Die Bestimmtheit und Offenheit der Rechtssprache: Vortrag gehalten vor der Juristischen Gesellschaft zu Berlin am 29. April 1987 9783110876468, 9783110114881


239 9 2MB

German Pages 33 [36] Year 1987

Report DMCA / Copyright

DOWNLOAD PDF FILE

Table of contents :
I. Rechtssprache und Allgemeinsprache
II. Die Sprechweise des Rechts
III. Die Hörsituation des Gesetzesadressaten
Recommend Papers

Die Bestimmtheit und Offenheit der Rechtssprache: Vortrag gehalten vor der Juristischen Gesellschaft zu Berlin am 29. April 1987
 9783110876468, 9783110114881

  • 0 0 0
  • Like this paper and download? You can publish your own PDF file online for free in a few minutes! Sign Up
File loading please wait...
Citation preview

Paul Kirchhof Die Bestimmtheit und Offenheit der Rechtssprache

Schriftenreihe der Juristischen Gesellschaft zu Berlin Heft 107

w DE

G

1987

Walter de Gruyter • Berlin • New York

Die Bestimmtheit und Offenheit der Rechtssprache Von Paul Kirchhof

Vortrag gehalten vor der Juristischen Gesellschaft zu Berlin am 29. April 1987

w DE

G

1987

Walter de Gruyter • Berlin • New York

Dr. iur. Paul

Kirchhof

o. Professor für Öffentliches Recht, Direktor des Instituts für Finanz- und Steuerrecht der Universität Heidelberg

CIP-Kurztitelaufnähme

der Deutschen

Bibliothek

Kirchhof, Paul: Die Bestimmtheit und Offenheit der Rechtssprache : Vortrag, gehalten vor d. Jur. Ges. zu Berlin am 29. April 1987 / Paul Kirchhof. Berlin ; New York : de Gruyter, 1987. (Schriftenreihe der Juristischen Gesellschaft zu Berlin ; H. 107) ISBN 3 11 011488 7 N E : Juristische Gesellschaft (Berlin, West): Schriftenreihe der Juristischen Gesellschaft e. V. Berlin

© Copyright 1987 by Walter de Gruyter & C o . 1000 Berlin 30 Alle Rechte, insbesondere das Recht der Vervielfältigung und Verbreitung sowie der Übersetzung, vorbehalten. Kein Teil des Werkes darf in irgendeiner Form (durch Fotokopie, Mikrofilm oder ein anderes Verfahren) ohne schriftliche Genehmigung des Verlages reproduziert oder unter Verwendung elektronischer Systeme verarbeitet, vervielfältigt oder verbreitet werden. Printed in Germany Satz und Druck: Saladruck, Berlin 36 Bindearbeiten: Verlagsbuchbinderei Dieter Mikolai, Berlin 10

I. Rechtssprache und Allgemeinsprache „ L a ß t den Worten Taten f o l g e n " , so sagt man, wenn die gute Absicht ausgesprochen, aber noch nicht verwirklicht ist. In der verbindlichen Sprechweise des Rechts hingegen steht das Wort für die Tat. D e r Rechtsstaat beansprucht die Geltung seiner Aussagen. Was im Text eines Gesetzes, eines Verwaltungsaktes oder eines Urteils gesprochen ist, erwartet Gehorsam. Sprache ist aber keineswegs typisches Instrument des Anordnens und Befehlens. D e r Sprechende kann beschreiben, berichten,

behaupten,

begründen und beweisen. D i e Sprache drückt ein Fühlen, Empfinden, Fürchten und H o f f e n aus. Sie begegnet dem anderen im Fragen und Antworten, im Verhandeln und Sichverständigen, in der Vereinbarung zukünftigen Verhaltens. Als Instrument zur Beeinflussung und L e n k u n g anderer kann die Sprache ermutigen oder ängstigen, bedrohen oder beruhigen, anerkennen oder zurechtweisen. D e r Sprechende empfiehlt, bittet, ermahnt und warnt, fordert oder befiehlt. In dieser sprachlichen Einwirkung auf den anderen gewinnt die Sprechweise mit zunehmender Verbindlichkeit den G r a d des Rechtlichen: der verbindliche Befehl und die verbindliche Vereinbarung setzen Recht. Die

verbindliche

Sprechweise

des Rechts fordert

Verstehbarkeit,

Bestimmtheit und Kontrollierbarkeit der Aussage. Deshalb wird häufig beschreibend oder fordernd - festgestellt, daß die Rechtssprache eine Fachsprache

sei 1 . Jeder Jurist erfährt täglich, daß seine Sprechweisen und

Begriffe stark von der Tradition unseres Rechts, der Eigenart der Rechtskultur geprägt sind und sich deshalb von der Allgemeinsprache deutlich abheben. D e n n o c h darf die Rechtssprache nicht zu einer ausschließlich von einer bestimmten B e r u f s g r u p p e verwendeten und verstandenen Fachsprache werden, weil die Rechtssprache das Mittel z u m verbindlichen Regeln gegenüber jedermann ist, also die Allgemeinheit des Staatsvolkes betrifft und zumindest von den am Rechtsleben Teilhabenden übernommen wird. D i e Sprache des Rechtslebens ist deshalb nicht Fachsprache, sondern fachlich geprägter Teil einer an die Allgemeinheit gewendeten

1

Walther Merk, Werdegang und Wandlungen der deutschen Rechtssprache, 1933, S. 5f.; Ulrich Daum, Rechtssprache eine genormte Fachsprache?, in: Der deutsche Sprachgebrauch, Bd. II, Deutsche Akademie für Sprache und Dichtung, Die Sprache des Rechts und der Verwaltung, 1981, hrsg. v. Ingulf Radtke, S. 83 ff.; krit. dazu Ruth Schmidt-Wiegand, in: H R G (Handwörterbuch zur deutschen Rechtsgeschichte), hrsg. v. Adalbert Erler/Ekkehard Kaufmann, 26. Lieferung, S. 344 ff.

6

oder in ihren Inhalten zumindest der Allgemeinheit vermittelbaren Sprache2. 1. Die Funktion der Allgemeinsprache

für das Recht

Allgemeinsprache und Rechtssprache stehen nicht im Gegensatz von volkstümlicher und juristisch prägnanter Sprechweise, sondern in einem empirischen und einem logischen Zusammenhang. Rechtskultur ist Teil der Sprachkultur, deswegen als Instrument des Denkens, als Mittel der Verständigung und Grundlage gemeinsamen Handelns notwendig mit den Sprechgewohnheiten einer Gemeinschaft verbunden. Wenn die Sprache Begriffe wie „Menschenwürde", „Familie", „Eigenes" oder „Sich Vertragen" anbietet, kann das Recht diese Kategorien aufnehmen. Unsägliches hingegen bleibt auch für das Recht unregelbar. Die in früheren Jahrhunderten den Schriftwerken beigefügte Verfluchung der Bücherdiebe und Urheberrechtsverletzer verwies auf eine moralische und ethische Verantwortlichkeit und Sanktion5, wird aber für die Rechtsgemeinschaft erst handhabbar, als der Bücherfluch durch eine Geld- oder Freiheitsstrafe ersetzt worden ist. Heute erleben wir ähnliche appellative Hinweise auf das noch nicht deutlich Gedachte und deshalb nicht prägnant Sagbare, wenn mit dem Zielwort „Qualität des Lebens" Glück, Sicherheit, Individualität verheißen4, aber eine Mehrung von Organisation und Quantitäten veranlaßt wird, oder wenn mit dem Zielwort „Stabilität und Wachstum" (§ 1 StabG) ein „magisches Vier"5- oder „Fünfeck", also ausdrücklich die Magie in das Recht eingebracht worden ist. Sprache ist das Mittel, mit dem die Menschen ihre Welt - Dinge, Handlungen, Ereignisse - hegreifen und sich bewußt machen, Personen, Sachen und Erfahrungen unterscheiden und einander zuordnen, ihren eigenen Standort in der Welt und zu der Welt bestimmen6. Im Begriff begreift der Mensch die Dinge; im Satz bezeichnet er Vorgänge in ihrer 2 Günther Dickel/Heino Speer, Deutsches Rechtswörterbuch, Konzeption und lexikographische Praxis während acht Jahrzehnten, in: Praxis der Lexikographie, hrsg. v. Helmut Henne, 1979, S.20. 5 Gottlieb August Crüwell, Die Verfluchung der Bücherdiebe, Archiv für Kulturgeschichte, Bd. IV (1906), S. 197 ff. 4 Golo Mann, Nützliche und unnützliche Schlagwörter, aus: Neue Rundschau, Jg. 83 (1972), Heft 3, S. 385/386. 5 Klaus Stern/Paul Münch/Karl-Heinrich Hansmeyer, Gesetz zur Förderung der Stabilität des Wachstums und der Wirtschaft, Kommentar, 2. Aufl. 1972, § 1 , S. 117 ff.

' Johann Gottfried Herder, Über den Ursprung der Sprache, Gesammelte Werke, Bd. 2, 5. Aufl., Nachdruck 1978, S. 115 ff.

7

Bedeutung, Verschiedenheit und Ähnlichkeit; Gedankenaustausch ist sprachlich vermittelte Verständigung 7 . Verstehen, verstanden haben und Verstand haben sind Stufen sprachlicher Sinnerfassung und der Fähigkeit zur Weitergabe. Die von unserer Sprache bereitgestellten Kategorien bestimmen auch unser rechtliches Denken. Wer in der Tradition des deutschen Idealismus zwischen Sein und Sollen unterscheidet 8 , findet zu einem anderen Rechtsverständnis als derjenige, der die Gesetzmäßigkeiten der Natur aufspüren und den Menschen in diese Gesetzmäßigkeiten einbinden will. Wer sodann die Gesetzmäßigkeiten der Natur mit dem Willen zur technischen Entwicklung erforscht, erkennt das Gesetz der Natur als Mittel zur Veränderung, während der Begriff des „Umweltschutzes" diese Gesetzmäßigkeiten als Gegenstand der Bewahrung aufnimmt. Wer eine Auffassung und Sichtweise als „fortschrittlich" und „modern" rühmt', verspricht ihr eine glanzvolle Zukunft, wer sie als veraltet und ermüdet verdrängen will, fügt einen auf die Endphase andeutenden Zusatz an und verabschiedet Stile und Denkrichtungen als Spät-Barock, Spät-Kapitalismus oder widmet dem Totgesagten bereits einen Nachruf im PostKapitalismus oder Post-Modernismus. Sprache schafft zugleich den Zusammenhalt der sprachlich konstituierten Gemeinschaft und ist Voraussetzung für gemeinsames Handeln. Die babylonische Sprachverwirrung schuf Unordnung und Chaos, nahm dem ins Werk gesetzten gemeinsamen Plan Ziel und Methode. Sprache bildet die Gemeinschaft und erlaubt das Entwickeln gemeinsamer Ziele, die Verständigung über Zwecke und Mittel, das Werben und Empfehlen gemeinsamer Anliegen. Die Wahl von Begriffen, die Bildung nahezu beliebig kombinierter Sätze erlaubt dem Sprechenden, seine Sichtweise der Welt zu formulieren und zu verändern, Beobachtungen und Entdeckungen neu zu bewerten oder auch zu verschleiern, die Bedeutung einer Wirklichkeit für die Menschen der Gegenwart zu verändern. Die klassische Frage von Wittgenstein10, ob die Sprache Kleid oder Verkleidung der Gedanken sei, handelt nicht nur von der subjektiven Deutbarkeit und Mehrdeutigkeit der Sprache, sondern auch von dem bewußten Gestaltungsmittel einer Sprachverfremdung oder Sprachverführung. Die Sophisten benutzen die Mehrdeutigkeit eines Begriffes, um „Unrecht zu Recht zu machen". Das Orakel

7

John Locke, Versuch über die menschliche Vernunft, Bd. 3, Die Wörter, 1911 (1690), S. 146. 8 Immanuel Kant, Kritik der reinen Vernunft, 2. Aufl. 1787, S. 375 f. ' Krit. dazu: Golo Mann, a . a . O . , N . 4 , S.391 f. 10 Ludwig Wittgenstein, Tractatus logico philosophicus, 1921, 4.002.

8

täuscht eine gültige Aussage vor, löst den Richtigkeitsanspruch aber nur ein, weil die Vieldeutigkeit den Spruch für jede Entwicklung offenhält. Sokratische Ironie beabsichtigt, die Widersprüchlichkeit von Gesagtem und Gemeintem zu offenbaren und dadurch das Wahre um so verläßlicher zu übermitteln. Dichtung verändert, bündelt oder vergröbert die Wirklichkeit zum Dramatischen, Spaßhaften, Grotesken, Widersinnigen, um Nachdenklichkeit und Phantasie anzuregen. Wer einer Person oder einem Vorgang den Namen gibt, bestimmt den Blickwinkel für die Realität: das Kriegsministerium hat eine andere Funktion als das Verteidigungsministerium; die Bundesrepublik als Wirtschaftswunder wird anders erlebt als eine kapitalistische Republik; der Rettungsschuß des Polizeibeamten wahrt, der Todesschuß vernichtet Leben. Persönlichkeiten suchen sich einen Namen zu machen, um dem anderen einen Begriff für ihr Selbst zu vermitteln. Das Namenlose - der Masse, der Angst - ist das nicht Bewußte, deshalb das Irrationale, das Nichtkalkulierbare. Bedürfnisse menschlichen Zusammenlebens, damit Erwartungen der Rechtsordnung, fordern gelegentlich auch eine ungenaue oder unrichtige Sprechweise. Das Taktgefühl gegenüber einem Enttäuschten ist Anlaß, einen Sachverhalt sprachlich zu verschleiern. Das Verschweigen einer Wahrheit, z.B. durch den Arzt, erleichtert Leiden. Schonende Euphemismen gehören zum „guten Ton". Die höfliche Sprechweise der Diplomatie „nimmt ein Blatt vor den Mund". Die „verblümte" Ausdrucksweise ist zwar nicht das Verfahren rechtlichen Regeins, kann aber in der kompromißhaften, auf Verständigung angelegten Regelungsweise durchaus wesentliche Teile des Rechts bestimmen. Man denke nur an den „vereinbarten Dissens", die Formelkompromisse in völkerrechtlichen Verträgen, die Euphemismen, die z. B. den Interessengegensatz zwischen Arbeitgeber und Arbeitnehmer im Begriffspaar der Sozialpartner oder Tarifpartner entschärfen und zu mäßigen suchen, oder an die Generalklausel, die das noch nicht Vorhersehbare, z. B. in einem Billigkeitsdispens, aufzufangen sucht. Generalklauselartige Ermächtigungen, z. B. zur Untersagung nachhaltiger Behinderungen anderer Wettbewerber, können Tiegen ihrer Konkretisierungsbedürftigkeit eine „Risikozone" des Verbietbaren bestimmen, eine in die Breite wirkende Vorwarnung verläßlich regeln". Die Sprache der Gegenwart ist stets auch Konzentrat der kulturellen, rechtlichen und politischen Geschichte der jeweiligen Sprachgemeinschaft. Die Sprache schafft Kontinuität zwischen Hergebrachtem, Gegenwärtigem und Zukünftigem. Sie vermittelt Wertsetzungen, die aus der Reli11 Paul Kirchhof, Die Bestimmtheit von Ermächtigungsgrundlage und Inhalt eines Verwaltungsakts nach § 37 a Abs. 3 GWB, in: ZHR 150 (1986), S. 303 ff.

9

gion, der Kultur, der Rechtsgeschichte und politischen Lebenserfahrung überbracht werden. Deshalb denken wir bei dem Begriff Staat - entlehnt von Status - den Stand, die Ordnung, Satzung, das Reglement mit12. Beim Tatbestand Freiheit klingen - so sagt uns die Forschung über die Sprachwurzeln" - zumindest unbewußt auch die Vorstellungen von Freude, Freund, Frau, Freien mit. D e r Begriff Macht enthält möglich, vermögend14 und damit die Idee der Wirkungskraft. Das Grundgesetz nimmt in Tatbeständen der „Gemeinde", des „Eigentums", des „Berufsbeamtentums" oder des Staatskirchenrechts ausdrücklich Hergebrachtes in das geltende Recht und seine Entwicklung auf.

2. Die

Staatssprache

Recht ist ein Vorgang des Sprechens und Hörens, des Anordnens und Gehorchens, des Anbietens und Zustimmens. Die gemeinsame Sprache ist Funktionsbedingung für das Recht und wesentliche Grundlage für die Rechtsgemeinschaft. Die gemeinsame Muttersprache verbindet in einer Kulturgemeinschaft, erleichtert die Rechtsgemeinschaft, stützt die staatliche Einheit. Die Bundesrepublik Deutschland gehört zu den wenigen europäischen Staaten mit einer einheitlichen, gemeinsamen Sprache. Die Bevölkerung der Bundesrepublik spricht Deutsch als Muttersprache; die Bundesrepublik ist ein auf Einsprachigkeit beruhender Nationalstaat. Die gemeinsame Muttersprache, in die der Mensch hineingeboren wird und die ihm die vertraute Umwelt zur Persönlichkeitsentfaltung gibt, ist eine die Rechtsgemeinschaft mitgestaltende Macht, die den Zusammenhalt, die Methoden und Verfahren friedlicher Willensbildung und Abstimmung, die Einbindung des einzelnen in die Gesamtheit gleichsam selbstverständlich, von leichter Hand und unauffällig herstellt. Die jeweilige Sprachgemeinschaft wird so zu einem Rückhalt für Rechtsstaatlichkeit und Demokratie. D e r Bestand und die Entwicklungsoffenheit dieser Sprache ist von staats- und verwaltungsrechtlicher Bedeutung. Die Muttersprache ist Familien-

und Erziehungssprache,

ist deshalb auch Schutzgegenstand des

Art. 6 Abs. 1 G G und hilft den Eltern, das Kind in ihre Lebens- und

12 Ferdinand Elsener, Deutsche Rechtssprache und Rezeption, in: Tradition und Fortschritt im Recht, FS zum 500jährigen Bestehen der Tübinger Juristenfakultät, hrsg. v. Joachim Gernhuber, 1977, S. 47/57. 15 Wolfgang Bergsdorf, Herrschaft und Sprache, 1983, S. 48; Michael Freund, Sprachgeschichtliche Bemerkungen zur Politik, in: FS für Dolf Sternberger zum sechzigsten Geburtstag, 1969, S. 90/93. 14 Michael Freund, a. a. O., N. 13, S. 94.

10

Denkgewohnheiten einzuführen, ihm die elterliche Sicht der Dinge zu vermitteln und eine selbstverständliche Grundlage gegenseitigen Austausches zu schaffen. Deutsch ist auch Unterrichtssprache, die in der Vorschule, der Schule, der Universität und anderen Ausbildungsstätten verwendet wird. Damit wächst dem Schulwesen eine Schlüsselfunktion für die Sprachpflege, Spracherhaltung und Sprachintegration zu. Deutsch ist weiterhin Geschäftssprache, die in allen Bereichen des Privatrechtsverkehrs und des öffentlichen Lebens verwendet wird, dem Austausch von Gütern und Dienstleistungen, der Verbreitung von Informationen, Nachrichten und Meinungen, dem Recht der freien Rede und der Meinungsäußerungsfreiheit, der Informationsfreiheit, der Versammlungs- und Vereinigungsfreiheit dient. Deutsch ist schließlich auch Schriftsprache, d. h. die Standardsprache schriftlicher Äußerungen, wird damit insbesondere zur Grundlage der Publikationsfreiheit, der Pressefreiheit, der verschiedenen Formen von Literatur- und Kulturfreiheit. In diesen Funktionen wird Deutsch zur Staatssprache der Bundesrepublik Deutschland. Zwar kennt das Grundgesetz im Gegensatz zur österreichischen15 und zur schweizerischen Verfassung" keine ausdrückliche Vorschrift über die Staats- und Gesetzessprache, weil wegen der tatsächlichen Einheitlichkeit und Geschlossenheit der Deutschsprachigkeit kein Bedürfnis nach verfassungsrechtlicher positiver Festlegung besteht. Dennoch gehört zum anerkannten Verfassungsrecht, daß die Organe des Staates sich im Verkehr untereinander und gegenüber dem Bürger der deutschen Sprache zu bedienen haben17. Das Grundgesetz regelt die Deutschsprachigkeit inzident, indem es alle Anordnungen in deutscher Sprache trifft, den Staat und seine Institutionen deutsch definiert, sich an Deutschsprachige wendet und deutschsprachige Rechtsetzungen und Rechtsanwendungen veranlaßt. Die Bundesrepublik Deutschland ist ein deutschsprachig verfaßter Staat. Die Parlamentssprache, die Gesetzessprache18, die Amtssprache (§23 Abs. 1 VwVfG) und die Gerichtssprache (§ 184 GVG) sind deutsch. Das rechtliche Gehör wird prinzipiell in deutsch gewährt, die Gerichtsschutzgarantie des Art. 19 Abs. 4 G G stützt sich auf die Deutschsprachigkeit des Gerichtsverkehrs; Deutschengrundrechte und das Gebot sachgerechter Differenzierung in Art. 3 Abs. 1 G G setzen die Ausübung von Rechten und ihre Beantwortung durch den Staat in deutscher Sprache voraus. Das Wiedervereinigungsgebot richtet sich auf ein Gebiet mit vorgegebener 15

Art. 8 des österreichischen Bundesverfassungsgesetzes. " Art. 116 S.2 der schweizerischen Bundesverfassung. 17 Meinhard Hilf, Die Auslegung mehrsprachiger Verträge, 1973, S. 166. '» Meinhard Hilf, a. a. O., N . 17, S. 166 f.

11

Deutschsprachigkeit und findet in dieser kulturstaatlichen Voraussetzung eine wesentliche Stütze. Der Staat hat deshalb - in einer Art Parallele zur Sozialstaatlichkeit auch den Kulturauf trag", für die Erhaltung und Schaffung immaterieller Werte, d. h. sprachlich geprägter und geformter Gedankenwelt einzutreten und zu sorgen. Die Bundesrepublik Deutschland muß den vorgefundenen Bestand an deutscher Sprache wahren und in ihren Entwicklungsmöglichkeiten fördern. Die Erhaltung der Sprachgemeinschaft und die Pflege des gemeinschaftsbewußten Sprechens ist dem Staat aufgegeben. Selbstverständlich garantiert das Recht der persönlichen Entfaltungsfreiheit und die Meinungsäußerungsfreiheit Anderssprachigen, ihre andere Sprache zu pflegen oder im individuellen Sprachgebaren Sprachen zu mischen. Insoweit gilt individuell ein sprachenrechtliches Repressionsverbot, generell das Verbot eines Sprachimperialismus und die sozialstaatliche Verpflichtung zu Anpassungshilfen für Anderssprachige im deutschen Sprachgebiet.

3. Die Freiheit der

Sprechweise

In allen Abstufungen privaten und öffentlichen Sprechens erlaubt der freiheitliche Rechtsstaat grundsätzlich eine beliebige Sprechweise. Der grundrechtsberechtigte Bürger darf sich sprachlich frei entfalten; der Staat entwickelt sich grundsätzlich in einem offenen Willens-, d. h. auch Sprachbildungsprozeß. Die Freiheit des Bürgers erlaubt eine selbstbestimmte, unbekümmerte Sprechweise. Dieser Freiheit setzt die staatliche Gesetzgebung nur grobe Grenzen zum Schutz der Sprachbetroffenen. Die Strafdrohung gegen die Beleidigung und Verleumdung, das Wettbewerbsrecht mit dem Schutz bestimmter Waren- und Markenzeichen, das Verbot unlauteren Werbens, das Urheberrecht, das Namensrecht, das Marken- und Warenzeichenrecht sind die wichtigsten Schranken individueller Sprechfreiheit. Grundsätzlich aber ist die individuelle Sprechweise Teilhabe an der Allgemeinsprache, einem im Gemeingebrauch stehenden Gut des Volkes, nicht Inanspruchnahme eines individuellen, gegen andere abschirmbaren Gutes. Diese Grundauffassung entspricht guter deutscher Tradition. N o c h im 15. und 16. Jahrhundert lehnten Autoren wie Sebastian Brant (Das Narrenschiff) 20 oder Martin Luther (Vorrede zu der Bibelausgabe von 1545) Entgelte für ihre Werke ab, weil sie im Dienst der sprachlichen Bewußtseinsbildung tätig sind und ihre Sprachfähigkeit von " Udo Steiner u. Dieter Grimm, Kulturauftrag im staatlichen Gemeinwesen, in: W D S t R L 42, 1984, S. 7 ff., 46 ff. 20 Protestation in der Narrenschiffausgabe von 1499, hrsg. v. Manfred Lemmer, 2. erw. Aufl. 1968, S . 2 6 f .

12

der Kulturgemeinschaft ableiten. Die Unterscheidung zwischen einer Teilhabe an der Allgemeinsprache und der entgeltwürdigen Bildung eigener Begriffe und Bezeichnungen klingt auch im geltenden Recht an, wenn die Nutzung des Volksmundes zur Bezeichnung von Waren nicht schutzwürdig ist (z. B. die Bezeichnung von Weinbergslagen nach ihrem allgemein gültigen, durch den Volksmund bestimmten Namen), das Warenzeichen hingegen als Ausdruck individuellen Leistungswillens und als Ergebnis eines individuellen Werbeaufwandes besonderen rechtlichen Schutz genießt21. Der Staat hingegen darf nicht immer die Freiheit der unbekümmerten und beliebigen Sprechweise beanspruchen. Seine grundrechtliche Gebundenheit, der Amtsauftrag, der Grundsatz der Unbefangenheit und Unparteilichkeit sowie die Verfassungspflicht zu völkerrechtsfreundlichem Verhalten begründen gelegentlich Pflichten zu einer zurückhaltenden, selbst zu einer verhältnismäßigen Sprechweise. Die Prinzipien der Legitimation durch Wahlen, der Öffentlichkeit, der Indemnität und der Meinungsfreiheit im geistigen Meinungskampf weisen andererseits auch für staatliche Aussagen und Reaktionen auf eine weitgehende Ungebundenheit. Für die Sprechweise des Staates, d. h. das wichtigste Handlungs- und Gestaltungsmittel des Rechtsstaates gibt es deshalb keinen allgemeinen, die staatliche Sprechweise disziplinierenden Firmen-, Marken- oder sonstigen Zeichenschutz. Auch eine staatliche Kontrolle gegen „unlauteren Wettbewerb" im öffentlichen Sprachgebrauch - insbesondere von konkurrierenden Parteien oder Verbänden - ist um so fragwürdiger, je mehr die Kontrolle staatliche Tätigkeit vorbereitend lenken könnte. Selbst bei der Rechtsanwendung und der mitwirkenden Rechtsfindung ist der Bürger grundsätzlich frei. Das Grundgesetz gewährt für die Rechtsfindung im Einzelfall rechtliches Gehör und leitet für die Fortentwicklung des Rechts einen von der Meinungsäußerungsfreiheit bestimmten Prozeß offener Willensbildung ein. Die Verfassung bringt so verschiedene Rechtsauffassungen in ihrer sprachlichen Vielfalt zur Wirkung, setzt ihre eigenen Aussagen im Gegeneinander der Meinungen aber auch einer Belastungsprobe aus, die oft die Begriffsgrenzen erreicht, sie gelegentlich überschreitet. Wer einen Hausfriedensbruch als Instandbesetzung bezeichnet, Müllhalden als Entsorgungspark empfiehlt, Abgaben mit Milliardenaufkommen zu Pfennigabgaben verkleinert oder eine für § 1 Stabilisierungsgesetz erhebliche Minderung des Wirtschaftswachstums als Nullwachstum mit negativen Zuwachsraten verschleiert, verwendet eine

21

BVerfGE 51, S. 193/211 f.

13

Suggestivsprache und betreibt Sprachverfremdung 2 2 , nimmt aber allein sprachlichen Einfluß und bleibt damit im R a h m e n des rechtlich Zulässigen. D e r Rechtsbetroffene ist auch in einem förmlichen Rechtsfindungsverfahren an Wahrheitspflichten

nur gebunden, soweit es um den Vortrag

des Sachverhalts geht. Hier verstärken strafrechtliche Sanktionen (Betrug, Urkundenfälschung, falsche Anschuldigungen, Teilnahme an Falschaussagen) die Verpflichtung zur Wahrheit. Im Vortrag der Rechtsauffassungen hingegen ist der Betroffene grundsätzlich frei. Beruft er sich mißbräuchlich auf einen Rechtssatz, so schlägt er lediglich eine Subsumtion vor, die von einem entscheidenden Rechtsanwender nicht geteilt und durch eine andere Subsumtion ersetzt wird. D e r G e d a n k e des freien Rechtsvortrags erlaubt dem Sprechenden jedoch, seine eigene Einstellung zu den Dingen, Vorgängen, Erfahrungen und rechtlichen Interpretationen persönlich zu bestimmen und auch die Rechtswelt sich durch eigene Worte und Begriffsbildungen zu eigen zu machen, in D i s t a n z zu weisen und in Frage zu stellen. D a s Bundesverfassungsgericht hat wiederholt zur Rechtsverfälschung durch geplanten Sprachgebrauch Stellung genommen. In einer Entscheidung über die Zulassungsvoraussetzungen für den öffentlichen Dienst 2 3 wendet es sich nachdrücklich gegen das „politische Schlag- und Reizwort v o m ,Berufsverbot'", das zur Kennzeichnung der G e w ä h r für Verfassungstreue „völlig fehl am P l a t z " sei und „offensichtlich nur politische E m o t i o n e n " wecken wolle. D a s für die Staatsverfassung elementare „Recht auf L e b e n " gab dem Gericht Anlaß 24 , den Bedeutungsgehalt des Grundrechts für das „werdende L e b e n "

gegen einen

abweichenden

Sprachgebrauch zu bekräftigen und die Rechtsfrage dadurch auf Art und U m f a n g des Schutzes zu lenken. Als ein Verfassungsschutzbericht des Bundesinnenministeriums

eine Partei als „Feindin der Freiheit", als

„rechtsextrem" und als „eine Partei mit verfassungsfeindlicher Zielsetzung und Betätigung" kennzeichnete 2 5 , bewertete das Bundesverfassungsgericht diese Sprechweise ebenfalls als einen rechtserheblichen Vorgang, der allerdings gerechtfertigt sei, weil das derart sprechende Verfassungsorgan auch einen Antrag auf Verbot der Partei stellen könne und im R a h m e n dieser Befugnis auch eine Auseinandersetzung mit der für verfassungswidrig gehaltenen Partei durch Argumente zulässig sei. A u s der Wandlung des Abgeordnetenstatus vom Honoratiorenmandat z u m Be-

22 Paul Kirchhof, Rechtsänderung durch geplanten Sprachgebrauch?, in: FS für Friedrich Klein, 1977, S. 227/234 ff. 25 BVerfGE, Bd. 39, S. 334/370. 24 BVerfGE, Bd. 39, S. 1/36 f. 25 BVerfGE, Bd. 40, S. 287/292 f.

14

rufspolitiker hat das Bundesverfassungsgericht26 die Folgerung gezogen, daß die den Abgeordneten von Verfassungs wegen gewährte „Entschädigung" (Art. 48 Abs. 3 G G ) nicht mehr nur als Ausgleich eines Verdienstausfalls, sondern als regelmäßiges Einkommen gedeutet werden könne. Der in der Tradition der Rechtskultur eindeutige Begriff gewinnt mit der Entwicklung des Mandats einen andersartigen Inhalt. Die Ausdeutbarkeit von Begriffen wirkt noch elementarer, wenn sie Grundbegriffe unseres Verfassungsrechts erfaßt. Bedeutet grundrechtliche Freiheit eine Freiheit vom Staat, im Staat oder durch den Staat? Meint „Demokratie" die Herrschaft der Mehrheit, die Herrschaft der Mehrheit unter gleichzeitigem Minderheitenschutz, die Herrschaft einer Partei, die im Namen des Volkes zu sprechen behauptet oder die Herrschaft einer „Basis", die den „wahren Volkswillen" zu erkennen und zu vollziehen glaubt? Sichert „Gleichheit" staatlich vermittelte ähnliche Lebenssituationen von der Geburt bis zum Tode, oder gilt das Prinzip der Gleichheit je nach Individualität und Freiheit, das heißt auch je nach Anstrengung, Begabung, Vorbildung?

II. Die Sprechweise des Rechts 1. Das verbindliche Sprechen Die Sprache des Rechts unterscheidet sich von allen übrigen Sprechwei-

sen durch ihre Verbindlichkeit. Die Anordnung eines Gesetzes, eines Richterspruchs, eines Verwaltungsaktes muß befolgt werden; der Staat kann das Gehorchen aufgrund seines Gewaltmonopols erzwingen. Die Verbindlichkeit einer rechtlichen Regel setzt voraus, daß ihr Inhalt hinreichend bestimmt ist und vom Adressaten verstanden werden kann. Die Bestimmtheit erfordert eine besondere Deutlichkeit und Disziplin des Sprechens und ebnet damit einer besonderen Rechtssprache den Weg. Die Bindung des Rechts an die allgemeine Kulturordnung und seine Allgemeinverständlichkeit allerdings bleiben nur gewahrt, wenn die Rechtssprache sich nicht völlig von der Umgangssprache löst. Das Recht muß sprachlich so vermittelt werden, daß die Rechtsänderung der Textände-

rung vorbehalten bleibt, der 'Rtch.tswandeP7 jedoch durch einen Bedeutungswandel von Worten eintreten kann.

BVerfGE, Bd. 40, S.296. Peter Lerche, Stiller Verfassungswandel als aktuelles Politikum, in: FS für Theodor Maunz zum 70. Geburtstag, 1971, S. 285 ff. 26

27

15

2. Form und Sprache

des

Rechts

Recht ist nicht von Anfang an in einer das Sollen bewußt machenden, allgemeinverständlichen, nachvollziehbaren Sprache gefaßt. Noch heute gelten Gewohnheiten, Observanz, Ortsühlichkeit und die „öffentliche (von der überwiegenden Mehrheit der Beteiligten bestimmte) Ordnung" als selbstverständlicher Maßstab für rechtmäßiges Verhalten und werden für die bewußte Frage nach Rechtsinhalten zum Erkenntnisgrund für Recht. Entstehensgrund für Recht sind auch Gepflogenheiten in ihrem kontinuierlichen Wandel. Recht muß zwar stets erkennbar, jedoch nicht immer sprachlich gefaßt sein. Oft genügt es, wenn das Entstehen oder die Veränderung von Recht in Gesten, Gebärden und Symbolen sichtbar wird. Das Reichen der Hand, das Hinwerfen des Handschuhs, die Übergabe des Amtsstabes oder das Uberreichen eines Pfeiles waren rechtsbegründende und rechtsverändernde Gebärden28. Wenn der Veräußerer eines Grundstücks zum Zeichen der Eigentumsaufgabe über den Zaun springt2', das voreheliche Kind bei der Eheschließung der Eltern legitimiert wird, indem es unter dem Mantel der Mutter verborgen mit ihr zum Traualtar tritt („Mantelkinder")30, so machen Symbole einen abstrakten Vorgang sichtbar oder ein Ereignis ungeschehen. Wenn sodann das Wort neben die Gebärde tritt, ist es an überlieferte, von Rechtskundigen geschaffene Formen gebunden, die eine Rechtshandlung verkörpern. Der formalisierte Streit ums Recht hatte vor allem das Ziel, eine Streiterledigung zu erreichen. Der Rechtsgang (Prozeß) war ein Zweikampf mit Worten, bei dem man sich eines der Formen und Formeln kundigen Worthalters, eines Fürsprechs, bedienen konnte31. Der unbescholten geleistete Eid war das Selbsturteil über die Rechtslage, das endgültig über die Klage entschied32. Der Gegner konnte nur durch Eidesschelte die Sache aus dem Gang des Rechts wieder in den Waffengang zurückfallen lassen, in dem dann der bessere Kämpfer siegte33. Die Gewissensentscheidung des ehrenhaften Mannes (der Eid) konnte sich jedoch nur solange gegen das bessere Gewissen vieler durchsetzen, solange der Rechtsgang ein Verfahren höchstpersönlicher, eigenhändiger

28 Andreas S. 45 f. 2' Andreas 30 Andreas 31 Wilhelm

S.lOf. 32 33

Heusler,

Institutionen des deutschen Privatrechts, Bd. 1, 1885,

Heusler, a. a. O . , N . 28, S. 45 f. Heusler, a . a . O . , N . 2 8 , S . 4 5 f . Ebel, Recht und Form, Vom Stilwandel im deutschen Recht, 1975,

Wilhelm Ebel, a. a. O . , N . 31, S. 10 f. Wilhelm Ebel, a . a . O . , N . 3 1 , S. 10f.

16

Streitschlichtung und nicht Bewährungsprobe allgemeinen Rechts gewesen ist. Je mehr das Recht jedoch zur Grundlage eines generellen, oft anonymen Marktverkehrs wird, führt das Anliegen der Rechtssicherheit und materiellen Gleichheit zu objektivierten Sachverhaltsermittlungen und der Herausbildung materiellen Rechts. An die Stelle der individuellen Geste tritt die Erklärung; an die Stelle ehrenhafter Versicherung tritt der materielle Beweis; an die Stelle persönlicher Befriedung (Streitschlichtung) die verallgemeinerte und in die Breite wirkende Regel. Der Rechtssatz wird mehr und mehr zum Maßstab der Rechtsfindung. Rechtshandlungen werden jetzt durch Sprache verkörpert und getragen. Formen haben lediglich unterstützende Funktion. Die Formbindung dient bald vorrangig der Beweissicherung. Die täglichen Handels- und Marktgeschäfte setzen die Beiziehung von zwei öffentlichen Zeugnispersonen voraus". Geschäfte mit Dauerwirkung waren vor den sitzenden Rat zu bringen35. Die Vorgänge vor dem Rat wurden bald zum Gedächtnis über das Leben der Ratsherren hinaus in das Stadtbuch geschrieben". Sodann verselbständigte sich die Eintragung zum konstitutiven Formerfordernis37. Soweit Recht nicht durch Einvernehmen, sondern durch einseitigen Befehl begründet wird, ist grundsätzlich der erklärte Wille des Regenten maßgebend. Die Form der Rechtsetzung dient zunächst schlicht der Bekanntmachung. Anfangs wurden die Rechtsunterworfenen durch den Gesetzesvortrag in den Amtsgemeinden über die von der Staatsgewalt für Recht erklärten Regeln unterrichtet38. Gewohnheitsrecht bildet sich ohnehin ohne förmliche Publikation. Später wird die Formenbindung rechtsgebietender Tätigkeit eher noch abgeschwächt. Der rechtschaffene Untertan hatte sich selbst nach dem Willen des Landesherrn, dem Gesetz, zu erkundigen39. Noch im 18. Jahrhundert gab es keinen allgemeinen Rechtsgrundsatz, der die Verbindlichkeit von Gesetzen von förmlicher Publikation abhängig machte40. Die heutige Formenbindung beschränkt sich weitgehend auf die Schriftlichkeit, unterstützt also lediglich die Rechtserheblichkeit des Wortes. Das Erfordernis der Schriftlichkeit soll den Beteiligten, insbesondere dem Gesetzgeber und den Vertragschließenden, die Bedeutung und den Ernst des Rechtsaktes bewußt machen (Warnfunktion), das Ergebnis 34 35 36 37 38

3'

40

Wilhelm Wilhelm Wilhelm Wilhelm

Ebel, Ebel, Ebel, Ebel,

a.a.O., a.a.O., a.a.O., a.a.O.,

N.31, N.31, N.31, N.31,

S.28f. S.28f. S.28f. S.28f.

Wilhelm Ebel, a.a.O., N.31, S.3.

RGZ 13 (1885), S. 215/217. RGZ 13 (1885), S. 215/217.

17

eines Verfahrens und des Zusammenwirkens von Rechtssubjekten abschließend fixieren (Organisationsfunktion), den Rechtsbildungsvorgang auf ein Ergebnis konzentrieren (Sammlungsfunktion), den rechtlich maßgeblichen Text festhalten (Klarstellungsfunktion), für alle Zukunft überprüfbar machen (Sicherungsfunktion) und f ü r jedermann erkennbar werden lassen (Verallgemeinerungsfunktion). Soweit die Rechtsordnung Rechtsaussagen durch Formalisierung verläßlicher zu machen sucht, ergänzt sie nicht das Sprachliche durch weitere Erkenntnisquellen für Recht, sondern verstärkt die Bedeutung des Sprachlichen. Wenn die Übernahme in das Beamtenverhältnis (§ 6 Abs. 2 BBG) oder der Eid (Art. 56 G G ) von der Verwendung bestimmter Worte abhängt, das Erfordernis der Schriftlichkeit bei der Rechtsetzung oder beim Verwaltungsakt die rechtliche Aussage an den Leser, nicht an den H ö r e r richtet, den Zusammenhang verschiedener N o r m e n im Bewußtsein hält, ein Begründungszwang Rationalität sprachlich vermitteln will und ein Standesbeamter oder N o t a r die rechtserhebliche Aussage beurkundet, so wird der Blick des Rechtssuchenden jeweils vermehrt auf den Text, nicht auf weitere Erkenntnishilfen für Recht ausgerichtet. Auch die Förmlichkeiten f ü r die Verkündung und Bekanntmachung von Rechtsakten zielen auf die Verläßlichkeit, Bestimmtheit, Nachvollziehbarkeit und bei generellen N o r m e n auch die Öffentlichkeit des gesprochenen Rechtsaktes. 3. Bilder

und

Begriffe

Die Sprache des älteren deutschen Rechts haftet noch an sichtbaren Erscheinungen und vorstellbaren Sprachbildern, kennt noch kaum den verallgemeinernden und typisierenden Begriff. Die Rechtssprache behält die Anschauungen und die Anschaulichkeit der Umgangssprache bei, zieht sich nicht in die kühle Sachlichkeit einer Rechts- und Amtssprache zurück. Dadurch gewinnt sie an Verständlichkeit, Betroffenennähe und Uberzeugungskraft, verliert aber an Prägnanz und Sachlichkeit. Rechtssprichwörter drücken z. B. die hilfsweise Erbfolge der weiblichen Verwandtschaft beim Fehlen männlicher Erben in dem Bild aus: „Wo kein H a h n ist, kräht die Henne" 4 1 . D e r Gerichtsstand des Tatortes wird durch das Sinnbild bestimmt: „Wo sich der Esel wälzt, da muß er Haare lassen"". Selbst f ü r Maß- und Zeitbestimmungen zieht das ältere deutsche

41 Leonhard Winkler, Deutsches Recht im Leben deutscher Sprichwörter, 1927; Eduard Graf und Mathias Dietherr, Deutsche Rechtssprichwörter, 1864. 42 Leonhard Winkler, a.a.O., N.41; Eduard Graf und Mathias Dietherr, a. a. O., N. 41.

18

Recht der Zahl ein „fröhliches Ungefähr" 4 3 vor. Rechtserhebliche Entfernungen bestimmen sich z . B . danach, wieweit man ein weißes Pferd schimmern sieht oder eine K a t z e springt, ein Mann einen Stab, einen H a m m e r oder ein Beil wirft 44 . D i e Altersgrenze für Amtsinhaber wird durch die Frist bestimmt, in der ein Meier auf einem Sessel ungehalten sitzen mag 45 . A b e n d s ist der Zeitpunkt, in dem die Sonne untergeht und die K u h ihre Klauen niedertut 4 '. D i e ewige Geltung begründet Verbindlichkeit, „solange der H a h n kräht, die Sonne auf- und niedergeht und der Regen fällt" 4 7 . Diese Rechtssätze bieten Regel,

ein

Beispiel

als

verallgemeinerungsfähige

abstrahieren sodann im Sprachbild v o m einzelnen Fall, benennen

aber noch nicht in einem Begriff den Maßstab rechtserheblicher Ähnlichkeit oder Verschiedenheit. D i e bildhafte N o r m ist verständlich und in ihrem Inhalt verläßlich, solange die Adressaten über die gleiche Lebensund Berufserfahrung verfügen. J e mehr sich die Rechtsgemeinschaft jedoch von einer landwirtschaftlichen zu einer marktoffenen, später zu einer nach Ständen untergliederten Gemeinschaft entwickelt, desto mehr k o m m t der Rechtssprache die A u f g a b e zu, einen Zusammenhalt des Bewußtseins in verallgemeinerten Begriffen und Tatbeständen zu begründen und zu sichern. D i e Einprägsamkeit und werbende K r a f t des Rechts kann dann statt durch Sprachbilder auch durch eingängige dungen

Wortverbin-

hergestellt werden, insbesondere durch Stabreime (Haus und

H o f , L a n d und Leute, N a c h t und Nebel), durch Endreime (Rat und Tat, schalten und walten), durch Wiederholungen (Acht und Bann, Kraft und Macht) oder durch die positive A u s s a g e mit gleichzeitig nachfolgender N e g a t i o n (die Wahrheit sagen und die L ü g e lassen). D i e Verwendung von Sprachbildern im Recht ist ein bewußt eingesetztes Stilmittel, das einen Rechtssatz verständlich macht, zugleich seine Idee begründet, ein Stück Offenheit für das Unbestimmte, gelegentlich das Geheimnisvolle wahrt, aber auch seine Durchsetzbarkeit stärkt. D a s Sprachbild ist aber oft auch A u s d r u c k einer Entwicklungsphase

entstehen-

den Rechts, in dem die rechtserheblichen Ähnlichkeiten und Verschiedenheiten für eine bestimmte Rechtsfolge erlebt und erfahren, jedoch noch nicht in das sprachliche Bewußtsein normierender Begrifflichkeit gerückt sind. D a s Recht richtet sich am Beispielsfall aus, aus der Beschreibung der historisch gefundenen Problemlösung wird das Bild, sodann das Vorbild.

43

Jakob Grimm, Jakob Grimm, 45 Walther Merk, 46 Walther Merk, 47 Walther Merk,

44

Von der Poesie im Recht, Kleinere Schriften 6 (1882), S. 152 f. a. a. O., N. 43, S. 170f.; Walther Merk, a. a. O., N. 1, S. 15 a. a. O., N. 1, S. 16. a. a. O., N. 1, S. 16. a. a. O., N. 1, S. 16.

19

Eine Verallgemeinerung der rechtlichen Maßstäbe und der durch sie erfaßten Sachverhalte in Leitsätzen und sodann in Vorschriften erscheint nicht notwendig oder nicht möglich. Die Rechtssprache in Bildern bleibt sehr der Wirklichkeit verhaftet, die N o r m bildet vor allem die vorgefundene Normalität ab und will ihren Bestand wahren. Der Rechtsgedanke einer „echten N o t " wird im Mittelalter durch die additive Aufzählung „frost, hagel, und mißgewächs" ausgedrückt, später durch weitere Konkretbezeichnungen wie „fehde, urlog, heerfahrt und herrendienst" erweitert" und erst heute im Tatbestand der „höheren Gewalt" im rechtserheblich Gemeinsamen bestimmt. Die Tatbestandsbildung durch additive Aufzählung, die dann in einer abschließenden Verallgemeinerung („und ähnliche Fälle") den Rechtsanwender mit der Suche nach dem alle Beispielsfälle verbindenden Gemeinsamen beauftragt, ist auch in der Gesetzgebung der Gegenwart noch geläufig, z. B. bei der Definition der Einkunftsarten im EStG. 4. Die Sprache

des

Rechtssatzes

Die Rechtssprache der Gegenwart verwendet den Verstandes-, den Gedankenstil. Sie ist einfach, knapp, klar und bestimmt, um den Rechtssetzer zur disziplinierten Diskussion und Entscheidungsbildung zu zwingen und den Inhalt des Rechtssatzes dem Adressaten verläßlich zu überbringen. Die Sprache des Gesetzes ist abstrakt, schematisch verallgemeinert und dient damit der materiellen Gleichheit. Sie ist nüchtern und sachlich, erreicht dadurch möglichste Eindeutigkeit der Aussagen. Das Gesetz sucht den Sachverhalt unmittelbar tatbestandiich zu erfassen, die Beweiserhebung der Wahrheit möglichst nahezubringen und die Rechtsfolge unausweichlich vorzugeben, vermeidet deshalb die bildhafte, gleichnishafte Sprache, die das Gemeinte nicht unmittelbar ausdrückt, sondern in der Metapher vermittelt. Sprachliche Umwege entsprechen nicht dem direkt zugreifenden Gesetz oder der die Wahrheit suchenden Rechtswissenschaft 49 . Diese Sprechtechnik läßt den Wortschatz der Gesetzbücher im Vergleich zur lebhafteren Umgangssprache schrumpfen, gibt der Gesetzessprache einen Hauch kühler Geschäftsmäßigkeit, kann nicht eine Sprache in aller Munde, kein „mundgerechtes" Recht sein50. Diese Kühle 48

Ruth Schmidt-Wiegand, a. a. O., N . 1, S. 352. Hans Dölle, Vom Stil der Rechtssprache, 1949, S.28. 50 Zu den Bemühungen um eine Verbesserung der Verwaltungssprache; vgl. Walter Otto, Erwartungen an die Rechts- und Verwaltungssprache der Zukunft, in: Muttersprache 1982, S. 309f.; Bundesverwaltungsamt, Bürgernahe Verwaltungssprache, Merkblatt der Bundesstelle für Büroorganisation und Bürotechnik, M18, 2. Aufl. 1984. 49

20

und Distanz ist der Preis für die Genauigkeit, logische Richtigkeit und sachliche Schärfe. Die Sprache der Gesetzgebung hat mit der Verwaltungssprache das Bemühen um Sachlichkeit, Klarheit und Bestimmtheit gemein, sucht aber schematisierend in die Breite zu wirken, während die Verwaltung individuell adressiert spricht. Die Sprache der Verwaltung kann deshalb auf die Individualität und Besonderheit des Einzelfalls eingehen, den Empfängerhorizont des Verwaltungsaktes sprachlich berücksichtigen, die Regelung begründen, veranschaulichen und verständlich machen, Verhandlungen und Verständigung vorbereiten.

III. Die Hörsituation des Gesetzesadressaten Beim alltäglichen Sprechen sind wir gewohnt, das gesprochene Wort aus der jeweiligen Sprechsituation zu verstehen. Wer einem anderen „Hals und Beinbruch" wünscht, formuliert auf der Berghütte einen sportlichen Gruß, berührt mit denselben Worten vor den Schranken des Gerichts die Grenze der Beleidigung. Wer von einer Sportmannschaft korrektes Verhalten fordert, erzielt auf dem Rugbyfeld andere Wirkungen als beim anschließenden Festbankett. Der dezente Hinweis auf eine geziemende Kleidung verlangt für den Tanzstundenball eher eine qualitative Verbesserung gegenüber der Alltagskleidung, für das Strandbad eher eine maßvolle quantitative Verminderung. Überraschung und Enttäuschung, Hoffnung und Sorge, Zustimmung und Ablehnung werden oft mehr durch die Sprechsituation, weniger durch die gesprochenen Worte ausgedrückt. Von dieser Sprechsituation der Allgemeinsprache, die in der Regel Gesprächssituation ist, unterscheidet sich die Sprechweise des Rechtssatzes grundlegend. Der Adressat eines Rechtssatzes steht nicht in der Gesprächssituation des aktiv Mitsprechenden, der fragen, einwenden und erwidern kann, sondern er bleibt passiv in der Hörsituation des Angewiesenen. Außerdem erreicht ihn die Weisung nicht in einer dem Anweisenden bewußten Augenblickssituation, sondern in der beliebig veränderbaren Lage des anonymen Lesers. Der Rechtssatz muß deshalb auf jede erklärende Gebärde, unterstützende Geste und erläuternde Gesprächssituation verzichten. Der Rechtssatz bleibt die allgemeine, jedermann in beliebiger Hörsituation erreichende Regel,. die durch nüchterne, abstrakte, schmucklose Sprechweise wirkt. Diese Eigenart rechtsetzenden Sprechens wendet das juristische Augenmerk auf die Erkenntnishilfen für Recht, die in dem generellen und nüchternen Rechtstext angelegt, dort jedoch nicht immer ausdrücklich ausgesprochen sind. Der im Gesetzblatt verkündete Rechtssatz stellt eine Hörsituation her, die durch vier Vorga-

21

ben bestimmt ist: 1. die in jedem Rechtsbegriff und Rechtssatz mitklingende Rechtstradition und Rechtsdogmatik (die Redeweise im Rechtsleben), 2. die Ansprechpartner (die Gesetzesadressaten), 3. die Situationsgebundenheit (die Spezialität des Regelungsgegenstandes) und 4. die Offenheit für weitere Erkenntnisquellen für Recht. 1. Die Redeweise im Rechtsleben Das Hervorbringen und Vollziehen von Recht ist stets als ein Vorgang des Sprechens verstanden worden. Das Entstehen des Gesetzes hängt vom „Abstimmen" im „Parlament", von Einspruch" oder „Zustimmung" des Bundesrates ab; sein „Wortlaut" wird „verkündet". Die Exekutive handelt in Regierungserklärungen", „Verlautbarungen" und Verwaltungsakten. Der Betroffene ge„horcht" oder wehrt sich gegen Akte der „Spruchkörper" durch einen „Widerspruch", eine „Klage" oder eine „Berufung". Die Rechtsprechung" entscheidet über „Einspruch" und „Freispruch", sie spricht im „Namen des Volkes". „Rede" bedeutet ursprünglich „Rechenschaft" und (gerichtlicher) Parteivortrag. „Redner" ist anfangs der Wortführer vor Gericht. Die Begriffe Recht und Rede, Nomos und Name, Lex und Wort haben einen gemeinsamen Ursprung51. Recht lebt in der Sprache und durch die Sprache52. Der generell abstrakte Rechtssatz will eine Aussage mitteilen, deren Bedeutung für alle Sprachfähigen identisch ist. Diesen idealtypischen Erfolg kann die Sprache jedoch grundsätzlich nicht erreichen. Sprechen teilt nicht immer denselben Gedanken mit, sondern bringt den Partner auf eigene Gedanken53. Jeder erlebt eine Aussage nach seiner Erfahrung, seinen Wertungen und seiner Aufnahmefähigkeit. Der eine bezeichnet die Venus als Morgenstern, der andere als Abendstern54. Deshalb ist es wesentlich, in der Sprechweise des Rechts möglichst dieselben Beobachtungs- und Wertungsperspektiven zu vermitteln. Das deutsche Recht sieht die Hin- und Rückfahrten des Arbeitnehmers zwischen Wohnung und Arbeitsstätte als eine einkommensteuerrechtlich absetzbare, dem Erwerb dienende Berufsfahrt, das amerikanische Steuerrecht hingegen als eine nicht absetzbare, der Heimkehr dienende Privatfahrt55. Das Zivilrecht verweigert einem sittenwidrigen Vertrag die AnerBernhard Großfeld, Sprache und Recht, in: JZ 1984, S. 1/3. Walther Merk, a. a. O., N. 1, S. 4. 5J Josef Simon, Sprachphilosophische Alternative, ARSP 9 (1974), S. 1/5. 54 Gottloh Frege, Über Sinn und Bedeutung, in: Günther Patzig (Hrsg.), Funktion, Begriff, Bedeutung, S. 14/17. 55 Klaus Vogel, Die Abschichtung von Rechtsfolgen im Steuerrecht, in: StuW 1977, S. 97/113. 51 52

22

kennung, das Steuerrecht behandelt die Vertragsrechtsfolgen als gewinnbringende Forderungen, damit nicht die Sittenwidrigkeit zur Steuerersparnis führt 56 . D a s Verfassungsrecht versteht unter „ E i g e n t u m "

das

individuelle Freiheit ö k o n o m i s c h abstützende, durch Leistung erworbene Vermögen 5 7 ; das Zivilrecht hingegen im U m f e l d eines Abstraktionsprinzips nur das gegenständliche Sachvermögen 5 8 . D e r Tatbestand des „ B e a m ten" wird eng gefaßt, wenn er die formalisierten Qualifikationsanforderungen an das mit Hoheitsbefugnissen betraute Personal bestimmt 5 9 , m u ß hingegen weit verstanden werden, wenn er eine H a f t u n g des Staates für ein durch seine Bediensteten verursachtes Unrecht begründet". Diese unterschiedlichen Perspektiven (sprachliche Aufträge z u m rechtlichen Begreifen) sind dem Juristen selbstverständlich, weil er diese Begriffe in der Tradition

der Rechtskultur

versteht. D e r A u f t r a g der

juristischen A u s b i l d u n g dient insbesondere der verläßlichen Vermittlung dieser Perspektiven. D a b e i ist der Jurist auch geübt, im N a c h d e n k e n hergebrachter Begrifflichkeit vorauszudenken, also die heutigen Anfragen an

das

Recht

gegenwartsgerecht

zu

beantworten.

Der

Tatbestand

„ P r e s s e " war in den Anfängen der Drucktechnik das durch den V o r g a n g des Pressens hergestellte Druckerzeugnis 6 1 , umfaßt heute aber alle zur Verbreitung geeigneten und bestimmten vervielfältigten Schriftstücke 6 2 . D e r Tatbestand „ R u n d f u n k " meinte ursprünglich nur den Hörfunk 6 3 , wird heute aber entsprechend der Entwicklung der Medien auch auf das Fernsehen erstreckt". D e r Tatbestand „ E i s e n b a h n " ist zur Zeit noch als der schienengebundene überörtliche Verkehr definiert 65 , wird aber im Merkmal

der

Schienengebundenheit

gelockert,

wenn

die

technisch

erprobte Magnetbahn im allgemeinen Beförderungsverkehr eingesetzt werden wird. D e r klassische K a n o n der grammatischen, historischen, systematischen und teleologischen Auslegung von Rechtssätzen

hält

jedem Juristen in alltäglichem Bewußtsein, daß der T e x t eines Rechtssatzes aus seiner historischen Sprechsituation, seiner Gegenwartsbedeutung, 56 Klaus Offerhaus, in: Hübschmann/Hepp/Spitaler, Kommentar zur Abgabenordnung und Finanzgerichtsordnung, Bd. 2, 1977, §42, Anm. 18 ff. 57 BVerfGE 14, S. 288/294; BVerfGE 71, S. 1/12; BVerfGE 15, S. 167/199. 5» §903 BGB i.V.m. §90 BGB. 59 §2 Abs. 2 u. Abs. 3 BRRG. 60 B G H Z 6, S.215/216f.; B G H Z 39, S. 358/361 f. 61 Ingo v. Münch, in: v. Münch, Grundgesetzkommentar, Bd. 1, Präambel bis Art. 20, 3. Aufl. 1985, Art. 5, Rdnr.21. 62 BVerwGE 319, S. 159/164. 63 BVerfGE 12, S. 205/208. 64 BVerfGE 12, S. 205/212 f., 226. 65 Eberhard Schmidt-Aßmann u. Günter Fromm, Aufgaben und Organisation der Deutschen Bundesbahn in verfassungsrechtlicher Sicht, 1986, S.80.

23

seinem rechtssystematischen Umfeld und in der Funktion seiner Rechtsfolge zu verstehen ist. Deshalb ist Rechtsanwendung stets mehr als das bloße Nachsprechen von Vorgeschriebenem"'. Die je nach Interpretationsbedürftigkeit geringere Verläßlichkeit eines Rechtssatzes kann nicht durch das Postulat vermehrter oder gar strikter Bestimmtheit aufgefangen werden. Ein nicht hinreichend entwicklungsoffener Rechtssatz veraltet. Unsere Rechtsordnung kommt nicht ohne die polizeiliche Generalklausel, das Verhältnismäßigkeitsprinzip, den Vertrauensschutz, die Ortsüblichkeit und andere offene Tatbestände aus. Wollte der Gesetzgeber jedes Detail regeln, so würden Codices von unlesbaren Volumina entstehen, die Gesetzgebung im übrigen bereits bei der Verkündung veraltet sein, weil jeder Tag neue Anfragen an das Recht richtet. Wie ein Mangel an rechtsstaatlicher Offenheit das Recht gefährden kann, zeigt etwa ein gesetzliches Erfordernis von Warnschüssen oder anderen Formen der Androhung vor jedem Schußwaffeneinsatz auch gegenüber dem tötungswilligen Angreifer67 oder die fehlende Generalkompetenz für einen „Krisenstab" bei extremen Herausforderungen an den Rechtsstaat, der zur Zeit gelegentlich legitim, aber nicht legal zusammengerufen wird. Das Bestimmtheitserfordernis stellt deshalb nicht die Auslegungsbedürftigkeit und Auslegungsfähigkeit eines Rechtssatzes in Frage68. Rechtsbegriffe haben insbesondere unbestimmt zu sein, wenn der Tatbestand für die Vielfalt der Lebenssachverhalte und die in ihnen angelegten Wertungen offen sein", tatsächliche Entwicklungen in sich aufnehmen70, die Starrheit eines Grundsatzes durch eine Ausnahme mäßigen71, oder auf noch nicht genau beschreibbare und feststellbare Sachverhalte ausgedehnt werden soll72.

66 Paul Kirchhof \ Richterliche Rechtsfindung, gebunden an „Gesetz und Recht", in: N J W 1986, S. 2275ff. 67 Volkmar Götz, Allgemeines Polizei- und Ordnungsrecht, 8. Aufl. 1985, Rdn.319. 68 BVerfGE 21, S. 245/261 (Definition der Arbeitsvermittlung in § 3 7 Abs. 1 AVAVG); E 4 5 , S.400/420 (Schulrecht, „Einführungsphase", „Kurssystem"); E 63, S. 312/324 (Erbschaftsteuergesetz, eine „wesentlich im Interesse einer Familie oder bestimmter Familien" errichtete Stiftung). " Vgl. BVerfGE 54, S. 143/144 f. (polizeiliche Generalklausel). 70 BVerfGE 49, S. 89/134 f. (Stand von Wissenschaft und Technik). 71 BVerfGE 7, S. 129/154 („besondere Härte"); E 5 0 , S.256/263 („besonderer Fall"); E 5 6 , S. 1/12 f. („besondere Gründe"). 72 BVerfGE 56, S. 1/12 f. (Einschränkung der Vollversorgung nach BVG bei Vorliegen „besonderer Gründe" und „in angemessenem Umfang", insbesondere für Auslandssachverhalte.)

24

Die Bestimmtheit oder Offenheit der Gesetzessprache hängt demnach vom Gestaltungswillen des Gesetzgebers ab. Dabei gelten für die Vorhersehbarkeit der Gesetzesaussage und für den Entscheidungsvorbehalt zu Gunsten des Gesetzgebers um so strengere Anforderungen, je mehr die Rechtsfolge den Adressaten beschwert73. Bei gesetzlichen Verboten muß der Gesetzgeber wenigstens die Grundgedanken des Verbots deutlich machen74; bei gewährenden Gesetzen sind die Anforderungen an die Klarheit und Verständlichkeit des Gesetzes schwächer75. Die Offenheit gesetzlicher Regelungen endet allerdings bei der Delegation von Rechtsetzungsbefugnissen, die grundsätzlich nur in den Grenzen einer förmlichen Ermächtigung zum Erlaß von Rechtsverordnungen zulässig ist. Der Gesetzgeber ist zu einer verdeckten, in unbestimmte Rechtsbegriffe und Ermessenstatbestände gekleideten Delegation nicht befugt. Der offene Tatbestand wird zur Rechtsetzungsermächtigung, wenn er die gemeinte Rechtsfolge nur programmatisch umgrenzt, nicht aber inhaltlich vorzeichnet. Die Entscheidungspflicht des Gesetzgebers7' enthält auch eine Präzisierungspflicht, deren Art und Intensität von der Bedeutung und dem Gewicht der Regelung abhängt. Die Regelungsdichte bestimmt sich nach dem Regelungsgegenstand, den jeweils geltenden Anforderungen von Freiheit und Gleichheit. Je deutlicher das Gesetz die Verhaltensanweisungen tatbestandlich bestimmt, desto größer ist die formelle Gleichheit und Rechtssicherheit. Je offener gesetzliche Anweisungen bleiben, desto mehr Freiheit belassen sie dem Freien oder geben sie an den Autonomieträger zurück. Formelle Gleichheit durch besondere Regelungsdichte stellt z. B. das Straßenverkehrsrecht, das Gerichtsverfahrensrecht, das Recht der indirekten Steuern oder das Wahlrecht her, indem das Gesetz um der Gleichheit von jedermann willen bewußt Individualität nicht zur Kenntnis nimmt. Wenn jeder Wähler, mag er Staatsphilosoph oder ein „Ohnemichel" sein, mit seiner Stimmabgabe den gleichen Zählwert erreicht, so ist für das Wahlrecht der Tatbestand „Deutscher" erheblich, die Individualität jedes Deutschen je nach Berufserfahrung, Vorbildung, familiärer und berufli-

75 Vgl. insbes. Art. 103 Abs. 2 GG (nulla poena sine lege scripta); dazu BVerfGE 25, S . 2 6 9 / 2 8 5 ; E 2 8 , S. 175/183; E 3 7 , S . 2 1 0 / 2 0 6 f . (§292 Abs. 1 Satzl A O ) ; E 4 5 , S. 346/351 (Verstöße von Kammerangehörigen gegen ihre Berufspflichten); E 4 5 , S.363/371 f. („besonders schwerer Fall"); E 4 7 , S. 109/120f. („Überwiegen" eines Entgelts); E 5 0 , S. 142/164f. ( § 1 1 7 b StGB 1975); EuRGZ 1986, S.619f. (Nötigungstatbestand). 74 BVerfGE 17, S. 306/314; E 5 4 , S. 2 3 7 / 2 4 7 ; E 6 0 , S. 215/230. 75 BVerfGE 14, S. 13/16 („Vorschüsse auf Versorgungsbezüge, Zuwendungen, Unterhaltsbeträge oder ähnliche Zahlungen"). 76 BVerfGE 33, S. 125/159 (Facharzt).

25

eher Verantwortlichkeit jedoch unerheblich. Würde man hingegen den Zugang zum öffentlichen Amt eines Prüftechnikers, die Erteilung eines Führerscheins oder die Gewährung von Sozialhilfe für besondere Lebenslagen ebenfalls nur von der Staatsangehörigkeit ohne Unterscheidung nach Eignung, Befähigung und Bedarf abhängig machen, so läge in der formalen Gleichheit, der nicht hinreichend differenzierungsoffenen Tatbestandlichkeit gerade der Gesetzgebungsfehler. Der Gesetzgeber muß oft persönliche Freiheit und damit Rechtsvielfalt durch Tatbestandsoffenheit ermöglichen, z . B . wenn er Ehe und Familie, Vereinsautonomie, Meinungsäußerungs- oder Religionsfreiheit nur als Individualrecht sichert, nicht aber in der Art ihrer Inanspruchnahme regelt. Wie sehr eine besonders dichte Regelung um der Gleichheit willen Freiheit gefährden und verletzen kann, zeigt das Recht auf Zugang zum Hochschulstudium. Im Recht der Hochschulzulassung wurde nach anfangs notwendigen, später nur noch wohlgemeinten verfassungsrechtlichen Interventionen ein sog. Los-Verfahren als Korrektiv in ein System überformalisierter Gleichheit eingefügt. Der Zufall, das schlechthin Irrationale, die Willkür ist partiell wieder zum Rechtsprinzip geworden. Dieser Strukturbruch im Recht kann auch durch den Euphemismus eines „Los-Verfahrens", d. h. die formal ordnungsgemäße Organisation der Willkür nicht überdeckt werden77. Andererseits vermittelt ein hinreichend bestimmter, prägnant ausgedrückter Rechtssatz Freiheit, weil der Freie den Staat durch bloßes Berufen auf den Gesetzestext in seine Schranken weisen kann. Das Recht kann nur recht behalten, wenn es für subjektive Deutungen und Änderungen möglichst wenig zugänglich ist. Das Gebot eines bestimmten, voraussehbaren, berechenbaren Rechts rechtfertigt aber nicht eine besonders dichte und intensive Regelung in allen Lebensbereichen. Vielmehr liegt eine zentrale Aufgabe moderner Gesetzgebung in der bewußten Entscheidung, welche Rechtsbereiche freiheitlicher oder autonomer Selbstgestaltung überlassen und welche Verhaltensweisen um der Gemeinverträglichkeit willen strikt gesetzlich angeleitet werden müssen. Die Grenze zwischen Offenheit und Striktheit einer Regelung ist heute zu einer Kernfrage der Rechtswissenschaft geworden. Wir streiten gegenwärtig für die gesetzlichen Grundsatzkodifikationen und für ein Verwaltungsermessen, für pädagogische und wissenschaftliche Bewertungs- und Betreuungsspielräume, für Beurteilungsermächtigungen, Einschätzungsprärogativen, Prognoseermächtigungen, Planungsermessen, Vertrags-

77 Zum Losverfahren vgl. VG Gelsenkirchen, Urt. v. 6.2.1973, in: D Ö V 1973, S. 679f. m. Anm. v. Jürgen Lüthje, S. 680f.; BVerfGE 59, S. 1 ff.

26

Spielräume auch im Verwaltungsrecht, Selbstverwaltungsbereiche und einzelne, auf Gewohnheit und Observanz, Ortsüblichkeit und Beteiligtenwillen weiterverweisende Rechtssätze. 2. Der Adressat des Rechtssatzes Wenn Gesetze auslegungsbedürftig und auslegungsfähig sind, stellt sich die Frage, wer diese Offenheit des Rechtssatzes in der Anwendung zu konkretisieren (und den Rechtssatz damit zu vervollständigen) hat. Auch diese Fragestellung ist so alt wie das positive Recht. Die Maßgeblichkeit und Verbindlichkeit der Auslegung hängt letztlich von der Autorität des Auslegenden ab. Wir werden uns heute kaum mehr entschließen können, nach dem Vorbild romanistischer Zitiergesetze die Bildung einer „herrschenden Meinung" durch Zähl- und Gewichtungsanweisungen zu ordnen und bei Stimmengleichheit das Wort Papinians den Ausschlag geben zu lassen78. Wir werden kaum noch bedauern, daß formelle Maßgeblichkeit juristischer Schriften zur verbindlichen Interpretation strittiger Rechtssätze 7 ' ohne jeden Nachklang in der Gegenwart geblieben ist. Wir werden statt dessen unser Augenmerk der Frage zuwenden müssen, wem die Kompetenz für die rechtsnotwendige Interpretation von Rechtssätzen zukommt. Die Antwort auf die Frage nach der Zuständigkeit zur Rechtssatzauslegung erscheint aus der Struktur einer Norm einfach: Wenn ein Rechtssatz dem Adressaten eine Handlung aufgibt, bei der Erfüllung dieses Befehls aber einen Handlungsspielraum offenläßt, so ist der Adressat beauftragt und berechtigt, diesen ihm durch Gesetz eröffneten Spielraum auszufüllen und zu konkretisieren. Für die gesetzesausfüllende Interpretation von gesetzlichen Beurteilungs- und Ermessensspielräumen ist deshalb der jeweilige Gesetzesadressat verantwortlich. Dieses Ergebnis ist für viele Teilrechtsbereiche eine Selbstverständlichkeit, für das Verhältnis von Verwaltung und Gerichtsbarkeit jedoch ein Problem. Für die Rechtsbeziehungen der Privatrechtssubjekte untereinander gilt die Regel, daß die Unbestimmtheit, Lückenhaftigkeit und Abdingbarkeit des Privatrechts eine ergänzende Rechtsetzungsbefugnis der Privaten, die Fähigkeit zum Vertragsschluß, begründet. Ähnliches gilt für die Tarifverträge im Arbeitsrecht. Für das Rechtsverhältnis zwischen Staat und Bürger gilt eine grundrechtlich geschützte Freiheit mit Gesetzesvorbehalt. Der Grundrechtsberechtigte ist frei, soweit nicht das Gesetz seine Freiheit einschränkt. 78 Vgl. Roman Schnur, Der Begriff der „herrschenden Meinung" in der Rechtsdogmatik, in: Festgabe Ernst Forsthoff, 1967, S. 43/48, 53. 79 Roman Schnur, a . a . O . , N . 78, S.48.

27

Wenn allerdings das Gesetz durch eine den rechtsstaatlichen Bestimmtheitsanforderungen genügende Regelung ein anderes Staatsorgan beauftragt, im Vertretbarkeitsspielraum eines unbestimmten Tatbestandes oder im Rahmen eines Ermessensspielraumes die richtige Rechtsfolge zu finden, so ist dieser Adressat zur verbindlichen Vervollständigung des Rechtssatzes verpflichtet. Adressat eines solchen an Staatsorgane gewendeten Gesetzes sind die Exekutive, die Rechtsprechung oder ein nachrangiger Gesetzgeber. Die Anwendung eines Gesetzes wird in der Regel von der Verwaltung, nicht vom Richter erwartet. Das Gesetz beauftragt grundsätzlich die „vollziehende Gewalt" mit der Verwirklichung des Gesetzes; die Rechtsprechung ist nicht für den Gesetzesvollzug, sondern für die Kontrolle des Gesetzesvollzuges auf Antrag eines Beteiligten verantwortlich. Der Richter kann grundsätzlich ein Gesetz nicht vervollständigend und ergänzend vollziehen, weil seine Tätigkeit von der vorherigen Antragstellung durch Betroffene, in der Regel des betroffenen Bürgers abhängt, die generelle Weiterbildung des Gesetzesrechts aber nicht auf den Voluntativakt eines Bürgers angewiesen sein kann. Der Richter ist berufen, auf Antrag Rechtsverletzungen zu korrigieren, nicht ein Stück offengelassene Gesetzgebung auszufüllen. Die Aufgabe richterlicher Rechtsfortbildung dient deshalb nicht dem Gesetzesvollzug, sondern der Unterscheidung von Recht und Unrecht. Die rechtssatzähnlich in Leitsätzen veröffentlichten Ergebnisse richterlicher Rechtsfortbildung haben deshalb das Rechtmäßige vom Rechtswidrigen zu unterscheiden, nicht aber das „bessere" Recht zu suchen. Allerdings ist die erstmalige Anwendung eines Gesetzes in den Ausnahmefällen eines vorbeugenden Richtervorbehalts ausschließlich der Rechtsprechung anvertraut. Bei besonders schwerwiegenden, die Rechtsposition des Betroffenen wesentlich verändernden Rechtsakten verlangt die Rechtsordnung ein Mehr an rechtsstaatlichem Verfahren, Verwaltungsdistanz und weisungsfreier Rechtsnähe im Interesse einer vorgeschalteten Gerichtskontrolle. Dieses gilt insbesondere für die Ausübung der Strafgewalt, die Anordnung eines Gewahrsams und eines Eingriffs in die Körperintegrität, die Durchsuchung einer Wohnung, die Scheidung einer Ehe und - für die Verfassungsgerichtsbarkeit - für die Normenkontrolle, die Grundrechtsverwirkung oder ein Parteiverbot. Abgesehen von diesen Ausnahmefällen konzipiert das Grundgesetz jedoch ein mehrstufiges und arbeitsteiliges Rechtsfindungssystem, in dem der Erstadressat ein zur ergänzenden Rechtsgestaltung berufenes Organ ist, das allein in diesem Gestaltungsauftrag der Gerichtskontrolle unterliegt.

28

Das Grundgesetz beauftragt den Gesetzgeber, verfassungsrechtliche Vorgaben inhaltlich auszuprägen, z. B. „Inhalt und Schranken des Eigentums zu bestimmen" (Art. 14 Abs. 1 S.2 GG) oder „die Einrichtung von Behörden oder das Verwaltungsverfahren zu regeln" (Art. 84 Abs. 1 GG). Das einfache Gesetz ermächtigt den nachrangigen Gesetzgeber, ein Bundesrahmengesetz auszufüllen, ein Bundesgrundsätzegesetz vervollständigend zu befolgen, ein durch ein konkurrierendes Bundesgesetz offengelassenes Stück kodifikationsbedürftiger Regeln hinzuzufügen oder eine ausdrückliche Ermächtigung im Anwendungsbereich der ausschließlichen Bundesgesetzgebungskompetenz zu nutzen. Daneben ermächtigt das einfache Gesetz die Exekutive, ein gesetzlich vorgegebenes Regelungsprogramm durch Rechtsverordnung oder Satzung näher auszugestalten. Haushalts- und Finanzgesetze gestatten der Exekutive rechtsverbindliches Handeln nach eigenem Ermessen; sie sind Ausgabeermächtigung, nicht Ausgabeverpflichtung. Organgesetze, Organisationsgesetze und Planungsgesetze weisen der Exekutive Handlungsaufträge zu, ohne die Instrumente des Handelns im einzelnen zu benennen und das Handlungsziel mehr als grob zu skizzieren. Der Richter kann diese Rechtskonkretisierungen nur auf eine Mißachtung der gesetzlich definierten Handlungsspielräume überprüfen, nicht aber selbst die im Gesetz angelegte ergänzende Rechtsfindung - z. B. den Erlaß einer Rechtsverordnung oder die Ausübung eines Haushaltsermessens - selbst entwickeln. Richterliche Kontrollbefugnis und Kontrolldichte werden ebenso, wenn auch weniger deutlich erkennbar eingeschränkt, wenn eine materielle gesetzliche Regel dem Erstadressaten eine wertende Entscheidung abverlangt, weil sie unbestimmt, entwicklungsoffen, situationsbezogen, fragmentarisch, zeitgebunden oder abdingbar ist. Wenn eine gesetzliche Regelung vertraglich ergänzt oder vertraglich abbedungen werden kann, ein Ermessen zur behördlichen Entscheidung unter Alternativen verpflichtet, wissenschaftliche und pädagogische Bewertungsaufträge che, unvertretbare Entscheidungen fordern, Prognosen und Einschätzungen

höchstpersönli-

aus der Sicht des Pflichtigen verlangt sind,

29

Regeln

von Wissenschaft

schem Fachverstand,

und Technik weniger

mit wissenschaftlichem und techni-

mit Rechtskunde

angewandt

werden

müssen, eine Selbstgesetzgebung

von Selbstverwaltungsorganen erwartet wird,

gruppenspezifisches Standesrecht

mit Verbindlichkeit ausgestattet wird

oder ein Verwaltungsverfahren auf Mitwirkungsbedürftigkeit

angelegt ist,

so darf der Richter das Gesetz nicht unmittelbar vervollständigend anwenden, sondern nur die Erfüllung der Rechtsfindungsaufträge kontrollieren, also das Gesetz mittelbar - vermittelt durch den ergänzenden Entscheid des Erstadressaten - zur Geltung bringen. Wir werden deshalb vermehrt zu erwägen und bewußt zu machen haben, daß in jedem unbestimmten materiellen Rechtssatz auch eine Kompetenzzuweisung den Erstadressaten

zur Konkretisierung

an

dieses Rechtssatzes liegt.

Diese aus der Funktion der Sprache und der Sprechsituation des Gesetzgebens entwickelte These hat durchaus auch die chen Vorgaben

verfassungsrechtli-

für das Rechtsverhältnis unter den Staatsorganen und das

Grundrechtsverhältnis im Blick. Die These sucht die Autonomie der Vertragsberechtigten und der Selbstverwaltungsorgane zu wahren, den Eigenbereich der Exekutive gegenüber der Judikative kompetenzrechtlich zu umgrenzen und zur Geltung zu bringen, die bundesstaatliche Verschiedenheit der vollziehenden Gewalt zu respektieren, fachwissenschaftlichen Sachverstand und Rechtskundigkeit miteinander zu koordinieren, Voluntativtatbestand und materielle Gebundenheit systematisch zu unterscheiden, Prognosekompetenz und rückschauende Gerichtskontrolle in Einklang zu bringen und die Mitwirkungsoffenheit eines Verfahrens in ihren materiellen Auswirkungen aufzunehmen. Die in einem materiellen Rechtssatz differenzierend überbrachte K o m petenzregel zur Interpretation dieses Rechtssatzes kann für die Aufgabenteilung zwischen Exekutive und Judikative mehr an Bestimmtheit und Konkretheit bringen, als die Forderung nach einer allgemeinen chen Zurückhaltung!0,

richterli-

die heute insbesondere gegenüber der Verfassungs-

gerichtsbarkeit, vermehrt auch gegenüber der Arbeits- und Verwaltungs-

80 So Herbert Helmrich, in: Götz/Klein/Starck, Die öffentliche Verwaltung zwischen Gesetzgebung und richterlicher Kontrolle, 1985, S. 227; krit. dazu Horst Seniler, NJW 1986, S. 1086; zu den Grenzen einer (verfassungs-)gerichtlichen Nachprüfung im Sinne einer political-question-Doktrin s. Rudolf Dolzer, Verfassungskonkretisierung durch das BVerfG und durch politische Verfassungsorgane, 1982, insb. S. 48 ff.

30

gerichtsbarkeit erhoben wird. Der kompetenzrechtliche Gehalt unbestimmter materieller Rechtssätze hindert den Richter, originär die ihm angemessen erscheinende Lösung aus dem Gesetz zu entwickeln. Pointiert formuliert: Der Richter darf bei offenen Rechtssätzen nicht sagen, welche Auslegung ihm am richtigsten erscheint, sondern nur entscheiden, ob und warum die vom Erstadressaten gewählte Auslegung rechtlich falsch ist. Zur sachgerechten Rechtserkenntnis gehört auch die Feststellung, ob ein Rechtssatz einen Rechtsfindungsspielraum offenläßt. Der Richter muß stets den kompetenzrechtlichen Gehalt einer materiellen Regel prüfen und den in der Kompetenzzuweisung enthaltenen Maßstab voluntativer Rechtssatzergänzung in seiner materiellen Rechtsfindung aufnehmen. Die Kompetenzzuweisung an den Erstadressaten einer Norm ist mehr als der Respekt vor einem materiellen „Vertretbarkeitsspielraum"", weil in der Zuweisung einer Entscheidungsbefugnis, insbesondere an den Autonomieträger, eine spezialisierte Fachbehörde, einen wissenschaftlichen Sachverständigen und an eine originär demokratisch und rechtsstaatlich legitimierte Exekutive, bereits der Konkretisierungsmaßstab enthalten ist. 3. Die Spezialität Die Sprechsituation des Gesetzgebers wird nicht nur durch den Adressaten, sondern insbesondere auch durch Gegenstand, Ort und Ziel der Regelung bestimmt. Es macht einen elementaren Unterschied, ob eine Regelung das Staatsrecht oder das Verwaltungsrecht, das Baurecht oder das Gewerberecht, das allgemeine oder das Sonderpolizeirecht betrifft. Dieser Befund ist geläufig und im Grundsatz der Spezialität prinzipiell bewältigt. Die Spezialität bedeutet, daß jeder Rechtssatz nicht nur in der Perspektive des allgemein Rechtlichen, sondern in der Besonderheit des jeweils betroffenen Rechtsgebietes zu verstehen ist. Wir haben heute weitgehend eine eigenständige Terminologie für den jeweiligen Sonderrechtsbereich, of auch einen verschiedenen Wortgehalt bei identischem Wortlaut, etwa bei den Tatbeständen des Eigentums und des Beamten oder beim „Plan" im Haushaltsrecht und im Baurecht. Es sind sachgerechte und rechtlich notwendige Wertungsdifferenzierungen, wenn das Recht der Gefahrenabwehr und der Gefahrenvorsorge bereits eine Rechtsgutgefährdung als Eingriffstatbstand definiert, das Schadensausgleichsrecht hingegen erst

81 Vgl. Herbert Helmrich, Dolzer, a. a. O., N . 80.

a. a. O., N . 80; Horst Sendler, a. a. O., N . 80; Rudolf

31

den Schadenseintritt als Rechtsunwert versteht. Andererseits gestattet die Rechtsordnung Verhaltensweisen trotz gefährdender oder schädigender Auswirkungen, z. B. das Straßenverkehrsrecht um der Bewegungsfreiheit willen die Teilnahme am Straßenverkehr, das Arztrecht um der Heilungschance willen den gefährlichen Eingriff. Unterscheidungen zwischen absoluten und relativen Rechten, materieller und formeller Rechtswidrigkeit, zwischen öffentlich-rechtlicher Ermächtigung und zivilrechtlicher und strafrechtlicher Rechtfertigung, zwischen Innen- und Außenrecht, zwischen Rechtssatz und Verwaltungsakt, zwischen Tatsachenwahrheit und Wahrscheinlichkeit, zwischen Handlungs- und Erfolgsunwert, zwischen vergangenem Unrecht und daraus hervorgebrachtem Bestand sowie zwischen Rechtssicherheit und materieller Gerechtigkeit zeigen, daß eine Rechtsordnung sich gerade dann bewährt, wenn sie einen Vorgang aus der Perspektive des jeweiligen Teilrechtsbereichs beurteilt, ihre Wertungen auch von der Aufgabe des jeweiligen rechtlichen Kontrollorgans bestimmt ist und die Erkenntnisfähigkeit und Sachnähe der Beteiligten berücksichtigt wird. Die Einheitlichkeit der Rechtsordnung verbietet Wertungswidersprüche, fordert aber nicht die rechtliche Vergröberung und Vereinfachung, sondern ist ein Bindeglied zwischen den Teilordnungen des Rechts, das eine Rechtsfindung im Einzelfall mit Blick auf die Gesamtrechtsordnung verlangt. Deshalb ist die Hörsituation des Gesetzesadressaten von der Spezialität des geregelten Rechtsbereichs bestimmt, zugleich aber in den Gesamtzusammenhang einer aufeinander abgestimmten und in sich stimmigen Gesamtrechtsordnung eingebunden. 4. Ergänzende

Erkenntnisquellen

für Recht

Die Verstehbarkeit eines Rechtssatzes wird schließlich auch dadurch verläßlicher, daß der Rechtstext nicht aus sich heraus den Inhalt des Rechts zu überbringen sucht, sondern ihn durch Verweis auf andere Erkenntisquellen für Recht überbringt. Solange der Blick des Rechtssuchenden zwischen Rechtssatz und Wirklichkeit hin- und herwandert, bleibt dem Juristen bewußt, daß er zwei gleichrangige Erkenntnisquellen für Recht nutzt: Die im Rechtssatz bewußt gemachte Rechtskultur und die ihm zur rechtlichen Gestaltung aufgegebene Wirklichkeit. Bestimmte Rechtssätze entlehnen die konkrete Folgerung ihrer Anordnungen überwiegend aus der Wirklichkeit, z. B. der Gleichheitssatz, der die Gleichbehandlung von real Gleichem fordert und die Ungleichbehandlung von real Unterschiedlichem, oder die Schadensersatzpflicht, die die Wiederherstellung eines früheren realen Zustandes gebietet. Andere Rechtssätze hingegen fordern die Beachtung rechtsgeschaffener Strukturen, z. B. in Begrif-

32

fen wie „Wahl", „Verwaltungsakt", „Gericht" oder „Verfahren", bilden also Rechtssätze, deren sprachlicher Gehalt weniger sprachlich vorgefundenen Einflüssen unterliegt. Handelt ein Rechtssatz von Ergebnissen dies Erkennens, wie das Arzneimittelrecht oder das Straßenverkehrszulassungsrecht, so findet das sprachliche Zeichen in dem fachlichen Gedanken eine Verdeutlichung, gegebenenfalls eine Korrektur. Das Recht rezipiert teilweise die Fachsprache. Ist ein Rechtssatz auf willentliche Weiterbildung angelegt, sind z. B. die Erfordernisse des „gesamtwirtschaftlichen Gleichgewichts" bei haushaltspolitischen Entschließungen zu berücksichtigen, so empfängt die Rechtsregel ihren Inhalt auch und insbesondere durch den Willen des Adressaten. Der Rechtssatz enthält einen Einschätzungs-, Bewertungs- und Willensbildungsauftrag. Fragmentarische Rechtssätze deuten die gemeinte Aussage lediglich an, z. B. in Sprachhinweisen auf die „öffentlichen Belange", das „Wohl der Allgemeinheit" oder den „wichtigen Grund". Weiterverweisende Rechtssätze begründen die Verbindlichkeit eines Entstehungsgrundes für Recht außerhalb des Gesetzestextes, z. B. durch Hinweis auf den „Handelsbrauch", die „Ortsüblichkeit", die „öffentliche Ordnung" oder die „guten Sitten". Der eigenständige Gehalt dieser Verweisungen liegt im wesentlichen in der Kompetenzzuteilung für das Hervorbringen von Recht an die von dem Recht betroffene Personengruppe. Greift ein Rechtssatz eine vorgefundene Teilrechtsordnung auf, wie im Tatbestand der „Schule", der herkömmlichen allgemeinen Dienstleistungspflichten, der kommunalen Selbstverwaltung oder des Berufsbeamtentums, so ist der Kernbestand tradierter Rechtsvorstellungen gesetzlich verfestigt, andererseits die gesetzliche Aussage für zukunftsorientierte Ausprägungen zugänglich. Bloße Zielprojektionen, z. B. der Sozialstaatlichkeit oder einer Planungsanpassung, beauftragen den Gesetzesadressaten, auf einen gesetzlich genannten Zustand mit frei gewählten, angemessenen Mitteln hinzuwirken. Gelegentlich verlangt die gesetzliche Zielprojektion auch eine ausgleichende Wertung verschiedenartiger Ziele, z. B. wenn das Straßenverkehrsrecht die Sicherheit und die Leichtigkeit des Straßenverkehrs zu fördern sucht oder das Rechtsstaatsprinzip zugleich materielle Gerechtigkeit und Rechtssicherheit anstrebt. Die Aussage einer N o r m wird zum Normalen, wenn sie die tatsächlichen Lebensbedingungen alltäglich und gleichbleibend bestimmt, sich jedoch den Eigenheiten des Individuellen und Gegenwärtigen anpassen kann. Die Sprache vermittelt einen stetigen Rechtsgedanken, wenn sie

33

von den Rechtsbeteiligten langfristig in einem gleichbleibenden Sinn, aber auch in gleichbleibender Offenheit verstanden und verwirklicht wird. Der Gebrauch der Rechtssprache ist deshalb kontinuierlich zu pflegen, in seinen in die Zukunft vorgreifenden Funktionen bewußt zu machen. Recht ist niemals besser als seine Sprache. Ein Jurist zeigt in seiner Sprache die Standards seiner Leistungsfähigkeit. Wer ein Gesetz in der Problemsicht und in den Lösungen seines Entstehens festschreiben wollte, nähme dem Recht den Atem und der das Recht vollziehenden Gewalt die Befugnis zum Nach-Denken der Vorschrift. Recht ist Kultur, also Entwicklung.