen vernunft: die gegenkritik | 359

Vernunftschlusses ähnlich ausfallen müssen, nämlich vom Allgemeinen im Obersatze (dem moralischen Princip) durch eine im Untersatze vorgenommene Subsumtion möglicher Handlungen (als guter oder böser) unter jenen zum Schlußsatze, nämlich der subjectiven Willensbestimmung (einem Interesse an dem praktisch möglichen Guten und der darauf gegründeten Maxime), fortgehend.« (V 90,30–36) Durch das Prozedere immunisiert sich die KpV gegen zwei bedrohliche Alternativen. Die erste besteht in einem platonischen Rationalismus, die zweite im Empirismus der englischen Gefühlsmoral. Der platonische Rationalismus stellt den Begriff des Guten an die Spitze aller Bestimmungen; Kant dagegen besetzt erstens diese Position durch den kategorischen Imperativ und integriert zweitens das Gute als eine Größe, die allererst vom Gesetz ermöglicht wird. Die englischen Gefühlsmoralisten machen dagegen das moralische Urteilen und Handeln von den Kräften des Gefühls abhängig; Kant läßt umgekehrt das moralische Gefühl das Erzeugnis des Gesetzes der reinen praktischen Vernunft sein. Im ersten Fall erweist sich der kategorische Imperativ als das wahre objektive Beurteilungsprinzip sittlichen Handelns, das sog. principium dijudicationis, im zweiten als das wahre subjektive Ausführungsprinzip, das principium executionis. So werden die rationalistische Idee des Guten und das empiristische Moralgefühl in modifizierter Weise in die eigene Systematik integriert und als mögliche Gegeninstanzen aufgehoben. Die Analytik stellt sich auf diese Weise als ein vollendetes System der Moral vor, das aus eigener Begrifflichkeit das Gute und Böse bestimmt und aus eigener Kraft zum moralischen Handeln motiviert. In der Dialektik überrascht den Leser die Aussage, daß die objektive praktische Realität, das Faktum also des Bewusstseins des kategorischen Imperativs, eine Chimäre ist, wenn nicht eine bestimmte Folgebestimmung erfüllt wird: »Ist also das höchste Gut nach praktischen Regeln unmöglich, so muß auch das moralische Gesetz, welches gebietet, daßelbe zu befördern, phantastisch und auf leere eingebildete Zwecke gestellt, mithin an sich falsch sein.« (V 114,6–9) Natürlich bleibt der kategorische Imperativ ein unleugbares Faktum; aber wie ist dann diese hypothetische Androhung 360 | kapitel 

seiner Vernichtung im dramatischen Zentrum der gesamten kritischen Philosophie zu verstehen? Doch zunächst:

Die Umkehrung im Aufbau der Analytik von KrV und KpV Die »Analytik« der KpV reproduziert die »Analytik« der KrV, aber »in umgekehrter Ordnung«, wie es in der »Kritischen Beleuchtung« heißt (V 90,11–12). »Die Analytik der theoretischen reinen Vernunft wurde in transcendentale Ästhetik und transcendentale Logik eingetheilt, die der praktischen umgekehrt in Logik und Ästhetik der reinen praktischen Vernunft […].« (V 90,12–15) In der »Einleitung« machte Kant zum ersten Mal darauf aufmerksam, daß die zweite Kritik wie die erste in Elementar- und Methodenlehre zerfalle und die Elementarlehre wiederum in Analytik und Dialektik. »Allein die Ordnung in der Unterabtheilung der Analytik wird wiederum das Umgekehrte von der in der Kritik der reinen speculativen Vernunft sein. Denn in der gegenwärtigen werden wir von Grundsätzen anfangend zu Begriffen und von diesen allererst, wenn möglich, zu den Sinnen gehen; da wir hingegen bei der speculativen Vernunft von den Sinnen anfingen und bei den Grundsätzen endigen mußten.« (V 16,20–26)132 In der Willenslehre müßten »die Grundsätze der empirisch unbedingten Causalität den Anfang machen« (V 16,29–30), von da müsse man zu den Begriffen gehen, die die Anwendung auf Gegenstände ermöglichten, und drittens folge die Anwendung auf das Subjekt und seine Sinnlichkeit. Zunächst stellt die Übernahme der Struktur der »Analytik«, wenn auch in umgekehrter Ordnung, einen klaren Zusammenhang (V 7,14–15) von Identität und Verschiedenheit der beiden Kritiken her. Die KpV dokumentiert in ihrem Aufbau somit die Abhängigkeit von der, aber auch die Ebenbürtigkeit mit der ersten Kritik. Zugleich stellt Kant klar, daß mit dieser Relation zwischen den beiden Kritiken der theoretischen und praktischen Vernunft die Einheit der Vernunft selbst noch nicht gegeben ist; daher der Ausblick in der »Kritischen Beleuchtung«, »es vielleicht dereinst bis zur Einsicht der Einheit des ganzen reinen Vernunftvermögens (des theoretischen sowohl als praktischen) bringen und alles aus einem Princip ableiten zu können; welches das unvermeidliche Bedürfniß der kritik der praktischen vernunft: die gegenkritik | 361

menschlichen Vernunft ist, die nur in einer vollständig systematischen Einheit ihrer Erkenntnisse völlige Zufriedenheit findet.« (V 91,2–7; vgl. IV 391,24–28) Wir können hier schon festhalten, daß dieses Einheitsproblem 1781 noch nicht vorlag (trotz A 840– 842), denn als Kant die erste Kritik publizierte, hatte er nicht die Absicht und, so ergänzen wir, auch nicht die systematische Möglichkeit, eine zweite (oder gar dritte) Kritik folgen zu lassen. Der deklarativ herausgestellte Zusammenhang birgt also die noch nicht beantwortete Frage in sich, in welcher übergeordneten Einheit denn dieser Zusammenhang sowohl notwendig wie auch möglich ist. Es ist nicht möglich, daß die theoretische die praktische Vernunft oder vice versa erzeugt; es bedürfte also einer dritten, sie in ihrer Dualität generierenden Einheit. Die Umkehrung der »Analytik«, so wie sie in der »Einleitung« und in der »Kritischen Beleuchtung« geschildert wird, fordert nun ein erhebliches Opfer, denn Kant modifiziert retrospektiv die Struktur der KrV.133 Dort setzt die Elementarlehre mit der »Transzendentalen Ästhetik« ein und geht dann zur »Transzendentalen Logik« über, die ihrerseits in »Analytik« und »Dialektik« zerfällt. Jetzt heißt es dagegen in der »Einleitung«, die Elementarlehre der spekulativen Vernunft zerfalle in Analytik und Dialektik (V 16,18–20); so auch in dem späteren Kapitel »Von der Deduction der Grundsätze der reinen Vernunft«: »Wenn wir damit den analytischen Theil der Kritik der reinen Vernunft vergleichen, so zeigt sich ein merkwürdiger Contrast beider gegen einander. Nicht Grundsätze, sondern reine sinnliche Anschauung (Raum und Zeit) war daselbst das erste Datum […]« (V 42,20–23) – »daselbst«, nämlich in der Analytik. Und ebenso in der »Kritischen Beleuchtung«: »Die Analytik der theoretischen reinen Vernunft wurde in transcendentale Ästhetik und transcendentale Logik eingetheilt […].« (V 90,12–13) Die Eigenstellung der Ästhetik gegenüber der Logik wird also nicht aufgrund eines zufälligen Irrtums und einer nebulösen Erinnerung,134 sondern planvoll und systematisch reduziert, indem sie zu einem Teilgebiet der Analytik, des ersten Teils der Logik, gemacht wird. Es kann hier noch nicht dargelegt werden, daß die Veränderung bestimmten Tendenzen in der Revision der KrV in der zweiten Auflage von 1787 entspricht; die Funktion dieser Änderung für die KpV soll jedoch gleich thematisiert werden. 362 | kapitel 

Neben dem bisher benannten strukturellen Aspekt der Umkehrung gibt es einen inhaltlichen, der jetzt kurz zu erläutern ist; er muß etwas mit der schon angesprochenen Widerlegung des Empirismus zu tun haben. Die KrV stellte an den Anfang eine reine sinnliche Anschauung (»Ästhetik«), die durch die Begriffe des Verstandes (»Kategorien«) zu erkennen ist, die ihrerseits die Grundsätze des reinen Verstandes fundieren, aufgrund deren eine einheitliche objektive Erfahrung möglich wird. Die KpV dagegen kann – so schon die Einsicht der GMS – nicht mit der Sinnlichkeit beginnen, die durch die Begriffe und die Grundsätze des Verstandes näher bestimmt würde. Der Inhalt unserer Handlungsmaximen muß nicht näher bestimmt, sondern er muß getilgt werden, damit sich die Maxime zu einer moralischen Regel qualifizieren kann. Vergegenwärtigen wir kurz, wie diese Eliminierung des Inhalts in der GMS vorgenommen wird, auf die sich die KpV ja in der »Vorrede« zurückbezieht (V 8,8–12). Unter der hypothetischen Annahme der Geltung des Pflichtbegriffs wurde gezeigt, daß ein Wille unter der Idee der Pflicht weder vom materialen Gegenstand des Willens noch von der auf den Gegenstand gerichteten Neigung bestimmt sein kann. Damit fällt die Willensbestimmung fort, die sich in der Ordnung der Natur findet, und macht einer anderen Platz: An die Stelle des materialen Objekts oder des Inhalts des Wollens konnte nur die gesetzliche Form dieses Wollens treten, und an die Stelle der subjektiven Neigung zum materialen Objekt die vernunftgewirkte Achtung vor dem Gesetz. Somit konnte gefolgert werden: »Pflicht ist die Nothwendigkeit einer Handlung aus Achtung fürs Gesetz.« (IV 400,18–19)135 An dieser Konzeption hat Kant seitdem immer festgehalten; das bedeutet aber, daß die »Analytik« der KpV nicht mit einem Inhalt (selbst dem Guten an sich oder der Vorstellung von ihm) beginnen konnte, sondern nur mit dem formalen Gesetz des autonomen Willens. Hier sieht man, wie die Umkehrfigur mit der Widerlegung des Empirismus zusammenhängt: Wird nicht mit dem formalen Gesetz begonnen, sondern ein vorgängiger Inhalt des Begehrens gesetzt und näher bestimmt, ist der Empirismus unvermeidlich.136 Die Abfolge »Sinnlichkeit – Begriffe – Grundsätze« wird in der KpV, so zeigte sich, durch die umgekehrte Abfolge »Grundgesetz – Begriffe – Sinnlichkeit« ersetzt. Bei dieser Anlage der KpV muß es, kritik der praktischen vernunft: die gegenkritik | 363

wie schon gezeigt, zum Problem werden, welchen Wissensstatus das uns als Faktum gegebene bzw. selbstgemachte Vernunftgesetz hat. Erkennen wir das Gesetz in der Form einer diskursiven Proposition? Haben wir eine intellektuelle Anschauung? Fichte schrieb, wie oben zitiert, mit imperialem »ohne Zweifel«: Kant habe vergessen, nach dem Bewußtseinsmodus des kategorischen Imperativs zu fragen: »Dieses Bewusstseyn ist ohne Zweifel ein unmittelbares, aber kein sinnliches; also gerade das, was ich intellectuelle Anschauung nenne.«137 Wie immer Fichte Kant interpretiert, dieser sträubte sich besonders seit der Lektüre Swedenborgs gegen die Annahme einer intellektuellen Anschauung. Glauben wir an das Gesetz? Können wir uns irren im Dechiffrieren dieser inneren Gesetzestafel? Kant setzt auf das praktische Selbstbewusstsein: »Man kann das Selbstbewußtsein dieses Grundgesetzes ein Factum der Vernunft nennen, […].« (V 31,24)138 Negativ, gegen die theoretische Erkenntnis gewendet: Der kategorische Imperativ ist uns so wenig im Modus eines zufälligen Vorstellungsinhalts gegeben, wie wir ihn intellektuell anschauen oder an ihn glauben. Der theoretische Ort und Charakter des unmittelbaren notwendigen sittlichen Selbstbewusstseins läßt sich durch folgende Überlegung näher bestimmen. Die KrV antwortet dem Leibniz-Wolffschen Rationalismus durch die Vorschaltung der Ästhetik vor die Logik; Erkenntnis sei nur, so lehrt die KrV, durch die Vereinigung von Anschauung und Denken im synthetischen Urteil apriori möglich (Analytik), lasse sich also nicht aus dem Denken allein gewinnen (Dialektik). Der Status nun von Raum und Zeit als den reinen Formen der Sinnlichkeit vor allem begrifflichen »Ich denke« ist der der Anschauung, die konkret erkennbar wird in formalen Anschauungen einzelner, von uns erzeugter Raum- oder Zeitbestimmungen (Figurenerzeugung, Zählakte, dazu besonders B 161). Bei der systemischen Umkehrung der »Analytik« von KrV und KpV gerät die Lehre von der Freiheit und ihrem Grundgesetz an den Ort der Ästhetik in der KrV. Nun verfügen wir zwar über keine der sinnlichen Anschauung korrespondierende »intellectuelle Anschauung« (V 31,30; 103,31–33) der Freiheit, haben jedoch ein analoges Bewußtsein des Freiheitsgesetzes. Und so wie sich die Kategorien des Verstandes in der theoretischen Erkenntnis auf die sinnliche Anschauung beziehen, so beziehen sich die Kategorien der Freiheit auf das Bewußtseinsfak364 | kapitel 

tum des Sittengesetzes (V 65,27–66,15). Wir erkennen nur, was wir selbst machen, schreibt Kant an Beck (XI 515,10–11, vgl. aber auch V 316,6–10); in der Alternative von passiver Gegebenheit und spontaner Erzeugung (u. a. A 23 für Raum und Zeit) gehört sowohl das Faktum des sittlichen Bewusstseins wie auch der Formen der Anschauung auf die Seite der Selbsterzeugung durch das menschliche Gemüt. Wir haben es mit einer ursprünglichen Formgebung der Sinnenwelt und der intelligiblen Welt zu tun, deren Erkenntnis in der ursprünglichen Erzeugung mitgesetzt ist. Der kategorische Imperativ gibt keine gelehrten Probleme auf wie die Idee des Guten bei Platon, sondern ist einsichtig und leicht anwendbar wie ein Kompaß – so die Kantische Intention. Dies war das Versprechen der Bestimmungsphilosophie: Wozu der Mensch bestimmt ist, das muß er umstandslos erkennen und realisieren können. Aus der Themenstellung der Elementarlehre der KpV sind dabei zwei Problemkreise ausgeschlossen: Einmal geht es nicht um die ethisch-pädagogische Frage, wie der Mensch zu einem sittlichen Charakter gelangt, der ihm das Handeln aus Achtung vor dem Gesetz ermöglicht.139 Hierauf geht die Methodenlehre der KpV ein. Das zweite ist die Problematik der Anwendung des Sittengebots auf Situationen der Erfahrung sei es generell, sei es in der Lösung kasuistischer Fälle; dies ist Thema der »Metaphysischen Anfangsgründe der Tugendlehre«. Die »Kritische Beleuchtung der Analytik der reinen praktischen Vernunft« vergleicht das System der »Analytik« der KrV und der KpV im Hinblick auf Identität (es handelt sich um »einerlei Erkenntnisvermögen […], als beide reine Vernunft sind«, V 89,16–17) und »Unterschied der systematischen Form« (V 89,18). Die Identität liegt in der Gleichheit der drei Elemente der »Analytik«, der Unterschied in der Umkehr ihrer Abfolge. Kant revidiert nun, so sahen wir, die Struktur der KrV, indem er die »Ästhetik« zu einem Teil der »Analytik« macht. Die Schritte zwei und drei der »Analytik« der KpV, der Begriff (des Guten und Bösen) und die Ästhetik (das Gefühl der Achtung), können aufgrund der vereinfachten Systematik als zwei Richtungen der »Anwendung« (V 16,32) des allgemeinen Grundsatzes erscheinen, einmal in objektiver Richtung in Bezug auf den Begriff des Gegenstandes140, sodann in subjektiver Richtung, »auf das Subject und dessen Sinnlichkeit« (V 16,32–33). kritik der praktischen vernunft: die gegenkritik | 365

Durch die einheitliche Fassung der drei Teile unter dem Dach der »Analytik« ist es des weiteren möglich, die systematische Einheit, wie wir sahen, als Prämissen und Schluß eines Syllogismus zu fassen (V 90,30–36). So erweist sich die »Analytik« der KpV als Einheit eines Vernunftschlusses und manifestiert dadurch ihre innere Kohärenz und Notwendigkeit (anders, als es in der KrV mutatis mutandis je möglich war). Nach der Darlegung der formalen Analogie (V 91,11) von KpV und KrV wird noch auf eine inhaltliche Differenz aufmerksam gemacht (V 91,8–92,17). »In Ansehung der theoretischen [Vernunft] konnte das Vermögen eines reinen Vernunfterkenntnisses a priori durch Beispiele aus Wissenschaften […] ganz leicht und evident bewiesen werden.« (V 91,12–17) Man wird hier an die Prolegomena von 1783 denken müssen, in denen Kant in einem analytischen Beweisgang (u. a. IV 274,27–275,7) von dem unleugbaren »Factum« (IV 274,34 u. ö.) bestimmter Wissenschaften ausging und dann die Bedingungen ihrer Möglichkeit in der reinen theoretischen Vernunft untersuchte. In der KpV habe man nicht das Faktum einer Wissenschaft als Grundlage nehmen können, sondern man konnte es »aus dem gemeinsten praktischen Vernunftgebrauche darthun« (V 91,19–20); in dieser Berufung auf das Urteil der gemeinen Vernunft, »gleichsam als ein Factum, das vor allem Vernünfteln über seine Möglichkeit und allen Folgerungen, die daraus zu ziehen sein möchten, vorhergeht« (V 91,27–29), lag zugleich die Rechtfertigung dieses Prinzips (V 92,25–26; 33; 94,7: »eben dadurch auch berechtigt werden«). Wie innerhalb der »Transzendentalen Ästhetik« der KrV keine Deduktion oder gesonderte Rechtfertigung vorgenommen wurde, so ist in der KpV das an den Anfang gestellte unleugbare Faktum des Selbstbewusstseins des Sittengesetzes zugleich seine Rechtfertigung, d. h. es ist keine weitere Deduktion nötig und möglich. In diesem Punkt war Kant in der GMS noch anderer Meinung, indem er im 3. Abschnitt im Rückgriff auf Ergebnisse der KrV das moralische Gesetz als wirklich (und nicht nur einzig möglich) deduzierte.141 Nun konnten die Prolegomena dem synthetischen Vorgehen der KrV eine analytische Darstellung desselben theoretischen Sachverhalts an die Seite stellen, ohne in eine Konkurrenz zur KrV zu treten. In der KpV hat sich die Lage jedoch verändert. In der Schrift 366 | kapitel 

von 1781 wird mit der »Transzendentalen Ästhetik« die Differenz von Ding an sich und Erscheinung eingeführt (A 26 u. ö.); die »Transzendentale Analytik« erweist auf dieser Grundlage die Möglichkeit einer wahren Erkenntnis der Erscheinungen, und die »Transzendentale Dialektik« zeigt komplementär, daß die Vernunft ohne die kritische Unterscheidung dialektisch werden muß; zur Auflösung dieser dem Menschen natürlichen Dialektik benutzt sie die kritische Differenz, ohne sie jedoch selbst als ein gesichertes Faktum rechtfertigen zu können. Nur denkmöglich und denknotwendig blieb die Annahme von noumenaler oder, wie es heißt, transzendentaler Freiheit (A 533) neben der durchgängigen Gültigkeit des Kausalgrundsatzes im Bereich der Erscheinungen. 1788 heißt es dagegen, wie wir sahen, daß das Faktum des sittlichen Selbstbewußtseins keiner weiteren Rechtfertigung bedarf; mit ihm sei die Freiheit als objektiv-praktische Realität durch ein Faktum erwiesen. Das bedeutet aber, daß mit diesem Selbstbewußtsein die Wirklichkeit der kritischen Unterscheidung von Ding an sich und Erscheinung bewiesen ist – die KpV bedarf keiner weiteren Nachfrage bei der KrV, ob denn die Pflicht und die mit ihr gegebene Freiheit auch möglich sind! Mit dem diktatorischen »sic volo, sic iubeo« (V 31,34; VI 378,20) und königlichen »Machtspruch« (VI 280,30) der reinen praktischen Vernunft ist entschieden, daß das Intelligible Realität hat. Noch in der GMS hieß es, es sei eine »unnachlaßliche Aufgabe der speculativen Philosophie«, den Menschen zugleich als frei wie auch naturgesetzlich bestimmt zu denken (IV 456,16–27). »Diese Pflicht liegt aber bloß der speculativen Philosophie ob, damit sie der praktischen freie Bahn verschaffe.« (IV 456,27–29) Und 1787 in der »Vorrede« der Neuauflage der KrV: »Ich mußte also das Wissen aufheben, um zum Glauben Platz zu bekommen, […].« (B XXX; s. a. B XXVIII–XXIX)142. Sind diese Aussagen kompatibel mit der KpV? Oder befreit sich im Gegenteil die reine praktische Vernunft 1788 von dieser Abhängigkeit und bemächtigt sich des Ortes und der Funktion, die 1781 die Raum-Zeit-Lehre hatte? Sie führt mit dem Faktum des sittlichen Selbstbewußtseins und dem Machtspruch seines Grundgesetzes selbst die Differenz von Ding an sich und Erscheinung ein, die sie braucht. Die praktische Vernunft erringt den Primat vor der theoretischen (V 119,25–121,31)143 in einer komplizierten und dramatischen Auseinandersetzung – wie aber soll jetzt kritik der praktischen vernunft: die gegenkritik | 367

die Einheit der theoretischen und praktischen Vernunft genau aussehen, nach der Kant in der »Kritischen Beleuchtung« fragt? »Die Gegenkritik«: Wir sahen, daß Kant die KpV gegenläufig zur KrV aufbaut und zu diesem Zweck gewaltsam die Ästhetik zu einem Teil der Analytik, also der Logik macht. Durch diese Maßnahme konnte der Grundsatz der reinen praktischen Vernunft die Stelle einnehmen, die in der KrV der Anschauung zukam. In beiden Fällen wird eine Bewusstseinsrealität an den Anfang gestellt, die sich aus keiner Verstandesüberlegung gewinnen läßt und insofern irrational ist. In der Erkenntnislehre stellt Kant die 1770 die Anschauung von Raum und Zeit als einen selbständigen Erkenntnisstamm gegen den Allanspruch des Verstandes im Rationalismus; in der Moralphilosophie wird gegen diesen Anspruch das unableitbare Pflichtprinzip gestellt. Wie keine Begriffsanalyse je zur Geometrie und Arithmetik führt (1770), so kann keine theoretische Erkenntnis je die unbedingte obligatio der praktischen Vernunft aus Begriffen ableiten (1788). Die Kantische Philosophie ist durch diese beiden Oppositionen gekennzeichnet. Sehen und Sollen werden unmittelbar vollzogen, unser Erkennen stützt sich auf die irrationale Vorgabe der Anschauung, unser Handeln auf das irrationale Machtwort der Pflicht. Beides ist jeweils der Quell von synthetischen Urteilen apriori.

Die Unterjochung des Guten unter das Gesetz Es sei nichts gut in der Welt und selbst außer der Welt, im Diesseits also und im Jenseits, bei Gott und den Menschen und im Universum, als allein ein guter Wille.144 Was macht den Willen gut? Der Wille ist paradoxerweise gut, wenn er sich dem unterwirft, was er als Wille selber ist, dem formalen Gesetz. Der gute Wille folgt in seinen Handlungsentscheidungen nicht Inhalten, die ihm von außen vorgegeben sind und die durch die subtilen oder groben Neigungen zu ihnen schmackhaft werden, sondern die Entscheidung hängt davon ab, ob sie der formalen Eigenstruktur des Willens genügt. Nicht das erkennbare Gute selbst, die platonische Idee des Guten, oder was immer für gut gehalten werden kann, was selbst gut oder gut für etwas anderes ist, macht den Willen zu einem guten 368 | kapitel 

Willen, sondern sein ihm inhärentes Gesetz. Das Gesetz unterwirft sich das Gute, das Gute befindet nicht umgekehrt über das Gutoder Nichtgutsein des Gesetzes. Hierin liegt, wie wir sahen, Kants Antiplatonismus. Gegen Platons Fundierung der Sittlichkeit im Guten selbst oder auch Wolffs Vollkommenheitsethik wird eingewendet, daß das Gute und Vollkommene Gegenstände der Erkenntnis sind, »ist«-Bestände ohne eine Willensverpflichtung. Außer dieser bekannten »is-ought«-Differenz gibt es jedoch einen Einwand, den Kant nicht explizit vorträgt, der sich jedoch aus seinem Moralprinzip erschließen läßt. Blickt man rückwärts durch die Schneisen der Ideengeschichte, so kommt man am Ende zur Bibel, und dort zur Schlange: »[…] und werdet sein wie Gott und wissen, was gut und böse ist,«145 träufelt sie in das Ohr der Frau. Interpretiert man ihre Rede mit der Kantischen Liberalität, dann folgt sogleich, was die Schlange meinte: »Und das Weib schaute an, daß von dem Baum gut zu essen wäre […].« Was als gut und nicht gut erkannt wird, hängt ab vom Geschmack und Urteil des Menschen, der sich z. B. von dem leiten läßt, was lieblich anzusehen ist. Kants Gesetzesphilosophie geht hinter diesen Sündenfall zurück; sie entzieht dem Menschen die Befugnis, nach eigenem Gutdünken über gut und böse zu befinden (vgl. VI 312,11), und unterwirft ihn dem Gesetz des autonomen Willens. Nun wird man nicht ernsthaft annehmen, daß Kant sich in seiner Reflexion von den Mythen des Alten Testaments leiten läßt. Der Sachgrund seiner Theorie liegt in der Meinung, daß sich durch den Primat des zu erkennenden Guten die Schleusen des hemmungslosen Subjektivismus – bei Hobbes: des Bürgerkriegs – auftun und die Menschen somit in den sittlichen Naturzustand geraten.146 Platon mag in seiner Akademie immer die sichersten Beweise des Guten an sich demonstrieren; da nun einmal alle Menschen frei und gleich sind, kann jeder dem Platonischen Guten sein eigenes Gutes und Besseres und Bestes entgegenstellen, dem einen ist dieses, dem anderen jenes lieblich anzuschauen und beweisbar, damit aber ist das diabolische bellum omnium contra omnes eröffnet. Man wird nie unter freien und folglich gleichen Menschen einen Konsens finden oder zwanglos herstellen können über das, was eigentlich gut und kritik der praktischen vernunft: die gegenkritik | 369

vollkommen ist. Die Erfahrung zeigt, wie diese »maudite race« aus dem Vernünfteln und Streiten hierüber nie herauskommt, zur Freude der Schlange. In diesem Punkt ist Kant Hobbesianer. Kant vollzieht in der Ethik denselben Übergang vom status naturalis der vielen Meinungen und vermeintlichen Erkenntnisse des Guten (Anarchie) in den einheitlichen status civilis (Republik), wie wir ihn aus der Rechtslehre kennen. Nicht in der platonischen Erkenntnispolis, sondern im modernen gewaltenteiligen Rechtsstaat ist jeder zugleich identischer Gesetzgeber und einer der vielen Unterworfenen, beides bedingungslos. Hiermit kehren wir in den prälapsarischen Zustand zurück und werden sein wie Gott oder fast wie Gott, denn für Gott gibt es keine Schlangen, weil sein Wille automatisch gesetzeskonform und gut ist. In der Kantischen Willensrepublik gilt für jeden das souveräne »L’ état c’est moi«, jeder ist der innere und der äußere Gesetzgeber und einer der Untertanen.

Probleme der Dialektik Alles Interesse der Vernunft und damit der Philosophie vereinige sich in der Frage nach Gott, Freiheit und Unsterblichkeit; ab der Mitte der siebziger Jahre wird diese These von Kant unermüdlich wiederholt;147 von ihr aus wird das gesamte Gebiet philosophischer Reflexion geordnet. Nachdem die Dialektik der KrV den Platz der drei metaphysischen Wesensbereiche als terra incognita der spekulativen Erkenntnis erwiesen hat, ist in der Dialektik der KpV der Ort erreicht, an dem sich endlich – nach der Vergewisserung der Freiheit in der Analytik durch das Faktum des kategorischen Imperativs – die drei Gegenstände der speziellen Metaphysik als real für die reine praktische Vernunft erweisen sollen. Der Leser der Analytik ist erstaunt darüber, daß auf das in sich geschlossene Moralsystem noch eine Moraltheologie mit dem Anspruch der Notwendigkeit folgen soll. Die Analytik weist praktisch an keiner Stelle über sich hinaus auf ein Desiderat, dessen Erfüllung noch aussteht. Aber dann heißt es in der durch nichts vorbereiteten Dialektik: »Ist also das höchste Gut nach praktischen Regeln unmöglich, so muß auch das moralische Gesetz, welches gebietet, dasselbe zu befördern, phantastisch und auf leere eingebildete Zwecke 370 | kapitel 

gestellt, mithin an sich falsch sein.« (V 114,6–9) Wo haben wir erfahren, daß der kategorische Imperativ das höchste Gut, die Einheit also von Moralität und Glückseligkeit, zu seinem Gegenstand hat? Das steht weder in der Analytik, noch findet es sich in der KrV. Und wie soll das Gesetz post festum seine sichere Position als Faktum des Bewusstseins verlieren und die reine praktische Vernunft sich als unvernünftig entpuppen können? Aber das moralische Gesetz riskiert natürlich nicht, ein bloßer Betrug zu sein, sondern stiftet umgekehrt die objektive praktische Realität der Gegenstände, die es zu seiner Verwirklichung benötigt. Darüber kann kein Zweifel bestehen. Nur: Wenn das Gesetz seine Realisierungsbedingungen kreiert, also Gott und Unsterblichkeit – warum wird dann nicht die Dialektik gestrichen und ihr Inhalt in einem vierten Abschnitt der Analytik verhandelt? Ich möchte im Folgenden zuerst auf eine Lösung des Glücksproblems hinweisen, über die Kant schon in der Analytik verfügte, die er jedoch nicht akzeptieren wollte und deswegen zu den komplizierten und wenig überzeugenden Gedanken der Dialektik kam. In ihr, der kraftlosen Dialektik, werden zwei uns interessierende Überlegungen mit einander verbunden; einmal ist es die vernunftnotwendige Hoffnung auf ein der Würdigkeit korrespondierendes Glück, das selbst nicht in unserer Macht liegt, jedoch durch Gott und Unsterblichkeit gewährleistet werden kann; dies ist die Lehre der KrV; zum anderen ist es die neue Konzeption eines höchsten Gutes als des Gegenstandes der Pflicht, den zu realisieren nicht in unserer Macht liegt; Gott und Unsterblichkeit sind hier nicht durch die Hoffnung mit der Moralität verbunden, sondern unmittelbar durch den Gegenstand der Moral selbst.

Das moralische Selbstwertgefühl Kant hat das Martyrium der verschlungenen Dialektik auf sich genommen, obwohl ihm eine andere Lösung mit den Mitteln der Analytik zur Verfügung stand, auf die er selbst verweist: Die Zufriedenheit, die sich im Bewusstsein dessen, der sittlich gehandelt hat, unvermeidlich einstellt. Kant erörtert dieses »Gefühl der Zufriedenheit mit sich selbst« (V 38,35–366), das fälschlich als Ursache kritik der praktischen vernunft: die gegenkritik | 371

statt als Folge sittlichen Handelns angesehen werde (V 38,12–39,4). Während das Gefühl der Achtung als Triebfeder des sittlichen Handelns fungiert und vor der Handlung gespürt wird, ist die »Selbstzufriedenheit« (V 117,28–29)148 ein Epiphänomen, das auf die sittliche Handlung als ihr Selbstlohn folgt und sie nicht vorweg motivieren kann. Im Gefühl der Zufriedenheit mit sich selbst ist die Person immun gegen alle Einreden einer der Sittlichkeit externen Verheißung oder Androhung von Lust und Schmerz, sie handelt heroisch aus Pflicht und dem Gefühl der Achtung und fühlt sich durch das Zufriedenheitsgefühl selbst post festum bestätigt. Kant hätte dieses Folgegefühl in der Analytik neben dem Gefühl der Achtung behandeln und so die Analytik als geschlossenes System entwickeln können, das keiner weiteren Glücksergänzung bedarf, wie sie die Dialektik bringt. Die Dreistufigkeit der Analytik: Gesetz (des kategorischen Imperativs), Begriff (des Guten und Bösen) und Ästhetik (Gefühl der Achtung, Gefühl der Selbstzufriedenheit) wäre sogar erhalten geblieben, wenn derart das Gefühl der Selbstzufriedenheit nicht gesondert in einer vierten Lohnabteilung zu behandeln war. Die durch die sittliche Handlung erzeugte Zufriedenheit teilt mit dem Gefühl der Achtung die irrtumsimmune Beziehung auf die Moralität selbst und damit gewissermaßen ihre Reinheit von sinnlichen Neigungen. Kant hätte mit dieser Lösung bei seiner Abgrenzung der Sittlichkeit von den Neigungen bleiben können, während er sich mit der schon in der Wortwahl verquälten »Glückseligkeit« das Problem einhandelte, zu sagen, worin dieser Sinneszustand nun bestehen soll, wenn nach allen Theorieerfordernissen nicht ernsthaft mit einem räumlichen neuen Leib und einer weiteren Zeit nach dem irdischen Tod gerechnet werden kann – beides ist schon durch die KrV und deren Raum-Zeit-Lehre unmöglich. Es mußte starke Gründe geben, die diese einfache, sich gewissermaßen von selbst anbietende Lösung ausschlossen und die vorgebliche Antinomie und die Postulate in der Dialektik erzwangen.

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Das Gute um seiner selbst willen und das Narrentum des stoischen Weisen Es lassen sich zwei Gründe ausmachen, die Kants ethische Überlegungen in der Glücksfrage bestimmten. Einmal gibt es die Vorstellung der Autonomie und Autarkie der Tugend, die sich nicht unter die Bedingung der Belohnung stellt. Daß man das Gute um seiner selbst willen tut, gehört zum guten Ton der europäischen Ethik seit ihrem Beginn bei Demokrit und Platon. Den Lohn einzufordern und zu sagen, daß ja auch niemand eine Frau ohne Aussteuer heiratet (John Locke), ist unfein und widerspricht dem Sinn der Sittlichkeit. Diese Vorstellung teilt auch Kant, und er nimmt wie z. B. Aristoteles an, daß nicht alle Menschen dieses aristokratische Prinzip teilen und deswegen zur Sicherheit auch an Lohn und Strafe zu denken ist; aber Lohn und Strafe zerstören, wenn sie zum Motiv des Handelns werden, den eigentlichen Wert sittlichen Handelns. Auf der anderen Seite steht die harte Kritik an der stoischen Auffassung, die Tugend finde ihren Lohn ausschließlich im Selbstwertgefühl; hier schlägt das paradoxe stoische Urteil, alle Nicht-Weisen seien Narren, in ihr gerades Gegenteil um: Der Stoiker, der sich wie Cato aus reiner Tugend ins Schwert stürzt, ist selbst der größte Narr. Kant teilt auch diese Kritik am stoischen »sola virtus«-Prinzip. Die Stoa-Kritik trifft sich mit einem weiteren Dogma der praktischen Philosophie: Eine Ethik, die das honestum überhaupt nicht mit dem utile verbindet, ist nach dem inspirierten Ausdruck Alexander Baumgartens eine »ethica chimaerica«.149 Wer sich zu Problemen der Ethik äußert, muß zeigen, wie er sich die Verknüpfung von honestum und utile denkt. Wir können als Gedankenexperiment die Situation in der Unterwelt annehmen, apud inferos oder im Danteschen Infernum: »Lasciate ogni speranza« – wer ohne jede Hoffnung ist, kann auch vernünftigerweise nicht sittlich handeln. Diese Unterweltprobe besteht der stoische Weise gemäß den Kritikern nicht mehr; er hat tatsächlich eine uns zugeneigte, mit der Sittlichkeit harmonierende Natur vorausgesetzt, die also nicht infernalisch ist (wird sie dazu, scheidet der Stoiker konsequent aus dem Leben; Kant muß seinerseits konsequent diesen Ausweg durch das Tabu des Selbstmords versperren). kritik der praktischen vernunft: die gegenkritik | 373

Damit tut sich das Dilemma auf: Es gibt keine Sittlichkeit mit Lohnerwartung, und es gibt keine Sittlichkeit ohne Lohnerwartung. Wer die Sittlichkeit auf Lohn und Strafe gründet, vernichtet sie ebenso in ihrem Kern wie jemand, der die pure Tugend fordert und sich nicht um die Frage kümmert, wie das Schicksal der Tugendhaften aussieht. Der erste macht aus dem sittlichen ein bloß schlaues Handeln, der zweite schreibt oder predigt Chimären. Was tun? Die KrV kennt den Begriff des höchsten Guts, macht dieses jedoch nicht zum unmittelbaren Gegenstand unseres moralischen Handelns. Die notwendig zu denkende Verknüpfung von Tugend und Glück wird im Gegenteil nur in einer Welt angenommen, »die wir als künftige ansehen müssen«; daher sieht sich die Vernunft genötigt, Gott und Unsterblichkeit anzunehmen, »oder die moralischen Gesetze als leere Hirngespinste anzusehen, weil der nothwendige Erfolg derselben, den dieselbe Vernunft mit ihnen verknüpft, ohne jene Voraussetzung wegfallen müßte.« (A 811) Und dann folgt das blanke Bekenntnis: Die moralischen Gesetze würden zu Recht als Gebote angesehen, denn sie führten Verheißungen und Drohungen bei sich (A 811). Ohne Lohn und Strafe würden den Gesetzen die »Triebfedern« fehlen (A 813)150. Wie beim Staat, können die moralischen Gesetze sich nicht darin erschöpfen, Prinzipien der Beurteilung zu sein, sondern müssen ausgeführt werden, und dies ist ohne Verheiß und Androhung von Lohn und Strafe und ein System, das deren pünktliche Realisierung verheißt, nicht möglich. Das ist 1781 die bittere Wahrheit. Die Verwirklichung des höchsten Gutes ist also noch Sache der göttlichen machthabenden Regierung. Eine entscheidende Änderung liegt bekanntlich in der Triebfederlehre; in der GMS findet sich im Prinzip schon dieselbe Konzeption wie in der KpV, in der die Analytik das Gefühl der Achtung vor dem Gesetz zum notwendigen und hinreichenden Movens machte. Das Selbst zieht diese Instanz gewissermaßen an sich und in sich hinein und wird zum moralischen autonomen auto-mobile, wie wir in der Analytik fanden. Die Glücksfrage wird jedoch in der Analytik ausgeklammert, die Beförderung des höchsten Guts als der Verbindung von Tugend und Glückseligkeit ist in ihr kein »a priori nothwendiges Object unseres Willens«, das »mit dem moralischen Gesetze unzertrennlich zusammenhängt« (V 114,3–4). Wir sollen der Sinnenwelt zwar die Form der moralischen Welt geben: »Denn 374 | kapitel 

in der That versetzt uns das moralische Gesetz der Idee nach in eine Natur, in welcher reine Vernunft, wenn sie mit dem ihr angemessenen physischen Vermögen begleitet wäre, das höchste Gut hervorbringen würde, und bestimmt unseren Willen die Form der151 Sinnenwelt, als einem Ganzen vernünftiger Wesen, zu ertheilen.« (V 43,30–34) Aber auch wenn bei dieser Formgebung der Sinnenwelt nur das Glück gemeint sein kann,152 so wird es nicht thematisiert. Erst die Dialektik präsentiert die notwendige Verbindung von Moralität und Glück, verknüpft sie jedoch retrospektiv so mit der Analytik, als käme sie nicht neu hinzu, sondern sei ein analytischer Teil der Analytik. Michael Albrecht hat das Erdbeben, das die Kantische These am Anfang der Dialektik seit dem Erscheinen der KpV bis hin zu den letzten Interpretationen erregt, seismographisch exakt verzeichnet.153 Es muß sich um ein Problem handeln, das über die Binnenprobleme der KpV hinaus relevant ist, auch wenn Kants Antiquitätenvokabular von bizarrer Glückseligkeit und Tugend und höchstem Gut nicht dazu angetan ist, verständlich zu machen, worum es eigentlich geht. Was steht auf dem Spiel, wenn wir am Anfang der Dialektik erfahren, wir müssten notwendig das höchste Gut befördern können, und wenn dann die Antinomie und die Postulatenlehre folgen, um aufwendig diese Möglichkeit nachzuweisen? Worin liegt die Vernunft des Ganzen? Wie kann man die Demarkationslinie verständlich machen, die Kant begrifflich durch die Benutzung seiner kritischen Systematik von Analytik und Dialektik zu artikulieren versucht? Die Charakteristik des höchsten Guts in der KrV unter Einbeziehung von proportioniertem Lohn durch eine göttliche Gewalt lädt dazu ein, auch bei den veränderten Bedingungen der KpV eine rechtsphilosophische Folie anzunehmen und die Analytik mutatis mutandis als die Sphäre des status naturalis und der Vorzeichnung des Privatrechts anzunehmen, die Dialektik dagegen als den status civilis, in dem die Rechtsbestimmungen allererst realisiert werden können; dabei ist zu berücksichtigen, daß der Ausgang aus dem status naturalis zu dessen Rechtspflichten gehört (VI 237,1–12 u. ö.). Wir können auch so paraphrasieren: Erst unter der Idee des höchsten Gutes ist das honestum mit dem utile vereinbar, wobei das letztere zu den Auflagen schon des honestum gehört, denn der kategokritik der praktischen vernunft: die gegenkritik | 375

rische Imperativ der KpV ist sowohl ein Prinzip der Beurteilung wie auch der Exekution. Kant bezeichnet den status civilis auch als die austeilende Gerechtigkeit (VI 307,11). Seine These wäre demnach, daß wir als moralisch Handelnde die Gerechtigkeit befördern sollen und dies nicht möglich sei im Zufallssystem des natürlichen Geschehens. Wir sahen, daß uns der kategorische Imperativ in die volonté générale aller Vernunftwesen stellt, und jetzt erfahren wir, daß der allgemeine Wille aus seiner eigenen Natur gerecht sein muß und wir nur dann an ihm partizipieren können, wenn die Möglichkeit der Gerechtigkeit im mundus moralis gewährleistet ist. Gerechtigkeit enthält immer mindestens zwei Komponenten, einen Anspruch auf Grund eines bestimmen Titels (einer Leistung etc.) und die korrespondierende Zuteilung eines positiven oder negativen Gutes. Oder: das honestum ist notwendig auf ein ihm korrespondierendes utile bezogen, ohne diese Glücksbeziehung bliebe das Recht eine bloße Chimäre.154 Wir haben es also mit einer umfassenden »theory of justice« zu tun und finden, daß der kategorische Imperativ uns in dieses Gerechtigkeitsprojekt integriert. Während die KrV noch tendenziell die Gerechtigkeit mit Lohn und Strafe der göttlichen Regierung überließ,155 ist der civis moralis jetzt selbst aufgerufen, sein Handeln als Teilnahme an der Gerechtigkeit überhaupt zu sehen und das höchste Gut zu befördern. Dazu bedarf es allerdings einer Weltverfassung, die unsere eigene Macht und unser irdisches Leben überschreitet. Nach Kant handelt jemand ohne den Vernunftglauben an diese Verfasstheit am Ende nur nach dem Zufall von Lust und Laune, woraus sich der Stoiker in Grenzlagen durch Suizid vornehm zurückzog, sehr vernünftig, so lange die Idee der Integration in eine allumfassende Verknüpfung von Moral und Glück noch fehlte. In einer vernünftigen Welt also, der unsere reine praktische Vernunft sich verdankt (bzw.: die sie ist), handelt die sittliche Person nicht blind vor sich hin, sondern orientiert sich notwendig an einer gesetzlichen, gerechten Weltordnung. Hier kommt wieder ein Grundgedanke zur Geltung, der schon das Konzept der juridischen Verfassung der KrV bestimmte: Die unbedingte Pflicht erzeugt das Recht, dasjenige als real anzunehmen, was zu ihrer Ausführung notwendig ist. Wir sind »berechtigt« (V 144,32), diejenigen Bedin376 | kapitel 

gungen in der moralischen Natur anzunehmen, deren wir zur Pflichtausübung bedürfen; eben dies aber ist der Inhalt der Postulate. Dieses Prinzip wurde auch der Schrift Was heißt: Sich im Denken orientieren? (1786) zu Grunde gelegt. Durch den bloßen theoretischen Begriff sei noch nichts in Ansehung der Existenz eines Gegenstandes ausgerichtet. »Nun aber tritt das Recht des Bedürfnisses der Vernunft ein, als eines subjectiven Grundes etwas vorauszusetzen und anzunehmen, was sie durch objective Gründe zu wissen sich nicht anmaßen darf« (VIII 137,7–10).156 Wir haben entsprechend das Recht, zur moralisch notwendigen Orientierung im Übersinnlichen Gott und Unsterblichkeit vorauszusetzen. Wir kehren noch einmal zu der seltsam auftrumpfenden Rede zurück, das moralische Gesetz sei, wenn das höchste Gut nach praktischen Regeln nicht möglich sei, »phantastisch und auf leere eingebildete Zwecke gestellt« (V 114,8–9). Wir hatten schon angemerkt, daß die angedrohte Vernichtung der Moralität nicht möglich ist, weil der kategorische Imperativ selbst die praktische Realität des höchsten Guts garantiert. Die Konstruktion bleibt jedoch höchst auffällig; sie erklärt sich u. a. durch die folgende Architektonik. Es wurde oben die spiegelbildliche Anlage der Analytik der KpV in Bezug auf die (umgemodelte) Analytik der KrV herausgestellt, dabei aber die Dialektik ausgeklammert. In der KrV hatte sich ergeben, daß sich für die drei Gegenstände der metaphysica specialis kein Seinsbeweis führen lässt, denn Sein oder Wirklichkeit kommt nur den Objekten zu, die sich in der begrifflich-anschaulichen Erfahrung bestimmen lassen. Mutatis mutandis können wir also konstatieren, daß die Gegenstände der Metaphysik Chimären oder rationale Phantasiegebilde sind. Im spiegelbildlichen Verfahren ergibt sich für die KpV mit der Großzügigkeit, die sich Kant hier erlaubt, eine Orientierung an der Urteils- oder Kategorientafel, denn die Analytik der KpV enthielt drei Titel, 1. das Gesetz, 2. die Begriffe von Gut und Böse und 3. die Triebfeder qua Gefühl der Achtung; diese drei Titel muß es geben, und mehr sind nicht möglich im Hinblick auf die Bestimmung unserer reinen praktischen Vernunft. Es fehlt jedoch der vierte Titel, die Modalität – wenn diese nicht erfüllt ist, kommt der durchgängig bestimmten praktischen Vernunft kein Sein zu, denn Sein ist kein Prädikat, sondern eine Setzung. Also läßt sich vor der Entfaltung der vierten Position in der Dialektik alles in kritik der praktischen vernunft: die gegenkritik | 377

der Analytik Entwickelte immer noch unter den Vorbehalt des Nicht-Seins, des Chimärischen oder Leeren stellen. Genau dies macht Kant, und damit zeigt sich erst der ganze wohlkalkulierte architektonische Bau der KpV. Erst die Religion verleiht der Moral den Titel der Wirklichkeit,157 freilich so, daß diese Wirklichkeit wiederum von dem Grundgesetz der Moral abhängt und das Konzept offensichtlich zirkulär wird. Wir stehen hier am Dreh- und Angelpunkt des kritischen Systems. Das vorgebliche Wissen von Gott, Freiheit und Unsterblichkeit mußte aufgehoben werden, um Platz zu schaffen für die Moral, die die Freiheit bezeugt und Gott und Unsterblichkeit als notwendige Inhalte des Glaubens benötigt. Wir glauben nicht an Gott, weil es ihn gibt, sondern es gibt ihn, weil wir an ihn glauben. Wir? Gibt es ihn für jedes Ich, das aus Gründen der Moralität an Gott und Unsterblichkeit glaubt; mein Unglaube würde beides aufheben, meinen Gott und meine Unsterblichkeit, aber dieser Unglaube ist nicht möglich, sondern beruht, so müssen wir interpretieren, auf einem zufälligen Mißverständnis. Der Akt der negativen Aufhebung war die Aufgabe der KrV, die positive Kehrseite der resurrectio Gottes und der Unsterblichkeit aus moralischer Notwendigkeit ist Sache der Gegenkritik, der KpV.

Der empirische Charakter und die intelligible Kausalität Kant wendet die strikte Dichotomie von innerer und äußerer Naturnotwendigkeit einerseits und intelligibler moralischer Freiheitskausalität andererseits auf die aus der KrV bekannte Lehre vom empirischen und intelligiblen Charakter an (ohne Übernahme genau dieses Begriffspaares) (V 97,21 ff.). Bis hin zum Erscheinen der KrV gehörte der Begriff des Charakters einerseits in die empirische Individualpsychologie und in die Beschreibung der Nationen, andererseits in die Zeichenlehre.158 In der KrV wird überraschend ein gänzlich neuer Charakterbegriff eingeführt, der die Differenz von empirisch und intelligibel ermöglichen soll – jeder Mensch überhaupt verfüge über diese Doppelnatur: »Der Mensch ist eine von den Erscheinungen der Sinnenwelt, und insofern auch eine der Naturursachen, deren Kausalität unter empirischen Gesetzen ste378 | kapitel 

hen muß. Als eine solche muß er demnach auch einen empirischen Charakter haben, […]. Allein der Mensch, der die ganze Natur sonst lediglich durch Sinne kennt, erkennt sich selbst auch durch bloße Apperzeption, und zwar in Handlungen und inneren Bestimmungen, die er gar nicht zum Eindrucke der Sinne zählen kann, und ist sich selbst freilich einesteils Phänomen, anderenteils aber, nämlich in Ansehung gewisser Vermögen, ein bloß intelligibler Gegenstand, weil die Handlung desselben gar nicht zur Rezeptivität der Sinnlichkeit gezählt werden kann. Wir nennen diese Vermögen Verstand und Vernunft […].« (A 546–547) Dieser intelligible Gegenstand wird nun als intelligibler Charakter bestimmt, wenn sich erweist, daß die Vernunft Kausalität hat und mit einem Sollen auf den empirischen Charakter einwirken kann. »Daß diese Vernunft nun Kausalität habe, wenigstens wir uns dergleichen an ihr vorstellen, ist aus den Imperativen klar, welche wir in allem Praktischen den ausübenden Kräften als Regeln aufgeben. Das Sollen drückt eine Art von Notwendigkeit und Verknüpfung mit Gründen aus, die in der ganzen Natur sonst nicht vorkommt.« (A 547) Während der empirische Charakter in den Handlungen erscheint und gänzlich in der Naturordnung determiniert ist, ist der ihn in hypothetischen oder moralischen Imperativen bestimmende intelligible Charakter der Zeit enthoben und ist nichts anderes als das tatsächlich freie zurechnungsfähige Subjekt der Handlung. Dies letztere bleibt in der Theorie von 1788 erhalten, wenn jetzt auch der Imperativ der Freiheit nur noch der moralische ist; auch jetzt steht der intelligible Charakter gewissermaßen hinter dem empirischen159 und verleiht ihm seine Eigentümlichkeit. Auch jetzt ist die Frage, wie denn eine intelligible Einwirkung in die Sphäre der determinierten Erscheinungen möglich sein soll, unbeantwortbar. Der intelligible Charakter muß, wenn die Freiheitstheorie von 1788 einen Sinn haben soll, der eigentliche Ort der freien Entscheidung und Verantwortung sein, deren temporale Entfaltung der empirische Charakter sichtbar macht. Diese zeitenthobene, auf keine für uns erkennbare Gründe gestützte und unter keinen empirischen Pressionen und Schwächeanfällen leidende Entscheidung ist also eine individuelle freie Urtat oder Untat, mit der jeder sich selbst (prä)destiniert, man könnte sagen: sich selbst moralisch programmiert; jeder entwirft als noumenales Ding an sich die moralische kritik der praktischen vernunft: die gegenkritik | 379

Rolle, die er auf Erden im Zeitverlauf spielt. Die intelligible Vorzeichnung der Lebensbahn verfügt über keine einsehbaren Gründe und Motive. Nicht den irdischen Schauspieler machen wir für seine Taten verantwortlich, sondern den zeitfreien intelligiblen Urheber der Rolle selbst. »Es giebt Fälle, wo Menschen von Kindheit auf, selbst unter einer Erziehung, die mit der ihrigen zugleich andern ersprießlich war, dennoch so frühe Bosheit zeigen und so bis in ihre Mannesjahre zu steigen fortfahren, daß man sie für geborne Bösewichter und gänzlich, was die Denkungsart betrifft, für unbesserlich hält, gleichwohl aber sie wegen ihres Thuns und Lassens eben so richtet, ihnen ihre Verbrechen eben so als Schuld verweiset, ja sie (die Kinder) selbst diese Verweise so ganz gegründet finden, als ob sie ungeachtet der ihnen beigemessenen hoffnungslosen Naturbeschaffenheit ihres Gemüths so verantwortlich blieben, als jeder andere Mensch.« (V 99,33–100,5; vgl. A 554–555)160 Die Selbst(prä)destination ermöglicht ein für die empirischen Handlungen verantwortliches Subjekt, das nicht identisch ist mit dem empirischen, in Raum und Zeit erscheinenden und handelnden Menschen, das jedoch sein moralischer Grund ist. Diesem intelligiblen Grund, der sich der theoretischen Erkenntnis entzieht, rechnen wir das Tun und Lassen in sittlicher Hinsicht zu. Die Lehre vom empirischen und intelligiblen Charakter läßt sich in die Tradition der Versuche einordnen, den Menschen als für sein Tun und Lassen verantwortlich zu erweisen und damit den Weg zu versperren, den irdischen Umständen oder Gott die Schuld am moralischen Zustand der Menschen zu geben. So heißt es im Schlußmythos der platonischen Politeia in der Mitte des 10. Buches: »Dies ist der Tochter der Notwendigkeit, der jungfräulichen Lachesis, Rede. Eintägige Seelen! Ein neuer todbringender Umlauf beginnt für das sterbliche Geschlecht. Nicht euch wird der Dämon erlosen, sondern ihr werdet den Dämon wählen. Wer aber zuerst gelost hat, wähle zuerst die Lebensbahn, in welcher er dann notwendig verharren wird. Die Tugend ist herrenlos, von welcher, je nachdem jeglicher sie ehrt oder geringschätzt, er auch mehr oder minder haben wird. Die Schuld ist die des Wählenden, Gott ist schuldlos.«161 Kant schreibt nicht wie Platon in mythischer Rede das Schicksal einem Los zu, sondern einer intelligiblen, gänzlich grundlosen Tat, die den individuellen moralischen Charakter bestimmt, also gerade auch 380 | kapitel 

Tugend und Bosheit, die Platon ausnehmen wollte. In einer anderen Theorieebene wird daßelbe im Muthmaßlichen Anfang der Menschengeschichte (1786) gesagt, daß nämlich der Mensch »der Vorsehung wegen der Übel, die ihn drücken, keine Schuld geben müsse; daß er seine eigene Vergehung auch nicht einem ursprünglichen Verbrechen seiner Stammeltern zuzuschreiben berechtigt sei […]; sondern daß er das von jenen Geschehene mit vollem Rechte als von ihm selbst gethan anerkennen und sich also von allen Übeln, die aus dem Mißbrauche seiner Vernunft entspringen, die Schuld gänzlich selbst beizumessen habe, […].« (VIII 123,6–15) Die Unmündigkeit des Menschen ist selbstverschuldet – »Gott ist schuldlos«, und auch die Stammeltern trifft nicht ererbte Schuld an unserem Vergehen, sondern ein intelligibles Ich, mit dem wir uns moralisch identifizieren. Die intelligible Freiheit ist gegen jede Determination durch die zeitlich und damit (!) naturgesetzlich bestimmte Welt gefeit; die kritische Differenz von Ding an sich und Erscheinung garantiert dies a priori. Aber wie steht es mit der Freiheitsbehauptung gegenüber dem Schöpfer, der neben der Seele und der Welt dritten Entität der traditionellen Metaphysik? Kant widmet dieser Frage eine detaillierte Untersuchung (V 100,29–103,20). Gott sei Schöpfer des Menschen als eines Dinges an sich; als bloß intelligible Ursache jedoch determiniere er nicht sein intelligibles Erzeugnis, denn Determination betreffe nur die zeitliche Erscheinung, die aber ihrerseits nur eine sinnliche Vorstellungsart des Menschen sei (V 102,14–26). Qua Ding an sich sei der Mensch also die ihn nicht determinierende Schöpfung eines freien Wesens. Kant räumt ein, man werde sagen, diese Auflösung eines uralten Problems habe »doch viel Schweres in sich und [sei] einer hellen Darstellung kaum empfänglich.« (V 103,4–5) »Allein ist denn jede andere [Lösung], die man versucht hat oder versuchen mag, leichter und faßlicher?« (V 103,5– 6) Da der reinen praktischen Vernunft gestattet ist, ihre eigene Metaphysik zu entfalten, hat sie auch die Lizenz, unkontrollierbare Spekulationen zu unterbreiten, wenn sie nur die selbst gestellten Probleme zu lösen scheinen. Kehren wir noch einmal zu der oben zitierten Passage der KrV zurück, in der die Differenz von empirischem und intelligiblem Charakter eingeführt wird. Dort rechnete Kant Akte der theoretikritik der praktischen vernunft: die gegenkritik | 381

schen Vernunft zu derjenigen Spontaneität, die der empirisch-psychologischen Determination entzogen ist. In der KpV lauten die einschlägigen Aussagen jedoch anders. »Denn das Sinnenleben hat in Ansehung des intelligiblen Selbstbewußtseins seines Daseins (der Freiheit) absolute Einheit eines Phänomens, welches, so fern es blos Erscheinungen von der Gesinnung, die das moralische Gesetz angeht, (von dem [sc. intelligiblen] Charakter) enthält, nicht nach der Naturnothwendigkeit, die ihm als Erscheinung zukommt, sondern nach der absoluten Spontaneität der Freiheit beurtheilt werden muß.« (V 99,6–12) Die »Spontaneität des Subjects als Dinges an sich« (V 99,24), das »intelligible Substrat in uns« (V 99,29), »das intelligibele Substrat« (V 100,29–30) – es ist hier immer nur von dem Subjekt der Moral die Rede, nicht aber vom »Ich denke« der transzendentalen Apperzeption der Erkenntnis. Vom Standpunkt der KpV tritt die notwendige Nichtdeterminiertheit des transzendentalen Subjekts theoretischer Erkenntnis nicht in den Blick. Die KpV baut zwar auf den Erkenntnissen der KrV auf, sie läßt sie jedoch nur partiell in Erscheinung treten; ausgeblendet wird durchgehend die Spontaneität des Subjekts in der einheitlichen Erkenntnisstiftung. Vom Standpunkt der KpV wird die durchgängige Determination der Raum- und Zeitphänomene durch den reinen Verstand (V 53,32 u. ö.) in der KrV ermöglicht; der Verstand verfügt über eben die Kategorien, die die reine praktische Vernunft jetzt nicht auf Anschauung anwendet, sondern auf das Grundgesetz der Freiheit. Der Verstand wird jedoch nicht als Spontaneität sichtbar, und es wird nicht auf die Handlung des »Ich denke« geblickt, es fehlt jeder Hinweis auf das einheitliche Selbstbewusstsein, das sich als solches in rein theoretischen Erkenntnisakten konstituiert. Henrich meint: »Frei handeln kann nur ein Wesen, das allein in seiner Vernunft den zureichenden Grund zum Handeln findet. Eine Vernunft, die diesen Grund enthält, ist insofern ›reine praktische Vernunft‹. Sie übt für die Mannigfaltigkeit möglicher Handlungen die gleiche einigende Funktion aus, die der Apperzeption im theoretischen Denken zukommt […].«162 Aber wie soll die Autonomie des guten Willens gewahrt bleiben, wenn er abhängig ist von einer »Mannigfaltigkeit möglicher Handlungen«? Die Begriffe der reinen praktischen Vernunft (gut und böse) sind gänzlich kategoriale Erzeugnisse des Im382 | kapitel 

perativs ohne Bezug auf mögliche Handlungen unserer vorgängigen Maximen.163 Auf diesem Weg läßt sich die Einheit des theoretischen und praktischen Selbstbewusstseins nicht finden. In der Henrichschen Version wird die Differenz von 1781 und 1788 übersehen. 1781 sind alle Handlungen frei, die durch das handelnde Subjekt selbst bestimmt werden. Das Ich selbst bzw. der intelligible Charakter ist 1781 jedoch der Ursprung jeder selbstbestimmten und daher freien Handlung, sei sie moralisch oder außermoralisch (A 542– 558). Deswegen kann man in dieser Phase die Freiheit noch empirisch dadurch beweisen, daß man selbst vom Stuhl aufsteht. In der späteren Ethik löst sich die freie praktische Vernunft von der Spontaneität des Verstandes und schafft eine Welt sui generis. Wie verhält sich also das noumenale Subjekt, das als reine Spontaneität Erkenntnis ermöglicht und das dem inneren Sinn zugrunde liegt, zu dem noumenalen freien Subjekt der Moral? Auch die »Kritische Beleuchtung« bringt keine Lösung, sondern benennt nur die Absicht in dem oben schon zitierten Text, »es vielleicht dereinst bis zur Einsicht der Einheit des ganzen reinen Vernunftvermögens (des theoretischen sowohl als praktischen) bringen und alles aus einem Princip ableiten zu können; […].« (V 91,2–5) Im Brückenwerk der Zwecke baut Kant nicht auf eine einheitliche Tätigkeit der theoretischen und praktischen Vernunft auf, und das Konzept einer Vierten Kritik besagt, daß keine der drei Kritiken die Einheitsleistung erbringt. Kant hatte 1766 die stoische Allnatur in die zwei Welten aufgespalten, die 1770 unter dem noch platonisierenden Titel einer sensiblen und intelligiblen Welt erscheinen. Die Ausarbeitung der KpV führte zur endgültigen Abkoppelung der Moral von der theoretischen Erkenntnis (im Gegensatz noch zur GMS mit ihrer Deduktion im 3. Abschnitt) und damit zu einer radikalen Opposition von determinierter Natur und moralischer Freiheit. Welchen Ort kann jetzt noch die Spontaneität des Verstandes selbst einnehmen? Diese Frage ist wichtig, weil der von Kant behauptete Primat der reinen praktischen Vernunft eine präzise Bestimmung des Verhältnisses von Erkennen und Wollen fordert. Es fällt auf, daß weder Platon noch Aristoteles einen freien Willen kennen, sondern das Wollen in eine strikte Abhängigkeit vom Erkennen setzen. Im Anschluß an hellenistische Positionen emanzipiert sich der Wille in der Neuzeit kritik der praktischen vernunft: die gegenkritik | 383

vom Primat der Erkenntnis und gewinnt seine pathologischen Deformationen im Willen zur Macht. Wird in der heutigen Determinismus-Debatte die Freiheit des Willens oder die Freiheit des Denkens behauptet? Läßt sich hierbei die Kantische Philosophie anführen?

Weitere ausgewählte Probleme Das Gute und die Lüge aus Menschenliebe, oder: Anthropologie und Moral Wenn der kategorische Imperativ 1. bei jedem Menschen qua Vernunftwesen ein fragloses Faktum des Bewußteins ist, dann kann seine Nicht-Präsenz nicht behauptet werden. Wenn er 2. das einzig mögliche Pflichtprinzip ist, dann kann in einer problematischen Situation nicht an den Begriff des Guten außerhalb und jenseits der Gesetzlichkeit appelliert werden, und 3. gilt daßelbe für die subjektive Seite des Gefühls; es kann keine sittliche Instanz außerhalb des Gefühls der Achtung vor dem Gesetz sein. Wir halten uns an die Abfolge in der Analytik der KpV. 1. Nach Kant urteilt auch der Bösewicht über Situationen, in die er nicht mit eigenen Interessen involviert ist, entsprechend dem kategorischen Imperativ qua principium dijudicationis (IV 454,20– 455,9). Gemäß dieser Auffassung wird Cesare Beccaria für Kant nicht aus Vernunfterwägungen, sondern aus affektierter Menschenliebe zum Gegner der Todesstrafe (VI 334,37–335,7). Bei einer affektfreien kühlen Prüfung seiner praktischen Vernunft wäre er zur Kantischen Auffassung gelangt. Es lassen sich, so heißt es in der Religionsschrift von 1793 und ähnlich in der Tugendlehre von 1797, »drei Klassen, als Elemente der Bestimmung des Menschen« nennen: des Menschen als eines lebendigen, als eines lebenden und zugleich vernünftigen und als eines vernünftigen und zugleich der Zurechnung fähigen Wesens (VI 26,4–11; s. a. 418,5–23). Kant schließt aus, daß es Wesen der biologischen Gattung Mensch gibt, die zwar die mittlere instrumentelle Vernunft, jedoch kein moralisches Bewusstsein haben und die entsprechend in moralischen Dingen nicht zurechnungs384 | kapitel 

fähig sind. Sie könnten zwar das Problem der Staatserrichtung lösen (VIII 366,15–23), aber es wäre ein Staat ohne Personen, ein Staat von Aliens und vernunftbegabten Tieren, die wie Menschen aussehen. Kant behauptet im Vertrauen auf die Natur oder Vorsehung, daß der Mensch, der von Menschen geboren wurde, auch Person ist; aber er selbst öffnet mit seiner Unterscheidung zweier Arten von Vernunftwesen den Zweifel an diesem Vertrauen, und wir werden gleich (unter 3.) sehen, daß er mit der Beurteilung der Frauen den Zweifel an seiner Taxonomie selbst intensiv schürt, denn bei den weiblichen Zwischenwesen wissen wir nicht genau, ob sie moralisch wirklich zurechnungsfähig sind. Die nur instrumentell begabten Aliens hätten, gemessen an Personen der dritten Klasse, das falsche Bewusstsein, eine tabula rasa, auf der wir Kantianer im Vertrauen auf die Natur und Vorsehung den Dekalog, d. h. den Monolog der einen moralischen formula lesen wollen; die Aliens unter den Menschen können zwar den Umgang mit dem moralischen Vokabular lernen und sich äußerlich aus Klugheit moralkonform verhalten, aber diese Moral ist für sie Konvention, nicht mehr. Zeigt Kant zweifelsfrei, daß die biologische Gattungszugehörigkeit und Sprachkompetenz die ausreichenden Merkmale für die moralische Zurechnungsfähigkeit sind? Oder reicht der Machtspruch des kategorischen Imperativs dazu aus, auch von denen Gehör zu fordern, die von Natur aus taub sind? Pro Kant läßt sich festhalten, daß den amoralischen vernünftigen Wesen kein Unrecht geschieht, wenn sie wie Vernunftwesen behandelt und bestraft werden; ihnen wird nur ein Gegenschmerz zugefügt zu dem Schmerz, den sie verursacht haben. Wenn sie das jus talionis nicht begreifen, dann doch das Prinzip actio=reactio. 2. Wir waren schon oben von der Frage des untrüglichen Faktums des moralischen Bewusstseins zum Problem des Primats des Begriffs des Guten oder des Gesetzes gelangt. Wer das sonst anerkannte Lügenverbot in bestimmten Situationen aus sittlichen Gründen suspendiert, ordnet das Kantische Gesetz dem Guten unter und überlässt dem letzteren, dem Guten oder besser: vermeintlich Guten, die Entscheidung in Grenzsituationen. Der Meinung Kants, man dürfe unschuldig Verfolgten nicht notfalls mit Lug und Betrug helfen, wird kaum jemand beipflichten, und zwar nicht aus Neigungen und fehlgeleiteten Gefühlen, sondern aus moralischer Verantkritik der praktischen vernunft: die gegenkritik | 385

wortung, die auch dazu führt, daß eine Person, die in dieser Situation aus sittlichen Günden nicht dosiert lügt und betrügt, für unsittlich oder moralisch deformiert gehalten wird. Wie antwortet der Kantische Moralphilosoph, wenn empirisch festgestellt wird, daß Unbeteiligte den Gesetzeshörigen durchgängig verurteilen und den, der das Gute über das Gesetz stellte, hochschätzen? Der unbeteiligte Zuschauer glaubt, daß wir als Individuen das Recht und die Pflicht haben, den sittlichen Ausnahmezustand in Anspruch zu nehmen und das Gute über das Gesetz zu stellen.164 3. Die Entscheidungskompetenz eines moralischen Gefühls, das sich subjektiv nicht als Achtung vor dem moralischen Gesetz versteht, räumt Kant auf Grund anthropologischer Erwägungen implizit ein: Er ist wie Rousseau lebenslang der Auffassung, daß Frauen von Natur nicht dazu in der Lage sind, nach Grundsätzen zu handeln, sondern nach dem Gefühl oder dem männlichen Vorbild (VII 306,15–16)165. Aus diesem Grund können Frauen keine aktiven, an der Gesetzgebung mittelbar oder unmittelbar beteiligten Staatsbürger werden. Im bürgerlichen Leben stehen sie wie die Kinder sowohl im Privatrecht wie im öffentlichen Recht unter der Vormundschaft des Mannes. Was für Frauen gilt, würde Kant nach den einschlägigen Äußerungen auch für die farbigen Rassen geltend machen.

Gibt es das Böse? Gibt es das Hässliche? Bei der Erörterung des (transzendentalen) ästhetischen Urteils werden wir auf den Sachverhalt stoßen, daß nur das positive, nicht aber auch das negative Urteil des Schönen oder Erhabenen die notwendige Bedingung der Mitteilbarkeit erfüllt; man kann zwar verbal negative ästhetische Urteile äußern, sie sind jedoch nicht theoretisch gedeckt. Das Hässliche hat seinen Ort nicht in der KdU, sondern in der Anthropologie, es gibt ausgemacht hässliche Menschen, und in London gründeten sie einen Club (XXV 182). Hier stehen wir also vor dem Phänomen, daß der Transzendentalphilosoph sein studiolo verlässt und auf dem empirischen Markt etwas antrifft, was sich aller apriori-Bestimmung entzieht. 386 | kapitel 

Gibt es das Böse bei Kant? Es soll aus dem großen Fundus an einschlägigen Schriften (besonders der Religionsschrift) nur ein Segment innerhalb des zweiten Hauptstücks, »Von dem Begriffe eines Gegenstandes der reinen praktischen Vernunft« (V 57,15–16) angesprochen werden. Der zitierte Titel kündigt den Gegenstand der reinen praktischen Vernunft im Singular an, Kant geht jedoch im Text sogleich zum Plural über: »Die alleinigen Objecte einer praktischen Vernunft sind also die vom Guten oder Bösen. Denn durch das erstere versteht man einen nothwendigen Gegenstand des Begehrungs-, durch das zweite des Verabscheuungsvermögens, beides aber nach einem Princip der Vernunft.« (V 58,6–9) Dieser Satz ist mit erheblichen Schwierigkeiten verbunden. Aus der reinen praktischen Vernunft wird die praktische Vernunft, die gleichwohl zur Moral und nicht zur Pragmatik oder Technik gehört. Sodann: Wie kommt es im Gegenstandsbereich zum Plural? Objekte oder Gegenstände sind im Gegensatz zu Zuständen oder Eigenschaften – wie etwa Gut und Böse – nicht mit konträren Gegensätzen verbunden; zu dem Gegenstand »Stuhl« ist kein Gegensatz denkbar. Außer dem Begehrungsvermögen soll es hier plötzlich ein gleichberechtigtes Verabscheuungsvermögen geben.166 Ist jedes Begehren des Guten mit einem Verabscheuen des entgegengesetzten Bösen verbunden, oder ist das Verhältnis der beiden Vermögen anders zu denken? Unter welchem Gesetz steht dieses eigenständige Vermögen? Es kann weder das Freiheitsgesetz noch das Naturgesetz sein, und wie wir wissen, gibt es (eigentlich) keinen Freiraum außerhalb dieser beiden Gesetzlichkeiten. Wie also soll das Böse zu einem der Gegenstände der reinen praktischen Vernunft werden können? Die Kategorien der praktischen Vernunft bestimmen einen Gegenstand als mögliches Objekt des Willens so, wie die Kategorien des Verstandes einen Gegenstand x der Anschauung derart bestimmen, daß er im Durchgang durch diese Bestimmungen ein Gegenstand unserer Erfahrung werden kann. Dabei hat die transzendentale Bestimmung der Erfahrung und ihrer Gegenstände zum Ergebnis, daß in ihnen keine Negation angetroffen wird; während die Urteilstafel noch mit dem negativen Urteil operiert, kann das, was nicht ist, durch keinen Grundsatz des Verstandes bestimmt werden; in der Erscheinung oder der Natur gibt es nicht das, was nicht ist. Kompensierend schließt der KrV die Analytik mit einer eigenstänkritik der praktischen vernunft: die gegenkritik | 387

digen Tafel des Begriffs des Nichts, geordnet nach den vier Titeln der Kategorien (A 290–292). Warum wird der Kategorientafel des Guten nicht eine Kategorientafel des Bösen gegenübergestellt? Man möchte sagen: So wie sich das Nichtseiende der transzendentalen Bestimmung der Erfahrungsmöglichkeit entzieht, so kann das Böse kein Gegenstand der Bestimmung durch das Moralgesetz sein. Weiter: Wenn es neben dem Begehrungs- auch ein Verabscheuungsvermögen gibt (V 58,8–9), sollte dann nicht auch unter den »Triebfedern der reinen Vernunft« (V 71,27) neben dem Gefühl der Achtung ein durch das moralische Gesetz bestimmtes Gegengefühl geben (das also nicht identisch wäre mit den natürlichen Neigungen)? So weit ich sehe, geht keine der detaillierten Interpretationen der Tafel des Guten und Bösen (darunter die subtile Analyse von Susanne Bobzien)167 auf die Frage ein, wie denn das Böse gesetzlich bestimmt werden kann, und als unbestimmt dürfte ihm auch das in der Moralphilosophie akkreditierte Dasein fehlen. Ist das Böse wie das Hässliche apriori unbestimmbar? Jedenfalls: Mit der Anerkennung des Bösen gibt es keine Möglichkeit mehr, Übeltaten als Irrtümer zu begreifen, wie Sokrates und Platon wollten: Niemand will freiwillg etwas Schlechtes.

Exkurs: Zum ewigen Frieden, »Anhang II: Von der Einhelligkeit der Politik mit der Moral nach dem transcendentalen Begriffe des öffentlichen Rechts.« (VIII 381,1–3) Von einem transzendentalen Begriff des öffentlichen Rechts ist bei Kant sonst nicht die Rede; warum wird er hier im Anhang zur Friedensschrift eingeführt und durchgängig benutzt? Ich will einen Vorschlag entwickeln, wie hier die praktische, also nicht transzendentale Philosophie dennoch in einem bestimmten Bereich als transzendental firmieren kann. Zwei Formeln werden gebracht: »Alle auf das Recht anderer Menschen bezogene Handlungen, deren Maxime sich nicht mit der Publicität verträgt, sind unrecht.« (VIII 381,24–25) Und: »Alle Maximen, die der Publicität bedürfen (um ihren Zweck nicht zu verfehlen), stimmen mit Recht und Politik vereinigt zusammen.« (VIII 386,12–13) Warum zwei Formeln? 388 | kapitel 

Der transzendentale Charakter des gemeinten Rechtsbegriffs stützt sich nach Kant darauf, daß in ihm von der Materie des Rechts abstrahiert wird und so nur das Formale übrig bleibt (VIII 381,4– 11; 386,21–26); aus diesem Formalen werden die zwei zitierten Formeln gewonnen, die entweder als Kriterium des negativen Ausschlusses eines Rechtsanspruchs aus dem öffentlichen Recht (VIII 381,19–384,28) oder aber der positiven Bestätigung (VIII 384,30– 386,26) fungieren. »Öffentliches Recht« ist »jus publicum« in den drei Bereichen des Staats-, Völker- und Weltbürgerrechts; das »publicum-sein«, die Publizität, ist also ein notwendiges, wenn auch natürlich nicht hinreichendes Kriterium der Rechtlichkeit einer »praetensio iuris« (VIII 381,17); wenn dieses notwendige Merkmal im Gedankenexperiment nicht erfüllt wird, muß der Anspruch abgewiesen werden. Wir gehen jetzt zunächst auf den Gebrauch des Begriffs des Transzendentalen ein und danach auf die verwickelte Lage des Falls, in dem die Publizität ein hinreichendes, wenn auch nicht notwendiges Kriterium sein soll. Zunächst muß geklärt werden, warum sich der theoretische Anspruch des Transzendentalen in die praktische Philosophie verirrt hat. Was also hat das Transzendentale mit dem öffentlichen Recht zu tun? Das Publizitätskriterium gehört, so könnte die Antwort lauten, nicht in die praktische Sollens-, sondern in die theoretische SeinsDimension. Die Öffentlichkeit, die dem jus publicum zukommt, kann man für sich beurteilen, ohne den Imperativ der Rechtsnorm zu beachten, also als normindifferenter Beobachter. Die Öffentlichkeit ist insofern eine Sache nicht des normativen Rechts, sondern der theoretischen Feststellung. Wenn einem Rechtsanspruch der ihm sonst analytisch anhängende Charakter des Öffentlich-Seins fehlt, verfällt er. Und hier liegt die Ergänzung, die Kants eigene Charakteristik braucht: Die notwendige Öffentlichkeits-Bedingung des Rechts gehört in die theoretische Philosophie, und insofern respektiert der »transcendentale Begriff des öffentlichen Rechts« die Zugehörigkeit zur theoretischen Philosophie, zur bloßen Erkenntnis. Ein Parallelfall hierfür findet sich, so scheint es, in der Dialektik der KpV. Dort heißt es zu Beginn der »Dialektik der reinen Vernunft in Bestimmung des Begriffs vom höchsten Gut«, es werde kritik der praktischen vernunft: die gegenkritik | 389

»die Deduction dieses Begriffs transcendental sein müssen. Es ist a priori (moralisch) nothwendig, das höchste Gut durch Freiheit des Willens hervorzubringen; es muß also auch die Bedingung der Möglichkeit desselben lediglich auf Erkenntnisgründen a priori beruhen.« (V 113,8–12) Für die Glückskomponente im Begriff des höchsten Guts ist die theoretische Vernunft zuständig, denn sie ist ein Gegenstand der Erkenntnis, nicht der moralischen Hervorbringung. Diese Interpretation passt wenigstens gut zur erneuten Verwendung des Begriffs des Transzendentalen in Verbindung mit dem moralischen Rechtsbegriff im Ewigen Frieden. Eine noch nähere Verbindung ergibt sich im zweiten Fall, in dem die transzendentale Formel zu einem positiven Kriterium wird und die Publizität nicht mehr (nur?) eine notwendige Bedingung für einen Rechtsanspruch ist, sondern eine positive Deduktion leistet. Hierbei geht es wie in der KpV um die Vereinigung des Glücks als des Zwecks menschlichen Handelns mit der Rechtsform, wobei die Glückskomponente nur im Hinblick auf ihre formale Publizitätsnotwendigkeit ins Spiel kommen darf. Die Formel lautete: »Alle Maximen, die der Publicität bedürfen (um ihren Zweck nicht zu verfehlen) stimmen mit Recht und Politik vereinigt zusammen.« (VIII 386,12–13) Wie kommt jetzt der Zweck ins Spiel? Was ist genau der Gegenstand dieser neuen Formel? Die Begründung muß zitiert werden, um klar zu zeigen, daß wir es hier mit einem vorher nicht gebrauchten Politikbegriff zu tun haben. Hier wird zum ersten (und einzigen) Mal die Publicität der Maximen nicht auf das »publicum« im Begriff des »ius publicum« bezogen, sondern auf das Volk qua betroffenes Subjekt: »Denn wenn sie [die Maximen, RB] nur durch die Publicität ihren Zweck erreichen können, so müssen sie [1. RB] dem allgemeinen Zweck des Publicums (der Glückseligkeit) gemäß sein, womit zusammen zu stimmen (es mit seinem Zustande zufrieden zu machen), die eigentliche Aufgabe der Politik ist. Wenn aber dieser Zweck nur durch die Publicität, d. i. durch die Entfernung alles Mißtrauens gegen die Maximen derselben, erreichbar sein soll, so müssen diese [2. RB] auch mit dem Recht des Publicums in Eintracht stehen; denn in diesem allein ist die Vereinigung der Zwecke Aller möglich. – Die weitere Ausführung und Erörterung dieses Princips muß ich für eine weitere Gelegenheit aussetzen; nur daß es eine transcendentale Formel sei, ist aus der Entfernung aller empi390 | kapitel 

rischen Bedingungen (der Glückseligkeitslehre), als der Materie des Gesetzes, und der bloßen Rücksicht auf die Form der allgemeinen Gesetzmäßigkeit zu ersehen.« (VIII 386,14–26) Zunächst: Die Aufgabenbestimmung der Politik ist, das Publikum »mit seinem Zustande zufrieden zu machen«; das darf nicht so verstanden werden, als kehre Kant zur paternalistischen Glücksfürsorge des absolutistischen Staats zurück; es kann nur besagen, daß sie in einer Metaebene so zu intervenieren hat, daß die Bürger für ihr eigenes Glück sorgen können und deswegen mit den ihnen bekannten politischen Maßnahmen kooperieren. Wie in der Dialektik der KpV haben wir es mit der zweifachen Komponente im Begriff des höchsten Guts zu tun; einmal mit dem Zustand im Hinblick auf die Glücksverwirklichung, zum anderen der Moral im Recht des Publikums, durch das die synthetische notwendige Einheit der divergierenden Glückszustände möglich wird, so wie es in der KpV heißt: »[Die Glückseligkeit] ist die Materie aller seiner Zwecke auf Erden, die, wenn er sie zu seinem ganzen Zwecke macht, ihn unfähig macht, seiner eigenen Existenz einen Endzweck zu setzen und dazu zusammen zu stimmen.« (V 431,19–22). Dies alles ist, Kant bekennt es selbst, ein Gedankenfragment, und umso größer ist die Gefahr der Fehlinterpretation. Sei’s drum. Von der positiven transzendentalen Formel heißt es, sie nenne die Bedingung, »unter der ihre [der Politik, RB] Maximen mit dem Recht der Völker übereinstimmen.« (VIII 384,33–34) Von der negativen wird rückblickend gesagt: »Man hat hier nun zwar nach dem Princip der Unverträglichkeit der Maximen des Völkerrechts mit der Publicität ein gutes Kennzeichen der Nichtübereinstimmung der Politik mit der Moral (als Rechtslehre).« (VIII 384,30–32) Die Abfolge orientiert sich ungefähr an der Folge von Rechtslehre und Tugendlehre; die letztere bezieht, wiewohl nur formal, die Zwecke und Inhalte des sittlichen Wollens mit ein. Der Leser muß jedoch nicht nur bemerken, daß Kant von der Formel als einer notwendigen zu ihr als einer (notwendigen und?) hinreichenden Bedingung wechselt, sondern daß der Gegenstand mit einer minimalen Verschiebung maximal verändert wird. Wurde zuletzt vom Völkerrecht innerhalb des »ius publicum« gesprochen, ist es jetzt das ganz andere Recht der Völker, das Recht also jedes Volks für sich; ist es dort die Außenpolitik, ist jetzt die Innenpolitik kritik der praktischen vernunft: die gegenkritik | 391

das Thema, und wird vorher vom Staat, der res publica, gesprochen, ist es jetzt die Gesellschaft, die als neues Subjekt auf einem literarischen Schleichweg eingeführt wird. Thema ist nunmehr die Rechtlichkeit der Innenpolitik, also die Spannung zwischen den staatlichen Gesetzen und dem Publikum, das sein Glück unter Rechtsbedingungen und mit Einhilfe der Innenpolitik besorgen will. Und hier nun die Ausklammerung der Ethik: Die Politik soll das Volk nicht mit willkürlichem Wohlwollen beschenken und beglücken (VIII 385,27–386,9), sondern als Ausführungsorgan des Rechts fungieren und durch wirkliche Öffentlichkeit das Mißtrauen des Publikums beseitigen (VIII 386,18–19). Die Formel der Publizität kann hier also kein Gedankenexperiment mehr sein, sondern bedeutet die Transparenz der politischen Maßnahmen für das von ihnen betroffene Volk, das mit dem Zweck der Politik nicht inhaltlich, aber formal übereinstimmen muß, damit die Absicht realisiert werden kann. Die beiden Prinzipien könnten nicht ihre Plätze vertauschen; der Stufung werden wir als einem grundlegenden Strukturprinzip der Kantischen Lehre besonders in der KdU wieder begegnen, aber sie bestimmt auch die Abfolge von Rechts- und Tugendlehre in der MdS; beim ersten Schritt handelt es sich um das Äußerlich-Formale der Rechtlichkeit, beim zweiten kommt der Zweck hinzu. Hier entdeckt also die philologische Akribie eine neue Komponente in den Kantischen Politikvorstellungen.168

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Kritik der Urteilskraft: Das Brückenwerk der Zwecke

Erste Vorbemerkung In einem Brief an Carl Leonhard Reinhold vom 28. und 31. Dezember 1787 schreibt Kant, daß er bei der Beschäftigung mit der schon angekündigten dritten Kritik, der »Critik des Geschmacks«, eine neue Art von Prinzipien a priori entdecke; denn es gebe drei Vermögen des Gemüts, das Erkenntnisvermögen, das Gefühl der Lust und Unlust und das Begehrungsvermögen; für das erste habe er in der Kritik der reinen (theoretischen) Vernunft, für das dritte in der Kritik der praktischen Vernunft Prinzipien a priori entdeckt, und daßelbe gelte für das mittlere Vermögen. Also erkenne er jetzt drei Teile der Philosophie mit jeweils eigenen Prinzipien a priori (X 514,24–515,4). Ein erstaunliches Bekenntnis, denn Kant entdeckt nicht zufällig einen neuen Kontinent wie Kolumbus, der eigentlich nur nach Indien wollte, sondern erkennt-erdenkt etwas Vernunftnotwendiges: Neben der Kritik der reinen, nunmehr theoretischen, und der praktischen Vernunft muß es eine weitere Kritik geben, die der Urteilskraft; diese dem Kern der Philosophie inhärente Notwendigkeit war ihm bis 1787 verborgen! Nun gibt es zweifellos einen immanenten Weg der Reflexion, auf dem Kant auf etwas stieß, was er eigentlich seit dem Beginn des kritischen Geschäfts hätte wissen müssen. Aber in der magmatischen Gedankenevolution der siebziger und achtziger Jahre läßt sich eine Parallelaktion beobachten, die auf derselben vorgezeichneten Bahn seit 1748 vom Absolutismus zum Republikanismus führt. Die neue Gemütsverfassung enthält eine Trias von Erkenntnisvermögen, Gefühl der Lust und Unlust und Begehrungsvermögen bzw. Verstand, Urteilskraft und Vernunft, die ihre Notwendigkeit aus dem Syllogismus ableitet (V 196–197; VII 199,25– 29; XX 201,14–24). Dieselbe Notwendigkeit nun führt zur Verfassung der Republik mit drei Gewalten: Ein jeder Staat enthält drei Gewalten in sich, die gesetzgebende, die vollziehende und die rechtkritik der urteilskraft | 393

sprechende »gleich den drei Sätzen in einem praktischen Vernunftschluß« (VI 313,17–27). Die Vermögen oder Gewalten bilden Instanzen von drei Handlungstypen, die nicht auf einander reduzierbar sind; die kritische Philosophie hat die Aufgabe, sie in ihrer Dreiheit herzuleiten und die Prinzipien ihrer jeweiligen Urteilshandlungen aufzuweisen. Während die KrV die Vernunft selbst in den »status civilis« führte und den bisherigen zügellosen Streit der Metaphysik in eine Rechtsform brachte, wird jetzt eine Drei-Vermögen-Lehre vorgestellt und damit die ursprüngliche Einheit neu artikuliert. Man wird diese Parallele von jeweils drei Erkenntnisvermögen und Staatsgewalten ungern für einen Zufall halten, sondern für die Transformation der Philosophie in einem einheitlichen, von Kant nicht mehr thematisierten Grundgedanken. Auf eine zweite gleiche Umformung stößt der Leser in der Binnenanlage der KdU; sie ist der von unten reflektierenden, nicht der von oben bestimmenden Urteilskraft gewidmet und nimmt sachlich ein Thema auf, das 1781 schon unter der Ägide der Vernunft, nicht der Urteilskraft, behandelt wurde: Die Lehre von der Zweckmäßigkeit oder Angemessenheit (convenientia) der Natur an unser Erkenntnisvermögen und die teleologische Verfasstheit der Natur selbst. Nun ist die Zwecklehre 1781 eine Idee der Vernunft, unter der wir einzig die Natur in ihrer empirischen Vielfalt und zweckhaften Konstitution erkennen können. Diese Idee hat einen transzendentalen Status (A 650–668), weil sie eine Bedingung der Möglichkeit der Erfahrung darstellt. Die Zwecklehre verfährt in Analogie zur Lehre von den Verstandesbegriffen und Grundsätzen top-down, der Überschritt von oben nach unten wird durch die bestimmende, dem Allgemeinen dienende Urteilskraft vollzogen. Dort war die Einheit der Form nicht in dem sich selbst erzeugenden Naturzweck gefunden worden, sondern es hieß umgekehrt, die »höchste formale Einheit, welche allein auf Vernunftbegriffen beruht,« sei »die zweckmäßige Einheit der Dinge, und das spekulative Interesse der Vernunft macht es notwendig, alle Anordnung in der Welt so anzusehen, als ob sie aus der Absicht einer allerhöchsten Vernunft entsprossen wäre.« (A 686) Kant erläutert dieses Vorgehen mit dem Beispiel der Abplattung der Erde und geht dann zum tierischen Körper über und zu der finalistischen Maxime, daß auch »alles an dem Tiere seinen Nutzen und 394 | kapitel 

gute Absicht habe« (A 688). Die alleinige Berücksichtigung von finalen Sondernaturen sei ein Fehler, der vermieden werden könne, »wenn wir nicht bloß einige Naturstücke, als z. B. die Verteilung des festen Landes […] oder wohl gar nur die Organisation im Gewächsund Tierreiche aus dem Gesichtspunkte der Zwecke betrachten, sondern diese systematische Einheit der Natur, in Beziehung auf die Idee einer höchsten Intelligenz, ganz allgemein machen.« (A 691) Hier also eine Teleologie top-down aus der Vernunftidee einer höchsten formalen Einheit der Gesamtnatur, dort, in der KdU, der Erfahrungsbefund von Naturzwecken, der hinaufführt zur Annahme einer Finalität der Gesamtnatur. Diesem Aufstieg von unten nach oben in der Reflexion über die Natur entspricht der Aufbau der Natur selbst, wie ihn die »Kritik der teleologischen Urteilskraft« entwirft. Sie beginnt mit dem sich selbst erzeugenden Naturzweck und gelangt von da zum Zwecksystem der Natur im Ganzen; in der KrV dagegen steht die Natur im Ganzen am Anfang, und die Untersuchung des »organischen Körpers« (A 688) bzw. »die Organisation im Gewächs- und Tierreiche« (A 691) sind nur Sonderfälle der »Zweckmäßigkeit nach allgemeinen Gesetzen der Natur« (A 691). Es bedarf keiner ideologiekritischen Verblendung, um hierin daßelbe Muster der Republikanisierung der Erkenntnis zu sehen wie in der triadischen Gewaltenlehre des Gemüts. Innerhalb der Ästhetik werden wir beobachten, daß das ästhetische Urteil rechtstheoretisch begründet wird und in einer Republik des sensus communis wirkt. In der Teleologie wird darauf aufmerksam gemacht, daß die Französische Republik sich in Analogie zu einem Naturzweck als Organismus begreift (V 375,31–37), und die Rechtslehre von 1797 stellt klar, daß die Gesetzgebung der Republik in den Händen der selbständigen Bürger liegt, also von unten nach oben formiert wird: Wie das Lebewesen durch seine Glieder, organisiert sich das Gemeinwesen durch die Bürger selbst. Diese Konzeption ist nach der Zwecklehre von 1781 nicht möglich. Vielleicht darf man hier noch anfügen: Während in Paris der Kult der Vernunft die christliche Kirche ersetzen soll, entwirft Kant 1793 pari passu eine Religion der Moral als die vernunftnotwendige Nachfolgerin der christlichen Offenbarungsreligion. 1781 ist die Verwirklichung des höchsten Guts als der Einheit von Würdigkeit und proportionierter kritik der urteilskraft | 395

Glückseligkeit die Sache Gottes, 1788 und noch entschiedener 1790 sollen wir selbst, wenn auch mit göttlicher Einhilfe, das höchste Gut auf Erden bewirken.169 Die Isomorphie der Vermögen im Gemüt des Menschen und im Staat erfüllt ein Desiderat der politischen Philosophie seit Platon: Der partikulare Bürger muß sich im Ganzen der Polis oder des Staates wieder erkennen, er muß sich mit dem »moi commun« identifizieren können; diese Aufgabe wird ausdrücklich in der Politeia dadurch gelöst, daß die politische Konstitution die psychische im Großformat ist und so die Strukturidentität der privaten und öffentlichen Gerechtigkeit vor Augen führt. Nach dem absolutistischen Konzept von Hobbes, in dem nur einer realiter sagen kann »L’ état c’est moi«, wird bei Locke, Rousseau und Kant dieses eine »moi« zu dem Ich jedes Bürgers, jeder findet sich im politischen Gemeinwesen, dem »moi commun«, vernunftnotwendig wieder.

Zweite Vorbemerkung Im Brief an Reinhold verweist Kant auf die »Critik des Geschmacks«, von der die neue Systemidee ausging. Wir haben auf die essentielle Funktion der Handlung, speziell der Urteilshandlung hingewiesen und werden diesen handlungstheoretischen Aspekt auch bei der Einzelanalyse in den Vordergrund stellen. In der historischen Synopse, die Kant gegenwärtig war, spielt jedoch auch der nicht explizit genannte Aspekt des Wertes eine Rolle. Der erste Satz der GMS, es sei nichts gut als allein ein guter Wille, zeigt die eminente Rolle, die das Werturteil des Guten spielt, und für die triadische Konzeption der Kritiken wird die Konstellation des Wahren (KrV), des Schönen (Kritik des Geschmacks) und des Guten (KpV) natürlich eine Rolle gespielt haben, wenigstens hat Kant gegen diese Werttradition nicht verstoßen, sondern sie gerettet. Er folgt in der Vorstellung, jede Wertsphäre müsse eigenständig sein, den englischen und schottischen Denkern wie Shaftesbury, Hutcheson und Hume, die die »principles of virtue and beauty« schon im Titel ihrer Publikation der Bevormundung durch das Erkenntnisvermögen entziehen und als separate Grundvermögen konzipieren. Baumgarten wird dem Werturteilsstreit ausweichen, indem er die Ästhetik etwas mysteriös 396 | kapitel 

als die »soror minor« der Logik bezeichnet und offenläßt, wie viele Kompetenzen bei der älteren Schwester nun liegen und wo die jüngere eigenständig ist. Aber wie will Kant begreiflich machen, daß die drei Kritiken Ausfaltungen von drei Wertbereichen sind, die nicht beliebig ergänzt werden können? Dieser Frage werden wir uns in modifizierter Form unter dem Titel der Vierten Kritik zuwenden.

Dritte Vorbemerkung Die KdU soll im philosophischen System zwischen der KrV und der KpV vermitteln und als dritte Kritik die nunmehr notwendige Trilogie zum Abschluß bringen. Inhaltlich soll sie die Verbindung stiften zwischen – grob gesprochen – Natur und Freiheit und damit zwischen Erscheinung und Ding an sich, zwischen Verstand und Vernunft, zwischen Sein und Sollen. Der Vermittlungsbegriff ist der des Zwecks, aufgeteilt in Zweckmäßigkeit (Ästhetik) und Zweck (Teleologie). Die Natur, von der die Grundsätze des Verstandes in der KrV handeln, kennt keinen Zweck, sondern nur die Wirkursache, die einen bestehenden Zustand blind verändert; im Zweck wird dagegen die Ursache so gedacht, daß sie eine bestimmte Zustandsänderung beabsichtigt; dazu muß sie ihre Wirkung in der Vorstellung antizipieren, wozu die Natur gemäß den Grundsätzen der KrV nicht in der Lage ist. Ein Zweck kann in keinem physikalischen oder chemischen Experiment erzeugt werden, sondern ist in der KdU eine begriffliche Konstruktion, mit der wir uns bestimmte Geistesund Naturphänomene zu erklären suchen; wir tun so, als ob die Natur zweckmäßig oder nach Zwecken verfahre, und zwar in einer vierfachen Form: Einmal wird die Natur in der Ästhetik als zweckmäßig (angemessen) für unser Erkenntnisvermögen im Schönen (V 203–244), für unsere praktische Vernunft im Erhabenen (V 244–266) aufgefasst, zweitens finden wir Gegenstände in der Natur, die wir nur als sich selbst organisierende, sich in kausaler Wechselwirkung der Teile erzeugende Naturzwecke begreifen können (V 366 ff.); drittens müssen wir deswegen die Natur im Ganzen als einen Zweckzusammenhang fassen, ohne daß die Teile sich wechselseitig erzeugen, aber nur in einem solchen Zweckganzen sind sich organisierende Naturprodukte möglich (V 377 ff.). Die Zweckkritik der urteilskraft | 397

haftigkeit der Natur wird bis zum letzten Zweck, dem Menschen als selbst Zwecke setzenden Naturwesen verfolgt; damit lässt sich jedoch die Frage, wozu das Ganze nun da ist, nicht beantworten. Hier tritt viertens ein neuer Zweckbegriff ein, der der Bestimmung des Menschen als moralischen Endzwecks (V 431 ff.). So ist der Bogen vom Verstand und der Einbildungskraft im ästhetischen Geschmacksurteil bis hin zum Freiheitsgesetz der reinen praktischen Vernunft und der Bestimmung des Menschen gespannt. Für die Zweckmäßigkeit der Natur im Hinblick auf das Ästhetische, die Naturzwecke und die Zweckstruktur der Natur im Ganzen ist im Subjekt die reflektierende Urteilskraft zuständig, auf der Objektseite dagegen die Technik der Natur; die Bestimmung des Menschen und die Zweckmäßigkeit seiner Erkenntniskräfte gehören dagegen teils in die Kompetenz der (ad hoc kreierten) praktischen reflektierenden Urteilskraft, teils der Vernunft und der Vorsehung. In beiden Teilen der KdU, in der Ästhetik und in der Teleologie, setzt der Gedanke jeweils mit den Problemen der theoretischen Verstandeserkenntnis ein und endet bei der Moral der reinen Vernunft, vollzieht also intern die Verbindung noch einmal, die die reflektierende Urteilskraft für das Ganze der drei Vermögen und damit der drei Kritiken leistet. So steht in der Ästhetik die Analyse des Geschmacksurteils im Hinblick auf das Spiel der Einbildungskraft und des Verstandes (bzw. der Vernunft im Erhabenen) in einer »Erkenntnis überhaupt« am Anfang, während am Schluß das Schöne als Symbol der Sittlichkeit fungiert, und in der Teleologie wird zuerst der Erkenntnismodus von Zweckgebilden in der Natur untersucht, und am Schluß handelt die Zwecklehre von der Bestimmung des Menschen und dem höchsten Gut in Gott, Freiheit und Unsterblichkeit. In beiden Fällen macht jedoch der Schlußteil, also die reine praktische Vernunft und das Noumenale oder Intelligible, den Anfang überhaupt erst möglich, und zwar so, daß das Geschmacksurteil von vornherein, wie wir am Ende erfahren, nur aufgrund des Intelligiblen, speziell des Sittlichen, möglich ist und daß sich zweitens die Existenz von Zweckgebilden in der Natur, etwa des Baumes, und sogar alles Dasein überhaupt der moralischen Bestimmung des Menschen verdankt. Es werden durchgängig die beiden vorhergehenden Kritiken vorausgesetzt. So argumentiert die »Kritik der ästhetischen Urteils398 | kapitel 

kraft« auf der Grundlage des empirischen Realismus, also einer durch den transzendentalen Idealismus (KrV A 28) ermöglichten Erscheinungswelt, die raum-zeitlich und kategorial geordnet ist, in der die Grundsätze des Verstandes eine konstitutive bzw. regulative Funktion haben und in der die Erfahrung nach transzendentalen Ideen geleitet wird. Es verbietet sich entsprechend, die Funktionen der ästhetischen Urteilskraft in die Erkenntnisdimension der ersten Kritik zurückzublenden; es mag einladend sein, die Erkenntnisleistungen der KrV ihrerseits sogar im ästhetischen Spiel von Einbildungskraft und Verstand zu fundieren,170 aber damit werden Text und Theorie von 1781 und 1790 verlassen. Die »Kritik der teleologischen Urteilskraft« nimmt ebenfalls an, daß es empirisch reale Erfahrungsgegenstände gibt, die, in bestimmten Fällen oder generell, die reflektierende Urteilskraft zur teleologischen Interpretation nötigen; auch hier also liefert die KrV die nicht bezweifelte Substruktur, in der es laut deren Analytik empirische, raum-zeitliche und kausal determinierte Gegenstände, aber keine sie ermöglichenden Zweckursachen gibt und diese somit einer besonderen Erklärung bedürfen.171 Vorausgesetzt wird in beiden Teilen der KdU die objektive praktische Realität des Intelligiblen durch die sittliche Gesetzgebung der reinen praktischen Vernunft, damit aber auch die Vernunftbestimmung des Menschen. Sie führt im ästhetischen Teil zur Pflicht der Einstimmung in die ästhetischen Urteile, die den Gemeinsinn fördern und die Sittlichkeit symbolisch beleben; im zweiten Teil ist sie als Endzweck der übersinnliche Halt, auf den die sinnliche Natur in ihrer Zwecksetzung abzielt und den Grund ihres Daseins findet.

Vierte Vorbemerkung Es sind zwei Einleitungen zu dem Werk überliefert, in denen Kant sich zur systematischen Einordnung und Funktion der KdU äußert. Die zweite, nicht nur gekürzte, sondern neu verfaßte Einleitung enthält 9 Sektionen. Man schlage Humes Inquiry Concerning the Principles of Morals, ein Buch, das Kant in der deutschen Übersetzung von 1756 bestens vertraut war: Es enthält 9 Sektionen, deren Titel lauten: »Von den allgemeinen Gründen der Sittlichkeit«, »Von kritik der urteilskraft | 399

dem Wohlwollen«, »Von der Gerechtigkeit«, »Von der bürgerlichen Gesellschaft«, und dann der V. Abschnitt: »Warum das, was nützlich ist, gefällt«; die nachfolgenden Abschnitte bis zum »Beschluß des ganzen Werks« wiederholen die Titelform »Von […]«.172 Die mittlere, durch den abweichenden Wortlaut des Titels herausgehobene Sektion behandelt die zentrale Frage, wie der rationale Nutzen mit dem emotionalen Lustgefühl verbunden ist.173 Über die diskursive Unterrichtung des Lesers hinaus nutzt also der Text die Möglichkeit, etwas nicht nur verbal zu sagen, sondern bildlich zu zeigen: Hier ist das Zentrum der Komposition und des Gedankens; das hier Gesagte bildet die Klammer des Ganzen, wie man sehen und dann im Nachdenken erfassen kann. Ein solches dem Text einkomponiertes Zeigen war den klassisch gebildeten Autoren der Aufklärung vermutlich aus Vergils Eklogen vertraut: Genau in der Mitte der 5. Ekloge, die wiederum die Mitte der Neuner-Komposition bildet, steht das Wort »ego«, das den Dichter selbst meint. Die kunstvolle Anlage ermöglicht außer der verbalen eine deiktische Aussage, die so zu einem Teil der Eklogen wird.174 Man muß sie im Einzelnen lesen und im Ganzen sehen. Kehren wir von Hume und Vergil zur zweiten Einleitung der KdU zurück. Die Titel der Sektionen I–IV, VI–IX lauten unisono: »Von […].« Nur der Titel der mittleren fünften weicht ab: »Das Princip der formalen Zweckmäßigkeit der Natur ist ein transcendentales Princip der Urtheilskraft« (V 181,13–14).175 In diesem Teil wird genau wie bei Hume der grundlegende Gedanke der ganzen KdU deduziert (V 184,22), die transzendentale Verknüpfung von Urteilskraft und Natur. Wie bei Hume führen die vorhergehenden Sektionen auf diesen Gedanken zu, die nachfolgenden ziehen die Folgerung für die Ästhetik und Teleologie.176 Bei Hume folgten auf das Zentrum Erörterungen, die die Konsequenzen der Synthesis von Nutzen und Lustgefühl in zwei Bereichen darlegen; der erste betrifft unseren subjektiven Nutzen, der zweite den Nutzen anderer, der jeweils mit Lust wahrgenommen wird; bei Kant wird die mit Lust begleitete Zweckmäßigkeitsvorstellung zuerst im Hinblick auf die ästhetische Zweckmäßigkeit für uns, sodann die logische Vorstellung der Zweckmäßigkeit der Natur erörtert. Ob die Beziehungen zum Humetext und seiner Verbindung der Nützlichkeit mit einem Gefühl der Lust in den beiden Varianten 400 | kapitel 

vielleicht schon früher als 1790 eine Rolle spielten, müsste gesondert untersucht werden. Auf jeden Fall gibt die genau kalkulierte Struktur eine Anweisung zum Verständnis des Arguments im Ganzen. Wir werden in der »Kritik der teleologischen Urteilskraft« eine gleiche Architektonik des Textes und damit der Theorie finden, sie zeigt durch ihre Symmetrie, wo das teleologische Urteil gerechtfertigt wird. Der Abschnitt ist textlich und bildlich organisiert.

I. »Kritik der ästhetischen Urteilskraft« 1. Warum gehört die Ästhetik als Lehre vom Schönen und Erhabenen überhaupt zur kritischen Philosophie und nicht nur zur Anthropologie, in der es entsprechende Abteilungen gibt (VII 239– 243)? Kants Antwort: Es geht nicht um das Schöne und Erhabene, sondern das Schönheits- und das Erhabenheitsurteil, also eine Handlung, und diese bedarf einer gesonderten Kritik, weil sie mit dem Rechts- und Pflichtanspruch der notwendigen Beistimmung aller anderen auftritt (u. a. V 266,9–17). Die »Kritik der ästhetischen Urteilskraft« enthält in zwei getrennten Abhandlungen einerseits die Lehre vom Geschmacksurteil des Schönen, andererseits vom Geistesgefühl und Urteil des Erhabenen. Bei der ersteren stoßen wir auf zwei Aspekte des notwendigen Anspruchs des Geschmacksurteils, die jeweils deduziert werden, wobei die erste Deduktion sich auf die epistemische, die zweite auf die praktische Fundierung dieser Urteilshandlung bezieht, die erste legitimiert mein Recht, die Gültigkeit meines Urteils qua synthetischem Urteil a priori zu beanspruchen und auf ihm gegen die Einrede, ein derartiges Urteil sei prinzipiell nicht möglich, zu beharren, die zweite ermöglicht es mir, allen anderen die Pflicht aufzuerlegen, meinem Urteil zuzustimmen; wir stoßen dabei – nicht zufällig – auf dieselbe Abfolge von Recht und Ethik, die den Aufbau der MdS kennzeichnet. Es sollen diese dem ästhetischen Urteil inhärenten Rechtsansprüche und Verpflichtungen genau bestimmt werden, wodurch sich der eher gesellschaftliche Charakter des ästhetischen Urteils (sensus communis) von der juridisch-staatlichen Fassung des Erkenntnisurteils in der KrV (Gerichtshof) unterscheidet, obwohl das Rechtsverfahren in Deduktion und Dialektik daßelbe ist. kritik der urteilskraft | 401

2. Der Allgemeinheits- und Notwendigkeitsanspruch der ästhetischen Urteile wird einerseits mit einer subjektivistischen Wende im Zustand des Urteilenden, andererseits im Übersinnlichen begründet; der subjektive Zustand (»Spiel der Erkenntniskräfte«) betrifft den Aspekt der theoretischen Erkenntnis, das Übersinnliche den Aspekt der Moral. Beide Fundierungen ermöglichen nur das positive Urteil, nicht jedoch das negative. Das Urteil qualifiziert sich zur allgemeinen Mitteilung durch das Spiel von Einbildungskraft und Verstand bzw. Vernunft; diese notwendig mit Lust begleitete Interaktion der Vermögen lässt sich identisch bei jedem zur Erkenntnis fähigen Lebewesen voraussetzen und daher als Begründung des Geltungsanspuchs verwenden – nur des affirmierenden Urteils, nicht eines negativen, mit Unlust besetzten. Das Hinausblicken auf das Übersinnliche der Moral kann ebenfalls nur bejahende ästhetische Urteile zur Pflicht der Einstimmung ermächtigen. Die im Text häufig formulierte Qualifikation des Geschmacksurteils zur Unterscheidung des Schönen vom Nichtschönen oder Hässlichen ist durch die Theorie selbst nicht gedeckt, sondern ergibt sich durch die Aufgabe, die einer Ästhetik, besonders Kunstästhetik, gestellt ist. Das Kantische ästhetische Urteil ist jedoch kein Urteil der Distinktion, es unterscheidet nicht, sondern dokumentiert eine Seelenlage, die notwendig bei anderen Menschen in derselben Situation identisch sein muß. 3. Die »Kritik der ästhetischen Urteilskraft« handelt außer vom Geschmack des Schönen auch vom Geistesgefühl des Erhabenen; im ersten präsentiert sich vornehmlich die lebendige, organisierte und wohlgeformte Natur, der Gegenstand der späteren Biologie; im zweiten die formsprengende Welt der Physik: die unermessliche mathematische Größe des Weltraumes und die dynamische Kraft von Naturgewalten. In der ersten, der schönen Natur, sind wir heimisch, sie ist unseren Erkenntniskräften (Einbildungskraft und Verstand) angemessen und wirkt durch das Wohlgefallen auf unser Lebensgefühl; in der zweiten Natur kommen wir als Lebewesen allenfalls wie Pilze auf einem Planeten vor, und unsere sinnliche Einbildungskraft ist hoffnungslos überfordert, wenn sie die mathematische und die dynamische Größe der Natur und ihrer Gewalt unter der Bedingung einer Vernunfttotalität zu erfassen sucht. Diese Überforderung endet nicht in der Vernichtung, sondern mutiert (in 402 | kapitel 

unserer zweckmäßigen Binnenstruktur) zur Selbstentdeckung einer aller Sinnlichkeit überlegenen Würde, der Mensch blickt, so hat ihn die Natur eingerichtet, in der Katastrophe im Sinnlichen auf das Gegenufer des Übersinnlichen, in dem er seine eigentliche Bestimmung entdeckt. Diese drei Themen sollen im Folgenden behandelt werden.

Analytik des Schönen Die kritische Philosophie kann sich nicht mehr dem Schönen an sich zuwenden und dessen Erkenntnis vermelden, sie kennt das Wesen des Schönen so wenig wie sie das Wesen des Menschen kennt. An die Stelle eines Platonischen Erkenntnisaufstiegs zum Schönen selbst tritt die bescheidenere Variante einer Analyse und Rechtfertigung des Anspruchs des Geschmacksurteils, notwendig zu gelten, und der in diesem Anspruch enthaltenen Voraussetzungen. Das Gegebensein des Geschmacksurteils mit seinem Geltungsanspruch ist ein unterstelltes Faktum; es wird verhandelt die Frage, »ob und wie ästhetische Urtheile a priori möglich sind« (V 218,24– 25), oder, technisch gesprochen: ob und wie sie als synthetische Urteile a priori möglich sind (V 288,21–289,5). Das Geschmacksurteil verbindet mit seiner Schönheitsbehauptung drei Relate mit einander: Einen Objektbereich, zweitens das urteilende Subjekt und drittens die Adressaten der allgemeingültigen und notwendigen Mitteilung. Es wird in zwei Stufen deduziert; zuerst wird die grundsätzliche Rechtmäßigkeit des Anspruchs des Urteils gegenüber allen anderen durch einen Rückgriff auf das urteilende Subjekt und seine reflektierende Urteilskraft (und nicht das beurteilte Objekt!) testiert, sodann wird die Pflicht der Beistimmung aller anderen durch den Rückgriff auf das übersinnliche Substrat von Subjekt und Objekt gerechtfertigt. Wenn die nachfolgenden Erörterungen den rechtlichen und sittlichen Anspruch des Geschmacksurteils auf notwendigen Beifall in den Vordergrund stellen, dann muß dies im Hinblick auf die Tradition der Ästhetik als abwegig erscheinen, denn in ihr werden das Schöne und Erhabene gerade außerhalb aller rechtlichen und moralischen Bindungen lokalisiert, das Stichwort ist Freiheit, nicht Notwendigkeit, unkritik der urteilskraft | 403

interessiertes Wohlgefallen, nicht Zwang von Recht und Moral. Nun hat die Kantische Ästhetik zweifellos genau diese Freiheit des Ästhetischen herausgestellt; trotzdem ist ohne den Gegenzug der Notwendigkeit die KdU nicht denkbar. Das ästhetische Urteil findet nur dadurch Eingang in die kritische bzw. Transzendentalphilosophie, daß es sich auf apriorische Notwendigkeit beruft und als synthetisches Urteil a priori legitimieren läßt. Während das theoretische Urteil der KrV diese Notwendigkeit in der im Verstand begründeten Gesetzlichkeit der Natur findet und die reine praktische Vernunft im Freiheitsgesetz, muß die reflektierende Urteilskraft gegen und mit diesen beiden flankierenden Positionen eine Notwendigkeit sui generis ins Spiel bringen, um nicht der bloßen Anthropologie oder Psychologie zu verfallen. Die benötigte Notwendigkeit liegt im Geltungsanspruch des Urteils ohne Fundament in der Natur (Verstand) oder der Freiheit (Vernunft), sondern im reflektierenden Urteilsvermögen, das auf die theoretische Erkenntnis der Natur und die Gesetzgebung der Freiheit nur in einer Brechung zurückgreift: Im ersten Fall ist es das Spiel der Erkenntnisvermögen zu einer Erkenntnis überhaupt und die dadurch ermöglichte »Allgemeinheit des Wohlgefallens« (V 213,26), im zweiten Fall die symbolische Präsenz des moralisch Guten. Das Schöne, so läßt sich paraphrasieren, löst sich nicht aus dem Verbund mit dem Wahren und Guten, lässt sich jedoch auch nicht mehr in beides integrieren; es stiftet ein eigenes Forum unter der Obhut des Wahren und Guten und rettet sich so vor dem empirischen Ästhetizismus eines art pour l’art. Ein wichtiger Gedanke scheint in dem Konzept zu liegen, das wir oben ansprachen: Kant entdeckt 1787 für die kritische Philosophie laut des Briefes an Reinhold (X 514–515) die notwendige Dreiheit von Verstand, Urteilskraft und Vernunft, die der Trias von Erkennen, Fühlen und Wollen korrespondiert (V 198). In der Ästhetik der KdU muß sich das mittlere Vermögen als selbständig und als apriori-kritikwürdig erweisen, und zu diesem Nachweis dient das Geschmacksurteil mit seinem Anspruch auf Allgemeingültigkeit und Notwendigkeit; die Rechtfertigung dieses Anspruchs wird von Kant daher zugleich als »Deduction dieses sonderbaren Vermögens« (V 281,27) genommen, letztlich als Deduktion der reflektierenden Urteilskraft, die sich legitimieren läßt als die Bedingung der Möglichkeit, als ratio essendi, des Geschmacksurteils. 404 | kapitel 

Das mit Lust begleitete Geschmacksurteil Die Innovation ästhetischer Theorie, die sonst nicht mit dem Urteil, sondern dem Gefühl oder dem Begriff des Schönen oder auch des Geschmacks begann (und dahin auch sogleich nach Kant bei Schiller und Schlegel bis in das 20. Jahrhundert zurückkehren wird), hat zwei Prämissen: Einmal die Orientierung an der Logik, wie sie die Baumgartensche Aesthetica im Gegensatz zur französischen und englischen Ästhetik vorgab (Orientierung an der Logik als der »soror maior« der Ästhetik), zum anderen die Voranstellung der Urteilsanalyse in der KrV; dort folgen auf das Urteil allererst die aus ihm abgeleiteten Verstandesbegriffe (Urteilstafel – Kategorientafel), das Urteil steht also auch dort am Anfang der Analytik, nicht der Begriff. Zugleich erwächst aus dem Systemanschluß an Baumgarten und an die KrV (Vorrang des Urteils vor den Begriffen) die Aufgabe, gegenzusteuern, denn die Ästhetik ist dezidiert keine Logik, und das ästhetische Urteil ist kein Erkenntnisurteil. Es wird unterstellt, daß es ästhetische Urteile gibt und deren Exposition auch die Momente dieser Urteile analytisch herausheben kann, die über ihren Geltungsanspruch entscheiden und die dem Urteilenden nicht bewusst sind. In dieser analytischen Weise des Vorgehens schließt die KdU an die Prolegomena an (s. IV 263,27– 29), aber auch an die GMS, in der der Begriff der Pflicht als Gegebenheit des menschlichen Bewusstseins unterstellt (jedoch nicht als Faktum behauptet!) und als kategorischer Imperativ exponiert bzw. analysiert und im dritten Abschnitt in seinem Realitätsanspruch deduziert wird. Die Kritik mit dem Doppelschritt von Exposition und Deduktion ist, wie schon erwähnt, möglich und notwendig, weil das ästhetische Urteil mit dem Anspruch der notwendigen Geltung auftritt.177 Im Geschmacksurteil finden sich entsprechend unsere drei Komponenten: Einmal gibt es einen (anthropologisch: hörbaren oder sichtbaren) Gegenstand, auf den der Urteilende mit einem »Das (der, die) da ist schön« referiert (1), sodann folgt das urteilende Subjekt (2), und drittens gibt es die anderen, an die sich das Urteil mit seiner Beistimmungsforderung wendet (3).178

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(1) Objekt Das Geschmacksurteil bezieht sich in seiner verbalen Äußerung auf ein singuläres Etwas, das es als schön bezeichnet. Dieses empirische sichtbare oder hörbare Ding oder Ereignis ist der öffentliche Referenzbereich des Urteils; es wird unterstellt, daß jeder den gemeinten Sachverhalt als das identische Etwas angemessen wahrnehmen und ästhetisch beurteilen kann. Der Gegenstand und entsprechend der Gegenstandsbezug des Urteils werden in der »Kritik der ästhetischen Urteilskraft« unterschiedlich dargestellt. Er kann als bloßer Anlaß der Beurteilung fungieren, aber auch als Träger einer Form, die als schön behauptet wird, das Schönheitsurteil betreffe »die Form des Objects« (V 247,14); und der Titel des § 11 lautet: »Das Geschmacksurtheil hat nichts als die Form der Zweckmäßigkeit eines Gegenstandes (oder der Vorstellungsart desselben) zum Grunde« (V 221,1–3); die Zweckmäßigkeit habe »im Objecte und seiner Gestalt ihren Grund« (V 279,13–14), wobei sich Kant in der Deduktion nur auf »die Gegenstände der Natur« (V 279,3–4) bezieht und nur die Raum-, nicht etwa eine Zeitgestalt (z. B. des Gesangs der Nachtigall) meint. Auf der anderen Seite läßt die »Kritik der ästhetischen Urteilskraft« keinen Zweifel daran, daß das Geschmacksurteil ebenso wie das Erhabenheitsurteil im Spiel der subjektiven Erkenntniskräfte begründet ist und daß das Objekt des Urteils nur als Anlaß, nicht als erkennbar schöne Gestalt fungiert.

Der schöne Gegenstand, auf den sich der Urteilende bezieht Der ästhetisch Urteilende bezieht sich auf einen bestimmten singulären Gegenstand oder Sachverhalt in Raum und Zeit und beurteilt ihn als schön. Der Urteilende spricht dem öffentlichen »Das da« naiv die Schönheit zu, als handle es sich um eine an ihm verifizierbare Eigenschaft. Die Doppelbödigkeit von unreflektierter Meinung und philosophischer Wahrheit ist in der Theorie seit den Atomisten mit ihrer Kombination von objektiven und nur subjektiven Qualitäten bekannt; zu den ersteren gehören bei Demokrit und Lukrez und dann wieder z. B. bei Boyle und Locke die physischen Eigen406 | kapitel 

schaften der Atome, zu den sekundären Qualitäten etwa die Farbe und der bittere oder süße Geschmack.179 Der Mensch unterscheidet beide nicht im Alltag, sondern hält die subjektiven Qualitäten für objektiv – der Stoff selbst ist für den Färber rot, nicht jedoch für den Philosophen, der erkannt hat, daß Farben den Dingen selbst nicht zukommen können. Nach Kant halten wir als naiv Urteilende den Gegenstand selbst für schön, die transzendentalphilosophische Analyse ergibt jedoch, daß dies eine erklärbare Illusion ist. Wir halten das Schöne nicht für schön, weil es schön ist, sondern es ist schön, weil wir es dafür halten. Zu beachten ist: In der Opposition von schön und erhaben steht die Schönheit auf der Objektseite, so daß sehr wohl von schönen Naturdingen gesprochen werden kann,180 das Erhabene ist dagegen gänzlich subjektiv; das Objektiv-Schöne ist jedoch in der Analytik nicht die Basis der Deduktion, wie sich eindeutig zeigte. Im reinen Geschmacksurteil wird nur die Form des Gegenstandes in Raum und Zeit (Gestalt und Spiel) vom Urteilenden als schön angesehen, nicht jedoch erstens das Materielle der Empfindung (Reiz und Rührung) oder zweitens das »Materielle« des inneren und äußeren Zwecks, den etwas hat. Einerseits gilt also auch hier erstens: »Das reine Geschmacksurtheil ist von Reiz und Rührung unabhängig« (V 223,1–2; § 13), und zweitens: »Das Geschmacksurtheil ist von dem Begriffe der Vollkommenheit gänzlich unabhängig« (V 226,22–23; § 15). Die Form des Gegenstandes steht also im Kontrast zu dessen sinnlicher oder begrifflicher Materie. Wer die sinnliche Materie berücksichtigt, unterscheidet das ästhetische Urteil nicht vom sinnlichen Geschmacksurteil, wer die zu erkennende »Materie« einbezieht, gelangt zu einem rationalen Vollkommenheitsurteil. Diese Differenzierungen werden vom Urteilenden selbst vorgenommen; sie finden besonders beim Kunstschönen ihre Anwendung und erlauben die Unterscheidung des Kenners vom Kunstfremden; der Kenner beachtet die Form, der Banause sorgt sich um Reiz und Rührung, der Wolffianer sieht nur auf die begrifflich erkennbaren Zwecke und den Grad der Vollkommenheit, den der Gegenstand besitzt. Wenn die bestimmende Urteilskraft die Einbildungskraft unter den Verstand subsumiert, dann geschieht dies mit dem Zweck einer bestimmten Erkenntnis eines Gegenstandes. Im ästhetischen Urteil kritik der urteilskraft | 407

tritt dagegen an die Stelle der bestimmten Gegenstandserkenntnis das von der Herrschaft des Verstandes freie Spiel der zu einer Erkenntnis generell nötigen Vermögen; mit dem Fehlen des bestimmten Zwecks verbleibt nur die nunmehr formale, weil ohne materialen Zweck gegebene Zweckmäßigkeit. »Also kann nichts anders als die subjective Zweckmäßigkeit in der Vorstellung eines Gegenstandes ohne allen (weder objectiven noch subjectiven) Zweck, folglich die bloße Form der Zweckmäßigkeit in der Vorstellung, wodurch uns ein Gegenstand gegeben wird, sofern wir uns ihrer bewußt sind, das Wohlgefallen, welches wir ohne Begriff als allgemein mittheilbar beurtheilen, mithin den Bestimmungsgrund des Geschmacksurtheils ausmachen.« (V 221,21–27) Die Konstruktion scheint folgende zu sein: Bei der Erkenntnis eines Objekts ist die Einbildungskraft dem Verstand zweckmäßig untergeordnet im Hinblick auf den Zweck, die objektive Erkenntnis. Nun kann man den Zweck oder die »Materie« der bestimmten Erkenntnis gewissermaßen subtrahieren und erhält dann auf der Subjektseite die zwecklose, ergo nur formale Zweckmäßigkeit in der Beziehung zwischen Einbildungskraft und Verstand. Im Gegensatz zum verstandesbeherrschten Erkenntnisgeschäft artikuliert sie sich nicht als Ernst, sondern als Spiel, das subjektiv wahrgenommen, d. h. gefühlt wird durch das Wohlgefallen. Das Streichen des Gegenstandes der bestimmten Erkenntnis oder ihrer »Materie« führt andererseits dazu, daß auf der Objektseite nur die Form verbleibt. »Das Geschmacksurtheil hat nichts als die Form der Zweckmäßigkeit181 eines Gegenstandes (oder der Vorstellungsart desselben) zum Grunde«, lautet entsprechend der Titel des § 11 (V 221,24).182 Aus der nur formalen Zweckmäßigkeit im Verhältnis von Einbildungskraft und Verstand soll folgen, daß nur die Form des Objekts als schön gemeint sein kann; das bedeutet, daß alle Qualitäten des Geruchs, des Tastsinns, der Farben am Gegenstand fortfallen und nur die räumliche (zuweilen auch zeitliche) Gestalt als Gegenstände der beiden Fernsinne des Sehens und Hörens übrig bleiben. »Forma non afficit«183; in der transzendentalphilosophischen Ebene der KrV sind Raum und Zeit subjektive Formen der Anschauung und ihre Bestimmungen formale Anschauungen (B 161, aber auch A 268). Demnach kann das objektive Pendant der formalen Zweckmäßigkeit auch nur subjektiv sein, denn der Gegenstand 408 | kapitel 

kann uns nur materialiter affizieren, nicht aber mit seiner RaumZeit-Form. Aber was besagt dann noch die Form des Gegenstandes, den wir als schön beurteilen? Ist es die Gestalt? Sind wir bei einer subjektiv-objektiven Silhouetten-Ästhetik angelangt? Die Auskunft, daß Form und Materie Reflexionsbegriffe sind (A 266–268), hilft hier nicht weiter. Wir werden bei der Analyse des teleologischen Urteils erneut auf den Formbegriff stoßen, der einerseits für die Deduktion des Urteils zentral ist, andererseits von Kant nicht bestimmt, sondern nur benutzt wird. Vielleicht wurde Kant zu seiner Konstruktion angeregt durch die oben dargelegte Überlegung in der GMS, die die nur formale Bestimmung unseres Willens ermöglichen soll: In der Naturordnung werden unsere Neigungen evoziert durch einen Gegenstand, den wir erkennen und auf den sich die Neigungen der Appetenz oder Repulsion beziehen; entsprechend dieser Zu- oder Abneigung wird unsere willentliche Handlung bestimmt. Die Vernunftordnung wird dagegen so gewonnen, daß sowohl der inhaltliche Gegenstand wie auch die auf ihn bezogene Neigung oder Abneigung gestrichen werden. An die Stelle der inhaltlichen Materie unserer Neigungen tritt die bloße Form des objektiven Gesetzes, an die Stelle der Zu- oder Abneigung zum Objekt tritt die gefühlte Achtung vor dem besagten Gesetz. Pflicht ist nur denkbar als Achtung vor dem Gesetz des somit neigungsfreien Willens (IV 397–401).184 In der KdU lautet die Parallelaktion so, daß aus dem bejahenden oder verneinenden Erkenntnisurteil auf der objektiven Seite die Materie der Erkenntnis gestrichen wird, so daß nur die Form des Objektes übrig bleibt und, auf der subjektiven Seite, die Lust an der formalen Angemessenheit der Natur an unser Erkenntnisvermögen. Wie dort der kategorische Imperativ generiert wird, so hier das Geschmacksurteil als Wohlgefallen an der Form des Objektes. Ein Differenzpunkt scheint darin zu liegen, daß das Gefühl der Achtung nicht trügt, sondern sich transparent auf das Sittengesetz der reinen praktischen Vernunft bezieht, das Gefühl der Lust dagegen nicht irrtumsfrei auf das zwecklose Spiel der Erkenntniskräfte weist. Der Urteilende selbst hat die schon erwähnte kognitive Barrikade. Dem Handelnden als einem moralischen Metaphysiker muß der sittliche Imperativ klar bewusst sein, seine Achtung für das Gesetz ist niemals ein Fehlgriff für teuflische Befehle; dem ästhetisch kritik der urteilskraft | 409

Urteilenden dagegen ist die transzendentale Produktionsstätte seines Urteils völlig unbekannt. Er verweilt selbstverloren in der Betrachtung des Schönen, hält den Kitsch für etwas Exzellentes und muß lernen, sich in seinen ästhetischen Urteilen zu zügeln, um nicht lächerlich zu wirken. Der Böse kann sich dagegen nicht auf das Gaukelspiel seines sittlichen Gefühls berufen; er ist sich des kategorischen Imperativs bewußt und handelt ihm unerklärbar zuwider. Das Pendant zur opaken Quelle meines ästhetischen Urteils ist wohl die prinzipielle Unkenntnis meiner faktischen Motivation beim Handeln (vgl. VI 71 u. ö.). Aber wie steht es mit dem Vorwurf, daß Kant mit dem Residuum der bloßen Form bei einer inhaltsleeren Silhouetten-Ästhetik verharrt? Wir kommen hierauf nach einem Umweg zurück.

Intermezzo. Die doppelte Schönheit von Körper und Seele, Verstand und Vernunft Das reine Geschmacksurteil abstrahiert von Reiz und Rührung einerseits und von jeder begrifflichen Bestimmung andererseits und bezieht sich auf die pure Form, auf Gestalt oder Spiel, die nichtssagende bloße Kontur oder die inhaltsleere Komposition. »So bedeuten die Zeichnungen à la grecque, das Laubwerk zu Einfassungen oder auf Papiertapeten u. s. w. für sich nichts: sie stellen nichts vor, sind freie Schönheiten. Man kann auch das, was man in der Musik Phantasieen (ohne Thema) nennt, ja die ganze Musik ohne Text zu derselben Art zählen.« (V 229,28–32) Nun fällt es schwer, ein Geschmacksurteil, das sich auf diese Erscheinungen bezieht, mit dem Anspruch auf notwendige Geltung auszustatten und diesen wiederum im Vernunftbegriff vom Übersinnlichen zu begründen (V 340,3–12). Kant steht kein Formbegriff zur Verfügung, wie er von Platon qua Idee konzipiert und dann im Neuplatonismus weiter ausgearbeitet wurde, etwa in der »Enneade« I 6 von Plotin oder in den Schriften von Marsilio Ficino und Ralph Cudworth. Der Kantische Formbegriff bezieht sich eingestandenermaßen auf die subjektiven Formen von Raum und Zeit und nicht mehr; wie soll hier ein Bezug zum Übersinnlichen zwingend und eine formale Bagatelle auf Papiertapeten »Symbol der Sittlichkeit« (V 351,14) sein?185 410 | kapitel 

Nun wird die Exposition des reinen Geschmacksurteils unterbrochen durch eine Abhandlung »Vom Ideale der Schönheit«; in ihr tut sich eine neue Opposition von Form und Sinn oder, wie Kant sie benennt, Normalidee und Vernunftidee auf. Während die Normalidee auch von der Gestalt der Tiere entwickelt werden kann, ist die Vernunftidee auf den schönen Menschen beschränkt. Ein Beispiel der ersteren ist der in der Kuhplastik des griechischen Bildhauers Myron (V 235,6) enthaltene Kanon bzw. die reproduzierbare Regel und bloß äußerliche Form. Die Kunstdarstellung eines Menschen jedoch muß zwar einerseits dieser Normalidee der Gattung genügen, darüber hinaus jedoch ein Ideal realisieren, in dem sich das Sittliche ausdrückt (V 235,12–236,6). So gibt es einen Aufstieg von äußerer Stimmigkeit und Proportion des animalischen Körpers zur inneren »schönen Seele« nur des Menschen, von der verstandesmäßigen Regel zur Geistesidee der Vernunft. Diese Vorstellung einer zweistufigen Schönheit kennt auch Winckelmann186. Sie fand ihren Reflex noch im Zeitschriftentitel »Sinn und Form« und geht – natürlich – auf antike Vorlagen zurück,187 und so sah Kant es vermutlich als Aufgabe an, dieses Außen und Innen der Schönheit in seine Geschmackslehre zu integrieren und wie schon in der Antike am Tier und am Menschen vorzustellen. Seltsamerweise ist schon Goethe unsicher im Umgang mit der Formkomponente der Schönheit, für die Myrons Kuh in der Antike als Exempel diente und über das man sich schon in der Antike lustig machte – Myron habe die Wahrheit vervielfältigt, »multiplicasse veritatem«, als ob das möglich sei. In seinem Essay »Myrons Kuh« nimmt Goethe die Scherze ernst, möchte der Kuh unbedingt ein belebendes Kalb hinzufügen (auch das gehörte zum antiken Scherzkatalog) und kommt auf die kuriose Idee, daß »dem hohen Myron, dem Nachfolger des Phidias, dem Vorfahren des Praxiteles, bei der Vollendung seines Werks das Seelenvolle, die Anmut des Ausdrucks gemangelt habe.«188 Eine seelenvolle Kuh – Winckelmann und Kant wußten noch, daß Myrons Kuh für die Formseite paradierte und die Seele und der Ausdruck dem Menschen vorbehalten waren. Mit der Vorstellung, daß im eigentlichen Sinn nur der Mensch schön sein kann, stellt sich Kant in eine Tradition von Homer bis Hegel, die mit Hegels Tod abrupt endete. kritik der urteilskraft | 411

Wir werden später189 auf eine analoge Zweistufigkeit beim Erhabenen stoßen; dort ist das »schlechtweg groß« Genannte auf die äußere, immer nur komparativ große Natur bezogen, das »schlechthin Große«, das Erhabene, bezieht sich dagegen auf die Vernunftidee unserer absoluten moralischen Bestimmung. Und von dort begleitet uns die Stufung zum teleologischen Urteil und am Ende der Dopplung von äußerer Handlungs- und innerer Willensfreiheit. Eine Konstante in Kants Philosophie. Offenbar müssen wir mit dieser Stufung von Form und Inhalt auch im Geschmacksurteil rechnen. In der Analytik wird in der Exposition und der Deduktion des Urteils nur die schöne Form berücksichtigt, in der Dialektik dagegen tritt der sittliche Inhalt oder Sinn zur Form hinzu und begründet die Pflicht der Einstimmung in das Urteil. Näheres müssen wir auf die folgende Erörterung verschieben.

Die Schönheit der Natur selbst »Die Schöne Dinge zeigen an, daß der Mensch in die Welt passe«, wie es lapidar-objektivistisch in einer Reflexion heißt (XVI 127,13– 14 – Refl. 1820a). Mit der Leitvorstellung der Angemessenheit oder Zweckmäßigkeit der Natur für unser Erkenntnisvermögen lässt sich die transzendentalphilosophische Aufgabe des Geschmacksurteils zurückverfolgen bis in den § 30 der Dissertation von 1770 (die »principia convenientiae«) und die entsprechenden weiterführenden Überlegungen in der KrV.190 Die Schönheit ist gemäß dieser Genese der Kantischen philosophischen Ästhetik eine »promesse de connaissance«, die uns die Natur gibt, ein Faustpfand ihrer Erkennbarkeit, natürlich der gesamten Natur – es ist möglich, »die Natur als einen Inbegriff von Gegenständen des Geschmacks a priori anzunehmen« (V 291,14–15). Die Meinung, alle Objekte seien nach Kant schön,191 ist sicher nicht haltbar; aber dieser naturphilosophische Aspekt der ästhetischen Theorie macht es unmöglich, bestimmte Naturteile als nicht schön auszuklammern. Das Erhabene wird nicht als das Häßliche der Natur ausgewiesen, sondern dessen Formlosigkeit wird als nur subjektiv von der begrenzten Natur ausgenommen. 412 | kapitel 

Eine neue objektivistische Tendenz kommt durch die zweite Deduktion in das Konzept. 1790 hat Kant die Möglichkeit, die grundsätzliche Kompatibilität der Erkenntnisvermögen mit der Natur in dem Substrat zu begründen, das beiden Seiten zugrunde liegt. Wir zitierten schon: »Ein dergleichen Begriff aber ist der bloße reine Vernunftbegriff von dem Übersinnlichen, was dem Gegenstande (und auch dem urtheilenden Subjecte) als Sinnenobjecte, mithin als Erscheinung, zum Grunde liegt.« (V 340,3–6) Dieser Bezug stellt einmal die Brücke zur Moral her, bildet jedoch auch eine weitere Fundierung der Schönheit in der erscheinenden Natur. Jedes Geschmacksurteil bezieht sich auf das intelligible Substrat des Gegenstandes, der damit nicht nur zum Träger phänomenaler gestalthafter Eigenschaften wird, sondern auch zum Medium des Intelligiblen, er ist nur Erscheinung, aber auch Erscheinung des Dings an sich, das ihm zugrunde liegt. Nun ist aus dieser Theorieebene klar, daß mit Natur die Natur überhaupt gemeint ist, die Natur jedoch, so wird man wohl einschränken dürfen, unserer geformten Lebenswelt (die Kunst soll im Moment nicht interessieren, sie partizipiert wenigstens durch das Genie an der Natur, so daß das Kunstschöne ein Parallelprodukt des Naturschönen ist). Es ist, wie es in der Teleologie heißt, »die herrliche Bühne«, die die Natur für uns aufgeschlagen und ausgeschmückt hat. In ihr findet keine Selektion unter dem Gesichtspunkt von schön-häßlich statt, denn einmal soll gelten, daß die Natur uns in der Schönheit das Dokument ihrer Einstimmung mit unseren Erkenntniskräften gibt, zum anderen sollten die Naturerscheinungen ein Medium im Hinblick auf das übersinnliche Substrat bilden. Also: Die uns umgebende Natur überhaupt ist schön.

(2) Subjekt Wir gehen von den Objekten, auf die sich das Geschmacksurteil bezieht, zum urteilenden Subjekt über. Wie die Bewegung der Sterne für den naiven Betrachter den Sternen selbst zukommt, für den kopernikanisch Reflektierenden jedoch im Subjekt liegt, so auch das Schöne. Es wird in einer gefährlichen Engführung von Transzendentalphilosophie und Psychologie im Gemüt seziert mit dem kritik der urteilskraft | 413

Ergebnis, daß das naive Urteil über den Gegenstand tatsächlich der Ausdruck einer spezifischen Lust im verborgenen Gemüt des Urteilenden ist. Psychologisch mutet es an, wenn ein Ort im Raum anzunehmen ist, an dem sich das urteilende Subjekt zu einer bestimmten Zeit befindet, es muß sich mit einem Geschmacksurteil hier und jetzt auf einen hörbaren oder sichtbaren Sachverhalt beziehen, der auch für andere verifizierbar ist, wir müssen vor ihm in der Betrachtung »weilen« (V 222,33). Es sind die Einbildungskraft und der Verstand, die in einem – von vorkritischen Autoren übernommenen192 – »freien Spiel« im Gemüt des Urteilenden den Zustand des allgemeinheitsfähigen Wohlgefallens erzeugen, der zum Urteilsspruch: »Das da ist schön!« führt. Das Geschmacksurteil der »Kritik der ästhetischen Urteilskraft« wird in der Abgrenzung gegen den Hedonismus einerseits und den Rationalismus andererseits gewonnen, gegen die nur private Äußerung des kulinarisch Angenehmen und gegen das allgemeine und notwendige Erkenntnisurteil des Wahren oder Guten. »Vergleichung des Schönen mit dem Angenehmen und Guten« steht in der Überschrift des § 7 (V 212,7–8). Im Schönheitsurteil sollen die beiden Pole vereint werden: Wohlgefallen und Mitteilbarkeit des Urteils, wobei die letztere, die Mitteilbarkeit, vorerst nur auf einer epistemischen Grundlage möglich sein soll. Wie läßt sich beides vereinen und zugleich Hedonismus und Rationalismus vermeiden? Kants Lösung: Nicht die Lust bildet den Ausgangspunkt (V 216,35– 217,7)193, sondern das Spiel von Einbildungskraft und Verstand, in dem die Erkenntniskräfte tätig, aber nicht auf die Erkenntnis eines Objekts fixiert sind; dieses freie Spiel der beiden Erkenntniskräfte gewährleistet erstens die gesuchte nicht-objektive Mitteilbarkeit, und es erzeugt zweitens im Subjekt ein nicht-privates, also allgemeingültiges Wohlgefallen. Genauer: Das Spiel der Erkenntniskräfte gewährleistet die gesuchte Mitteilbarkeit, ohne objektive Erkenntnis zu stiften; die Voraussetzung für diese Annahme liegt darin, daß sowohl das Erkenntnisurteil, dessen Mitteilbarkeit zugestanden ist, wie auch das Geschmacksurteil die für die Mitteilbarkeit nötige Voraussetzung einer (antiskeptischen)194 Zusammenstimmung der Erkenntniskräfte mitbringen; diese für die Mitteilbarkeit notwendige und hinreichende Bedingung der subjektiven Harmonie wird bei einer objek414 | kapitel 

tiven Erkenntnis durch die Unterwerfung der Einbildungskraft unter den Verstand erzielt, beim Geschmacksurteil dagegen ist die Einbildungskraft befreit von diesem Dienstverhältnis, die Zusammenstimmung wird hier als freies Spiel im Hinblick auf Erkenntnis überhaupt verwirklicht. Sie gewährleistet die Mitteilbarkeit des Urteils, dessen Grundlage für das urteilende Subjekt das durch das Spiel erregte Wohlgefallen ist.195 – Was ist mit dem in der nachfolgenden Tradition so gefeierten »freien Spiel« genau gemeint?196 Kant importiert es, wie schon erwähnt, aus der empirischen Psychologie; alles psychische Geschehen aber gehört zur Erscheinungswelt und ist also ebenso gesetzlich determiniert wie das freie Spiel des Luftballons. Wenn das Spiel kein Phänomen im inneren Sinn sein kann, sondern auf die Seite der Transzendentalphilosophie selbst geraten ist, dann kann der Ausdruck nur ein uns gänzlich entzogenes, zeit- und kausalitätsfreies Etwas figürlich vorstellen, und auch dies nur metaphorisch, denn ein wirkliches Spiel setzt die Interaktion von mindestens zwei realen oder imaginierten überraschungsfähigen Partnern voraus. Unabhängig von der Metapher des freien Spiels ist die Rede von der »wechselseitigen subjectiven Übereinstimmung der Erkenntniskräfte unter einander« (V 218,27–28; auch 219,15). Diese Bestimmung wird in der Teleologie aufgenommen und präzisiert. In der zweckmäßigen Einrichtung des menschlichen Gemüts197 ist die freie Realisierung des Zwecks der Erkenntnisvermögen durch ihre zwanglose spielerische Belebung mit Lust oder Wohlgefallen verbunden; also wird mit der Mitteilung des Geschmacksurteils auch das mit ihm verknüpfte Wohlgefallen mitgeteilt. Kant verbindet konstant die Mitteilbarkeit des Urteils mit dem Gefühl der Lust, nie der Unlust; dies zur Beachtung für die Interpreten, die das negative ästhetische Urteil bei Kant retten möchten: Es gibt keine allgemeine, und daher mitteilbare, Unlust. In einer früheren Fassung ist derselbe Sachverhalt noch nicht auf die Grundlegung eines ästhetischen Urteils ausgerichtet, sondern auf das Lebensgefühl allgemein. In einer Nachschrift der Kantischen Anthropologie-Vorlesung vom Wintersemester 1775–1776 steht: »Das Gefühl von der Beförderung des Lebens ist das Vergnügen oder die Lust. Das Leben ist das Bewust seyn eines freien und regelmäßigen Spiels aller Kräfte und Vermögen der Menschen. Das Gefühl von der Beförderung des Lebens ist das, was Lust ist und das kritik der urteilskraft | 415

Gefühl von der Hindernis des Lebens ist Unlust.« (XXV 559,6–10 – Anthropologie Friedländer) Die Vorstellung eines Spiels der Kräfte ist nicht antik, sondern neuzeitlich198; die Vorstellung jedoch, daß die Lebenskräfte in ihrer natürlichen Selbstbestätigung ein Gefühl des Wohlgefallens hervorrufen, diese Vorstellung ist stoisch.199 Und sie wendet sich gegen den epikureischen Hedonismus, der als Ziel des natürlichen Strebens nicht die Selbstbestätigung, die οἰκείωσις, des Lebewesens annimmt, sondern die pure Lust als solche. Wir folgen dem Gedanken noch einmal in den einzelnen Schritten. Der entscheidende Abschnitt zur Begründung des apriorischen Fundaments des ästhetischen Geschmacksurteils wurde folgendermaßen eingeleitet: »Untersuchung der Frage: ob im Geschmacksurtheile das Gefühl der Lust vor der Beurtheilung des Gegenstandes, oder diese vor jener vorhergehe. – Die Auflösung dieser Aufgabe ist der Schlüssel zur Kritik des Geschmacks und daher aller Aufmerksamkeit würdig. Ginge die Lust an dem gegebenen Gegenstande vorher, und nur die allgemeine Mittheilbarkeit derselben sollte im Geschmacksurtheile der Vorstellung des Gegenstandes zuerkannt werden, so würde ein solches Verfahren mit sich selbst im Widerspruche stehen. Denn dergleichen Lust würde keine andere, als die bloße Annehmlichkeit in der Sinnenempfindung sein und daher ihrer Natur nach nur Privatgültigkeit haben können, weil sie von der Vorstellung, wodurch der Gegenstand gegeben wird, unmittelbar abhinge. – Also ist es die allgemeine Mittheilungsfähigkeit des Gemüthszustandes in der gegebenen Vorstellung, welche als subjective Bedingung des Geschmacksurtheils demselben zum Grunde liegen und die Lust an dem Gegenstand zur Folge haben muß.« (V 216,30–217,11) Die allgemeine Mitteilbarkeit aber wird, so zeigt dann der folgende Text, durch das Spiel der Erkenntniskräfte Einbildungskraft und Verstand gewährleistet; das harmonische Zusammenwirken ist die epistemische Grundlage aller Erkenntnis, denn ohne die Harmonie des unteren und oberen Vermögens gibt es keine Erkenntnis und damit keine qualifizierte Mitteilung. Hier liegt also alles an der Frage der Präzedenz; wenn die Lust (mit Epikur) vorhergeht, ist alles verloren, wenn sie ein (stoisches) ἐπιγέννημα200, ein Epiphänomen des Spiels der Erkenntniskräfte ist, dieses also vorhergeht, ist die Möglichkeit der Mitteilbarkeit gerettet. 416 | kapitel 

Das ästhetische Urteil kann nur als positives entstehen und entsprechend mitgeteilt werden; es enthält die Bedingung seiner Mitteilbarkeit, d. h. der sprachlichen Artikulation, die nicht nur einen animalischen Laut der Lust (oder Unlust) darstellt, sondern die Form eines Erkenntnisurteils hat. Es ist dies aber entschieden nur das Urteil des Schönen, nicht des logisch möglichen Nichtschönen oder Häßlichen, denn nur die Harmonie von Einbildungskraft und Verstand erfüllt die epistemische Bedingung der »Erkenntnis überhaupt« und damit der Mitteilbarkeit. Kant ist jedoch offenbar der Meinung, eine Grundlage für das bejahende und das verneinende ästhetische Urteil geschaffen zu haben, wenigstens steht es so an verschiedenen Stellen in der KdU.201 Es ist nicht so, daß hier der Autor nach dem Vorbild des großen Homer schläft (»aliquando dormitat Homerus«), sondern von dem Wunsch bestimmt ist, eine philosophische Begründung für das ästhetische Urteil zu liefern, wie es alle kennen und wie es auch in der Rede über gelungene oder mißlungene Kunstwerke benutzt wird; aber dies ist aus genau erkennbaren Gründen ein Irrtum. Konsequent und korrekt ist auch später von Urteilen der Nichterhabenheit keine Rede. Auch dort drückt das Urteil einen mitteilbaren Geisteszustand der finalen Harmonie von Einbildungskraft und Vernunft aus. Die mentalen, sei es psychologischen, sei es transzendentalen Prozesse des Spiels von Einbildungskraft und Verstand sind, so sahen wir schon, dem Urteilenden selbst gänzlich unbekannt, und er kann sich auf sie so wenig zur Stützung seines Urteils berufen wie auf die ihm unbekannten Hirnprozesse. Der Urteilende wendet sich lebensweltlich dem Gegenstand zu und meint, ihn objektiv als schön bestimmen zu können. Der Urteilende simuliert aus der Sicht des Transzendentalphilosophen ein objektives Urteil, das jedoch seine beanspruchte Geltung nicht in dem Gegenstand, wie er meint, sondern in ihm, dem Urteilenden selbst findet. Und aus dieser Innerlichkeit ist das Geschmacksurteil bestimmt, denn andernfalls würde es zu einem objektiven Erkenntnisurteil über diesen Zustand wie über beliebig andere Zuständlichkeiten des eigenen Gemüts; wäre es ein derartiges distanziertes »über«-Urteil, könnte es problemlos bejahen oder verneinen und wahr oder falsch sein.202 An einer anderen Stelle sieht es allerdings so aus, als gebe es Grade zwar nicht des Schönheitsurteils, sondern der Schönheit als eines Dinges oder kritik der urteilskraft | 417

Gegenstandes: In der ästhetischen Größenschätzung »geht die Beurtheilung der Dinge als groß oder klein auf alles, selbst auf alle Beschaffenheiten derselben; daher wir selbst die Schönheit groß oder klein nennen: wovon der Grund darin zu suchen ist, daß, was wir nach Vorschrift der Urtheilskraft in der Anschauung nur immer darstellen (mithin ästhetisch vorstellen) mögen, insgesammt Erscheinung, mithin auch ein Quantum ist.« (V 249,34–250,3) Problematisch ist allerdings der Ort, an dem Kant dieses sagt, die Analytik des Erhabenen, und die seltsame Objektivierung der Schönheit, die zu dem in der Analytik des Schönen Gesagten so nicht passt. Es gibt kein »Ich denke« und keinen Verstand, der aus eigener Spontaneität und Erkenntnis entscheidet, ob etwas schön ist oder nicht. Oder nach der »Erklärung eines Urtheils überhaupt« in der Logik: »Ein Urtheil ist die Vorstellung der Einheit des Verhältnisses verschiedener Vorstellungen oder die Vorstellung des Verhältnisses derselben, sofern sie einen Begriff ausmachen.« (IX 101,5–7) Die Einheit dieses Verhältnisses ist bei Kant das Ich-Bewußtsein; im ästhetischen Subjekt tritt jedoch kein Ich auf, sondern es gibt einen herrschaftslosen ungewollt und ungemacht ausbalancierten Zustand des Gemüts, der mitteilungsfähig ist. Das Urteil urteilt nicht distanziert über den Zustand, sondern ist in ihn involviert, es drückt ihn unmittelbar aus, das urteilende Subjekt, so lässt sich vielleicht sagen, löst sich auf und renaturalisiert sich zu einem gewissermaßen mystischen Zustand im Einklang mit der Natur. Es ist also schon sehr gewagt, hier überhaupt noch von einem Urteil zu sprechen. Bei Kant wird auch, wenn ich richtig sehe, kein ästhetisches Urteil als Beispiel formuliert. In der Ästhetik des Schönen wird das Gemüt in einen harmonischen Zustand versetzt, der die Anwesenheit der uns zweckmäßig zukomponierten Natur anzeigt, von der wir ein Teil sind. Wir werden gewissermaßen in die harmonische Natur hineingezogen und bekunden subjektlos unser Wohlgefallen, unser positives »Lebensgefühl« (V 204,8) durch eine Äußerung, die als Mitteilung an alle anderen fungiert. Im ästhetischen Erleben (ein Wort, das Kant hierbei nicht benutzt), im »retour à la nature«, verzichtet das dirigierende Ich auf seine Herrschaft und löst sich in einen Zustand auf, in den die Ich-Bildung (auch davon spricht Kant nicht) nicht eindringt. »Diese Naturspiele sind Spiele der Einbildungskraft«, heißt es beiläufig in einer Mitschrift Herders zu Kants 418 | kapitel 

Vorlesung über Physische Geographie.203 Wir können die Sache auch umkehren: Das Spiel von Einbildungskraft und Verstand ist seinerseits ein Naturspiel. Wenn sonst Person und Zustand einander entgegen gesetzt werden, so können wir hier vermerken, daß das erstere seine Urteilshoheit nicht ausübt. Dieser Ich-Verzicht ist das Gegenstück zum Verzicht auf ein Erkenntnisobjekt. Die Mitteilung in Sprach- und Urteilsform steht damit, so scheint es, zur Disposition; wenn alle Menschen musizieren könnten, wäre vielleicht eine bestimmte Melodie eine adäquatere Geschmacksäußerung als das prosaische sprachliche Urteil. »Schöne Kunst dagegen ist eine Vorstellungsart, die für sich selbst zweckmäßig ist und, obgleich ohne Zweck, dennoch die Cultur der Gemüthskräfte zur geselligen Mitteilung befördert. – Die allgemeine Mittheilbarkeit einer Lust führt es schon in ihrem Begriffe mit sich, daß diese nicht eine Lust des Genusses aus bloßer Empfindung, sondern der Reflexion sein müsse; und so ist ästhetische Kunst eine solche, die die reflectirende Urtheilskraft und nicht die Sinnenempfindung zum Richtmaße hat.« (V 306,3–10) Das Kunstwerk erfüllt somit das Kriterium der allgemeinen Mitteilbarkeit und kann folglich selbst schon zur Mitteilung des austarierten Gemütszustandes dienen. Die für die Kantische Theorie wesentliche epistemische Grundlage im Hinblick auf die Ermöglichung einer Erkenntnis überhaupt, die den allgemeingültigen Charakter des Zustandes gewährleistet, sie bildet auch im Kunstwerk das Fundament seiner Kommunizierbarkeit. Und weder der Künstler noch die Person, die ein Geschmacksurteil äußert, sind explizit informiert über die vom Transzendentalphilosophen freigelegte epistemische Substruktur ihrer ästhetischen Äußerung; beide wenden sich ungebrochen einem ästhetischen Sachverhalt zu und verschwenden ihre Aufmerksamkeit nicht auf die Theorie, die die Ermöglichungsbedingungen ihrer Zuwendung eruiert. Auch hier also findet sich kein Privileg des Urteils. Es gibt zwar keine urteilsbildende Ich-Einheit in der Balance der Erkenntniskräfte, der Verstand herrscht nicht mit seinen Begriffen, um das Satzsubjekt unter das Prädikat zu subsumieren und so allererst ein logisch akzeptables Urteil zustande zu bringen, trotzdem scheint aber das Geschmacksurteil eine unverzichtbare Funktion innerhalb der Theorie zu besitzen, so daß es nicht durch andere Mitteilungsformen ersetzt werden kann. Warum? kritik der urteilskraft | 419

Der entscheidende Punkt liegt im Notwendigkeitsanspruch, der nur vom Urteil vorgetragen werden kann, wobei diese Notwendigkeit nicht analytisch im Satz vom Widerspruch oder synthetisch in einer objektiven Erkenntnis begründet ist. Das Ästhetische wird, wie sich zeigte, zwischen einer empirischen Anthropologie oder Psychologie einerseits und einer rationalen Logik andererseits lokalisiert und als eigenständig gegenüber beiden Alternativen duchgeführt. Es nimmt teil an der rationalen Notwendigkeit, jedoch nicht durch einen logischen Subsumtionsakt und eine bestimmte Objekterkenntnis, sondern dadurch, daß es einen rechtmäßigen Geltungsanspruch an alle stellt. Die Kunst kann die Hörer und Betrachter zwar faktisch partizipieren lassen und das Spiel von Einbildungskraft und Verstand in ihnen evozieren, die Kunst ist auf derselben Grundlage wie das Geschmacksurteil mitteilungsfähig; es ist ihr jedoch nicht möglich, einen Geltungsanspruch mit normativer Notwendigkeit vorzutragen. Das verbal artikulierte Geschmacksurteil behauptet einmal seine eigene grundsätzliche notwendige Berechtigung mit dem impliziten Hinweis auf den Grund im allgemeinheitsfähigen Gemütszustand, zum andern trägt es sich darüber hinaus als Imperativ vor: Alle anderen sollen einstimmen. Die Rechtsgrundlage ist Gegenstand der ersten Deduktion in der Analytik, die Pflicht der Einstimmung wird in der Dialektik deduziert, und erst in dieser zweiten Deduktion findet die normative Notwendigkeit des Geschmacksurteils ihre Basis. Das Urteil hat eine indizierende, keine unterscheidende Funktion; es bezieht sich ursprünglich auf die schöne Natur überhaupt, nicht auf gelungene oder mißlungene Kunstwerke, denen der Urteilende mit einem besonderen Unterscheidungsvermögen entgegentritt. Die Kantische Theorie des ästhetischen Urteils hat ihre Wurzeln entsprechend nicht in der Hofgesellschaft, in der Graciáns »discreto« mit seinem ausgefeilten »gusto« zwischen guter und schlechter Darbietung unterscheidet, sie stammt auch nicht aus der Kultur der Pariser Salons, in denen Diderot als Kenner der Kunstwerke die feinsten Unterschiede der Werke bemerkt, oder aus der Kunstschulung, aus der heraus David Hume seinen Standard of Taste204 entwirft. Kant siedelt das Schönheitsurteil in der Begegnung des Menschen mit der Natur an und macht die Ästhetik partiell zu einem Teil der Naturphilosophie. 420 | kapitel 

Melden wir noch eine Schwierigkeit an, in die Kants Theorie verstrickt zu sein scheint. Der Urteilende fokussiert den Sachverhalt, der ihm schön erscheint. Der transzendentalphilosophische Psycho-Analytiker registriert das Spiel von Einbildungskraft und Verstand und das Echo-Gefühl des Wohlgefallens. Dem Urteilenden ist das sein Urteil legitimierende Spiel verschlossen, und er drückt in seinem Urteilsakt nur das auf ihm, dem Spiel, beruhende, daher allgemeine Wohlgefallen (u. a. V 219.18) aus. Nun ist das Wohlgefallen für den Urteilenden gegenüber seinem Ursprung opak, denn er kennt nur das gefühlte Wohlgefallen selbst, nicht aber dessen Herkunft aus einer »Erkenntnis überhaupt«, einer »cognitio in genere«. Wie aber stellt sich das Wohlgefallen als allgemein dar? Kann man eine »voluptas in genere«, die »Allgemeingültigkeit dieser Lust« (V 289,22–23) als solche fühlen? Und erleidet nicht auch die Empfindung des Lustgefühls daßelbe Schicksal wie die Aristipp-Prädikate, daß das jeweilige »quale« des Gefühls nicht mitteilbar ist, d. h. genau meine Lust im Anblick schöner Natur bleibt notwendig so privat wie die Farbempfindung beim »grün« genannten Gartenzaun. Man kann die Theorie verteidigen, indem man darauf hinweist, daß der Ursprung des Wohlgefallens, die »cognitio in genere«, die qualifizierte Mitteilbarkeit garantiert; aber das gilt für die grundsätzliche Analyse des Transzendentalphilosophen, nicht jedoch für den Urteilenden, für den die transzendentale Analyse ein Buch mit sieben Siegeln bleibt. Das Spiel von Einbildungskraft und Verstand ist für immer ein Deus aestheticus absconditus, er kann nicht in Erscheinung treten und den Schwebezustand der Schönheitsurteile beenden; nie läßt sich der Schlüssel auf dem Boden des Fasses entdecken und eine Entscheidung über das bekundete Wohlgefallen der einen gegen das vermeintlich reine Wohlgefallen der anderen fällen. Die transzendentalphilosophische Exposition und Deduktion besagt nur, daß wir berechtigt sind, ästhetische Urteile (und Produkte) mitzuteilen und niemand uns entweder in die Pariser Garküche der Hedonisten oder an die Demonstrationstafel der Rationalisten verweisen darf – tertium datur.

kritik der urteilskraft | 421

Die zwei Deduktionen des Geschmacksurteils Die erste Deduktion des Schönheits- oder Geschmacksurteils findet sich in der Analytik, die zweite in der Dialektik; über diese Dopplung äußert sich Kant nicht explizit, und so ist es eine Aufgabe des Interpreten, ihre, wie sich zeigen wird, komplementäre Funktion näher zu bestimmen. Die erste Deduktion ist das Thema des ersten Teils des (als solchen nicht gekennzeichneten) Dritten Buches (V 279–303: »Deduction der reinen ästhetischen Urtheile«); von der zweiten Deduktion heißt es eher nebensächlich: »Räumt man aber unserer Deduction wenigstens so viel ein, daß sie auf dem rechten Wege geschehe, wenn gleich noch nicht in allen Stücken hell genug gemacht sei, […].« (V 346,13–15) Die Dopplung erinnert an die zwiefache Deduktion der KrV, in der zuerst offiziell und angekündigt eine »Transzendentale Deduktion der reinen Verstandesbegriffe« vorgenommen wird (A 95–130; B 129–169), und dann in der Dialektik eine eher marginale Äußerung das Pendant für die Ideen anzeigt: »Und dieses ist die transzendentale Deduktion aller Ideen der spekulativen Vernunft, […].« (A 671)205 Auch die Dialektik der KpV enthält eine Deduktion (V 113,8 und 126,14). In der KrV handelt es sich jedoch um unterschiedliche Objekte, die jeweils deduziert werden, in der KdU ist es dagegen das eine identische Geschmacksurteil, das in der Analytik lehrbuchmäßig zuerst exponiert und dann deduziert wird, während die Deduktion desselben Urteils in der Dialektik zwar ausführlich entwickelt, aber als solche nur marginal, wie wir sahen, erwähnt wird. Die beiden Deduktionen in der Analytik und Dialektik beziehen sich auf unterschiedliche Aspekte des einen Geschmacksurteils, in dem sich die KrV und KpV, Erkenntnis und Moral, miteinander vereinen, entsprechend wird zuerst im Erkenntnisteil die epistemische Allgemeinheit und Notwendigkeit und daher Mitteilbarkeit aufgewiesen, sodann im praktisch-normativen Teil die Fundierung im Übersinnlichen, das uns nur durch Moral präsent wird. Daß es zwei Deduktionen des Geschmacksurteils gibt, darüber besteht neuerdings ein gewisser Konsens bei den Interpreten;206 es wird jedoch nicht gesehen, welche Aufgaben nun die einzelne Deduktion jeweils übernimmt und wie die Dualität in der Gesamtkon422 | kapitel 

zeption verankert ist; des weiteren fehlt die Verbindung mit dem juridischen Charakter schon der ersten Kritik. Zuerst zur Analytik. In der Exposition207 wird das Geschmacksurteil nach dem Vorbild des logischen bzw. transzendentalen Urteils der KrV im Hinblick auf die notwendig in ihm enthaltenen vier Momente der Qualität, Quantität (in dieser begründeten Reihenfolge), der Relation und der Modalität dargestellt. Die Momente geben keine genaue Struktur in der Urteilslogik an, sondern sind eher insgesamt als eine Topik mit lockerer Anbindung an die Urteilstafel der KrV zu interpretieren; wenn unter dem Titel der Relation die Zweckmäßigkeit rangiert, ist die Nähe zur Kategorientafel größer als zur ursprünglichen Urteilstafel. Mit der Besetzung des Titels der Qualität durch den ästhetischen statt logischen Charakter wird dem Urteil gleich zu Beginn die Möglichkeit genommen, die für jedes Urteil konstitutiv ist, nämlich sachhaltig negiert werden zu können.208 Unter dem Titel der Qualität wird also das Urteil als »ästhetisch, nicht logisch« eingestuft, »nicht logisch« heißt: Ohne Anspruch auf die Erkenntnis des Objekts, auf das sich das Geschmacksurteil bezieht. Schon hier ist eine für die Systematik nicht unwichtige Schiefheit zu notieren, denn wenn Kant den Titel der Qualität an den Anfang stellt und ihn des näheren als »ästhetisch« rubriziert, so wird nicht nur schon hier die Möglichkeit der Negation des Urteils überdeckt, sondern die Rubrizierung ist schief, weil auch das Erhabenheitsurteil ästhetisch und nicht logisch ist, der Titel also vor die Behandlung der dann zu trennenden Bereiche von schön und erhaben zu stellen wäre. Beides gehört nun drittens zusammen, denn die mangelnde Negation des ästhetischen Urteils rührt u. a. daher, daß das Erhabenheitsurteil den Ort des Nicht-Schönen oder Hässlichen besetzt; die Opposition wird besonders da deutlich, wo Kant dem Schönen die schöne Form zuspricht, das Erhabene dagegen (meistens) als formlos charakterisiert – das Formlose oder die »Unform« (V 192,8) ist in der Tradition der Ästhetik das Unschöne, Mißgestaltete. Der entscheidende Punkt, der die »Kritik« (V 216,33)209 auf den Plan ruft, taucht unter dem nachfolgenden Titel der Quantität auf: Das Geschmacksurteil ist seiner Prätention nach allgemein mitteilbar; es stützt sich dabei nicht auf den gemeinten öffentlichen kritik der urteilskraft | 423

Gegenstand, sondern das urteilende Subjekt und dessen eigenen Gemütszustand; dieser Gemütszustand ist nun spezifisch anders als der des Erhabenheitsurteils und rechtfertigt die getrennte Behandlung, obwohl der Anspruch der Allgemeinheit und der Mitteilbarkeit auch beim Geistesgefühl des Erhabenen gilt. Unter dem Titel der Relation wird drittens die schwer interpretierbare formale Zweckmäßigkeit von beurteiltem Sachverhalt und darauf eingestimmtem Subjekt abgehandelt; die Modalität besagt viertens, daß ein Anspruch auf notwendige Gültigkeit des Urteils gegenüber allen Adressaten erhoben wird; letzteres gilt wiederum genauso beim Erhabenheitsurteil. Mit dem unter dem Titel der Quantität geführten Nachweis, daß das von Wohlgefallen begleitete Geschmacksurteil allgemein und daher mitteilbar ist aufgrund des Spiels von Einbildungskraft und Verstand in einer »Erkenntnis überhaupt«, mit diesem Nachweis im § 9 innerhalb der Exposition wird im Prinzip schon die Deduktion erbracht. So heißt es entsprechend innerhalb der betitelten Deduktion im § 38, die Urteilskraft sei hier nur gerichtet »auf dasjenige Subjective, welches man in allen Menschen (als zum möglichen Erkenntnisse überhaupt erforderlich) voraussetzen kann«, und so müsse »die Übereinstimmung einer Vorstellung mit diesen Bedingungen der Urtheilskraft als für jedermann gültig a priori angenommen werden können. D. i. die Lust oder subjective Zweckmäßigkeit der Vorstellung für das Verhältniß der Erkenntnisvermögen in der Beurtheilung eines sinnlichen Gegenstandes überhaupt wird jedermann mit Recht angesonnen werden können.« (V 290,2–14) Und dann resümierend: »Diese Deduction ist darum so leicht, weil sie keine objective Realität eines Begriffs zu rechtfertigen nöthig hat; denn Schönheit ist kein Begriff vom Object, und das Geschmacksurtheil ist kein Erkenntnisurtheil.« (V 290,16–18) Also: Da kein Erkenntnisanspruch auf das Objekt gerichtet ist, bleibt als Grundlage des Anspruchs der Geltung nur die subjektive Seite übrig, die als notwendig dadurch erwiesen ist, daß bei jedem erkenntnisfähigen Subjekt dieselbe funktionale Beziehung der Erkenntniskräfte und die allgemeine Lust angenommen werden kann. Die Bildung des Geschmacksurteils ist daher gültig für »jedermann, der durch Verstand und Sinne in Verbindung zu urtheilen bestimmt ist« (V 219,21–22). Das (wie gezeigt: ichlose) entprivatisierte Subjekt 424 | kapitel 

des Urteils ist selbstredend in seiner Allgemeinheit identisch mit jedem anderen Subjekt, das auf diese Allgemeinheit hin angesprochen wird; jeder ist hier, mit Hume, »man in general«, jeder kann mit seinem Urteil an die identische Allgemeinheit jedes anderen appellieren. Aber wozu die scholastisch umständliche Deduktion der §§ 30– 38, wenn eigentlich alles schon in der Exposition dargelegt ist? Im § 9 wird die Deduktion angekündigt mit dem Hinweis darauf, daß in ihr allererst der Notwendigkeitsanspruch thematisiert werde (V 218,15–25); vorher also wird zwar die Notwendigkeit als Modalität des Geschmacksurteils aufgefunden (V 236–240), aber erst die angekündigte Deduktion kann den Anspruch legitimieren. Sie tut dies in einem feierlichen Ritual, in dem die Urteilskraft ihre Akkreditierung als »Kritik« neben der Kritik des Verstandes und der Vernunft aushändigt: Sie zeigt, daß das Geschmacksurteil die Problemfrage der Transzendentalphilosophie stellen und beantworten kann: »Wie sind synthetische Urteile a priori möglich?« (V 289,4–5)210 Seit der Erklärung der Prolegomena (1783, IV 276,12) ist dies die Schlüsselfrage schlechthin für die kritische Philosophie; wir erläutern: Locke erzählte mit seiner »plain historical method« Geschichten über den menschlichen Verstand mit tausend synthetischen Urteilen a posteriori; Wolff bewies alles mit Urteilen apriori und stand am Ende mit leeren analytischen Händen da; und dann kam Kant und exponierte und beantwortete die paradoxe Frage: »Wie sind synthetische Urteile a priori möglich?« Daß sie möglich sind, wurde ab 1783 durchgehend mit Berufung auf das Faktum der Wissenschaft, des moralischen Bewusstseins und der ästhetischen Urteile vorausgesetzt. Die Deduktion selbst wird so geführt, daß die Lust, die an die Stelle eines Begriffs im bestimmten Erkenntnisurteil tritt, als solche den Charakter der Allgemeingültigkeit hat (V 289,22–23; 290,11). Sie ist das Erzeugnis der nur formalen Übereinstimmung der Erkenntniskräfte und kann daher bei jedermann identisch angetroffen werden. Zu beachten ist, daß der Lust keine Intentionalität zugeschrieben wird, sondern sie nur das Adelssignum ihrer reinen epistemischen Herkunft an sich trägt. Diese letztere muß als solche identifizierbar sein, und zugleich ist sie dem Urteilenden hinter einem Schleier der Unkenntnis verborgen, denn er hält seine eigenen mißlichen Gedichte hartnäckig für schön. Die Lust folgt auf das Spiel kritik der urteilskraft | 425

der Erkenntniskräfte (V 218,8–11), geht aber »vor allem Begriffe« (V 289,18) von vielleicht intendierten Erkenntnisurteilen vorher. Der Begriff der Deduktion eines Urteils wird in einer Klammer erläutert als »Legitimation seiner Anmaßung« (V 279,9) – »Legitimation«, wir befinden uns auf dem Gebiet der Rechtsphilosophie oder des Rechts und können an die Ausführungen anschließen, zu denen das Rechtsvokabular der KrV einlud. In der KrV war die rechtliche Deduktion dem bloß faktischen Gebrauch entgegengestellt, formuliert mit der Differenz von »quid facti« und »quid juris«; hier, in der KdU, ist es die Gegenüberstellung von Exposition und Deduktion des Urteils; die »Deduction (d. i. Legitimation seiner Anmaßung)« komme »über die Exposition desselben noch hinzu« (V 279,9–11). Wir haben also einerseits ein als faktisch unterstelltes Geschmacksurteil oder ästhetisches Urteil (also inklusive Erhabenheitsurteil), das im Hinblick auf seine Einzelkomponenten exponiert wird, und zweitens den Nachweis der Rechtmäßigkeit der Anmaßung, die das Urteil gemäß seiner Exposition mit sich führt. »Gemäß seiner Exposition«: Diese wird so geführt, daß sie im Urteil selbst einmal die Anmaßung, aber auch den Grund der Legitimation aufdeckt und die nachfolgende Deduktion keinen Sachgrund einer weiteren Rechtfertigung mehr findet, die außerhalb des exponierten Urteils liegt. Insofern macht die Deduktion nur etwas besonders sichtbar, was der Leser in der Sache schon kennt, sie weist nur erneut darauf hin, daß das allgemeine Prinzip der Übereinstimmung der Erkenntniskräfte in einer Erkenntnis überhaupt und die damit verbundene Lust in sich schon gewährleisten, daß das Urteil »jedermann mit Recht angesonnen« (V 290,14) wird. Für das Geschmacksurteil könnte also schon mutatis mutandis geltend gemacht werden, was Kant erst beim Erhabenheitsurteil anführt: »Daher war unsere Exposition der Urtheile über das Erhabene der Natur zugleich ihre Deduction. Denn wenn wir die Reflexion der Urtheilskraft in denselben zerlegten, so fanden wir in ihnen ein zweckmäßiges Verhältniß der Erkenntnisvermögen, welches dem Vermögen der Zwecke (dem Willen) a priori zum Grunde gelegt werden muß und daher selbst a priori zweckmäßig ist: welches denn sofort die Deduction, d. i. Rechtfertigung des Anspruchs eines dergleichen Urtheils auf allgemein-nothwendige Gültigkeit, enthält.« (V 280,8–15) Was hier in Bezug auf den Willen gesagt wird, 426 | kapitel 

gilt beim Geschmacksurteil für den Bezug auf den Verstand und die Einbildungskraft im Hinblick auf die Ermöglichung einer Erkenntnis überhaupt. In beiden Fällen verweist Kant darauf, daß eine Fundierung der Rechtfertigung des Urteils im beurteilten Objekt nicht möglich ist und folglich nur die Subjektseite mit ihren allgemeinheitsfähigen Vermögen in Frage kommt. So heißt es zur Deduktion des Geschmacksurteils: »Schönheit ist kein Begriff vom Object« (V 290,17–18) und korrespondierend beim Erhabenheitsurteil, der anlaßgebende Gegenstand werde nicht »als ein solcher für sich und seiner Form wegen beurtheilt« (V 280,7). »Wir werden also nur die Deduction der Geschmacksurtheile, d. i. der Urtheile über die Schönheit der Naturdinge, zu suchen haben und so der Aufgabe für die gesammte ästhetische Urtheilskraft im Ganzen ein Genüge thun.« (V 280,16–19) Also doch wohl: Mit der Rechtfertigung des Anspruchs des Geschmacksurteils auf rein subjektiver Grundlage ist zugleich der Weg für eine analoge Deduktion beim Erhabenheitsurteil gewiesen, so daß der Titel »Deduction der reinen ästhetischen Urteile« (V 279,1) für die tatsächlich durchgeführte Deduktion nur des Geschmacksurteils richtig ist: Mit der einen Deduktion ist auch die andere, die des Erhabenen, im Prinzip erwiesen, weil man in beiden Fällen nur den notwendig allgemeinheitsfähigen subjektiven Grund benötigt.211 Der Urteilende meint, den Grund seines Urteils im Objekt zu finden (V 211,23–24; 218,20–21 u. ö.). In Wirklichkeit ist dagegen sein Urteil nicht objektiv, sondern subjektiv gegründet, wenn auch in einem allgemein mitteilbaren epistemischen Zustand. Diese Figur der Verborgenheit der Substruktur des eigenen Urteilens und Handelns kennt der Leser u. a. aus der Kantischen Anthropologie. Die Natur treibt ihr Spiel mit uns, während wir glauben, die Meister zu sein und eigenen Zwecksetzungen zu folgen (VII 135,1–137,21). Kant operiert also mit einer Doppelbödigkeit im Subjekt; dem bewusst über das vorliegende Phänomen Urteilenden liegt ein unbewußter subjektloser, es-hafter Zustand zugrunde, der die entscheidende Direktion vornimmt. Beide Dimensionen sind zweckmäßig aufeinander abgestimmt, so daß man hier von einer Binnenteleologie des bewußt-unbewußt Urteilenden sprechen kann. Da der Mensch durch seine Natur zur Erkenntnis bestimmt ist (V 219,21– 22), wird die Erfüllung dieser Bestimmung, wenn sie herrschaftslos kritik der urteilskraft | 427

der Zustand einer Erkenntnis überhaupt ist, mit einer Lust des Lebensgefühls begleitet.212 Die Lust ist auf Grund ihrer Herkunft allgemein (V 289,22); sie ist als wirkliches Wohlgefallen spürbar, sie ist jedoch apriori gewiß mitteilbar, d. h. identisch von anderen fühlbar, weil sie – mutatis mutandis – wie das Geld einem Prägestock entstammt, der bei der konkreten Einzelmünze die Mitteilbarkeit garantiert, im Gegenteil zu beliebigen kleinen Metallscheiben, mit denen andere nur durch Zufall etwas anfangen können. Gegen Mißverständnisse läßt Kant auf die geraffte Deduktion eine Warnung folgen, die ergänzend klärt, worauf genau sich die Deduktion bezog. Es handle sich bei ihr nur um das Prinzip a priori des Geschmacksvermögens, nicht mehr und nicht weniger; aus diesem Prinzip leite sich der Anspruch einer allgemeinen und notwendigen Geltung jedes Geschmacksurteils ab. Wie Euklid nicht dadurch widerlegt wird, daß es unzählige mißlungene Dreiecke und Beweisversuche gibt, so wird die Deduktion des Geschmacksvermögens nicht dadurch ungültig, daß Personen mit interessegeleiteten Urteilen auftreten und sie als rein ästhetisch anpreisen, auch sich selbst gegenüber. Die transzendentalphilosophische Deduktion beweist das generelle Recht, sich auf die Allgemeingültigkeit des Urteils zu berufen und nicht mit dem Hinweis abgewiesen zu werden, daß es derartige Urteile nicht gibt. Daß wir in Gefahr sind, unser tatsächlich interessiertes Urteil für uninteressiert zu halten, hat seinen besonderen Grund darin, daß uns der eigentliche Grund unseres Urteils im »fundus animae« verborgen ist; nur der Transzendentalphilosoph weiß um dieses reine zwecklose Spiel; es ist weder ein Objekt privater noch gar der öffentlichen Einsichtnahme wie die Rose vor mir, sondern nur des transzendentalen Psycho-Analytikers; nur er erkennt den Grund der Berechtigung der Anmaßung, mit der der Urteilende tatsächlich »sein« ästhetisches Urteil vorträgt. Weder die allgemeine transzendentalphilosophische Theorie noch die Introspektion des Urteilenden können also ausmachen, ob im Einzelfall der für den Anspruch erforderliche Allgemeinheitszustand vorliegt; für den Urteilenden ist das eigene Gemüt so opak wie für den Handelnden die wirkliche moralische Motivation.213 Wäre dieser vom Theoretiker allgemein konzipierte unbewußte Zustand des Urteilenden der Erkenntnisgegenstand auch des ästhetisch Reflektierenden und Urteilenden, 428 | kapitel 

dann würde dessen freie Reflexionsfähigkeit durch den Wechsel der Aufmerksamkeit zerstört; wenn aus dem Es das Ich und sein Objekt wird, ist das ganze Spiel verdorben. Ist mit dieser Deduktion nicht alles bewiesen, was man nur wünschen mag? Das Geschmacksurteil wird in der Analytik exponiert und deduziert, d. h. der in ihm selbst liegende Anspruch allgemeiner notwendiger Geltung als legitim erwiesen – welche Aufgabe kann jetzt noch eine zweite Deduktion haben? Die Dialektik mag allenfalls scheinbare Widersprüche aufstellen und kritisch destruieren, sie mag damit die »Gegenprobe« (s. B XX) zur schon erwiesenen Rechtmäßigkeit bringen, aber wie kann sie die erste Deduktion ergänzen wollen, ohne sie zugleich zu desavouieren? Dieser Einwand ist m. E. nicht widerlegbar. Hätte Kant eine andere literarische Darstellung und systematische Form gewählt, wäre die Dopplung von zwei Deduktionen vermeidbar gewesen. Die Exposition des Urteils selbst hätte schon explizit ergeben müssen, daß der mitgeführte Geltungsanspruch zwei Stufen enthält, eine epistemische und eine sittliche, des Verstandes und der Vernunft, und daß diesen beiden Stufen das Recht der Geltung einerseits und die Pflicht der Einstimmung andererseits entsprechen. Kant hat die beiden Stufen oder Aspekte des Anspruchs nicht klar in der Exposition getrennt und dadurch Konfusionen in der Lektüre und den Interpretationen verursacht. Erst wenn man sieht, wie essentiell die komplexe »justification« in Kants kritischer Theorie ist, gewinnt man einen Zugang zur Idee von Recht und Sittlichkeit, die der doppelten Deduktion zugrunde liegt. Die erste Deduktion des Geltungsanspruchs des Geschmacksurteils besagt, daß wir auf Grund der Identität des Allgemeinen in einem auf dem synthetischen Urteil a priori fußenden Geschmacksurteil berechtigt sind, gegenüber jedem anderen auf dieses epistemisch Allgemeine zu pochen und rechtliche Anerkennung des Urteils zu fordern, das ihm entspringt. Die Exposition findet jedoch noch mehr im Geschmacksurteil; es enthält außerdem die Pflicht der Einstimmung der anderen, also Pflicht als positives Engagement, nicht nur als passives Geltenlassen, wir fordern die Partizipation, in der sich die anderen Subjekte die ästhetische Harmonie selbst zum Zweck setzen. Die Begründung von beidem liegt in der Bestimmung des Menschen: die Bildung des Geschmacksurteils sei kritik der urteilskraft | 429

gültig für jeden, der zum Urteilen bestimmt ist (V 219,21–22), der zweite Schritt, der zur positiven Zwecksetzung führt, ist in unserer Bestimmung zum Sittlich-Guten begründet (angekündigt V 296,8– 13: »[…] erklären können, woher das Gefühl im Geschmacksurtheile gleichsam als Pflicht jedermann zugemuthet werde.«). Dieser weitergehende Schritt wird in der zweiten Deduktion vollzogen. »Auf irgend einen Begriff muß sich das Geschmacksurtheil beziehen; denn sonst könnte es schlechterdings nicht auf nothwendige Gültigkeit für jedermann Anspruch machen.« (V 339,14– 16) Dies kann kein Verstandesbegriff sein, sondern ist die Idee vom übersinnlichen Substrat, nun nicht nur des erscheinenden Sachverhalts, auf den sich das Urteil bezieht, sondern auch des urteilenden Subjekts: »Ein dergleichen Begriff aber ist der reine Vernunftbegriff von dem Übersinnlichen, was dem Gegenstande (und auch dem urtheilenden Subjecte) als Sinnenobjecte, mithin als Erscheinung zum Grunde liegt.« (V 340,3–6) Und: »Nun sage ich: das Schöne ist das Symbol des Sittlich-Guten; und auch nur in dieser Rücksicht (einer Beziehung, die jedermann natürlich ist, und die auch jedermann andern als Pflicht zumuthet) gefällt es mit einem Anspruche auf jedes andern Beistimmung […].« (V 353,13–16) In einem Brief vom 15. Oktober 1790 an Johann Friedrich Reichardt stellt Kant die zweite Deduktion in den Vordergrund, auch hier wieder mit der Betonung des Anspruchs, der im Geschmacksurteil liegt: »Ich habe mich damit begnügt zu zeigen: daß ohne Sittliches Gefühl es für uns nichts Schönes oder Erhabenes geben würde: daß sich eben darauf der gleichsam gesetzmäßige Anspruch auf Beyfall bey allem, was diesen Namen führen soll, gründe und daß das Subjective der Moralität in unserem Wesen, welches unter dem Namen des sittlichen Gefühls unerforschlich ist, dasjenige sey, worauf, mithin nicht auf objective Vernunftbegriffe, dergleichen die Beurtheilung nach moralischen Gesetzen erfordert, in Beziehung, urtheilen zu können, Geschmak sey: der also keinesweges das Zufällige der Empfindung, sondern ein (obzwar nicht discursives, sondern intuitives214) Princip a priori zum Grunde hat.« (XI 228,21–32) Ob alle Wörter des Briefes sehr belastbar sind, sei dahingestellt, jedenfalls beruft sich Kant hier für die Begründung des gesetzmäßigen Anspruchs auf Beifall auf ein Prinzip a priori, das im Übersinnlichen liegt und ergo für uns im Sittlichen. 430 | kapitel 

Mit der zweiten Deduktion ist die erste nicht außer Kraft gesetzt, sondern sie setzt diese im Gegenteil voraus und könnte ohne sie nicht geführt werden. Vorausgesetzt ist das interesselose Wohlgefallen am Schönen oder Erhabenen, das jede Begründung in objektiver Erkenntnis oder moralischer Verpflichtung von sich weist und damit einen menschlichen Zustand sui generis eröffnet. An diesem Zustand ästhetischer Indifferenz gegenüber allen Interessen soll der Mensch ein moralisches Interesse nehmen. Wenn nun schon die erste Deduktion im Gegensatz zu einem mathematischen Beweis ein »Sollen« des Geltungsanspruchs bei sich führt (nach unserem Vorschlag ein nur rechtliches), dann kann diese Norm nicht aus dem rein epistemischen Faktum einer Vermögensharmonie abgeleitet werden, auch nicht aus einer hypothetischen Klugheitsregel, sondern sie muß letztlich im Übersinnlichen ihren Grund finden. Insofern wird auch die erste Deduktion in ihrer Normativität erst durch die zweite Deduktion in der Dialektik möglich. In der Korrelation von Analytik und Dialektik konnte sich Kant nach dem Vorbild der KpV richten: Nur dadurch, daß die Analytik die reine Sittlichkeit ohne den Blick auf eine kompensierende Glückseligkeit entwickelte, konnte die Vernunft in der Dialektik davor bewahrt werden, chimärisch und unvernünftig zu sein. Mutatis mutandis: Nur die reine Interesselosigkeit des ästhetischen Urteils in den Prinzipienteilen der Analytik erzwingt die Aufhebung im höchsten Interesse des Menschen, seiner sittlichen Bestimmung, in der Dialektik. Man könnte gegen die Meinung, in der ersten Deduktion sei das Recht des Urteilsanspruchs, in der zweiten die Pflicht der Partizipation gemeint, einwenden, daß dies einmal unklar, zum anderen nicht nachweisbar ist. Der Vorwurf mangelnder Trennschärfe kann sich darauf berufen, daß schon jedem Recht eine Pflicht korrespondiert, dieses Recht anzuerkennen, sich also die vorgeschlagene Zweiteilung nicht aufrechterhalten lässt. Der zweite Vorwurf: es wird kein expliziter Beleg für genau diese Zuordnung angeführt, daß die erste Deduktion das Recht des Anspruchs legitimiert, die zweite dagegen die Pflicht der Partizipation und eigenen Zwecksetzung begründet. Die Zweiteilung schließt jedoch nicht aus, daß jedem Recht eine Pflicht korrespondiert, diese beschränkt sich jedoch auf die bloße kritik der urteilskraft | 431

Anerkennung. Sie würde hier besagen, daß alle anderen die prinzipielle Möglichkeit der ästhetischen Urteile, wie sie exponiert und deduziert wird, anerkennen, also ihren Anspruch nicht dadurch zunichte machen, daß man nur den Sinnengeschmack oder die Vollkommenheitsästhetik gelten lässt. Kant geht zweitens an vielen Stellen über diesen Geltungsanspruch hinaus und fordert die Partizipation als Pflicht, die eigene Zwecksetzung des Wirkens für den sensus communis. Es lassen sich die beiden Normbereiche in der literarischen Darstellung aus gutem Grund nicht trennen, denn die Exposition muß das Urteil in allen Momenten vorstellen, und dazu gehört die zweigestufte normative Notwendigkeit. Die erste Stufe betraf den Bereich des Verstandes und der phänomenalen Erkenntnis, die zweite den der Vernunft und die intelligible Fundierung. Das Muster dieser Stufung in der nicht umkehrbaren Reihenfolge der beiden Deduktionen ist uns bereits aus der Stufung von nur formaler Normalidee und dem Ideal der Schönheit als Vernunftidee vertraut, und sie wird uns in den folgenden Erörterungen erneut begegnen. Nur durch die Fundierung im Übersinnlichen und in der Sittlichkeit läßt sich das ästhetische Urteil (und mit ihm die Ästhetik) vor dem Verdikt retten, sich inhaltsleeren Silhouetten der Erscheinung zu widmen, die Urteilenden sind keine »Virtuosen des Geschmacks« (V 298,21), die sich dem l’art pour l’art und den Allüren des Rokoko widmen. Wir führen hier Linien des Textes und der Theorie zusammen, die so bei Kant nicht fokussiert werden; aber daß die Einzelstücke und die theoretische immanente Intention gut belegbar sind, lässt sich nicht bezweifeln. Paul Guyer hat in seiner frühen Schrift Kant and the Claims of Taste 1979 die zweifache Deduktion besonders intensiv analysiert; er hat jedoch den eigentümlich juridischen und ethischen Charakter nicht entdeckt und daher an deren Stelle die beiden Ebenen als »expecting« und »exacting« gefasst.215 Von einer Erwartung zu sprechen, halte ich für einen Kategorienfehler, der aus dem Verfahren stammt, die Kantische Theorie von 1790 aus ihren naturalistischen und anthropologischen Vorformen herzuleiten. Erwartungen spielen sich in der anthropologischen, gesellschaftlichen Funktion des Geschmacks ab, nicht in der Ebene der kritischen Transzendentalphilosophie.216 432 | kapitel 

Es ist, so zeigt die nähere Untersuchung, kein Zufall, daß wir hier auf dieselbe Struktur wie in der MdS stoßen; die ästhetische Theorie hat eine Rechtsdimension und eine Dimension des Sittlich-Guten und bezieht aus ihrer Begründung in der doppelten Moralphilosophie ihr theoretisches Fundament. Erst mit dem Nachweis, daß die Rechtlichkeit in einer Pflicht (und damit in der Freiheit bzw. im Intelligiblen) begründet ist, wird das Subjekt genötigt, die Förderung des ästhetischen »sensus communis« als eine nicht zufällige, sondern notwendige Angelegenheit zu betrachten; eben dies ist die Leistung der zweiten Deduktion – sie setzt die erste, epistemische, voraus und begründet sie im Objektiv-Intelligiblen, in der Freiheit, d. h. der Sittlichkeit und Vernunftbestimmung des Menschen. Wir hatten schon darauf hingewiesen, daß uns das Motiv der Stufung vom Geschmacksurteil bis hin zur Teleologie und der Unterscheidung von äußerer Handlungs- und innerer Willensfreiheit begleiten wird. Die juridische Struktur der KrV befreite das Subjekt davon, isoliert die Evidenz und Gewißheit des Erkannten zu behaupten, indem es seine Erkenntnisbehauptung im Prinzip an die institutionalisierte Öffentlichkeit richtete und sich deren Urteil unterwarf; analog befreit die rechtlich-sittliche Dimension des Schönheitsurteils von der Behauptung der subjektiven Evidenz und Gewißheit, indem das Urteil sich mit seinem notwendigen Geltungsanspruch an die Öffentlichkeit wendet und sich als Votum des »sensus communis« begreift. Henry Allison kommt in seiner intensiven Analyse in Kant’s Theory of Taste (2001) zu dem Ergebnis, daß Kants Theorie sowohl mit negativen wie auch positiven ästhetischen Urteilen befasst ist. Dies nötigt ihn, gegen Kant zwischen dem freien und dem harmonischen Spiel der Erkenntniskräfte zu unterscheiden und ein freies unharmonisches Spiel zu kreieren.217 Eine Stütze der Meinung, Kant liefere eine Theorie negativer ästhetischer Urteile, sei die Dialektik: »Otherwise, the point on which Kant insists in his discussion of the Antinomy of Taste, namely, that we can quarrel [streiten] about taste, though we cannot dispute about it (V 338), would lose its sense.«218 Aber dies ist leicht mit der gegenteiligen Prämisse erklärbar. Der Urteilende hat keine Einsicht in die transzendentale Grundlage des wirklichen Geschmacksurteils und kann kritik der urteilskraft | 433

betört Reiz und Rührung für schön halten und das entsprechende Urteil formulieren, auch das Gegenurteil ist sprachlich problemlos möglich: »x ist nicht schön«; das wurde oben hinreichend geklärt. Die Antinomie selbst bezieht sich nicht auf bejahende und verneinende Geschmacksurteile, sondern auf das Prinzip des Geschmacks(urteils), und da sollte es erstaunen, wenn sich das Übersinnliche für das Nichtschöne hingeben sollte – es ist eindeutig nur für das genuin Schöne und das partizipative Geschmacksurteil zuständig.

(3) Adressat – Sensus communis Das Geschmacksurteil ist gegründet in einem »allgemeinen Beziehungspunct, womit die Vorstellungskraft Aller zusammenzustimmen genöthigt wird.« (V 217,14–15) Die subjektneutrale Grundlage führt zur schon erwähnten Realisierung eines »man in general« im Urteilenden; jeder einzelne Urteilende ist apriori jeder andere. Diese identitätsphilosophische Konzeption lässt sich nur in dieser speziellen Einschränkung als intersubjektiv bezeichnen, denn von Intersubjektivität kann man auch in anderen Zusammenhängen sprechen. Hier wird die Identität nicht durch Mitteilungen und Diskurse als Ergebnis erzeugt, sondern sie ist umgekehrt deren unbewußte notwendige Voraussetzung. Damit ist auch das Problem der »other minds« für Kant so gelöst, daß die Mitteilbarkeit von Erkenntnisund ästhetischen Urteilen besagt, daß die Andersheit vernachlässigt werden kann, wenn das Gemüt in seiner Allgemeinheit im mitteilenden Subjekt realisiert wird: Es trifft notwendig auf die identische Allgemeinheit in allen anderen. Der Gemütszustand im Spiel von Einbildungskraft und Verstand wird so charakterisiert, daß keine privaten und nur singulären Komponenten in ihn eingehen. Abgewiesen sind damit im Vorfeld die möglichen Einflussnahmen von Reiz und Rührung und von allen anderen Interessen; wir haben es folglich zu tun mit den entprivatisierten Elementen jeder möglichen reinen Erkenntnis, einer reinen »Erkenntnis überhaupt«. Es ist dies somit nicht nur der Humesche, in den Künsten trainierte »man in general«, sondern das Subjekt menschlicher »cognitio in genere«, »Erkenntnis überhaupt«. 434 | kapitel 

Diese letztere erfüllt die Aufgabe, die epistemische Allgemeinheit von menschlichen Subjekten zwischen einer bestimmten objektiven Erkenntnis (KrV) einerseits und der gesetzlich bestimmten Moralität (KpV) andererseits zu ermöglichen. Es gibt demnach einen Zustand des menschlichen Gemüts, der individuell und doch allgemein ist, ohne eine Sache der bestimmten Verstandeserkenntnis oder Moralität zu sein. Der Partizipationsanspruch ist also nicht das Dominierenwollen eines bestimmten Privatsubjekts über alle anderen, sondern das Aufmerksammachen auf einen Befund, den jeder identisch in sich selbst machen kann und soll und der eben deswegen allgemein mitteilbar ist. Hierin unterscheidet sich der ästhetisch Urteilende nicht vom moralischen Subjekt, das mit der Vergesetzlichung seiner Handlungsmaxime den anderen Personen nicht seine Privatkonditionen aufnötigt, sondern umgekehrt vorweg seine Maxime so entprivatisiert, daß sie notwendig die Maxime aller anderen sein, oder besser: werden können muß. Die Mitteilbarkeit des ästhetischen Urteils beruht in gleicher Weise auf der Identität des Allgemeinen im Einzelnen und nicht auf einer Kommunikation, bei der der Gedankenaustausch allererst zum Produzieren von Überzeugungsgleichheiten führen kann. Die Menschen nähern sich nicht im Modus des »Du« einander an, sondern finden eine vervielfältigte Identität. Das Du der späteren Kommunikationstheorie gehört für Kant in die anthropologische Folklore, aber nicht in die Notwendigkeitsphilosophie der Kritiken und der Metaphysik. Um die von Kant immer wieder betonte Relevanz der Mitteilung zu verstehen, die es in der Tradition der ästhetischen Theorie nicht gibt, kann vielleicht folgende Beobachtung dienen. Der Ursprung könnte im Bereich der Konstitution einer gemeinsamen Welt nicht der Erkenntnis, nicht des Rechts und der Sittlichkeit inklusive einer ethischen Kirche, sondern der Weltfähigkeit der Menschen im Gefühl liegen. In der Substanztheorie der Dissertation von 1770 hatte Kant zu zeigen versucht, daß die einzelnen Substanzen für sich kein kommunizierendes Totum bilden können, sondern es dazu eines Gottes bedarf, der die Substanzen in ein Weltganzes des gesetzlichen »commercium« bringt (II 407,15–409,26). In der kritischen Philosophie wird dagegen gezeigt, wie die menschlichen Subjekte selbst die gemeinsame Welt der Erkenntnis, der Moral und jetzt des kritik der urteilskraft | 435

Gefühls erstellen, freilich auf Grund einer Gemütsanlage, die sie dazu apriori befähigt und die die Grundlage des Rechtsanspruchs bildet, mit dem wir im Einzelfall vor die Öffentlichkeit treten. Der »sensus communis« vertritt in der ästhetischen Urteilsbildung den status civilis mit seinem Gerichtshof, an den sich transzendentale (und von ihnen abgeleitete) Geltungsansprüche auf dem Gebiet der theoretischen Erkenntnis wandten. In dieser Institution gab es allgemeine Gesetze, unter die einzelne Fälle subsumiert werden können. Ein derartiges Verfahren ist aus der Ästhetik ausgeschlossen; wir brauchen jedoch die Idee einer Einheit, in der unser Votum sich zu bewähren hat. Diese Einheit steht dem ethischen Gemeinwesen sicher näher als dem subsumierenden Gerichtshof der KrV, denn Ethik und ästhetische Urteilsbildung beziehen sich kosmopolitisch auf die Menschheit im ganzen, beide sind zwanglos und doch in einer Pflicht begründet, die aus der sittlichen Bestimmung des Menschen herzuleiten ist. Vielleicht spielen für die gedankliche Modellierung des sensus communis auch Erinnerungen an Rousseaus Contrat social eine Rolle, so in der Idee der politischen Partizipation an der Formierung oder Interpretation des allgemeinen Willens, hier also: das ästhetische Votum in der zu konstituierenden »volonté générale esthétique«. Eine notwendige Bedingung des ästhetischen Urteils ist die allgemeine Mitteilbarkeit (V 217,1). Diese Qualifikation des Urteils grenzt es ab gegen andere Weisen der allgemeinen Mitteilbarkeit, die Kant ausschließt. Es sind einmal Urteile mit Aristipp-Prädikaten, zum anderen die Wittgensteinsche Idee des Konsenses durch die gleiche Wortverwendung; diese zweite Variante ist in der ersten implizite schon enthalten.219 Kant setzt ein mit der Unterscheidung wenigstens dreier Urteilstypen, die auf der sprachlichen Satz-Oberfläche identisch, als Urteile jedoch höchst unterschiedlich sind. In der Ästhetik haben wir es erstens nicht mit einer objekt-bestimmenden Erkenntnis zu tun, die sich Schritt um Schritt demonstrieren läßt, also nicht mit einem Urteil des Typs: »Das Licht ist zugleich Welle und Korpuskel«. Aber auch zweitens nicht, und hier setzen wir detaillierter ein, mit dem Urteil über den notwendig bloß privaten Geschmack kulinarischer Bagatellen. Was die Person A als schmackhaft empfindet und in einem Urteil bezeichnet, davon kann die Person B physiologisch und 436 | kapitel 

psychologisch anders affiziert werden. Hier gibt es kein Mittel, die Seele und ihren Fischgeschmack offen zu legen, denn die Qualia der kulinarischen Geschmacksempfindung sind grundsätzlich inkommunikabel. Jeder sitzt gewissermaßen in seiner empfindsamen IchBehausung und kommuniziert mit allen anderen über seine Empfindungen, jedoch nur im Rahmen eines vereinbarten Vokabulars und nicht so, daß die bezeichnete Sache selbst, die private Empfindung, offengelegt wird. Z. B. das Urteil: »Der Elbfisch schmeckt gut« – was das Gutschmecken genau für A bedeutet, wird B nie erfahren können. Ich spreche hier in Anlehnung an eine Kantische Bemerkung von Aristipp-Prädikaten;220 sie haben die Eigentümlichkeit, daß sie zwar korrekt und einvernehmlich von allen Sprechern verwendet werden können, die jeweils subjektiv erlebte Affektion jedoch gänzlich außer Betracht lassen. Üblicherweise werden Farbwörter zu den Aristipp-Prädikaten gezählt;221 was A als rot empfindet, ist vielleicht B’s Grünempfindung; aber beim Hinzeigen auf den Pullover dort verwenden wir beide das Wort »rot«. Die Identität oder Verschiedenheit der Farbempfindungen selbst läßt sich nicht kontrollieren, jedoch sehr wohl der einvernehmliche Gebrauch der Wörter, speziell bei den Farbwörtern im Hinblick auf die öffentlichen Gegenstände. Kant interessiert in der Ästhetik jedoch ein anderer Aspekt. Beim Geschmack des Angenehmen und Unangenehmen wird man unmittelbar physiologisch affiziert, das gesuchte Geschmacksurteil des Schönen ist dagegen durch eine Reflexion der Urteilskraft vermittelt; im ersten Fall leidet das Subjekt material durch einen Reiz, im zweiten agiert das Subjekt formal. Bei den Farbempfindungen werden zwei Argumente angeführt. Einmal heißt es: »Die grüne Farbe der Wiesen gehört zur objectiven Empfindung, als Wahrnehmung eines Gegenstandes des Sinnes; die Annehmlichkeit derselben aber zur subjectiven Empfindung, wodurch kein Gegenstand vorgestellt wird: d. i. zum Gefühl, wodurch der Gegenstand als Object des Wohlgefallens (welches kein Erkenntnis desselben ist) betrachtet wird.« (V 206,31–36) Oder auch noch einmal für den bloß subjektiven Aspekt: »Dem einen ist die violette Farbe sanft und lieblich, dem andern todt und erstorben.« (V 212,16–17) Also: Privatheit der Empfindung des Angenehmen und Unangenehmen, die mit einer Farbwahrnehmung verbunden ist; diese letztere, etwa die der violetten Farbe, ist ihrerseits zwar nur ein materialer Reiz, das kritik der urteilskraft | 437

Prädikat kann jedoch im öffentlichen Konsens gebraucht werden. Auf der anderen Seite lassen sich die reinen Farben ebenso wie die reinen Töne auch als Gegenstände der reflektierenden Urteilskraft identifizieren; es handelt sich dann bei ihnen nicht nur um die »Qualität« (V 224,17) oder die materiale Affektion, sondern um eine allgemeinheitsfähige Formbestimmung, wie Leonhard Euler meinte (V 224,22–31).222 Kants ästhetisches Urteil soll weder ein objektives Erkenntnisurteil der gegenstandsbestimmenden Urteilskraft noch ein Urteil über passiv erlittene Empfindungen im Gefühl der Lust oder Unlust und damit nicht der bloß verbale Austausch von Aristipp-Prädikaten sein, in dem nur mit Wörtern eine gemeinsame Kommunikationswelt errichtet wird. Wie lassen sich die ästhetischen Reflexionsurteile des Geschmacks neben diesen abgewiesenen Urteilsarten bestimmen? Die Antwort gab die Exposition des Geschmacksurteils, speziell der § 9. Im qualifizierten Sinn der Reproduzierbarkeit der genetischen Bedingungen des Urteils trifft die Forderung der Mitteilbarkeit natürlich auf jedes Erkenntnisurteil zu. Kant schreibt am 1. Juli 1794 an Jacob Sigismund Beck: »Wir können aber nur das verstehen und Anderen mittheilen, was wir selbst machen können; […].« (XI 515,10–11) Dieses (in sich unklare) Diktum ist kaum in den Bereich der ästhetischen Urteile zu übernehmen, denn von einem »Machen« des Spiels der Erkenntniskräfte ist keine Rede, dazu fehlt ein agierendes, kontrollierendes Subjekt, das in den Gemütszustand eingreifen könnte. Kant schreibt im § 9: »Jetzt beschäftigen wir uns noch mit der mindern Frage: auf welche Art wir uns einer wechselseitigen subjectiven Übereinstimmung der Erkenntniskräfte unter einander im Geschmacksurtheile bewußt werden, ob ästhetisch durch den bloßen innern Sinn und Empfindung, oder intellectuell durch das Bewusstsein unserer absichtlichen Thätigkeit, womit wir jene ins Spiel setzen.« (V 218,26–31) Die subjektive Einheit der »einhellige[n] Thätigkeit« von Einbildungskraft und Verstand ist nicht das Ergebnis einer absichtlichen oder auch unabsichtlichen Tätigkeit, sondern ist ein Zustand des Bewußtseins, der sich dem Subjekt durch Lustempfindung kundtut. Der Zustand widerfährt uns; er lässt sich nicht als Produkt unserer synthetisierenden Tätigkeit mitteilen, 438 | kapitel 

sondern nur sprachlich ausdrücken mit dem Appell an alle anderen, daß der Zustand frei ist von jeder Partikularität und daher notwendig von jedermann erfahren werden kann. Die KdU teilt mit der KrV die Auffassung, daß die Geltungsansprüche nicht an eine beliebige Öffentlichkeit gerichtet werden, sondern diese eine genau artikulierte Form hat. In der KrV ist es der von dem Werk selbst eingerichtete Gerichtshof mit seinen festen Ritualen, vor dem die Erkenntnisansprüche vorgetragen und deduziert oder abgewiesen werden. Die Institution des Gerichtshofs markiert den Zustand des Friedens und der Rechtssicherheit nach einer Menschheitsphase im Naturzustand. Die Parteien, deren Streit von dem Gerichtshof geschlichtet wird, sind strikt von diesem selbst getrennt, und eben dies gewährleistet die Unparteilichkeit des finalen Urteils. Anders in der KdU. Statt eines institutionalisierten Gerichtshofes gibt es hier den »sensus communis«. Er ist keine bereits fertige Institution, sondern eine Idee, unter der wir unser exemplarisch gemeintes (V 237,8) Urteil nicht nur als Feststellung auf einem Grund, »der allen gemein ist« (V 237,28), behaupten, sondern als Rechtsanspruch vortragen: Wir machen es »für jedermann mit Recht zur Regel« (V 239,28).223 Innerhalb der Analytik des Geschmacksurteils wird zweimal der Gemeinsinn oder die Idee des Gemeinsinns besprochen. Einmal lautet der Titel des § 22: »Die Nothwendigkeit der allgemeinen Beistimmung, die in einem Geschmacksurtheil gedacht wird, ist eine subjective Nothwendigkeit, die unter der Voraussetzung eines Gemeinsinns als objectiv vorgestellt wird« (V 239,12–15), und sodann lautet der § 40: »Vom Geschmacke als einer Art von sensus communis.« (V 293,10) Einmal wird der Gemeinsinn unter dem Titel »Viertes Moment des Geschmacksurtheils nach der Modalität des Wohlgefallens an dem Gegenstande« (V 236,12–14) abgehandelt, zum andern unter dem Titel der »Deduction der reinen ästhetischen Urtheile.« (V 279,1) Ist diese Duplizität eine Bagatelle oder verweist sie auf unterschiedliche, vielleicht konkurrierende Komponenten im Bau der Analytik? Die Frage wird schwer zu entscheiden sein. Jedenfalls wird hier von einem Recht gesprochen, den »sensus communis« vorauszusetzen und durch die Tat des exemplarischen Urteils gewissermaßen zu realisieren; wir votieren in einem ästhetischen Gemeinwesen, einer »volonté générale kritik der urteilskraft | 439

esthétique«, setzen sie dabei als Postulat voraus und geben ihr durch unsere Stimme Realität. Diese eigentliche Begründung des Anspruchs an alle anderen, in das Urteil einzustimmen, folgt erst in der zweiten Deduktion, wie wir wissen. Erst dort wird der Grund der Pflicht zu Einstimmung, die hier als Rechtsanspruch geltend gemacht wird, in Form des intelligiblen Substrats freigelegt. Hier, in der Analytik, legt sich ein Vergleich mit der Rechtslehre von 1797 nahe. Dort wird im Hinblick auf die rechtliche Möglichkeit des äußeren Mein und Dein von einer Befugnis gesprochen, »allen andern eine Verbindlichkeit aufzulegen, die sie sonst nicht hätten, sich des Gebrauchs gewisser Gegenstände unserer Willkür zu enthalten, weil wir zuerst sie in unseren Besitz genommen.« (VI 247,4–6) Diese Verbindlichkeit, die wir mit unserem einseitigen Besitzanspruch erheben, ist nur provisorisch und steht unter der Idee, sich einer künftigen allgemeinen Gesetzgebung zu unterwerfen, die ihrerseits jedoch ohne diese vorgreifende Initiative nicht zustande kommt. Die allgemeine Gesetzgebung ist hier der Rechtsstaat mit seinem Gerichtshof, der das Modell der KrV bildete; in der KdU lässt sich dagegen der »sensus communis« nicht institutionalisieren, sondern bleibt eine regulative Idee, die immer dann aktualisiert wird, wenn wir exemplarisch und partizipativ urteilen und uns mit einem Anspruch der Einstimmung an alle anderen wenden. In der Dissertation von 1770 rechnet Kant noch mit einer durch den Verstand erkennbaren intelligiblen Welt; sie besteht aus Substanzen, die einer höheren Substanz bedürfen, um überhaupt eine einheitliche Welt mit gesetzlich geordnetem »commercium« bilden zu können. Die Idee des »sensus communis« ist, wie wir sahen, die Vorstellung eines Kommerziums, das von den einzelnen Subjekten selbst aktiv betrieben wird; sie entdecken in sich die Struktur, die auch allen anderen eigen sein muß, und fordern alle anderen zu eben dieser Selbstentdeckung auf. Wenn in einer Utopie alle Menschen in einer weltweiten Symphonie leben, dann ist dies die Wirkung der Menschen selbst, nicht eines Gottes-Fürsten. Wie in der Moral jedes menschliche Subjekt kraft der reinen praktischen Vernunft autonomer Gesetzgeber ist und so die moralische Welt durch ihre Subjekte selbst gestiftet wird, so realisiert sich die Idee des sensus communis durch das Geschmacksurteil, das sich zum Ge440 | kapitel 

schmacksurteil jedes anderen qualifiziert und daher allgemein mitteilbar sein muß. Der sensus communis übernimmt die quasi politische Funktion der Einheit der ästhetisch Urteilenden als Idee; an dieses ideelle Forum richtet sich jedes ästhetische Urteil, nicht an zufällig erreichbare Personen. So ist der Gemeinsinn die Idee eines ästhetischen Gemeinwesens in Analogie zum ethischen Gemeinwesen der Religionsschrift von 1793 (VI 91–147). So wie das ästhetische Urteil sich im Gegensatz zum Sinnengeschmack durch seine Mitteilbarkeit auszeichnet, so auch der Vernunftglaube im Gegensatz zum Faktenglauben der Offenbarung (VI 102,34–103,8). Beides übt eine normative Kontrolle des drohenden Egoismus aus, indem sie verdeutlichen, daß das eigene ästhetische Urteilen und die eigene sittliche Gesinnung notwendig allgemeiner mitteilbarer Natur sein müssen.

Hume und Kant In Humes Essay Von der Grundregel des Geschmacks wird die Frage erörtert, ob es einen allgemeinen Standard der Beurteilung des »Schönen und Häßlichen« gebe, oder ob die Gegenmaxime gilt: »Ueber den Geschmack ist es unnütz zu disputiren.«224 Voraussetzung für diese Antithese sind die von Hume und Kant gleichermaßen angenommenen Prämissen, daß die Schönheit erstens keine empirisch auffindbare Qualität in den Gegenständen selbst ist, sondern »sie ist blos in der Seele vorhanden, welche diese Dinge betrachtet«225, und daß es zweitens keine Kunstregeln apriori gibt, zu denen man auf rein rationalem Weg gelangt. Die »Grundregel des Geschmacks« muß zwischen beidem zu finden sein, wenn es sie gibt. Eine Vorbedingung sei, daß der angehende Kritiker sich von allen Vorurteilen und jedem Interesse für die beteiligten Personen befreien müsse; durch diese epoché werde er gewissermaßen zum »man in general«, zum »Menschen überhaupt«, der nicht mehr für seine eigene private Person spreche, sondern für jedermann: »Auf gleiche Weise muß ich, wenn ein Werk an das Publikum gerichtet ist, und ich auch mit dem Verfasser in Freundschaft oder Feindschaft stünde, diese besondere Stellung verlassen, und mich blos als einen Menschen überhaupt betrachten; und, wo möglich, mein kritik der urteilskraft | 441

individuelles Wesen und meine besondern Umstände vergessen.«226 Es ist das disziplinenübergreifende Postulat des Pluralismus gegen den Egoismus, in dem Kant und Hume sich wiederum einig sind: »Dem Egoism kann nur der Pluralism entgegengesetzt werden, d. i. die Denkungsart: sich nicht als die ganze Welt in seinem Selbst befassend, sondern als einen bloßen Weltbürger zu betrachten und zu verhalten.« (VII 130,12–14) Die psychologische Grundlage des uninteressierten und vorurteilslosen Geschmacksurteils ist auch bei Hume das Spiel der Gemütskräfte: »Ob nun zwar alle allgemeine Regeln der Kunst auf die Erfahrung und auf die Beobachtung der allgemeinen Empfindungen der menschlichen Natur gegründet sind, so müssen wir doch darum nicht glauben, daß das Gefühl der Menschen diesen Regeln allemal gemäß sey. Diese feinern Bewegungen der Seele sind von einer sehr zärtlichen und delikaten Natur, und erfordern, daß viele günstige Umstände zusammen kommen, wenn sie leichte und richtig, nach ihren allgemeinen und festgesezten Grundregeln spielen sollen […] to make them play with facility and exactness […].«227 Das durch keine Interessen und Neigungen gestörte höchst sensible psychische Kräftespiel ermöglicht das positive oder negative, immer freie Urteil des Kenners und connaisseur, alias Geschmacksvirtuosen; er weiß genau Schönheit und Mißgestaltung zu unterscheiden und das Urteil zu fällen, das sich durch alle Zeiten bewähren wird. Um das Phänomen des delikaten Geschmacks zu illustrieren, greift Hume auf die bekannte Erzählung von Sancho Pansa im Don Quijote zurück: Zwei seiner Verwandten seien gerufen worden, als bekannte Geschmacksvirtuosen ein Weinfaß zu beurteilen. »Einer von ihnen kostet den Wein, bedenkt sich, und spricht nach reifer Ueberlegung, der Wein sey gut; ausser daß er etwas Geschmack von Leder habe, den er darin spüre.«228 Der andere Verwandte habe den Beigeschmack von Eisen herausgespürt, großes Gelächter, bis nach Jahr und Tag im leeren Faß ein kleiner Eisenschlüssel mit einem Lederband gefunden wird. Einen kleinen Eisenschlüssel mit Lederschlaufe gibt es nicht in der Ästhetik? Es ist das Urteil aller Völker und Zeiten, der sensus communis, der nicht irren kann. Im Humeschen Essay mit seinem Distinktions«taste« finden sich also überraschend viele Elemente der Kantischen Geschmackstheo442 | kapitel 

rie; aber Hume konnte empirisch argumentieren und brauchte keine Fundierung in einer »Erkenntnis überhaupt«, um ein Geschmacksurteil als partizipatives Urteil mitteilbar zu machen. Eben diese Kantische transzendentalphilosophische Wende, die das Geschmacksurteil vor der bloßen Empirie retten soll, bringt es um sein diskriminatorisches Vermögen: In der neuen Version kann gerade die Unterscheidungsleistung nicht mehr erbracht werden, denn das negative Urteil müsste auf einem Mißverhältnis von Einbildungskraft und Verstand beruhen, das keine Erkenntnis ermöglicht und entsprechend nicht vom Rezipienten dieser nur noch verbalen Mitteilung reproduziert werden kann. Humes »man in general« mit seinem delikaten Geschmack, der dem »standard« gerecht wird, urteilt mit virtuosem Geschmack über den von ihm unabhängigen Kunstgegenstand; ganz anders Kants Urteilender, der sich anlässlich eines geeigneten Gegenstandes der Natur oder Kunst auf seine eigene innere Harmonie der Erkenntniskräfte bezieht und, unbewußt, sein eigenes Inneres ausdrückt; das Schöne ist dem Subjekt gewissermaßen einverleibt und nimmt Besitz von seiner Seele; jeder partizipativ Urteilende stimmt mit Wohlgefallen in das innere Spiel der Gemütskräfte ein. Was man nicht schön findet, darüber muß man bei Kant schweigen. Hume verzichtet auf jeden Anspruch von Notwendigkeit, den das Geschmacksurteil bei Kant mit sich führt; er untersucht ein in den menschlichen Anlagen begründetes Kulturphänomen der tatsächlich möglichen Geschmacksregeln, über die sich eine bestimmte Gruppe von Kennern einig ist. Kant dagegen macht das Geschmacksurteil zu einer Sache der Menschheit; für ihn ist der primäre Gegenstand die Natur, nicht das einzelne Kunstwerk, er wählt als Basis keine besonderen geistigen Qualitäten, sondern die für jeden Menschen fundamentalen Erkenntniskräfte von Einbildungskraft und Verstand, nur in ihrer Absichtslosigkeit betrachtet, und drittens bettet Kant das Urteil in einen sozialen Zusammenhang von Recht und Sittlichkeit; in ihm ist die Notwendigkeit der Urteilsgeltung begründet, alle anderen können und sollen einstimmen, wie es durchgehend heißt. Die besondere Kennerschaft in der Beurteilung der Kunst spielt in der Grundlage der Kantischen Theorie keine Rolle; wir treten aus dem höfischen und städtischen Getriebe hinaus in die Nah-Natur, kritik der urteilskraft | 443

die ihre Schönheit vor uns ausbreitet – vor jedem von uns. Man muß nur Mensch sein, um einzustimmen in den Hymnus der Naturschönheit, vor der jede Kritik und Verneinung deplaziert ist. Wir werden unwillkürlich an den Zeushymnus des Stoikers Kleanthes229 erinnert, an den der Skeptiker Hume nicht glaubt, auch wenn er ihn kennt. Im Geschmacksurteil wird der Gemütszustand des Spiels von Einbildungskraft und Verstand mit dem begleitenden Wohlgefallen geäußert und allen anderen menschlichen erkenntnisfähigen Subjekten mitgeteilt. Das Urteil muß nun zwar alternativlos bejahend sein, es kann jedoch falsch sein. Kant widmet dieser Möglichkeit den Hauptteil der »Anmerkung«, die auf die kurze Deduktion in der Analytik folgt. Wir sind, so heißt es dort, berechtigt, »dieselben subjectiven Bedingungen der Urtheilskraft allgemein bei jedem Menschen vorauszusetzen, die wir in uns antreffen; und nur noch, daß wir unter diese Bedingungen das gegebene Object richtig subsumirt haben.« (V 290,19–22)230 Wir können uns über die Reinheit des Urteils täuschen und die sinnliche Materie statt der geforderten bloßen Form einfließen lassen; davon aber sei die prinzipielle Berechtigung des Notwendigkeitsanspruchs nicht tangiert. Es ist dies eine offenbare Parallele zur Verdecktheit unserer wahren Motive im sittlichen Handeln; die sittliche Norm kann nicht deswegen in Frage gestellt werden, weil wir uns über unsere wahren Motive täuschen können.231 Resümierend lässt sich festhalten, daß Kant zwei Komponenten zu verbinden sucht, das Spiel der Erkenntnisvermögen und das aus ihm resultierende allgemeine Wohlgefallen einerseits und das ästhetische Urteil andererseits; dieses Urteil ist kein bejahendes oder verneinendes logisches Erkenntnisurteil über einen eigenen Zustand, sondern der urteilsförmige ästhetische Ausdruck, der nicht verneinungsunfähig ist. Dies letztere, das Ausdrucksurteil, nimmt für den Urteilenden selbst eine objektive Form an, denn der Urteilende urteilt naiv über die Rose »Diese Rose ist schön«, nicht wissend, daß er nicht die Rose beurteilt, sondern seinen eigenen Zustand ausdrückt. Das Urteil qua Urteil wird frei durch das denkende und redende Ich-Subjekt gemacht, das Urteil qua Ausdruck wird dagegen durch den Zustand des freien Spiels produziert. Kant versucht beides mit einander zu verbinden. 444 | kapitel 

Die Situation erinnert an den Rhapsoden Ion, der im gleichnamigen Platonischen Dialog meint, über die Inhalte der Homerischen Epen reden zu können, dann jedoch von Sokrates dazu geführt wird einzugestehen, daß er nicht über Homer redet, sondern beim Rezitieren vom göttlich-homerischen Atem inspiriert ist. Auch der Urteilende bei Kant erkennt nicht, was er sagt, sondern ist zu einer Schönheitsäußerung durch die Gegenwart der Natur belebt und kann seine unbegründbare Äußerung anderen mitteilen. Während der Platonische Rhapsode wie vom Magnet der Musen durchströmt wird, ist Kants Beurteiler ein Teil im Spiel der stoischen Natur.

Analytik des Erhabenen Schön-erhaben Nur einige Stichworte zur dualen Struktur der »Kritik der ästhetischen Urteilskraft«, die Kant aus der Schrift von 1764, Beobachtungen über das Gefühl des Schönen und Erhabenen, aufnimmt, jedoch von den nur anthropologischen Bemerkungen möglichst befreit und aus den Ressourcen seines inzwischen gewachsenen Systems neu begründet. Schön ist vor allem die uns umgebende Natur, deren Anblick uns mit einem ästhetischen Wohlgefallen erfüllt. Erhaben ist dagegen das Geistesgefühl, das die Natur in ihrer uns überwältigenden Größe und Macht evoziert. Beim Erhabenen ist die Natur nicht die belebte, sondern die materielle Welt, Gegenstand der Kosmologie, der Astronomie und Physik; hier werden wir nicht von der Anmut des Schönen umfangen, sondern von der Größe des Weltraumes und der Kraft der Naturgewalten überwältigt. Dort die zweckmäßig organisierte Natur, zu der wir als Lebewesen gehören und in die wir einstimmen, hier die Größe und nackte Gewalt und Übergewalt, die auf das Leben keine Rücksicht nimmt. Dort die geschlossene Form, hier die offene Unendlichkeit.232 1790 hat das Schöne bei Kant bei aller Subjektivierung die Tendenz, vom Objekt, dem wohlgeformten, zu gelten; das Erhabene ist dagegen tendenziell formlos233 und kann als solches nicht im Gegenstand gegeben sein, sondern ist ausschließlich Sache des Subjekts. Das kritik der urteilskraft | 445

Schöne entspricht besonders der Naturbestimmung des Menschen, das Erhabene dagegen seiner Geist- und Vernunftbestimmung. Es gibt zwar den § 23 mit der Überschrift »Übergang von dem Beurtheilungsvermögen des Schönen zu dem des Erhabenen« (V 244,6– 7), hiermit ist jedoch der überleitende Paragraph selbst gemeint; schön und erhaben und das jeweilige Urteil stehen isoliert nebenoder gegeneinander, so daß wir nicht von dem einen Zustand zum anderen übergehen oder der eine den andern beeinflussen oder gar vernichten könnte.

Die ideengeschichtliche Herkunft der gestuften Ästhetik Die platonische Schönheitslehre findet ihren wirkungsmächtigen Ausdruck in der Rede der Diotima im Dialog Symposion. Demnach beginnt die Schönheit für uns in schönen Körpern und findet ihren Abschluß im Schönen selbst; der Sache nach ist dieses Schöne selbst oder die Idee des Schönen jedoch der Anfang, nämlich der Ermöglichungsgrund aller niederen Stufen des Schönen. Diese Auffassung des Schönen wird bei Plotin fortgeführt, sie findet sich bei Thomas und bestimmt den Aufbau von Dantes Göttlicher Komödie. Die Duplizität von Schön und Erhaben ist der platonischen und platonisierenden Lehre gänzlich fremd; sie muß also eine andere Wurzel haben. Unsere These lautet: Sie hat ihren Ursprung in der stoischen Bestimmungs- (οἰκείωσις)-Lehre.234 »Wir können es als eine Gunst, die die Natur für uns gehabt hat, betrachten, daß sie über das Nützliche noch Schönheit und Reize so reichlich austheilte, und sie deshalb lieben, so wie ihrer Unermeßlichkeit wegen mit Achtung betrachten und uns selbst in dieser Betrachtung veredelt fühlen: gerade als ob die Natur ganz eigentlich in dieser Absicht ihre herrliche Bühne aufgeschlagen und ausgeschmückt habe.« (V 380,20–25) Hier Liebe, dort Achtung, der Ursprung liegt in der zweistufigen stoischen BestimmungsLehre, wie sie in Ciceros De finibus dargelegt wird. Cicero stellt in De finibus zwei Stufen der stoischen Natur vor: »Die erste ist nämlich die Bestimmung (conciliatio) des Menschen zu dem, was naturgemäß ist. Zugleich erfasst er die Intellignz oder besser den Begriff (vel notionem potius), den die Stoiker den Geist (ἔννοιαν) 446 | kapitel 

nennen, und er erkennt die Ordnung dessen, was zu tun ist (viditque rerum agendarum ordinem) und sozusagen die Harmonie (concordiam), und er schätzt sie viel höher (multo eam pluris aestimavit) als alles, was er anfangs geliebt hatte (quae prima dilexerat), […].«235 Den zwei Lebensstufen entspricht eine Werthierarchie; die erste ist die des eher Animalisch-Liebenswürdigen (»quae prima dilexerat«), die zweite die des Vernünftig-Schätzbaren (»pluris aestimavit«).236 Es kann diese Differenz auch auf die Schönheit bezogen werden; in De officiis spricht Cicero von den »pulchritudinis duo genera quorum in altero venustas sit, in altero dignitas.«237 Diese Texte dürften neben verwandten Äußerungen in der hellenistischen und nachhellenistischen Literatur im 18. Jahrhundert jedem Gebildeten vertraut gewesen sein. Einen der vielen Reflexe finden wir bei David Hume; ich zitiere gleich aus der ersten deutschen Übersetzung der Sittenlehre der Gesellschaft; aus dem sechsten Abschnitt, »Von Eigenschaften, die uns selbst nützlich sind«,: »Die Charactere des Cäsars und des Cato sind, so wie sie von Sallustius gezeichnet sind, beyde tugendhaft, in dem genauesten Verstande dieses Worts, aber auf eine verschiedene Art; auch sind die Empfindungen, die durch diese Charactere erreget werden, nicht vollkommen gleich und einerley. Der eine bringt Liebe [love] hervor, der andere Hochachtung [esteem], der eine ist liebenswürdig [amiable], der andere ehrwürdig [awful]; den einen Character möchten wir bey einem Freunde anzutreffen wünschen, und den anderen möchten wir selbst zu besitzen.«238 Edmund Burke schreibt als Echo in seinen Philosophischen Untersuchungen über den Ursprung unsrer Begriffe vom Erhabnen und Schönen (wieder gleich in der Übersetzung, die 1773 erschien): »Man lese die Charaktere des Cäsars und des Cato, die Sallustius so fein gezeichnet, und so richtig verglichen hat, und man betrachte, was für einen verschiednen Eindruck sie auf uns machen werden. […] Bey dem letzten finden wir mehr zu bewundern, mehr zu verehren, und vielleicht etwas zu fürchten; wir halten ihn hoch, aber wir wollen ihn nur in einer gewissen Entfernung ansehen. Der andre macht sich mit uns vertraut: wir lieben ihn, und wir folgen ihm, wo er uns hin führt.«239 Adam Smith nimmt das Motiv in seiner Theory of Moral Sentiments auf: »Of the amiable and respectable virtues« lautet die Überschrift des fünften kritik der urteilskraft | 447

Kapitels der ersten Sektion.240 Er fügt damit eine spezielle Variante der stoischen Lehre in sein Gesamtsystem der »sympathy« (συμπάθεια) ein. Dieses Muster bestimmt die »doppelte Ästhetik«241 des Schönen und Erhabenen der KdU, wobei das Schöne zur »venustas«, das Erhabene zur »dignitas« gezogen wird. Das Geschmacksurteil des Schönen steht auf der Seite des, wie es ausdrücklich heißt, »Lebensgefühls« (V 204,8), während das »Geistesgefühl« (V 192,10) des Erhabenen sich zunächst gegen das Leben wendet und erst in der Rückbesinnung auf die moralische Persönlichkeit in uns ein Gefühl der Lust erregt. »Das Schöne bereitet uns vor, etwas, selbst die Natur ohne Interesse zu lieben; das Erhabene, es selbst wider unser (sinnliches) Interesse hochzuschätzen.« (V 267,35–37) Auch Schiller macht von Prämissen der Oikeiosislehre Gebrauch, wenn er im Aufsatz Ueber das Erhabene schreibt, die Schönheit sei »unsre Wärterinn im kindischen Alter« und »unsre erste Liebe«, wohingegen es in der »Einrichtung der Natur« liege, daß sich unsere »Empfindungsfähigkeit für das Große und Erhabene« erst später entwickle.242 Aber worin liegt der anti-platonische Zug dieser doppelten Ästhetik und damit auch das Fundament, auf dem die Dopplung in der Antike konzipiert werden konnte und dann im 18. Jahrhundert eine solche Dynamik243 zu entfalten vermochte? Für die platonische Ästhetik und ihre Tradition bis ins hohe Mittelalter hinein ist das Schöne in einer Idee begründet und hat dadurch ein objektives Sein bis in die letzten Stufen seiner eingeschränkten Erscheinungsweise. In der Stoa beginnt dagegen eine Wende zum Betrachter hin, so daß uns das Schöne Ausdruck einer Harmonie mit dem je eigenen »Ökosystem« werden kann, in der schon oben verwendeten Formulierung: Das Schöne erscheint nicht mehr als schön, weil es schön ist, sondern es ist umgekehrt schön, weil es uns so erscheint. Der Platoniker Augustinus schreibt in De vera religione (vielleicht gegen die Stoiker gewandt): »Und zuvor will ich untersuchen, ob die Dinge deswegen schön sind, weil sie uns erfreuen, oder aber uns erfreuen, weil sie schön sind. Hier werden wir ohne Zögern auf die Antwort stoßen, daß sie uns erfreuen, weil sie schön sind.«244 An die zitierten Stellen läßt sich mit einiger Großzügigkeit folgende Skizze anschließen: Schön kann jetzt sein, was unserer natürlichen primären Kon448 | kapitel 

stitution entspricht; erhaben dagegen, was in der Logos-Natur liegt, die uns über alle anderen Lebewesen hinausführt und am göttlichen Logos teilhaben läßt. Die Differenz von Schön und Erhaben ist demnach in den zwei Stufen der Bestimmung begründet; die erste teilen wir weitgehend mit den übrigen höheren Lebewesen, die zweite ist die der Vernunft, durch die wir in expliziter Erkenntnis am allgemeinen Welt-Logos teilhaben und gewissermaßen zu Weltbürgern werden; an die Stelle der Nahethik tritt die Fernethik, aus dem geborenen Kommunitarier wird der erkennende Kosmopolit. Man nehme folgende Passage aus Kants Beobachtungen über das Gefühl des Schönen und Erhabenen (1764): »Demnach kann wahre Tugend nur auf Grundsätze gepfropft werden, welche, je allgemeiner sie sind, desto erhabener und edler wird sie. Diese Grundsätze sind nicht speculativische Regeln, sondern das Bewußtsein eines Gefühls, das in jedem menschlichen Busen lebt und sich viel weiter als auf die besondere Gründe des Mitleidens und der Gefälligkeit [= Nahethik, RB] erstreckt. Ich glaube, ich fasse alles zusammen, wenn ich sage, es sei das Gefühl von der Schönheit und der Würde der menschlichen Natur. Das erstere ist ein Grund der allgemeinen Wohlgewogenheit, das zweite der allgemeinen Achtung, und wenn dieses Gefühl die größte Vollkommenheit in irgend einem menschlichen Herzen hätte, so würde dieser Mensch sich zwar auch selbst lieben und schätzen, aber nur in so fern er einer von allen ist, auf die sein ausgebreitetes und edles Gefühl sich ausdehnt. Nur indem man einer so erweiterten Neigung seine besondere unterordnet, können unsere gütige Triebe proportionirt angewandt werden und den edlen Anstand zuwege bringen, der die Schönheit der Tugend ist.« (II 217,11–25) Das ist eine der vielen Variationen zum Thema von Liebe und Achtung, das wir bei Cicero fanden. »Ästhetik« kommt von »aisthanomai«, wahrnehmen, und ist bei Baumgarten, der das Wort prägt, der Logik entgegengesetzt, wenn auch nur als jüngere Schwester. Aus unserer Skizze wird klar, daß die platonische und platonisierende Lehre vom Schönen nicht als Ästhetik begriffen werden kann, denn das eigentlich Schöne läßt sich als solches nicht wahrnehmen, sondern nur erkennen. Bei der zweistufigen stoischen Lehre fällt nur die untere, erste Stufe in den Bereich der eigentlichen Ästhetik, denn die zweite Stufe ist kritik der urteilskraft | 449

Sache des Logos, nicht der Sinnlichkeit. Die Kantische doppelte Ästhetik des Schönen und Erhabenen variiert dieses Grundmuster. Mit einer Ausnahme (Edmund Burke) ergab sich in allen Texten eine nicht umkehrbare Abfolge von »diligere – aestimare«, »schön – erhaben« usw. auf der Grundlage der zweistufigen stoischen Natur- und Vernunftbestimmtheit des Menschen.245 Aber wie kommt es zu der Abfolge »erhaben – schön« im Hegelschen System der Ästhetik?246 Hegel folgt einer Traditionslinie, die mit der Stoa nichts zu tun hat, sondern schon bei Platon247, vielfach bei Aristoteles (mit der Abfolge von Tragödie und Komödie)248 in weiteren antiken Texten249 belegbar ist und in der Neuzeit u. a. von Shaftesbury in seinen Characteristics aufgenommen wird: »He [sc. Strabo, RB] shows us that this first-formed comedy and scheme of ludicrous wit was introduced upon the neck of the Sublime. The familiar airy muse was privileged as a sort of counter-pedagogue against the pomp and formality of the more solemn writers.«250 Shaftesbury sieht hier eine Möglichkeit der Polemik gegen den barocken Bombast und der Förderung der klassisch-klassizistischen Schönheit. Das ist Giambattista Vico fern, der in seiner Scienza nuova (zuerst 1725) schreibt, bei den »primi popoli« müsse es erhaben zugehen: »Weil ferner diese Gattungsbegriffe (denn das sind ihrem Wesen nach die Mythen) von einer äußerst kräftigen Phantasie gebildet wurden, wie sie sich bei Menschen mit sehr schwachem Denkvermögen findet, werden somit ihre wahren poetischen Sentenzen entdeckt; dies müssen in überaus große Leidenschaften gekleidete Gefühle sein, die daher erfüllt sind von Erhabenheit und Staunen erregen.«251 Wir haben es also mit zwei verschiedenen historischen Formationen des Erhabenen und Schönen zu tun.

Erneute Stufung: groß und erhaben In die Dopplung von schön und erhaben sind je zwei Stufen auf antiker Folie eingetragen; die erste hatten wir beim Schönen bereits in der Stufung von ästhetischer Normalidee und Ideal der Schönheit gesehen; die erstere bestand in einer formalen Korrektheit (Stichwort: Myrons Kuh), bei der letzteren sprach sich darüber hinaus 450 | kapitel 

eine Vernunftidee aus, die nur in der Gestalt des geistbegabten Menschen gefunden wird. Dieser Staffelung von äußerlich korrekter Proportion oder Form und geistigem Sinn beim Schönen korrespondiert beim Erhabenen eine Zweistufigkeit von gleicher Struktur und Intention. Dies herauszufinden ist nicht ganz einfach, weil Kant die erste, nur formale Stufe 1790 nicht erhaben nennt. Er setzt in dem verklausulierten Text so ein: »Erhaben nennen wir das, was schlechthin groß ist. Groß sein aber und eine Größe sein, sind ganz verschiedene Begriffe (magnitudo und quantitas).« (V 248,5–7) Diese artifizielle Opposition von »eine Größe sein« und »schlechthin groß« wird im Folgenden so bestimmt, daß die Größe eine komparative Größe in der Natur ist, die zur zweckmäßigen Erweiterung der Einbildungskraft führt und die ein mitteilbares, wenn auch nicht beistimmungspflichtiges Wohlgefallen erregt und zwar nicht Achtung, aber doch »eine Art von Achtung« (V 249,33) abnötigt. Das Kunstwort, das Kant für diese erste Stufe einführt, lautet, daß man in diesem Fall »schlechtweg (simpliciter)« sage, etwas sei groß (V 248,7 u. ö.) Das zweite, zum Terminus technicus erhobene Wort beim wirklich Erhabenen ist dagegen das schon genannte »schlechthin« (V 248,5).252 Das schlechthin Erhabene entzieht sich jedem Vergleich, ist also nicht komparativ groß, sondern transzendiert die naturale Ebene hin zur noumenalen Idee und Totalität. Unter dem Gesamttitel der »Analytik des Erhabenen« und dem irreführenden Titel »Vom Mathematisch-Erhabenen«253 und dann noch »§ 25: Namenerklärung des Erhabenen« wird also von etwas gehandelt, was nicht erhaben ist, das jedoch mit diesem durch den Begriff des Großen verbunden ist. Dieses nicht-erhabene, nur »schlechtweg« so genannte Große nimmt strukturell die Position der Normalidee des Schönen ein; es ist wie das Erhabene groß, wie dieses im Urteil mitteilbar und erregt zwar keine Achtung, aber dennoch »eine Art von Achtung« (V 249,33). Die eigentliche Achtung beim Erhabenen folgt später unter dem Titel »Von der Qualität des Wohlgefallens in der Beurtheilung des Erhabenen« (V 257,10) mit dem zentralen Satz: »Also ist das Gefühl des Erhabenen in der Natur Achtung für unsere eigene Bestimmung, die wir einem Objecte der Natur durch eine gewisse Subreption (Verwechselung einer Achtung für das Object statt der für die Idee der Menschheit in unserm kritik der urteilskraft | 451

Subjecte) beweisen, welches die Überlegenheit der Vernunftbestimmung unserer Erkenntnisvermögen über das größte Vermögen der Sinnlichkeit gleichsam anschaulich macht.« (V 257,20–26) Bei der wesentlichen Einbeziehung der »Achtung für unsere eigene Bestimmung«, der Präsenz also der reinen praktischen Vernunft im ästhetischen Urteil des Erhabenen, ist es nicht verwunderlich, daß wir nicht nur auf eine strukturelle Parallele des Dualismus von äußerer Form und innerem Geist beim Schönen stoßen, sondern auch in der praktischen Philosophie selbst. In seinen moralphilosophischen Schriften, besonders in der GMS, macht Kant von der Stufung von »pflichtgemäß« und »aus Pflicht« Gebrauch; eine pflichtgemäße Handlung liegt dann vor, wenn sie in ihrer äußeren Erscheinung mit dem moralischen Gesetz übereinstimmt; aus Pflicht jedoch handelt jemand, wenn er sich die Pflichtgemäßheit selbst zum Ziel setzt und aus Achtung vor dem Gesetz handelt.254 Das erste ist, so liegt jetzt nahe, eine Art von Achtung, das zweite dagegen wirkliche Achtung; moralisch wertvoll ist nur die zweite Handlung, während die erste allenfalls einen hinführenden Charakter hat und vor allem im äußerlichen System des Rechts das einzig Erforderliche sein kann, denn beim rechtlichen Handeln interessiert nicht die innere Motivation, sondern nur die formal-äußerliche Korrektheit. In der MdS steht die Rechtslehre vor der Tugendlehre, so wie die Normalidee des Schönen vor dem Ideal des Schönen abgehandelt wird und unter dem Titel der »Namenerklärung des Erhabenen« zuerst das äußere, komparativ und nur schlechtweg so genannte Große vor dem schlechthin Großen, dem Erhabenen, steht. Die eigentliche Begründung in der Vernunft liegt nicht in der ersten, sondern der zweiten Position; das Pflichtgemäße findet den Grund seiner relativen Wertschätzung in der Handlung aus Pflicht, und das schlechtweg groß Genannte gelangt zu einer »Art von Achtung« als derivativer Modus der wirklichen Achtung für unsere Bestimmung, die sich im schlechthin Großen, dem Erhabenen, ausspricht. Genau dies ist der zeitlich erscheinungshafte Vorrang des Äußeren vor dem Inneren, dem der sachliche Vorrang des Inneren gegenüber dem Äußeren, Messbaren gegenläufig korrespondiert. »Im Reich der Zwecke«, heißt es in der GMS, »hat alles entweder einen Preis, oder eine Würde. Was einen Preis hat, an dessen Stelle kann auch etwas anderes als Äquivalent 452 | kapitel 

gesetzt werden; […] das aber, was die Bedingung ausmacht, unter der allein etwas Zweck an sich selbst sein kann, hat nicht bloß einen relativen Werth, d. i. einen Preis, sondern einen inneren Werth, d. i. Würde.« (IV 434,31–435,4)255 Wir werden auf dieselbe Ordnung in der Analytik des teleologischen Urteile mit der Opposition von relativem und innerem Zweck stoßen, aber zuvor noch eine spekulative Lust-Luftreise256 in das Jahr 1749 unternehmen. Wir hatten schon gesehen, daß Kant den Vorgängern in der Schätzung der lebendigen Kräfte vorwirft, ihre Erkenntnisse seien grundsätzlich defizitär, weil sie nur mathematisch verführen, damit aber gerade die Kräfte selbst nicht erreichten.257 Wir können paraphrasieren: Die Schöpfung enthält nicht nur Zahlen und Längenmaße, sondern Gott hat die Körper auch noch gewogen, d. h. sie verfügen über lebendige innere Kräfte, und die sind mit den bisherigen äußerlichen Verfahren nicht erreicht worden. Das Schema ist dasselbe, das wir gerade in der KdU entdeckt haben; es steht der erste Zugang durch Zählen und Messen gegen das Wiegen der lebendigen Kräfte, die umgekehrt das Zähl- und Messbare erst ermöglichen. Dasselbe Muster, so hatten wir gesehen, wendet Kant in der Raumschrift gegen Leibniz an und initiiert damit die subjektivistische Wende von 1770.258 Die Unterbestimmung der Körper in der Leibnizschen Analysis situs zeige sich darin, daß sie den »inneren Unterschied« (II 382,27)259 inkongruenter Körper nicht mehr begreife. Dasselbe Muster bestimmt die nicht umkehrbare Staffelung von mathematischen und dynamischen Kategorien und Grundsätzen, natürlich müssen die ersten vorangehen, sie beziehen sich auf die nur aggregierten Größen und Raum und Zeit, erst die Relationsgrundsätze stiften die Einheit im Dasein und damit die Möglichkeit der ersteren (u. a. A 418–419). Diese Abfolge wiederholt sich im Großen und Erhabenen und dann noch einmal im Mathematisch- und Dynamisch-Erhabenen. Es ist exakt dasselbe Muster, das sich so als konstitutiv für die Kantische vorkritische und kritische Philosophie erweist. Nun lassen sich die Vorzeichnungen des Kantischen Dualismus von nur Groß und Erhaben relativ problemlos in den Texten freilegen, die er für seine systematisch neu geordneten Gedanken benutzte. Es kommen dafür zwei Theorietypen in Frage, einmal die Rhetorik, in der das stilistisch-ethische Konzept des Erhabenen kritik der urteilskraft | 453

nach unserer Quellenlage zuerst entwickelt wurde, und dann die stoischen moralphilosophischen Traktate vor allem Ciceros. Zur Rhetorik: Aus der Rhetorik stammt der Begriff der Größe, megethos; er erscheint neben dem des Erhabenen, hypsos, in einer nicht genau definierten Weise, manchmal als synonym,260 manchmal als eine Vorform, die das eigentlich Erhabene noch nicht erreicht. Klar ist jedenfalls, daß wir mit dem Erhabenen immer die Vorstellung von Größe und Mächtigkeit verbinden, die sich auch in einer einzigen brillanten Formulierung äußern kann.261 Das Wohlgefallen an dem, was schlechtweg groß genannt wird, sei nicht ein Wohlgefallen am Objekt wie beim Schönen, »sondern an der Erweiterung der Einbildungskraft an sich selbst.« (V 249,26– 27) »An sich selbst« heißt hier: Erweiterung unter der Bedingung der Natur, während die Vernunftbestimmung zu einer »Erweiterung des Gemüths […] führt, welches die Schranken der Sinnlichkeit in anderer (der praktischen) Absicht zu überschreiten sich vermögend fühlt.« (V 255,11–13) Nun gehört auch die Figur der Erweiterung, der auxesis, zum Repertoire der Rhetorik, und sie wird mit wahrhaft vorkantischer Ahnung so in dem griechischen Traktat Vom Erhabenen als eine Stilform der großartigen Wendungen mit allgemeinen und heftigen Deklamationen dargelegt; der Redner solle aber klar erkennen, daß diese äußerlichen Mittel ohne das eigentlich Erhabene nicht vollkommen werden können – entziehe man der Erweiterung das Erhabene, »so reißt du gleichsam die Seele aus dem Leib.«262 Hier ist die Dopplung von äußerlich Großem (dem bloß Leiblichen der Rede) und der Beseelung durch das wahrhaft Erhabene vorgebildet. Es steht außer Zweifel, daß Kant den stoisierenden Traktat und Teile seiner vielfachen Rezeption gekannt hat. Im Hintergrund wird man auch hier die allgemeinere Dualität von äußerlich-formaler und innerlich-geistiger Schönheit vermuten dürfen, auf die oben schon eingegangen wurde.263 Bestätigungen dieser Dualität von Größe und Erhabenheit ließen sich bei Winckelmann und bei Sulzer finden.264 Zur Moralphilosophie: Kant paraphrasiert zu Beginn seiner Analytik des Erhabenen eine Vorstellung, die Cicero in De finibus bonorum et malorum referiert: Es gebe Güter, zu denen der Geist durch Verbindung, Ähnlichkeit oder Vergleich komme, das Vierte aber sei das durch seine Natur absolut Gute. »Dieses Gute selbst 454 | kapitel 

(hoc autem ipsum bonum) beurteilen wir nicht als gut durch seine Akkumulation noch durch sein Anwachsen oder durch den Vergleich mit etwas anderem (non accessione neque crescendo aut cum ceteris comparando), sondern aufgrund seiner eigenen Kraft (sed propria vi sua).« Das sittliche Gute ist hiernach generisch verschieden von allem übrigen, immer nur vergleichsweise Großem.265 Kant bewegt sich schon mit dem ersten Satz seiner Erhabenheitsanalyse auf dem Boden der stoischen Moralphilosophie. Er spricht folgerichtig in der KdU nicht nur vom Schlechthin-Großen, sondern auch vom Schlechthin-Guten (V 267,2–3) und löst damit diese Wertung aus dem Zusammenhang des im engeren Sinn ÄsthetischErhabenen. Derselbe Topos von komparativ schätzbar und unschätzbar Wertvoll wird genau passend in der GMS ausgespielt: »Was einen Preis hat, an dessen Stelle kann auch etwas anderes als Äquivalent gesetzt werden; was dagegen über allen Preis erhaben ist, mithin kein Äquivalent verstattet, das hat eine Würde.« (IV 434,32– 34) In der Moral Kaehler aus der Mitte der siebziger Jahre wird der Kontrast kurz so angesprochen: »Von der Liebe ist die Schätzung unterschieden, die Schätzung geht auf den innern Werth, die Liebe aber auf den Verhältnisweisen Werth, der Beziehung aufs Wohlergehen hat. Wir schätzen das, was einen innern Werth hat und lieben das was verhältnisweise einen Werth hat […]. Allein der Mensch muß nicht suchen so liebenswerth, als schätzungs- und achtungswerth zu seyn.«266 Und in den Bemerkungen in den Beobachtungen aus der Mitte der sechziger Jahre: »Die Gesellschaft macht daß man sich nur vergleichungsweise schätzt. Sind andere nicht besser als ich so bin ich gut sind alle schlechter als ich so bin ich vollkommen.« (XX 95,14–16) Man sieht, wie hier schon dieselbe antike Folie benutzt wird, die 1790 als Grundlage der Erhabenheitstheorie dient. Hiermit sind antike Vorformen der Kantischen Ästhetik in Texten aufgedeckt, die im 18. Jahrhundert intensiv rezipiert und variiert wurden; es ist entsprechend gut möglich, daß sich Kant zu seiner Variation dieser Grundmotive auch durch neuere Autoren wie etwa Sulzer und dessen Theorie der Schönen Künste anregen ließ, aber dies geschah in der Kenntnis der Absicherung durch klassische, auch in England und Frankreich vertraute Texte, besonders die des Hellenismus und dort wiederum der Stoa.

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Die Deduktion des Erhabenheitsurteils Die Erste Einleitung der KdU sieht eine Deduktion des Erhabenheitsurteils vor (XX 251,34–36); in der »Kritik der ästhetischen Urteilskraft« findet sich jedoch keine abgesonderte Deduktion wie im Fall des Geschmacksurteils. Nun unterliegt ein Urteil nur dann der Kritik im kantischen Sinn, wenn es den Rechtsanspruch der Notwendigkeit erhebt, und dieser Anspruch muß für rechtmäßig befunden, also deduziert werden, wenn das Urteil in die kritische Lehre Eingang findet. In diesem weiteren Sinn gibt es natürlich einen Nachweis der Berechtigung des Erhabenheitsurteils. Die Exposition der Urteile über das Erhabene war »zugleich ihre Deduction. Denn wenn wir die Reflexion der Urtheilskraft in denselben zerlegten, so fanden wir in ihnen ein zweckmäßiges Verhältniß der Erkenntnisvermögen, welches dem Vermögen der Zwecke (dem Willen) a priori zum Grunde gelegt werden muß und daher selbst apriori zweckmäßig ist: welches denn sofort die Deduction, d. i. die Rechtfertigung des Anspruchs eines dergleichen Urtheils auf allgemein-nothwendige Gültigkeit, enthält.« (V 280,9–15) In der Exposition wurde das Argument genau benannt, das die Deduktion darstellt: Die Urteilskraft beziehe die Erhabenheitsvorstellung »auf Vernunft als Vermögen der Ideen […], nur unter einer subjectiven Voraussetzung (die wir aber jedermann ansinnen zu dürfen wir uns berechtigt glauben) […], nämlich der des moralischen Gefühls im Menschen, und hiemit auch diesem ästhetischen Urtheile Nothwendigkeit beilegen.« (V 266,4–8) Daher der Appell an die Bestimmung des Menschen (V 262,12; 264,23). Das Geistesgefühl des Erhabenen ist unmittelbar im Gefühl der Achtung fundiert und entlehnt hieraus sein Recht, jedermann die Beistimmung anzusinnen; die zweite Deduktion des Geschmacksurteils bezog sich dagegen auch, aber nur mittelbar auf denselben Freiheitsgrund, denn das Schöne diente als Symbol des Sittlich-Guten, nicht als dessen unmittelbare Darstellung. – Im Folgenden gilt es u. a., die verborgene Deduktion des teleologischen Urteils zu entdecken.

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II. »Kritik der teleologischen Urteilskraft« »La seule génération des corps vivants et organisés est l’abîme de l’esprit humain«, Rousseau.267 Die »Kritik der teleologischen Urteilskraft« beschließt das Brückenwerk zwischen den beiden Kritiken, zwischen Natur (KrV) und Freiheit (KpV). Wie schon die »Kritik der ästhetischen Urteilskraft« setzt sie ein mit dem theoretischen Teil der Naturerkenntnis und endet bei der reinen praktischen Vernunft und der Bestimmung des Menschen, die somit das Ziel und den höchsten Punkt des ganzen kritischen Systems bildet. Um diese unsere These in einigen Stationen vor Augen zu führen, soll im Hauptteil des Folgenden zuerst der Argumentationsgang erläutert werden, danach gehen wir auf Einzelprobleme ein. Einleitend wenden wir uns der Frage des Zusammenhanges von Ästhetik und Teleologie zu und der Stellung der letzteren in einer Kritik der Urteilskraft.

Zwei Kritiken? In der KdU kreuzen sich unterschiedliche Systeminteressen. Zwei davon entspringen der Brückenfunktion einerseits und der Rollenzuweisung der reflektierenden Urteilskraft andererseits. Die KdU soll die »Kluft« (V 175,36) zwischen Natur und Freiheit überbrükken, sie soll über die Zwecklehre von der Natur auf den Endzweck, die Bestimmung des Menschen, führen. Dieser letzteren Aufgabe dient die »Kritik der teleologischen Urteilskraft«; aus dieser Sicht ist die Ästhetik ein Vorspiel der eigentlichen Lehre, die den Weg bahnt von der Natur zur Freiheit, von den natürlichen Zwecken und der Technik der Natur zur Ethikotheologie und der Lehre vom Endzweck, wenn auch die Freiheit selbst im Natursystem nicht sichtbar wird. Es zeigte sich, daß schon die Ästhetik das reine Geschmacksurteil und das Erhabenheitsurteil mit dem jeweiligen Notwendigkeitsanspruch im Übersinnlichen, der Freiheit und der Achtung, rechtfertigt und damit den Übergang von der Natur zur Freiheit in den zwei getrennten Beweisgängen vollzieht. kritik der urteilskraft | 457

Eine andere Tendenz der Schrift führt in die entgegengesetzte Richtung. Die reflektierende Urteilskraft hat zwar in der Vermögenslehre und der Kritik der reinen Vernunft ihren festen Platz, ihr kommt jedoch kein Gebiet der Gesetzgebung innerhalb der Philosophie oder Metaphysik zu. Die Gesetzgebung der reflektierenden Urteilskraft, die der Kritik unterzogen wird, wird entsprechend als heautonom, also als nur selbstbezüglich bezeichnet. Diese Heautonomie nun kennzeichnet (eher) die ästhetische Urteilskraft, nicht (so sehr) die teleologische. Im Hinblick auf die Natur finden sich verschiedene Äußerungen von Kant selbst, die den transzendentalen und für die Wissenschaft notwendigen, also konstitutiven Charakter der teleologischen Reflexion hervorheben, etwa: Die teleologische Urteilskraft gehöre »ihrer Anwendung nach zum theoretischen Theile der Philosophie« (V 194,29); »Daher spricht man in der Teleologie, so fern sie zur Physik gezogen wird, […].« (V 383,18–19) Wir können organische Naturprodukte nur unter Einbeziehung teleologischer Reflexion betrachten, für die Biologie268 enthalten diese Objekte objektiv zweckmäßige Anlagen, sie sind, wie es bei Kant heißt, in ihrer »inneren Möglichkeit« zweckmäßig. Hierzu passt gut, daß in den Korrespondenzen von Gemüts- und Erkenntnisvermögen, die am Schluß der Einleitung noch einmal gut sichtbar aufgeführt werden (V 198), die Urteilskraft dem Gefühl der Lust und Unlust zugeordnet ist,269 diese Beziehung jedoch nur für das ästhetische Urteil gilt, nicht für das teleologische, das also entweder zum Erkenntnisvermögen oder Begehrungsvermögen zu ziehen wäre. Nach dem ersten Gesichtspunkt also kulminiert die KdU in der Lehre von letzten Zwecken und vom Endzweck im Schluß der »Kritik der teleologischen Urteilskraft«, nach dem zweiten Gesichtspunkt ist die reflektierende Urteilskraft mit ihrer Beziehung auf das Gefühl der Lust und Unlust nur in der »Kritik der ästhetischen Urteilskraft« präsent. Zwischen den beiden Kritiken in der KdU gibt es keinen Übergang, und sie könnten mit kleinen Retouchen aufeinander verzichten. Die Klammer der beiden Teile zu einer einheitlichen Kritik ist die systematische Einheit der Urteilskraft, die als drittes Erkenntnisvermögen 1787 gewissermaßen entdeckt wurde; dies führte, wie sich zeigte, zu einer Revision der vorhergehenden Zwei-Kritiken458 | kapitel 

Lehre, in der sich theoretischer Verstand (1781) und praktische Vernunft (1788) unverbunden gegenüber standen. Für die Philosophiekonzeption insgesamt entsteht für Kant die Schwierigkeit, daß die Metaphysischen Anfangsgründe der Naturwissenschaft seit 1786 bereits vorliegen; sie bauen auf den Grundsätzen der Analytik der KrV und berücksichtigen keine finalen Ursachen, können also die »Biologie« nicht berücksichtigen. Dies ist eine der Schiefheiten, die das Opus postumum ab einer bestimmten Phase seiner Bearbeitung zu korrigieren sucht. In ihm wird auf die »Kritik der teleologischen Urteilskraft« zurückgegriffen, nicht auf die »Kritik der ästhetischen Urteilskraft«.

Die Argumentationslinie Der gesamte Komplex der Analytik, Dialektik und Methodenlehre der »Kritik der teleologischen Urteilskraft« hat unter dem uns interessierenden Gesichtspunkt vier Teile. Erstens (A): Die objektive Zweckmäßigkeit der Natur zerfällt in einer vollständigen Disjunktion in zwei Bereiche: die relative, äußere und die (absolute)270 innere Zweckmäßigkeit eines Naturwesens. Die erstere berechtigt nicht zu teleologischen Urteilen – daß etwas für etwas anderes zweckmäßig ist, kann am Ende auf Zufall beruhen (§ 62–63). Zweitens (B): Die Erfahrung zeigt uns Einzeldinge als Naturzwecke, die uns nötigen und berechtigen, sie als teleologisch zu beurteilen; für die reflektierende Urteilskraft ist in ihnen alles Mittel und Zweck (vorbereitend § 64, ausgeführt § 65, Konsequenz § 66). Drittens (C): Ausweitung dieses Prinzips auf die Beurteilung der Natur im Ganzen, also auch die relative Zweckmäßigkeit. Die Natur ist insgesamt ein Reich der Zwecke (§ 67). Viertens (D): Übergang vom letzten Zweck der Natur zum Endzweck der reinen praktischen Vernunft, durch den beantwortet wird, wozu die Natur überhaupt da ist. Die Realisierung des Endzwecks ist die Bestimmung des Menschen, die nur möglich wird, wenn die Natur seinen Zwecken entgegen kommt.271 Zu D: Ausgehend in B vom einzelnen Naturzweck, z. B. dem Baum, und dessen begrifflicher Bestimmung, gelangt Kant in C zur teleologischen Beurteilung der gesamten Natur, die also nicht mehr kritik der urteilskraft | 459

nur nach der »causa efficiens« gemäß der Analytik der KrV insgesamt determiniert ist, sondern auch nach der »causa finalis«; es gibt für uns keine Lücke im Zweckdeterminismus der Natur. In dieser flächendeckenden Finalität aller Dinge bleibt gleichwohl eine Frage offen: Wozu die zweckmäßige organisierte Gesamtnatur da ist. Wir gehen hiermit von den teleologischen Bestimmungen der existierenden Dinge über zur Frage nach der finalen Modalität (D): Wozu gibt es sie in ihrer Zweckmäßigkeit? Die Antwort auf diese vernunftnotwendige Frage findet sich nicht mehr in der Natur, sondern in der praktischen Vernunft. Hier löst die praktische reflektierende Urteilskraft die theoretische Reflektion ab (s. V 447,16–17; 456,11– 15), und die Technik der Natur weicht der praktischen Vernunftbestimmung. Der Konvergenzpunkt liegt im höchsten Gut, das in der Welt zu realisieren wir bestimmt sind, das jedoch in der Glückskomponente nicht in unserer Gewalt liegt; wir müssen daher aus moralischen Gründen glauben, daß Gott die Einhelligkeit von Moralität und Glück im Reich der Zwecke der Natur ermöglicht. Im Zentrum der Analytik der (später so genannten) theoretisch reflektierenden Urteilskraft272 steht der Naturzweck bzw. das Naturprodukt. Eine nähere Betrachtung führt zu einem überraschenden Ergebnis. Der erste Teil der KdU ging so vor, daß die beiden unterschiedlichen ästhetischen Urteile des Schönen und Erhabenen zugrunde gelegt wurden, sie wurden in der Exposition näher untersucht, und in der expliziten (schön) oder bereits in der Exposition implizit enthaltenen (erhaben) Deduktion wurde der dem Urteil inhärente Notwendigkeitsanspruch für rechtmäßig befunden. In der Teleologie wird in gleicher Weise ausgegangen von einem Faktum, hier jedoch dem Faktum des Auffindens von geformten Naturgebilden, bei denen wir eine Zweckmäßigkeit annehmen müssen, wenn wir unser Erkenntnisvermögen bei ihrer Untersuchung gebrauchen wollen.273 Gibt es eine Deduktion des teleologischen Urteils, wie sie für eine Kritik gefordert wird? Wir entdecken die gesuchte, nie mit Gewißheit gefundene Deduktion auf folgende Weise: Kant wiederholt das oben vorgeführte Zeigen der Einleitung noch einmal in den Paragraphen 62 bis 68 in der »Kritik der teleologischen Urteilskraft«: § 62–64 / § 65 / § 66–68. 460 | kapitel 

Die drei das Zentrum flankierenden Paragraphen beginnen im Titel mit »Von (Vom) […]«, der Titel des mittleren Paragraphen lautet dagegen »Dinge als Naturzwecke sind organisierte Wesen«.274 § 65 endet mit dem Hinweis, daß der Naturzweck als objektiv real erwiesen und damit die »Beurtheilungsart« berechtigt sei bzw. man ohne diesen Nachweis dazu »schlechterdings nicht berechtigt sein würde« (V 376,6–7); also ist hier der Rechtsnachweis des teleologischen Urteils geführt. Dieser fehlte in der vorhergehenden Erörterung der relativen Zweckmäßigkeit, die »zu keinem absoluten teleologischen Urtheile berechtige« (V 369,2–3), was im § 67 wiederholt wird: »Wir haben oben von der äußeren Zweckmäßigkeit der Naturdinge gesagt: daß sie keine hinreichende Berechtigung gebe, sie […]« (V 377,27–28). § 62 und § 68 bilden Einführung und Schluß; § 63 beginnt mit der relativen Zweckmäßigkeit, § 64 führt in die innere Zweckmäßigkeit durch den »Charakter der Dinge als Naturzwecke« (V 369,30–31; 372,14)275 ein; § 65 bringt den zentralen Rechtsnachweis des Begriffs »eines Dinges, als an sich Naturzwecks« (V 375,17). Spiegelbildlich ordnen sich dann § 66 und § 67 so, daß zuerst die Folge des Rechtsnachweises für das Prinzip der Beurteilung der inneren Zweckmäßigkeit in § 66276 und in § 66 für das Prinzip der Natur im Ganzen inklusive der relativen äußeren Zweckmäßigkeit aufgewiesen wird (V 379,8; 414,19–22277). Also: Zuerst relative, dann innere Zweckmäßigkeit, nach § 65 umgekehrt zuerst innere, dann die (von dieser inneren aus gerettete) äußere Zweckmäßigkeit und das Ganze der Natur. Die Mittelkomposition zeigt uns somit den Ort, an dem die bisher nicht entdeckte (aus bestimmten Gründen nicht so explizit benannte) Deduktion oder Rechtfertigung des teleologischen Urteils geliefert wird. Die Komposition führt hier wie schon in der Einleitung auf eine dritte Präsenz des finalen Systemgedankens. Einmal ist die Natur in ihren organischen Produkten und folglich im Ganzen für die reflektierende Urteilskraft ein Realsystem, zweitens ist die reflektierende Urteilskraft Glied eines systematisch organisierten Erkenntnisvermögens (teleologia rationis humanae)278, und drittens wird wenigstens ein Teil der literarischen Darstellung so organisiert, daß die Teile nicht nur gedanklich, sondern auch in der Komposition eine zweckmäßig-selbstbezügliche Form haben. kritik der urteilskraft | 461

Nun ist diese luzide Anlage nicht gut zu bestreiten; es läßt sich jedoch anführen, daß mit dieser Struktur das Gewicht von § 66 nicht eigentlich erklärt ist; man lese die Anfangssätze mit der Betonung der Allheit, dann den Hinweis auf Allgemeinheit und Notwendigkeit (V 376,17) und den »übersinnlichen Bestimmungsgrund« (V 377,11) – der Grundriß, den wir freilegten, muß durch einen weiteren Gedanken überlagert sein. Wir werden uns ihm später zuwenden.

Der Naturzweck Die Analytik der teleologischen Urteilskraft befasst sich mit einer objektiven (und nicht subjektiven, ästhetischen), materialen (und nicht formalen wie etwa Figuren der Geometrie) Zweckmäßigkeit. Ihre Gegenstände sind Körper in Raum und Zeit, die nach den Grundsätzen der KrV bestimmt sind, also auch nach dem »Grundsatz des Zugleichseins, nach dem Gesetze der Wechselwirkung, oder Gemeinschaft« (B 256) aller Weltsubstanzen.279 Vom Grundsatz der Wechselwirkung wird in der KdU kein Gebrauch gemacht, wohl aber vom Grundsatz der Kausalität. Die Untersuchung Kants ist in ihren begrifflichen Verschlingungen kaum zu durchdringen. Die Definition, die sich aus der Deduktion ergibt, lautet: »§ 66. Vom Princip der inneren Zweckmäßigkeit in organisirten Wesen. Dieses Princip, zugleich die Definition derselben, heißt: Ein organisirtes Product der Natur ist das, in welchem alles Zweck und wechselseitig auch Mittel ist. Nichts in ihm ist umsonst, zwecklos, oder einem blinden Naturmechanism zuzuschreiben.« (V 376,8–14; auch XXI 210,11–13) Die Vorstellung, daß in einem organisierten Produkt der Natur alles Mittel und alles Zweck der Erzeugung und Erhaltung ist, kennt man von ähnlichen Formulierungen bei Voltaire, Rousseau280, Herder: »[…] alles Mittel und Zweck zugleich […],«281 auch mutatis mutandis aus der Naturzweckformel des kategorischen Imperativs,282 und das »nichts umsonst«, ouden maten, begleitet das Denken seit Aristoteles283; und, mit stoischer Variante, Cicero284. 1787 hatte es in der Vorrede der 2. Auflage der KrV vom System der Metaphysik geheißen, sie sei eine für sich bestehende Einheit, »in wel462 | kapitel 

cher ein jedes Glied, wie in einem organisierten Körper, um aller anderen und alle um eines willen da sind« (B XXIII), aber hier erzeugen und erhalten die Glieder nicht einander wie im organisierten Körper, der nur als Vergleich dient.285 Auf diesen spezifischen Aspekt bei organischen Naturprodukten verweist eine Reflexion aus den siebziger Jahren: »Da ein theil nur vermittelst des andern da ist.« (XIV 366,9 – Refl. 45)286 Dies ursächliche »vermittelst« ist genau das, was mit organisiertem Naturprodukt im Gegensatz etwa zu einem System der Metaphysik oder einer göttlichen oder menschlichen Maschine gemeint ist. Auch hierin ist Kant nicht originell, wenn auch präziser als die angeführten Vorgänger. Die Argumentation, die zu dem angeführten Prinzip hinführt, beginnt folgendermaßen: »Die Erfahrung leitet unsere Urtheilskraft auf den Begriff einer objectiven und materialen Zweckmäßigkeit, d. i. auf den Begriff eines Zwecks der Natur nur alsdann, wenn ein Verhältniß der Ursache zur Wirkung zu beurtheilen ist, welches wir als gesetzlich einzusehen wir uns nur dadurch vermögend finden, daß wir die Idee der Wirkung der Causalität ihrer Ursache, als die dieser [der Ursache, RB] selbst zum Grunde liegende Bedingung der Möglichkeit der ersteren [der Wirkung, RB], unterlegen.« (V 366,27–367,3) Nun ist der Begriff eines derartigen Naturzwecks paradox, denn aus der Natur, wie sie in der KrV nach den Grundsätzen des Verstandes in ihrer Möglichkeit bestimmt wird, ist jeder Zweck a priori ausgeschlossen. Wir kennen einen widerspruchsfreien Zweckbegriff nur aus menschlichem planvollen Handeln und Herstellen; so ist die Uhr zweckmäßig gemäß den von uns investierten Zwecken, wobei wir die materiale Kausalreihe so lenken, daß das in der Vorstellung antizipierte Produkt erzeugt wird; genau diese zeitverkehrende Antizipation kann nur als Idee in die Natur hineingelesen werden. Nach dem Begriff eines Naturprodukts als eines Natur- (und nicht Kunst-)zwecks internalisiert nun der Grashalm, Baum oder sonstige »Organismus« den Uhrmacher und erzeugt sich selbst in beiden Zeitrichtungen. Ein Erfahrungsding existiert als Naturprodukt oder Naturzweck, »wenn es von sich selbst […] Ursache und Wirkung ist« (V 370,36– 37), d. h. es muß »sich zu sich selbst wechselseitig als Ursache und Wirkung verhalten« (V 372,16). Diese kausale Wechselseitigkeit der Glieder in einem einzigen Naturding lässt sich zunächst nur in kritik der urteilskraft | 463

paradoxer doppelter Zeitrichtung denken, so daß von der Ursache in t1 zur Wirkung in t2 eine (die einzig daneben mögliche)287 Kausalität von t2 zu t1 zugesellt wird. Der reale nexus effectivus wird durch den idealen (nur vorgestellten) nexus finalis oder idealis (V 372,23–35) im entgegengesetzten Zeitsinn ergänzt.288 Mit dieser Doppelbödigkeit der gegenläufigen Kausalbezüge liegt in dem einen, sich selbst organisierenden Selbst des Dinges beides: Die materiale Realität der Naturursachen und -wirkungen gemäß dem Kausalgrundsatz der KrV (t1 – t2) und die ideale »Realität« der Zweckursachen (t2 – t1). Die erste gewährleistet, daß die Bestimmungen der KrV nicht auf wunderbare Weise von jedem Grashalm außer Kraft gesetzt werden, die zweite, daß die Zweckhaftigkeit des organisierten Naturprodukts gerettet wird, allerdings um den Preis, daß die reflektierende Urteilskraft auf eine aus der subjektiven Vernunft stammende Komponente zurückgreifen muß, denn die ideelle Antizipation im Zweckbegriff ist unsere Zutat, sie ließe sich also nicht im Energiehaushalt der Natur als Sonderposten anführen.289 Die gegenläufige Kausalität von Ursache und Wirkung wird von vornherein räumlich im Körper gedacht und in der Vorstellung der antizipierten Wirkung auch zeitlich, also schematisiert (V 220,8–9: »Die Vorstellung der Wirkung ist hier der Bestimmungsgrund ihrer Ursache und geht vor der letztern vorher«); deswegen ist sie paradox.290 Im sich organisierenden Produkt der Natur ist für unsere Beurteilung wechselseitig alles Zweck und Mittel (V 376,11–14), jedes Glied also dem anderen äußerlich. »Kant scheint […] die innere Zweckmäßigkeit des Organismus als die gegenseitige äußere Zweckmäßigkeit seiner Teile bestimmen zu wollen.«291 Das innere zeitliche und räumliche Auseinander bewahrt vor dem Ungedanken, daß ein ungeteiltes Etwas von sich Ursache und Zweck ist. Die »Zergliederer der Gewächse und Thiere« (V 376,24) suchen nach der genauen »causa finalis« der Teile eines Naturprodukts, ihrer Struktur und Lage; wozu dienen die Blätter der Bäume? Der bestimmte Zweck kann nur so gedacht werden, daß er die Wirkung zeitlich antizipiert und die »causa efficiens« zu seiner mechanischen Hervorbringung bestimmt. Daß alles im Naturzweck eine bestimmte Funktion hat, liegt der Forschung als Maxime zugrunde. Zugleich kann die Naturwissenschaft am »Studium der Natur nach ihrem Mechanism« (V 384,1) festhalten, denn die Grundsätze 464 | kapitel 

des Verstandes gelten uneingeschränkt für Physik und Chemie; sie untersuchen, wie bestimmte Zwecke als Wirkungen einer bestimmten »causa efficiens« verwirklicht werden. Daher kann von einem »transcendentale[n] Princip der Zweckmäßigkeit der Natur« (V 414,10) gesprochen werden; transzendental, denn ohne dieses Prinzip wäre Naturerfahrung nicht möglich, sondern würde sich in unendlichen Zufälligkeiten à la Epikur verlieren. Nun überblendet Kant diese Dualität der notwendig nur zwei Zeitrichtungen auf dem eindimensionalen Zeitstrahl durch die Opposition von Verstand und Vernunft; der nexus effectivus sei eine »Causalverbindung, sofern sie bloß durch den Verstand gedacht292 wird« (V 372,19–20), der Zweckbegriff gehöre dagegen der Vernunft an (V 372,25)293. Hiermit überschreiten wir den nur phänomenalen und zeit-paradoxen Bereich; die Vernunftpräsenz im Naturzweck läßt sich nicht auf die zeitliche Struktur der Antizipation des kausal zu bewirkenden Zustandes in t2 einhegen, sondern sie ist wesentlich bestimmt durch die Verbindung der Teile zu einem Ganzen und vor allem die Form dieses Ganzen, das die Teile zu Gliedern macht, die umgekehrt das Ganze bewirken; so wird der Naturzweck sogleich im § 64 charakterisiert (V 369,30 ff.).294 Hiermit wirken im Naturprodukt als Naturzweck Verstand und Vernunft im doppelten nexus effectivus und finalis zusammen (immer: »für den, der es beurtheilt«, V 373,24–25). Die Vernunft zeigt sich jedoch weniger in der Finalität, wie sie bisher gekennzeichnet wurde, sondern in der Idee des Ganzen und der »systematischen Einheit der Form und Verbindung alles Mannigfaltigen« (V 373,23–25).295 Ohne das spezifische dirigierende »design«, die genetische »Information«296, ist »der« Baum oder »der« Mensch nicht zu denken.297 Die »absolute Einheit« (V 377,4) des Vernunftbegriffs der Form oder der Idee macht die wechselseitige UrsachenWirkungs- oder Mittel-Zweckbeziehung eines Naturprodukts erst möglich298, man kann, ohne eine wörtliche Stütze im Kantischen Text zu haben, sagen, sie sei für die reflektierende Urteilskraft der reale jeweilige Begriff des Naturprodukts, z. B. »der« Baum dieser bestimmten species. Die Einheit des Begriffs des Naturprodukts ist weder der Einheit des Verstandes oder des Ich denke entlehnt, sondern der Vernunft, die ihre Form-Einheit im Mannigfaltigen der Mittel-Ursachen-Relationen ohne Vorher und Nachher geltend kritik der urteilskraft | 465

macht.299 Die wechselseitige Beziehung des einzelnen Teiles zum Ganzen und des Ganzen zu seinen Teilen läßt sich nicht mehr zeitlich entfalten, weil das Eine nicht auf das andere folgen kann, sondern immer schon als Selbstprodukt gedacht werden muß. Wir können die spezifische Vernunftfunktion im Naturzweck auch dadurch verdeutlichen, daß es im sich selbst organisierenden Wesen kein physisches Zentrum gibt; wie die Hirnforschung keine Zentrale im Gehirn findet, von der aus die einzelnen Funktionen koordiniert und geleitet werden, so gibt es im Kantischen Naturprodukt keine physisch ausweisbare Einheit – alles ist zugleich Mittel und Zweck in völliger Koordination. Die sinnliche Einheit des Baumes ist in keinem Teil, sondern in der Vernunftform des Ganzen begründet. Tritt hier nicht neben die causa efficiens und finalis in Wirklichkeit die causa formalis? Gegen die Einbeziehung eines getrennten Formbegriffs, d. h. eine eigenständige causa formalis wendet sich Kant ausdrücklich (V 377,1–16)300, benutzt jedoch durchgängig den Formbegriff. Die Identifikation der Finalität mit der Form führt uns in die Schwierigkeit, daß in der teleologischen Naturforschung nicht nach bestimmten Zwecken bestimmter Gegebenheiten in den Naturprodukten gefragt und geforscht werden kann, wie wir oben darlegten, sondern auf jede spezielle Nachfrage die immer selbe Form des Ganzen als Antwort dient. Daher wird man dazu neigen, der Form gegenüber der »causa finalis« eine Eigenständigkeit einzuräumen. Um die damit verbundenen Probleme zu erörtern, legt es sich nahe, zunächst analog nach dem Verbleib der causa materialis zu fragen; jedes Naturprodukt hat ein materielles Dasein in Raum und Zeit, es ist angewiesen auf eine vorgängige Materie in seiner Umgebung, die auch nach der Assimilierung als Materie erhalten bleibt. »Die Materie, die er [sc. der Baum, RB] zu sich hinzusetzt, verarbeitet dieses Gewächs [der Baum, RB] vorher zu specifisch-eigenthümlicher Qualität, welche der Naturmechnism außer ihm nicht liefern kann, und bildet sich selbst weiter aus vermittelst eines Stoffes, der seiner Mischung nach sein eigenes Product ist.« (V 371,17–21) Später wird von einer internen Ursache gesprochen, welche die »schickliche Materie« herbeischaffe (V 377,20). 466 | kapitel 

Kant meidet es, den beiden von ihm selbst benutzten Komponenten einmal der äußeren und assimilierten Materie, auf die jedes Naturprodukt angewiesen ist, und zweitens der Form, die die Einheit und Grenze aller Ursache-Mittel-Bezüge stiftet, den Status einer causa im Sinn der aristotelischen Vierursachenlehre einzuräumen. Am Beispiel des Baumes läßt sich zeigen, warum die Idee des Naturzwecks die Vorstellung einer causa materialis ausschließt.

Der Baum als Muster eines Naturzwecks »Ein« Baum erzeugt sich selbst; er tut dieses erstens, indem er als Baum andere individuelle Bäume und damit die Gattung weiter erzeugt, sodann sich als Individuum durch eigenes Wachstum erzeugt und sich bei einer Verletzung selbst hilft, ein rundum autarkes Selbstgebilde. »Ein« Baum erzeugt sich selbst der Gattung nach (V 371,9); das/ der hier gemeinte »Baum« scheint einerseits das Wortetikett aller einzelnen, je existierender Bäume zu sein, zum andern das nie real anzutreffende Gattungswesen; nur vom letzteren kann man sagen, er/es erhalte sich beständig als Gattung. Gibt es im letzteren Sinn des Begriffsrealismus »den Baum« als nicht-empirische Entität (immer: für die reflektierende Urteilskraft), als »Baumheit«, »Baum an sich«? Dafür spricht, daß Kant strikt den Plural »Bäume« meidet; die in der Natur realisierte Idee des Baumes kann nur eine im Gegenteil zur ihrer empirischen materiellen Vielheit sein. Durch die Rede von »einem« Baum fängt Kant beides ein, denn »ein Baum« ist jeder einzelne materielle Baum wie auch der Baum überhaupt, der alle Bäume in allen Wäldern zu Bäumen macht, der Urbaum, in dem das vereinigt ist, was allen wirklichen Bäumen natürlicherweise zukommt. Die hiermit gemeinte ontologische Differenz von Begriffsnominalismus oder -realismus wird, wie der Leser weiß, kritisch aufgehoben durch die Operation der reflektierenden Einbildungskraft, die den Baumbegriff (nicht das Wort!) für sich entwickelt, um bei individuellen Bäumen von ihrer Erkenntniskraft Gebrauch machen zu können. – Kant folgt hier wie auch sonst Buffon, der die (äußerliche) Linnésche Klassifizierung von Naturwesen gemäß ihrer Ähnlichkeit durch die (innere) Erzeugung ersetzte (II 429,6–20). kritik der urteilskraft | 467

Für die Selbsterzeugung der Gattung soll es offenbar gleichgültig sein, ob die Zeugung zweigeschlechtig oder eingeschlechtig durch Klonen vor sich geht, »Ein Baum […]« – die Befruchtung durch ein anderes Baum-Individuum mittels Wind oder Bienen braucht keine Rolle zu spielen, da die Art- oder Gattungskonstanz gewahrt bleibt; also: Ein Baum oder zwei Bäume (mutatis mutandis: zwei Menschen) zeugen einen Baum. Entsprechend wird später von der »zweckmäßigen Anlage zur Selbsterhaltung der Art« gesprochen und das »Prinzip der Teleologie« so formuliert: »in einem organisirten Wesen nichts von dem, was sich in der Fortpflanzung desselben erhält, als unzweckmäßig zu beurtheilen.« (V 420,9–19) Der historische Anfang der autopoietischen Erzeugungs-Werkstatt wird nicht erwähnt, denn er liegt für die menschliche Vernunft in einem biblischen Dunkel: Der Baum, von dem Kant spricht, ist ein Gegenstand der Erfahrung, von dem mit guten Gründen angenommen werden kann, daß es ihn gibt, seit es Menschen gibt; die Zukunft ist, wenn kein kosmisches Ereignis alles Leben auf dem Planeten zerstört (VII 89,4–8), ohne erfahrbares Ende.301 Das Selbst des Baumes und jedes anderen sich selbst organisierenden Naturzwecks ist das der Gattung oder Art, die seit unvordenklichen Zeiten gut stoisch weiterlebt und ihren Tod nicht statuiert. »Ein« Baum erzeugt sich selbst; er tut dieses erstens, indem er als Baum andere individuelle Bäume und damit die Gattung weiter erzeugt, sodann sich als Individuum durch eigenes Wachstum erzeugt und sich bei einer Verletzung selbst hilft, ein rundum autarkes Selbstgebilde. »Ein« Baum erzeugt sich selbst der Gattung nach (V 371,9); das/ der hier gemeinte »Baum« scheint einerseits das Wortetikett aller einzelnen, je existierender Bäume zu sein, zum andern das nie real anzutreffende Gattungswesen; nur vom letzteren kann man sagen, er/es erhalte sich beständig als Gattung. Gibt es im letzteren Sinn des Begriffsrealismus »den Baum« als nicht-empirische Entität (immer: für die reflektierende Urteilskraft), als »Baumheit«, »Baum an sich«? Dafür spricht, daß Kant strikt den Plural »Bäume« meidet; die in der Natur realisierte Idee des Baumes kann nur eine im Gegenteil zur ihrer empirischen materiellen Vielheit sein. Durch die Rede von »einem« Baum fängt Kant beides ein, denn »ein Baum« ist jeder einzelne materielle Baum wie auch der Baum überhaupt, der 468 | kapitel 

alle Bäume in allen Wäldern zu Bäumen macht, die Idee oder Form des Baumes. Die hiermit gemeinte ontologische Differenz von Begriffsnominalismus oder -realismus wird, wie der Leser weiß, kritisch aufgehoben durch die Operation der reflektierenden Einbildungskraft, die den Baumbegriff (nicht das Wort!) für sich entwikkelt, um bei individuellen Bäumen von ihrer Erkenntniskraft Gebrauch machen zu können. Für die Selbsterzeugung der Gattung soll es offenbar gleichgültig sein, ob die Zeugung zweigeschlechtig oder eingeschlechtig durch Klonen vor sich geht, »Ein Baum […]« – die Befruchtung durch ein anderes Baum-Individuum mittels Wind oder Bienen braucht keine Rolle zu spielen, da die Art- oder Gattungskonstanz gewahrt bleibt; also: Ein Baum oder zwei Bäume (mutatis mutandis: zwei Menschen) zeugen einen Baum. Entsprechend wird später von der »zweckmäßigen Anlage zur Selbsterhaltung der Art« gesprochen und das »Prinzip der Teleologie« so formuliert: »in einem organisirten Wesen nichts von dem, was sich in der Fortpflanzung desselben erhält, als unzweckmäßig zu beurtheilen.« (V 420,9–19) Der historische Anfang der autopoietischen Erzeugungs-Werkstatt wird nicht erwähnt, denn er liegt für die menschliche Vernunft in einem biblischen Dunkel: Der Baum, von dem Kant spricht, ist ein Gegenstand der Erfahrung, von dem mit guten Gründen angenommen werden kann, daß es ihn gibt, seit es Menschen gibt; die Zukunft ist, wenn kein kosmisches Ereignis alles Leben auf dem Planeten zerstört (VII 89,4–8), ohne erfahrbares Ende.302 Das Selbst des Baumes und jedes anderen sich selbst organisierenden Naturzwecks ist das der Gattung oder Art, die seit unvordenklichen Zeiten gut stoisch weiterlebt und ihren Tod nicht statuiert. Die Vernunftidee des Naturprodukts ist die eines Selbstprodukts, das die Andersheit aus der eigenen Einheit ausschließt. So beginnt die Analyse der Selbsterzeugung mit der Zeugung eines anderen Baumes (V 371,7–8); im Hinblick auf die einheitliche Gattung jedoch spielt die Andersheit in der Zeugungsrelation keine Rolle. Daßelbst gilt für den rohen äußerlichen Stoff und die Materie, die der Baum »zu sich hinzusetzt« (V 371,18); sie wird zu einer spezifisch-eigentümlichen Qualität verarbeitet, daß sie als solche gänzlich das Produkt des Baumes ist. Unter der Idee also der Selbsterzeugung des Naturprodukt kann es keine causa materialis geben, kritik der urteilskraft | 469

und unter der Idee der Vernunftkausalität keine Zeitlichkeit des nexus finalis, der diesen von der causa formalis trennte.

Ein Problem im Zentrum der Theorie zwischen Materialismus und Idealismus. Die Naturprodukte oder Naturzwecke erfüllen mit ihrer Materie den Raum für eine gewisse Zeit; alles in ihnen soll zugleich Mittel und Zweck sein; »alles« muß sich auf alle einander äußerlichen materiellen Glieder in dem körperlich-zeitlichen Ganzen beziehen, etwa die Blätter eines Baumes, die zugleich Mittel und Zweck sind; eine »wiederholte Entblätterung« (V 372,2–3) tötet den Baum, weil sie ihren lebensnotwendigen Zweck nicht mehr erfüllen. Der Baum produziert und erhält die Blätter, die wechseitig den Baum produzieren und erhalten. Einer für alle, alle für einen, wie die alte Schwurformel lautet. Bei der wiederholten Entblätterung denkt Kant an einen gewaltsamen Eingriff von außen – und nicht an den Herbst, in dem sich der Baum selbst entblättert und sich dadurch erhält.303 D. h. im Herbst sieht der Baum seine Blätter nicht mehr als Zweck des Ganzen und der übrigen Teile an, sondern stößt sie als bloße vorübergehende Mittel ab. Eben dies widerspricht jedoch der Formel, gemäß der in einem Naturzweck »alles Zweck und wechselseitig auch Mittel ist« (V 376,12–13). Der Herbst ist das Ende des »engagement réciproque« des Ganzen und der Teile, von dem der Rousseausche Contrat social schwärmte304; im Herbst und Winter verabschieden die nördlichen Bäume ihre Blätter und wollen mit ihnen nichts mehr zu tun haben, wie verzweifelt sie sich auch an die schon kahlen Zweige klammern. Das Naturprodukt ist ein materialer Gegenstand; das Fürsorgesystem, als das es Kant offenbar entwickelt, scheitert also, weil die einzelnen Glieder nicht durchgängig materialer Zweck des Ganzen sind. Man wird daher versuchen, zum Gegenkonzept eines formalen, mit wechselnden Materien ausgestatteten Systems überzugehen. Das »Alle für einen, einer für alle« gilt dann nicht für die materiale Erhaltung dieses Blattes hier, sondern die formale allgemeine Funktion305. Die Organisation von Naturzwecken (und Staaten, V 375,29–37) ist formaliter ein funktionales Totum, zu dem ins470 | kapitel 

gesamt auch das Abstoßen bestimmter materialer Teile gehört. In dem von Kant benutzten politischen Vergleich: Pflanzen und Tiere sind keine paternalistischen oder sozialistischen Daseinsgebilde mit Bleiberecht der konkreten Teile, sondern formbestimmte Strukturen, die nach der Maxime des »ouden maten«, nichts geschieht umsonst, zu beurteilen sind; in diesem, der Zeit und dem Raum enthobenen Vernunftganzen hat auch das herbstliche Entblättern seinen wohlbestimmten Zweck.306 Damit gibt es einerseits die materiellen Bestandteile, die eine jeweils von allen anderen getragene Existenzgarantie haben, andererseits eine Form, die im Jahres- und Generationswechsel konstant ist und die die unterschiedlichen »organisierten Wesen« (V 376,10) in ihrer species bestimmt. Die Form braucht nur die Funktionsträger als solche, für die einzelnen Glieder zählt dagegen das individuelle Dabeisein und -bleiben. Die Mittel-Zweck-Beziehung ist also, wenn unsere Analyse zutrifft, unterschiedlich definiert, material und formal. Ich sehe nicht, daß diese fundamentale Äquivokation von Kant bemerkt wurde.307 Ein weiteres Problem: Die Äußerlichkeit aller materiellen Stücke eines Naturzwecks ermöglicht, wie sich zeigte, die Aufgabe, alle Kausalrelationen des nexus effectivus im Naturprodukt naturwissenschaftlich zu rekonstruieren, d. h. in der Physik oder Chemie den Mechanismus aufzusuchen, der gesetzlich von t1 zu t2 führt (V 382,35–384,13); analog galt für die Naturforschung, daß sie nach dem speziellen Teilzweck im nexus finalis eines jeden Organs forschen kann. Es werden von Kant jedoch auch nicht-materielle Phänomene etwa des inneren Sinns oder Bewusstseins einbezogen, so gehören Träume in das Programm der teleologisch geleiteten Naturwissenschaft (V 380,1–12, auch 178,32–39). Sind die immateriellen Gegenstände des inneren Sinns Teile der objektiven materialen teleologischen Urteilskraft? Ist am Ende auch unsere reine praktische Vernunft ein Teil der Natur? Bevor wir diese Frage zu beantworten suchen, kehren wir noch einmal zum § 66 zurück; wir hatten beobachtet, daß in ihm Gedanken entfaltet werden, die sich wohl aus dem zentralen § 65 ergeben mögen, die aber auch emphatisch neu sind. Es wurde schon angedeutet, daß das formale Muster des Aufbaus durch einen anderen Gesichtspunkt überlagert sein könnte. In § 65 wird der Naturzweck kritik der urteilskraft | 471

im Hinblick auf die gegenläufige Kausalität untersucht; sie wird näher bestimmt als wechselseitige Mittel-Zweckbeziehung, die einzig einem Naturprodukt objektive Reflexions-Realität geben kann; wir sind also, so der Schluß, berechtigt, in der Naturwissenschaft mit dieser Art der Kausalität zu operieren. Kant bewegt sich also hier auf dem Gebiet der (schematisierten) Relationskategorie; mit ihr ist das Naturprodukt inhaltlich bestimmt. Im § 66 wird dagegen die Modalität der teleologischen Maxime behandelt; daher der Übergang zur Notwendigkeit des teleologischen Grundsatzes der Forschung und zur Lückenlosigkeit, die in der Maxime enthalten ist. Kant orientiert sich offenbar an der Abfolge der Kategorientafel und setzt einerseits eine harte Cäsur zwischen der dritten und vierten Kategorie, andererseits zieht die vierte Kategorie die inhaltliche Konsequenz aus dem Vohergehenden, bestimmt die Modalität aber neu, wie es ihr zukommt. So ist in § 65 ein Ziel erreicht und die Rechtsgrundlage für die Naturteleologie geschaffen, andererseits müssen wir von der Relation der gegenläufigen Kausalität noch weitergehen zur Modalität der Notwendigkeit.308

Probleme der Naturteleologie Äußerer (relativer) und innerer (absoluter) Zweck und das Ganze der Natur Die Opposition wird nicht abgeleitet, sondern mit Beispielen vor Augen geführt. Wir haben dieses Muster schon in der Ästhetik der KdU entdeckt; es gab – in gleicher Staffelung – die Normalidee des Schönen und das Ideal, und es gab die beiden Möglichkeiten, von etwas zu sagen, es sei schlechtweg groß oder aber es sei schlechthin erhaben. Die literarische Form der Analytik des teleologischen Urteils zeigt, daß und wie die binäre Ordnung in einem Dreischritt aufgehoben wird, und dies gilt auch für das Schöne und das Erhabene. Die jeweils am Anfang stehende relative Position bildet noch nicht das gesuchte in sich Schöne, Erhabene und Zweckhafte, aber es fungiert als Hinleitung und wird nach der Entfaltung des wirklich Schönen, Erhabenen und des Naturzwecks von der gewonnenen Position als Teil des innerlich Schönen, Erhabenen und Zweckhaf472 | kapitel 

ten gerettet. Das einzig wirklich Schöne, der Mensch, bedarf der Normalidee in seiner äußeren Erscheinung; das Erhabene ist angewiesen auf das Große, und der Naturzweck ist realisierbar nur in einem Ganzen der Natur, zu dem auch die Formationen relativer Zweckmäßigkeit gehören. Wir hatten oben geschrieben: »Erst Kopernikus (Kepler) mit der äußeren Formbestimmung, dann Newton mit seiner nicht mehr bezweifelbaren Theorie der inneren bestimmenden Kräfte.«309 Ist es dasselbe Schema? Das Vorhandensein von innerlich zweckhaften Naturprodukten auf unserem vorkopernikanischen Planeten zwingt zur weiteren »Idee der gesamten Natur als eines Systems nach der Regel der Zwecke […]. Alles in der Welt ist irgend wozu gut; nichts in ihr ist umsonst« (V 379,1–6). Dieses Weltganze ist damit selbst nicht ein Naturprodukt, das sich selbst wie ein Baum erzeugt, sondern wir sind nur »berechtigt, ja berufen, von ihr und ihren Gesetzen nichts, als was im Ganzen zweckmäßig ist, zu erwarten.« (V 379,8–9) War der Naturzweck ein uns gegebenes, gestalthaftes und damit geschlossenes System, so ist die gesamte Natur nicht in der Erfahrung gebbar, sie ist nicht durch eine Form begrenzt, und die Glieder sind kein sich organisierendes Ganzes in einem bestimmten Verhältnis wechselseitiger Mittel-Zweck-Beziehung, sondern vage nur »irgend wozu gut« im Sinn der relativen Zweckmäßigkeit. Auch der Astronom also ist gehalten, nach der Zweckbestimmung einzelner kosmischer Phänomene zu fragen. Die Dualität von geschlossenem Naturzweck und offenem Naturganzen nimmt den Kontrast von schön und erhaben auf, ein Bezug, den Kant in der Ersten Einleitung noch selbst thematisiert und stark macht (XX 249,23–250,30; 251,24–31). Den Nukleus bildet die im § 65 dargestellte Kooperation von Verstand und Vernunft im Naturzweck. Die beiden Kausalformen, die als nexus effectivus und finalis bezeichnet werden, realisieren im Zentrum der Kantischen Teleologie den Brückenschlag zwischen den beiden Erkenntnisvermögen; die Verknüpfung findet (immer: für unsere reflektierende Urteilskraft) im Naturprodukt selbst statt, so daß jeder Grashalm und jedes Tier in sich die beiden alles bestimmenden Determinanten enthält, jedes Naturprodukt ist die in die Verstandes-Materie einverleibte Vernunft; Verstand und Vernunft, verbunden im Objekt der Urteilskraft. kritik der urteilskraft | 473

Wählen wir dies als Ort, etwas zu thematisieren, wovon die KdU nicht spricht, dessen Verschweigen jedoch sachlich höchst relevant sein wird. In der Idee zu einer allgemeinen Geschichte in weltbürgerlicher Absicht (1784) steht der Satz: »Alle Naturanlagen eines Geschöpfes sind bestimmt, sich einmal vollständig und zweckmäßig auszuwickeln.« (VIII 18,19–20) In dem Aufsatz ist durchgängig von Anlagen und Keimen die Rede, sie sind offenbar für die Konzeption von Geschöpfen unentbehrlich. Die Keime liegen auf Grund eines Aktes des Schöpfers in den Naturwesen und entwickeln sich zur vorgesehenen Gestalt, sei es im Individuum (Pflanzen und Tiere), sei es in der Gattung (Mensch). Nun fällt auf, daß Kant in der KdU von den Naturprodukten nur marginal als Geschöpfen redet,310 und daß er die Keime und Anlagen, in denen die Möglichkeiten (etwa der Varietäten- oder Rassenbildung) »vorgebildet« (II 435,3) sind, schlicht abschafft. Einmal wird Kant der Autorität Blumenbachs folgen, der in seiner Schrift Über den Bildungstrieb mit kursiver Auszeichnung festhielt: »Daß keine präformirten Keime präexistiren: sondern daß in dem vorher rohen ungebildeten Zeugungsstoff der organisirten Körper nachdem er zu seiner Reife und an den Ort seiner Bestimmung gelangt ist, ein besonderer, dann lebenslangthätiger Trieb rege wird, ihre bestimmte Gestalt anfangs anzunehmen, dann lebenslang zu erhalten, und wenn sie ja etwa verstümmelt worden, wo möglich wieder herzustellen.«311 Wie immer die innerwissenschaftliche Diskussion verlief und Kant sie wahrnahm, wir können für das neue Konzept von 1790 festhalten, daß die Erfassung des Naturzwecks auf alle ererbten Residuen verzichtet und rein aktualistisch verfährt; das Naturprodukt wird nicht als Geschöpf expliziert, das unter der Bestimmung ursprünglicher Keime und Anlagen steht, sondern als Selbstprodukt unter einer Idee der Vernunft. In einer Fußnote (V 375,29–37) ermahnt uns die KdU, nicht nur ängstlich dem Geist, sondern konkret dem Buchstaben zu folgen und darüber nachzudenken, was seine Schrift von 1790 mit der Französischen Revolution von 1789 zu tun haben könnte. Sollte der Baum (V 371,7–372,11) nach diesem Wink der Freiheitsbaum der Revolutionäre sein? Das neue Staatswesen wird wie das organisierte Naturprodukt aus der Kooperation aller Glieder (V 375,34) begriffen;312 zur Mitwirkung qualifi474 | kapitel 

ziert dabei nicht die Herkunft der Glieder, der Adel hier und die Keime und Anlagen dort, sondern nur das aktuelle Vermögen, Mittel und Zweck zu sein. Beide, Baum und Staat, rekrutieren sich aus der Gegenwart, nicht der Vergangenheit.313 Die Französische Revolution von 1789 schickte sich an, alle Verdienste der Urahnen bei der Frage, wer nun citoyen ist und wer nicht, kurzerhand zu streichen; und Kant entwickelt in seiner Rechtslehre von 1797 eine Vorstellung der aktiven Staatsbürgerschaft, die von der Geschichte abstrahiert und nur die aktuelle Qualifikation in der bürgerlichen Gesellschaft berücksichtigt. Der Staatsvertrag, der den Übergang vom status naturalis zum status civilis einleitet, zählt nicht als historisches Phänomen, durch das die Gründungsväter ihre Gewalt bis in die Gegenwart ausüben, sondern als präsente Idee, nach der das Staatswesen sich richtet und beurteilt wird. Mutatis mutandis: Für das Naturprodukt zählen ein Jahr nach der Französischen Revolution nicht die Erbtitel und -rechte der Keime, sondern das präsente Vernunft-System der Wechselseitigkeit von Mittel und Zweck.

Pflanzen und Tiere Die Tiere sind Zwischenwesen, die Kant in seiner Philosophie selten thematisiert; auch in der KdU fungiert der Baum als Statthalter aller Naturprodukte, ohne daß die Differenz von Pflanze und Tier geklärt würde. Die wenigen Hinweise auf die Tiere in der Teleologie könnten unbemerkt fehlen, die »Zergliederer der Gewächse und Thiere« (V 376,24) beziehen sich auf die physiologischen Gegebenheiten und brauchen keinen grundsätzlichen Unterschied zwischen Gewächs und Tier zu machen. An keiner Stelle spricht Kant hier von der Seele der Tiere, wenn auch angemerkt wird, daß »die Thiere auch nach Vorstellungen handeln« (V 464,26)314, aber die Zweckhaftigkeit des Handelns kann nicht einer eigenen Zwecksetzung entspringen, sondern ist eine Sache des Instinkts (u. a. V 172,10), dessen Wirkweise uns nicht zugänglich ist. Nur der Mensch kann nach Absichten handeln. Obwohl den Tieren bei Kant durchgehend das Bewusstsein fehlt, werden sie außerhalb der KdU zu den beseelten Wesen gezählt, und kritik der urteilskraft | 475

es heißt noch im Opus postumum: »Ein jedes Thier hat Eine Seele« (XXII 418,8).315 Tiere sind keine mechanischen Automaten (Descartes), sondern beseelte, spirituelle Automaten (Leibniz).316 In den meisten seiner Äußerungen wird den Tieren eine nicht-materielle Seele zugesprochen, kraft deren sie über Vorstellungen des inneren und äußeren Sinnes verfügen; diese Vorstellungen werden jedoch nicht zu Einheiten im Verstand verknüpft, sondern lösen unmittelbar instinktive Reaktionen aus.317 Instinkt wird als »analogon rationis« (u. a. XXVIII 116,34) bezeichnet; das entscheidende Defizit gegenüber der uns vertrauten ratio liegt offenbar im Fehlen des einheitsbildenden Bewusstseins, damit a fortiori auch des Selbstbewusstseins. Man darf also für die tierischen mentalen Vorgänge nicht die Einheit ins Spiel bringen, auf die sie als Teile der organisierten Natur gewissermaßen Anspruch haben; warum gilt die Form der »absoluten Einheit« nicht für die Seelentätigkeit der Tiere? Wenn Tieren die Assoziation von Vorstellungen zugebilligt wird, dann muß es Einheitsbildungen der assoziierten Vorstellungen geben. Wie aber sollen diese Vorstellungsverbindungen ohne formale Einheit möglich sein? Im Naturprodukt ist für die reflektierende Urteilskraft alles zugleich Mittel und Zweck. Kant legte großen Wert auf die Binnenbeziehung des Naturzwecks seiner »inneren Möglichkeit nach« (V 373,26). Es legt sich nahe, bei den einzelnen Organen des Naturprodukts zu unterscheiden zwischen speziellen Funktionen, die etwas für ein bestimmtes Anderes hat (das Herz für den Blutkreislauf), und Funktionen, die nur für das Lebewesen im Ganzen erbracht werden, so die äußeren Wahrnehmungsorgane der Tiere und die Glieder, die die Bewegung des Ganzen ermöglichen. Die Blätter produzieren für einen bestimmten Zweck Chlorophyll, aber das Auge sieht nicht, sondern das Insekt, die Beine laufen nicht, sondern der Hund. Hiermit tritt eine neue Subjektqualität auf, die den Bäumen unbekannt ist und die Kant nicht thematisiert. Pflanzen und Tiere sind vor 1790 so organisiert, daß sie als Einzelwesen alle Naturanlagen der Gattung realisieren, einzig der Mensch entwickelt die Keime und Anlagen vollständig und zweckmäßig nur in der Gattung, wie es in der Idee zu einer allgemeinen Geschichte in weltbürgerlicher Absicht (1784) heißt (VIII 18,19 ff.) Nur der Mensch kennt die »perfectibilité«, die Entwicklung seiner 476 | kapitel 

Natur derart, daß die Gattung in ihrer Vollendung allererst ein wirklicher Mensch ist. Seine inneren Anlagen, besonders Habsucht, Herrschsucht, Ehrsucht, treiben ihn wider Willen zur Entfaltung seiner latenten Möglichkeiten. Pflanzen und Tiere dagegen sind immer schon das, was sie sein können; in einer paternalistischen Natur ist ihr Lebensraum zweckmäßig vorgesehen, in ihm werden sie teilnahmslos geboren, in ihm leben sie, zeugen sich weiter und sterben. Der Mensch dagegen zerstört die große Symbiose der Natur und steigert sich unter dem Zwang der selbstverschuldeten Not. Diese Differenz wird unter dem Titel »Darwin versus Kant« erneut zu erörtern sein.

Krankheit und Tod Der Baum kennt keine Krankheit außer durch äußere Verletzungen, Mängel oder Hindernisse (V 372,4–8), und er ist im Prinzip unsterblich, denn er zeugt sich in seiner Art oder Gattung endlos fort. Daßelbe gilt für die anderen organischen Produkte der Natur, die Tiere und Menschen als Naturwesen, denn der gegen den natürlichen Tod gefeite Baum steht auch für sie als Beispiel. Ihr Tod wird nicht erwähnt. 1754 publizierte Kant eine kurze Universitätsschrift mit dem Titel: Die Frage, ob die Erde veralte, physikalisch erwogen. Hier finden wir Todesgedanken, die in der späteren Zeit obsolet wurden. »Das Veralten eines Wesens«, so lautet die allgemeine Überlegung, »ist in dem Ablauf seiner Veränderungen nicht ein Abschnitt, der äußere und gewaltsame Ursachen zum Grunde hat. Eben dieselbe Ursachen, durch welche ein Ding zur Vollkommenheit gelangt und darin erhalten wird, bringen es durch unmerkliche Stufen der Veränderungen seinem Untergange wiederum nahe. Es ist eine natürliche Schattirung in der Fortsetzung seines Daseins und eine Folge eben derselben Gründe, dadurch seine Ausbildung bewirkt worden, daß es endlich verfallen und untergehen muß. Alle Naturdinge sind diesem Naturgesetze unterworfen, daß derselbe Mechanismus, der im Anfange an ihrer Vollkommenheit arbeitete, nachdem sie den Punkt erreicht haben, weil er fortfährt, das Ding zu verändern, selbiges nach und nach wiederum von den Bedingungen der guten kritik der urteilskraft | 477

Verfassung entfernt und dem Verderben mit unvermerkten Schritten endlich überliefert. Dieses Verfahren der Natur zeigt sich deutlich an der Ökonomie des Pflanzen- und Thierreichs. Eben derselbe Trieb, der die Bäume wachsen macht, bringt ihnen den Tod, wenn sie ihr Wachsthum vollendet haben.« Eben dies wird genau mit wunderbarer Anschauung nachgewiesen: »Wenn die Fasern und Röhren keiner Ausdehnung mehr fähig sind, so fängt der nährende Saft, indem er fortfährt, sich den Theilen einzuverleiben, das Inwendige der Gänge an zu verstopfen und zu verdichten und das Gewächs durch die gehemmte Bewegung der Säfte endlich absterben und verdorren zu machen. Eben der Mechanismus, wodurch das Thier oder der Mensch lebt und aufwächst, bringt ihm endlich den Tod, wenn das Wachsthum vollendet ist. Denn indem die Nahrungssäfte, welche zu dessen Unterhalte dienen, die Canäle, an die sie sich ansetzen, nicht mehr zugleich erweitern und in ihrem Inhalte vergrößern, so verengen sie ihre inwendige Höhle, der Kreislauf der Flüssigkeiten wird gehemmt, das Thier krümmt sich, veraltet und stirbt. Eben so ist der allmähliche Verfall der guten Verfassung der Erde ebenfalls in die Folge der Abänderungen, welche ihre Vollkommenheit anfänglich bewirkten, so eingeflochten, daß er nur in langen Zeitläuften kenntlich werden kann.« (I 198,4–34)318 Es ist ein allgemeines Naturgesetz: Geburt, Aufstieg, Blüte, Niedergang, und Verderben. Bei Lebewesen ist der Kreislauf der Flüssigkeiten notwendig die Ursache sowohl des Lebens wie auch des Ablebens durch Arteriosklerose. Mit der Geburt also beginnt das Lebewesen, sich selbst zu töten, das Leben ist die Selbsterzeugung des Todes. 1790 dagegen ist der Tod dem Lebewesen äußerlich und wird nicht mehr erwähnt. Dem entspricht Kants stoisches Wegblicken von der unangenehmen Affäre, die ihn demnächst selbst erwartete: »Wer aber über diesen Gedanken [des Todes, RB] nicht mit männlichem Muthe wegsieht, wird des Lebens nie recht froh werden.« (VII 213,10–11) Neben den Pflanzen und Tieren, der Erde und den Menschen sind es in den älteren Gedankenformationen auch die Staaten, die dem natürlichen Zyklus von Entstehung und Vergehen unterliegen. Dies gilt sowohl z. B. für die Politeia von Plato, die er als »Großmenschen« bezeichnet, wie auch für den Leviathan (1651) von 478 | kapitel 

Hobbes. Plato schildert ausführlich die innere Logik des staatlichen Verfalls von der Idealverfassung bis hinab zur Tyrannis; und der »Leviathan«, das biblische Ungeheuer, ist ein »mortall God«, wie das Titelemblem des Hobbesschen Buches aus der Bibel (»Hiob«) zitiert. Die Hobbessche Staatsschrift endet mit dem vierten Teil, »The Kingdome of Darknesse«, in dem der Staat sein natürliches Ende findet im Zyklus von Leben und Tod. Anders beim späteren Kant. Jetzt wird im Zuge der Ausgestaltung der Geschichtsphilosophie der einzelne Staat in die Völkergemeinschaft überführt. Das künftige Schicksal der jetzigen Staaten ist nicht, zur Ruinenlandschaft zu verfallen wie das antike Hellas und Rom, sondern lebendiger Teilstaat eines zukunftsgerichteten Völkerbundes zu werden. Intern ist hierfür offenbar dieselbe Struktur wie beim Baum als einem unsterblichen Naturzweck entscheidend. In einer schon herangezogenen Fußnote der »Analytik der teleologischen Urtheilskraft« heißt es: »So hat man sich bei einer neuerlich unternommenen gänzlichen Umbildung eines großen Volks zu einem Staat [sc. der Französischen Revolution, RB] des Worts Organisation häufig für Einrichtung der Magistraturen usw. und selbst des ganzen Staatskörpers sehr schicklich bedient. Denn jedes Glied soll freilich in einem solchen Ganzen nicht bloß Mittel, sondern zugleich auch Zweck und, indem es zu der Möglichkeit des Ganzen mitwirkt, durch die Idee des Ganzen wiederum seiner Stelle und Function319 nach bestimmt sein.« (V 375,31–37) In einer auf jeden Fall nach dem Herbst 1788 geschriebenen Notiz werden die Wissenschaften als System mit den Staaten verglichen, »die nicht in eine Universalmonarchie, sondern zuletzt in einen großen Volkerbund vereinigt werden, da eine jede [sc. Wissenschaft] sich innerlich fruchtbar und wohlgeordnet macht und jede ein Centrum ist, auf dessen Erhaltung sich die übrige beziehen und keine mit Abbruch der anderen wachsen kann.« (XV 953,16–26)320 Der Völkerbund ist somit ein System, in dem jeder Staat für den anderen Mittel und Zweck ist und so jeder durch das Ganze erhalten bleibt. Der zyklische Staatentod ist damit überwunden. In der antiken politischen Reflexion wurden schon bei Herodot drei Staatsverfassungen nebeneinander gestellt: Monarchie, Aristokratie und Demokratie, Einer, Viele, Alle; diese Verfassungen sind dem Zyklus von natürlichem Werden und Vergehen unterworfen, eine vierte Verfassung jedoch kann den Untergang verhindern, die kritik der urteilskraft | 479

Mischverfassung; sie enthält die drei anderen als Elemente in sich und kann durch das Miteinander der sonst antagonistischen Kräfte im Prinzip die Unsterblichkeit des Staatswesens garantieren. Polybios schrieb in einer sehr forcierten Interpretation Rom diese Mischverfassung zu und konnte so den »Roma aeterna«-Anspruch staatstheoretisch begründen. Die Kantische Idee der Republik zielt auf dasselbe Ergebnis; die Organisation, in der alles zugleich Mittel und Zweck ist und derart organisch in das autopoietische Gebilde des Staats eingebunden ist, gewährleistet die Unsterblichkeit des »mortall God«. Mit der realen Durchführung der Republikanisierung aller Staaten endet im Prinzip die bisherige Vorgeschichte bzw. Geschichte der Menschheit. Jeder Staat wird zum perennierenden Naturzweck bzw. Reich der Sitten, in dem alles Mittel und zugleich Zweck ist. Der Zyklus des natürlichen Entstehens und natürlichen Vergehens ist durch den linearen Prozeß ersetzt, der, hat er einmal Tritt gefasst, im Prinzip geschichtslos ins Unendliche geht.321 Auch die Kunst ist bei Kant so verfasst, daß sie keiner zyklischen Bewegung von Entstehung, Höhepunkt und Niedergang folgt, sondern unter günstigen Bedingungen aus ihren Quellen in der Antike und der Natur jederzeit abrufbar ist. Die Romantik – wenn wir nur an Novalis und Kierkegaard denken – wird den Tod im Leben wieder entdecken und die Krankheit zum Tode als Quelle der Erkenntnis schätzen lernen. Auch hier noch Variationen der stoischen oikeiosis: »Ich kann etwas nur erfahren, insofern ich es in mir aufnehme; es ist also eine Alienation meiner selbst und eine Zueignung oder Verwandlung einer andern Substanz in die meinige zugleich.«322 Krankheit und Tod werden durch die Spannungsverhältnisse des geistbeseelten Leibes konzipiert, nicht mehr wie beim frühen Kant als mechanisch erzeugte Verkalkung. Der Baum fungiert in der KdU als Exempel für Naturprodukte; in dem Konzept der Reproduktion der Individuen zur in sich endlosen Gattung gibt es nicht das Phänomen der Degeneration, das Kant von den Kretins in abgelegenen Tälern der Pyrenäen und Alpen aus der physischen Geographie und Anthropologie vertraut ist: Die Inzucht führt zu Pathologien und zum Absterben. Das Prinzip, daß Menschen Menschen zeugen, stimmt entsprechend nur unter bestimmten Bedingungen, die das Baumbeispiel ausklammert. 480 | kapitel 

Die Antinomie der reflektierenden Urteilskraft Es sollen aus dem verrätselten Text der »Dialektik der teleologischen Urtheilskraft« (V 385.2) nur einige Argumente herausgegriffen werden, die zur Erläuterung unsere Argumente dienen. Sogleich medias in res: Wir kann es zu einer Antinomie der Maximen (V 385,28 u. ö.) der reflektierenden Urteilskraft kommen, wenn die Kompetenzen zwischen der causa efficiens des Verstandes und der causa finalis der Vernunft im Hinblick auf die Naturprodukte friedlich ausgemacht wurden? Es tue sich eine Dialektik hervor, die die Urteilskraft in dem Prinzip ihrer Reflexion irre mache (V 387,1–2). Es werden zwei Maximen der Urteilskraft als Satz und Gegensatz genannt, die dann noch einmal objektiv reformuliert werden, so daß der Gegensatz der Maximen zum Widerspruch in den Erzeugungen der Dinge der Natur selbst wird. Dies letztere ist das Dilemma der vorkritischen Naturphilosophie, das in extenso im nachfolgenden Text (§ 72–§ 76) in vier Varianten vorgeführt wird. Sie übernehmen sich, wie vorgreifend gleich nach der Darlegungen von Satz und Gegensatz im Hinblick auf die Konstitution der Objekte selbst festgehalten wird, in ihren unkritischen Erkenntnisbehauptungen (V 387,17–24). Es bleibt der Gegensatz der beiden erstgenannten Maximen (V 387,3–9), aufgenommen in der Formulierung: »Was dagegen die zuerst vorgetragene Maxime einer reflektirenden Urtheilskraft betrifft, so enthält sie in der That gar keinen Widerspruch.« (V 387,25–26)323 Kants Idee der Antinomie und ihrer Auflösung besteht darin, daß die in der Tat widersprüchlichen Maximen der Urteilskraft dadurch kompatibel werden, daß die erste Maxime nicht interpretiert wird als bloßes Verstandesgesetz (der Analytik der KrV), sondern als tatsächliche Forschungsmaxime, als Aufgabe mit einem »Soll«-Wert: »[…] ich soll jederzeit über dieselben [sc. »alle Ereignisse in der materiellen Natur«, V 387,27, RB] nach dem Princip des bloßen Mechanisms der Natur reflectiren und mithin, soweit ich kann, nachforschen […].« (V 387,31–33) Der Mechanismus fungiert hier also nicht mehr als das unbezweifelbare Naturgesetz der Analytik der KrV, sondern als Forschungsmaxime, den (unweigerlichen) Mechanismus im Einzelnen konkret zu erforschen. Der Bereich der bestimmenden Urteilskraft wird also in einer Logik der Forschung umgemodelt zu einer Aufgabe der reflekierenkritik der urteilskraft | 481

den Urteilskraft und wird aus einem Gesetz des Verstandes zu einer Aufgabe der Wissenschaft. Diese Aufgabe kooperiert mit der zweiten Maxime, bestimmte Naturteile und deswegen auch die ganze Natur nach dem Gesetz der Endursachen zu beurteilen. Die Auflösung der Antinomie liegt also darin, daß die beiden entgegengesetzten Maximen als kompatible Forschungsaufgaben subjektiviert werden; eben dies wird im § 77 als einzige Möglichkeit unserer endlichen Erkenntnisfähigkeit aufgewiesen.324 Die reflektierende Urteilskraft wird also in der Dialektik bestimmt als das Vermögen der Erforschung der materiellen Natur; sie soll sie gemäß dem Verstandesgesetz der mechanischen Kausalität, und sie darf sie nach der Zweckidee der Vernunft erforschen, beides ist dadurch legitimiert, daß dem Menschen nur auf diese Weise Naturforschung möglich ist.325

Die Naturteleologie und die Bestimmung des Menschen Sind wir als Vernunftwesen Gegenstand der reflektierenden Urteilskraft? Wir gehören zur Natur: »[…] da wir selbst zur Natur im weitesten Verstande gehören« (V 375,14); »[…] für die Natur […], zu der wir selbst mitgehören« […]« (V 409,14). 1785 ist es sinnvoll zu fragen, was die Natur mit unserer praktischen Vernunft beabsichtigt hat, welches deren »wahre Bestimmung« (IV 396,20) ist.326 1790 scheint es durch die Einführung der reflektierenden Urteilskraft eine neue Differenzierung zu geben. Im Bereich der theoretisch zugänglichen Natur stoßen wir mit Hilfe der reflektierenden Urteilskraft auf den Zweck einer Einrichtung der Dinge, selbst unseres Gemüts; wir gelangen zum letzten Zweck der Natur und zur Frage, wozu das alles eigentlich gut ist – eine Antwort finden wir bei der nunmehr so genannten »theoretischen reflektierenden Urteilskraft« nicht. Die wahre Bestimmung unseres Willens und der Endzweck unseres Daseins und damit des Universums ist uns jedoch ohne theoretische teleologische Urteilskraft zugänglich, und daß wir zur Verwirklichung des Endzwecks, des höchsten Guts, bestimmt sind, ist kein Ergebnis der teleologischen theoretischen Reflektion. Bei der Behandlung der Paralogismen der reinen Vernunft in der KrV von 1787 hieß es, wir könnten nach der Analogie 482 | kapitel 

mit der Natur lebender Wesen auch beim Menschen annehmen, daß alles seiner Bestimmung genau angemessen sei. Nun gehen seine Naturanlagen, vornehmlich aber das moralische Gesetz in ihm »so weit über allen Nutzen und Vorteil, den er in diesem Leben daraus ziehen könnte, […], daß er sich innerlich dazu berufen fühlt, sich durch sein Verhalten in dieser Welt, mit Verzichtthuung auf viele Vorteile, zum Bürger einer besseren, die er in der Idee hat, tauglich zu machen.« (B 425–426) In diesem Sinn gehört unsere sittliche Bestimmung einer anderen Ordnung an als der der Natur; sie kann nicht durch die Naturrecherche entdeckt werden, sondern ist Gegenstand einer widernatürlichen Selbsterfahrung, die den Schlüssel zu der noch natürlichen Frage enthält, wozu die Dinge und wir selbst überhaupt da sind. Bevor diese Bruchstelle zwischen Natur und Freiheit und damit zwischen den Naturzwecken und der Bestimmung des Menschen untersucht wird, sollen auf der Naturseite noch einige Klärungen herbeigeführt werden. Kants Idee ist offenbar, daß die Tunnelbohrung von der Seite der Naturteleologie genau auf die Wegbereitung von der Seite der moralischen Bestimmung des Menschen trifft.327 Würde der Nachweis mißlingen, daß die Natur auf uns als moralische Wesen zukomponiert ist, wären wir vor eine absurde Aufgabe gestellt, denn wäre die Natur ein Infernum, würde sich unser moralisches Handeln nicht von dem Steinewälzen eines Sisyphos unterscheiden. Oder nur eines sturen Spinoza, des »athée vertueux«? Kant scheint zu dieser zweiten Variante oder besser: Akzentsetzung zu tendieren. Die Kantische Untersuchung verlief so, daß an einem einzelnen Organismus, etwa einem Baum, die reflektierende Urteilskraft ein System von Gliedern, die jeweils Mittel und Zweck des Ganzen sind, annimmt bzw. annehmen muß; im Prozeß der weiteren Reflexion zeigt sich die Natur im Ganzen als ein teleologisches Gebilde, in dem der Mensch der letzte, jedoch auch wieder als Mittel fungierender Zweck ist. Bei der Zweckfrage, wozu nun das Ganze überhaupt da ist, erzwingt die Vernunft den Überschritt zu einem Endzweck, der nur in der praktischen Vernunft des Menschen liegen kann. Aus dieser reinen praktischen Vernunft ergibt sich wiederum die Erweiterung der Teleologie zu einer moralischen Theologie, weil Moral die objektive praktische Realität von Gott und Unsterblichkeit fordert und erzeugt. So scheint sich ein teleologisches Kontinuum vom kritik der urteilskraft | 483

niedrigsten Grashalm328 bis zum Endzweck des höchsten Gutes und Gottes zu erstrecken. Aber dieser Schein trügt, es gibt einen Hiat in der teleologischen Urteilskraft, als deren Kritik der zweite Teil der KdU angekündigt wird. Dieser Hiat ist ganz deutlich, und es bedarf keiner interpretatorischen Umwege, ihn zu entdecken. Der Zweckbegriff überhaupt ist, wie wir sahen, unserem eigenen Willen entlehnt. Im ersten Teil benutzt ihn die (später so genannte) theoretisch reflektierende Urteilskraft, um die Natur als ein System der Zwecke zu fassen und so für unsere theoretische Untersuchung zugänglich zu machen. Der Ursprung dieses Zweckbegriffs ist der natürliche Wille der technischpraktischen Vernunft; ihm entspricht der hypothetische Imperativ, von dem Kant gesondert ausführt, daß er der theoretischen, nicht der reinen praktischen Vernunft angehört (V 172,14–173,36). Nun gibt es daneben den Zweck der reinen praktischen Vernunft, der nicht mehr zur Natur, sondern zur Freiheit gehört. Hier wird der Mensch nicht mehr als Teil der Natur, sondern »als Noumenon betrachtet; das einzige Naturwesen, an welchem wir doch ein übersinnliches Vermögen (die Freiheit) und sogar das Gesetz der Causalität sammt dem Objecte derselben, welchen es sich als höchsten Zweck vorsetzen kann (das höchste Gut in der Welt), von Seiten seiner eigenen Beschaffenheit erkennen können.« (V 435,20–24) Hier handelt der Mensch »nicht als Naturglied, sondern in der Freiheit seines Begehrungsvermögens« (V 443,9–10). Rein äußerlich trifft man so auf den Befund, daß zum letzten Mal in der KdU V 419,6 von der Technik der Natur gesprochen wird, dagegen zum ersten Mal von der moralischen Bestimmung des Menschen V 410,34 und im nachfolgenden Text passim.329 (Eine Komplikation: Es gibt neben der moralischen auch eine natürliche Bestimmung des Menschen, die auch erst am Schluß aufgerufen wird: »Was die Disciplin der Neigungen betrifft, zu denen die Naturanlage in Absicht auf unsere Bestimmung als einer Thiergattung ganz zweckmäßig ist, […]« (V 433,16–18). So stehen sich zwei Zweckbegriffe und zwei Zweckordnungen gegenüber, die der Natur (und der theoretischen reflektierenden Urteilskraft) und die der Freiheit. Sie führen zu unterschiedlichen Formen der Theologie. »Die Physikotheologie ist der Versuch der Vernunft, aus den Zwecken der Natur (die nur empirisch erkannt 484 | kapitel 

werden können) auf die oberste Ursache der Natur und ihre Eigenschaften zu schließen. Eine Moraltheologie (Ethikotheologie) wäre der Versuch, aus dem moralischen Zwecke vernünftiger Wesen in der Natur (der apriori erkannt werden kann) auf jene Ursache und ihre Eigenschaften zu schließen.« (V 436,5–10)330 Der Endzweck Gottes gemäß der Moraltheologie kann nur der Mensch unter moralischen Gesetzen sein (V 445,15–22; 448,31–34). Wir stoßen damit auf zwei Zweckordnungen, wobei die »Kritik der teleologischen Urteilskraft« überleitet von der Natur zur Freiheit, von den relativen, wenn auch inneren, Zwecken der theoretischen Erkenntnis zum absoluten Zweck der Moral und ihrer Postulate Gott und Unsterblichkeit, die für »unsere moralische Bestimmung, d. i. in praktischer Absicht« (V 482,13–14) entwickelt werden. Der Konvergenzpunkt: Der Mensch ist »seiner Bestimmung nach der letzte Zweck der Natur; aber immer nur bedingt, nämlich daß er es verstehe, und den Willen habe, dieser und ihm selbst eine solche Zweckbeziehung zu geben, die unabhängig von der Natur sich selbst genug, mithin Endzweck sein könne, der aber in der Natur gar nicht gesucht werden muß.« (V 431,6–11) Zuerst eine formale Beobachtung, die der Leser bereits erwarten wird: Die Stufung von Natur- und Moraltheologie folgt dem immer wieder beobachteten Schema von Äußerlichkeit und Innerlichkeit, hier von der Natur als Erscheinung und der noumenalen Wirklichkeit von Freiheit und Moral. Gemäß dieser Stufung zerfällt die »Kritik der teleologischen Urteilskraft« in zwei Teile, einen vorbereitenden äußeren und einen wesentlichen inneren, aus dem sich der äußere allererst begreifen läßt. Man ist geneigt, die Kompetenz der teleologischen Urteilskraft auf die Naturzweckseite einzugrenzen, denn so wird sie eingeführt, als bezogen auf nicht subjektive, sondern objektive, nicht formale, sondern materiale Zwecke. Tatsächlich sind die Moral und ihr Endzweck seit der KrV und der KpV nicht eine Sache der Urteilskraft, sondern der reinen Vernunft selbst. Dann jedoch wäre die Subsumtion der Moraltheologie unter den Titel der teleologischen Urteilskraft ein Fehler! Aber hier gibt es eine (nach meiner Kenntnis) unbeachtete Innovation der KdU, die diesen Fehler vermeiden läßt: Die KdU bestimmt den »Endzweck unserer Bestimmung« (V 481,35) so: »Die Idee eines Endzwecks im Gebrauche der Freiheit kritik der urteilskraft | 485

nach moralischen Gesetzen hat also subjectiv-practische Realität. Wir sind a priori durch die Vernunft bestimmt, das Weltbeste, welches in der Verbindung des größten Wohls der vernünftigen Weltwesen mit der höchsten Bedingung des Guten an denselben, d. i. der allgemeinen Glückseligkeit mit der gesetzmäßigen Sittlichkeit, nach allen Kräften zu befördern.« (V 453,16–20) Endzweck, so wissen wir, »ist bloß ein Begriff unserer praktischen Vernunft […] nach moralischen Gesetzen.« (V 454,34–455,1). Nun hieß es in der KpV, daß das moralische Gesetz gebiete, den Endzweck, d. h. das höchste Gut zu befördern, und wenn dies nach praktischen Regeln unmöglich sei, dieses Gesetz »phantastisch und auf leere eingebildete Zwecke gestellt, mithin an sich falsch sein« müsse (V 114,6–9). Erstaunlich im Kontext, denn davon war, wie wir fanden, zuvor nicht die Rede gewesen. Es läßt sich rasch feststellen, daß Kant diese Behauptung in der KdU nicht wiederholt, obwohl er daran festhält, daß wir durch unsere Vernunft zur Realisierung des höchsten Guts hier bestimmt sind (anders als in der KrV)! Die entscheidende Erneuerung ist jedoch: Wer an den Endzweck und die dazu nötige Glücksbeihilfe Gottes nicht glaubt, muß trotzdem moralisch sein, es gibt den »athée vertueux« (V 452,8–453,5).331 Es ist nicht »eben so nothwendig das Dasein Gottes anzunehmen, als die Gültigkeit des moralischen Gesetzes anzuerkennen; mithin, wer sich vom erstern nicht überzeugen kann, könne sich von den Verbindlichkeiten nach dem letztern los zu sein urtheilen. Nein!« (V 450,33–451,3) Der Atheist sei nicht von der Befolgung des formalen Gesetzes dispensiert, er müsse nur das beabsichtigte höchste Weltbeste aufgeben. Um diese Volte zu ermöglichen, löst Kant, so scheint es, die unmittelbare Verbindung von moralischem Gesetz und höchstem Gut als einzigem Zweck des Gesetzes und macht diesen Zweck nicht mehr zu einem Gegenstand der reinen praktischen Vernunft, sondern einer neu eingeführten Instanz: der praktisch reflektierenden Urteilskraft. »Für die theoretisch reflectirende Urtheilskraft bewies die physische Teleologie aus den Zwecken der Natur hinreichend eine verständige Weltursache; für die praktische bewirkt dieses die moralische [sc. Teleologie, RB] durch den Begriff eines Endzwecks, den sie in praktischer Absicht der Schöpfung beizulegen genöthigt ist.« (V 456,11–15)332 »Für die praktische« – die praktisch[e] reflektierende Urteilskraft, die an die Seite der theoretischen tritt.333 486 | kapitel 

Beabsichtigt ist offenbar eine Parallelkonstruktion von Theorie und Praxis, Natur und Freiheit. In der ersteren gibt es die konstitutiven Gesetze, dargestellt in der Analytik der KrV; ohne sie ist die Erscheinungswelt nicht möglich. Das Gegenstück dazu ist der Grundsatz der moralischen Welt, formuliert im kategorischen Imperativ der KpV; er ist das formale Prinzip aller Moral überhaupt. Nun treten auf beiden Seiten die Zwecke hinzu; in der Natur sind sie Gegenstände der theoretischen reflektierenden Urteilskraft, sie können nicht objektiv verifiziert werden, ermöglichen jedoch erst den Gebrauch unserer Vernunft in der Naturerkenntnis. In der moralischen Welt ist es dagegen der Endzweck bzw. das höchste Gut, das die praktische reflektierende Urteilskraft durch die Einbeziehung Gottes und der Unsterblichkeit verständlich macht; ohne den Glauben an das höchste Gut und Gott und Unsterblichkeit ist die Moral ihres wesentlichen Inhalts beraubt. Wer sich nicht von ihnen zu überzeugen vermag, muß und kann trotzdem »dem Rufe seiner sittlichen Bestimmung anhänglich bleiben« (V 452,33) und in heroischem Eigensinn dem moralischen Gesetz folgen – »l’athée vertueux« folgt keinem an sich falschen Gesetz, aber er ist inkonsequent, denn der Atheismus schwächt (V 452,36) die moralische Gesinnung, die zur Befolgung des Gesetzes nötig ist. Die »Kritik der teleologischen Urteilskraft« trägt ihren Titel zu Recht, wenn man ihn gegen den ursprünglichen Wortsinn faßt als »theoretisch und praktisch reflektierende teleologische Urteilskraft«; die letztere wird nur angedeutet, aber sie ist notwendig, um die Gesetzlichkeit der reinen praktischen Vernunft mit ihrem Zweck zu verbinden. Die teleologische Urteilskraft sah sich mit Gegenständen der Erfahrung konfrontiert, für deren nähere Erkenntnis und Beurteilung der Verstand nicht in der Lage war: »Die Erfahrung leitet unsere Urtheilskraft auf den Begriff einer objectiven und materialen Zweckmäßigkeit […].« (V 366,27–28) Die begriffliche Konstruktion führte bis zur Natur im Ganzen als ein wenn auch nicht organisches, so doch zweckmäßig zu denkendes System, in dem der Mensch die Stellung eines letzten Zwecks einnimmt. Es soll abschließend auf zwei Probleme in der Reflexion, die zum Endzweck und damit zur Bestimmung des Menschen hinführt, hingewiesen kritik der urteilskraft | 487

werden. Es handelt sich in beiden Fällen um die Bruchstelle, an der von der Natur zur Freiheit übergegangen wird.

Freiheit der Natur, Freiheit der Moral Die erste Frage nach der genauen Weise des Übergangs vom mundus sensibilis zum mundus intelligibilis (diese Formulierung benutzt Kant nicht) betrifft die Freiheit. Der Mensch zeichnet sich auf der Naturseite dadurch aus, daß er im Gegensatz zu den übrigen Lebewesen »ein Vermögen hat, sich selbst willkürlich Zwecke zu setzen« (V 431,4–5); nur der Mensch sei tauglich, »sich selbst überhaupt Zwecke zu setzen und (unabhängig von der Natur in seiner Zweckbestimmung) die Natur den Maximen seiner freien Zwecke überhaupt angemessen als Mittel zu gebrauchen […]« (V 431,24– 26). Hierher gehört die Kultivierung der Geschicklichkeit (V 430, 18 ff.), also die Freiheit in der Befolgung hypothetischer Imperative, die zur Naturseite gehören (V 172,14 ff.). Die Natur-Freiheit wird aufgenommen in der Charakteristik der bürgerlichen Gesellschaft, in der »dem Abbruche der einander wechselseitig widerstreitenden Freiheit gesetzmäßige Gewalt […] entgegengesetzt wird.« (V 432,30–32) Es ist die Freiheit der bloßen Klugheit, die ihren Ausdruck findet in der äußeren Bewegungsfreiheit, die durch äußerlich wirkende Gesetze zu einem kompatiblen System der Freiheit gebracht werden kann. So weit die Naturseite. Dagegen der Mensch als Noumenon betrachtet; er sei »das einzige Naturwesen, an welchem wir doch ein übersinnliches Vermögen (die Freiheit) und sogar das Gesetz der Causalität sammt dem Objecte derselben, welches es sich als höchsten Zweck vorsetzen kann (das höchste Gut in der Welt), von Seiten seiner eigenen Beschaffenheit erkennen können.« (V 435,20–24) Also: Freiheit und Moral sind Wechselbegriffe. Auch die KpV beansprucht eindeutig ein Freiheitsmonopol für die Moral; intelligibles Sittengesetz und Freiheit sind kongruent, ergo verfällt alles nicht-moralische Handeln der Determination durch die Natur, und mag es noch so klug und gut überlegt und subjektiv als selbstgesteuert und willkürlich erlebt sein.334 Mit diesem klaren »Entweder-Oder« läßt sich jedoch Kants doppelter Frei488 | kapitel 

heitsbegriff nicht begreifen. Es muß die Frage beantwortet werden, warum sich Kant legitimiert sah, eine paradoxe empirische Freiheit anzunehmen, nachdem er gegen die Lehre der KrV335 die Freiheit auf das Gebiet der moralischen Gesetzgebung restringierte. Andrea Esser schreibt, der Begriff der Sittlichkeit erfasse die Rahmenbedingungen mit, unter denen Moral möglich ist; zu ihnen gehörten auch »moralneutrale Handlungen als Resultat einer freien Willensentscheidung«.336 Dies entspricht Kants Wortgebrauch, aber eine Beschreibung schafft nicht den Widerspruch zur strikten Reziprozitätsthese aus der Welt. Wie ist die Freiheit einer moralneutralen Handlung möglich? Warum erschöpft diese sich nicht im Ablauf psychischer Assoziationen und Neigungen, die uns aufgrund einer Illusion als frei vorkommen? Die Lösung scheint mir in einer Reflexionsfigur zu liegen, auf die wir an verschiedenen Stellen in der KdU stießen, die duale Wertstufung. Wir begegneten ihr in der ästhetischen Normalidee des äußerlich Schönen zur Vernunftidee des Ideals, vom Großen zum Erhabenen, vom relativen zum inneren Zweck; wir erinnerten an die Staffelung von Preis und Würde, pflichtmäßig und aus Pflicht, sodann Recht und Tugend.337 Es ist jeweils daßelbe sinnliche Vorscheinen der Idee; die erste Position ist nur äußerlich, aber sie führt hin zu dem eigentlichen Wert, der aus sich selbst begründet werden muß. Ist diese Begründung erfolgt, kann das Äußere als integrierender, notwendiger Teil eine stabile Wertschätzung erfahren. Kant versucht, so scheint es, dieselbe Stufung in der Dualität von Handlungsfreiheit und Freiheit des Willens oder der reinen praktischen Vernunft vorzunehmen. Eigentlich kann man beim Handeln nach hypothetischen Imperativen nicht von Freiheit sprechen, und sie werden entsprechend konsequent in das Gebiet der theoretischen Philosophie verwiesen. Die von Freiheit bei moralneutralen Handlungen könnte darin legitimiert sein, daß es Handlungen von freiheits-, weil moralfähigen Menschen sind und sie an dieser Freiheit auf eine theoretisch nicht geklärte Weise teilhaben. Ebbinghaus schreibt: »Die Freiheit, deren Gesetz das Recht bei Kant ist, ist lediglich die Fähigkeit des Menschen, sich in seinen äußeren Willkürhandlungen irgendwelchen Regeln gemäß zu bestimmen, die er sich selbst (aus welchen Motiven immer) gemacht hat.« Und dies sei die Willkürfreiheit, die der Rechtslehre, speziell kritik der urteilskraft | 489

der Strafgerechtigkeit zugrunde liege.338 Das kann so nicht stimmen, denn die Teufel, die über die Fähigkeit von vernünftigen Wesen verfügen und sogar Probleme der Staatstheorie lösen können (VI 26,8–9 u. ö. verbunden mit VIII 366,15–23), sind keine Vernunftwesen, d. h. moralisch imputable Personen, für die das Vernunftrecht gilt; über das Rechtsgebot »honeste vive« (VI 236,24–30) können Teufel nur lachen, während sie mit gesetzlich limitierter Handlungsfähigkeit den Vergewaltiger vergewaltigen und Embryonen für beliebige Zwecke aufspießen. Die menschliche Willkürfreiheit partizipiert dagegen an der moralischen Willensfreiheit, wenn auch in einer moralisch bestimmten Äußerlichkeit.339 Das ist Kant erst relativ spät klar geworden. Beim Recht verbleibt das bloß gesetzmäßige Handeln im Rahmen der äußeren Freiheitsgesetze in der Determination der Natur; trotzdem erfährt die Äußerlichkeit durch ihre Subsumtion unter den kategorischen Imperativ (u. a. VI 226,1–3) eine Werterhöhung, die z. B. bestimmte Rechtsgesetze eines Teufelsstaats aus dem Recht der Menschen ausschließt, obwohl sie der äußerlichen Kompatibilität der Freiheit eines jeden mit der aller anderen entsprechen.340 Der Bürger ist kein nur vernünftiges Wesen, sondern ein Vernunftwesen und hat für sich und alle anderen emphatisch die Würde der Person. Kant schreibt es ausdrücklich: »Der Mensch nun als vernünftiges Naturwesen (homo phaenomenon) ist durch seine Vernunft, als Ursache, bestimmbar zu Handlungen in der Sinnenwelt, und hiebei kommt der Begriff der Verbindlichkeit noch nicht in Betrachtung.« (VI 418,14–17) Die entscheidende Verknüpfung von äußerer Handlungsfreiheit im Recht und innerer sittlicher Freiheit liegt darin, daß der Mensch Person ist, imputables Vernunftwesen, nicht nur vernünftiges Naturwesen, und das Kantische Recht ein Personenrecht ist im Hinblick auf die äußeren Handlungen von Personen.341 Die Vernunftbegründung des Äußeren im Inneren ermöglicht es auch, daß die Befolgung der positiven Gesetze zu einer Tugendpflicht werden kann (VI 394,24–32). Die Stufung entspricht der Vernunftentwicklung in der Geschichte, die vom Provisorium des Äußeren zum Inneren fortschreitet; sie leitet den Menschen von der äußeren Willkürfreiheit hin zur Entwicklung des freien Willens, in dem rückwirkend die empirische Freiheit ihre relative Wertung er490 | kapitel 

hält. Man erinnere sich der Moscati-Rezension von 1771: Der Mensch gelangt zwar von unten allmählich zum aufrechten Gang und zur Vernunft, aber dies ist nur dadurch möglich, daß die Vernunft in der Natur von Beginn an präsent ist und diese auf ihren, den Vernunftzweck hin lenkt. Und natürlich die Vernunftstufung selbst, wie sie Kant in den siebziger Jahren entwickelt: Der Verstand ist den Erscheinungen zugewandt und buchstabiert die Phänomene, die Vernunft jedoch instruiert den Verstand und kritisiert und bestimmt sich selbst, hier die Erde, dort die Sonne. Die Stufung von Verstand und Vernunft führt später zur Abwertung des kalten, bloßen Verstandesdenkens und zur Hochwertung des Eigentlichen, worauf es ankommt, die Vernunft.

Anhang: Der kopernikanisch gewendete Gott Das letzte Problem der »Kritik der teleologischen Urteilskraft« ist ihr erstes: Die Bestimmung des Menschen oder sein Endzweck. Um den Endzweck zu erfüllen, muß der Mensch ein Tableau seiner Existenz entwerfen, in dem er seine Pflicht erfüllen, d. h. moralisch handeln und auf die Realisierung des höchsten Guts hinwirken kann. Dies ist z. B. nicht gegeben, wenn die Welt ein Infernum ist und über dem Lebenstor die Inschrift steht »Lasciate ogni speranza«. Es ist förderlich für die Moral selbst, an einen Gott zu glauben, der die Schöpfung auf den menschlichen Endzweck hin eingerichtet hat. Wir sprachen bei der Erörterung der einschlägigen Postulate bislang von Gott tout court, aber diese Redeweise bedarf einer kritischen Korrektur. Das Ergebnis der Dialektik der KrV sollte sein, daß die theoretische Vernunft keine Erkenntnis von Gott erlangen kann. Das bedeutet, daß wir keine Wesens- und Seinserkenntnis Gottes haben, damit aber alle rationale Theologie hinfällig wird; von der Welt und der menschlichen Seele haben wir zwar auch keine Wesenserkenntnis, jedoch empirische Erscheinungserkenntnis im äußeren und inneren Sinn. Im Bild der kopernikanischen Wende: Die Welt und die Seele erscheinen uns unter den restringierenden Bedingungen der Formen der Anschauung, Raum und bzw. oder Zeit. Nun läßt sich der Gott des moralischen Glaubens, wie Kant kritik der urteilskraft | 491

ihn besonders in den §§ 87 ff. der Methodenlehre der »Kritik der teleologischen Urteilskraft« darstellt, in eine Parallele setzen zu den subjektiv oder kopernikanisch restringierten Gegenständen der Welt und der Seele. Auch der moralische Glaube setzt voraus, daß eine theoretische Erkenntnis Gottes nicht möglich ist; nun wäre zwar ein uns erscheinender Gott eine contradictio in adiecto, nicht jedoch der Vernunftglaube an einen Gott für uns, einen Gott, der subjektiv restringiert ist auf unser Vernunftbedürfnis und die Annahme der praktisch-reflektierenden Urteilskraft.342 Die objektiv praktische Realität Gottes entspricht der objektiv theoretischen Realität der Erscheinungen unseres äußeren und inneren Sinnes. Vielleicht läßt sich diese Parallelisierung durch die folgende Beobachtung verstärken. Die KpV ist in spiegelbildlicher Verkehrung der KrV angelegt, wie Kant selbst verwundert betont. Die Stelle der transzendentalen Ästhetik nimmt in der KpV das Erste Hauptstück »Von den Grundsätzen der reinen praktischen Vernunft« ein. Unsere Erscheinungserkenntnis erwächst aus der Möglichkeit, Begriffe auf das Mannigfaltige der Anschauung im äußeren und inneren Sinn anzuwenden. Nun ermöglicht das moralische Gesetz analog dazu einen Glauben an das dritte Wesen der alten Metaphysik, realisiert unter der Bedingung eben dieses Faktums des Bewusstseins. Der Gott des moralischen Glaubens hat Realität nur im Hinblick auf das Gesetzesfaktum, und von ihm her gewinnen wir keine Bestimmungen eines Gottes an sich, sondern eines Gottes für uns, für unser praktisches Bedürfnis. Es ist nicht gut möglich, daß Kant diese Parallele nicht deutlich vor Augen stand.343

Darwin versus Kant Hier kann das Thema »Darwin versus Kant« nicht annähernd kompetent behandelt werden; es werden nur einige Gesichtspunkte angeführt, die für das Thema relevant sind, dazu kommt ein Text, der zeigt, daß Kant mit der, auch natürlichen, Zucht neuer Tierarten durchaus vertraut war. In jeder Abhandlung zur Biologie, der Verhaltensforschung oder Tierpsychologie wird konstant mit dem »um zu« operiert und somit eine finale Betrachtung für notwendig gehalten. Vier Begründun492 | kapitel 

gen wurden oder werden vorgeschlagen: 1. Die Zweckbestimmtheit ist eine der vier Ursachen (causa materialis, formalis, efficiens und finalis), die das objektive Wesen eines Dinges ausmachen (Aristoteles); 2. Gott oder die göttliche Natur, der Logos, ermöglichen die Zweckbestimmung einzelner Naturdinge oder -gattungen und des Zweckzusammenhanges der Welt im ganzen (Stoa); 3. Es handelt sich um eine subjektive, wiewohl für die Erkenntnis der organischen Natur notwendige Projektion, ein bloßes »als ob« (Kant); 4. Die Zweckmäßigkeit ist das unbeabsichtigte, also ursprünglich zweckfreie Resultat mechanischer Kausalität der Selektion (Darwin). Selektion heißt, daß sich unter wechselnden Umweltbedingungen jeweils ein bestimmtes, durch zufällige Mutation präsentes Bündel von Eigenschaften als das einzige überlebensfähige (»the fittest«) erweist.344 Eine üppige Tropenpflanze regrediert unter den Bedingungen der Antarktis zu einem unauffälligen Gewächs; bestimmte Primaten entwickeln unter günstigen Lebensbedingungen hohe technische und geistige Fähigkeiten. Ist der Darwinismus die modifizierte Ausführung der Kantischen Technik der Natur? Mit Kantischem Vokabular: Die Überführung der subjektiven Hilfsvorstellung der reflektierenden in eine kausal überprüfbare Geschehenssequenz der bestimmenden Urteilskraft? Voraussetzung ist die Kant unbekannte natürliche Mutation, die neue Formen in die Erbfolge einbringt, die jeweils vor der Frage stehen, ob sie sich bewähren oder untergehen. Kant spricht vom »Archäologen der Natur« und nennt es ein »gewagtes Abenteuer der Vernunft« (V 419,9; 26–27), wenn versucht wird, aus der komparativen Anatomie genetische Schlüsse zu ziehen und die Vielfalt der Arten aus einem einzigen Urgrund abzuleiten. Hier gäbe es also einen gewissermaßen prädarwinistischen345 Verhandlungsspielraum, so daß das starre Dogma der Artenkonstanz durchbrochen werden könnte. Es wird die Vorstellung von einem »Mutterschooß der Erde« (V 419,14) ausgemalt, aus dem als einem organischen Urgrund die große Familie der Naturgeschöpfe sich herleitet, er ließ »anfänglich Geschöpfe von minder-zweckmäßiger Form, diese wiederum andere, welche angemessener ihrem Zeugungsplatze und ihrem Verhältnisse unter einander sich ausbildeten, gebären« (V 419,15–18). So eröffnet die Naturgeschichte anstatt der bloßen Naturbeschreibung (V 417,9) eine Genese der kritik der urteilskraft | 493

Naturprodukte mit zunehmender Zweckmäßigkeit im Hinblick auf Umgebung und andere Lebewesen. Wie die Natur hierbei vorgeht, wird nicht gesagt, aber man hatte zu Kants Zeit bereits ein Modell in der Züchtung per »Entziehung« vorgeführt, wie wir aus der Nachschrift zur Vorlesung über Physische Geographie wissen: »Es ist aus der Verschiedenheit der Kost, der Luft und der Entziehung zu erklären, warum einige Hüner ganz weiß werden, und wenn man unter den vielen Küchlein, die von denselben Eltern gebohren werden, nur die aussucht, die weiß sind, und sie zusammenthut, bekommt man endlich eine weiße Race, die nicht leicht anders ausschlägt. Arten nicht die engländischen und auf trocknem Boden erzogenen arabischen und spanischen Pferde so aus, daß sie endlich Füllen von ganz anderm Gewächse erzeugen? Alle Hunde, die aus Europa nach Afrika gebracht werden, werden stumm und kahl und zeugen hernach auch solche Jungen. Dergleichen Veränderungen gehen mit den Schafen, dem Rindvieh und andern Thiergattungen vor.« (IX 314,16–26) 346 Wenn die »Entziehung« nicht durch den Züchter, sondern die sich ändernden Umstände der Natur, auch durch das Abwandern in andere Länder vorgenommen wird, sind wir eigentlich schon bei Darwin. Er beginnt sein Hauptwerk mit einer Abhandlung über »Variation under Domestication«347 und knüpft damit genau an die Tier- (und Pflanzen)züchtung an, auf die sich Kant als ein vertrautes Phänomen bezieht; aber diese Beobachtung wird nicht in die Prinzipienlehre der KdU übernommen; auch die genetischen Überlegungen des Opus postumum greifen hierauf nicht zurück. Und: Kant verweist auf Spielformen der Arten und Rassen, er rührt nicht an die trennende Barriere der unterschiedlichen Gattungen. Das Darwinsche Konzept knüpft an den von Kant erwähnten, jedoch dann vernachlässigten Züchtungsgedanken an und gestaltet ihn zu einem generellen naturinternen ungeplanten Prozeß der Selektion. Gegen diese Entwicklung steht bei Kant die Vorsehungsnatur in folgender Weise: Der Binnenraum des Naturzwecks wird als ein autarkes Gebilde begriffen, das sich erst post festum in einer zweckmäßigen Natur im Ganzen befindet; in ihr nun wird offenbar paternalistisch die »schickliche Materie« zur Verfügung gestellt, so daß kein Kampf um variierende, knappe Ressourcen entsteht, die die Naturprodukte zu 494 | kapitel 

gattungssprengenden Maßnahmen der Selbsterhaltung benötigen. Die harmonische Korrelation von Innen und Außen wird erörtert unter dem Titel des Prinzips »der teleologischen Beurtheilung der Natur überhaupt als System der Zwecke« (V 377,25–26); das Naturprodukt ist hierin immer schon Teil oder Glied eines zweckmäßigen Natur-Ganzen (V 425–434). Dieses Idyll der Natur wird im deutschen Idealismus weitergepflegt, bis Darwin es abrupt auf den Boden der grenzenlosen Konkurrenzgesellschaft zurückholt. Rousseau hatte die belebte Natur in zwei Klassen eingeteilt, die eine ist die der sich nicht ändernden Pflanzen und Tiere, die andere die der Menschen, die zur Selbstperfektionierung in der Geschichte fähig sind. In der Kantischen Version dieses Gedankens werden die Menschen qua Vernunftwesen in der Auseinandersetzung mit sich selbst und der äußeren Natur gezwungen, immer neue Fähigkeiten zu entwickeln; erst die Gattung wird am Ende im emphatischen Sinn ein Mensch sein, wie es bei Pflanzen und Tieren schon jedes Individuum ist. Darwin reißt diese Grenze zwischen behüteter und dem Kampf ausgesetzter Natur ein und macht auch die niederen Lebewesen zu Produkten, die in der Auseinandersetzung entstehen und sich als »fit« erweisen müssen. Kant im Gegenzug: Daß überhaupt Lebewesen in dieser Welt möglich sind, kann nicht mehr darwinistisch abgeleitet werden, denn die Welt kann zwar bei Leibniz als die beste, the fittest, aller möglichen aus der gedanklichen Konkurrenz unendlich vieler Welten im Geiste Gottes hervorgehen, aber die Darwinsche Selektion lässt sich nicht metaphysisch beflügeln; sie muß die Gegebenheit einer Welt, in der es überhaupt zur Selektion kommen kann, als Zufall hinnehmen. Die stoisch-kantische Allnatur braucht hier nicht bei der Nichtantwort des Zufalls stehen zu bleiben, sondern konzipiert eine Vorsehung und Allnatur, in der Lebewesen und Menschen vorgesehen sind.348 Kants zweites Argument: Die Naturerkenntnis inklusive der Naturteleologie und des Darwinismus operiert mit Erkenntnisformen, die nach Kant (dem Kant der KrV, vielleicht nicht des Opus postumum) nicht wieder Ergebnis der Entwicklungsgeschichte sein können; eine kausale Ableitung der auf Spontaneität beruhenden Erkenntnis ist widersprüchlich, denn Spontaneität schließt es gerade aus, bewirktes Produkt zu sein. Darwin dagegen ist genötigt, die kritik der urteilskraft | 495

Theorie des Darwinismus als Produkt seines Erkenntnisobjekts anzunehmen und so die Erkenntnis der Natur zu einem erklärbaren Teil der Natur zu machen. Es ist die Situation Humes, dessen Empirismus eingestandenermaßen nur als Skepktizismus möglich ist. Gegen diesen empiristischen Skeptizismus ist die Transzendentalphilosophie gerichtet, gegen die Darwin, vielleicht auch der Kant des Opus postumum, schlechte Karten haben. Die dritte Differenz liegt im Bekenntnis: In mundo datur casus – non datur casus. Bei Kant führt die Annahme der Vorsehung in den kritischen Werken dazu, daß alles relevante Geschehen auf den einen großen Endzweck hin geordnet ist; was wir als zufällig ansehen mögen, erscheint uns aufgrund unserer mangelhaften Erkenntnis so, in Wirklichkeit ist jedoch auch das scheinbar Zufällige final notwendig. Damit wird der Zufall durch eine Zweckvernunft domestiziert und kann keine blind-kreative Rolle spielen. Darwin löst den Zufall aus der Regie der Vorsehung und läßt ihn wunderbarer Weise die unbelebte Natur bis hin zur Selbstaufklärung im Werk von Charles Darwin selbst führen. Wenn eine Klasse von Naturwesen vor zufällige, unerwartete Schwierigkeiten gestellt wird, überleben in der Population nur die, die zufällig den Anforderungen gewachsen sind. Die Natur verharrt im Stillstand, wenn nicht zufällig neue Hindernisse (Rousseaus »obstacles«) auftreten. – Epikur wurde als »unverschämt« bezeichnet, weil er (mutatis mutandis) annahm, daß aus hingeschütteten Buchstaben zufällig doch die Aeneis entstehen könnte; bei Darwin ist der Zufall wesentlich komplizierter geworden, aber am Ende ist es dieselbe Sache: The Origin of Species ist das Produkt des Zufalls, der nicht von Dido und Aeneas, sondern seiner eigenen Entstehung handelt – alles wenig glaubwürdig. Die vierte Grenzziehung liegt in der Bestimmung des Menschen: Wäre der Mensch ein Naturprodukt per Selektion, dann würde er zwar über Instinkt und instrumentelle Vernunft verfügen, jedoch nicht über Moral und reine praktische Vernunft, die seine un- oder übernatürliche Bestimmung ausmachen (IV 395–396)349. Hier lässt sich nicht mehr mit Darwin verhandeln – der Mensch kann wie die Natur weiße oder farbige Hühner und Rinder züchten, er selbst gehört jedoch als Gattung nicht zum Zuchtvieh der Natur, meint Kant. P. S. V 388,32 ist »und ob« zu ändern in »oder ob«. 496 | kapitel 



Die Vierte Kritik »Drei sind mir zu wunderbar, und das Vierte verstehe ich nicht«, Bibel, Sprüche 30, 18 »Eins, zwei, drei, lieber Timaios, wo aber bleibt uns der vierte?« Platon, Timaios 17a350

Es gibt bereits Vorschläge, bestimmte Schriften oder Schriftteile als Kants Vierte Kritik zu bezeichnen,351 aber im Folgenden wird behauptet und nachzuweisen versucht, daß Kant selbst von ihr, wenn auch mit anderen Worten, als einer systematisch notwendigen Position jenseits der vorhandenen drei Kritiken spricht. Das erste bislang übersehene Dokument der publizierten Schriften findet sich in der »Vorrede« der KdU: »Eine Kritik der reinen Vernunft, d. i. unseres Vermögens nach Principien a priori zu urtheilen, würde unvollständig sein, wenn die [Kritik, RB] der Urtheilskraft, welche für sich als Erkenntnisvermögen darauf auch Anspruch macht, nicht als ein besonderer Theil derselben [der neuen Kritik der reinen Vernunft, RB] abgehandelt würde […].« (V 168,23–28) Der Titel einer »Kritik der reinen Vernunft« bezieht sich hier auf die Einheit, die in drei Teile, drei Kritiken, zerfällt.352 Dieses Motiv einer 1, 2, 3 / 4-Gliederung von drei Kritiken in oder unter der einen umfassenden neuen Kritik der reinen Vernunft wird in der »Einleitung« der KdU aufgenommen und verdeutlicht: »[…], so besteht doch die Kritik der reinen Vernunft […] aus drei Theilen: der Kritik des reinen Verstandes, der reinen Urtheilskraft und der reinen Vernunft, welche Vermögen dann rein genannt werden, wenn sie a priori gesetzgebend sind.« (V 179,10–15) Die ursprüngliche Kritik der reinen Vernunft (1781, 1787) wird damit umbenannt und, was wichtiger ist, umfunktioniert in eine »Kritik des reinen Verstandes«. »Es war also eigentlich der Verstand, der sein eigenes Gebiet und zwar im Erkenntnisvermögen hat, sofern er constitutive Erkenntnisprincipien a priori enthält, welcher durch die im Allgemeinen so benannte Kritik der reinen Vernunft gegen alle übrige Competenten in sicheren alleinigen die vierte kritik | 497

Besitz gesetzt werden sollte.« (V 168,6–10) Die Besitzzuweisung an den Verstand findet aus der Retrospektive von 1790 durch die, wie es verschlungen heißt, »im Allgemeinen so benannte[n] Kritik der reinen Vernunft« statt; im Klartext: Es war 1781 ein falscher Titel, denn das damals gemeinte gesetzgebende Vermögen ist nicht die reine Vernunft, sondern der reine Verstand. Eigentlich sei die besondere Behandlung der Urteilskraft neben dem Verstand und der reinen praktischen Vernunft nur für den ersten Teil, die Ästhetik, nicht aber den zweiten, die Teleologie, notwendig, heißt es kurz darauf – die Beziehung auf das Gefühl der Lust und Unlust sei gerade das Rätselhafte in dem Prinzip der Urteilskraft, »welches eine besondere Abtheilung in der Kritik für dieses Vermögen nothwendig macht […].« (V 169,36–170,1) »In der Kritik« heißt: In der einen übergeordneten Kritik, die drei Abteilungen enthält, die je eine Kritik für sich bilden; also lautet die klarere Formulierung des zitierten Satzes: »welches innerhalb der Kritik (sc. der neuen, Vierten Kritik der reinen Vernunft) eine besondere Abteilung für dieses Vermögen notwendig macht.« Die »Kritik der Erkenntnisvermögen« erstrecke sich auf alle Anmaßungen derselben, und das treffe auch auf das Urteilsvermögen zu, das zwar keinen Teil der Philosophie als System ausmache, aber es könne doch »als ein Haupttheil in die Kritik des reinen Erkenntnisvermögens überhaupt kommen, wenn es nämlich Principien enthält, die für sich weder zum theoretischen noch praktischen Gebrauche tauglich sind.« (V 176,19–28) »Erkenntnisvermögen überhaupt« steht hier als die Einheit von Verstand (dem Erkenntnisvermögen im engeren Sinn), Urteilskraft und Vernunft, wie man u. a. der zweiten (und ersten) Rubrik V 198 entnehmen kann. Die »Kritik des reinen Erkenntnisvermögens überhaupt« ist zwingend keine der drei vorhandenen, sondern eine weitere, also Vierte Kritik. Im Haupttext der KdU erhält die KrV von 1781 und 1787 meistens den Titel einer »Kritik der speculativen Vernunft« (u. a. V 482,18). Diese letztere Bezeichnung begegnet zuerst in der Vorrede der KrV von 1787 (»Kritik der reinen speculativen Vernunft«, B XXII, mitzulesen ist der hier nicht genannte Gegentitel der Kritik der praktischen Vernunft); die umfänglichere 1, 2, 3 / 4-Konstellation ist 1787 noch nicht in Sicht. Noch eine Zwischenbemerkung: Wenn die Beziehung auf das Gefühl der Lust und Unlust und damit 498 | kapitel 

die ästhetische Urteilkraft das eigentliche Thema der KdU ist, dann setzt Kant seine drei Kritiken (unter der Obhut der vierten) in eine Beziehung zur älteren Trias von Wahr, Schön und Gut mit der These, die drei Werturteile seien nicht aufeinander reduzierbar.353 In der »Ersten Einleitung in die Kritik der Urteilskraft« handelt Kapitel XI von der »Encyclopädische[n] Introduction der Kritik der Urteilskraft in das System der Kritik der reinen Vernunft« (XX 241,21–23). Die hier genannte Kritik der reinen Vernunft kann nicht das Werk von 1781 oder 1787 sein, wie der Titel suggeriert, sondern ist die Vierte Kritik. Kant variiert die Benennung dieses Systems, das die drei Kritiken in sich befasst, im nachfolgenden Text: »Kritik der oberen reinen Erkenntnisvermögen« (XX 243,17; 244,20), »System der reinen Erkenntnisvermögen« (XX 244,8–9), »System unserer Erkenntnisvermögen« (XX 244,32), aber dies hebt die Behauptung des Titels des Kapitels XI nicht auf: Es gibt ein System der Kritik der reinen Vernunft, die bzw. das nicht identisch ist mit dem 1781 erstmals erschienenen Werk.354 Einige Zeilen zuvor wurde schon gesagt, alle Urteile über die Zweckmäßigkeit der Natur gehörten »auch unter die Kritik der reinen Vernunft (in der allgemeinsten Bedeutung genommen)« (XX 241,8–18). »Kritik der reinen Vernunft« steht also auch hier für zwei verschiedene Sachverhalte: Die so benannte Schrift und eine systematisch notwendige, die drei Kritiken umfassende oder unter sich befassende Kritik der reinen Vernunft. Kant vermeidet das Eingeständnis eines tiefgreifenden Systemwandels und die klare Thematisierung des nunmehr vierteiligen kritischen Unternehmens, indem er den einen Begriff in zweifacher Bedeutung benutzt, einmal ist es die alte, dann, mit variierenden Zusätzen oder auch einfach identisch, die neue. Wenn man durch einen breiten Strom der europäischen Kulturgeschichte an das Muster 1, 2, 3 / 4 gewöhnt ist, sieht man sofort, daß Kant sich stillschweigend dieser Formation anschließt;355 um so erstaunlicher, daß dies seit 1790 nicht öffentlich vermerkt wurde. In der »Auflösung der Antinomie des Geschmacks« (V 339,4) wird gezeigt, daß die »Hebung der Antinomie der ästhetischen Urtheilskraft einen ähnlichen Gang nehme mit dem, welchen die Kritik in Auflösung der Antinomien der reinen theoretischen Vernunft befolgte; und daß eben so hier und auch in der Kritik der praktischen Vernunft die Antinomieen wider Willen nöthigen, über das die vierte kritik | 499

Sinnliche hinaus zu sehen und im Übersinnlichen den Vereinigungspunkt aller unserer Vermögen a priori zu suchen: weil kein anderer Ausweg übrig bleibt, die Vernunft mit sich einstimmig zu machen.« (V 341,16–33) Diese Einstimmigkeit »der« Kritik ist einmal auf die drei unterschiedlichen Fälle von Antinomien bezogen, zum anderen auch auf die Gleichheit bei den drei Vermögen und die Möglichkeit, im Übersinnlichen einen »Vereinigungspunkt aller unserer Vermögen a priori« zu finden. In der Reflexion über diese Einheit überschreitet die dritte Kritik ihre Kompetenz und macht sich zum Sprecher einer alle drei Kritiken in ihrer Einheit thematisierenden Systemreflexion. Es wäre die Aufgabe der neu angesprochenen Vierten Kritik, die jedoch auf die notwendigen Kennzeichen jeder Kritik, z. B. über eine Antinomie zu verfügen, verzichten müsste (wie der Begriff des Runden nicht rund sein kann? Ist dies das Dilemma des Vierten?) Der neuen Systematik folgt Kant 1790 auch in dem Aufsatz Über eine Entdeckung, nach der alle neue Kritik der reinen Vernunft durch eine ältere entbehrlich gemacht werden soll: »Denn bekanntlich fängt die Kritik des reinen Verstandes von dieser Nachforschung an, welche die Auflösung der allgemeinen Frage zum Zwecke hat: wie sind synthetische Sätze a priori möglich?« (VIII 188,32–34) Die hier genannte »Kritik des reinen Verstandes« ist die ursprüngliche Kritik der reinen Vernunft von 1781 und 1787. Sie fängt von dieser Nachforschung an, weil sie in der Systematik der – neuen – »Kritik der reinen Vernunft« an erster Stelle steht und zufällig auch zuerst publiziert wurde. »Alle neue Kritik der reinen Vernunft« ist das NichtGenannte, die Vierte Kritik. Das Vorkommen einer »Kritik des reinen Verstandes«, zu der die erste Kritik umgetauft und umfunktioniert wird, beruht also sicher nicht auf einem momentanen Irrtum; die detaillierten Überlegungen in der »Einleitung« der KdU, aus denen das erste Zitat stammt, führen auf den vierteiligen Bau hin, der die Anlage der drei verfassten Kritiken philosophisch ermöglicht. Der Umdeutung der ersten Kritik gehen Hinweise in den Prolegomena (1783), Modifikationen in der 2. Auflage von 1787 und auch in der KpV von 1788 voraus, die zeigen, daß die Neukonzeption in einer tiefreichenden Metamorphose der kritischen Philosophie begründet ist. Schon der Grund, warum der Titel der Kritik an die drei Werke vergeben wird, 500 | kapitel 

wäre auf der Grundlage der ursprünglichen Kritik eine grobe Verletzung der gesamten Intention der ersten Kritik der reinen Vernunft, denn die Vernunft als das Vermögen der Schlüsse erzeugt 1781 genau angebbare Fehlleistungen in der Metaphysik, die zu einer Selbstkritik eben dieses höchsten menschlichen Erkenntnisvermögens nötigt; der Verstand dagegen, der nicht schließt, sondern urteilt, begeht keine ihm bzw. seinen Gegenständen notwendig inhärenten Fehler.356 Wenn es 1790 eine Kritik des reinen Verstandes gibt, weil der Verstand über konstitutive Erkenntnisprinzipien a priori verfügt, dann muß der Kritikbegriff gegenüber 1781 einen Wandel erfahren haben. An diesen Änderungen lässt sich rasch ermessen, daß die Idee einer Vierten Kritik kein marginaler Aspekt der kritischen Philosophie ist, sondern das Signal und die Konsequenz eines zentralen Revirements der achtziger Jahre. Eine wichtige, für uns gut erkennbare Anzeige der Metamorphose des Systems findet sich im schon zitierten357 Brief an Reinhold vom 18. Dezember 1787: »So beschäftige ich mich jetzt mit der Critik des Geschmaks358 bey welcher Gelegenheit eine neue Art von Principien a priori entdeckt wird als die bisherigen. Denn der Vermögen des Gemüths sind drey: Erkentnisvermögen Gefühl der Lust und Unlust und Begehrungsvermögen. Für das erste habe ich in der Critik der reinen (theoretischen), für das dritte in der Critik der practischen Vernunft Principien a priori gefunden. […] so daß ich jetzt drey Theile der Philosophie erkenne […].« (X 514,24–36) Hier wird also schon die erste Kritik mit dem Zusatz »Critik der reinen (theoretischen) […] Vernunft« versehen. Die Briefform ermöglicht es, vom »Ich« als dem Subjekt dieser neuen Trinitätslehre zu sprechen, aber »Ich« kann jeder sagen; wenn sich die Werktrias in der Öffentlichkeit präsentiert, muß das Brief-»Ich« durch ein Werk ersetzt werden, das diese Erkenntnis objektiv formuliert und begründet; genau dies wäre die Aufgabe der Vierten Kritik. Ist sie, systematisch reflektiert, das Konzil, das über die Dreieinigkeit befindet, der es sich verdankt? Ist sie Kants ungeschriebene Lehre, die zu schreiben die Grenzen der menschlichen Möglichkeiten sprengt? Kant selbst spricht nicht von einer Vierten Kritik; er benutzt weder den Plural »Kritiken«, obwohl dies bei der Aufzählung der drei Abteilungen der Kritik der reinen Vernunft problemlos möglich wäre,359 noch spricht er offen oder versteckt von der ersten, zweiten die vierte kritik | 501

oder dritten Kritik, obwohl auch diese Redeweise nur die Sache selbst wiedergibt. Eine Sprachmaskerade, die die offen ausgesprochene Lehre sogleich wieder verbergen soll? Nach den Dokumenten, die uns zur Verfügung stehen, gibt es vom Aufkommen des Titels »Kritik der reinen Vernunft« in den frühen siebziger Jahren (X 132,12) bis hin zum Jahr 1787 keinen Hinweis auf die Möglichkeit, daß neben die eine Kritik noch eine andere und gar eine dritte treten könnte. In der KpV wird das Erscheinen dieser zweiten Kritik neben und außer der KrV legitimiert (V 8,4–15; 15,30–16,36; 89,9– 106,36), und die KdU rechtfertigt ihrerseits das Erscheinen der vorher nicht öffentlich angekündigten Mittelkritik als einer notwendigen Brücke zwischen der KrV und KpV. Darüberhinaus, so zeigte sich, reflektiert die KdU über die Dreiheit, die nunmehr entstanden ist und einer Rechtfertigung bedarf, die jedoch keiner der drei Gleichberechtigten leisten kann. Auch das ist neu und lässt sich vor 1787 bzw. 1790 nicht belegen. Man kann also nicht annehmen, daß der Kritik-Gedanke der siebziger Jahre schon die Idee enthielt, die wir für 1790 belegen konnten; sie ist dort neu und entspringt erst aus der Konstellation der drei und nur drei und deswegen vier Kritiken. Kant wird kaum geplant haben, wirklich eine Vierte Kritik zu schreiben, sie ließe sich auch nicht als Kritik einer bestimmten prinzipiellen Erkenntnisanmaßung durchführen, wie dies nach dem Kritikbegriff von 1790 nötig wäre, aber er plaziert sie nun einmal 1790 unter dem alten Titel einer »Kritik der reinen Vernunft« innerhalb der Systematik der drei oder vier Kritiken, und er stattet sie in der Begründung mit Kompetenzen aus, die die der drei vorhandenen Kritiken überschreiten. Es ist ein ihnen extern/interner Ort, aus dem sich die Trias in ihrer Anordnung und Vollständigkeit erst begreifen und begründen lässt. Diesen extern/internen Ort hat Kant darstellungstechnisch in die Einleitung der dritten Kritik hineingezogen; die Idee der Vierten Kritik hospitiert dort nicht zufällig, denn in der Gedankenentwicklung kommt Kant erst kurz vor 1790 zur entscheidenden neuen Systematik als Konsequenz der vielfach vollzogenen Metamorphosen, und im System selbst eignet sich die dritte Kritik zur Beherbergung der Meta-Kritik, weil die KdU auf ihre Weise selbst mit dem Problem der Verknüpfung von zwei vorliegenden Kritiken befasst ist; ihre Systemaufgabe ist die Verbin502 | kapitel 

dung von Natur und Freiheit, von KrV und KpV. Nur die Lösung, die im Werk von 1790 in verschiedenen Ebenen durchgeführt wird, ist eine ganz andere als die, die mit der Idee einer Vierten Kritik angedeutet wird. Jürg Freudiger hat die »Kritik der teleologischen Urteilskraft« in einem Aufsatz von 1996 als »vierte Kritik« bezeichnet.360 Er beruft sich einmal auf das Faktum, daß die KdU in zwei Werke zerfällt, die beide die typischen Merkmale einer Kritik mit Analytik, Dialektik und Methodenlehre haben: Dem zweiten Werk innerhalb der KdU komme nun insbesondere die Aufgabe zu, die Lücke zwischen Natur und Freiheit durch die Lehre von den Naturzwecken, dem Endzweck und dem moralischen Gottesbeweis zu schließen. Es fällt schwer, dieser Argumentation zu folgen, denn auch die »Kritik der ästhetischen Urteilskraft« argumentiert mit dem Zweckbegriff und überbrückt auf ihre Weise die Kluft zwischen Natur und Freiheit. Kant sieht trotz der Dopplung in der Darstellung ein teleologisches Gesamtwerk, in dem die Ästhetik das subjektive, die Teleologie das objektive Zweckurteil darlegt. Des Weiteren müsste die Teleologie nicht nur die KrV und KpV zusammenführen, sondern auch die nach Freudigers Zählung dritte Kritik. Davon findet sich aber keine Spur bei Kant, sondern er betont den Parallelismus und gleichzeitig das Kontinuum der beiden Teile, die jeweils mit verschiedenem Kritik-Titel erscheinen. Im Hinblick auf das inhaltliche Endziel der kritischen Philosophie, die Bestimmung der Bestimmung als eines Endzwecks des Menschen, ist die Teleologie sicher eine Summe von theoretischer und praktischer Philosophie, aber in formaler Hinsicht gibt es das übergeordnete Problem der Erkenntnis der drei Kritiken als in sich notwendig strukturiert und vollständig – eben das kann die »Kritik der teleogischen Urteilskraft« nicht leisten. Renato Composto publizierte 1954 ein Buch mit dem Titel La quarta critica. Die These des Buches ist: Kants geschichtsphilosophische Äußerungen bilden eine vierte Kritik, und Kant ist folglich der deutsche Vico.361 François Marty bezeichnet das Opus postumum als vierte Kritik.362 Das alles kann man tun, aber auch lassen. Wir befassen uns im Folgenden (1.) mit dem Thema der Dichotomie und der binären Stufung, dann werden wir (2.) auf die Frage der Trichotomie eingehen und drittens (3.) zu der abschließenden 1, 2, 3 / 4-Struktur gelangen. Der vierte abschließende die vierte kritik | 503

Punkt ist der schon angesprochene Wandel der kritischen Philosophie in den achtziger Jahren, der zu dem Systembau von 1790 mit der neuen Kritik der reinen Vernunft als abschließender Einheit führt.

Dichotomie und binäre Stufung Dichotomie und Einheit Wie es zum Titel passt, zerfällt die Dichotomie sogleich in zwei Möglichkeiten, eine logisch-nominale und eine reale. Die erste wird dann vollzogen, wenn wir zwei Begriffe unter einen von uns gewählten Titel bringen, während die zweite den Einheitsgrund aufzeigt, der unter bestimmten Bedingungen in eine Zweiheit zerfällt. Die erste braucht nur eine äußerliche Ordnungsfunktion zu haben, die zweite betrifft die Sache selbst und bezieht sich z. B. auf die Frage der Beziehung, die die beiden Teile einer dualen Anlage untereinander haben: Wie ist es möglich, daß sich etwas strikt Unterschiedenes dennoch aufeinander beziehen kann? Die Dichotomie als philosophisches Verfahren geht auf die Platonische Dihairese besonders in den Spätdialogen zurück, sie findet ihren klassischen Ausdruck in der Arbor Porphyriana. In der JäscheEdition von Kants Logikvorlesungen steht: »§ 113. Dichotomie und Polytomie. Eine Eintheilung in zwei Glieder heißt Dichotomie; wenn sie aber mehr als zwei Glieder hat, wird sie Polytomie genannt. 1. Alle Polytomie ist empirisch;363 die Dichotomie ist die einzige Eintheilung aus Principien a priori, also die einzige primitive Eintheilung. Denn die Glieder der Eintheilung sollen einander entgegengesetzt sein und von jedem A ist doch das Gegentheil nichts mehr als non A. 2. Polytomie kann in der Logik nicht gelehrt werden, denn dazu gehört Erkenntnis des Gegenstandes. Dichotomie aber bedarf nur des Satzes des Widerspruchs, ohne den Begriff, den man eintheilen will, dem Inhalte nach, zu kennen. Die Polytomie bedarf Anschauung, entweder a priori, wie in der Mathematik (z. B. die Eintheilung der Kegelschnitte), oder empirische Anschauung, wie in der Naturbeschreibung. Doch hat die Eintheilung, aus dem Princip der Synthesis a priori, Trichotomie; nämlich 1) den Begriff, 504 | kapitel 

als die Bedingung, 2) das Bedingte, und 3) die Ableitung des letztern aus dem erstern.« (IX 147,18–148,2)364 In der KrV steht in anderem Zusammenhang der Satz: »Da aber alle Einteilung einen eingeteilten Begriff voraussetzt […].« (A 290) Die analytische Dichotomie von A und Non A setzt also einen eingeteilten Begriff, der weder A noch Non A ist, voraus.365 Wird dieser kontradiktorische Gegensatz der bloßen Verneinung näher als konträrer Gegensatz einer Opposition erkannt und bestimmt, so wird der eingeteilte Begriff zu einer eingeteilten Sache, die notwendig in den Gegensatz von A und Non-A zerfällt. In den Kantischen Werken gibt es zahlreiche Fälle dieses Typs einer inhaltlichen Dichotomie. So rekonstruiert Kant zuweilen die Dualität von Anschauung und Begriff oder Sinnlichkeit und Verstand, »die vielleicht aus einer gemeinschaftlichen, aber uns unbekannten Wurzel entspringen.« (A 15) Oder: Natur und Freiheit und ihre jeweilige Gesetzlichkeit stehen einander in einer binären Ordnung gegenüber; und in der »Kritik der teleologischen Urteilskraft« wird versucht, den eingeteilten Einheitsgrund als das Übersinnliche zu fassen; auf das dann z. B. das moralische Gesetz in mir und der bestirnte Himmel über mir verweisen. Ein weiteres Beispiel ist die Diremtion von zwei und nur zwei Kausalitätsformen, der causa finalis und der causa efficiens; sie verweist zurück auf einen ursprünglichen göttlichen Verstand, in dem die beiden Prinzipien vereinigt sind. Auf variable Inhalte beziehen sich die binären Reflexionsbegriffe »Einerleiheit und Verschiedenheit«, »Einstimmung und Widerstreit«, »Inneres und Äußeres«, »Materie und Form« zu denken (A 263–268).

Binäre Stufung Wir stießen im Laufe der Untersuchung auf Begriffe oder Strukturen, die durch folgende Merkmale gekennzeichnet waren: Es waren duale Ordnungen mit einer nicht umkehrbaren Abfolge; die erste Position markierte etwas Äußerliches oder Minderes, die zweite ein Inneres, das seinerseits das Äußerliche oder Mindere bestimmte. Zuerst stießen wird hierauf bei der komplizierten Dialektik von Hypothese und Gewißheit, Kopernikus und Newton, damit auch Erscheinung und Ding an sich.366 Es folgten die Stufung von nur die vierte kritik | 505

formaler und wesentlicher Schönheit qua äußerer Normalidee und innerem Ideal, sodann die Stufung von Groß und Erhaben; in der Moral korrespondierte dem die Zweistufigkeit von »pflichtgemäß« und »aus Pflicht«, der die Äußerlichkeit des Rechts und die Innerlichkeit der Tugend (ungefähr) zugeordnet werden kann. Die Figur ließ ich zurückverfolgen bis zur Schätzung der lebendigen Kräfte (1749) und zur Leibnizkritik der Raumschrift von 1768, gemäß der die Analysis situs zwar äußere Raumbestimmungen erfasst, aber nicht den »innere[n] Unterschied« (II 382,27) inkongruenter Gegenstücke. Ein weiterer Fall ist in der KrV der Dualismus von Anschauen und Denken, von Form der Sinnlichkeit (Transzendentale Ästhetik) und des Verstandes (Transzendentale Logik), wobei die Reihenfolge in unserer Erkenntnis nicht vertauscht werden könnte. Das Äußere der Anschauung wird von den Verstandesbegriffen – etwa dem der Einheit – bestimmt, um überhaupt real zu werden. Insofern hat es eine gewisse Berechtigung, wenn die Ästhetik zur Analytik der KrV gezogen wird.367 Die Duplizität und Stufung von Ästhetik und Logik wird in der KdU aufgenommen, die von der zwecklosen Zweckmäßigkeit zur höchsten Zwecklehre fortschreitet. Im Praktischen könnte man mit einer nicht-kantischen Wendung vom Vorscheinen der Idee sprechen, um die Dialektik von Äußerlichkeit und innerem Wesen zu kennzeichnen. Probeweise subsumierten wir hierunter auch die Dualität von äußerlicher Willkürfreiheit und wirklicher, immer moralischer Freiheit nach 1788. Der gemeinsame Grund der so vielfach belegbaren Struktur ist die Teleologie der menschlichen Vernunft. Sie führt systematisch und in einigen Fällen auch historisch von der Äußerlichkeit zur eigentlichen Bestimmung des Menschen, der Verwirklichung des Endzwecks. Der aufrechte Gang des Menschen ermöglicht gemäß der Moscati-Rezension (1771) nicht nur die Vernunftentwicklung, wie der Materialist möchte, sondern wird (auch) umgekehrt durch die Idee der Vernunft zweckmäßig gelenkt.368 Oder die Teleologie der praktischen Vernunft, die die Menschheitsgeschichte über die Ausbildung äußerer Rechtsstrukturen hin zur Verwirklichung sittlicher Freiheit und damit zur Bestimmung des Menschen führt (VIII 26,31–36; 28,35–37 u. ö.); in beiden Fällen bestimmt die Vernunft den Anfang in der Erscheinung, um sich selbst zu verwirklichen. Daßelbe gilt für die nicht umkehrbare Abfolge von äußerem 506 | kapitel 

Kirchen- und innerem Vernunftglauben; der latente Zweck des ersteren ist die Gründung der reinen Moral, die ihren Ausdruck und ihre Stütze in der gemeinsamen Vernunftreligion findet (VI 93– 147). Die Vorrede der zweiten Auflage der KrV bringt den Astronomie-Vergleich nicht (nur), um der eigenen Theorie den Glanz der Sterne zu verleihen, sondern um die KrV (und die KpV) in den Gang der Vernunft einzugliedern; die Wissenschaft beginnt mit Geometrie und Logik, also den Formen der Anschauung und des Denkens, um auf dem Umweg über Kopernikus bei Newton zu enden; diese letztere Stufung ist die äußere Vorform der Selbstfindung der Vernunft in der Stufung von KrV (die hier als bloße Hypothese à la Kopernikus fungiert, B XXII) und KpV; mit dieser letzten ist für Kant 1787 die Vernunfterkenntnis bei ihrem Gipfel, der Bestimmung des Menschen, angelangt. Die Astronomie ist die Vorstufe der Metaphysik in der teleologisch organisierten Vernunfterkenntnis.

Kants trichotomische Ordnungen »Man369 hat es bedenklich gefunden, daß meine Eintheilungen in der reinen Philosophie fast immer dreitheilig ausfallen. Das liegt aber in der Natur der Sache. Soll eine Eintheilung a priori geschehen, so wird sie analytisch sein nach dem Satze des Widerspruchs; und da ist sie jederzeit zweitheilig (quodlibet ens est A aut non A). Oder sie ist synthetisch; und wenn sie in diesem Falle aus Begriffen a priori (nicht wie in der Mathematik aus der a priori dem Begriff correspondirenden Anschauung) soll geführt werden, so muß nach demjenigen, was zu der synthetischen Einheit überhaupt erforderlich ist, nämlich 1) Bedingung, 2) ein Bedingtes. 3) der Begriff, der aus der Vereinigung des Bedingten mit seiner Bedingung entspringt, die Eintheilung nothwendig Trichotomie sein.« (V 197,18–27)370 Und in der Anwendung wird dies zuvor folgendermaßen expliziert: »Der Verstand giebt durch die Möglichkeit seiner Gesetze a priori für die Natur einen Beweis davon, daß diese von uns nur als Erscheinung erkannt werde, mithin zugleich Anzeige auf ein übersinnliches Substrat derselben, aber läßt dieses gänzlich unbestimmt. Die Urtheilskraft verschafft durch ihr Princip apriori der Beurtheilung der Natur nach möglichen besonderen Gesetzen derdie vierte kritik | 507

selben ihrem übersinnlichen Substrat (in uns sowohl als außer uns) Bestimmbarkeit durch das intellectuelle Vermögen. Die Vernunft aber giebt eben demselben durch ihr praktisches Gesetz a priori die Bestimmung; und so macht die Urtheilskraft den Übergang vom Gebiete des Naturbegriffs zu dem des Freiheitsbegriffs möglich.« (V 196,12–22) Es gibt also eine Dichotomie der möglichen Einteilungen, denn sie sind entweder analytisch oder synthetisch, eine weitere gibt es nicht. Die synthetische Einteilung hat drei Komponenten der Bedingung, des Bedingten und der Vereinigung des Bedingten mit seiner Bedingung, hat also die Struktur eines Syllogismus mit allgemeiner Prämisse, der Maior, sodann der Minor, die etwas unter die Maior als ihre Bedingung subsumiert, und der Vereinigung von beidem im Schlusssatz. Offensichtlich soll diese syllogistische Struktur auch für die Dreiteilung von Unbestimmtem, Bestimmbarem und Bestimmung gelten und hier, in unserem besonderen Fall, für die drei Vermögen des Verstandes, der Urteilskraft und der Vernunft. Die »Allgemeine Eintheilung der Rechtspflichten« führt auf die Ulpianische Trias von »Sei ein rechtlicher Mensch (honeste vive) […] Thue niemandem Unrecht (neminem laede) […] Tritt […] in eine Gesellschaft mit Andern, in welcher jedem das Seine erhalten werden kann (suum cuique tribue). […] Tritt in einen Zustand, worin Jedermann das Seine gegen jeden Anderen gesichert sein kann […]. Also sind obstehende drei classische Formeln zugleich Eintheilungsprincipien des Systems der Rechtspflichten in innere, äußere und in diejenigen, welche die Ableitung der letzteren vom Princip der ersteren durch Subsumtion enthalten.« (VI 236,24–237,12) Konkreter ist die Fundierung der Dreiheit in den Kategorien der Quantität oder Relation: Das erste Gebot bezieht sich auf die sittliche Einheit oder Substanz jeder Person, das zweite auf die Vielheit anderer Personen, zu denen die Person in ein Verhältnis tritt, das dritte auf die Allheit in der rechtlichen Einheit und Wechselwirkung des Staats. Also: Sei eine sittliche Substanz, verletze niemanden in der kausalen Beziehung zu anderen, tritt in die rechtliche Wechselwirkung mit anderen Personen. Wollte man dies näher ausführen, müsste man in die komplizierte Diskussion der Vollständigkeit der Urteils- und Kategorientafel eintreten. 508 | kapitel 

Sodann die Maximen der Aufklärung: Selber denken, sich in die Lage anderer versetzen, konsequent denken (V 294,14–295,19).371 Worin ist ihre Systematik und Vollständigkeit begründet? Man kann ausschließen, daß Kant sie sich einfach nach eigenem gustus zusammenreimt und nicht über ein Begründungsprinzip verfügt. Hier könnte einmal der Rekurs auf die Kategorien der Quantität helfen. Das Selbstdenken bezieht sich dann auf die Einheit jeder Person, sich in die Lage anderer zu versetzen eröffnet den Horizont für andere, also die Vielheit, sodann folgt die Allheit als Konsequenz aus Einheit und Vielheit. Vielleicht kommen auch die Relationskategorien in Frage: Das »selber« wäre die substantielle Einheit der Person; »in die Lage anderer versetzen« – der Austritt der Einheit in die Andersheit wäre Sache der zweiten Relationskategorie der Kausalität, und die Konsequenz des Denkens läge in der dritten Kategorie der Gemeinschaft, der wechselweisen Übereinstimmung der Gedanken. Unübersehbar ist die Nähe zu den drei transzendentalen Prinzipien der Homogeneität, der Spezifikation und der erneuten Einheitsbildung gemäß dem Prinzip der Kontinuität (A 657–658). Kant variiert das Grundmuster von Einheit, Vielheit und Allheit, hier als Aufgabe der Vernunft für die Naturforschung. Das letzte Beispiel soll die Aufgabenstellung der KrV sein, Quellen, Umfang und Grenzen der Erkenntnis aus Prinzipien festzulegen. Die von John Locke übernommene Dreiheit hat für Kant eine kanonische Geltung, er wiederholt sie und variiert sie passend zu den jeweiligen Aufgaben vielfach nach 1781. Es wird also keine zufällige Konstellation sein, die flüchtig hingeschrieben und vergessen wird, dann aber enthält sie ein Prinzip ihrer Abfolge und ihrer Vollständigkeit. Soweit ich sehe, wird dies nicht von Kant selbst formuliert, aber wir können unschwer ein Mindestkonzept von Einheit, Vielheit und Allheit erkennen. Der Ursprung ist die zweifache Quelle von Anschauung und Verstand, der Umfang wird erfüllt von den möglichen synthetischen Sätzen apriori, und die Grenzen werden durch den negativen Grenzbegriff des Noumenon gezogen; die Allheit entsteht also durch die Anwendung der Einheit auf die Vielheit.

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Die Quaternio bei Kant Unter diesem Titel sind zwei Typen zu unterscheiden; einmal gibt es einfache Vierergruppen ohne Auszeichnung eines der vier Teile, zum anderen begegnen in der Form 1, 2, 3 / 4 strukturierte Anordnungen. Für die ersteren ist ein besonders eklatantes Beispiel der Aufbau der Vorlesung zur Physischen Geographie. Auf eine Verortung der Erde im Planetensystem folgte die eigentliche Physische Geographie mit der Untersuchung der Erde im Hinblick auf die 4 Elemente, sodann die 4 Reiche der Natur und abschließend die 4 Kontinente. Hier gibt es keine Auszeichnung eines der 4 Stücke, sondern eine paritätische Aufzählung. Aber was garantiert die Vollständigkeit? In der Geographie sollte das aposteriorische Australien bald einen Strich durch die Rechnung ziehen, bei den Elementen die Entdeckung des Elementarsystems. Die für die gesamte Systematik der KrV und die Folgeschriften und auch den letzten Fall des Übergangs vom Privat- zum öffentlichen Recht entscheidende Quaternio ist natürlich die der Urteilstafel, der die Kategorientafel und damit das System der Grundsätze notwendig folgen. Quantität, Qualität, Relation und Modalität; die Modalität sei eine besondere Funktion der Urteile, »die das Unterscheidende an sich hat, daß sie nichts zum Inhalt des Urteils beiträgt, […] sondern nur den Wert der Copula in Beziehung auf das Denken überhaupt angeht.« (A 74)372 Die Modalitätsmomente oder -kategorien dürfen also nicht in die vorhergehenden drei integriert werden, sondern haben eine klare externe Position, die gegenüber den vorhergehenden eine neue, zugleich jedoch unentbehrliche Erkenntnisfunktion erfüllt. Die Ideenlehre der Dialektik schließt dagegen an die Trichotomie der Relationsurteile an, in die ja die Quantität und Qualität der Urteile eingehen, womit der Inhalt des Urteils erfüllt ist; die Modalität gehört entsprechend zwar in das System der Kategorien und Grundsätze mit ihren Anwendungen in der Erkenntniserzeugung, jedoch nicht mehr in die trichotomische Ideenlehre. Kant reflektiert in der zweiten Auflage der KrV über die Dreizahl der Kategorien: »Daß allerwärts eine gleiche Zahl der Kategorien jeder Klasse, nämlich drei sind, welches eben sowohl zum Nachdenken auffordert, da sonst alle sonst alle Einteilung a priori durch Be510 | kapitel 

griffe Dichotomie sein muß. Dazu kommt aber noch, daß die dritte Kategorie allenthalben aus der Verbindung der zweiten mit der ersten ihrer Klassen entspringt.« (B 110–111) Er geht auch hier mit keinem Wort darauf ein, daß für die jeweils drei Kategorien ein separater Titel unentbehrlich ist und daß dieser Titel nicht nur der beliebige Name oder die Ziffer einer Rubrik ist, sondern eine inhaltlich relevante Position in einer Quaternio ausmacht. Ich kenne keinen Kommentator, der nicht Kant in seiner Losung gefolgt wäre, über das vor Augen liegende Vierte nicht zu reden. Aber worin besteht die Logik dieser transzendentalen Erkenntnis-Logik, die neben der Trichotomie etwas Viertes fordert? Ein weiteres Beispiel dieser Viererordnung: Alles Interesse meiner Vernunft vereinige sich, hieß es in der KrV (A 804–805) in den drei Fragen des Wissens, Tuns und Hoffens. Kant fügt, wie wir sahen, die nie veröffentlichte vierte Frage hinzu: »Was ist der Mensch?«373 Und die oben ausführlich diskutierte Themenstellung der KrV; sie wolle die Quellen, den Umfang und die Grenzen der Metaphysik bestimmen, und dann das entscheidende Vierte: »alles aber aus Prinzipien« (A XII). Die 1, 2, 3 / 4-Ordnung der Urteilstafel in der KrV ist ausführlich dargestellt worden.374 Die Struktur gilt selbstredend auch für die Kategorientafel und das System der Grundsätze. Die vier Antinomien im Weltbegriff folgen derselben Ordnung; damit aber ist durch die Struktur entschieden, daß die letzte Antinomie nicht zu begreifen ist als ein Präludium der nachfolgenden dritten Idee, des Gottesbegriffs,375 sondern eine rückbezogene vierte Position der Fundierung der vorhergehenden drei Antinomien darstellt. In der KrV steht die Architektonik an dritter Stelle der Methodenlehre, aber es folgt eine vierte Position, die resümierende »Geschichte der reinen Vernunft« (A 852–856). Vgl. Refl 4858: »Die transcendentalphilosophie erfodert zuvorderst Critick (sie von der empirischen zu unterscheiden). 2. Disciplin. 3. Canon. 4. Architectonic.« (XVIII 11,21–23) In der Reflexion 460 (XV 190,2–9) werden zuerst die Komponenten der Vergleichung vorgestellt: Einheit und Verschiedenheit, sie machen die Eckpunkte unserer Erkenntnis aus. »Aber die Verknüpfung unserer Erkenntnis ist das schweereste, vornemlich um ein gantz gebäude daraus zu machen: architectonic.« die vierte kritik | 511

Zur Aufklärung werde nichts erfordert als Freiheit, »und zwar die unschädlichste unter allem, was nur Freiheit heißen mag, nämlich die: von seiner Vernunft in allen Stücken öffentlichen Gebrauch zu machen. Nun höre ich von allen Seiten rufen: räsonnirt nicht! Der Offizier sagt: räsonnirt nicht, sondern exercirt! Der Finanzrath: räsonnirt nicht, sondern bezahlt! Der Geistliche: räsonnirt nicht, sondern glaubt! (Nur ein einziger Herr in der Welt sagt: räsonnirt, so viel ihr wollt, und worüber ihr wollt; aber gehorcht!)« (VIII 36,34–37,4) Mit den drei Berufen sind die drei Stände des Adels, des steuerzahlenden Bürgertums und der Kirche präsent; aber es tritt der Vierte hinzu, der König.376 Ehrsucht, Herrschsucht, Habsucht; es wurde schon oben darauf hingewiesen, daß auch hier in der Anthropologie in pragmatischer Hinsicht ein Vereinigungspunkt genannt wird, das »Vermögen, auf andere Einfluß zu haben« (VII 271,22)377. Kant hätte den Vereinigungspunkt auch im Kampf um öffentliche Anerkennung lokalisieren können: Die anderen dazu nötigen, ehrfürchtig, demütig und anspruchslos zum Geehrten, Herrschenden und Reichen aufzublicken. In der Grundlegung zur Metaphysik der Sitten finden wir den Hinweis: »Die alte griechische Philosophie teilte sich in drei Wissenschaften ab: Die Physik, die Ethik und die Logik. Diese Eintheilung ist der Natur der Sache vollkommen angemessen, und man hat an ihr nichts zu verbessern, als etwa nur das Princip derselben hinzu zu thun, um sich auf solche Art theils ihrer Vollständigkeit zu versichern, theils die nothwendigen Unterabtheilungen bestimmen zu können.« (IV 387,2–7)378 Hier haben wir also den Fall einer triadischen Ordnung, der man jedoch viertens ein Prinzip hinzufügen müsse, aus dem die drei Komponenten und deren Vollständigkeit erkannt werden kann. Kant formuliert hier so, daß eigentlich jede systematische Trias durch ein Prinzip ergänzt werden muß, aus dem sie sich herleitet. Genau das ist die Funktion der vierten Kritik, so weit wir es dem Text der Einleitung in die KdU entnehmen können. In der Grundlegung selbst werden »drei Arten, das Princip der Sittlichkeit vorzustellen« (IV 436,8) entwickelt; diese drei Vorstellungsarten sind fundiert in der »allgemeine[n] Formel des kategorischen Imperativs« (IV 436,29–30), also hält sich Kant wieder an das Schema 1, 2, 3 / 4. 512 | kapitel 

Im Mutmaßlichen Anfang der Menschengeschichte (1786) tut die Menschheit drei Schritte im Naturreich unter der Leitung einer instrumentellen Vernunft, der letzte der drei besteht in der Erwartung des Künftigen; damit ist der Lebenszyklus abgeschlossen. »Der vierte und letzte Schritt, den die den Menschen über die Gesellschaft mit den Thieren gänzlich erhebende Vernunft that, war: daß er (wiewohl nur dunkel) begriff, er sei eigentlich der Zweck der Natur, […] Und so war der Mensch in eine Gleichheit mit allen vernünftigen Wesen, von welchem Range sie auch sein mögen, getreten […]: nämlich in Ansehung des Anspruchs selbst Zweck zu sein, von jedem anderen auch als ein solcher geschätzt und von keinem bloß als Mittel zu anderen Zwecken gebraucht zu werden.« (VIII 114,3– 24) An der vierten Stelle steht also die sittliche Bestimmung des Menschen.379 Die Menschheitsstufung folgt musterhaft der 1, 2, 3 / 4-Ordnung. Die KpV enthält in der Analytik die drei Titel des Grundsatzes, der Begriffe und der Ästhetik; damit ist die Bestimmung der reinen praktischen Vernunft abgeschlossen; aber, so hieß es am Anfang der nachfolgenden Dialektik, jetzt könne alles noch phantastisch und leer sein, falls sich nicht die praktische Realität des höchsten Gutes erweisen lasse. Erst mit dieser vierten Position, die in der Kategorientafel der Modalität entspricht, kommt also den vorhergehenden »prädikativen« Bestimmungen das Sein zu; das architektonische Muster der KpV entspricht also genau der 1, 2, 3 / 4-Anlage. Wir kehren noch einmal zu dem eingangs zitierten Fall aus der Einleitung in die KdU zurück, in dem Kant seine Dreiteilungen verteidigt, dennoch spricht er von einer »synthetischen Einheit« (V 197,25), die nicht identisch ist mit einem der drei Teile der Trichotomien, sondern sie insgesamt ausmacht und bzw. oder ermöglicht. Es scheint, daß die synthetische Einheit des Bewusstseins als die vierte Position der Statthalter der vierten Kritik ist und daß Kant in seiner Verteidigung der triadischen Anordnung zwar diese vierte Einheit nicht thematisiert, aber sogleich bewusst benutzt, denn der oben herangezogene Text steht in einer Anmerkung zum Satz: »Folgende Tafel kann die Übersicht aller oberen Vermögen ihrer systematischen Einheit nach erleichtern.« (V 197,15–17) In der Tafel gibt es vier Kolumnen; in jeder werden vertikal unter einem Titel drei Gebiete genannt. Jeder der vier Titel stellt also die die vierte kritik | 513

vorausgesetzte »synthetische Einheit« dar, die notwendig in drei und nur drei Stücke zerfällt. Damit ergibt sich eine Konfiguration, die formal der der Urteils- und Kategorientafel gleicht. In der Tafel der KdU wird in der vierten horizontalen Position übergegangen zur »Anwendung auf / Natur, Kunst, Freiheit« (V 198), die inhaltliche Bestimmung muß also zuvor horizontal in 1–3 abgeschlossen sein, so daß am Ende die Form ihrer Realisierung betrachtet wird. Hierin gleicht die Anlage den meisten Logiken der Neuzeit, die nach der dreiteiligen Erörterung von Begriffen, Urteilen und Schlüssen im vierten Teil zur Anwendung in der Methodenlehre schreiten.380 »Zur schönen Kunst würden also Einbildungskraft, Verstand, Geist und Geschmack erforderlich sein« mit einer Anmerkung: »Die drei ersten Vermögen bekommen durch das vierte allererst ihre Vereinigung.« (V 320,6–7 und 28–29) Die drei Vermögen können sich in ihrer Vollständigkeit nicht selbst ausweisen, sondern bedürfen einer vierten Position, die sie zusammenfasst und begründet; diese Vereinigung ist keine zufällige Hinzufügung, sondern sie ermöglicht erst die Dreiheit als solche und ist daher notwendig – wer sie nicht in dieser Funktion betrachtet, hat den Kantischen Gedanken nicht verstanden. In der nachfolgenden »Eintheilung der schönen Künste« werden drei Künste unterschieden: die der Artikulation (Worte), Gestikulation (Geberdung) und des Tones (Modulation); natürlich folgt das Vierte: »Nur die Verbindung dieser drei Arten des Ausdrucks macht die vollständige Mittheilung des Sprechenden aus.« (V 320,23–25). Dies letztere wird ausgeführt im § 52: »Von der Verbindung der schönen Künste in einem und demselben Producte.« (V 325,23–24) Die Trias bedarf einer Vereinigung in einem Vierten. Nach der neuen Lehre der KdU kommt jedem der drei menschlichen Vermögen eine Kritik zu; jedes Vermögen eröffnet eine Antinomie, die jeweils nötigt, »über das Sinnliche hinaus zu sehen und im Übersinnlichen den Vereinigungspunkt aller unserer Vermögen a priori zu suchen.« (V 341,30–31)381 Hier wird die Einheit der Dreiheit ontologisch im Übersinnlichen angenommen, wieder keine beliebige Zutat, sondern ein strukturell notwendiges Viertes. Es ist das übersinnliche Substrat, »auf welches in Beziehung alle unsere Erkenntnisvermögen zusammenstimmend zu machen, der 514 | kapitel 

letzte durch das Intelligible unserer Natur gegebene Zweck ist, […].« (V 344,14–16) Und hier tritt eine Vernunft auf, die vor und über den drei Erkenntnisvermögen steht: »Daß es drei Arten der Antinomie giebt, hat seinen Grund darin, daß es drei Erkenntnisvermögen: Verstand, Urtheilskraft und Vernunft, giebt, deren jedes (als oberes Erkenntnisvermögen) seine Principien a priori haben muß; da denn die Vernunft, sofern sie über diese Principien selbst und ihren Gebrauch urtheilt, in Ansehung ihrer aller zu dem gegebenen Bedingten unnachlaßlich das Unbedingte fordert […].« (V 345,3–8) Der Gegenstand dieser Vernunft, die nicht identisch sein kann mit dem dritten der genannten Erkenntnisvermögen, ist die Dreiheit und ihre Fundierung im Übersinnlichen. Neben diese Vorstellung der paritätischen Trias, die in einer vierten Dimension begründet ist, tritt das Modell einer inneren Verschränkung der drei Komponenten: »[…] so zeigen sich drei Ideen: erstlich des Übersinnlichen überhaupt ohne weitere Bestimmung als Substrats der Natur; zweitens eben desselben, als Princips der subjektiven Zweckmäßigkeit der Natur für unser Erkenntnisvermögen; drittens eben desselben, als Princips der Zwecke der Freiheit und Princips der Übereinstimmung derselben mit jener im Sittlichen.« (V 346,15–20) Hier scheint die Trias in der Zuordnung von Unbestimmbarkeit, Bestimmbarkeit und Bestimmung (dazu V 196,12–22) autark und ohne Bedürfnis einer substantiellen Einheit im Vierten. Es gibt nur drei theoretische Beweise des Daseins Gottes, die jedoch ihr Ziel nicht erreichen (A 590–591); der vierte Beweis, bei dem statt der fehlenden Anschauung das moralische Gesetz als Grundlage fungiert, kann die objektive praktische Realität Gottes erweisen, wenn auch nur in Bezug auf den Glauben des moralisch Handelnden.382 Der Glaube an einen dreieinigen Gott fasst ihn als Einheit einer juridischen Gewaltenteilung, dies liege »in dem Begriffe eines Volks als eines gemeinen Wesens, worin eine solche dreifache obere Gewalt (pouvoir) jederzeit gedacht werden muß, nur daß dieses hier als ethisch vorgestellt wird, daher diese dreifache Qualität des moralischen Oberhaupts des menschlichen Geschlechts in einem und demselben Wesen vereinigt gedacht werden kann, die in einem juridisch-bürgerlichen Staate nothwendig unter drei verschiedenen Subjecten vertheilt sein müßte.« (VI 140,5–11) Der Vierte: Die Menschheit. die vierte kritik | 515

Aber gibt es außer Gottes drei Potenzen eine vierte Substanz als synthetische Einheit der drei Attribute oder Gewalten? Wir betreten hier ein Terrain der Theologie, das im Mittelalter umstritten war, in der Aufklärung jedoch kaum noch interessierte. Im Neuen Testament gibt es Verweise auf die Trinitätslehre; so heißt es am Ende des Matthäus-Evangeliums: »Geht und lehrt alle Völker und tauft die Menschen im Namen des Vaters und des Sohnes und des Heiligen Geistes«383. Die theologische Diskussion bezog sich nicht nur auf die innere Rangstufung und Beziehung, sondern auch auf die Frage, ob die drei Personen in einer substanziellen Einheit stehen, ob Gott die drei Personen nicht nur ist, sondern sie hat, ob das Ganze mit seinen Teilen identisch ist oder mehr ist als sie. Sollten alle Völker und Menschen das Vierte sein, dem die Trinität ihr Dasein verdankt? Wer befand über die Trinität, wenn nicht die sich selbst verleugnende Kirche? Die »Metaphysischen Anfangsgründe der Rechtslehre« (1797) behandeln im ersten Teil in drei Hauptstücken das – noch provisorische – Privatrecht, im zweiten Teil, dem öffentlichen Recht, wird gezeigt, wie das Privatrecht als peremtorisches zu verwirklichen ist. Es ist genau die Anlage der KpV mit ihrer dreiteiligen, vielleicht noch chimärischen Analytik, auf die dann die Dialektik folgt, die dem höchsten Gut und damit der gesamten praktischen Vernunft allererst den Modus der peremtorischen Wirklichkeit verleiht. Im Privatrecht selbst handelt das wenig beachtete dritte Hauptstück »Von der subjektiv-bedingten Erwerbung durch den Ausspruch einer öffentlichen Gerichtsbarkeit.« (VI 296,12–13) Hier gibt es vier und nach Kant nur vier mögliche Fälle, »sie sind 1) der Schenkungsvertrag (pactum donationis). 2) Der Leihvertrag (commodatum). 3) Die Wiedererlangung (vindicatio). 4) Die Vereidigung (iuramentum).« (VI 297,17–20) Hans Kiefner hat zu Recht moniert, daß der vierte Punkt nicht zum Thema gehöre, weil die »cautio iuratoria« den Staat bereits voraussetze, also nicht in die Antinomie von status naturalis und status civilis gehöre.384 Nun wird man annehmen, daß Kant dies gesehen und in Kauf genommen hat, weil er auf eine bestimmte systematische Ordnung abzielte, die man nur mit der 1, 2, 3 / 4-Struktur als ein Apriori entdeckt. Es muß auffallen, daß die ersten drei Punkte auf einen Inhalt zielen, der rechtlich transferiert wird und dessen rechtliche Zugehörigkeit 516 | kapitel 

nach Kant einer doppelten Betrachtung unterliegt. Dieser transferierte Inhalt fehlt jedoch beim Eid. Er betrifft das Verhältnis zum Rechtsverfahren überhaupt im Hinblick auf die erstrebte Sicherheit. »Ein jeder Staat enthält drei Gewalten in sich, d. i. den allgemein vereinigten Willen in dreifacher Person (trias politica): der Herrschergewalt (Souveränität) in der des Gesetzgebers, die vollziehende Gewalt in der des Regierers (zu Folge dem Gesetz) und die rechtsprechende Gewalt (als Zuerkennung des Seinen eines jeden nach dem Gesetz) in der Person des Richters (potestas legislatoria, rectoria et iudiciaria) gleich den drei Sätzen in einem praktischen Vernunftschluß: dem Obersatz, der das Gesetz jenes Willens, dem Untersatz, der das Gebot des Verfahrens nach dem Gesetz, d. i. das Princip der Subsumtion unter denselben, und dem Schlußsatz, der den Rechtspruch (die Sentenz) enthält, was im vorkommenden Fall Rechtens ist.« (VI 313,17–27) Das muß festgelegt sein in einer vierten Instanz, der Verfassung, die Kant als solche nicht erwähnt. Und wer ist der Législateur, wer ist der Vierte?385 Eine Viererordnung mit der Sonderstellung eines der Elemente gibt es klarerweise in der Universitätsstruktur, die sich Kant im Streit der Fakultäten zueigen macht. Es gibt vier Fakultäten, die Theologie, Jurisprudenz und Medizin bilden die oberen, die untere, vierte, ist die Philosophische Fakultät mit einem Studium, das für die drei oberen die Grundlagen vermittelt. Hier haben wir also eine Quaternio des Typs 1, 2, 3 / 4.386 Diese vierte synthetische Einheit kommt nun tatsächlich in einer Reflexion zum Zuge, die allgemein von Einteilungen spricht und die transzendentale Synthesis als Einheit einer Tetrachotomie begreift. Ich setze den schwierigen, in den späten Logik-Reflexionen versteckten Text hierher: »Alle Eintheilung ist entweder nach dem Princip Analytischer Urtheile oder synthetischer. Jene nach dem principio exclusi medii, diese nach dem Princip des Grundes in der Verbindung des Verschiedenen. Die erste ist Dichotomie, die zweyte polytomie. Bey Eintheilung der Begriffe, die apriori eine Synthesis enthalten oder vorschreiben, wird entweder die Synthesis eingetheilt oder ein synthetischer Begrif a priori eingetheilt; beides gehört zur transcendentalen Division. Die erste ist tetrachotomie, die zweyte trichotomie. Die zweyte ist die decompositio logica: da erstdie vierte kritik | 517

lich etwas Gesetzt, zweytens etwas anderes überdem gesetzt oder aufgehoben, die composition von beyden vorgestellt wird. Die synthetische Einheit des Bewustseyns ist der transcendentale Grund der Moglichkeit synthetischer Urtheile a priori. Ich verbinde nämlich A mit dem Bewustseyn. Dann B (entweder blos als non A vorgestellt oder auch als etwas, was dazu kommt). Drittens die Einheit beyderley distributiven Bewustseyns in ein collectives, d. i. in den Begrif eines Dinges. Also erstlich die Analytische Einheit des Bewustseyns von A und non A (= B) und dann die synthetische Einheit beyder. […].« (XVI 622,16–623,14 – Refl. 3030)387 Hier wird die Tetratochotomie, wie sie Kant nennt, formal vorgestellt, es fehlt jedoch ein Hinweis und eine Erklärung der durchgängigen Präsenz in Kants System. Man kann die Trichotomien untersuchen im Hinblick auf die Frage, ob die von ihnen vorausgesetzte eingeteilte Einheit lediglich eine analytische Nominalfunktion hat oder ob sie als synthetische substanzielle Einheit fungiert, aus der sich die drei Teile ergeben oder in der sie zu ihrer eigentlichen Wirklichkeit kommen. Im ersten Fall ist das Ganze nicht mehr als seine drei Teile, im zweiten Fall geht es nicht in ihnen auf, sondern ist außer seinen drei Teilen eine separate Entität. Kant rechnet mit drei physikalisch bestimmbaren Zuständen der Natur: Der Luft, dem Flüssigen und den festen Körpern, aber so wie heute als Viertes das Plasma hinzutritt, so bei Kant zeitlebens der physikalisch nicht mehr bestimmbare Wärmestoff oder Äther, den die zeitgenössische Physik schon aufgegeben hatte. Im Opus postumum steht die Anmerkung: »4. die [sc. Kraft] des Aethers welcher alle durchdringt und eine Einheit ausmacht.« (XXI 645,12–13). Kants Äther im Opus postumum ist eine immanente Materie, die jedoch nicht im System der Grundätze des Verstandes erfassbar ist, sondern die umgekehrt erst die räumliche Dingwelt ermöglicht; sie ist nicht luftartig, nicht flüssig und nicht fest, sondern bildet einen vierten, alles durchdringenden, alles zum Erfahrungsgegenstand qualifizierenden Urstoff. Dem Nachweis dieses überkategorialen, alles durchdringenden Äthers ist ein großer Teil des Opus postumum gewidmet; er übernimmt die meisten seiner Funktionen vom stoischen Zeus-Äther, an den auch Hölderlin seine Äther-Philosophie anschließt.388 518 | kapitel 

Platon hatte im Ion vom Gott als dem Vierten geschrieben, der die Seele der drei, der Dichter, Rhapsoden und Zuhörer, durchdringe und sie bewege, wohin er wolle.389 Und Goethe, der wie wenige sensibel für die Position des Vierten war, schreibt am 3. Januar 1817 an die Erbgroßherzogin Maria Paulowna, Kant kenne als Hauptkräfte unseres Vorstellungsvermögens nur Sinnlichkeit, Verstand und Vernunft, habe dabei aber die Phantasie vergessen, wodurch eine Lücke entstehe. Erst die »alles durchdringende« Phantasie vollende das System, nachdem schon die Vernunft »alles zusammenfasst, sich über alles erhebt, nichts vernachlässigt.«390 Die neue Kritik wird als synthetische Einheit von den drei Kritiken vorausgesetzt. Dazu noch folgende ergänzende Überlegung. Die KrV spricht von einer »teleologia rationis humanae« (A 839); das Thema wird in der KpV aufgegriffen unter dem Titel »Von der der praktischen Bestimmung des Menschen weislich angemessenen Proportion seiner Erkenntnisvermögen« (V 146,14–16), und die KdU bestimmt die Anlage des menschlichen Gemüts als eines Teils der Natur (V 409,14: »zu der wir selbst mitgehören«) als zweckmäßig für unsere moralische Bestimmung. Hiermit tritt neben die theoretisch-formale Notwendigkeit der drei Vermögen eine finale Notwendigkeit. Zu den Aufgaben einer auszuführenden Vierten Kritik dürfte die Reflektion über das Verhältnis von theoretischer und praktischer, formaler und finaler Bestimmung in der vollständigen »ratio humana« gehören. Kant benutzt exzessiv die 1, 2, 3, / 4-Struktur, thematisiert sie aber in seinen Publikationen nicht für sich. Ein Grund für dieses Schweigen könnte in folgendem Sachverhalt liegen. Die von ihm vorausgesetzte und benutzte Logik ist die der Lehrbücher, in denen das sog. Organon des Aristoteles tradiert wurde. In deren Begriffs-, Urteils- und Schlußlogik bildet der Schluß die höchste logische Form, die bei Kant der Vernunft zukommt, während der Verstand das Vermögen der Begriffe und Urteile ist. Nun erreicht der Schluß eine trichotomische Ordnung von zwei Prämissen und einer Konklusion, das Vierte ist damit jedoch logisch nicht mehr erreichbar, es fällt gewissermaßen aus der Logik heraus. So gibt es eine notwendige Erklärungslücke beim Überschritt aus der Trichotomie in die Viererordnung, auf die jedoch die Triadik als ihrer Vereinigung und die vierte kritik | 519

Begründung angewiesen ist. (In den Logiklehrbüchern folgte als Viertes die Methodenlehre). »Man hat es bedenklich gefunden, daß meine Eintheilungen in der reinen Philosophie fast immer dreitheilig ausfallen. Das liegt aber in der Natur der Sache.« So lautete der oben aus der KdU zitierte Satz. Nach unserem Überblick erstaunt es, daß man es nicht bedenklich gefunden hat, daß Kants Einteilungen fast immer tetradisch ausfallen. Sowohl die Kantleser wie auch Kant selbst sind auf die Dreizahl fixiert und blenden das Faktum aus, daß zur Trias fast konstant, nachlesbar, ein Viertes hinzukommt. Aus dieser Verdrängung des Vierten erklärt sich vielleicht auch die Fixierung der KantInterpreten auf die Trichotomie, die sich besonders in der Interpretation der Urteils- und Kategorientafel beobachten lässt.391 Die Zäsur zwischen den ersten drei und dem letzten Titel, auf die Kant ausdrücklich aufmerksam macht und die den Leser vor die Konfiguration 1, 2, 3 / 4 stellt, wird zugunsten der logisch gut handhabbaren Trichotomie nicht beachtet und entsprechend auch nicht die Frage nach dem Verhältnis der Drei- zur Vierteilung gestellt. Interpreten aus der analytischen Richtung der Philosophie tun sich generell schwer, das konstellative Denken Kants und anderer Autoren überhaupt zur Kenntnis zu nehmen, weil es nicht in das Prokrustesbrett der mathematischen Logik oder die freie Natur der Umgangssprache passt. Warum die Kantforschung bei der Viererstruktur gezielt unaufmerksam war, muß andere, unphilosophische Gründe haben. Der Physiker Wolfgang Pauli hat in einem anderen Zusammenhang dieselbe Beobachtung zur 1, 2, 3 / 4-Figur gemacht. Pauli hatte die triadischen Organisationen bei Johannes Kepler (1571–1630) studiert und stieß mit Staunen auf den Vierer-Philosophen Robert Fludd (1574–1637). »Sein Kosmos ist in vier Sphären eingeteilt, bei denen es auch eine unterste gibt, in der sich der Teufel eingerichtet hat. Natürlich kennt auch Fludd die christliche Dreifaltigkeit, aber er sieht die Welt als Spiegelbild des trinitarischen Gottes, der sich in ihr offenbart. Dies erlaubt in geometrischer Hinsicht die Darstellung der Welt als Viereck, das aus zwei Dreiecken mit einer gemeinsamen Seite (der Diagonalen des Vierecks). Fludd spricht ausdrücklich von der Würde der Vierzahl, die er als göttlich ansieht.«392 Wolfgang Pauli erörtert das »Problem des Übergangs von der Dreizahl 520 | kapitel 

zur Vierzahl«393, natürlich nicht im Sinn des mathematischen Zahlenstrahls oder der pythagoreischen Tetraktys, sondern der Konfiguration 1, 2, 3 / 4. Robert Fludd war Rosenkreuzer und genügt damit nicht den wissenschaftlichen Maßstäben der Neuzeit; Pauli war ein genialer Physiker und hatte zugleich Kontakt mit C. G. Jung und seiner Schülerin Marie-Louise von Franz; er legte jedoch Wert auf die Feststellung, daß ihn die rein theoretischen Probleme der Physik auf die Frage der Korrelation von Dreiheit und Vierheit geführt haben, nicht die Psychologie. Wir stoßen bei Kant auf eine Vielzahl von Beispielen für die von Platon bis Pauli immer erneut angesprochene Konstellation 1, 2, 3 / 4. Daß in der vierten Position eine schwer zu artikulierende Funktion oder Position liegt, ist bei den Beispielen evident: Wie ist der Übergang von der Dreier- zur Viererordnung genau zu begründen? Wie kann das Vierte die Vollständigkeit der Trichotomie begründen, wenn es dazu doch als Viertes hinzutreten muß und so die Vollständigkeit bestreitet? Damit hängt eine weitere Schwierigkeit zusammen: Haben wir es tatsächlich mit einem einheitlichen Phänomen zu tun? Ist die Vierte Kritik nicht nur isomorph, sondern auch irgendwie inhaltlich vergleichbar mit anderen Viererordnungen, die sich bei Kant oder anderen Autoren finden lassen? Sie müssten einem Apriori entspringen, das jenseits der Urteilstafel liegt, weil diese ihm schon stillschweigend folgt.

Die Vierte Kritik als Konsequenz der Entwicklung von 1781 bis 1790 Wie kommt es zu der Innovation von 1790, die die eigentliche, nie geschriebene Kritik der reinen Vernunft in eine Kritik des Verstandes, der Urteilskraft und der Vernunft zerfallen lässt und damit den Schriften von 1781 bzw. 1787, 1790 und 1788 ihre Systemstelle in einer gemeinsamen, nur als Idee, nicht als Buch auftretenden Gesamtkritik der reinen Vernunft zuweist? Das Problem einer Vierten Kritik ist das Evolutionsprodukt der achtziger Jahre in einem multiplen Geflecht von Gründen und Motiven, die Kant zu der Revision der Darstellung und damit auch eines Teils des Inhalts seiner Lehre die vierte kritik | 521

veranlassten; wir können nur den Wandel an einigen Stellen registrieren und über die Motive unsere Konjekturen anstellen. Vorweg: Die drei Kritiken beziehen sich auf den Grundriß, der mit der Zweiteilung von »mundus sensibilis« und »mundus intelligibilis« 1770 geliefert wird; auf der einen Seite steht die materielle zweckfreie Welt Epikurs unter Naturgesetzen (KrV), auf der anderen Seite die rein intelligible Zweckwelt der Moral unter Freiheitsgesetzen (KpV), und die KdU überbrückt die Kluft mit der paradoxen, nur subjektiven Vorstellung von Naturzwecken. Bedarf es einer externen Reflexionsebene, in der dieses Totum näher begründet wird, also einer Vierten Kritik? Das Jahr 1788 konfrontiert den Leser mit einer zweiten Kritik, die sich als gleichwertige Kritik der praktischen Vernunft der ursprünglichen Kritik der theoretischen Vernunft entgegenstellt; in dieser Opposition ändert sich notwendig die Stellung und Kompetenz der soror maior und Mutter aller Kritiken. Sie bleibt immer »die« Kritik, zugleich muß sie sich auf ihr eigentümliches Feld der spekulativen Vernunft zurückziehen, weil das praktische Gebiet der Freiheit nun durch die zweite Kritik besetzt wird. Der Rückzug der ersten Kritik auf die Theorie lässt sich bereits 1783 in den Prolegomena beobachten. Ein wichtiger Punkt fiel uns schon oben auf; die Prolegomena verzichten auf die Vertiefung des Gedankens einer Jurisdiktion der reinen Vernunft. Die Konzeption der KrV als eines Gerichtshofs umfasste das ganze Werk, die Ästhetik, Analytik, Dialektik und Methodenlehre; sie war im Vernunftinteresse jedes Menschen als eines frei urteilenden Wesens begründet und bildete eine der Gewährleistungen der Einheit der Vernunft und ihrer Selbstbestimmung. Beides wird von den Prolegomena aufgekündigt. Aber damit leiten sie eine Entwicklung ein, in der das Erkenntnisurteil nicht mehr im Bereich des ursprünglichen Vernunftinteresses des Menschen steht, sondern sich emanzipiert und nur noch der gewissermaßen anonymen Erkenntnis verpflichtet ist. Kant hat diese Entwicklung schon vor 1781 eingeleitet, indem er die Spontaneität des Verstandes von der transzendentalen und dann auch moralischen Freiheit der praktischen Vernunft trennte, aber die Prolegomena verfestigen diese Trennung und entlassen die Naturwissenschaften aus der Jurisdiktion der Vernunft; die Funktion der Ideen als regulativer Prinzipien bleibt zwar erhalten (IV 348,29– 522 | kapitel 

350,16), aber mit der positiven Aufnahme von Gott, Freiheit und Unsterblichkeit in die Moralphilosophie wird dieses Lehrstück der ersten Kritik immer stärker beiseite gedrängt. Die ursprünglich rechtliche Deduktion der Verstandesbegriffe wird jetzt auf das theoretische Problem des synthetischen Satzes apriori reduziert, man könnte also verkürzt einfach von einer synthetischen Deduktion sprechen, die an die Stelle der Wolffschen analytischen tritt. »Die eigentliche, mit schulgerechter Präcision ausgedrückte Aufgabe, auf die alles ankommt, ist also: Wie sind synthetische Sätze a priori möglich?« (IV 276,10–12) Die KrV, so die Auffassung der Prolegomena, habe sich diese Aufgabe gestellt und sie gelöst. Daß dies die Pointe der KrV sei, findet man nicht in den Vorarbeiten und nicht in der KrV selbst, weil sie ihre titelgemäße Aufgabe in der Kritik von nicht haltbaren Behauptungen der Metaphysik sah; in den Prolegomena dagegen wird die Analytik und ihre positive Erkenntnisbegründung zum Zentrum. Die Frage nach dem »Wie« der Möglichkeit der synthetischen Sätze a priori setzt das »Daß« voraus; dies wiederum passt zur sog. analytischen Methode, die nach dem umgekehrten Vorgehen der KrV das Faktum synthetischer Sätze a priori voraussetzt (IV 263,27–29; 274,27–275,19); also: Es gibt das unbezweifelbare Faktum der Wissenschaften, etwa der Mathematik und der Naturwissenschaft.394 Die Frage ist so gestellt, daß sie den vollständigen Aufschluß der Möglichkeit der genannten Sätze fordert; die Dialektik ist damit beweistechnisch überflüssig. In der KrV von 1787 wird wiederum die Dialektik zur bloßen Gegenprobe (B XX), sicher eine Fehlinterpretation der 1. Auflage, denn in einer Gegenprobe dürfte von der Analytik kein Gebrauch gemacht werden, davon kann jedoch 1781 keine Rede sein, denn die Dialektik lässt vielfach die Ergebnisse der Analytik einfließen. In den Prolegomena liegt also schon der Keim zu der Metamorphose, die aus der KrV eine »Kritik des reinen Verstandes« werden lässt; und die Kritik wird demnach immer dann gefordert, wenn allgemeine und notwendige Behauptungen apriori aufgestellt werden, auch dann also, wenn die kritische Erörterung die Prätention bestätigt. Die Grundlegung zur Metaphysik der Sitten ist so konzipiert, daß die ersten beiden Abschnitte das einzig mögliche Prinzip der Sittlichkeit exponieren und der dritte Abschnitt die objektive praktidie vierte kritik | 523

sche Realität deduziert.395 Bei allen Interpretationsschwierigkeiten ist doch eines nicht umstritten: In der Beweisführung des dritten Abschnitts macht sich die Moralphilosophie abhängig von der KrV; sie beruft sich auf die dort bewiesene Dichotomie von Ding an sich und Erscheinung und den Vorrang des ersteren vor dem letzteren. Hier kann die Moralphilosophie also noch als ein näher ausgeführtes Teilstück der ersten Kritik begriffen werden, sie verlässt nicht deren abgestecktes Territorium und beruft sich im zentralen Realitätsnachweis auf die Lehre von 1781. Diese Abhängigkeit wird von der KpV gekappt; 1788 setzt Kant mit dem Machtspruch des kategorischen Imperativs ein, der von sich aus die Unterscheidung von Ding an sich und Erscheinung erzwingt. Kant mag zwar sagen, daß die Sittlichkeit ohne die vorgängige theoretische Ermöglichung einer nicht-phänomenalen Realität nicht möglich wäre, aber wie kann der kategorische Imperativ auf sein Debut als Faktum der Vernunft noch verzichten? Was soll aus einem bezeugten Faktum werden, wenn es als leer erkannt wird? Umgekehrt kann er sich des Einverständnisses der Theorie auch dadurch nicht vergewissern, daß er sie, die Theorie, vorweg zu dem passenden Ergebnis genötigt hätte. Die Theorie ist keine Auftragsforschung, die der Moral die Lösungen zuarbeitet, die diese sich wünscht. Hier reißt eine Kluft mitten in der Vernunft auf, die tiefer reicht als ihre Dialektik, die vor 1781 zur Kritik aufrief. Die KpV emanzipiert sich von der Erkenntnis. Das Gute ist nicht als solches gut und ist kein Gegenstand originärer Erkenntnis, sondern hängt ab vom gesetzlich bestimmten Willen, der eine Welt sui generis kreiert. Kant hatte in den sechziger Jahren die englische Gefühlsmoral gegen den Wolffischen Rationalismus ausgespielt und damit erreicht, daß die Moral die Sache jedes fühlenden, d. h. jedes Menschen wird und daß keiner Erkenntniselite ein sittliches Privileg zukommt. Und dann hatte er zweitens den »Stein der Weisen«396 entdeckt und das irrationale Gefühl in eine Sache der Vernunft zurückverwandelt, indem er es zum Produkt des moralischen Gesetzes erklärte: Wir sind moralisch zwar unmittelbar durch ein Gefühl motiviert, dieses verdankt sich aber der praktischen Vernunft: Alchemie auf höchstem Niveau in der Rückverwandlung des irrationalen und immer nur privaten naturbedingten Gefühls in ein Erzeugnis der allgemeinen souveränen Vernunft, 524 | kapitel 

der auf diesem Weg die Schubkraft des principium executionis zuwächst. Die Sittlichkeit hat sich von der theoretischen Erkenntnis befreit; diese ist nicht befugt, über sie räsonnierend zu befinden, sondern hat das Faktum als Machtspruch zur Kenntnis zu nehmen. Durch diese Trennung von Imperativ und Erkenntnis wird der Imperativ aus der Sicht der Theorie irrational. Es gibt zwar eine interne höchste Rationalität und Gesetzmäßigkeit, aber sie spielt sich gewissermaßen in einer anderen Welt ab, die vom Blickpunkt unserer gemeinsamen Naturwelt in sich verkehrt ist. Das Sittengesetz ist nicht nur autonom, sondern auch autark, denn es generiert aus eigener Kraft die naturfreie Wertsphäre des Guten und Bösen, es generiert eigene Kräfte als Triebfedern im Gefühl, und es verleiht den Gegenständen seiner unabdingbaren Hoffnung eine objektive Realität sui generis. Zum Umbau des Systems, den die KdU verkündet, gehört des weiteren die neue Vorstellung von 1788, die »Transzendentale Ästhetik« der KrV sei ein Teil der »Transzendentalen Analytik«. Die erste Auflage der KrV stellte die »Transzendentale Ästhetik« neben die »Transzendentale Logik«, ohne die Frage zu beantworten, was eigentlich mit den beiden Teilen der »Elementarlehre«, der Ästhetik und der Logik, Anschauung und Begriff, sachlich eingeteilt wird. Ist die Einheit von beidem das Gemüt? Ist es das menschliche Bewusstsein? Könnte die Reihenfolge vertauscht werden? Könnte an die Stelle von zwei Positionen auch eine Trichotomie oder eine Vierteilung treten? Die erste Fassung der KrV läßt diese Fragen offen. Sie läßt sich wenigstens nicht durch die Opposition von Passivität der Sinnlichkeit und Spontaneität des Verstandes lösen, denn die Form der Anschauung, von der die Transzendentale Ästhetik handelt, wird gerade nicht passiv erfahren, weil die Maxime »forma non afficit« in Geltung bleibt, so daß sich die Form von Raum und Zeit der Spontaneität des Gemüts verdankt. Also: Wie verhält sich diese Spontaneität zu der begrifflichen des Verstandes? Eine Frage, die Kant nicht erörtert. Der These der KpV, daß die Ästhetik in der ersten Kritik ein Teil der Logik, speziell der Analytik, sei, entspricht der auffällige Befund, daß Kant in der 2. Auflage der KrV die Rede vom Begriff des Raumes und Begriff der Zeit fast offensiv gegen die 1. Auflage eindie vierte kritik | 525

führt. Die Edition von 1781 hatte in der Ästhetik auf dem nichtbegrifflichen Anschauungscharakter von Raum und Zeit bestanden, die Ausgabe von 1787 dagegen subsumiert beides unter die Begriffe, also unter den Verstand. Damit soll natürlich nicht die Dichotomie von Anschauen und Denken aufgehoben werden, es wird jedoch ermöglicht, daß die KdU dem Verstand testiert, er werde durch die neue, d. h. »die im Allgemeinen so benannte Kritik der reinen Vernunft gegen alle übrige Competenten in sicheren alleinigen Besitz gesetzt« (V 168,7–10); zum Verstandesbesitz gehören also die Formen der Anschauung, der Begriffe und der Grundsätze; danach beginnt, durch eine Kluft getrennt, der Besitz der reinen praktischen Vernunft. Der Oberbegriff »Elementarlehre« entstammt der überkommenen Darstellung der Aristotelischen Logik und steht in einer Dichotomie neben der Methodenlehre. Für die beiden Lehrstücke der Ästhetik und Logik kann zwar der Begriff der Elementarlehre der Oberbegriff sein, aber damit ist nicht die eingeteilte Sache selbst, sondern nur deren Darstellung erfasst. Nun deutet vieles darauf hin, daß in der ersten Auflage der KrV die Sache selbst, die eingeteilt wird, fehlt, und daß die zweite Auflage die Einheit des Verstandes als diejenige Instanz einsetzt, die Ästhetik und Logik unter sich befasst und dadurch allererst verbindbar macht. Unter dieser Bedingung läßt sich eine systematische Beziehung von Anschauung und Denken etablieren, wie dies in der »Transzendentalen Deduktion der reinen Verstandesbegriffe« gezeigt werden soll. Aber Kant vollzieht die Einbeziehung der Ästhetik in die Analytik nur an einigen wenigen Stellen und erhebt sie nicht zu einem eigens erörterten Thema; in den meisten Schriften wird die Opposition von Ästhetik und Logik, Anschauung und Begriff daher mühelos fortgeführt. Die Subsumtion der Ästhetik unter die Analytik in der KpV erleichtert jedenfalls die Blockbildung von Verstand und Vernunft, Natur und Freiheit, so wie es 1790 die Systematik vorstellt, um die KdU als das notwendige Vermittlungsstück der beiden unverbundenen Teile zu konzipieren. Erst auf dieser Grundlage kann die erste Kritik zu einer Kritik des Verstandes umfunktioniert werden und den beiden Folgekritiken damit einen Platz einräumen, den das ursprüngliche Werk von 1781, also die eine Kritik schlechthin, für sich allein beanspruchte. 526 | kapitel 

Hiermit wurde auf einige Stücke der Gedankenevolution hingewiesen, die sich von 1781 bis 1790 vollzieht. Die KrV von 1781 spielt in der nachfolgenden Entwicklung eine Doppelrolle. Sie ist einerseits auch in den Erklärungen von Kant das entscheidende Wendewerk, dessen Theorie nicht geändert, sondern dessen Darstellung verbessert wird. Die späteren Ausarbeitungen und Ergänzungen sind in dieser Auffassung die schon keimhaft vorgesehenen Ausdifferenzierungen der ursprünglichen Theorie von 1781. Hier tritt Kant als orthodoxer Kantianer auf. Der andere, gut belegbare Aspekt ist der inhaltliche Wandel des kritischen Systems zwischen 1781 bis 1790. Ein Teil der vielfältigen Innovationen führt zur Emanzipation der beiden Kritiken von 1788 und 1790, die sich einerseits den Problemen der ersten Kritik schulden, zugleich aber eine eigene Änderungskraft entfalten. Wir haben einige dieser Änderungen im Hinblick auf den vorläufigen Endpunkt in der Idee einer vierten Kritik verfolgt. Das System der drei Kritiken ist so verfasst, daß jede unter wechselnden Gesichtspunkten die wichtigste ist. Die KrV ist das Fundamentalwerk, das die unbezweifelte Basis der beiden anderen bildet und deren Namen die Vierte Kritik deswegen übernimmt. Die KpV liefert durch den Primat der praktischen Vernunft den Leitgesichtspunkt der kritischen Philosophie überhaupt. Sie steht unüberholbar an der Spitze der Philosophie. Die KdU ist als Brückenwerk die zentrale Einigung von Theorie und Praxis, von Natur und Freiheit und bildet folglich das Zentrum des Triptychons. Aber dieses wechselnde Rollenspiel ist nur möglich in einer konstellativen Einheit, die keine der drei Kritiken für sich und die anderen liefern kann. Hier erwächst notwendig ohne die vorgeführten Texte der Gedanke einer Vierten Kritik. Im Discursus praeliminaris der Philosophia rationalis von 1728 unterscheidet Christian Wolff drei Erkenntnisweisen: Die historische (als Erhebung der Fakten), die philosophische (als Untersuchung der Gründe oder Ursachen der Fakten) und die mathematische (als Ermittlung der quantitativen Bestimmung aller Fakten). »Allerdings etabliert Wolff später noch eine vierte Erkenntnisweise. Von diesem ›mittleren Grad zwischen philosophischer und historischer Erkenntnis‹ ist dann zu sprechen, wenn jemand zwar die Beweise, die für die Wahrheit eines Satzes angeführt werden, nicht die vierte kritik | 527

versteht, den Satz jedoch durch Beobachtung oder Experiment bestätigen kann (§ 54).«397 Nun nennt Wolff selbst die hinzugefügte Mischform keine vierte gleichberechtigte Erkenntnisart; und weder in der Einleitung der Herausgeber noch von Wolff selbst wird vermerkt, daß tatsächlich eine vierte fehlt, denn welche Erkenntnis begründet die Dreiheit von Geschichte, Philosophie und Mathematik? Natürlich ist es die »Philosophia in genere«, die der Titel ankündigt, aber Wolff fehlt offenbar diese Erkenntnis seiner eigenen Erkenntnis im Hinblick auf ihren Systemort und ihre spezifische Differenz von der »cognitio philosophica« als allgemeiner Gründeoder Ursachenlehre. Gawlick und Kreimendahl wird wohl niemand der poetischen Eskapaden bezichtigen, aber sie entdecken bei Wolff eine verschwiegene vierte Erkenntnisweise. Kants Vermögensphilosophie stellt sich in einer anderen Ebene der Wolffschen einheitlichen Erkenntniskraft entgegen und löst sie in den achtziger Jahren in drei getrennte Kräfte auf, die jeweils ihre genau bestimmte Funktion haben; es liegt auf der Hand, daß sich Kant von der durch Montesquieu erneuerten Dreigewaltenlehre inspirieren läßt und sich dessen bewusst sein muß, wenn er beide, die Staats- und die Gemütsvermögen, syllogistisch reformuliert.398 Es ist evident, daß keine der drei Gewalten die reguläre Befugnis haben kann, die Verfassung zu erlassen, innerhalb deren sie ihre rechtmäßige Funktion hat. Die Vierte Kritik ist die schwer zu bestimmende Schrift, in der die Vernunft sich ihre Verfassung gibt, deren drei Gewalten nun aus einer inneren Logik heraus schon vorhanden sind. Sie gleicht einer Verfassunggebenden Versammlung, die in der von ihr erlassenen Verfassung genannt werden muß, damit diese legitim ist. Während diese Versammlung (bei Rousseau der Législateur außerhalb der Verfassung) normalerweise dem durch sie ermöglichten gewaltenteiligen Gemeinwesen vorangeht, folgt die neue »Kritik der reinen Vernunft« auf die drei Kritiken post festum. Ob sie nun vorangeht oder folgt, sie muß nach der Erfüllung ihrer Aufgabe wieder verschwinden. Die neue, Vierte Kritik wird in ihrer Funktion bestimmt, aber sie erhält keinen anderen Namen als die erste, die KrV von 1781 und 1787. Man kann versuchen, diese identische Benennung so zu interpretieren, daß die erste Kritik in Personalunion auch die abschließende oder begründende Vierte Kritik ist. Kant macht dann auf 528 | kapitel 

kurvenreiche Weise darauf aufmerksam, daß die jetzt als »Kritik des Verstandes« eingeschätzte erste Kritik tatsächlich beides ist, erstens eine spezielle neben den beiden anderen Kritiken und zweitens »die« Kritik schlechthin, als die die KrV auch häufig im Lauf der achtziger Jahre angesprochen wird. Tatsächlich ist sie einmal die Kritik der Wahrheitsansprüche neben der der Moral und Ästhetik, zum andern ist sie die Fundamentalschrift, auf deren Grundlage Kritik überhaupt erst ermöglicht wird. Es gäbe dann post festum zwei offizielle Lesarten der ersten Kritik, einmal als die Fundierungsschrift der dreiteiligen kritischen Philosophie überhaupt, zum anderen qua »Kritik des Verstandes« als die Legitimationsschrift der Naturerkenntnis. Beides wäre jedoch höchst künstlich, denn die KrV begründet nun einmal keine dreiteilige Kritik, wie sie sich zwischen 1781 und 1790 entwickelt hat, und sie läßt sich auch nicht zugleich auf eine »Kritik des Verstandes« zurückfahren. Zudem ist die erste Kritik entmachtet worden, so wie die Vernunft von dem Werk von 1781 entmachtet wurde: Die Vernunft sollte nicht mehr das privilegierte Vermögen sein, das uns die Erkenntnisse jenseits der Physik offenbarte, eben das wurde entzwei kritisiert und die Vernunft in ihre praktischen Schranken verwiesen. Wie kann sich eine erneuerte Kritik der einen Vernunft über diese Neuordnung stellen? Kant hat nach unseren Quellen nicht versucht, eine Vierte Kritik zu schreiben, aber er hat ihren Ort angegeben und diesen mit dem schon für die erste Kritik benutzten Titel versehen. Für die Scheu, sich wirklich in die Metaebene der Vierten Kritik zu begeben, gab es gute Gründe. Es hätte das System, das sich gewissermaßen naturwüchsig zwischen 1781 und 1790 ergeben hatte, in seiner Notwendigkeit begründet werden müssen; diese Notwendigkeit hätte den Aussagen der in Buchform vorliegenden Kritiken jedoch, wie sich zeigte, eklatant widersprochen. Die Vierte Kritik hätte Kant dazu genötigt, aus der Position einer absoluten Erkenntnis zu argumentieren, womit sich das Blatt um den Primat in der Vernunft wieder gewendet hätte. Jetzt konnte der KpV die höchste Stelle und der praktischen Vernunft der Primat zugesprochen werden, ohne daß in einer höchsten Kritik der dann niederen KpV dieser Titel durch die Theorie verliehen würde. Inhaltlich hätte dies die Gefahr beschworen, daß das Gute doch nicht die vierte kritik | 529

gut ist, weil das Gesetz es bestimmt, sondern daß das Gesetz gut ist, weil es als solches erkannt wird – Platons Sieg über Kant. Systematisch hätte eine Vierte Kritik als Kritik die typischen Merkmale enthalten müssen: Analytik und Dialektik etc. Dann aber hätte es einer weiteren Meta-Kritik bedurft, eben diese allgemeinen Merkmale zu begründen und so in infinitum. Kant wäre in die formale Aporie eines Kataloges aller Kataloge gekommen, der sich selbst enthält und nicht enthält. Inhaltlich steht die Vierte Kritik vor dem Problem der Letztbegründung oder des absoluten Anfangs, das ebenfalls nicht lösbar ist. Wenn in der KdU von der dreiteiligen Gesamtkritik als der Kritik der reinen Vernunft gesprochen wird, dann offenbar unter Beibehaltung ihres performativen Charakters, denn der Titel der Kritik kündigt an, daß in dem folgenden Werk die Kritik wirklich vollzogen wird und der Titel nicht verändert werden kann in »Über die Kritik der reinen Vernunft«; dies ist so wenig möglich wie Descartes’ Meditationes nicht zu einem Traktat »Über Meditationen« gemacht werden darf. Die Untertitel platonischer Dialoge, etwa »Über die Gerechtigkeit« sind nur für Bibliothekare da, aber nicht für Philosophen. Die Vierte Kritik, wenn sie sich denn von ihren drei Teilen verabsentieren und sich ihnen in eigener Substanz als Buch entgegenstellen könnte, dürfte also nicht heißen »Über die dreiteilige Kritik der reinen Vernunft«. Aber ist der Verzicht auf die Vierte Kritik nicht das Zugeständnis, den Skeptizismus nicht überwunden zu haben? Kants System ist komplizierter als das Humesche, aber kann es seinen Wahrheitsanspruch begründen? Der Anspruch realisiert sich in den drei Kritiken, die allen möglichen Inhalt der Kritik überhaupt bringen (nach dem Vorbild der ersten drei Titel der Urteils- und Kategorientafel). Wo aber bleibt die Setzung der Einheit als Kritiken? Wer ernennt die einzelne Kritik zu einer Kritik im Ensemble von drei und notwendig nur drei Kritiken? Eine nähere systematische Analyse der bezeichneten, aber fehlenden Vierten Kritik muß deren Position mit der Einheit der Vernunft verbinden; sie wird einerseits als geleistet in der KrV vorgestellt, dann aber zu einem Problem in der GMS: Spekulative und praktische Vernunft könnten nur ein und dieselbe sein, aber ein Vollständigkeitsnachweis könne hier noch nicht gebracht werden 530 | kapitel 

(IV 391,20–33)399. Die Vierte Kritik wäre die Kritik dieser Einen Vernunft. Und sie müsste sich zweifellos in ein Verhältnis setzen zum Übersinnlichen; wir erfuhren schon, daß »die Antinomieen wider Willen nöthigen, über das Sinnliche hinaus zu sehen und im Übersinnlichen den Vereinigungspunkt aller unserer Vermögen a priori zu suchen: weil kein anderer Ausweg übrig bleibt, die Vernunft mit sich einstimmig zu machen.« (V 341,29–33) Gebündelte Einheiten, die sich der menschlichen Erkenntnis entziehen, auf ihren Ort wird verwiesen, aber der Verweis endet im Schweigen. Eins, zwei, drei – aber wo bleibt uns der Vierte? Kant gerät mit der triadischen Anlage der Kritik in den Sog des Platonismus, der mit dieser Figur virtuos operierte; die kritische Philosophie benennt diesen letzten Schritt, aber sie entzieht sich ihm – er hätte sie zur Neufassung der drei Kritiken aus der Einheit der Vierten gezwungen. Aus der notwendigen Vierten Kritik wäre das vorliegende Werk zu sich selbst gekommen und zugleich vernichtet worden. Kant blieb an der Schwelle zu ihm stehen. Nach ihrer Programmformel wollte die KrV 1781 die Quellen, den Umfang und die Grenze der menschlichen Vernunft »aus Prinzipien« bestimmen (A XII); 1790 endete das Projekt auf seiner nicht vorgezeichneten Bahn an einer Grenze neuer Art, bei einer notwendigen, aber nicht mehr möglichen Selbst-Bestimmung in einer Überkritik und Übervernunft. Kant sah sich diese Grenze nur aus dem Binnenraum der Vernunft an, markierte jedoch überdeutlich den absoluten Ort und Nichtort der Vierten Kritik. »Drei sind mir zu wunderbar, und das Vierte verstehe ich nicht«. Bebte er zurück aus Angst, zum Königsberger Fichte zu werden, zum deutschen Robespierre der Philosophie, der mit seinem Machtwort den Absolutismus erneuert? Kant distanzierte sich von Fichte (XII 370–371); er hätte ihn durch die Ausarbeitung der Vierten Kritik um das maliziöse bon mot gebracht, daß er, Kant, »nur ein DreiViertelsKopf«400 sei, nur 1, 2, 3, nicht 4. Der Vierte ist Ich, meinte Fichte.

die vierte kritik | 531

Schluß Die vorliegende Untersuchung wollte weder die Literatur des »modifizierenden Weitersprechens« (H. Schmitz) bereichern noch Kantische Textstücke mit eigenen Vorstellungen hermeneutisch weiterdenken. Interpretation in dem hier praktizierten Sinn geht aus von der Interpretationsbedüftigkeit schwieriger philosophischer Werk (so auch in der Kunst) und versucht, dunkle Theoriestücke aufzuhellen; sie macht sich damit außerdem die Korrektur unzureichender oder einfach fehlerhafter Meinungen zu einem Text zur Aufgabe. In beiden Fällen ist der Interpret involviert in die kritische Auseinandersetzung um den Wahrheits- oder Geltungsanspruch des Textes und der Theorie. Dies letztere unterscheidet die Interpretation philosophischer Werke von der der Kunst und Dichtung. Das erstaunlichste Ergebnis der Untersuchung wird im Titel angekündigt: Nach Kants unermüdlich wiederholter Deklaration ist die finale Bestimmung des Menschen das Zentrum seiner Philosophie, ein Begriff, der in kaum einem der gängigen Kant-Lexika angeführt wird und bis auf wenige Ausnahmen auch in der einschlägigen Sekundärliteratur hartnäckig fehlt. Hier hat der Neuplatonismus in der ersten Rezeptionsphase der Kantischen Philosophie die Akzente bis in die Gegenwart verfälscht; es bedarf keines Scharfsinns und keiner besonderen philologischen Akribie, um Kants Erklärungen zur Bestimmung des Menschen vorzustellen und damit die Beschäftigung in diesem Hauptpunkt zu ihm zurückzulenken. Das Buch hielt sich jedoch nicht eng an dieses Thema, sondern fasste es als Zentrum auf, um das herum andere Entdeckungen gelagert wurden. Bei der Korrektur der üblichen Auffassung der sogenannten »kopernikanischen Wende« bedurfte es einiger Mikrologie, um das Gemeinte herauszupräparieren und die Sonne gegenüber der rotierenden Erde ins Zentrum des Planetensystems zu rücken. Daßelbe gilt für die Integration der drei Fragen »Was kann ich wissen, was soll ich tun, was darf ich hoffen« in das metaphysische Zentrum der kritischen Philosophie; auch hier befreit eine genauere philologische und historische Untersuchung die Theorie sogar noch vor der ad-hocschluss | 533

Überformung durch Kant selbst. Das Hauptziel der Untersuchung der drei Kritiken war der Aufweis nicht bekannter Komponenten unter dem Leitgesichtspunkt der Bestimmung des Menschen, alles bei gleichzeitiger Vernachlässigung vieler anderer Probleme. Das letzte Kapitel befasste sich mit der Vierten Kritik, die von Kant selbst deutlich bezeichnet, aber auch verborgen wird. Weil die Begriffskonstellationen zugunsten isolierter Einzelbegriffe vernachlässigt werden, wurden die einschlägigen Passagen bislang überlesen. Die Reflexion über die Funktion der Vierten Kritik führt in die Aporien der Letztbegründung des dreiteiligen kritischen Systems. 1781 wurden ein System der Philosophie (A 12) und eine systematisch entwickelte Transzendentalphilosophie in Aussicht gestellt (A 11 ff.); an die Stelle dieses Unternehmens trat die Ausführung eines vollständigen Systems der Kritik auf der Grundlage der subjektiven Erkenntnisvermögen, zunächst in der Dualität von Verstand und praktischer Vernunft bzw. Willen, dann in der Dreiheit von Verstand, Urteilskraft und praktischer Vernunft als Vermögen mit Prinzipien der Notwendigkeit auf den Gebieten des Erkennens, Fühlens und Wollens. Wir haben die von Kant vorgegebene Frage der Kritik dieser Vermögen und ihrer Notwendigkeitsprätention verfolgt, dabei jedoch die inhaltliche Einheit der drei Tätigkeitsweisen aus dem Blick verloren. Sind sie vereinigt in einer Vierten Kritik? Sie sind nicht auf eine gemeinsame Quelle etwa einer vis repraesentativa (Christian Wolff ) oder das Ichbewusstsein (Fichte) zurückführbar, müssen jedoch trotzdem in etwas verbunden sein; ohne dieses vereinigende Etwas könnten sie keine auf einander abgestimmte verschiedene Vermögen sein. Wie die drei Gewalten nur die Gewalten eines Staats (und nicht gänzlich verschiedener Gebilde) sein können, so müssen die drei zu unterscheidenden komplementären Vermögen in einer Einheit, also einem Vierten, fundiert sein; es kann zwar benannt werden – Kant spricht vom Gemüt, vom Ich, von der Vernunft (»teleologia rationis humanae«) oder vom Menschen – die Einheit ist jedoch als Entität außerhalb der drei Fähigkeiten nicht thematisierbar. Der Mensch erkennt, fühlt und handelt und ist dazu bestimmt, seine Tätigkeiten unter der höchsten Bestimmung, der Verwirklichung der Moral, zu vereinigen. Was der Mensch ist, läßt sich so wenig beantworten wie die Frage nach der Einheit der drei Kritiken. 534 | schluss

Inhaltsübersicht

Vorrede 7 1. Einleitung 12 Die These der Ausführungen 12; Kant als Autor und die Aufgabe der Interpretation 37; Kants Verhältnis zu anderen Autoren 44; Der Zustand der Texte 49; Literatur zum Zentrum der Kantischen Philosophie 53; Die Bestimmungsfrage heute 55. 2. Die Bestimmung des Menschen – ein Thema der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts in Deutschland, speziell bei Kant 57 Das Wort und der Begriff »Bestimmung« besonders bei Kant 57; Der Beginn der neuzeitlichen Bestimmungsphilosophie 61; Der Bestimmungsgedanke in der weiteren Literatur der Aufklärung 77; Kant: Was ist der Mensch? versus: Die Bestimmung des Menschen 102; Die Bestimmung des Menschen bei Kant, ein Überblick 108; Rückblick 125; Vorschau 126; Selbstphilosophie und Ökonomie 132; Die Zweiteilung der Aufklärung: Vor und nach 1750 133. 3. Der stoische Ursprung der Bestimmungsfrage 139 Hellenistische Richtungen der Philosophie 1750–1800 140; David Hume, der Skeptiker 141; La Mettrie, der Epikureer 142; Spalding, der Stoiker 143; Die stoische Herkunft der Bestimmung des Menschen 145; Die Hand, der aufrechte Gang, das Geschrei des Kindes und andere stoische Spuren bei Kant 154; Die Hand 154; Der aufrechte Gang 154; Gicht und Vorsatz 157; Die Logosnatur der Embryonen und das Geschrei der Neugeborenen 158; Anthropozentrik 160; Die Zweiweltenlehre 162; Stoisch-kantische Verweigerung: Die Ausklammerung des technischen Fortschritts 167; Antistoische Elemente in der Kantischen Philosophie 169; Die Formenlehre 169; Die Transzendentalphilosophie 171; Die Integration anderer Schulen und Systeme 172; Explizite Abweise stoischer Lehrmeinungen 173. inhaltsübersicht | 535

4. Der Mensch und die Geschichte der Menschheit 179 Die Geschichte 180; Die Perfektibilität des Menschen 182; Erziehung 184; Die Republikanisierung der Staaten 190; Geschichte und Naturwissenschaft: Astronomie, Biologie und Physik 190; Astronomie: Die exzentrische Bahn der Planeten 190; Biologie: Die Keime des Guten 193; Physik: Attraktion und Repulsion im gesellschaftlichen Antagonismus 195; Ehrsucht, Herrschsucht, Habsucht; Herkunft und innere Logik der Trias 198; Die Funktion der Laster in der bürgerlichen Gesellschaft 199; Die Evolution des Naturrechts 210; Die Transformation des Völkerrechts 210; Das Dilemma: Die moralische Bestimmung eines jeden und die geschichtliche Bestimmung aller 217; Die Ohnmacht der Vorsehung 221. 5. Kopernikus und Newton, Hypothese und Gewißheit 223 Kopernikus’ erste Gedanken und seine anfängliche Hypothese 223; Newtons Gravitationsgesetz und das Gesetz der Freiheit 232; Die Sonne, die Erde 239; Kopernikus und die Revolution der Denkart 247; Kants tatsächliche allmähliche Reform, nicht plötzliche Revolution der Metaphysik 251; Zur Entstehung der kritischen Philosophie 251; Zur Entstehung der kritischen praktischen Philosophie 256. 6. Was kann ich wissen? Was soll ich tun? Was darf ich hoffen? 259 Vernunftinteresse und cura, concernment 259; Die Themen der drei Fragen 262; Die historische Filiation der drei Fragen 267. 7. Kritik der reinen Vernunft: Der Gerichtshof 271 Erste Skizze der These 273; Die Rechtsverfassung der KrV 281; Drei bzw. vier für die KrV relevante Rechtsbereiche 281; Das rechtlich geprägte Zeitalter 286; Der mehrfache Anfang der KrV 288; Quellen, Umfang und Grenzen 293; Locke: Festland und Ozean 302; Die Rechtlichkeit der Deduktion der reinen Verstandesbegriffe 309; Der Gerichtshof der Dialektik 320; Das rechtliche Verfahren in Psychologie und Theologie 322; Der Gerichtshof der kosmologischen Antithetik 324; Erkenntnis, Freiheit, rechtlich verfasste Öffentlichkeit 325; Das »jus praetensum«, der Anspruch, die Anmaßung 330; Die Bestimmung des Menschen und die Notwendigkeit einer rechtlichen Fassung der KrV 331; Schwierigkeiten des Rechtsgedankens 339; 536 | inhaltsübersicht

»Of the Reason of Animals« (Hume) 342; Das Desinteresse an der juridischen Konzeption in den Prolegomena und der 2. Auflage der KrV 343; Notizen zu Rezeption und Forschung 347. 8. Kritik der praktischen Vernunft: Die Gegenkritik 351 Der kategorische Imperativ 351; Die Systemanlage der KpV 359; Die Umkehrung im Aufbau der Analytik von KrV und KpV 361; Die Unterjochung des Guten unter das Gesetz 368; Probleme der Dialektik 370; Das moralische Selbstwertgefühl 371; Das Gute um seiner selbst willen und das Narrentum des stoischen Weisen 373; Der empirische Charakter und die intelligible Kausalität 378; Weitere ausgewählte Probleme 384; Das Gute und die Lüge aus Menschenliebe, oder Anthropologie und Moral 384; Gibt es das Böse? 386; Exkurs: Zum ewigen Frieden, »Anhang II: Von der Einhelligkeit der Politik mit der Moral nach dem transcendentalen Begriffe des öffentlichen Rechts.« (VIII 381,1–3) 388. 9. Kritik der Urteilskraft: Das Brückenwerk der Zwecke 393 Erste Vorbemerkung 393; Zweite Vorbemerkung 396; Dritte Vorbemerkung 397; Vierte Vorbemerkung 399; I. »Kritik der ästhetischen Urteilskraft« 401; Analytik des Schönen 403; Das mit Lust begleitete Geschmacksurteil 405; (1) Objekt 406; Der schöne Gegenstand, auf den sich der Urteilende bezieht 406; Intermezzo. Die doppelte Schönheit von Körper und Seele, Verstand und Vernunft 410; Die Schönheit der Natur selbst 412; (2) Subjekt 413; Die zwei Deduktionen des Geschmacksurteils 422; (3) Adressat – Sensus communis 434; Hume und Kant 441; Analytik des Erhabenen 445; Schön-erhaben 445; Die ideengeschichtliche Herkunft der gestuften Ästhetik 446; Erneute Stufung: groß und erhaben 450; Die Deduktion des Erhabenheitsurteils 456; II. »Kritik der teleologischen Urteilskraft« 457. Zwei Kritiken? 457; Die Argumentationslinie 459; Der Naturzweck 462; Der Baum als Muster eines Naturzwecks 467; Ein Problem im Zentrum der Theorie zwischen Materialismus und Idealismus 470; Probleme der Naturteleologie 472; Äußerer (relativer) und innerer (absoluter) Zweck und das Ganze der Natur 472; Pflanzen und Tiere 475; Krankheit und Tod 477; Die Antinomie der reflektierenden Urteilskraft 481; Die Naturteleologie und die Bestimmung des Menschen 482; Freiheit der Natur, Freiheit der inhaltsübersicht | 537

Moral 488; Anhang: Der kopernikanisch gewendete Gott 491; Darwin versus Kant 492. 10. Die Vierte Kritik 497 Dichotomie und binäre Stufung 504; Dichotomie und Einheit 504; Binäre Stufung 505; Kants trichotomische Ordnungen 507; Die Quaternio bei Kant 510; Die Vierte Kritik als Konsequenz der Entwicklung von 1781 bis 1790 521. Schluß 533; Inhaltsübersicht 535; Anmerkungen Kapitel 1–6 539; Anmerkungen Kapitel 7–10 567; Literatur 595; Personenregister 621.

538 | inhaltsübersicht

Anmerkungen Kapitel 1–6

S. dazu IV 387–388 – GMS, Vorrede. Über das Konzept verfügt Kant schon 1765, s. unten S. 252. – Hier und im Folgenden wird Kant mit wenigen Ausnahmen nach der Akademie-Ausgabe der Gesammelten Schriften (Berlin 1900 ff.) zitiert, meistens mit bloßer Band-, Seiten- und Zeilenangabe; auf die 1. und 2. Auflage der KrV wird mit A oder B plus Seitenzahl nach der MeinerEdition verwiesen. 2 Selbstdenken bei Wolff 1996, XLIV (Gawlick und Kreimendahl). In der Deutschen Logik (1712; 1754) sagt Wolff in der unpaginierten Vorrede: »Solchergestalt kan einer um so viel mehr ein Mensch genennet werden, je mehr er die Kräfte seines Verstandes zu gebrauchen weiß. Und dannenhero solte ein jeder […] darnach streben, wie er so zu hurtigem Gebrauche der Kräfte seines Verstandes gelangen möchte, als nur immer möglich ist.« (Wolff 1965–1986, I 1, 105) Bei Wolff wird der Verstand instrumentell gefasst, bei Kant wird er an die Autonomie gebunden, über die jeder verfügt. Nach der Wolffschen Philosophie kann zweifellos Wolff selbst am meisten »ein Mensch genennet werden«. Eben daran zweifelt Kant. 3 Nach Cicero 1989, 456 – De finibus V 10, 58: »[…] nos ad agendum esse natos.« 4 Dies und das Folgende unter dem Vorbehalt: »soweit mir bekannt«. 5 Ich danke Margit Ruffing (Mainz) für diese Auskunft. 6 So wenigstens in der literarischen Tradition der Definitionsfrage. »Was ist der Mensch?« fragt Platon 1900 ff., I – Theätet 174b. Zu den vielfachen Brechungen, unter denen Platon und Aristoteles in der Moderne rezipiert wurden, vgl. umfassend Schmitt 2003. – In der ramistischen Tradition stand vor der schulmäßigen Darstellung der Logik eine Erörterung mit dem Titel »quid homo est«, s. H. W. Arndt in: Wolff 1965–1986. I 1, 251 (1). 7 Zur entsprechenden Begriffsbildung vgl. VII 134,14–21 und IX 94,19– 95,24. Vgl. auch Allison 2001, 21 ff. Die Frage der komplexen Beziehung unserer Alltagserfahrung zur Erfahrung, die die KrV untersucht, wird noch einmal im Zusammenhang der sog. kopernikanischen Revolution aufgegriffen, s. S. 241–247. 8 S. u. a. in der Untersuchung über die Deutlichkeit der Grundsätze der natürlichen Theologie und Moral: »[…] und ob ihr gleich das ganze Wesen einer Sache nicht kennet, so könnt ihr euch doch derselben sicher bedienen, um vieles in dem Dinge daraus herzuleiten.«( II 286,19–21) 9 Vgl. Platon 1900 ff. II – Phaidros 252d–253a; auch Politeia V, 473a–487a. 1

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Aristoteles 1956, 230–235 – Nikomachische Ethik X 7–8, 1177a–1178b. Dazu u. a. Brandt 1998, 157–161. 12 S. dazu unten S. 159–160. 13 Cervantes 1975, 426 – Don Quijote I 39: »[…] querría, y es mi voluntad, que uno de vosotros siguiese las letras, el otro la mercancía, y el otro sirviese al rey en la guerra«. S. dazu auch Brandt 1998, 104–105, 109. 14 Vgl. Tugendhat 2003, 112–114. 15 Zum fatum bei Kant und in der Stoa vgl. Seidler 1981, 491–498. 16 Vgl. IV 353,35 – Prolegomena: »[…] ins Unendliche immer wiederkommende Fragen […].« Ähnlich hatte Locke in der »Epistle to the Reader« des Essay Concerning Human Understanding geschrieben, das Thema von Freiheit und Willen »having in all Ages exercised the learned part of the World, with Questions and Difficulties, that have not a little perplex’d Morality and Divinity, those parts of Knowledge, that Men are most concern’d to be clear in.« (Locke 1975, 11) Das Thema wird in der »Introduction« wieder unter dem Stichwort des »concernment«, der Selbstsorge, aufgenommen (Locke 1975, 45 – An Essay Concerning Human Understanding I 1, 5; auch § 7: »Truths that most concern’d us«). Kant las nach unserer Kenntnis keine englischen Schriften; Lockes Essay war ihm zugänglich in der lateinischen Fassung der Ausgabe von 1709 oder der wortidentischen Ausgabe von Gotthelf Heinrich Thiele 1741; vgl. u. a. XXVIII 375,20 – Metaphysik Volckmann: »[Tractatus] de intellectu humano«. In der lateinischen Fassung (übrigens der ersten Auflage des Essay von 1690) fehlt ein einheitlicher Terminus für das zitierte »concernment«, er müsste »cura« sein. – Es werden späteren Zitaten die lateinischen Wörter eingefügt, wo dies von Interesse sein könnte. 17 Vgl. XV 923,8; Warda 1922, 45 verzeichnet aus Kants Bibliothek: »›Aristotelis opera (ohne Titel) gr. et lat. […].‹« Im übrigen scheint Kant Aristoteles kaum gelesen zu haben; der Hinweis auf die Ethik des Mittleren (als tautologisch) VI 433, 404 und Kant 2004, 60–61 setzt keine eigene Lektüre voraus, s. a. Seidler 1981, 369, Anm. 46. Eine der wenigen Ausnahmen: XV 923,8 – Refl. 1525. 18 Die Umformung wird uns noch interessieren. 19 Diels und Kranz (Hrsg.) 1956, II 166 – Demokrit Fragment B 118. Das Diktum wurde populär; es wird z. B. aufgenommen und abgewandelt in der nachher zu erörternden Schrift Die Bestimmung des Menschen (1748 u. ö.) von Johann Joachim Spalding: »Ein natürliches unwiderstehliches Bestreben nach Erkenntnis ist stets in mir geschäfftig; und ich sehe das weite Reich der Wahrheit als mein Eigenthum an, von dessen verschiedenen mit bequem gelegenen Gegenden ich nur durch Anstrengung meines Nachdenkens Besitz nehmen darf; ein Besitz, der mich glücklicher macht, als die Könige durch Eroberungen von Welten werden können.« (Spalding 2006, 71) Wie später Kant, entdeckt schon Spalding, daß hierin eine Illusion liegt, daß er tatsächlich für andere da ist, »meine Natur sey eigentlich zur theilnehmenden Gesellschaft aufgelegt und bestimmt.« (Spalding 2006, 81) 10 11

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Vgl. oben S. 16. Vgl. Pascher 1991, 49–50; 59–60. 22 Dazu Caimi 2005. 23 Vgl. u. a. B XXX. 24 Z. B. Pseudo-Longinos 1966, 98–99. 25 Diese Erweiterung des Bestimmungsproblems findet sich schon bei anderen Autoren (z. B. Isaak Iselin), sie wird jedoch von Kant zu einem eigenständigen Reflexionsfeld erhoben. 26 In seiner historischen und systematischen Unbedenklichkeit hält Peter Sloterdijk die »Wende vom Vorrang der Vergangenheit zu dem der Zukunft« für eine Errungenschaft Martin Heideggers (Sloterdijk 2005, 113). 27 Iselin 1768, I 127 bzw. 131 – »Von dem Stande der Natur«. 28 S. unten S. 217. Zu der Metapher vgl. Ottow 1991. 29 Hobbes 1949, 26–27 – De Cive or The Citizen I 7. 30 So am Ende Marcos 1994, 750. 31 Kaulbach 1982. 32 Trotz dieses Charakters der Auseinandersetzung aller philosophischen Schriften gibt es nach der Meinung vieler Interpreten bestimmte Autoren, die im wesentlichen eine konstante Lehre vertreten und deswegen nicht entwicklungsgeschichtlich zu interpretieren sind. Diese Auffassung hat sich in der letzten Zeit besonders bei Platon und Aristoteles gegen die Entwicklungsgeschichtler fest etabliert, s. bes. Schmitt 2004. 33 Ähnlich Christian Wolffs Bemerkung in der Ausführlichen Nachricht von seinen eigenen Schriften (1733): »Ich richte mich aber in allem nach meiner Absicht und habe das Ziel stets vor Augen, das ich mir zu erreichen vorgesetzt habe. Und bey diesen Gedancken werde ich unverändert verharren.« (Wolff 1965 ff. 1996, I 9, Ende der unpaginierten Vorrede; Hinweis Ulrike Santozki) Ist die »Bahn« der »cursus«, von dem Seneca in De providentia V 8–9 (Seneca 1999, I 32) spricht? »Irrevocabilis humana pariter ac divina cursus vehit.« In Ciceros Cato maior de senectute gibt es einen »cursus […] certus aetatis et una via naturae eaque simplex« (Cicero 1998, 52 – 10, 33). 34 Wir wissen nicht, wann genau das Manuskript verfasst wurde. 35 Vgl. unten S. 359–368. 36 Dazu unten S. 233. 37 So auch sein Schüler Herder. Zur Tiefenwirkung Humes auf Herder vgl. jetzt Bultmann 1999. 38 S. Klaus Reich in: Kant 1958, VII–XVI; Kreimendahl 1990, 83–101 (mit der m. E. nicht haltbaren These, Kant habe die »Nachtgedanken« schon 1769 gelesen und von ihnen den entscheidende Anstoß zur kritischen Wende erhalten, s. Brandt 1992). Kühn 2003, 233–237 nimmt an, daß Kant durch die »Nachtgedanken« auf die Bedeutung Humes für das Kausalprinzip gelenkt wurde (233), Hamann, der Übersetzer, habe ihn dagegen vor der Philosophie warnen wollen. Aber Kühn setzt vor seine Ausführungen ein großes 20 21

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»Vielleicht«. Kant hat nach unseren Quellen den Treatise als Humesches Werk weder in Teilen noch im Ganzen nachweisbar zur Kenntnis genommen; dasselbe gilt vermutlich auch für Herder, vgl. Bultmann 1999, 88, Anm. 11 gegen W. Pross. 39 Vgl. unten S. 179 ff. 40 Dazu Kleingünther 1983. Der Umschlag von den vielen Versuchen zur Lösung ist dagegen vorgeformt bei Lukrez, den Kant gründlich kannte, De rerum natura V 837–838. Bei Kant spielt das »trial and error«-Verfahren der Natur eine dominante Rolle, vgl. VII 87,10; 88,28; VIII 23,3; 24,19; 24,36; 111,24; 112,11; 118,33–34; KrV B XVIII; XXII. Die Versuche bilden bei Kant die Weise, wie die Vorsehung in der mechanischen Natur zu ihrem Ziel gelangt. Aus den vielen blinden Versuchen überlebt das, was mit einem eigenen reproduzierbaren Körper und mit der Umwelt kompatibel ist. In Analogie dazu wird die Selbstfindung der Vernunft als ein Weg der mißlingenden, am Schluß gelingenden Versuche dargestellt. 41 Carl 1989, 170 ff. 42 Grundlage der Forschung: König 1992. Internetadresse s. Literaturverzeichnis. »König, Elke«. 43 Die Edition zählt 9 Werkbände, der letzte Band enthält jedoch keine von Kant selbst herausgegebenen Werke. 44 In Bd. XXV ist der sicher größte Teil der in der Anthropologie benutzten Literatur erfaßt, daßelbe wird in Bd. XXVI in Kürze für die Physische Geographie vorliegen. 45 Dazu Klemme 1994. 46 Zur Kantischen Hermeneutik vgl. u. a. Claudio La Rocca 1995. 47 Dazu ausführlich Brandt 2007. 48 Hegel 1927 ff., I 338. 49 Hamann 1955–1979, VI 161. 50 Bering 1790, 3. Kant begnügt sich damit zu sagen, daß dies faktisch der Fall sei. 51 Leibniz 1965, V 41. 52 Dazu Sitzler und Vaihinger 1904. 53 Brandt 2003a. 54 Brandt 1999a, 25–28. 55 Dazu Ludwig in: Kant 1998, XXVIII Anm. 33. 56 Kant 1986. 57 Kiefner 1991. 58 Kiefner 1991, 150. Auf die von Kiefner gerügte Viererkonstellation wird unten im Kapitel 10 näher eingegangen. 59 Hinske 1972, 49. 60 Dazu jetzt Mulsow und Stamm (Hrsg.) 2005 61 Das Wort »Konstellationen« wird im Folgenden für dynamische Begriffsverhältnisse und –figuren verwendet; dazu u. a. Brandt 1998. Unser letztes Ka542 | anmerkungen seite –

pitel befasst sich mit einer derartigen Konstellation und der rätselhaften Vorstellung einer Vierten Kritik. 62 Cheneval 2002, 421. 63 Hutter 2003. Die Vorstellung der »ursprünglichen Einsicht« ist eine hermeneutische Idee Hutters (nach dem Vorgang von Dieter Henrich), sie muß, wie Klemme 2005, 333–334 richtig ausführt, eine Kreation des Interpreten im Ausdenken einer »ungeschriebenen Lehre« sein. Wir werden dagegen an den von Kant selbst gebrauchten Begriff der Bahn, die er sich vorzeichnet, hin und wieder erinnern. 64 Vgl. Klemme 2005, 334. 65 Dazu jetzt Sturm 2007. 66 Mellin 1797–1798, I 556–562: Der Artikel »Bestimmung« bringt nichts über die finale Bestimmung des Menschen. Eisler 1964, 63: »Bestimmung. Seine B. erreicht der Mensch (s. d.) in der Geschichte (s. d.) nicht als Individuum, sondern als Gattung, und zwar nur durch eigene Tätigkeit. Die moralische B. ist der letzte Zweck des menschlichen Daseins und ist etwas Erhabenes. Vgl. KU § 42 (II 153) und Rel. 1. St. Allg. Anmerk. (IV 54ff.); vgl. Gesellschaft, Kultur, Erhaben, Endzweck, Vorsehung.« 67 Guzzoni 1976; in ihrer »Geschichte der Bestimmungsproblematik« fehlt die finale Bestimmung, die Thema des vorliegenden Buches ist. 68 Vgl. auch XXV 253,12–13 – Anthropologie Parow »Wir kommen weiter zur Bestimmung des Menschen in Ansehung seiner erkenntnisse, und bemerken […].« Die nachfolgenden Beobachtungen enthalten keine finale Komponente. 69 Hierzu Heßbrüggen-Walter 2004, 110–125: »Exkurs: Kants Begriff der Bestimmung und sein historischer Hintergrund«. Heßbrüggen-Walter geht nur auf die metaphysische Bedeutung des Begriffs bei Kant ein. Die unterschiedlichen Stationen und Formen des theoretischen Bestimmungsbegriff umreißt Ulivari 1998. 70 Schlözer 1775, 223. Der Mensch als Wesen, dessen Natur unbestimmt ist, bildet allerdings einen Topos, den der Historiker nur aufzugreifen brauchte. 71 Rousseau 1959 ff., I 1002 – Les Rêveries du Promeneur Solitaire 72 Hutcheson 1969, V 1, 2 ff. 73 Die Abkürzung »D.« (D?) steht nicht für einen weiteren Vornamen, sondern für den theologischen Doktortitel. 74 Die Schrift erschien 1748 in Greifswald bei Hieronymus Johann Struck, 26 S. Zu allen Fragen der Buchgeschichte vgl. jetzt vorzüglich Albrecht Beutel in der Einleitung von Spalding 2006. 75 Vgl. den kurzen wichtigen Hinweis von Norbert Hinske in: Wolff 1996, XIV und Hinske 1999 (=Aufklärung, Jahrgang 11, Heft 1). Zur Verwendung von »destinatio«, »destination« unmittelbar vor Spalding s. Schwaiger 1999, 8, Anm. 7. 76 In: [Shaftesbury] 1747, 36. Zu diesem Pathos des Handelns vgl. besonders anmerkungen seite – | 543

Epictetus 1961, I 146 – Discourses I, 22, 17 («ti oun poiesomen«), auch I 26, 6–7; IV 1, 63; 118. 77 Pyra 1991, 51. Zur Datierung des Traktats s. Carsten Zelle dort S. 75–77; Till 2006, 283–287. Zur entsprechenden Passage bei Pseudo-Longinos s. unten S. 150–151. Wenn Bodmer und Breitinger in ihren Critischen Briefen schreiben: »Also herrscht diese Einfalt durchgehends in den großmüthigen Reden der Natur, wo sie durch ihre Kürze und Deutlichkeit alle Kunst übertrift« (zit. nach Till 2006, 273), dann zeigt die Verwendung des Begriffs der Natur schlechthin, daß die Rezeption des Traktats von Longinos aus einer platonisierenden in eine stoisierende Phase übergegangen ist. 78 Spalding führt nach eigenem Bekunden in seiner Übersetzung der Untersuchung über die Tugend die Wörter »Selbstsucht«, »Selbstneigung« neben »Selbstliebe« ein ([Shaftesbury] 1747, 28; 29; 58). 79 Man vergleiche besonders die »Profession de foi du vicaire Savoyard« im vierten Buch des Emile über die »destination« (Rousseau 1959 ff., IV 591) des Menschen. 80 Vgl. Wolffs »non impeditus progressus ad finem societatis consequendum, salus societatis dicitur« (Wolff 1965–1986, II 26 524–525 – Institutiones juris naturae et gentium § 837). 81 Die Seitenangaben beziehen sich hier und im folgenden Text auf die Edition von 2006. 82 Aus diesen Gründen halte ich den Zugriff der sonst sehr lehrreichen Abhandlung von Günter Zöller, »Die Bestimmung der Bestimmung des Menschen bei Mendelssohn und Kant« (2001) für nicht korrekt. Baumgarten schreibt in den Initia philosophiae practicae: »Qui autem eosdem fines intendit, qui naturae praefixi sunt, naturae convenienter vivit. Ergo perfectionem suam quaerens, quantum potest, naturae convenienter vivit.« (Baumgarten 1760, 20–21 – Initia § 45) Während Spalding die Vollkommenheitsmetaphysik beiseite läßt, kritisiert Kant den Versuch, vom Faktum der »perfectio« zum Sollen unseres Handelns gelangen zu wollen. Hiermit bahnt sich der Bruch an zwischen der ersten und der zweiten Kritik, dem Erkennen und dem Sollen, der uns ausführlich beschäftigen wird. Daß der perfectio-Begriff 1770 (II 396,4 ff.) nicht mehr dem Wolffschen entspricht, zeigt Schwaiger 1999, 82. 83 Ein anderer Autor, der an die stoische Selbstphilosophie und ihre literarischen Selbstgespräche anschließt, ist Rousseau. Auch die Gesellschaft des Contrat social wird ihm zu einem »moi commun« (Rousseau 1959 ff., III 361). 84 Vgl. dazu Klemme in: Shaftesbury 2001, XIV Anm. 4. Zu dem Naturhymnus »O herrliche Natur! die du vollkommen schön und über alles gütig bist! Die du alles liebst und alle Liebe verdienst! Ganz göttliche Natur! […] O mächtige Natur! Weise Stathalterin der Fürsicht; bevollmächtigte Schöpferin! Oder du bevollmächtigende Gottheit, grosser Schöpfer! […]« (183–184) vgl. Willey 1940, 65–66. Der Hymnus ist eine der vielen Variationen des Zeushymnus des Stoikers Kleanthes, s. Arnim, von (Hrsg.) 1964, I 121–123. Fr. 537. 544 | anmerkungen seite –

In der Anthropologie-Vorlesung 1772–1773 verweist er lobend auf »Spaldings Schriften« (XXV 9,16) und nicht nur auf seine Predigten (dazu XXIV 1108 ad 244,33), hier wird man wohl die Bestimmung einbeziehen dürfen. 86 Vgl. Sextus Empiricus 1985, 93 – Grundriß der pyrrhonischen Skepsis I 4: »Daher scheint es vernünftig, daß die obersten Philosophien drei sind: die dogmatische, die akademische und die skeptische.« 87 Fichte 1962 ff., I 6, 189 – Die Bestimmung des Menschen, Vorrede. Dazu auch Hösle 2006, 112. 88 Spalding folgt fast wörtlich Shaftesburys Sittenlehre in seiner Übersetzung von 1744, 69–72 (gegen die Sinnenlust der Epikureer), 73–74 (gegen Vergnügungen des Geistes); das gute Handeln gegenüber Familie, Vaterland, Menschheit (81 ff.). Es folgt eine Physikotheologie mit einem Naturhymnus (183–184). 89 Nach [Shaftesbury] 1744, 188 ff. 90 Pisanski 1886, 541. 91 Wir werden erneut auf diese Lust in Kants Theorie des Geschmacksurteils treffen. 92 Winckelmann 1968, 43. 93 Rousseau 1959 ff. IV 590 ff. – Emile IV. 94 Platon 1900 ff., II – Phaidros 252d–253a. 95 Platon 1900 ff., IV – Politeia V 473a–487a. 96 Aristoteles 1956, 230–235 – Nikomachische Ethik X 7–8, 1177a11– 1178b32. 97 Nach späten Quellen (s. Liddell & Scott s. v. ageometretos) eine Inschrift über Platons Tür. 98 In einer gesonderten Betrachtung weist der Autor dem Christentum eine subsidiäre Funktion zu, vgl. den »Anhang bey der dritten Auflage« in: Spalding 2006, 199–215. 99 Vgl. zum »decline of hell« Schollmeier 1967, 163 (mit Bezug auf Hutcheson). 100 Addison and Steele 1964, I 339 – Saturday, July 7, 1711, No. 111. Aus diesem Brief stammen auch die folgenden Zitate. Die gesamte deutsche Übersetzung von 1749–1751 ist die zweite, verbesserte Auflage der Übersetzung der »Gottschedin« von 1739–1743. Es handelt sich um eine Kurzfassung des »Zuschauers« vom 7. 7. 1711. Der Begriff der Bestimmung wird weder in dieser Übersetzung noch in einer weiteren von 1782–1783 (»Auszug des englischen Zuschauers, nach einer neuen Übersetzung«) benutzt. 101 Ein stoischer Gedanke, der Platon und Aristoteles fremd ist, s. Santozki 2006, 279–284, 290–301, 385–388, 420–421. 102 Vgl. auch Kants Metaphysikvorlesung zu Anfang der sechziger Jahre in der Metaphysik Herder XXVIII 108 ff. 103 Horaz 1999, 10 – Sermones I 1, 27. Zur Bedeutung von Horaz und dessen »überragendes Prestige« im 18. Jahrhundert s. den Hinweis von Mauser 2001, 58–59, Anm. 27. 85

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Schollmeier 1967, 155. Shaftesbury 1900, I 271. 106 Zum Folgenden vgl. die Erörterung theologischer Bestimmungsliteratur bei D’Alessandro 1999. Auch Giuseppe D’Alessandro kommt zu dem Ergebnis, daß das Vorkommen der finalen Bestimmung als eines Leitworts oder -begriffs auf die Phase 1748 bis ungefähr 1800 beschränkt ist, D’Alessandro 1999, 45. 107 Grimm 1984, I 1679. 108 Johann Friedrich W. Jerusalem, Neologe wie Spalding, benutzt in seiner Sammlung einiger Predigten von 1745 die Formulierung von der »Bestimmung unserer Seele«; dies ist vielleicht das erste Vorkommen unserer Formel oder sogar des Wortes »Bestimmung«. Die Tiere erreichen ihren Naturzweck in diesem Leben, der einzelne Mensch hat jedoch eindeutig Anlagen, die über dieses Leben hinausweisen (unser erster Typ des Unsterblichkeitspostulats). Die »Bestimmung unserer Seele« ed. 1756, I 397, Mensch – Tier; Endzweck I 400; 402: »Bestimmung unserer Seele«; II 100 »Wie bereiten wir diesen edlen Geist zu seiner hohen Bestimmung?« I 397 ff. Ähnlich in den Betrachtungen über die vornehmsten Wahrheiten der Religion (1768) 244, 248, 250, 275. 109 [Goeze] 1748, 15 und 21. Zur Auseinandersetzung zwischen Goeze und Spalding s. Beutel in: Spalding 2006, XXXIV–XLIII. Ich halte Goeze für viel hellsichtiger, als Beutel es tut. 110 Wolff 1965–1986, I 19, 59–60 – Grundsätze des Natur- und Völkerrechts (1754). 111 Reimarus 1754, 438. 112 Reimarus 1985, 493–494. 113 Vgl. dazu V 476,37, wo Kant von dem »noch nicht übertroffenen Werke« spricht. 114 Winckelmann 1960, 327 – An Francke 1762. 115 Diels und Kranz (Hrsg.) 1956, I 160 – Heraklit Fragment B 40. Diese und ähnliche Aussprüche der Vorsokratiker ziehen sich durch die gesamte europäische Philosophie und finden Eingang auch in das Neue Testament und damit einen weiteren Bereich der europäischen Kultur. 116 Lange und Meier (Hrsg.) 1751–1756, XI 225. 117 Man erinnert sich der Kantischen Selbst-Version: »Ich habe mir die Bahn schon vorgezeichnet […].« S. oben S. 37; 44. 118 Iselin 1768, unpaginierter Vorbericht. Vgl. Sommer 2002, 24–25. Dort auch Näheres zur engen Beziehung von Iselin zu Spalding. 119 Iselin 1768, I 69–70. 120 Mendelssohn in: Abbt 1978, (II) 30. 121 Mendelssohn in: Abbt 1978, (II) 220. Die Formel des reziproken Mittelund Zweckseins wird Kant sowohl für das Reich der Zwecke im Sittlichen wie auch für die Bestimmung von Naturprodukten in der »Kritik der teleologischen 104 105

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Urteilskraft« benutzen, s. unten S. 462. Rousseau spricht vom »engagement réciproque du public avec les particuliers«, s. Rousseau 1957 ff., III 362 – Du contrat social I 7. 122 Mendelssohn 1979, 92–93; 113–114. Dem Fortstreben im Sittlichen über den Tod hinaus waren wir begegnet als einem der beiden Gründe, die Unsterblichkeit aus dem »honestum«-Sein zu begründen, s. oben S. 75. 123 Vgl. dazu Brandt 2001, 346–363. 124 Mendelssohn 2005, 140–141. 125 Hinske (Hrsg.) 1973, 445. Marion Heinz hat die Debatte von Mendelssohn und Herder unter dem Titel »Die Bestimmung des Menschen: Herder contra Mendelssohn« festgehalten, Heinz 1992. 126 Goethe 1960, VI 514. 127 Goethe 1960, VI 7 und 11. 128 Zu diesem Kollektivsingular vgl. unten S. 180–182. 129 Wieland 1879, XXXI 146–147; Wieland hat auch skeptische Vorbehalte: Jürgen Jacobs 2001, 94–95. 130 Dazu Pross in: Herder 2002, I 905 ff. 131 Herder 1877 ff., V 527. Zu der Formel »Mittel und Zweck zugleich« auch: »Siehe das ganze Weltall von Himmel zu Erde – was ist Mittel, was ist Zweck? nicht alles Mittel zu Millionen Zwecken? nicht alles Zweck von Millionen Mitteln? Tausendfach die Kette der allmächtigen, allweisen Güte in und durch einander geschlungen: aber jedes Glied in der Kette an seinem Orte Glied – hängt an Kette und sieht nicht, wo endlich die Kette hange. Jedes fühlt sich im Wahne als Mittelpunkt, fühlt alles im Wahne um sich nur so fern als es Stralen auf diesen Punkt, oder Wellen geußt – schöner Wahn! Die grosse Kreislinie aber aller dieser Wellen, Stralen und scheinbaren Mittelpunkte – wo? wer? wozu?« (Herder 1877 ff., V 559) 132 Herder 1877 ff., V 560. 133 Dazu Brandt 2006. 134 Vgl. oben S. 58. Dazu auch Zedelmaier 2003, 296: »Eine philosophische Geschichte aber, in der wie in Iselins Geschichte der Menschheit der Anfang der Geschichte hypothetisch mit philosophischen Erkenntnismitteln erschlossen und der historische Entwicklungsgang aus einer ursprünglichen Naturbestimmung abgeleitet wurde, war allein mit historischen Mitteln nicht aus den Angeln zu heben.« 135 Jacobi 1998 ff., I 1, 260. 136 S. unten S. 410–412. 137 Sulzer 1792–1797, IV 324 – »Schönheit«. 138 Büsching 1772–1774, I 346 – Grundriß einer Geschichte der Philosophie § 58. 139 Kleanthes 1786. S. Arnim, von (Hrsg.) 1964, I 121–123, Fr. 537. 140 Zit. nach Schröpfer 2003, 74. 141 Zit. nach Mainka 1995, 338. anmerkungen seite – | 547

Von Zedlitz in der Vorlesung einer Akademiesitzung am 5. Januar 1777, zit. nach Mainka 1995, 335. 143 Tetens 1913, 724. 144 Tetens 1913, 726–727. 145 Vgl. dazu unten S. 154. 146 Hinske (Hrsg.) 1973, 100; s. a. 391. 147 Addison 1732. 148 Die Schrift ist dem Königl. Preußischen Kammerherrn Carl von Stein gewidmet. 149 Rehberg 1780, V–VI. 150 Rehberg 1780, 33. 151 Rehberg 1780, 86. 152 Rehberg 1780, 37–38. 153 Blumenbach 1791, 31. 154 Schiller 1943 ff., XX 10. 155 Die Bestimmung des Menschen wird hier mit Wolffschen Mitteln der Vollkommenheit ausgelegt, und von Platon stammt die Angleichung des Menschen an Gott, vgl. Platon 1900 ff., I – Theätet 176b. 156 Schiller 1943 ff., XXVI 191. – An Körner (18. und 19. Februar 1793). »Bestimme dich aus dir selbst« sagt Kant jedoch nicht wörtlich. 157 Schiller 1943 ff., XX 257 – Über Anmut und Würde. 158 Zu dieser Dopplung vgl. unten S. §§§ . S. a. Forschner 1990, 114–115. 159 Schiller 1943 ff., XX 313 – Über die ästhetische Erziehung des Menschen. 160 Schiller 1943 ff., XX 316. 161 Schiller 1943 ff., XX 353. 162 Schiller 1943 ff., XXI 38 – Über das Erhabene, Ende des 1. Absatzes; wiederholt am Ende des 3. Absatzes, XXI 39. 163 Schiller 1943 ff., XXI 52. 164 Schiller 1943 ff., XVII 359–360. 165 Schiller 1943 ff., XVII 375. 166 Schiller 1943 ff., XVII 376. 167 Humboldt 1903–1936, I 106 – »Wie weit darf sich die Sorgfalt des Staats um das Wohl seiner Bürger erstrecken?« 168 Heydenreich 1793, 56. 169 Heydenreich 1793, 80. 170 Das Thema wird mit der zeitgemäßen Entzauberung aufgenommen von Max Weber in seinem Vortrag Wissenschaft als Beruf (1919; Weber 1973, 582– 613). 171 Nach Raabe 1959, 345. Vgl. auch Ziolkowski 1998, 62–65. 172 Nach Raabe 1959, 346. 173 Zit. nach der deutschen Übersetzung von Kosellek 1989, 21. 174 Nach Raabe 1959, 347. Ob die Jenenser Bestimmungsenthusiasten Kontakt mit Johann Joachim Spalding in Berlin hatten, habe ich den Texten nicht 142

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entnehmen können. Ich vermute, sie orientierten sich an der neuesten deutschen und französischen Literatur und an stoischen Quellen. 175 Stölzel 1885, 286, Anm. 1. Der Satz findet sich nicht in Svarez 1960. 176 Nach Raabe 1959, 350. 177 Nach Raabe 1959, 353 und 366. 178 Nach Raabe 1959, 354; s. a. 373. 179 Fichte 1962 ff., I 6, 265. 180 Zöller 1995, 115. Vgl. schon Metz 1990, 137: »Fichtes Lehre von der ›Bestimmung des Menschen‹ durchzieht das ganze Spektrum seines sog. Jenenser Systems; […].« 181 Hufeland 1798, XII. 182 Hölderlin 1943 ff., IV 262–263; s. a. VI 301, 305, 162. Vgl. Waibel 2000, 294–295. 183 Hölderlin 1943 ff., III 242. 184 S. unten S. 297. 185 Schlegel 1958 ff., XVI 19 – »Von der Schönheit in der Dichtkunst« (1796), § 7. 186 Schlegel 1958 ff., XVI 22 – »Von der Schönheit der Dichtkunst« (1796), § 11. 187 Schlegel 1958 ff., XII 44. 188 Schlegel 1958 ff., XII 85. 189 Zit. nach Kurz 1975, 5. 190 Humboldt 2004, 10 – Kosmos. »Einleitende Betrachtungen«. 191 Titelseite; Teil des Gemäldes des Autors (»Die Gewalt und Majestät der Natur der Dinge überzeugt uns nicht in den Einzelstücken, wenn man nur ihre Teile und nicht die Natur als Ganzes im Geist umfasst.«) 192 Vgl. Brandt 1999a, 16–17. 193 S. oben Anm. I 6. Die üblichen Mißverständnisse des Zusammenhangs finden sich bei Hagenbüchle 1998, 1 in seinem Eingangssatz: »›Was ist der Mensch?‹ Mit dieser Frage vollzieht Kant die Wende zum anthropozentrischen Denken und konstatiert zugleich den Verlust der traditionellen Gewißheit über die Natur des Menschen.« In einer Fußnote zu der Frage wird auf KrV A 805 verwiesen. Die Frage steht jedoch nicht da, sondern bei Platon, der also schon die traditionelle Gewißheit über die Natur des Menschen verloren hatte. 194 Zu diesem Kontrast s. Schröer 1988, 56 ff. 195 Diogenes 1967, I 304 – Leben und Meinungen berühmter Philosophen VI 40; dazu Brandt 2001, 179–182. In der Komödie wurde zum Gelächter der Athener Platons Definitionshang travestiert und an einem Kürbis ausprobiert. 196 Horaz 1999, 150 – Sermones II 6, 72–73: »[…] wir erörtern, was uns betrifft und das nicht zu wissen uns schadet.« 197 Sie gehören nicht in den Kernbereich der exakten Wissenschaften, die anmerkungen seite – | 549

ihren Status einer »Revolution« verdanken, s. B X ff. Zur Problematik der Wissenschaftlichkeit der Wissenschaften vom Menschen s. auch die Eingangserörterungen von Sturm 2007. 198 Descartes 1959, 43 – Meditationen II 1. 199 Descartes 1959, 45 – Meditationen II 5. 200 Justus Lipsius (1647–1606) schrieb die für die Verbreitung des Stoizismus wichtigen Schriften De Constantia libri duo, qui alloquium praecipue continent in publicis malis (1584), Manuductio ad philosophiam stoicam (1604) und Physiologia stoicorum (1604). 201 Seneca 1999, II 4 – De vita beata I: »Nichts ist daher mehr zu beachten, als daß wir nicht nach der Art der Tiere der Herde der Vorangehenden folgen, indem wir nicht gehen, wohin zu gehen ist, sondern wohin man geht.« Zu der Differenz der durch ihre Natur determinierten Tiere und dem Menschen, der sich durch seinen logos selbst bestimmen kann und soll, s. Pohlenz 1948, I 228 und II 114. 202 Schleiermacher 1927-1928, IV 227 – Über die Religion. Reden an die Gebildeten unter ihren Verächtern. Die Stelle lautet: »In allen Dingen haben die, welche nur nachtreten und bei dem, was ein andrer gegeben hat, stehen bleiben, nicht den Geist der Sache, dieser ruht nur auf den Erfindern, und zu ihnen mußt du gehen.« 203 Kant benutzt das Wort »Berufung« in seinen Druckschriften bis 1793 ausschließlich in der Verbindung mit »auf«, nur in der Religionsschrift kommt an drei Stellen die »Berufung zu etwas« vor: VI 142,21; 143,2; 143,3. 144,14–15: »Daß der Mensch durchs moralische Gesetz zum guten Lebenswandel berufen sei […].« 204 S. unten S. 154–157. 205 Dasselbe Motiv findet sich noch 30 Jahre später in der Grundlegung zur Metaphysik der Sitten IV 395,4–27. 206 Zit. nach Lenoble 1943, 289. Vgl. auch Addison and Steele 1964, I 339 – Saturday, July 7, 1711, No. 111: In unserer geistigen und moralischen Anlage liege die Idee ihrer den leiblichen Tod überdauernden Vervollkommnung, des »adding Virtue to Virtue, and Knowledge to Knowledge«. 207 Vgl. Kants eigenes »Ich habe mir die Bahn schon vorgezeichnet«, s. S. 37. 208 Ich habe den Text zusammengezogen; vgl. weiter XX 31,14; 38,7; 78,5; 127,12. 209 Dazu Stollberg-Rilinger 1986. 210 U. a. Cicero 1997, 386 – Tusculanae disputationes V 4.10: ,,Socrates autem primus philosophiam devocavit e caelo et in urbibus conlocavit et in domus etiam introduxit et coegit de vita et moribus rebusque bonis et malis quaerere.’’ Seneca 1999, IV 24 – Epistulae morales ad Lucilium 71, 7: »Socrates qui totam philosophiam revocavit ad mores«. In einer Fußnote zu »Sokrates« schreibt Kant an anderer Stelle: »Philosophiam de coelo devocavit.« (XVI 57) In der Logik Jäsche heißt es ähnlich: »Die wichtigste Epoche der griechischen Phi550 | anmerkungen seite –

losophie hebt endlich mit dem Sokrates an. Denn er war es, welcher dem philosophischen Geiste und allen speculativen Köpfen eine ganz neue praktische Richtung gab.« (IX 29,29–31) 211 Kant 2004, 225. Dies ist das erste Vorkommen des Bestimmungsbegriffs in finaler Bedeutung innerhalb des Vorlesungstextes. Das Verlassen des Postens geht auf Platons Kriton zurück, s. Platon 1900 ff. I – Kriton 51b. 212 Kant 2004, 231. Vgl. weiter 321: »[…] es scheint also, daß dieser Zustand die Bestimmung des Menschen sei.« 213 Kant 2004, 349–350. 214 Die persönlichen Motive der Gelehrten führten Spalding zu der Auffassung, die theoretische Erkenntnis könne nicht die allgemeine Bestimmung der Menschen enthalten, s. oben S. 67–68. 215 Kant 2004, 352. 216 Kant 2004, 364–365. Im Paralleltext in der Praktischen Philosophie Powalski: »Die Bestimmung der Menschheit« (XXVII 233,11) wird ausdrücklich vermerkt: »Die Bestimmung des menschlichen Geschlechts ist der Bestimmung des einzelnen Menschen entgegen« (XXVII 233,35–36). Hiervon wird unser 4. Kapitel handeln. 217 Iselin 1968, I 128 bzw. 132 ff. 218 Zu dem Prinzip, daß die Bestimmung oder Pflicht ein Recht stiftet, die objektive praktische Realität der zur Durchführung nötigen Voraussetzungen anzunehmen, s. unten S. 336. 219 S. im einzelnen V 88,26; 87,10; 122,26; 146,14; 258,7; 262,12; 292,13; 431,6 Übergang vom Sternenhimmel zur Moralität, V 162,12–23. Dazu Santozki 2006, 221–223. 220 Stimmt hier die Syntax? 221 Wir erfahren hier, daß die Abfolge Gott, Freiheit und Unsterblichkeit nach synthetischer Methode aufgestellt ist, XX 295,26–32. 222 Kant folgt einer traditionellen Gedankenlinie, die man z. B. schon in der Nikomachischen Ethik von Aristoteles ausmachen kann, Aristoteles 1956, 172– 173 – Nikomachische Ethik VIII 3, 1156a–b): Freundschaft der Lust, des Nutzens und des Guten an sich, s. a. Kant 2004, 295–296. 223 S. Kant 2004, 6 und die Fußnote des Herausgebers. Wenn es in der Anthropologie-Philippi heißt: »Spaldings Schriften beziehen sich so auf die menschliche Natur, daß man sie nicht als mit Annemlichkeit lesen kann« (XXV 9,16– 17), ist es kaum möglich, hier nicht primär an die Bestimmung des Menschen zu denken, von der Kant ja durch Mendelssohns Phädon wußte, s. o. 224 Zöller 2001. 225 S. oben S. 64. 226 Spalding 2006, 87. 227 Spalding 2006, 87. 228 Spalding 2007, 87 u. ö. Zum Fehlen der Keimvorstellung in der KdU vgl. unten S. 474. anmerkungen seite – | 551

S. A 247: »[…] und der stolze Name einer Ontologie […] muß dem bescheidenen, einer bloßen Analytik des Verstandes, Platz machen.« 230 Zum Wort vgl A 76. Zur Sache selbst s. Brandt 2003b, 182–186. 231 Vgl. Descartes 1964 ff., VII 79–80 – Meditationes VI. 232 Im Brief an Christian Garve vom 21. September 1798: »[…] den völligen Abschlus meiner Rechnung, in Sachen, welche das Ganze der Philosophie (so wohl Zweck als Mittel anlangend) betreffen, vor sich liegen und es noch immer nicht vollendet zu sehen; obwohl ich mir der Thunlichkeit dieser Aufgabe bewust bin: ein Tantalischer Schmertz, der indessen doch nicht hofnungslos ist.« (XII 257,3–8) 233 S. Brandt 2007. 234 Strawson 1966, 20: »This is the duality of general concepts, on the one hand, and particular instances, encountered in experience, on the other.« Diese Vorstellung birgt die Gefahr, daß »individuals« als »instances« angenommen werden, die es unbhängig von den Verstandesbegriffen gibt. Diese letzteren sind jedoch Regeln, die die Erfahrung von »particular instances«, d. h. aber: diese selbst, erst ermöglichen. 235 Vgl. B 145–146; B 148 (»Die reinen Verstandesbegriffe […] erstrecken sich auf Gegenstände der Anschauung überhaupt, sie mag nun der unsrigen ähnlich sein oder nicht, wenn sie nur sinnlich und nicht intellektuell ist.«) und VIII 249,35–37. 236 Dazu ausführlich Böhme und Böhme 1983. 237 Bacon 1962–1963, I 168 – Novum Organum L u. ö. 238 S. Zelle 2001, 67, Anm. 67. Schings (Hrsg) (1994), Der ganze Mensch. 239 Nach Zelle 2001, 7. 240 Mauser 2001, 51. 241 Mauser 2001, 54–61. 242 Riedel 1994. 243 Nach Niesen 2005, 18. 244 Vgl. dazu auf dem Gebiet der Logik Wolff 2004. 245 Ein Beispiel ist der Versuch einer Rehabilitierung der Aristotelischen (und damit Kantischen) Logik gegenüber Frege und seinen Nachfolgern durch Michael Wolff 2004. 246 Dazu Mulsow 2002, 260 ff. (s. a. information philosophie 1, 2005, 70– 74). 247 Daß der Humesche Skeptizismus eine Konsequenz des »way of ideas« von Descartes über Locke und Berkeley ist, zeigt vorzüglich Thomas Reid in: Reid 1969, 198–203 – Essays on the Intellectual Powers of Man II 12, »Of the Sentiments of Mr. Hume«. 248 Hume 1755, 372. 249 Hume 1976, 205. 250 Schulze erhielt den Beinamen nach dem antiken Pyrrhoniker Aenesidemus. 229

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La Mettrie 1990, 84–87. Cicero 1994, 86 – De legibus II 7.16, auch Cicero 1989, 70 – De finibus bonorum et malorum I 19: »ficta pueriliter«, »ad libidinem fingitur«. Kants »unverschämt« findet sich wörtlich in einem Text der Epicurea-Sammlung Usener 1887, 197 (Zeile 18: »ouk aischynetai«). Für John Locke ist Epikur »arrogant« (Locke 1975, 621 – An Essay Concerning Human Understanding IV 10, 6) 253 Zum Epikureismus in der zweiten Epoche der deutschen Aufklärung vgl. die sorgfältige und materialreiche Studie Kimmich 1993, bes. 122 ff. Kimmich geht nur marginal auf die konkurrienden Strömungen des Stoizismus und Skeptizimus ein, aber aus der Studie wird deutlich, daß nur Teile der Popularphilosophie besonders unter französischem Einfluß zum Epikureismus neigten. 254 Demokrit als Nihilist, vgl. Brandt 2001, 101–104. Daß La Mettrie gegenüber Lukrez nichts Neues bietet, wird durch einfache Textlektüre klar – viel Lärm um Nichts, Atome, leerer Raum und Bewegung. 255 S. oben S. 98. 256 Vgl. Brandt 2001, 346–363. 257 Goethe 1909–1911, IV 468. 258 S. dazu immer noch Weiser 1916. 259 Herder 1877, V 490: »[…] jener liebenswürdige Plato Europens.« 260 Shaftesbury 1963, II 98 ff. S. dazu Weiser 1916, 154 ff. mit dem Nachweis einer engen Plotin-Rezeption. »Die epochemachende Bedeutung Shaftesburys für die moderne Ästhetik erklärt sich im wesentlichen dadurch, daß er, über Plotin hinausschreitend, die Tradition der griechischen Logosidee […], mit der Energie der römischen Nomosvorstellung wie überhaupt mit der Eigenart und den Konsequenzen des stoischen Denkens verband […].« (165) 261Auf diese Übersetzungen weist Bonacina 1996, 200, Anm. 58 hin. 262 Hölderlin kannte Konz sehr gut, vgl. die Aufzählung der von Hölderlin besuchten Konzschen Veranstaltungen im Zusammenhang der Promotion September 1790, in: Hölderlin 1943 ff., VII 1, 414. Am 10. S. Brandt 2002. 263 Reimarus 1985, I 69. 264 Rousseau 1959 ff., I 1002 – Les rêveries du Promeneur Solitaire. 265 Kleanthes bzw. seine Anhänger s. von Arnim (Hrsg.) 1964, I 126, Fr. 554. 266 Svarez 1784, 44 – Brief 3. Vgl. dazu Marcos 1994, 635–643, allerdings, ohne nach der Herkunft des Naturbegriffs zu fragen. 267 Zu dieser Für-sich-Sorge (cura, concern) s. Brandt 2003b, 182–186. 268 Hegel 1927 ff., XVIII 153–160. 269 Hegel 1927 ff., XVIII 462–463. 270 S. die bekannte Formulierung Aristoteles 1991–2005, IX 2, 59 – Politik 1278b19, daß der Mensch ein politisches Lebewesen ist. 271 Aristoteles 1956, 14–15 – Nikomachische Ethik I 6, 1097 b 24–1098 a 17. Vgl. auch Platon 1900 ff., IV – Politeia I 352 d–354 a. 272 Wieland 1962, 240 bemerkt: ,,Nur in diesem Sinne also ist in Phys. B von 251 252

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der Natur die Rede: nämlich im Sinne der Wesensbestimmung des nicht hergestellten Dings, niemals aber im Sinne der Gesamtheit oder des Inbegriffs aller natürlichen Dinge.« Wo Aristoteles von Natur spreche, sei »so gut wie immer die Natur einer bestimmten einzelnen Sache« gemeint, »aber so gut wie nie die Natur im Ganzen«. »Nur im unterminologischen Zusammenhang kann Natur (physis) gelegentlich auch einmal im mehr populären Sinn die Allheit der Dinge meinen.« (Wieland 1962, 244–245). 273 S. u. a. Seidler 1981, 527 und 584–585. 274 Nach McManners 1981, 172. 275 McManners 1981, 348. 276 Vgl. Kants Versuch der Beschwichtigung in dem Aufsatz Was heißt: Sich im Denken orientieren? von 1786 (s. VIII 144,8–147,4). 277 Zur Göttlichkeit und Normativität der Natur s. Seidler 1981, 196–197. 278 Vgl. Erler 1994, bes. 144–145. 279 S. auch § 30 der Dissertation – II 418: Nur Epikur habe angenommen, daß alles im Universum nach der Naturordnung geschehe. 280 Erler 1994, 153. 281 S. oben S. 103. 282 »Quid sumus? Et quidnam victuri gignimur?« (Persius 1991, 14 – Saturae III 67). 283 »Es liegt doch einmal in dieser großen Angelegenheit so viel an dem Hinabsteigen in uns selbst, wie ein Sittendichter des Altertums es nennet […]«. Spalding verweist auf Persius 1991, 17 – Saturae IV 24: »Ut nemo in sese tentat descendere«. Kant nimmt die Metapher (mit Verweis auf Johann Georg Hamann) auf, VII 55,29–30 – Streit der Fakultäten I. 284 Cicero 1994 – De legibus I 28. 285 Spalding 2006, 1. 286 Hierauf verweist Hinske 1999, 4. 287 Cicero 1992, 22, De officiis I 7, 22. 288 Nach Hinske 1999, 4. 289 Cicero 1992, 88 – De officiis I 28.101. 290 Nach Hinske 1999, 4. 291 Vgl. u. a. Cicero 1992, 22 – De officiis I 7, 22: »[…] ut placet Stoicis, quae in terris gignantur, ad usum hominum omnia creari.« 292 Pseudo-Longinos 1966, 98–99 (pros ha gegonamen). 293 Norden 1971, 104. Zum Stoizismus des anonymen Autors s. auch Norden 1971, 105–107. 294 Bei Diogenes Laertius wird der Titel der Schrift von Chrysipp angeführt: »Beweise zu dem Satz, daß die Lust nicht Endziel sei«, 4 Bücher (Diogenes Laertius 1967, II 107 – Leben und Meinungen VII 202). 295 Diogenes Laertius 1967, II 47–48 – Leben und Meinungen VII 85–86. Vgl. Annas 1993, 263 ff. Für ihre Auffassung: »[…] it is illegitimate to contrast primitive instinctual self-concern with rationally developed impartial concern 554 | anmerkungen seite –

for others« (271) fehlt m. E. die Textgrundlage; eine überzeugende Analyse liefert dagegen Striker 1983. – Eine einschlägige Textsammlung findet sich bei von Arnim (Hrsg.) 1964, III 43–45 – Fragmente 178–189. 296 »Über die Natur des Menschen« ist ein Buchtitel Zenons, s. Diogenes Laertius VII 87. Nur das Wort »Anthropologie« gibt es nicht, der Sache nach ist dies eine stoische Disziplin. 297 Seidler 1981, 65–66, 114, 118, 184, 322, 410. 298 Vgl. Cicero 1989, 160 und 262 – De finibus II 35 und III 21. 299 Long und Sedley 1987, I 346 – Fragment 57. Vgl. zustimmend EngbergPedersen 1990, 240. Zur Übersetzungsfrage auch Annas 1993, 262. 300 Martin Mulsow bringt im Historischen Wörterbuch der Philosophie unter dem Stichwort »Selbsterhaltung« (Ritter u. a. (Hrsg.) 1971 ff., IX 393–408) wenige Zeilen zur »oikeiosis«, die nicht als eigenes Stichwort angeführt wird. Zur Selbsterhaltung (conservatio sui) vgl. jetzt auch Mulsow 1998, 14–22; Mulsow korrigiert die seit Dilthey tradierte Meinung, die Selbsterhaltungslehre der Renaissance sei stoisch; sie entwickle sich vielmehr innerhalb des fortgeltenden Aristotelismus. 301 Seidler 1981, 51. 302 Cicero 1992, 132 – De officiis I 43. 153: »Placet igitur aptiora esse naturae ea officia, quae ex communitate, quam ea, quae ex cognitione ducantur […]. Etenim cognitio contemplatioque naturae manca quodam modo atque inchoata sit, si nulla actio rerum consequatur. Ea autem actio in hominum commodis tuendis maxime cernitur; pertinet ad societatem generis humani; erga haec contemplationi anteponenda est. Atque id optimus quisque re ipsa ostendit et iudicat.« 303 Diels und Kranz (Hrsg.) 1956, II 30 – Anaxagoras Fragment A 102: »Anaxagoras sagt, der Mensch sei dadurch, daß er Hände habe, das klügste der Tiere.« 304 Gegen die Teleologie in der Biologie wendet sich Lukrez ausdrücklich im vierten Buch: Ein Körperglied ist nicht zu einem bestimmten Zweck da, sondern der zweckmäßige Gebrauch ist eine sekundäre und an sich zufällige Entdeckung des Lebewesens aufgrund seiner Bedürfnisse im Leben (vgl. Lukrez, De rerum natura IV 823–857, zur Hand vgl. 830). Daß Kant diese Stelle bestens vertraut war, beweist seine Äußerung in der Preisschrift vom Jahre 1791 (vgl. XX 293), s. Santozki 2006, 272, FN 95. 305 Zum Inhalt der Rezension s. a. Anthropologie Friedländer XXV 246; 676– 677 u. ö. 306 Vgl. weiter XV 774,16–17 u. ö.; Naragon 1987, 125; XXV 1194 wird im Sachapparat auf Reimarus verwiesen, der schon 1762 »eine entfernte natürliche Bestimmung [des Menschen, RB] zum Aufrechtgehen« findet. 307 Moscati 1771, 5–6. 308 Cicero 1995, 250 – De natura deorum II 140; Platon 1900 ff., I – Timaios 90a. anmerkungen seite – | 555

Herder 2002, III 1, 160. Dieses Motiv wird der Mutmaßliche Anfang der Menschengeschichte (1786) vertiefen. – Zum aufrechten Gang vgl. auch Herder 2002, III 2, 1017 s. v. »Aufrechter Gang«. 311 Diese generelle Position ist der Schlüssel für die 5. Sektion der Dissertation (II 410–419). 312 Vgl. dazu Brandt 2001, 205. 313 Vgl. den weiteren Verweis in der Anthropologie in pragmatischer Hinsicht, VII 212,32–35, auch V 60,26–36; XXV 16,21–18,5 und 736,15–22. 314 Übersetzung und Kommentar bei Brandt 1999d. 315 Die Eltern sollen, so viel an ihnen ist, die Kinder mit dem ihnen aufgedrungenen Zustand zufrieden machen. Daraus folgt die Pflicht der Eltern zu einem therapeutischen Eingriff beim pränatalen Embryo, wenn die sich abzeichnende Krankheit den Zustand nach dem Hinüberziehen in die Welt vorhersehbar beeinträchtigt. 316 Nicht umgekehrt wie bei Hobbes, der aus dem Faktum der natürlichen Kräftegleichheit die Freiheit erschließt, vgl. Hobbes 2003, 86–110 – Leviathan XIII–XIV. 317 S. VI 314,28: »[…] alles Frauenzimmer […] entbehrt der bürgerlichen Persönlichkeit […].« 318 Daß sie dazu stimmen, heißt also nicht, daß sie als Glieder eine Stimme haben; für sie ist der Staat kein Organismus (dazu V 375,31–37), sondern Maschine. 319 So auch im Gemeinspruch (1793) VIII 292,19–26; 293,33–294,2. 320 S. Platon 1900 ff., IV – Politeia III 414b–415d. 321 Zu dieser Differenz vgl. VI 314,17–21. 322 Pope 1961, 198 – Essay on Man III 43–48. Die Vorstellung geht u. a. auf die Stoa und Montaigne zurück. 323 Santozki 2006, 280. 324 Goethe 1887ff., XLVI 22 – Winckelmann. 325 S. Wolff 1965–1986, I 8,13–14 – Vernünftige Gedanken von dem Gebrauche der Theile in Menschen, Thieren und Pflanzen Cap. I, § 13 und Wolff 1965– 1986, I 7, 492 – Vernünftige Gedanken von den Absichten der natürlichen Dinge Cap. XI, § 242: »Alles, was auf dem Erdboden ist, gereichet dem Menschen zu vielfältigem Nutzen, ja was er nur von himmlischen Cörpern von weitem erblicket, kan er zu einigem Nutzen anwenden, wie aus der gantzen Abhandlung gegenwärtiger Schrift erhellet. Und in so weit kan man sagen, daß alles um des Menschen willen ist. Hingegen da der Mensch die einige Creatur ist, durch die Gott seine Haupt-Absicht erreichen kan, die er von der Welt gehabt, daß er nemlich als ein GOTT erkandt und verehret wird (§. 242.); so ist daraus klar, daß ihn GOTT um sein selbst Willen gemacht.« 326 S. Xenophon 1934, 162-167 – Memorabilia IV 3.3-18. 327 Seidler 1981, 592. 309

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Rousseau 1959 ff. III 142 – Discours sur l’origine de inégalité I. Stadter 1971, 88 ff. 330 Vgl. die nachfolgenden Erörterungen. 331 Vgl. in Kürze die Einleitung von Band XXVI von Werner Stark. 332 Locke 1975, 720–721, »Of the Division of the Sciences«. 333 Im Brief an Mendelssohn vom 8. April 1766 setzt sich Kant von seiner Analogie ab (X 72,17–21), greift sie aber später unter der Kautel, daß sie nicht naturalistisch mißzuverstehen ist, wieder auf. Vgl. auch Busch 1979, 35–37, der den späteren Gedanken nicht verfolgt. 334 Zur Vorprägung dieser Doppelstruktur bei dem Kant vertrauten Francis Hutcheson s. Bohatec 1938, 95–97. Bohatec dokumentiert überzeugend, wie stark Kant in der Zeit der Beobachtungen und Träume unter dem Einfluß von Hutcheson steht. 335 Aber auch X 98,19–20: »principien der Sinnlichkeit«. 336 S. II 392,18 und 395,11 den Verweis auf die »scholae veterum« und die »antiquitas«; auch XXIV 328,1–11. 337 S. II 409,1–26 – Dissertatio § 28. 338 Zu dem Problem vgl. die einflussreiche Untersuchung von Prauss 1974, 28 ff. 339 U. a. Papy 2005, 71 (Physik und Ethik) und 65: »aptare veterum philosophiam ad Christianam veritatem«. Beide sind gesetzlich bestimmt; hiermit zeichnet sich ab, wie schwierig es wird, neben die Physik eine Geisteswissenschaft zu stellen, die weder in der alten noch in der neuen Metaphysik oder Kritik einen Ort hat. Wilhelm Dilthey versuchte vergeblich, das Kantische kritische Werk durch eine vierte Kritik zu ergänzen, die »Kritik der historischen Vernunft«, s. Dilthey 1957 ff., nicht paginiert IX; 116. Dilthey hat seine Kritik vernünftigerweise nicht als vierte bezeichnet, und Kant hätte den sog. Geisteswissenschaften vernünftigerweise den Status der Wissenschaft abgesprochen. Die sog. Geisteswissenschaften sind, so kommentieren wir, viel zu kompliziert, um den simplen Gesetzen einer Wissenschaft zu unterliegen. 340 In der Metaphysik-Mrongovius wird an die eleatische Schule angeknüpft und zugleich gesagt, daß die Trennung nicht die Dinge (oder deren Aspekte), sondern die zweifache subjektive Erkenntnisform betrifft, XXIX 758,33–759,7. Die Differenz von Intelligiblem und Sensiblem war in der zeitgenössischen Literatur (z. B. Alexander Baumgarten) durch platonische oder auch skeptische Quellen vertraut, vgl. Sextus Empiricus 1985, 94 – Grundriß der pyrrhonischen Skepsis I, 8–9: »Die Skepsis ist die Kunst, auf alle mögliche Weise erscheinende und gedachte Dinge einander entgegenzusetzen, […]. » 341 Vgl. Schopenhauer 1948 ff., II 200–207 – Die Welt als Wille und Vorstellung §§ 31–32. 342 S. Cohen 1997, 6–11 – Logik der reinen Erkenntnis. 343 Platon 1900 ff., IV – Politeia VI 508c ff. 344 Vgl. den wiederholten Vorwurf IV 375,29–37; V 363,21–32. 328 329

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Leibniz 1965, V 41–42 – Nouveaux Essais sur l’entendement humain Pre-

face. Zur neuzeitlichen Idee der Naturbeherrschung vgl. Kondylis 1986, 121 ff. Vgl. Smith 1960, I 7–8 – The Wealth of Nations, »The Division of Labour«; [Diderot] 1751 ff, V 804 ff. 348 Despektierlich als »Formgebungsmanufaktur« tituliert, wie der vornehme Kaufmanns-Philosoph J. G. Schlosser es tat, s. VIII 404,5. Zu Kants Formbegriff vgl. bes. Graubner 1972. 349 Von Kant benutzt VIII 404,12; s. auch II 393,8–9. Graubner 1972, 37–92. 350 Dazu Brandt 2003b, 182–186. 351 Baumgarten 1970, 363 – Aesthetica § 560, 561; Heinz 1992, 277–278; Herder 1977 ff., I 141, 180. Hierauf hat verschiedentlich Arbogast Schmitt hingewiesen, s. Schmitt 2004, u. a. 143–145. 352 Fichte 1962 ff. I 4, 186. 353 Auch dies eine platonische, nicht stoische Reminiszenz; bei Platon gehört das Aufwecken in den Vorstellungsbereich der Anamnesis, während die Stoa mit dem Entwicklungsgedanken operiert. 354 Brandt 1998, 133–141. 355 Santozki 2006, 230–505. 356 Dazu Brandt 2001, 250–258. 357 Dazu Seidler 1983. 358 Seneca 1999, I 140 – De ira I 19, 7. 359 Du Vair 1970, 259 – La philosophie morale des Stoiques: »Elle (sc. la Prudence) nous oste les fausses opinions qui nous troublent, nous rend nos naturelles affections, et à sa suite viennent toutes les autres vertues […].« 360 Du Vair 1970, 277 – La philosophie morale des Stoiques. 361 Rousseau 1959 ff., III 518 – Le luxe, le commerce et les arts. 362 Die Unterscheidung von Affekten und Leidenschaften wird dabei fast wörtlich von Seneca übernommen, s. Seidler 1985, 420–421; zur Nachwirkung s. a. XXV 413,22–27; 589,16–590,15; 1353,25–26 (Hinweis U. Santozki). 363 Oestreich 1989, 114; 123. 364 Du Vair 1970, 259 – La philosophie morale des Stoiques. 365 Locke 1975, 99–101 – An Essay Concerning Human Understanding I 4, 22–23. 366 Seneca 1999, IV 496 – Epistulae morales 95, 57: »Actio recta non erit, nisi recta fuerit voluntas: ab hac enim est actio«. 367 Seneca 1999, V 118 – De beneficiis I 6, 3. 368 Zu Geschichte und Systematik s. Enskat 2005. Zum »Selbstdenken« vgl. auch den klaren Artikel von Ulrich Dierse 1995. 369 U. a. Sturm 2006, 395 ff. 370 Reinhart Koselleck hat mit großem Erfolg die falsche Vorstellung verbreitet, die Singularisierung »der« Geschichte sei eine Tat der späten Aufklärung; vgl. dagegen die detaillierte Richtigstellung von Sawilla 2004. Sawilla 346

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seinerseits geht nicht auf den Begriffsgebrauch in der Antike ein (»historia magistra vitae« – selbst wenn Cicero das Diktum nicht gesagt hat, er hätte es ohne Nachfrage verstanden). Zum Präsentwerden der Zukunft im späten 18. Jahrhundert vgl. Koselleck 2003, 225–230; Brandt 2006a, 97–111. 371 Voltaire 1877 ff. XI, VIII–IX – »La philosophie de l’histoire«. 372 So Aristoteles 1894, 22 – Nikomachische Ethik X 10, 1181b. 373 Kant würde den Nachweis der Legitimität einer bestimmten Epoche (Hans Blumenberg, Legitimität der Neuzeit) wohl im Ansatz für verfehlt halten. Man müsste nach demselben Muster auch die Vorgeschichte, die Antike, das Mittelalter und die Postmoderne legitimieren, und dann wäre man insgesamt bei der Idee zu einer allgemeinen Geschichte in weltbürgerlicher Absicht. 374 Stark 1993, 231–234 (232). 375 Leibniz 1965, VII 308 – De rerum originatione radicali: »In cumulum etiam pulchritudinis perfectionisque universalis operum divinorum, progressus quidam perpetuus liberrimusque totius Universi est agnoscendus […].« Blumenberg 1966, 37–38: »Die Theodizee von Leibniz […] schließt gerade dadurch jeden Ansatz zur Geschichtsphilosophie aus, daß sie die Qualität der Welt als der besten aller möglichen Welten in statischer Unüberbietbarkeit behauptet und dem Menschen so hinsichtlich der Verbesserung dieser Bestimmung seine Rolle schlechthin bestreitet.« Das »statisch« muß vielleicht gestrichen werden. 376 S. oben S. 92; 161. Naragon 1987, 198–225. 377 Dazu Brandt 2006. 378 Auch die Rousseauschen Paradoxa werden finalistisch interpretiert; ihre Funktion ist es, die Aufmerksamkeit auf ein sonst verdecktes Problem zu lenken. 379 Rousseau 1959 ff., IV 245. 380 In der Vorlesungsnachschrift Metaphysik Herder (zwischen 1762 und 1764) fehlt beim Vergleich von Tieren und Menschen noch der Hinweis auf die Perfektibilität der letzteren, XXVIII 116–117. 381 Immer als die identische Gattung Mensch. 382 Vgl. II 445,1–452,5; X 191,15–195,5; 201,10–207,2; 214,20–216,11; 234,6–235,25; 236,30–239,7; 518,20–521,19. 383 Schon in den Bemerkungen in den Beobachtungen, also ungefähr zehn Jahre zuvor, findet sich der Satz: »Die Erziehung des Rousseau ist das einzige Mittel dem Flor der bürgerlichen Gesellschaft wieder aufzuhelfen.« Und dann: »Der letzte Zweck ist die Bestimmung des Menschen zu finden« (XX 175,5–6; 29). 384 In einer Mitschrift der gleichzeitigen Vorlesung zur Anthropologie heißt es ebenso euphorisch: »Ueber die Erziehung sind schon viele Vorschläge und Schriften von Philosophen vorhanden, man hat sich Mühe gegeben zu untersuchen, worinn der Hauptbegrif der Erziehung bestehe. Die jetzigen Basedowschen Anstalten sind die ersten, die nach dem vollkommenen Plan geschehen sind. Dieses ist das größte Phaenomen, was in diesem Jahrhundert zur anmerkungen seite – | 559

Verbeßerung der Vollkommenheit der Menschheit erschienen ist, dadurch werden alle Schulen in der Welt eine andere Form bekommen, dadurch wird das menschliche Geschlecht aus dem Schulzwange gezogen, es ist zugleich eine Pflantzschule vieler Lehrmeister.« (XXV 722,30–723,5, vgl. auch X 234,11– 235,30). 385 Zur singulären Stellung Europas s. Brandt 2006. 386 Kant 2004, 367. 387 Kant 2004, 364–365. 388 Wenn es XXV 687,8–10 heißt: »[…] sondern sie verließen alles, und gingen in ihren vorigen Zustand der Natur und der Freiheit zurück. Die Freiheit ist also die heitere Luft, so alles versüßet«, das hatte schon Herodot von den Skythen und Tacitus von den Germanen gesagt. 389 Vgl. jedoch schon die Notiz »Von der Freyheit« XX 91–95; dazu unten S. 280. 390 Kant 2004, 368. 391 Mainka 1995, 242–324. 392 Zit. nach Mainka 1995, 317. 393 Buffon setzt selbst Epigenesis der Menschheit in Parallele zur Astronomie. Dougherty 1990, 261. 394 Zu dem Muster der dualen Stufung in der Erkenntnis vgl. unten S. 506. Kant ist Kepler und Newton zugleich, denn er liefert einen Leitfaden für eine Philosophie der Geschichte (Kepler) und gibt die Kräfte an, die die Bewegung erzeugen (Newton); zum letzteren s. VIII 18,16–17. Vgl. auch die Doppelrolle als Kopernikus und Newton im Konzept der sog. kopernikanischen Revolution S. 232. 395 Vgl. die Deutung in der »Rechtslehre« VI 341,23–342,13. 396 Von Keimen, Samen (stoisch: spermata, semina), Anlagen und Trieben zum Guten und Rechten sprach auch Spalding 2006, 87 u. ö., s. Sachindex 314– 348. 397 S. oben S. 114. 398 Diese Logos-Gestaltung wurde schon 1771 in der Moscati-Rezension verteidigt, s. oben S. 154–157. 399 Dazu V 424,6–34. 400 Lukrez 1960, 191 – Von der Natur der Dinge V, Vs. 837–840. 401 Schleiermacher wird den Gedanken aufnehmen und das Fortschreiten des Weltgeistes selbst so beschreiben, daß wir den Gedanken und Entwurf, »der das Ganze diesem Ziele näher bringt, nach vielen gescheiterten Versuchen dennoch endlich einmal gelingen sehen.« (Schleiermacher 1927–1928, IV 274 – Über die Religion. Reden an die Gebildeten unter ihren Verächtern. 2. Rede) 402 Dazu oben S. 143. 403 Dazu Brandt 1999, 395–396. 404 Vgl. auch die Analyse der »vergleichenden Selbstliebe« in der Religionsschrift VI 27,4–26. 560 | anmerkungen seite –

Platon 1900 ff., IV – Politeia IV, 435e; Timaios 24c. Vgl. hierzu und zu den drei Leidenschaften der Ehrsucht, Herrschsucht und Habsucht meine Ausführungen in D’Artagnan und die Urteilstafel (Brandt 1998, 41–51 und 56–58); s. auch unten S. 512. 406 Hobbes 2003, 70. 407 Vico 1963, I 107 – La scienza nuova, »Degli elementi« 7: »La legislazione considera l’uomo qual è, per farne buoni usi nell’umana società: come della ferocia, dell’avarizia, dell’ambizione, che sono gli tre vizi che portano a travverso tutto il genero umano […].« Vgl. auch den »buon uso«, den die Vorsehung bei den alten Römern von den Lastern des Hochmuts, der Habsucht und der Grausamkeit für den Staat und die »pubblica virtù« machte, Vico 1963, I 51. 408 Thomasius 1700–1705, I 302 – Obs. XIX: De scholis antediluvianis; vgl. Zedelmaier 2003, 68–69. Thomasius weicht von der tradierten Dreierordnung ab, indem er das Laster des unteren Standes in voluptas und avaritia aufteilt und auf die Herrschsucht verzichtet. Derartige Änderungen werden häufig in Begriffskonstellationen vorgenommen, die trotzdem identifizierbar bleiben. 409 Wesen mit Vernunft ohne Moral: V 449,4–10. Der Begriff der instrumentellen Vernunft, den die Frankfurter Kritische Theorie benutzte, wird von Kant nicht gebraucht, der Sache nach ist er jedoch durch die Differenz von vernünftigem und Vernunftwesen (VI 26,6–11; 418,5–23) gegeben. 410 Zum Begriff des Demiurgen vgl. XXI 66,15 und 19. 411 Schopenhauer 1948 ff., II 483–487 – Die Welt als Wille und Vorstellung § 71. 412 Lethen 1994, 181. 413 Zur Vollständigkeit der Entwicklung vgl. dort VIII 18,20; 32; 19,5. 414 Aristoteles, Nikomachische Ethik X 9, 1179a33 ff. 415 Locke 1975, 249 ff. – An Essay Concerning Human Understanding II 21, 29 ff. 416 Zur organologischen Interpretation des Staates in der KdU s. unten S. 474. 417 Umgekehrt bei Hobbes 2003, 86–110 – Leviathan XIII–XIV. 418 Vgl. Aristoteles 1991–2005, II 49–86 – Politik III, 1274a–1288b. 419 Locke 1970, 287 – »The Second Treatise« II 4. 420 Die Differenz von passiv und aktiv im Staatsbürgerrecht entspricht der von »pflichtgemäß« und »aus Pflicht« in der Moral, in der Ästhetik der Unterscheidung von Normalidee und Ideal des Schönen etc.; vgl. zu dieser bislang nicht entdeckten Kantischen Stufung unten S. 505–507. 421 S. Losurdo 1991, 74. 422 Wir nehmen die Überlegungen von S. 199 ff. wieder auf. 423 Schiller 1943 ff., XVII 375. 424 Schiller 1943 ff., XVII 374. 425 Die »invisible hand« von Adam Smith, die auf dem großen Gemälde der Zeiten und Völker nun doch sichtbar wird. 405

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Schiller 1943 ff., XVII 375–376. S. oben S. 200. 428 Blumenberg 1975, 691; Kapitel V: »Was ist an Kants Wendung das Kopernikanische?« (691–713). Vgl. auch Gerhardt 1987. 429 Fußnote zu B XVI in der Meiner-Ausgabe. Der Singular entspricht der isolierenden Tendenz der »kopernikanischen Wende«, der die bisherigen Interpretationen folgen. 430 Die Formulierung »versuchte, ob es [er] nicht« ist der Schrift Idee zu einer allgemeinen Geschichte in weltbürgerlicher Absicht entlehnt. Dort lautet der Satz in der Präambel: »Es ist hier keine Auskunft für den Philosophen, als daß, da er bei Menschen und ihrem Spiele im Großen gar keine vernünftige eigene Absicht voraussetzen kann, er versuche, ob er nicht eine Naturabsicht in diesem widersinnigen Gange menschlicher Dinge entdecken könne; aus welcher von Geschöpfen, die ohne eigenen Plan verfahren, dennoch eine Geschichte nach einem bestimmten Plane der Natur möglich sei.« (VIII 18,5–11) Hier ist entsprechend der zweiten Vorrede der KrV der Name des Kopernikus einzusetzen; Kepler und Newton folgen am Ende desselben Absatzes. 431 Dazu unten S. 247 ff. 432 Auch Kopernikus benutzt das Wort in beiden Bedeutungen, zuerst spricht er von der »cotidiana revolutio«, dann von den »revolutiones orbium caelestium« (Copernicus 1974 ff. II 9; 17 u. ö.). Für beide Annahmen beanspruchte Kopernikus keine Originalität. Zum Titel des Werks s. Copernicus 1974 ff., III 1, 73. – Die Abfolge der beiden Schritte von Achsendrehung der Erde und Bewegung der Erde (und damit aller Planeten) um die Sonne findet sich auch in Galileis Schrift Dialoghi dei massimi sistemi (1632); die Erdrotation wird am zweiten, die Planetenbewegung um die Sonne am dritten der insgesamt vier Dialog-Tage erörtert. Kants eigene Entdeckung geschieht in derselben Reihenfolge: Zuerst die Entdeckung des Erscheinungscharakters der Gegenstände der Erfahrung, danach die Konzeption des autonomen, vom Erkennen und Fühlen unabhängigen reinen Willens. Dazu später Näheres. – Es ist zu beachten, daß es zu Kants Zeit keine feste Disziplin der Wissenschaftsgeschichte gab. 433 So auch Blumenberg 1986, 704. 434 Voltaire 1877 ff. XXII 190 – Traité de Métaphysique, Introduction. Vgl. auch in Voltaires kurzer »Histoire de l’attraction »die präzise Reihenfolge: »Copernic, ce Christophe Colomb de l’astronomie, avait à peine appris aux hommes le véritable ordre de l’univers, […] que la terre tourne, et sur elle-même et dans un espace immense […]. »Also sowohl erstens die Rotation wie auch zweitens der Umlauf um die Sonne. 435 Ein Nachklang von Platons »die Dinge im Himmel aber werden wir sein lassen« (Platon 1900 ff., IV – Politeia VII 530b7). 436 Vgl. Copernicus 1974 ff. – De revolutionibus I 10: »[…] terram non esse centrum […]. In medio vero omnium residet Sol.« Nach Gerhardt 1987, 134 ist 426 427

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in der Vorrede der 2. Auflage der KrV von einer Analogie des kritischen mit dem heliozentrischen Standpunkt nicht die Rede. 437 Lambert 1965, II 247 – Phaenomenologie § 51. 438 Zur »invisible union« im Moralsystem vgl. Ottow 1991, 563. 439 Vgl. unten S. 410 ff., 446 ff., 450 ff. 440 Im Text »angesehen«, zu ändern mit Vorländer. 441 Vgl. hierzu Brandt 2007a. 442 So schon Francis Hutcheson, s. Anm. I 334. Friedrich Schlegel schreibt in den Philosophischen Vorlesungen (1800–1807): »Kants Moral geht hervor aus einem Wunsch, für die sittliche Welt ein Gesetz zu finden, das so allgemein wäre wie das Newtonische AttrakzionsGesetz in der physischen Welt.« (Schlegel 1958 ff. XII 51 – Tranzendentalphilosophie. Jena 1800–1801) Schlegel wird sich jedoch nicht auf die Träume als den genetischen Springpunkt beziehen, sondern auf spätere Schriften, aus denen oben zitiert wurde. 443 Zur Berufung auf die natürliche Betrachtung s. S. 145–146 u. ö. 444 Hume 1978, 282. 445 Hume 1978, 1. 446 Hume 1978, 12–13; vgl. auch 283. 447 Hume 1755, 16–19. 448 Platon 1900 ff., IV – Politeia IV 436a–437a. 449 S. oben S. 72. 450 Aristoteles 1991–2005, IV 37 – Politik VII 14, 1333a. Aristoteles 1956, 14 – Nikomachische Ethik I 6, 1098a. 451 S. Wolff 1965–1986, II 7, 1, 244 – Theologia naturalis I, II, § 268. Schneiders 1983. 452 Kant denkt an Platon 1900 ff., I – Phaidon 99d-e. Dort ist von verschiedenen Brechungen des Sonnenlichts die Rede, so daß es sich nahe legt, im Kantischen Text statt »in der Reflexe« zu lesen »in den Reflexen«, denn »die Reflexe« als Singular ist sonst nicht belegt. 453 Dazu Schneiders 1990, bes. 83–92. 454 Diese Position ist nicht der durch den transzendentalen Idealismus ermöglichte empirische Realismus (A 369–377)! 455 Hier wäre der Ort für einen ausführlichen Exkurs zur Symboltheorie Ernst Cassirers. 456 U. a. Falkenburg 2000, 266. 457 Vgl. Descartes 1964 ff., VII 79–80 – Meditationes VI. 458 Bibel, Weisheit Salomons 11, 21. S. auch Platon 1900 ff., IV – Politeia X, 602d. 459 Zu diesem Problem Brandt 2001, 61–68. 460 Zu den drei Möglichkeiten vgl. Hume 1755, 348: »Durch welche Gründe kann man erweisen, daß die Begriffe und Vorstellungen des Gemüthes durch äußerliche Gegenstände verursacht werden müssen, welche von denselben ganz unterschieden sind, ob sie ihnen schon, wenn das möglich ist, gleichen; und daß anmerkungen seite – | 563

sie nicht aus dem Vermögen des Gemüthes selbst, oder aus der Eingebung eines unsichtbaren und unbekannten Geistes, oder einer noch andern uns noch unbekannteren Ursache entstehen können?« Die Ordnung also nach der metaphysischen Trias von Gott (Berkeley), Welt (übliche Auffassung), Seele (Selbstaffektion) und der vierten unbekannten Möglichkeit; vgl. auch Hume 1978, 84 – A Treatise of human nature I 3,5. Aus diesem metaphysischen Dilemma windet sich Kant 1781 mit der vierten Möglichkeit eines uns gänzlich unbekannten Dinges an sich heraus. 1770 erkannten wir die »res ipsae« noch mit dem Intellekt. 461 Leibniz 1924, II 131–133 – Von dem Verhängnisse. 462 Leibniz 1924, II 132 – Von dem Verhängnisse. Kant: »Vordem galt noch der Einwurf des Alphonsus« (XX 59,1–2). Rousseau 1959 ff. III 41 spricht ungenau vom »mot impie d’Alphonse«. 463 Philipp 1957, 85–87. 464 S. Böhme u. Böhme 1983, 214, 222. Zur »Demütigung« auch Blumenberg 1986, 710.. 465 Nietzsche 1967 ff., VIII.1, 125 – Nachgelassene Fragmente Herbst 1885– 1887. Mit »x« reformuliert Nietzsche witzigerweise das traditionelle »(N)ichts«, wie die neuere Nietzsche-Forschung entdeckte. Daß Kopernikus die kopernikanische Revolution nicht erfand, sondern das Rollen der Menschheit aus dem Zentrum ins Nix nur entdeckte und dieses Rollen entgegen Nietzsches Datierung eigentlich seit Urzeiten stattfindet, ist hermeneutisch gesehen unwesentlich. 466 Allgemeine Literatur Zeitung 2, 1785, Nr. 80, S. 21, zit. nach Schröpfer 2003, 272. 467 Zum »Einfluß von Schütz auf Kants Gestaltung der zweiten Auflage der Kritik der reinen Vernunft« s. Schröpfer 2003, 272–278. 468 Jakob 1786, II. 469 Platon 1958 ff., III 224 – Politeia 515c. Das Wenden – periagein – wird schon 514b angesprochen. 470 U. a. in den »Acta Apostolorum« 20, 21. 471 Hier gebraucht als Zusammenfassung von Erdrotation und Heliozentrik. 472 Bei Platon »exaiphnes«, 1900 ff., II – Symposion 210e. Kant spricht von einem »glücklichen Einfall« (B XI). 473 Zammito 2002, 259–260. 474 Die Skizze stimmt im Großen und Ganzen überein mit der »Datierung der kritischen Wende« von Falkenburg 2000, 172–175. 475 Kants Angriff auf die Schulmetaphysik geschieht in einer Zeit, in der die Leibniz-Wolffsche Metaphysik in der Berliner Akademie der Wissenschaften ständig angegriffen wurde, der Spott aus Frankreich tat ein weiteres, um das Zermalmen der deutschen Schulmetaphysik zu erleichtern. 476 Wolff 1965–1986, II.3 456 – Philosophia Prima sive Ontologia § 591. 477 S. oben S. 232 ff. 564 | anmerkungen seite –

Vgl. schon oben S. 111 unseren Hinweis zur Bestimmung des Menschen am Schluß der Träume. 479 Groß 1912, 33. 480 Die Formel von 1787 greift zu kurz: »Ich mußte also das Wissen aufheben, um zum Glauben Platz zu bekommen.« (B XXX) Aber richtig ist, was Kant zuvor sagt: »Und bei einem solchen Verfahren hat uns die spekulative Vernunft zu solcher Erweiterung immer doch wenigstens Platz verschafft, wenn sie ihn gleich leer lassen mußte, und es bleibt uns doch unbenommen, ja wird sind gar dazu durch sie aufgefordert, ihn durch praktische Data derselben, wenn wir können, auszufüllen.« (B XXI–XXII) Das zugleich Schiefe und Symptomatische für die 2. Auflage liegt wiederum darin, daß die KrV von 1781 den Platz der Dialektik nicht leer ließ, sondern mit regulativen Ideen der theoretischen Erkenntnis besiedelte. Diese haben aber in dem sich anbahnenden Dualismus von Kritik des Verstandes (1781) und Kritik der Vernunft (1788) kein eigenes Gebiet Platz mehr; jetzt teilen sich Naturmechanismus und Freiheit den Platz, d. h. die beiden einzig vorhandenen Plätze auf dem Boden, B XXIX. Zwischen ihnen siedelt sich ohne eigenes Gebiet die Urteilskraft an, die Funktionen der früheren regulativen Ideen übernimmt. 481 Vgl. u. a. Kühn 2003, 217. 482 Dazu unten S. 293 ff. 483 Vgl. Strawson 1981, 41; Zammito 2002, 275. 484 Wolff 1965–1986, I.2 488–489 – Vernünfftige Gedancken von Gott, der Welt und der Seele des Menschen § 784. Diese Seelenbestimmung impliziert die Immaterialität und damit die Möglichkeit der Unsterblichkeit. Jede Aufteilung der Seele in verschiedene Vermögen gefährdet diese Position, auch die Kantische Vermögenslehre oder die gegen Wolffs Seelenbestimmung entwickelte Funktionsanalyse im ersten Teil der »Transzendentalen Deduktion« in der KrV von 1781. 485 Vgl. Falkenburg 2000, 173–174. 486 U. a. in einer sonst vorzüglichen Arbeit Ritter 1971. 487 Entsprechend weist die KpV nur auf die ersten beiden Abschnitte der GMS zurück, V 8,8–11. 488 Klemme 2004, 60. 489 In der gegenwärtigen Debatte um Freiheit versus Hirndeterminismus spielt die Berufung auf die vernünftige Begründung eigenen Handelns eine Rolle (u. a.Tetens 2006, 258–265); hier bietet die KrV Anknüpfungsmöglichkeiten, jedoch nicht die KpV. 490 Kant 2004, 111 u. ö.; dazu Schönecker 2005, 122–127. 491 Ist dies der »Stein der Weisen«? Zu dem Terminus vgl. Kant 2004, 69 und die Anm. von Werner Stark. In der Sache führt Kant den Gedanken IV 462,18– 21 fort. Busch 1979, 81 verweist auf Pierre Bayles »pierre de touche de tous les préceptes et de toutes les lois particulières […]«; aber XXIII 468,13 schreibt Kant: »Diese After Philosophie (Lapis philosophorum)«. 478

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»Diese Fragen betreffen das höchste Intereße derselben [sc. der Vernunft, RB], und die Vernunft soll sie nicht mehr an uns thun, heißt, sie soll aufhören, Vernunft zu seyn.« (XXIX 765,15–17); s. a. Pascher 1991, 83–84. 493 Vgl. auch IV 367,31–33 – Prolegomena: »[…] weil es sonst kein Mittel giebt, diesem dringenden Bedürfniß, welches noch etwas mehr ist als bloße Wissbegierde, abzuhelfen.« Albrecht 1978, 136–137. 494 Man bemerke: Der Eros ist durch den positiven Wert des Erstrebten gekennzeichnet, das Interesse und Bedürfnis dagegen durch den Mangel und die Unruhe des Subjekts. 495 Locke 1975, 11 – An Essay Concerning Human Understanding, »Epistle to the Reader«. 496 Locke 1975, 45 – An Essay Concerning Human Understanding I 1, § 5. 497 Seneca 1999, IV 805 – Epistulae morales ad Lucilium 121,9. 498 Seneca 1999, IV 806–808 – Epistulae morales ad Lucilium 121,16. 499 Seneca 1999, IV 808 – Epistulae morales ad Lucilium 121,17. 500 Zum Motiv der Selbstsorge im Epikureismus des 18. Jhdts. s. Kimmich 1993, 226 ff. 501 Anonymus 1796, 10–11. 502 Lichtenberg 1800–1801, II 60. s. a. 503 Hume 1978, 269 – A Treatise of Human Nature I 4, 7. Diese Fragen kommen bei Kant nicht vor, obwohl sie in der Königsbergischen gelehrten und politischen Zeitung vom 5. und 12. Juli 1771 unter dem Titel »Nachtgedanken« anonym abgedruckt war. Lichtenberg kann den Treatise als Humesches Werk in London gelesen haben. 504 Fénélon 1983–1997, II 599 – Démonstration de l’Existence de Dieu II 1,4. 505 Vgl. auch Höffe 2003, 313: »Die ›ganze Bestimmung‹ ist daher im Rückgriff auf die drei Fragen zu verstehen«. Nur bleibt dunkel, was genau unter dem »Rückgriff« zu verstehen ist. 506 So auch in der Metaphysik Mrongovius: »Die Vernunft würde lieber alle andre Wissenschaften aufgeben wollen als diese [sc. die Metapysik, RB].« (XXIX 765,14–15) 507 Hier wird die regulative Funktion der Ideen, die wir oben ansprachen, ausgeblendet. Diese Tendenz verstärkt sich natürlich mit der Konzeption der KdU. 508 S. oben S. 49. 509 1. Korinther 13, 13. Vgl. dazu Norden 1971, 348–354, bes. 352. Norden untersucht die triadische Struktur, ta tria tauta. 510 Imbach 1998, 283. 511 S. dazu Brandt 1998, 190–196. 512 Comenius 1938, 187. Ich folge einem Hinweis von Ulrike Santozki (Marburg). 513 Wladimir Iljitsch Lenin: Was tun? (1902). 492

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Anmerkungen Kapitel 7–10

Tetens 2006. So Henrich 1989, 37. 3 Bes. Henrich 1989; Ishikawa 1991. Höffe 2003, 34 spricht von einer »judikativen Kritik«, gerät aber bei den Details ins Schleudern; er denkt z. B. an einen Strafprozeß (37), daß dies jedoch ausgeschlossen ist und nur das Zivilund Zivilprozeßrecht als Modell dient, zeigt schon Henrich, s. jedoch bes. Marcos 1994. Die Bemerkung, die Vernunft müsse die Natur nötigen, auf ihre Fragen zu antworten, so wie der bestallte Richter »die Zeugen nötigt, auf die Fragen zu antworten« (B XIII–XIV) zielt eher auf einen Strafprozeß, aber das ist eben schon die zweite Auflage der Kritik, die sich nach Bacon und nicht nach Locke richtet. 4 Gettier 1963. Dazu ausführlich Enskat 2005. Die Erkenntnis wird sowohl bei Platon und Kant, besonders entschieden in der Stoa als generisch unterschieden von der Meinung aufgefasst; die alethes doxa Platons ist eine gerechtfertigte richtige Meinung, jedoch keine Erkenntnis, weil der Gegenstandsbereich der bloßen Meinung die exakte Erkennbarkeit und der der exakten Erkenntnis das Meinen ausschließt. 5 Dazu Caimi 2005, der gut die Kantische Innovation herausarbeitet. 6 Vgl. Hume 1978, 1–13 – A Treatise of Human Nature I 1, 1, 1–4. 7 So Liedtke 1964, 33 ff. Zu den vielen Bedeutungen von »Kritik« auch Tonelli 1978; die juridische Bedeutung dort S. 120, 122. 8 Anschauung und Denken sind so irrtumsfrei wie das Schmerzgefühl und können ebenso wenig gerechtfertigt werden; sie sind allerdings keine Privatsache einzelner Menschen, sondern Eigentümlichkeiten der Menschheit. Henrich 1989, 44 ff. stellt heraus, daß der Reflexion Raum und Zeit und die transzendentale Apperzeption zugänglich sind, die dann ihrerseits der Deduktion als Grundlagen dienen. 9 U. a. Baum 1986, 45–172. 10 Vgl. Wolff 1981, 45–61. 11 Hobbes 2003, 93 – Leviathan I 14. 12 Schon in der Phase beta (also 1752–1755/56) notiert Kant: »Z. E. die Platonische republick. des Abts St. Pierre Vorschläge.« (XVI 686,14 – Refl. 3157). Mit dem Hinweis werden zwei Beispiele zu Georg Friedrich Meiers Auszug aus der Vernunftlehre (1752) § 335 gegeben: »Eine Aufgabe ist falsch, […] 2) wenn die Auflösung in gewisser Absicht unmöglich, z. E. wenn sie durch die Kräfte der Menschen, oder in gewissen Umständen nicht möglich ist.« (s. XVI 1 2

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686,31–687,27). Kant wird später das Urteil in beiden Fällen positiv revidieren und die Bedingungen entwickeln, unter denen der den beiden Autoren gemeinsame Friedensgedanke rechtswirksam werden kann. 13 Zum rein formalen Status des akademischen Bürgers vgl. Brandt 1999c. 14 Zu freiheitlichen Tradition Königsbergs vgl. Manthey 2005. Manthey erörtert nicht die Frage, wie es zuging, daß Königsberg in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts eine kulturelle Blüte erlebte, während vorher und nachher das Reichs-Mittelmaß herrschte. Königsberg gleicht hierin Schottland, das in der zweiten Epoche der Aufklärung eine schwer erklärbare Hochform der Kultur erlebte. 15 Kiefner 1978, 289. Es ist der Entwurf einer Widmung der KrV an Johann Heinrich Lambert erhalten; Adickes datiert ihn ca. Herbst 1776 (XVIII 64, 2–17 – Refl. 5024). Man wird annehmen können, daß Kant in dieser Phase die KrV noch nicht als Rechtstraktat abfassen wollte. 16 Zum Zusammenhang von Kritik und Rechtsurteil vgl. Koselleck 1973, 81–103; 195–206; Marcos 1994, 302 ff. Die Rolle des Richters der KrV übernimmt jeder Leser, von dem Kant »die Geduld und Unparteilichkeit eines Richters« (A XXI) erwartet, nur ist nicht jeder Leser ein »gültiger« Richter, »gültig« wohl »competens« im Sinn von »kompetenter Richter« (VI 312,26), auch XIX 445,4,5 – Refl. 7521: »competens iudicium«. – Daß ein bestimmter Leser einer Schrift als ihr musterhafter Richter angesprochen wird, gehört zu den gängigen zeitgenössischen Vorstellungen, vgl. z. B. II 170,22. – Die Anspielung auf die Richter-Rolle fehlt in der wiederholten Widmung der 2. Auflage. 17 Mainka 1995, 100. 18 Schmidt 1943, 16–17; Mainka 1995, 116–120; Marcos 1994, 403 ff. 19 Dilthey 1957 ff., XII 131. 20 Hattenhauer 1994, 57. Die Sätze »Sowohl dem Staat als seinen Bürgern müssen die wechselseitigen Zusagen heilig sein« und »Durch Machtsprüche soll niemand an seinem Recht gekränkt werden« wurden aus der 1794 publizierten Fassung gestrichen, s. Dilthey 1957 ff., XII 202. 21 Hierauf hat Henrich 1989, 32 ff. hingewiesen. 22 Es gibt ähnliche Unternehmungen in anderen europäischen Staaten (s. Marcos 1994, 341–342), aber Kant scheint in dieser Phase der Ausarbeitung der KrV nicht auf andere Länder, etwa Österreich, zu blicken. 23 Erich Adickes hat auf die Bedeutung von Gottfried Achenwalls Jus naturae aufmerksam gemacht, XVI 792,27–28 zur Refl. 3347; Achenwall 1767, 257–272 – »De modis lites finiendi« behandelt die Weisen der juridischen Streitbeendigung unter den Gesichtspunkten von factum und jus; § 292: »Circa factum vero quod moveri potest dubium, vel est 1.) an factum sit verum seu an existat, vel 2.) si de veritate facti constat, an sit justum. Probatio existentiae vel non existentiae facti est probatio facti, probatio iustitiae vel iniustitiae facti pertinet ad probationem (deductionem) iuris.« Zur »imputatio« und »quaestio facti« bzw. »legis« s. Marcos 1994, 380 ff. 568 | anmerkungen seite –

Bacon 1962–1963, IV 263; die lateinische Originalfassung: »vel potius (sumto exemplo a causis civilibus) in hac Vindicatione Magna sive Processu, a favore et providentia divina concessu et instituto (per quem genus humanum jus suum in naturam recuperare contendit), naturam ipsam et artes super articulos examinemus.« (Bacon 1962–1963, I 403) 25 Locke 1975, 346 – An Essay Concerning Human Understanding II 27, 26. 26 Hinske 1972; ich folge der der Darlegung von Hinske. S. a. Marcos 1994, 490–491. 27 Dazu Vaihinger 1881, I 106–107. 28 Walch 1740, 103–104. Zur Präsenz der juridischen Gewissensauffassung bei Pierre Bayle vgl. die vorzügliche Analyse bei Busch 1979, 83–85. S. auch Vaihinger 1881, I 108, Anm. 29 Vgl. u. a. Ritter 1971, 90–102. 30 Vgl. schon VIII 257,9–18 – Über das Mißlingen aller philosophischen Versuche in der Theodicee (1791). 31 Vgl. unten S. 515. 32 Dazu bringt Ishikawa 1990 eine gute Vorarbeit, aber mit der im Titel der Arbeit angegebenen Sonderthematik; wenig hilfreich ist Kaulbach 1982. Die weitaus wichtigste Arbeit ist die Dissertation von Marcos 1994. 33 S. a. A 11: »[…] so können wir eine Wissenschaft der bloßen Beurteilung der reinen Vernunft, ihrer Quellen und Grenzen, als die Propädeutik zum System der reinen Vernunft ansehen.« Noch XXI 69,30–31: »Sie [sc. die Transzendentalphilosophie] enthält nicht das Materiale der Erkentnis und des Objects sondern das Formale das die Grenze und den Umfang der Erkentnis des Subjects«. Vgl. auch V 12,1–5: »Auf diese Weise wären denn nunmehr die Principien a priori zweier Vermögen des Gemüths, des Erkenntnis- und Begehrungsvermögens, ausgemittelt und nach den Bedingungen, dem Umfange und den Grenzen ihres Gebrauchs bestimmt, hiedurch aber zu einer systematischen, theoretischen sowohl als praktischen Philosophie sicherer Grund gelegt.« 34 Die Formulierung »aus Prinzipien« enthält vermutlich einen Vorverweis auf die Bestimmung der Vernunft als »das Vermögen der Prinzipien« (A 299) und die nähere Erläuterung einer »Erkenntnis aus Prinzipien« A 300. Eine Sammlung einschlägiger Stellen mit Literatur bringt Vaihinger 1881, I 107–122; Konhardt 1979, 49 ff. 35 Zu dieser Geschichtsauffassung vgl. Lukrez 1960, 200–201 – Von der Natur der Dinge V 1105–1150. 36 Vgl. unten S. 370. 37 Man sieht, wie hinderlich es ist, in einer modernen Edition der KrV die 2. Auflage zum Leittext zu machen, wie es fast durchgängig geschieht. 38 S. oben S. 251 ff. 39 Zur Einsetzung (institutio) der KrV als eines Gerichtshofes vgl. A 751. 40 Locke 1975, 43 – An Essay Concerning Human Understanding I 1, 2. 41 Der Sache nach hätte Kant an die pyrrhonische Skepsis erinnern können, 24

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die mit einer subjektivistischen Wende einsetzt: Für die pyrrhonische Skepsis wird als Anfangsfrage überliefert: »Zuallererst gilt es, die eigene Erkenntnismöglichkeit zu erforschen; denn wenn unsere Natur es uns nicht gestattet, etwas zu erkennen, dann braucht man über anderes gar keine Betrachtungen anzustellen.« (Zit. in der Übersetzung von Görler 1994, 736. Vgl. auch Sextus Empiricus 1985, 114 – Grundriß der pyrrhonischen Skepsis I 90). Wie steht es, fragt der pyrrhonische Skeptiker, mit den subjektiven Bedingungen der Möglichkeit unserer Erkenntnis? Während Descartes nach einem völlig gewissen Gegenstand der Erkenntnis sucht und ihn paradoxerweise in sich selbst findet, wollen Locke und Kant in der Nachfolge der pyrrhonischen Skepsis die subjektiven Bedingungen der spezifisch menschlichen Erkenntnis überhaupt untersuchen. 42 Später heißt es in der Metaphysik Mrongovius: »An Critic der reinen Vernunft hat bis jetzt noch keiner gedacht.« (XXIX 764,19) Die subjektivistische Wende von Locke verblieb in der empirischen Psychologie und damit im Bereich der »quaestio facti«, während die Kritik die Frage stellt, »mit welchem Rechte bedienen wir uns derselben [der Begriffe, RB]. […] denn das ist die Critic, also quaestio iuris.« (XXIX 764,7–8) Die Rechtsfrage richtet sich, wie die nachfolgenden Ausführungen zeigen, auf die Vernunftbegriffe der Dialektik, auf die sich unsere unabweislichen Fragen und das höchste Interesse unserer Vernunft richtet, XXIX 765 passim. 43 Zit. in der Übersetzung Kant 1958, 3. Kant betonte den Singular der »origo« und sah bei dem Sensualisten Locke nur die eine »genesis« aus der sinnlichen Affektion, der »sensatio«; entsprechend war Locke für ihn mit eigenständigen intellektuellen Erkenntnissen aus der »reflexio« schlicht inkonsequent. 44 Es läßt sich m. E. nicht nachweisen, daß Kant diese Schrift gelesen hat. 45 Locke 1957, 84. 46 Man erinnere sich des Titels von Wilhelm von Humboldts Ideen zu einem Versuch, die Grenzen der Wirksamkeit des Staats zu bestimmen (verfasst 1792), in: Humboldt 1903–1936, I 97–254. 47 Zu dieser Unterscheidung vgl. z. B. Aristoteles 1987, Physik I 2–3, 184a. 48 Es dürfen entsprechend die Prinzipien nicht mit den Quellen identifiziert werden, wie Förster 1998, 43 will. Zur grundsätzlichen Bedeutung des Vierten vgl. das 10. Kapitel. 49 Vielleicht hat Kant A 19 den Fehler begangen, den Topos der Opposition von Rezeptivität oder Sinnlichkeit und Begriffen als Spontaneität an den Anfang der Transzendentallehre zu stellen und sich dadurch so gänzlich falsche Urteile wie: »Die KrV vertritt zweifelsohne den Empirismus« (Sala 2004, 196) auf den Hals zu ziehen. Den Empirismus, um die Redewendung aufzunehmen, vertritt zweifelsohne John Locke, und gegen ihn stellt Kant seine Form- und Prinzipienphilosophie mit dem »aber«. Deswegen handelt die Transzendentale Ästhetik zweifelsohne von den beiden Formen der Sinnlichkeit, Raum und Zeit, und läßt damit den Empirismus unendlich hinter sich. 570 | anmerkungen seite –

Locke 1975, 11. S. schon oben 259–261. Voltaire 1877 ff., XXII 122 – »Lettre XIII, Sur M. Locke«. 52 D’Alembert 1967, I 70 – Discours préliminaire de l’Encyclopédie. 53 Nietzsche 1967 ff., VII.2 203 – Jenseits von Gut und Böse, Achtes Hauptstück, § 252. 54 In den letzten Jahren hat sich die Lage geändert; Förster 1998 weist auf Locke hin, auch Mohr 2004, III 64. 55 In dieser kurzen Erd-Kunde referiert Kant, was er in der Vorlesung über Physische Geographie am Anfang unter dem Titel der »Mathematischen Geographie« vortrug. Wichtiger ist jedoch die Bedeutung der Kugelform der Erde für das Kantische Privatrecht, s. VI 262,20-26. 56 Locke 1975, 46 – An Essay Concerning Human Understanding I 1, 5. Die folgenden Paraphrasen und Zitate stammen aus den §§ 6 und 7 des Essay. 57 Das ist die Lockesche Benennung dessen, was Kant als »Alles Interesse meiner Vernunft […]« (A 804) fassen wird. 58 Also auch hier: Grenzüberschreitung der menschlichen Erkenntnisvermögen durch eine dogmatische Metaphysik; unvermeidlicher Streit mit dem Ergebnis des völligen Skeptizismus, und drittens die eigene kritische Revision der menschlichen Erkenntnis mit einer Umfangs- und Grenzbestimmung. 59 Eine Vorformulierung findet sich XVIII 38,16-32 – Refl. 4949. 60 Sc. Rechtstitel, »titulus«, s. VI 264,9 ff., 268,3 ff.; A 739 »titulierter Besitz«. 61 Der Kompaß tritt an die Stelle der stoischen moralischen Orientierung an den Sternen, s. Seneca 1999, IV 488-491 – Epistulae morales ad Lucilium 95,4546. 62 Zu gemeinsamen Stoizismen s. Brandt 2003b. 63 Lukrez 1960, 47 – Von der Natur der Dinge II 1-13. Kant bezieht sich explizit auf diesen Lukreztext VII 238,33-36; XV 695,15. 64 S. Brandt 2001, 134-136. 65 Locke 1975, 10 – An Essay Concerning Human Understanding, Epistle to the Reader. 66 Vgl. Über eine Entdeckung (1790) VIII 221,26-223,8 zur Frage der Angeborenheit (der Möglichkeit der Anschauung) und des ursprünglichen Erwerbs der formalen Anschauung. Dazu auch Longuenesse 1998, 252-253. 67 Später heißt es: »Wir haben oben die Begriffe [!] des Raumes und der Zeit, vermittelst einer transzendentalen Deduktion zu ihren Quellen verfolgt […].« (A 87) 68 Zur inneren topologischen Korrespondenz der beiden ersten Kritiken vgl. unten S. 361–368. 69 Zu dem relativ neuen Begriff der Tatsache vgl. Kiefner 1995, 69-77. 70 Vgl. oben S. 273 ff. 71 Locke 1975, 44 und 105 – An Essay Concerning Human Understanding I, I, Introduction § 2. und II, I: »Of Ideas in general, and their Original« §§ 3-4. 50 51

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Daß Kant mit dem Begriffspaar »Erfahrung und Reflexion« implizit auf John Locke verweist, bestätigt folgender Verweis innerhalb der »Amphibolie der Reflexionsbegriffe«: »[…] so wie Locke die Verstandesbegriffe […] insgesamt sensifiziert, d. i. für nichts, als empirische, oder abgesonderte Reflexionsbegriffe ausgegeben hatte.« (A 271) 72 Vgl. oben 298 ff. 73 Zum heilsamen Scheitern und dem Guten, das nur aus dem Scheitern erwachsen kann, vgl. V 107,27–29. 74 Ein singuläres Einsprengsel: Es sei schon eine hinreichende Deduktion der Kategorien »und Rechtfertigung ihrer objektiven Gültigkeit, wenn wir beweisen können: daß vermittelst ihrer allein ein Gegenstand gedacht werden kann.« (A 96–97). Der Text der transzendentalen Deduktion selbst bringt den Beweis, der der ihm äußerlichen juridischen Deduktion dient. 75 Speziell zur Apprehension (A 97 ff.) vgl. Zedler 1732–1754, II 965 s.v. apprehendere: »[…] ein modus adquirendi dominium, da eine Sache sich mit uns, mit dem Vorsatz, selbige zu erwerben, vereiniget, und dies geschiehet ratione Objecti, entweder bey Sachen, die noch niemand zugehören, und also nullius, oder bey Sachen, die bereits einem zugehören, und in solchem Verstande, heißt apprehensio die Ergreiffung, sc. der Possession, so eine Art, die Herrschaft über eine Sache zu überkommen.« Apprehension: Immer schon gedacht als potentieller Rechtsbestand im öffenlichen Recht. Entsprechend ist das apprehendierende Ich ein Ich überhaupt, das als solches entprivatisiert und öffentlichkeitsfähig ist. 76 Man kann nicht mit Zammito 2002, 280 den Eröffnungssatz der KrV als Bestätigung von Kants Äußerung gegenüber Garve nehmen, denn das Interesse der menschlichen Vernunft richtet sich auf die Gegenstände der Dialektik, nicht nur auf die Antinomie im Weltbegriff. 77 Aus der prekären Annahme, daß ein Philosoph in Schottland die conditio sine qua non für die Weltenwende der kritischen Philosophie wurde, wird jetzt eine innere Schieflage der Vernunft selbst, die in Königsberg ans Tageslicht trat. Hume ist tatsächlich nur relevant für die Analytik, das Erweckungsmotiv der Antinomie (Garve-Brief) bezieht sich auf die komplementäre Dialektik. 78 Vgl. auch im Ewigen Frieden: »[…] so bleibt mir noch die Form der Publicität übrig, deren Möglichkeit ein jeder Rechtsanspruch in sich enthält, weil ohne jene [Publizität, RB] es keine Gerechtigkeit (die nur als öffentlich kundbar gedacht werden kann), mithin auch kein Recht, das nur von ihr ertheilt wird, geben würde.« (VIII 381,7–11). Die Gerechtigkeit ist die Institution der rechtserteilenden Gerichtsbarkeit. 79 Zit. nach Schmidt 1943, 3–4. »Durch Machtspruch« ist die zeitgenössische Übersetzung von »ex plenitudine potestatis«. 80 Durch den Machtspruch »jus quaesitum subditis auferre non potest«, nach Schmidt 1943, 4. 572 | anmerkungen seite –

Mainka 1995, 116: »[…] spätestens seit der Mitte des 18. Jahrhunderts wurden Eingriffe des Monarchen durch ›Machtsprüche‹ in den gewöhnlichen Gang der Ziviljustiz als unzulässig angesehen.« S. a. Schmidt 1943, 6–7 und 11: »Sicher ist nur, daß für den Bereich der Zivilrechtspflege der Machtspruch seit der Mitte des 18. Jahrhunderts verworfen wird.« 82 Mit der Formulierung »nicht über Unrecht klagen« (so auch im Ewigen Frieden: Aufrührer »können eben so wenig über Ungerechtigkeit klagen«, VIII 382,12–13) greift Kant auf eine ältere Rechtstradition zurück, so heißt es z. B. bei Samuel Pufendorf: »Nam de iniuria sibi facta ne ipse quidem qui laesus [physisch!] est, queri potest, ideo quia consentit in aleam pugnae legibus vetitae. Sed legislatori utique violatum suum interdictum exsequi fas erit.« (Pufendorf 1996, IV 1, 96 – De jure naturae et gentium I 7, 13 Ende; vgl. auch Pufendorf 1995, I 132 – Elementa I, Def. 12, § 35 (»nec de iniuria queri potest«). Pufendorf setzt einen bestehenden Staat voraus, bei Kant geht es um dessen Gründung. 83 Mit einer derartigen Abfolge rechnet Lukrez 1960, 200–201 – Von der Natur der Dinge V 1105–1150. 84 Platon 1900 ff., I – Phaidon 99d. 85 Die Termini einer Seele oder eines Gottes für uns werden von Kant nicht gebraucht; s. Brandt 2007b. 86 Richtig: »Anhörung«? 87 Kiefner 1978, 299; 305. 88 Vgl. den Hinweis auf den »Advocatenbeweis« in der Antinomik, A 430. Zur Problematik der Stellung der Advokaten in der zeitgenössischen preußischen Rechtsprechung s. Grahl 1993. Dieselbe Zufallsentscheidung gibt es nach Kant im barbarischen Mittelalter: »Daher auch rüstige Ritter, sie mögen sich für die gute oder schlimme Sache verbürgen, sicher sind, den Siegeskranz davon zu tragen, wenn sie nur dafür sorgen, daß sie den letzten Angriff zu tun das Vorrecht haben, und nicht verbunden sind, einen neuen Anfall des Gegners auszuhalten.« (A 422–423) 89 »Hobbes behauptet: der Stand der Natur sei ein Stand des Unrechts« (A 452); das sagt Hobbes nun gerade nicht, der Naturzustand ist bei ihm dadurch ausgezeichnet, daß es in ihm kein Unrecht gibt, vgl. Brandt 1999b. Die Kantische Vorstellung des Naturzustandes als eines »Zustand[es] der Ungerechtigkeit« (VI 97,10–11) ist Hobbes fremd. 90 Cicero 1963, 586 – De divinatione II 150: »Cum autem proprium sit Academiae iudicium suum nullum interponere, ea probare, quae simillima veri videantur, conferre causas et, quid in quamque sententiam dici possit, expromere, nulla adhibita sua auctoritate iudicium audientium relinquere integrum et liberum, […].« 91 Heimsoeth 1966–1971, II 276. 92 Was würde Kant zu Heimsoeths »großen Daseinsfragen« sagen? Wie soll man das in einen Kantischen Ausdruck zurückformulieren? 93 Hume 1963, 11 – Of the Liberty of the Press. 81

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In einem anderen Sinn VII 275,24: »Neigungen des Wahns machen den schwachen Menschen abergläubisch […].« Aber auch: »Weiber, Geistliche und Juden betrinken gewöhnlich sich nicht, wenigstens vermeiden sie sorgfältig jeden Schein davon, weil sie bürgerlich schwach sind und Zurückhaltung nöthig haben (wozu durchaus Nüchternheit erfordert wird).« (VII 171,1–4) 95 Dazu auch Kiefner 1978, 314. 96 Kiefner 1978, 293. Dort weitere Belege zum »jus praetensum«. In der Prozeßordnung von 1781 wird formuliert: »Viertens muß er [sc. der Assistenzrat, RB] von dem Kläger eine ausführliche Erzählung des Facti, worauf derselbe seinen Anspruch gründen will, […] fordern.« »Worauf dieser Anspruch eigentlich gehe […].« (Corpus Juris Fridericianum 1781, I 9) 97 Quintilian 1959, VII 7, 1: »Proximum est de legibus contrariis dicere, quia inter omnes artium scriptores constat, in antinomia duos esse scripti et voluntatis status, neque immerito, quia, cum lex legi obstitit, utrimque contra scriptum dicitur […] omnibus autem manifestum est numquam esse legem legi contrariam iure ipso […].« Wie bei Kant die Antinomie auf einem Schein beruht, so kann im Recht selbst, also dem Naturrecht, keine Gesetzesantinomie auftreten. 98 Vgl. in der Metaphysik Mrongovius: »Aber dies ist bloß ein practischer Glaube, bei dem der Mensch durch jeden speculativen Zweifel irre gemacht werden kann. Um nun diese speculativen Zweifel und Untersuchungen, die durch den practischen Glauben nicht widerlegt werden können, […] aufzulösen, müssen auch speculative principien entgegengesetzt werden, und dieß thut die Metaphysik.« (XXIX 938,10–15) 99 Es ist zu beachten, daß Kant das Privatrecht seinerseits nicht in dem Prinzip begründet, die sittliche Pflicht begründe ein Recht auf die Mittel, sie zu erfüllen, wie es einige Autoren im Anschluß bes. an die GMS taten (dazu Kersting 1993, 142–151), sondern in der Rechtswidrigkeit eines Verbots von äußerem Mein und Dein, VI 246,3–247,8. 100 Platon 1900 ff., I – Phaidon 65a–67b. 101 Zur Kantischen Isomorphie von republikanischer Gewaltenteilung und der Dreiteilung der menschlichen Erkenntnis- und Gemütsvermögen s. bes. Marcos 1994, 413 ff. 102 S. Anm. II 99. 103 S. die Ausführungen zur Vierten Kritik im Kap. 10. 104 S. 277. 105 Mit einer teleologischen Begründung u. a. in der Menschenkunde (1781– 1782) XXV bes. 877,29–886,10. Das Recht der Freiheit der Druckerpresse (XXV 881,14) begleitet konsequent die Forderung des irrtumsanfälligen Selbstdenkens. Die Gegenbegriffe sind Autorität und blinder Gehorsam, also die Unterwerfung unter die Vergangenheit. 106 Zum Text vgl. Pinder 1986; s. a. die Fußnote in der Edition der KrV Hamburg 1998, 83. 94

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Ich danke Walter Jaeschke (Bochum) für die Bestätigung dieser Annahme: Schelling und Hegel beziehen sich auf B, Fichte ausdrücklich auf die »neue Ausgabe«, mit Seitenangaben, die B entsprechen. Die Fichte-Editoren greifen stets auf die 3. Ausgabe 1790 zurück. Jacobi benutzt A und B und betont in einem Vorspann zur 2. Auflage (1815) der Beilage »Ueber den transcendentalen Idealismus« zum »David Hume« (JWA 2.103), mit den Verbesserungen in KrV B sei auch »einiger Verlust für den Leser verbunden«; deshalb sucht er »Leser, denen es um Philosophie und ihre Geschichte ein Ernst ist, zu einer Vergleichung der ersten Ausgabe d. Kr. der reinen Vernunft, mit der verbesserten zweyten zu bewegen.« Und er verlangt: »Da sich die erste Ausgabe schon sehr selten gemacht hat, so sorge man doch wenigstens in öffentlichen und auch größeren privat Büchersammlungen, daß die wenigen davon noch erhaltenen Exemplare nicht zuletzt ganz verschwinden.« – Gottlob Ernst Schulze benutzt im Aenesidemus (1792) die 2. Auflage, s. [Schulze] (1996) 117, Anm. 18. Schopenhauer berichtet in seiner »Kritik der Kantischen Philosophie« von seiner Entdeckung der 1. Auflage der KrV, Schopenhauer 1948 ff. II 514–516 – Anhang. Kritik der Kantischen Philosophie. 108 Schopenhauer 1948 ff., II 626 – Anhang. Kritik der Kantischen Philosophie. 109 Julius Ebbinghaus mündlich. 110 Arendt 1998. 111 Vaihinger 1881, I 107. 112 Henrich 1989. 113 Ishikawa 1990. 114 S. Baum 1980. 115 Kersting 1986. 116 Kant hatte verständlicherweise kein Interesse daran, den Wortlaut stereotyp zu wiederholen; was in der Sache gemeint ist, geht aus jeder der Formulierungen hervor. Eine Ausnahme bilden die drei bzw. vier explizit unterschiedenen Varianten GMS IV 421,7–8; 421,18–20; 429,10–12. 117 Sloterdijk 2005, 102. Zu dem alten Vorwurf des Formalismus und der Unanwendbarkeit vgl. Kants aus dem kategorischen Imperativ gewonnene Rechts- und Tugendlehre in der MdS; s. a. Ebbinghaus 1986 ff., II 209–230 – Die Formeln des kategorischen Imperativs und die Ableitung inhaltlich bestimmter Pflichten. 118 Die nun auch nach Sala 2004, 139 Kants »Ethik zugrunde liegt«. 119 Habermas 2005, 52 u. ö. In Bezug auf Kants Selbstverständnis wäre die Diskursethik nur ein methodischer Anhang, in dem die Prinzipien vorausgesetzt sind und Einübungsdiskurse stattfinden. 120 Hruschka 2004. 121 Vgl. auch die sorgfältige Rekonstruktion des Formalismus in der GMS bei Esser 2004, 156–161. 122 Gassendi 1959, 368; Kant 1900 ff., II 72 ff. – Beweisgrund I 1: »Das Dasein ist gar kein Prädicat oder Determination von irgend einem Dinge«. 107

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Fichte 1962 ff., I 4, 225. Der Vergleich stammt von Bernd Ludwig (mündlich). 125 Der kategorische Imperativ ist keine Orientierungsoption, die sich unserer freien Reflexion stellt; s. dazu Esser 2004, 183–192. Wir sollen ohne Wahlfreiheit die Operation vollziehen, indem wir unsere Handlungsmaxime dem Test der möglichen Gesetzlichkeit unterwerfen. 126 Der Weltbegriff wird von Kant ohne ontologische Ambitionen gebraucht. 127 S. oben S. 256–257. Auch diesen Schritt vollzieht Habermas nicht. 128 Zum Weltbegriff im kategorischen Imperativ s. auch oben S. 232 ff. Ganz anders interpretiert u. a. Klaus Düsing das Sittengesetz als »eine gesetzmäßige Verknüpfung der selbstanfangenden Ursache mit ihrer Wirkung.« (Düsing 2002, 219) 129 Zum Naturprodukt, in dem alles zugleich Mittel und Zweck ist, s. unten S. 462 ff. 130 Vgl. IV 447,6–7; vgl. zur neueren Diskussion Esser 2004, 193–198. 131 Vgl. Brandt 2004. 132 Vgl. dazu oben S. 40. 133 Darauf wurde schon oben S. 40 hingewiesen. 134 Beck 1960, 55 schreibt nur: »Kant incorrectly recalled the division of the first Critique«. Daß Kant hier einfach »einen enormen Gedächtnisfehler« (Vaihinger 1881, I 492) begeht, halte ich für ganz unwahrscheinlich. S. auch Sala 2004, 194–199; die von Sala nicht akzeptierte These, daß die angeführten Stellen einen Umbau im Gesamtsystem der Kritiken anzeigen, wird verstärkt durch die oben angeführte Passage aus der Vorrede der KrV von 1787. 135 Immer unter der Hypothese, daß es überhaupt so etwas gibt wie Pflicht. 136 Das Pendant in der KrV ist die inhaltsleere reine Form der Anschauung, die Kant an den Anfang stellt (gegen Sala 2004, 196, s. oben Anm. II 49). 137 Fichte 1962 ff. I 4, 225: »Die erste Idee ist natürlich die Vorstellung von mir selbst, als einem absolut freien Wesen.« Habermas schreibt richtig: »Deontologische Theorien in der Nachfolge Kants mögen noch so gut erklären können, wie moralische Normen zu begründen sind und anzuwenden sind; aber auf die Frage, warum wir überhaupt moralisch sein sollen, bleiben sie die Antwort schuldig.« (Habermas 2005, 15) Die Notwendigkeit der Moralität lässt sich nach Kant nicht deduzieren oder begründen, und aus ihrer einzigmöglichen Form ergeben sich die inhaltlichen Weltgesetze, immer nach Kant. Die Strategie von Habermas ist eine Rückkehr zur Heteronomie, in der nicht Gott oder ein Despot, sondern eine Gemeinschaft der Menschen den inhaltsbestimmten Willen dirigiert, wohin er will oder nicht will. 138 In der GMS heißt es: »Was ich unmittelbar als Gesetz für mich erkenne, […]« (IV 401). Was heißt genau »unmittelbar« bei einem nur diskursiv und propositional möglichen Gesetz? 139 Dies wird häufig angenommen, neuerdings in der sonst klugen Arbeit von Verena Mayer 2006. 123 124

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Es ist eine Konsequenz dieser Anlage, daß Kant den Initialbegriff der GMS, den des guten Willens, in der KpV gänzlich meidet. 141 Zum irreführenden Titel »Von der Deduction der Grundsätze der reinen praktischen Vernunft« s. überzeugend Sala 2004, 120–121. 142 S. oben S. 252. 143 Kant betont auch in der KrV, daß die praktische Vernunft der Einsicht der spekulativen Vernunft »auch eben nicht widersprechen« dürfe; vgl. V 120,16–17 und 121,8. 144 Dazu Seidler 1981, 85–86; Kant zitiert praktisch Seneca, De vita beata 9, 3. 145 Bibel, 1. Mose 3, 5. 146 Vgl. Hobbes 1949, 57–58 – De cive III 31; dazu mit Literatur Kondylis 1986, 153–163. 147 Vgl. u. a. 115–125. 148 Die Selbstzufriedenheit wird hier als nur »negatives Wohlgefallen« (V 117,30) charakterisiert, was der sonstigen Charakteristik bei Kant und in der Tradition der Stoa und ihrer Kritiker widerspricht. Zur Selbstzufriedenheit vgl. weiter V 126,35–127,16; IV 396,34; Kant 2004, 20; 138, 198. 149 Baumgarten 1969, 7 – Ethica philosophica § 7. Vgl. die wie immer vorzüglich recherchierte Sammlung von Albrecht 1978, 153, Anm. 472. 150 Auch Kant 2004, 113. 151 Dativ! Der Gedanke entspricht A 808. 152 Dieser Meinung ist Albrecht 1978, 50–55; so auch Förster 2002, 177. 153 Albrecht 1978, bes. 43 ff. 154 Albrecht 1978, 80–83, 100 f., 139 f., 143 f. wendet sich gegen die schon häufig vorgebrachte Interpretation des Verhältnisses von Moralität und Glück im höchsten Gut als Gerechtigkeitsproblem; das stimmt auch, wenn man wie Albrecht nur den theologischen Aspekt sieht: Wir können nicht mit Gerechtigkeitsforderungen gegenüber Gott auftreten. Albrecht betrachtet jedoch nicht die gesamte KpV auf der Folie der Rechtsphilosophie, wie hier vorgeschlagen wird. 155 Vgl. auch Kant 2004, 62: »Man hat also mit Recht eingesehen, daß ohne einen obersten Richter alle moralischen Gesetze ohne Effect wären, alsdenn wäre keine Triebfeder, keine Belohnung und keine Bestrafung.« Wie die KrV sagt auch die Moral Kaehler daneben: »Das ist das wesentliche Stük der Moralitaet, daß unsre Handlungen aus dem BewegungsGrunde der allgemeinen Regel geschehen.« (Kant 2004, 65 u. ö.) Und schon bei Kaehler heißt es auch: »Denn Gott will die Glückseligkeit aller Menschen und zwar durch Menschen […]« (Kant 2004, 83,13–14; vgl. auch 365,6–8). 156 Vgl. oben S. 116–117. 157 Vgl. Kant 2004, 119,30 (»Realität«); IV 439,14–15 (»Realität«). 158 Man konsultiere ein griechisches Lexikon, dort findet man diese beiden Grundbedeutungen, und beim ersten Wortgebrauch wird gewöhnlich auf die Ethikoi Charakteres von Theophrast hingewiesen. Kant kennt in seinen Anthro140

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pologie-Notizen und -Vorlesungen und der Anthropologie von 1798 (VII 191,12 ff.; 291,23 ff.) beide Bedeutungen. Neben dem wertfreien psychologischen Charakterbegriff gibt es die Rede vom Charakter mit einem emphatisch positiven Zug beim »Mann von Charakter« (vgl. auch V 156,18). 159 Kant benutzt diese Wörter nicht mehr, macht jedoch von dem doppelten Charakterbegriff Gebrauch, s. u. a. V 97,31; 98,10; 99,10. 160 Kant führt hiermit ein Argument an, das schon Poseidonios gegen Chrysipp verwendet, vgl. Theiler 1982, 342 – Fragment 423, Zeile 7–19: Kinder, die unter gleichen Umständen geboren und erzogen werden, können in ihren moralischen Eigenschaften höchst unterschiedlich sein. Da es sich um einen griechischen Galentext handelt, gibt es sicher eine oder mehrere neuere Quellen, deren sich Kant bedient. – Die »intelligible That« der Religionsschrift (VI, 31,2 und 39,26) bezieht sich generell auf die Verkehrung der Maximen und ist der Ursprung des radikalen Bösen überhaupt, kann also nicht für die moralischen Differenzen bei Kindern in Anspruch genommen werden. 161 Platon 1958, III 307 – Politeia 617d–e. Vgl. auch neben vielen anderen Autoren Rousseau 1959 ff., IV 587–588 – Emile IV: »Le mal moral est incontestablement nôtre ouvrage, […]. Homme, ne cherche plus l’auteur du mal, cet auteur c’est toi-même«. 162 Henrich 1954–55, 34. Das Problem der geistig-seelischen Einheit stellte sich schon in der empirischen Psychologie vor Kant. Christian Wolff bestimmt die Seele als »vis repraesentativa«, zugleich aber soll es daneben die Grundkraft des Wollens geben: In welcher mentalen Einheit ist beides begriffen? 163 Vgl. schon Kants Brief an Marcus Herz vom 21. 2. 1772: »Allein unser Verstand ist durch seine Vorstellungen weder die Ursache des Gegenstandes, (außer in der Moral von den guten Zwecken) […].« (X 130,25–27) Dies gilt 1788 nicht nur von den guten Zwecken, sondern a fortiori von den Begriffen des Guten und Bösen. 164 Platon-Sokrates braucht dieses Urteil nicht zu kümmern, weil die Einsicht in das moralisch Richtige nicht aus einem jedermann präsenten Bewußtseinsfaktum resultiert, sondern das Ergebnis einer Erkenntnisleistung ist, die vielleicht nur wenige vollziehen. 165 Vgl. weiter XV 936,18–19; die Konsequenz in der Rechtslehre: »[…] alles Frauenzimmer […] entbehrt der bürgerlichen Persönlichkeit« (VI 314,28– 32). 166 Ist es identisch mit dem Unvermögen der MdS? »Die Freiheit in Beziehung auf die innere Gesetzgebung der Vernunft ist eigentlich ein Vermögen; die Möglichkeit von dieser abzuweichen ein Unvermögen« (VI 227,2–5). 167 Bobzien 1988, ihr im Wesentlichen folgend Sala 2004, 147–153. 168 Dies verfehlt die Arbeit von Davis 1992. 169 Vgl. dazu oben S. 374–378. 170 Bei Kant wird von einer ästhetischen Auffassung bzw. Beurteilung »vor allem Begriffe« gesprochen, V 192,19 (vgl. auch 289,18), aber das heißt nur, daß 578 | anmerkungen seite –

die reine ästhetische Beurteilung ohne den bestimmten Begriff des Gegenstandes geschieht. 171 Zur vorkritischen antiken Teleologie vgl. Theiler 1925, zur Teleologie in der ersten Hälfte des 18. Jahrhunderts vgl. Philipp 1957. 172 Hume 1756, unpaginiert. 173 Dazu Brandt 1984, 118–121. Es gibt auch weiterhin blinde Leser und Herausgeber der Schrift, die sich weigern, das, was ihnen von Hume gezeigt wird, zu sehen. 174 Vgl. dazu Brandt 2006a, 34–36. 175 Die Entdeckung stammt von Ulrike Santozki. 176 Frank und Zanetti nehmen dagegen eine Gliederung in Dreiergruppen vor (in: Kant 1996, 1164). 177 Dies wird von Ameriks 2003, 293–306 nicht wahrgenommen. So beschäftigt er sich mit der Frage: »[…] why the beauty of a rose requires any more of a deduction than its size or fragrance.« (300) Findet man die einfache Antwort nicht in der KrV und der KdU, muß alles »odd« und »notoriously unclear« (301) bleiben. 178 Ich behandle nicht getrennt die Exposition des Geschmacksurteils nach Maßgabe der Urteilstafel; dazu s. Allison 2001, 73–84. 179 Zusammenfassend Theophrast in: Diels 1958, 516–520 –De sensibus 61–71; sodann Lukrez 1960, 68–71 – Von der Natur der Dinge II 730–864 und Locke 1975, 134–135 – An Essay Concerning Human Understanding II 8, 9–10. 180 Vgl. unten 412–413. 181 Statt des häufig wiederholten »Form der Zweckmäßigkeit« auch »Zweckmäßigkeit der Form«, u. a. V 223,24. 182 Ameriks 2003, 293: »[…] a Kantian ought to acknowledge the objectivity of taste (which, in this context, means that it rests on objectively beautiful and immediately perceivable natural forms).« Der Bezug auf die Natur fällt hier nun gerade, wie sich zeigen wird, fort. 183 Vgl. in der Dissertation: »Nam per formam seu speciem obiecta sensus non feriunt; […]. (II 393,8) 184 Kant versucht nur einmal, wenn ich richtig sehe, der Achtung eine Verabscheuung (des Bösen) neben zu ordnen, s. oben S. 387. 185 Wiesing 1997, 36, 51–52. 186 Winckelmann 1972, 150 ff. Die Schönheit beziehe sich einerseits auf die wohlgeformten Körper, wozu es keiner philosophischen Bildung bedürfe, man müsse jedoch den Menschen »auch in den Stand der Handlung und Leidenschaft setzen« (150) »Nach der Betrachtung über die Bildung der Schönheit ist zum zweiten von dem Ausdrucke zu reden. Der Ausdruck ist eine Nachahmung des wirkenden und leidenden Zustandes unserer Seele und unseres Körpers […]. Es kann auch der Begriff einer hohen Schönheit nicht anders erzeugt werden als in einer stillen und von allen einzelnen Bildungen abgerufenen Betrachtung der Seele.« (164–165) »Myron« (162). anmerkungen seite – | 579

Dazu Brandt 2006, 41–42. Goethe 1960, XII 136. Zu den Irrungen und Wirrungen um Goethes Aufsatz s. den Kommentar 607–611 (ohne einen Hinweis auf die von Goethe nicht erkannte Formfunktion der Kuh in der Ästhetik). 189 S. S. 450–455. 190 Zur Herkunft aus den »principia convenientiae« vgl. Brandt 1992, 123– 124. 191 Dazu Ameriks 2003, 285; Auswahl von Produkten, die schön sind: V 359,3–13. Dagegen: Die Natur verbreitet verschwenderisch »allerwärts Schönheit« (V 279,21–24). 192 Dazu unten Anm. II 198. 193 Hierin darf man nichts Kopernikanisches sehen, wie Allison 2001, 111 ff. animmt, sondern ein Analogon des »Paradoxon der Methode« der reinen praktischen Vernunft, V 62,36–63,4. Dazu Brandt 1995. Bei den von Allison diskutierten Interpretationen (Guyer, Ginsborg) fehlt die Berücksichtigung des »Lebensgefühls« (V 204,8), das die Grundlage des Wohlgefallens beim harmonischen Spiel der Erkenntniskräfte bildet. 194 S. dazu V 238,19–23. 195 Die objektive Erkenntnis ist der Ausgangspunkt auf der Suche nach der Bedingung der Mitteilbarkeit von ästhetischen Urteilen, der Sache nach stehen jedoch beide Weisen der Realisierung der Zusammenstimmung der Erkenntniskräfte gleichursprünglich nebeneinander; in den Texten finden sich keine Spuren einer in der Sache, also der ratio essendi, fundierenden Funktion des freien Spiels gegenüber der verstandesbestimmten Erkenntnis. 196 Die Konzentration auf dieses freie Spiel ist gut verständlich; die Verstandeserkenntnis einer Natur, die nichts anderes sein soll als eben ein Gegenstand unseres Relationensystems (Analytik der Verstandes), und zweitens die Vernunftmoral, die uns zur 24-stündigen Moral pro Tag verpflichtet, sind wenig attraktiv, wenn man an die Bildung des Menschen im ganzen denkt. So gewinnt die Ästhetik eine höchste Bedeutung für die kulturelle Bestimmung des Menschen als Menschen. 197 Die Zweckmäßigkeit der teleologia rationis humanae wäre, wenn ich richtig sehe, ihrerseits kein Gegenstand der reflektierenden Urteilskraft und kein Produkt der Technik der Natur, sondern gehört in den Sonderbereich der Bestimmung. Der Mensch ist »durch Verstand und Sinne in Verbindung zu urtheilen bestimmt« (V 219,21–22) – durch welches Erkenntnisvermögen erkennen wir das? 198 Man vgl. Eberhard 1776, 135: »Sobald wir es [sc. das gewünschte Gut] besitzen, ist der Zauber gehoben, und das unbegränzte Spiel der Einbildungskraft wird auf das bestimmte deutliche Anschauen der Sinne herabgesetzt.« Benito Jerónimo Feijóo y Montenegro spricht vom freien Spiel [tan libre juego] der Stimmen, die wir hören, und: »Tambien le [sc. dem Gesichtssinn, à la vista] agrada el juego que hacen entre sí varios colores, […] que hacen una armonia 187

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apacible á los ojos, como la disposición de diferentes puntos de á los oidos.« (Feijóo 1961, I 350 – »El no sé qué« § II und IV). Zu Humes »play with facility and exactness« s. unten S. 442. Antike Vorformen sind mir unbekannt. Zu Kants eigener Verwendung des Spielsbegriffs in der (Phase einer) bloß empirischen Ästhetik bes. in den Anthropologie-Vorlesungen vgl. Giordanetti 2005, 78 ff. 199 Vgl. oben mit dem Literaturverweis auf Brandt 2003b. 200 Diogenes Laertius 1967, II 48 – Leben und Meinungen VII 86. 201 Vgl. z. B. V 203,9; 211,3; 231,34; 242,7–8; 279,11 (»Wohlgefallen oder Mißfallen«); 280,26 (»Lust oder Unlust«); 282,14 (»Wohlgefallen oder Mißfallen«); 331,14–15; VII 240,3 (»Unterscheidung durch Wohlgefallen oder Mißfallen«). 202 Wenn Kant schreibt, das Geschmacksurteil gründe sich »gleichsam auf einer Autonomie des über das Gefühl der Lust (an der gegebenen Vorstellung) urtheilenden Subjects« (V 281,11–12), verwischt er das Ergebnis seiner Exposition des Urteils, so auch in der Ersten Einleitung, XX 229,8–13; 20. In der Anthropologie in pragmatischer Hinsicht (1798) heißt es ebenfalls: »Die Beurtheilung eines Gegenstandes durch Geschmack ist ein Urtheil über die Einstimmung oder den Widerstreit der Freiheit im Spiele der Einbildungskraft und der Gesetzmäßigkeit des Verstandes […].« (VII 241,18–21) Das Geschmacksurteil ist hier offenbar mitteilbar wie jedes andere logische, bejahende oder verneinende, also unterscheidende Urteil einfach aufgrund seiner Urteilsstruktur; es ist nicht mehr in den mitteilbaren Gemütszustand, den der Einstimmung der beiden Erkenntniskräfte, involviert. 203 Octav p. 7, sie wird in Bd. XXVI der Akademie-Ausgabe erscheinen. 204 Die Schrift war Kant auf Deutsch zugänglich in den Vier Abhandlungen (1759): Von der Grundregel des Geschmacks. 205 Die Ideendeduktion ist eine in der Literatur umstrittene Sache; s. nur Hohenegger 204, 144. 206 Zuerst Guyer 1979. 207 Gemäß V 266,18–19 und 267,22 sind das erste und zweite Buch des ersten Abschnitts die Exposition, auf die die Deduktion folgt; Kant selbst verwendet den Begriff der Exposition nicht im Titel des fraglichen Abschnitts. 208 Diese Auffassung wird auch von Wieland 2001, 204–221 vertreten. 209 Vgl. auch schon V 191,36. 210 Kant weist die Frage V 289,4 der Transzendentalphilosophie zu; sie wird jedoch auch im Bereich der reinen praktischen Vernunft gestellt, z. B. IV 454,11, die meistens nicht als transzendental geführt wird; sie gehört zur gesamten kritischen Philosophie. 211 Während Kant ursprünglich eine getrennte Deduktion des Erhabenheitsurteils plante, sah er bei der endgültigen Redaktion, daß durch die Bezugnahme auf den reinen Willen (V 280,12) der KpV eine Deduktion gar nicht möglich sei (ähnlich wie beim kategorischen Imperativ) oder wenigstens nicht nötig sei, weil der Wille sowieso die höchste Legitimationsinstanz ist. anmerkungen seite – | 581

Man beachte hier die Verwendung des Begriffs der Bestimmung, die nicht mehr in die Kompetenz der reflektierenden Urteilskraft fällt! 213 Zum Letzteren vgl. oben S. 410. 214 S. dazu V 351,32–352,7. 215 Guyer 1979, 261 u. ö. Wenn Kant schreibt, daß das Geschmacksurteil »die Bestätigung nicht von Begriffen, sondern von anderer Beitritt erwartet« (V 216,16–17), so ist diese Erwartung nicht dem vorher genannten Ansinnen entgegengesetzt. 216 Vgl. die ähnliche Kritik von Ameriks 2003, 287: »[…] is a claim about the communicability of judgments, not any claim that they are actually communicated, […].« 217 Allison 2001, 116–117 (in der Nachfolge von Christel Fricke). Zur illegitimen Stütze durch die Anthropologie (VII 241) Allison 2001, 117 vgl. Brandt 2006, 90–91. Wie in der Ökonomie das freie Spiel der Kräfte (im Gegensatz zur absolutistischen Monopolwirtschaft) als natürlich und damit als positiv-harmonisch beurteilt wird, so auch in der Psychologie der »libre juego« der Gemütskräfte. Auch aus diesem Grunde scheitert der Versuch, ein negatives ästhetisches Urteil im § 9 zu begründen. Dieses Beispiel stellt zugleich das Verfahren von Allison in Frage, die Texte nur aus sich zu interpretieren. Positiv wird dadurch das Verstehen aus dem eigenen hermeneutischen Zeithorizont verhindert, negativ wird jedoch nicht realisiert, daß der Text das Produkt vielfältiger Kontroversen und osmotischer Zeitbezüge ist. – Aber sagt Kant je, daß Unlust mitteilbar ist? 218 Allison 2001, 71. 219 Für das Folgende die Vorarbeit in Brandt 2006. 220 Vgl. Brandt 1993. Im Prinzip ist dies schon die Lehre Demokrits im Hinblick auf die sekundären Qualitäten, vgl. Diels und Kranz 1956, II 140–141 – Demokrit Fragment B 11. Kant läßt Ton- und Farbempfindungen aus bestimmten Schwingungen von Luft und Licht resultieren, die entsprechend subjektinvariant sind; zur möglichen ästhetischen Invarianz vgl. den Hinweis auf Euler V 224,22–31 und die nächstfolgende Anmerkung. 221 Vgl. Locke 1975, 142–143 – An Essay Concerning Human Understanding II 8 §§ 25–26; Shoemaker 1982. 222 Vgl. Giordanetti in Kant 2001, 436–438; 205, 156–177. Kant spricht von der »formale[n] Bestimmung der Einheit eines Mannigfaltigen« (V 224,29–30); das ist eine in der »Kritik der ästhetischen Urteilskraft« sonst nicht benutzte Wendung, die den Verdacht erregt, es handle sich nicht um die reflektierende, sondern die bestimmende Urteilskraft zum Zweck der objektiven Farblehre, aber nicht des ästhetischen Urteils. Wenn die Schönheit des reinen Tons und der reinen Farbe auf einer physikalisch bestimmbaren Vibration des übertragenden Mediums beruhen, dann läuft die Kantische Ästhetik Gefahr, wenigstens teilweise objektiv begründbar zu werden, das aber führt zu ihrer Aufhebung. 223 Hier zeigt sich erneut, in wie enger Abstimmung das Geschmacksurteil 212

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mit der Erzeugung eines Kunstwerks und dessen Mitteilbarkeit konzipiert ist. Das Kunstwerk erhebt wie das Urteil den Anspruch, exemplarisch zu sein und eine Regel oder gar ein Gesetz aufzustellen, s. V 307 ff. 224 Hume 2001, 243. 225 Hume 2001, 243. 226 Hume 2001, 260. 227 Hume 2001, 247. 228 Hume 2001, 251. Kant erwähnt dieses Beispiel XXV 500,4–7. 229 Oben S. 91; 145. 230 Vgl. weiter V 293,4–5. 231 Vgl. oben 409–410. 232 Kant benutzt nicht selbst die Prädikate »geschlossen« und »offen«, sie scheinen jedoch sachlich zutreffend zu sein; dasselbe gilt bei der Kontrastierung von Platonismus auf der Seite der Thesen und Epikureismus auf der Seite der Antithesen in den kosmologischen Antinomien der KrV (s. A 471), die ersteren stehen für eine geschlossene, die zweiten für eine offene Welt an sich. 233 Kant drückt sich meist vorsichtig aus. »Das Schöne der Natur betrifft die Form des Gegenstandes, die in der Begränzung besteht; das Erhabene ist dagegen auch an einem formlosen Gegenstande zu finden […].« (V 244,23–25) 234 Vgl. dazu Brandt 2003b. 235 Cicero 1989, 262 – De finibus III 21. 236 Es gibt auch Passagen, in denen Cicero an dieser Stufung nicht interessiert ist, vgl. z. B. De officiis I 14. 237 Cicero 1992, 112 – De officiis I 130; fast wörtlich schon Cicero 1992, 94 – De officiis 107. »nach Panaitios« fügt Richard Heinze in seinem HorazKommentar zur »Ars poetica« dem Cicero-Zitat zu (Horaz 1957, III 306). Carsten Zelle geht in seinem informationsreichen Buch Die doppelte Ästhetik der Moderne (1995) der Frage nicht nach, ob es auch eine doppelte Ästhetik der Antike gegeben hat. Er unterliegt der allgemeinen Suggestion, daß erst die Moderne doppelgesichtig wird und die Antike unreflektiert in stiller Größe und edler Einfalt vor sich hinschlummerte. Zu den beiden Schönheitsformen, deren eine auch zum Erhaben gerechnet wird, führt Zelle ein überwältigendes neuzeitliches Material an; vgl. noch die zitierten Autoren im »Ausblick« (361–370). 238 Hume 1756, 121 – Sittenlehre der Gesellschaft, 6. Abschnitt. Dieser Text erscheint in den englischen Ausgaben von 1751 bis 1760 an der genannten Stelle, in den späteren (und den heutigen) Ausgaben findet er sich in der »Appendix IV«. Auffällig (für den hermeneutischen Laien), daß es ebenso in Winckelmanns von stoischem Geist geprägter Schrift Gedanken über die Nachahmung der griechischen Werke in der Malerei und Bildhauerkunst (1755) heißt: »[Laokoons] Elend geht uns bis an die Seele, aber wir wünschten, wie dieser große Mann, das Elend ertragen zu können.« (Winckelmann 2002, 43) 239 Burke 1773, 181 – Philosophische Untersuchungen III 11. S. a. XV 869,18– anmerkungen seite – | 583

20 – Refl. 1518: »Wir lieben einen Menschen um seines Gemüths und Herz wegen. Wir schätzen ihn wegen seines [talents und verehren ihn wegen des] Charakters.« 240 Smith 1976, 23 – The Theory of Moral Sentiments I 1, 1, 5. Vgl. dazu Waszek 1984 mit einer sorgfältigen Rückführung des Smithschen Doppelkonzepts auf die antike Stoa. 241 Der Begriff wird von Zelle, 1987, 95 ff. eingeführt. 242 Schiller 1943 ff., XX 46. 243 Vgl. besonders Zelle 1995. 244 Augustinus 1836 ff., I 1239 – De vera religione XXXII 59: »Et prius quaeram utrum ideo pulchra sint, quia delectant; an ideo delectent, quia pulchra sunt. Hic mihi sine dubitatione respondebitur, ideo delectare quia pulchra sunt.« Von dieser Alternative als einem Problem handelt schon Platon 1900 ff., I – Euthyphron 10a im Hinblick auf das Fromme. 245 Burke vertauscht die Reihenfolge, indem er der ersten Stufe die – männliche, sublime – Rolle der Selbsterhaltung, der zweiten die – weibliche, schöne – Rolle der Liebe zum Geschlecht zuweist und sich dabei an der Sequenz orientiert, die im folgenden kurz umrissen wird. 246 Vgl. Hegel 1927 ff., XII 407 ff. – »Vom Symbol überhaupt«. 247 Platon 1900 ff., V – Minos 320e 248 Aristoteles 1982, 16 – Poetik 1449a; Aristoteles 1995, 168 – Rhetorik 1404a. 249 Z. B. Marcus Antoninus, Commentariorum quos sibi ipsi scripsit XI 6 und 13. 250 Shaftesbury 1963, I 165 – »Advice to an Author« II 2. 251 Vico 1990, I 32–33. Vico 1963, I 49 – »Idea dell’ opera«:«Di più, perché tali generi (che sono, nella lor essenza, le favole) erano formati da fantasie robustissime, come d’ uomini di debolissimo raziocinio, se ne scuoprono le vere sentenze poetiche, che debbon essere sentimenti vestiti di grandissime passioni, e perciò piene di sublimità e risveglianti la meraviglia.« 252 Es handelt sich um zwei Superlative. Eigentlich steht das »simpliciter« (XXII 183,19 mit »schlechthin« übersetzt) dem »secundum quid« (XXII 183,18–19: »in gewissen Beziehungen«) gegenüber, daher V 248,9: »non comparative magnum«. Nun soll aber schon das nur schlechweg Große nicht mehr vergleichbar groß sein, hat diese Qualität aber nur im Bereich der Einbildungskraft. 253 Irreführend, weil das Erhabene selbst nicht in zwei unterschiedliche Seelenbewegungen zerfällt, sondern nur die äußerliche veranlassende räumlich extensive und dynamisch intensive Natur. Es gibt zwei weitere Schönheitsfehler bei der Unterscheidung des Mathematisch- und Dynamisch-Erhabenen. Einmal ist die Urteils- oder Kategorientafel, der die Exposition des Urteils folgt, so konzipiert, daß jeder der vier Titel durch ein Erkenntnis- oder Geschmacksurteil realisiert wird; ein Urteil kann jedoch nicht zugleich dem Mathemati584 | anmerkungen seite –

schen und dem Dynamischen angehören. Der zweite Schönheitsfehler liegt darin, daß der Titel der Modalität nicht zum Dynamisch-Erhabenen gehören darf, wie die Zuordnung es will. Die Modalität ist der vierte Punkt und stellt sich als solcher den vorhergehenden Dreien entgegen (s. unten S. 510 ff.), und so verfährt Kant auch in der Durchführung des Titels. 254 Auf die Parallele macht mich Carla de Pascale (Bologna) aufmerksam. 255 Wieder stoisch: Seneca 1999, IV 40 – Epistulae morales ad Lucilium 71, 33: »His pretium quidem erit aliquod, ceterum dignitas non erit.« Der Preis ist äußerlich und steht an erster Stelle, dann folgt die innere Würde, so wie auf den bestirnten Himmel über mir das moralische Gesetz in mir folgt; dazu oben S. 256 Dazu Brandt 2005 b. 257 Vgl. oben 238. 258 Vgl. oben 238. 259 S. weiter »diese Verschiedenheit […], die auf einem inneren Grunde beruht. Dieser innere Grund der Verschiedenheit […].« (II 382,31–33) 260 Dies scheint auch in der englischen Ästhetik des 18. Jahrhunderts der Fall zu sein, vgl. Zelle 1987, 189. 261 Russell in: Longinus 1964, XXXI–XXXII. 262 Pseudo-Longinos 1966, 55. 263 S. S. 410–412. 264 S. Winckelmann 1972, 149 ff. Unmittelbare Quelle für Kant dürften Johann Georg Sulzers getrennte Artikel über das Große und das Erhabene in der ersten Auflage seiner Allgemeinen Theorie der schönen Künste (1771–1774) sein; dazu Till 2006, 287–290. 265 Cicero 1989, 274–276 – De finibus III 34; Seidler 1981, 165. So kommt für die Stoiker allein einer bestimmten Disposition, der virtus, eine »propria aestimatio« im Gegensatz zu den indifferenten Gütern zu. Vgl. auch Cicero 1992, 92–94 – De officiis I 30.106. 266 Kant 2004, 199. 267 Rousseau 1959 ff. IV 580 – Emile IV. 268 Das Wort kennt Kant nicht, in der Sache bestimmt der Begriff des Naturzwecks ungefähr den Bereich der späteren Biologie. 269 Vgl. u. a. in der Einleitung V 193,15–17; anders scheint das VI. Kapitel der Einleitung (V 186–188) zu argumentieren. 270 Nach der Formulierung vom »absoluten teleologischen Urtheile«, V 369,2; auch »absolute Einheit der Vorstellung« V 377,4–5. 271 Vgl. V 258,7; 262,12; 292,13; 431,6. 272 Zum Gegensatz von theoretischer und praktischer reflektierender Urteilskraft s. unten S. 484–488. 273 Pinder 2002, 103 weist auf den Parallelfall beim Faktum des Bewusstseins des kategorischen Imperativs in der KpV hin. Dort führt das Faktum auf seine ratio essendi, die Freiheit, hier auf die ratio cognoscendi mit unseren begrenzten Erkenntnismöglichkeiten. anmerkungen seite – | 585

Entdeckt von Ulrike Santozki, mündliche Mitteilung. Beim vorangestellten § 61 bleibt offen, ob er die gesamte »Kritik der teleologischen Urteilskraft« einleitet oder nur deren Analytik. 275 Man beachte, daß auch in der Deduktion des Geschmacksurteils die Darlegung der »charakteristischen Eigenschaften« (V 281,28) oder Eigentümlichkeiten der Deduktion (§ 38) voranging. 276 Hier wird auch etwas unglücklich von einer Definition gesprochen, V 376,11. In den »Metaphysischen Anfangsgründen der Rechtslehre« folgt auf die »Exposition des Begriffs vom äußeren Mein und Dein« (§4) die »Definition« (§ 5) und dann die »Deduction« (§ 6) (VI 247,17–252,30). 277 Hier wird von einer »erlaubte[n] Hypothese« gesprochen. 278 Der Mensch ist »durch Verstand und Sinne zu urtheilen bestimmt« (V 219,21–22). 279 Statt von Wechselwirkung wird in der Teleologie der KdU durchgängig von »wechselsweise« (V 371,31 u. ö.) und »wechselseitig« (V 372,16 u. ö.) gesprochen. 280 Vgl. Löw 1980, 145; 242. Rousseau 1959 ff., IV 578–579 – Emile IV. Rousseau bleibt beim göttlichen Handwerker stehen, sagt aber immerhin: »[…] je ne laisse pas d’appercevoir l’intime correspondance par laquelle les êtres qui le composent se prêtent un secours mutuel. […] l’admirable concours de chaque piéce pour la conservation des autres«. 281 Herder 1877 ff., V 527, s. oben S. 89. Herder 1877 ff., V 559: »Siehe das ganze Weltall von Himmel zu Erde – was ist Mittel, was ist Zweck? Nicht alles Mittel zu Millionen Zwecken? Nicht alles Zweck von Millionen Mitteln? Tausendfach die Kette der allmächtigen, allweisen Güte in und durch einander geschlungen: aber jedes Glied in der Kette an seinem Orte Glied – hängt an Kette und sieht nicht, wo endlich die Kette hange. Jedes fühlt sich im Wahne als Mittelpunkt, fühlt alles im Wahne um sich her nur so fern als es Stralen auf diesen Punkt, oder Wellen geußt – schöner Wahn! Die große Kreislinie aber aller dieser Wellen, Strahlen und scheinbaren Mittelpunkte – wo? wer? wozu?« 282 In der GMS heißt es: »Der praktische Imperativ wird also folgender s ein: Handle so, daß du die Menschheit sowohl in deiner Person, als auch in der Person eines jeden andern jederzeit zugleich als Zweck, niemals bloß als Mittel brauchst.« (IV 429,10–12) Wer sittlich handelt, folgt also (mutatis mutandis) dem stoischen Prinzip des »naturae convenienter«, denn auch die organische Natur verfährt so, daß jedes Glied alle anderen Glieder jederzeit zugleich als Zweck, niemals bloß als Mittel »braucht«. Der Gebrauch als eines bloßen Mittels liegt vor, wenn kranke Zellen zu ihrer Verbreitung gesunde vernichten. 283 Aristoteles, De partibus animalium II 13, 658a; III 1, 661b; IV 11, 691b; IV 12 694a; De respiratione X, 476a; De generatione animalium II 4, 741b, I 4, 717a. Einer der Unterschiede von Aristoteles und Kant liegt darin, daß sich Aristoteles auf das natürliche Geschehen bezieht, Kant (wie die Stoa) auf alle 274

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materiellen Glieder eines Naturzwecks. Das wird uns im Folgenden noch beschäftigen. 284 Cicero 1995, 232 – De natura deorum II 121: […] nihil eorum supervacuaneum sit, nihil ad vitam retinendam non necessarium.« Das »nihil eorum« bezieht sich auf die materiellen Teile; das wird uns später bei Kant interessieren. 285 Das System der Metaphysik beruht auf natürlichen Grundlagen und ist zweckmäßig wie auch das System der Kritik, das Kant 1787 in seiner triadischen Anlage entdeckt; die Zergliederung der Vermögen im menschlichen Gemüt lasse ihn das Systematische entdecken, »welches zu bewundern und wo möglich zu ergründen mir noch Stoff gnug für den Überrest meines Lebens an die Hand geben wird […].« (X 514,33–35) So sieht sich Kant als teleologischer Naturforscher des wegen seiner Zweckmäßigkeit bewunderten menschlichen Gemüts. 286 Hierauf verweist Löw 1980, 145. 287 Von Seneca stammt das Beispiel der zweckmäßigen Kapitalanlage beim Hausbau (V 372,29–373,3), und hier verwendet Seneca gegen seine sonstige Lehre (s. 65,4) das Vier-Ursachen-Schema von Aristoteles: »Quarta causa est faciendi propositum. Quid est propositum? Quod invitavit artificem, quod ille secutus fecit: vel pecunia est haec, si venditurus fabricavit […].« (Seneca 1999, III 538 – Epistulae morales ad Lucilium 65, 4–6) Kant betont mit-gegen Seneca, »daß es nicht mehr als diese zwei Arten der Causalität [sc. nexus efficiens und finalis, RB] geben könne.« (V 373,2–3) 288 Der Begriff des Naturprodukts enthält von vornherein die zeitliche Kausalrelation und mit ihr die Differenz von Ursache und Wirkung s. auch V 376,31–36; 373,32–34; 374,25–26; 379,2–3; 379,16; 383,16. Dieser für die Kantische Naturteleologie unaufgebbare Erscheinungsbezug wird zerstört, wenn man als Ausgangspunkt den »causa sui«-Gedanken Spinozas annimmt, wie Pinder 2002 es tut. Für Kant ist die Entstehung der Arten ein geschichtliches, wenn auch für uns vermutlich nicht nachvollziehbares Geschehen; die »causa sui« ist dagegen notwendig zeitlos und bildet für Kant eher einen Gefahren- als einen positiven Anknüpfungspunkt. Zur Ablehnung einer Selbsterzeugung im Sinne Spinozas vgl. schon in der Nova dilucidatio die »Propositio VI« (I 394,13– 16): »est absurdum«. Nur wenn die Wirklichkeit »more geometrico« interpretiert wird, kann man von einer »causa sui« im Sinn von Spinoza ernsthaft reden. 289 Kant wird im Spätwerk zuweilen auch die finalen Ursachen zu den realen zählen: »vires moventes sunt vel causarum efficientium, vel finalium« (XXI 198,7–8). 290 Herausgestellt XXI 183,15–16; 184,23–185,3 u. ö. 291 McLaughlin 1989, 46. S. a. Santozki 2006, 293. 292 Soll dieses »gedacht« emphatisch nur auf die nicht-schematisierte Kategorie des Verstandes bezogen werden? Warum sagt Kant nicht »durch den Verstand erkannt wird«? anmerkungen seite – | 587

Die Vorstellung von »abwärts« und »aufwärts« (V 372,21; 26; 28) kann sich 1. auf räumliche (IX 348,23) oder 2. zeitliche (VIII 29,35) Sachverhalte oder 3. die Relation von Bedingung und Bedingtem beziehen, dies letztere 4. auch in Zeitverhältnissen (A 409–411). Unsere Passage changiert zwischen der 3. und 4. Möglichkeit. 294 Dazu mit Literatur Zanetti 1994, 122 ff. 295 Im Opus postumum heißt es: Das Naturprodukt »ist ein Körper an welchem die innere Form des Ganzen vor dem Begriffe Composition aller seiner Theile […] in Ansehung ihrer gesamten bewegenden Kräfte vorhergeht (also Zweck und Mittel zugleich ist).« (XXI 210,16–20) Kennt die KdU dieses zeitliche Vorhergehen der »Form des Ganzen«? 296 Frank und Zanetti in: Kant 1996, 1280 ff., auch Zanetti 1994, 123. Die Vorstellung einer genetischen Information würde allerdings besser zu den in der KdU nicht mehr präsenten Keimen passen. 297 Auch in der Analyse des Geschmacksurteils stieß Kant unter dem Titel der Relation auf die »Form der Zweckmäßigkeit« (V 221,2–3) und damit auf die »Schönheit (die doch eigentlich bloß die Form betreffen sollte)« (V 223,15–16). Es fällt schwer, die letztere noch als eine »forma finalis« (V 220,4) zu begreifen 298 Zur begrifflichen Komplikation des realen und idealen Verhältnisses des Ganzen zu seinen es ermöglichenden, von ihm ermöglichten Teilen s. Frank und Zanetti in: Kant 1996, 1282–1286. – Die Kristalle (dazu Brandt 1992a) sind keine Naturzwecke im qualifizierten Sinn, aber doch Gebilde mit einer causa materialis, efficiens und formalis; ohne die letztere wäre die konstante formale Einheit nicht möglich. Locke erklärt im Essay Concerning Human Understanding, daß die Identität von Lebewesen (Pflanzen, Tiere) unabhängig ist von den wechselnden materiellen Bestandteilen und auf dem Leben als solchem beruht, Locke 1975, 330 ff. 299 Dies im Sinn des Vernunftbegriffs »von der Form eines Ganzen, sofern durch denselben der Umfang des Mannigfaltigen sowohl, als die Stelle der Teile untereinander, a priori bestimmt sind.« (A 832) 300 S. auch oben Anm. II 297. 301 Naragon 1987, 244–246. 302 Naragon 1987, 244–246. 303 Anders bei Nadelhölzern etc., aber das Sichselbstentblättern ist nur ein bestimmter Fall des (auch Kant vertrauten) durchgängigen Materialwechsels bei Lebewesen. 304 S. oben Anm. II 280. 305 »Function« hier nur V 375,37. 306 Vielleicht hätten hier die Keime (stoisch: spermata) eine Einheitsfunktion übernehmen können; Kant hat sie jedoch aus der Biologie der KdU ausgeschlossen. 307 In die Erörterung dieses Problems sollte das Opus postumum einbezogen werden; dort wird u. a. der organische Körper a priori (und nicht als Erfah293

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rungstatsache) neben den unorganischen gestellt und der inneren Form der Primat gegenüber der Mittel-Zweck-Beziehung eingeräumt, XXI 210,8–211,8. 308 Bei diesem letzten Gedanken half Giuseppe Motta (Bergamo) in einer Seminarsitzung ein. 309 S. oben S. 236. 310 Vgl. V 367,9; 372,9; 376,28. 311 Blumenbach 1789, 24. Diese zweite Auflage formuliert hier nur konzentriert, was in der Auflage von 1781 die ganze Schrift durchzieht, der Abweis der Theorie der Keime und die Darstellung des Bildungstriebes. Zu dem »rohen ungebildeten Zeugungsstoff« vgl. Kants rohen Stoff V 371,24 (auch XXI 191,28– 29). »Rohstoff« gibt es bei Kant noch nicht. 312 Der Gegensatz ist der Staat als Maschine; dazu Stollberg-Rilinger 1986, die allerdings nicht die die deutschen Vorstellungen und Realitäten antizipierenden englischen Verhältnisse einbezieht; für John Locke und Shaftesbury ist der Staat keine Maschine mehr; Hobbes kennt den Unterschied zwischen Organismus und Maschine noch nicht. 313 Die Religion innerhalb der Grenzen der reinen Vernunft (1793) setzt nach wie vor auf Keime (VI 122,33) und Naturanlagen (VI 122,35), um die optimistische sittliche Menschheitsgeschichte zu konzipieren. Aber die Religionsschrift zeigt zugleich, daß die naturalistische Redeweise nur Symbol des Praktischen sein kann, VI 80,37–40. 314 Dies ist nicht der Grund, warum Tiere keine cartesischen Maschinen sind, denn das gilt schon für Pflanzen; s. dagegen Naragon 1987, 171. 315 Dazu Adickes 1920, 268. 316 Naragon 1987, 192. 317 Naragon 1987, 84–226, bes. 116–117. 318 Vgl. denselben Rhythmus auch I 356,14–16; Buffon 1954, 352: »[…] tout se passe, se suit, se succède, se renouvelle et se meut par une Puissance irrésistible; l’homme, entraîné lui-même par le torrent des temps, ne peut rien pour sa propre durée ; lié par son corps à la matière, enveloppé dans le tourbillon des êtres, il est forcé de subir la loi commune, il obéit à la même Puissance, et comme tout le reste, il naît, croît et périt.« Vgl. noch in der Anthropologie Collins (1772– 1773) die Kanäle des Lebens als »Weg zum Tode«, XXV 75,21. 1798 ist der Tod dagegen eine nicht vom Leben selbst erzeugte Krankheit, VII 100,4. 319 Das Wort »Funktion« kommt in der KdU nur hier vor; wir haben es zur Charakteristik auch des Naturzwecks benutzt. Im Englischen wird schon im 17. Jhdt. von der internen Staatsorganisation gesprochen. 320 Vgl. oben S. 212. 321 Man darf sich nicht dadurch irritieren lassen, daß der lineare gesicherte Fortgang häufig an der Bahn der Planeten orientiert ist; diese hat durch Kopernikus-Newton ihre völlige Gewißheit im Gegensatz zu den zusammenhanglosen Versuchen in der Phase vor Kopernikus. 322 Novalis 1960 ff., II 551 – »Poeticismen«. anmerkungen seite – | 589

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»Keinen Widerspruch« sc. zur zweiten Maxime, die V 387,35 genannt

wird. Zum Letzteren s. Düsing 1968, 90–99. Eine andere Lösung bieten (mit ausführlicher Diskussion der Forschungsliteratur) Frank und Zanetti in: Kant 1996, 1286–1294. 326 Hinweis Tillmann Pinder, Berlin. 327 Diese Verbindung war in der theoretischen Philosophie zwischen ontologischem und kosmologischem Gottesbeweis nicht möglich gewesen. 328 S. V 378,19–21; 400,16–20; 409,27–37; dazu auch I 230,14–26. 329 S. V 431,6–7; 433,17; 433,28; 436,19; 452,33, 460,23; 461,9; 481,35; 482,14. 330 Man beachte die seit 1766 vertraute Dopplung gemäß den beiden stoischen Sachdisziplinen von Physik und Ethik. 331 Vgl. dagegen auch den Aufsatz Was heißt: Sich im Denken orientieren? (1786), VIII 146,6–16. 332 Guyer 2006, 349–357 streicht unter dem Titel »Freedom, Happiness, and the End of Nature« (349) die gesamte Theologieproblematik; mit dieser Flurbereinigung kann man zwar zu ökologischen Problemen gelangen, muß aber auch die für Kant offenbar wichtige Frage der Beziehung unseres Handelns auf einen Welturheber streichen. Der Atheismus ist dann kein Problem mehr. 333 Ohne diesen einzig möglichen Gegenbegriff wäre es sinnlos, den Begriff der reflektierenden Urteilskraft zu dem der theoretisch[en] reflektierenden Urteilskraft (V 447,17; 454,15; 454,21) zu spezifizieren. Vorbereitend schon V 455,21–24: »[…] ist ein zweiter Schluß, welcher so beschaffen ist, daß man sieht, er sei bloß für die Urtheilskraft nach Begriffen der praktischen Vernunft und als ein solcher für die reflectirende, nicht die bestimmende Urtheilskraft gefällt.« Also: die praktisch[e] reflektierende Urteilskraft! 334 Dazu auch Brandt 2005. 335 Vgl. oben S. 257. 336 Esser 2004, 202. 337 Vgl. oben S. 410–412 u. ö. Der Stufung von »pflichtmäßig« und »aus Pflicht« entspricht die stoische Staffelung von kathekon und katorthoma (Ulrike Santozki, mündlich). 338 Ebbinghaus 1986 ff., III 164–165. 339 Zum moralisch emphatischen Begriff der Menschheit, der der Rechtslehre zugrunde liegt, vgl. u. a. Niesen 2005, 52 ff. 340 So schon oben S. 488. 341 Der Versuch von Ebbinghaus, Ethik und Recht anders zu trennen (Ebbinghaus 1986 ff., III 164 ff.), scheitert m. E. unter anderem daran, daß er beim Bürger die »Zurechnungsfähigkeit des Menschen« (164) voraussetzt, diese aber von Kant dem vernünftigen Naturwesen ausdrücklich aberkannt wird; dann aber bleibt für die Rechtslehre nur der Mensch als Vernunftwesen übrig. Die vernünftigen Nicht-Menschen könnten Regelverletzungen mit Strafen ahnden, 324

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über die sie sich wie über andere Schäden ärgern. Hier lag eines der Probleme der Juristen, gegen die Ebbinghaus polemisiert. Zu Kants einheitlicher Begründung von Recht und Ethik im kategorischen Imperativ vgl. besonders deutlich VI 239,16–21. 342 Zu dieser Überlegung vgl. Grapotte 2004, 299 ff. 343 Näheres Brandt 2007b. 344 Darwin 1967, 80 ff. – »Natural Selection; or the Survival of the Fittest«. 345 Zu den prädarwinistischen Theorien von Kants Zeitgenossen vgl. Glass et alii 1968. 346 Die Textänderungen gegenüber der Rink-Edition in der Akademie-Ausgabe basieren auf der neuen Transkription des Manuskripts durch Werner Stark. 347 Darwin 1967, 21–49. »The Variation of Animals and Plants under Domestication« ist auch der Titel einer Publikation von Darwin von 1868. 348 Ähnlich Düsing 1968, 142. 349 Auch Naragon 1987, 164–165. 350 Zu der 1, 2, 3 / 4-Konstellation vgl. Brandt 1998. 351 S. unten S. 503. 352 In diesem Licht ist der erste Satz der Vorrede zu interpretieren: »Man kann das Vermögen der Erkenntnis aus Principien a priori die reine Vernunft und die Untersuchung der Möglichkeit und Gränzen derselben überhaupt die Kritik der reinen Vernunft nennen« (V 167,3–5) – so wie es 1781 geschehen ist. In Wirklichkeit, so ist zu paraphrasieren, hat sich diese »im Allgemeinen so benannte Kritik der reinen Vernunft« (V 168,7–8) nur mit dem Erkenntnisvermögen im engeren Sinn, dem Verstand, befasst; daneben gibt es eine Kritik der [sc. praktischen, RB] Vernunft und jetzt folgt die Kritik der Urteilskraft (V 167,3–168,22). Das »Man kann« soll die ursprüngliche, sich jetzt als irreführend erweisende Benennung retten. 353 Vgl den Hinweis oben zum Werturteilsstreit S. 396. 354 Mertens 1975 äußert in ihrer sonst klugen Arbeit kein Erstaunen darüber, daß hier eine Kritik der reinen Vernunft auftritt, die unmöglich identisch sein kann mit dem Werk von 1781 und 1787. Dasselbe gilt für die übrige mir bekannte Literatur. 355 Schopenhauer würde die Kantische Vierer-Idiosynkrasie verantwortlich machen, »Die Tafel der Urtheile soll und muß der Schlüssel zu aller Weisheit seyn«, kritisiert er das Symmetrie- und Vierer-Denken (Schopenhauer 1948 ff. II 510 – Anhang: Kritik der Kantischen Philosophie). Die Genese der Vierten Kritik macht es unwahrscheinlich, daß Kant 1790 unmittelbar der Direktive der Urteilstafel folgte; es ist eher so, daß das Kantische Philosophieren grundsätzlich konstellativ verfährt und sich gewissermaßen noch im alteuropäischen Haus orientiert. 356 Kants legerer Diktion verdankt es sich, daß auch in der ersten »Kritik« von einer »Kritik des Verstandes« gesprochen wird: »Kritik des Verstandes und anmerkungen seite – | 591

der Vernunft« (A 63); »Kritik des Verstandes« (A 233); »gesunde Kritik des Verstandes und der Vernunft selbst« (A 769). 357 S. oben S. 393. 358 Vielleicht wußte Theodor Hippel von diesem Plan; Ludwig Ernst Borowski berichtet: »Hippel sagte mehrmals scherzend zu ihm, er werde doch noch über kurz oder lang eine Kritik der Kochkunst schreiben.« (Groß 1912, 55) Ein hippelscher Witz in absteigender Linie. 359 Dieser auf den Buchtitel bezogene Plural kommt bei Kant in den erhaltenen Schriften nicht vor (wohl aber bei dem davon unabhängigen Wortgebrauch). Johann Friedrich Hartknoch spricht dagegen in seinem Brief vom 29. 9. 1789 von Exemplaren »der beyden Kritiken« (XI 90,27–28). 360 Freudiger 1996, 423 u. ö. Wilhelm Dilthey hatte den Plan, eine »Kritik der historischen Vernunft« zu verfassen (s. oben Anm. I 339), im Kantischen System hätte sie neben die KrV (1781, 1787) treten oder die Position der neuen vierten Kritik der reinen Vernunft einnehmen müssen. 361 Composto 1954. 362 Marty 1988. 363 Das kann so kaum korrekt sein, denn die Trichotomie kann notwendig sein, wovon gleich gehandelt wird. 364 S. a. XVI 612–623 – »Logische Eintheilung des Begriffs«. 365 Nach A 290 wäre es der Begriff von einem »Gegenstande überhaupt«. 366 S. S. 223–247. 367 S. oben S. 362. 368 S. oben S. 154–157. 369 Vermutlich Johann Schultz (Ulrike Santozki); vgl. X 349,10–20 und 351,8–35. S. auch Hohenegger 2004, 138–139. 370 Die Bemerkung setzt den Hinweis der KrV B 110–111 fort. 371 Auch VII 200,35–37; 228,31–34, IX 57,22–23; XV 186,19–187,23 – Refl. 454. 372 Den Begriff des Werts verwendet Kant auch in Bezug auf das unendliche Urteil (A 72), meint damit jedoch den transzendentalen Wert außer der allgemeinlogischen Zweiwertigkeit von Bejahung und Verneinung; s. Ishikawa 1987, bes. 70–77. 373 S. oben S. 259–269. 374 Brandt 1999. 375 So nach dem Vorgehen der anderen Interpreten auch Tetens 2006, 231 ff. 376 Dazu Philip Manow 2004, 321–322: »Vor 1789 gab es ein dominantes Muster parlamentarischer Repräsentation: das Rechteck, mit dem Monarchen an der Stirnseite […], an den Längsseiten rechts und links von ihm Bänke für den ersten und zweiten Stand (Klerus, Adel), zum Teil ihm gegenüber Vertreter des dritten Standes (meistens Vertreter der Städte, manchmal auch des ländlichen Großgrundbesitzes). Nach 1789 d. h. nach der französischen Revolution, 592 | anmerkungen seite –

war die dominierende Anordnung eine andere: der Halbkreis.« Kant nimmt den Wandel der jetzt entstehenden Opposition von Rechts und Links im Streit der Fakultäten auf (VII 35,1–7). 377 In der KdU wird so die Klugheit bestimmt, V 172,24–25. 378 Zur vierten Position bei den Stoikern, die sich der Dreiteilung bedienen, s. Seidler 1981, 45–46 mit Hinweisen auf die Forschung (Bréhier, Pohlenz). Das Vierte ist der Logos selbst, der die drei Teile der Philosophie und Weisheit ermöglicht. 379 Zum finalen Bestimmungsbegriff in dem Aufsatz s. VIII 110,16–17; 113,24; 115,19; 116,23; 120,26. 380 Vgl. Brandt 1998, 134–135. 381 Vgl. oben S. 499–500. 382 Vgl. oben S. 491–492. 383 Neues Testament, Matthäus 28, 19 u. ö. 384 Kiefner 1991, 150. S. oben S. 50. 385 Eine andere Perspektive eröffnet die spätere Vorstellung einer vierten Gewalt in Form der Öffentlichkeit, s. Brandt 1998, 89–91. Eine andere Lösung ist ein den drei Gewalten übergeordnetes Verfassungsgericht, das darüber wacht, ob die drei Gewalten die Grundrechtsbestimmungen, die sie ermöglichen, einhalten. 386 Zu diesem und anderen Beispielen bei Kant vgl. auch Brandt 1998. 387 Von Kant durchstrichene Textteile sind hier ausgelassen. 388 Vgl. dazu Brandt 2002. 389 Platon 1900 ff., III – Ion 535e7–536a3. Der erste Medienverbund unter göttlicher Obhut, der, wie Platon zeigt, auch nur durch das allbelebende Geld existiert. 390 Goethe 1887 ff. Abt. IV (Briefe), Bd. 27 (1803), 307–310. 391 Vgl. auch Seidler 1981, 49. Neuerdings Hohenegger 2004, 133 ff. 392 Fischer 2004, 145. 393 Fischer 2004, 146. 394 Hieran wird der Neukantianismus von Hermann Cohen und Paul Natorp anschließen. 395 Vgl. oben S. 353–354. 396 Dazu oben Anm. I 491. 397 Gawlick und Kreimendahl in: Wolff 1996, XX. Dort – XX ff. – auch zur Vorbereitung und Verbreitung der Wolffschen Philosophieeinteilung. 398 Vgl. oben S. 393–394. 399 Dazu Konhardt 1979, 183–200 (mit dem Rückgriff auf Arbeiten von Dieter Henrich). 400 Fichte 1962 ff., III 4, 93 – Brief vom 28. 9. 1788 an K. L. Reinhold.

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Literatur

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Personenregister

Abbé von Saint Pierre: 211, 213, 567 Abbt, Thomas: 84, 124, 546 Achenwall, Gottfried: 283, 330, 568 Addison, Joseph: 74, 92, 150, 545, 548, 550 Adickes, Erich: 12, 568, 589 Aenesidemus: 142, 552, 575 Albrecht, Michael: 566, 577 D’Alembert, Jean-Le-Rond: 300, 571 D’Alessandro, Giuseppe: 546 Alexander der Große: 157 Allison, Henry E.: 55, 433, 539, 579, 580, 582 Alphonsus: 247, 564 Ameriks, Karl: 579, 580, 582 Anaxagoras: 154, 555 Annas, Julia: 554 Anonymus: 262, 263, 566 Antoninus, Marcus: 584 Aquin, Thomas: 446 Arendt, Hannah: 348, 575 Aristipp: 421, 436, 437 Aristoteles: 8, 9, 16, 22, 25, 27, 28, 45, 48, 64, 68, 71, 91, 99, 103, 107, 134, 137, 140, 141, 146, 147, 148, 149, 154, 160, 161, 162, 167, 170, 172, 175, 187, 214, 239, 243, 250, 260, 261, 271, 300, 317, 373, 450, 462, 493, 519, 539, 540, 541, 545, 551, 552, 553, 554, 559, 563, 570, 584, 586, 587 Arndt, Hans Werner: 539 Arnim, Hans von: 544, 547, 553, 555 Augustinus: 65, 162, 186, 448, 584

Bacon, Francis: 9, 61, 103, 133, 134, 167, 247, 271, 272, 284, 290, 552, 567, 569 Baier, Johann Wilhelm: 285 Basedow, Johann Bernhard: 185 Baum, Manfred: 567, 575 Baumgarten, Alexander Gottlieb: 55, 126, 127, 255, 281, 298, 396, 405, 544, 557, 558, 577 Bayle, Pierre: 565, 569 Beccaria, Cesare: 384 Beck, Johann Sigismund: 365, 438 Beck, Lewis White: 576 Bering, Johann: 542 Berkeley, George: 552, 564 Beutel, Albrecht: 62, 543, 546 Blumenbach, Johann Friedrich: 94, 474, 548, 589 Blumenberg, Hans: 223, 559, 562, 564 Bobzien, Susanne: 578 Bodmer, Johann Jakob: 544 Böhme, Gerhard: 54, 552, 564 Böhme, Hartmut: 54, 552, 564 Bohatec, Josef: 557 Bonacina, Giovanni: 553 Borowski, Ludwig Ernst: 252, 592 Bossuet, Jacques-Bénigne: 89, 181 Boyle, Robert: 406 Brahe, Tycho: 226 Brandt, Reinhard: 540, 542, 547, 549, 552, 553, 556, 558, 559, 560, 561, 563, 566, 568, 571, 573, 576, 579, 580, 581, 582, 583, 585, 590, 591, 593 Bréhier, Emilie: 593 personenregister | 621

Breitinger, Johann Jakob: 544 Bruno, Giordano: 248 Buchda, Gerhard: 49 Büsching, Anton Friedrich: 90, 91, 547 Buffon, Georges-Louis Leclerc (Comte de): 57, 190, 560, 589 Bultmann, Christoph: 541, 542 Burke, Edmund: 291, 447, 450, 583, 584 Busch, Werner: 557 Caesar, Gaius Julius: 447 Caimi, Mario: 541, 567 Carl, Wolfgang: 43, 542 Cassirer, Ernst: 54, 563 Cato: 92, 93, 94, 373, 447, 541 Cervantes Saavedra, Miguel de: 17, 540 Cheneval, Francis: 543 Chodowiecki, Daniel Nicolas: 145 Chrysipp: 151, 554, 578 Cicero, Marcus Tullius: 8, 113, 143, 149, 150, 153, 155, 158, 326, 446, 447, 449, 454, 462, 539, 541, 550, 553, 554, 555, 559, 573, 583, 585, 587 Cludius, Hermann Heimart: 145 Cohen, Hermann: 166, 557, 593 Comenius, Johann Amos: 185, 267, 268, 566 Composto, Renato: 503, 592 Concorcet, Marie-Jean-AntoineNicolas Caritat, Marquis de: 134, 301 Conz, Karl Philipp: 145, 553 Cudworth, Ralph: 410 Daniel: 180 Dante Alighieri: 373, 446 Darwin, Charles: 196, 477, 492, 493, 494, 495, 496, 537, 591 622 | personenregister

David, Jacques Louis: 85, 144 Davis, Kevin R.: 578 Demokrit: 9, 22, 152, 373, 406, 540, 582 Descartes, René: 9, 16, 27, 63, 67, 105, 106, 133, 134, 170, 174, 175, 190, 238, 274, 299, 530, 550, 552, 563, 570 Diderot, Denis: 15, 420, 558 Diels, Hermann: 540, 546, 555, 579, 582 Dierse, Ulrich: 558 Dilthey, Wilhelm: 282, 557, 568, 592 Diogenes (der Kyniker): 81, 104, 157 Diogenes Laertius: 151, 549, 554, 555, 581 Dougherty, Frank W. P.: 560 Düsing, Klaus: 576, 590, 591 Dschingis Khan: 220 Ebbinghaus, Julius: 348, 489, 575, 590 Eberhard, Johann August: 316, 317, 580 Engberg-Pedersen, Troels: 555 Enskat: Rainer: 12, 558, 567 Epiktet: 544 Epikur: 15, 27, 61, 74, 91, 94, 98, 112, 139, 141, 143, 144, 145, 149, 151, 152, 154, 172, 173, 196, 197, 231, 300, 308, 416, 522, 535, 545, 553, 554, 566 Erdmann, Benno: 224 Erler, Michael: 554 Esser, Andrea Marlen: 575, 576, 590 Euklid: 190, 428 Falkenburg, Brigitte: 563, 564, 565 Feijóo y Montenegro, Benito Jerónimo: 580, 581 Fénélon, François de Salignac de la Mothe: 262, 566 Fichte, Johann Gottlieb: 13, 61, 98, 99,

273, 347, 355, 364, 530, 534, 545, 549, 558, 575, 576, 593 Ficino, Marsilio: 410 Fischer, Ernst Peter: 593 Fludd, Robert: 520, 521 Förster, Eckart: 570, 571 Forster, Georg: 187 Frank, Manfred: 579, 588, 590 Franz, Marie-Louise von: 521 Freud, Sigmund: 248 Freudiger, Jürg: 503, 592 Fricke, Christel: 582 Friedrich I.: 320 Funk, Johann Friedrich von: 110 Gadamer, Hans Georg: 348 Galen: 154, 578 Galilei, Galileo: 247, 248, 562 Garve, Christian: 42, 43, 150, 317, 552, 572 Gassendi, Pierre: 9, 45, 575 Gawlick, Günter: 528, 539, 593 Gerhardt, Wolfgang: 562 Gettier, Edmund L.: 275, 567 Ginsborg, Hannah: 580 Giordanetti, Piero: 581, 582 Di Giovanni, Giorgio: 54 Glass, Bentley: 591 Gloyna, Tanja: 12 Görler, Waldemar: 570 Goethe, Johann Wolfgang von: 13, 86, 160, 271, 411, 519, 547, 553, 556, 580, 593 Goeze, Johann Melchior: 77, 78, 546 Gontard, Jakob: 81 Gracián, Balthasar: 420 Grahl, Christian: 573

Grapotte, Sophie: 591 Graubner, Hans: 558 Green, Josef: 133 Grimm, Jacob und Wilhelm: 77, 546 Groß, Felix: 565, 592 Guyer, Paul: 55, 273, 432, 580, 581, 582, 590 Guzzoni, Ute: 543 Habermas, Jürgen. 351, 352, 575, 576 Hagenbüchle, Roland: 549 Hai-In, 12 Haller, Albrecht von: 160 Hamann, Johann Georg: 46, 245, 541, 542 Hartknoch, Johann Friedrich: 592 Hattenhauer, Hans: 569 Hegel, Georg Wilhelm Friedrich: 45, 46, 147, 181, 273, 347, 411, 450, 542, 553, 575, 584 Heidegger, Martin: 348, 541 Heimsoeth, Heinz: 327, 573 Heinz, Marion: 547, 558 Heinze, Richard: 583 Henrich, Dieter: 52, 55, 137, 347, 348, 382, 383, 543, 567, 568, 575, 578, 593 Heraklit: 81, 546 Herder, Johann Gottfried: 89, 90, 145, 154, 155, 187, 194, 245, 418, 462, 541, 542, 547, 553, 556, 558, 586 Herodot: 479 Herz, Marcus: 255, 296, 578 Hesiod: 180 Heßbrüggen-Walter, Stefan: 543 Heydenreich, Karl Heinrich: 97, 548 Hinske, Norbert: 51, 54, 542, 543, 547, 548, 554, 569 personenregister | 623

Hippel, Theodor: 592 Hobbes, Thomas: 9, 30, 32, 199, 200, 211, 238, 278, 283, 289, 290, 369, 370, 396, 479, 541, 556, 561, 567, 573, 577, 589 Höffe, Otfried: 566, 567 Hölderlin, Friedrich: 81, 100, 101, 518, 549, 553 Hösle, Vittorio: 545 Hohenegger, Hansmichael: 581, 592, 593 Homer: 271, 411, 417, 445 Horaz: 75, 81, 104, 545, 549, 583 Hruschka, Joachim: 575 Hufeland, Christoph Wilhelm: 99, 549 Humboldt, Alexander von: 101, 102, 549 Humboldt, Wilhelm von: 97, 189, 548, 570 Hume, David: 9, 10, 25, 41, 46, 50, 126, 134, 141, 142, 148, 233, 234, 235, 236, 246, 251, 262, 273, 275, 278, 301, 304, 316, 332, 333, 342, 346, 396, 399, 400, 420, 441, 442, 443, 444, 447, 496, 530, 535, 537, 541, 552, 563, 564, 566, 567, 572, 573, 579, 581, 583 Hutcheson, Francis: 59, 396, 543, 545, 557, 563 Hutter, Axel: 43, 543 Imbach, Ruedi: 267, 566 Iselin, Isaak: 27, 28, 83, 87, 88, 89, 116, 177, 541, 546, 547, 551 Ishikawa, Fumiyasu: 347, 348, 569, 575, 592 Jacobi, Friedrich: 46, 90, 116, 148, 167, 547, 575 Jacobs, Jürgen: 547 624 | personenregister

Jäsche, Gottlob Benjamin: 226, 504 Jaeschke, Walter: 575 Jakob, Ludwig Heinrich: 249, 564 Jerusalem, Johann Friedrich W.: 546 Jung, Carl Gustav: 521 Kaulbach, Friedrich: 348, 541, 569 Kepler, Johannes: 191, 236, 247, 473, 520, 560, 562 Kersting, Wolfgang: 349, 575 Kestner, Johann Christian: 86 Kiefner, Hans: 50, 516, 542, 568, 571, 573, 574, 593 Kimmich, Dorothee: 553, 566 Kleanthes: 91, 145, 444, 544, 547, 553 Kleingünther, Adolf: 542 Klemme, Heiner F.: 274, 542, 543, 544, 565, 590 Körner, Theodor: 548 Kolumbus, Christopher: 393 Kondylis, Panajotis: 558, 577 Konhardt: 53, 569, 593 Kopernikus: 49, 193, 223, 224, 225, 226, 227, 228, 229, 230, 231, 232, 234, 236, 237, 241, 244, 246, 247, 248, 249, 251, 257, 413, 473, 492, 507, 536, 537, 562, 564, 589 Kosellek, Reinhart: 548, 558, 559, 568 Kranz, Werner: 540, 546, 555, 582 Kreimendahl, Lothar: 42, 528, 539, 541, 593 Krüger, Johann Gottlob: 136, 137 Kühn, Manfred: 541, 565 Kuhn, Thomas: 250 Kurz, Gerhard: 549 Lambert, Johann Heinrich: 226, 227, 563, 568

La Mettrie, Julien Offray de: 142, 143, 535, 553 Lampe: 52 Lange, Samuel Gotthold: 82, 546 La Rocca, Claudio: 542 Leibniz, Gottfried Wilhelm: 25, 27, 42, 48, 52, 54, 126, 133, 148, 165, 167, 182, 201, 238, 245, 247, 253, 275, 299, 300, 317, 364, 453, 506, 542, 557, 558, 559, 564 Lenin, Wladimir Iljitsch: 269, 566 Lenoble, Robert: 550 Lessing, Gotthold Ephraim: 148 Lessius, Leonard: 110 Lethen, Helmut: 561 Lichtenberg, Georg Christoph: 262, 263, 566 Liddell, Henry George: 545 Lietdke, Martin: 567 Linné, Carl von: 57, 467 Lipsius, Justus: 9, 108, 174, 176, 550 Locke, John: 9, 14, 19, 25, 48, 61, 66, 103, 126, 127, 129, 141, 148, 162, 165, 167, 177, 185, 202, 210, 214, 247, 253, 254, 260, 261, 272, 275, 278, 279, 283, 284, 285, 291, 292, 293, 294, 295, 296, 297, 298, 299, 300, 301, 302, 303, 307, 309, 311, 316, 317, 328, 334, 337, 338, 339, 343, 346, 373, 396, 406, 509, 536, 540, 552, 553, 557, 561, 566, 567, 569, 570, 571, 572, 579, 582, 588, 589 Löw, Reinhard: 586, 587 Long, Arthur A.: 153, 555 (Pseudo-)Longinos: 61, 541, 544, 585 Longuenesse, Beatrice: 571 Losurdo, Domenico: 561 Ludwig, Bernd: 49, 542, 576 Lukrez: 45, 143, 145, 149, 154, 182, 196,

303, 308, 542, 553, 555, 560, 569, 571, 573, 579 Machiavelli, Niccolò: 199, 200 Mainka, Peter: 547, 548, 560, 568, 573 Mairan, Jean Jaques d’Ortous de: 237 Mandeville, Bernard de: 202, 207 Manow, Philip: 592 Manthey, Jürgen: 568 Marcos, Maximiliano Hernández: 55, 347, 541, 568, 569, 574 Marquard, Konrad Gottlieb: 69 Marty, François: 503, 592 Marx, Karl: 139, 205, 208 Matthäus: 516, 593 Mauser, Wolfram: 545, 552 Mayer, Verena: 576 McLaughlin, Peter: 587 McManners, John: 554 Meier, Georg Friedrich: 82, 546, 567 Mellin, Georg Samuel Albert: 543 Mendelssohn, Moses: 13, 64, 84, 85, 86, 116, 124, 158, 249, 546, 547, 551, 557 Mertens, Helga: 591 Metz, Wilhelm: 549 Mohr, Georg: 571 Montaigne, Michel de: 556 Montesquieu, Charles de Secondat: 528 Moscati, Pietro: 154, 155, 156, 157, 491, 555 Motherby, Robert: 133 Motta, Giuseppe: 589 Mulsow, Martin: 542, 552, 555 Myron: 411, 450, 479 Naragon, Steve: 555, 559, 588, 589, 591 Natorp, Paul: 166, 593 personenregister | 625

Newton, Isaak: 134, 163, 166, 190, 191, 195, 205, 219, 223, 225, 226, 227, 228, 230, 231, 232, 233, 234, 236, 246, 247, 257, 473, 536, 560, 562, 563, 589 Niesen, Peter: 552, 590 Nietzsche, Friedrich: 248, 301, 564, 571 Norden, Eduard: 150, 554 Novalis (Friedrich von Hardenberg): 245, 589 Oetinger, Friedrich Christoph: 78 Ottow, Raimund: 541, 563 Ovid: 271 Panaitios: 583 Pascale, Carla de: 12, 585 Pascher, Manfred: 541, 566 Pauli, Wolfgang: 520, 521 Paulowna, Maria: 519 Persius: 554 Phidias: 411 Philipp, Wolfgang: 248, 579 Pinder, Tillmann: 574, 585, 590 Pisanski, Georg Christoph: 69, 545 Platon: 9, 15, 22, 25, 27, 28, 45, 48, 49, 50, 61, 64, 65, 68, 71, 72, 75, 85, 91, 93, 94, 99, 103, 104, 105, 106, 107, 108, 127, 134, 137, 140, 141, 144, 145, 146, 148, 149, 155, 160, 162, 166, 167, 170, 172, 174, 175, 187, 198, 199, 200, 203, 231, 237, 238, 240, 246, 249, 250, 260, 261, 274, 279, 297, 312, 319, 338, 365, 368, 369, 370, 373, 380, 381, 383, 396, 410, 445, 446, 448, 449, 450, 478, 479, 497, 504, 519, 521, 530, 531, 539, 541, 545, 548, 549, 551, 553, 556, 557, 558, 561, 562, 563, 564, 567, 573, 574, 578, 584, 593 626 | personenregister

Plinius: 102 Plotin: 410, 446, 553 Pohlenz, Max: 550, 593 Polybios: 480 Pope, Alexander: 52, 160, 182, 200, 201, 202, 556 Porphyrius: 504 Prauss, Gerold: 557 Praxiteles: 411 Pross, Wolfgang: 542, 547 Ptolemäus: 236 Pufendorf, Samuel: 283, 573 Pyra, Immanuel Jacob: 61, 544 Pyrrhon: 172, 545, 552, 570 Pythagoras: 85, 521 Quintilian: 574 Raabe, Paul: 548, 549 Rawls, John: 214 Rebmann, Georg Friedrich: 101 Rehberg, August Wilhelm: 92, 93, 94, 548 Reich, Klaus: 42, 541 Reichardt, Johann Friedrich: 430 Reid, Thomas: 552 Reimarus, Hermann Samuel: 79, 80, 146, 546, 553, 555 Reinhold, Carl Leonhard: 38, 51, 393, 396, 404, 501, 593 Riedel, Wolfgang: 137, 552 Rink, Friedrich Theodor: 114 Ritter, Joachim: 555, 569 Robespierre, Maximilien de: 98, 144, 146, 530 Rorty, Richard: 140 Rousseau, Jean-Jacques: 8, 9, 15, 19, 25, 27, 28, 46, 47, 50, 59, 63, 68, 69, 73,

80, 81, 82, 92, 104, 113, 141, 146, 148, 157, 161, 176, 180, 183, 184, 211, 213, 233, 271, 280, 290, 328, 354, 386, 396, 436, 457, 462, 470, 496, 528, 543, 544, 545, 547, 553, 557, 558, 559, 578, 585, 586 Ruffing, Margit: 539 Sala, Giovanni B.: 570, 575, 576, 577 Sallust: 447 Santozki, Ulrike: 12, 541, 545, 551, 555, 556, 558, 566, 579, 586, 587, 592 Sawilla, Jan Marco: 558 Schelling, Friedrich Wilhelm Joseph: 273, 347, 575 Schiller, Friedrich: 10, 13, 29, 94, 95, 217, 218, 274, 405, 448, 548, 561, 562, 584 Schlegel, Friedrich: 13, 100, 405, 549, 563 Schleiermacher, Friedrich: 550, 560 Schlözer, August Ludwig: 58, 90, 543 Schlosser, Johann Georg: 167, 558 Schmidt, Eberhard: 568, 572, 573 Schmitt, Arbogast: 539, 541, 558 Schmitt, Carl: 301 Schmitz, Hermann: 54, 533 Schneiders, Werner: 137, 563 Schönecker, Dieter: 565 Schollmeier, Joseph: 545, 546 Schopenhauer, Arthur: 10, 166, 205, 273, 348, 557, 561, 575, 591 Schröer, Christian: 549 Schröpfer, Horst: 547, 564 Schütz, Christian Gottfried: 91, 249, 564 Schultz, Johann: 592 Schulze, Gottlob Ernst: 142, 166, 552, 575

Schwaiger, Clemens: 543, 544 Scott, Robert: 545 Sedley, David N.: 153, 555 Seidler, Michael Joseph: 55, 153, 540, 554, 555, 556, 558, 577, 593 Seneca, Lucius Annaeus: 8, 52, 69, 81, 177, 260, 541, 550, 558, 566, 571, 577, 585, 587 Sextus Empiricus: 545, 557, 570 Shaftesbury, Earl of: 59, 61, 62, 64, 66, 69, 75, 76, 78, 79, 85, 141, 144, 145, 150, 396, 450, 543, 544, 545, 546, 553, 584, 589 Shoemaker, Sydney: 582 Sloterdijk, Peter: 351, 541, 575 Smith, Adam: 8, 15, 29, 105, 146, 148, 206, 207, 447, 558, 584 Smith, Norman Kemp: 50 Sokrates: 49, 82, 85, 112, 113, 144, 161, 337, 550, 551, 578 Sommer, Andreas Urs: 546 Spalding, Johann Joachim: 13, 19, 26, 54, 61, 62, 63, 64, 66, 67, 69, 70, 72, 73, 74, 75, 76, 77, 78, 84, 87, 90, 92, 101, 119, 124, 125, 133, 139, 142, 143, 149, 253, 268, 357, 535, 540, 543, 544, 545, 546, 548, 551, 554, 560 Spinoza: 74, 148, 164, 238, 252, 352, 483, 544 Stadter, Ernst: 557 Stäudlin, Carl Friedrich: 102 Stamm, $$$: 542 Stark, Werner: 557, 559, 591 Steele, Richard: 75, 150, 545, 550 Stein, Carl von: 548 Stölzel, Adolf: 549 Stolberg, Rilinger, Barbara: 550, 589 Strabo: 450 personenregister | 627

Strawson, Peter: 552, 565 Striker, Gisela: 555 Struck, Hieronymus Johann: 543 Sturm, Thomas: 543, 558 Sulzer, Johann Georg: 90, 137, 454, 455, 547, 585 Svarez, Carl Gottlieb: 98, 549, 553 Swedenborg, Emanuel: 165, 242 Tacitus: 560 Tamerlan: 220 Tenbruck, Friedrich: 49 Tetens, Holm: 274, 565, 592 Tetens, Johann Nicolas: 92, 548, 567 Theiler, Willy: 578, 579 Theophrast: 577, 579 Thiele, Gotthelf Heinrich: 540 Thomasius, Christian: 133, 134, 200, 202, 220, 561 Till, Dietmar: 544, 585 Tschernyschewskij, Nikolaj Gawrilowitsch: 269 Tugendhat, Ernst: 540 Ulivari, Massimo: 543 Ulpian: 49, 267, 508 Unzer, Johann, August: 136 Vaihinger, Hans: 49, 301, 348, 542, 569, 575 Du Vair, Guillaume: 174, 176, 558 Vergil: 400 Vico, Giambattista: 199, 450, 503, 561, 584 Voltaire: 160, 181, 225, 462, 559, 562, 571 Vorländer, Karl: 563 Walch, Johann Georg: 77, 286, 569 628 | personenregister

Warda, Arthur: 540 Waszek, Norbert: 584 Weber, Max: 548 Weiser, Christian Friedrich: 553 Weishaupt, Adam: 54 Wieland, Christoph Martin: 88, 89, 547 Wieland, Wolfgang: 553, 554, 581 Wiesing, Lambert: 579 Willey, Basil: 544 Wilmans, Carl Arnold: 101 Winckelmann, Johann Jacob: 8, 70, 81, 82, 146, 411, 454, 545, 546, 556, 579, 583, 585 Wittgenstein, Ludwig: 436 Wolff, Christian: 7, 8, 14, 15, 16, 25, 36, 42, 55, 62, 69, 74, 79, 126, 127, 132, 133, 134, 165, 167, 182, 210, 233, 238, 240, 251, 252, 254, 256, 275, 278, 281, 295, 299, 312, 319, 333, 338, 343, 344, 346, 364, 407, 527, 528, 534, 539, 541, 543, 544, 546, 556, 563, 564, 565, 567, 593 Wolff, Michael: 552 Xenophon: 556 Zammito, John H.: 251, 564, 565, 572 Zanetti, Véronique: 579, 588, 590 Zedelmaier, Helmut: 547, 561 Zedler, Johann Heinrich: 77, 572 Zedlitz, Karl Abraham Freiherr von: 91, 281, 282, 548 Zelle, Carsten: 136, 544, 552, 584 Zenon (von Kition): 112, 555 Ziolkowski, Theodore: 548 Zöller, Günter: 99, 544, 551