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German Pages 751 Year 2000
DORIS KÖNIG
Die Übertragung von Hoheitsrechten im Rahmen des europäischen Integrationsprozesses Anwendungsbereich und Schranken des Art. 23 des Grundgesetzes
Veröffentlichungen des Walther-Schiicking-Instituts für Internationales Recht an der Universität Kiel Herausgegeben von Jost D e l b r ü c k und R a i n e r
Hofmann
Walther-Schücking-Institut für Internationales Recht
130
Völkerrechtlicher Beirat des Instituts:
Daniel Bardonnet rUniversité de Paris Π Rudolf Bernhardt Heidelberg Lucius Caflisch Institut Universitaire de Hautes Études Internationales, Genève Antonius Eitel New York; Bonn
Fred L. Morrison University of Minnesota, Minneapolis Albrecht Randelzhofer Freie Universität Berlin Krzysztof Skubiszewski Polish Academy of Sciences, Warsaw; The Hague
Luigi Ferrari Bravo Università di Roma
Christian Tomuschat Humboldt-Universität zu Berlin
Louis Henkin Columbia University, New York
Sir Arthur Watts London
Tommy T. B. Koh Singapore John Norton Moore University of Virginia, Charlottesville
Rüdiger Wolfrum Max-Planck-Institut für ausländisches öffentliches Recht und Völkerrecht, Heidelberg
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Die Übertragung von Hoheitsrechten im Rahmen des europäischen Integrationsprozesses Anwendungsbereich und Schranken des Art. 23 des Grundgesetzes
Von Doris König
Duncker & Humblot · Berlin
Die Deutsche Bibliothek - CIP-Einheitsaufnahme König, Doris: Die Übertragung von Hoheitsrechten im Rahmen des europäischen Integrationsprozesses - Anwendungsbereich und Schranken des Art. 23 des Grundgesetzes / von Doris König. Berlin : Duncker und Humblot, 2000 (Veröffentlichungen des Walther-Schücking-Instituts für Internationales Recht an der Universität Kiel ; Bd. 130) Zugl.: Kiel, Univ., Habil.-Schr., 1998 ISBN 3-428-10113-8
Alle Rechte vorbehalten © 2000 Duncker & Humblot GmbH, Berlin Fotoprint: Berliner Buchdruckerei Union GmbH, Berlin Printed in Germany ISSN 1435-0491 ISBN 3-428-10113-8 Gedruckt auf alterungsbeständigem (säurefreiem) Papier entsprechend ISO 9706 θ
Vorwort Zu Beginn der neunziger Jahre, als der Vertrag von Maastricht ausgehandelt und unterzeichnet wurde, gerieten die mit der europäischen Integration verbundenen Auswirkungen auf den deutschen Staat erstmals in den Blick einer breiteren Öffentlichkeit. In Deutschland wurden - wie auch in einigen anderen Mitgliedstaaten - kontroverse Diskussionen über die bereits infolge des Integrationsprozesses eingetretenen Veränderungen des Verfassungsgefüges und den weiteren Fortgang der Integration geführt. In der 1991 eingesetzten Gemeinsamen Verfassungskommission kam man insbesondere auf Betreiben der Bundesländer schnell überein, daß die Mitwirkung Deutschlands an der Gründung und Fortentwicklung der Europäischen Union (EU) einer neuen, wesentlich detaillierteren verfassungsrechtlichen Grundlage bedurfte, als sie in Artikel 24 Abs. 1 GG zur Verfügung stand. Neben der Frage nach der Ausgestaltung des neuen „Europaartikels" wurde die Diskussion zunehmend von der Sorge beherrscht, daß die Bundesrepublik Deutschland im Zuge des Integrationsprozesses nicht nur ihre bundesstaatlichen Strukturen, sondern auch ihre souveräne Staatlichkeit verlieren könnte. An dieser Frage sowie an der Frage nach den demokratischen Strukturen in der EU - viele sprachen von einem „Demokratiedefizit" - entzündete sich eine heftige Diskussion um die verfassungsrechtlichen Grenzen der europäischen Integration. Diesen grundsätzlichen Fragen, die nach wie vor eine wichtige Rolle in der aktuellen rechtswissenschaftlichen und politischen Diskussion spielen, ist die vorliegende Untersuchung gewidmet. Sie hat es sich zur Aufgabe gemacht, einen verfassungsrechtlichen Lösungsansatz zu entwickeln, der es der Bundesrepublik Deutschland erlaubt, auch in Zukunft aktiv an der Entwicklung der EU mitzuwirken, ohne alsbald an verfassungsrechtliche Grenzen zu stoßen. Die Arbeit wurde im Wintersemester 1998/99 von der Rechts wissenschaftlichen Fakultät der Christian-Albrechts-Universität zu Kiel als Habilitationsschrift angenommen. Sie wurde im Sommer 1998 abgeschlossen; später erschienenes Schrifttum wurde für die Drucklegung, so weit wie möglich, noch bis Ende September 1999 eingearbeitet. Dank für die Anregung des Themas, lehrreiche Diskussionen und wertvolle Hinweise während der Fertigstellung der Arbeit möchte ich zuallererst meinem
Vorwort
6
akademischen Lehrer Prof. Dr. Rüdiger Wolfrum aussprechen. Für seine Förderung bin ich ihm eng verbunden. Nicht minder herzlich möchte ich mich bei dem Zweitgutachter, Herrn Prof. Dr. Jost Delbrück, bedanken, der den Fortgang der Arbeit am Walther-Schücking-Institut für Internationales Recht an der Universität Kiel durch seine Gesprächsbereitschaft und kritische Anmerkungen stets unterstützt und gefördert hat. Beide haben schon früh meine Freude am wissenschaftlichen Arbeiten im Bereich des Staats-, Völker- und Europarechts geweckt, was mich letztlich im Herbst 1992 dazu bewogen hat, meine Richterstelle am Landgericht Hamburg zu verlassen, um mich der Herausforderung einer Habilitation zu stellen. Großer Dank gebührt auch meinem Freundeskreis, den Kolleginnen und Kollegen sowie allen Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern am Walther-Schücking-Institut für Internationales Recht. Ohne ihren Zuspruch, ihre Bereitschaft zu kritischer Diskussion und ihre Unterstützung in jeder Hinsicht hätte diese Arbeit nicht gedeihen können. Nicht nur die wissenschaftlich anspruchsvolle Atmosphäre, sondern auch das von Solidarität und Hilfsbereitschaft geprägte „Wir-Gefühl" im Institut haben über viele Jahre dazu beigetragen, daß ich dieses als meine akademische Heimat betrachte. Mein Dank gilt insbesondere Ursula Heinz und Carmen Thies, deren Freundschaft und Unterstützung mir viel bedeuten. Frau Rotraut Wolf danke ich herzlich für ihre hervorragende Arbeit bei der Erstellung der Druckvorlage. Für die Mühen des Korrekturlesens bin ich Ursula Heinz, Jonna Ziemer und Janine Schlichte zu großem Dank verpflichtet. Die Fertigstellung dieser Arbeit wäre mir ohne den Zuspruch, die Unterstützung und die arg strapazierte Geduld meines Mannes, Joachim König, nicht möglich gewesen. Hierfür möchte ich ihm von Herzen danken. Schließlich gilt mein Dank auch meinen lieben Eltern und meinem Bruder und seiner Familie, die mir stets zur Seite gestanden haben. Kiel, im Juni 2000
Doris König
Inhaltsverzeichnis Einführung in den Untersuchungsgegenstand
25
Kapitel 1 Verfassungsrechtliche Grundlagen für die Übertragung von Hoheitsrechten auf die Europäischen Gemeinschaften bis zur Verfassungsänderung von 1992 A. Teilnahme der Bundesrepublik Deutschland am europäischen Integrationsprozeß auf der Grundlage des Artikels 24 Abs. 1 GG I. Entstehungsgeschichte und Ziele des Artikels 24 Abs. 1 GG
34 34
1. Der Begriff der „Integration"
34
2. Entstehungsgeschichte des Artikels 24 Abs. 1 GG und seine Einordnung in das Verfassungsgefüge
39
a)
Die Beratungen im Parlamentarischen Rat
39
b)
Die Einordnung des Artikels 24 Abs. 1 GG in das Verfassungsgefüge
42
c)
Kontroverse Auffassungen über die Bedeutung des Artikels 24 Abs. 1 und 2 GG aus Anlaß des sog. „Wehrstreites" von 1952
II. Artikel 24 Abs. 1 GG als Staatszielbestimmung für den europäischen Integrationsprozeß B. Die Funktionen des Artikels 24 Abs. 1 GG im einzelnen I. Der Durchgriffseffekt als entscheidendes Kriterium für die Anwendbarkeit des Artikels 24 Abs. 1 GG
44 47 50 51
1. Die Besonderheit des Durchgriffseffektes im Vergleich zu intergouvernementalen Formen internationaler Zusammenarbeit
51
2. Verzicht des Bundesverfassungsgerichts auf den Durchgriffseffekt im Urteil zum NATO-Doppelbeschluß
53
II. Ermächtigung zur „Übertragung von Hoheitsrechten" 1. Keine „Übertragung" im wörtlichen Sinne 2. Völker- und verfassungsrechtliche Elemente des Übertragungsvorgangs
59 59 61
8
nsverzeichnis a) Schaffung der zwischenstaatlichen Einrichtung durch völkerrechtlichen Vertrag
62
aa) Der völkerrechtliche Vertrag als Grundlage der Entstehung einer neuen autonomen Hoheitsgewalt bb) Der Verfassungscharakter des europäischen Primärrechts b) Das innerstaatliche Zustimmungsgesetz 3. Öffnung des deutschen Rechtsraumes und Erteilung eines besonderen Rechtsanwendungsbefehls
62 64 73 76
a) Rücknahme des Ausschließlichkeitsanspruchs und Verzicht auf die Ausübung eigener Hoheitsgewalt
77
b) Ermächtigung zur Erteilung eines besonderen Rechtsanwendungsbefehls
80
4. Ermächtigung zur Bestimmung des Rangverhältnisses zwischen europäischem und deutschem Recht
82
a) Die genuin europarechtliche Lösung des Europäischen Gerichtshofs
83
b) Die verfassungsrechtliche Lösung des Bundesverfassungsgerichts .
85
III. Ermächtigung zur Verfassungsänderung oder Verfassungsdurchbrechung?
90
IV. Zusammenfassung
94
C. Die Tatbestandsvoraussetzungen des Artikels 24 Abs. 1 GG I. Der Bund als Übertragungsberechtigter II. Der Übertragungsgegenstand - Hoheitsrechte III. Übertragung durch ein Bundesgesetz
95 95 96 99
1. Doppelfunktion des Übertragungsgesetzes
99
2. Anforderungen an das Übertragungsgesetz
100
3. Einspruchs-oder Zustimmungsgesetz? IV. Zwischenstaatliche Einrichtungen
103 104
1. Internationale Organisationen
104
2. Der Sonderfall der Europäischen Gemeinschaften
109
D. Die Mitwirkung und Beteiligung der Länder am europäischen Integrationsprozeß
110
I. Die Kompetenzverteilung zwischen Bund und Ländern in auswärtigen Angelegenheiten 110 II. Mitwirkungsrechte der Länder an der Willensbildung des Bundes in auswärtigen Angelegenheiten 111
nsverzeichnis III. Die Mitwirkung der Länder an europäischen Angelegenheiten vor der Verfassungsänderung von 1992 115 1. Die Unterrichtung des Bundesrates gemäß Artikel 2 des Vertragsgesetzes zu den Römischen Verträgen von 1957 und die Einsetzung eines Länder117 beobachters 2. Das Länderbeteiligungsverfahren von 1979
118
3. Die Beteiligung des Bundesrates an der Willensbildung der Bundesregierung gemäß Artikel 2 des Zustimmungsgesetzes zur Einheitlichen Europäischen Akte von 1986 120 4. Die Teilnahme von Ländervertretern an den Verhandlungen auf Gemein128 schaftsebene E. Die Mitwirkung des Bundestages am europäischen Integrationsprozeß
132
I. Die Kompetenzverteilung zwischen Bundesregierung und Bundestag in auswärtigen Angelegenheiten 133 II. Mitwirkungsrechte des Bundestages in europäischen Angelegenheiten bis zur Verfassungsänderung von 1992 F. Zusammenfassung
134 136
Kapitel 2 Schaffung einer neuen verfassungsrechtlichen Grundlage für die Gründung der Europäischen Union - Artikel 23 GG A. Der Anlaß für die Einfügung eines „Europaartikels" B. Vorgeschichte und Entstehung des neuen Artikels 23 GG
138 139
I. Der Änderungsvorschlag der Enquête-Kommission Verfassungsreform des Deutschen Bundestages
139
1. Zusammensetzung und Aufgabe der Enquête-Kommission
139
2. Änderungsvorschläge zu Artikel 24 Abs. 1 und Artikel 32 Abs. 1 und 3 GG
140
a) Empfehlung zu Artikel 24 Abs. 1 GG
140
b) Empfehlung zu Artikel 32 Abs. 1 und 3 GG
143
II. Die Empfehlungen der Kommission Verfassungsreform des Bundesrates..
146
1. Zusammensetzung und Auftrag der Kommission Verfassungsreform .. 147 2. Die Empfehlungen der Kommission im Bereich „Internationale Beziehungen" 148
nsverzeichnis
10
a) Änderung des Artikels 24 GG
148
b) Änderung des Artikels 32 GG
153
III. Die Änderungsvorschläge der Gemeinsamen Verfassungskommission
156
1. Zusammensetzung und Auftrag der Gemeinsamen Verfassungskommission 157 2. Empfehlungen der Gemeinsamen Verfassungskommission zum Themenkomplex „Grundgesetz und Europa" 159 a) Schaffung eines neuen Europaartikels für die Mitwirkung der Bundesrepublik Deutschland am europäischen Integrationsprozeß Artikel 23 GG 160 aa) Entscheidung für eine neue Ermächtigungsgrundlage
160
bb) Mitwirkungs- und Beteiligungsrechte der Länder
164
( 1 ) Verfassungsrechtliche Verankerung der Länderbeteiligung (2) Grundsatz der Länderbeteiligung in Artikel 23 Abs. 4 GG (3) Differenzierung der Beteiligungsformen in Artikel 23 Abs. 5 GG
165 168 169
(4) Wahrnehmung mitgliedstaatlicher Rechte in Artikel 23 Abs. 6 GG
172
cc) Mitwirkungs-und Beteiligungsrechte des Bundestages
174
dd) Ausführungsgesetz zu Artikel 23 Abs. 4 bis 6 GG 177 b) Die Übertragung von Hoheitsrechten durch die Länder - Einfügung 178 eines Artikels 24 Abs. la GG c) Vorschlag einer Änderung des Artikels 32 GG d) Weitere Änderungsvorschläge IV. Veränderungen der Kommissionsvorschläge im Gesetzgebungsverfahren . 1. Der Entwurf des Gesetzes zur Änderung des Grundgesetzes
180 181 182 182
2. Die Entwürfe zu den Ausführungsgesetzen
186
3. Verabschiedung der Grundgesetzänderung und der Ausfuhrungsgesetze
188
Kapitel 3 Funktionen und Problematik des neuen Artikels 23 Abs. 1 GG A. Staatszielbestimmung und Verfassungsauftrag I. Der Begriff der Europäischen Union" 1. Entwicklungsschritte bis zur Gründung der Europäischen Union
190 191 191
nsverzeichnis 2. Die Gründung der Europäischen Union in dem Vertrag von Maastricht a) Vorbereitende Arbeiten für den nächsten Integrationsschritt
202 202
b) Die Vertragsverhandlungen
205
c) Probleme bei der Ratifizierung des Vertrages
205
3. Der Rechtscharakter der Europäischen Union nach dem Vertrag von Maastricht
212
a) Die im Maastrichter Vertrag enthaltenen Neuerungen
213
aa) Der Vertrag über die Europäische Gemeinschaft
213
(1) Die Wandlung von der Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft zur Europäischen Gemeinschaft
213
(2) Das Subsidiaritätsprinzip
214
(3) Die Stärkung demokratischer Strukturen
215
(4) Der Ausschuß der Regionen
220
(5) Mehrheitsentscheidungen im Rat
222
(6) Die Wirtschafts- und Währungsunion
223
(7) Neue oder erweiterte Kompetenzbereiche
226
bb) Die gemeinsamen Politiken und Formen der Zusammenarbeit.
230
(1) Die Gemeinsame Außen-und Sicherheitspolitik (GASP) .
231
(2) Die Zusammenarbeit in den Bereichen Justiz und Inneres (ZBJI)
235
b) Die im Amsterdamer Vertrag vom 2. Oktober 1997 enthaltenen Änderungen 240 c) Die rechtliche Qualifizierung der Europäischen Union
247
aa) Besitzt die Europäische Union eine eigene Rechtspersönlichkeit?
249
bb) Ist die Europäische Union eine internationale Organisation? ..
257
cc) Ist die Europäische Union ein „Staatenverbund" im Sinne eines Verbundes souveräner Staaten? dd) Ist die Europäische Union ein eigenständiges föderales System?
259 271
ee) Zusammenfassung 276 d) Die Gründung der Europäischen Union als „qualitativer Sprung" im Integrationsprozeß? 277 II. Die Struktursicherungsklausel 1. Demokratische, rechtsstaatliche, soziale und föderative Grundsätze „strukturelle Kongruenz" oder „Homogenität der Wertvorstellungen"?
279 280
12
nsverzeichnis 2. Der Grundsatz der Subsidiarität
283
3. Ein dem Grundgesetz im wesentlichen vergleichbarer Grundrechtsschutz
289
4. Doppelfunktion als Zielvorgabe und Grenze der Integrationsgewalt . . .
290
III. Zusammenfassende Betrachtung: Der Inhalt der Staatszielbestimmung und des Verfassungsauftrages
292
B. Ermächtigung zur „Übertragung von Hoheitsrechten" I. II.
294
Allgemeine Ermächtigungsgrundlage in Artikel 23 Abs. 1 Satz 2 GG
294
Das Verhältnis zwischen Artikel 23 Abs. 1 Satz 2 und Satz 3 GG
295
1. Einheitlicher Anwendungsbereich des Artikels 23 Abs. 1 Satz 2 und Satz 3 GG 2. Abgrenzung von Hoheitsrechtsübertragungen nach Satz 2 und Satz 3 .. III. Anwendbarkeit des Artikels 23 Abs. 1 Satz 2 GG bei Hoheitsrechtsübertragungen in anderen Abkommen zwischen den Mitgliedstaaten 1. Das Schengener Durchführungsübereinkommen vom 19. Juni 1990 . . . a) Hoheitsrechtsübertragungen auf den Exekutivausschuß?
296 303 314 314 314
b) Ein Fall des Artikels 24 Abs. 1 GG oder des Artikels 23 Abs. 1 Satz 2 GG?
321
2. Das Europol-Übereinkommen vom 26. Juli 1995 IV. Zusammenfassung
324 328
Kapitel 4 Informations- und Mitwirkungsrechte von Bundesrat und Bundestag A. Mitwirkungsrechte der Länder I. Die Systematik der Mitwirkungsregelungen in Artikel 23 Abs. 2 und 4 bis 6 GG II. Die Mitwirkungs-und Beteiligungsrechte der Länder im einzelnen 1. Die Mitwirkung der Länder an der Willensbildung des Bundes in europäischen Angelegenheiten gemäß Artikel 23 Abs. 2,4 und 5 GG
330 330 332 333
a) Mitwirkung in „Angelegenheiten der Europäischen Union"
333
b) Die Unterrichtungspflicht der Bundesregierung gemäß Artikel 23 Abs. 2 Satz 2 GG
337
c) Die Mitwirkung des Bundesrates gemäß Artikel 23 Abs. 4 GG d) Die Berücksichtigung der Stellungnahmen des Bundesrates gemäß Artikel 23 Abs. 5 GG
338 341
nsverzeichnis aa) Das einfache Mitwirkungsverfahren gemäß Artikel 23 Abs. 5 Satz 1 GG
342
bb) Das qualifizierte Mitwirkungsverfahren gemäß Artikel 23 Abs. 5 Satz 2 GG
346
cc) Die Sonderregelung gemäß § 5 Abs. 3 EUZBLG für Vorhaben gemäß Artikel 235 E(W)GV
348
dd) Ausnahmen vom Letztentscheidungsrecht des Bundesrates . . .
350
2. Die Mitwirkung der Länder durch den Bundesrat 3. Die Beteiligung der Länder an den Verhandlungen auf europäischer Ebene
355 360
a) Die Wahrnehmung mitgliedstaatlicher Rechte durch Ländervertreter gemäß Artikel 23 Abs. 6 GG
361
b) Die Beteiligung von Ländervertretern außerhalb des Anwendungsbereichs von Artikel 23 Abs. 6 GG
369
c) Das Problem der parlamentarischen Verantwortlichkeit des Ländervertreters 370 III. Auswirkungen der Mitwirkungsrechte der Länder auf das Kompetenzgefüge des Grundgesetzes im Bereich der „auswärtigen Gewalt" 374 1. Mitwirkungsrechte der Länder - ein systemwidriger Einbruch in die „auswärtige Gewalt" des Bundes?
375
2. Die „Angelegenheiten der Europäischen Union" als eigenständige Kategorie staatlichen Handelns? 380 3. Die gestärkte Stellung des Bundesrates
B. Mitwirkungsrechte des Bundestages I. Die Mitwirkungsrechte des Bundestages gemäß Artikel 23 Abs. 2 und 3 GG
381
388 388
1. Die Unterrichtungspflicht der Bundesregierung
388
2. Das Recht des Bundestages zur Stellungnahme
390
3. Das Verhältnis zwischen Artikel 23 Abs. 3 GG und Artikel 59 Abs. 2 Satz 1 GG 4. Der Europaausschuß des Bundestages II. Auswirkungen auf das Verhältnis zwischen Bundesregierung, Bundestag und Bundesrat C. Zusammenfassende Würdigung
401 407 408 412
14
nsverzeichnis Kapitel 5 Verfassungsrechtliche Grenzen der europäischen Integration Die Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts und die im Schrifttum vertretenen Auffassungen im Überblick
A. Grenzen der Übertragung von Hoheitsrechten gemäß Artikel 24 Abs. 1 GG . . .
417
I. Die Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts zu den Grenzen der Hoheitsrechtsübertragungen gemäß Artikel 24 Abs. 1GG
417
1. Der „Solange Γ-Beschluß
417
2. Der „Vielleicht"-Beschluß
423
3. Die Entscheidungen „Eurocontrol I" und „Eurocontrol II"
424
4. Die Entscheidung zum NATO-Doppelbeschluß
427
5. Der „Solange ΙΓ-Beschluß
428
6. Nachfolgende Entscheidungen
434
7. Zusammenfassung
438
II. Die im Schrifttum zur Bestimmung der Übertragungsgrenzen vertretenen Auffassungen im Überblick
439
1. Keinerlei Schranken für den Integrationsgesetzgeber
439
2. Die gesamte deutsche Verfassungsordnung als Schranke des Artikels 24 Abs. 1 GG 441 3. Der in Artikel 79 Abs. 3 GG geschützte Kernbereich als absolute Schranke 447 4. Die in Artikel 79 Abs. 3 GG geschützten Grundsätze als relative Schranke 453 5. Zusammenfassung B. Grenzen der Übertragung von Hoheitsrechten gemäß Artikel 23 Abs. 1 GG . . . I. Das Maastricht-Urteil des Bundesverfassungsgerichts
460 462 463
1. Erforderlichkeit einer Volksabstimmung zur Legitimierung des Maastrichter Vertrages?
464
2. Verstoß gegen Grundrechte?
465
3. Verstoß gegen das Demokratieprinzip?
476
a) Ein Recht auf Teilhabe an der Ausübung der Staatsgewalt gemäß Artikel 38 GG?
476
b) Verstoß gegen das Demokratieprinzip durch die Mitgliedschaft der Bundesrepublik Deutschland in der Europäischen Union?
480
nsverzeichnis aa) Anforderungen des Demokratieprinzips an die Mitgliedschaft in der Europäischen Union 481 (1) Zulässigkeit von Mehrheitsbeschlüssen und der Rechtsetzung durch Exekutivorgane
481
(2) Sicherstellung einer hinreichenden demokratischen Legitimation auf der europäischen Ebene
483
(3) Hinreichende Bestimmtheit des Zustimmungsgesetzes und Überprüfung von Kompetenzüberschreitungen der europäi487 schen Organe bb) Verstoß gegen das Demokratieprinzip durch eine Entstaatlichung" der Bundesrepublik Deutschland?
490
cc) Auslegung des Maastrichter Vertrages im Sinne parlamentarischer Verantwortbarkeit
493
( 1 ) Hinreichende Voraussehbarkeit der Entwicklung zur Währungsunion 493 (2) Hinreichende Bestimmtheit des übrigen Vertragsinhalts.. 4. Zusammenfassung und Kritik II. Die im Schrifttum vertretenen Auffassungen im Überblick
498 500 508
1. Der Erhalt der souveränen Staatlichkeit der Bundesrepublik Deutschland als absolute Schranke 509 2. Der Erhalt der Staatlichkeit der Bundesrepublik Deutschland als relative Schranke 513 3. Zusammenfassung und Kritik
519
Kapitel 6 Bestimmung der verfassungsrechtlichen Integrationsgrenzen mit Hilfe des Kompensationsprinzips A. Anwendbarkeit des Kompensationsprinzips im Bereich des Artikels 79 Abs. 3 GG
523
I. Ewigkeitsklausel" und Verfassungswandel infolge des europäischen Integrationsprozesses
524
1. Der Verfassungskern als vom Zeitenwandel unabhängige Größe
526
2. Der Verfassungskern als dem Zeitenwandel unterliegende Größe
528
3. Entscheidung für eine flexible Auslegung des Artikels 79 Abs. 3 GG unter Berücksichtigung eines gewandelten Staatsbegriffs
530
II. Heranziehung des Kompensationsprinzips zum Ausgleich von Kompetenzund Rechtsverlusten 536
16
nsverzeichnis 1. Kompensation als ein bei der Bewertung von Kompetenzverlagerungen und Rechtsverlusten anzuwendendes Prinzip 536 a) Klärung des Begriffs „Kompensation"
536
b) Beispiele für die Anwendung des Kompensationsprinzips zum Ausgleich von Kompetenzverlusten im Rahmen der grundgesetzlichen Kompetenzordnung 540 aa) Kompensation für die Einbuße kommunaler Selbstverwaltungsaufgaben 541 bb) Kompensation für die Abwanderung von Länderkompetenzen an den Bund
547
cc) Kompensation für integrationsbedingte Kompetenzverluste des Bundestages, des Bundesrates und der Länder
552
c) Beispiele für die Anwendbarkeit des Kompensationsprinzips zum Ausgleich von Rechtsverlusten
553
2. Die Anwendbarkeit des Kompensationsprinzips im Vorfeld des Artikels 79 Abs. 3 GG
555
a) Das Kompensationsprinzip als Handlungsoption und Auslegungsgrundsatz
555
b) Problematik der Kompensation von Kompetenz- und Rechtsverlusten
560
B. Anwendung des Kompensationsprinzips bei der Bestimmung der Integrationsgrenzen
563
I. Einbeziehung der europäischen Ebene bei der Gewichtung kompensatorischer Maßnahmen
563
1. Der „Verfassungsverbund" zwischen der Europäischen Union und ihren Mitgliedstaaten 563 2. Wechselbeziehung zwischen der Struktursicherungsklausel in Artikel 23 Abs. 1 Satz 1 GG und der Integrationsgrenze gemäß Artikel 23 Abs. 1 Satz 3 i. V. m. Artikel 79 Abs. 3 GG 568 II. Bestimmung der Integrationsgrenzen gemäß Artikel 23 Abs. 1 Satz 1 und 3 in Verbindung mit Artikel 79 Abs. 3 GG mit Hilfe des Kompensationsprinzips 572 1. Bestimmung der Integrationsgrenze beim Grundrechtsschutz - Erfordernis eines dem Grundgesetz im wesentlichen vergleichbaren Grundrechtsschutzes 572 a) Änderung des Prüfungsmaßstabes? b) Subsidiäre Prüfungskompetenz des Bundesverfassungsgerichts im Einzelfall?
573 575
nsverzeichnis aa) Die Verankerung des Grundrechtsschutzes im europäischen Primärrecht
575
bb) Der Grundrechtsschutz gegenüber der Anwendung europäischen Sekundärrechts ( 1 ) Der Streit um die Tabaketikettierungsrichtlinie (2) Der Streit um die EG-Bananenmarktordnung c) Prüfungskompetenz des Bundesverfassungsgerichts nur bei einem generellen Absinken des Schutzniveaus 2. Bestimmung der Integrationsgrenze beim Demokratieprinzip - Verpflichtung der Union auf demokratische Grundsätze
578 579 582 586 591
a) Kompensation für Kompetenzverluste des Bundestages auf der nationalen Ebene 592 b) Kompensation für den Substanzverlust demokratischer Teilhaberechte der Bürger durch eine verstärkte Demokratisierung auf der europäischen Ebene
594
aa) Vermittlung demokratischer Legitimation zuvörderst durch die nationalen Parlamente der Mitgliedstaaten?
594
(1) Ausbau der Mitwirkungs- und Beteiligungsrechte auf der nationalen Ebene
594
(2) Einbindung der nationalen Parlamente auf der europäischen Ebene
597
bb) Demokratie ohne Staatsvolk?
600
cc) Keine Demokratisierung wegen des Fehlens der notwendigen außerrechtlichen Voraussetzungen?
609
dd) Keine demokratische Legitimation wegen Verstoßes gegen den Grundsatz der Wahlrechtsgleichheit? 611 c) Der Ausbau demokratischer Strukturen auf der europäischen Ebene
615
d) Konsequenzen für die Bestimmung der Integrationsgrenze im Hinblick auf das Demokratieprinzip
621
3. Bestimmung der Integrationsgrenze im Hinblick auf das Bundesstaatsprinzip
626
a) Die Verpflichtung auf „föderative Grundsätze und den Grundsatz der Subsidiarität" - Kompetenzabgrenzung zwischen der Union und den Mitgliedstaaten 628 b) Kompensation des Verlustes von Länderkompetenzen auf der nationalen Ebene 641 c) Kompensation des Verlustes von Länderkompetenzen auf der europäischen Ebene 645 2 König
nsverzeichnis
18 III. Zusammenfassung
649
C. Unterschiedliche Bestimmung der Grenzen von Hoheitsrechtsübertragungen gemäß Artikel 23 Abs. 1 GG und Artikel 24 Abs. 1 GG I. Das Verhältnis zwischen Artikel 23 GG und Artikel 24 Abs. 1 GG II. Auswirkungen der Spezialität des Artikels 23 GG auf die Bestimmung der Integrationsgrenzen im Verhältnis zu Artikel 24 Abs. 1 GG
654 655 655
Zusammenfassende Würdigung und Ausblick
660
Literaturverzeichnis
689
Sachwortverzeichnis
742
Abkürzungsverzeichnis
AKP Alt. Anm. AöR Art. Aufl. AuslG AVR
anderer Ansicht Amtsblatt der Europäischen Gemeinschaften Absatz Archiv der Gegenwart Ausschuß der Regionen alte Fassung Zeitschrift für Medien- und Kommunikationsrecht (Archiv für Presserecht) Austrian Journal of Public and International Law Kommentar zum Grundgesetz der Bundesrepublik Deutschland (aus der Reihe der Alternativkommentare) Afrikanisch/Karibisch/Pazifisch Alternative Anmerkung Archiv des öffentlichen Rechts Artikel Auflage Ausländergesetz Archiv des Völkerrechts
BAnz BayVBl. BBPS Bd./Bde. Bearb. Beih. BerDGVR BFH BGBl. BK BLV BMI BNatSchG BR-Drs.
Bundesanzeiger Bayerische Verwaltungsblätter Beutler/Bieber/Pipkorn/Streil (Lehrbuch zum Europarecht) Band/Bände Bearbeiter/in Beiheft Berichte der Deutschen Gesellschaft für Völkerrecht Bundesfinanzhof Bundesgesetzblatt Kommentar zum Bonner Grundgesetz (Bonner Kommentar) Bund-Länder-Vereinbarung Bundesministerium des Innern Bundesnaturschutzgesetz Drucksachen des Bundesrates
a. Α. ABl. EG Abs. AdG AdR a. F. AfP AJPIL AK-GG
2*
20
Abkürzungsverzeichnis
BReg BROG BT-Drs. BVerfG BVerfGE BVerfGG BVerwG
Bundesregierung Raumordnungsgesetz des Bundes Drucksachen des Deutschen Bundestages Bundesverfassungsgericht Entscheidungen des Bundesverfassungsgerichts Gesetz über das Bundesverfassungsgericht Bundesverwaltungsgericht
CKS
Constantinesco/Kovar/Simon (Kommentar zum EG/EUVertrag) Common Market Law Review Comité des Représentants Permanents Conférence des organes spécialisés dans les affaires communautaires
CMLR COREPER COSAC ders./dies. Diss. DJZ DÖV Dok. DRiZ DVB1.
derselbe/dieselbe(n) Dissertation Deutsche Juristenzeitung Die öffentliche Verwaltung Dokument Deutsche Richterzeitung Deutsches Verwaltungsblatt
EA EAG/Euratom EAGV
Europa-Archiv Europäische Atomgemeinschafit Vertrag zur Gründung der Europäischen Atomgemeinschaft vom 25. März 1957 European Community Einheitliche Europäische Akte vom 28. Februar 1986 Zustimmungsgesetz zur Einheitlichen Europäischen Akte vom 19. Dezember 1986 European Free Trade Association Europäische Gemeinschaft(en) Europäische Gemeinschaft für Kohle und Stahl Vertrag zur Gründung der Europäischen Gemeinschaft für Kohle und Stahl vom 18. April 1951 Vertrag zur Gründung der Europäischen Gemeinschaft vom 7. Februar 1992 European Journal of International Law European Law Review Europäische Konvention zum Schutze der Menschenrechte und Grundfreiheiten vom 4. November 1950 Europäisches Parlament
EC EEA EEAG EFTA EG(en) EGKS EGKSV EGV EJIL ELR EMRK EP
Abkürzungsverzeichnis EPIL EPZ ESZB EU EuGH EuGRZ EuR Europol EUV EUZBBG
EZB
Encyclopedia of Public International Law Europäische Politische Zusammenarbeit Europäisches System der Zentralbanken Europäische Union Gerichtshof der Europäischen Gemeinschaften Europäische Grundrechte-Zeitschrift Europarecht Europäisches Polizeiamt Vertrag über die Europäische Union vom 7. Februar 1992 Gesetz über die Zusammenarbeit von Bundesregierung und Deutschem Bundestag in Angelegenheiten der Europäischen Union vom 12. März 1993 Gesetz über die Zusammenarbeit von Bund und Ländern in Angelegenheiten der Europäischen Union vom 12. März 1993 Europäische Zeitschrift für Wirtschaftsrecht Europäische Wirtschaftsgemeinschaft Vertrag zur Gründung der Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft vom 25. März 1957 Europäisches Währungsinstitut Europäisches Währungssystem Europäisches Wirtschafts- und Steuerrecht Europäische Zentralbank
FAZ FG Fn. FS
Frankfurter Allgemeine Zeitung Finanzgericht Fußnote Festschrift
EUZBLG
EuZW EWG EWGV EWI EWS
GASP
Gemeinsame Außen- und Sicherheitspolitik
GATT
General Agreement on Tariffs and Trade
GG
Grundgesetz für die Bundesrepublik Deutschland vom 23. Mai 1949
GMB1.
Gemeinsames Ministerialblatt
GOBR
Geschäftsordnung des Bundesrates
GOBT
Geschäftsordnung des Deutschen Bundestages
GS
Gedächtnisschrift
G/T/E
von der Groeben/Thiesing/Ehlermann (Kommentar zum EU/ EG-Vertrag)
GVK
Gemeinsame Verfassungskommission
GYIL
German Yearbook of International Law (bis 1975 : Jahrbuch für Internationales Recht)
22
Abkürzungsverzeichnis
Hbd.
Halbband
HdBVerfR
Handbuch des Verfassungsrechts der Bundesrepublik Deutschland
Hlbs.
Halbsatz
h. M.
herrschende(r) Meinung
Hrsg.
Herausgeber
HStR
Handbuch des Staatsrechts der Bundesrepublik Deutschland
ICLQ
International and Comparative Law Quarterly
i. d. F.
in der Fassung
IGC
Intergovernmental Conference
ILR
International Law Reports
insb.
insbesondere
IPR
Internationales Privatrecht
i. S. d. (v.)
im Sinne des (von)
i. V. m.
in Verbindung mit
JA
Juristische Arbeitsblätter
JIR
Jahrbuch für Internationales Recht (ab 1976: German Yearbook of International Law)
JöR N. F.
Jahrbuch des öffentlichen Rechts (Neue Folge)
Jura
Juristische Ausbildung
JuS
Juristische Schulung
JZ
Juristenzeitung
Kap.
Kapitel
KEU
Kommentar zur Europäischen Union (begründet von Grabitz/Hilf)
KJ
Kritische Justiz
LeidenJIL
Leiden Journal of International Law
lit.
litera
LS
Leitsatz
m. w. N.
mit weiteren Nachweisen
NATO
North Atlantic Treaty Organization
n. F.
neue Fassung
NJ
Neue Justiz
NJW
Neue Juristische Wochenschrift
NVwZ
Neue Zeitschrift für Verwaltungsrecht
Abkürzungsverzeichnis ÖZöRN. F.
Österreichische Zeitschrift für öffentliches Recht (Neue Folge)
PlPr Prot.
Protokoll der Plenarsitzungen des Deutschen Bundestages Protokoll
RabelsZ
Zeitschrift für ausländisches und internationales Privatrecht (Rabeis Zeitschrift) Recht der Arbeit Recht der Internationalen Wirtschaft (bis 1982 mit dem Zusatz: Außenwirtschaftsdienst des Betriebs-Beraters) Rechtssache Reichs- und Staatsangehörigkeitsgesetz Randziffer(n)
RdA RIW/AWD Rs. RuStAG Rz. S. Sait. Teil II Schl.-H. SDÜ Slg. Sp. StenBer StGB st. Rspr. Stzg.
Satz Sartorius, Bd. II, Internationale Verträge - Europarecht Schleswig-Holstein Schengener Durchführungsübereinkommen vom 19. Juni 1990 Sammlung Spalte Stenographischer Bericht Strafgesetzbuch ständige Rechtsprechung Sitzung
Tbd. ThürVBl. TOP
Teilband Thüringische Verwaltungsblätter Tagesordnungspunkt
u. a. Uabs. Urt.
und andere Unterabsatz Urteil
Verfin VerwArch VG VGH VO vol. Vorbem. VVDStRL
Verfasserin Verwaltungsarchiv Verwaltungsgericht Verwaltungsgerichtshof Verordnung volume Vorbemerkung Veröffentlichungen der Vereinigung der Deutschen Staatsrechtslehrer
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Abkürzungsverzeichnis
VwGO
Verwaltungsgerichtsordnung
WEU
Westeuropäische Union
WTO WVK
World Trade Organization Wiener Übereinkommen über das Recht der Verträge vom 23. Mai 1969
WWU
Wirtschafts- und Währungsunion
YEL
Yearbook of European Law
ZaöRV
Zeitschrift für ausländisches öffentliches Recht und Völkerrecht
ZAR ZBJI
Zeitschrift für Ausländerrecht Zusammenarbeit in den Bereichen Justiz und Inneres
ZEUS
Zeitschrift für europarechtliche Studien
ZfG ZfRV ZgStW Ziff. ZParl ZRP ZVglRWiss
Zeitschrift für Zeitschrift für Zeitschrift für Ziffer Zeitschrift für Zeitschrift für Zeitschrift für
Gesetzgebung Rechtsvergleichung die gesamte Staatswissenschaft Parlamentsfragen Rechtspolitik Vergleichende Rechtswissenschaft
Einführung in den Untersuchungsgegenstand Seit der Entstehung des Grundgesetzes in den Jahren 1948/49 ist der moderne Verfassungsstaat tiefgreifenden Wandlungen unterworfen worden. In einer Zeit, die durch eine rasante technologische Entwicklung hin zu einer alle Staatsgrenzen überschreitenden Informations- und Kommunikationsgesellschaft geprägt ist, ist es dem einzelnen Staat nicht mehr möglich, die zahlreichen Staatsaufgaben zum Wohle seiner Bürger in weitgehender Eigenständigkeit zu erfüllen. 1 Dies gilt vor allem für die Wirtschaftspolitik, die sich einer Vielzahl transnational tätiger Unternehmen gegenüber sieht, deren Aktivitäten ein Staat allein nicht mehr befriedigend regeln kann. Die Aufstellung ordnungspolitischer Rahmenbedingungen und die Öffnung neuer Märkte erfordern die Zusammenarbeit der Staaten auf regionaler und globaler Ebene. Daß eine solche Kooperation einen immer größeren Stellenwert einnimmt, zeigt sich etwa an den verstärkten Bemühungen einer Liberalisierung des Welthandels, die zu dem Abschluß des neuen GATT 1994 und der Gründung der Welthandelsorganisation WTO geführt haben, und an der zunehmenden Errichtung regionaler Wirtschaftsorganisationen wie NAFTA, CARICOM oder MERCOSUR.2 1
Die ersten internationalen Organisationen entwickelten sich zum einen mit dem unmittelbaren Ziel der Friedenssicherung. Zum anderen wurde der Prozeß der Internationalisierung durch wirtschaftliche und technologische Sachzwänge ausgelöst, die zu der Gründung der sog. Verwaltungsunionen wie etwa des Internationalen Telegraphenvereins (1865) oder des Weltpostvereins (1874) führten. Vgl. Delbrück, Jost, „Das Völkerrecht soll auf einem Föderalism freier Staaten gegründet sein" - Kant und die Entwicklung internationaler Organisationen, in: Dicke, Klaus/Kodalle, Michael (Hrsg.), Republik und Weltbürgerrecht - Kantische Anregungen zur Theorie politischer Ordnung nach dem Ende des OstWest-Konflikts, Weimar u. a. 1998,181-213 (185 ff.). 2 Das Abkommen zur Gründung der North American Free Trade Area (NAFTA), das am 1.1.1994 in Kraft trat, errichtet eine Freihandelszone zwischen den USA, Kanada und Mexiko. Die Caribbean Community (CARICOM), der gegenwärtig 13 Mitgliedstaaten angehören, und der Common Caribbean Market (CCM) wurden bereits 1973 gegründet. Ziele sind die wirtschaftliche Integration der Mitgliedstaaten durch Errichtung eines Gemeinsamen Marktes, die Koordinierung der Außenpolitik und die funktionelle Kooperation in 15 nicht wirtschaftlichen Bereichen. 1994 wurde von 25 Insel- und Anrainerstaaten der Karibik und 12 abhängigen Territorien die Association of Caribbean States (ACS) gegründet, die der Intensivierung der Handelsbeziehungen und der verstärkten Kooperation
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Einführung in den Untersuchungsgegenstand
In Westeuropa hat diese Entwicklung - begünstigt durch die historischen Umstände nach dem Ende des Zweiten Weltkrieges3 - zu einer besonders intensiven Form zwischenstaatlicher Kooperation geführt. Hier entstanden neben dem auf intergouvernementaler Basis errichteten Europarat und der Organisation für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung (OECD) drei supranationale Organisationen, deren wichtigste die 1957 gegründete Europäische Wirtschaftsgemeinschaft (EWG) war. Für den Begriff der supranationalen Organisation gibt es keine allgemein anerkannte, feststehende Definition. Legt man das Erscheinungsbild der drei europäischen Gemeinschaften zugrunde, so zeichnet sich die Supranationalität insbesondere durch drei Elemente aus: eine von den Mitgliedstaaten bis zu einem gewissen Grade unabhängige, eigenständige Organisationsund Entscheidungsstruktur (1), die unmittelbare Anwendbarkeit von Rechtsvorschriften der Organisation innerhalb der Rechtsordnungen der Mitgliedstaaten, deren Bürger und Behörden direkt berechtigt und verpflichtet werden können (2) und die Errichtung einer eigenen Rechtsordnung, deren Einhaltung von einem eigens dafür geschaffenen Gericht überwacht wird (3).4 In Anlehnung an diese drei Kriterien soll im folgenden unter dem Begriff der supranationalen Organisation eine Einrichtung verstanden werden, der die Mitgliedstaaten aufgrund eines völkerrechtlichen Gründungsvertrages Hoheitsgewalt auf bestimmten Gebieten eingeräumt haben, kraft derer sie Rechtsvorschriften erlassen und Maßnahmen ergreifen kann, die nicht nur die Mitgliedstaaten als solche, sondern auch direkt deren Bürger berechtigen oder verpflichten und deren Rechtmäßigkeit von einem eigenen Gericht überprüft wird. Die Entwicklung der vergangenen vier Jahrzehnte hat gezeigt, daß der E(W)G im Wege der Vertragsänderung und der Rechtsfortbildung immer mehr Kompetenzen zuerkannt worden sind. Den vorläufigen Höhepunkt dieser Entwicklung bildete die Gründung der Europäischen Union im Vertrag von Maastricht, die das Ziel verfolgt, über den wirtschaftlichen Bereich hinaus eine immer engere politische Zusammenarbeit der Mitgliedstaaten herbeider Mitgliedstaaten in Politik, Kultur, Wissenschaft und Technologie dienen soll. Der Mercado Comùn del Sur (MERCOSUR), dem Argentinien, Brasilien, Paraguay und Uruguay angehören, trat zum 1.12.1991 in Kraft. Ziel ist die Schaffung eines Gemeinsamen Marktes nach europäischem Vorbild. Vgl. hierzu im Überblick Andersen, Uwe/Woyke, Wichard (Hrsg.), Handwörterbuch Internationale Organisationen, 2. Aufl., Opladen 1995, 296 ff., 241 ff. und 125 ff. 3 Hoffmann, Stanley, Obstinate or Obsolete? The Fate of the Nation-State and the Case of Western Europe, in: Kaplan, Morton A. (Hrsg.), Great Issues of International Politics The International System and National Policy, Chicago 1970, 85-122 (92 ff.). 4 Capotorti, Francesco, Supranational Organizations, in: EPIL Bd. 5 (1983), 262-268 (266 f.); vgl. dazu ausführlich Chapuis, Cédric, Die Übertragung von Hoheitsrechten auf supranationale Organisationen, Basel u. a. 1993, 26 ff.
Einführung in den Untersuchungsgegenstand
zuführen. Innerhalb der Europäischen Union ist die wirtschaftliche und politische Verflechtung der beteiligten Staaten noch wesentlich enger als auf der internationalen Ebene. Diese spezifische Form der regionalen Kooperation läßt deutlich werden, daß die Staaten eine Vielzahl von Aufgaben, die sie allein nicht mehr hinreichend erfüllen könnten, gemeinsam auf einer über den Staaten liegenden also supranationalen - Ebene wahrnehmen. Die Erfüllung öffentlicher Aufgaben auf verschiedenen Ebenen ist ein Phänomen, das in der Bundesrepublik Deutschland - wie auch in anderen Bundesstaaten - wohl bekannt ist und im großen und ganzen zu zufriedenstellenden Ergebnissen führt. Bund und Länder werden aufgrund jeweils eigener, in der Verfassung niedergelegter Kompetenzen tätig, wobei es gerade bei der Durchführung der Gesetze zu einer engen Verflechtung zwischen den beiden Ebenen kommt. Diese Verflechtung setzt sich auf der dritten, der europäischen Ebene fort, da auch die europäischen Rechtsvorschriften überwiegend von den Behörden der Länder und des Bundes vollzogen werden. Bezieht man zudem den unterstaatlichen Bereich in die Betrachtung ein, so zeigt sich, daß öffentliche Aufgaben noch auf einer oder zwei weiteren Ebenen, nämlich in den Gemeinden und Kreisen oder kreisfreien Städten, erfüllt werden. Hinzu kommt, daß zahlreiche öffentliche Aufgaben von nicht-staatlichen, aber in öffentlich-rechtlicher Form organisierten Vereinigungen, wie etwa Ärzte-, Apotheker- und Anwaltskammern oder Industrie- und Handelskammern, oder in verstärktem Maße auch von privaten Unternehmen wahrgenommen werden. Gerade die vermehrte Privatisierung öffentlicher Aufgaben deutet darauf hin, daß der Staat auf veränderte wirtschaftliche und technologische Verhältnisse damit reagiert, daß er die Erfüllung dieser Aufgaben auf eine Ebene verlagert, auf der sie effizienter und kostengünstiger erfüllt werden können.5 Dieser skizzenhafte Überblick soll genügen, um deutlich zu machen, daß der Staat öffentliche Aufgaben in zunehmendem Maße sowohl „oben" auf der internationalen und europäischen Ebene als auch „unten" durch die Einschaltung regionaler, lokaler oder nicht-staatlicher Akteure erfüllt. Gemessen am Bild des traditionellen Nationalstaates, der die öffentlichen Aufgaben selbständig in einem weitgehend geschlossenen Gesellschafts- und Rechtssystem wahrnahmund nur in 5
Vgl. dazu ζ. B. Schock, Friedrich, Privatisierung von Verwaltungsaufgaben, DVB1. 1994,962-977; Hengstschläger, Johannes/Osterloh, Lerke/Bauer, Hartmut, Privatisie von Verwaltungsaufgaben, VVDStRL 54 (1995), 165-286; Hoffmann-Riem, Wolfgang, Verfahrensprivatisierung als Modernisierung, DVB1.1996,225-232 m. w. N., deru. a. der Frage nachgeht, ob die Rücknahme staatlicher Erfüllungsverantwortung durch andere, funktional äquivalente Mechanismen ausgeglichen werden kann (230).
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Einführung in den Untersuchungsgegenstand
begrenzten Bereichen mit anderen Staaten zusammenarbeitete, ist ein allmählicher Wandel der Staatlichkeit zu beobachten.6 Um deutlich zu machen, daß der Staat heute in nahezu allen Bereichen je nach Art und Umfang der Aufgabe auf der internationalen, der supranationalen, der nationalen, der regionalen oder der lokalen Ebene tätig wird, soll im folgenden von einem funktionalen Staatsbegriff ausgegangen werden, den man mit dem Begriff „Mehrebenenstaat" umschreiben könnte.7 Die vorliegende Abhandlung hat es sich nicht zur Aufgabe gemacht, diesen Begriff unter dem Blickwinkel der allgemeinen Staatslehre daraufhin zu untersuchen, inwieweit sich der Staatsbegriff verändert hat und welche Kriterien den gewandelten Staatsbegriff kennzeichnen.8 Der Begriff „Mehrebenenstaat" soll lediglich deskriptiv für den auf mehreren Ebenen handelnden Staat verwandt und der verfassungsrechtlichen Untersuchung zugrunde gelegt werden. Vor diesem Hintergrund wird die vorliegende Arbeit der Frage nachgehen, welche Auswirkungen diese Entwicklung auf die verfassungsrechtlichen Voraussetzungen und Grenzen des europäischen Integrationsprozesses hat. Es geht 6
So auch Nicolaysen, Gert, Der Nationalstaat klassischer Prägung hat sich überlebt, in: Due, Ole/Lutter, Marcus/Schwarze, Jürgen (Hrsg.), Festschrift für Ulrich Everling, Bd. II, Baden-Baden 1995, 945-957 (950); Thürer, Daniel, Der Verfassungsstaat als Glied der europäischen Gemeinschaft, VVDStRL 50 (1991), 97-139 (123 f.). 7 Vgl. dazu Saladin, Peter, Wozu noch Staaten?, Bern u. a. 1995, 121 ff.; nach seiner Auffassung kommt dem Staat heute eine Mittlerfunktion zwischen den verschiedenen Ebenen zu: „Der Staat als Mittler ist eine „Gemeinschaft im Sandwich", eingeordnet zwischen einer oberen und einer unteren Ebene, mit der Funktion der sinnvollen aufgabenorientierten Verbindung aller drei Ebenen" (242). Auch Schreuer, Christoph, The Waning of the Sovereign State: Towards a New Paradigm for International Law?, EJIL 4 (1993), 447-471, geht von einem funktionalen Staatsbegriff aus, demzufolge der Staat seine Funktionen auf mehreren Ebenen ausübt (453). Vgl. auch Voigt, Rüdiger, Abschied vom Nationalstaat - Rückkehr zum Nationalstaat - Zur künftigen Gestalt der europäischen Staatenordnung, in: ders. (Hrsg.), Abschied vom Staat - Rückkehr zum Staat?, Baden-Baden 1993, 159-204, und aus politikwissenschaftlicher Sicht Scharpf, Fritz W., Autonomieschonend und gemeinschaftsverträglich. Zur Logik einer europäischen Mehrebenen-Politik, in: Weidenfels, Werner (Hrsg.), Reform der Europäischen Union, Gütersloh 1995, 75-96. Im politischen Raum ist dieser Gedanke von Bundespräsident Roman Herzog in seiner Ansprache zum Neujahrsempfang für das Diplomatische Korps aufgegriffen worden, wo er ausführt: „Ich frage mich, ob nicht längst aus dem einsamen und gelegentlich unberechenbaren Akteur, den der Nationalstaat des 19. Jahrhunderts darstellte, eine Art von Mittlerinstanz geworden ist. Deren Aufgabe an der Nahtstelle zwischen den lokalen und regionalen Gebietskörperschaften einerseits und den europäischen Institutionen andererseits ist es, politisch zwischen den einander überwölbenden Sphären der Verantwortung zum Nutzen der Bürger zu vermitteln und zu koordinieren.", vgl. Bulletin der Bundesregierung Nr. 3 v. 12.1.1996, 20. 8 Vgl. dazu ausführlich Hobe, Stephan, Der offene Verfassungsstaat zwischen Souveränität und Interdependenz, Berlin 1998, insb. 380 ff.
Einführung in den Untersuchungsgegenstand
insbesondere um die Frage, ob das Grundgesetz hinreichend flexibel ausgestaltet ist, um die Erfüllung zahlreicher öffentlicher Aufgaben auf der supranationalen Ebene zu ermöglichen. Den Ausgangspunkt der Untersuchung bildet die bis zur Verfassungsänderung vom 21. Dezember 19929 einschlägige Bestimmung des Art. 24 Abs. 1 GG, auf deren Grundlage sich die deutsche Teilnahme an der europäischen Integration über einen Zeitraum von 40 Jahren vollzogen hat. Dabei werden die Entstehungsgeschichte, der Sinn und Zweck der Norm und ihre verschiedenen Funktionen dargestellt. Im nächsten Schritt sollen zum besseren Verständnis des neuen Art. 23 GG, des sog. „Europaartikels", die diversen - gescheiterten - Bemühungen um eine Änderung des Art. 24 Abs. 1 GG, die Gründe für seine Einfügung in das Grundgesetz und seine Entstehungsgeschichte nachgezeichnet werden. Es folgt eine Analyse der verschiedenen Regelungsbereiche, die in Art. 23 GG zusammengefaßt worden sind. Zunächst soll der Inhalt des Verfassungsauftrags, „bei der Entwicklung der Europäischen Union" mitzuwirken, konkretisiert werden, wobei vor allem zu klären ist, ob der Begriff der „Europäischen Union" in Art. 23 Abs. 1 S. 1 GG lediglich deskriptiv zu verstehen ist oder ob ihm ein normativer Gehalt zukommt. Außerdem bedarf es einer Klärung, welche Funktion die sog. Struktursicherungsklausel in Art. 23 Abs. 1 S. 1 GG erfüllen soll, der zufolge die Europäische Union „demokratischen, rechtsstaatlichen, sozialen und föderativen Grundsätzen und dem Grundsatz der Subsidiarität verpflichtet" sein und „einen diesem Grundgesetz im wesentlichen vergleichbaren Grundrechtsschutz" gewährleisten muß. Des weiteren muß eine Antwort auf die Frage gefunden werden, in welchem Verhältnis die in Art. 23 Abs. 1 S. 2 und S. 3 GG enthaltenen Ermächtigungsgrundlagen zueinander stehen. Dabei geht es insbesondere darum, ob für jede weitere Übertragung von Hoheitsrechten auf die EG/EU die verfassungsändernden Mehrheiten gemäß Art. 79 Abs. 2 GG, auf den in Satz 3 verwiesen wird, erforderlich sind. Ferner wird untersucht, ob die Ermächtigung in Art. 23 Abs. 1 S. 2 GG auch für solche Verträge gilt, die einige oder alle Mitgliedstaaten außerhalb des Unionsvertrages schließen, wenn diese, wie etwa das Schengener Durchführungsübereinkommen oder das Europol-Abkommen, der Verwirklichung eines Unionszieles dienen. In einem weiteren Abschnitt werden die in Art. 23 Abs. 2 bis 6 GG festgeschriebenen Mitwirkungs- und Beteiligungsrechte des Bundestages und der Länder, die durch den Bundesrat handeln, im einzelnen dargelegt. Im Verlaufe des Integrationsprozesses ist deutlich geworden, daß die Verlagerung von Kompetenzen auf die europäische Ebene zu Verschiebungen innerhalb des Verfassungsgefüges geführt hat. Dies hat vor allem im Verhältnis zwischen dem Bund und 9
BGBl. 1992 I, 2086.
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den Ländern zu einer Verringerung der Gestaltungs- und Mitwirkungsrechte der Länder beigetragen. Außerdem haben sich die Gewichte zwischen Bundesregierung und Bundestag zu Lasten der Legislative verschoben. Durch die Abgabe von Regelungskompetenzen auf die europäische Ebene hat der Bundestag Gestaltungs- und Entscheidungsrechte verloren, wohingegen die Bundesregierung im Ministerrat der Europäischen Gemeinschaften legislative Funktionen wahrgenommen hat, auf die das Parlament nur in geringem Maße Einfluß nehmen konnte. Ziel des neuen „Europaartikels" ist es unter anderem, die integrationsbedingten Kompetenzverluste der Länder, des Bundesrates und des Bundestages abzugleichen. Deshalb ist zu untersuchen, ob und inwieweit es mit dieser Regelung gelungen ist, ein annähernd ausgeglichenes Verhältnis zwischen Bund und Ländern und zwischen Bundestag, Bundesrat und Bundesregierung wieder herzustellen. Dabei wird insbesondere auf die Problematik einer „Föderalisierung" der Europapolitik und die unterschiedliche Beteiligung von Bundesrat und Bundestag einzugehen sein. Besonderes Gewicht kommt schließlich der Frage zu, unter welchen Bedingungen die Verfassung die Übertragung von Hoheitsrechten auf die EG/EU erlaubt und welche Grenzen sie ihr setzt. Zunächst werden die Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts und die im Schrifttum vertretenen Auffassungen zu den Integrationsgrenzen auf der Grundlage des Art. 24 Abs. 1 GG analysiert. Einen Schwerpunkt bilden dabei die „Solange I"- und die „Solange Π"- Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts zum Grundrechtsschutz,10 die wichtige Aussagen zu dem Verhältnis zwischen deutschem Verfassungsrecht und europäischem Gemeinschaftsrecht treffen. Es folgt eine kritische Auseinandersetzung mit dem Urteil vom 12. Oktober 1993 zum Maastrichter Vertrag, 11 in dem sich das Gericht auf der Grundlage des Art. 23 Abs. 1 GG erstmals mit den Grenzen der Integration unter dem Blickwinkel des Demokratieprinzips befaßte. In dieser Grundsatzentscheidung hat das Gericht, wie gezeigt werden soll, dem weiteren Verlauf des europäischen Integrationsprozesses enge Grenzen gezogen. Ziel der Analyse ist es, darzulegen, daß seine Rechtsauffassung auf einem Staats- und Demokratieverständnis beruht, das - wie manche Kritiker meinen - von einer ,,gewisse[n] rückwärtsgewandtefn] Betrachtungsweise"12 geprägt ist. Konsequent zu Ende geführt, 10
BVerfGE 37, 271 und E 73, 339. BVerfGE 89,155. 12 So Tomuschat, Christian, Die Europäische Union unter der Aufsicht des Bundesverfassungsgerichts, EuGRZ 1993, 489-496 (496); ähnlich Everting , Ulrich, Das Maastricht-Urteil des Bundesverfassungsgerichts und seine Bedeutung für die Entwicklung der Europäischen Union, Integration 1994, 165-175, der der Konzeption des Bundesverfassungsgerichts vorwirft, „fixiert [zu sein] auf das deutsche Verfassungsrecht und das über11
Einführung in den Untersuchungsgegenstand
könnte nach seiner Konzeption in absehbarer Zeit der Punkt erreicht werden, an dem der Bundestag infolge der Übertragung weiterer Hoheitsrechte nicht mehr über genügend „Aufgaben und Befugnisse von substantiellem Gewicht"13 verfügen würde. In diesem Falle müßte die Bundesrepublik Deutschland aus verfassungsrechtlichen Gründen ihre Teilnahme an dem europäischen Integrationsprozeß beenden. Ein solches Ergebnis widerspräche dem in Art. 23 Abs. 1 S. 1 GG enthaltenen Verfassungsauftrag, an der Entwicklung der Europäischen Union mitzuwirken. Deshalb hat es sich die vorliegende Arbeit zur Aufgabe gemacht, der Auffassung des Bundesverfassungsgerichts einen neuen Lösungsansatz gegenüberzustellen. Denn es erscheint zweifelhaft, ob die Auslegung der einschlägigen Bestimmungen durch das Bundesverfassungsgericht dem oben skizzierten Phänomen einer zunehmenden Interdependenz der Staaten bei der Erfüllung öffentlicher Aufgaben gerecht wird. Verneint man dies, so erhebt sich die Frage, ob die verfassungsrechtlichen Grenzen der Integration in einer flexibleren Weise definiert werden können, die der Bundesrepublik Deutschland - bei Erfüllung bestimmter Voraussetzungen auf der europäischen Ebene - die Teilnahme an einem weiter voranschreitenden Integrationsprozeß auch in der ferneren Zukunft erlaubt. Es wird die These aufgestellt, daß Art. 79 Abs. 3 GG, auf den Art. 23 Abs. 1 S. 3 GG verweist, keine absolute Grenze für die Übertragung von Hoheitsrechten zieht. Wie im einzelnen darzulegen ist, ermöglicht er vielmehr eine flexible Schrankenbestimmung, die den Ausbau der in Art. 23 Abs. 1 S. 1 GG genannten Strukturprinzipien auf der europäischen Ebene berücksichtigt. Die Verbindung zwischen der Funktion des Art. 79 Abs. 3 GG, die grundlegenden Strukturprinzipien auf der staatlichen Ebene zu sichern, und derjenigen der Struktursicherungsklausel, diese auf der europäischen Ebene zu verankern, soll mit Hilfe des Kompensationsprinzips hergestellt werden. Ziel der vorliegenden Arbeit ist es, den von Helmut Steinberger auf der Staatsrechtslehrertagung in Zürich 1990 mit Blick auf das sog. „Demokratiedefizit" auf der europäischen Ebene aufgeworfenen Kompensationsgedanken14 für die Bestimmung der verfassungsrechtlichen Grenzen der Integration fruchtbar zu machen. Geht man von dem Modell des auf mehreren Ebenen handelnden Staates aus, so könnte das Kompensationsprinzip nicht nur - wie in Art. 23 Abs. 2 bis 6 GG holte Leitbild eines nach wie vor souveränen, autonomen und selbstgenügsamen Nationalstaates" (166). 13 BVerfGE 89,155 (186). 14 Steinberger, Helmut, Der Verfassungsstaat als Glied einer europäischen Gemeinschaft, VVDStRL 50 (1991), 9-55 (40 ff.).
Einführung in den Untersuchungsgegenstand
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im Bund/Länder-Verhältnis, sondern auch im Verhältnis zwischen der staatlichen und der supranationalen Ebene zur Anwendung kommen. Daher soll der Frage nachgegangen werden, ob Kompetenz- und Rechtsverluste auf der staatlichen Ebene, die zu einer „schleichenden Aushöhlung" der in Art. 79 Abs. 3 GG garantierten Strukturen führen könnten, durch den Ausbau grundlegender Strukturprinzipien auf der europäischen Ebene kompensiert werden können. Das Kompensationsprinzip müßte dazu von der nationalen Verfassung, die als weitgehend geschlossenes Rechtssystem verstanden wird, gelöst und für eine Interpretation nutzbar gemacht werden, die die supranationale Ebene mit einbezieht. Das setzt zum einen voraus, daß die Europäische Union als ein eigenständiges föderales System charakterisiert werden kann, in dem - ähnlich wie in einem Bundesstaat eine Kompensation von Kompetenz- und Rechtsverlusten zwischen den Ebenen möglich ist. Auf diese Weise könnte man eine Wechselbeziehung zwischen den auf der staatlichen Ebene eingetretenen Kompetenzverlusten und Einbußen an demokratischer Mitbestimmung und dem Zuwachs an Mitwirkungs- und Gestaltungsrechten auf der europäischen Ebene herstellen. Zum anderen bedingt dieser Lösungsansatz eine Abkehr von der dem Maastricht-Urteil des Bundesverfassungsgerichts zugrundeliegenden These, daß Art. 79 Abs. 3 GG in Verbindung mit Art. 20 Abs. 1 bis 3 GG den deutschen Staat als souveränen Nationalstaat voraussetzt und dessen Erhalt sichert. In diesem Zusammenhang stellt sich die Frage, ob Art. 79 Abs. 3 GG - mit Blick auf den Verfassungsauftrag, an der Entwicklung der Europäischen Union mitzuwirken - statt als Bestands- bzw. „Staatssicherungsklausel" nicht besser als Struktursicherungsklausel ausgelegt werden müßte. Ein solches Verständnis der „Ewigkeitsgarantie" würde eine flexiblere Bestimmung der verfassungsrechtlichen Grenzen künftiger Hoheitsrechtsübertragungen ermöglichen, weil es nicht mehr darum ginge, den „point of no return" festzulegen. Die Prüfung verlagerte sich vielmehr auf die Frage, ob die in Art. 79 Abs. 3 GG geschützten Werte und Strukturprinzipien, die in die Struktursicherungsklausel des Art. 23 Abs. 1 S. 1 GG hineingenommen worden sind, sowohl auf der europäischen als auch auf der nationalen Ebene angemessen verwirklicht werden. Abschließend wird mit Blick auf die Neuregelungen im Amsterdamer Vertrag vom 2. Oktober 199715 unter Heranziehung des Kompensationsprinzips geprüft, ob auf der europäischen Ebene ein „diesem Grundgesetz im wesentlichen vergleichbare[r] Grundrechtsschutz" gewährleistet ist und die vorgesehene Übertragung weiterer Hoheitsrechte auf die EG/EU mit einem Ausbau ihrer demokratischen und föderativen Strukturen einhergeht. Dabei kommt es darauf an, deutlich 15
BGBL 1998 II, 386.
Einführung in den Untersuchungsgegenstand
zu machen, daß der hier vertretene flexible Lösungsansatz dem in Art. 23 Abs. 1 S. 1 GG enthaltenen Verfassungsauftrag besser gerecht wird als das vom Bundesverfassungsgericht im Maastricht-Urteil verfolgte Konzept.
3 König
Kapitel 1
Verfassungsrechtliche Grundlagen für die Übertragung von Hoheitsrechten auf die Europäischen Gemeinschaften bis zur Verfassungsänderung von 1992 A. Teilnahme der Bundesrepublik Deutschland am europäischen Integrationsprozeß auf der Grundlage des Artikels 24 Abs. 1 GG I . Entstehungsgeschichte und Ziele des Artikels 24 Abs. 1 GG
1. Der Begriff der „Integration" Ausgangspunkt für eine Untersuchung der verfassungsrechtlichen Grundlagen und Grenzen des europäischen Integrationsprozesses ist Art. 24 Abs. 1 GG. Mit dieser Vorschrift ist erstmals in einer deutschen Verfassung eine Regelung getroffen worden, die die deutschen Staatsorgane zur Übertragung von Hoheitsrechten auf eine zwischenstaatliche Einrichtung ermächtigte und der Bundesrepublik Deutschland somit die Teilnahme an der europäischen Integration erlaubte. Der Begriff „Integration" entspringt dem lateinischen Wort integratio, mit dem der Vorgang des Vollwerdens, des Ganzwerdens, der Erneuerung bezeichnet wird. Zunächst in der Mathematik und in den naturwissenschaftlichen Disziplinen verwandt, ist der Begriff der Integration von Herbert Spencer in die Soziologie eingeführt und schließlich von Rudolf Smend für die Staatslehre nutzbar gemacht worden.1 1
Vgl. zum Begriff der internationalen Integration ausführlich Berber, Friedrich, Lehrbuch des Völkerrechts, Bd. 3,2. Aufl., München 1977,188-195. Zum Begriff der europäischen Integration vgl. Kraus, Herbert, Probleme des europäischen Zusammenschlusses, Beihefte zum Jahrbuch der Albertus-Universität Königsberg, Bd. 16, Würzburg 1956,10 f.; Ipsen, Hans Peter, Europäisches Gemeinschaftsrecht (zitiert: Ipsen, Europäisches Gemeinschaftsrecht), Tübingen 1972, 66 f.; Bleckmann, Albert, Europarecht, 6. Aufl., Köln u. a. 1997, § 1, Rz. 33 f.; Zuleeg, Manfred, in: von der Groeben, Hans/Thiesing, Jochen/Ehlermann, Claus-Dieter (Hrsg.), Kommentar zum EU-/EG-Vertrag, 5. Aufl., Baden-Baden 1997 (zitiert: G/T/E), Art. 1 EGV, Rz. 7 f., 43, jeweils m. w. N.
I. Entstehungsgeschichte und Ziele des Artikels 24 Abs. 1 GG
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Smends in den zwanziger Jahren entwickelte „Integrationslehre" ist als Gegenposition zum Rechtspositivismus der damals vorherrschenden Staatsrechtslehre zu verstehen. Er begriff die Verfassung nicht nur als ein Organisationsstatut, das den Staat organisiere und zu seinen Tätigkeiten ermächtige und verpflichte, sondern zugleich als eine Lebensform seiner Angehörigen, die er an seinem Leben beteilige.2 Der grundlegende Teil der Lebensvorgänge des Staates bestehe in stetiger Selbsterneuerung, dem fortwährenden Neuerfassen und Zusammenfassen seiner Angehörigen. Bei der Auslegung der Verfassung müsse dieser dem Staate aufgegebene Sinnzusammenhang zugrundegelegt werden. Das Verfassungsrecht als Integrationssystem habe die Erfüllung einer sich immerfort wandelnden Aufgabe sicherzustellen, die stets einigermaßen optimal gelöst werden müsse.3 Im Hinblick auf internationale Zusammenschlüsse von Staaten charakterisierte er den Begriff „Integration" sehr treffend „nicht als Addition, Anschluß aneinander, sondern Bildung eines neuen Ganzen durch ein neues Zusammenspiel der bisher vereinzelten Glieder..., bei dem diese Glieder zugleich, in der gegenseitigen Beeinflussung, in Opfer und Gewinn, ihre tatsächliche Art und ihren rechtlichen Status ändern müssen".4 Konrad Hesse griff die Smendsche Integrationslehre auf und betonte, daß es Aufgabe der Verfassung sei, die politische Einheit des Staates sicherzustellen. Er wies darauf hin, daß es sich bei der Herstellung der politischen Einheit um einen ständigen Prozeß handele, der niemals abgeschlossen und deshalb stets aufgegeben sei.5 Hervorzuheben ist das prozeßhafte, den geschichtlichen Wandel einbeziehende Staats- und Verfassungsverständnis Hesses. Er versteht unter „politischer Einheitsbildung" einen konkreten geschichtlichen Prozeß, dessen Ziel nicht eine substantielle Einheit völkischer, religiöser, weltanschaulicher oder sonstiger Art ist, sondern die Herstellung einer Handlungseinheit, die verbindliche Entscheidungen zur Regelung von Konflikten ermöglicht. Dieses Verständnis unterscheidet sich deutlich von dem in der Staatslehre des ausgehenden 19. Jahrhunderts geprägten Bild der als abstrakte und statische Einheit gedachten juristischen Person „Staat".6 Es wirkt sich auf das Verständnis des europäischen Integrationsprozesses in der Weise aus, daß Staat und Verfassung einem tiefgreifenden Wandel unterworfen sind, der sie zwar nicht gegenstandslos macht, ihre Bedeutung 2 Smend, Rudolf, zum Begriff „Integration", in: Evangelisches Staatslexikon, Bd. 1, 3. Aufl., Stuttgart 1987, Sp. 1354 ff. (1357). 3 Oers., Verfassung und Verfassungsrecht (1928), in: Staatsrechtliche Abhandlungen und andere Aufsätze, Berlin 1955,119-276 (135, 233 ff., 241). 4 Oers., Fn. 2, Sp. 1355. 5 Hesse, Konrad, Grundzüge des Verfassungsrechts der Bundesrepublik Deutschland, 20. Aufl., Heidelberg 1995, 5 f. (Rz. 6 f.). 6 Ebenda.
3*
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Kap. 1, Α. Bundesrepublik Deutschland und europäischer Integrationsprozeß
aber relativiert. 7 Schon an dieser Stelle sei darauf hingewiesen, daß dieses dynamische, integrative Verfassungsverständnis für die nachfolgende Untersuchung der verfassungsrechtlichen Grundlagen und Grenzen des europäischen Integrationsprozesses von grundlegender Bedeutung ist.8 In Anlehnung an Eberhard Menzel der zwischen mittelbarer und unmittelbarer Integration unterschied, wurde unter „Integration" im Kontext mit der Ausübung auswärtiger Gewalt der Vorgang verstanden, durch den der einzelne Staat in eine engere Rechtsgemeinschaft regionalen oder universalen Charakters einbezogen werden sollte. Von „mittelbarer Integration" sprach Menzel in den Fällen, in denen die Staaten mittels herkömmlicher völkerrechtlicher Verträge dazu verpflichtet werden, ihre innerstaatliche Rechtsordnung etwa durch den Erlaß entsprechender Gesetze so auszugestalten, daß die gemeinsam vereinbarten Ziele erreicht werden. Eine gemeinsame Rechtsordnung sollte also auf dem Wege der Parallelgesetzgebung hergestellt werden. Dieser Vorgang sollte sich in den traditionellen Formen auswärtiger Beziehungen vollziehen. Unter „unmittelbarer Integration" verstand er demgegenüber einen Vorgang, mit dem das isolierte Dasein der Staaten angegriffen und versucht werden sollte, sie zur Aufgabe ihrer Souveränität zu bewegen. Solch ein unmittelbarer Integrationsprozeß setze bei den beteiligten Staaten die Bereitschaft voraus, „zum mindesten auf ein Stück des eigenen Wesens zu verzichten ..." 9 . Diese beiden Definitionen stehen in engem Zusammenhang mit den in der Politikwissenschaft vertretenen Integrationstheorien. Grob skizziert, stehen sich dort zwei Theorien zur Erklärung des Phänomens von Integrationsprozessen gegenüber, der Intergouvernementalismus und der Neofunktionalismus. 10 Bei ersterer 7 Ebenda, 50 f. (Rz. 112), wo es heißt: „Auch dann ist allerdings der tiefgehende Wandel unverkennbar: die Entwicklung des Staates vom überkommenen, souveränen, in sich geschlossenen Nationalstaat zum heutigen international verflochtenen und supranational eingebundenen Staat findet ihre Entsprechung in dem Verlust der Suprematie und der bisherigen Reichweite seiner Verfassung." 8 Siehe dazu unten Kap. 6, Α. I. 2. und 3. 9 Menzel Eberhard, Die auswärtige Gewalt der Bundesrepublik, in: VVDStRL 12 (1954), 179-220 (210 f.). 10 Vgl. zu den verschiedenen Integrationstheorien im einzelnen Behrens, Peter, Integrationstheorie - Internationale wirtschaftliche Integration als Gegenstand politologischer, ökonomischer und juristischer Forschung, RabelsZ 1981, 8-50 (14 ff.); Welz, Christian/ Engel, Christian, Traditionsbestände politikwissenschaftlicher Integrationstheorien: Die Europäische Gemeinschaft im Spannungsfeld von Integration und Kooperation, in: von Bogdandy, Armin (Hrsg.), Die Europäische Option - Eine interdisziplinäre Analyse über Herkunft, Stand und Perspektiven der europäischen Integration, Baden-Baden 1993, 129-169 (145 ff.); Gehring, Thomas, Integrating Integration Theory: Neo-functionalism and International Regimes, Global Society 10 (1996), 225-253, jeweils m. w. N.
I. Entstehungsgeschichte und Ziele des Artikels 24 Abs. 1 GG
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handelt es sich um eine staatszentrierte und eher statische Theorie, die unter dem Begriff der Integration im Grunde genommen jede Form der politischen Zusammenarbeit von Staaten versteht.11 Ihr Erkenntnisinteresse ist auf das Überleben des souveränen Nationalstaates mit Hilfe internationaler Zusammenarbeit gerichtet. Sie vernachlässigt die Besonderheiten des europäischen Integrationsprozesses im Vergleich zu den traditionellen Formen internationaler Kooperation. Außerdem bereitet es ihr Schwierigkeiten, die Rolle nicht-staatlicher Akteure bei der Integration zu erfassen. Der neofunktionalistische Theorieansatz ist demgegenüber prozeßorientiert. 12 Sein Erkenntnisinteresse ist auf die Frage gerichtet, warum und wie die zwischenstaatliche Kooperation in Europa zu einer neuen Gemeinschaftsbildung geführt hat. Herzstück dieser Theorie ist der sog. Spill-over-Mechanismus, der zur Erklärung der Dynamik des Integrationsprozesses herangezogen wird. Das Spill-over-Konzept ging anfangs davon aus, daß die Integration aufgrund der sachlogischen Verknüpfung einzelner Aufgabenbereiche von einem Sektor zum anderen voranschreite, die wirtschaftliche Integration mithin automatisch die politische Integration herbeiführe. Angesichts der Erfahrungen mit dem europäischen Integrationsprozeß wurde das Konzept der Gewißheit eines spillover durch das Konzept der Wahrscheinlichkeit ersetzt.13 Im Neofunktionalismus spielen die nicht-staatlichen Akteure, also die Gemeinschaftsorgane und die (trans)nationalen Eliten bei der Entscheidungsfindung eine wichtige Rolle. Mit dem Begriff „politische Integration" bezeichnet die neofunktionalistische Theorie die Schaffung eines neuen politischen Systems mit supranationaler Entschei11
Grundlegend zum Intergouvernementalismus Hoffmann, Stanley, Obstinate or Obsolete? The Fate of the Nation-State and the Case of Western Europe, in: Kaplan, Morton A. (Hrsg.), Great Issues of International Politics - The International System and National Policy, Chicago 1970, 85-122; ders., Reflections on the Nation-State in Western Europe Today, Journal of Common Market Studies 1983, 21-37. Weiterführend Moravcsik, Andrew, Preferences and Power in the European Community: A Liberal Intergovernmentalist Approach, Journal of Common Market Studies 1993,473-524. 12 Grundlegend zum Neofunktionalismus Haas, Ernst B., The Uniting of Europe, London 1958, insb. 283 ff.; er definiert den Begriff „politische Integration" wie folgt (16): "Political integration is the process whereby political actors in several distinct national settings are persuaded to shift their loyalties, expectations and political activities toward a new centre, whose institutions possess or demand jurisdiction over the pre-existing national states."; ders., Beyond the Nation-State, Stanford 1964, insb. 26 ff., 48 ff. Vgl. auch Lindberg, Leon Ν., The Political Dynamics of European Economic Integration, Stanford 1963, 4 ff., der in seiner vorsichtigeren Definition das Prozeßhafte der europäischen Integration hervorhebt, die Nennung des Endziels einer neuen politischen Gemeinschaft mit einer Verschiebung der Loyalitäten von der nationalen auf die supranationale Ebene aber vermeidet (6). 13 Welz/Engel (Fn. 10), 163.
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Kap. 1, Α. Bundesrepublik Deutschland und europäischer Integrationsprozeß
dungsstruktur, zu dessen Gunsten die beteiligten Staaten auf Teile ihrer Hoheitsrechte verzichten. Wichtiger Bestandteil dieser Theorie ist mithin ein Souveränitätsverzicht der Mitgliedstaaten, der über das von den Vertretern des Intergouvernementalismus beschriebene pooling of sovereignties 14 weit hinausgeht.15 Trotz mancher Kritik an den neo-funktionalistischen Integrationstheorien gehören diese zu den wichtigsten Erklärungsansätzen für den bisherigen Verlauf und den künftigen Fortgang des europäischen Integrationsprozesses.16 In der folgenden Untersuchung wird der Begriff „Integration" - in Übereinstimmung mit Smend und Menzel - als ein Prozeß verstanden, in dessen Verlauf souveräne Staaten auf der Grundlage eines völkerrechtlichen Übereinkommens eine „überstaatliche" bzw. supranationale Gemeinschaft bilden, die mit eigener, über die einzelstaatlichen Rechte hinausgehender Hoheitsgewalt ausgestattet wird. Hervorstechendes Merkmal der Integration ist die Entstehung einer eigenständigen, supranationalen Rechtsordnung, die mit den Rechtsordnungen der Mitgliedstaaten eng verflochten ist und diese teilweise überlagert.17 Die Integrationsgemeinschaft stellt sich mithin nicht lediglich als Summe der auf sie übertragenen Hoheitsrechte dar; vielmehr entsteht eine eigenständige Institution zur Wahrnehmung von Aufgaben, die der einzelne Staat wegen ihrer Komplexität oder wegen ihres grenzüberschreitenden Bezugs nicht mehr allein erfüllen kann. Zu solchen Aufgaben zählen beispielsweise die Schaffung von Rahmenbedingungen für wirtschaftliches Wachstum, Forschung und Entwicklung neuer Technologien, Energieversorung, Umweltschutz, Verbrechensbekämpfung sowie der Umgang mit Migrationswellen. Kennzeichnend für den Integrationsprozeß ist seine Dynamik, die in stetiger Veränderung und Erweiterung der Aufgabenbereiche der supranationalen Institutionen zum Ausdruck kommt. Sein Fortgang hängt allerdings weder nur vom politischen Willen der Mitgliedstaaten und ihrer Bürger noch allein von einem durch Sachzwänge bedingten Sp/ZZ-över-Mechanismus ab. Aus verfassungsrechtlicher Sicht kommt es vielmehr entscheidend darauf an, welche normativen Vorgaben im Grundgesetz die europäische Integration ermöglicht 14 Hoffmann, Reflections (Fn. 11), 35, führt dazu aus: "Although the traditional model of sovereignty is clearly obsolete, the nation-state today survives even though some of its powers have been pooled with others 15 Welz/Engel (¥n. 10), 165. 16 Welz/Engel (Fn. 10), 145 f.; Beutler, Bengt, in: Beutler, Bengt/Bieber, Roland/Pipkom, Jörn/Streil, Jochen, Die Europäische Union - Rechtsordnung und Politik (zitiert: BBPS), 4. Aufl., Baden-Baden 1993,70 f. 17 Ähnlich Bleckmann, Albert, Europarecht - Das Recht der Europäischen Union und der Europäischen Gemeinschaften (zitiert: Bleckmann, Europarecht), 6. Aufl., Köln u. a. 1997, § 1, Rz. 33.
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haben, auf welche Weise die Verfassung den Integrationsprozeß steuert und welche Grenzen sie ihm setzt. Bei der Auslegung der Verfassung, insbesondere bei der Bestimmung der Integrationsgrenzen, sind die politikwissenschaftlichen Integrationstheorien aber zumindest bei der Offenlegung unterschiedlicher Vorverständnisse von Belang. 18
2. Entstehungsgeschichte des Artikels 24 Abs. 1 GG und seine Einordnung in das Verfassungsgeßge a) Die Beratungen im Parlamentarischen Rat Wie ein Blick auf die Entstehungsgeschichte des Art. 24 GG zeigt, sollte dieser der neu entstehenden Bundesrepublik Deutschland das rechtliche Instrumentarium für die Beteiligung an internationalen Integrationsprozessen an die Hand geben. Schon der Verfassungskonvent von Herrenchiemsee hatte in dem Abschnitt „Völkerrechtliche Verhältnisse des Bundes" folgenden Art. 24 vorgesehen: „( 1 ) Der Bund kann durch Gesetz Hoheitsrechte auf zwischenstaatliche Einrichtungen übertragen. (2)
(3)
Insbesondere kann er im Interesse der Aufrechterhaltung des Friedens sein Gebiet in ein System kollektiver Sicherheit einordnen und hierbei, unter der Voraussetzung der Gegenseitigkeit, in diejenigen Beschränkungen seiner Hoheitsrechte einwilligen, durch die einefriedliche und dauerhafte Ordnung der europäischen Verhältnisse erreicht und sichergestellt werden kann. Ein solches Gesetz bedarf im Bundestag und Bundesrat (Senat) einer Mehrheit der gesetzlichen Mitgliederzahl."
Hierzu heißt es im „Darstellenden Teil" 1 9 : „... Dadurch soll die Schaffung internationaler Organe erleichtert werden, die etwa geschaffen werden sollten, um mit Wirkung für die Gebiete der beteiligten Staaten Angelegenheiten zu besorgen, die bisher ausschließlich den verschiedenen nationalen Souveränitäten überlassen waren. Das deutsche Volk ist gewillt, künftighin auf den Krieg als Mittel der Politik zu verzichten und hieraus Folgerungen zu ziehen. Um aber nicht wehrlos fremder Gewalt preisgegeben zu sein, bedarf es der Aufnahme des Bundesgebietes in ein System kollektiver Sicherheit, das ihm den Frieden gewährleistet. Nach 18
Siehe dazu unten Kap. 6, Α. I. HCh Entw, Darstellender Teil, 23, abgedruckt in: JöR N. F. 1 (1951), 222 f., vgl. zur Entstehungsgeschichte Menzel, Eberhard (Erstbearbeiter), in: Dolzer, RudolfTVogel, Klaus (Hrsg.), Kommentar zum Bonner Grundgesetz (Bonner Kommentar; zitiert: BK), Loseblatt, Heidelberg (Stand: August 1999), Art. 24, Erl. I; Grämlich, Ludwig, Europäische Zentralbank und Art. 24 Abs. 1 GG, Baden-Baden 1979, 25ff., 58 ff. 19
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Kap. 1, Α. Bundesrepublik Deutschland und europäischer Integrationsprozeß der einmütigen Auffassung des Konvents muß der Bund bereit sein, im Interesse des Friedens und einer dauerhaften Ordnung der europäischen Verhältnisse in die sich aus einem solchen System ergebenden Beschränkungen seiner Hoheitsverhältnisse einzuwilligen. ..."
Der Aufnahme dieses Artikels in den Grundgesetzentwurf lagen im wesentlichen zwei Erwägungen zugrunde: im Hinblick auf den ersten Absatz die Erkenntnis, daß im Zuge der sich bereits abzeichnenden Interdependenz der Staaten vormals allein von den Einzelstaaten wahrgenommene Aufgaben zukünftig in immer größerem Umfang durch internationale Organisationen erfüllt werden würden und für eine Beteiligung der Bundesrepublik an solchen Einrichtungen Sorge getragen werden müsse. Im Hinblick auf den zweiten Absatz stand der Gedanke der Friedenssicherung im Vordergrund. Die Eingliederung der Bundesrepublik Deutschland in ein System kollektiver Sicherheit und die damit verbundene Beschränkung von Hoheitsrechten sollten ermöglicht werden, um sich in Europa und auch weltweit an der Schaffung einer dauerhaften Friedensordnung zu beteiligen, und zugleich die eigene Sicherheit zu gewährleisten.20 Dazu trat die Erkenntnis, daß die Stabilität der inneren Ordnung der Bundesrepublik letztlich ohne eine stabile Neuordnung der europäischen Verhältnisse fragwürdig sei.21 Für die Einbeziehung in eine solche neue Ordnung sollte die Bundesrepublik gerüstet sein. Über die Voraussetzungen, unter denen eine Übertragung von Hoheitsrechten nach Absatz 1 zulässig sein sollte, gab es im Parlamentarischen Rat durchaus unterschiedliche Auffassungen. Der Abgeordnete Dr. Seebohm (DP) war der Meinung, daß für eine so wichtige Angelegenheit ein einfaches Gesetz nicht genüge, sondern vielmehr ein verfassungsänderndes Gesetz verlangt werden müsse. Später änderte er seinen diesbezüglichen Antrag dahingehend ab, daß Hoheitsrechte durch Gesetz mit der Mehrheit der gesetzlichen Mitglieder des Bundestages übertragen werden sollten, wobei in dem Abschnitt „Gesetzgebung" für ein solches Gesetz die Zustimmung des Bundesrates vorgeschrieben werden sollte.22 Dieser Antrag wurde - ebenso wie ein weiterer Antrag der DP-Fraktion, für das Übertragungsgesetz die Zustimmung von zwei Dritteln der Stimmen des Bundesrates 20
Vgl. Tomuschat, Christian (Zweitbearbeiter), in: BK, Art. 24, Rz. 1, 2; Verfassungskonvent von Herrenchiemsee, Auszug aus der 2. Sitzung vom 18.8.1948, abgedruckt in: Der Kampf um den Wehrbeitrag (Veröffentlichungen des Instituts für Staatslehre und Politik e. V. in Mainz, Bd. 2), 1. Hbd. (Die Feststellungsklage), München 1952, 2. Hbd. (Das Gutachtenverfahren [30.7.-15.12.1952]), München 1953, 38-41 - Äußerung des Mitglieds Dr. Kordt. 21 Vgl. Abendroth, Wolfgang, Deutsche Einheit und europäische Integration in der Präambel des Grundgesetzes der Bundesrepublik Deutschland, EA 6 (1951), 4385-4392 (4389). 22 Vgl. hierzu JöR N. F. 1 (1951), 226.
I. Entstehungsgeschichte und Ziele des Artikels 24 Abs. 1 GG
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vorzusehen, weil es sich um eine Verfassungsänderung handele - , im Hauptausschuß abgelehnt. Der Abgeordnete Dr. Carlo Schmidt (SPD) wies darauf hin, daß die Bereitschaft, die Internationalisierung der politischen Wirklichkeit aktiv zu fördern, dadurch habe zum Ausdruck gebracht werden sollen, „daß wir für diesen Fall gerade kein verfassungsänderndes Gesetz verlangen, sondern ein einfaches Gesetz als genügend ansehen wollen."
Zur Bedeutung des Art. 24 GG führte er aus: „Die Entscheidung vom Rang einer Verfassungsbestimmung soll nicht bei den einzelnen Akten, sondern schon in dem Augenblick, in dem wir das GG beschließen, als eine Entscheidung allgemeiner und fundamentaler Art getroffen werden."23
Der Abgeordnete Dr. Eberhard (SPD) widersprach der Auffassung der DPFraktion, daß es sich bei der Übertragung von Hoheitsrechten um eine Verfassungsänderung handele, mit den Worten: „Wir haben uns entschlossen, im GG zu sagen, daß durch einfaches Gesetz Hoheitsrechte übertragen werden können, um unsere Bereitschaft eindeutig festzulegen, in der europäischen Ordnung und in der friedlichen Ordnung der Welt unsere Rolle dadurch zu spielen, daß wir es leicht machen, Hoheitsrechte auf zwischenstaatliche Einrichtungen zu übertragen. Ich bin dafür, daß wir dabei bleiben."24
Schließlich wurde die bereits vom Grundsatzausschuß vorgeschlagene Fassung „Der Bund kann durch Gesetz Hoheitsrechte auf zwischenstaatliche Einrichtungen übertragen."
unverändert angenommen. Damit hatten sich diejenigen durchsetzen können, die der Bundesrepublik Deutschland die Einordnung in eine neue europäische Friedensordnung möglichst leicht machen wollten. Obwohl man noch keine genaue Vorstellung von der Ausgestaltung dieser neuen Ordnung hatte, ging man davon aus, daß es notwendig sein werde, Hoheitsrechte auf entsprechende zwischenstaatliche Einrichtungen zu übertragen. Diese sollten dadurch in die Lage versetzt werden, in bestimmten Bereichen, die vormals allein von den einzelnen Staaten geregelt worden waren, Rechtsvorschriften zu erlassen oder Maßnahmen zu ergreifen, die im Gebiet der beteiligten Staaten unmittelbar anwendbar sein sollten. Der Entschluß, sich in eine solche Ordnung einzufügen, sollte dem politischen Streit zwischen Regierung und Opposition einerseits und zwischen Bund und Ländern andererseits entzogen werden. Dies wurde durch das Erfordernis eines einfachen Übertragungsgesetzes ohne Zustimmung des Bundesrates sichergestellt. Obwohl sich in der Diskussion 23 24
Ebenda. Ebenda, 228.
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Kap. 1, Α. Bundesrepublik Deutschland und europäischer Integrationsprozeß
im Parlamentarischen Rat gezeigt hatte, daß man die Übertragung von Hoheitsrechten als Verfassungsänderung qualifizieren könnte, verzichtete er bewußt darauf, verfassungsändernde Mehrheiten in Bundestag und Bundesrat zu fordern, um der Mitwirkung Deutschlands bei der Einigung Europas keine politischen und verfassungsrechtlichen Hürden in den Weg zu stellen. Die grundlegende Entscheidung, die mit der Übertragung von Hoheitsrechten verbundenen Einwirkungen auf das Verfassungsgefüge hinzunehmen, ohne sie in jedem Einzelfall als Verfassungsänderungen mit den dafür erforderlichen Zweidrittelmehrheiten zu beschließen, war also bereits in der Verfassung selbst getroffen worden. Zum einen wurde damit der Bundesregierung mit Blick auf den zukünftigen europäischen Integrationsprozeß ein weiter politischer Gestaltungsspielraum eröffnet, den diese - wie die Entwicklung der Europäischen Gemeinschaften gezeigt hat - ausgiebig genutzt hat. Zum anderen wurde die Verfassung für Einwirkungen auf ihre grundlegenden Strukturen geöffnet, deren Tragweite erst vier Jahrzehnte später deutlich wurde und die Forderung nach einer Verfassungsänderung auslöste.
b) Die Einordnung des Artikels 24 Abs. 1 GG in das Verfassungsgefüge Artikel 24 GG wird in Verbindung mit der Präambel des Grundgesetzes und den Artikeln 1 Abs. 2,9 Abs. 2, 25 und 26 GG als Ausdruck einer Verfassungsentscheidung für eine „offene" Staatlichkeit der Bundesrepublik Deutschland angesehen.25 Diese gibt in der Zusammenschau der genannten Verfassungsbestimmungen neben der Ächtung des Angriffskrieges ihre grundsätzliche Bereitschaft zu erkennen, mit anderen Staaten friedlich zusammenzuarbeiten, sich in Systeme der internationalen Friedenssicherung einzureihen und an der Schaffung eines vereinten Europas zu beteiligen. Das Verhältnis der einzelnen Absätze des Art. 24 GG zueinander läßt sich folgendermaßen beschreiben: Art. 24 Abs. 1 GG steht in engem thematischen Zusammenhang mit Art. 24 Abs. 2 GG. Dieser ermächtigt die Bundesrepublik Deutschland, sich in ein kollektives Sicherheitssystem einzuordnen. Er stellt klar, daß die mit einer solchen Einordnung verbundenen Beschränkungen deutscher Hoheitsrechte keiner Verfassungsänderung bedürfen, sondern daß ein einfaches Vertragsgesetz gemäß Art. 59 Abs. 2 S. 1 GG genügt.26 Zutreffend ist darauf hin25
Vogel, Klaus, Die Verfassungsentscheidung des Grundgesetzes für eine internationale Zusammenarbeit, Tübingen 1964,24 ff., 42; siehe dazu unten Kap. 1, Α. II. 26 Randelzhofer, Albrecht (Zweitbearbeiter), in: Maunz, Theodor/Dürig, Günter u. a. (Hrsg.), Grundgesetz, Kommentar (zitiert: Maunz/Dürig, GG), Loseblatt, München (Stand: Februar 1999), Art. 24 II, Rz. 24 f.; Tomuschat, in: BK, Art. 24 GG, Rz. 148 f.; Rojahn,
I. Entstehungsgeschichte und Ziele des Artikels 24 Abs. 1 GG
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gewiesen worden, daß sich bei einer bloßen Beschränkung der Ausübung souveräner Rechte die Frage einer Verfassungsänderung - anders als bei der Zurücknahme deutscher Staatsgewalt zugunsten der Ausübung supranationaler Hoheitsgewalt gemäß Art. 24 Abs. 1 GG - gar nicht stellt. Denn die Beschränkung der Ausübung eigener Staatsgewalt ist Folge jedes völkerrechtlichen Vertrages 27. Artikel 24 Abs. 1 und Abs. 2 GG schließen einander nicht gegenseitig aus, sondern stehen zueinander im Verhältnis der Komplementarität. Das bedeutet, daß Art. 24 Abs. 1 GG über die in Art. 24 Abs. 2 GG vorgesehene Beschränkung der Ausübung deutscher Staatsgewalt hinaus die Möglichkeit eröffnet, einem System kollektiver Sicherheit Hoheitsrechte zu übertragen28. Artikel 24 Abs. 3 GG verpflichtet den Bund, zur Regelung zwischenstaatlicher Vereinbarungen über eine allgemeine, umfassende, obligatorische, internationale Schiedsgerichtsbarkeit beizutreten. Diese Vorschrift steht in engem Zusammenhang mit Art. 26 GG, der die Führung eines Angriffskrieges verbietet. Denn im Völkerrecht besteht, wie die Charta der Vereinten Nationen deutlich macht, eine Wechselwirkung zwischen dem Gewaltverbot (Art. 2 Abs. 4 UNCh) und dem Gebot der friedlichen Streitbeilegung (Art. 33 UNCh). Da auch die Einordnung der Staaten in Systeme kollektiver Sicherheit eine Folge des völkerrechtlichen Gewaltverbotes ist, besteht zwischen Art. 24 Abs. 2 und Abs. 3 ebenfalls ein gewisser sachlicher Zusammenhang. Dagegen schließt sich Art. 24 Abs. 3 GG nicht folgerichtig an Art. 24 Abs. 1 GG an. Zwar ist es möglich, auf ein internationales Gericht wie etwa den EuGH Hoheitsrechte in der Weise zu übertragen, daß seine Entscheidungen „Durchgriffswirkung" haben, d. h. gegenüber dem deutschen Bürger unmittelbare Rechtswirkung entfalten. In Art. 24 Abs. 3 GG geht es aber um Streitigkeiten zwischen Staaten, die im Interesse der Friedenssicherung friedlich in einem (schieds)gerichtlichen Verfahren beigelegt werden sollen.29 Die einzelnen Absätze des Art. 24 GG bilden also keine Einheit, sondern regeln verschiedene Formen internationaler Zusammenarbeit, die nur teilweise in engem sachlichen Zusammenhang zueinander stehen. Es ist deshalb gerechtfertigt, sich in der vorliegenden Abhandlung auf die Problematik des Art. 24 Abs. 1 GG und des neuen Art. 23
Ondolf, in: von Münch, Ingo/Kunig, Philip (Hrsg.), Grundgesetz-Kommentar (zitiert: von Münch/Kunig, GG), 3. Aufl., München 1995, Art. 24, Rz. 87, jeweils m. w. N. 27 Randelzhofer, in: Maunz/Dürig, GG, Art. 24 II, Rz. 26. 28 Randelzhofer, in: Maunz/Dürig, GG, Art. 24 III, Rz. 2 f.; Tomuschat, in: BK, Art. 24 GG, Rz. 123, jeweils unter Hinweis auf den Herrenchiemseer Entwurf, in dem Absatz 2 durch das vorangestellte Wort „insbesondere" als Unterfall des Absatzes 1 gekennzeichnet war. 29 Vgl. dazu im einzelnen Randelzhofer, in: Maunz/Dürig, GG, Art. 24 III, Rz. 3 f., 7 ff.; Tomuschat, in: BK, Art. 24, Rz. 192,195 ff.
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Kap. 1, Α. Bundesrepublik Deutschland und europäischer Integrationsprozeß
GG zu beschränken, ohne näher auf den Regelungsgehalt von Art. 24 Abs. 2 und 3 GG einzugehen.
c) Kontroverse Auffassungen über die Bedeutung des Artikels 24 Abs. 1 und 2 GG aus Anlaß des sog. „Wehrstreites" von 1952 Die in Art. 24 Abs. 1 und 2 GG vorgesehenen Möglichkeiten der Übertragung von Hoheitsrechten auf eine zwischenstaatliche Einrichtung und der Beschränkung von Hoheitsrechten im Rahmen der Einordnung der Bundesrepublik in ein System kollektiver Sicherheit stellten fundamentale Neuerungen in einer deutschen Verfassung dar. Dennoch wurden ihre Bedeutung und vor allem ihre verfassungsrechtlichen Grenzen in der Staatsrechtslehre erst anläßlich des sog. „Wehrstreites" im Jahre 1952 kontrovers diskutiert. Bei diesem Streit ging es um den Wehrbeitrag - und damit um die Wiederbewaffnung - im Rahmen des Beitritts der Bundesrepublik Deutschland zur Europäischen Verteidigungsgemeinschaft, die schließlich am negativen Votum der französischen Nationalversammlung im August 1954 scheiterte. Gestritten wurde um die Frage, ob der geplante Beitritt zur Europäischen Verteidigungsgemeinschaft und die damit verbundene Aufstellung von Streitkräften einer vorherigen Änderung bzw. Ergänzung des Grundgesetzes bedürfe oder ob so die Ansicht der Bundesregierung30 - ein einfaches Zustimmungsgesetz gem. Art. 24 Abs. 1 und Abs. 2 GG genüge. Die Bundesregierung vertrat - gestützt auf die Gutachten der Staatsrechtler Kaufmann, von Mangoldt, Scheuner; Thoma, Weber, Wehberg, Wolff und Süsterhenn die Auffassung, daß sich aus Entstehungsgeschichte sowie Wortlaut und Sinn des Art. 24 Abs. 2 GG einwandfrei die Ermächtigung des Bundes ergebe, im Rahmen der Einordnung in ein „System gegenseitiger kollektiver Sicherheit" Streitkräfte aufzustellen. In Verbindung mit Art. 24 Abs. 1 GG folge daraus, daß alle in dem betreffenden völkerrechtlichen Vertrag vereinbarten Maßnahmen, die unmittelbar mit der Einordnung zusammenhingen, ohne Verfassungsänderung im Wege eines einfachen Gesetzes vorgenommen werden dürften. Zur Frage, inwieweit ein Vertrag, der Gegenstände des Art. 24 GG regelt, an innerdeutsches Verfassungsrecht gebunden sei, führte die Bundesregierung aus, daß Art. 24 GG jedenfalls von der Beachtung der organisatorischen Verfassungsbestimmungen entbinde. Ob bei Internationalisierungen nach Art. 24 auch die Grundrechte zur Disposition des einfachen Gesetzgebers 30 Stellungnahme der Bundesregierung, in: Der Kampf um den Wehrbeitrag, 2. Hbd. (Fn. 20), 5-41, insbes. 27 ff.
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stünden, ließ die Bundesregierung offen, sah aber zumindest in Art. 79 Abs. 3 GG eine allgemeine Schranke. Einschränkend wurde allerdings hinzugefügt, dies sei aber nicht so zu verstehen, „daß die Organe der zwischenstaatlichen Einrichtung selbst den organisatorischen Vorschriften des Art. 79 Abs. 3 in Verbindung mit Art. 20 entsprechen müssen, daß vor allem die besondere Ausprägung des Gewaltenteilungsprinzips, wie sie im Grundgesetz vorgesehen, aber auch dort nicht voll durchgeführt ist, auf die zwischenstaatlichen Organe übertragen werden kann".31
Die SPD-Bundestagsfraktion sowie die Landesregierungen von Niedersachsen und Hessen vertraten demgegenüber die Ansicht, daß die Wehrhoheit einer ausdrücklichen Regelung in der Verfassung bedürfe und deshalb das Grundgesetz mit verfassungsändernden Mehrheiten ergänzt werden müsse.32 Gestützt auf die Gutachten der Staatsrechtler Menzel, Smend, Kraus, Forsthoff, Schätzet, Loewenstein Klein und Maunz wurde ausgeführt, daß gemäß Art. 24 Abs. 1 und 2 GG nur bereits „konstituierte", d. h. in der Verfassung geregelte Kompetenzen übertragen werden könnten. Da bei der Übertragung von Hoheitsrechten im Prinzip lediglich ein Organwechsel stattfinde, trete bei der Ausübung der übertragenen Kompetenzen keine Befreiung von den übrigen verfassungsrechtlichen Bindungen ein. Da es sich um eine Auswechslung von Organen handele, könnten die zwischenstaatlichen Organe keine weitergehenden Zuständigkeiten besitzen als die innerstaatlichen. Daher müsse - so das Gutachten von Kraus - zwischen der Verfassung der zwischenstaatlichen Einrichtung und dem Grundgesetz eine „strukturelle Kongruenz" gefordert werden. Die zwischenstaatlichen Organe müßten insbesondere dem Grundsatz der Gewaltenteilung unterliegen, so wie dies für die entsprechenden nationalen Organe der Fall sei. Dieses Erfordernis beziehe sich auch auf die demokratisch-parlamentarische Kontrolle der Exekutive. Ferner dürfe nicht Exekutivbehörden die im nationalen Bereich den Parlamenten zukommenden Zuständigkeiten übertragen werden.33 Diese Gedanken haben - wie später gezeigt wird 34 - in einige Entscheidungen des Bundesverfassungsgerichts und die Ausgestaltung des Art. 23 GG n. F. Eingang gefunden. Maunz kam zu dem Ergebnis, daß auch der gemäß Art. 24 Abs. 1 GG ermächtigte Gesetzgeber nicht nur an die Fundamentalsätze des Art. 79 Abs. 3 GG, sondern auch an das sonstige Gesamt31
Ebenda, 31/32. Systematische Stellungnahme der SPD-Bundestagsfraktion vom 28.10.1952, ebenda, 289-311 ; Stellungnahme der Niedersächsischen Landesregierung vom 21.8.1952, ebenda, 402-454; Stellungnahme der Hessischen Landesregierung vom 22.11.1952, ebenda, 581-590. 33 Gutachten von Herbert Kraus, ebenda, 517-554 (551). 34 Siehe unten Kap. 3, Α. II. 1. und Kap. 5, Α. I. 32
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gefüge der Verfassung gebunden sei.35 Auf dem Wege über eine zwischenstaatliche Gemeinschaft könne nicht das demokratische Prinzip durchbrochen werden. Da es einer der leitenden Gedanken des Grundgesetzes gewesen sei, Durchbrechungen und Aushöhlungen des Kerns der Verfassung unter allen Umständen zu verhindern, müsse es als ausgeschlossen gelten, die Ermächtigung des Art. 24 Abs. 1 GG als „weitgeöffnetes Einfalltor für die Durchbrechung selbst der wesentlichen Sätze des Grundgesetzes und für die Ausschaltung der zum Schutze der Verfassung aufgerichteten Sicherungen anzusehen".36 In diesem Sinne äußerten sich auch Forsthoff und Loewenstein Forsthoff argumentierte, daß sich die in Art. 24 GG enthaltene Ermächtigung zur Verfassungsänderung auf die Übertragung von in der Verfassung bereits enthaltenen Hoheitsrechten beschränke, nicht aber auf eine Kompetenzüberschreitung erstrecke. Mache man Art. 24 GG zu einer Kompetenznorm, so führe man einen „zweiten Verfassungsgeber" in das Grundgesetz ein und sprenge die Verfassung von innen her auf, weil die in Art. 79 GG enthaltenen Sicherungsfunktionen aus den Angeln gehoben würden.37 Auch Loewenstein kritisierte, daß die von der Bundesregierung und „ihren" Gutachtern vertretene Auffassung den Art. 24 Abs. 1 GG zu einer „Verfassung innerhalb der Verfassung", einer „Norm der Normen" mache, der das gesamte Grundgesetz unterworfen sei. Durch eine solche Übersteigerung einer Verfassungsbestimmung werde die Rechtsstaatsidee selbst aus den Angeln gehoben.38 Dieser Streit blieb unentschieden. Denn es kam damals nicht zu einer Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts, weil der Bundespräsident Heuß sein Gesuch um Erstattung eines Rechtsgutachtens zurückgezogen hatte.39 Deshalb stellten sich viele der bereits im „Wehrstreit" von 1952 aufgeworfenen Fragen zu Aufgabe, Stellung und Grenzen des Art. 24 Abs. 1 GG bei der Diskussion um die Verfassungsmäßigkeit des Zustimmungsgesetzes zum Maastrichter Vertrag vom 7. Februar 1992 erneut. Vor allem ist die Frage nach der Bestimmung der verfassungsrechtlichen Grenzen von Hoheitsrechtsübertragungen im Rahmen des europäischen Integrationsprozesses trotz der Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts vom 12. Oktober 1993 über den Vertrag von Maastricht nach wie vor höchst umstritten.40 35
Gutachten von Theodor Maunz, in: Der Kampf um den Wehrbeitrag, 2. Hbd. (Fn. 20), 591-619(605,613). 36 Ebenda, 605. 37 Gutachten von Ernst Forsthoff, ebenda, 312-336 (330, 332). 38 Gutachten von Karl Loewenstein, ebenda, 337^01 (386 f.). 39 Ebenda, 811. 40 Siehe dazu unten Kap. 6, Β. I. und II.
II. Artikel 24 Abs. 1 GG als Staatszielbestimmung
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Π. Artikel 24 Abs. 1 GG als Staatszielbestimmung für den europäischen Integrationsprozeß Die Auffassung, daß es sich bei Art. 24 Abs. 1 GG um eine bloße declaration of policy handelt41, hat sich nicht durchgesetzt. Wilhelm Grewe hat dazu - in Abwendung von seiner früher vertretenen Ansicht42 - auf der Staatsrechtslehrertagung 1953 ausgeführt: „... Es scheint mir..., daß wir es bei dem Art. 24 Abs. 1 eben doch nicht nur mit einer bloßen „declaration of policy" von geringer rechtlicher Tragweite zu tun haben, sondern mit einer Verfassungsbestimmung von ganz konkreter und präziser rechtlicher Bedeutung; mit einer Verfassungsbestimmung, die einen spezifisch modernen Bestandteil der auswärtigen Gewalt konstituiert, nämlich eine besonders geartete Integrationsgewalt; die neben die normale treaty-making power tritt..." (Hervorhebung durch die Verfin). 43
Nach heute allgemein vorherrschender Ansicht stellt die insbesondere in Art. 24 Abs. 1 GG vorgesehene Übertragung von Hoheitsrechten ein besonderes verfassungsrechtliches Instrument dar, um die Eingliederung der Bundesrepublik Deutschland in supranationale Organisationen zu ermöglichen.44 Die zur Charakterisierung des besonderen verfassungsrechtlichen Gehaltes von Art. 24 Abs. 1 GG verwendeten Begriffe sind unterschiedlich, sie beschreiben aber im wesentlichen übereinstimmend dasselbe Phänomen, nämlich die Schlüsselfunktion, die dieser Verfassungsnorm bei der Öffnung des „Souveränitätspanzers" des deutschen Staates für außer- bzw. überstaatliche Akte zukommt. Klaus Vogel etwa bevorzugt statt des von Grewe geprägten Ausdruckes „Integrationsgewalt"45 den
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Vgl. das Gutachten von Herbert Kraus, in dem es heißt: „Die eigentliche Bedeutung dieses Artikels [Art. 24 GG, die Verfin] liegt nicht auf juristischem, sondern auf politischem Gebiet. Sie ist ganz vornehmlich und in erster Linie eine sogenannte »policy making declaration'.", in: Der Kampf um den Wehrbeitrag, 2. Hbd. (Fn. 20), 540. 42 DRZ 1949, 315. 43 Grewe, Wilhelm, Die auswärtige Gewalt der Bundesrepublik Deutschland, VVDStRL 12(1954), 129-178(143). 44 Vgl. Tomuschat, in: BK, Art. 24, Rz. 1; Stern, Klaus, Das Staatsrecht der Bundesrepublik Deutschland, Bd. I (zitiert: Stem, Staatsrecht I), 2. Aufl., München 1984, § 15,520; Mosler, Hermann, Die Übertragung von Hoheitsgewalt, in: HStR VII (1992), § 175, Rz. 11, 15; Klein, Franz, in: Schmidt-Bleibtreu, Bruno/Klein, Franz, Kommentar zum Grundgesetz (zitiert: Schmidt-Bleibtreu/Klein, GG), 9. Aufl., Neuwied u. a. 1999, Art. 24, Rz 1 ; Rojahn, in: von Münch/Kunig, GG, Art. 24, Rz. 6; Randelzhofer, in: Maunz/Dürig, GG, Art. 241, Rz. 1,2. 45 Siehe oben Fn. 43.
48
Kap. 1, Α. Bundesrepublik Deutschland und europäischer Integrationsprozeß
Begriff „Integrationskompetenz"46; Hans Peter Ipsen spricht von einem „Integrationshebel"47. Artikel 24 Abs. 1 GG hat aber nicht nur die Aufgabe, der Bundesrepublik Deutschland die Teilnahme an integrativen zwischenstaatlichen Zusammenschlüssen zu ermöglichen. Darüber hinaus enthält er nach nahezu einhelliger Ansicht eine Staatszielbestimmung.48 Diesem Begriff soll hier die Definition Scheuners zugrundegelegt werden. Danach handelt es sich bei Staatszielbestimmungen um Verfassungsprinzipien, die „Grundsätze und Richtlinien für das staatliche Handeln aufstellen, und ihm in bestimmten Richtungen durch Gebote und Weisungen Orientierungen und sachliche Aufgaben geben"49 Demzufolge sind die zuständigen Staatsorgane verpflichtet, ihre Handlungen an dem Gedanken einer internationalen Kooperation auszurichten. Staatszielbestimmungen binden in der Regel alle Staatsorgane, in erster Linie den Gesetzgeber durch einen Gestaltungsauftrag, in zweiter Linie auch die Exekutive und die Gerichte. Eine Besonderheit gilt allerdings im Bereich der auswärtigen und europäischen Angelegenheiten. Hier obliegt es den Trägern der auswärtigen Gewalt, also vorrangig der Bundesregierung, durch die positive Gestaltung der Außen- und Europapolitik Staatsziele zu verwirklichen. Da das Zustandekommen internationaler Zusammenschlüsse nicht allein vom Willen der Bundesrepublik Deutschland, sondern auch entscheidend 46
Vogel, Verfassungsentscheidung (Fn. 25), 5 und Fn. 8. Ipsen, Europäisches Gemeinschaftsrecht, 58, führt dazu aus: „Dieses Bild der Mechanik mag verdeutlichen, daß Art. 241 mit dem geringeren Aufwand des einfachen Gesetzes die gesteigerte Wirkung der Verfassungsänderung ermöglicht, weil seine, des Art. 24 I Stärke als Verfassungsentscheidung dem einfachen Gesetz Integrationskraft vermittelt: Öffnung der Staatlichkeit, Er-Öffnung binnenstaatlicher Wirksamkeit öffentlicher Gemeinschaftsgewalt." 48 Vgl. Tomuschat, in: BK, Art. 24, Rz. 3, 5; Mosler, in: HStR VII (1992), § 175, Rz. 14; Stern, Staatsrecht I, § 15, 519, spricht von „einer Option, einer Intention, einer Bereitschaft zur Supranationalität"; Randelzhofer, in: Maunz/Dürig, Art. 24 I, Rz. 17; Ipsen, Europäisches Gemeinschaftsrecht, 52; Rojahn, in: von Münch/Kunig, GG, Art. 24, Rz. 8, jeweils m. w. N. Zuleeg, Manfred, in: Wassermann, Rudolf (Hrsg.), Reihe Alternativkommentare, Kommentar zum Grundgesetz für die Bundesrepublik Deutschland (zitiert: AK-GG), 2. Aufl., Neuwied u. a. 1989, Art. 241, Rz. 23, spricht von einem „Verfassungsgrundsatz der Integrationsbereitschaft" und setzt diesen mit einer Staatszielbestimmung gleich; a. A. Merten, Detlef, Über Staatsziele, DÖV 1993, 368-377 (372). 49 Scheuner, Ulrich, Staatszielbestimmungen, in: Schnur, Roman (Hrsg.), Festschrift für Ernst Forsthoff zum 70. Geburtstag, München 1972, 325-346 (335 f.); vgl. auch Isensee, Josef, Gemeinwohl und Staatsaufgaben, in: HStR III (1996), § 57, Rz. 115, wo es heißt: „Staatsziele sind die Belange des Gemeinwohls (öffentliche Interessen), die der Staat sich zu eigen macht und in deren Dienst er sich planmäßig stellt."; Sommermann, Karl-Peter, Staatsziele und Staatszielbestimmungen, Tübingen 1997, 355 ff. 47
II. Artikel 24 Abs. 1 GG als Staatszielbestimmung
49
von der Bereitschaft anderer Staaten zur Kooperation abhängt, steht die Zielverwirklichung auf internationaler und supranationaler Ebene stets unter dem Vorbehalt des „politisch Erreichbaren". 50 Deshalb ist die vereinzelt vertretene Ansicht, Art. 24 Abs. 1 GG beinhalte ein Verfassungsgebot, an der Begründung supranationaler Hoheitsgewalt mitzuwirken,51 abzulehnen. Vielmehr haben Bundesregierung und Bundesgesetzgeber einen weiten politischen Gestaltungsspielraum, innerhalb dessen sie ihre Entscheidung in Abwägung mit anderen Verfassungsprinzipien und nationalen Interessen treffen können.52 Ihr Ermessen ist aber zumindest insoweit eingeschränkt, als „bestimmte, integrationsunfreundliche Handlungen nicht mehr nur als politisch untunlich, sondern auch als verfassungsrechtlich unzulässig zu erachten" sind.53 Der Inhalt des Staatszieles läßt sich nicht allein aus dem Wortlaut des Art. 24 Abs. 1 GG herleiten. Eine grundlegende inhaltliche Bestimmung hat Klaus Vogel vorgenommen, indem er Art. 24 GG im Wege einer Zusammenschau mit Art. 25 und 26 GG sowie der in der Präambel enthaltenen Formulierung „... von dem Willen beseelt, als gleichberechtigtes Glied in einem vereinten Europa dem Frieden der Welt zu dienen ..." als „Verfassungsentscheidung für eine »offene 4 Staatlichkeit" interpretiert hat. In Abwendung von dem herkömmlichen Bild eines „geschlossenen", sich ausschließlich unter seinen eigenen Rechtssetzungswillen stellenden Staates hat demzufolge die Bundesrepublik Deutschland in ihrer Verfassung eine grundsätzliche Bereitschaft zur Zusammenarbeit mit anderen Staaten sowie für eine gliedschaftliche Einordnung in eine organisch gefügte „internationale Gemeinschaft" der Staaten festgelegt. 54 Ziel der genannten Verfassungsbestimmungen ist also die Teilnahme an internationaler Zusammenarbeit und die Eingliederung in internationale Zusammenschlüsse. Diese These ist heute allgemein anerkannt.55 Sie wird gestützt durch die Entstehungsgeschichte des 50
BVerfGE 40, 141 (178); vgl. dazu im einzelnen Sommermann, Staatsziele (Fn. 49),
387 f. 51
Anders Kaufmann, Erich, Die Übertragung von Hoheitsrechten in der deutschen Verfassungsgeschichte des 19. Jahrhunderts, in: ders., Gesammelte Schriften, Bd. II, Göttingen 1960,408-415 (411); unklar insoweit Grabitz, Eberhard, Gemeinschaftsrecht bricht nationales Recht, Hamburg 1966, 57, der unter Verweis auf Vogel, Verfassungsentscheidung (Fn. 25), von einem „Verfassungsgebot" an den einfachen Bundesgesetzgeber spricht, an der Begründung supranationaler Hoheitsgewalt mitzuwirken. 52 Tomuschat, in: BK, Art. 24, Rz. 5; Mosler, in: HStR VII (1992), § 175, Rz. 14; Stern, Staatsrecht I, § 15, 520; Scheuner (Fn. 49), 339. 53 So Stern, Staatsrecht I, § 15, 520. 54 Vogel, Verfassungsentscheidung (Fn. 25), 35,42. 55 Vgl. statt aller Tomuschat, in: BK, Art. 24, Rz. 3. 4 König
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Kap. 1, Β. Die Funktionen des Artikels 24 Abs. 1 GG im einzelnen
Art. 24 GG, der zufolge es den Abgeordneten des Parlamentarischen Rates entscheidend darauf ankam, die verfassungsrechtlichen Grundlagen für die Einbindung der Bundesrepublik Deutschland in eine internationale und europäische Friedensordnung bereitzustellen.56 Darüber hinaus ist dem Art. 24 Abs. 1 GG in Verbindung mit der Präambel, die ausdrücklich auf ein ,,vereinte[s] Europa" abstellt, das Staatsziel der Beteiligung an der europäischen Integration zu entnehmen.57 Letzteres ist 1992 in Art. 23 Abs. 1 S. 1 GG explizit im Grundgesetz verankert worden. Als Staatszielbestimmung ist Art. 24 Abs. 1 GG nicht nur Leitlinie für das Handeln der zuständigen Staatsorgane, sondern auch Auslegungsgrundsatz. Das heißt, daß die Verfassungsentscheidung für eine offene Staatlichkeit, und hier insbesondere für die Teilnahme am europäischen Integrationsprozeß, bei der Auslegung anderer Verfassungsbestimmungen gebührend berücksichtigt werden muß. Randelzhofer spricht zutreffend davon, daß im Zweifel das gesamte Grundgesetz so auszulegen sei, daß die grundlegende Entscheidung für die überstaatliche Integration zum Tragen komme.58 Die Funktion als Staatszielbestimmung spielt insbesondere dann eine Rolle, wenn es um die verfassungsrechtlichen Grenzen der Integration geht. Denn diese sind ihrerseits unter Wahrung des von der Verfassung gewünschten Ziels zu bestimmen.59 Zusammenfassend läßt sich feststellen, daß Art. 24 Abs. 1 GG in Verbindung mit der Präambel der Bundesrepublik Deutschland den Weg in die europäische Integration gewiesen und ihr die dafür erforderliche Ermächtigung zur Übertragung von Hoheitsrechten zur Verfügung gestellt hat. Die Öffnung für diese neuartige, intensive Form internationaler Zusammenarbeit ist für die Auslegung der Verfassung von grundlegender Bedeutung.
B. Die Funktionen des Artikels 24 Abs. 1 GG im einzelnen Im folgenden soll untersucht werden, welche Funktionen dem Art. 24 Abs. 1 GG als Instrument zur Beteiligung der Bundesrepublik Deutschland an supranationalen Zusammenschlüssen zukommen. Schwierigkeiten bereitet dabei die nach 56
Siehe dazu oben Kap. 1, Α. I. 2. a). Zuleeg, in: AK-GG, Art. 241, Rz. 23. 58 Randelzhofer, in: Maunz/Dürig, GG, Art. 241, Rz. 20; vgl. auch, dargestellt am Beispiel des Sozialstaatsprinzips, Scheuner (Fn. 49), 336 f. 59 Siehe dazu unten Kap. 6, Α. I. 3. 57
I. Durchgriffseffekt als entscheidendes Kriterium des Art. 24 Abs. 1 GG
51
allgemeiner Ansicht mißglückte sprachliche Fassung dieser Norm. 60 Sie ist darauf zurückzuführen, daß der Verfassungsgeber einen komplizierten Vorgang im Bereich des Völker- und des Staatsrechts mit dem Bild einer „Übertragung von Hoheitsrechten" zu umschreiben versuchte. Diese Umschreibung erwies sich bei genauerer Analyse als in hohem Maße mißverständlich. Um die einzelnen Funktionen aufzeigen zu können, soll zunächst mit Blick auf Art. 59 Abs. 2 GG geklärt werden, worin die Besonderheit des in Art. 24 Abs. 1 GG geregelten Vorganges liegt.
I. Der Durchgriffseffekt als entscheidendes Kriterium für die Anwendbarkeit des Artikels 24 Abs. 1 GG 1. Die Besonderheit des Durchgriffseffektes intergouvernementalen Formen internationaler
im Vergleich zu Zusammenarbeit
Der in Art. 24 Abs. 1 GG umschriebene Vorgang unterscheidet sich von der Kooperation in anderen internationalen Zusammenschlüssen folgendermaßen: Bindende Beschlüsse herkömmlicher internationaler Organisationenrichten sich nur an den Vertragsstaat als solchen. Das bedeutet, daß sie, wenn sie im innerstaatlichen Rechtsraum ausgeführt werden müssen, eines besonderen Rechtsaktes, also eines Gesetzes oder einer Rechtsverordnung, des hierfür zuständigen Staatsorgans bedürfen. Um innerstaatliche Geltung zu erlangen, müssen solche völkerrechtlichen Beschlüsse in jedem Einzelfall mittels eines staatlichen Umsetzungsaktes - sei es im Wege der Transformation (Transformationstheorie) oder sei es durch Erteilung eines Vollzugsbefehls (Vollzugstheorie) - für im deutschen Rechtsraum anwendbar erklärt werden.61 Dies gilt auch für solche internationalen Organisationen, denen quasi-rechtsetzende Funktionen zuerkannt worden sind. Mit diesem Begriff wird ein Rechtsetzungsverfahren bezeichnet, in dem Organe einer internationalen Organisation - wie etwa des Weltpostvereins (UPU), der Internationalen Seeschiffahrts-Organisation (EMO), der Internationalen Zivilluftfahrtorganisation (ICAO), der Welternährungsorganisation (FAO) und der Weltgesundheitsorganisation (WHO) - den Inhalt der zu treffenden Regelungen eigenständig erarbeiten und auf eine ausdrückliche Zustimmung durch jeden 60
Vgl. statt aller Randelzhofer, in: Maunz/Dürig, GG, Art. 241, Rz. 1, m. w. N. Vgl. zu den verschiedenen Theorien Partsch, Karl Josef, Die Anwendung des Völkerrechts im innerstaatlichen Recht - Überprüfung der Transformationslehre, Berichte DGVR 6 (1964), 18 ff., 41 ff.; Geiger, Rudolf, Grundgesetz und Völkerrecht (zitiert: Geiger, Grundgesetz und Völkerrecht), 2. Aufl., München 1994, § 32,172 ff. 61
4*
5 2 K a p . 1, Β. Die Funktionen des Artikels 24 Abs. 1 GG im einzelnen
einzelnen Vertragsstaat verzichtet wird. So sind zum Beispiel von einer Kommission entworfene und einstimmig oder sogar nur mehrheitlich verabschiedete Regelungen - es handelt sich normalerweise um technische Detailregelungen nach Ablauf eines bestimmten Zeitraumes automatisch für jeden Vertragsstaat verbindlich, wenn dieser nicht zuvor ausdrücklich widersprochen hat (opting out). 62 Ziel solcher Verfahren ist es, Vertragsänderungen bzw. -ergänzungen möglichst schnell zu erarbeiten und ein rasches Inkrafttreten dieser Regelungen in möglichst vielen Vertragsstaaten sicherzustellen. Hervorzuheben ist, daß selbst in den Fällen, in denen sich die von der internationalen Organisation erlassenen Vorschriften ihrem Wortlaut nach scheinbar an private Rechtssubjekte wenden, nur die Mitgliedstaaten rechtlich gebunden werden. Aus den jeweiligen Satzungsbestimmungen folgt, daß diese Vorschriften regelmäßig nicht den Anspruch erheben, als solche im Rechtsraum der Vertragsstaaten zu gelten. Sie bedürfen daher immer eines besonderen staatlichen Rechtsaktes, um im innerstaatlichen Bereich unmittelbar Rechtswirkungen zu entfalten. 63 Im Gegensatz dazu sind allgemeine Regelungen oder auch Einzelentscheidungen von Organen einer zwischenstaatlichen Einrichtung, der Hoheitsrechte „übertragen" worden sind, ohne weiteres im innerstaatlichen Bereich für die Behörden und einzelnen Bürger direkt verbindlich. Supranationales Recht gilt also in den Mitgliedstaaten, ohne daß es in deutsches Recht transformiert oder - nach der Vollzugstheorie - im Einzelfall ein Rechtsanwendungsbefehl ergehen müßte. Wichtigster Anwendungsfall des Art. 24 Abs. 1 GG war bis zur Einfügung des neuen Art. 23 GG die Übertragung von Hoheitsrechten auf die Europäische Gemeinschaft. Häufig wurde, um die besondere Rechts Wirkung der Übertragung von Hoheitsrechten auf die Gemeinschaft zu umschreiben, von der unmittelbaren Anwendbarkeit des europäischen Gemeinschaftsrechts gesprochen. Diese Aussage ist allerdings mißverständlich. Die unmittelbare innerstaatliche Geltung des Gemeinschaftsrechts ist von der unmittelbaren Anwendbarkeit zu unterscheiden. 62
Vgl. zu den Rechtsetzungsverfahren im einzelnen Rösgen, Peter, Rechtsetzungsakte der Vereinten Nationen und ihrer Sonderorganisationen, Bonn 1985, 30 ff., 63 ff., 90 ff. und 119 ff.; zur Rolle der IMO bei Vertragsänderungen bzw. -ergänzungen im Rahmen mehrerer Verträge zur Schiffssicherheit und zum Meeresumweltschutz vgl. Wolfrum, Rüdiger, Die Internationalisierung staatsfreier Räume, Berlin u. a. 1984,168 ff. m. w. N. Einen Überblick über die Rechtsetzungsverfahren bei den Sonderorganisationen der Vereinten Nationen WHO, FAO, ICAO und ITU gibt Hobe, Stephan, Der offene Verfassungsstaat zwischen Souveränität und Interdependenz, Berlin 1998, 294 ff. 63 Rösgen (Fn. 62), 204, 267; Hobe, Der offene Verfassungsstaat (Fn. 62), 307 f.; eine Ausnahme bilden die gemäß Art. 12 S. 3 des Abkommens von Chicago vom 7.12.1944 (BGBl. 1956 II, 411) erlassenen Rechtsvorschriften, die sich auf den Flugverkehr über der Hohen See beziehen.
I. Durchgriffseffekt als entscheidendes Kriterium des Art. 24 Abs. 1 GG
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Alle Normen des primären und des sekundären Gemeinschaftsrechts beanspruchen im innerstaatlichen Rechtsraum unmittelbare Geltung. Unmittelbar anwendbar sind demgegenüber nur solche gemeinschaftsrechtlichen Normen, die auf die Rechtsverhältnisse des einzelnen Bürgers direkt angewendet werden können, ohne daß zuvor Durchführungsvorschriften der Gemeinschaft oder der Mitgliedstaaten erlassen werden müßten. Ob der einzelne darüber hinaus aus der Gemeinschaftsnorm ein subjektives Recht herleiten kann, hängt von ihrem Inhalt ab. Dieser unterliegt letztlich der Auslegung durch den EuGH.64 Festzuhalten bleibt folgendes: Die Befugnis einer zwischenstaatlichen Einrichtung, Rechtssätze zu erlassen und Einzelfallregelungen zu treffen, die im Verhältnis zu den Normadressaten in den Mitgliedstaaten, also den Bürgern sowie den Behörden und Gerichten, unmittelbar gelten, ist das entscheidende Kriterium für die Anwendbarkeit des Art. 24 Abs. 1 GG.65 Auch das BVerfG ist zunächst dieser Auffassung gefolgt. In der „Solange I"Entscheidung hat es ausgeführt:
„Art. 24 GG ermächtigt nicht eigentlich zur Übertragung von Hoheitsrechten, sondern öffnet die nationale Rechtsordnung ... derart, daß der ausschließliche Herrschaftsanspruch der Bundesrepublik Deutschland im Geltungsbereich des Grundgesetzes zurückgenommen und der unmittelbaren Geltung und Anwendbarkeit eines Rechts aus andere Quelle innerhalb des staatlichen Herrschaftsbereichs Raum gegeben wird" (Hervorhebung durch die Verfin). 66
Entscheidende Kriterien für den ÜbertragungsVorgang sind demnach (1) die Rücknahme des ausschließlichen Herrschaftsanspruchs der Bundesrepublik auf ihrem Hoheitsgebiet und (2) die unmittelbare Geltung und Anwendbarkeit außerstaatlichen Rechts innerhalb ihres Herrschaftsbereiches, mit anderen Worten der „Durchgriffseffekt".
2. Verzicht des Bundesverfassungsgerichts auf den Durchgriffseffekt im Urteil zum NATO-Doppelbeschluß In seinem Urteil zum NATO-Doppelbeschluß hat das Bundesverfassungsgericht allerdings auf den Durchgriffseffekt als entscheidendes Kriterium für die Anwendbarkeit des Art. 24 Abs. 1 GG verzichtet. Es ist - einer Argumentation 64
Geiger, Grundgesetz und Völkerrecht, § 32,174 f. und § 44, 248 f. Diese Position wird im Schrifttum nahezu einhellig vertreten, vgl. statt aller Tomuschat, in: BK, Art. 24, Rz. 8; Randelzhofer, in: Maunz/Dürig, GG, Art. 241, Rz. 30, jeweils m. w. N. 66 BVerfGE 37, 271 (280); bestätigt in BVerfGE 58, 1 (28); 73, 339 (374). 65
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Kap. 1, Β. Die Funktionen des Artikels 24 Abs. 1 GG im einzelnen
der Bundesregierung folgend - davon ausgegangen, daß die Erlaubnis zur Aufstellung amerikanischer atomarer Mittelstreckenraketen dem amerikanischen Präsidenten in seiner Eigenschaft als besonderes Organ des Bündnisses untrennbar auch das Entscheidungsrecht über den Einsatz dieser Waffen einräume. Die Rechtswirkung der Zustimmung komme daher einer Übertragung von Hoheitsrechten im Sinne des Art. 24 Abs. 1 GG gleich.67 Dabei stellte das Gericht maßgeblich darauf ab, daß die Bundesrepublik Deutschland, indem sie dem amerikanischen Präsidenten die Entscheidung über den Einsatz der Waffen zuerkannt hatte, „ein vordem tatsächlich gegebenes oder rechtlich mögliches ausschließliches Herrschaftsrecht zugunsten fremder Hoheitsgewalt zurückgenommen" habe. Was das zweite Kriterium, den Durchgriffseffekt, anbetraf, führte das Gericht aus: ,Aus Art. 24 Abs. 1 GG läßt sich nicht herleiten, daß hierfür bereits vor Auslösung der operativen Befehlslage eine unmittelbare Befehlsgewalt der integrierten NATO-Kommandostellen gegenüber deutschen Streitkräften oder Bewohnern des Bundesgebiets rechtlich gegeben sein müsse. Ihm kann femer nicht entnommen werden, daß eine Übertragung von Hoheitsrechten immer nur dann anzunehmen sei, wenn der zwischenstaatlichen Einrichtung eine unmittelbare Durchgriffsbefugnis gegenüber Einzelnen eingeräumt wird ..." 68
Der hierin liegende Verzicht auf den Durchgriffseffekt als das entscheidende Kriterium für eine „Übertragung von Hoheitsrechten" im Sinne von Art. 24 Abs. 1 GG ist im Schrifttum heftig kritisiert worden.69 Zu Recht ist gegen diese Rechtsprechung, die der Senat in der ähnlich gelagerten Chemiewaffen-Entscheidung im Jahre 1987 noch einmal bestätigt hat70, eingewandt worden, daß sich damit die Übertragung von Hoheitsrechten auf die bloße Rücknahme eines tatsächlich gegebenen oder potentiellen Herrschaftsrechts zugunsten fremder Hoheitsgewalt reduziere. Damit würden nunmehr rein faktische Auswirkungen schlicht-hoheitlichen Handelns eines fremden Staates, dem im Rahmen eines Bündnisvertrages die Ausübung von Hoheitsgewalt auf dem Gebiet der Bundesrepublik Deutschland gestattet worden sei, in den Anwendungsbereich des Art. 24 Abs. 1 GG fallen. Die vormals klare Abgrenzung zwischen der „Übertragung von Hoheitsrechten" und anderen Souveränitätsbeschränkungen, zu denen sich die 67
BVerfGE 68,1 (90 f.). Ebenda, 94. 69 Vgl. vor allem Eckertz, Rainer, Atomare Rüstung im Verfassungsstaat - Das Raketenurteil des Bundesverfassungsgerichts, EuGRZ 1985, 165-170; Rauschning, Dietrich, Organstreit zur Nachrüstung - BVerfGE 68,1, JuS 1985,863-868; Bryde, Brun-Otto, Sicherheitspolitik zwischen Regierung und Parlament - BVerfG v. 18.12.1984 - 2 Β VE 13/83 - , Jura 1986, 363-369. 70 BVerfGE 77, 170 (232). 68
I. Durchgriffseffekt als entscheidendes Kriterium des Art. 24 Abs. 1 G G 5 5
Bundesrepublik Deutschland im Rahmen der „normalen" Vertragsschlußkompetenz völkerrechtlich verpflichten könne, sei aufgegeben worden.71 Der Verlust einer klaren Abgrenzung ist das ausschlaggebende Argument gegen die vom Bundesverfassungsgericht vorgenommene Ausweitung des Anwendungsbereichs von Art. 24 Abs. 1 GG. Die mit Militärbündnissen einhergehenden Souveränitätsbeschränkungen wie Durchmarsch-, Aufenthalts- und Einsatzrechte für die Streitkräfte anderer Bündnispartner sind unstreitig von der normalen „treaty-making power" umfaßt und fallen daher in den Anwendungsbereich des Art. 59 Abs. 2 GG. Solche Rechte beziehen sich auch auf die Stationierung und damit untrennbar verbunden - den Einsatz konventioneller Waffen. Die Einräumung solcher Rechte ist immer mit der Zurücknahme des eigenen ausschließlichen Herrschaftsanspruchs des Stationierungslandes verbunden. Insofern reicht dieses vom Bundesverfassungsgericht ausgeführte Kriterium allein nicht aus, um die Anwendbarkeit von Art. 24 Abs. 1 GG zu erklären. Der Unterschied zu herkömmlichen Bündnisverpflichtungen liegt im Falle der Stationierung von atomaren Mittelstreckenraketen und Chemiewaffen in dem hohen Gefährdungspotential dieser modernen Waffen für die Bevölkerung im Stationierungsland. Die Gefährdung erhöht sich zudem durch die Wahrscheinlichkeit entsprechender Vergeltungsschläge des militärischen Gegners nach dem Einsatz solcher Waffen. Diese erhöhte Gefahr für Leib, Leben und letztlich die Existenz der eigenen Bevölkerung, die mit dem Entscheidungsrecht des amerikanischen Präsidenten über den Waffeneinsatz von deutschem Gebiet aus verbunden ist, scheint für das Gericht das eigentlich ausschlaggebende Kriterium gewesen zu sein, hier den Art. 24 Abs. 1 GG anzuwenden. Damit greift es bei der Auslegung des Art. 24 Abs. 1 GG - ohne dies ausdrücklich kenntlich zu machen - auf Grundgedanken der Wesentlichkeitstheorie zurück.72 Die Unterwerfung unter eine Entscheidung fremder Hoheitsgewalt, deren Auswirkungen für die Bundesrepublik Deutschland und ihre Bürger von wesentlicher, nämlich existentieller Bedeutung sind und zu faktischen Grundrechtseingriffen führen können, kommt nach der Auffassung des Gerichts in ihrer Rechtswirkung einer Übertragung von Hoheitsrechten gleich.73 Schon die Formulierung, daß die Zustimmung der Bundesregierung zur Stationierung der Mittelstreckenraketen wegen ihrer Tragweite für den einzelnen und den Staat insgesamt einem Übertragungsvorgang gleichzuset71
Vgl. Eckertz (Fn. 69), 168; Rauschning (Fn. 69),866 f. Vgl. Bryde (Fn. 69), 368; Randelzhofer, in: Maunz/Dürig, GG, Art. 241, Rz. 42; Tomuschat, in: BK, Art. 24, Rz. 113a, 161; Rauser, Karl Th., Die Übertragung von Hoheitsrechten auf ausländische Staaten, München 1991,43 f. 73 BVerfGE 68, 1 (91). 72
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Kap. 1, Β. Die Funktionen des Artikels 24 Abs. 1 GG im einzelnen
zen sei, läßt folgenden Schluß zu: Es handelt sich bei der Zustimmung der Regierung nicht eigentlich um eine „Übertragung von Hoheitsrechten", sondern lediglich um einen Rechtsakt, der in seinen rechtlichen und faktischen Auswirkungen einer Hoheitsrechtsübertragung gemäß Art. 24 Abs. 1 GG vergleichbar ist. Bemerkenswert ist, daß das Bundesverfassungsgericht unter Rückgriff auf die Wesentlichkeitstheorie einerseits den Gesetzesvorbehalt des Art. 24 Abs. 1 GG auf bestimmte Akte der auswärtigen Gewalt ausdehnte. Andererseits lehnte es nämlich die Anwendbarkeit der Wesentlichkeitstheorie im Bereich der auswärtigen Gewalt unter Hinweis auf die „insoweit abschließende Regelung" in Art. 59 Abs. 2 S. 1 und Art. 24 Abs. 1 GG ab. Begründet wurde dies mit der zutreffenden Erwägung, das Grundgesetz kenne weder einen Totalvorbehalt des Gesetzes noch eine Kompetenzregel, die besage, daß alle „objektiv wesentlichen" Entscheidungen vom Gesetzgeber zu treffen seien.74 Rauser hat die dem Urteil zum NATO-Doppelbeschluß zugrundeliegenden Erwägungen eingehend untersucht und ein Konzept ausgearbeitet, das den Anwendungsbereich des Art. 24 Abs. 1 GG um eine zweite Fallgruppe erweitert. Ausgangspunkt seiner Darlegungen ist die Überlegung, daß vor allem im Kontext völkerrechtlicher Bindungen eine genauere Bestimmung der Wirkkraft der Grundrechte notwendig sei. Um dem Geltungsanspruch der Grundrechte auch im Bereich der auswärtigen Gewalt gerecht zu werden, müßten unter dem Gesichtspunkt der „funktionsgerechten Organstruktur" alle die Grundrechte berührenden Fragen bei „gleichzeitigem Entzug der exekutivischen Machtvollkommenheit" dem Parlament zugewiesen werden.75 Zur Verwirklichung dieses Zieles untersucht Rauser die einschlägigen Bestimmungen, Art. 59 Abs. 2 und Art. 24 Abs. 1 GG, daraufhin, ob sie einer entsprechenden Auslegung im Lichte der Wesentlichkeitstheorie zugänglich sind. Er kommt in Anlehnung an die Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts zum NATO-Doppelbeschluß zu dem Ergebnis, daß der Anwendungsbereich des Art. 59 Abs. 2 S. 1 GG wegen des eindeutigen Wortlautes und auch unter dem Gesichtspunkt der funktionsgerechten Organstruktur nicht auf einseitige völkerrechtliche Akte mit Grundrechtsrelevanz ausgedehnt werden könne. Dagegen sei Art. 24 Abs. 1 GG wegen seines interpretationsbedürftigen Wortlautes eine „offene Regelung", „deren Ergänzung um die Fallgruppe unmittelbar faktisch wirkender Akte fremder Hoheitsgewalt ihrer Eigenart" entspreche.76 Neben das Kriterium des rechtlichen Durchgriffseffektes tritt also eine faktische
74 75 76
Ebenda, 109. Rauser (Fn. 72), 84,90,95. Ebenda, 97.
I. Durchgriffseffekt als entscheidendes Kriterium des Art. 24 Abs. 1 G G 5 7
Durchgriffswirkung. 77 Der Gefahr eines vollkommenen Verlustes der Abgrenzungsfunktion des Art. 24 Abs. 1 GG versucht er dadurch zu begegnen, daß er die zu berücksichtigenden faktischen Grundrechtseinwirkungen anhand bestimmter Kriterien eingrenzt. Im Ergebnis - so Rauser - liege eine Übertragung von Hoheitsrechten auch dann vor, „wenn dem Übertragungsakt die Ermächtigung zu schlicht-hoheitlichem Handeln innewohnt, das die vorhersehbare Gefahr von faktischen Grundrechtseingriffen birgt, wobei die im Einzelfall vorzunehmende Bewertung der notwendigen Relevanz dieser Gefahr nach den Parametern Wahrscheinlichkeit ihrer Verwirklichung, Art und Schwere des drohenden Eingriffs, Bedeutung des gefährdeten Rechtsguts vorzunehmen ist".78 Mit diesem Konzept gelingt es Rauser, die Entscheidungen des Bundesverfassungsgerichts zum NATO-Doppelbeschluß und zu den Chemiewaffen auf eine dogmatische Grundlage zu stellen und in ein Gesamtkonzept einzupassen, das dem Parlament auch im Bereich der auswärtigen Gewalt erweiterte Mitwirkungsmöglichkeiten einräumen möchte.79 Seinem Versuch, den Tatbestand des Art. 24 Abs. 1 GG neu zu bestimmen bzw. im Wege der Auslegung um eine zweite Fallgruppe zu ergänzen, ist jedoch folgendes entgegenzuhalten: Die Funktion des Art. 24 Abs. 1 GG als Gesetzesvorbehalt wird überbetont. Im Grunde genommen geht es darum, ein als notwendig erkanntes Ziel, nämlich die parlamentarische Mitwirkung auch bei einseitigen völkerrechtlichen Akten mit Grundrechtsrelevanz, durch Instrumentalisierung einer Bestimmung zu erreichen, die die Befugnisse von Exekutive und Legislative im Bereich der auswärtigen Gewalt abgrenzt. Artikel 59 Abs. 2 GG kam schon wegen seines eindeutigen Wortlautes nicht in Betracht. Zudem hatte das Bundesverfassungsgericht seine analoge Anwendung auf einseitige Akte unter Rückgriff auf den Gewaltenteilungsgrundsatz und seine konkrete Ausgestaltung im Bereich der auswärtigen Gewalt abgelehnt.80 Dagegen bot sich Art. 24 Abs. 1 als ohnehin auslegungsfähige und -bedürftige Vorschrift für eine entsprechende Ergänzung an. Die erweiterte Auslegung im Sinne der Wesentlichkeitstheorie steht aber mit der eigentlichen verfassungsrechtlichen Aufgabe dieser Vorschrift, der Bundesrepublik Deutschland die Mitwirkung in supranationalen Organisationen zu ermöglichen, nicht im Einklang. Ziel des Art. 24 Abs. 1 GG ist es, die verfassungsrechtlichen Voraussetzungen für eine besonders intensive internationale Kooperation zu schaffen, die sich eben - im Unterschied zu anderen Kooperationsformen - gerade durch ein „Mehr" an Rechtsmacht für 77 78 79 80
Ebenda, 108. Ebenda, 109. So auch Randelzhofer, BVerfGE 68, 1 (84 ff.).
in: Maunz/Dürig, GG, Art. 241, Rz. 42.
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Kap. 1, Β. Die Funktionen des Artikels 24 Abs. 1 GG im einzelnen
die zwischenstaatliche Einrichtung auszeichnet.81 Die von Rauser so bezeichnete „faktische Durchgriffswirkung" ist aus diesem Grunde nicht gleichzusetzen mit der rechtlichen Durchgriffswirkung, die den Rechtsakten zwischenstaatlicher Einrichtungen im Sinne von Art. 24 Abs. 1 GG zukommt. Diese faktischen Beeinträchtigungen, die er - dem Bundesverfassungsgericht folgend - unter Art. 24 Abs. 1 GG subsumiert, unterscheiden sich zudem lediglich in ihrer Intensität von denen, die schon bisher mit der Ausübung fremder Hoheitsgewalt im Rahmen der Bündnisverträge verbunden waren. Man denke nur an die bei der Durchführung von Geländeübungen verursachten Schäden für die Land- und Forstwirte. Letztere sind unstreitig als von der Zustimmung zu den Verträgen gemäß Art. 59 Abs. 2 S. 1 GG umfaßt angesehen worden. Es wird nicht klar, warum bestimmte faktische Einwirkungen, die sich zwar quantitativ, nicht aber qualitativ von anderen unterscheiden, dem Art. 24 Abs. 1 GG zugeordnet werden sollen. Da es keinen qualitativen Unterschied gibt, kommt Art. 24 Abs. 1 GG im Verhältnis zu Art. 59 Abs. 2 GG nach Rausers Ansatz keine eigenständige Funktion zu.82 Schließlich ist die Abgrenzung nach der Wesentlichkeitstheorie zwischen wesentlichen und unwesentlichen faktischen Beeinträchtigungen äußerst schwierig. Um diesem Einwand zu begegnen, arbeitet Rauser einige Abgrenzungskriterien heraus, die eine Einschränkung leisten und den erweiterten Tatbestand des Art. 24 Abs. 1 GG handhabbar machen sollen. Doch auch diese Kriterien - Wahrscheinlichkeit der Verwirklichung einer Gefahr von faktischen Grundrechtseingriffen, Art und Schwere des drohenden Eingriffs, Bedeutung des gefährdeten Rechtsguts83 - bedürfen ihrerseits der Auslegung und Abwägung im Einzelfall. Letztlich kommt es - worauf schon Randelzhofer zutreffend hingewiesen hat84 - nach den bisherigen Erfahrungen mit der Rechtsprechung zur Wesentlichkeitstheorie darauf an, was das Bundesverfassungsgericht für „wesentlich" erachtet. Eine sichere Abgrenzung ist mit diesen Kriterien also nicht zu erreichen. Zusammenfassend führt die Anwendung der Wesentlichkeitstheorie auf Art. 24 Abs. 1 GG zu einer Überbetonung seiner Funktion als Gesetzesvorbehalt zu Lasten seiner spezifischen Integrationsfunktion sowie einer „weitgehenden Verwischung seiner bisher klaren Konturen".85 Aus diesem Grunde ist der von Rauser vertretene Ansatz - und damit auch die Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts in den Entscheidungen zu NATO-Doppelbeschluß und Chemiewaffen 81 82 83 84 85
Zu den Zielen des Art. 24 Abs. 1 GG siehe oben Kap. 1, Α. I. 2. a), b). Siehe unten Kap. 1, Β. II. 2. b). Rauser (Fn. 72), 107, 109. Randelzhofer, in: Maunz/Dürig, GG, Art. 241, Rz. 42. Ebenda.
II. Ermächtigung zur „Übertragung von Hoheitsrechten"
59
abzulehnen. Der Durchgriffseffekt, d. h. die unmittelbare innerstaatliche Geltung des Rechts der zwischenstaatlichen Einrichtung, bleibt somit das entscheidende Kriterium für die Anwendbarkeit von Art. 24 Abs. 1 GG.
Π. Ermächtigung zur „Übertragung von Hoheitsrechten" Art. 24 Abs. 1 GG wird häufig als Ermächtigung zur Übertragung von Hoheitsrechten bezeichnet.86 Tomuschat ist der Auffassung, daß die Übertragung von Hoheitsrechten auf eine zwischenstaatliche Einrichtung über die normale Ausübung der Vertragsschlußgewalt nach Art. 32 Abs. 1, 59 Abs. 2 GG hinausgehe und daher einer besonderen verfassungsrechtlichen Zulassung bedürfe. 87 Kaiser kennzeichnet Art. 24 Abs. 1 GG als Ermächtigung zur „internationalen Verfassungsgebung"88; H. P. Ipsen sieht darin eine Ermächtigung zur Teilnahme am „Gesamtakt staatlicher Integrationsgewalt"89. Um feststellen zu können, ob mit diesen Begriffen die Funktionen des Art. 24 Abs. 1 GG treffend umschrieben sind, bedarf es einer genaueren Darstellung der Vorgänge, die sich hinter dem „Übertragungsvorgang" verbergen.
1. Keine „ Übertragung " im wörtlichen Sinne Bei dem Versuch einer juristischen Klärung des Vorgangs, der mit den Worten „Übertragung von Hoheitsrechten" umschrieben wird, hat anfangs ein Teil der Lehre auf zivilrechtliche Erklärungsmuster zurückgegriffen. 90 Die zivilistische
86
Vgl. nur Tomuschat, in: BK, Art. 24, Rz. 4; Randelzhofer, in: Maunz/Dürig, GG, Art. 241, Rz. 6 ff., jeweils m. w. N. 87 Tomuschat, in: BK, Art. 24, Rz. 4. 88 Kaiser, Joseph H., Bewahrung und Veränderung demokratischer und rechtsstaatlicher Verfassungsstruktur in den international Gemeinschaften, VVDStRL 23 (1966), 1-33 (18). 89 Ipsen, Europäisches Gemeinschaftsrecht, 61 f.; mit diesem Begriff kennzeichnet Ipsen „die gleichgerichtete Zielsetzung der Gründerstaaten, die sich nicht obligatorisch in ihrer Willenseinigung erschöpft", sondern die Schaffung einer Rechtsordnung umfaßt, „die außerhalb der Staaten existiert und ihnen gegenüber selbständig wirkt". 90 Vgl. dazu Tomuschat, in: BK, Art. 24, Rz. 15; Ruppert, Andreas, Die Integrationsgewalt, Hamburg 1969, 84 ff.; Ter-Nedden, Jürg, Schranken der Übertragung von Hoheitsrechten auf zwischenstaatliche Gemeinschaften nach dem Grundgesetz, Bonn 1965,14 ff.;
60
Kap. 1, Β. Die Funktionen des Artikels 24 Abs. 1 GG im einzelnen
Sicht des Übertragungsvorgangs führte zu dem Ergebnis, daß sich die Hoheitsrechte der zwischenstaatlichen Einrichtung wie ein Mosaik aus den Splittern der abgetretenen nationalen Hoheitsrechte zusammensetzten.91 Nach dieser Sicht verfügte also die zwischenstaatliche Einrichtung nur über eine abgeleitete Gewalt. Die Mitgliedstaaten als Zedenten verloren ihre Hoheitsrechte endgültig, wenn diese nicht als ein Minus nur zur Ausübung übertragen waren.92 Des weiteren wurde auf der Grundlage des Rechtssatzes nemo plus iuris transferre potest quam ipse habet nach der sog. „Hypothekentheorie" die Auffassung vertreten, daß der zwischenstaatlichen Einrichtung die staatlichen Hoheitsrechte mit allen ihnen anhaftenden - aus dem nationalen Recht folgenden - Beschränkungen übertragen würden. Demzufolge könne die Bundesrepublik nur an die Grundrechte gebundene Hoheitsrechte übertragen.93 Diese Auffassungen sind im Schrifttum 94 und auch in der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts 95 auf breite Ablehnung gestoßen. Schon ein kurzer Blick auf die Praxis der Europäischen (Wirtschafts-) Gemeinschaft zeigt, daß diese Theorien das Phänomen des Gemeinschaftsrechts und sein Verhältnis zum innerstaatlichen Recht nicht befriedigend erklären können. Die Hoheitsgewalt der Gemeinschaft stellt nicht die Summe der von den Bross, Johann-Michael, Die Bedeutung des Grundsatzes der Demokratie für die Wirksamkeit europagemeinschaftlicher Sekundärrechtsnormen im Bereich der Bundesrepublik Deutschland, Kiel 1971, 30 ff., jeweils m. w. N. Ausführlich zu den unterschiedlichen Erklärungsversuchen Flint, Thomas, Die Übertragung von Hoheitsrechten, Zur Auslegung der Art. 23 Abs. 1 Satz 2 und Art. 24 Abs. 1 GG, Berlin 1998, 15 ff. 91 Vgl. Tomuschat, in: BK, Art. 24, Rz. 15; ähnlich Bross (Fn. 90), 31; Ter-Nedden (Fn. 90), 15. 92 So insbesondere Klein, Karl Heinz, Die Übertragung von Hoheitsrechten, Berlin 1952,28 ff., 33; vgl. auch Forsthoff, in: Der Kampf um den Wehrbeitrag, 2. Hbd. (Fn. 20), 330 und Ophüls, Carl F., Staatshoheit und Gemeinschaftshoheit. Wandlungen des Souveränitätsbegriffs, in: Ule, Carl Hermann u. a. (Hrsg.), Recht im Wandel, Festschrift 150 Jahre Carl Heymanns Verlag KG, Köln u. a. 1965,519-590 (570 f.), der aber die Gemeinschaftsrechtsordnung als originär und von der Staatshoheit unabhängig kennzeichnet. 93 So insbesondere Küchenhoff, Dietrich, Grundrechte und europäisches Staatengemeinschaftsrecht, DÖV 1963,161-168 (165 f.); ähnlich Grämlich (Fn. 19), 148 f. 94 Vgl. Tomuschat, in: BK, Art. 24, Rz. 15, 62; Randelzhofer, in: Maunz-Dürig, GG, Art. 24 I, Rz. 55, 56; Badura, Peter, Bewahrung und Veränderung demokratischer und rechtsstaatlicher Verfassungsstruktur in den internationalen Gemeinschaften, VVDStRL 23 (1966), 34-104, 54 f.; Rojahn, in: von Münch/Kunig, GG, Art. 24, Rz. 11; Stern, Staatsrecht I, § 15, 523 f.; Zuleeg, in: AK-GG, Art. 24 I, Rz. 21, jeweils m. w. N. Kritisch gegenüber der h. M. Flint (Fn. 90), 37, der ihren Vertretern vorwirft, sich nicht hinreichend mit der dogmatischen Struktur des Art. 24 Abs. 1 GG auseinandergesetzt zu haben. 95 So ausdrücklich BVerfGE 37, 271 (279): „Art. 24 GG spricht von der Übertragung von Hoheitsrechten auf zwischenstaatliche Einrichtungen. Das kann nicht wörtlich genommen werden."
II. Ermächtigung zur „Übertragung von Hoheitsrechten"
61
einzelnen Mitgliedstaaten abgetretenen Hoheitsrechte dar.96 Vielmehr ist mit der Schaffung der Europäischen (Wirtschafts-)Gemeinschaft ein neuer Hoheitsträger entstanden, der über eigene Hoheitsrechte verfügt, die er durch seine Organe und nach den dafür vorgesehenen Verfahren wahrnimmt.97 So kann die Gemeinschaft beispielsweise im Bereich des Wirtschaftsverkehrs oder des Umweltschutzes Regelungen treffen, die die einzelnen Mitgliedstaaten zuvor gar nicht einseitig hätten erlassen können. Gerade das Hinausgreifen der Hoheitsbefugnisse der Gemeinschaft über die einzelstaatlichen Befugnisse erfüllt den Sinn und Zweck der engen Zusammenarbeit der Mitgliedstaaten. In vielen Bereichen ist nur so eine Lösung gemeinsamer grenzüberschreitender Probleme zu erreichen. Gegen die sog. Hypothekentheorie spricht zudem, daß sie - konsequent zu Ende gedacht zu dem Ergebnis führte, daß die Gemeinschaftsorgane bei der Rechtsetzung die Grundrechte und andere verfassungsrechtliche Beschränkungen sämtlicher Mitgliedstaaten berücksichtigen müßten. Dieses Erfordernis würde eine supranationale Rechtsetzung unmöglich machen. Im Ergebnis wird also der zivilrechtliche Ansatz den Besonderheiten der Entstehung und Ausübung supranationaler Hoheitsgewalt nicht gerecht.
2. Völker- und verfassungsrechtliche
Elemente des Übertragungsvorgangs
Anders als eine am Wortlaut orientierte Auslegung vermuten ließe, erschöpft sich der Übertragungsakt nicht im Erlaß eines staatlichen Gesetzes. Zudem ist Art. 24 Abs. 1 GG nicht so zu verstehen, als ermächtige er - in Abweichung von der in Art. 59 GG geregelten Kompetenzverteilung zwischen den Bundesorganen im Bereich der auswärtigen Gewalt - allein den Gesetzgeber zur Übertragung von Hoheitsrechten. Der Übertragungsvorgang setzt sich vielmehr aus zwei Akten zusammen, die zum einen auf der Ebene des Völkerrechts und zum anderen auf der Ebene des Verfassungsrecht vorgenommen werden.98 96 Darauf wies bereits Erich Kaufmann in seinem Gutachten zum Wehrbeitrag (Fn. 20), 42-71, hin. Das „Übertragen" des Art. 24 Abs. 1 sei daher nicht als „transférer" im Sinne einer „Transferierung" von nationalen Hoheitsrechten auf internationale Organisationen zu verstehen (54), sondern könne nur „ein Betrauen oder eine Ausstattung, ein »confier* oder .attribuer* bedeuten" (55). 97 Vgl. statt aller Tomuschat, in: BK, Art. 24, Rz. 17, 72; Randelzhofer, in: Maunz/ Dürig, GG, Art. 241, Rz. 55 f., jeweils m. w. N. 98 So schon Kaufmann, in: Der Kampf um den Wehrbeitrag, 2. Hbd. (Fn. 20), 49; die Zweistufigkeit des Übertragungsvorganges wird heute allgemein vertreten, vgl. z. B. Ipsen, Europäisches Gemeinschaftsrecht, 60; Tomuschat, in: BK, Art. 24, Rz. 26; Randelzhofer, in: Maunz/Dürig, GG, Art. 24 I, Rz. 60-62; Streinz, Rudolf, Bundesverfassungsgericht-
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Kap. 1, Β. Die Funktionen des Artikels 24 Abs. 1 GG im einzelnen
a) Schaffung der zwischenstaatlichen Einrichtung durch völkerrechtlichen Vertrag aa) Der völkerrechtliche Vertrag als Grundlage der Entstehung einer neuen autonomen Hoheitsgewalt Am Beginn des „Übertragungsaktes" steht eine völkerrechtliche Übereinkunft der beteiligten Staaten, auf deren Grundlage eine zwischenstaatliche Einrichtung oder ein sonstiges gemeinsames Organ gegründet und mit Hoheitsrechten ausgestattet wird. Es ist im Schrifttum bereits strittig, ob es hierzu immer eines völkerrechtlichen Vertrages bedarf. Ruppert ist der Auffassung, daß „aus dem Wortlaut des Grundgesetzes beim besten Willen nicht entnommen werden [kann], daß zur Bildung einer originären Gewalt im Rahmen des Übertragungsvorganges ein völkerrechtlicher Vertrag erforderlich sein soll". Er hält auch ein „spontanes Zusammenwirken von Staaten und Völkern zur Ausbildung einer originären Gewalt" für möglich." Fastenrath hält einen „völkerrechtsförmlichen Akt", nicht aber eine vertragliche Basis für erforderlich. 100 Diese Meinungsverschiedenheiten führen nicht zu unterschiedlichen Ergebnissen. Ausschlaggebend ist in jedem Fall die Willensübereinstimmung der betroffenen Staaten, einer zwischenstaatlichen Einrichtung eigene Hoheitsrechte einzuräumen. Gerade diese ist das entscheidende Kriterium für das Vorliegen eines völkerrechtlichen Vertrages, der ansonsten keiner bestimmten Form bedarf. 101 Da solche Hoheitsrechte regelmäßig auf bestimmte Sachbereiche beschränkt und gegenüber staatlichen Hoheitsrechten abgegrenzt werden müssen, ist schwer vorstellbar, wie dies ohne vertragliche Grundlage geregelt werden sollte. Es ist also mit der herrschenden Meinung davon auszugehen, daß dem Übertragungsvorgang ein völkerrechtlicher Vertrag
licher Grundrechtsschutz und Europäisches Gemeinschaftsrecht, Baden-Baden 1989, 154 ff.; Rojahn, in: von Münch/Kunig, GG, Art. 24, Rz. 24 ff.; Zuleeg, in: AK-GG, Art. 24 Abs. 1, Rz. 30. 99 Ruppert, Integrationsgewalt (Fn. 90), 200, 201. 100 Fastenrath, Ulrich, Kompetenzverteilung im Bereich der auswärtigen Gewalt, München 1986, 86, Fn. 388. 101 Vgl. dazu Verdross, Alfred/Simma, Bruno, Universelles Völkerrecht, 3. Aufl., Berlin 1984, § 534, wo es heißt: „Unter einem völkerrechtlichen Vertrag verstehen wir eine ausdrückliche oder durch konkludente Handlungen zustandegekommene, vom Völkerrecht bestimmte Willenseinigung zwischen zwei oder mehreren Staaten oder anderen Völkerrechtssubjekten, in denen sich diese zu bestimmten einseitigen oder korrespondierenden, gleichen oder verschiedenen, einmaligen oder wiederholten Leistungen, Unterlassungen oder Duldungen verpflichten."
II. Ermächtigung zur „Übertragung von Hoheitsrechten"
63
zugrunde liegen muß.102 Nach dem Völkerrecht steht es den Staaten frei, internationale Organisationen oder sonstige Einrichtungen zu errichten und mit Hoheitsrechten auszustatten.103 Die Feststellung, daß der EG/EU völkerrechtliche Verträge zugrunde liegen, hat im Schrifttum zu einem Streit darüber geführt, welche Konsequenzen daraus zu ziehen seien. Dieser Streit hatte Bedeutung für die Frage, ob die auf völkerrechtlichen Gründungsverträgen beruhende Gemeinschaftsrechtsordnung als autonome Rechtsordnung qualifiziert werden könne oder ob sie allein vom Willen der Mitgliedstaaten abhängig sei und von diesen nach den Regeln des allgemeinen Völkerrechts beliebig geändert werden könne. Heute ist nahezu allgemein anerkannt, daß durch den gemeinsamen Gründungsakt ein neuer autonomer Hoheitsträger geschaffen worden ist, dessen Hoheitsrechte originär, d. h. zwar von den Mitgliedstaaten eingeräumt, aber von ihrer staatlichen Hoheitsgewalt verschieden sind und kraft eigener Rechtsmacht ausgeübt werden können.104 In diesem Sinne ist supranationale Hoheitsgewalt zugleich abgeleitet von den Mitgliedstaaten und doch originär. 105 Hans Peter Ipsen hat die Autonomie der Gemeinschaftsrechtsordnung mit der sog. „Gesamtaktstheorie" begründet. Als „Gesamtakt staatlicher Integrationsgewalt" wird die gleichgerichtete Zielsetzung der Gründerstaaten bezeichnet, durch die Schöpfung der Gemeinschaften eine Rechtsordnung zu errichten, die außerhalb der Staaten existiert und ihnen gegenüber selbständig wirkt. 106 Nach seiner Ansicht führt dieser „Gesamtakt" zu einer Loslösung des Gemeinschaftsrechts von seiner völkerrechtlichen Grundlage, was zu einer Unanwendbarkeit des Völkerrechts führt. 107 Diese Auffassung überzeugt allerdings nicht. Sie gibt keine 102
Tomuschat, in: BK, Art. 24, Rz. 26,27; Randelzhofer, in: Maunz/Dürig, GG, Art. 241, Rz. 61; Rojahn, in: von Münch/Kunig, GG, Art. 24, Rz. 14, 24; Grewe, Wilhelm G„ Auswärtige Gewalt, in: HStR III (1996), § 77, Rz. 76; Geiger, Grundgesetz und Völkerrecht, § 27, 140 f.; für die entsprechende österreichische Verfassungsbestimmung ebenso Griller, Stefan, Die Übertragung von Hoheitsrechten auf zwischenstaatliche Einrichtungen - Eine Untersuchung zu Art. 9 Abs. 2 des Bundes-Verfassungsgesetzes, Wien u. a. 1989,322. 103 Vgl. Mosler, in: HStR VII (1992), § 175, Rz. 23; Seidl-Hohenveldern, Ignaz/Loihl, Gerhard, Das Recht der Internationalen Organisationen einschließlich der Supranationalen Gemeinschaften, 6. Aufl., Köln u. a. 1996, Rz. 0309. 104 Vgl. statt aller Tomuschat, in: BK, Art. 24, Rz. 17; Randelzhofer, in: Maunz/Dürig, GG, Art. 241, Rz. 55 m. w. N. 105 So Tomuschat, in: BK, Art. 24, Rz. 15, 17; Hertel, Wolfram, Supranationalität als Verfassungsprinzip, Berlin 1999,138. 106 Ipsen, Europäisches Gemeinschaftsrecht, 61 f. 107 Ebenda, 59; so im Ergebnis auch Schwarze, Jürgen, Das allgemeine Völkerrecht in den innergemeinschaftlichen Rechtsbeziehungen, EuR 1983, 1-39 (33 ff.), m. w. N. Kri-
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Kap. 1, Β. Die Funktionen des Artikels 24 Abs. 1 GG im einzelnen
Erklärung dafür, warum unstreitig dem Völkerrecht zuzuordnende Verträge zwischen den Mitgliedstaaten ihren völkerrechtlichen Charakter verlieren sollen.108 Eine solche völlige Loslösung vom Völkerrecht ist auch nicht erforderlich, um die Autonomie der Gemeinschaftsrechtsordnung gegenüber den Rechtsordnungen der Mitgliedstaaten zu begründen. Sie läßt sich vielmehr zum einen zurückführen auf die vertraglich vereinbarte Ausstattung der Gemeinschaftsorgane mit der Befugnis, in den Mitgliedstaaten unmittelbar geltende Rechtsakte zu erlassen. Zum anderen haben die Errichtung des EuGH und die von ihm entwickelte Rechtsprechung maßgeblich zu der Anerkennung des autonomen Charakters sowohl des primären als auch des sekundären Gemeinschaftsrechts beigetragen.109 Die Anerkennung der Gründungsverträge als völkerrechtliche Verträge steht deshalb weder der Autonomie des europäischen Rechts entgegen, noch werden damit die Besonderheiten dieser Rechtsordnung verkannt oder geleugnet.
bb) Der Verfassungscharakter
des europäischen Primärrechts
Im Falle der Europäischen Gemeinschaften (E(W)G, EGKS und Euratom) wurden die im Zuge fortschreitender Integration veränderten und ergänzten Gründungsverträge und andere grundlegende Akte des europäischen Primärrechts im europarechtlich ausgerichteten Schrifttum häufig als „Verfassung" bezeichnet.110
tisch dazu Bleckmann, Europarecht, § 11, Rz. 1080 ff.; Griller (Fn. 102), 316 ff.; Streinz, Bundesverfassungsgerichtlicher Grundrechtsschutz (Fn. 98), 94 ff. 108 So auch Griller (Fn. 102), 319 f. Ein Erklärungsversuch auf der Grundlage der Reinen Rechtslehre Hans Kelsens und Adolf Merkls findet sich bei Grussmann, Wolf-Dietrich Grundnorm und Supranationalität - Rechtsstrukturelle Sichtweisen der europäischen Integration, in: von Danwitz, Thomas u. a. (Hrsg.), Auf dem Wege zu einer Europäischen Staatlichkeit, 33. Tagung der Wissenschaftlichen Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter der Fachrichtung „Öffentliches Recht", Stuttgart u. a. 1993,47-64 (58 ff.), der die sowohl vom Völkerrecht als auch von den nationalen Rechtsordnungen der Mitgliedstaaten unabhängige Geltung des Gemeinschaftsrechts auf eine eigene supranationale „Grundnorm" zurückführt. 109 Frowein, Jochen Ahr., Die Verfassung der Europäischen Union aus der Sicht der Mitgliedstaaten, EuR 1995, 315-333 (317 f.). 110 Vgl. beispielsweise Oppermann, Thomas, Europarecht (zitiert: Oppermann, Europarecht), 2. Aufl., München 1999, § 6, Rz. 473, 475; Ipsen, Europäisches Gemeinschaftsrecht, 64; Zuleeg, in: G/T/E, Art. 1 EGV, Rz. 10; Beutler, Bengt, in: BBPS, 50 f.; Schwarze, Jürgen, Verfassungsentwicklung in der Europäischen Gemeinschaft, in: Schwarze, Jürgen/Bieber, Roland (Hrsg.), Eine Verfassung für Europa, Baden-Baden 1984, 15-48 (23 ff.); Pescatore, Pierre, Die Gemeinschaftsverträge als Verfassungsrecht - ein Kapitel Verfassungsgeschichte in der Perspektive des europäischen Gerichtshofs, systematisch geordnet, in: Grewe, Wilhelm G./Rupp, Hans H./Schneider, Hans (Hrsg.), Europäische
II. Ermächtigung zur „Übertragung von Hoheitsrechten"
65
Diese Auffassung findet Rückhalt in der Rechtsprechung des EuGH. Nach dessen Ansicht „stellt der EWG-Vertrag, obwohl er in der Form einer völkerrechtlichen Übereinkunft geschlossen wurde, nichtsdestoweniger die grundlegende Verfassungsurkunde einer Rechtsgemeinschaft dar". 111 Konsequenterweise wird der Vertrag von Maastricht von den Vertretern dieser Richtung als Verfassung der Europäischen Union charakterisiert. 112 Im eher staatsrechtlich ausgerichteten Schrifttum wird demgegenüber der Verfassungscharakter der Gründungsverträge - zumeist unter Hinweis auf ihre völkerrechtliche Natur und die dadurch beGerichtsbarkeit und nationale Verfassungsgerichtsbarkeit, Festschrift zum 70. Geburtstag von Hans Kutscher, Baden-Baden 1981, 319-338 (335 f.); Bernhardt, Wilfried, Verfassungsprinzipien - Verfassungsgerichtsfunktionen - Verfassungsprozeßrecht im EWGVertrag, Berlin 1987, 52 ff.; Frowein, Jochen Abr., Die Herausbildung europäischer Verfassungsprinzipien, in: Kaufmann, Arthur/Mestmäcker, Ernst-Joachim/Zacher, Hans F. (Hrsg.), Rechtsstaat und Menschenwürde, Festschrift für Werner Maihofer zum 70. Geburtstag, Frankfurt a. M. 1988,149-158 (149 f.), spricht von „europäischen Teilverfassungen auf wichtigen Gebieten", zu denen er die Gründungsverträge der Europäischen Gemeinschaft und grundlegende Rechtsakte sowie die Europäische Menschenrechtskonvention zählt; ders., Verfassungsperspektiven der Europäischen Gemeinschaft, EuR Beih. 1/1992, 63-77 (65 f.). 111 Gutachten 1/91 v. 14.12.1991, Slg. 1991,1-6079 (6102, Rz. 21); zuvor schon die Rs. 294/83 (Les Verts ./. Eur. Pari.), Slg. 1986,1339 (1365, Rz. 23). Vgl. zu dem EWR-Gutachten Heintzen, Markus, Hierarchisierungsprozesse innerhalb des Primärrechts der Europäischen Gemeinschaft, EuR 1994, 35-49 (37 ff.). 112 Vgl. von Bogdandy, Arnim, Skizzen einer Theorie der Gemeinschaftsverfassung, in: von Danwitz u. a., Europäische Staatlichkeit (Fn. 112), 9-29 (24 ff.); Curtin, Deidre, The Constitutional Structure of the Union: A Europe of Bits and Pieces, CMLR 30 (1993), 17-69 (18,30 ff.); Frowein, Verfassung der EU (Fn. 109), 319 et passim ; Harden, Ian, The Constitution of the European Union, Public Law 1994, 609-624 (610 et passim ); Hartley, Trevor C, Constitutional and Institutional Aspects of the Maastricht Agreement, ICLQ 42 (1993), 213-237; Kaufmann, Marcel, Europäische Integration und Demokratieprinzip, Baden-Baden 1997,143 ff., der allerdings ausdrücklich auf den grundlegenden strukturellen Unterschied zwischen der Unionsverfassung und ihrem staatlichen Vorbild verweist; Pernice, Ingolf, Multilevel Constitutionalism and the Treaty of Amsterdam: European Constitution-Making Revisited?, CMLR 1999,703-750 (707 et passim); ders., in: Dreier, Horst (Hrsg.), Grundgesetz, Kommentar, Tübingen 1998 (im folgenden: Dreier, GG), Art. 23, Rz. 20; Rodriguez Iglesias, Gil Carlos, Zur „Verfassung" der Europäischen Gemeinschaft, EuGRZ 1996,125-131 (125); Tomuschat, Christian, Die Zukunft der Europäischen Union und die Gleichheit ihrer Mitgliedstaaten, in: Magiera, Siegfried/Meessen, Karl M./Meyer, Hans (Hrsg.), Politik und Recht, Gedächtnissymposium für Wilhelm A. Kewenig, Baden-Baden 1996, 111-120 (112 et passim ); wohl auch Beutler, Bengt, Offene Staatlichkeit und europäische Integration, in: Grawert, Rolf/Schlink, Bernhard/Wahl, Rainer/Wieland, Joachim (Hrsg.), Offene Staatlichkeit, Festschrift für Ernst-Wolfgang Böckenförde zum 65. Geburtstag, Berlin 1995, 109-124 (120); ders., in: G/T/E, Art. F EUV, Rz. 7 f., der zwischen Gemeinschafts- und Unionsverfassung differenziert und auf die konzeptionellen und strukturellen Defizite einer einheitlichen Unionsverfassung hinweist. 5 König
Kap. 1, Β. Die Funktionen des Artikels 24 Abs. 1 GG im einzelnen
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dingten Unterschiede zu staatlichen Verfassungen - verneint.113 Die Kategorisierung der Gründungsverträge und anderer grundlegender Rechtsakte der Union ist nicht nur ein Streit um Begriffe. Je nachdem, was unter dem Begriff „Verfassung" in bezug auf die Europäische Union verstanden wird, werden aus dieser Charakterisierung Schlüsse auf den Geltungsgrund und den Vorrang des Gemeinschaftsbzw. Unionsrechts vor dem (Verfassungs-)Recht der Mitgliedstaaten gezogen.114 Deshalb bedarf es einer Begründung, warum und in welchem Sinn im folgenden der Verfassungsbegriff für das europäische Primärrecht verwendet werden soll. Soweit der Verfassungsbegriff im übertragenen Sinn für das Statut einer internationalen Organisation gebraucht wird, besteht im Schrifttum noch weitgehend Einigkeit. In diesem Fall werden mit dem Begriff „Verfassung" die Festlegung der Ziele einer Organisation sowie die grundlegenden Organisations- und Verfahrensvorschriften bezeichnet.115 Der Streit beginnt dort, wo man statt eines deskriptiven einen normativen Verfassungsbegriff verwendet. Unter einer Verfassung im normativen Sinne wird eine Verfassung verstanden, die ihrer Idee nach „die höchstrangige normative Aussage über die Grundprinzipien der Herrschafts- und Wertordnung im Staat"116 bzw. „die rechtliche Grundordnung des Gemeinwesens"117 darstellt. Sie enthält die Leitprinzipien, die zur Bildung politischer Einheit führen und anhand derer die staatlichen Aufgaben wahrgenommen werden sollen, 113
Vgl. ζ. B. Klein, Eckart, Der Verfassungsstaat als Glied einer europäischen Gemeinschaft, VVDStRL 50 (1991), 56-96 (70 f.), und Diskussionsbeitrag, 165, der darauf abstellt, daß die völkerrechtliche Handlungsfähigkeit der Mitgliedstaaten fortbesteht und daß die Gemeinschaftsverträge keine ausschließliche Rechtsgeltungsquelle innerhalb ihres eigenen Geltungsgebiets darstellen; Grimm, Dieter, Braucht Europa eine Verfassung?, JZ 1995,581-591 (586), der den Hauptunterschied zu staatlichen Verfassungen in der Rückführung auf den Willen der Mitgliedstaaten statt auf den des Unionsvolkes sieht; Koenig, Christian, Anmerkungen zur Grundordnung der Europäischen Union und ihrem fehlenden „Verfassungsbedarf*, NVwZ 1996, 549-552 (551); ders., Ist die Europäische Union verfassungsfähig?, DÖV 1998,268-275 (273 f.); Lecheler, Helmut, Braucht die „Europäische Union" eine Verfassung? - Bemerkungen zum Verfassungsentwurf des Europäischen Parlaments vom 9. September 1993, in: Randelzhofer, Albrecht/Scholz, Rupert/Wilke, Dieter (Hrsg.), Gedächtnisschrift für Eberhard Grabitz, München 1995, 393-407 (398 f.); Schilling, Theodor, The Autonomy of the Community Legal Order: An Analysis of Possible Foundations, Harvard International Law Journal 1996,389-409 (409); Schmitt Glaeser, Alexander, Grundgesetz und Europarecht als Elemente Europäischen Verfassungsrechts, Berlin 1996,50 f. 114 Siehe dazu unten Kap. 1, Β. II. 4. 115 Klein (Fn. 113), Diskussionsbeitrag, 165; Streinz, Rudolf, Europarecht (zitiert: Streinz, Europarecht), 4. Aufl., Heidelberg 1999, § 5, Rz. 346. 116 Stern, Staatsrecht I, § 3,78. 117 Hesse, Grundzüge des Verfassungsrechts, § 1,10 f. (Rz. 17).
II. Ermächtigung zur „Übertragung von Hoheitsrechten"
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und normiert die Grundlinien rechtlicher Gesamtordnung.118 Schon diese Definition macht deutlich, daß der normative Verfassungsbegriff, der sich - historisch gesehen - im Zusammenhang mit dem modernen Staat entwickelt hat, bisher nur auf den Staat angewendet worden ist. Beschränkt man ihn auf den Staat und setzt man voraus, daß eine Verfassung auf die verfassunggebende Gewalt eines (Staats-)Volkes rückführbar sein muß,119 so kann der normative Verfassungsbegriff per definitionem nicht auf die Europäische Union übertragen werden. Die Beschränkung des Verfassungsbegriffs auf das Gemeinwesen „Staat" ist jedoch nicht zwingend. Es spricht nichts dagegen, den Begriff vom Staat zu lösen und auf die supranationale Gemeinschaft bzw. Union120 anzuwenden, solange man sich der Unterschiede zwischen der Unionsverfassung und einer Staatsverfassung bewußt bleibt. Entkoppelt man den Begriff der Verfassung vom Staat, so muß er den besonderen Verhältnissen der supranationalen Union angepaßt werden.121 Infolgedessen schließt die völkerrechtliche Natur der Gründungsverträge ihre Charakterisierung als Verfassung nicht von vornherein aus.122 Für die Bezeichnung des europäischen Primärrechts als „Verfassung" sprechen folgende Überlegungen: Im Laufe des Integrationsprozesses haben sich die Gründungsverträge nach ihrem Inhalt und ihrer Regelungsdichte von „normalen" Statuten internationaler Organisationen immer weiter entfernt. In formeller Hinsicht zeichnet sich eine Verfassung dadurch aus, daß sie das höchstrangige Recht enthält und eine erhöhte Bestandskraft aufweist, also nur unter erschwerten Voraussetzungen geändert werden kann.123 Was die Höchstrangigkeit angeht, so geht 118
Ebenda; ders., Verfassung und Verfassungsrecht, in: Benda, Ernst/Maihofer, Werner/ Vogel, Hans-Jochen (Hrsg.), Handbuch des Verfassungsrechts der Bundesrepublik Deutschland (zitiert: HdBVerfR), 2. Aufl., Berlin u. a. 1994, § 1, Rz. 10-12; Stern, Staatsrecht I, § 3, 80 ff. 119 Grimm (Fn. 113), 586; Rupp, Hans Heinrich, Europäische „Verfassung" und demokratische Legitimation, AöR 120 (1995), 269-275 (271). 120 Vgl. zur Rechtsnatur der Union im einzelnen unten Kap. 3, Α. I. 3. c). 121 Beutler, Bengt, 1996 - auf dem Weg zu einer europäischen Verfassung?, KJ 1996, 52-64 (54), fordert sogar eine Neubestimmung des Verfassungsbegriffs und seiner einzelnen Elemente in bezug auf den europäischen Integrationsprozeß. Ausführlich zur Entwicklung eines europäischen Verfassungsrechts und Verfassungsbegriffs Gerkrath, Jörg, L'émergence d'un droit constitutionnel pour l'Europe, Brüssel 1997, 145 ff.; Hertel (Fn. 105), 77 ff. 122 Bieber, Roland, Steigerungsform der Europäischen Union: Eine Europäische Verfassung, in: Ipsen, Jörn/Rengeling, Hans-Werner/Mössner, Jörg Manfred/Weber, Albrecht (Hrsg.), Verfassungsrecht im Wandel, Zum 180jährigen Bestehen der Carl Heymanns Verlag KG, Köln u. a. 1995, 291-304 (293); wohl auch Oppermann, Europarecht, § 6, Rz. 473; a. A. Bleckmann, Europarecht, § 8, Rz. 532 ff. 123 Isensee, Josef, Staat und Verfassung, in: HStR I (1995), § 13, Rz. 136. 5»
Kap. 1, Β. Die Funktionen des Artikels 24 Abs. 1 GG im einzelnen
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das europäische Primärrecht dem Sekundärrecht, also den von den Organen der EG/EU erlassenen Rechtsvorschriften, im Rang vor. Die Gültigkeit des Sekundärrechts wird vom EuGH an den Bestimmungen des Primärrechts gemessen.124 Auch im Verhältnis zum nationalen Recht der Mitgliedstaaten ist grundsätzlich anerkannt, daß dem Gemeinschaftsrecht zumindest ein Anwendungsvorrang zukommt.125 Umstritten ist allerdings, ob dieser Anwendungsvorrang unbeschränkt gilt oder an grundlegenden Verfassungsbestimmungen der Mitgliedstaaten seine Grenze findet. 126 Was die erhöhte Bestandskraft betrifft, so ist das Verfahren zur Vertragsänderung in Art. 236 EWGV bzw. nunmehr in Art. 48 EUV (ex Art. Ν EUV) festgelegt. 127 In diesem Verfahren hat die Kommission ein Initiativ- und das Europäische Parlament wenigstens ein Anhörungsrecht. Die nationalen Parlamente und - im Falle von Referenden - die Bürger einzelner Mitgliedstaaten sind durch den Verweis auf die nationalen Verfassungs vorschriften in das Änderungsverfahren einbezogen. Die Mitgliedstaaten haben also Dritte mit eigenen Rechten im Änderungsverfahren ausgestattet und damit ihre nach allgemeinem Völkerrecht bestehende Entscheidungsfreiheit 128 zur formlosen oder sonstwie von Art. 48 EUV (ex Art. Ν EUV) abweichenden Änderung der Verträge beschränkt. Deshalb stellt das Verfahren gemäß Art. 48 EUV (ex Art. Ν EUV) den einzigen rechtmäßigen Weg zur Änderung der Verträge dar. 129 Ob es neben den formellen auch 124
Vgl. statt aller Oppermann, Europarecht, § 6, Rz. 474; Zuleeg, in: G/T/E, Art. 1 EGV, Rz. 10. 125 Oppermann, Europarecht, § 6, Rz. 616 ff., 626, mit einem Überblick über die Rechtsprechung der Verfassungsgerichte der übrigen Mitgliedstaaten. 126 Siehe dazu unten Kap. 1, Β. II. 4. 127 Im Maastrichter Vertrag sind darüber hinaus einige sog. Evolutivklauseln enthalten, die ein vereinfachtes Änderungsverfahren vorsehen; siehe dazu unten Kap. 2, Β. IV. 1. 128 Gemäß Art. 39 des Wiener Übereinkommens über das Recht der Verträge (zitiert: WVK) sind die Parteien eines völkerrechtlichen Vertrages bei dessen Abänderung grundsätzlich frei. Sie können sich daher auch konkludent über zuvor beschlossene Verfahrensregelungen hinwegsetzen. Artikel 40 WVK, der sich konkret auf die Änderung mehrseitiger Verträge bezieht, ist allerdings nur insoweit anwendbar, als in dem Vertrag keine abweichenden, d. h. speziellen Regelungen getroffen worden sind. Vgl. dazu Herdegen, Matthias, Vertragliche Eingriffe in das „Verfassungssystem" der Europäischen Union, in: Due, Ole/Lutter, Marcus/Schwarze, Jürgen (Hrsg.), Festschrift für Ulrich Everling, Bd. 1, BadenBaden 1995,447-461 (453 f.). 129 So Meng, Werner, in: G/T/E, Art. Ν EUV, Rz. 26-28, unter Hinweis auf die Gegenmeinungen (Rz. 29); im Ergebnis, wenn auch mit unterschiedlicher Begründung ebenso Petit, Yves, in: Constantinesco, Vlad/Kovar, Robert/Simon, Denys (Hrsg.), Traité sur TUnion européenne, Commentaire (zitiert: CKS), Paris 1995, Art. Ν EUV, Ziff. 17; da Cruz Vilaça, José Luis/Piçarro, Nuno, Y a-t-il des limites matérielles à la révision des traités instituant les Communautés européennes?, Cahiers de droit européen 1993, 3-37 (15 f.); Herdegen, in: FS Everling (Fn. 128), 454; EuGH, Urt. v. 8.4.1976, Rs. 43/75 (De-
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materielle Grenzen für eine Vertragsänderung gibt, ist umstritten.130 Der EuGH hat in seinem ersten Gutachten zum EWR-Vertrag festgestellt, daß die Grundlagen der Gemeinschaft - und damit ihre tragenden Strukturprinzipien - auch dann nicht durch ein Abkommen mit Drittstaaten geändert werden dürfen, wenn hierfür zuvor im Wege einer Vertragsänderung eine ausdrückliche Grundlage geschaffen worden wäre. 131 Es ging dem EuGH hierbei nicht nur um das Verbot einer Verfassungsdurchbrechung, sondern auch um die Abwehr mittelbarer Beeinträchtigungen des institutionellen Systems der Gemeinschaft. Darin liegt der Keim für eine Unabänderlichkeit objektiver Rechtsprinzipien des Gemeinschaftsrechts begründet.132 Dies führt im Ergebnis zu einer Hierarchisierung innerhalb des europäischen Primärrechts, die mit der in Art. 79 Abs. 3 GG vorgenommenen Rangabstufung innerhalb des Grundgesetzes vergleichbar ist. Eine Rangabstufung unterstriche den Verfassungscharakter der Gründungsverträge. Selbst wenn man sie ablehnt, schließt dies jedoch eine solche Charakterisierung nicht aus. Denn die Unterscheidung zwischen einfachen und unabänderlichen Verfassungsnormen ist nicht zwingend mit dem Verfassungsbegriff verbunden. In den Verfassungen der meisten Mitgliedstaaten gibt es keine dem Art. 79 Abs. 3 GG vergleichbare Vorschrift. 133 Im Ergebnis bleibt festzuhalten, daß das europäische Primärrecht die Voraussetzungen einer Verfassung im formellen Sinne im wesentlichen erfüllt. Der normative Verfassungsbegriff setzt nicht nur eine Verfassung im formellen, sondern auch immateriellen Sinne voraus. Der materielle Verfassungsbegriff stellt, herkömmlicherweise bezogen auf den Staat, in erster Linie auf die Legitimität der Verfassung und den Schutz des einzelnen gegenüber der Ausübung staatlicher Hoheitsgewalt ab.134 Der Umfang der Kompetenzen, die der EG/EU eingeräumt worden sind, hat sich so erweitert, daß sie den Bürgern auf zahlreichen Sachgebieten in vergleichbarer Weise wie ein staatlicher Gesetzgeber gegenfrenne I), Slg. 1976, 455 (478); Urt. v. 3.2.1976, Rs. 59/75 (Manghera), Slg. 1976, 91 (102); a. A. Vedder, Christoph, in: Grabitz, Eberhard/Hilf, Meinhard (Hrsg.), Kommentar zur Europäischen Union, Loseblatt (Stand: Mai 1998), Art. 236 EWGV, Rz. 25, m. w. N. 130 Für materielle Beschränkungen ζ. B. da Cruz Vilaça/Piçarro (Fn. 129), 27 ff.; Herdegen, in: FS Everling (Fn. 128), 456 ff.; Bieber, Roland, Les limites matérielles et formelles à la révision des traités établissant la Communauté européenne, Revue de Marché commun 1993, 343-350 (346 ff.); kritisch dagegen Heintzen, Hierarchisierungsprozesse (Fn. I l l ) , 39 ff. 131 Gutachten 1/91 v. 14.12.1991, Slg. 1991,1-6079 (6111 f., Rz. 71, 72). 132 Herdegen, in: FS Everling (Fn. 128), 455. 133 Heintzen, Hierarchisierungsprozesse (Fn. 111), 40, m. w. N.; Herdegen, in: FS Everling (Fn. 128), 456. 134 Isensee, in: HStR I (1995), § 13, Rz. 139; Hertel (Fn. 105), 97 ff., 104.
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Kap. 1, Β. Die Funktionen des Artikels 24 Abs. 1 GG im einzelnen
übertritt. Die Gemeinschaft bzw. die Union hat sich damit zu einem politischen und rechtlichen Gebilde entwickelt, das weit über die ursprüngliche Wirtschaftsgemeinschaft hinausgreift. Mit Blick auf ihre Kompetenzfülle und die Auswirkungen, die ihre Maßnahmen und Rechtsakte inzwischen auf das Leben der Bürger sowie die Rechtsordnung und Politik der Mitgliedstaaten haben, kann man sie als staatsähnliches Gemeinwesen bezeichnen. Wie der Staat selbst bedarf auch dieses staatsähnliche Gemeinwesen einer Verfassung, die einen Mindestbestand an Werten, die in allen Mitgliedstaaten verfassungsrechtlich verankert sind, festschreibt und ihm Legitimation verleiht.135 Diesem Erfordernis haben die Mitgliedstaaten bei der Änderung und Ergänzung der ursprünglichen Gründungsverträge in kleinen Schritten entsprochen. Die Präambel der Einheitlichen Europäischen Akte vom 28. Februar 1986136 enthält erstmals ein gemeinsames Bekenntnis zur Demokratie und den in den Verfassungen der Mitgliedstaaten, der Europäischen Menschenrechtskonvention und der Europäischen Sozialcharta anerkannten Grundrechten. Der Maastrichter Vertrag vom 7. Februar 1992137 bestätigt in der Präambel (3. Erwägungsgrund) das Bekenntnis zu den Grundsätzen der Freiheit, der Demokratie und der Achtung der Menschenrechte und Grundfreiheiten sowie der Rechtsstaatlichkeit. Außerdem wird die Stärkung der Demokratie und Effizienz in der Arbeit der Gemeinschafts- bzw. Unionsorgane ausdrücklich (5. Erwägungsgrund) zum Ziel der Union erhoben. Ihre Entscheidungen sollen entsprechend dem Subsidiaritätsprinzip möglichst bürgernah getroffen werden (11. Erwägungsgrund). Im Vertragstext selbst ist erstmals in Art. F Abs. 2 EUV (Art. 6 Abs. 2 EUV n. F.) der Schutz der Grundrechte und Grundfreiheiten durch die Union ausdrücklich verankert. Das Verhältnis der Mitgliedstaaten zur Union erfährt mit der Aufnahme des Subsidiaritätsprinzips (Art. Β Abs. 2 EUV [Art. 2 Abs. 2 EUV n. F.]; Art. 3b Abs. 2 EGV [Art. 5 Abs. 2 EGV n. F.]) und mit der Verpflichtung der Union gemäß Art. F Abs. 1 EUV (Art. 6 Abs. 3 EUV n. F.), „die nationale Identität ihrer Mitgliedstaaten, deren Regierungssysteme auf demokratischen Grundsätzen beruhen", zu achten, eine vertragliche Ausgestaltung. Der 135
So auch Gerkrath (Fn. 121), 122 f.; Heintzen, Markus, Gemeineuropäisches Verfassungsrecht in der Europäischen Union, EuR 1997,1-16 (3 f.), spricht insoweit von „gemeineuropäischem Verfassungsrecht"; Kadelbach, Stefan, Einheit der Rechtsordnung als Verfassungsprinzip der Europäischen Union?, in: von Bogdandy, Arnim/Ehlermann, ClausDieter (Hrsg.), Konsolidierung und Kohärenz des Primärrechts nach Amsterdam, EuR Beih. 2/1998,51-66 (56 ff.); Zuleeg, Manfred, Die Organisationsstruktur der Europäischen Union - Eine Analyse der Klammerbestimmungen des Vertrages von Amsterdam, ebenda, 151-163 (161 f.). Siehe zur Problematik des sog. Demokratie- bzw. Legitimationsdefizits in der EG/EU unten Kap. 6, Β. II. 2. 136 BGBl. 1986 II, 1104; in Kraft getreten am 1. Juli 1987. 137 BGBl. 1992 II, 1251 ff.; in Kraft getreten am 1. November 1993.
II. Ermächtigung zur „Übertragung von Hoheitsrechten"
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Verweis auf die demokratischen Regierungssysteme der Mitgliedstaaten ergänzt darüber hinaus das in der Präambel enthaltene Bekenntnis, in der Union für den Grundsatz der Demokratie einzutreten. Um die demokratische Legitimation in der EG/EU sicherzustellen, die zu einem maßgeblichen Teil von den nationalen Parlamenten vermittelt wird, 138 müssen die Mitgliedstaaten ihrerseits demokratisch verfaßt sein.139 Für eine Charakterisierung des europäischen Primärrechts als „Verfassung" spricht außerdem die mit dem Maastrichter Vertrag (Art. 8 EGV [Art. 17 EGV n. F.]) eingeführte Unionsbürgerschaft, an die verschiedene einzelne Rechte geknüpft sind.140 Sie schafft eine engere Verbindung zwischen den einzelnen Bürgern und der Gemeinschaft bzw. Union, die der Staatsangehörigkeit zwar nicht gleichkommt, die Mediatisierung des einzelnen durch den Staat aber auflockert und zu einem gewissen Zusammengehörigkeitsgefühl beitragen kann. Im Amsterdamer Vertrag vom 2. Oktober 1997141 ist diese Entwicklung, insbesondere mit Blick auf den Schutz der Grundrechte und die Verankerung des Demokratieprinzips im Unionsrecht, fortgeführt worden.142 Die Verfassung der Union zeichnet sich gegenüber Staatsverfassungen - abgesehen von dem Fehlen eines europäischen (Staats-)Volkes als Verfassungsgeber - allerdings durch folgende Besonderheiten aus: Ihr Regelungsgegenstand ist eine sachlich begrenzte Hoheitsgewalt, die in den einzelnen Mitgliedstaaten unmittelbar gilt und somit neben die staatliche Hoheitsgewalt tritt. Demzufolge ist die Unionsverfassung - zumindest auf absehbare Zeit - nicht darauf angelegt, ein in sich geschlossenes und selbsttragendes Ordnungssystem zu bilden. Sie muß vielmehr als „Komplementärverfassung" zu den Verfassungen der Mitgliedstaaten begriffen werden, die die ihnen gemeinsamen grundlegenden Verfassungsprinzipien aufnimmt und, zugeschnitten auf deren Besonderheit, für die Europäische
138
Siehe dazu im einzelnen unten Kap. 5, Β. I. 3. b) aa). Vgl. Zuleeg, in: G/T/E, Präambel des EUV, Rz. 10; Beutler, in: G/T/E, Art. F EUV, Rz. 14 ff.; Verhoeven, Amaryllis, How Democratic Need European Union Members Be? Some Thoughts After Amsterdam, ELR 1998, 217-234. 140 Siehe dazu unten Kap. 3, A. I. 3. a) aa) (3). 141 ABl. EG 1997, C 340,1; BGBl. 1998II, 386. 142 Siehe dazu unten Kap. 3, A. I. 3. b) ; vgl. zu den Verfassungsbestrebungen im Vorfeld der Regierungskonferenz 1996 Schröder, Meinhard, Grundsatzfragen einer europäischen Verfassungsgebung, in: FS 180 Jahre Carl Heymanns Verlag (Fn. 122), 509-524; Petersmann, Ernst-Ulrich, Proposals for a New Constitution for the European Union: Building-Blocks for a Constitutional Theory and Constitutional Law of the EU, in: CMLR 1995,1123-1175; ders., How Can the European Union Be Constitutionalized? The European Parliament's 1994 Proposal for a „Constitution for the European Union", Aussenwirtschaft 1995,171-219. 139
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Kap. 1, Β. Die Funktionen des Artikels 24 Abs. 1 GG im einzelnen
Union festschreibt. 143 Die Unions Verfassung und die Verfassungen der Mitgliedstaaten stehen somit in einer engen Wechselbeziehung zueinander, sie sind, wie das Bundesverfassungsgericht es einmal ausgedrückt hat, normativ miteinander „verklammert". 144 Zudem enthalten die Gründungs Verträge als rechtliche Grundlage eines Integrationsprozesses besondere dynamische Elemente, die über das auch in klassischen Verfassungen enthaltene Maß deutlich hinausgehen.145 Die Verfassung der EG/EU entwickelt sich also ständig weiter, nicht nur durch Vertragsänderungen, sondern auch aufgrund der Auslegung und Fortbildung des europäischen Primärrechts durch den EuGH. Behält man diese Unterschiede zu staatlichen Verfassungen im Auge, so erscheint die Verwendung des Verfassungsbegriffs insoweit zutreffend, als damit die Besonderheiten des primären Gemeinschafts- bzw. Unionsrechts gegenüber den Gründungsverträgen anderer internationaler Organisationen sowie die größere Nähe der europäischen zur staatlichen Hoheitsgewalt gekennzeichnet werden. 146 In diesem Sinne - und beschränkt auf die Europäischen Gemeinschaften und die Europäische Union - kann Kaisers These
143
Läufer, Thomas, Zum Stand der Verfassungsdiskussion in der Europäischen Union, in: GS Grabitz (Fn. 113), 355-368 (362); Gerkrath (Fn. 121), 289 f. 144 BVerfGE 73, 339 (383 f.); vgl. auch Badura, Peter, Die Verfassung der Europäischen Union und die „Verklammerung" der Rechtsordnungen, EuR 1994, 9-23 (13); Hertel (Fn. 105), 90 f.; Schwarze, Jürgen, Das Staatsrecht in Europa, JZ 1993, 585-594 (592), der von „wechselseitiger Einwirkung und Ergänzung" spricht; Zuleeg, in: G/T/E, Art. 1 EGV, Rz. 28. Vgl. zu der Rezeption des Integrationsprozesses in nationalen Verfassungen aus rechtsvergleichender Sicht Häberle, Peter, Europaprogramme neuerer Verfassungen und Verfassungsentwürfe - der Ausbau von nationalem „Europaverfassungsrecht", in: FS Everling, Bd. 1 (Fn. 128), 355-379. Siehe zu dem Verhältnis zwischen der Unionsverfassung und den Verfassungen der Mitgliedstaaten im einzelnen unten Kap. 6, Β. I. 1. 145 Ipsen, Hans Peter, Europäische Verfassung - Nationale Verfassung, EuR 1987, 195-213 (201), bezeichnet die europäische Verfassung als „WandelVerfassung"; Beutler, Weg zu einer europäischen Verfassung? (Fn. 121), 55 passim , spricht von einer „offenen europäischen Verfassung", von Bogdandy (Fn. 112), 27, von der „evolutiven und inkrementalen Funktion dieser Verfassung". Vgl. auch Bieber, Roland, Verfassungsentwicklung und Verfassungsgebung in der Europäischen Gemeinschaft, in: Wildenmann, Rudolf (Hrsg.), Staatswerdung Europas? - Optionen für eine Europäische Union, Baden-Baden 1991,393-414 (398); Schwarze, Jürgen, Verfassungsentwicklung in der Europäischen Gemeinschaft, in: ders/Bieber, Roland (Hrsg.), Eine Verfassung für Europa - Von der Europäischen Gemeinschaft zur Europäischen Union, Baden-Baden 1984, 15-48 (35 ff.); Steinberger, Helmut, Der Verfassungsstaat als Glied einer europäischen Gemeinschaft, in: VVDStRL 50 (1991), 9-55 (19), m. w. N.; aus rechtstheoretischer Sicht Kaufmann, Marcel, Permanente Verfassunggebung und verfassungsrechtliche Selbstbindung im europäischen Staatenverbund, Der Staat 1997, 521-546 (530 ff.). 146 So Schwarze, Verfassungsentwicklung (Fn. 145), 26 f.
II. Ermächtigung zur „Übertragung von Hoheitsrechten"
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von der Mitwirkung der Bundesrepublik Deutschland an einer internationalen Verfassungsgebung zugestimmt werden.147 Im Hinblick auf die Zweistufigkeit des Übertragungsvorganges gemäß Art. 24 Abs. 1 GG bleibt festzuhalten, daß auch der Gründung und Fortentwicklung der Europäischen Gemeinschaften bzw. Union völkerrechtliche Verträge zugrunde liegen, die ihnen Hoheitsgewalt einräumen und diese zugleich auch begrenzen.148 Ungeachtet der völkerrechtlichen Natur der Gründungsverträge haben sich diese allerdings, auf der Grundlage der Rechtsprechung des EuGH, zusammen mit den allgemeinen Rechtsgrundsätzen und anderen grundlegenden Rechtsakten der Gemeinschaft zu einer Verfassung im normativen Sinne fortentwickelt. In der Folge hat das primäre Gemeinschafts- bzw. Unionsrecht die Regeln des allgemeinen Völkerrechts weitgehend verdrängt bzw. überlagert. 149 Deshalb sind bei der Auslegung und Anwendung der Verträge die Besonderheiten dieser dynamischen Verfassung einer Integrationsgemeinschaft zu beachten. Im Verhältnis zwischen den Mitgliedstaaten untereinander und zur Gemeinschaft bzw. Union sind die Regeln des allgemeinen Völkerrechts daher nur noch anwendbar, wenn Regelungslücken auch unter Rückgriff auf die eigenen Prinzipien des europäischen Rechts nicht geschlossen werden können.150
b) Das innerstaatliche Zustimmungsgesetz Dem Art. 24 Abs. 1 GG wird verschiedentlich die Funktion zugeschrieben, eine spezielle Ermächtigung für den Abschluß von Übertragungs- bzw. Integrationsverträgen zu enthalten.151 Es ist allerdings fraglich, ob es einer solchen besonderen Abschlußermächtigung, die über die Ermächtigung der Art. 32 Abs. 1 und 59 Abs. 2 S. 1 GG hinausgeht, überhaupt bedarf. Zunächst ist dabei zu unter147
Kaiser (Fn. 88), 18. Vgl. zu den Auswirkungen der völkerrechtlichen Grundlage des Gemeinschaftsrechts, insbesondere für die Frage eines einseitigen Austritts, Huber, Peter M., Bundesverfassungsgericht und Europäischer Gerichtshof als Hüter der Gemeinschaftsrechtlichen Kompetenzordnung, AöR 116 (1991), 210-251 (220 ff.). 149 Oppermann, Europarecht, § 6, Rz. 597; dagegen Bleckmann, Europarecht, § 4, Rz. 158 f., nach dessen Auffassung die Mitgliedstaaten sogar auf das völkerrechtliche Repressalienrecht zugreifen können. 150 Oppermann, Europarecht, § 6, Rz. 598 f. 151 Tomuschat, in: BK, Art. 24, Rz. 8; Bleckmann, Albert, Zur Funktion des Art. 24 Grundgesetz, in: Hailbronner, Kay/Ress, Georg/Stein, Torsten (Hrsg.), Staat und Völkerrechtsordnung, Festschrift für Karl Doehring, Berlin u. a. 1989, 63-87 (66 f.). 148
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Kap. 1, Β. Die Funktionen des Artikels 24 Abs. 1 GG im einzelnen
scheiden zwischen der Zuweisung der Kompetenz zum Abschluß solcher Verträge im Verhältnis des Bundes zu den Ländern und der Frage der Zustimmungsbedürftigkeit vor der Ratifizierung im Verhältnis zwischen Exekutive und Legislative. Die Kompetenz zum Abschluß völkerrechtlicher Verträge, die einer zwischenstaatlichen Einrichtung Hoheitsrechte einräumen, steht dem Bund bereits gemäß Art. 32 Abs. 1 GG zu. Solche Verträge sind grundsätzlich dem Bereich der auswärtigen Gewalt zuzuordnen, die vom Bund wahrgenommen wird. Artikel 24 GG setzt in allen drei Absätzen die Vertragsabschlußkompetenz des Bundes gem. Art. 32 Abs. 1 GG voraus und stellt - in Abweichung von Art. 32 Abs. 3 GG klar, daß den Ländern auch im Bereich ihrer ausschließlichen Zuständigkeiten die Kompetenz zum Abschluß entsprechender Verträge nicht zusteht.152 Was die Frage der Zustimmungsbedürftigkeit anbetrifft, so ist diese - wie bei jedem anderen völkerrechtlichen Vertrag 153 - anhand von Art. 59 Abs. 2 S. 1 GG zu beantworten. Gemäß Art. 59 Abs. 2 S. 1 GG sind zum einen politische Verträge und zum anderen Verträge, die sich auf Gegenstände der Bundesgesetzgebung beziehen, zustimmungs- bzw. mitwirkungsbedürftig. Politische Verträge liegen vor, wenn „die Existenz des Staates, seine territoriale Integrität, seine Unabhängigkeit, seine Stellung oder sein maßgebliches Gewicht in der Staatengemeinschaft durch den Vertrag selbst berührt werden".154 Verträge, die sich auf Gegenstände der Bundesgesetzgebung beziehen, sind solche, in denen der Bund Verpflichtungen übernimmt, deren Erfüllung allein durch den Erlaß eines Bundesgesetzes möglich ist. 155 Bei Verträgen, in denen eine internationale Organisation oder ein sonstiges internationales Organ mit Hoheitsrechten ausgestattet wird, handelt es sich zumindest wenn substantielle Kompetenzen größeren Ausmaßes eingeräumt werden - um politische, wegen des Gesetzesvorbehalts in Art. 24 Abs. 1 GG aber jedenfalls immer um Verträge, deren Erfüllung eines formellen Gesetzes bedarf. Insofern sind sie immer zustimmungsbedürftig im Sinne des Art. 59 Abs. 2 S. 1 GG.156 Das Zustimmungsgesetz gemäß Art. 59 Abs. 2 S. 1 GG erfüllt zwei Funktionen: (1) Der Bundespräsident wird zur Ratifizierung des Vertrages, d. h. zur förmlichen Erklärung gegenüber dem oder den anderen Vertragspartner(n), an den Vertrag gebunden zu sein, ermächtigt und (2) der Inhalt des Vertrages wird, soweit er unmittelbar anwendbar ist, entweder im Wege der Transformation oder 152
Siehe dazu unten Kap. 1, C. I. Vgl. zur Zustimmungsbedürftigkeit der Gründungsverträge der Vereinten Nationen und ihrer Sonderorganisationen Rösgen (Fn. 62), 174 ff. 154 So schon BVerfGE 1, 372 (380); dies ist heute einhellige Ansicht, vgl. statt aller Grewe, in: HStR III (1996), § 77, Rz. 58 m. w. N. 155 BVerfGE 1, 372 (389). 156 Vgl. Randelzhofer, in: Maunz/Dürig, GG, Art. 241, Rz. 7,15. 153
II. Ermächtigung zur „Übertragung von Hoheitsrechten"
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- nach der heute im Schrifttum überwiegend vertretenen Auffassung 157 - durch Erteilung eines Vollzugsbefehls in die innerstaatliche Rechtsordnung einbezogen. Hervorzuheben ist, daß das Bundesverfassungsgericht bei der Übertragung von Hoheitsrechten auf die Europäischen Gemeinschaften von einem Rechtsanwendungsbefehl spricht. So heißt es in einem Beschluß aus dem Jahre 1977: „Das primäre Gemeinschaftsrecht gilt für den Hoheitsbereich der Bundesrepublik Deutschland kraft des Rechtsanwendungsbefehls, den die Zustimmungsgesetze gemäß Art. 59 Abs. 2 GG den Gemeinschaftsverträgen erteilt haben."158
Diese Formulierung macht deutlich, daß das Gericht - zumindest in bezug auf das europäische Primärrecht - der Vollzugstheorie folgt. 159 Bei dieser kommt es nicht, wie bei der Transformation völkerrechtlicher Normen in Landesrecht, zu einer „Umgießung" völkerrechtlicher Normen in innerstaatliche Rechtsvorschriften. Vielmehr behält die Vertragsbestimmung ihren Charakter als Völkerrechtsnorm bei, während das Zustimmungsgesetz lediglich den an die staatlichen Organe gerichteten Befehl erteilt, diese einer anderen Rechtsordnung zugehörige Norm im innerstaatlichen Bereich zu vollziehen.160 Entscheidender Unterschied zur Transformation ist also, daß die Norm nicht von ihrem ursprünglichen Geltungsgrund losgelöst und aus ihrem Systemzusammenhang herausgerissen wird. Demzufolge behält das primäre Gemeinschaftsrecht seinen Charakter als Völker- bzw. Gemeinschaftsrecht bei, hat seinen Geltungsgrund also nicht im inner-, sondern im inter- bzw. supranationalen Recht. Die parlamentarische Mitwirkung und Kontrolle beim Abschluß von sog. Integrationsverträgen sowie die vom Gesetzgeber vorzunehmende Erteilung des Vollzugsbefehls sind also bereits gemäß Art. 59 Abs. 2 S. 1 GG gewährleistet. Daher
157
Zu den beiden Theorien siehe oben Fn. 61; vgl. insb. zur Vollzugstheorie Streinz, Bundesverfassungsgerichtlicher Grundrechtsschutz (Fn. 98), 107 ff. m. w. N.; zur neueren Rspr. des BVerfG vgl. Steinberger, Helmut, Entwicklungslinien in der neueren Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts zu völkerrechtlichen Fragen, ZaöRV 48 (1988), 1-17, nach dessen Auffassung „das Gericht nunmehr auch in der normativen Eingliederung von Verträgen in das im Hoheitsgebiet der Bundesrepublik geltende Recht nicht eine Transformation des Vertrages im Sinne einer Qualitäts- oder Aggregatsumwandlung in deutsches Recht erblickt, sondern eine Rezeption des Völkerrechts in seiner Qualität als Völkerrecht" (4). 158 BVerfGE 45,142(169). 159 So auch Rauser (Fn. 72), 38 f. ; Streinz, Bundesverfassungsgerichüicher Grundrechtsschutz (Fn. 98), 108 f. 160 Vgl. Geiger, Grundgesetz und Völkerrecht, § 32,172 f.; Partsch (Fn. 61), 19 ff. und 156 f., These 4.
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Kap. 1, Β. Die Funktionen des Artikels 24 Abs. 1 GG im einzelnen
bedarf es einer speziellen Ermächtigungsgrundlage zum Abschluß solcher Verträge in Art. 24 Abs. 1 GG nicht. Das gemäß Art. 59 Abs. 2 S. 1 GG erforderliche Ratifikationsgesetz erfüllt dagegen nicht die Aufgabe, der zwischenstaatlichen Einrichtung die unmittelbar verbindliche Ausübung von Hoheitsrechten auf dem Gebiet der Bundesrepublik Deutschland zu ermöglichen. Dies folgt aus der Hineinnahme des Art. 24 Abs. 1 GG in das Grundgesetz. Die Vorschrift wäre überflüssig, d. h. sie hätte keine eigenständige Funktion inne, wenn bereits das Zustimmungsgesetz gemäß Art. 59 Abs. 2 S. 1 GG den Durchgriffseffekt bewirkte. Zudem sichert der Rechtsanwendungsbefehl gemäß Art. 59 Abs. 2 S. 1 GG nicht den Vorrang primären und sekundären Gemeinschaftsrechts vor entgegenstehendem innerstaatlichen Recht. Er verleiht der Vertragsbestimmung lediglich den Rang eines einfachen Bundesgesetzes und läßt Raum für die Regel lex posterior derogat legi priori. Um also die unmittelbare Anwendbarkeit der sekundären, d. h. von den Gemeinschaftsorganen erlassenen Rechtsakte und den Vorrang des supranationalen Rechts zu gewährleisten, muß das Zustimmungsgesetz nach Art. 59 Abs. 2 S. 1 GG um ein Gesetz gemäß Art. 24 Abs. 1 GG ergänzt werden. In der Praxis ergeht allerdings nur ein Zustimmungsgesetz, was die Schwierigkeiten bei einer sorgfältigen Trennung der Funktionen von Art. 59 Abs. 2 S. 1 und Art. 24 Abs. 1 GG erklärt. Da die Funktionen des Art. 24 Abs. 1 GG - nämlich die Ermächtigung zur Öffnung des deutschen Rechtsraumes und zur Erteilung eines Rechtsanwendungsbefehls für das Sekundärrecht sowie zur Anerkennung des Anwendungsvorranges des Primär- und Sekundärrechts161 - zu denjenigen des Art. 59 Abs. 2 S. 1 GG hinzutreten und somit beide Normen nebeneinander zur Anwendung kommen, kann Art. 24 Abs. 1 GG nicht als lex specialis zu Art. 59 Abs. 2 S. 1 GG verstanden werden.162
3. Öffnung des deutschen Rechtsraumes und Erteilung eines besonderen Rechtsanwendungsbefehls Die entscheidende Funktion des Art. 24 Abs. 1 GG ist darin zu sehen, daß er den innerstaatlichen Rechtsraum gegenüber der supranationalen Hoheitsgewalt 161
Dazu gleich unten Kap. 1, Β. II. 3. und 4. So auch Randelzhofer, in: Maunz/Dürig, GG, Art. 241, Rz. 62,63; a. A. Tomuschat, in: BK, Art. 24, Rz. 29, der Art. 24 Abs. 1 GG insofern als lex specialis ansieht, als in jedem Fall, d. h. unabhängig von den Voraussetzungen des Art. 59 Abs. 2 GG, der Bundesgesetzgeber zur Entscheidung aufgerufen sei. 162
II. Ermächtigung zur „Übertragung von Hoheitsrechten"
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öffnet und den Integrationsgesetzgeber zur Erteilung eines besonderen Rechtsanwendungsbefehls ermächtigt, der für die innerstaatliche Geltung und Anwendbarkeit des supranationalen Rechts unerläßlich ist.163
a) Rücknahme des Ausschließlichkeitsanspruchs und Verzicht auf die Ausübung eigener Hoheitsgewalt Die Öffnung des deutschen Rechtsraumes für Hoheitsakte der zwischenstaatlichen Einrichtung erfolgt nach der Ansicht des Bundesverfassungsgerichts und der herrschenden Meinung im Schrifttum dadurch, daß der deutsche Staat seinen Ausschließlichkeitsanspruch auf die alleinige Vornahme von Hoheitsakten in seinem Staatsgebiet zurücknimmt und auf die Ausübung seiner Hoheitsgewalt verzichtet.164 Hinter dieser Formulierung steht das Bild des souveränen Nationalstaates, der alleiniger Träger hoheitlicher Gewalt in seinem Gebiet ist. Die Staatsgewalt im modernen Staat wird aus staatstheoretischer Sicht als eine allumfassende, allgegenwärtige Gewalt verstanden, die allen anderen Gewalten im Staat überlegen ist. Herbert Krüger, ein Protagonist dieser Staatsauffassung, spricht von der „Rechtsmacht des Staates ..., sich einseitig jede Möglichkeit schaffen zu dürfen, deren er zur erfolgreichen Erledigung der angesichts der Lage gestellten Aufgaben bedarf ..." und charakterisiert sie als „systematisch begründete General- und Blankovollmacht" zur Erfüllung der sich jeweils stellenden Aufgabe. 165 Um wirksam sein zu können, müsse die Staatsgewalt die einzige und höchste innerhalb des Staatsgebietes sein. Die Einzigkeit und das Zu-Höchst-Sein der Staatsgewalt werden mit dem Begriff „(innere) Souveränität" gekennzeichnet, die folglich nicht mit der Staatsgewalt gleichzusetzen, sondern eine Eigenschaft derselben ist. 166 Die
163
Vgl. Randelzhofer, in: Maunz/Dürig, GG, Art. 241, Rz. 12. BVerfGE 37, 271 (280); 58,1 (28); 59, 63 (90); 68,1 (91); 73, 339 (374); vgl. ζ. B. Tomuschat, in: BK, Art. 24, Rz. 19,34; Ipsen, Europäisches Gemeinschaftsrecht, 52; Geiger, Grundgesetz und Völkerrecht, § 33,182; kritisch gegenüber der Behauptung vom Ausschließlichkeitsanspruch deutscher Staatsgewalt Randelzhofer, in: Maunz/Dürig, GG, Art. 241, Rz. 9. 165 Krüger, Herbert, Allgemeine Staatslehre, 2. Aufl., Stuttgart u. a. 1966, § 35, 828 f.; vgl. für einen knappen Überblick über Krügers Staatslehre Hobe, Der offene Verfassungsstaat (Fn. 62), 122 f. 166 Ebenda, § 36,848 ff. (852 f.); vgl. auch Wildhaber, Luzius, Entstehung und Aktualität der Souveränität, in: Müller, Georg/Rhinow, René/Schmid, Gerhard/Wildhaber, Luzius 164
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Kap. 1, Β. Die Funktionen des Artikels 24 Abs. 1 GG im einzelnen
Einzigkeit oder, mit anderen Worten, die Ausschließlichkeit der Staatsgewalt führt zu dem Schluß, daß es im Staatsgebiet keine hoheitlichen Regelungsbefugnisse geben kann, die der Staatsgewalt gegenüber selbständig wären.167 Der einzelne Bürger kann demgemäß nur durch Hoheitsakte staatlichen Ursprungs berechtigt und verpflichtet werden. Die staatlichen Organe und Behörden können nur solches Recht anwenden, das aus staatlicher Quelle fließt oder zumindest in innerstaatliches Recht transferiert bzw. durch einen entsprechenden staatlichen Vollzugsbefehl im Einzelfall für anwendbar erklärt worden ist.168 Diese staatstheoretische Vorstellung von der inneren Souveränität, die auf Staatslehren der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts zurückgeht,169 findet ihre Entsprechung im Begriff der äußeren Souveränität, deren wesentlichste Aspekte in dem völkerrechtlichen Prinzip der souveränen Gleichheit aller Staaten und dem daraus abgeleiteten Interventions verbot sowie dem Verbot der Ausübung von Hoheitsgewalt auf fremdem Gebiet enthalten sind.170 Danach übt jeder Staat auf seinem Hoheitsgebiet die alleinige Hoheitsgewalt aus (Territorialitätsprinzip). Er ist von einem „Souveränitätspanzer" umgeben, der anderen Staaten oder internationalen Organisationen die Ausübung von Hoheitsbefugnissen in seinem Staatsgebiet grundsätzlich verwehrt. Die Ausübung fremder Hoheitsgewalt wird nur ausnahmsweise mit seiner Zustimmung im Einzelfall zugelassen. Um seine Unabhängigkeit von anderen Staaten oder internationalen Organisationen sicherzustellen, ist es diesen verboten, sich in die inneren Angelegenheiten eines Staates einzumischen. Inwieweit der Souveränitätsbegriff und die daraus resultierenden völkergewohnheitsrechtlichen Grundsätze im modernen, auf verstärkte Kooperation und den Schutz von Menschenrechten und gemeinsamen Interessen (ζ. B. Umweltschutz, Entwicklung, Überbevölkerung) ausgerichteten Völkerrecht Modifikationen erfahren haben,
(Hrsg.), Staatsorganisation und Staatsfunktionen im Wandel, Festschrift für Kurt Eichenberger zum 60. Geburtstag, Basel u. a. 1982, 131-145 (138); Randelzhofer, Albrecht, Staatsgewalt und Souveränität, in: HStR I (1995), § 15, Rz. 3, 35 ff. 167 Vgl. Zippelius, Reinhold, Allgemeine Staatslehre, 13. Aufl., München 1999, § 9, 53 ff. (63). 168 Vgl. Rojahn, in: von Münch/Kunig, GG, Art. 24, Rz. 16; Ipsen, Europäisches Gemeinschaftsrecht, 67 ff. 169 Vgl. ζ. B. Jellinek, Georg, Allgemeine Staatslehre, 3. Aufl., Berlin 1914, 474 ff., 489 ff.; Laband, Paul, Das Staatsrecht des Deutschen Reiches, Bd. 1, Neudruck der 5. Aufl. Tübingen 1911, Aalen 1964, 55 ff., 190 ff. (193). 170 Vgl. dazu Dahm, Georg/Delbrück, Jost/Wolfrum, Rüdiger, Völkerrecht, Bd. 1 2. Aufl., Berlin u. a. 1989, § 26, 233 ff. (236) und § 47, 316 ff. (318), wo es heißt: „Die territorial bezogene Herrschaftsgewalt eines bestimmten Staates ist als eine die Staatsgewalt anderer Staaten ausschließende Zuständigkeit zu begreifen, zudem ist sie sachlich umfassend.", m. w. N.; Geiger, Grundgesetz und Völkerrecht, § 46, 273; aus staatstheoretischer Sicht auch Krüger, Allgemeine Staatslehre (Fn. 165), 851 ff. (860).
II. Ermächtigung zur „Übertragung von Hoheitsrechten"
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kann an dieser Stelle nicht erörtert werden.171 Im Völkerrecht haben sich jedenfalls Rechtssätze herausgebildet, die den staatlichen Ausschließlichkeitsanspruch vor unerwünschten Beeinträchtigungen schützen. Es steht aber einem freiwilligen Ausschließlichkeitsverzicht nicht entgegen. Artikel 24 Abs. 1 GG ermöglicht es der Bundesrepublik Deutschland auf der verfassungsrechtlichen Ebene, ihren völkerrechtlich abgesicherten Anspruch auf ausschließliche Gebietshoheit, den die Verfassung - wie schon die Aufnahme des Art. 24 Abs. 1 in das Grundgesetz deutlich macht - als gegeben voraussetzt,172 generell zugunsten einer unmittelbare Hoheitsgewalt ausübenden supranationalen Einrichtung zurückzunehmen. Bildlich gesprochen erhält der Souveränitätspanzer dadurch Löcher, die ein „Eindringen" fremder Hoheitsgewalt ohne dazwischengeschaltete staatliche Inkorporationsakte zulassen.173 Karl Doehring spricht in diesem Zusammenhang davon, daß „die Sperre der nationalen Staatsgewalt durchbrochen ist, oder... ein staatsrechtlicher, innerstaatlicher Filter, den das Vertragsvölkerrecht sonst passieren müßte, nicht mehr vorhanden ist". Folglich bestehe jedenfalls für die in den EG-Verträgen geregelten Materien die typische staatliche Souveränität nicht mehr.174 Auf der Grundlage dieser Überlegungen läßt sich der Schluß ziehen, daß der Verfassungsgeber bei der Abfassung des Art. 24 Abs. 1 GG zwar von dem Bild des traditionellen geschlossenen Nationalstaates ausgegangen ist. Mit der Verankerung dieser Vorschrift im Grundgesetz hat er aber für die Zukunft Raum für die Entwicklung zu einem integrationsoffenen, kooperationsbereiten Staat gelassen, der sich den modernen politischen und wirtschaftlichen Gegebenheiten in einer zunehmend interdependenten Welt anpassen kann. Diesem Ziel widerspräche es, die in Art. 24 Abs. 1 GG vorgesehene Übertragung von Hoheitsrechten als eng begrenzte Ausnahme von dem ansonsten aufrechterhaltenen Ausschließlich171
Vgl. Dahm/Delbrück/Wolfrum, Völkerrecht 1/1, § 23,214 ff. (219 ff.) m. w. N.; Delbrück, Jost, Staatliche Souveränität und die neue Rolle des Sicherheitsrates der Vereinten Nationen, Verfassung und Recht in Übersee 26 (1993), 6-21; Schreuer, Christoph, The Waning of the Sovereign State: Towards a New Paradigm for International Law?, EJIL 4 (1993), 447-471; Hobe, Der offene Verfassungsstaat (Fn. 62), 380 ff. 172 So auch Randelzhofer, in: Maunz/Dürig, GG, Art. 241, Rz. 9; Tomuschat, in: BK, Art. 24, Rz. 34, spricht in bezug auf den Ausschließlichkeitsanspruch von einem „als Selbstverständlichkeit ungeschriebenen, aber nichts desto weniger verfassungskräftig verbürgten" Axiom des deutschen Staatsrechts. 173 So Bleckmann, Albert, Zur Funktion des Art. 24 Abs. 1 Grundgesetz, ZaöRV 35 (1975), 79-84 (81 f.); ders., in: FS Doehring (Fn. 151),74. 174 Doehring, Karl, Das Staatsrecht der Bundesrepublik Deutschland, 3. Aufl., Frankfurt a. M. 1984, 80.
Kap. 1, Β. Die Funktionen des Artikels 24 Abs. 1 GG im einzelnen
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keitsanspruch zu interpretieren. Vielmehr bringt das Grundgesetz zum Ausdruck, daß die Bundesrepublik Deutschland von Anfang an nicht mehr als weitgehend geschlossener Nationalstaat, sondern als offener Verfassungsstaat konzipiert worden ist. 175 Die Zurücknahme des Ausschließlichkeitsanspruchs des deutschen Staates ist verbunden mit einem Verzicht, auf den Sachgebieten, für die der zwischenstaatlichen Einrichtung Hoheitsbefugnisse zuerkannt worden sind, eigene staatliche Hoheitsgewalt auszuüben. Dieser Verzicht ist ebenfalls nicht im dinglichen Sinne so zu verstehen, als gingen damit die staatlichen Hoheitsrechte endgültig unter. 176 Sie bestehen vielmehr neben den Hoheitsbefugnissen der zwischenstaatlichen Einrichtung fort; die potentielle Allzuständigkeit des Staates bleibt erhalten.177 Das heißt, daß die Bundesrepublik Deutschland diese Rechte weiterhin ausüben könnte, dabei allerdings ihren völkerrechtlichen Verpflichtungen aus den Gründungsverträgen zuwiderhandeln würde.
b) Ermächtigung zur Erteilung eines besonderen Rechtsanwendungsbefehls Die Zustimmung des Gesetzgebers zu dem zugrundeliegenden völkerrechtlichen Vertrag bezieht sich nicht, wie bereits ausgeführt, 178 auf die von den Gemeinschaftsorganen erlassenen Sekundärrechtsakte. Diesen muß deshalb auf der Grundlage des Art. 24 Abs. 1 GG mittels eines besonderen Rechtsanwendungsbefehls unmittelbare Geltung im innerstaatlichen Rechtsbereich verliehen werden.179 Die unmittelbare Geltung allein reicht jedoch nicht aus, um die Wirksamkeit und insbesondere die einheitliche Anwendung europäischen Rechts in allen Mitgliedstaaten zu gewährleisten. Denn es stünde den Staaten weiterhin frei, nach 175
Vgl. dazu Hobe, Der offene Verfassungsstaat (Fn. 62), insb. 137 ff., 163 f. So aber Klein (Fn. 92), 27 ff. (32 f.); Ophüls (Fn. 92), 570 f.; Herzog, Roman, Das Verhältnis der Europäischen Menschenrechtskonvention zu späteren deutschen Gesetzen, DÖV 1959,44-47 (46 f.). 177 So die ganz h. M., vgl. Rauser (Fn. 72), 30 ff. (33); Tomuschat, in: BK, Art. 24, Rz. 19; Randelzhofer, in: Maunz/Dürig, GG, Art. 241, Rz. 58,59; Ipsen, Europäisches Gemeinschaftsrecht, 56 f.; Magiera, Siegfried, Die Grundgesetzänderung von 1992 und die Europäische Union, Jura 1994, 1-11 (3). Dagegen jetzt Flint (Fn. 90), 85 ff., der den Versuch unternimmt, eine eng am Wortlaut ausgerichtete, neue dogmatische Konstruktion zu begründen, und dabei von einer Abtretung von Hoheitsrechten ausgeht (141). 178 Siehe dazu oben Kap. 1, Β. II. 2. b). 179 So in st. Rspr. das Bundesverfassungsgericht, vgl. dazu BVerfGE 73,339 (375); 77, 170 (210); 89,155(190). 176
II. Ermächtigung zur „Übertragung von Hoheitsrechten"
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der Lex-posterior-Rtgél EG-Vorschriften durch spätere nationale Gesetze außer Kraft zu setzen. Deshalb muß der Rechtsanwendungsbefehl zugleich die Anordnung beinhalten, das Gemeinschaftsrecht vorrangig anzuwenden und entgegenstehendes nationales Recht - sei es bereits vorhandenes oder sei es später erlassenes Recht - außer acht zu lassen. Der Rechtsanwendungsbefehl bezieht sich folglich nicht nur auf das europäische Sekundärrecht, sondern auch auf die im Primärrecht enthaltenen Geltungs- und Kollisionsnormen180 sowie auf solche Bestimmungen, die aufgrund einer Auslegung des Vertrages durch den EuGH unmittelbar anwendbar sind.181 In dem „Solange ΙΓ-Beschluß hat das Bundesverfassungsgericht deutlich gemacht, daß nicht Art. 24 Abs. 1 GG selbst den Rechtsanwendungsbefehl erteilt, sondern den Gesetzgeber ermächtigt, in dem Zustimmungsgesetz eine entsprechende Geltungsanordnung zu treffen. Dazu heißt es: „Art. 24 Abs. 1 GG ermöglicht es indessen von Verfassungs wegen, Verträgen, die Hoheitsrechte auf zwischenstaatliche Einrichtungen übertragen, und dem von solchen Einrichtungen gesetzten Recht Geltungs- und Anwendungsvorrang vor dem innerstaatlichen Recht der Bundesrepublik Deutschland durch einen entsprechenden innerstaatlichen Anwendungsbefehl beizulegen."182
Aus dieser Formulierung lassen sich folgende Schlüsse ziehen: Das Bundesverfassungsgericht geht - im Gegensatz zum EuGH - davon aus, daß das Gemeinschaftsrecht nicht schon deshalb in Deutschland gilt, d. h. für die Bürger und die staatlichen Organe unmittelbar anwendbar und verbindlich ist, weil es einer autonomen supranationalen Rechtsordnung entstammt und seine unmittelbare Geltung im Gründungsvertrag (Art. 189 Abs. 2 E(W)GV) festgelegt ist. Vielmehr ist ein Akt des deutschen Gesetzgebers notwendig, um insbesondere den sekundären Gemeinschaftsrechtsakten im Bundesgebiet Geltung zu verleihen. Genauso wie der völkerrechtliche Gründungsvertrag des Vollzugsbefehls gemäß Art. 59 Abs. 2 S. 1 GG bedarf, ist also für die Geltung des Sekundärrechts auch ein vom Parlament erteilter Rechtsanwendungsbefehl erforderlich. Der Unterschied zum „einfachen" Zustimmungsgesetz gemäß Art. 59 Abs. 2 S. 1 GG besteht allerdings darin, daß nicht jeder einzelne Sekundärrechtsakt die Zustimmung des Gesetzgebers verlangt, sondern diese bereits im voraus mit dem Zustimmungsgesetz zum Gründungsvertrag erteilt wird. Das Erfordernis eines Rechtsanwendungsbefehls ist Folge des in Art. 59 Abs. 2 S. 1 GG und Art. 24 Abs. 1 GG zum Ausdruck kommenden Grundsatzes, daß nicht von deutschen Staatsorganen gesetztes, also außerstaatliches Recht zu seiner unmittelbaren Geltung und Anwendung der Mitwirkung des deutschen Gesetzgebers bedarf und von diesem parlamentarisch verant180 181 182
6 König
Randelzhofer, in: Maunz/Dürig, GG, Art. 241, Rz. 12. Vgl. dazu Geiger, Grundgesetz und Völkerrecht, § 44, 249 f. BVerfGE 73, 339 (375).
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Kap. 1, Β. Die Funktionen des Artikels 24 Abs. 1 GG im einzelnen
wortet werden muß. Etwas anderes könnte in bezug auf das europäische Gemeinschaftsrecht nur gelten, wenn sich die im Vertrag von Maastricht183 gegründete Union von ihrer völkerrechtlichen Grundlage losgelöst und Staatsqualität erlangt hätte. Dann könnte - wie im deutschen Bundesstaat - das Unionsrecht aus sich selbst heraus, d. h. ohne Dazwischentreten (glied)staatlicher Zustimmungsakte unmittelbar gelten. Im Maastricht-Urteil hat das Bundesverfassungsgericht - in Übereinstimmung mit der nahezu einhelligen Auffassung im Schrifttum 184 - dargelegt, daß dieser Schritt zur Staatswerdung im Unions vertrag (noch) nicht erfolgt ist. 185 Der unterschiedliche Begründungsansatz von EuGH und Bundesverfassungsgericht zur Geltung des Gemeinschaftsrechts führt erst zum Konflikt zwischen beiden Rechtsordnungen, wenn es um die Frage des Vorrangs geht. Daher sollen im folgenden beide Ansätze anhand der Vorrangfrage aufgezeigt und einander gegenübergestellt werden.
4. Ermächtigung zur Bestimmung des Rangverhältnisses zwischen europäischem und deutschem Recht Die unmittelbare Geltung primären und sekundären Gemeinschaftsrechts im innerstaatlichen Rechtsraum wirft die Frage nach dem Rangverhältnis zwischen beiden Rechtsordnungen auf. Welche Rechtsordnung setzt sich im Konfliktfall 183
BGBl. 1992 II, 1251 ff. Vgl. ζ. B. Scholz, Rupert, Europäische Union und deutscher Bundesstaat, NVwZ 1993, 817-824 (818); Everling, Ulrich, Überlegungen zur Struktur der Europäischen Union und zum neuen Europa-Artikel des Grundgesetzes, DVB1. 1993, 936-947 (941); Oppermann, Thomas/Classen, Claus D., Die EG vor der Europäischen Union, NJW 1993, 5-12 (11); Herdegen, Matthias, Die Belastbarkeit des Verfassungsgefüges auf dem Weg zur Europäischen Union, EuGRZ 1992, 589-594 (590 f.); Häberle, Peter, Verfassungsrechtliche Fragen im Prozeß der europäischen Einigung, EuGRZ 1992,429-437 (431 ); von Simson, Werner/Schwarze, Jürgen, Europäische Integration und Grundgesetz, Berlin u. a. 1992, 63 f.; Blanke, Hermann-Josef, Der Unionsvertrag von Maastricht - Ein Schritt auf dem Weg zu einem europäischen Bundesstaat?, DÖV 1993, 412-423 (419); Bieber, Roland, Beschwerden über die Verfassung als Verfassungsbeschwerden?, Neue Justiz 1993, 241-244 (243); Weber, Albrecht, Zur künftigen Verfassung der Europäischen Gemeinschaft, JZ1993,325-330 (328); a. A. offenbar Rupp, Hans H., Maastricht - eine neue Verfassung?, ZRP 1993, 211-213 (213); Wolf, Joachim, Die Revision des Grundgesetzes durch Maastricht, JZ 1993,594-601 (597 f.); Ossenbühl, Fritz, Maastricht und das Grundgesetz - eine verfassungsrechtliche Wende?, DVB1. 1993, 629-637 (631), dem zufolge „sich die Gemeinschaft nach Maastricht nicht mehr als schlichter supranationaler Zweckverband deuten läßt, sondern die Dimensionen einer supranationalen Staatlichkeit erreicht hat". 183 BVerfGE 89,155 (188). 184
II. Ermächtigung zur „Übertragung von Hoheitsrechten"
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durch? Nationale Gerichte und der EuGH gehen inzwischen übereinstimmend davon aus, daß das europäische Gemeinschaftsrecht grundsätzlich Vorrang vor entgegenstehendem nationalem Recht hat. Es besteht auch weitgehend Einigkeit darüber, daß es sich bei diesem Vorrang nicht um einen Geltungs-, sondern um einen Anwendungsvorrang handelt.186 Das bedeutet, daß das Gemeinschaftsrecht das nachrangige nationale Recht nicht im Sinne der bundesstaatlichen Kollisionsregel „Bundesrecht bricht Landesrecht" für nichtig erklärt und damit seiner Geltungsgrundlage beraubt.187 Vielmehr wird das entgegenstehende Recht der Mitgliedstaaten vom Gemeinschaftsrecht überlagert und verdrängt. Im nationalen Bereich gilt es zwar weiterhin, ist also nicht schlechthin nichtig; es darf aber von den Behörden und Gerichten auf grenzüberschreitende, den Verträgen über die Europäischen Gemeinschaften unterfallende Sachverhalte nicht mehr angewendet werden, solange die vorrangige Bestimmung des Gemeinschaftsrechtes in Kraft ist.188 Die Frage, ob sich der Anwendungsvorrang auf alle Normen des nationalen Rechts erstreckt, ob also ζ. B. sekundäres Gemeinschaftsrecht auch mitgliedstaatlichen Verfassungsbestimmungen im Rang vorgeht, wird dagegen vom EuGH und vom Bundesverfassungsgericht unterschiedlich beantwortet.
a) Die genuin europarechtliche Lösung des Europäischen Gerichtshofs Der EuGH stellte in seiner Leitentscheidung zum Verhältnis des Gemeinschaftsrechts zum nationalen Recht der Mitgliedstaaten, in der Rechtssache Costa/ E.N.E.L 189, ausdrücklich klar, daß die Vertragsstaaten im Unterschied zu gewöhnlichen internationalen Verträgen im EWG-Vertrag eine eigene Rechtsordnung 186
Vgl. statt aller Oppermann, Europarecht, § 6, Rz. 616,633; Streinz, Europarecht, § 3, Rz. 179, 200. 187 So aber u. a. der radikale Lösungsansatz von Grabitz, Eberhard, Gemeinschaftsrecht bricht nationales Recht, Hamburg 1966,98 ff. 188 Ständige Rspr. des EuGH seit 1968, vgl. Rs. 34/67 (Lück/Hauptzollamt Köln-Rheinau), Slg. 1968,364 (373); inderRs. 106/77 (Staatl. Finanzverw./Simmenthal), Slg. 1978, 629,644 (Rz. 21/23) heißt es deutlich:, Aus alledem folgt, daß jeder im Rahmen seiner Zuständigkeit angerufene staatliche Richter verpflichtet ist, das Gemeinschaftsrecht uneingeschränkt anzuwenden und die Rechte, die es den einzelnen verleiht, zu schützen, indem er jede möglicherweise entgegenstehende Bestimmung des nationalen Rechts, gleichgültig, ob sie früher oder später als die Gemeinschaftsnorm ergangen ist, unangewendet läßt." Vgl. zu den Voraussetzungen, unter denen der Anwendungsvorrang zum Tragen kommt, und zur Verwerfung entgegenstehenden nationalen Rechts durch die nationalen Behörden und Gerichte Jarass, Hans D., Grundfragen der innerstaatlichen Bedeutung des EG-Rechts, Köln u. a. 1994,4 f. und 100 ff. 189 Rs. 6/64 (Costa/E.N.E.L.), Slg. 1964,1251 ff. »
Kap. 1, Β. Die Funktionen des Artikels 24 Abs. 1 GG im einzelnen
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geschaffen hätten. Er verwies darauf, daß sie dadurch, daß sie die Gemeinschaft mit eigenen Organen und echten Hoheitsrechten ausgestattet hätten, ihre Souveränitätsrechte beschränkt und das Gemeinschaftsrecht als für sich und ihre Angehörigen verbindlich anerkannt hätten.190 Zum Verhältnis dieses eigenständigen Rechts zum nationalen Recht führte er aus,
„... daß dem vom Vertrag geschaffenen, somit aus einer autonomen Rechtsquelle fließenden Recht wegen dieser seiner Eigenständigkeit keine wie immer gearteten innerstaatlichen Rechtsvorschriften vorgehen können, wenn ihm nicht sein Charakter als Gemeinschaftsrecht aberkannt und wenn nicht die Rechtsgrundlage der Geme selbst in Frage gestellt werden soll" (Hervorhebung durch die Verfin). 191
In der Rechtssache Internationale Handelsgesellschaft stellte der EuGH darüber hinaus klar, daß das Gemeinschaftsrecht vorrangige Geltung auch gegenüber dem Verfassungsrecht der Mitgliedstaaten beanspruche. Im Urteil hieß es dazu:
„ Die einheitliche Geltung des Gemeinschaftsrechts würde beeinträchtigt, wen Entscheidung über die Gültigkeit von Handlungen der Gemeinschaftsorgane oder Grundsätze des nationalen Rechts herangezogen würden. Die Gültigkeit Handlungen kann nur nach dem Gemeinschaftsrecht beurteilt werden.... Daher k die Gültigkeit einer Gemeinschaftshandlung oder deren Geltung in einem Mitgliedstaat nicht berühren, wenn geltend gemacht wird, die Grundrechte in der ihnen von der Verfassung dieses Staates gegebenen Gestalt oder die Strukturprinzipien der nationalen Verfassung seien verletzt" (Hervorhebung durch die Verfin). 192
Um den Gemeinschaftsbürgern dennoch die grundrechtlichen Freiheiten gegenüber Gemeinschaftsrechtsakten zu gewährleisten, machte der Gerichtshof deutlich, daß er selbst die Wahrung der Grundrechte garantiere, die als gemeinsame Verfassungsüberlieferungen der Mitgliedstaaten zu den allgemeinen Rechtsgrundsätzen des Gemeinschaftsrechts gehörten.193 Die einheitliche, unmittelbare und den nationalen Bestimmungen jeglicher Stufe im Rang vorgehende Geltung des Gemeinschaftsrechts begründet der EuGH wie die vorstehenden Zitate belegen - mit der Funktionsfähigkeit der Gemeinschaft. 194 Diese kann die ihr zugewiesenen Aufgaben nach Ansicht des Gerichtshofes nur erfüllen, wenn sichergestellt ist, daß das Gemeinschaftsrecht in allen Mitgliedstaaten unabhängig von ihrer jeweiligen Verfassung in gleicherweise un190
Ebenda, 1269. Ebenda, 1270. 192 Rs. 11/70 (Internationale Handelsgesellschaft mbH/Einfuhr- und Vorratsstelle für Getreide und Futtermittel), Slg. 1970,1125,1135 (Rz. 3). 193 Ebenda, Rz. 4; so schon zuvor in der Rs. 29/69 (Stauder/Stadt Ulm, Sozialamt), Slg. 1969,419,425 (Rz. 7), seither st. Rspr. 194 Grundlegend dazu Ipsen, Europäisches Gemeinschaftsrecht, 280 ff., der vom „Prinzip der Sicherung der Funktionsfähigkeit der Gemeinschaften" spricht (280). 191
II. Ermächtigung zur „Übertragung von Hoheitsrechten"
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eingeschränkt zur Geltung gelangt.195 Könnten die Mitgliedstaaten einzelne Bestimmungen des Gemeinschaftsrechts unter Berufung auf ihre Verfassung im innerstaatlichen Bereich für unanwendbar erklären, so hätte dies eine Rechtszersplitterung zur Folge, die der Schaffung eines einheitlichen Binnenmarktes und der Errichtung einer politischen Union entgegenstünde. Der EuGH stützt die unmittelbare Geltung und den Vorrang des Gemeinschaftsrechts also auf die Autonomie der supranationalen Rechtsordnung. Unter einer autonomen versteht er eine nicht von den Mitgliedstaaten abgeleitete, aus sich selbst heraus geltende Rechtsordnung. Zur Begründung greift er allein auf die Verträge, und hier insbesondere auf Art. 189 Abs. 2 E(W)GV, Art. 14 Abs. 2 EGKSV und Art. 161 Abs. 2 EAGV, 196 zurück, die er nach teleologischen Gesichtspunkten auslegt. Die verfassungsrechtlichen Bestimmungen der Mitgliedstaaten, die die Übertragung von Hoheitsrechten und damit auch die Geltung des Gemeinschaftsrechts im innerstaatlichen Bereich aus deren Sicht erst ermöglichen, läßt er außer Betracht.
b) Die verfassungsrechtliche Lösung des Bundesverfassungsgerichts Das Bundesverfassungsgericht hat im Anschluß an das Urteil des EuGH in der Rechtssache Costa/E.N.E.L.197 in einer Entscheidung aus dem Jahre 1967198 die Rechtsprechung des Gerichtshofs zur Autonomie des Gemeinschaftsrechts grundsätzlich akzeptiert. Es bezeichnete Rechtsakte der Gemeinschaft als , Akte einer besonderen, durch den Vertrag geschaffenen, von der Staatsgewalt der Mitgliedstaaten deutlich geschiedenen »supranationalen4 öffentlichen Gewalt" und charakterisierte das sekundäre Gemeinschaftsrecht als „eigene Rechtsordnung, deren Normen weder Völkerrecht noch nationales Recht der Mitgliedstaaten sind".199 Zum Verhältnis von supranationalem zu nationalem Recht führte es aus, daß es sich um „zwei selbständige, voneinander verschiedene Rechtsordnungen" handele, wobei das vom EWG-Vertrag geschaffene Recht aus einer „autonomen Rechtsquelle" fließe. 200 Aus diesem Grunde sah sich das Gericht daran gehindert, im in195
Vgl. dazu Nettesheim, Martin, Der Grundsatz der einheitlichen Wirksamkeit des Gemeinschaftsrechts, in: GS Grabitz (Fn. 113), 447-468 (454 ff.). 196 Diese Bestimmungen ordnen für den jeweiligen Gemeinschaftsvertrag die unmittelbare Geltung von Verordnungen in den Mitgliedstaaten an. 197 Siehe dazu oben Kap. 1, Β. II. 4. a) und Fn. 189. 198 BVerfGE 22, 293 ff. 199 Ebenda, 295 f. 200 Ebenda, 296.
Kap. 1, Β. Die Funktionen des Artikels 24 Abs. 1 GG im einzelnen
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nerstaatlichen Bereich unmittelbar anwendbare Verordnungen des Rates und der Kommission auf ihre Vereinbarkeit mit den im Grundgesetz verankerten Grundrechten zu überprüfen, und verwarf die Verfassungsbeschwerde als unzulässig.201 In einer weiteren Entscheidung aus dem Jahre 1971 erkannte das Bundesverfassungsgericht den Vorrang primären Gemeinschaftsrechts (Art. 95 EWGV) gegenüber entgegenstehendem einfachgesetzlichem Steuerrecht an und führte unter Hinweis auf die Eigenständigkeit und unmittelbare Geltung des Gemeinschaftsrechts aus: „Art. 24 Abs. 1 GG besagt bei sachgerechter Auslegung nicht nur, daß die Übertragung von Hoheitsrechten auf zwischenstaatliche Einrichtungen überhaupt zulässig ist, sondern auch, daß die Hoheitsakte ihrer Organe ... vom ursprünglich ausschließlichen Hoheitsträger anzuerkennen sind. Von dieser Rechtslage ausgehend müssen ... die deutschen Gerichte auch solche Rechtsvorschriften anwenden, die zwar einer eigenständigen außerstaatlichen Hoheitsgewalt zuzurechnen sind, aber dennoch aufgrund ihrer Auslegung durch den Europäischen Gerichtshof im innerstaatlichen Raum unmittelbare Wirkung entfalten und entgegenstehendes nationales Recht überlagern und verdrängen; denn nur so können die den Bürgern des Gemeinsamen Markts eingeräumten subjektiven Rechte verwirklicht werden."202
Der Vorrang des Gemeinschaftsrechts ist also auch nach Ansicht des Bundesverfassungsgerichts Folge seiner Eigenständigkeit. Zur Begründung führte das Gericht ebenso wie der EuGH die Sicherung der Funktionsfähigkeit der Gemeinschaft an, wobei es vor allem auf die im Gemeinschaftsrecht verankerten subjektiven Rechte der Marktbürger abstellte. Allerdings - und hierin liegt der entscheidende Unterschied zur Argumentation des EuGH - leitete das Bundesverfassungsgericht den Anwendungsvorrang nicht allein aus dem Gemeinschaftsrecht ab. Es griff vielmehr zur Begründung auf Art. 24 Abs. 1 GG zurück. Dies ist folgerichtig, da aus der Perspektive des nationalen Verfassungsrechts erst der im Zustimmungsgesetz gemäß Art. 24 Abs. 1 GG erteilte Rechtsanwendungsbefehl die unmittelbare Geltung des Gemeinschaftsrechts im innerstaatlichen Rechtsraum zuläßt.203 Diesen Begründungszusammenhang machte das Gericht in der „Solange IT-Entscheidung aus dem Jahre 1986 noch einmal ganz deutlich, indem es ausführte: 201
Diese Rechtsprechung hat das Bundesverfassungsgericht in seinem Urteil zum Maastrichter Vertrag aufgegeben; es nimmt nunmehr für sich in Anspruch, Akte der Gemeinschaftsorgane unmittelbar am Maßstab der deutschen Grundrechte zu überprüfen, allerdings in einem „Kooperationsverhältnis" zum EuGH, BVerfGE 89, 155 (174 f.). Siehe dazu unten Kap. 5, Β. I. 2. 202 BVerfGE 31,145 (174). 203 Siehe dazu oben Kap. 1, Β. II. 3. b).
II. Ermächtigung zur „Übertragung von Hoheitsrechten"
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„Art. 24 Abs. 1 GG ordnet zwar nicht schon selbst die unmittelbare Geltung und Anwendbarkeit des von der zwischenstaatlichen Einrichtung gesetzten Rechts an, noch regelt er unmittelbar das Verhältnis zwischen diesem Recht und dem innerstaatlichen Recht, etwa die Frage des Anwendungsvorranges. ... Art. 24 Abs. 1 GG ermöglicht es indessen von Verfassungs wegen, Verträgen, die Hoheitsrechte auf zwischenstaatliche Einrichtungen übertragen, und dem von solchen Einrichtungen gesetzten Recht Geltungs· und Anwendungsvorrang vor dem innerstaatlichen Recht der Bundesrepublik Deutschland durch einen entsprechenden innerstaatlichen Anwendungsbefehl beizulegen. ...Aus dem Rechtsanwendungsbefehl des Zustimmungsgesetzes zum EWG trag, der sich auf Art. 189 Abs. 2 EWGV erstreckt, ergibt sich die unmittelbare der Gemeinschaftsverordnungen für die Bundesrepublik Deutschland und ihr dungsvorrang gegenüber innerstaatlichem Recht" (Hervorhebung durch die Verfin).
Der Anwendungsvorrang des Gemeinschaftsrechts im innerstaatlichen Bereich folgt nach Auffassung des Gerichts also weder allein aus der Eigenständigkeit des Gemeinschaftsrechts noch unmittelbar aus Art. 24 Abs. 1 GG. Vielmehr ist ein Zusammenspiel beider Rechtsordnungen erforderlich. Der Vorrang des Gemeinschaftsrechts wird - ohne daß dies vom Gericht näher begründet wird - offenbar aus dem Sinn und Zweck des Vertrages gefolgert. In der sog. Richtlinien-Entscheidung aus dem Jahre 1987 führte es zur Herleitung des AnwendungsVorranges aus: „... Dieser An wendungs vorrang gegenüber späterem wie früherem nationalem Gesetzesrecht beruht auf einer ungeschriebenen Norm des primären Gemeinschaftsrechts, der durch die Zustimmungsgesetze zu den Gemeinschaftsverträgen in Verbindung mit Art. 24 Abs. 1 GG der innerstaatliche Rechtsanwendungsbefehl erteilt worden ist."205
Dieser vertraglich begründete Vorrang kann sich auf dem Gebiet der Bundesrepublik Deutschland aber erst auswirken, wenn und weil der innerstaatliche Rechtsanwendungsbefehl in dem deutschen Zustimmungsgesetz gemäß Art. 24 Abs. 1 GG erteilt worden ist. Damit hat das Bundesverfassungsgericht die insbesondere von Grabitz vertretene Auffassung, der zufolge der Vorrang des Gemeinschaftsrechts sich aus den Bestimmungen des E(W)GV selbst ergibt und nach dem Grundsatz „Gemeinschaftsrecht bricht nationales Recht" automatisch durchsetzt206, abgelehnt. Es hat demgegenüber ausdrücklich festgehalten, daß ein innerstaatlicher Anwendungsvorrang selbst dann aus dem entsprechenden nationalen Rechtsanwendungsbefehl folgt, wenn sich die Vertragsstaaten in dem Gründungsvertrag der zwischenstaatlichen Einrichtung verpflichtet haben, den Vorrang im 204
BVerfGE 73, 339 (374 f.). BVerfGE 75, 223 (244). 206 Grabitz (Fn. 333), 98 ff. (114); im Ergebnis auch Ophüls, Carl F., Die Geltungsnormen des Europäischen Gemeinschaftsrechts, in: Aubin, Bernhard u. a. (Hrsg.), Festschrift für Otto Riese aus Anlaß seines 70. Geburtstages, Karlsruhe 1964,1-26 (24); ders., FS 150 Jahre Carl Heymanns Verlag (Fn. 92), 567 f., 573; Kaiser (Fn. 88), 18,30 f. (Leitsatz II.2). 205
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Kap. 1, Β. Die Funktionen des Artikels 24 Abs. 1 GG im einzelnen
innerstaatlichen Bereich herbeizuführen. 207 Außerdem hat es klargestellt, daß Art. 24 Abs. 1 GG entgegen einer im Schrifttum mehrfach vertretenen Auffassung 208 und der unklaren Formulierung in einer früheren Entscheidung aus dem Jahre 1971 209 nicht selbst Rangbestimmung und Kollisionsnorm ist. 210 Hiergegen spricht schon, daß die Kollisionsnorm zur Regelung von Konflikten zwischen dem nationalen Recht und dem eigenständigen Gemeinschaftsrecht weder allein der nationalen noch der Gemeinschaftsordnung entnommen werden kann. Frowein hat zutreffend darauf hingewiesen, daß, solange keine bundesstaatliche Struktur bestehe, eine einheitliche Lösung der Kollision der selbständig nebeneinander stehenden Rechtsordnungen nur erreicht werden könne, wenn parallel in den beiden Rechtsordnungen gleichlautende Konfliktsnormen enthalten seien. 211 Zusammenfassend läßt sich feststellen, daß der Vorrang des Gemeinschaftsrechts nach der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts und der herrschenden Auffassung im Schrifttum 212 nicht aus Art. 24 Abs. 1 GG selbst zu entnehmen ist, sondern sich aus dem E(W)GV in Verbindung mit dem im Zustimmungsgesetz enthaltenen Rechtsanwendungsbefehl ergibt. Artikel 24 Abs. 1 GG stellt die Er207
BVerfGE 73, 339 (375). Carstens, Karl, Der Rang europäischer Verordnungen gegenüber deutschen Rechtsnormen, FS Riese (Fn. 206), 65-81 (79); Stern, Staatsrecht I, § 15, 543; ähnlich Maunz (Erstbearbeiter), in: Maunz/Dürig, GG, Art. 241, Rz. 9 f.; Huthmacher, Karl E., Der Vorrang des Gemeinschaftsrechts bei indirekten Kollisionen, Köln u. a. 1985, 161; Grewe, Wilhelm G., Zum Verfassungsrecht der auswärtigen Gewalt, AöR 112 (1987), 521-543 (541), spricht davon, daß der Vorrang des Gemeinschaftsrechts zu den „weitreichenden Auswirkungen des Art. 24 Abs. 1 GG" gehöre; Ress, Georg, Die Kontrolle internationaler Verträge und der Akte der Europäischen Gemeinschaften durch das Bundesverfassungsgericht, in: Koenig, Pierre/Rüfner, Wolfgang (Hrsg.), Die Kontrolle der Verfassungsmäßigkeit in Frankreich und in der Bundesrepublik Deutschland, Köln u. a. 1985,145-173 (149), sieht in Art. 24 Abs. 1 GG den »Ansatz zur Lösung des Vorranges der Akte der Europäischen Gemeinschaften vor den Akten der deutschen Staatsgewalt". 209 BVerfGE 31,145 (174). 210 BVerfGE 75, 223 (244), wo es heißt: „Art. 24 Abs. 1 GG enthält die verfassungsrechtliche Ermächtigung für die Billigung dieser Vorrangregel durch den Gesetzgeber und ihre Anwendung durch die rechtsprechende Gewalt im Einzelfall" (Hervorhebung durch die Verfin). 211 Frowein, Jochen Ahr., Europäisches Gemeinschaftsrecht und Bundesverfassungsgericht, in: Starck, Christian (Hrsg.), Bundesverfassungsgericht und Grundgesetz, Bd. II, Tübingen 1976, 187-213 (197); ders., Verfassungsperspektiven (Fn. 110), 67, und bereits ders., Zum Verhältnis zwischen dem EWG-Recht und nationalem Recht aus der Sicht des Gerichtshofes der Europäischen Gemeinschaften, RIW/AWD 1964, 233-238 (236 f.). 212 Vgl. Randelzhofer, in: Maunz/Dürig, GG, Art. 24 I, Rz. 16; Tomuschat, in: BK, Art. 24, Rz. 76; Rojahn, in: von Münch/Kunig, GG, Art. 24, Rz. 70; Zuleeg, in: AK-GG, Art. 241, Rz. 26, jeweils mit umfangreichen Nachweisen. 208
II. Ermächtigung zur „Übertragung von Hoheitsrechten"
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mächtigungsgrundlage für den erforderlichen Rechtsanwendungsbefehl dar. Damit bezieht sich die Ermächtigung des Gesetzgebers nicht nur darauf, die unmittelbare Geltung des primären und sekundären Gemeinschaftsrechts im innerstaatlichen Bereich anzuordnen. Sie erstreckt sich auch darauf, dem aus dem E(W)GV abgeleiteten Vorrang Wirksamkeit zu verleihen. Insofern kommt der Ermächtigung zur Erteilung eines besonderen Rechtsanwendungsbefehls eine Doppelfunktion 213 zu, nämlich die Sicherstellung der unmittelbaren Geltung und des Anwendungsvorrangs des Gemeinschaftsrechts in der Bundesrepublik Deutschland. Die Einbeziehung des Art. 24 Abs. 1 GG in die Begründung der unmittelbaren Geltung und des Anwendungsvorrangs, die dem Gemeinschaftsrecht im innerstaatlichen Bereich zukommen, hat gegenüber der genuin europarechtlichen Lösung folgende Konsequenzen: In dem „Solange I"-Beschluß aus dem Jahre 1974214 h a t d a s Bundesverfassungsgericht erstmals deutlich gemacht, daß Art. 24 Abs. 1 GG dem Gesetzgeber die Übertragung von Hoheitsrechten - und damit die Anordnung des Vorrangs des Gemeinschaftsrechts - nicht vorbehaltlos gestattet. Dies hat zur Folge, daß die im Rechtsanwendungsbefehl enthaltene Anordnung des Vorrangs nur in den Grenzen der verfassungsrechtlichen Ermächtigung gilt. Dementsprechend geht das Gemeinschaftsrecht nicht uneingeschränkt nationalem Recht jeglichen Ranges vor. Vielmehr erhalten im Konfliktfall die Grundstrukturen der deutschen Verfassung den Vorrang. Damit hat das Bundesverfassungsgericht die unmittelbare Geltung und den Anwendungsvorrang des Gemeinschaftsrechts unter den Vorbehalt gestellt, daß die essentiellen Strukturen der Verfassung in jedem Fall bewahrt werden müßten. Seine Konstruktion läßt sich - um Bleckmanns anschauliches Bild aufzunehmen - dahingehend beschreiben, daß die Breite der Bresche, die Art. 24 Abs. 1 GG in den nationalen Souveränitätspanzer schlägt, vom deutschen Verfassungsrecht vorgegeben wird. Insofern bestimmt letztlich das Verfassungsrecht - nicht das Gemeinschaftsrecht - Reichweite und Grenzen des Anwendungsvorrangs.215 An dieser Stelle wird bereits deutlich, daß die aus dem Grundgesetz abgeleitete Lösung des Bundesverfassungsgerichts mit dem vom EuGH aus dem Gemeinschaftsrecht entwickelten unbedingten Geltungsund Vorranganspruch in Konflikt gerät. Ob und wie dieser Konflikt zu entschärfen ist und welche Schritte das Bundesverfassungsgericht dazu unternommen hat, soll an späterer Stelle im einzelnen dargestellt werden.216 213
Randelzhofer, ebenda, spricht von einem „Unterfall der ... Erteilung des Rechtsanwendungsbefehls". 214 BVerfGE 37, 271 (279 f.); siehe dazu ausführlich unten Kap. 5, Α. I. 1. 215 Bleckmann, in: FS Doehring (Fn. 151), 77. 216 Siehe dazu unten Kap. 5, Α. I. 1., 5.
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Kap. 1, Β. Die Funktionen des Artikels 24 Abs. 1 GG im einzelnen
ΙΠ. Ermächtigung zur Verfassungsänderung oder Verfassungsdurchbrechung? Vielfach wird die Auffassung vertreten, daß Art. 24 Abs. 1 GG den Gesetzgeber zu einer Verfassungsänderung oder gar einer Verfassungsdurchbrechung ermächtige.217 Dieser Ansicht liegt die Prämisse zugrunde, daß jede Übertragung von Hoheitsrechten zu einer Änderung der Verfassung führe und deshalb eigentlich eines formellen verfassungsändernden Gesetzes gemäß Art. 79 Abs. 1 und 2 GG bedürfe. Häufig werden dabei die Begriffe der „Verfassungsänderung" und der „Verfassungsdurchbrechung" nicht klar voneinander unterschieden.218 Unter einer „Verfassungsänderung" wird regelmäßig die Änderung der Verfassung durch ein Gesetz verstanden, daß den Wortlaut des Grundgesetzes gemäß Art. 79 Abs. 1 S. 1 GG ausdrücklich ändert oder ergänzt. Dagegen wird von einer „Verfassungsdurchbrechung" gesprochen, wenn sich „der Gesetzgeber unter Einhaltung der verfassungsrechtlichen Voraussetzungen durch den Erlaß eines sachlich von der Verfassung abweichenden Gesetzes über das geltende Verfassungsrecht ... hinweg[setzt], ohne daß der Text des Verfassungsgesetzes geändert oder ergänzt und ohne daß die Geltung des »durchbrochenen4 Verfassungsrechtssatzes im übrigen berührt wird". 219 Legt man diese Definitionen zugrunde, so lassen sich die mit einer Übertragung von Hoheitsrechten verbundenen Veränderungen der Verfassung unter keinen der beiden Begriffe subsumieren. Eine „Verfassungsänderung" liegt nicht vor, weil das Textänderungsgebot des Art. 79 Abs. 1 S. 1 GG nicht beachtet wird. Dies spräche zwar für eine „Verfassungsdurchbrechung". Deren weitere begriffliche Voraussetzungen sind jedoch ebenfalls nicht erfüllt. Denn der Integrationsgesetzgeber entscheidet gemäß Art. 24 Abs. 1 GG gerade 217
So bereits Κ. H. Klein (Fn. 92), 28,33; Süsterhenn, Der Kampf um den Wehrbeitrag, 1. Hbd. (Fn. 20), 270; Stellungnahme der Bundesregierung, Der Kampf um den Wehrbeitrag, 2. Hbd. (Fn. 20), 31 \ Scheuner, ebenda, 137 f., 140; Thoma, ebenda, 164; Wolff, ebenda, 204; Glaesner, Hans-Joachim, Übertragung rechtsetzender Gewalt auf internationale Organisationen in der völkerrechtlichen Praxis, DÖV 1959, 653-658 (653); Thieme, Werner, Das Grundgesetz und die öffentliche Gewalt internationaler Staatengemeinschaften, in: VVDStRL 18 (1960), 50-80 (55,57). 218 Bei Ipsen, Europäisches Gemeinschaftsrecht, 58, heißt es beispielsweise: „Das Grundgesetz hat mit dieser Vorschrift einen zusätzlichen, besonderen, neben Art. 79 geregelten Weg der Verfassungsänderung und -durchbrechung eröffnet." 219 Badura, Peter, Verfassungsänderung, Verfassungswandel, Verfassungsgewohnheitsrecht, in: HStR VII (1992), § 160, Rz. 23; eine leicht abgewandelte Definition findet sich bei Hufeid, Ulrich, Die Verfassungsdurchbrechung - Rechtsproblem der Deutschen Einheit und der europäischen Einigung, Ein Beitrag zur Dogmatik der Verfassungsänderung, Berlin 1997, 25, der weder die fehlende Textänderung noch das Abstellen auf den Einzelfall für begriffsnotwendig erachtet.
III. Ermächtigung zur Verfassungsänderung oder Verfassungsdurchbrechung?
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nicht mit verfassungsändernden Mehrheiten. Zudem betreffen die Veränderungen nicht nur wenige Ausnahmefälle oder vereinzelte Verfassungsbestimmungen, sondern wirken sich mit zunehmender Integrationsdichte auf das gesamte Verfassungsgefüge aus. Deshalb ist die Charakterisierung der mit den Kompetenzverlagerungen auf die EG/EU einhergehenden Auswirkungen auf den Inhalt des Grundgesetzes als „Verfassungsdurchbrechung" abzulehnen, zumal sich mit diesem Begriff die negative Vorstellung einer „eigentlich" gegen den Geist der Verfassung verstoßenden Ausnahmeregelung verbindet.220 Um diese negativen Implikationen zu vermeiden, wird überwiegend von einer „materiellen Verfassungsänderung" gesprochen. Diese wird von der „formellen Verfassungsänderung", also einer Verfassungsänderung mit Zweidrittelmehrheit unter Beachtung des Textänderungsgebots, unterschieden. Allerdings gibt es divergierende Auffassungen darüber, worin die Verfassungsänderung besteht. Von einigen wird sie in der Rücknahme des staatlichen Ausschließlichkeitsanspruchs gesehen.221 Dieser Auffassung ist folgendes entgegenzuhalten: Es ist zwar richtig, daß die Abgeordneten des Parlamentarischen Rates von dem bis zum Zweiten Weltkrieg akzeptierten Bild des geschlossenen Nationalstaates ausgingen. Anderenfalls wäre die Regelung des Art. 24 Abs. 1 GG überflüssig gewesen. Durch die Hineinnahme dieser Vorschrift in das Grundgesetz hat die Bundesrepublik Deutschland aber zum Ausdruck gebracht, daß sie an dem Ausschließlichkeitsanspruch222 nicht mehr festhält. Damit ist bereits in der Verfassung selbst die Zurücknahme des Ausschließlichkeitsanspruchs angelegt. In dem Zustimmungsgesetz gemäß Art. 24 Abs. 1 GG wird dagegen nur das Ausmaß der in den innerstaatlichen Rechtsraum hineinwirkenden supranationalen Hoheitsgewalt und des damit einhergehenden Verzichts auf die Ausübung deutscher Staatsgewalt im Einzelfall festgelegt. Insofern ist die Aussage, daß in der Beschränkung des Exklusivitätsanspruchs eine materielle Verfassungsänderung liege, unzutreffend. Vielmehr ist die Zurücknahme des Ausschließlichkeitsanspruchs nicht Änderung, sondern bereits Teil der Verfassung.
220 Α. A. Hufeid, ebenda, 114 ff., nach dessen Auffassung der Begriff der Verfassungsdurchbrechung gerade den Fall kennzeichnet, in dem Verfassungsnormen zwar nicht umgestaltet, aber partiell außer Geltung gesetzt werden (116, Fn. 8). 221 Vgl. Tomuschat, in: BK, Art. 24, Rz. 34; Stern, Staatsrecht I, § 15,524; Maunz (Erstbearbeiter), in: Maunz/Dürig, GG, Art. 24 I, Rz. 5, 15; Ruppert, Integrationsgewalt (Fn. 90), 219; Schwan, Hartmut H, Die deutschen Bundesländer im Entscheidungssystem der Europäischen Gemeinschaften, Berlin 1982,65 f.; kritisch Randelzhofer, in: Maunz/Dürig, GG, Art. 241, Rz. 9; Rojahn, in: von Münch/Kunig, GG, Art. 24, Rz. 27. 222 Siehe dazu oben Kap. 1, Β. II. 3. a).
92
Kap. 1, Β. Die Funktionen des Artikels 24 Abs. 1 GG im einzelnen
Überwiegend wird deshalb auf die mit der Übertragung von Hoheitsrechten verbundene Änderung der grundgesetzlichen Kompetenzordnung abgestellt.223 Dieser Auffassung hat sich auch das Bundesverfassungsgericht in der sog. „Eurocontrol"-Entscheidung von 1981 angeschlossen, wo es heißt: „Die Übertragung von Hoheitsrechten bewirkt einen Eingriff in und eine Veränderung der verfassungsrechtlich festgelegten Zuständigkeitsordnung und damit materiell eine Verfassungsänderung" (Hervorhebung durch die Verf in). 224
Die Hinzufügung des Wortes „materiell" macht deutlich, daß es sich hierbei nicht um eine Verfassungsänderung im eigentlichen Sinne handelt. Denn es geht nicht um die gezielte Veränderung einzelner Verfassungsbestimmungen, wie sie in Art. 79 Abs. 1 und 2 GG geregelt ist. Vielmehr sind die mit dem Zustimmungsgesetz bewirkten Veränderungen der Zuständigkeitsordnung die mittelbare, zwangsläufige Folge der in Art. 24 Abs. 1 GG vorgesehenen Öffnung deutscher Staatlichkeit. Die Aufnahme des Art. 24 Abs. 1 GG in das Grundgesetz stellt klar, daß die mit einer „Übertragung von Hoheitsrechten" verbundenen Eingriffe in die vom Grundgesetz geschaffene Kompetenzordnung gerade nicht als (formelle) Verfassungsänderungen im Sinne des Art. 79 GG zu charakterisieren sind. Für diese Auslegung sprechen Sinn und Zweck sowie die Entstehungsgeschichte der Vorschrift. Artikel 24 Abs. 1 GG sollte ein möglichst einfaches und effektives Verfahren zur Verfügung stellen, um das Staatsziel der Teilnahme an internationalen Zusammenschlüssen verwirklichen zu können. Dabei ist ganz bewußt ein „Einfallstor" für außer- bzw. überstaatliche Hoheitsakte geschaffen worden, die sich in jedem Fall auf das Kompetenzgefüge des Grundgesetzes auswirken. Die mit der Übertragung von Hoheitsrechten einhergehenden Kompetenzverschiebungen und Souveränitätsbeschränkungen sind im Interesse der Integrationsfreundlichkeit des Grundgesetzes ausdrücklich akzeptiert worden. Ein Blick auf die Entstehungsgeschichte des Art. 24 Abs. 1 GG bestätigt diese Annahme. Im Parlamentarischen Rat wurde der Antrag des DP-Äbgeordneten Dr. Seebohm, für die Übertragung von Hoheitsrechten ein Gesetz mit verfassungsändernder Mehrheit zu verlangen, abgelehnt.225 Als Befürworter der Mehrheitsposition widersprach der Abgeordnete Dr. Schmid (SPD) dem Antrag mit dem Hinweis darauf, daß die Bereitschaft, die Internationalisierung der politischen Wirklichkeit aktiv zu fördern, dadurch habe zum Ausdruck gebracht werden sollen, daß man gerade kein 223
Steiger, Heinhard, Staatlichkeit und Überstaatlichkeit, Berlin 1966, 65 f.; Grewe, Auswärtige Gewalt (Fn. 208), 539; in bewußter Abgrenzung zum Ausschließlichkeitsanspruch Fastenrath, Kompetenzverteilung (Fn. 100), 151; Zuleeg, in: AK-GG, Art. 24 I, Rz. 19. 224 BVerfGE 58,1 (36). 225 vgl. J ö r n . f . ι (1951),226.
III. Ermächtigung zur Verfassungsänderung oder Verfassungsdurchbrechung?
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verfassungsänderndes Gesetz verlangen, sondern ein einfaches Gesetz als genügend ansehen wolle. Dem fügte er folgenden wichtigen Satz hinzu: „Die Entscheidung vom Rang einer Verfassungsbestimmung soll nicht bei den einzelnen Akten, sondern schon in dem Augenblick, in dem wir das GG beschließen, als eine Entscheidung allgemeiner und fundamentaler Art getroffen werden."226
Es wird deutlich, daß die mit der Übertragung von Hoheitsrechten einhergehenden Veränderungen der Verfassung bereits durch die Hineinnahme des Art. 24 Abs. 1 in das Grundgesetz im voraus für zulässig erachtet werden. Die Verfassung selbst enthält also die vorweggenommene Zustimmung zur Modifizierung ihrer Kompetenzordnung durch Rechtsakte einer zwischenstaatlichen Einrichtung. Damit wird das verfassungsrechtliche Kompetenzgefüge von vornherein bewußt und ausdrücklich unter den Vorbehalt des Art. 24 Abs. 1 GG gestellt. Insofern beinhaltet das einzelne Zustimmungsgesetz keine Verfassungsänderung, sondern konkretisiert und vollzieht den in dieser Vorschrift enthaltenen Verfassungsauftrag. 227 Eine Verfassungsänderung im eigentlichen Sinne wäre nur dann erforderlich, wenn es Art. 24 Abs. 1 GG nicht gäbe. Demzufolge ist es unzutreffend, Art. 24 Abs. 1 GG als Ermächtigung zur Verfassungsänderung oder gar Verfassungsdurchbrechung zu qualifizieren. Dies gilt auch, soweit die supranationale Hoheitsgewalt zu Abweichungen von anderen Verfassungsvorschriften, etwa den Grundrechten und den Strukturprinzipien, führt. Inwieweit solche inhaltlichen Modifizierungen zulässig sind, läßt sich allerdings erst bei der Frage nach den verfassungsrechtlichen Grenzen der Übertragung von Hoheitsrechten beantworten.228 Bereits an dieser Stelle ist darauf hinzuweisen, daß die Frage, ob Art. 24 Abs. 1 GG zur Änderung inhaltlicher Verfassungsbestimmungen durch einfaches Gesetz ermächtigt, im Bereich der europäischen Integration durch die Einfügung des neuen Art. 23 in das Grundgesetz an Relevanz verloren hat. Denn die Übertragung weiterer Hoheitsrechte auf die Europäische Union bedarf nunmehr in jedem Fall eines Gesetzes mit verfassungsändernden Mehrheiten.229
226
Ebenda. So auch Tomuschat, in: BK, Art. 24, Rz. 31; Vogel, Verfassungsentscheidung (Fn. 25), 6 f.; Erler, Georg, Das Grundgesetz und die öffentliche Gewalt internationaler Staatengemeinschaften, VVDStRL 18 (1960), 7-49 (19); Flint (Fn. 90), 138 f. 228 Siehe dazu unten Kap. 5, Α. I., II. 229 Dazu, insbesondere zum Verhältnis von Art. 23 Abs. 1 S. 2 und S. 3 GG, ausführlich unten Kap. 3, Β. II. 227
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Kap. 1, Β. Die Funktionen des Artikels 24 Abs. 1 GG im einzelnen
IV. Zusammenfassung Zusammenfassend bleibt festzuhalten, daß Art. 24 Abs. 1 GG folgende Funktionen erfüllt: (1) Er beinhaltet in der Zusammenschau mit der Präambel und den Art. 25 und 26 GG eine Staatszielbestimmung, die alle zuständigen Staatsorgane, insbesondere aber die Bundesregierung, dazu verpflichten, durch eine entsprechende Gestaltung der deutschen Außenpolitik zur internationalen Zusammenarbeit beizutragen. Mit Blick auf die Europapolitik läßt sich aus Art. 24 Abs. 1 GG in Verbindung mit der Präambel das Staatsziel herleiten, an dem europäischen Integrationsprozeß im Rahmen des politisch Erreichbaren teilzunehmen und integrationsunfreundliche Handlungen zu unterlassen. Als Staatszielbestimmung kommt Art. 24 Abs. 1 GG auch insoweit Bedeutung zu, als die Staatsziele der internationalen Kooperation und der europäischen Integration bei der Bestimmung der Übertragungsgrenzen und der Auslegung anderer, möglicherweise kollidierender Verfassungsbestimmungen zu berücksichtigen sind. (2) Um die unmittelbare Geltung und Anwendbarkeit supranationaler Rechtsakte im innerstaatlichen Bereich, d. h. den Durchgriffseffekt zu ermöglichen, öffnet Art. 24 Abs. 1 GG den deutschen Rechtsraum für die Hoheitsakte der zwischenstaatlichen Einrichtung. Eine solche Öffnung wird dadurch bewirkt, daß die Bundesrepublik Deutschland ihren von der Verfassung vorausgesetzten Ausschließlichkeitsanspruch, also den Anspruch auf die alleinige Vornahme von Hoheitsakten in ihrem Staatsgebiet, zurücknimmt und auf die künftige Ausübung ihrer Hoheitsgewalt in den Zuständigkeitsbereichen verzichtet, für die der zwischenstaatlichen Einrichtung Kompetenzen eingeräumt worden sind. (3) Zugleich wird der Gesetzgeber ermächtigt, im Zustimmungsgesetz einen besonderen Rechtsanwendungsbefehl zu erteilen, der vor allem dem von den supranationalen Organen erlassenen Sekundärrecht im innerstaatlichen Rechtsraum unmittelbare Geltung verleiht. Diese Ermächtigung erstreckt sich zumindest im Falle der Europäischen Gemeinschaften auch darauf, den aus den Gründungsverträgen abgeleiteten Vorrang des Gemeinschaftsrechts vor dem deutschen Recht zu gewährleisten, wobei allerdings die verfassungsrechtlichen Grenzen des Art. 24 Abs. 1 GG zu beachten sind. Demgegenüber ist es unzutreffend, in Art. 24 Abs. 1 GG eine Ermächtigung zur Verfassungsänderung oder gar Verfassungsdurchbrechung zu sehen. Er enthält vielmehr die vorweggenommene Zustimmung zu den mit der Öffnung des deutschen Rechtsraumes für supranationale Hoheitsakte verbundenen Veränderungen der grundgesetzlichen Ordnung. Insofern stehen die übrigen Verfassungs-
I. Der Bund als Übertragungsberechtigter
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bestimmungen unter dem Vorbehalt des Art. 24 Abs. 1 GG, dem allerdings seinerseits verfassungsrechtliche Grenzen gesetzt sind.
C. Die Tatbestandsvoraussetzungen des Artikels 24 Abs. 1 GG I. Der Bund als Übertragungsberechtigter Nach nahezu einhelliger Auffassung wird durch Art. 24 Abs. 1 GG allein der Bund ermächtigt, Hoheitsrechte auf eine zwischenstaatliche Einrichtung zu übertragen.230 Dies ergibt sich bereits aus dem zumindest insoweit eindeutigen Wortlaut der Vorschrift. Hiergegen hat Fastenrath eingewandt, daß sich aus Art. 24 Abs. 1 GG keine ausschließliche Gesetzgebungskompetenz des Bundes für derartige Übertragungen ergebe. Zudem könne man aus dem Fehlen einer entsprechenden eigenen Bestimmung für Hoheitsrechtsübertragungen durch die Länder nicht auf deren mangelnde Übertragungskompetenz schließen. Ebensowenig sei dem Art. 32 Abs. 3 GG eine Beschränkung der Länder auf „den normalen zwischenstaatlichen Verkehr" zu entnehmen.231 Doch auch er spricht den Ländern im Ergebnis die Kompetenz zur Übertragung von Hoheitsrechten ab. Zur Begründung verweist er darauf, daß eine solche Übertragung eine materielle Grundgesetzänderung darstelle, da sich die Länder nicht nur einer Handlungsmöglichkeit begäben, sondern entgegen der Zuweisung des Grundgesetzes die Verantwortlichkeit für den Gebrauch der Kompetenz auf eine außerdeutsche Stelle verlagerten. 232 Die Kritik Fastenraths an der Begründung der herrschenden Meinung überzeugt nicht. Er läßt außer acht, daß Art. 24 Abs. 1 GG im Hinblick auf den Abschluß völkerrechtlicher Verträge als lex specialis angesehen werden muß. Bereits die Tatsache, daß die Übertragung von Hoheitsrechten in Art. 24 Abs. 1 230
Bernhardt, Rudolf, Der Abschluß völkerrechtlicher Verträge im Bundesstaat, Köln u. a. 1957, 172 f.; Randelzhofer, in: Maunz/Dürig, GG, Art. 241, Rz. 28; Rojahn, in: von Münch/Kunig, GG, Art. 24, Rz. 12, und Art. 32, Rz. 37; Tomuschat, in: BK, Art. 24, Rz. 14; Zuleeg, in: AK-GG, Art. 241, Rz. 22, jeweils m. w. N.; vgl. auch die Kontroverse zwischen Kölble, Josef, Auslandsbeziehungen der Länder?, DÖV 1965, 145-154 (152), und Beck, Reinhard, Auslandsbeziehungen der Länder, Eine Stellungnahme zum Aufsatz Kölble, DÖV 1966, 20-25 (22), nach dessen Auffassung sich aus dem Grundgesetz keine Beschränkung für die Länder ergibt, durch Länderverträge im Rahmen des Art. 32 Abs. 3 GG Hoheitsrechte auf zwischenstaatliche Einrichtungen zu übertragen; dazu die Erwiderung von Kölble, ebenda, 25-30 (26). 231 Fastenrath, Kompetenzverteilung (Fn. 100), 152. 232 Ebenda.
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Kap. 1, C. Die Tatbestandsvoraussetzungen des Artikels 24 Abs. 1 GG
GG eine eigenständige Regelung erfahren hat, um die unmittelbare Geltung und den Vorrang des supranationalen Rechts zu ermöglichen, macht deutlich, daß die „normale", in Art. 32 GG geregelte Vertragsabschlußkompetenz die Verlagerung von Zuständigkeiten auf zwischenstaatliche Einrichtungen nicht umfaßt. Dies gilt nicht nur für die Vertragsabschlußkompetenz des Bundes, sondern in gleicher Weise auch für diejenige der Länder. Daher kann eine Übertragung von Hoheitsrechten durch die Länder nicht auf Art. 32 Abs. 3 GG gestützt werden. Dieses Ergebnis ist durch die Einfügung des neuen Art. 24 Abs. la GG im Zuge der Verfassungsänderung vom 21. Dezember 1992233 bestätigt worden. 234 Er ermächtigt die Länder nunmehr, mit Zustimmung der Bundesregierung Hoheitsrechte auf grenznachbarschaftliche Einrichtungen zu übertragen, soweit diese „für die Ausübung der staatlichen Befugnisse und die Erfüllung der staatlichen Aufgaben zuständig sind". Diese Bestimmung hätte keine eigenen Regelungsgehalt und wäre damit überflüssig, wenn die Länder bereits gemäß Art. 32 Abs. 3 GG Hoheitsrechte hätten übertragen können.
Π. Der Übertragungsgegenstand - Hoheitsrechte Unter dem Begriff „Hoheitsrecht" wird aus verwaltungsrechtlicher Sicht die Befugnis verstanden, durch einseitige Anordnung seitens des Staates Rechtsverpflichtungen für den Bürger zu begründen und diese gegebenenfalls durch den Einsatz von Zwangsmitteln auch einseitig durchzusetzen.235 Der Begriff ist jedoch nicht auf die Eingriffsverwaltung beschränkt. Im allgemeinen wird die »Ausübung von Hoheitsrechten" mit der Ausübung staatlicher Hoheitsgewalt insgesamt gleichgesetzt. Dementsprechend umfaßt der Begriff „Hoheitsrechte" rechtsgestaltendes Handeln aller drei Staatsgewalten. Da mit der mißverständlichen Formulierung „Übertragung von Hoheitsrechten" nicht etwa nur der Wechsel des Verfügungsberechtigten im zivilrechtlichen Sinne gemeint ist, muß sich die Bedeutung des Begriffs „Hoheitsrechte" in Art. 24 Abs. 1 GG aus den Funktionen dieser Norm erschließen. Ihre entscheidende Funktion besteht, wie bereits ausgeführt, 236 233
BGBl. 19921, 2086. So auch Randelzhofer, in: Maunz/Dürig, GG, Art. 241, Rz. 28. 235 Vgl. Tomuschat, BK, Art. 24, Rz. 21; Rojahn, in: von Münch/Kunig, GG, Art. 24, Rz. 19; Zuleeg, in: AK-GG, Art. 24 I, Rz. 16; kritisch dazu Ruppert, Integrationsgewalt (Fn. 90), 55 f., der „Hoheitsrechte" definiert als „die Befugnisse des Staates, aus der umfassenden Staatsgewalt heraus auf bestimmten Sachgebieten tätig zu werden", wobei es nicht darauf ankommen soll, ob diese Befugnisse mit staatlicher Gewalt bewehrt sind. 236 Siehe dazu oben Kap. 1, Β. I. 1. 234
II. Der Übertragungsgegenstand - Hoheitsrechte
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darin, eine zwischenstaatliche Einrichtung mit Hoheitsgewalt auszustatten, die in den Mitgliedstaaten unmittelbar wirksam wird. Hoheitsrechte im Sinne des Art. 24 Abs. 1 GG sind demgemäß die einer zwischenstaatlichen Einrichtung vertraglich eingeräumten Befugnisse, die Bürger, Behörden und Gerichte der Mitgliedstaaten unmittelbar rechtlich zu binden, wie dies sonst nur staatliche Gewalt zu tun vermag.237 Den Rechtsunterworfenen tritt ein neuer Hoheitsträger gegenüber, der anstelle des Staates öffentliche Aufgaben in bestimmten, vertraglich festgelegten Sachbereichen wahrnimmt. Seine Hoheitsgewalt kann ebenso wie die des Staates Rechtsetzung, Gesetzesvollzug und Rechtsprechung umfassen. Nach nahezu einhelliger Auffassung bezieht sich der Begriff „Hoheitsrechte" auf die Befugnis, einzelne Aufgaben oder Aufgabenkomplexe wahrzunehmen. Daraus wird der Schluß gezogen, daß die Staatsgewalt als solche nicht Gegenstand der Übertragung sein kann.238 Es erscheint allerdings kaum vorstellbar, daß die Bundesrepublik Deutschland die Gesamtheit ihrer Hoheitsrechte auf eine supranationale Organisation wie die EG/EU übertragen und sich als eigenständiges Gemeinwesen auflösen würde. Deshalb kann mit dem Verbot, die Fülle der Staatsgewalt zu übertragen, nur gemeint sein, daß der Gesetzgeber gemäß Art. 24 Abs. 1 GG keinem Vertrag zustimmen darf, der der zwischenstaatlichen Einrichtung die Kompetenz-Kompetenz einräumte. Dahinter verbirgt sich die äußerst umstrittene Frage, ob die Bundesrepublik Deutschland auf der Grundlage des Art. 24 Abs. 1 GG - und nunmehr des Art. 23 Abs. 1 GG - ihre souveräne Staatlichkeit aufgeben und sich in einen europäischen Bundesstaat eingliedern könnte. Für die Beantwortung dieser Frage gibt die Auslegung der Begriffe „Hoheitsrechte" und „zwischenstaatliche Einrichtungen" allerdings nur Anhaltspunkte. Sie hängt letztlich entscheidend davon ab, wo die Grenzen der Übertragung von Hoheitsrechten gezogen werden. Dieser Frage soll an späterer Stelle ausführlich nachgegangen werden.239 Nach herrschender Meinung, die sich nach den kontroversen Diskussionen im Rahmen des „Wehrstreits" 240 verfestigte, ist der Bund gemäß Art. 24 Abs. 1 GG 237 Randelzhofer, in: Maunz/Dürig, GG, Art. 241, Rz. 30. Vgl. zu einer strengen begrifflichen Trennung zwischen „Hoheitsrecht" und „Kompetenz" Flint (Fn. 90), 104 ff. (111 f.). 238 Vgl. statt aller Randelzhofer, in: Maunz/Dürig, GG, Art. 241, Rz. 36; Rojahn, in: von Münch/Kunig, GG, Art. 24, Rz. 22; Tomuschat, in: BK, Art. 24, Rz. 20, jeweils m. w. N. 239 Siehe dazu unten Kap. 6, Β. II. 1.-3. 240 Für die Übertragung von Hoheitsrechten der Länder Grewe, in: Der Kampf um den Wehrbeitrag, 2. Hbd. (Fn. 20), 706-741 (740); Kaufmann, ebenda, 2. Hbd., 42-71 (58 f.); Schätzet, ebenda, 1. Hbd. (Fn. 20), 323-354 (352 f.); ders., ebenda, 2. Hbd., 620-650 (638); Scheuner, ebenda, 2. Hbd., 94-154 (137 f.); Süsterhenn, ebenda, 1. Hbd., 260-271 7 König
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Kap. 1, C. Die Tatbestandsvoraussetzungen des Artikels 24 Abs. 1 GG
berechtigt, auch Hoheitsrechte der Länder auf zwischenstaatliche Einrichtungen zu übertragen. 241 Diese Ansicht läßt sich allerdings weder auf den Wortlaut noch auf eine systematische Auslegung oder die Entstehungsgeschichte der Norm stützen. 242 Zur Begründung wird deshalb teleologisch argumentiert. Sinn und Zweck des Art. 24 Abs. 1 GG sei es, die Integration der Bundesrepublik Deutschland in supranationale Organisationen zu erleichtern. Um die Entscheidung des Grundgesetzes für eine „offene Staatlichkeit" verwirklichen zu können, müsse der Bund in die Lage versetzt werden, der zwischenstaatlichen Einrichtung alle für deren Zwecke notwendigen Kompetenzen einzuräumen. Daher könne er nicht allein auf die ihm im Grundgesetz zuerkannten Kompetenzen verwiesen werden, sondern müsse auch auf diejenigen der Länder zurückgreifen können. Für diese Ansicht spricht zudem, daß die Länder ihrerseits vom Grundgesetz nicht ermächtigt worden sind, eigene Hoheitsrechte auf zwischenstaatliche Einrichtungen zu übertragen. Sie können also nicht mit dem Bund zusammenwirken, um die zwischenstaatliche Einrichtung mit den erforderlichen Kompetenzen auszustatten.243 (270 f.); Thoma, ebenda, 2. Hbd., 155-176 (163, 169); dagegen Kraus, ebenda, 2. Hbd., 545-554 (545); Löwenstein, ebenda, 2. Hbd., 337-401 (386 f.). 241 Vgl. Birke, Hans Eberhard, Die deutschen Bundesländer in den Europäischen Gemeinschaften, Berlin 1973,94 ff.; Bleckmann, Albert, Mitwirkung der Länder der Bundesrepublik Deutschland in den Europäischen Gemeinschaften, RIW/AWD 1978, 144-147 (144 f.); Grabitz, Eberhard, Die Rechtsetzungsbefugnis von Bund und Ländern bei der Durchführung von Gemeinschaftsrecht, AöR 111 (1986), 1-33 (3 ff.); Ipsen, Europäisches Gemeinschaftsrecht, 55; Menzel, Auswärtige Gewalt (Fn. 9), 212; Mosler, Hermann, Kulturabkommen des Bundesstaats - Zur Frage der Beschränkung der Bundesgewalt in auswärtigen Angelegenheiten, ZaöRV 16 (1955/56), 1-34 (20 f.); von Mutius, Albert, Umweltverträglichkeitsprüfung im Raumordnungsverfahren - insbesondere zu den verfassungsrechtlichen Fragen der Einführung einer Öffentlichkeitsbeteiligung, BayVBl. 1988, 641-648 (646), 678-683; Ress, Georg, Die Europäischen Gemeinschaften und der deutsche Föderalismus, EuGRZ 1986, 549-558 (554); Randelzhofer, in: Maunz/Dürig, GG, Art. 241, Rz. 37 f.; Rojahn, in: von Münch/Kunig, GG, Art. 24, Rz. 23; Schwan (Fn. 221), 70 ff. (76); Spelten, Jürgen, Gemeinschaftsrecht und Bundesländerkompetenzen im Lichte des Grundgesetzes, Freiburg 1970,16 ff. (26); Stern, Staatsrecht I, § 15,534 f.; Tomuschat, in: BK, Art. 24, Rz. 25; Zuleeg, in: AK-GG, Art. 241, Rz. 22. 242 Grabitz, Rechtsetzungsbefugnis (Fn. 241), 4 f.; Schwan (Fn. 221), 67 ff.; a. Α. etwa Scheuner, in: Der Kampf um den Wehrbeitrag, 2. Hbd. (Fn. 20), 138, der aus dem Umstand, daß sich Art. 24 GG in dem Abschnitt „Bund und Länder" befindet, schließt, daß die Norm lex specialis gegenüber allgemeinen Vorschriften der Gesamtordnung Bund-Länder sei und somit Abweichungen von der Kompetenzverteilung zwischen Bund und Ländern erlaube. 243 Grabitz, Rechtsetzungsbefugnis (Fn. 241), 5 f.; Rojahn, in: von Münch/Kunig, GG, Art. 24, Rz. 23; Schwan.ÇFn. 221), 70 ff.; Tomuschat, in: BK, Art. 24, Rz. 25; Zuleeg, in: AK-GG, Art. 241, Rz. 22; kritisch zur Begründung der h. M. Randelzhofer, in: Maunz/Dürig, GG, Art. 241, Rz. 38.
III. Übertragung durch ein Bundesgesetz
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Mit zunehmender Dichte des europäischen Integrationsprozesses und den damit verbundenen Auswirkungen auf die Länderkompetenzen regte sich Kritik an der herrschenden Auffassung. 244 Diese hob zwar zu Recht hervor, daß die Argumente der herrschenden Auffassung nicht zwingend seien, akzeptierte aber angesichts der langjährigen, unangefochtenen Staatspraxis letztlich doch die Ermächtigung des Bundes, Hoheitsrechte der Länder zu übertragen. Hinter dieser Kritik stand die Sorge um eine schleichende Aushöhlung der ohnehin seit dem Inkrafttreten des Grundgesetzes durch Kompetenzverlagerungen auf den Bund reduzierten Länderkompetenzen im Zuge der europäischen Integration. Um dieser Gefahr zu begegnen, wurden zumindest Mitwirkungsrechte der Länder und die Zustimmungspflichtigkeit des Übertragungsgesetzes gefordert. 245 Richtiger Ansatzpunkt für diese Kritik ist jedoch nicht die integrationsfreundliche Auslegung des Begriffs „Hoheitsrechte" in Art. 24 Abs. 1 GG. Denn im Grunde genommen richtet sie sich nicht dagegen, daß der Bund überhaupt Hoheitsrechte der Länder übertragen kann. Es geht vielmehr um die Frage nach den verfassungsrechtlichen Grenzen, die das Bundesstaatsprinzip einer solchen Übertragung auf die EG/EU setzt.246 Bereits an dieser Stelle sei darauf hingewiesen, daß den Ländern in Art. 23 GG weitreichende kompensatorische Mitwirkungs- und Beteiligungsrechte eingeräumt sind. Eine klare Antwort auf die Frage, welche Schranken der Integrationsgesetzgeber unter Berücksichtigung des Bundesstaatsprinzips nicht überschreiten darf, gibt allerdings auch der neue Europaartikel nicht.247
ΙΠ· Übertragung durch ein Bundesgesetz 1. Doppelfunktion des Übertragungsgesetzes Das Gesetz, mit dem der Bundesgesetzgeber der Übertragung von Hoheitsrechten zustimmt, erfüllt eine doppelte Funktion. Es hat zum einen die Aufgabe, 244
Carl f Dieter, Finanzierungskompetenz und Finanzierungsverantwortung des Bundes auf dem Gebiet der sektoralen Wirtschaftsförderung, DÖV 1986, 581-590 (586); Rudolf, Walter, Bundesländer und Europäisches Gemeinschaftsrecht, in: von Münch, Ingo (Hrsg.), Staatsrecht - Völkerrecht - Europarecht, Festschrift für Hans-Jürgen Schlochauer zum 75. Geburtstag, Berlin u. a. 1981,117-136 (127 f.); Schütz, Hans-Joachim, Bund, Länder und Europäische Gemeinschaften - Kritische Anmerkungen zur Übertragung von Hoheitsrechten der Länder auf zwischenstaatliche Einrichtungen durch den Bund, Der Staat 28 (1989), 201-224 (205 ff., 220), m. w. N. 245 Siehe dazu ausführlich unten Kap. 2, Β. I. und II. 246 So auch Randelzhofer, in: Maunz/Dürig, GG, Art. 241, Rz. 39. 247 Siehe dazu unten Kap. 6, Β. II. 3. 7*
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Kap. 1, C. Die Tatbestandsvoraussetzungen des Artikels 24 Abs. 1 GG
gemäß Art. 59 Abs. 2 S. 1 GG dem völkerrechtlichen Vertrag, in dem die zwischenstaatliche Einrichtung geschaffen und mit Durchgriffsrechten ausgestattet wird, zuzustimmen und den Bundespräsidenten zu seiner Ratifizierung zu ermächtigen. Zum anderen erteilt es auf der Grundlage des Art. 24 Abs. 1 GG den besonderen Rechtsanwendungsbefehl, der vor allem dem von dieser Einrichtung erlassenen Sekundärrecht unmittelbare Geltung im innerstaatlichen Rechtsraum verleiht. 248 Ob diesem Recht mit dem Rechtsanwendungsbefehl zugleich auch Vorrang vor dem nationalen Recht eingeräumt wird, hängt von der Ausgestaltung des völkerrechtlichen Gründungsvertrags ab. Da Art. 24 Abs. 1 GG insoweit lediglich eine Ermächtigung enthält, kommt es darauf an, ob dem jeweiligen Vertrag der Vorrang des supranationalen Recht ausdrücklich oder zumindest implizit zu entnehmen ist. 249
2. Anforderungen
an das Übertragungsgesetz
Art. 24 Abs. 1 GG enthält einen speziellen Gesetzesvorbehalt in der Form des Parlamentsvorbehalts.250 Durch das Erfordernis eines parlamentarischen Zustimmungsgesetzes wird sichergestellt, daß die Ausstattung einer zwischenstaatlichen Einrichtung mit Hoheitsgewalt rechtstaatlichen und demokratischen Anforderungen entspricht. Die rechtstaatliche Funktion des Übertragungsgesetzes ist darin zu sehen, daß der Rechtsanwendungsbefehl nur in bestimmten, aus dem Grundgesetz ableitbaren Grenzen erteilt wird. Das Übertragungsgesetz bildet somit den dogmatischen Ansatzpunkt für die Verfassungsmäßigkeit von Hoheitsrechtsübertragungen und die Einwirkung des supranantionalen Rechts in den innerstaatlichen Rechtsraum.251 Zugleich erfüllt es die Funktion, die Mitwirkung der Bundesrepublik Deutschland an der Errichtung eines neuen supranationalen Hoheitsträgers und seiner Ausstattung mit Hoheitsgewalt demokratisch zu legitimieren.252 Damit der Gesetzgeber seine Verantwortung wahrnehmen kann, muß der Gesetzesvorbehalt nach der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts strikt ausgelegt werden. Zur Begründung verwies das Gericht im sog. „Eurocontrol I"-Beschluß aus dem Jahre 1981 auf folgende Überlegung: Art. 24 Abs. 1 GG eröffne die Möglichkeit, einer zwischenstaatlichen Einrichtung, deren Rechtsordnung, Wil248
Siehe dazu oben Kap. 1, Β. II. 2. b). Tomuschat, in: BK, Art. 24, Rz. 76, m. w. N. 250 Vgl. dazu Ossenbühl, Fritz, Vorrang und Vorbehalt des Gesetzes, in: HStR III (1996), § 62, Rz. 32 ff., m. w. N. 251 Rojahn, in: von Münch/Kunig, GG, Art. 24, Rz. 30. 252 BVerfGE 89, 155 (183 f.). 249
III. Übertragung durch ein Bundesgesetz
101
lensbildung und Handlungsformen nicht an das Grundgesetz gebunden seien und somit nicht dem unmittelbaren Einfluß des deutschen Gesetzgebers unterlägen, Hoheitsrechte einzuräumen, kraft derer sie unmittelbar auf die Rechtsunterworfenen einwirken könne. Da ein solcher Vorgang das Funktions- und Machtverteilungsgefüge des Grundgesetzes im Sinne einer materiellen Verfassungsänderung modifiziere, müßten an das „einfache" Zustimmungsgesetz strenge Anforderungen gestellt werden, wenn schon eine förmliche Verfassungsänderung gemäß Art. 79 GG nicht gefordert sei.253 Hinter dieser Argumentation verbirgt sich, ohne daß das Gericht dies deutlich machte, die Wesentlichkeitstheorie, der zufolge alle wesentlichen Entscheidungen dem Parlament vorzubehalten sind.254 Bei der Übertragung von Hoheitsrechten handelt es sich um eine wesentliche Entscheidung, weil die Öffnung des deutschen Rechtsraums die Einwirkung einer supranationalen Hoheitsgewalt ermöglicht, die ihrerseits nicht den Bindungen des Grundgesetzes unterliegt. Zudem verliert der Bundestag dadurch, daß künftig der supranationale Hoheitsträger in Ausübung der ihm eingeräumten Kompetenzen Rechtsvorschriften erlassen kann, eigene Gesetzgebungskompetenzen. Betrachtet man das Übertragungsgesetz unter diesem Aspekt, so kommt ihm eine kompensatorische Wirkung zu. Der Verlust eigener Regelungsbefugnisse erfährt durch das Erfordernis eines Übertragungsgesetzes zumindest einen gewissen Ausgleich.255 Der Kompensationsgedanke, der, wie die Entstehungsgeschichte zeigt, bei der Abfassung des Art. 24 Abs. 1 GG kein tragender Gesichtspunkt war, hat bei der Ausgestaltung der Mitwirkungs- und Beteiligungsrechte des Bundestages in Art. 23 GG eine wichtige Rolle gespielt.256 Die Wesentlichkeitstheorie wird nicht nur für das „Ob" eines Parlamentsgesetzes, sondern auch für das „Wie" herangezogen. Deshalb fordert sie grundsätzlich eine hinreichende Regelungsdichte des Gesetzes und begrenzt die Verwendung von unbestimmten Rechtsbegriffen und Ermessensvorschriften. 257 Im inner253
BVerfGE 58,1 (36); siehe dazu unten Kap. 5, Α. I. 3. So auch Rojahn, in: von Münch/Kunig, GG, Art. 24, Rz. 30; vgl. zur Entwicklung der Wesentlichkeitstheorie ζ. B. BVerfGE 33, 1 (10 ) - Strafvollzug; 33, 125 (157) Facharzt; 33, 303 (346) - numerus clausus; 34, 165 (192) - Hess. Förderstufe; 40, 237 (248) - Rechtsschutz für Strafgefangene; 41, 251 (259) - Speyer Kolleg; 45,400 (417) Hess. Oberstufe; 47, 46 (78) - Sexualkunde; 49, 89 (126 f.) - Kalkar; 53, 30 (56) Mülheim-Kärlich. 255 Rojahn, in: von Münch/Kunig, GG, Art. 24, Rz. 30. 256 Siehe dazu unten Kap. 2, B. III. 2. a) bb). 257 Kloepfer, Michael, Der Vorbehalt des Gesetzes im Wandel, JZ1984,685-695 (691), der darauf hinweist, daß das Bundesverfassungsgericht das Verhältnis zwischen Wesentlichkeitstheorie und dem allgemeinen rechtsstaatlichen Bestimmtheitsgebot nicht hinreichend geklärt habe. 254
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Kap. 1, C. Die Tatbestandsvoraussetzungen des Artikels 24 Abs. 1 GG
staatlichen Kontext dient dieses Erfordernis zugleich der Abgrenzung der Kompetenzbereiche von Legislative und Exekutive. Die grundsätzliche Entscheidung über die Ausgestaltung von Rechtsverhältnissen soll, insbesondere wenn Grundrechte betroffen sind, dem Gesetzgeber vorbehalten bleiben.258 Bei der Übertragung von Hoheitsrechten geht es demgegenüber darum, das Zustimmungsgesetz - und damit inzident den zugrundeliegenden völkerrechtlichen Vertrag - so bestimmt abzufassen, daß der Gesetzgeber die zukünftige Ausübung der einer zwischenstaatlichen Einrichtung eingeräumten Hoheitsgewalt zumindest in den Grundzügen vorhersehen und abschätzen kann. Das Bundesverfassungsgericht verkennt dabei allerdings nicht die Besonderheiten, die bei der Ausübung von Hoheitsgewalt durch zwischenstaatliche Einrichtungen zu beachten sind. Zum einen sei es nicht möglich, an den Text eines völkerrechtlichen Vertrages, der zwischen den Vertragsstaaten ausgehandelt werden müsse, in bezug auf die Bestimmtheit und Regelungsdichte die gleichen Anforderungen zu stellen wie an ein „normales" Gesetz.259 Zum anderen würden zwischenstaatliche Einrichtungen typischerweise im Rahmen eines Integrationsprozesses errichtet, in dessen Verlauf zahlreiche Vollzugsakte erforderlich seien, die nicht bereits im Gründungsvertrag selbst nach Inhalt, Form und Zeitpunkt festgelegt seien. Deshalb reiche es aus, daß die mit der Mitgliedschaft der Bundesrepublik Deutschland verbundenen Rechte und Pflichten und insbesondere das im innerstaatlichen Rechtsraum unmittelbar rechtsverbindliche Tätigwerden der zwischenstaatlichen Einrichtung „für den Gesetzgeber voraussehbar im Vertrag umschrieben und durch ihn im Zustimmungsgesetz hinreichend bestimmbar normiert worden sind". 260 Bei späteren Vollzugsschritten sei ein gesondertes Gesetz gemäß Art. 24 Abs. 1 GG entbehrlich, wenn diese bereits im Gründungsvertrag oder in dem dazu ergangenen Zustimmungsgesetz hinreichend bestimmbar angelegt seien. Wesentliche Änderungen des dort angelegten Integrationsprogramms seien allerdings nicht mehr von dem ursprünglichen Zustimmungsgesetz gedeckt.261 Daraus zog das Bundesverfassungsgericht im MaastrichtUrteil vom 12. Oktober 1993 den Schluß, daß Rechtsakte der europäischen Einrichtungen und Organe, die über die Grenzen der ihnen eingeräumten Ho-
258
Rauser (Fn. 72), 50 f., unter Verweis auf BVerfGE 58, 257 (271). Siehe zur Heranziehung der Wesentlichkeitstheorie im Rahmen des Art. 24 Abs. 1 GG bei faktischen Grundrechtseingriffen oben Kap. 1, Β. I. 2. 259 BVerfGE 77,170 (231 f.); 89,155 (187). 260 So im Maastricht-Urteil, bezogen auf die Europäischen Gemeinschaften, BVerfGE 89,155 (187 f.). 261 BVerfGE, 58,1 (37); 68,1 (98 f.).
III. Übertragung durch ein Bundesgesetz
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heitsrechte hinausgingen, von dem deutschen Zustimmungsgesetz nicht mehr gedeckt und folglich in Deutschland nicht anwendbar seien.262
3. Einspruchs- oder Zustimmungsgesetz? Art. 24 Abs. 1 GG trifft - im Gegensatz zu dem neugefaßten Art. 23 Abs. 1 S. 2 GG - keine Aussage darüber, ob der Bundesrat dem Übertragungsgesetz zustimmen muß. Die herrschende Meinung folgert daraus, daß das Übertragungsgesetz grundsätzlich nicht zustimmungspflichtig ist. Es handelt sich also im Regelfall um ein Einspruchsgesetz. Die Zustimmung des Bundesrates ist allerdings gemäß Art. 59 Abs. 2 S. 1 GG dann erforderlich, wenn der völkerrechtliche Gründungsvertrag oder das Zustimmungsgesetz weitere Vorschriften, wie etwa zur Einrichtung neuer Verwaltungsbehörden oder -verfahren auf Länderebene, enthalten, die nach den übrigen Bestimmungen des Grundgesetzes die Zustimmungspflichtigkeit auslösen.263 Da nach herrschender Meinung die Zustimmung des Bundesrates selbst dann nicht erforderlich ist, wenn der Bund Hoheitsrechte der Länder überträgt, haben letztere seit dem Beginn der siebziger Jahre mehrfach eine Änderung des Art. 24 Abs. 1 GG gefordert. Diese Forderung konnten die Länder erst 1992 im Zuge der Einfügung des Art. 23 in das Grundgesetz durchsetzen. Die Zustimmungspflicht ist allerdings auf den für die Länderkompetenzen wichtigsten Bereich der Europäischen Union beschränkt, während Art. 24 Abs. 1 GG im übrigen unverändert blieb. Hoheitsrechtsübertragungen auf zwischenstaatliche Einrichtungen außerhalb des europäischen Integrationsprozesses bedürfen also nach wie vor grundsätzlich nicht der Zustimmung des Bundesrates.
262
BVerfGE 89,155 (188). Siehe dazu im einzelnen unten Kap. 5, Β. I. 3. b) aa) (3). Mosler, in: HStR VII (1992), § 175, Rz. 56; Randelzhofer, in: Maunz/Dürig, GG, Art. 241, Rz. 66; Rojahn, in: von Münch/Kunig, GG, Art. 24, Rz. 33; Stern, Staatsrecht I, § 15, 534; Streinz, in: Sachs, Michael (Hrsg.), Grundgesetz, Kommentar, 2. Aufl., München 1999 (im folgenden: Sachs, GG), Art. 24, Rz. 25; Zuleeg, in: AK-GG, Art. 24 I, Rz. 18; a. A. Jarass, in: Jarass, Hans D./Pieroth, Bodo, Grundgesetz für die Bundesrepublik Deutschland, Kommentar (im folgenden: Jarass/Pieroth, GG), 4. Aufl., München 1997, Art. 24, Rz. 6, der die Zustimmung des Bundesrates immer dann für notwendig hält, wenn Hoheitsrechte der Länder übertragen werden. 263
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Kap. 1, C. Die Tatbestandsvoraussetzungen des Artikels 24 Abs. 1 GG
IV. Zwischenstaatliche Einrichtungen 1. Internationale Organisationen Mit dem Begriff „zwischenstaatliche Einrichtung" werden alle internationalen Organisationen erfaßt, die von Staaten oder von bereits bestehenden internationalen Organisationen auf der Grundlage eines völkerrechtlichen Vertrages errichtet worden sind. Daneben können Hoheitsrechte auch auf eine durch völkerrechtlichen Vertrag geschaffene selbständige Einrichtung übertragen werden, ohne daß diese körperschaftlich verfaßt und mit eigener Rechtspersönlichkeit ausgestattet sein müßte.264 Das Wort „zwischenstaatlich" macht deutlich, daß es sich um sog. Regierungsorganisationen (International Governmental Organisations ) handeln muß. Daraus folgt, daß von Privaten, etwa von einzelnen Personen, Unternehmen oder Vereinigungen gegründete sog. Nichtregierungsorganisationen (Non-governmental Organisations) nicht in den Anwendungsbereich des Art. 24 Abs. 1 GG fallen. Das gilt auch für öffentlich-rechtliche Körperschaften, die einem Staat eingegliedert sind.265 Schon nach seinem Wortlaut umfaßt Art. 24 Abs. 1 GG ebenfalls nicht die Übertragung von Hoheitsrechten auf fremde Staaten.266 Sinn und Zweck des Art. 24 Abs. 1 GG ist die Förderung und Erleichterung internationaler Zusammenarbeit. Deshalb ist der Begriff der „zwischenstaatlichen Einrichtung" weit auszulegen. Es spielt daher keine Rolle, ob die internationale Organisation ihre Aufgaben auf globaler oder regionaler Ebene wahrnimmt. Artikel 24 Abs. 1 GG ist trotz des Verweises in der Präambel auf Europa nicht auf die europäische Zusammenarbeit begrenzt, wenn diese auch, wie die Entstehungsgeschichte und die nachfolgende Staatspraxis zeigen, im Vordergrund steht.267 Gleichermaßen gibt es keine Beschränkungen bezüglich der Aufgabenstellung. Hoheitsrechte können also zum einen in eng begrenztem Umfang auf Organisationen übertragen werden, die eine bestimmte Aufgabe, etwa auf dem Gebiet der Han264
Rojahn, in: von Münch/Kunig, GG, Art. 24, Rz. 16; Randelzhofer, in: Maunz/Dürig, GG, Art. 241, Rz. 44; Tomuschat, in: BK, Art. 24, Rz. 41. 265 BVerfGE 2, 347 (348). 266 Rojahn, in: von Münch/Kunig, Art. 24, Rz. 18; Randelzhofer, in: Maunz/Dürig, GG, Art. 24 I, Rz. 53; Streinz, in: Sachs, GG, Art. 24, Rz. 20, jeweils m. w. N.; a. A. Rauser (Fn. 72), 246 ff., 276. Hiervon ist der Fall zu unterscheiden, daß die zwischenstaatliche Einrichtung die ihr eingeräumten Hoheitsbefugnisse nicht selbst ausübt, sondern einen Mitgliedstaat als „besonderes Organ" damit betraut. Auf diese Konstellation hat das Bundesverfassungsgericht in der Entscheidung zum NATO-Doppelbeschluß (E 68, 1 [91 f.]) Art. 24 Abs. 1 GG angewendet. 267 Vgl. statt aller Randelzhofer, in: Maunz/Dürig, GG, Art. 241, Rz. 45; Tomuschat, in: BK, Art. 24, Rz. 43.
IV. Zwischenstaatliche Einrichtungen
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dels- und Verkehrspolitik, der Technik, der Kultur oder der Sicherheitspolitik erfüllen. Zum anderen können umfangreiche Aufgabenkomplexe Organisationen zugewiesen werden, die dem Ziel umfassender wirtschaftlicher oder politischer Zusammenarbeit dienen. Eine Einschränkung läßt sich allerdings aus der Zusammenschau der Präambel und Art. 24 Abs. 1 GG mit den Art. 25 und 26 GG herleiten. Die zwischenstaatliche Einrichtung darf sich in ihren Zielen nicht gegen das friedliche Zusammenleben der Völkerrichten.Diese Beschränkung ist allerdings angesichts der Entwicklung des Völkerrechts und der internationalen Beziehungen nach dem Zweiten Weltkrieg eher theoretischer Natur. Als Beispiele für zwischenstaatliche Einrichtungen mit begrenzten Durchgriffsrechten sind die Berufungsinstanzen internationaler Flußkommissionen zu nennen. Nach der Revidierten Rheinschiffahrtsakte vom 17. Oktober 1868 (Mannheimer Akte) 268 sind die von den Vertragsstaaten eingerichteten Rheinschiffahrtsgerichte für bestimmte, die Rheinschiffahrt betreffende Zivil- und Strafverfahren zuständig. Gegen die Entscheidungen dieser nationalen Gerichte können die Parteien Berufung bei der Berufungskammer der Zentralkommission für die Rheinschiffahrt einlegen. Deren Mitglieder werden von der Zentralkommission ernannt und üben ihr Amt in richterlicher Unabhängigkeit aus (Art. 45 bis der Mannheimer Akte). Die Berufungskammer ist berechtigt, die Urteile der nationalen Rheinschiffahrtsgerichte mit unmittelbar rechtsverbindlicher Wirkung für die Parteien aufzuheben oder zu ändern (Art. 37, 45 Abs. 1 lit. c der Mannheimer Akte). Insoweit handelt es sich bei der Kammer um eine „zwischenstaatliche Einrichtung" im Sinne von Art. 24 Abs. 1 GG.269 Nach dem Vertrag über die Schiffbarmachung der Mosel vom 27. Oktober 1956270 kommen dem Berufungsausschuß der Moselkommission gleiche Befugnisse zu wie der Berufungskammer der Rheinkommission. Auch in diesem Fall sind eng begrenzte Hoheitsrechte auf das Organ eines völkerrechtlichen Vertrages übertragen worden. Dagegen sind weder der Zentralkommission für die Rheinschiffahrt noch der Moselkommission Rechtsetzungsbefugnisse mit Durchgriffseffekt eingeräumt worden. Insoweit handelt es sich bei ihnen nicht um zwischenstaatliche Einrichtungen im Sinne des Art. 24 268
Neufassung des deutschen Textes in: BGBl. 1969 II, 597; Vertragsstaaten sind Belgien, Deutschland, Großbritannien, Frankreich, die Niederlande und die Schweiz. 269 Rojahn, in: von Münch/Kunig, GG, Art. 24, Rz. 48, der darauf hinweist, daß die Übertragung von Hoheitsrechten in der Mannheimer Akte von 1868 zwar nicht gemäß Art. 24 Abs. 1 GG erfolgt ist, der Gesetzgeber die Zusammensetzung und die Befugnisse der Berufungskammer aber mit der Zustimmung zu dem Übereinkommen zur Revision der Mannheimer Akte vom 20.11.1963 (BGBl. 1966 II, 561) auf der Grundlage dieser Norm bestätigt hat; a. A. Randelzhofer, in: Maunz/Dürig, GG, Art. 241, Rz. 185. 270 BGBl. 1956 II, 1838; Vertragsstaaten sind Deutschland, Frankreich und Luxemburg.
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Kap. 1, C. Die Tatbestandsvoraussetzungen des Artikels 24 Abs. 1 GG
Abs. 1 GG. 271 Als weitere zwischenstaatliche Einrichtungen mit Durchgriffsbefugnissen in einem begrenzten Sachgebiet sind die Europäische KernenergieAgentur 272, die Europäische Patentorganisation273 und Eurocontrol 274 zu nennen. Auch die Meeresbodenbehörde, die auf der Grundlage des Seerechtsübereinkommens der Vereinten Nationen vom 10. Dezember 1982275 und dem Übereinkommen zur Durchführung des Teiles XI vom 28. Juli 1994276 errichtet worden ist, ist mit Durchgriffsbefugnissen im Bereich des Tiefseebergbaus ausgestattet worden. Sie hat die Aufgabe, die Erschließung und Verwaltung der Ressourcen des Internationalen Meeresbodens zu organisieren und zu überwachen. Zu diesem Zweck kann sie Rechtsvorschriften, etwa zur Durchführung der Prospektions- und Abbauarbeiten und zum Abgabensystem erlassen, die für die beteiligten Staats- oder Privatunternehmen unmittelbar rechtsverbindlich sind.277 Umstritten ist, ob die NATO 278 und die Westeuropäische Union (WEU) zwischenstaatliche Einrichtungen im Sinne von Art. 24 Abs. 1 GG sind. Das Bundesverfassungsgericht hat diese Frage in bezug auf die NATO in seinem Urteil zum NATO-Doppelbeschluß bejaht.279 Für diese Einordnung spricht, daß im Krisenfall 27 1
Rojahn, in: von Münch/Kunig, GG, Art. 24, Rz. 43,48; Randelzhofer, in: Maunz/Dürig, GG, Art. 241, Rz. 185,186; Tomuschat, in: BK, Art. 24, Rz. 108,109; a. Α. Streinz, in: Sachs, GG, Art. 24, Rz. 30. 27 2 Rojahn, in: von Münch/Kunig, GG, Art. 24, Rz. 38; Randelzhofer, in: Maunz/Dürig, GG, Art. 241, Rz. 183; Tomuschat, in: BK, Art. 24, Rz. 110. 27 3 Rojahn, in: von Münch/Kunig, GG, Art. 24, Rz. 39; ausführlich Randelzhofer, in: Maunz/Dürig, GG, Art. 241, Rz. 188-191, m. w. N. 27 4 Rojahn, in: von Münch/Kunig, GG, Art. 24, Rz. 36; ausführlich Randelzhofer, in: Maunz/Dürig, GG, Art. 241, Rz. 176-182. Durchgriffsbefugnisse bestehen seit der Änderung der Rechtslage im Jahre 1986 allerdings nur noch in bezug auf die Flugsicherung, nicht mehr dagegen bei der Festsetzung und Einziehung von Gebühren. Zu diesem Zeitpunkt traten das Protokoll zur Änderung des Internationalen Übereinkommens zur Sicherung der Luftfahrt „EUROCONTROL" vom 12.2.1981 (BGBl. 1984 II, 71) und die Mehrseitige Vereinbarung über Flugsicherungs-Streckengebühren vom 12.2.1981 (BGBl. 1984,109) in Kraft. 275 BGBl. 1994 II, 1799; in Kraft seit dem 16.11.1994. Die Meeresbodenbehörde ist auf der Einführungssitzung der Vertragsstaaten vom 16.-18.11.1994 eingesetzt worden. Sie hat ihren Sitz in Kingston, Jamaika. Seit Juni 1996 ist sie voll arbeitsfähig. 276 BGBl. 1994 II, 2566; in Kraft seit dem 28.7.1996. 27 7 Rojahn, in: von Münch/Kunig, GG, Art. 24, Rz. 46; Tomuschat, in: BK, Art. 24, Rz. 117; ausführlich Wolfrum, Rüdiger, Die Internationalisierung staatsfreier Räume, Berlin u. a. 1984,511 ff.; Koch, Joachim-Christian, Die Internationale Meeresbodenbehörde in Kingston, Vereinte Nationen 1996, 210-215. 278 BGBl. 1955 II, 289. 279 BVerfGE 68,1 (93 ff.).
IV. Zwischenstaatliche Einrichtungen
107
die nationalen Streitkräfte gemäß ihrem NATO-Status als zugeordnete (assigned) oder als für die Unterstellung vorgesehene (earmarked for assignment) Verbände dem NATO-Kommando (operational command) unterstellt werden. In diesem Fall üben die alliierten Kommandobehörden direkte Befehlsgewalt gegenüber den Angehörigen der betroffenen deutschen Verbände aus und verfügen somit über begrenzte Durchgriffsbefugnisse. Gegen die Qualifizierung der NATO als zwischenstaatliche Einrichtung wird eingewandt, daß der Beschluß des NATO-Rates zur Auslösung der operativen Befehlslage nicht rechtsverbindlich, sondern lediglich eine Empfehlung sei. Die Bundesregierung könne zudem die Unterstellung deutscher Streitkräfte unter das alliierte Kommando jederzeit durch einseitigen Akt widerrufen. 280 Diese Besonderheiten sprechen jedoch nicht gegen die Anwendbarkeit des Art. 24 Abs. 1 GG auf die NATO. Es ist vielmehr entscheidend, daß die alliierten Kommandostellen auf der Grundlage des NATO-Vertrages mit der Befugnis ausgestattet werden, bei dem Eintritt bestimmter Voraussetzungen begrenzte Befehls- und damit Hoheitsgewalt unmittelbar gegenüber deutschen Streitkräften auszuüben. Damit ist die besondere Konstellation, für die Art. 24 Abs. 1 GG die Ermächtigungsgrundlage bildet, gegeben. Dieser Norm ist, worauf das Bundesverfasssungsgericht zu Recht hinweist, nicht zu entnehmen, daß die Übertragung von Hoheitsrechten unwiderruflich sein müsse oder daß die aktuelle Inanspruchnahme der Hoheitsgewalt nicht von einer erneuten Zustimmung der Bundesregierung abhängig gemacht werden dürfe. 281 Deshalb ist die NATO im Ergebnis als „zwischenstaatliche Einrichtung" im Sinne von Art. 24 Abs. 1 GG zu charakterisieren. 282 Demgegenüber fällt die WEU nicht in diese Kategorie, da sie nicht über eigene Kommandostrukturen verfügt. 283 Auch dem Amt für Rüstungskontrolle der WEU, dessen Aufgabe es ist, die Einhaltung von Rüstungsbeschränkungen zu überwachen, sind keine Hoheitsrechte übertragen worden. Es darf zwar 280
Rojahn, in: von Münch/Kunig, GG, Art. 24, Rz. 44; Randelzhofer, in: Maunz/Dürig, GG, Art. 241, Rz. 187; Tomuschat, in: BK, Art. 24, Rz. 113. 281 BVerfGE 68,1 (93 f.). 282 So auch Nolte, Georg, Die „neuen Aufgaben" von NATO und WEU: Völker- und verfassungsrechtliche Fragen, ZaöRV 54 (1994), 95-123 (114 f.); Wieland, Joachim, Verfassungsrechtliche Grundlagen und Grenzen für einen Einsatz der Bundeswehr, DVB1. 1991,1174-1182 (1177 f.); Wolfrum, Rüdiger, Die Bundesrepublik Deutschland im Verteidigungsbündnis, in: HStR VII (1992), § 176, Rz. 15 f. 283 Vgl. zu Struktur und Entwicklung der WEU Saalfeld, Michael, Entwicklung und Perspektiven der Westeuropäischen Union - Völkerrechtliche und sicherheitspolitische Überlegungen zu einer künftigen Revision des WEU-Vertrags, Diss. Tübingen 1992, 18 ff., 60 ff.; Fleuß, Martin, Die operationeile Rolle der Westeuropäischen Union in den neunziger Jahren - Eine völkerrechtliche Betrachtung und Berücksichtigung der Bemühungen der Organisation im Zuge der Bewältigung internationaler Konflikte, Frankfurt/Main u. a. 1996, 23 ff., 59 f.
108
Kap. 1, C. Die Tatbestandsvoraussetzungen des Artikels 24 Abs. 1 GG
Inspektionen in Produktionsanlagen und Depots sowie bei den Streitkräften der Mitgliedstaaten durchführen, zu denen den Inspektoren freier Zugang zu gewähren ist. 284 Dabei stehen ihnen aber keine Durchgriffsbefugnisse gegenüber nationalen Behörden oder Privatunternehmen zu. Vielmehr sind die Mitgliedstaaten verpflichtet, entsprechende innerstaatliche Rechtsvorschriften zu erlassen, um die Durchführung der Inspektionen sicherzustellen.285 Schließlich sind auch die Vereinten Nationen als „zwischenstaatliche Einrichtung" im Sinne des Art. 24 Abs. 1 GG zu qualifizieren, soweit es um Peacekeeping-Operationen geht. In diesem Fall werden zwischen der Regierung der Entsendestaaten und den Vereinten Nationen formelle oder informelle Abmachungen getroffen, die das nationale Kontingent in den Organisationsapparat der Vereinten Nationen integrieren. Damit werden die betroffenen Verbände der nationalen Streitkräfte der Befehlshoheit der Vereinten Nationen unterstellt.286 Ein solches Vorgehen wäre auch im Falle der Durchführung militärischer Zwangsmaßnahmen im Rahmen des Kapitels VE der Charta der Vereinten Nationen möglich. Bisher sind die Mitgliedstaaten allerdings nicht bereit gewesen, den Vereinten Nationen bei anderen als friedenssichernden Operationen die Befehlsgewalt zu überlassen.287 Das Bundesverfassungsgericht hat sowohl die Vereinten Nationen als auch die NATO in seinem AWACS-Urteil vom 12. Juli 1994 als „Systeme gegenseitiger kollektiver Sicherheit" im Sinne von Art. 24 Abs. 2 GG charakterisiert. 288 Dies schließt jedoch nicht aus, die genannten Organisationen auch als „zwischenstaatliche Einrichtungen" gemäß Art. 24 Abs. 1 GG zu qualifizieren. Denn Art. 24 Abs. 1 und Abs. 2 GG schließen einander nicht aus, sondern stehen zueinander im Verhältnis der Komplementarität.289
284
Art. 7,12 des Protokolls Nr. IV über das Amt für Rüstungskontrolle der Westeuropäischen Union vom 23.10.1954, in: BGBl. 1955 II, 274; vgl. dazu Saalfeld (Fn. 283), 95 ff. 285 Rojahn, in: von Münch/Kunig, GG, Art. 24, Rz. 47; Randelzhofer, in: Maunz/Dürig, GG, Art. 241, Rz. 184; Riedel, Norbert Karl, Der Einsatz deutscher Streitkräfte im Ausland - verfassungs- und völkerrechtliche Schranken, Frankfurt/Main u. a. 1989, 33 f.; a. A. Stern, Staatsrecht I, § 15, 526; Tomuschat, in: BK, Art. 24, Rz. 111. 286 Bothe, Michael, in: Simma, Bruno u. a. (Hrsg.), The Charter of the United Nations, A Commentary, München 1994, Art. 38, Rz. 90. 287 Frowein, Jochen Abr., ebenda, Art. 42, Rz. 25 f. 288 BVerfGE 90, 286 (349, 351). 289 Jarass, in: Jarass/Pieroth, GG, Art. 24, Rz. 16; Rojahn, in: von Münch/Kunig, GG, Art. 24, Rz. 89; Randelzhofer, in: Maunz/Dürig, GG, Art. 24 II, Rz. 1-3; Streinz, in: Sachs, GG, Art. 24, Rz. 55; Tomuschat, in: BK, Art. 24, Rz. 123. Vgl. auch BVerfGE 68,1 (89, 95); 90, 286 (350).
IV. Zwischenstaatliche Einrichtungen
109
2. Der Sonderfall der Europäischen Gemeinschaften Die Europäische Gemeinschaft für Kohle und Stahl (EGKS), die Europäische Wirtschaftsgemeinschaft (EWG) und die Europäische Atomgemeinschaft (EAG, auch „Euratom" genannt) sind bis zur Verfassungsänderung von 1992 als zwischenstaatliche Einrichtungen in den Anwendungsbereich des Art. 24 Abs. 1 GG gefallen. Folglich bildete Art. 24 Abs. 1 GG die verfassungsrechtliche Grundlage für die Übertragung umfangreicher Hoheitsrechte auf die Europäischen Gemeinschaften. Obwohl das Grundgesetz bis zur Einfügung des neuen Art. 23 GG nicht zwischen den einzelnen zwischenstaatlichen Einrichtungen differenzierte, unterschied sich der europäische Integrationsprozeß von Anfang an in mehrfacher Hinsicht von den bereits genannten Beispielen verstärkter internationaler Zusammenarbeit. Der Unterschied bestand einerseits in der politischen Zielsetzung der europäischen Integration, die laut Präambel des EWG-Vertrages (1. Erwägungsgrund) darauf angelegt war, „einen immer engeren Zusammenschluß der europäischen Völker zu schaffen". Wenn sich auch die Entwicklung anderer internationaler oder regionaler Organisationen wie etwa der NATO durch eine gewisse Dynamik auszeichnen, so ist doch die Zusammenarbeit in den Europäischen Gemeinschaften von vornherein als fortschreitender Prozeß angelegt worden. Infolgedessen sind vor allem der Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft seit ihrer Gründung im Jahre 1957290 eine Vielzahl von Kompetenzen eingeräumt worden. Diese gingen spätestens mit Verabschiedung der Einheitlichen Europäischen Akte im Jahre 1986291, deren Ziel die Errichtung des Binnenmarktes war, über den Bereich einer wirtschaftlichen Zusammenarbeit hinaus.292 Angesichts der Vielzahl der bereits auf die Europäischen Gemeinschaften verlagerten Kompetenzen wurden im Vorfeld der Gründung der Europäischen Union Zweifel geäußert, ob diese noch als „zwischenstaatliche Einrichtung" im Sinne des Art. 24 Abs. 1 GG charakterisiert werden könne.293 Denn spätestens mit der Gründung der Union wurde augenfällig, daß die europäischen Institutionen mit zunehmender Integrationsdichte erhebliche Besonderheiten gegenüber den herkömmlichen zwischenstaatlichen Einrichtungen aufwiesen. Diese Überlegungen trugen zu der Entscheidung bei, einen sog. „Europaartikel" in das Grundgesetz einzufügen. 290
Vertrag zur Gründung der Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft vom 25. März 1957, BGBl. 1957 II, 766; in Kraft seit dem 1.1.1958. 291 Einheitliche Europäische Akte (EEA) vom 28.2.1986, BGBl. 1986 II, 1104; in Kraft seit dem 1.7.1987. 292 Siehe dazu unten Kap. 3, Α. I. 1. 293 Siehe dazu unten Kap. 2, B. III. 2. a) aa).
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Kap. 1, D. Mitwirkung der Länder an der europäischen Integration
D. Die Mitwirkung und Beteiligung der Länder am europäischen Integrationsprozeß Art. 24 Abs. 1 GG sieht eine Beteiligung der Länder am Vorgang der Übertragung von Hoheitsrechten nicht vor. Die Länder waren allerdings von Anfang an bemüht, von der Bundesregierung rechtzeitig Informationen über geplante Maßnahmen auf der europäischen Ebene zu erhalten und auf die innerstaatliche Willensbildung der Regierung zumindest in für sie wichtigen Fragen Einfluß zu nehmen. Dieses Anliegen stand in einem Spannungsverhältnis zu den Interessen der Bundesregierung, weil die Mitwirkung der Länder an Handlungen und Entscheidungen im Bereich der Europapolitik zu einer Beschränkung ihrer außenpolitischen Kompetenz führen mußte. Bevor auf die besondere Problematik der Länderbeteiligung an der Europapolitik eingegangen wird, sollen zunächst einige einleitende Ausführungen zum Verhältnis zwischen Bund und Ländern in der Außenpolitik gemacht werden. Damit soll die Einordnung der hier interessierenden Frage in den dazugehörigen verfassungsrechtlichen Kontext erleichtert werden.
I. Die Kompetenzverteilung zwischen Bund und Ländern in auswärtigen Angelegenheiten Gemäß Art. 32 Abs. 1 GG ist die „Pflege der Beziehungen zu auswärtigen Staaten", worunter heute nach herrschender Auffassung 294 die auswärtigen Angelegenheiten in ihrer ganzen Breite verstanden werden, dem Kompetenzbereich des Bundes zugewiesen. Diese Regelung folgt dem Grundgedanken, daß ein Bundesstaat „im völkerrechtlichen Verkehr nach außen grundsätzlich als Einheit auftritt" 295 . Den Ländern ist in Art. 32 Abs. 3 GG allerdings die Möglichkeit eingeräumt, im Bereich ihrer Gesetzgebungszuständigkeiten völkerrechtliche Verträge abzuschließen, wobei sie der Zustimmung der Bundesregierung bedürfen.
294
Α. A. Fastenrath, Kompetenzverteilung (Fn. 100), 83 ff., der den Anwendungsbereich des Art. 32 Abs. 1 GG angesichts der heutigen Praxis des Verkehrs mit dem Ausland auf völkerrechtsförmliches Handeln beschränken will; so auch Geiger, Grundgesetz und Völkerrecht, § 25,121 f., und Borchmann, Michael, Auswärtige Aktivitäten der Bundesländer - Recht und Realität, Verwaltungsrundschau 1987,1-5 (4 f.). 295 BVerfGE 2, 347 (378).
II. Mitwirkungsrechte der Länder in auswärtigen Angelegenheiten
111
Nach der Konzeption des Grundgesetzes kommt also dem Bund vorrangig die Ausübung der sog. „auswärtigen Gewalt"296 zu, während die Länder nur in einem begrenzten Bereich selbst Verträge abschließen dürfen. Dabei müssen sie die Zustimmung der Bundesregierung einholen, der es obliegt zu entscheiden, ob durch den beabsichtigten Vertrag gesamtstaatliche Belange oder die Verfolgung ihrer außenpolitischen Ziele beeinträchtigt werden. Das Zustimmungserfordernis eröffnet der Bundesregierung überdies die Möglichkeit, auf die Verhandlungsführung des Landes einzuwirken. In der Praxis ist allerdings seit langem zu beobachten, daß die Länder in erheblichem Umfang außenpolitische Aktivitäten entfalten, die weit über den Bereich ihrer ausschließlichen Gesetzgebungskompetenzen hinausgehen. Die sogenannte „Nebenaußenpolitik der Länder" findet entweder mit der ausdrücklichen Zustimmung oder zumindest der stillschweigenden Duldung der Bundesregierung statt, wobei die Länder dem Gebot der Bundestreue unterliegen. Diese Praxis, deren verfassungsrechtliche Einordnung umstritten ist, dürfte wohl inzwischen als gewohnheitsrechtlich anerkannt anzusehen sein.297 Die Länder haben bei verschiedenen Gelegenheiten versucht, ihre außenpolitischen Aktivitäten durch eine Änderung des Art. 32 GG verfassungsrechtlich abzusichern, haben ihre Forderungen aber bisher nicht durchsetzen können.298
Π. Mitwirkungsrechte der Länder an der Willensbildung des Bundes in auswärtigen Angelegenheiten Die Länder waren zudem ständig darum bemüht, ihre Mitwirkung an der Pflege der auswärtigen Beziehungen zu verstärken und Einfluß auf die Entscheidungsfindung der Bundesregierung zu gewinnen. Die von ihnen geltend gemachten Mitwirkungsrechte finden im Grundgesetz eine Grundlage in Art. 32 Abs. 2 GG. Demgemäß hat ein Land, dessen Interessen durch einen völkerrechtlichen Vertrag in besonderer Weise berührt werden, das Recht, vor dessen Abschluß rechtzeitig angehört zu werden. Das bedeutet, daß das betroffene Land so frühzeitig eingeschaltet werden muß, daß sich seine Stellungnahme auf die Vertragsverhand-
296
Dieser Begriff wird herkömmlicherweise verwendet, obwohl er irreführend ist. Denn er bezeichnet keine eigenständige vierte Gewalt im Sinne der Gewaltenteilungslehre, sondern umfaßt die Gesamtheit der Kompetenzen auf dem Gebiet der auswärtigen Angelegenheiten. 297 Grewe, in: HStR III (1996), § 77, Rz. 83, spricht vorsichtig davon, daß sie „gewohnheitsrechtlich Anerkennung zu finden verspricht". 298 Siehe dazu unten Kap. 2, Β. I. 2. b), II. 2. b) und III. 2. c).
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Kap. 1, D. Mitwirkung der Länder an der europäischen Integration
lungen auswirken kann.299 Sind mehrere Länder in ihren besonderen Verhältnissen betroffen, so hat jedes Land für sich genommen ein Anhörungsrecht. Im übrigen gab es zwischen Bund und Ländern Streit über die Auslegung der Art. 32 Abs. 1 und 3 GG. Dieser betraf zum einen die Frage, ob der Bund auch im Bereich der Gesetzgebungszuständigkeiten der Länder völkerrechtliche Verträge abschließen könne. Zum anderen ging es um das damit unmittelbar zusammenhängende Problem, ob der Bund, wenn er schon solche in den Kompetenzbereich der Länder eingreifenden Verträge schließen dürfe, diese auch noch selbst in innerstaatliches Recht umsetzen bzw. transformieren dürfe. Hierzu wurden drei Auffassungen vertreten, die sog. norddeutsche, süddeutsche und Berliner Lösung.300 Der Bund, unterstützt von Berlin, war der Ansicht, daß aus Art. 32 Abs. 1 GG eine umfassende Vertragsabschlußkompetenz ohne Rücksicht auf die innerstaatliche Kompetenzverteilung folge (sog. ,3erliner Lösung"). Darüber hinaus leitete er aus Art. 32 Abs. 1 GG auch die Berechtigung her, völkervertragsrechtliche Verpflichtungen aus dem Kompetenzbereich der Länder innerstaatlich umzusetzen, d. h. er beanspruchte für sich die sog. Transformationskompetenz in Bereichen, für die im Falle einer innerstaatlichen Regelung nach der grundgesetzlichen Kompetenzordnung allein die Länder zuständig wären. Nach der entgegengesetzten „süddeutschen Lösung" sollten die Abschluß- und dementsprechend auch die Transformationskompetenz des Bundes auf die Materien beschränkt sein, für die dem Bund gemäß Art. 70 ff. GG die Gesetzgebungskompetenz zusteht. Beide genannten Auffassungen führen dazu, daß die Abschluß- und die Transformationskompetenz in einer Hand zusammenfallen, und zwar entweder beim Bund oder bei den Ländern. Die „norddeutsche Lösung" hat demgegenüber ein Auseinanderfallen von Abschluß- und Transformationskompetenz zur Folge. Dem Bund sollte zwar eine unbeschränkte Abschlußkompetenz im Bereich der Gesetzgebungszuständigkeiten der Länder zukommen. Die Umsetzung in innerstaatliches Recht sollte aber allein von den Ländern vorgenommen werden dürfen. Der Vorteil dieser vermittelnden Lösung liegt darin, daß der Bund gegenüber fremden Staaten die notwendige Flexibilität behält, Verträge, insbesondere Kulturabkommen, unabhängig von sei299
Fastenrath, Kompetenzverteilung (Fn. 100), 162; Rojahn, in: von Münch/Kunig, GG, Art. 32, Rz. 29; Jarass, in: Jarass/Pieroth, GG, Art. 32, Rz. 8; Streinz, in: Sachs, GG, Art. 32, Rz. 44 f. 300 Die einzelnen Auffassungen sind nach den Ländern benannt, die sich im Rechtsausschuß des Bundesrates in den Jahren 1955/56 für sie ausgesprochen haben. Die ,3erliner Lösung" wurde vom Bund und von Berlin, die „süddeutsche Lösung" von Baden-Württemberg, Bayern, Hessen, Nordrhein-Westfalen sowie - in eingeschränkter Form - RheinlandPfalz und die „norddeutsche Lösung" von Bremen, Hamburg, Niedersachsen und Schleswig-Holstein vertreten. Vgl. dazu im einzelnen Fastenrath, Kompetenzverteilung (Fn. 100), 115 ff.
II. Mitwirkungsrechte der Länder in auswärtigen Angelegenheiten
113
ner eigenen Gesetzgebungskompetenz abzuschließen. Gleichzeitig werden bei der Umsetzung die Eigenstaatlichkeit der Länder und die innerstaatliche Kompetenzordnung gewahrt. Nachteilig ist allerdings, daß der Bund im Konfliktfall für die Erfüllung seiner völkerrechtlichen Verpflichtungen nicht selbst Sorge tragen kann. Der Streit zwischen Bund und Ländern wurde durch einen pragmatischen Kompromiß entschärft, der im sog. Lindauer Abkommen vom 14. November 1957301 festgehalten wurde. Im Ergebnis wurde dem Bund eine umfassende Vertragsabschlußkompetenz zugestanden. Im Bereich der ausschließlichen Länderkompetenzen soll er allerdings im Regelfall deren Einverständnis herbeiführen und sie möglichst frühzeitig an den Vorbereitungen zum Vertragsschluß beteiligen (Ziff. 3). Die Umsetzung solcher Verträge in innerstaatliches Recht fällt dagegen allein in die Kompetenz der Länder, wobei diese nach herrschender Meinung nach dem Grundsatz der Bundestreue zur Ausführung der völkerrechtlichen Verträge des Bundes verpflichtet sind, die er mit ihrer Zustimmung abgeschlossen hat.302 Zum Zwecke der Institutionalisierung der Zusammenarbeit wurde die „Ständige Vertragskommission der Länder" errichtet (Ziff. 4b). Sie wird vom zuständigen Bundesministerium „möglichst frühzeitig" über alle geplanten Abkommen unterrichtet, die „wesentliche Interessen der Länder berühren", damit diese „rechtzeitig ihre Wünsche geltend machen können" (Ziff. 4a). Die einzelnen Länder können Stellungnahmen abgeben, die in der Kommission beraten und koordiniert werden. Das Verfahren wiederholt sich so lange, bis zwischen Bund und Ländern über den Vertragsentwurf Einvernehmen erzielt worden ist. 303 Daneben haben die Länder - manchmal mit Beteiligung des Bundes - zum Zwecke der Koordinierung ihrer Aktivitäten Kommissionen und Arbeitsgruppen eingerichtet, die mit auswärtigen Angelegenheiten befaßt sind.304 Schließlich haben sie die Möglichkeit, informell, d. h. bei Ressortbesprechungen mit Vertretern der Bundesministerien und durch die Teilnahme von Bundesratsmitgliedern bzw. ihrer Vertreter an den Sitzungen des Bundestages und seiner Ausschüsse (Art. 43 Abs. 2 GG), auf die Willensbildung des Bundes Einfluß zu nehmen.
301 Text in: BT-Drs. 7/5924, 236 (Anhang); ZaöRV 20 (1959/60), 116; Fastenrath, Kompetenzverteilung (Fn. 100), Anhang II.l, 277 f., 302 Vgl. statt aller Rojahn, in: von Münch/Kunig, GG, Art. 32, Rz. 55, m. w. N.; Stern, Klaus, Auswärtige Gewalt und Lindauer Abkommen, in: FS 180 Jahre Carl Heymanns Verlag (Fn. 122), 251-270 (256 ff.). 303 Vgl. im einzelnen Fastenrath, Kompetenzverteilung (Fn. 100), 163 f. m. w. N. 304 Ebenda, 167 f., mit zahlreichen Beispielen. 8 König
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Kap. 1, D. Mitwirkung der Länder an der europäischen Integration
Darüber hinaus wirken die Länder gemäß Art. 50 i. V. m. Art. 59 Abs. 2 S. 1, 80 Abs. 2 GG durch den Bundesrat an der Gesetzgebung und Verwaltung des Bundes auch dann mit, wenn auswärtige Angelegenheiten betroffen sind. Bei Gesetzgebungsverträgen gemäß Art. 59 Abs. 2 S. 1 2. Alt. GG richtet sich die Beteiligung des Bundesrates nach den Vorschriften über das Gesetzgebungsverfahren. Das heißt, daß das Zustimmungsgesetz zu einem völkerrechtlichen Vertrag immer dann der Zustimmung des Bundesrates bedarf, wenn ein Bundesgesetz gleichen Inhalts zustimmungspflichtig wäre. Bei politischen Verträgen gemäß Art. 59 Abs. 2 S. 1 1. Alt. GG kommt dem Bundesrat demgegenüber nach überwiegender Auffassung in der Literatur 305 nur ein Einspruchsrecht zu. Diese Ansicht steht im Einklang mit der Staatspraxis, da der Bundesrat bisher bei politischen Verträgen nie ein Zustimmungsrecht für sich in Anspruch genommen hat. Verwaltungsabkommen sind zustimmungspflichtig, wenn zu ihrer Durchführung eine Rechtsverordnung erforderlich ist, die gemäß Art. 80 Abs. 2 GG die Zustimmung des Bundesrates benötigt, oder wenn sie Vorschriften für die Verwaltung durch die Länder enthält.306 Im Ergebnis ist festzuhalten, daß die Länder im Bereich der auswärtigen Angelegenheiten, die nicht die europäische Integration betreffen, über verschiedene Möglichkeiten verfügen, auf die Willensbildung des Bundes Einfluß zu nehmen. Bei der Wahrnehmung ihrer Mitwirkungsrechte handeln sie, wenn mehrere oder alle Länder in ihren Interessen betroffen sind, indem sie - wie etwa im Falle der „Ständigen Vertragskommission" - ihre Auffassungen koordinieren und gegenüber der Bundesregierung einen gemeinsamen Standpunkt vertreten. Diese hat die Stellungnahme der Länder zwar nach dem Gebot der Bundestreue in ihre Überlegungen einzubeziehen, ist aber nicht daran gebunden. Soweit die Länder durch den Bundesrat an demErlaß von Zustimmungsgesetzen zu völkerrechtlichen Verträgen und bei der Umsetzung von Verwaltungsabkommen beteiligt sind, nimmt dieser die ihm in Art. 50 GG zugewiesene Aufgabe wahr, an der Gesetzgebung und Verwaltung des Bundes mitzuwirken.
305
Kewenig, WilhelmA., Bundesrat und auswärtige Gewalt, ZRP 1971,238-243; Menzel, Eberhard, Bedürfen „politische Verträge" der Zustimmung des Bundesrates?, JZ 1971, 745-752 und 755-759 (Erwiderung auf Klein, s. u.); ders., in: BK, Art. 59, Anm. II 7; Bernhardt, Rudolf, Verfassungsrecht und völkerrechtliche Verträge, in: HStR VII (1992), § 174, Rz. 16; Rojahn, in: von Münch/Kunig, GG, Art. 59, Rz. 27; Zuleeg, in: AK-GG, Art. 59, Rz. 22; Jarass, in: Jarass/Pieroth, GG, Art. 59, Rz. 10; Streinz, in: Sachs, GG, Art. 59, Rz. 48; a. Α. Klein, Friedrich, Entgegnung (auf Menzel, s. o.), JZ 1971,752-755; Maunz, in: Maunz/Dürig, GG, Art. 59, Rz. 20. 306 Vgl. dazu im einzelnen Fastenrath, Kompetenzverteilung (Fn. 100), 247 ff. m. w. N.
III. Mitwirkung der Länder an EG-Angelegenheiten vor 1992
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Ι Π . Die Mitwirkung der Länder an europäischen Angelegenheiten vor der Verfassungsänderung von 1992 Die europäischen Angelegenheiten zeichnen sich im Vergleich zu den übrigen auswärtigen Beziehungen durch Besonderheiten aus. Zum einen konnte der Bund gemäß Art. 24 Abs. 1 GG auch Hoheitsrechte der Länder auf die Europäischen Gemeinschaften übertragen, ohne daß es hierzu - anders, als es in Art. 32 Abs. 2 GG und im Lindauer Abkommen vorgesehen ist - ihrer vorherigen Anhörung und der Zustimmung des Bundesrates bedurfte. 307 Zum anderen hatte die stetige Ausdehnung der Kompetenzen der Europäischen Gemeinschaften dazu geführt, daß spätestens seit dem Inkrafttreten der Einheitlichen Europäischen Akte vom 28. Februar 1986 auch Regelungsbereiche „europäisiert" worden waren, für die nach der grundgesetzlichen Kompetenzverteilung den Ländern die Gesetzgebungskompetenz zustand. 308 Hierzu zählten vor allem die Bereiche Bildung und Kultur, die regionale Strukturpolitik, die Umweltpolitik sowie die Haushaltsautonomie der Länder. 309 Die Eingriffe in Kompetenzbereiche der Länder betrafen im Schwerpunkt ihre legislativen Zuständigkeiten, wirkten sich aber auch auf dem Gebiet des Gesetzes Vollzugs und der Rechtspre-
307
Siehe dazu oben Kap. 1, C. II.; dennoch hat der Bundesrat in der Praxis sowohl dem Vertragsgesetz zu den Römischen Verträgen von 1957 als auch zur Einheitlichen Europäischen Akte von 1986 gemäß Art. 59 Abs. 2 S. 1 GG zugestimmt. 308 Darstellungen zu den Kompetenzeinbußen der Länder infolge des europäischen Integrationsprozesses finden sich ζ. B. bei Birke (Fn. 241), 17 ff.; Schwan (Fn. 221), 15 ff.; Schröder, Meinhard, Bundesstaatliche Erosionen im Prozeß der europäischen Integration, JöR N. F. 35 (1986), 83-102 (85 ff.); Streinz, Rudolf, Die Auswirkungen des Europäischen Gemeinschaftsrechts auf die Kompetenzen der deutschen Bundesländer, in: Heckmann, Dirk/Meßerschmidt, Klaus (Hrsg.), Gegenwartsfragen des Öffentlichen Rechts - 28. Tagung der wissenschaftlichen Mitarbeiter der Fachrichtung „Öffentliches Recht" vom 15.-18. März 1988 in Trier, Berlin 1988,15-51 (33 ff.); Kössinger, Winfried, Die Durchführung des Europäischen Gemeinschaftsrechts im Bundesstaat - Bund/Länder-Verhältnis und Europäisches Gemeinschaftsrecht, Berlin 1989, 24 ff.; Busch, Tobias, Bundesländer und Grundgesetz im Spannungsfeld der europäischen Integration, Pfaffenweiler 1990, 36 ff.; Baumhof, Christopher, Die deutschen Bundesländer im europäischen Einigungsprozeß unter besonderer Berücksichtigung der Mitwirkung der Länder an EWG-Vorhaben, München 1991,5 ff. und 26 ff.; von Welck, Georg, Die Bundesländer und die Einheitliche Europäische Akte, München 1991, 35 ff. und 60 ff. 309 Vgl. für eine Bestandsaufnahme nach Inkrafttreten des Maastrichter Vertrages Donoth, Hans-Peter, Die Bundesländer in der Europäischen Union: Die bundesstaatliche Ordnung in der Bundesrepublik Deutschland bei der Verwirklichung der Europäischen Union - eine Analyse unter besonderer Berücksichtigung des neugefaßten Art. 23 GG, Frankfurt/Main u. a. 1996,40 ff. 8*
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Kap. 1, D. Mitwirkung der Länder an der europäischen Integration
chung aus.310 Darüber hinaus führte die Übertragung von Gesetzgebungskompetenzen des Bundes zu einem Machtverlust auf Seiten der Länder. Denn sie verloren dadurch das ihnen in Art. 50 GG eingeräumte Recht, auf diesen Sachgebieten durch den Bundesrat an der Gesetzgebung des Bundes mitzuwirken. Dieses galt in gleicher Weise für ihre Mitwirkung im Bereich der Bundesverwaltung.311 Vor der Einfügung des Europaartikels in das Grundgesetz war das Verhältnis zwischen Bund und Ländern in bezug auf Angelegenheiten der europäischen Integration also durch folgende Besonderheiten gekennzeichnet: Auf der Ebene des europäischen Primärrechts konnte der Bund gemäß Art. 24 Abs. 1 GG Hoheitsrechte der Länder ohne deren Zustimmung auf die Europäischen Gemeinschaften übertragen. Der daraus resultierende Eingriff in das bundesstaatliche Kompetenzgefüge wurde dadurch verstärkt, daß die Länder infolge der Übertragung von Bundeskompetenzen auch ihr Mitwirkungsrecht an der Gesetzgebung und Verwaltung des Bundes einbüßten. Noch gravierender als der direkte Verlust von Gesetzgebungszuständigkeiten und Mitwirkungsrechten wirkte sich aus, daß das europäische Sekundärrecht - nicht zuletzt infolge einer weiten Auslegung der Kompetenzvorschriften in Art. 100, 100 a und 235 EWGV durch die Gemeinschaftsorgane - spürbar in Gesetzgebungs- und Verwaltungskompetenzen der Länder eingriff. Hinzu kam, daß bei einer Übertragung von Gesetzgebungskompetenzen des Bundes dieser nicht jegliche Gestaltungsmöglichkeit verlor, da zumindest die Bundesregierung im Ministerrat am Erlaß des Sekundärrechts beteiligt war. Auf der Bundesebene wurden Entscheidungsrechte des Bundestages eingetauscht gegen das Recht der Bundesregierung, im Ministerrat an dem Erlaß von Rechtsvorschriften mitzuwirken, die weit über den Anwendungsbereich deutscher Normen hinausgingen. Folglich lag hier die verfassungsrechtliche Problematik nicht so sehr in dem Verlust von Kompetenzen, als vielmehr in der Verlagerung legislativer Zuständigkeiten auf die Exekutive begründet.312 Im Verhältnis der Länder zum Bund waren demgegenüber die gemäß Art. 24 Abs. 1 GG herbeigeführten Hoheitsrechtsübertragungen mit einem vollständigen Verlust von Gestaltungs- und Mitwirkungsrechten der Länder verbunden. Obwohl sich also die Eingriffe in Länderkompetenzen aufgrund der dynamischen Entwicklung des Gemeinschaftsrechts viel stärker auswirkten als im Bereich der übrigen auswärti-
310
Vgl. Streinz (Fn. 308), 46 ff.; Meißner, Martin, Die Bundesländer und die Europäischen Gemeinschaften - Eine Untersuchung zur Garantie des Bundesstaatsprinzips unter Berücksichtigung der Kompetenzkompensation und der Regelung des Art. 23 GG n. F., Baden-Baden 1996,71 ff. 311 Vgl. Rudolf, in: FS Schlochauer (Fn. 244), 123 f.; Schröder, Erosion (Fn. 308), 93 f. 312 Siehe dazu im einzelnen unten Kap. 1, E.
I I . Mitwirkung der Länder an
Angelegenheiten
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gen Angelegenheiten, war den Ländern von Verfassungs wegen nicht einmal ein dem Art. 32 Abs. 2 GG vergleichbares Anhörungs- und Mitwirkungsrecht in der Verfassung garantiert. Deshalb war es aus der Sicht der Länder notwendig, gerade in bezug auf die Europapolitik der Bundesregierung Mitwirkungs- und Beteiligungsrechte abzuhandeln, die denjenigen nach dem Lindauer Abkommen zumindest vergleichbar waren.
1. Die Unterrichtung des Bundesrates gemäß Artikel 2 des Vertragsgesetzes zu den Römischen Verträgen von 1957 und die Einsetzung eines Länderbeobachters Den Ländern gelang es schon bald nach Beginn des europäischen Integrationsprozesses, auf unterverfassungsrechtlicher Ebene Mitwirkungs- und Beteiligungsrechte zu verankern. 313 Gemäß Art. 2 des Vertragsgesetzes zu den Römischen Verträgen von 1957314 verpflichtete sich die Bundesregierung, Bundestag und Bundesrat „über die Entwicklungen im Rat der Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft und der Europäischen Atomgemeinschaft laufend zu unterrichten." Die Unterrichtung sollte vor der Beschlußfassung im Ministerrat erfolgen, wenn die europäische Maßnahme ein deutsches Gesetz erfordern oder in Deutschland unmittelbare Rechtsgeltung erlangen sollte.315 Gleichzeitig setzten die Länder aufgrund einer 1956 mit dem Bundesaußenminister getroffenen Vereinbarung einen Länderbeobachter ein, der Mitglied der deutschen Ratsdelegation ist, bei den Vorbereitungssitzungen für die Ratstagungen zugegen ist und alle Ratsdokumente sowie die vorbereitenden Ratsunterlagen der Regierung erhält.316 Seine Aufgabe 313 Vgl. zu den politischen und juristischen Anstrengungen der Länder ausführlich Fuhrmann-Mittlmeier, Doris, Die deutschen Länder im Prozeß der Europäischen Einigung Eine Analyse der Europapolitik unter integrationspolitischen Gesichtspunkten, Berlin 1991, 181 ff. 314 BGBl. 1957 II, 753. 315 Vgl. zu den Einzelheiten Oetting, Ulf, Bundestag und Bundesrat im Willensbildungsprozeß der Europäischen Gemeinschaften - Die Unterrichtung der gesetzgebenden Körperschaften nach Art. 2 des Zustimmungsgesetzes zu den Römischen Verträgen, Berlin 1973, 36 ff. und 50 ff.; Sasse, Christoph, Bundesrat und Europäische Gemeinschaft, in: Bundesrat (Hrsg.), Der Bundesrat als Verfassungsorgan und politische Kraft, Bad Honnef/Darmstadt 1974, 333-363 (351 ff.); Morawitz, Rudolf/Kaiser, Wilhelm, Die Zusammenarbeit von Bund und Ländern bei Vorhaben der Europäischen Union, Bonn 1994,45 ff. 316 Vgl. ausführlich zur Rolle des Länderbeobachters Morawitz, Rudolf, Die Zusammenarbeit von Bund und Ländern bei Vorhaben der Europäischen Gemeinschaft, Bonn 1981, 31 ff.; Oetting (Fn. 315), 95 ff.; Birke (Fn. 241), 53 ff.; Stöger, Fritz, Aufgaben und Tätigkeit des Beobachters der Länder bei den Europäischen Gemeinschaften, in: Magiera, Sieg-
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Kap. 1, D. Mitwirkung der Länder an der europäischen Integration
ist es, die Länder unmittelbar, d. h. neben der Unterrichtung des Bundesrates durch die Bundesregierung, auf dem laufenden zu halten.
2. Das Länderbeteiligungsverfahren
von 1979
Die Länder empfanden diese Form der Beteiligung an der Europapolitik insgesamt als unbefriedigend. In der Praxis wurde der Bundesrat zwar im Regelfall von der Bundesregierung unterrichtet, es gab aber auch Fälle, in denen die Unterrichtung gar nicht, zu spät oder unzureichend erfolgte. 317 Zudem konnte der Bundesrat zwar zu den geplanten Rechtsakten der Europäischen Gemeinschaften Stellung nehmen, seine Stellungnahmen kamen jedoch häufig zu spät. Vor allem aber brauchte die Bundesregierung sie nicht zu berücksichtigen, ohne hierfür Gründe angeben zu müssen. Da dies auch galt, wenn durch das europäische Sekundärrecht in ausschließliche Gesetzgebungskompetenzen der Länder eingegriffen wurde, wollten die Länder zumindest für diesen Bereich eine Vereinbarung mit dem Bund erzielen, die ihnen - ähnlich wie beim Lindauer Abkommen - eine Einflußnahme auf die innerstaatliche Willensbildung sichern sollte.318 Nach langwierigen Verhandlungen, in denen die Bundesregierung die Länder zunächst auf ihre alleinige, auf Art. 24 Abs. 1 und 32 Abs. 1 GG gestützte Kompetenz im Bereich der Europapolitik verwiesen hatte, wurde 1979 das sog. „Länderbeteiligungsverfahren" vereinbart. 319
fried/Merten, Detlef (Hrsg.), Bundesländer und Europäische Gemeinschaft, Berlin 1988, 101-120; Borchmann Michael, Bundesstaat und europäische Integration - Die Mitwirkung der Bundesländer an Entscheidungsprozessen der EG, AöR 112 (1987), 586-622; SchmidtMeinecke, Stefan, Bundesländer und Europäische Gemeinschaft - Entwicklung und Stand der Länderbeteiligung im Europäischen Einigungsprozeß, Speyerer Forschungsberichte Nr. 59, Speyer 1987, 35 ff. und 67 ff. 317 Vgl. Rudolf in: FS Schlochauer (Fn. 244), 125, mit Beispielen (Fn. 30 und 31); Jaspert, Günter, Die Beteiligung des Bundesrates an der europäischen Integration, in: Magiera/Merten, Bundesländer (Fn. 316), 87-100 (94 f.). 318 Vgl. zu den Verhandlungen zwischen Bund und Ländern ausführlich Morawitz/ Kaiser (Fn. 315), 52 ff. 319 Ebenda, 127 ff.; der Bundeskanzler gab am 19.9.1979 eine zuvor mit den Ländern ausgehandelte Erklärung ab, mit der sich der Vorsitzende der Ministerpräsidentenkonferenz „unbeschadet der während der Verhandlungen gegenseitig vorgetragenen Rechtsauf fassungen von Bund und Ländern" mit Schreiben vom 26.9.1979 einverstanden erklärte. Die Erklärung ist abgedruckt in: Fastenrath, Kompetenzverteilung (Fn. 100), 285 f., und in: Hrbek, RudolffThaysen, Uwe (Hrsg.), Die Deutschen Länder und die Europäischen Gemeinschaften, Baden-Baden 1986, 237 f.
I I . Mitwirkung der Länder an
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Die Bundesregierung verpflichtete sich hiernach, die Länder selbst - also nicht nur, wie in Art. 2 des Zustimmungsgesetzes zu den Römischen Verträgen vorgesehen, den Bundesrat - rechtzeitig und umfassend über die Vorhaben der Europäischen Gemeinschaften zu unterrichten. Soweit geplante Gemeinschaftsakte innerstaatlich in die ausschließliche Gesetzgebungskompetenz der Länder fielen, sollten diese die Möglichkeit erhalten, ihren Standpunkt „eingehend und umfassend" darzustellen. Der Bund versprach, sich zu bemühen, mit den Ländern Einvernehmlichkeit zu erzielen sowie ihren Standpunkt soweit wie möglich in die Verhandlungen im Ministerrat einzubringen und durchzusetzen. Eine Abweichung vom Standpunkt der Länder sollte nur aus „zwingenden außenund integrationspolitischen Gründen" zulässig sein, wobei sich der Bund verpflichtete, den Ländern die maßgeblichen Gründe hierfür mitzuteilen. In Umsetzung ihrer Unterrichtungspflicht erklärte sich die Bundesregierung außerdem bereit, dem Länderbeobachter sowohl die Ratsdokumente als auch die Vorentwürfe und Dokumente der Kommission, die für die Länder von Interesse sein konnten, zu übermitteln.320 Die Ministerpräsidenten der Länder vereinbarten ihrerseits ein Verfahren, daß es ihnen ermöglichen sollte, rechtzeitig einen gemeinsamen Standpunkt festzulegen. 321 Das bis 1986 durchgeführte Länderbeteiligungsverfahren bewährte sich allerdings nicht. Es gelang den Ländern schon mangels einer effektiven Organisationsstruktur nicht, der Bundesregierung auch nur in einem einzigen Fall rechtzeitig eine gemeinsame Stellungnahme zu übermitteln.322
320
Einfügung des § 85a in die Gemeinsame Geschäftsordnung der Bundesministerien, Teil II, abgedruckt in: Fastenrath, Kompetenzverteilung (Fn. 100), Anhang II.6,289. 321 Vgl. dazu im einzelnen Rudolf, in: FS Schlochauer (Fn. 244), 133 f. Das Verfahren gliederte sich in drei Phasen: (1) die Informationsphase, in der der Länderbeobachter den zuständigen Stellen der Länder die Dokumente zuleitet; (2) die Meinungsbildungsphase, die der Abstimmung der Stellungnahmen der einzelnen Länder dient; und (3) die Verhandlungsphase, während der die Ländervertreter bei den Verhandlungen in den Gemeinschaftsgremien den direkten Kontakt zu den einzelnen federführenden Landesressorts halten sollten. 322 Vgl. Donoth (Fn. 309), 73; Paul, Michael, Die Mitwirkung der Bundesländer an der Rechtsetzung der Europäischen Gemeinschaften de lege lata und de lege ferenda, Frankfurt/Main u. a. 1996, 8 f.; Stöger, in: Magiera/Merten, Bundesländer (Fn. 316), 108 f., jeweils m. w. N.
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Kap. 1, D. Mitwirkung der Länder an der europäischen Integration
3. Die Beteiligung des Bundesrates an der Willensbildung der Bundesregierung gemäß Artikel 2 des Zustimmungsgesetzes zur Einheitlichen Europäischen Akte von 1986 Angesichts dieses unbefriedigenden Zustandes verlangten die Länder vor der Zustimmung zur Einheitlichen Europäischen Akte vom 28. Februar 1986, ihre Mitwirkung in europäischen Angelegenheiten gesetzlich zu verankern. 323 Begründet wurde dieser Vorstoß vor allem mit dem Gedanken der Kompensation. Die im Zuge der europäischen Integration verzeichneten Kompetenzverluste der Länder und des Bundesrates sollten durch gesetzlich abgesicherte Mitwirkungsrechte an der Willensbildung der Bundesregierung - und damit mittelbar am Erlaß europäischen Sekundärrechts - ausgeglichen werden. In der juristischen Diskussion war zwar umstritten, ob sich die Forderung nach Kompetenzkompensation aus der Verfassung herleiten lasse324 oder ob sie lediglich verfassungspolitisch wünschenswert sei. In der Staatspraxis konnten sich die Länder jedoch mit ihrem Anliegen durchsetzen, weil sonst die Ratifizierung der Einheitlichen Europäischen Akte gefährdet gewesen wäre. In Reaktion auf das Scheitern einer direkten Beteiligung der Länder am Willensbildungsprozeß des Bundes waren diese sich einig, daß die Mitwirkung künftig über den Bundesrat erfolgen sollte. Ansonsten griff das in Art. 2 EEAG 325 niedergelegte Verfahren die im Länderbeteiligungsverfahren vereinbarten Regelungen im wesentlichen auf und präzisierte sie, um dessen Schwächen zu vermeiden. Die Unterrichtung durch die Bundesregierung sollte „zum frühestmöglichen Zeitpunkt" erfolgen (Art. 2 Abs. 1 EEAG). Die Regierung verpflichtete sich 323
Die Frage der Zustimmungsbedürftigkeit der EEA war zwischen der Bundesregierung und dem Bundesrat höchst umstritten. Die Regierung Schloß sich schließlich „aus Achtung vor dem gesamtpolitischen Gewicht des Verfassungsorgans Bundesrat" der Auffassung desselben an. So Staatsminister Stavenhagen in der 564. Stzg. des Bundesrates vom 16.5.1986, BR-Drs. 150/86, abgedruckt in: Hrbek/Thaysen (Fn. 319), 265. Vgl. dazu Morawitz, Rudolf, Die Zusammenarbeit von Bund und Ländern bei der Wahrnehmung von EG-Aufgaben - Erfahrungen und Reformbestrebungen, in: Magiera/Merten, Bundesländer (Fn. 316), 45-60. 324 So insbesondere Schröder, Erosion (Fn. 308), 98 f.; restriktiver Bleckmann, Mitwirkung der Länder der Bundesrepublik Deutschland (Fn. 241), 147, der eine über Informations· und Anhörungsrechte hinausgehende Beteiligung der Länder nur dann für verfassungsrechtlich geboten hält, wenn der Kembereich ihrer eigenen Angelegenheiten ausgehöhlt wird. Vgl. zum Kompensationsgedanken ausführlich unten Kap. 6, Α. II. 325 BGBl. 1986 II, 1102; die näheren Einzelheiten des Beteiligungsverfahrens wurden in einer Vereinbarung zwischen der Bundesregierung und den Regierungen der Länder vom 17.12.1987 (GMB1. 1989, 697) geregelt, abgedruckt in: Magiera/Merten, Bundesländer (Fn. 316), Anhang, 263 ff., und in: Morawitz/Kaiser (Fn. 315), Anhang VIII, 159 ff.
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zudem, dem Bundesrat vor ihrer Zustimmung zu Beschlüssen, die entweder die ausschließliche Gesetzgebungsmaterie der Länder betrafen oder deren wesentliche Interessen berührten, die Gelegenheit zu geben, in angemessener Frist Stellung zu nehmen (Art. 2 Abs. 2 EEAG). Der Bundesrat konnte sich mit seinem weitergehenden Vorschlag, dem zufolge die Regierung vor Erhalt seiner Stellungnahme nicht an Gemeinschaftsentscheidungen hätte mitwirken dürfen, allerdings nicht durchsetzen. Demgegenüber konnte er erreichen, daß die Regierung seiner Stellungnahme Gewicht beimessen mußte. Zwar brauchte sie diese in allen Bereichen, die nicht die ausschließlichen Gesetzgebungskompetenzen der Länder berührten, lediglich zu berücksichtigen, mußte aber, wenn sie davon abwich, auf Verlangen des Bundesrates die dafür maßgeblichen Gründe angeben. Bei Eingriffen in ausschließliche Gesetzgebungskompetenzen der Länder war die Bindung der Regierung stärker ausgestaltet. Sie konnte nur aus „unabweisbaren außen- und integrationspolitischen Gründen" davon abweichen (Art. 2 Abs. 2 EEAG) und mußte ihre Gründe offenlegen (Art. 2 Abs. 3 EEAG). Diese weitreichende Bindung an den Standpunkt des Bundesrates war mit Blick auf das Außenvertretungsrecht des Bundes gemäß Art. 32 Abs. 1 GG umstritten. Zum einen wurde die Meinung vertreten, daß die Bundesregierung in ihrer außenpolitischen Handlungsfreiheit nicht in verfassungswidriger Weise eingeschränkt worden sei.326 Die Länder waren der Ansicht, daß die Europapolitik wegen ihrer Ausdehnung auf immer weitere Sachbereiche ohnehin nicht mehr der klassischen Außen-, sondern der Innenpolitik zuzurechnen sei. Deshalb durften nach ihrer Auffassung die Auswirkungen von Gemeinschaftsrecht auf die innerstaatliche Kompetenzordnung bei der Ausübung des Außenvertretungsrechts nicht unberücksichtigt bleiben. Das Recht der Bundesregierung, die Bundesrepublik Deutschland als Gesamtstaat nach außen zu vertreten, sei nicht notwendig mit der Befugnis verbunden, den Inhalt dieses Handelns in jedem Fall selbst zu bestimmen.327 Von den Befürwortern der prinzipiellen Bindung der Bundesregierung an die Stellungnahme des Bundesrates wurde im übrigen daraufhingewiesen, daß die Handlungsfreiheit ersterer im Kern nicht beeinträchtigt sei, da ihr das Letztentscheidungsrecht verbleibe. Ihr komme bezüglich der Frage, ob im Einzelfall unabweisbare Gründe für ein Abweichen vom Bundesratsvotum vorlägen, eine verfas-
326
Die Bundesregierung selbst ging in ihrer Gegenäußerung zu dem Vorschlag des Bundesrates davon aus, daß ihre „grundgesetzlich garantierte Handlungsfreiheit" gewahrt sei, BT-Drs. 10/6418 v. 12.11.1986, abgedruckt in: Hrbek/Thaysen (Fn. 319), 290 (293). 327 So Sasse in einem für die Länder erstellten Gutachten vom 18.9.1973, zitiert bei Morawitz, Zusammenarbeit (Fn. 316), 19 f.; Baumhof (Fn. 308), 71 ff. und 110 f.
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Kap. 1, D. Mitwirkung der Länder an der europäischen Integration
sungsgerichtsfeste „Einschätzungsprärogative" zu. 328 Da mithin keine absolute Bindung der Regierung an die Auffassung des Bundesrates eingetreten sei, wurde ein Eingriff in die Außenvertretungskompetenz des Bundes verneint. 329 Zum anderen wurde demgegenüber die Ansicht vertreten, daß die Regelung in Art. 2 Abs. 2 EEAG die außenpolitische Handlungsfreiheit der Regierung de facto erheblich einschränke und daß die im Regelfall intendierte Bindung an den Standpunkt des Bundesrates mit ihrer verfassungsrechtlichen Stellung gemäß Art. 32 Abs. 1 GG nicht vereinbar sei. 330 Tomuschat bemerkte kritisch, daß die Regelung selbst dann, wenn sie der Bundesregierung faktisch einen weiten Spielraum der politischen Einschätzung belasse, einen Versuch darstelle, „durch einfaches Gesetz ein Rechtsverhältnis zwischen zwei Verfassungsorganen näher auszugestalten und zu Lasten der Bundesregierung ein Element der checks and balances einzuführen, von dem jedenfalls ausdrücklich an keiner Stelle des Grundgesetzes die Rede ist". 3 3 1 Die Regelung war deshalb so problematisch, weil das im Grund328 So Schröder, Erosion (Fn. 308), 96; Tomuschat, Christian, Bundesstaats- und Integrationsprinzip in der Verfassungsordnung des Grundgesetzes, in: Magiera/Merten, Bundesländer (Fn. 316), 21-43 (34), weist zu Recht daraufhin, daß eine verfassungsgerichtliche Kontrolle schon deshalb ausscheide, weil der Antragsteller in einem Organstreitverfahren gemäß § 64 Abs. 1 BVerfGG geltend machen müsse, daß er in seinen ,4hm durch das Grundgesetz übertragenen Rechten und Pflichten" verletzt sei, der Bundesrat sich aber nur auf eine einfachgesetzliche Grundlage stützen könne. 329 Ebenda; vgl. auch Memminger, Gerhard, Die Zusammenarbeit von Bund und Ländern bei der Wahrnehmung von EG-Aufgaben - Erfahrungen und Reformbestrebungen, in: Magiera/Merten, Bundesländer (Fn. 316), 61-71 (64 f.); Oschatz, Georg-Berndt, EGRechtsetzung und deutscher Föderalismus - Die Europäisierung des Rechts und ihre Auswirkungen auf das bundesstaatliche und institutionelle Gefüge in der Bundesrepublik Deutschland, in: Merten, Detlef (Hrsg.), Föderalismus und Europäische Gemeinschaften, Berlin 1990,63-80 (75 f.); Stewing, Clemens, Subsidiarität und Föderalismus in der Europäischen Union, Köln u. a. 1992,64 f.; Meißner (Fn. 310), 212. 330 So Ress, Die Europäischen Gemeinschaften (Fn. 241), 553 f.; ders., Das deutsche Zustimmungsgesetz zur Einheitlichen Europäischen Akte - Ein Schritt zur„Föderalisierung" der Europapolitik, EuGRZ 1987, 361-367 (364); Fastenrath, Kompetenzverteilung (Fn. 100), 169 f.; Blanke, Hermann-Josef, Die Bundesländer im Spannungsverhältnis zwischen Eigenstaatlichkeit und Europäischer Integration. Beteiligungsformen bei der Entstehung und Durchführung des Gemeinschaftsrechts, in: Heckmann/Meßerschmidt (Fn. 308), 53-81 (68); von Welck (Fn. 308), 113 ff. und 119 ff. 331 Tomuschat, Bundesstaats- und Integrationsprinzip (Fn. 328), 34; Bedenken gegen eine einfachgesetzliche Regelung haben auch Baumhof (Fn. 308), 125 f.; Borchmann, Bundesstaat und europäische Integration (Fn. 316), 609; Frowein, Jochen Ahr., Bundesrat, Länder und europäische Einigung, in: Bundesrat (Hrsg.), Vierzig Jahre Bundesrat - Tagungsband zum wissenschaftlichen Symposium in der Evangelischen Akademie Tutzing vom 11. bis 14. April 1989, Baden-Baden 1989, 285-302 (295); Ress, Die Europäischen Gemeinschaften (Fn. 241), 557 f.
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gesetz festgelegte Verhältnis zwischen Bundesregierung und Bundesrat im Bereich der europäischen Angelegenheiten mittels eines einfachen Gesetzes geändert werden sollte. Die gesamte Regelung in Art. 2 EEAG ließ sich zwar als eine Konkretisierung von Rechten des Bundesrates und Pflichten der Bundesregierung charakterisieren, die ohnehin aus dem Grundsatz bundesfreundlichen Verhaltens hergeleitet werden konnten. Das Bundesverfassungsgericht hat in ständiger Rechtsprechung anerkannt, daß dieser Grundsatz sowohl den Bund als auch die Länder dazu verpflichtet, bei der Ausübung eigener Kompetenzen auf das Gesamtinteresse des Bundesstaates und auf die Belange der anderen Beteiligten Rücksicht zu nehmen.332 Deshalb ließen sich die umfassende Informations- und Konsultationspflicht gemäß Art. 2 Abs. 1 EEAG und die Verpflichtung zur Berücksichtigung der Stellungnahmen des Bundesrates gemäß Art. 2 Abs. 3 S. 1 EEAG aus dem Prinzip der Bundestreue rechtfertigen. 333 Dies galt jedoch nicht ohne weiteres für die in Art. 2 Abs. 3 S. 2 in Verbindung mit Abs. 4 EEAG vorgesehene Bindung der Regierung an das Votum des Bundesrates. Es wurde darauf hingewiesen, daß auch der Grundsatz der Bundestreue kein Staatsorgan dazu zwingen könne, sich der Auffassung eines anderen zu unterwerfen. Daher schlugen die Kritiker dieser Regelung vor, sie verfassungskonform, d. h. im Einklang mit Art. 32 Abs. 1 GG dahingehend auszulegen, daß sich der Bund zwar bemühen müsse, den Standpunkt der Länder so weit wie möglich in den Verhandlungen auf europäischer Ebene zu berücksichtigen, letztlich aber nicht zu einem Festhalten an dieser Position verpflichtet werden könne.334 Das Bundesverfassungsgericht hat die nach dem Grundsatz bundesfreundlichen Verhaltens bestehende Pflicht zur Zusammenarbeit zwischen Bund und Ländern bei dem Erlaß europäischen Sekundärrechts erstmals in seinem Urteil zur EG-Fernsehrichtlinie 335 konkretisiert. Bemerkenswert ist, daß das Gericht 332
BVerfGE 12, 205 (254); 32, 199 (218); 43, 291 (348); 61, 149 (205); 81, 310 (337 f.). 333 Tomuschat, Bundesstaats- und Integrationsprinzip (Fn. 328), 39; die Informationsund Konsultationspflicht wurde auch direkt aus dem Informationsanspruch des Bundesrates gemäß Art. 53 Abs. 3 GG hergeleitet, vgl. Grabitz, Eberhard, Die deutschen Länder in der Gemeinschaft, EuR 1987, 310-321 (317), und Meißner (Fn. 310), 206. 334 Tomuschat, ebenda, 39 f.; Blanke, Bundesländer zwischen Eigenstaatlichkeit und EG-Integration (Fn. 330), 68 f.; Grabitz (Fn. 333), 319. 335 BVerfGE 92,203 ff.; vgl. dazu die Anmerkungen von Häde, Ulrich, in: EuZW 1995, 284 f. und Zuleeg, Manfred, in: JZ 1995,673-677 sowie die ausführlichen Besprechungen von Dieterich, Gunila, Rechtsschutz der deutschen Bundesländer vor dem Bundesverfassungsgericht in Angelegenheiten der Europäischen Union, Frankfurt/Main u. a. 1998, 125 ff.; Gerkrath, Jörg, L'arrêt du Bundesverfassungsgericht du 22 mars 1995 sur la directive «télévision sans frontières» - Les difficultés de la répartition des compétences
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Kap. 1, D. Mitwirkung der Länder an der europäischen Integration
diesen Streit zwischen dem Bund und neun Bundesländern 336 , in dem bereits 1989 eine von der Bayrischen Staatsregierung beantragte einstweilige Anordnung abgelehnt worden war, 337 erst 1995 entschieden hat, als das nunmehr in Art. 23 Abs. 2 und 4 bis 7 GG geregelte Mitwirkungsverfahren bereits in Kraft getreten war. Die Entscheidung hat dennoch Aussagekraft für die jetzige Regelung, da sie das Beteiligungsverfahren gemäß Art. 2 EEAG, dem die Neufassung im wesentlichen nachgebildet ist, als aus dem Prinzip der Bundestreue abgeleitetes und deshalb mit der Verfassung in Einklang stehendes Verfahren anerkannt hat. In dem Streit ging es im wesentlichen um die Frage, ob die Bundesregierung der sog. „Fernsehrichtlinie" 338 zustimmen durfte, obwohl der Bund und die Länder sich zuvor einig waren, daß die Gemeinschaft für die darin vorgesehenen Quotenregelungen 339 für europäische Filmwerke keine Regelungskompetenz besaß. Die Regierung hatte ihr Stimmverhalten mit dem Hinweis zu rechtfertigen versucht, daß auf ihr Betreiben Rat und Kommission bei der Verabschiedung der Richtlinie in Protokollerklärungen die Quotenregelungen als lediglich politische - nicht rechtlich verbindliche - Verpflichtung der Mitgliedstaaten bezeichnet hätten.
entre trois niveaux de législation, RTDE1995,539-559; Herdegen, Matthias, After the TV Judgment of the German Constitutional Court: Decision-making within the EU Council and the German Länder, CMLR 1995, 1369-1384; Lerche, Peter , Konsequenzen aus der Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts zur EG-Fernsehrichtlinie, AfP 1995, 632-638; Pechstein, Matthias, Keine „Solange ΙΙΓ-Entscheidung: Das Bundesverfassungsgericht und die EG-Fernsehrichtlinie, Jura 1995,581-589; Winkelmann, Ingo, Die Bundesregierung als Sachwalter von Länderrechten - Zugleich Anmerkung zum EG-Fernsehrichtlinien-Urteil des Bundesverfassungsgerichts, DÖV 1996,1-11. 336 Antragstellerin war die Bayrische Staatsregierung; dem Bund-Länder-Streit hatten sich Nordrhein-Westfalen, Bremen, Hamburg, Hessen, Rheinland-Pfalz, das Saarland, Schleswig-Holstein und Niedersachsen angeschlossen. 337 BVerfGE 80, 74 ff. 338 ABl. EG L 298, 23 f. 339 Gemäß Art. 4 müssen die Mitgliedstaaten ,4m Rahmen des praktisch Durchführbaren und mit angemessenen Mitteln" dafür sorgen, daß Fernsehveranstalter den Hauptanteil ihrer Sendezeit - also mindestens 50 % - der Sendung von europäischen Werken vorbehalten (Programmquoten). Gemäß Art. 5 müssen sie in gleicher Weise dafür Sorge tragen, daß FemsehVeranstalter mindestens 10 % der Sendezeit oder wahlweise 10 % ihrer Haushaltsmittel für Fernsehproduktionen freier Produzenten aus der Gemeinschaft zur Verfügung stellen (Produktionsquoten). Vgl. zu den jüngsten Bestrebungen, die Quotenregelungen zu verschärfen, Hailbronner, Kay/Weber, Claus, Möglichkeiten zur Förderung der europäischen Kultur in Rundfunk und Femsehen anhand der Fernsehrichtlinie der Europäischen Gemeinschaft, DÖV 1997,561-570, nach deren Ansicht zwar gegen die derzeitige Quotenregelung keine durchgreifenden rechtlichen Bedenken bestünden, der Gemeinschaft aber für eine weitergehende Regelung die Kompetenz fehle.
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Beurteilungsmaßstab für die Verfassungsmäßigkeit der Handlungsweise der Regierung ist Art. 70 Abs. 1 in Verbindung mit Art. 24 Abs. 1 GG und dem Verfassungsgrundsatz des bundesfreundlichen Verhaltens.340 Das Verfassungsgericht weist zunächst darauf hin, daß das gesetzlich abgestützte Verfahren der Bundesratsbeteiligung die verfassungsrechtlichen Positionen von Bund und Ländern nicht verändern kann, daß es aber für die Ausgestaltung und Auslegung der aus dem Prinzip der Bundestreue abzuleitenden Bindung von Bund und Ländern von Bedeutung ist. 341 Ausgangspunkt seiner weiteren Argumentation ist die Feststellung, daß es „Sache des Bundes" ist, die Rechte der Bundesrepublik Deutschland gegenüber der Gemeinschaft und ihren Organen zu vertreten. Damit stellt das Gericht klar, daß das Außenvertretungsrecht des Bundes gemäß Art. 32 Abs. 1 GG weiterhin auch im Bereich der europäischen Angelegenheiten gilt, und zwar selbst dann, wenn die Gemeinschaft Kompetenzen beansprucht, die nach der innerstaatlichen Kompetenzordnung den Ländern zustehen. Dies ist als deutliche Absage an die von den Ländern vertretene Auffassung zu werten, der zufolge die Europapolitik nicht mehr als Außen-, sondern als Innenpolitik zu charakterisieren sei. Beabsichtigt die Gemeinschaft, im Bereich der ausschließlichen Länderkompetenzen Recht zu setzen, so hat die Bundesregierung allerdings die Pflicht, als Sachwalter der Länder die ihnen nach dem Grundgesetz zugewiesenen und nach dem Gemeinschaftsvertrag verbliebenen Gesetzgebungskompetenzen wirksam zu vertreten.342 Diese Sachwalterstellung des Bundes ist das Korrelat zu seinem Außenvertretungsrecht, das zur Folge hat, daß die Länder ihre Interessen auf europäischer Ebene nicht selbst vertreten können, sondern auf den Bund angewiesen sind. Als Sachwalter der verfassungsmäßigen Rechte der Länder muß der Bund eng mit diesen zusammenarbeiten. Die Länder haben einen Anspruch darauf, daß die Regierung bei der Wahrnehmung ihres Außenvertretungsrechts das mit ihnen zuvor vereinbarte Verfahren des Art. 2 EEAG einhält. Diese hat demzufolge bestimmte prozedurale Pflichten zu erfüllen. 343 Auf der innerstaatlichen Ebene sind dies Prüfungs-, Darlegungs- und Erörterungspflichten, und auf der europäischen Ebene erwächst der Regierung eine Vertretungs- und - im Rahmen des Möglichen - eine Durchsetzungspflicht. Sie ist in einem ersten Schritt verpflichtet zu prüfen, ob sie ein geplantes Gemeinschaftsvorhaben mit Blick auf gesamtstaatliche Belange unterstützen, hinnehmen oder ablehnen will. Dabei muß sie 340
BVerfGE 92, 203 (230). Ebenda, 234. 342 Ebenda, 231 ; vgl. zum Begriff des „Sachwalters", den das Bundesverfassungsgericht neu in seine Rechtsprechung eingeführt hat, Isensee, Josef, Idee und Gestalt des Föderalismus im Grundgesetz, in: HStR IV (1990), § 98, Rz. 290. 343 BVerfGE 92, 203 (235 ff.). 341
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Kap. 1, . Mitwirkung de
nde a
eropäischen Integration
sowohl die innerstaatliche Kompetenzverteilung berücksichtigen als auch die Frage nach Bestehen und Reichweite der Gemeinschaftskompetenz beantworten. In einem zweiten Schritt muß sie ihre Auffassung den Ländern gegenüber darlegen und begründen. Sodann muß sie in einem dritten Schritt ihren Standpunkt mit dem Bundesrat erörtern und sich mit der Rechtsauffassung der Länder auseinander setzen. Die Länder müssen dabei ihrerseits die Bindung der Bundesrepublik Deutschland an das europäische Recht, so wie es vom EuGH verbindlich ausgelegt wird, beachten. Haben sich Bund und Länder auf einen gemeinsamen Standpunkt verständigt, so muß die Regierung in einem vierten Schritt alles tun, um diesen im weiteren Verhandlungsabiauf auf der europäischen Ebene durchzusetzen. Äußerstenfalls muß sie, wenn das Gemeinschaftsrecht eine Mehrheitsentscheidung vorsieht, „das aus der Gemeinschaftstreue folgende Gebot wechselseitiger Rücksichtnahme zur Geltung bringen". 344 Damit dürfte gemeint sein, daß sich die Regierung als ultima ratio im Rat auf den sog. „Luxemburger Kompromiß" berufen müßte, um eine Mehrheitsentscheidung gegen die Stimme Deutschlands zu verhindern. Wird dennoch eine EG-Regelung verabschiedet, die sich nach deutscher Auffassung nicht auf eine Vertragskompetenz stützen läßt, so muß die Regierung auf der Gemeinschaftsebene für eine Änderung oder Aufhebung dieses Rechtsaktes eintreten und sich die Möglickeit einer Klage vor dem EuGH offenhalten. Will die Regierung ausnahmsweise aus zwingenden außen- und integrationspolitischen Gründen von dem mit den Ländern einvernehmlich festgelegten Standpunkt abweichen, so muß sie sich rechtzeitig mit dem Bundesrat verständigen.345 Sie kann sich also nicht einfach auf ihre Einschätzungsprärogative berufen, wenn sie es aufgrund des Verhandlungsverlaufs auf der Gemeinschaftsebene für geboten hält, von der gemeinsamen Position abzurücken. Ihr Handlungsspielraum wird dadurch eingeschränkt, daß sie zuvor den Bundesrat nicht nur von dem Verhandlungsergebnis unterrichten und die Gründe für ihren Sinneswandel darlegen, sondern auch die Verständigung mit dem Bundesrat suchen muß. Insofern hat das Gericht die Verhaltenspflichten der Regierung bei einem Abweichen von der Stellungnahme des Bundesrates gemäß Art. 2 Abs. 3 S. 2 und Abs. 4 EEAG in einer Weise konkretisiert, die ihren Handlungsspielraum in den Gemeinschaftsgremien erheblich verkürzt. Die Frage, wer entscheidet, wenn eine Verständigung nicht erzielt werden kann, läßt das Gericht allerdings offen, weil es hierüber nicht zu entscheiden brauchte. Mit Blick auf das Außenvertretungsrecht des Bundes ist aber
344 345
Ebenda, 237. Ebenda, 236 f.
III. Mitwirkung der Länder an EG-Angelegenheiten vor 1992
127
davon auszugehen, daß das Letztentscheidungsrecht im Konfliktfall dem Bund zukommt. Trotz der in dem Urteil zum Ausdruck gebrachten Bestätigung einer weitgehenden Bindung der Regierung an das Votum des Bundesrates hat das Gericht ihr die Möglichkeit eröffnet, aus einem Grund vom Standpunkt des Bundesrates abzuweichen, der in Art. 2 Abs. 3 S. 2 EEAG nicht vorgesehen ist. Dabei geht es um den Fall, daß Bundesrat und Bundesregierung unterschiedliche Rechtsansichten in bezug auf eine Regelungskompetenz der Gemeinschaft vertreten. Die Regierung muß zwar die gegenteilige Rechtsauffassung des Bundesrates ernstlich erwägen, darf aber davon abweichen, wenn sie sich für ihre Rechtsansicht auf eine gefestigte Vertragsauslegung des EuGH berufen kann.346 Diese Aussage ist, ohne daß sie das Gericht näher begründet hätte, das Ergebnis einer europarechtsfreundlichen Auslegung des Art. 2 Abs. 3 EEAG und damit des verfassungsrechtlichen Prinzips der Bundestreue. Denn eine strikte Bindung der Regierung an den Rechtsstandpunkt des Bundesrates hätte diese gezwungen, der Gemeinschaft bei der Abstimmung im Ministerrat eine Kompetenz abzusprechen, die ihr nach der für alle Mitgliedstaaten verbindlichen Rechtsprechung des EuGH eindeutig zukommt. Damit hätte sie sich gemeinschaftsrechtswidrig verhalten müssen. Um die aus dem Prinzip der Bundestreue abgeleiteten Pflichten der Regierung gegenüber den Ländern im Einklang mit ihren Verpflichtungen aus dem Gemeinschaftsvertrag zu halten, bedurfte es deshalb dieser Abweichungsmöglichkeit. Im Ergebnis ist festzuhalten, daß das Bundesverfassungsgericht den Grundsatz der Bundestreue zumindest dann, wenn die Länder durch eine geplante Gemeinschaftsregelung in ihren ausschließlichen Gesetzgebungskompetenzen betroffen sind, als weitreichende Schranke des Außenvertretungsrechts der Bundesregierung interpretiert hat. Für den Fall, daß sich Bund und Länder im Rahmen des Unterrichtungs- und Konsultationsverfahrens auf eine gemeinsame Position verständigt haben, darf die Regierung nur aus zwingenden außen- und integrationspolitischen Gründen davon abweichen. Sie muß sich aber zuvor ernsthaft darum bemühen, eine Verständigung mit dem Bundesrat zu erreichen. Können sich Regierung und Bundesrat allerdings nicht auf einen gemeinsamen Standpunkt einigen, so kann sich die Regierung - über den in Art. 2 Abs. 3 S. 2 EEAG geregelten Fall hinaus - mit ihrer Auffassung durchsetzen, wenn sie sich auf eine gefestigte Rechtsprechung des EuGH stützen kann. Damit hat das Gericht der Bundesregierung die Möglichkeit offengehalten, sich bei den Verhandlungen auf der europäischen Ebene gemeinschaftsrechtskonform zu verhalten. 346
Ebenda, 237 f.
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Kap. 1, . Mitwirkung de
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Legt man dieses Ergebnis zugrunde, so lassen sich folgende Aussagen machen: Können sich Bund und Länder bezüglich der Frage, ob eine Gemeinschaftskompetenz besteht, nicht einigen und hat der EuGH diese Frage noch nicht entschieden, so ist der Bund im Regelfall an die Rechtsauffassung des Bundesrates gebunden. Er kann hiervon nur abweichen, wenn er sich auf zwingende außen- und integrationspolitische Gründe berufen und diese nachvollziehbar darlegen kann. Ob der Regierung dabei eine Einschätzungsprärogative zukommt, läßt sich dem Urteil nicht entnehmen. Dafür spricht allerdings, daß es letztlich die Regierung ist, die die Bundesrepublik Deutschland in den Gemeinschaftsorganen vertritt und die deshalb die Verhandlungssituation am besten beurteilen kann. Somit verbleibt ihr nach dem Beteiligungsverfahren gemäß Art. 2 EEAG im Konfliktfall das Letztentscheidungsrecht.
4. Die Teilnahme von Ländervertretern an den Verhandlungen auf Gemeinschaftsebene Aufgrund einer Vereinbarung der Ministerpräsidenten von Bayern und BadenWürttemberg aus dem Jahre 1956 wurde, wie bereits erwähnt,347 ein „Beobachter der Länder bei den Europäischen Gemeinschaften" eingesetzt. Als Mitglied der deutschen Ratsdelegation nimmt er nicht nur an den Vorbereitungssitzungen für die Ratstagungen im Bundeswirtschaftsministerium, sondern - allerdings ohne Interventionsrecht - auch an den Sitzungen des Ministerrates selbst teil. Darüber hinaus haben die Länder seit der Mitte der sechziger Jahre versucht, durch eigene Vertreter stärker an internationalen Verhandlungen des Bundes und an dessen Ausübung von Mitgliedschaftsrechten in internationalen und supranationalen Organisationen beteiligt zu werden. Die zwischen 1964 und 1968 hierüber geführten Gespräche mit dem Bund endeten mit einem Kompromiß, der in dem sog. Kramer/Heubl-Papier über „Gemeinsame Regelungen zur personellen Beteiligung der Länder an den auswärtigen Beziehungen der Bundesrepublik" festgeschrieben wurde.348 Diese Vereinbarung zwischen Bund und Ländern sah eine Aufnahme von Fachleuten aus den Ländern in die Verhandlungskommission des Bundes vor, wenn (1) der Bund wegen der innerstaatlichen Zuständigkeitsverteilung keine eigenen Fachkräfte besaß, wenn (2) zur Erreichung eines optimalen Verhand347
Siehe dazu oben Kap. 1, D. III. 1. Beschluß der Regierungschefs der Länder vom 5.7.1968, dem die Bundesregierung mit Kabinettsbeschluß vom 26.7.1968 zugestimmt hat, abgedruckt in: Fastenrath, Kompetenzverteilung (Fn. 100), Anlage II.2, 278 ff., und in: Morawitz/Kaiser (Fn. 315), Anhang III, 141 ff. 348
III. Mitwirkung der Länder an EG-Angelegenheiten vor 1992
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lungsergebnisses eine Ergänzung der Fachkunde notwendig erschien oder wenn (3) der Verhandlungsgegenstand wesentliche Belange der betroffenen Länder berührte. Aufgrund des Kramer/Heubl-Papiers sind Beamte der Länder in zahlreiche Arbeitsgruppen und Ausschüsse des Rates und der Kommission entsandt worden.349 Ein in die Ratsdelegation aufgenommener Ländervertreter war im Außenverhältnis „RegierungsVertreter des verhandelnden Völkerrechtssubjekts »Bundesrepublik Deutschland4", der kraft Ermächtigung des Bundes die ihm anvertraute Aufgabe wahrnahm.350 Folglich war er an die Weisungen des Delegationsleiters gebunden und hatte nach außen die Auffassung der Bundesregierung zu vertreten. Imlnnenverhältnis, also insbesondere bei den Vorbesprechungen mit Beamten der zuständigen Bundesministerien und delegationsinternen Beratungen, vertrat er demgegenüber die fachlichen und politischen Belange der Länder. Diese konnten ihn für die Vorbereitungsverhandlungen mit Bundesbeamten mit Weisungen versehen. Der Ländervertreter war gehalten, den Standpunkt der Länder nach dem Grundsatz bundesfreundlichen Verhaltens in die auswärtige Gesamtinteressenlage der Bundesrepublik einzufügen. Der Bund mußte sich seinerseits im Sinne länderfreundlichen Verhaltens bemühen, die Auffassung der Länder in seine Verhandlungsposition einzubeziehen.351 Im Rahmen des LänderbeteiligungsVerfahrens von 1979 erklärte sich der Bund bereit, bei EG-Maßnahmen, die innerstaatlich eine ausschließliche Länderkompetenz betrafen, nach Möglichkeit zwei Ländervertreter an den Verhandlungen der Beratungsgremien des Rates und der Kommission zu beteiligen. Im Zuge des Ratifizierungsverfahrens zur Einheitlichen Europäischen Akte wurde die Entsendung von Ländervertretern in Gemeinschaftsgremien erstmals auf eine gesetzliche Grundlage gestellt. Gemäß Art. 2 Abs. 5 EEAG war die Bundesregierung verpflichtet, in den Fällen, in denen ausschließliche Gesetzgebungszuständigkeiten der Länder betroffen oder ihre wesentlichen Interessen berührt waren, auf ihr Verlangen Ländervertreter zu den Verhandlungen in den Beratungsgremien der Kommission und des Rates hinzuzuziehen, soweit ihr dies möglich war. Diese Verpflichtung entsprach der im Länderbeteiligungs verfahren getroffenen Absprache. In der Bund-Länder-Vereinbarung von 1987 wurde festgehalten, daß die Ländervertreter nunmehr vom Bundesrat benannt werden sollten. Soweit ausschließliche Gesetzgebungsmaterien der Länder betroffen waren, sollte die Bundesregierung im Rahmen des Möglichen zu Ratstagungen selbst zwei Ländervertreter hinzu349
Beispiele bei Morawitz, Zusammenarbeit (Fn. 316), 42 ff., Schmidt-Meinecke (Fn. 316), 92 ff. und Blanke, Bundesländer (Fn. 330), 69, m. w. N. 350 Kramer/Heubl-Papier, Anlage I, Ziff. 1. 351 Ebenda, Anlage I, Ziff. 3. 9 König
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Kap. 1, . Mitwirkung de
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ziehen.352 Deren Einflußmöglichkeiten waren jedoch nach den Bestimmungen des damals geltenden Gemeinschaftsrechts begrenzt. Dem Art. 2 Abs. 1 des Fusionsvertrages von 1965353 war zu entnehmen, daß Ratsmitglieder nur Angehörige der Regierung der Mitgliedstaaten selbst sein konnten. Daraus folgte, daß im Rat nur Mitglieder der Bundesregierung rechtsverbindliche Erklärungen für die Bundesrepublik Deutschland abgeben konnten.354 Demgegenüber stand es den Regierungsvertretern im Rat frei, zu ihrer Unterstützung Beamte hinzuzuziehen, so daß die Aufnahme von Ländervertretern in die deutsche Ratsdelegation mit dem Gemeinschaftsrecht vereinbar war. 355 Ferner wurde klargestellt, daß die Vertreter der Länder im Außenverhältnis Mitglieder der deutschen Delegation waren. Im Innenverhältnis waren sie an die Stellungnahmen des Bundesrates gebunden. Delegationsleitung und Sprecherrolle lagen - ihrem Außenvertretungsanspruch gemäß Art. 32 Abs. 1 GG entsprechend - bei der Bundesregierung. Diese zeigte ein gewisses Entgegenkommen bei der Regelung, daß ein Ländervertreter in Arbeitsausschüssen und -gruppen mit Zustimmung des Delegationsleiters Erklärungen abgeben durfte. 356 Die Abgabe von Erklärungen im Ministerrat selbst war demgegenüber nicht vorgesehen, obwohl das Gemeinschaftsrecht einem Rederecht der Ländervertreter nicht entgegengestanden hätte. In Ausnahmefällen wurde den Ländervertretern, der bisherigen Praxis folgend, auch weiterhin die Möglichkeit eingeräumt, sich im Rat zu äußern. Dies galt insbesondere für Ratstagungen der Bildungs- und Kultusminister. Darüber hinaus hatte der Bundeskanzler den Ländern in einer Protokollerklärung vom 19. Mai 1983 zugesichert, bei Themen, die überwiegend in ihre ausschließliche Gesetzgebungszuständigkeit fielen, dem Präsidenten der Kultusministerkonferenz die Leitung der deutschen Delegation zu übertragen, sofern nicht zwingende außen- und integrationspolitische Gründe 352
Die Hinzuziehung von Ländervertretern zu den Ministerratssitzungen war höchst umstritten. Während die Länder im Bereich ihrer ausschließlichen Gesetzgebung nicht nur ein Präsenzrecht im Rat, sondern auch die Delegationsleitung und Sprecherrolle beanspruchten, lehnte die Bundesregierung unter Hinweis auf den Wortlaut des Art. 2 Abs. 5 EEAG (,3eratungsgremien der Kommission und des Rates") eine Teilnahme der Ländervertreter an Ratssitzungen ab. Vgl. dazu im einzelnen Borchmann, Michael/Kaiser, Wilhelm, Die Mitwirkung der Länder im EG-Ministerrat, in: Borkenhagen, Franz H. U./BrunsKlöss, Christian/Memminger, Gerhard/Stein, Otti (Hrsg.), Die deutschen Länder in Europa, Baden-Baden 1992, 36-46 (38). 353 BGBl. 1965 II, 1454. 354 Zu diesem Ergebnis kamen zwei vom juristischen Dienst des Rates erstellte Rechtsgutachten vom 17.5.1989 und 22.5.1991; vgl. Borchmann/Kaiser (Fn. 352), 36. 355 Vgl. Ehlermann, Claus-Dieter, Die Einflußnahme der deutschen Länder auf den Entscheidungsprozeß in der Europäischen Gemeinschaft aus Brüsseler Sicht, in: Hrbek/Thaysen (Fn. 319), 139-148(142). 356 Bund-Länder-Vereinbarung vom 17.12.1987, Teil III, Ziff. 5.
III. Mitwirkung der Länder an EG-Angelegenheiten vor 1992
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entgegenstünden. Diese Zusage, die von der Bund-Länder-Vereinbarung von 1987 unberührt blieb, bezog sich allerdings nur auf die kulturelle Zusammenarbeit im Rahmen der „Feierlichen Deklaration zur Europäischen Union" vom Juni 1983, die in Ergänzung der EG-Maßnahmen intergouvernemental erfolgte. Wegen des intergouvernementalen Charakters dieser Zusammenarbeit kam es nicht zu einem Konflikt mit Art. 2 Abs. 1 des Fusionsvertrages von 1965.357 Die Beteiligung von Ländervertretern stand allerdings von vornherein unter dem Vorbehalt „soweit der Bundesregierung dies möglich ist". Folglich lag die Entscheidung allein bei der Regierung, wobei ihr ein weiter Ermessensspielraum für außen- und integrationspolitische Erwägungen eröffnet war. Deshalb wurde die Regelung in Art. 2 Abs. 5 EEAG in der Ausformung, die sie in der Bund-Länder-Vereinbarung von 1987 erhalten hatte, als mit dem Außen Vertretungsmonopol und der Integrationskompetenz des Bundes vereinbar angesehen.358 Diese Art der Beteiligung empfanden die Länder allerdings schon bald als unbefriedigend. Mit Blick auf die beginnenden Verhandlungen zur Wirtschafts- und Währungsunion sowie zur Politischen Union verlangten sie deshalb eine unmittelbare Beteiligung der Länder und Regionen an der Arbeit des EGMinisterrats. 359 In einem Beschluß der Ministerpräsidentenkonferenz vom 17./19. Oktober 1990360 wurde diese Forderung auf der Grundlage eines Positionspapiers der Kultusministerkonferenz vom 27. April 1990 wie folgt konkretisiert: - Delegationsleitung und Sprecherrolle in EG-Räten obliegen dem Mitglied einer Landesregierung, wenn die zu behandelnden EG-Vorhaben ausschließliche Gesetzgebungsmaterien der Länder betreffen,
357
Vgl. Borchmann/Kaiser (Fn. 352), 39; die Protokollerklärung ist abgedruckt in: Meißner (Fn.310), 231. 358 Vgl. Rudolf, Walter, Die deutschen Bundesländer und die Europäischen Gemeinschaften nach der Einheitlichen Europäischen Akte, in: Jekewitz, Jürgen u. a. (Hrsg.), Des Menschen Recht zwischen Freiheit und Verantwortung, Festschrift für Karl Josef Partsch zum 75. Geburtstag, Berlin 1989, 357-375 (371 f.); Remmers, Thomas, Europäische Gemeinschaften und Kompetenzverluste der deutschen Länder, Frankfurt/Main u. a. 1992, 210 m. w. N; Meißner (Fn. 310), 236. 359 Vgl. den Beschluß der Regierungschefs der Länder vom 7.6.1990, abgedruckt in: Bauer, Joachim (Hrsg.), Europa der Regionen, Aktuelle Dokumente zur Rolle und Zukunft der deutschen Länder im europäischen Integrationsprozeß, Berlin 1991, Dok. 5,92 ff. (93); vgl. auch die entsprechende Entschließung des Bundesrates vom 24.8.1990, BR-Drs. 550/90, Ziff. 2. 360 Abgedruckt in: Bauer (Fn. 359), Dok. 10,110 f. 9*
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Kap. 1, E. Mitwirkung des Bundestages am europäischen Integrationsprozeß
- Ländervertreter in EG-Gremien einschließlich der Räte können Erklärungen auch ohne Zustimmung des Vertreters der Bundesregierung abgeben, soweit sich dies nicht ohnehin aus der Delegationsleitung ergibt, - vor Weisungen an den deutschen Vertreter im Ausschuß der Ständigen Vertreter in Angelegenheiten, die ausschließliche Gesetzgebungsmaterien der Länder betreffen oder überwiegend deren wesentliche Interessen berühren, holt die Bundesregierung die Zustimmung des Mitglieds einer Landesregierung ein, das die Länder im Rat vertritt. Es gelang ihnen, diese Forderungen bei den Verhandlungen über die Ausgestaltung des neuen Europaartikels in der Gemeinsamen Verfassungskommission von Bundestag und Bundesrat weitgehend durchzusetzen.361
E. Die Mitwirkung des Bundestages am europäischen Integrationsprozeß Die Übertragung von Hoheitsrechten auf die Europäischen Gemeinschaften führte, soweit es sich um Gesetzgebungskompetenzen des Bundes handelte, zu einem spürbaren Kompetenzverlust des Bundestages. Deshalb hätte es nahegelegen, daß sich das Parlament, ähnlich wie die Bundesländer über den Bundesrat, um kompensatorische Mitwirkungs- und Beteiligungsrechte bemüht hätte. Die diesbezüglichen Vorstöße des Bundestages waren allerdings bis zur Verfassungsänderung von 1992 nicht sehr erfolgreich. Dies mag damit zu erklären sein, daß die parlamentarische Einflußnahme auf die Willensbildung der Bundesregierung in auswärtigen Angelegenheiten im Grundgesetz nach herkömmlichem Verständnis eher schwach ausgeprägt war. Im folgenden soll zum besseren Verständnis der Problematik die Kompetenzverteilung zwischen Regierung und Parlament in der Außenpolitik kurz skizziert werden, bevor auf die parlamentarische Mitwirkung in europäischen Angelegenheiten eingegangen wird.
361
Siehe dazu unten Kap. 2, B. III. 2. a) bb).
I. Kompetenzverteilung zwischen Bundesregierung und Bundestag
133
I. Die Kompetenzverteilung zwischen Bundesregierung und Bundestag in auswärtigen Angelegenheiten Im Bereich der auswärtigen Angelegenheiten ist neben dem Verhältnis zwischen Bund und Ländern auch die Kompetenzverteilung zwischen Regierung und Parlament strittig. Wie oben bereits erwähnt,362 wurde die Ausübung der auswärtigen Gewalt herkömmlicherweise als Domäne der Regierung angesehen, der in diesem Bereich ein viel weiterer Ermessens- und Gestaltungsspielraum als in der Innenpolitik zugestanden wurde.363 Dieses traditionelle Verständnis der „auswärtigen Gewalt" wurde bereits in den fünfziger Jahren in Zweifel gezogen. Eberhard Menzel vertrat auf der Staatsrechtslehrertagung 1953 die Gegenposition, der zufolge es sich bei der auswärtigen Gewalt um eine „kombinierte Gewalt" handelt, die gemeinsam von Regierung und Parlament ausgeübt wird. 364 Ernst Friesenhahn sprach auf der Staatsrechtslehrertagung 1957 von einer gesamthänderischen Wahrnehmung der auswärtigen Gewalt.365 Während die Zuordnung der auswärtigen Gewalt seitdem im Schrifttum umstritten ist, folgte das Bundesverfassungsgericht bis in die achtziger Jahre der traditionellen Auffassung. In seinem Urteil zum NATO-Doppelbeschluß von 1984 begründete es die „grundsätzliche Zuordnung der Akte des auswärtigen Verkehrs zum Kompetenzbereich der Exekutive" damit, daß „allein die Regierung in hinreichendem Maße über die personellen, sachlichen und organisatorischen Möglichkeiten verfügt, auf wechselnde äußere Lagen zügig und sachgerecht zu reagieren und so die staatliche Aufgabe, die auswärtigen Angelegenheiten verantwortlich wahrzunehmen, bestmöglich zu erfüllen". 366 Die Prärogative der Regierung wurde zudem auf den in Art. 20 Abs. 2 S. 2 GG enthaltenen Grundsatz der Gewaltenteilung gestützt, dem zufolge der Vorrang der Regierung in auswärtigen Angelegenheiten nicht durch einen aus dem Demokratieprinzip abgeleiteten allumfassenden Parlamentsvorbehalt unterlaufen werden durfte. Dies hatte zur Folge, daß der Anwendungsbereich des Art. 59 Abs. 2 S. 1 GG, in dem eine Tendenz zur verstärkten Parlamentarisierung der auswärtigen Gewalt zum Ausdruck kommt, restriktiv ausgelegt
362
Siehe dazu oben Kap. 1, D. I. Vgl. statt aller Grewe, in: HStR III (1996), § 77, m. w. N. 364 Menzel, Auswärtige Gewalt (Fn. 9), 194 ff. 365 Friesenhahn, Ernst, Parlament und Regierung im modernen Staat, VVDStRL 16 (1958), 9-73 (37 f., 70); ähnlich Baade, Hans W., Das Verhältnis von Parlament und Regierung im Bereich der auswärtigen Gewalt der Bundesrepublik Deutschland, Hamburg 1962, 115 ff., der von einer „gemischten Gewalt" spricht. 366 BVerfGE 68,1 (87). 363
134
Kap. 1, E. Mitwirkung des Bundestages am europäischen Integrationsprozeß
wurde.367 In jüngerer Zeit ist allerdings sowohl in der Staatspraxis als auch in der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts die Tendenz zu einer stärkeren Einbeziehung des Bundestages in die auswärtigen Angelegenheiten festzustellen.368 In den Urteilen zum Vertrag von Maastricht369 sowie zum Einsatz der Streitkräfte in Somalia und zu den AWACS-Aufklärungsflügen über der Adria 370 werden dem Parlament erstmals verstärkte Mitwirkungsrechte an Entscheidungen der Regierung in Teilbereichen der auswärtigen Gewalt zuerkannt. Dieser Trend zur Parlamentarisierung der Außenpolitik kommt auch in den neuen Regelungen des Art. 23 Abs. 2 und 3 GG zum Ausdruck.371
Π. Mitwirkungsrechte des Bundestages in europäischen Angelegenheiten bis zur Verfassungsänderung von 1992 Bis zur Einfügung des neuen Art. 23 in das Grundgesetz basierte die Beteiligung des Bundestages auf Art. 2 des Vertragsgesetzes zu den Römischen Verträgen von 1957372. Das sog. Zuleitungsverfahren bezweckte eine umfassende und laufende Unterrichtung des Bundestages - ebenso wie des Bundesrates - über die Entwicklungen und anstehenden Entscheidungen im Ministerrat der Gemeinschaften. Die Zuleitung von Informationen über geplante Maßnahmen sollte vor der Beschlußfassung im Rat erfolgen, wenn die Beschlüsse den Erlaß innerdeutscher Gesetze erforderlich machten (Richtlinien) oder unmittelbar geltendes Recht schufen (Verordnungen). Die EG-Vorlagen wurden in den zuständigen Fachausschüssen beraten, deren Beschlußempfehlungen an das Plenum sich meistens darauf beschränkten, das Vorhaben zur Kenntnis zu nehmen. Obwohl Art. 2 des Vertragsgesetzes nur eine Unterrichtungspflicht der Regierung normierte, bestand zwischen den betroffenen Bundesorganen Einigkeit darüber, daß Bundestag und Bundesrat zu den Vorlagen Stellungnahmen abgeben konnten. Von dieser Möglichkeit konnte der Bundestag allerdings kaum Gebrauch machen, weil ihn die Vorlagen häufig erst sehr spät erreichten und sein internes Beratungsverfahren in
367
Ebenda, 84 ff. Wolfrum, Rüdiger, Kontrolle der auswärtigen Gewalt, VVDStRL 56 (1997), 38-66 (62); Kokott, Juliane, Kontrolle der auswärtigen Gewalt, DVB1. 1996, 937-950 (937). 369 BVerfGE 89, 155 (202 f.). 370 BVerfGE 90, 286 (381 ff.). 371 Siehe dazu unten Kap. 4, Β. I. 372 BGBl. 1957 II, 753. 368
II. Mitwirkung des Bundestages in EG-Angelegenheiten vor 1992
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den verschiedenen Fachausschüssen zu zeitaufwendig war. 373 Obwohl von Anfang an Zweifel an der Wirksamkeit des Zuleitungsverfahrens bestanden, verzichtete der Bundestag im Interesse der Handlungsfähigkeit der Regierung darauf, ein dem dänischen „Markt-Ausschuß" oder dem „Europa-Ausschuß" des britischen Parlaments vergleichbares Gremium einzusetzen, um den deutschen Vertretern im Rat Weisungen zu erteilen.374 Seit 1977 hat der Bundestag durch Änderungen seiner Geschäftsordnung das Zuleitungsverfahren zeitlich gestrafft und vereinfacht, um sich auf die wesentlichen EG-Vorlagen konzentrieren zu können. Im Rahmen des ZustimmungsVerfahrens zur Einheitlichen Europäischen Akte kam es - anders als in bezug auf die Beteiligung der Länder - nicht zu einer gesetzlichen Festschreibung der parlamentarischen Mitwirkungsrechte. Der Bundestag zog einen entsprechenden Vorschlag zurück und gab sich mit der Erklärung der Bundesregierung zufrieden, ihm bei EG-Verordnungen, die in die Gesetzgebungszuständigkeit des Bundes fielen, rechtzeitig Gelegenheit zur Stellungnahme zu geben. Um die Beziehungen mit dem Europäischen Parlament zu vertiefen und sich zusätzliche Informationen zu verschaffen, richtete der Bundestag 1983 eine „Europa-Kommission" ein.375 Diese setzte sich aus elf Bundestagsabgeordneten und elf Abgeordneten des EP zusammen. Sie beschäftigte sich mit der Erarbeitung von Empfehlungen zu EG-Vorlagen und grundlegenden europapolitischen Entscheidungen, erörterte institutionelle Probleme der Gemeinschaft und bemühte sich um eine verstärkte Zusammenarbeit zwischen Bundestag und Europäischem Parlament. Als Kommission konnte die „Europa-Kommission" allerdings dem Bundestagsplenum ihre Empfehlungen nicht unmittelbar zur Beschlußfassung vorlegen. Sie war vielmehr darauf angewiesen, daß ihre Entschließungen von den Fachausschüssen aufgegriffen und an das Plenum weitergeleitet wurden. Dieser Nachteil führte dazu, daß die Kommission in der 1987 beginnenden Legislaturperiode nicht mehr eingesetzt, sondern von dem „Unterausschuß für Fragen der Europäischen Gemeinschaft" beim Auswärtigen Ausschuß abgelöst wurde. 1991 373
Vgl. zu den Einzelheiten des Zuleitungsverfahrens Lang, Ruth, Die Mitwirkungsrechte des Bundesrates und des Bundestages in Angelegenheiten der Europäischen Union gemäß Artikel 23 Abs. 2 bis 7 GG, Berlin 1997, 69 ff. m. w. N. 374 So Hellwig, Renate, Anspruch und Wirklichkeit parlamentarischer Mitwirkung des Bundestages, in: Hrbek/Thaysen (Fn. 319), 111-117 (112). 375 Vorläufer war die 1979 als erstes Gremium des Bundestages für europapolitische Fragen eingesetzte „Kommission zur Behandlung von Fragen der Zusammenarbeit zwischen dem Europäischen Parlament und dem Deutschen Bundestag", die dem Bundestag ihrerseits die Einsetzung der,»Europa-Kommission" vorschlug. Vgl. zu den Einzelheiten Lang, Mitwirkungsrechte (Fn. 373), 75 ff.
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Kap. 1, F. Zusammenfassung
konstituierte sich schließlich - vom Unterausschuß zu einem ständigen Fachausschuß aufgerückt - der EG-Ausschuß, dessen wichtigste Aufgabe darin bestand, sich mit den bevorstehenden Änderungen der Gemeinschaftsverträge auf den Regierungskonferenzen zur Politischen Union und zur Wirtschafts- und Währungsunion zu befassen. Zudem wurde er neben den zuständigen Fachausschüssen als mitberatender Ausschuß an der Beratung von EG-Vorlagen beteiligt. Da die Berichterstattung und das Abfassen von Beschlußempfehlungen aber immer dem federführenden Fachausschuß oblag, war die Möglichkeit des EG-Ausschusses, auf den Beschluß des Plenums entscheidenden Einfluß zu nehmen, gering. Insgesamt ist festzustellen, daß die Mitwirkung des Bundestages an der Europapolitik auf der Grundlage des seit 1957 nur wenig veränderten ZuleitungsVerfahrens unbefriedigend war. Trotz der Einsetzung spezieller Kommissionen und Ausschüsse gelang es nicht, die parlamentarische Beteiligung an der Schaffung europäischen Primär- und Sekundärrechts effektiv zu gestalten. Diese Bestandsaufnahme steht in einem auffälligen Mißverhältnis zu den politischen Forderungen, dem auf der europäischen Ebene vielfach konstatierten „Demokratiedefizit" auch durch eine stärkere Einbindung der nationalen Parlamente in den Rechtsetzungsprozeß der EG/EU entgegenzuwirken.376 Zudem ist bemerkenswert, daß der Bundestag abseits stand, während es die Länder verstanden, ihre Mitwirkung immer weiter auszubauen und gesetzlich abzusichern.377 Diese unbefriedigende Ausgangslage verlangte geradezu nach einer Verbesserung im Rahmen des neuen Art. 23 GG.
F. Zusammenfassung Art. 24 GG ist für die Einbindung der Bundesrepublik Deutschland in das System internationaler Friedenswahrung und Zusammenarbeit von großer Bedeutung gewesen. In Verbindung mit Art. 1 Abs. 2, 9 Abs. 2, 25 und 26 GG dokumentiert er die Abkehr der Bundesrepublik Deutschland von dem Ideal des geschlossenen, weitgehend autarken Nationalstaates und die Wandlung hin zu einem offenen Verfassungsstaat. Erstmals ist in einer deutschen Verfassung eine Ermächtigung für die staatlichen Organe geschaffen worden, im Zusammenwirken mit anderen Staaten internationale Organisationen mit Kompetenzen auszustatten, die bis dahin den Staaten vorbehalten waren. Mit Art. 24 Abs. 1 GG wurde die 376
Siehe dazu ausführlich unten Kap. 6, Β. II. 2. b) aa) (2). Vgl. auch Lang, Mitwirkungsrechte (Fn. 373), 88, nach deren Ansicht die Mitwirkungsrechte des Bundestages im Vergleich zu denen des Bundesrates und der Länder „geradezu kümmerlich" waren. 377
F. Zusammenfassung
137
Möglichkeit eröffnet, außer- bzw. überstaatlichem Recht im innerstaatlichen Rechtsraum unmittelbare Geltung zu verschaffen und dementsprechend auf die Ausübung eigener Hoheitsrechte zu verzichten. In Zusammenschau mit der Präambel hat insbesondere Art. 24 Abs. 1 GG die verfassungsrechtliche Grundlage für die Mitwirkung des deutschen Staates an der Errichtung der Europäischen Gemeinschaften gebildet. Der stete Fortgang des europäischen Integrationsprozesses hat im nachhinein die Abgeordneten des Parlamentarischen Rates bestätigt, deren Ziel es war, durch einen Verzicht auf verfassungsändernde Mehrheiten die Einbindung Deutschlands in eine internationale und europäische Friedensordnung zu erleichtern. Mit der Verlagerung immer weiterer Kompetenzen auf die Europäische Wirtschaftsgemeinschaft und dem Ausbau der europäischen Rechtsordnung infolge der integrationsfreundlichen Rechtsprechung des EuGH stellte sich allerdings die Frage, ob Art. 24 Abs. 1 GG als Ermächtigungsgrundlage noch ausreiche. Zum einen wurden mit Blick auf die Verhandlungen zum Maastrichter Vertrag Zweifel laut, ob die Europäische Union noch als „zwischenstaatliche Einrichtung" im Sinne von Art. 24 Abs. 1 GG angesehen werden könne. Zum anderenrichtetensich die Bedenken gegen die starke Position des Bundes, der ohne Zustimmung der Länder auch deren Hoheitsrechte übertragen konnte. Den Ländern war es zwar im Laufe der Zeit gelungen, auf die Willensbildung der Bundesregierung Einfluß zu nehmen und Ländervertreter in die Gemeinschaftsgremien zu entsenden. Dennoch sahen sie durch weitere Kompetenzverlagerungen auf die europäische Ebene ihre Eigenstaatlichkeit in Gefahr und verlangten dementsprechend eine Stärkung und verfassungsrechtliche Verankerung ihrer Mitwirkungs- und Beteiligungsrechte. Hinzu kam, daß auch die integrationsbedingten Kompetenzverluste des Parlaments immer spürbarer wurden. Da seine Möglichkeiten, auf die Entscheidungsfindung der Bundesregierung in der Europapolitik Einfluß zu nehmen, nur schwach ausgestaltet waren, erwies sich auch in dieser Hinsicht eine Neuregelung als notwendig. Im folgenden sollen die Bemühungen um eine Änderung des Art. 24 Abs. 1 GG nachgezeichnet werden, die schließlich zu der Einfügung des neuen Art. 23 GG in das Grundgesetz geführt haben.
Kapitel 2
Schaffung einer neuen verfassungsrechtlichen Grundlage für die Gründung der Europäischen Union - Artikel 23 GG A. Der Anlaß für die Einfügung eines „Europaartikels" Für die Einfügung des neuen Artikels 23 in das Grundgesetz lassen sich im wesentlichen zwei Gründe anführen: Die im Maastrichter „Vertrag über die Europäische Union" vom 7. Februar 19921 enthaltenen Kompetenzerweiterungen für die Europäische Gemeinschaft, insbesondere die beabsichtigte Schaffung einer Wirtschafts- und Währungsunion, sowie die Einführung einer „Gemeinsamen Außen- und Sicherheitspolitik" und einer „Zusammenarbeit in der Innen- und Rechtspolitik" werden im Vertrag selbst als eine „neue Stufe bei der Verwirklichung einer immer engeren Union der Völker Europas" (Art. A Abs. 2 EUV [Art. 1 Abs. 2 EUV n. F.]) bezeichnet. Diese neue Integrationsstufe wurde im Vergleich zu den früheren Änderungen und Erweiterungen der Gemeinschaftsverträge als „Qualitätssprung"2 charakterisiert. Infolgedessen erhob sich die Frage, ob der Maastrichter Vertrag noch auf der Grundlage des Art. 24 Abs. 1 GG ratifiziert werden könne. Hinzu kam die Entschlossenheit der Länder, ihre Zustimmung zum Maastrichter Vertrag von einer Erweiterung und grundgesetzlichen Verankerung ihrer Mitwirkungsrechte in Angelegenheiten der Europäischen Union abhängig zu machen. Um den verfassungsrechtlichen Zweifeln zu begegnen, die Ratifizierung des Vertrages auf eine sichere Grundlage zu stellen und der Forderung der Länder nach größerer Beteiligung an den Entscheidungen der Europäischen Union entgegenzukommen, legte die Bundesregierung im Anschluß an eine entsprechende Empfehlung der Gemeinsamen Verfassungskommission von Bundestag und Bundesrat (GVK)3 einen Gesetzentwurf zur Änderung des Grundge1
BGBl. 1992 II, 1251 ff.; ABl. EG 1992, C 224 v. 31.8.1992. Beschlußempfehlung und Bericht des Sonderausschusses „Europäische Union (Vertrag von Maastricht)", BT-Drs. 12/3896 v. 1.12.1992,16. 3 Beschluß der GVK zum Thema „Grundgesetz und Europa" v. 26.6.1992; siehe dazu unten Kap. 2, B. III. 2. 2
I. Änderungsvorschlag der Enquête-Kommission Verfassungsreform
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setzes4 vor, der neben weiteren Änderungen insbesondere die Einfügung eines neuen Art. 23, des sog. „Europaartikels", vorsah.
B. Vorgeschichte und Entstehung des neuen Artikels 23 GG I. Der Änderungsvorschlag der Enquête-Kommission Verfassungsreform des Deutschen Bundestages Die Enquête-Kommission Verfassungsreform des Deutschen Bundestages schlug in ihrem Abschlußbericht erstmals seit Inkrafttreten des Grundgesetzes eine Änderung des Art. 24 Abs. 1 GG vor. Dieser Vorschlag erfolgte im Zusammenhang mit weiteren Änderungen, die die Kompetenzabgrenzung zwischen Bund und Ländern im Bereich der auswärtigen Angelegenheiten betrafen. Sie verfolgten insgesamt das Ziel, den Ländern ein höheres Maß an Mitwirkung und Beteiligung in der Außenpolitik zu verschaffen.
1. Zusammensetzung und Aufgabe der Enquête-Kommission Der Bundestag setzte mit Beschluß vom 22. Februar 19735 eine Enquête-Kommission Verfassungsreform ein.6 Sie hatte den Auftrag zu prüfen, ob und wieweit es erforderlich sei, das Grundgesetz - unter Wahrung seiner Grundprinzipien den gegenwärtigen und voraussehbaren zukünftigen Erfordernissen anzupassen. Es ging also nicht um eine weitreichende Revision des Grundgesetzes, sondern um eine Bestandsaufnahme und Überprüfung der bestehenden Verfassung. Ihr gehörten 21 Mitglieder an, und zwar sieben Abgeordnete des Bundestages, sieben von den Ländern benannte Persönlichkeiten und sieben Sachverständige. Sie bildete zwei Unterkommissionen. Die Unterkommission I „Bund und Länder" befaßte sich schwerpunktmäßig mit der Verteilung der Gesetzgebungskompetenzen zwischen Bund und Ländern, den verfassungsrechtlichen Aspekten der internationalen und auswärtigen Angelegenheiten und der Einordnung der kommunalen 4
BR-Drs. 501/92 v. 14.8.1992; BT-Drs. 12/3338 v. 14.8.1992. BT-Drs. 7/214(neu). 6 Sie sollte die Arbeit der bereits mit Beschluß vom 8. Oktober 1970 (BT-Drs. 6/1211) eingesetzten Kommission nach der Bundestagswahl in der 7. Legislaturperiode fortführen. Der von der vorangegangenen Kommission vor ihrer Auflösung verfaßte Zwischenbericht ist abgedruckt in: BT-Drs. 6/3829. 3
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Kap. 2, Β. Vorgeschichte und Entstehung des neuen Artikels 23 GG
Ebene. Die Unterkommission II „Parlament und Regierung" untersuchte die Probleme der delegierten Rechtsetzung sowie Fragen der Dauer und Beendigung der Wahlperiode, der parlamentarischen Kontrollrechte und der Stärkung der politischen Mitwirkungsrechte der Bürger. Parallel zur Enquête-Kommission des Bundestages errichteten die Länder eine Länderkommission Verfassungsreform, die deren Arbeit fördern und unterstützen sollte und sich aus je elf Mitgliedern der Länderparlamente und der Länderregierungen zusammensetzte. Um eine enge Zusammenarbeit zu gewährleisten, gehörten sechs Mitglieder der Länderkommission zugleich der Enquête-Kommission des Bundestages an. An deren Sitzungen nahmen außerdem Mitarbeiter verschiedener Bundesministerien, des Bundesrats, aus einzelnen Staatskanzleien sowie von Landesvertretungen entsandte Beobachter teil. Auf dieser breiten Grundlage, die eine Einbeziehung sowohl politischer als auch verfassungsrechtlicher und verwaltungstechnischer Gesichtspunkte ermöglichte, legte die Enquête-Kommission nach über dreijähriger Tätigkeit im Dezember 1976 einen Abschlußbericht vor, der zahlreiche Änderungsvorschläge zu den einzelnen Themenbereichen enthielt.7 In der Folgezeit wurden allerdings nur wenige dieser Empfehlungen in das Grundgesetz übernommen.
2. Änderungsvorschläge zu Artikel 24 Abs. 1 und Artikel 32 Abs. 1 und 3 GG a) Empfehlung zu Artikel 24 Abs. 1 GG Im Rahmen des Themenkomplexes „Internationale Beziehungen" befaßte sich die Enquête-Kommission mit den Artikeln 24,25,32 und 59 GG. Während sie im Ergebnis trotz gewisser Auslegungsschwierigkeiten8 eine Änderung der Art. 25 7
Beratungen und Empfehlungen zur Verfassungsreform - Schlußbericht der EnquêteKommission Verfassungsreform des Deutschen Bundestages, abgedruckt in: Zur Sache 3/76 (Teil I: Parlament und Regierung) und Zur Sache 2/77 (Teil II: Bund und Länder), hrsg. vom Presse- und Informationszentrum des Deutschen Bundestages; BT-Drs. 7/5924 v. 9.12.1976; vgl. zu den Ergebnissen auch: Aus Politik und Zeitgeschichte 1977, Heft 28. 8 In Art. 25 GG ging es um die Frage, welchen „Gesetzen" die in das Bundesrecht inkorporierten allgemeinen Regeln des Völkerrechts vorgehen. Die Kommission stellte fest, daß letztere nach der in Theorie und Praxis ganz überwiegend vertretenen Ansicht über dem einfachen innerstaatlichen Gesetzesrecht, aber unter dem gesamten Verfassungsrecht stünden. Da es auf der Grundlage dieser Auffassung noch nicht zu Kollisionen zwischen Völker- und Verfassungsrecht gekommen war, hielt sie eine Änderung nicht für erforderlich.
I. Änderungsvorschlag der Enquête-Kommission Verfassungsreform
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und 59 GG nicht für erforderlich hielt, empfahl sie eine Korrektur des Art. 24 GG unter föderativen Gesichtspunkten und eine Ergänzung des Art. 32 GG, um die Grundzüge des Lindauer Abkommens vom 14. November 19579 in den Verfassungstext aufzunehmen. Die Beratungen zu Art. 24 Abs. 1 GG konzentrierten sich auf die drei Fragen, (1) ob die Formulierung der Vorschrift den mit ihr verfolgten Zweck mit hinreichender Klarheit zum Ausdruck bringe, (2) welcher Rang den von zwischenstaatlichen Einrichtungen, insbesondere von den Europäischen Gemeinschaften erlassenen Rechtsnormen im Verhältnis zum innerstaatlichen Recht zukomme und (3) ob der Beitritt des Bundes zu einer zwischenstaatlichen Einrichtung mit Rechtsetzungsbefugnissen - in Abweichung von der geltenden Rechtslage - nur aufgrund eines verfassungsändernden Gesetzes oder nur mit Zustimmung des Bundesrates oder der Länder erfolgen dürfe. 10 Bezüglich der Formulierungsfrage kam die Kommission zu dem Ergebnis, daß die Vorschrift trotz ihres mißverständlichen Wortlauts11 keiner Neuformulierung bedürfe, weil Probleme bei ihrer praktischen Handhabung nicht festzustellen gewesen seien.12 Bei der Diskussion der Rangfrage war sie der Auffassung, daß aus Sinn und Zweck des Art. 24 Abs. 1 GG der generelle Vorrang des Gemeinschaftsrechts folge, dieses also sowohl dem gesamten einfachen innerstaatlichen Gesetzesrecht als auch dem Verfassungsrecht vorgehe. Allerdings bestand Einigkeit darüber, daß eine zwischenstaatliche Einrichtung nicht dazu ermächtigt werden könne, die in Art. 79 Abs. 3 GG enthaltenen wesentlichen Prinzipien anzutasten. Nur in diesem Umfang stimmte die Kommission der von dem Bundesverfassungsgericht im „Solange I"-Beschluß13 vertretenen Auffassung von dem Vorrang der verfassungsrechtlichen Grundrechtsgewährleistung zu. Eine Verankerung des
In Art. 59 GG befaßte sich die Kommission mit drei Problemkreisen, nämlich (1) mit der Kategorisierung völkerrechtlicher Vereinbarungen, (2) mit der Frage, ob völkerrechtlichen Verträgen Verfassungsrang oder Übergesetzesrang eingeräumt werden sollte, und (3) mit dem Ausmaß der Mitwirkung des Bundesrates an dem Zustimmungsgesetz zu völkerrechtlichen Verträgen. Sie kam zu dem Ergebnis, daß sich die in der Staatspraxis entwickelten Lösungen bewährt hätten und die Vorschrift deshalb keiner Änderung bedürfe. 9 Text in: BT-Drs. 7/5924, 236 (Anhang); ZaöRV 20 (1959/60), 116; Fastenrath, Ulrich, Kompetenzverteilung im Bereich der auswärtigen Gewalt, München 1986, Anhang 11.1,277 f. 10 Vgl. zu den Beratungen im einzelnen Prot. Nr. 11 der Kommissionssitzung v. 6.12.1974,4-24, und Prot. Nr. 31 der Kommissionssitzung v. 9.4.1976,4-21. 11 Siehe dazu oben Kap. 1, Β. II. 1. 12 Vgl. Zur Sache 2/77 (Fn. 7), 233. 13 BVerfGE 37, 271 ff.
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Kap. 2, Β. Vorgeschichte und Entstehung des neuen Artikels 23 GG
Vorrangs des Gemeinschaftsrechtes im Grundgesetz hielt sie dennoch nicht für erforderlich. Vielmehr ging sie davon aus, daß das Vorrangproblem weitgehend theoretischer Natur sei und die weitere Entwicklung der Rechtsprechung überlassen werden könne.14 Die Frage, welches Gericht-Bundesverfassungsgericht oder EuGH - im Falle einer Kollision von Gemeinschaftsrecht und innerstaatlichem Recht zu entscheiden habe, ließ sie wegen unterschiedlicher Auffassungen ihrer Mitglieder und unter Hinweis darauf, daß das Problem bislang nicht zu praktischen Differenzen geführt habe, offen. 15 Die Zustimmungsfrage wurde in der Kommission besonders kontrovers diskutiert. Sie ging in Übereinstimmung mit der in Schrifttum und Lehre nahezu einhellig vertretenen Auffassung davon aus, daß der Bund gemäß Art. 24 Abs. 1 GG durch einfaches, nicht zustimmungsbedürftiges Gesetz auch Hoheitsrechte der Länder übertragen könne. Zum Schutz der föderativen Struktur wurde der Vorschlag unterbreitet, diese umfassende Dispositionsbefugnis des Bundes zu beschränken. Hierzu gab es drei in ihren Auswirkungen abgestufte Möglichkeiten: Die weitestgehende Alternative bestand darin, für jede Übertragung von Hoheitsrechten die verfassungsändernde Mehrheit gemäß Art. 79 Abs. 2 GG, also die Zustimmung von zwei Dritteln der Mitglieder des Bundestages und zwei Dritteln der Stimmen des Bundesrates, zu verlangen. Die nächste, in den geltenden Rechtszustand weniger stark eingreifende Alternative sah vor, die Gesetze gemäß Art. 24 Abs. 1 GG in jedem Fall, d. h. auch im Falle der Übertragung von Hoheitsrechten des Bundes, von der Zustimmung des Bundesrates abhängig zu machen. Die dritte, die Dispositionsbefugnis des Bundes am wenigsten beeinträchtigende Alternative forderte die Zustimmung des Bundesrates zumindest dann, wenn Hoheitsrechte der Länder übertragen werden sollten. Um den europäischen Integrationsprozeß nicht übermäßig zu erschweren, entschied sich die Mehrheit der Kommission für die letztgenannte Möglichkeit. Für diese Entscheidung sprach vor allem die Überlegung, daß sie mit dem übergreifenden Anliegen der Kommissionsarbeit, nämlich dem Bemühen, den fortschreitenden Substanzverlust der Länder hinsichtlich ihrer Gesetzgebungskompetenzen aufzuhalten, in Einklang stand. Die Kommissionsmitglieder waren sich darüber einig, daß der Kompetenzverlust durch die Übertragung von Länderkompetenzen eigentlich bei den Landtagen eintrat und daher im Grunde genommen die Zustimmung einer qualifizierten Mehrheit der Länderparlamente zu fordern sei. Sie 14 Siehe zu den unterschiedlichen Auffassungen des EuGH und des Bundesverfassungsgerichts zur Rangfrage oben Kap. 1, Β. II. 4. a), b). 15 Vgl. Zur Sache 2/77 (Fn. 7), 234 f.; siehe zu dieser Problematik ausführlich unten Kap. 5, Α. I. 1. und 3.
I. Änderungsvorschlag der Enquête-Kommission Verfassungsreform
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hielten es aber für unzulässig, im Grundgesetz die Länderparlamente mit Kompetenzen auszustatten und damit in die Organisationshoheit der Länder einzugreifen. Deshalb wurde beschlossen, für die Übertragungsgesetze gemäß Art. 24 Abs. 1 GG zumindest die Zustimmung des Bundesrates als Interessenvertreter der Länder zu verlangen.16 Die Kommission schlug daher folgende geänderte Fassung des Art. 24 Abs. 1 GG vor:
„Der Bund kann durch Gesetz Hoheitsakte auf zwischenstaatliche Einrichtungen übertragen, solche der Länder jedoch nur durch Gesetz mit Zustimmung des Bundesr (Hervorhebung durch die Verfin). 17
Gegen diese Empfehlung erhob eine Minderheit in der Kommission in einem Sondervotum folgende Bedenken, die in der Diskussion um die Einfügung des Europaartikels erneut eine Rolle spielten: Es wurde darauf hingewiesen, daß durch die vorgeschlagene Änderung „ein Stück der Großzügigkeit und Offenheit, die Grundlage der Regelung des Artikels 24 Abs. 1 GG [sei], herausgebrochen und damit die eigentliche Kraft der Aussage dieser Bestimmung entscheidend geschmälert [werde]"18. Artikel 24 Abs. 1 GG sei „ein absolut ungeeignetes Objekt, um anderweitige erfolglose Absicherungsversuche der Länderzuständigkeiten zu kompensieren", weil hier „die Glaubwürdigkeit der Bundesrepublik als Partner der europäischen Integration in Frage [stehe]".19 Diese Bedenken erschienen der Kommissionsmehrheit nicht durchgreifend, da die Länder nicht weniger integrationsfreundlich seien als der Bund und der Übertragungsvorgang durch die vorgeschlagene Neufassung der Vorschrift nicht wesentlich erschwert werde.
b) Empfehlung zu Artikel 32 Abs. 1 und 3 GG Mit Blick auf Art. 32 GG befaßte sich die Kommission mit der Ersetzung des Begriffs der „auswärtigen Staaten" durch eine weitere Formulierung, dem Problem der konkurrierenden Kompetenz der Länder zum Abschluß völkerrechtlicher 16
Zur Sache 2/77 (Fn. 7), 235-237; siehe zu der Problematik der Bundesratslösung unten Kap. 4, Α. II. 2. und III. 3. 17 Zur Sache 2/77 (Fn. 7), 232; die Neufassung wurde mit 7 zu 5 Stimmen angenommen, vgl. Prot. Nr. 12 der Kommissionssitzung v. 13.12.1974. 18 Vgl. das Sondervotum von Wilhelm A. Kewenig, dem sich 5 weitere Mitglieder der Kommission angeschlossen haben, in: Zur Sache 2/77 (Fn. 7), 250 f. 19 Ebenda, 250.
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Kap. 2, Β. Vorgeschichte und Entstehung des neuen Artikels 23 GG
Verträge im Bereich ihrer ausschließlichen Gesetzgebungszuständigkeiten sowie der Frage, ob der Bundes- oder der Landesgesetzgeber zur Transformation derjenigen völkerrechtlichen Verträge berechtigt - und verpflichtet - sei, die im Bereich der ausschließlichen Länderkompetenzen vom Bund geschlossen worden sind.20 Um der Realität der internationalen Beziehungen, insbesondere den zahlreichen Vertragsbeziehungen zu internationalen Organisationen, eher gerecht zu werden, beschloß die Kommission, die Formulierungen „Pflege der Beziehungen zu auswärtigen Staaten" in Art. 32 Abs. 1 GG durch „Pflege der auswärtigen Beziehungen" sowie „mit auswärtigen Staaten Verträge abschließen" in Art. 32 Abs. 3 GG durch „völkerrechtliche Verträge abschließen" zu ersetzen. Die Frage, ob man den Art. 32 Abs. 3 GG in bezug auf die Vertragsabschlußund Transformationskompetenz ändern sollte, war in der Kommission umstritten. In der Staatspraxis gab es, wie bereits erörtert, 21 zwischen Bund und Ländern Meinungsverschiedenheiten darüber, wer von ihnen im Bereich der ausschließlichen Gesetzgebungskompetenz der Länder völkerrechtliche Verträge abschließen dürfe und wer dafür zuständig sei, deren Bestimmungen im Wege der Transformation oder der Erteilung eines Vollzugsbefehls im innerstaatlichen Rechtsraum Geltung zu verschaffen. Dieser Streit war durch den im Lindauer Abkommen vom 14. November 195722 festgehaltenen Kompromiß weitgehend entschärft worden. Im Ergebnis hatten die Länder dem Bund zwar eine umfassende Vertragsabschlußkompetenz zugestanden, beanspruchten die Transformationskompetenz aber für sich. Die Enquête-Kommission ging bei ihren Überlegungen zunächst von dem Wortlaut des Art. 32 Abs. 1 und 3 GG aus. Sie war der Ansicht, daß dieser im Bereich der ausschließlichen Länderzuständigkeiten sowohl die Annahme einer alleinigen Abschlußkompetenz der Länder als auch einer konkurrierenden Abschlußkompetenz der Länder und des Bundes zulasse. Ferner sei der Vorschrift nicht zu entnehmen, wem - wenn man von einer konkurrierenden Zuständigkeit ausgehe - die Transformationskompetenz zukomme. Die Mehrheit der Kommissionsmitglieder entschied sich dafür, den im Lindauer Abkommen zwischen Bund und Ländern erreichten Kompromiß in der Verfassung zu verankern. Sie befürwortete demgemäß eine konkurrierende Zuständigkeit von Bund und Ländern zum Abschluß völkerrechtlicher Verträge. Die andere Alternative, also eine ausschließ20
Vgl. zu den Beratungen im einzelnen Prot. Nr. 10 der Kommissionssitzung v. 15.11.1974,4-41, sowie Prot. Nr. 31 der Kommissionssitzung v. 9.4.1976. 21 Siehe dazu oben Kap. 1, D. II. 22 Siehe zum Inhalt des Lindauer Abkommens bereits oben Kap. 1, D. II.
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liehe Abschlußkompetenz der Länder, lehnte die Kommission schon deshalb ab, weil sie den Bund in wichtigen Bereichen der internationalen Zusammenarbeit handlungsunfähig machte und daher mit dem Prinzip der Völkerrechtsfreundlichkeit des Grundgesetzes nicht vereinbar wäre.23 Im Hinblick auf die Transformationskompetenz entschloß sich die Mehrheit der Kommissionsmitglieder nach ausführlicher Diskussion, den Ländern die Umsetzung der Verträge, die ihren ausschließlichen Zuständigkeitsbereich betrafen, auch für den Fall vorzubehalten, daß der Bund sie abgeschlossen hatte. Sie hielten diese Lösung trotz des damit verbundenen Auseinanderfallens von Abschluß- und Transformationskompetenz für richtig, weil es ihnen unzulässig erschien, dem Bund über die ihm aus außenpolitischen Gründen zugestandene umfassende Abschlußkompetenz hinaus auch noch die Möglichkeit zu geben, im Zuständigkeitsbereich der Länder geschlossene Verträge in Bundesrecht umzugießen und so zum Nachteil der Länder nachhaltig in die innerstaatliche Kompetenzordnung einzugreifen. Um sicherzustellen, daß vom Bund geschlossene Verträge von den Ländern umgesetzt würden, und damit ein Auseinanderfallen von völkerrechtlicher Verpflichtung und innerstaatlichem Recht zu verhindern, sollte in Art. 32 Abs. 3 GG eine entsprechende Verpflichtung der Länder festgeschrieben werden. Zum Ausgleich für diese weitgehende Einschränkung ihrer Entscheidungsfreiheit sollte der Abschluß des jeweiligen Vertrages - dem Lindauer Abkommen entsprechend - von der vorherigen Zustimmung aller betroffenen Länder abhängig gemacht werden.24 Die Kommission schlug folgende Neuformulierung des Art. 32 GG vor: „(1) Die Pflege der auswärtigen Beziehungen ist Sache des Bundes.
(2) Vor dem Abschlüsse eines Vertrages, der die besonderen Verhältnisse eines Landes berührt, ist das Land rechtzeitig zu hören (unverändert geblieben, die Verfin). (3) Soweit die Länder für die Gesetzgebung zuständig sind, können auch sie mit Zustimmung der Bundesregierung völkerrechtliche Verträge abschließen. Schließt der Bund solche Verträge ab, so hat er vor dem Abschluß die Zustimmung der Län zuholen; dies gilt nicht, wenn nur ein für den Vertragszweck unwesentlicher Vertrages in die Zuständigkeit der Länder fällt. Die Länder treffen die zur D rung dieser Verträge erforderlichen Maßnahmen " (Hervorhebung durch die Verfin
Gegen diesen Kommissionsvorschlag ist in einem Sondervotum eingewandt worden, daß er mit dem Zustimmungserfordernis der Länder „ein staatenbündi23
Zur Sache 2/77 (Fn. 7), 239 f. Ebenda, 240-243. 25 Ebenda, 232 f.; vgl. zu den Mehrheitsverhältnissen bzgl. der einzelnen Absätze Prot. Nr. 11 der Kommissionssitzung v. 6.12.1974, 25. 24
10 König
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Kap. 2, Β. Vorgeschichte und Entstehung des neuen Artikels 23 GG
sches Element" in die Verfassung hineinbringe, das der bundesstaatlichen Verfassungsstruktur widerspreche. Zudem werde die Position der Länderregierungen gegenüber den Länderparlamenten gestärkt. Letztere seien bei der Transformation nur noch Vollzugsorgane ohne Entscheidungsspielraum. Deshalb wurde dafür plädiert, es bei der geltenden Fassung des Art. 32 GG und der sich nach dem Lindauer Abkommen herausgebildeten Praxis eines kooperativen Zusammenwirkens zwischen Bund und Ländern zu belassen.26 Im Ergebnis haben die Länder die von der Kommissionsmehrheit vorgeschlagenen Änderungen der Artikel 24 Abs. 1 und 32 Abs. 1 und 3 GG, die zu einer Stärkung bzw. - im Falle des Art. 32 Abs. 3 GG - einer verfassungsrechtlichen Verankerung ihrer Rechte im Bereich der auswärtigen Beziehungen beigetragen hätten, im politischen Raum nicht durchsetzen können. Keine der beiden Empfehlungen hat in das Grundgesetz Eingang gefunden. Im Bereich des Art. 32 GG war dies für die Länder hinnehmbar, weil sich die Staatspraxis ohnehin an dem Lindauer Abkommen orientierte. Demgegenüber sahen sie in den Auswirkungen auf ihren Zuständigkeitsbereich, die mit der Verlagerung weiterer Kompetenzen auf die Europäischen Gemeinschaften immer spürbarer wurden, eine Gefahr für ihre Eigenstaatlichkeit. Um eine schleichende Aushöhlung ihrer Kompetenzen zu verhindern, verfolgten sie insbesondere eine Änderung des Art. 24 Abs. 1 GG zu ihren Gunsten weiter.
II. Die Empfehlungen der Kommission Verfassungsreform des Bundesrates Erst nach der Wiedervereinigung Deutschlands im Jahre 1990 ergab sich eine günstige Gelegenheit für die Länder, erneut auf eine verstärkte Beteiligung an der Außen- und Europapolitik hinzuwirken. Denn Art. 5 des Einigungsvertrages27 enthielt eine Empfehlung an die gesetzgebenden Körperschaften des vereinten Deutschlands, sich innerhalb von zwei Jahren mit den im Zusammenhang mit der deutschen Einigung aufgeworfenen Fragen zur Änderung oder Ergänzung des Grundgesetzes zu befassen. Als Schwerpunktthemen wurden das Bund-LänderVerhältnis, die Möglichkeit einer vereinfachten Neugliederung für den Raum Berlin/Brandenburg, Überlegungen zur Aufnahme neuer Staatszielbestimmungen und die Frage der Anwendung des Art. 146 GG sowie der Durchführung einer 26
Vgl. das Sondervotum von Ernst-W. Böckenförde, dem sich 3 weitere Kommissionsmitglieder angeschlossen haben, in: Zur Sache Uli (Fn. 7), 252 f. 27 BGBl. 1990 II, 885,891.
II. Empfehlungen der Kommission Verfassungsreform des Bundesrates
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Volksabstimmung genannt. Diese Empfehlung führte zu der Einsetzung zweier Kommissionen, nämlich der Kommission Verfassungsreform des Bundesrates und der Gemeinsamen Verfassungskommission von Bundestag und Bundesrat (GVK), die ihre Tätigkeit im ersten Halbjahr 1991 aufnahmen. Die Einfügung des neuen Artikels 23 in das Grundgesetz basiert größtenteils auf deren Vorarbeiten.
1. Zusammensetzung und Auftrag der Kommission Verfassungsreform Die Kommission Verfassungsreform wurde nach Vorerörterungen der Ministerpräsidentenkonferenz mit Beschluß des Bundesrates vom 1. März 199128 eingesetzt. Sie bestand aus 32 Mitgliedern, nämlich den Ministerpräsidenten der 16 Länder und je einem weiteren Regierungsmitglied. Jedes Bundesland hatte eine Stimme. Um die Diskussion auf konsensfähige Vorschläge zu konzentrieren und ihre Empfehlungen auf eine möglichst breite Basis stützen zu können, bedurften die Beschlüsse zum Inhalt des Berichtes an den Bundesrat einer Zweidrittelmehrheit; Minderheitsmeinungen konnten auf Verlangen von mindestens fünf Ländern in den Bericht aufgenommen werden. Schon diese Zusammensetzung, bei der auf Abgeordnete der Länderparlamente und auf Sachverständige verzichtet wurde, ließ darauf schließen, daß die Kommission weitreichende Änderungsvorschläge unterbreiten sollte, um das Gewicht der Länder im Verhältnis zum Bund maßgeblich zu verstärken. Die Kommission hatte demzufolge den Auftrag, sich mit dem Problem einer Verfassungsänderung oder -ergänzung unter dem Blickwinkel einer Stärkung des Föderalismus in Deutschland und Europa zu beschäftigen und dem Bundesrat hierzu einen Bericht vorzulegen. Sie konstituierte sich am 19. April 1991 und bildete zwei Arbeitsausschüsse. Der Arbeitsausschuß 1 behandelte den Themenbereich „Stärkung des Föderalismus in Deutschland und Europa", der die Fragenkomplexe Verwaltungsaufbau und -kompetenzen, Gesetzgebungsverfahren und kompetenzen, internationale Beziehungen, Zusammenlegung von Wahlterminen sowie die Möglichkeit einer Neugliederung für den Raum Berlin/Brandenburg umfaßte. Fragen der Finanzverfassung waren ausdrücklich von dem Auftrag der Kommission ausgenommen worden. Der Arbeitsausschuß 2 beschäftigte sich unter der Überschrift „Weitere Grundgesetzänderungen" mit den Themen Staatsziele und soziale Grundrechte, Ausländerwahlrecht, Fragen mit spezifischer Frauenrelevanz, Friedensstaatlichkeit und Verteidigung, plebiszitäre Elemente, Asyl, Art. 116 GG, Schutz und Förderung von nationalen und kulturellen Minderheiten 28
10*
BR-Drs. 103/91 (Beschluß).
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sowie Datenschutz, Recht auf Akteneinsicht und informationelle Selbstbestimmung. Die Problematik des Art. 146 GG wurde dagegen nicht erörtert. An den Sitzungen der Kommission und der Arbeitsausschüsse nahmen auch Vertreter der Bundesregierung teil. Am 14. Mai 1992 legte die Kommission dem Bundesrat ihren Abschlußbericht29 vor, der zu dem Themenkomplex „Internationale Beziehungen" Änderungen der Artikel 24, 32 und 36 GG empfahl. 30
2. Die Empfehlungen der Kommission im Bereich „Internationale Beziehungen " Der Themenbereich „Internationale Beziehungen" wurde im Arbeitsausschuß 1 behandelt. Berichterstattende Länder waren Bayern und Nordrhein-Westfalen. Die Vorschläge des Ausschusses wurden nach Einholung einer Stellungnahme der Europa-Kommission der Länder von der Kommission Verfassungsreform mit der erforderlichen Zweidrittelmehrheit angenommen.31
a) Änderung des Artikels 24 GG Den Ländern ging es mit Blick auf die europäische Integration vor allem darum, den Verlust wesentlicher Elemente ihrer Eigenstaatlichkeit, der nach ihrer Ansicht infolge weiterer Kompetenzverlagerungen auf die Gemeinschaftsorgane drohte, zu verhindern. Zu diesem Zweck wollten sie eine Verstärkung ihrer Mitwirkungs· und Beteiligungsrechte und deren Verankerung im Grundgesetz erreichen.32 29
BR-Drs. 360/92, gesondert abgedruckt als Dokumentation des Bundesrates unter dem Titel „Stärkung des Föderalismus in Deutschland und Europa sowie weitere Vorschläge zur Änderung des Grundgesetzes", Bonn 1992. 30 Vgl. zu dem Bericht insgesamt Asmussen, Claus/Eggeling, Ulrich, Empfehlungen des Bundesrates zur Stärkung des Föderalismus in Deutschland und Europa, VerwArch 84 (1993), 230-259; da die Änderung des Art. 36 Abs. 1 GG - dezentrale Verteilung der Bundesbehörden sowie europäischer und internationaler Behörden unter angemessener Berücksichtigung aller Länder - für das hier behandelte Thema keine Rolle spielt, bleibt sie im folgenden unberücksichtigt. 31 Vgl. dazu die Kommissionsdrucksachen 5 v. 7.10.1991 und 12 (neu) v. 18.3.1992. 32 Die Länder hatten schon während des Zustimmungsverfahrens zur EEA von 1986 die Forderung nach einer Änderung des Art. 24 Abs. 1 GG und einer Festschreibung ihrer Mitwirkungsrechte gemäß Art. 2 EEA-Gesetz erhoben. Vgl. insb. Hrbek, Rudolf, Die deutschen Länder vor den Herausforderungen der EG-Integration, in: Vogel, Bernhard/Oettinger, Günther H. (Hrsg.), Föderalismus in der Bewährung, Berlin u. a. 1992,9-33 (17 f. und Fn. 26).
II. Empfehlungen der Kommission Verfassungsreform des Bundesrates
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Der Bundesrat hatte bereits zuvor einen Vorstoß in diese Richtung unternommen. Nach einem vergeblichen Versuch gegen Ende der 11. Legislaturperiode hatte er am 16. Mai 1991 wiederum einen Gesetzentwurf zur Änderung des Art. 24 Abs. 1 GG vorgelegt, der eine stärkere Beteiligung des Bundesrates am europäischen Integrationsprozeß zum Ziel hatte.33 Anlaß für den bereits Anfang 1990 vom Bundesrat beschlossenen Änderungsvorschlag dürfte der Streit zwischen Bund und Ländern über die Fernsehrichtlinie der EWG gewesen sein. Die Regierung hatte dieser entgegen einem anderslautenden Votum des Bundesrates im Ministerrat zugestimmt.34 Dieses Vorgehen dürfte die Länder dazu bewogen haben, auf eine Stärkung und verfassungsrechtliche Verankerung ihrer Beteiligung an der Europapolitik zu dringen. Ihr Vorstoß scheiterte jedoch an der Ablehnung der Bundesregierung. Diese verwies in ihrer Gegenäußerung insbesondere auf die bewußte Entscheidung des Parlamentarischen Rates, Hoheitsrechtsübertragungen trotz ihres materiell verfassungsändernden Charakters durch einfaches Bundesgesetz zuzulassen, um die Glaubwürdigkeit seines Anliegens nach außen zu unterstreichen und nach innen eine zügige Umsetzung des Regelungsziels sicherzustellen. Zudem hielt sie es vor dem politischen Hintergrund der Vereinigung Deutschlands für problematisch, trotz der erklärten Bereitschaft zu weitergehender Integration eine Verfassungsänderung vorzunehmen, die die Übertragung von Hoheitsrechten von weiteren Voraussetzungen abhängig machen sollte. Schließlich war sie der Ansicht, daß eine Änderung des Art. 24 GG ohnehin nicht erforderlich sei, weil die Mitwirkungs- und Beteiligungsrechte der Länder bereits in Art. 2 EEAG festgeschrieben worden seien.35 Der Gesetzentwurf des Bundesrates wurde mit Rücksicht auf die bevorstehenden umfassenden Verhandlungen 33
BR-Drs. 920/90 i. V. m. BR-Drs. 703/89 und BT-Drs. 12/549. Der Änderungsvorschlag lautete: „Der Bund kann durch Gesetz mit Zustimmung des Bundesrates Hoheitsrechte auf zwischenstaatliche Einrichtungen übertragen. In Angelegenheiten dieser Einrichtungen wirken die Länder bei der Willensbildung des Bundes mit. Das Nähere regelt ein das der Zustimmung des Bundesrates bedarf; soweit die im Grundgesetz fes Zuständigkeiten der Länder oder ihre wesentlichen Interessen berührt werde Möglichkeit einer wesentlichen Einflußnahme der Länder vorzusehen. " Dieser Änderungsvorschlag war dem Bundesrat bereits im Dezember 1989 von den Regierungen von Bayern, Hessen, Nordrhein-Westfalen und Rheinland-Pfalz vorgelegt und von ihm am 16.3.1990 als Gesetzentwurf beschlossen worden. Die Bundesregierung hatte zu dem Entwurf ablehnend Stellung genommen, vgl. BT-Drs. 11/7391 v. 13.6.1990, Anlage 2. 34 Siehe zu diesem Streit und dem dazu ergangenen Urteil des Bundesverfassungsgerichts aus dem Jahre 1995 oben Kap. 1, D. III. 3. 35 Vgl. BT-Drs. 11/7391 v. 13.6.1990, Anlage 2. Siehe zu den Mitwirkungs- und Beteiligungsrechten der Länder gemäß Art. 2 EEAG oben Kap. 1, D. III. 3.
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Kap. 2, Β. Vorgeschichte und Entstehung des neuen Artikels 23 GG
über Änderungen des Grundgesetzes, wie sie in Art. 5 des Einigungsvertrages empfohlen worden waren, nicht weiter verfolgt. Im Rückgriff auf diesen Entwurf schlug die Kommission Verfassungsreform vor, die Übertragung von Hoheitsrechten in jedem Fall - also auch bei der Übertragung von Hoheitsrechten allein des Bundes - von der Zustimmung des Bundesrates abhängig zu machen. Damit ging sie über die Empfehlung der EnquêteKommission des Bundestages von 1976 hinaus, die eine solche Zustimmung lediglich bei der Übertragung von Hoheitsrechten der Länder vorsah. Hierfür wurden drei Gründe angeführt: Zum einen verlören die Länder mit der Übertragung von Hoheitsrechten des Bundes die ihnen über den Bundesrat eingeräumten Mitwirkungsrechte in Bundesangelegenheiten. Hierfür schaffe die Zustimmungsbedürftigkeit einen gewissen Ausgleich. Zum zweiten sei sie gerechtfertigt, weil die Kompetenzverteilung zwischen Bund und Ländern ein ausgewogenes, in sich kohärentes System bilde, in dem sich die Übertragung von Hoheitsrechten des Bundes im Kompetenzbereich der Länder ebenso auswirke, wie umgekehrt die Verlagerung von Länderkompetenzen auf die Kompetenzen des Bundes einwirke. Zudem bestehe die Gefahr, daß die beim Bund entstehenden Kompetenzlücken auf längere Sicht mit der Übernahme von Länderkompetenzen wieder aufgefüllt würden. Zum dritten komme die Übertragung von Hoheitsrechten einer Verfassungsänderung gleich, weil die Bundesrepublik auf einen Teil ihrer Souveränität verzichte. Wegen Art. 24 Abs. 1 GG sei dies ohne die sonst notwendige Zweidrittelmehrheit möglich. Da durch die Übertragung von Hoheitsrechten nur des Bundes immer auch der Gesamtstaat - also Bund und Länder - betroffen sei, sei die Forderung nach Zustimmung des Bundesrates wenigstens mit der Mehrheit seiner Stimmen angemessen.36 Bemerkenswert ist, daß diesen Erwägungen der Kompensationsgedanke zugrunde liegt. Den Ländern geht es darum, durch das Erfordernis ihrer Zustimmung zu dem Übertragungsgesetz zumindest einen gewissen Ausgleich für ihre Kompetenzverluste zu erhalten. Zentrales Anliegen war ferner die verfassungsrechtliche Ausgestaltung der Mitwirkung der Länder bei der Willensbildung des Bundes in europäischen Angelegenheiten und der Wahrnehmung seiner mitgliedstaatlichen Rechte auf der supranationalen Ebene. Letzteres war eine Forderung, die noch über den früheren Änderungsentwurf des Bundesrates vom 16. Mai 1991 hinausging. Sie bildete die verfassungsrechtliche Entsprechung zu der inzwischen im Maastrichter Vertrag vorgenommenen Änderung des Art. 146 EGV (Art. 203 EGV n. F.), der zufolge sich ein Mitgliedstaat im Ministerrat künftig auch durch einen Minister vertreten 36
BT-Drs. 12/549, Begründung, Ziff. 2 sowie BR- Drs. 360/92 (Bericht der Kommission Verfassungsreform), 3.
II. Empfehlungen der Kommission Verfassungsreform des Bundesrates151
lassen kann, der nicht Mitglied der Zentralregierung ist. Nach dem Vertrag über die Europäische Wirtschaftsgemeinschaft hatten es die Gemeinschaftsorgane bisher nicht für zulässig erachtet, daß der Minister eines Bundeslandes im Ministerrat seine Stimme für die Bundesrepublik Deutschland abgab.37 In dem Verlangen nach der Wahrnehmung mitgliedstaatlicher Rechte durch einen Ländervertreter lag erstmals die Forderung nach einer Durchbrechung des bisher unbestrittenen Außenvertretungsmonopols der Bundesregierung. Nach Auffassung der Kommission waren die Forderungen nach verstärkten Mitwirkungs- und Teilhaberechten eine Folge des fortschreitenden europäischen Integrationsprozesses und notwendiger Ausgleich für damit verbundene Kompetenzverluste. Dabei betonte sie, daß der von den Ländern eingeforderte „Beteiligungsföderalismus" ohnehin nur ein unzureichender, dafür aber um so dringlicherer Ausgleich für die Kompetenzverluste der Länder sei, die im Interesse der europäischen Integration hingenommen werden müßten. Die nähere Ausgestaltung der Mitwirkung der Länder sollte nach der Vorstellung der Kommission einem Ausführungsgesetz vorbehalten bleiben. Schon in der Verfassung selbst sollte allerdings eine wesentliche Einflußnahme der Länder auf die Willensbildung des Bundes sichergestellt werden, soweit ihre im Grundgesetz festgelegten Zuständigkeiten oder wesentlichen Interessen berührt würden. Desgleichen sollte verfassungsrechtlich verankert werden, daß die Wahrnehmung mitgliedstaatlicher Rechte den Ländern immer dann zustehe, wenn im Schwerpunkt ihre Zuständigkeiten berührt würden.38 Im übrigen sollten die seit Jahren von den Ländern zu den Europäischen Gemeinschaften unterhaltenen Beziehungen, zu deren Intensivierung fast alle Länder ab 1985 sog. Länderbüros in Brüssel eingerichtet hatten, in der Verfassung abgesichert werden. Diese Büros sollten den Ländern möglichst frühzeitig Informationen über geplante europäische Rechtsetzungsakte verschaffen, um ihnen eine effektivere Durchsetzung ihrer Interessen gegenüber der Bundesregierung und den Organen der Gemeinschaft zu ermöglichen. Außerdem sollten sie die Öffentlichkeit und die Wirtschaft über Förderungsmöglichkeiten der Gemeinschaft aufklären und bei der Stellung entsprechender Anträge behilflich sein. Ferner hatten sie die Aufgabe, Werbung für das betreffende Land als Wirtschaftsstandort zu machen und Kontakte nicht nur zu den Gemeinschaftsorganen, sondern auch zu den in Brüssel ansässigen Verbänden und Unternehmen zu vermitteln. Schließlich sollten sie auf Entscheidungen der Gemeinschaft, insbesondere bei der Rechtsetzung oder der Verteilung von Fördermitteln zugunsten des betreffenden Landes
37 38
Siehe dazu oben Kap. 1, D. III. 4. Bericht der Kommission Verfassungsreform (Fn. 36), 4.
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Kap. 2, Β. Vorgeschichte und Entstehung des neuen Artikels 23 GG
Einfluß nehmen.39 Die Bundesregierung hatte auf die Errichtung der Länderbüros zunächst ablehnend reagiert und unter Verweis auf ihre ausschließliche Außenvertretungskompetenz gemäß Art. 32 Abs. 1 GG verfassungsrechtliche Zweifel an dem Vorgehen der Länder geäußert. Auch wenn sie ihren Standpunkt in Verhandlungen mit den Ländern nicht durchsetzen konnte, war letzteren daran gelegen, ihre Beziehungen zu den Gemeinschaftsorganen und ihre Vertretungen in Brüssel verfassungsrechtlich zu verankern. Damit sollte zugleich deutlich gemacht werden, daß diese Beziehungen nicht der Pflege der auswärtigen Angelegenheiten im Sinne des Art. 32 GG dienten, sondern Ausfluß der Tatsache seien, daß die Angelegenheiten der Europäischen Gemeinschaften im Laufe der Zeit ein Gegenstand europäischer Innenpolitik geworden seien. Schließlich sollte in der Verfassung eine sichere Grundlage für die ebenfalls bereits erfolgte Errichtung zwischenstaatlicher Regionaleinrichtungen geschaffen werden. Einige Länder hatten seit Mitte der achtziger Jahre vermehrt Übereinkommen mit benachbarten Regionen abgeschlossen, um die grenzüberschreitende Zusammenarbeit grenznaher Kommunen und Zweckverbände auf eine rechtsverbindliche Grundlage zu stellen.40 Dabei stellte sich heraus, daß die Errichtung gemeinsamer Institutionen mit Durchgriffsbefugnissen zu einer effektiveren gemeinsamen Aufgabenerfüllung beitragen würde. Deshalb forderten die Länder eine Ermächtigungsgrundlage im Grundgesetz, die es ihnen erlauben sollte, im Bereich ihrer Gesetzgebungszuständigkeiten Hoheitsrechte auf zwischenstaatliche oder interregionale Einrichtungen zu übertragen. Auf diese Weise sollten solche Organisationen - einem praktischen Bedürfnis folgend - in die Lage versetzt werden, unmittelbar geltendes Recht zu setzen. Als Beispiel wird die Gründung 39
Die Bundesregierung stand der Einrichtung der Länderbüros in Brüssel zunächst ablehnend gegenüber, weil sie um ihr Außen Vertretungsmonopol fürchtete. Inzwischen hat sie die Praxis anerkannt. Vgl. zu der nach h. M. verfassungsrechtlich zulässigen Praxis der Länderbüros Borchmann, Michael, Verbindungsbüros der Bundesländer bei der EG - Berechtigte Interessenvertretung oder Nebenaußenpolitik?, NVwZ 1988, 218-220; Fastenrath, Ulrich, Länderbüros in Brüssel, DÖV 1990,125-136; Zumschlinge, Konrad, Die Informationsbüros der Bundesländer in Brüssel, Die Verwaltung 22 (1989), 217-236 (224 ff.); ders./Sierigk, Annette, Die Auswirkungen der Wiedervereinigung Deutschlands und der Integration Europas auf die Vertretung der deutschen Länder in Bonn, Berlin und Brüssel, Die Verwaltung 27 (1994), 525-545 (542 ff.), jeweils m. w. N. 40 Vgl. ζ. B. das Abkommen zwischen dem Land Nordrhein-Westfalen, dem Land Niedersachsen, der Bundesrepublik Deutschland und dem Königreich der Niederlande über grenzüberschreitende Zusammenarbeit zwischen Gebietskörperschaften und anderen öffentlichen Stellen vom 23.5.1991 oder das Abkommen zur Gründung einer „Regionalexekutive Saarland-Lothringen" vom 14.6.1991; die Verträge der Länder sind abgedruckt in: Beyerlin, Ulrich/Lejeune, Yves, Sammlung der internationalen Vereinbarungen der Länder der Bundesrepublik Deutschland, Berlin u. a. 1994.
II. Empfehlungen der Kommission Verfassungsreform des Bundesrates153
grenzüberschreitender Regionaleinrichtungen zur Abfall- oder Abwasserbeseitigung genannt, denen das Recht zukommen müsse, Benutzerordnungen zu erlassen oder Gebühren zu erheben. In der Begründung ihres Änderungsvorschlags stellte die Kommission klar, daß an die Übertragung von Hoheitsrechten nur zum Zwekke einer rein regionalen, grenzüberschreitenden Zusammenarbeit gedacht sei.41 Die Verfassungskommission des Bundesrates schlug deshalb folgende Änderung bzw. Ergänzung des Art. 24 GG vor: „(1) Der Bund kann durch Gesetz mit Zustimmung des Bundesrates Hoheitsrechte auf zwischenstaatliche Einrichtungen übertragen.
(2) In Angelegenheiten dieser Einrichtungen wirken die Länder hei der Wille dung des Bundes und bei der Wahrnehmung der Rechte mit, die der Bundesr Deutschland als Mitgliedstaat zustehen. Soweit ihre in diesem Grundgesetze fe ten Zuständigkeiten oder ihre wesentlichen Interessen berührt werden, erhalt Möglichkeit einer wesentlichen Einflußnahme auf die Willensbildung. Die Rec der Bundesrepublik als Mitgliedstaat zustehen, können die Länder wahrnehme im Schwerpunkt ihre in diesem Grundgesetze festgelegten Zuständigkeiten be den. Das Nähere regelt ein Gesetz, das der Zustimmung des Bundesrates beda (3) Die Länder können zu zwischenstaatlichen Einrichtungen Beziehungen unt ten und bei ihnen eigene Vertretungen einrichten. (4) Soweit die Länder für die Gesetzgebung zuständig sind, können auch sie stimmung der Bundesregierung durch Gesetz Hoheitsrechte auf zwischenstaatl interregionale Einrichtungen übertragen" (Hervorhebungen durch die Verfin).
b) Änderung des Artikels 32 GG Weiterhin wollten die Länder - wie bereits zu Zeiten der Enquête-Kommission - eine Änderung des Art. 32 GG erreichen, die vor allem den im Lindauer Abkommen erzielten Kompromiß verfassungsrechtlich festschreiben sollte. Zudem wollten sie ihre Stellung im Bereich der auswärtigen Beziehungen stärken. Der Vorschlag der Kommission entsprach weitgehend den Vorgaben in dem sog. Eckpunkte-Beschluß der Ministerpräsidenten vom 5. Juli 199042. Dieser war von den Ländern mit Blick auf die bevorstehende Einheit Deutschlands gefaßt worden, um ihren Forderungen nach einer Stärkung des Föderalismus und den entsprechenden Verfassungsänderungen Nachdruck zu verleihen. Der Änderungsvor-
41
Bericht der Kommission Verfassungsreform (Fn. 36), 5. Eckpunkte der Länder für die bundesstaatliche Ordnung im vereinten Deutschland, Beschluß der Ministerpräsidenten vom 5.7.1990, abgedruckt in: ZParl 1990,461 ff. 42
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Kap. 2, Β. Vorgeschichte und Entstehung des neuen Artikels 23 GG
schlag im Eckpunkte-Beschluß beruhte seinerseits auf den Empfehlungen der Enquête-Kommission.43 Art. 32 Abs. 1 GG sollte durch einen zweiten Satz ergänzt werden, in dem die Befugnis der Länder abgesichert werden sollte, im Bereich ihrer Zuständigkeiten mit auswärtigen Staaten, Regionen, Kommunen und sonstigen Einrichtungen zusammenzuarbeiten. Der Begründung zufolge sollte damit der zunehmenden Auslandsberührung der Länder Rechnung getragen werden, ohne die außenpolitische Prärogative des Bundes in Frage zu stellen44. Artikel 32 Abs. 2 GG sollte ebenfalls ein weiterer Satz angefügt werden, in dem das Anhörungsrecht der Länder auf den Abschluß von völkerrechtlichen Verträgen erstreckt werden sollte, durch die ihre wesentlichen Interessen berührt würden. Diese Bestimmung entsprach inhaltlich im wesentlichen dem Regelungsgehalt der Ziffer 4 des Lindauer Abkommens.45 In Art. 32 Abs. 3 GG sollte klargestellt werden, daß die Länder im Bereich ihrer Gesetzgebungszuständigkeit nicht nur mit auswärtigen Staaten, sondern mit allen Völkerrechtssubjekten Verträge abschließen könnten. Daneben sollte die zwischen Bund und Ländern lange umstrittene Frage, ob auch der Bund Verträge im Bereich der ausschließlichen Länderzuständigkeiten schließen könne, zugunsten einer eingeschränkten Abschlußkompetenz des Bundes gelöst werden. Diese Lösung stellte aus der Sicht zumindest der süddeutschen Länder, die bisher eine solche Kompetenz des Bundes verneint hatten, ein Zugeständnis an den Bund dar.46 Im Gegenzug sollte dieser verpflichtet werden, die vorherige Zustimmung der Länder einzuholen. Das im Lindauer Abkommen als Soll-Vorschrift ausgestaltete Zustimmungserfordernis sollte also in eine Muß-Vorschrift umgewandelt werden. Die vorherige Zustimmung sollte - über den Vorschlag der EnquêteKommission hinausgehend - auch dann erforderlich sein, wenn der Vertrag nur teilweise in den Kompetenzbereich der Länder fiele. Zudem sollte den Ländern eine Beteiligung an den Vertragsverhandlungen des Bundes und die Möglichkeit der Einflußnahme auf den Vertragsinhalt gesichert werden. Schließlich sollte die Zuständigkeit der Länder zur Transformation solcher Verträge in der Verfassung verankert werden, um zu verhindern, daß der Bund die im Zuständigkeitsbereich 43
Siehe dazu oben Kap. 2, Β. I. 2. b). Asmussen/Eggeling (Fn. 30), 257. 45 Bericht der Kommission Verfassungsreform (Fn. 36), 6; siehe zum Inhalt des Lindauer Abkommens oben Kap. 1, D. II. 46 Siehe zu der sog. „süddeutschen Lösung" bezüglich der Kompetenzverteilung zwischen Bund und Ländern bei Abschluß und Umsetzung völkerrechtlicher Verträge im Kompetenzbereich der Länder oben Kap. 1, D. II. 44
II. Empfehlungen der Kommission Verfassungsreform des Bundesrates155
der Länder abgeschlossenen Verträge in Bundesrecht umwandeln und somit die Kompetenzordnung des Grundgesetzes zu seinen Gunsten verschieben könnte.47 Der Formulierungsvorschlag der Bundesratskommission lautete demgemäß folgendermaßen:
„(1) Die Pflege der auswärtigen Beziehungen ist Sache des Bundes. Im Rahmen ihrer Zuständigkeiten sind die Länder zur Zusammenarbeit mit auswärtigen Staaten nen und sonstigen Einrichtungen befugt. (2) Vor dem Abschluß eines Vertrages, der die besonderen Verhältnisse eines Landes berührt, ist das Land rechtzeitig zu hören. Entsprechendes gilt, wenn wesentliche Inter essen der Länder berührt werden. (3) Soweit die Länder für die Gesetzgebung zuständig sind, können sie mit Zustimmung der Bundesregierung völkerrechtliche Verträge abschließen. Mit vorheriger Zu stimmung der Länder kann auch der Bund Verträge abschließen, die ganz od weise in die Gesetzgebungszuständigkeit der Länder fallen. Die Länder sind re über die Aufnahme von Vertragsverhandlungen und deren Fortgang zu unte sowie auf Verlangen daran zu beteiligen. Sie treffen die zur Durchführung di träge efforderlichen Maßnahmen" (Hervorhebung durch die Verfin). 48
Vergleicht man die Vorschläge der Enquête-Kommission des Bundestages von 1976 mit denen der Bundesratskommission Verfassungsreform, so wird deutlich, daß letztere weitreichende Forderungen der Länder enthalten, die ihnen einen erheblichen Einfluß auf die Pflege der auswärtigen Beziehungen und insbesondere den Prozeß der europäischen Integration sichern sollten. Was die Änderung des Art. 24 GG anbetrifft, so hatte sich die Enquête-Kommission in bezug auf die Zustimmungspflichtigkeit des Übertragungsgesetzes für die am wenigsten in die Kompetenz des Bundes eingreifende Alternative entschieden. Nur die Übertragung von Hoheitsrechten der Länder sollte die Zustimmung des Bundesrates erfordern. Demgegenüber wollte die Kommission des Bundesrates jede Übertragung von Hoheitsrechten von seiner Zustimmung abhängig machen. Die Beteiligung an der Willensbildung des Bundes und die Wahrnehmung mitgliedstaatlicher Rechte, die bei den Diskussionen in der Enquête-Kommission noch gar keine Rolle gespielt hatten, sollten nach dem Willen der Länder nunmehr in der Verfassung verankert werden. Was den Änderungsvorschlag zu Art. 32 GG anbetrifft, so wollten die Länder nicht nur, wie damals die Enquête-Kommission des Bundestages, ihre Mitwirkungs- und Beteiligungsrechte nach dem Lindauer Abkommen absichern. Vielmehr gingen ihre Forderungen wesentlich darüber hinaus. Dies gilt insbesondere für die verfassungsrechtliche „Absegnung" ihrer außenpolitischen Aktivitäten und das Bestreben, vom Bund geschlossene Verträge auch dann von ihrer Zustimmung abhängig zu machen, wenn diese nur teilweise in ihre Gesetzge47 48
Bericht der Kommission Verfassungsreform (Fn. 36), 6. Ebenda, 5.
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Kap. 2, Β. Vorgeschichte und Entstehung des neuen Artikels 23 GG
bungszuständigkeit fallen. Die Enquête-Kommission hatte für diesen Fall ausdrücklich eine Ausnahme von dem Zustimmungserfordernis vorgesehen. Obwohl sich die weniger weitreichenden Änderungsvorschläge der Enquête-Kommission damals nicht hatten durchsetzen lassen, bestand diesmal eine gute Chance, daß die umfangreichen Forderungen des Bundesrates in das Grundgesetz übernommen würden. Das zeitliche Zusammentreffen der Arbeiten an einer Änderung des Grundgesetzes, die im Jahre 1991 anläßlich der Wiedervereinigung begonnen hatten, mit dem Ratifizierungsverfahren zum Maastrichter Vertrag vom 7. Februar 1992 ermöglichte es den Ländern, ihren Wünschen in der Auseinandersetzung mit dem Bundestag und der Bundesregierung den nötigen politischen Nachdruck zu verleihen. Denn der Vertrag über die Europäische Union bedurfte ihrer Zustimmung.49 Deshalb war die Verhandlungsposition der Länder ungleich günstiger als in den siebziger Jahren oder auch noch in den Jahren 1990/91, als die Bundesregierung ihre Änderungswünsche stets abgelehnt hatte.
III. Die Änderungsvorschläge der Gemeinsamen Verfassungskommission Im Gefolge der in Art. 5 des Einigungsvertrages enthaltenen Empfehlung kam es im Frühjahr 1991 zu Anträgen der drei Bundestagsfraktionen und der Gruppe BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN, in denen die Bildung eines Gremiums zur Beratung von Vorschlägen zur Änderung der Verfassung verlangt wurde.50 Die Vorstellungen der Parteien unterschieden sich stark voneinander. Während die SPD die Weiterentwicklung des Grundgesetzes zu einer Verfassung für das geeinte Deutschland durch einen aus 120 Mitgliedern bestehenden Verfassungsrat forderte51 und BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sogar eine neue gesamtdeutsche Verfassung anstrebten, die von einem 160 Mitglieder zählenden Gremium ausgearbeitet werden sollte52, sah der gemeinsame Antrag Von CDU/CSU und FDP die Einset49
Siehe dazu unten Kap. 2, B. III. 2. Vgl. zu der Diskussion über die Notwendigkeit einer Verfassungsreform ζ. B. Roellecke, Gerd, Brauchen wir ein neues Grundgesetz?, NJW 1991, 2441-2448; Häberle, Peter, Die Kontroverse um die Reform des deutschen Grundgesetzes (1991/92), Zeitschrift für Politik 1992, 233-263. 51 Antrag der SPD-Fraktion „Weiterentwicklung des Grundgesetzes zur Verfassung für das geeinte Deutschland - Einsetzung eines Verfassungsrates" vom 24.4.1991, BT-Drs. 12/415; die Mitglieder des Verfassungsrates sollten von der Bundesversammlung gewählt werden, wobei sich das Gremium je zur Hälfte aus Männern und Frauen zusammensetzen sollte. 52 Antrag der Gruppe BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN „Vom Grundgesetz zur gesamtdeutschen Verfassung - Einrichtung und Aufgaben eines Verfassungsrates" vom 13.5. 1991, 50
III. Änderungsvorschläge der Gemeinsamen Verfassungskommission
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zung eines aus je 16 Mitgliedern des Bundestages und des Bundesrates bestehenden Gemeinsamen Verfassungsausschusses vor 53. Auf der Grundlage einer Beschlußempfehlung des Ältestenrates54, der ein Gremium mit je 32 Mitgliedern und Stellvertretern aus Bundestag und Bundesrat anregte, und eines interfraktionellen Änderungsantrages55 setzten Bundestag und Bundesrat am 28. bzw. 29. November 1991 mit großer Mehrheit die Gemeinsame Verfassungskommission (im folgenden: GVK) ein.56
7. Zusammensetzung und Auftrag der Gemeinsamen Verfassungskommission Die GVK setzte sich aus je 32 Mitgliedern des Bundestages57 und des Bundesrates58 und deren Stellvertretern zusammen, die vom Bundestag gewählt bzw. von den Landesregierungen entsandt wurden. Sie konstituierte sich am 16. Januar 1992 und wählte den Bundestagsabgeordneten Rupert Scholz und den Ersten Bürgermeister der Freien und Hansestadt Hamburg Henning Voscherau zu ihren gleichberechtigten Vorsitzenden. Die Kommission hatte den Auftrag, die Beratungen und Beschlüsse der gesetzgebenden Körperschaften zu Verfassungsänderungen konzeptionell vorzubereiten. Ausgangspunkt ihrer Tätigkeit war Art. 5 des Einigungsvertrages59; sie sah sich allerdings nicht auf die dort aufgeführten Themenbereiche beschränkt, sondern nahm für sich ein „Selbstbefassungsrecht" in Anspruch und behandelte demzufolge auch andere Fragen wie etwa Out-of-areaEinsätze der Streitkräfte und Asylrechtsänderungen. An den KommissionssitBT-Drs. 12/563; die eine Hälfte der Mitglieder des paritätisch mit Männern und Frauen zu besetzenden Verfassungsrates sollte vom Bundestag, die andere Hälfte von den 16 Landesparlamenten gewählt werden, wobei jeder Bürger das Recht haben sollte, Kandidaten vorzuschlagen. 53 Gemeinsamer Antrag der CDU/CSU- und der FDP-Fraktion „Einsetzung eines Gemeinsamen Verfassungsausschusses" vom 13.5.1991, BT-Drs. 12/567. 54 Beschlußempfehlung des Ältestenrates vom 14.11.1991, BT-Drs. 12/1590. 55 Änderungsantrag der CDU/CSU-, der SPD- und der FDP-Fraktion vom 28.11.1991, BT-Drs. 12/1670. 56 PIPr. BT 12/61 vom 28.11.1991 und PIPr. BR 637 vom 29.11.1991 sowie BR-Drs. 741/91 (Beschluß). 57 Die CDU/CSU-Fraktion entsandte 15, die SPD-Fraktion 11, die FDP-Fraktion 4 und die Gruppen BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und PDS/Linke Liste je ein Mitglied in die Kommission. 58 Jede Landesregierung bestimmte aus ihren Bundesrats- und stellvertretenden Bundesratsmitgliedern je zwei zu Kommissionsmitgliedern bzw. zu deren Stellvertretern. 59 Siehe dazu oben Kap. 2, Β. II.
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Kap. 2, Β. Vorgeschichte und Entstehung des neuen Artikels 23 GG
zungen konnten nicht nur Mitglieder der Bundesregierung und deren Ministerialbeamte, sondern auch Beamte aus den Landesministerien sowie Mitarbeiter der Fraktionen und Gruppen teilnehmen. Die Landesparlamente wurden allerdings entgegen ihrem Wunsch nicht an der Arbeit der GVK beteiligt. Um einen Diskurs mit der interessierten Öffentlichkeit zu erleichtern, tagte die Kommission seit dem Frühjahr 1992 öffentlich. 60 Zudem erreichten die Kommission etwa 800.000 Eingaben von Bürgern und gesellschaftlichen Gruppen, die verfassungspolitischen Anliegen Ausdruck verliehen. Sachfragen bedurften einer Mehrheit von Zweidritteln der Kommissionsmitglieder. Damit waren die Suche nach Verständigung und die Erarbeitung von Kompromissen vorgegeben.61 Zudem ging man davon aus, daß Empfehlungen, die in der Kommission eine Zweidrittelmehrheit erzielt hatten, später auch im parlamentarischen Verfahren weitgehend konsensfähig seien. Die GVK führte in der Zeit vom 16. Januar 1992 bis zum 1. Juli 1993 fünfundzwanzig Sitzungen und neun Anhörungen zu politisch besonders bedeutsamen Fragestellungen durch und beschäftigte sich mit mehr als 90 Änderungsanträgen.62 In ihre Beratungen flössen die Empfehlungen der Kommission Verfassungsreform des Bundesrates sowie der Enquête-Kommission des Bundestages ein. Am 28. Oktober 1993 legte sie ihren Abschlußbericht63 vor, der einstimmig verabschiedet wurde und 23 Änderungsvorschläge enthielt.64
60
Auf ihrer 4. Sitzung am 2.4.1992 beschloß die GVK, zunächst bis zur Sommerpause die Öffentlichkeit zu ihren Sitzungen zuzulassen. Diese Praxis wurde später ohne Zeitbegrenzung fortgeführt. 61 Keine der beiden großen Parteien konnte mit ihren Stimmen allein oder mit den Stimmen kleinerer Partner ihre Vorstellungen durchsetzen. 62 Vgl. zu Zusammensetzung und Arbeitsweise der GVK Schmalenbach, Kirsten, Der neue Europaartikel 23 des Grundgesetzes im Lichte der Arbeit der Gemeinsamen Verfassungskommission - Motive einer Verfassungsänderung, Berlin 1996, 22 ff. 63 BT-Drs. 12/6000. 64 Vgl. zur Arbeit und zu den Empfehlungen der GVK etwa die Beiträge in: Aus Politik und Zeitgeschichte, Hefit Β 52-53/93 vom 24.12.1993; Benz, Arthur, Verfassungsreform als politischer Prozeß. Politikwissenschaftliche Anmerkungen zur aktuellen Revision des Grundgesetzes, DÖV 1993,881-889; Isensee, Josef, Mit blauem Auge davongekommendas Grundgesetz. Zu Arbeit und Resultaten der Gemeinsamen Verfassungskommission, NJW 1993,2583-2587; Jahn, Friedrich -Α., Empfehlungen der Gemeinsamen Verfassungskommission zur Änderung und Ergänzung des Grundgesetzes, DVB1. 1994, 177-187; Vogel, Hans-J., Die Reform des Grundgesetzes nach der deutschen Einheit - Eine Zwischenbilanz, DVB1. 1994,497-506.
III. Änderungsvorschläge der Gemeinsamen Verfassungskommission
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2. Empfehlungen der Gemeinsamen Verfassungskommission zum Themenkomplex „Grundgesetz und Europa" Wegen des anstehenden RatifizierungsVerfahrens zu dem am 7. Februar 1992 unterzeichneten Maastrichter Vertrag befaßte sich die GVK bereits auf ihrer 2. Sitzung mit dem Themenkomplex „Grundgesetz und Europa". Die damit zusammenhängenden schwierigen Fragen wurden auf insgesamt sechs Plenarsitzungen beraten;65 außerdem führte die Kommission hierzu zwei Anhörungen durch.66 In den Beratungen ging es im wesentlichen um zwei Fragen: (1) ob die in Art. 24 GG enthaltene Ermächtigung das „Hineinwachsen in einen supranationalen Verfassungsstaat" bzw. das „Herauswachsen aus dem nationalen Verfassungsstaat"67 und demgemäß die Übertragung von Hoheitsrechten auf die Europäische Union im Rahmen des Maastrichter Vertrages überhaupt noch decke, und (2) wie die Länder wirksamer am europäischen Integrationsprozeß beteiligt werden könnten. Es war klar, daß die Länder ein politisches Junktim zwischen ihrer Zustimmung im Bundesrat zum Maastrichter Vertrag und einer länderfreundlichen Neugestaltung des Art. 24 GG mit verfassungskräftiger Verankerung von Mitwirkungs· und Beteiligungsrechten aufgestellt hatten.68 Im Laufe der Verhandlungen kam als dritter Punkt die Frage nach einer im Verhältnis zu den Ländern angemessenen Beteiligung des Bundestages an der Willensbildung der Bundesregierung 65
Die GVK behandelte den TOP „Grundgesetz und Europa" auf der 2. Stzg. v. 13.2.1992, Stenographische Berichte der GVK (im folgenden: StenBer), 27 ff.; der 3. Stzg. v. 12.3.1992, StenBer, 3 ff.; der 7. Stzg. v. 4.6.1992, StenBer, 2 ff.; der 8. Stzg. v. 26.6.1992, StenBer, 1 ff.; der 9. Stzg. v. 9.7.1992, StenBer, 3 ff., und der 11. Stzg. v. 15.10.1992, StenBer, 1 ff. 66 Sachverständigen-Anhörung zum Thema „Grundgesetz und Europa, insb. Artikel 24, 28, 32, 88,109 GG" am 22.5.1992 in Berlin und Sachverständigen-Anhörung zum Thema „Parlamentsrecht" am 10.9.1992 in Bonn. 67 So der Vorsitzende Scholz auf der 2. Stzg. v. 13.2.1992, StenBer, 40. 68 Vgl. ζ. B. die Äußerung der bayrischen Justizministerin Ber ghofer-Weichner in der 2. Stzg. v. 13.2.1992, StenBer, 36 f.: „[Ich] ... möchte aber noch einmal daraufhinweisen, daß ein solcher Art. 24 in dieser oder einer ähnlichen Form [gemeint ist der Änderungsvorschlag der Bundesratskommission Verfassungsreform, die Verfin] - man wird nicht an jedem Wort festhalten, aber der Sinn muß gewahrt sein - eine der grundlegenden Voraussetzungen für die Zustimmung der Länder zu den Verträgen ist.", sowie des damaligen bayrischen Innenministers Stoiber in der 3. Stzg. v. 12.3.1992, StenBer, 26: „Ohne eine Änderung des Art. 24 Abs. 1 und 2 [gemeint ist wiederum der Änderungsvorschlag der Bundesratskommission Verfassungsreform, die Verfin] gibt es - ich glaube, das darf ich sagen - keine Ratifizierung von Maastricht.", oder des Senatspräsidenten von Bremen Wedemeier; ebenda, 29: „Ich will aber für die Sozialdemokraten im Bundesrat keinen Zweifel daran lassen, daß ohne Änderungen beim Art. 24 Maastricht mit uns im Bundesrat nicht läuft."
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Kap. 2, Β. Vorgeschichte und Entstehung des neuen Artikels 23 GG
im europäischen Rechtsetzungsverfahren hinzu. Außerdem ging es um die Frage, ob auch den Ländern eine Übertragung von Hoheitsrechten, also die Errichtung und Ausstattung einer zwischenstaatlichen oder interregionalen Einrichtung mit Durchgriffsrechten, ermöglicht und ihre Teilhabe an der Ausübung der auswärtigen Gewalt verstärkt werden sollte.
a) Schaffung eines neuen Europaartikels für die Mitwirkung der Bundesrepublik Deutschland am europäischen Integrationsprozeß Artikel 23 GG Angesichts der Gründung der Europäischen Union und der Übertragung weiterer Kompetenzen auf die in „Europäische Gemeinschaft" umbenannte EWG im Maastrichter Vertrag wurden Zweifel daran laut, ob die Ermächtigungsgrundlage des Art. 24 Abs. 1 GG für derartige Neuerungen noch ausreichte.69 Neben diese verfassungsrechtliche Frage trat die verfassungspolitische Überlegung, ob man in einer eigens für den europäischen Integrationsprozeß geschaffenen „Europanorm" die europäische Einigung als Staatsziel festschreiben und die künftige Beteiligung Deutschlands im Rahmen einer „Struktursicherungsklausel" von einer Verankerung der Strukturprinzipien unserer Verfassung auf europäischer Ebene abhängig machen sollte.70
aa) Entscheidung für eine neue Ermächtigungsgrundlage Die am 22. Mai 1992 durchgeführte Sachverständigenanhörung ergab im Hinblick auf die Frage nach der Erforderlichkeit einer neuen Ermächtigungsgrundlage kein einheitliches Bild. Die Mehrzahl der insgesamt neun Sachverständigen vertrat die Auffassung, daß die Ermächtigungsgrundlage des Art. 24 Abs. 1 GG für die Errichtung der Europäischen Union und die im Maastrichter Vertrag vorgesehene Übertragung von Hoheitsrechten nicht mehr ausreiche. Die Sachverständigen Isensee, Lepsius, Stern und Tomuschat waren der Ansicht, daß die Europäische Union nicht mehr als eine zwischenstaatliche Einrichtung im Sinne des Art. 24 Abs. 1 GG qualifiziert werden könne. Zur Begründung führten sie übereinstimmend die quantitative und qualitative Ausweitung der Kompetenzen der Europäischen Gemeinschaft und der Union an, der zufolge sich das neue Gesamt69
Vgl. ζ. B. die Äußerungen der Abgeordneten Möller (CDU/CSU) und Verheugen (SPD) in der 3. Stzg. v. 12.3.1992, StenBer, 6 und 12. 70 Vgl. die Äußerung des Abgeordneten Scholz (CDU/CSU), ebenda, 21.
III. Änderungsvorschläge der Gemeinsamen Verfassungskommission
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gebilde nicht mehr mit dem herkömmlichen Begriff der zwischenstaatlichen Einrichtung fassen lasse.71 Stern charakterisierte die Union als „Zwischenzustand zwischen Staat und klassischer zwischenstaatlicher Einrichtung"; wegen der starken Annäherung an bundesstaatliche Strukturen trage sie „präföderale Züge".72 Tomuschat wies darauf hin, daß mit dem Maastrichter Vertrag aus dem Nebeneinander von drei Zweckverbänden die Einheit einer Konstruktion geworden sei, die sich als ein im Prinzip auf alle Lebensbereiche erstreckender politischer Zusammenschluß verstehe.73 Randelzhofer war zwar der Meinung, daß die Europäische Union immer noch eine zwischenstaatliche Einrichtung im Sinne des Art. 24 Abs. 1 GG sei, da sie nach wie vor auf einem völkerrechtlichen Vertrag beruhe und ein qualitativer Umschlag in einen europäischen Bundesstaat noch nicht stattgefunden habe. Wegen des Eingriffes in wesentliche Strukturen der Verfassung, insbesondere durch die Schaffung eines Kommunalwahlrechts für Unionsbürger und die Errichtung des Europäischen Zentralbankensystems (ESZB) im Zuge der Währungsunion, müsse das Zustimmungsgesetz zum Maastrichter Vertrag allerdings mit verfassungsändernder Mehrheit verabschiedet werden.74 Demgegenüber kamen Bieber, Hölzer und Lerche zu dem Schluß, daß Art. 24 Abs. 1 GG als Ermächtigungsgrundlage für Hoheitsrechtsübertragungen nach dem Maastrichter Vertrag noch ausreiche. Auch sie befürworteten aber zumindest aus verfassungspolitischen Gründen eine eigenständige Regelung, die den Besonderheiten der europäischen Integration Rechnung trage.75 Zudem stimmten nahezu alle darin überein, daß die Verfassung in den Punkten, an denen - wie beim Kom71
Isensee, mündliche Äußerung in der Anhörung der GVK v. 22.5.1992, StenBer, 9; Lepsius, Stellungnahme zur Anhörung der GVK, StenBer, 91; Stern, Stellungnahme zur Anhörung der GVK, StenBer, 159 f., und Tomuschat, Stellungnahme zur Anhörung der GVK, StenBer, 171. 72 Stellungnahme zur Anhörung der GVK v. 22.5.1992, StenBer, 157; in gewissem Widerspruch zu den Ausführungen in dem Gutachten steht allerdings seine Bemerkung während der Anhörung, daß der Maastrichter Vertrag trotzdem - vom Wahlrecht abgesehen - noch mit Art. 24 als Form der Übertragung gelöst werden könne, StenBer, 19. 73 Stellungnahme zur Anhörung der GVK v. 22.5.1992, StenBer, 171; in der Anhörung sprach er von der „Gründung eines Gemeinwesens, das zwar keine völlig umfassenden Zuständigkeiten besitzen soll, das aber doch sehr weitgehend die Verfassungs- und Rechtsordnung der Bundesrepublik ... fast in allen wesentlichen Bereichen einbinden soll.", StenBer, 21. 74 Vgl. die Stellungnahme zur Anhörung der GVK v. 22.5.1992, StenBer, 118 f., und die mündlichen Äußerungen während der Anhörung, StenBer, 14 f. 75 Bieber, Stellungnahme zur Anhörung der GVK v. 22.5.1992, StenBer, 58 und die mündlichen Äußerungen, StenBer, 4; Hölzer, Stellungnahme zur Anhörung, StenBer, 89, und die mündlichen Ausführungen, StenBer, 8, und Lerche, Stellungnahme zur Anhörung, StenBer, 103 und 107, sowie die mündlichen Ausführungen, StenBer, 12. 11 König
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Kap. 2, Β. Vorgeschichte und Entstehung des neuen Artikels 23 GG
munalwahlrecht für Unionsbürger und bei der Eingliederung der Bundesbank in das ESZB - in ihre wesentlichen Strukturen eingegriffen werde, förmlich geändert bzw. ergänzt werden müsse.76 Die Aufnahme einer Struktursicherungsklausel in den neuen Europaartikel wurde von fast allen Sachverständigen begrüßt.77 Randelzhofer machte allerdings zugleich deutlich, daß eine solche Klausel nur begrenzten Schutz biete, weil sie das vereinte Europa nicht auf die genaue Kopie der Strukturen des Grundgesetzes festlegen, eine Schranke nur gegenüber der deutschen Regierung und dem Parlament errichten und keinesfalls die europäischen Organe bei der Fortentwicklung der Union binden könne.78 Auch Scharpf äußerte sich zu den Wirkungen einer Struktursicherungsklausel eher kritisch und wies aus politikwissenschaftlicher Sicht insbesondere darauf hin, daß das Demokratiedefizit in der Europäischen Union nicht einfach durch die Ausstattung des Europäischen Parlaments mit vollständigen Gesetzgebungskompetenzen behoben werden könne, da bisher die außerrechtlichen Voraussetzungen für eine demokratische Legitimation wie etwa die Ausbildung einer auf staatsbürgerliche Gleichheit, Solidarität und Wertkonsens gestützten kollektiven Identität nicht vorlägen.79 Nach intensiven Beratungen im Kreise der Berichterstatter sowie mit Vertretern der Bundesregierung und der Länder wurde in der Kommission Einigkeit darüber erzielt, daß ein eigener Europaartikel in das Grundgesetz aufgenommen werden und - wegen der symbolischen Bedeutung - an die Stelle des durch die deutsche
76 Hölzer hielt zwar eine Änderung der Art. 28 und 88 GG für erforderlich, sah sie aber nicht als Ratifikationsvoraussetzung an, StenBer, 8; Tomuschat stellte die Notwendigkeit einer Änderung des Art. 88 GG mit Hinweis darauf, daß die gesetzgebenden Körperschaften, insbesondere der Bundesrat, schon bisher ohne Verfassungsänderungen einen ebenso tiefen Eingriff in die Kompetenzstruktur hätten hinnehmen müssen wie zukünftig die Bundesbank, in Frage, StenBer, 21 f. 77 Stern hielt eine solche Klausel nicht für erforderlich mit dem Argument, daß demokratische, rechtsstaatliche, soziale und föderative Strukturen sowie der Grundrechtsschutz im Unions- und EWG-Vertrag bereits verwirklicht oder doch zumindest angelegt seien, Stellungnahme zur Anhörung der GVK v. 22.5.1992, StenBer, 168; auch Bieber wies darauf hin, daß eine derartige Bestimmung wegen Art. 79 Abs. 3 GG zur Wahrung des Grundgefüges der deutschen Verfassungsordnung nicht erforderlich sei, Demokratie, Rechts- und Sozialstaatlichkeit sich bereits im Maastrichter Vertrag fänden und der Schutz von Länderrechten und Bundesstaatlichkeit ohnehin nur in modifizierter Form auf die Europäische Union übertragen werden könne, Stellungnahme zur Anhörung der GVK v. 22.5.1992, StenBer, 63. 78 Vgl. die Stellungnahme zur Anhörung der GVK v. 22.5.1992, StenBer, 120 f. 79 Vgl. die Stellungnahme zur Anhörung der GVK v. 22.5.1992, StenBer, 135 f.; siehe zur Problematik des sog. Demokratiedefizits unten Kap. 6, Β. II. 2.
III. Änderungsvorschläge der Gemeinsamen Verfassungskommission
163
Vereinigung freigewordenen Artikels 23 treten solle.80 Damit konnte die Kommission zugleich die schwierige verfassungsrechtliche Frage offenlassen, ob die Ermächtigungsgrundlage des Art. 24 Abs. 1 GG - abgesehen von einer Änderung der Art. 28 und 88 GG - für die Ratifizierung des Maastrichter Vertrages noch ausgereicht hätte. Ferner verständigte sie sich darauf, in Art. 23 Abs. 1 GG eine Struktursicherungsklausel aufzunehmen, die neben den von Art. 79 Abs. 3 GG erfaßten Prinzipien Demokratie, Föderalismus, Rechtsstaatlichkeit, Sozialstaatlichkeit und Grundrechtsschutz vor allem auf Betreiben der Länder auch den Subsidiaritätsgrundsatz einbezieht.81 In einer Protokollnotiz hielten die Berichterstatter fest, daß der Begriff der Subsidiarität nach ihrem gemeinsamen Verständnis auch eine Bestandsgarantie der kommunalen Selbstverwaltung in der Bundesrepublik Deutschland umfasse. Wegen der unterschiedlichen Verfassungslage in den Mitgliedstaaten wurde von einer dahingehenden ausdrücklichen Aussage in Art. 23 abgesehen.82 Ferner entschied sich die Kommission, Hoheitsrechtsübertragungen auf die Europäische Union nur mit Zustimmung des Bundesrates zuzulassen. Sie folgte damit - in Abweichung von der restriktiveren Auffassung der Enquête-Kommission von 1976 - dem Vorschlag der Verfassungskommission des Bundesrates.83 Darüber hinaus wurde die Frage der erforderlichen Mehrheiten für das Zustimmungsgesetz lange erörtert. Es setzte sich schließlich die vor allem von den SPDAbgeordneten unterstützte Auffassung durch, daß die Übertragung von Hoheitsrechten auf die Europäische Union, die in Übereinstimmung mit der mehrheitlich geäußerten Ansicht der Sachverständigen nicht mehr als zwischenstaatliche Einrichtung im Sinne von Art. 24 Abs. 1 GG verstanden werden könne, wegen ihrer Auswirkungen auf die deutsche Verfassung nicht mehr nur mit einfacher Mehrheit beschlossen werden könne. Deshalb wurde mit Blick auf die Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts im sog. „Solange I"-Beschluß84 zunächst vorgeschlagen, die Übertragung von Hoheitsrechten, mit denen Eingriffe in die wesent80
Der von den Berichterstattern einstimmig beschlossene Vorschlag, den neuen Europaartikel an die Leerstelle des Art. 23 zu setzen, wurde auf der 8. Stzg. v. 26.6.1992 mit nur einer Gegenstimme angenommen, StenBer, 3. 81 Vgl. zu den verschiedenen Positionen bezüglich der einzelnen Strukturprinzipien ausführlich Schmalenbach (Fn. 62), 58 ff. 82 Vgl. Bericht der GVK, BT-Drs. 12/6000, 21. 83 Siehe dazu oben Kap. 2, Β. II. 2. a). 84 BVerfGE 37, 271 (279), wo es heißt: „... er [Art. 24 Abs. 1 GG] eröffnet nicht den Weg, die Grundstruktur der Verfassung, auf der ihre Identität beruht, ohne Verfassungsänderung, nämlich durch die Gesetzgebung der zwischenstaatlichen Einrichtung zu ändern" (Hervorhebung durch die Verfin). 1
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Kap. 2, Β. Vorgeschichte und Entstehung des neuen Artikels 23 GG
liehen Strukturen des Grundgesetzes verbunden sind, von einer Zweidrittelmehrheit in Bundestag und Bundesrat abhängig zu machen.85 Wegen der Unbestimmtheit des Begriffes „wesentliche Strukturen" entschied man sich aber später, ganz konkret für die Zustimmung zum Gründungs vertrag der Union sowie zu zukünftigen Änderungen ihrer vertraglichen Grundlagen verfassungsändernde Mehrheiten gemäß Art. 79 Abs. 2 GG zu verlangen. Zur Verdeutlichung der verfassungsrechtlichen Grenze von Hoheitsrechtsübertragungen wurde zudem auf Art. 79 Abs. 3 GG verwiesen.86 Auf das in Art. 79 Abs. 1 GG enthaltene Zitiergebot wurde dagegen mit Rücksicht auf die damit verbundenen erheblichen rechtstechnischen Probleme nicht Bezug genommen.87 Die Kommission billigte auf ihrer 8. Sitzung vom 26. Juni 1992 mit einer Gegenstimme bei zwei Enthaltungen88 die von den Berichterstattern vorgeschlagene Fassung des neuen Art. 23 Abs. 1 GG89: „(1) Zur Verwirklichung eines vereinten Europas wirkt die Bundesrepublik Deutschland bei der Entwicklung der Europäischen Union mit, die demokratischen, rechtsstaatlichen, sozialen und föderativen Grundsätzen und dem Grundsatz der Subsidiarität verpflichtet ist und einen diesem Grundgesetz vergleichbaren Grundrechtsschutz gewährleistet. Der Bund kann hierzu durch Gesetz mit Zustimmung des Bundesrates Hoheitsrechte übertragen. Für die Begründung der Europäischen Union und für Änderungen ihrer vertraglichen Grundlagen, durch die dieses Grundgesetz seinem Inhalt nach geändert wird oder solche Änderungen oder Ergänzungen ermöglicht werden, gilt Artikel 79 Abs. 2 und 3."
bb) Mitwirkungs-
und Beteiligungsrechte der Länder
Der Umfang der Mitwirkungs- und Beteiligungsrechte der Länder an der internen Willensbildung des Bundes im europäischen Rechtsetzungsprozeß blieb lange Zeit umstritten. Gleiches galt für die Forderung der Länder, mitgliedstaatliche Rechte in den europäischen Gremien wahrzunehmen, wenn im Schwerpunkt ihre ausschließlichen Zuständigkeiten berührt wurden.90 Aufgrund ihrer günstigen Ver85
Vgl. die Ausführungen des Abgeordneten Möller auf der 7. Stzg. v. 4.6.1992, StenBer, 2. 86 Vgl. die Äußerungen der Abgeordneten Möller und Verheugen auf der 8. Stzg. v. 26.6.1992, StenBer, 4 und 9, sowie den Bericht der GVK, BT-Drs. 12/6000, 21. 87 Vgl. die Äußerungen des Abgeordneten Verheugen, der statt dessen besondere Formen der Veröffentlichungspflicht bei Hoheitsrechtsübertragungen vorschlug, 8. Stzg. v. 26.6.1992, StenBer, 10, und den Bericht der GVK, BT-Drs. 12/6000, 21. 88 StenBer der 8. Stzg. v. 26.6.1992, 24. 89 Vgl. Kommissionsdrucksache Nr. 7 (neu), abgedruckt in: BT-Drs. 12/6000, 140. 90 Siehe dazu oben den Vorschlag der Kommission Verfassungsreform des Bundesrates Kap. 2, Β. II. 2. a).
III. Änderungsvorschläge der Gemeinsamen Verfassungskommission
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handlungsposition waren sie erstmals in der Lage, ihre Forderungen in schwierigen Verhandlungen in der GVK zu einem großen Teil durchzusetzen.
( 1 ) Verfassungsrechtliche Verankerung der Länderbeteiligung Bei der Sachverständigenanhörung wurde die Forderung der Länder nach der Festschreibung verstärkter Mitwirkungs- und Beteiligungsrechte im Grundgesetz überwiegend positiv beurteilt. Es herrschte Einigkeit darüber, daß sowohl eine erweiterte Mitwirkung an der innerstaatlichen Willensbildung als auch die Selbstwahrnehmung von mitgliedstaatlichen Rechten im Rat durch einen Ländervertreter den Schutzbereich des Art. 79 Abs. 3 GG nicht berühre und deshalb durch Verfassungsänderung in das Grundgesetz hineingenommen werden könne. Während Lerche die Auffassung vertrat, daß eine gesteigerte Einflußnahme der Länder auf die Willensbildung des Bundes nicht nur aus dem Gesichtspunkt der Kompensation gerechtfertigt, sondern unmittelbare Konsequenz der bundesstaatlichen Kompetenzverteilung sei91, waren andere der Ansicht, daß das Kompensationsbedürfnis der Länder zwar nicht aus verfassungsrechtlichen, zumindest aber aus verfassungspö/iYwcAen Gründen anzuerkennen sei92. Zugleich machten sie allerdings deutlich, daß durch eine stärkere Beteiligung der Länder die außen- bzw. europapolitische Handlungsfähigkeit des Bundes nicht übermäßig beeinträchtigt werden dürfe. 93 Deshalb sei eine Bindung der Bundesregierung an eine Entscheidung des Bundesrates abzulehnen.94 Scharpf wies zudem darauf hin, daß in dem Maße, in dem die Nationalstaaten ihre Problemlösungsfähigkeit verlören, die Handlungsfähigkeit der europäischen Politik an Bedeutung gewinne. Um die notwendigen Entscheidungen treffen zu können, komme es in Zukunft noch mehr als bisher auf die Fähigkeit und Bereitschaft der nationalen Regierungen an, flexible Kompromisse, kreative Kompensationsmöglichkeiten und befriedigende Paketlö91
Vgl. die Ausführungen von Lerche, Stellungnahme zur Anhörung der GVK v. 22.5.1992, StenBer, 111 ; ähnlich wohl auch Stern, Stellungnahme zur Anhörung, StenBer, 165, dem zufolge die Einbeziehung der Länder in den fortschreitenden europäischen Integrationsprozeß „berechtigt und zur Sicherung der bundesstaatlichen Ordnung (Art. 79 Abs. 3 GG) geboten" sei. 92 Vgl. ζ. B. Isensee, Äußerung in der Anhörung der GVK v. 22.5.1992, StenBer, 10; Randelzhofer, Stellungnahme zur Anhörung, StenBer, 121 f. 93 Randelzhofer, Stellungnahme zur Anhörung der GVK v. 22.5.1992, StenBer, 129 f.; Isensee, Äußerung in der Anhörung, StenBer, 10; Scharpf, Äußerung in der Anhörung, StenBer, 17. 94 Isensee, Äußerung in der Anhörung der GVK v. 22.5.1992, StenBer, 10; Scharpf, Stellungnahme zur Anhörung, StenBer, 141 f.
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Kap. 2, Β. Vorgeschichte und Entstehung des neuen Artikels 23 GG
sungen zu erreichen. Auch aus diesem Grunde sei eine wesentliche Ausweitung und verfassungsrechtliche Absicherung der Mitwirkung des Bundesrates an der Ausübung der deutschen Mitgliedschaftsrechte bedenklich.95 Der entsprechende Änderungsvorschlag der Bundesratskommission Verfassungsreform zu Art. 24 Abs. 1 GG96 stieß bei den Sachverständigen wegen seiner begrifflichen Ungenauigkeit überwiegend auf Kritik. Insbesondere die im vorgeschlagenen Art. 24 Abs. 2 verwendeten Formulierungen
„... oder ihre wesentlichen Interessen berührt werden, erhalten sie die Möglichkeit einer wesentlichen Einflußnahme auf die Willensbildung" und „... wenn im Schwerpunkt ihr in diesem Grundgesetz festgelegten Zuständigkeiten berührt werden" (Hervorhebung durch die Verf in).
wurden als zu unbestimmt charakterisiert. 97 Tomuschat bezeichnete den Vorschlag als „reine [n] Formelkompromiß, der nichts löst, alles offenläßt und die Verantwortung für diese genuin verfassungsrechtliche Angelegenheit dem einfachen Gesetzgeber zuschiebt".98 Bei den weiteren Beratungen der GVK wurde diese Kritik zum Teil berücksichtigt. Die Mitwirkungs- und Beteiligungsrechte der Länder erfuhren in Art. 23 Abs. 2 und Abs. 4 bis 6 eine differenzierte und - nach Meinung mancher Kritiker 99 kaum noch verständliche - detaillierte Regelung. In dem vorgeschlagenen Art. 23 Abs. 2 wird zunächst generalklauselartig festgehalten, daß in den Angelegenheiten der Europäischen Union der Bundestag und durch den Bundesrat die Länder mitwirken. Damit sollte klargestellt werden, daß die Mitwirkung der Länder durch das zur Bündelung und Vertretung ihrer Interessen berufene Bundesorgan Bundesrat - also nicht etwa durch die Länder in ihrer Gesamtheit oder 95
Vgl. die Stellungnahme zur Anhörung der GVK v. 22.5.1992, StenBer, 138 f. Siehe dazu im einzelnen oben Kap. 2, Β. II. 2. a). 97 Vgl. Bieber, Stellungnahme zur Anhörung der GVK v. 22.5.1992, StenBer, 71 f.; Randelzhofer, Stellungnahme zur Anhörung, StenBer, 127-130; Stern unterbreitete einen eigenen Formulierungsvorschlag, in dem die genannten unscharfen Begriffe nicht verwendet wurden, Stellungnahme zur Anhörung, StenBer, 167 f.; Tomuschat, Stellungnahme zur Anhörung, StenBer, 182. 98 So in der Anhörung der GVK v. 22.5.1992, StenBer, 22. 99 Vgl. ζ. B. Oppermann, Thomas, Das Bund-Länder-Verhältnis im europäischen Einigungsprozeß, in: Forschungsinstitut der Deutschen Gesellschaft für Auswärtige Politik e.V. (Hrsg.), Das Bund-Länder-Verhältnis im europäischen Einigungsprozeß, Gedenkveranstaltung der Deutschen Gesellschaft für Auswärtige Politik e.V. zu Ehren von Bundespräsident a.D. Professor Karl Carstens, Bonn 1992,7-18 (14 f.); Kewenig, Wilhelm Α., ebenda, 55 f.\Classen, Claus Dieter, Maastricht und die Verfassung: kritische Bemerkungen zum neuen „Europa-Artikel" 23 GG, ZRP 1993, 57-61 (59). 96
III. Änderungsvorschläge der Gemeinsamen Verfassungskommission
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durch ein neu einzurichtendes Gremium - erfolgt. 100 Die Entscheidung für eine Wahrnehmung der Mitwirkungsrechte durch den Bundesrat macht deutlich, daß für entsprechende Beschlüsse nicht - wie mit Blick auf ein frühes Urteil des Bundesverfassungsgerichts 101 argumentiert wurde - die Zustimmung jedes einzelnen Landes erforderlich ist, sondern ein Mehrheitsvotum im Sinne des Art. 52 Abs. 3 GG genügt. Wie Tomuschat in seinem Gutachten zutreffend ausgeführt hatte, würde das Einstimmigkeitsprinzip das Handeln der Bundesrepublik Deutschland auf europäischer Ebene so erschweren, daß es der in der Präambel zum Ausdruck gebrachten Bereitschaft zur europäischen Einigung widerspräche.102 Die Sachverständigen waren nahezu einhellig zu dem Ergebnis gekommen, daß eine Verfassungsänderung, der zufolge die Länder durch den Bundesrat an den europäischen Angelegenheiten mitwirken, zulässig sei.103 Lerche hatte zudem darauf hingewiesen, daß auch das Bundesverfassungsgericht in seiner damaligen Entscheidung eine Ausnahme vom Einstimmigkeitsprinzip für anderslautende „positive verfassungsrechtliche Bestimmungen" gemacht hatte.104 Der Vorschlag der GVK zu Art. 23 Abs. 2 GG lautete daher zunächst: „(2) In Angelegenheiten der Europäischen Union wirken der Bundestag und durch den Bundesrat die Länder mit."105
Die damit verbundene Aufgabenerweiterung des Bundesrates sollte durch eine entsprechende Ergänzung des Art. 50 GG zum Ausdruck gebracht werden.106 Die GVK schlug außerdem vor, die vom Bundesrat zur Wahrnehmung
100
Siehe zu der Problematik dieser Lösung unten Kap. 4, Α. II. 2. und III. 3. BVerfGE 1, 299 (315), wo es heißt: „... Als Glieder des Bundes besitzen die Länder, soweit positive verfassungsrechtliche Bestimmungen nicht entgegenstehen, den gleichen Status; sie stehen einzeln und gleichberechtigt nebeneinander; unter ihnen gilt nicht die im Geltungsbereich des demokratischen Prinzips beheimatete Regel, daß die Mehrheit entscheidet, sondern der Grundsatz der Einstimmigkeit, d. h. daß kein Land durch die übrigen Länder überstimmt werden kann." 102 Vgl. die Stellungnahme zur Anhörung der GVK v. 22.5.1992, StenBer, 185. 103 So etwa Bieber, Stellungnahme zur Anhörung der GVK v. 22.5.1992, StenBer, 73; Lerche, Stellungnahme zur Anhörung, StenBer, 113; Randelzhofer, Stellungnahme zur Anhörung, StenBer, 127; Tomuschat, Stellungnahme zur Anhörung, StenBer, 185. 104 Vgl. die Stellungnahme zur Anhörung der GVK v. 22.5.1992, StenBer, 113. 105 Vgl. den Beschluß der GVK vom 26.6.1992. 106 Der Vorschlag der GVK zu Art. 50 lautet: „Durch den Bundesrat wirken die Länder bei der Gesetzgebung und Verwaltung des Bundes und in Angelegenheiten der Europäischen Union mit" (Hervorhebung durch di Verfin). 101
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Kap. 2, Β. Vorgeschichte und Entstehung des neuen Artikels 23 GG
von Mitwirkungsrechten gemäß Art. 2 EEAG eingerichtete Europakammer107 im Grundgesetz zu verankern. Hierzu sollte in Art. 52 GG folgender Abs. 3a eingefügt werden: „Für Angelegenheiten der Europäischen Union kann der Bundesrat eine Europakammer bilden, deren Beschlüsse als Beschlüsse des Bundesrates gelten; Artikel 51 Abs. 2 und 3 Satz 2 gelten entsprechend."
Die Verweisung auf Art. 51 Abs. 2 und 3 GG sollte klarstellen, daß die Beschlüsse der Europakammer, denen das gleiche Gewicht wie Beschlüssen des Bundesrates zukommen sollte, nach denselben Regeln gefaßt und deshalb die Stimmen der Länder in der Kammer in gleicher Weise gewichtet werden müßten wie im Bundesrat selbst.108
(2) Grundsatz der Länderbeteiligung in Artikel 23 Abs. 4 GG Der Vorschlag zu Art. 23 Abs. 4 enthält den Grundsatz, nach dem sich die Mitwirkungsrechte der Länderrichtensollen, nämlich die innerstaatliche Kompetenzaufteilung zwischen Bund und Ländern. Immer dann, wenn eine Materie auf europäischer Ebene geregelt werden soll, die nach der im Grundgesetz festgelegten Kompetenzordnung in den Zuständigkeitsbereich der Länder fiele, müssen diese an der internen Willensbildung des Bundes beteiligt werden. In diesem Grundsatz kommt der von den Ländern vorgebrachte Kompensationsgedanke zum Ausdruck: Verlieren die Länder durch die Verlagerung einer Regelung auf die europäische Ebene eigene Entscheidungs- oder zumindest Mitwirkungsrechte auf Bundesebene, so sollen sie zum Ausgleich für diesen Rechtsverlust Mitwirkungsund Beteiligungsrechte im Rahmen des europäischen Integrationsprozesses erhalten. Nach Ansicht der GVK sollte dadurch verhindert werden, daß es zu einer Gewichtsverschiebung zwischen Bund und Ländern und einer Verringerung der Mitwirkungsrechte des Bundesrates käme.109 Die Kommission schlug folgende Formulierung vor: „Der Bundesrat ist an der Willensbildung des Bundes zu beteiligen, soweit er an einer entsprechenden innerstaatlichen Maßnahme mitzuwirken hätte oder soweit die Länder innerstaatlich zuständig wären."
107 108 109
Siehe dazu im einzelnen unten Kap. 4, Α. II. 2. Vgl. den Bericht der GVK, BT-Drs. 12/6000, 25. Ebenda, 22.
III. Änderungsvorschläge der Gemeinsamen Verfassungskommission
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(3) Differenzierung der Beteiligungsformen in Artikel 23 Abs. 5 GG
Diesem Grundanliegen wird in Art. 23 Abs. 5 durch ein System differenzierter Beteiligungsformen Rechnung getragen. Die Intensität der Einflußnahme der Länder auf die Willensbildung des Bundes richtet sich nach dem Grad ihrer potentiellen Rechtsbeeinträchtigung, d. h. je stärker durch die geplante europäische Regelung in die Kompetenzen der Länder eingegriffen wird, um so mehr Gewicht kommt ihrer Mitwirkung in der Form von Stellungnahmen des Bundesrates zu. Demgemäß orientieren sich die Sachbereiche, in denen die unterschiedlich intensiven Mitwirkungsformen zum Tragen kommen, an der im Grundgesetz festgelegten Verteilung der Gesetzgebungskompetenzen zwischen Bund und Ländern: (1) Im Bereich der Gesetzgebungskompetenzen des Bundes „berücksichtigt" die Bundesregierung die Stellungnahme des Bundesrates. Hierunter fallen zum einen die Sachbereiche, für die der Bund die ausschließliche Gesetzgebungskompetenz inne hat, sofern durch die geplante Regelung Interessen der Länder berührt sind. Zum anderen gilt die erste - schwächere - Mitwirkungsstufe für den Bereich, in dem „ . . . i m übrigen der Bund das Recht zur Gesetzgebung hat". Stellt man dieser Formulierung den ursprünglichen Formulierungsvorschlag der Bundesregierung „soweit im übrigen Gegenstände der Bundesgesetzgebung betroffen sind" gegenüber, so wird die länderfreundliche Tendenz des Kommissionsvorschlages deutlich. Die Formulierung der Bundesregierung sollte den gesamten Bereich der ausschließlichen, der konkurrierenden und der Rahmengesetzgebung abdecken, und zwar unabhängig davon, ob die Voraussetzungen für eine bundeseinheitliche Regelung gemäß Art. 72 Abs. 2 GG vorlägen. Demgegenüber beschränkt die von der Kommission vorgeschlagene Formulierung die schwächere Mitwirkungsform der Länder auf den Bereich, in dem der Bund bereits von seinem Gesetzgebungsrecht Gebrauch gemacht hat oder zumindest wegen des Vorliegens der Voraussetzungen des Art. 72 Abs. 2 GG ein Gesetz erlassen könnte.110 (2) Auf der zweiten, in Art. 23 Abs. 5 S. 2 umschriebenen Mitwirkungsstufe hat die Bundesregierung die Stellungnahme des Bundesrates „maßgeblich zu berücksichtigen", wenn im Schwerpunkt Gesetzgebungsbefugnisse der Länder, die Einrichtung ihrer Behörden oder ihre Verwaltungsverfahren betroffen sind. Ursprünglich hatten die Berichterstatter eine Formulierung vorgeschlagen, der zufolge der Bund die Ansicht der Länder maßgeblich berücksichtigen müsse, wenn im Schwerpunkt „gesetzliche Regelungen" der Länder betroffen seien. In diesem Falle wäre die gesteigerte Mitwirkung der Länder bei EG-Vorhaben aus dem Bereich der konkurrierenden oder der Rahmengesetzgebung nur ausgelöst wor110
Ebenda, 22 f.
170
Kap. 2, Β. Vorgeschichte und Entstehung des neuen Artikels 23 GG
den, wenn die Länder bereits eigene Regelungen erlassen hätten. Demgemäß wäre der Anwendungsbereich der zweiten Mitwirkungsstufe beträchtlich eingeschränkt worden. Auf Wunsch der Ländervertreter entschied sich die Kommission deshalb für die Formulierung „Gesetzgebungsbefugnisse der Länder" mit der Folge, daß die gesteigerte Mitwirkung des Bundesrates alle Sachgebiete der konkurrierenden und der Rahmengesetzgebung umfaßt, in denen der Bund bisher kein Gesetz erlassen hat und mangels Erfüllung der Voraussetzungen des Art. 72 Abs. 2 GG auch nicht tätig werden könnte. Die Mitwirkungsrechte der Länder auf der zweiten Stufe erfahren allerdings insoweit eine Einschränkung, als sie sich nur auf den Teil der geplanten europäischen Regelung beziehen, der im Schwerpunkt ihre Kompetenzen berührt. 111 Die übrigen Teile unterliegen mithin der schwächeren Mitwirkungsform gemäß Art. 23 Abs. 5 S. 1 GG. Nach Auffassung der GVK, die sich der Sonderausschuß des Bundestages „Europäische Union (Vertrag von Maastricht)" im Gesetzgebungsverfahren zu eigen machte112, sollte „berücksichtigt" in Satz 1 bedeuten, daß die Bundesregierung die Argumente der Länder zur Kenntnis nehmen, in ihre Entscheidung einbeziehen und sich mit ihnen auseinander setzen müsse, im Falle einer Meinungsverschiedenheit aber nicht an sie gebunden sei. Mit der Formulierung „maßgeblich zu berücksichtigen" in Satz 2 sollte dagegen ein Letztentscheidungsrecht des Bundesrates zum Ausdruck gebracht werden, d. h. im Konfliktfall sollte letztlich die Auffassung der Länder für die Verhandlungsposition der Bundesregierung in den europäischen Gremien ausschlaggebend sein. Auch in diesem Bereich sei aber die gesamtstaatliche Verantwortung des Bundes insbesondere in außen-, verteidigungs- und integrationspolitisch zu bewertenden Fragen - zu wahren. Dies entspricht dem ungeschriebenen Verfassungsgrundsatz der Bundestreue, dem zufolge Bund und Länder sowohl die jeweiligen Belange der übrigen Beteiligten als auch das Wohl des Gesamtstaates berücksichtigen und in diesem Sinne zusammenwirken müssen113, sowie der gemeinsamen Unterordnung von Bund und Ländern unter die Staatszielbestimmung des Art. 23 Abs. 1. 114 In einer Protokollnotiz legten die Berichterstatter im Hinblick auf den Inhalt des Ausführungsgesetzes zu Art. 23 Abs. 5 fest, daß im Falle divergierender Auffassungen ein Einvernehmen zwischen Bund und Ländern angestrebt und dafür ein Verfahren vorgesehen werden müsse. Komme es trotz111
Ebenda, 23. Beschlußempfehlung und Bericht des Sonderausschusses „Europäische Union (Vertrag von Maastricht)", BT-Drs. 12/3896 v. 1.12.1992, 20. 113 Vgl. statt aller Stern, Staatsrecht I, § 19, 701, und BVerfGE 1, 299 (315). 114 Vgl. den Bericht der GVK, BT-Drs. 12/6000, 23. 112
III. Änderungsvorschläge der Gemeinsamen Verfassungskommission
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dem nicht zu einer einvernehmlichen Lösung, dann sei die Auffassung des Bundesrates maßgebend, wenn sie auf einem mit Zweidrittelmehrheit gefaßten Beschluß beruhe.115 Diese Verständigungspflicht von Bund und Ländern sowie das Letztentscheidungsrecht des Bundesrates sind später in § 5 Abs. 2 des Gesetzes über die Zusammenarbeit von Bund und Ländern in Angelegenheiten der Europäischen Union vom 12. März 1993116 festgeschrieben worden. Für beide Stufen der Länderbeteiligung ist in Art. 23 Abs. 5 S. 3 ein Zustimmungsvorbehalt zugunsten der Bundesregierung vorgesehen, soweit es sich bei dem geplanten EG-Vorhaben um eine finanzwirksame Maßnahme handelt, die zu Ausgabenerhöhungen oder Einnahmeminderungen für den Bund führen kann. Damit wird dem Rechtsgedanken des Art. 113 Abs. 1 GG Rechnung getragen, wonach die Bundesregierung im Bereich des Haushalts eine besondere Verantwortung für eine sachgerechte Haushalts- und Finanzpolitik hat.117 Insofern gilt für diesen Bereich eine Ausnahme vom Letztentscheidungsrecht der Länder. In den Protokollnotizen der Berichterstatter ist allerdings festgehalten worden, daß über eine verstärkte Mitwirkung der Länder an der Willensbildung des Bundes auch in Fragen, die die Einnahmen oder die Haushaltswirtschaft betreffen, im Zusammenhang mit der Neuordnung der Finanzverfassung eine Regelung gefunden werden solle.118 Der Vorschlag der Kommission zu Art. 23 Abs. 5 lautete wie folgt: „Soweit in einem Bereich ausschließlicher Zuständigkeiten des Bundes Interessen der Länder berührt sind oder soweit im übrigen der Bund das Recht zur Gesetzgebung hat, berücksichtigt die Bundesregierung die Stellungnahme des Bundesrates. Wenn im Schwerpunkt Gesetzgebungsbefugnisse der Länder, die Einrichtung ihrer Behörden oder ihre Verwaltungsverfahren betroffen sind, ist bei der Willensbildung des Bundes insoweit die Auffassung des Bundesrates maßgeblich zu berücksichtigen; dabei ist die gesamtstaatliche Verantwortung des Bundes zu wahren. In Angelegenheiten, die zu Ausgabenerhöhungen oder Einnahmeminderungen für den Bund führen können, ist die Zustimmung der Bundesregierung erforderlich."
115
Vgl. die Protokollnotizen zum Komplex „Grundgesetz und Europa" mit der Überschrift „Vereinbarte Elemente für ein Ausführungsgesetz zu Artikel 23 Abs. 3-5", Arbeitsunterlage Nr. 63. 116 BGBl. 1993 I, 313; siehe zur Auslegung dieser Bestimmung ausführlich unten Kap. 4, Α. II. 1. d) bb). 117 Vgl. den Bericht der GVK, BT-Drs. 12/6000, 23. 118 Protokollnotizen zum Komplex „Grundgesetz und Europa", Nr. 6, Arbeitsunterlage Nr. 63.
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(4) Wahrnehmung mitgliedstaatlicher Rechte in Artikel 23 Abs. 6 GG Der Vorschlag zu Art. 23 Abs. 6 GG enthält - auf der dritten Stufe - die Regelung der Länderbeteiligung an der Wahrnehmung der deutschen Mitgliedschaftsrechte in den Organen der EG/EU. Sind bei der geplanten Maßnahme auf europäischer Ebene im Schwerpunkt ausschließliche Gesetzgebungsbefugnisse der Länder betroffen, so soll die Bundesregierung die Wahrnehmung deutscher Mitgliedschaftsrechte einem vom Bundesrat zu benennenden Ländervertreter überlassen. Mit der im Grundgesetz bisher nicht verwendeten Formulierung „ausschließliche Gesetzgebungsbefugnisse der Länder" sind die Bereiche gemeint, für die das Grundgesetz keinen ausdrücklichen Titel zugunsten der Gesetzgebungskompetenz des Bundes aufweist. 119 Darunter fallen alle Sachbereiche, die weder der ausschließlichen noch der konkurrierenden oder der Rahmengesetzgebungskompetenz des Bundes zugewiesen sind, wobei es nicht auf die Frage ankommt, ob der Bund im Einzelfall gemäß Art. 72 Abs. 2 GG von seiner Kompetenz Gebrauch machen könnte. Insofern ist dieser Bereich enger gefaßt als der in Art. 23 Abs. 5 S. 2 umschriebene. Parallel zu den Diskussionen in der GVK hatten die Länder die Bundesregierung gebeten, ihre Forderung nach der eigenständigen Wahrnehmung mitgliedstaatlicher Rechte durch einen Ländervertreter in die Verhandlungen zum Maastrichter Vertrag einzubringen. Diese weigerte sich zunächst unter Hinweis auf die Außenvertretungskompetenz des Bundes.120 Auch nachdem die Mitgliedstaaten auf Vorschlag Belgiens eine Änderung des Art. 146 E(W)GV (Art. 203 EGV n. F.) beschlossen hatten, die eine unmittelbare Wahrnehmung mitgliedstaatlicher Rechte im Rat durch ein Mitglied einer Landesregierung ermöglichte,121 blieb die Bundesregierung bei ihrer ablehnenden Haltung. Sie wandte sich insbesondere gegen die von den Ländern anfangs geforderte „Übertragungsautomatik". Diese hatten nämlich verlangt, daß die Regierung die Wahrnehmung mitgliedstaatlicher Rechte ausnahmslos immer dann auf einen Ländervertreter übertragen müsse, wenn eine geplante Gemeinschaftsmaßnahme im Schwerpunkt ausschließliche Gesetzgebungsmaterien der Länder betraf.
119
Vgl. den Bericht der GVK, BT-Drs. 12/6000, 24. Vgl. Borchmann, Michael, Doppelter Föderalismus in Europa, Die Forderungen der deutschen Länder zur Politischen Union, EA 1991, 340-348 (344). 121 Art. 146 Abs. 1 EGV (Art. 203 EGV n. F.) lautet nunmehr: „Der Rat besteht aus je einem Vertreter jedes Mitgliedstaats auf Ministerebene, der befugt ist, für die Regierung des Mitgliedstaats verbindlich zu handeln." 120
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Bei der von der Kommission durchgeführten Sachverständigenanhörung wurde die Forderung der Länder dagegen überwiegend positiv bewertet. Lerche, Randelzhofer und Tomuschat wiesen darauf hin, daß das Außenvertretungsmonopol des Bundes nicht zu dem durch Art. 79 Abs. 3 GG geschützten Kernbereich der Bundesstaatlichkeit gehöre, eine Wahrnehmung mitgliedstaatlicher Rechte durch die Länder also - nach einer entsprechenden Verfassungsänderung - grundsätzlich zulässig sei.122 Isensee hielt das Anliegen der Länder demgegenüber für sehr problematisch und vertrat die Auffassung, daß die Bundesregierung um der Erhaltung ihrer Handlungs- und Politikfähigkeit willen auf europäischer Ebene ihr Außenvertretungsmonopol behalten müsse.123 Erst nach langwierigen Diskussionen zwischen den Abgeordneten des Bundestages und Vertretern der Bundesregierung einerseits sowie den Ländervertretern andererseits konnte in der GVK ein Kompromiß erreicht werden.124 Demzufolge ist die Wahrnehmung mitgliedstaatlicher Rechte durch einen Landesminister als „Soll"-Bestimmung ausgestaltet worden. Dabei waren sich Kommission und Bundesregierung darin einig, daß das „soll" im Regelfall als „muß" zu verstehen ist. Allerdings bleibt Raum für begründete Ausnahmen, etwa dann, wenn die Ausübung der Mitgliedschaftsrechte durch einen Ländervertreter gegen die Verpflichtung der Bundesrepublik Deutschland zu gemeinschaftsrechtskonformem Verhalten verstieße.125 Zudem muß die Wahrnehmung der Rechte „unter Beteiligung und in Abstimmung mit der Bundesregierung" erfolgen, wobei - wie in Art. 23 Abs. 5 S. 2 - die gesamtstaatliche Verantwortung des Bundes zu wahren ist. Auch hier wird also das Prinzip des bundesfreundlichen Verhaltens als Korrektiv herangezogen. In einer Protokollnotiz zu den Eckwerten für ein Ausführungsgesetz hielten die Berichterstatter fest, daß unter „Beteiligung" der Bundesregierung die „Teilnahme von Vertretern der Bundesregierung und der Ständigen Vertretung an allen Sitzungen und förmlichen Außenkontakten" zu verstehen sei. Zu der Formulierung „Abstimmung" mit der Bundesregierung erläuterten sie in sibyllinischen Worten,
122 Vgl. Lerche, Stellungnahme zur Anhörung der GVK v. 22.5.1992, StenBer, 112 f., Randelzhofer, Stellungnahme zur Anhörung, StenBer, 129 f., und Tomuschat, Stellungnahme zur Anhörung, StenBer, 187 f. 123 Vgl. die mündlichen Ausführungen Isensees in der Anhörung der GVK v. 22.5.1992, StenBer, 10. 124 Vgl. dazu ausführlich Schmalenbach (Fn. 62), 134 ff. 125 Vgl. den Bericht der GVK, BT-Drs. 12/6000,24, und den Gesetzentwurf der Bundesregierung zur Änderung des Grundgesetzes vom 14.8.1992, BR-Drs. 501/92, 23, wo diese allerdings eine Ausnahme auch „aus Gründen administrativer und politischer Opportunität" für zulässig hält.
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Kap. 2, Β. Vorgeschichte und Entstehung des neuen Artikels 23 GG
daß diese „weniger als Einvernehmen und mehr als Benehmen" bedeute.126 Außerdem stellten sie klar, daß sich die laufende Meinungsbildung von Bundesregierung und Bundesrat während der Verhandlungen in den EG-Gremien nach den Bestimmungen des Art. 23 Abs. 5richtenmüsse.127 Damit sollte eine kontinuierliche Einbeziehung der Bundesregierung in den Verhandlungsprozeß sichergestellt werden. Der Vorschlag der Kommission zu Art. 23 Abs. 6 lautete wie folgt: „Wenn im Schwerpunkt ausschließliche Gesetzgebungsbefugnisse der Länder betroffen sind, soll die Wahrnehmung der Rechte, die der Bundesrepublik Deutschland als Mitgliedstaat der Europäischen Union zustehen, vom Bund auf einen vom Bundesrat benannten Vertreter der Länder übertragen werden. Die Wahrnehmung der Rechte erfolgt unter Beteiligung und in Abstimmung mit der Bundesregierung; dabei ist die gesamtstaatliche Verantwortung des Bundes zu wahren."
cc) Mitwirkungs-
und Beteiligungsrechte des Bundestages
In der Kommission war zunächst umstritten, ob es erforderlich sei, die Mitwirkungs· und Beteiligungsrechte des Bundestages in europäischen Angelegenheiten ausdrücklich im neuen Europaartikel festzuschreiben. Während einige Kommissionsmitglieder der Meinung waren, daß auch die Informations- und Mitwirkungsrechte des Bundestages verstärkt und im Grundgesetz verankert werden müßten,128 hielten insbesondere die Vertreter aus den Ländern die kurze Erwähnung der Beteiligung des Bundestages in Art. 23 Abs. 2 GG sowie eine nähere Ausgestaltung seiner Rechte in einem Ausführungsgesetz für ausreichend.129 Auch die meisten Sachverständigen erachteten eine Verstärkung und verfassungsrechtliche Verankerung der Mitwirkungsrechte des Bundestages unter Hinweis auf die ohnehin in einer parlamentarischen Demokratie vorhandenen Kontrollrechte des Parlaments gegenüber der von seinem Vertrauen abhängigen Regierung für unnötig.130 Demzufolge enthielt der in der 8. Sitzung am 26. Juni 1992 mit 126
Siehe zu den Schwierigkeiten bei der Auslegung dieser Formulierung unten Kap. 4, Α. II. 3. a). 127 Protokollnotizen zum Komplex „Grundgesetz und Europa" mit der Überschrift „Vereinbarte Elemente für ein Ausführungsgesetz zu Art. 23 Abs. 3-5", Arbeitsunterlage Nr. 63. 128 Vgl ζ. B. die Äußerungen der Abgeordneten Möller (CDU) auf der 7. Stzg. v. 4.6.1992, StenBer, 3, und Hirsch (FDP) auf der 8. Stzg. v. 26.6.1992, StenBer, 20 f. 129 Vgl. den Bericht der GVK, BT-Drs. 12/6000, 22. 130 Vgl. ζ. B. Bieber, Stellungnahme zur Anhörung der GVK v. 22.5.1992, StenBer, 75; Lerche, Stellungnahme zur Anhörung, StenBer, 114; Tomuschat, Stellungnahme zur Anhörung, StenBer, 186; a. A. Randelzhofer, Stellungnahme zur Anhörung, StenBer, 128, nach dessen Auffassung „die Mitwirkungsrechte des Bundestages zur Wahrung des Demo-
III. Änderungsvorschläge der Gemeinsamen Verfassungskommission
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einer Gegenstimme bei zwei Enthaltungen verabschiedete Vorschlag der Kommission noch keine Regelung zu den Mitwirkungsrechten des Bundestages.131 Schon in der 9. Sitzung vom 9. Juli 1992, in der sich die Kommission mit dem Thema „Parlamentsrecht" befaßte, zeichnete sich allerdings ein Meinungsumschwung ab. Der Berichterstatter der CDU/CSU, Dr. Möller, schlug vor, Art. 23 in der Fassung des Beschlusses vom 26. Juni 1992 um folgenden Absatz zu ergänzen: „Die Bundesregierung hat den Bundestag regelmäßig, umfassend und zum frühestmöglichen Zeitpunkt über ihre Vorschläge und Beiträge sowie das von ihr beabsichtigte Abstimmungsverhalten in den Organen der Europäischen Gemeinschaft zu unterrichten und ihm alle diesbezüglichen Dokumente, Berichte und Mitteilungen zugänglich zu machen. Die Bundesregierung gibt vor ihrer Zustimmung bei Beschlüssen der Europäischen Gemeinschaft, durch die innerdeutsche Gesetze erforderlich werden oder durch die in der Bundesrepublik Deutschland unmittelbar geltendes Recht geschaffen wird, dem Bundestag Gelegenheit zur Stellungnahme binnen angemessener Frist. Die Bundesregierung berücksichtigt diese Stellungnahme bei den Verhandlungen; sie weicht hiervon nur aus unabweisbaren außen- und integrationspolitischen Gründen ab."132
Dieser Vorschlag orientierte sich an den gemäß Art. 2 EEAG bestehenden Mitwirkungsrechten des Bundesrates133 sowie den Vorschlägen der Bundestagspräsidentin zur Sicherung der Mitwirkungsrechte des Bundestages. Zur angemessenen Wahrnehmung seines Informations- und Mitwirkungsrechts sollte der Bundestag einen - der Europakammer des Bundesrates vergleichbaren - „Unionsausschuß" einrichten. Dieser sollte - anders als die übrigen Fachausschüsse und der bereits bestehende EG-Ausschuß - den Bundestag als Ganzen gegenüber der Bundesregierung vertreten, von sich aus dem Plenum bestimmte Beschlüsse vorschlagen können und die Arbeit der Fachausschüsse unterstützen und koordinieren. Er sollte wie die Ausschüsse für Auswärtiges und für Verteidigung sowie der Petitionsausschuß in dem durch die Aufhebung des „Interims-Ausschusses" freigewordenen Art. 45 GG verfassungsrechtlich verankert werden.134 Diese Forderungen wurden in der ersten Lesung des Zustimmungsgesetzes und des Gesetzes zur Änderung des Grundgesetzes von allen Bundestagsfraktionen aufgegriffen und mit der Begründung unterstützt, daß es - jedenfalls solange es auf europäischer Ebene noch ein Demokratiedefizit gebe - notwendig sei, auf nationaler Ebene im Vorfeld der Entscheidungen zu Rechtsetzungsakten der Europäischen kratieprinzips jedenfalls solange erweitert werden [sollten], wie echte Gesetzgebungsbefugnisse des Europäischen Parlaments noch nicht bestehen". 131 Vgl. Kommissionsdrucksache Nr. 7 (neu), abgedruckt in: BT-Drs. 12/6000,140. 132 Bericht zu TOP 1 der 9. Stzg. der Verfassungskommission v. 9.7.1992, Arbeitsunterlage Nr. 67. 133 Siehe dazu oben Kap. 1, D. III. 3. 134 Bericht zu TOP 1 der 9. Stzg. der GVK am 9.7.1992, Arbeitsunterlage Nr. 67, 2 f.
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Kap. 2, Β. Vorgeschichte und Entstehung des neuen Artikels 23 GG
Gemeinschaft mitzuwirken.135 Daraufhin befaßte sich die Kommission auf ihrer 11. Sitzung vom 15. Oktober 1992 nochmals mit Art. 23 GG und beschloß einstimmig, den Europaartikel um einen Absatz 3 zu ergänzen, dem zufolge die Bundesregierung dem Bundestag vor ihrer Mitwirkung an Rechtsetzungsakten der Europäischen Union Gelegenheit zur Stellungnahme geben und diese bei den Verhandlungen „berücksichtigen" muß. Unter „berücksichtigen" ist - wie bei der Formulierung in Art. 23 Abs. 5 S. 1 - zu verstehen, daß die Bundesregierung die Argumente des Bundestages zur Kenntnis nehmen, sich mit ihnen auseinander setzen und sie in ihre Entscheidung einbeziehen muß. Sie ist jedoch in letzter Konsequenz nicht an die Stellungnahme des Bundestages gebunden.136 Ein weitergehender Antrag der SPD-Abgeordneten, wonach die Regierung die Stellungnahme des Bundestages ihren Verhandlungen „zugrunde legen" sollte137, ist mit dem Argument abgelehnt worden, daß zur Wahrung des Gleichgewichts zwischen den Rechten von Bundestag und Bundesrat an einem einheitlichen Sprachgebrauch in Art. 23 Abs. 3 und 5 festgehalten werden solle. Allerdings fand die Formulierung „zugrunde legen" Eingang in die Eckwerte für ein Ausführungsgesetz138, was im späteren Gesetzgebungsverfahren zu Konflikten führte. 139 Im Hinblick auf eine rechtzeitige Informations weitergabe durch die Bundesregierung war die Kommission der Auffassung, daß aus Gründen der Balance Bundestag und Bundesrat die gleichen Rechte zukommen müßten. Eine diesbezügliche, von den SPD-Abgeordneten beantragte Ergänzung des Art. 23 Abs. 2 1 4 0 wurde einstimmig angenommen. Die Kommission schlug mithin folgende Ergänzung des Art. 23 Abs. 2 „Die Bundesregierung hat den Bundestag und den Bundesrat umfassend und zum frühestmöglichen Zeitpunkt zu unterrichten."
und die Einfügung eines Art. 23 Abs. 3 „Die Bundesregierung gibt dem Bundestag Gelegenheit zur Stellungnahme vor ihrer Mitwirkung an Rechtsetzungsakten der Europäischen Union. Die Bundesregierung berücksichtigt die Stellungnahmen des Bundestages bei den Verhandlungen. Das Nähere regelt ein Gesetz." 135
1. Lesung, PIPr 12/110 v. 8.10.1992, 9316 A-9394 Α. Vgl. den Bericht der GVK, BT-Drs. 12/6000, 22. 137 Kommissionsdrucksache Nr. 17, abgedruckt in: BT-Drs. 12/6000,142; vgl. dazu die Ausführungen des Abgeordneten Verheugen (SPD) auf der 11. Stzg. v. 15.10.1992, StenBer, 3 f. 138 Vgl. Arbeitsunterlage Nr. 86: Eckwerte der Berichterstatter für ein Ausführungsgesetz zu Artikel 23 Abs. 3 GG. 139 Siehe zu den damit verbundenen Auslegungsschwierigkeiten unten Kap. 4, Β. I. 2. 140 Kommissionsdrucksache Nr. 18, abgedruckt in: BT-Drs. 12/6000,143. 136
III. Änderungsvorschläge der Gemeinsamen Verfassungskommission
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vor. Zur Absicherung der Informations- und Mitwirkungsrechte des Bundestages entschloß sich die Kommission - dem Vorschlag des Abgeordneten Dr. Möller (CDU/CSU) folgend - außerdem, in dem freigewordenen Art. 45 GG einen besonderen „Ausschuß für die Angelegenheiten der Europäischen Union" verfassungsrechtlich zu verankern, um so die besondere Bedeutung dieses neuen Ausschusses für den künftigen europäischen Integrationsprozeß deutlich herauszustellen. Dem Bundestag wird im Interesse einer schnellen und wirksamen Mitwirkung an den Entscheidungsverfahren in den EG-Gremien die Möglichkeit eröffnet, den „Unionsausschuß" widerruflich zu ermächtigen, die Rechte des Plenums wahrzunehmen und sich mit Wirkung für den Bundestag gegenüber den übrigen Bundesorganen zu äußern.141 Der Vorschlag der Kommission zu einer Institutionalisierung der Mitwirkung des Bundestages an der internen Willensbildung der Bundesregierung lautete wie folgt: „Der Bundestag bestellt einen Ausschuß für die Angelegenheiten der Europäischen Union. Er kann ihn ermächtigen, die Rechte des Bundestages gemäß Artikel 23 gegenüber der Bundesregierung wahrzunehmen."
dd) Ausführungsgesetz zu Artikel 23 Abs. 4 bis 6 GG In der Kommission war man sich einig, daß die Einzelheiten der in Art. 23 Abs. 4 bis 6 vorgesehenen Zusammenarbeit zwischen der Bundesregierung und den Ländern in einem zustimmungspflichtigen Ausführungsgesetz geregelt werden sollten. Um die diesbezüglichen Forderungen der Länder abzusichern, legten die Berichterstatter den wesentlichen Inhalt des künftigen Gesetzes bereits in einem Arbeitspapier fest, das von der Kommission gebilligt wurde. Zu den wichtigsten Punkten zählt die Verpflichtung der Bundesregierung, auf Verlangen der Länder gegen eine europäische Regelung Klage vor dem EuGH zu erheben, wenn diese durch eine solche Maßnahme in einem Bereich ihrer ausschließlichen Gesetzgebungsbefugnisse betroffen sind. Zunächst hatten die Länder - wie dem Beschluß der Regierungschefs vom 7. Juni 1990 und der gleichlautenden Entschließung des Bundesrates vom 24. August 1990 zu entnehmen ist 142 - eine Änderung des EWG-Vertrages angestrebt, die es den Ländern, Regionen oder autonomen Gemeinschaften eines Mitgliedstaates ermöglichen sollte, im Falle eines Eingriffes in eigene Rechte eigenständig Klage vor dem EuGH zu erheben. Nachdem 141
Vgl. den Bericht der GVK, BT-Drs. 12/6000, 24; siehe dazu unten Kap. 4, Β. I. 4. Abgedruckt in: Bauer, Joachim (Hrsg.), Europa der Regionen, Aktuelle Dokumente zur Rolle und Zukunft der deutschen Länder im europäischen Integrationsprozeß, Berlin 1991, Dok. 5 und 6, Ziff. 4, 94 und 96. 142
12 König
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Kap. 2, Β. Vorgeschichte und Entstehung des neuen Artikels 23 GG
diese Forderung auf die Ablehnung der Bundesregierung gestoßen und auf europäischer Ebene nicht konsensfähig war, verfolgten die Länder nunmehr das Ziel, ihr Anliegen im innerstaatlichen Bereich mittels einer entsprechenden Inpflichtnahme der Regierung durchzusetzen. Außerdem war den Ländern sehr daran gelegen, die von ihnen errichteten Länderbüros in Brüssel verfassungsrechtlich abzusichern.143 Da die Bundesregierung inzwischen keine Einwände mehr gegen die Länderbüros erhob und es den Ländern überdies gelungen war, eine Verstärkung und detaillierte Festschreibung ihrer Mitwirkungs- und Beteiligungsrechte im Kommissionsvorschlag zu Art. 23 GG zu erreichen, waren sie bereit, auf eine grundgesetzliche Verankerung dieser Büros zu verzichten und sich mit einer einfachgesetzlichen Regelung zu begnügen. Einigkeit herrschte darüber, daß die Länderbüros keinen diplomatischen Status erhalten und die Ständige Vertretung der Bundesrepublik Deutschland in Brüssel ihre Aufgaben auch in den Fällen uneingeschränkt erfüllen sollte, in denen ein Ländervertreter gemäß Art. 23 Abs. 6 GG mitgliedstaatliche Rechte im Rat wahrnahm.144
b) Die Übertragung von Hoheitsrechten durch die Länder Einfügung eines Artikels 24 Abs. la GG Nach nahezu einhelliger Auffassung in der Literatur 145 war es den Ländern nicht möglich, selbst Hoheitsrechte auf zwischenstaatliche oder grenznachbarschaftliche Einrichtungen zu übertragen. Seit Jahrzehnten hatte sich jedoch insbesondere zwischen grenznahen Kommunen eine enge grenzüberschreitende Kooperation entwickelt, um bestimmte Aufgaben wie etwa die Abfallbeseitigung, die Energieversorgung oder den öffentlichen Nahverkehr gemeinsam zu erfüllen. Um diese lokale Zusammenarbeit öffentlich-rechtlicher Körperschaften über die Staatsgrenzen hinweg rechtlich abzusichern, schlossen einige Länder mit benachbarten Regionen völkerrechtliche Dachverträge ab. Dabei zeigte sich in der Praxis das Bedürfnis für die Schaffung dauerhafter und fachübergreifender Verwaltungseinrichtungen mit der Möglichkeit, unmittelbar anwendbare Rechtsvorschriften zu erlassen und zu ihrer Durchsetzung hoheitliche Maßnahmen mit Durchgriffseffekt 143
Siehe dazu oben Kap. 2, Β. II. 2. a). Vgl. Arbeitsunterlage Nr. 63, „Vereinbarte Elemente für ein Ausfuhrungsgesetz zu Artikel 23 Abs. 3-5", sowie den Bericht der GVK, BT-Drs. 12/6000, 24. 145 Vgl. dazu ausführlich Beyerlin, Ulrich, Rechtsprobleme der lokalen grenzüberschreitenden Zusammenarbeit, Berlin u. a. 1988, 239 ff. (252 f.) m. w. N.; ders., Dezentrale grenzüberschreitende Zusammenarbeit als transnationales Rechtsphänomen, AVR 27 (1989), 286-327 (308 ff.). Siehe auch oben Kap. 1, C. I., insb. Fn. 230. 144
III. Änderungsvorschläge der Gemeinsamen Verfassungskommission179
vorzunehmen.146 Deshalb forderten die Länder, ihnen im Grundgesetz die Möglichkeit der Hoheitsrechtsübertragung zumindest in den Bereichen einzuräumen, in denen sie für die Gesetzgebung zuständig waren. Diese Forderung fand ihren Ausdruck in dem Vorschlag der Bundesratskommission Verfassungsreform zu einem neuen Art. 24 Abs. 4 GG.147 In der Begründung hierzu hatte die Kommission deutlich gemacht, daß es ihr ausschließlich um die Errichtung gemeinsamer regionaler Einrichtungen ging.148 Um insoweit jegliches MißVerständnis auszuschließen, wurde die von der Bundesratskommission vorgeschlagene Formulierung „auf zwischenstaatliche oder interregionale Einrichtungen" von der GVK in „grenznachbarschaftliche Einrichtungen" umgeändert. Damit wird klargestellt, daß es den Ländern auch weiterhin verwehrt ist, neben dem Bund eigene Hoheitsrechte auf zwischenstaatliche Einrichtungen im Sinne des Art. 24 Abs. 1 GG oder auf die Europäische Union zu übertragen. Um deutlich zu machen, daß es bei den Befugnissen, die solchen grenznachbarschaftlichen Institutionen eingeräumt werden sollen, nicht um Gesetzgebungsbefugnisse, sondern um den Erlaß untergesetzlicher Vorschriften im Verwaltungsbereich geht, ersetzte die GVK zudem den Formulierungsvorschlag der Bundesratskommission „Soweit die Länder für die Gesetzgebung zuständig sind,..." durch „Soweit die Länder für die Ausübung der staatlichen Befugnisse und die Erfüllung der staatlichen Aufgaben zuständig sind,...". Mit dieser Ergänzung des Grundgesetzes sollte die seit etwa zwei Jahrzehnten bestehende lokale grenzüberschreitende Zusammenarbeit149 verfassungs146
Bericht der GVK, BT-Drs. 12/6000, 25. Siehe dazu oben Kap. 2, B. II. 2. a). 148 BR-Drs. 360/92, 5. 149 Eine detaillierte Bestandsaufnahme der Praxis in Westeuropa findet sich bei Bey erlin, Ulrich, Grenzüberschreitende Zusammenarbeit benachbarter Gemeinden und auswärtige Gewalt, in: Dittmann, Arnim/Kilian, Michael (Hrsg.), Kompetenzprobleme der auswärtigen Gewalt - Referate auf der 22. Tagung der wissenschaftlichen Mitarbeiter der Fachrichtung „Öffentliches Recht" in Tübingen vom 22. bis 26. Februar 1982, Tübingen 1982,109-137; ders., Rechtsprobleme (Fn. 145), 47 ff.; vgl. zu den verschiedenen grenzüberschreitenden Die normative Formen der Zusammenarbeit in der Alpenregion auch Lang, Winfried, Qualität grenzüberschreitender Regionen - Zum Begriff der „soft institution", AVR 27 (1989), 253-285 (264 ff.). Im Rahmen des Europarates ist 1982 eine „Forschungs- und Informationsstelle für grenzüberschreitende Zusammenarbeit" eingerichtet worden, die alle erreichbaren Dokumente sammelt und interessierten Kreisen zugänglich macht. Vgl. zur neueren Entwicklung nach Einfügung des Art. 24 Abs. la GG Beyerlin, Ulrich, Zur Übertragung von Hoheitsrechten im Kontext dezentraler grenzüberschreitender Zusammenarbeit, ZaöRV 1994, 587-613 (590 ff.); Groß, Bernd/Schmitt-Egner, Peter, Europas kooperierende Regionen: Rahmenbedingungen und Praxis transnationaler Zusammenarbeit deutscher Grenzregionen in Europa, Baden-Baden 1994, insb. 41 ff.; Schwarze, Jürgen, Die Übertragung von Hoheitsrechten auf grenznachbarschaftliche Einrichtungen i. S. d. Art. 24 I a GG, in: Klein, Eckart u. a. (Hrsg.), Grundrechte, soziale Ordnung und Verfas147
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Kap. 2, Β. Vorgeschichte und Entstehung des neuen Artikels 23 GG
rechtlich abgesichert und eine Ermächtigungsgrundlage für deren effektive Ausgestaltung in der Zukunft geschaffen werden. Zugleich führt die neue Ermächtigung der Länder in diesem Bereich zu einer Entlastung der Bundesregierung und des Bundesgesetzgebers, die nach der bisher bestehenden Rechtslage völkerrechtliche Dachverträge mit den betroffenen Nachbarstaaten hätten schließen und eine entsprechende bundesgesetzliche Grundlage schaffen müssen.150 Um dem Bund im Falle einer Hoheitsrechtsübertragung durch die Länder eine Kontrollmöglichkeit zur Wahrung der gesamtstaatlichen Belange einzuräumen, ist die Wirksamkeit solcher Vereinbarungen an die Zustimmung der Bundesregierung gebunden. Der Formulierungsvorschlag der GVK lautete: „Soweit die Länder für die Ausübung der staatlichen Befugnisse und die Erfüllung der staatlichen Aufgaben zuständig sind, können sie mit Zustimmung der Bundesregierung Hoheitsrechte auf grenznachbarschaftliche Einrichtungen übertragen."
c) Vorschlag einer Änderung des Artikels 32 GG Das Land Nordrhein-Westfalen brachte den von der Kommission Verfassungsreform des Bundesrates verabschiedeten Änderungsvorschlag zu Art. 32 GG 151 in die Verhandlungen der GVK ein. Zur Begründung bezogen sich die Vertreter Nordrhein-Westfalens auf die im Bericht der Bundesratskommission angeführten Erwägungen.152 Gegen diesen Vorschlag wandten sich insbesondere einige Mitglieder des Bundestages in der GVK. Sie waren in Übereinstimmung mit der Bundesregierung der Auffassung, daß der Vorschlag der Länder die Wahrnehmung der auswärtigen Gewalt durch den Bund beeinträchtige. Anders als bei den Angelegenheiten der Europäischen Union könnten die Länder im Bereich der auswärtigen Gewalt keine Kompetenzeinbußen geltend machen, für die ihnen eine Kompensation in Form von erweiterten Mitwirkungsrechten zustünde.153 Im Ergebnis erhielt der Vorschlag nicht die notwendige Zweidrittelmehrheit in der Kommission.154
sungsgerichtsbarkeit, Festschrift für Ernst Benda zum 70. Geburtstag, Heidelberg 1995, 311-335; Heberlein, Horst, Grenznachbarschaftliche Zusammenarbeit auf kommunaler Basis, DÖV 1996,100-109 (103 ff.), jeweils m. w. N. 150 So Beyerlin, Rechtsprobleme (Fn. 145), 253. 151 Kommissionsdrucksache Nr. 15, abgedruckt in: BT-Drs. 12/6000,142. 132 Siehe dazu oben Kap. 2, Β. II. 2. b). 153 Vgl. den Bericht der GVK, BT-Drs. 12/2000, 27. 154 Vgl. zum Abstimmungsergebnis den StenBer der 11. Stzg. v. 15.10.1992, 8.
III. Änderungsvorschläge der Gemeinsamen Verfassungskommission
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d) Weitere Änderungsvorschläge In der Kommission bestand - in Übereinstimmung mit nahezu allen Sachverständigen - Einigkeit darüber, daß die Ratifizierung des Maastrichter Vertrages zuvor eine Änderung des Art. 28 Abs. 1 GG und des Art. 88 GG erfordere. Diese Änderungen erschienen notwendig, um die verfassungsrechtlichen Voraussetzungen für das in Art. 8b Abs. 1 EGV (Art. 19 Abs. 1 EGV n. F.) vorgesehene Kommunalwahlrecht für Unionsbürger und für die Übernahme von Kompetenzen der Bundesbank durch die mit Beginn der dritten Stufe der Währungsunion zu errichtende Europäische Zentralbank zu schaffen. Eine Änderung des Art. 28 Abs. 1 GG war erforderlich, weil das Bundesverfassungsgericht im Jahre 1990 die Einführung eines Kommunalwahlrechts für Ausländer in Hamburg und Schleswig-Holstein wegen Verstoßes gegen Art. 28 Abs. 1 S.2 GG für verfassungswidrig erklärt hatte. In einem obiter dictum hatte es allerdings angedeutet, daß die Einführung eines Kommunalwahlrechts für EG-Bürger Gegenstand einer gemäß Art. 79 Abs. 3 GG zulässigen Verfassungsänderung sein könne.155 In der GVK kam es mit Blick auf die Entscheidung des Gerichts zu Meinungsverschiedenheiten darüber, ob man das Kommunalwahlrecht allen dauerhaft in der Bundesrepublik wohnenden Ausländern einräumen solle.156 Wegen des anstehenden Ratifizierungsverfahrens einigte man sich aber darauf, die Änderung zunächst nur auf Unionsbürger zu erstrecken. Der weitergehende Antrag der SPD-Mitglieder verfehlte später die Zweidrittelmehrheit. Was die Änderung des Art. 88 GG betraf, so brachten die sozialdemokratischen Mitglieder der GVK bei der Abstimmung einen Vorbehalt an, dem zufolge vor dem Übergang zur dritten Stufe der Währungsunion eine erneute Bewertung und Entscheidung durch Bundestag und Bundesrat erforderlich sei. Bayern Schloß sich dieser Erklärung an.157 Die GVK schlug vor, Art. 28 Abs. 1 GG folgenden Satz 4 anzufügen: „Bei Wahlen in Kreisen und Gemeinden sind auch Personen, die die Staatsangehörigkeit eines Mitgliedstaates der Europäischen Gemeinschaft besitzen, nach Maßgabe von Recht der Europäischen Gemeinschaft wahlberechtigt und wählbar."
Art. 88 GG sollte folgender Satz 2 hinzugefügt werden: „Ihre Aufgaben und Befugnisse [gemeint ist die Bundesbank] können einer europäischen Zentralbank übertragen werden."
155
BVerfGE 83, 37 (59), und 60. Ein entsprechender Antrag wurde von den SPD-Mitgliedern der GVK gestellt, vgl. Kommissionsdrucksache Nr. 65, abgedruckt in: BT-Drs. 12/6000,154. 157 Vgl. zu den Änderungen von Art. 28 Abs. 1 und 88 GG im einzelnen den Bericht der GVK, BT-Drs. 12/6000, 25 ff. 156
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Kap. 2, Β. Vorgeschichte und Entstehung des neuen Artikels 23 GG
IV. Veränderungen der Kommissionsvorschläge im Gesetzgebungsverfahren Am 2. Oktober 1992 legte die Bundesregierung den Entwurf eines Gesetzes zur Änderung des Grundgesetzes158 vor, der wortwörtlich den Empfehlungen der Gemeinsamen Verfassungskommission zum Themenkomplex „Grundgesetz und Europa" vom 26. Juni 1992 entsprach, also noch nicht den ergänzenden Satz 2 in Art. 23 Abs. 2 bezüglich einer umfassenden Informationspflicht der Bundesregierung und den später eingefügten Absatz 3 zur Mitwirkung des Bundestages enthielt. Dieser Entwurf wurde - zusammen mit den Entwürfen zu den Ausführungsgesetzen - im federführenden Sonderausschuß des Bundestages „Europäische Union (Vertrag von Maastricht)" eingehend beraten.159 Dort wurde der Entwurf zunächst mit der endgültigen Empfehlung der GVK vom 15. Oktober 1992 in Einklang gebracht und darüber hinaus an zwei Stellen verändert.
1. Der Entwurf des Gesetzes zur Änderung des Grundgesetzes Zunächst befaßte sich der Sonderausschuß intensiv mit dem Verhältnis des Satzes 2 zu Satz 3 in Art. 23 Abs. 1 GG. Die Bundesregierung hatte in ihrer Begründung zum Gesetzentwurf ausgeführt, daß eine Hoheitsrechtsübertragung nach Satz 2, also mit einfacher Mehrheit in Bundestag und Bundesrat, möglich sei, „wenn Änderungen des Unionsvertrages zu ratifizieren sind, die von ihrem Gewicht her der Gründung der Europäischen Union nicht vergleichbar sind und insoweit nicht die »Geschäftsgrundlage* dieses Vertrages betreffen". 160 Dem hatte der Bundesrat in seiner Stellungnahme unter Hinweis darauf, daß nach der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts jede Hoheitsrechtsübertragung wegen des darin liegenden Eingriffs in die grundgesetzliche Zuständigkeitsordnung eine materielle Verfassungsänderung bewirke,161 widersprochen und erklärt, daß „der neue Artikel 23 Abs. 1 GG vor diesem Hintergrund nur so verstanden werden [könne], daß die in Satz 3 (i. V. m. Artikel 79 Abs. 2 GG) vorgesehenen verfas158
BT-Drs. 12/3338 v. 2.10.1992. Vgl. zum Gesetzgebungsverfahren Fischer, Wolfgang, Die Europäische Union im Grundgesetz, ZParl 1993,32-49; Wieczorek-Zeul, Heidemarie, Der Vertrag von Maastricht im Deutschen Bundestag, EA 1993, 405-412; Hölscheidt, Sven/Schotten, Thomas, Von Maastricht nach Karlsruhe - Der lange Weg des Vertrages über die Europäische Union, Rheinbreitbach 1993,69 ff.; Bericht der GVK, BT-Drs. 12/6000, 27-30. 160 BT-Drs. 12/3338,7. 161 BVerfGE 58,1 (36); siehe dazu oben Kap. 1, B. III. 159
IV. Veränderungen der Kommissionsvorschläge im Gesetzgebungsverfahren
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sungsändernden Mehrheiten für sämtliche weiteren Übertragungen von Hoheitsrechten auf die Europäische Union im Rahmen von Änderungen von deren vertraglichen Grundlagen erforderlich [seien]".162 In ihrer Gegenäußerung bekräftigte die Bundesregierung ihren Rechtsstandpunkt und führte zur Begründung an, daß Satz 2 bei einer solchermaßen restriktiven Interpretation „dann nur noch im Unions-Vertrag bereits angelegte Integrationsfortschritte etwa aufgrund der Evoluti vklausel des Artikels K.9 163 des Unions-Vertrages oder aufgrund des Artikels 138 Abs. 3 bzw. 201 des EG-Vertrages ..., für die gemeinschaftsrechtlich ein einstimmiger Ratsbeschluß ausreicht und eine Regierungskonferenz nicht erforderlich ist, [umfasse]". 164 Der Ausschuß vertrat demgegenüber die Auffassung, daß eine über vorhandene Ermächtigungen in den Zustimmungsgesetzen zu den gemeinschaftsrechtlichen Verträgen hinausgehende und deshalb eine Zweidrittelmehrheit gemäß Satz 3 erfordernde Hoheitsrechtsübertragung nicht nur bei förmlichen Vertragsänderungen im Sinne von Art. Ν EUV (Art. 48 EUV n. F.), sondern auch bei Anwendung der sog. Evolutivklauseln möglich sei. Diese seien geeignet, bestimmte im Vertrag von Maastricht selbst angelegte Hoheitsrechtsübertragungen zu „verlängern" und damit qualitativ über das hinauszugehen, was mit der allgemeinen vertragsrechtlichen Billigung des Vertrages verbunden sei. Um klarzustellen, daß Verfassungsdurchbrechungen solcher Qualität auch dann, wenn sie Folge der Anwendung einer Evolutivklausel seien, der Zweidrittelmehrheit gemäß Satz 3 bedürften, hat der Ausschuß diesen um die Worte „und vergleichbare Regelungen" ergänzt.165 Satz 3 erhielt dadurch folgende Fassung: „Für die Begründung der Europäischen Union sowie für Änderungen ihrer vertraglichen Grundlagen und vergleichbare Regelungen, durch die dieses Grundgesetz seinem Inhalt nach geändert oder ergänzt wird oder solche Änderungen oder Ergänzungen ermöglicht werden, gilt Artikel 79 Abs. 2 und 3" (Hervorhebung durch die Verfin). 166
Weiterhin beschäftigte sich der Sonderausschuß eingehend mit der Wirkung der Stellungnahmen von Bundestag und Bundesrat. Schwierigkeiten bereiteten die 162
BT-Drs. 12/3338, Anlage 2,12. Gemäß Art. K.9 EUV konnte der Rat einstimmig beschließen, Maßnahmen auf bestimmten Gebieten der Innen- und Rechtspolitik wie etwa der Asyl- und Einwanderungspolitk (Art. K.l Ziff. 1 bis 6 EUV) dem gemeinschaftsrechtlichen Verfahren gemäß Art. 100c EGV zu unterstellen. Damit wären weitere gewichtige Zuständigkeiten der intergouvernementalen Zusammenarbeit entzogen und in den Kompetenzbereich der Europäischen Gemeinschaft überführt worden, ohne daß es hierzu einer Regierungskonferenz zur Änderung der Verträge gemäß Art. Ν EUV (Art. 48 EUV n. F.) bedurft hätte. Diese Bestimmung ist inzwischen entfallen. 164 BT-Drs. 12/3338, Anlage 3,14. 165 Vgl. den Bericht des Sonderausschusses, BT-Drs. 12/3896,18. 166 Ebenda, 5. 163
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Kap. 2, Β. Vorgeschichte und Entstehung des neuen Artikels 23 GG
unterschiedlichen Formulierungen in Art. 23 Abs. 3 GG, wonach die Bundesregierung die Stellungnahmen des Bundestages „berücksichtigt" und in § 5 des Gesetzes über die Zusammenarbeit von Bundesregierung und Bundestag, demgemäß die Regierung die Stellungnahme ihren Verhandlungen „zugrunde legt". Der Ausschuß stellte dazu fest, daß das Wort „berücksichtigen" den gesamten Prozeß der Willensbildung auf europäischer Ebene zu Rechtssetzungsakten der EU - also vom Beginn bis zur Schlußabstimmung - erfasse. „Zugrunde legen" bezeichne dagegen nur den Anfang dieses Willensbildungsprozesses. Ferner bestand Übereinstimmung darüber, daß der Bundestag im Rahmen seiner nationalen Zuständigkeit alle Materien beraten und der Regierung für ihr Verhalten im Rat Empfehlungen und Vorgaben geben könne. An diese sei die Regierung zwar nicht rechtlich, wohl aber politisch gebunden.167 In bezug auf die Stellungnahmen des Bundesrates war sich der Ausschuß mit der GVK darin einig, daß die Bundesregierung die Argumente des Bundesrates auf der ersten Stufe der Mitwirkung in ihre Entscheidung einbeziehen und sich damit auseinander setzen müsse, daran aber letztlich nicht gebunden sei. Erst auf der zweiten Stufe trete eine rechtliche Bindung ein, allerdings nur insoweit, als Gesetzgebungsbefugnisse der Länder, die Einrichtung ihrer Behörden oder ihre Verwaltungsverfahren im Schwerpunkt betroffen seien. Hinsichtlich der Reichweite der zweiten Mitwirkungsstufe war es zwischen Bundesregierung und Bundesrat zu einer Kontroverse gekommen. Die Regierung ging - in Übereinstimmung mit der GVK - davon aus, daß ein Letztentscheidungsrecht der Länder gemäß Art. 23 Abs. 5 S. 2 GG im Bereich der konkurrierenden und der Rahmengesetzgebung nur in Betracht komme, wenn der Bund wegen des Fehlens der Voraussetzungen des Art. 72 Abs. 2 GG kein Recht zur Gesetzgebung habe, es also bei der einfachen Berücksichtigung der Stellungnahme bleibe, wenn der Bund zwar ein Gesetz erlassen könnte, dieses aber bisher nicht getan hat.168 Der Bundesrat war demgegenüber der Auffassung, daß die gesteigerte Mitwirkungsform bereits immer dann zum Zuge komme, wenn der Bund von seinem Gesetzgebungsrecht keinen Gebrauch gemacht habe.169 Der Ausschuß Schloß sich dem Rechtsstandpunkt der Regierung und der GVK an, indem er feststellte, daß sich die gesteigerte Beteiligung des Bundesrates auf alle Kompetenztitel der konkurrierenden und der Rahmengesetzgebung erstrecke, von denen der Bund keinen Gebrauch gemacht habe oder mangels eines Bedürfnisses im Sinne des Art. 72 Abs. 2 GG keinen Gebrauch machen könne. 167 168 169
Ebenda, 19. Vgl. die Begründung des Regierungsentwurfs, BT-Drs. 12/3338, 8. Ebenda, Anlage 2,12.
IV. Veränderungen der Kommissionsvorschläge im Gesetzgebungsverfahren
185
In diesem Zusammenhang wurde auch problematisiert, wie der Fall sich widersprechender Stellungnahmen von Bundestag und Bundesrat zu behandeln sei. Dem Ausschuß lag ein Antrag vor, Art. 23 Abs. 3 um folgenden Satz 4 zu ergänzen: „Im Falle sich widersprechender Stellungnahmen des Bundestages und des Bundesrates berücksichtigt die Bundesregierung vorrangig den Bundestag oder den Bundesrat, je nachdem ob im Falle innerstaatlicher Gesetzgebung diese Materie schwerpunktmäßig in die Zuständigkeit des Bundes oder der Länder fiele."
Er sprach sich gegen eine Regelung dieser Frage in der Verfassung selbst aus und lehnte den Antrag ab.170 Eine entsprechende Formulierung wurde allerdings in § 6 des Gesetzentwurfs über die Zusammenarbeit von Bundesregierung und Deutschem Bundestag in Angelegenheiten der Europäischen Union festgeschrieben. Einen weiteren Schwerpunkt der Ausschußarbeit bildeten die Beratungen zur Neufassung des Art. 88 GG. Wegen der angesichts des negativen Ausgangs des ersten dänischen Referendums und der Verzögerung des britischen Ratifizierungsverfahrens bestehenden Unsicherheit, ob der Maastrichter Vertrag in der vorgesehenen Form überhaupt in Kraft treten werde, genügte dem Ausschuß die von der Bundesregierung bzw. der GVK vorgeschlagene Ergänzung des Art. 88 GG nicht. Er wollte sicherstellen, daß eine Übertragung von Hoheitsrechten im Währungsbereich nur im Rahmen der Europäischen Union und damit nur bei strikter Einhaltung der im Maastrichter Vertrag festgelegten Konvergenzkriterien 171 zulässig sein sollte. Außerdem sollte klargestellt werden, daß eine Übertragung auf die Europäische Zentralbank nur verfassungsgemäß sein könne, wenn diese - wie im Maastrichter Vertrag vorgesehen - unabhängig und vorrangig dem Ziel der Sicherung der Preisstabilität verpflichtet sei. Deshalb schlug der Ausschuß die Ergänzung des Art. 88 GG durch folgenden Satz 2 vor: „Ihre Aufgaben und Befugnisse können im Rahmen der Europäischen Union der Europäischen Zentralbank übertragen werden, die unabhängig ist und dem vorrangigen Ziel der Sicherung der Preisstabilität verpflichtet. " m
Schließlich setzte sich der Ausschuß mit der Frage des Inkrafttretens und der Anwendbarkeit der Grundgesetzänderung auseinander. Nachdem wegen der Verzögerungen des Ratifikationsverfahrens in mehreren Mitgliedstaaten klar war, daß der Maastrichter Vertrag nicht mehr fristgerecht zum 1. Januar 1993 werde in 170
Ebenda, 19; siehe dazu unten Kap. 4, Β. I. 2. Vgl. Art. 109j EGV (Art. 121 EGV n. F.) und das Protokoll über die Konvergenzkriterien. 172 Bericht des Sonderausschusses, BT-Drs. 12/3896, 7. 171
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Kap. 2, Β. Vorgeschichte und Entstehung des neuen Artikels 23 GG
Kraft treten können, hielt der Ausschuß folgendes fest: Da die Ratifikation des Maastrichter Vertrages auf der Grundlage des neuen Art. 23 Abs. 1 S. 3 GG erfolgen müsse, müsse diese Verfassungsänderung - ebenso wie die Änderungen des Art. 28 Abs. 1 S. 2 bezüglich des Kommunalwahlrechts für Unionsbürger und des Art. 88 S. 2 bezüglich der Übertragung von Befugnissen der Bundesbank auf die Europäische Zentralbank - vor der Ausfertigung des Zustimmungsgesetzes zum Vertrag in Kraft getreten sein. Dieser Vorbehalt folgt aus der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts, wonach der Gesetzgeber von einer durch Verfassungsänderung geschaffenen Ermächtigung erst Gebrauch machen kann, wenn diese in Kraft getreten ist. Die Grundgesetzänderung muß also spätestens vor Ausfertigung des auf sie gestützten einfachen Gesetzes in Kraft sein.173 Nach Auffassung des Ausschusses war das Inkrafttreten der Grundgesetzänderungen aber nicht notwendig mit der Anwendbarkeit aller dieser Bestimmungen verbunden. Die Vorschriften, die tatbestandlich an die Existenz der Europäischen Union anknüpften, seien erst dann anwendbar, wenn diese auch entstanden sei. Dies gelte für Art. 23 Abs. 2 bis 7, 28 Abs. 1 S. 2, 45, 50, 52 Abs. 3a, 88 S. 2 und 115e Abs. 2 S. 2 GG. Artikel 23 Abs. 1 GG knüpfe dagegen an die Entwicklung der Europäischen Union an, wobei darunter nicht die konkrete Ausgestaltung der Union nach dem Maastrichter Vertrag, sondern eine über den bisherigen Integrationsstand hinausreichende Gemeinschaft zu verstehen sei, die sich in Richtung auf eine Europäische Union weiterentwickele.174
2. Die Entwürfe zu den Ausführungsgesetzen Bei der Beratung der Entwürfe zu den Ausführungsgesetzen gemäß Art. 23 Abs. 3 und Abs. 7 GG kam es zu Meinungsverschiedenheiten zwischen den Abgeordneten und den an den Ausschußberatungen teilnehmenden Ländervertretern. Diese betrafen in erster Linie den Entwurf des Zusammenarbeitsgesetzes zwischen Bundesregierung und Bundestag, der - anders als der Entwurf des Zusammenarbeitsgesetzes zwischen Bund und Ländern - nicht von der Regierung, sondern von den Fraktionen des Bundestages175 eingebracht worden war. Zum 173
BVerfGE 34,9 (21 ff.). Bericht des Sonderausschusses, BT-Drs. 12/3896,22. 175 Es gab zwei Entwürfe, nämlich den „Entwurf eines Gesetzes über die Zusammenarbeit von Bundesregierung und Deutschem Bundestag in Angelegenheiten der Europäischen Union" - BT-Drs. 12/3614 - der Koalitionsfraktionen und den „Entwurf eines Gesetzes über die Unterrichtung und Mitwirkung des Deutschen Bundestages in Angelegenheiten der Europäischen Union" - BT-Drs. 12/3609 - der SPD-Fraktion. Beide Entwürfe waren nahezu wortgleich. 174
IV. Veränderungen der Kommissionsvorschläge im Gesetzgebungsverfahren
187
einen wandten sich die Ländervertreter gegen die in § 5 S. 3 enthaltene Formulierung: „Die Bundesregierung legt die Stellungnahme ihren Verhandlungen zugrunde", die von der in Art. 23 Abs. 3 verwendeten Formulierung „berücksichtigt" abweicht. Trotz der von den Ausschußmitgliedern vorgenommenen Klarstellung176 sahen die Ländervertreter darin den Versuch, die Einflußnahme des Bundestages über den Wortlaut des Art. 23 Abs. 3 GG hinaus durch einfaches Gesetz auszudehnen.177 Nachdrücklich widersprachen sie außerdem der in § 6 enthaltenen Vorrangregelung bei sich widersprechenden Stellungnahmen von Bundesrat und Bundestag. Eine solche Vorrangregelung zugunsten des Bundestages hätte nach ihrer Ansicht die Mitwirkungsrechte des Bundesrates im Bereich der ausschließlichen, konkurrierenden und Rahmengesetzgebung des Bundes in ihrer Wirksamkeit erheblich eingeschränkt und damit dem sorgsam ausgehandelten Kompromiß in Art. 23 Abs. 5 GG teilweise die Grundlage entzogen. Sie verstoße deshalb gegen höherrangiges Recht. Wegen der genannten beiden Streitpunkte rief der Bundesrat den Vermittlungsausschuß an. Dort einigte man sich darauf, die Formulierung „legt zugrunde" in § 5 beizubehalten, die Vorrangregel des § 6 aber ersatzlos zu streichen.178 Damit verzichteten beide Seiten auf eine gesetzliche Regelung des Problems sich widersprechender Stellungnahmen, dessen Lösung nun vorrangig im politischen Raum gesucht werden muß. In bezug auf den Entwurf des Zusammenarbeitsgesetzes zwischen Bund und Ländern kam es zu einer Kontroverse über die Frage der Besetzung des Ausschusses der Regionen. Die Länder hatten sich mit der Bundesregierung darauf verständigt, daß diese die von ihnen benannten Vertreter auf europäischer Ebene vorschlagen sollte. Die Länder sollten ihrerseits ein Beteiligungsverfahren für die Kommunen regeln, um sicherzustellen, daß deren Interessen im Regionalausschuß angemessen vertreten würden. Auf Betreiben der kommunalen Spitzenverbände schlug der Sonderausschuß des Bundestages dann aber eine Formulierung vor, der zufolge „die kommunalen Spitzenverbände mindestens mit drei Vertretern im Regionalausschuß vertreten" sein müßten.179 Hiergegen wandte sich der Bundesrat mit dem Argument, daß der Bund seine Gesetzgebungszuständigkeit überschritten habe, da die Regelung institutionelle Fragen der Länder als Gliedstaaten der Bundesrepublik Deutschland betreffe. 180 Auch dieser Streitpunkt wurde im Ver176
Siehe dazu oben Kap. 2, Β. IV. 1. BR-Drs. 853/1/92. 178 Vgl. die Beschlußempfehlung des Vermittlungsausschusses, BT-Drs. 12/4247. 179 Vgl. den Bericht des Sonderausschusses, BT-Drs. 12/3896,12. 180 Vgl. die Begründung für die Anrufung des Vermittlungsausschusses, BR-Drs. 811/92 (Beschluß) und BT-Drs. 12/4034. 177
188
Kap. 2, Β. Vorgeschichte und Entstehung des neuen Artikels 23 GG
mittlungsausschuß dergestalt ausgeräumt, daß das Wort „mindestens" gestrichen wurde und die Vertreter der Gemeinden und Gemeindeverbände nunmehr auf Vorschlag der kommunalen Spitzenverbände gewählt sein müssen.
3. Verabschiedung der Grundgesetzänderung
und der Ausführungsgesetze
Die Änderungen des Grundgesetzes in der vom Sonderausschuß beschlossenen Fassung sind mit großer Mehrheit im Bundestag181 und einstimmig im Bundesrat 182 verabschiedet worden und am 25. Dezember 1992 in Kraft getreten.183 Zugleich stimmten Bundestag und Bundesrat mit den erforderlichen verfassungsändernden Mehrheiten dem Maastrichter Vertrag zu; das Zustimmungsgesetz trat am 31. Dezember 1992 in Kraft. 184 Die Ausführungsgesetze sind in der vom Vermittlungsausschuß vorgeschlagenen Fassung am 19. März 1993 im Bundesgesetzblatt verkündet worden;185 sie sind aber - mit Ausnahme der Vorschriften über die Zusammenarbeit bei Rechtsakten nach Art. 235 EGV (Art. 308 EGV n. F.) - erst am Tage der Gründung der EU, also am 1. November 1993, in Kraft getreten. Bis dahin galten die bisherigen einfachgesetzlichen Mitwirkungsregelungen fort. In bezug auf Rechtsakte nach Art. 235 E(W)GV (Art. 308 EGV n. F.), die insbesondere die Länder als „Haupteinfallstor" für die schleichende Aushöhlung ihrer Zuständigkeiten betrachteten, erhielten Bundestag und Bundesrat bereits vom 1. Januar 1993 an verstärkte Mitwirkungsrechte. 186
181
PlPr 12/126 v. 2.12.1992, 10890 C; 547 Ja-Stimmen, 17 Nein-Stimmen und eine Enthaltung. 182 BR-Drs. 809/92 (Beschluß) v. 18.12.1992. 183 Gesetz zur Änderung des Grundgesetzes v. 21.12.1992, BGBl. 1992 I, 2086. 184 Gesetz v. 28.12.1992 zum Vertrag vom 7. Februar 1992 über die Europäische Union, BGBl. 1992 II, 1251. 185 Gesetz über die Zusammenarbeit von Bundesregierung und Deutschem Bundestag in Angelegenheiten der Europäischen Union v. 12.3.1993, BGBl. 1993 I, 311, und Gesetz über die Zusammenarbeit von Bund und Ländern in Angelegenheiten der Europäischen Union v. 12.3.1993, BGBl. 1993 I, 313. 186 §§ 6,7 S. 3 des Gesetzes über die Zusammenarbeit von Bundesregierung und Deutschem Bundestag und §§5 Abs. 3, 16 S. 3 des Gesetzes über die Zusammenarbeit von Bund und Ländern; vgl. dazu Hölscheidt/Schotten (Fn. 159), 90. Siehe auch unten Kap. 4, Α. II. 1. d) cc).
Kapitel 3
Funktionen und Problematik des neuen Artikels 23 Abs. 1 GG
Die Entstehungsgeschichte des neuen „Europaartikels" hat gezeigt, daß seine Einfügung in das Grundgesetz die Voraussetzung für die Ratifizierung des Maastrichter Vertrages bildete. Mit Art. 23 GG wurde die verfassungsrechtliche Grundlage für die Zustimmung des Bundestages und des Bundesrates zu diesem weiteren Integrationsschritt geschaffen. Darüber hinaus übernimmt er im Bereich der zukünftigen Entwicklung der Europäischen Union diejenigen Funktionen, die vor der Verfassungsänderung von Art. 24 Abs. 1 GG erfüllt worden sind. Er enthält in Absatz 1 eine Staatszielbestimmung und die Ermächtigung des Bundes, zur Verwirklichung dieses Zieles Hoheitsrechte zu „übertragen". Dabei wird auf die gleiche mißverständliche Formulierung zurückgegriffen, die schon in Artikel 24 Abs. 1 GG verwandt worden ist. Neu hinzugekommen ist eine Struktursicherungsklausel, die sich auf die Strukturen der Europäischen Union bezieht. Im Gegensatz zu Art. 24 Abs. 1 GG kann die Übertragung von Hoheitsrechten im Rahmen des europäischen Integrationsprozesses gemäß Art. 23 Abs. 1 S. 2 GG nur noch mit Zustimmung des Bundesrates erfolgen. Für die Begründung der Europäischen Union, für Änderungen ihrer vertraglichen Grundlagen und für vergleichbare Regelungen, die das Grundgesetz seinem Inhalt nach ändern oder ergänzen oder solche Änderungen oder Ergänzungen ermöglichen, sind gemäß Art. 23 Abs. 1 S. 3 GG i. V. m. Art. 79 Abs. 2 GG sogar verfassungsändernde Mehrheiten in Bundestag und Bundesrat erforderlich. Der Verweis auf die „Ewigkeitsklausel" des Art. 79 Abs. 3 GG bezeichnet überdies die verfassungsrechtlichen Grenzen, die einer Übertragung von Hoheitsrechten im europäischen Integrationsprozeß gesetzt sind. Obwohl die Funktionen des neuen Art. 23 Abs. 1 GG im Hinblick auf die zu Art. 24 Abs. 1 GG entwickelte Dogmatik auf den ersten Blick unproblematisch zu sein scheinen, wirft die Interpretation dieser Norm im einzelnen viele Fragen auf, denen im folgenden nachgegangen werden soll.
190
Kap. 3, Α. Staatszielbestimmung und Verfassungsauftrag
A. Staatszielbestimmung und Verfassungsauftrag Während dem Art. 24 Abs. 1 GG das Staatsziel der Beteiligung am europäischen Integrationsprozeß in Zusammenschau mit der Präambel im Wege der Auslegung entnommen werden mußte,1 enthält Art. 23 Abs. 1 S. 1 GG ausdrücklich eine entsprechende Staatszielbestimmung. Fernziel bleibt, wie dies bisher schon in der Präambel festgeschrieben war, die „Verwirklichung eines vereinten Europas". Dieses Fernziel wird bewußt nicht näher umschrieben, um späteren politischen Entwicklungen nicht vorzugreifen. Der interpretationsbedürftige Begriff eines „vereinten Europas" kann sich auf einen europäischen Bundesstaat beziehen, der am Ende des Integrationsprozesses stehen und eines Tages alle europäischen Staaten umfassen könnte. Eine solche Entwicklung ist aber nur eine der denkbaren Möglichkeiten, und sie ist durch den Verlauf des bisherigen Integrationsprozesses keineswegs vorgezeichnet. Zu denken wäre ebenso an ein eigenständiges föderales System, das mit den herkömmlichen Begriffen der allgemeinen Staatslehre wie „Staat" oder „Bundesstaat", „Staatenbund" oder dem ambivalenten Begriff der „Souveränität" nicht mehr zutreffend kategorisiert werden kann. Mit Blick auf das Fernziel des „vereinten Europas" enthält Art. 23 Abs. 1 S. 1 GG auch einen Verfassungsauftrag. Ein Verfassungsauftrag enthält im Vergleich zu einer Staatszielbestimmung eine konkrete Verpflichtung für eines oder mehrere Staatsorgane, eine bestimmte Aufgabe, etwa den Erlaß oder die Änderung eines Gesetzes, zu erfüllen. 2 Die Bundesrepublik Deutschland, d. h. der Bund und die Länder, wird verpflichtet, bei der Entwicklung der Europäischen Union mitzuwirken. Damit ist die Entscheidung über das „Ob" einer Beteiligung Deutschlands an der Gründung und dem Ausbau der Europäischen Union dem politischen Ermessen der Bundesregierung und der übrigen zuständigen Organe entzogen. Bezüglich des „Wie", also der konkreten politischen Schritte auf diesem Weg, steht ihnen jedoch weiterhin ein politischer Gestaltungsspielraum zu. Dieser wird allerdings durch die Struktursicherungsklausel und den Verweis auf Art. 79 Abs. 3 GG eingeschränkt.3
1 2 3
Siehe dazu oben Kap. 1, Α. II. Vgl. zu den Begriffen Stern, Staatsrecht I, § 4,121 f. Siehe dazu unten Kap. 5, Β. I. und II.
I. Der Begriff der „Europäischen Union
191
I. Der Begriff der „Europäischen Union" Als Nahziel auf dem Weg zu einem „vereinten Europa" nennt Art. 23 Abs. 1 S. 1 GG die „Europäische Union". Es stellt sich die Frage, was unter diesem Begriff zu verstehen ist. Er ist doppeldeutig, weil sich mit ihm unterschiedliche Vorstellungen über das Ziel der europäischen Integration umschreiben lassen. Unter den Begriff ließe sich ein vorwiegend konföderal geprägter Zusammenschluß der europäischen Staaten unter weitgehender Beibehaltung ihrer Souveränität ebenso fassen wie ein europäischer Bundesstaat, in dem die jetzigen Nationalstaaten ihre Souveränität verlören.4 Auch die zwischen diesen beiden Extremen liegenden Organisationsformen können mit dem Begriff „Europäische Union" bezeichnet werden. Insofern ist dieser Begriff auslegungsbedürftig. Die Formulierung in Satz 3 „Für die Begründung der Europäischen Union" und die Tatsache, daß Art. 23 GG als verfassungsrechtliche Grundlage für die parlamentarische Zustimmung zum Maastrichter Vertrag in das Grundgesetz eingefügt wurde, machen aber zumindest deutlich, daß mit diesem Begriff zunächst einmal die Europäische Union gemeint ist, wie sie im Unionsvertrag vom 7. Februar 1992 gegründet und ausgestaltet worden ist. Schon der Versuch, diese Union in ihrer konkreten historischen Gestalt mit den herkömmlichen Völker- und europarechtlichen Begriffen juristisch zu kategorisieren, gestaltet sich schwierig. Diese Schwierigkeiten sind darauf zurückzuführen, daß ihre Gestaltungsform das vorläufige Ergebnis des dynamischen europäischen Integrationsprozesses ist. Wegen ihrer unübersichtlichen und schwer faßbaren Gestalt wurde die Union anfangs sogar als „Monstrum von Maastricht" bezeichnet.5 Da sich die jetzige Ausgestaltung der Europäischen Union besser verstehen läßt, wenn man sich ihre Entwicklung betrachtet, soll im folgenden zunächst ein Überblick über die Geschichte des Integrationsprozesses gegeben werden.
1. Entwicklungsschritte
bis zur Gründung der Europäischen Union
Die Entwicklungsgeschichte des europäischen Einigungsprozesses ist von Anfang an gekennzeichnet von dem SpannungsVerhältnis zwischen der Erkenntnis der Staaten, daß ein integrativer Zusammenschluß auf europäischer Ebene zur 4
Vgl. dazu Constantinesco, Léonrìn-Jean, Das Recht der Europäischen Gemeinschaften, Bd. I: Das institutionelle Recht (im folgenden: Constantinesco, Recht der Europäischen Gemeinschaften I), Baden-Baden 1977,113 ff. 5 Gross, J., Monstrum von Maastricht, FAZ v. 25.7.1992, 25; dazu kritisch Stolleis, Michael, Vom Monstrum lernen, FAZ v. 24.8.1992, 23.
192
Kap. 3, Α. Staatszielbestimmung und Verfassungsauftrag
Bewältigung vieler, ihre Regelungsmöglichkeiten übersteigender grenzüberschreitender Probleme notwendig ist, und dem Wunsch, ihre Entscheidungsfreiheit zum Schutz nationaler Interessen so weit wie möglich zu erhalten. Demgemäß lösten sich Phasen des dynamischen Fortschritts der Integration ab mit Phasen der Stagnation, in denen die oder zumindest einige Mitgliedstaaten zu weiteren Souveränitätsverzichten nicht bereit waren. Die Idee einer „Europäischen Union" im Sinne eines nicht nur wirtschaftlichen, sondern auch politischen Zusammenschlusses ist im Laufe des Integrationsprozesses immer wieder aufgenommen und in unterschiedlicher Form konkretisiert worden. Am Beginn der europäischen Einigungsbewegung, die nach den verheerenden Folgen des Zweiten Weltkrieges in den westeuropäischen Staaten rasch an Boden gewann, stand die Idee einer wirtschaftlichen und politischen Union. In zahlreichen europäischen Staaten bildeten sich Bewegungen, die sich für die Idee eines vereinten, föderalen Europas einsetzten. Diese veranstalteten 1948 in Den Haag einen großen Europa-Kongreß, der die Europäische Bewegung, den Dachverband der verschiedenen nationalen Europaverbände, beauftragte, Vorschläge für die Schaffung einer europäischen Versammlung auszuarbeiten, die ihrerseits eine europäische Verfassung entwerfen sollte. Aufgrund des Widerstandes Großbritanniens und der skandinavischen Staaten gegen eine europäische verfassunggebende Versammlung wurden entsprechende Vorschläge allerdings nicht weiter verfolgt. 6 Statt dessen wurde am 9. Mai 1949 der Europarat gegründet, bei dem es sich um eine internationale Organisation ohne supranationale Elemente handelt. Der französische Außenminister Robert Schuman und sein Mitarbeiter Jean Monnet griffen 1950 zwar die Ideen der Europäischen Föderalisten (Union Européenne des Fédéralistes) auf, verfolgten aber in einem ersten Schritt einen bescheideneren, auf die Zusammenfassung der damaligen Schlüsselindustrien gerichteten Ansatz. Dieser führte nach Verhandlungen zwischen Frankreich, Deutschland, Italien und den Benelux-Staaten mit dem Vertrag vom 18. April 1951 zur Gründung der Europäischen Gemeinschaft für Kohle und Stahl (EGKS). Die Zusammenlegung der Kohle- und Stahlproduktion verfolgte einerseits neben wirtschaftlichen auch sicherheitspolitische Interessen, da sie die Kontrolle potentiell kriegswichtiger Wirtschaftszweige des besiegten Deutschlands ermöglichte. Andererseits wurde sie in der Regierungserklärung Schumans vom 9. Mai 1950, in der er den nach ihm benannten und mit der Hilfe von Monnet entwickelten Plan vorstellte, ausdrücklich als „erste Etappe der europäischen Föderation" verstanden.7 6 Vgl. Oppermann, Europarecht, § 1, Rz. 13; Constantinesco, Recht der Europäischen Gemeinschaften 1,116 f. 7 Vgl. die Erklärung Robert Schumans, abgedruckt in: Schwarze, Jürgen/Bieber, Roland (Hrsg.), Eine Verfassung für Europa, Baden-Baden 1984, 394 ff.
I. Der Begriff der „Europäischen Union
193
In der Folgezeit wurden weitreichende Pläne zum Ausbau der Integration auf allgemein- und sicherheitspolitischem Gebiet entwickelt. Nachdem aber die Gründung der Europäischen Verteidigungsgemeinschaft am 30. August 1954 an dem negativen Votum in der französischen Nationalversammlung gescheitert und der ehrgeizige Entwurf einer Europäischen Politischen Gemeinschaft vom 10. März 19538 deswegen von den Mitgliedstaaten der EGKS nicht weiterverfolgt worden war, konzentrierten sich die Außenminister der Mitgliedstaaten unter Leitung des Belgiers Paul-Henri Spaak auf das Ziel einer funktional begrenzten Integration im Bereich der Wirtschaft einschließlich der Nutzung der Atomenergie. Ihre Anstrengungen führten am 25. März 1957 zur Unterzeichnung der Gründungs Verträge der Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft (EWG) und der Europäischen Atomgemeinschaft (Euratom). Manche Verfechter dieses begrenzten Integrationsansatzes gingen von der Vorstellung aus, daß die Schaffung einer Zoll- und Wirtschaftsgemeinschaft durch die dadurch ausgelösten wirtschaftlichen und sozialen Sachzwänge zu der Vergemeinschaftung immer weiterer Sachbereiche und schließlich wie von selbst zu einer unauflöslichen allgemeinpolitischen europäischen Föderation führen werde.9 Diese Annahme erwies sich bald als zu optimistisch. Zu Beginn der sechziger Jahre gerieten die supranationalen Ideen der europäischen Föderalisten nämlich zunehmend in Konflikt mit den Vorstellungen der französischen Regierung unter Staatspräsident de Gaulle, der den Nationalstaaten die Entscheidungsgewalt erhalten und weitere Souveränitätsverluste infolge des Integrationsprozesses verhindern wollte. Im Dezember 1961 legte eine von den Mitgliedstaaten zur Erarbeitung von Einigungsplänen eingesetzte Expertenkommission unter Federführung des französischen Botschafters Fouchet einen Plan zur Gründung einer Europäischen Union vor. Dieser sah, den Vorstellungen de Gaulles entsprechend, den Aufbau einer staatenbündischen Organisation vor, in der die Staaten miteinander kooperieren und ihre Außen- und Verteidigungspolitik sowie ihre Kultur- und Wissenschaftspolitik koordinieren sollten. Supranationale Elemente enthielt er nicht, das Verhältnis zu den bestehenden drei Gemeinschaften blieb ungeklärt, und ein Bekenntnis zur Wahrung des gemeinschaftlichen Be-
8 Entwurf eines Vertrages über die Satzung der Europäischen Gemeinschaft vom 10. März 1953, abgedruckt in: Schwarze/Bieber (Fn. 7), 399 ff. 9 Vgl. ζ. B. Hallstein, Walter, Zu den Grundlagen und Verfassungsprinzipien der Europäischen Gemeinschaften, in: ders./Schlochauer, Hans-Jürgen (Hrsg.), Zur Integration Europas, Festschrift für Carl Friedrich Ophüls, Karlsruhe 1965,1-18 (3 f.), der allerdings darauf hinwies, daß die wirtschaftliche Integration nicht automatisch ablaufe, sondern politische Entschlüsse der Mitgliedstaaten verlange. Siehe zu der sog. neofunktionalistischen Integrationstheorie oben Kap. 1, Α. I. 1. 13 König
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Kap. 3, Α. Staatszielbestimmung und Verfassungsauftrag
sitzstandes (