Die bereinigte Moderne: Heinrich Manns »Untertan« und politische Publizistik in der Kontinuität der deutschen Geschichte zwischen Kaiserreich und Drittem Reich [Reprint 2018 ed.] 9783110913071, 9783484350496

This is the first detailed socio-historical study of Heinrich Mann's novel "Der Untertan" (available in E

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German Pages 133 [136] Year 1995

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Inhaltsverzeichnis
Einleitung
I. Ungleichzeitigkeiten
II. Integration und Auflosung
III. Die bereinigte Moderne 1918-1933
Literatur
Personenregister
Register der Werke Heinrich Manns
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Die bereinigte Moderne: Heinrich Manns »Untertan« und politische Publizistik in der Kontinuität der deutschen Geschichte zwischen Kaiserreich und Drittem Reich [Reprint 2018 ed.]
 9783110913071, 9783484350496

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STUDIEN UND TEXTE ZUR SOZIALGESCHICHTE DER LITERATUR

Herausgegeben von Wolfgang Frühwald, Georg Jäger, Dieter Langewiesche, Alberto Martino, Rainer Wohlfeil

Band 49

Reinhard Alter

Die bereinigte Moderne Heinrich Manns »Untertan« und politische Publizistik in der Kontinuität der deutschen Geschichte zwischen Kaiserreich und Drittem Reich

Max Niemeyer Verlag Tübingen 1995

Redaktion des Bandes: Dieter

Langewiesche

Die Deutsche Bibliothek - CIP-Einheitsaufnahme Alter, Reinhard: Die bereinigte Moderne : Heinrich Manns »Untertan« und politische Publizistik in der Kontinuität der deutschen Geschichte zwischen Kaiserreich und Drittem Reich / Reinhard Alter. - Tübingen : Niemeyer, 1995 (Studien und Texte zur Sozialgeschichte der Literatur ; Bd. 49) NE: GT ISBN 3-484-35049-0

ISSN 0174-4410

© Max Niemeyer Verlag GmbH & Co. KG, Tübingen 1995 Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlages unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen. Printed in Germany. Gedruckt auf alterungsbeständigem Papier. Druck und Buchbinder: Memminger Zeitung, Verlagsdruckerei GmbH, Memmingen

Inhaltsverzeichnis

Einleitung I. Ungleichzeitigkeiten

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1. Familie und Schule 19 2. Großstadt und neufeudale Verbindung 22 3. Zweierlei Untertan 27 4. Zwischen Stand und Klasse. Der »wohlverstandene Liberalismus« >machtgeschützte< Innerlichkeit oder >machtgestützter< bürgerlicher Unternehmungsgeist? 28 5. Exkurs: Genese der »Geist-Tat«-Problematik: Sozialpsychische Aspekte des deutschen »Sonderwegs« bei dem frühen Heinrich Mann 34 II. Integration und Auflosung 1. Die Personalisierung der Politik 2. Der Bürger als Opfer 3. Auflösung 4. Zwischen Kaiserreich und Republik. Politischer Radikalismus oder »deutscher Sonderweg«? ΠΙ. Die bereinigte Moderne 1918-1933 1. Die Revolution 1918/19 2. Utopie und Wirklichkeit 1919-1922 3. Die Republik im Wartestand 4. Weltanschauungssynthetik 5. Zwischen links und rechts? 6. Gleichschaltung 1933: Heinrich Mann und die »Sektion Dichtkunst« der Preußischen Akademie der Künste

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Literatur

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Personenregister

126

Register der Werke Heinrich Manns

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V

Einleitung

Der >Untertan< als Prüfstein für die Kaiserreich-Debatte

1. Die Meinungsverschiedenheiten, zu denen in Deutschland die Gattung der Satire immer wieder Anlaß gegeben hat, sind keine rein literarische Angelegenheit. Jede Suche nach Traditionslinien bei der Literaturgeschichtsschreibung gilt, bewußt oder unbewußt, auch der »Kontinuitätsfrage« in der Geschichte. Was Heinrich Manns im Juni 1914 fertiggestellten, bis zum Kriegsausbruch in der Zeitschrift Zeit und Bild abgedruckten und schließlich im November 1918 in einer Buchausgabe von 100 000 Exemplaren veröffentlichten Roman Der Untertan betrifft, so ist ein gut Teil dessen, was ihn bis in die jüngste Zeit immer wieder zum Stein des Anstoßes werden ließ, den rückblickenden Beobachtungen des Autors aus der Zeit des amerikanischen Exils zu entnehmen: »Den Roman des bürgerlichen Deutschen unter der Regierung Wilhelms II.«, erinnert sich Mann, »dokumentierte ich seit 1906. Beendet habe ich die Handschrift 1914, zwei Monate vor Ausbruch des Krieges - der in dem Buch nahe und unausweichlich erscheint. Auch die deutsche Niederlage. Der Faschismus gleichfalls schon: wenn man die Gestalt des >Untertan< nachträglich betrachtet. Als ich sie aufstellte, fehlte mir von dem ungeborenen Faschismus der Begriff, und nur die Anschauung nicht«.1 Schon 1918/19 sprachen konservative Rezensenten dem Untertan jeglichen konstruktiven moralischen Impuls oder historischen Erkenntniswert ab. Für sie hatte der Roman sich an der Dreieinigkeit Patriotismus, bürgerliche Klassensolidarität und nationale Erbepflege vergriffen und am empfindlichsten Nerv eines positiv gedachten deutsch-bürgerlichen »Sonderweges« gerührt. Für diese Sichtweise hatte bereits Heinrich Manns jüngerer Bruder mit seinen im September 1918 erschienenen Betrachtungen eines Unpolitischen das Signal gegeben. Thomas Mann, der einem deutsch-bürgerlichen »dritten Weg« zwischen Ost und West das Wort redete und den älteren Bruder ausdrücklich als »Gegner der Besonderheit Deutschlands« bezichtigte, sah die Satire des Untertan mit Notwendigkeit in »Groteskkunst« ausarten, welche

1

Heinrich Mann: Ein Zeitalter wird besichtigt, Reinbek bei Hamburg 1976, S. 131. Die einleitenden Bemerkungen zu dieser Studie gehen aus dem ersten Teil (S. 370-374) meines Aufsatzes »Heinrich Manns Untertan - Prüfstein für die >Kaiserreich-Debatte?Der Untertans München 1980,S. 137,142. Die konservative und deutsch-völkische Kritik an H.Mann sucht die soziokulturelle Kontinuität mit einem idealisierten Kaiserreich und einem nostalgisch beschworenen wilhelminischen Bildungsbürgertum zu bewahren. Exemplarisch dafür sind Fritz Strich: Dichtung und Zivilisation ( 1928); Josef Nadler: Literaturgeschichte der deutschen Stämme und Landschaften, Bd. 4 (1928).

4

Karl Strecker: Thomas und Heinrich Mann. Ein Vergleich nach ihren beiden letzten Werken. In Tägliche Rundschau. Unterhaltungsbeilage, Jg. 39, Nr. 79/80,15./16. April 1919. Abgedruckt bei Renate Werner (Hg.): Heinrich Mann. Texte zu seiner Wirkungsgeschichte in Deutschland, a.a.O. S. 104. Vgl. auch Werner Mahrholz: Heinrich Manns >UntertanDer Untertan«. In Leipziger Neueste Nachrichten 60 (15.1.19). Ebd. S. 100-103.

5

Vgl. Klaus Schröter: Deutsche Germanisten als Gegner Heinrich Manns. Einige Aspekte seiner Wirkungsgeschichte. In ders.: Heinrich Mann. >UntertanZeitalterKaiserreichbürgerliche< Gesellschaft. Zu Charakter und Entwicklung der liberalen Bewegung in Deutschland. In ders. (Hg ): Liberalismus, Frankfurt/M. 1985, S. 165ff. Joachim Fest: Die unwissenden Magier. Über Thomas und Heinrich Mann, Berlin 1985, S. 14. Ebd. S . 9 6 f .

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auf den Grund zu gehen. Dem komplizierten Wechselverhältnis zwischen der von dem Romanhelden Diederich Heßling verkörperten »instrumentellen Vernunft« und den idealistischen Gegenutopien des Autors wird kaum Genüge getan, wenn Manns »feierliche Gaukelbilder der Versöhnung von Geist und Macht« unvermittelt - d.h. ohne genaueren Bezug auf seine Gesellschaftskritik - als »Utopiebedürfnis des politisierenden Intellektuellen« und »Gesellschaftsphantasten« verächtlich gemacht werden. 35 Was schließlich die mit dem Spannungsverhältnis zwischen Kritik und Utopie aufs engste verbundene sozialpsychologische Problematik betrifft, ist zu fragen, ob sich die vorgeblichen »Vergröberungen« in der Charakterzeichnung ohne weiteres als »in der satirischen Absicht begründeter Schritt hinter die Zeit und ihre psychologischen Erkenntnisstandards zurück« 36 abtun lassen. Denn der »autoritäre Charakter« Diederich Heßlings antizipiert sozialpsychologische Erkenntnisse, wie sie Max Horkheimer, Theodor Adorno, Erich Fromm, Wilhelm Reich u.a. in den dreißiger und vierziger Jahren unter dem Eindruck des Nationalsozialismus theoretisch herausgearbeitet haben. In nicht wenigen Einzelheiten liefert Heinrich Mann für die psychischen Ausformungen der »Dialektik« bürgerlicher Aufklärung den sozialhistorischen Rahmen. Dennoch sucht er vor der im Untertan wirksamen schonungslosen Diagnose einer »Furcht vor der Freiheit« (Fromm) Zuflucht in einer »natürlichen« und »gesunden«, letzthin vormodernen, konfliktfreien Utopie. Auf welch verhängnisvolle Weise sich diese »mittelstandsideologische« (Theodor Geiger) Grundeinstellung im politischen Spannungsfeld der frühen dreißiger Jahre auswirkte, wird zum Schluß dieser Arbeit an Manns Verhältnis zu dem 1886 geborenen ehemaligen Expressionisten Gottfried Benn verdeutlicht, der im Februar 1933 bei der »Gleichschaltung« der Sektion Dichtkunst der Preußischen Akademie der Künste und der Entfernung ihres Präsidenten Heinrich Mann federführend war. Allerdings läßt sich dieses Ereignis weder auf die in der alten Bundesrepublik gängige Formel von einer »Zerreibung« der bürgerlich-demokratischen »Mitte« zwischen den Extremen auf der Linken und der Rechten reduzieren, noch bezeugt es den im Exil einstudierten und in der DDR beglaubigten Opfermythos vom »fortschrittlichen« bürgerlichen Realisten, der sich auf dem besten Wege zur Arbeiterklasse befunden habe. 3. Wie aus der durch den »Fall Benn« ausgelösten Debatte unter deutschen Exilanten über die ideologische Anfälligkeit des Expressionismus überdeutlich hervorgeht, führten auch marxistische Geschichtsteleologien an den ideologischen Ambivalenzen und Widersprüchen, die sich im Übergang vom Deutschen Kaiserreich zur Weimarer

35 3i

12

Ebd. S. 98, 107. Ebd. S. 95.

Republik auftaten, vorbei. Indem etwa der heterodoxe Marxist Ernst Bloch den Expressionismus in eine »authentische», emanzipatorisch-fortschrittliche und in eine »reaktionäre« Richtung aufteilte, ließ er die ganze Tragweite der »ungleichzeitigen« Spannungen und Widersprüche der Weimarer Republik nicht zur Geltung kommen. Folglich sah auch er an jenem ausgesprochen »modernen« Selbstverständnis vorbei, aus dem heraus Gottfried Benn den Nationalsozialismus als die Beseitigung des Widerspruchs zwischen traditionellen Wertorientierungen und sozioökonomischer Modernisierung begrüßte. Gerade diesen »ungleichzeitigen« Widerspruch, dem der Untertan auf den Grund gegangen war, suchte Heinrich Mann bis an das Ende der Weimarer Republik zu synchronisieren. In der Hauptsache - »die ganze geistige >Erbschaft< des neunzehnten Jahrhunderts und ihr Schicksal im ersten Drittel unseres Jahrhunderts« (Alfred Kurella)37 - sah auch Georg Lukács, Blochs Hauptkontrahent in der »Expressionismusdebatte«, über die Frage hinweg, wie denn jenes aufgeklärt-humanistische Erbe, das die Expressionisten hätten produktiv weiterentwickeln sollen, ihrer Generation vermittelt wurde. Wie z.B. hätten sie, aus der Grunderfahrung der Diskontinuität und des Bruches heraus, Lukács' Forderung an die »guten Realisten« nachkommen sollen, nach »solchen dauernden Zügen« zu suchen, »die als objektive Entwicklungstendenzen in der Gesellschaft [...] durch lange Perioden hindurch wirksam sind«?38 Ausgehend von dem sicheren Boden einer kategorischen Negativwertung des Expressionismus als Krisenpunkt eines von den Traditionen der westeuropäiischen Aufklärung abweichenden romantisch-irrationalistischen deutschen »Sonderweges«,39 beschwört Lukács die Gegenvorstellung einer aus dem Geist der Aufklärung hervorgegangenen, souverän-vermittlungsfähigen »ideologischen Avantgarde« in Gestalt des »bürgerlichen Realismus« herauf. Zu dessen Hauptvertretern rechnet er Heinrich Mann. Der »realistische«, ja »prophetische« Charakter, den Lukács im Untertan wittert und den er an der Fähigkeit mißt, »die lebendigen, aber unmittelbar noch verborgenen Tendenzen der objektiven Wirklichkeit so tief und so wahr« zu ergründen, »daß ihre Gestaltung von der späteren Wirklichkeitsentwicklung bestätigt wird«,40 trifft zwar für den Realismus der Diagnose im Untertan weitgehend zu. Von einem Idealismus der Prognose jedoch, der bereits in diesem Roman spürbar ist und der für Heinrich Manns politisches Verhalten zur Zeit der Weimarer Republik konstitutiv wurde, ist

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Alfred Kurella: >Nun ist dies Erbe zuende ...Untertanmoderner< Fähigkeiten als auch zur Disziplinierung eingesetzt« wurden; sie zeigt die Möglichkeit, »moderne Mittel teilweise oder vollständig zur Durchsetzung traditionaler Ziele einzusetzen; und umgekehrt, bestimmte Elemente der Tradition für moderne Ziele nutzbar zu machen«. 12 Neufeudale Verhaltensweisen scheinen für Diederich gerade dort am besten in einem »neubürgerlichen« Sinne verwertbar zu sein, wo der adelige Ehrenkodex am offenkundigsten ausgedient hat. Als Mahlmann die Rückzahlung eines Gelddarlehens an Diederich schroff verweigert, zollt dieser einem nackten Wirtschaftsegoismus, der den »korporativen« Geist der Verbindung Lügen straft, bewundernd seine Anerkennung. Der aufstrebende Kleinbürger hält diejenigen Charaktereigenschaften für nachahmenswürdig, die es dem Stärkeren ermöglichen, seine Mitmenschen gefügig zu machen: Etwas höchst Anstößiges blieb es, daß ein einzelner sich so viel erlauben konnte; Diederich war gekränkt im Namen sämtlicher Korporationen. Andererseits war es nicht zu leugnen, daß Mahlmann Diederichs alte Hochachtung wieder beträchtlich aufgefrischt hatte. >Ein ganz gemeiner Hundsubversiven TendenzenVaterlandsfeinden< und auch vom >christlich-sozialen GedankenDer Untertan«, a.a.O. S. 44. Hans-Günter Zmarzlik: Das Kaiseneich in neuer Sicht? In Historische Zeitschrift 222 (1976), S. 108.

25

Gedankengut verkoppelt, setzt er den Schlußstrich unter Diederichs politische Lehrjahre in der Korporation »Neuteutonia«: Das ist alles schön und gut, und ich habe eine ganz bedeutende Verehrung für die ideale Gesinnung meines Freundes von Barnim, aber auf die Dauer kommen wir damit nicht mehr weiter [...] Die Dinge sind zu weit gediehen. Heute heißt es bloß noch: losschlagen, solange wir die Macht haben. Und Diederich stimmte erleichtert bei (S. 42). 15

Wiebels Ideologie einer »negativen Integration« beeilt sich Diederich bei einer Arbeitslosendemonstration in Berlin - zur Vorlage dienten Heinrich Mann die »Februar-Krawalle« von 1892' 6 - in die Tat umzusetzten. Schon das Äußere des Opfers - ein »junge[r] Mensch mit einem Künstlerhut« - zeigt ihn als in die »Sammlungsbewegung« von Adel und Bürgertum nicht gut einzuordnendes »Feindbild« an. Überdies hat er unzweideutig zu erkennen gegeben, daß er die Funktion des Kaisers als symbolische Integrationsfigur - »Theater, und nicht mal gut« (S. 45) - durchschaut hat. Die Wirkungsweise akklamatorisch-plebiszitärer Machtsicherungsstrategien im wilhelminischen Kaiserreich stellt Heinrich Mann durch den Zeitungsreporter bloß. Die in der Arbeiter-Demonstration offensichtlich gewordenen Klassengegensätze biegt der Reporter ins Gegenteil um, indem er die gewaltsame Ausgrenzung des »Feindes« durch Diederich und eine Anzahl »bürgerlich Gekleideter« als ideologisch-politische Eintracht unter der breiten Öffentlichkeit vorgaukelt. »In der wildbewegten Menge«, so berichtet die Zeitung, »hörte man Leute aller Stände der treuesten Anhänglichkeit und dem unerschütterlichsten Vertrauen zu der Allerhöchsten Person Ausdruck geben« (S. 46). Auf diese Weise stellt Mann einen unmittelbaren Zusammenhang zwischen dem integrationswilligen wilhelminischen Bürgertum und der Revolutionsfurcht der traditionellen Eliten her, die zur der Zeit (1912-1914), als er den größten Teil des Untertan niederschrieb, angesichts der sozialdemokratischen Stimmenzuwächse bei den Reichstagswahlen von 1912 beträchtlich gestiegen war: Abhilfe erhofften sich Konservative 1913, wie schon zu Bismarcks Zeiten, immer noch von der Anpassungsbereitschaft der Liberalen an konservative Ideen.

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In Carl Sternheims Drama Der Snob (1913) vertritt der aufstrebende Bürger »aristokratische« Auffassungen in einem radikaleren Sinn als die Aristokratie selber: »Sie haben sich mir gegenüber des öfteren in Fragen des Lebens in einem Sinn geäßert«, sagt Graf Palen zu dem angehenden Großindustriellen Christian Maske, »derdurchaus mit der Meinung unserer Kreise übereinstimmt, an Schärfe dieselbe fast übertrifft. Ich würde mit dem Wortschatz der liberalen Partei ihn als aristokratisch-reaktionär bezeichnen [...]«. Carl Sternheim: Dramen, Bd. 1 (Hg. Wilhelm Emrich), Neuwied/Berlin 1963, S. 176.

'· Vgl. Hartmut Eggert: >Das persönliche Regiment«. Zur Quellen- und Entstehungsgeschichte von Heinrich Manns >Untertanmachtgeschützte< Innerlichkeit oder >machtgestützter< bürgerlicher Unternehmungsgeist? Diederichs ambivalente Persönlichkeitsstruktur spiegelt die widerspruchsvolle Entwicklung der wilhelminischen Gesellschaft auch darin wider, daß er die politischen Folgen des sozioökonomischen Umbruchs, von dem er selber seinen Vorteil sucht, mit allen Mitteln verhindern will. Das »männliche« Konkurrenzgebaren der Verbindung ist bloße Scheinkonkurrenz, leere Formsache. Die Schmisse erwirbt Diederich schmerzlos; und die richtigen (bürgerlichen) Kontakte zu den Militärärzten bereiten der Einjährigenzeit ein frühzeitiges, aber dennoch >ehrenhaftes< Ende, l 8 um möglichst schnell seine bürgerliche Laufbahn in Netzig antreten zu können. Diese Aneignung aristokratischer Normen und Verhaltensweisen zu bürgerlichen Zwecken zeigt, wie sehr die Grenzen zwischen »machtgeschützter Innerlichkeit« im Sinne Thomas Manns und machtgestütztem bürgerlichem Unternehmungsgeist sich im Fluß befinden. Das Zusammenwirken von »aristokratischen« und »bürgerlichen« Prinzipien im Untertan stellt die genaue Umkehrung jenes Leistungs- und Ausleseprinzips dar, das liberale Zeitgenossen Heinrich Manns wie Max Weber in den »Avancementsversicherungsanstalten« der studentischen Korporationen sowie im Reserveoffizierswesen gründlich enttäuscht sahen. 19 Diederichs Indienstnahme des neufeudalen Ehrenkodexes zur Sicherung, gleichsam zur Tarnung seines steilen Aufstiegs vom Bürger zum Bourgeois bedarf noch der

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Die Vorlage für diese Episode ist bekanntlich Thomas Manns Beschreibung seiner frühzeitigen Entlassung aus dem Einjährigendienst in seinem Brief vom 25. November 1900 an Heinrich Mann. Erika Mann (Hg.): Thomas Mann: Briefe 1 8 8 9 - 1 9 3 6 , Frankfurt/M. 1961, S. 16f.

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Vgl. Wolfgang Mommsen: Max Weber. Gesellschaft, Politik und Geschichte. Frankfurt/M. 1974, S. 8 1 - 8 4 ; Gerhard A. Ritter/Jürgen Kocka (Hg.): Deutsche Sozialgeschichte 1 8 7 0 - 1 9 1 4 . Dokumente und Skizzen, 3. Auflage, München 1982, S. 76. Der Großbürgersohn Carl Sternheim hingegen empfand den Einjährigendienst als psychische Schutzvorrichtung angesichts der sich ausdifferenzierenden Klassenlage: »Der drohenden Gefahr, von der beginnenden Unordnung miterfaßt zu werden, beschloß ich, so zu begegnen, daß ich, im Rahmen strengster Manneszucht mein Gleichgewicht wiederherzustellen, 1902 als Einjähriger [...] eintrat«. C. Sternheim: Vorkriegseuropa, Amsterdam 1936, S. 80f.

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Ergänzung, und zwar durch einen pragmatischen, »wohlverstandenen« (S. 126), sozialdarwinistisch zurechtgelegten Liberalismus. So läuft das bellum omnium contra omnes mit der Furcht des Bürgers zusammen, letztlich nicht konkurrenzfähig zu sein. Der »wohlverstandene Liberalismus« Diederichs meidet den offenen Konflikt mit den wirtschaftlich und politisch Mächtigen, so daß er vor offener Konkurrenz gefeit ist - aber doch im Namen, ja unter wiederholter Beschwörung einer sich als »modern« verstehenden sozialdarwinistischen Ideologie vom Überleben der Stärkeren. Sozialdarwinistische Verhaltensweisen geben sich bei Diederich als Verteidigungsmechanismen zur Überwindung der eigenen, tief empfundenen »Untauglichkeit« zu erkennen - wobei er sowohl zu einem Gefühl der Rassen- als auch zu dem der Klassenüberlegenheit findet, wie etwa seinem sozialdemokratischen Maschinenmeister Napoleon Fischer gegenüber. Als er Fischer im Eingang seiner Fabrik unvermutet begegnet, zuckt Diederich zusammen und hätte seinem Arbeiter fast Platz gemacht: »Dafür rannte er ihn mit der Schulter beiseite, bevor der Mann ausweichen konnte [...] Ein animalischer Haß stieg in Diederich herauf, der Haß seines blonden Fleisches gegen den mageren Schwarzen, den Menschen von einer anderen Rasse, die er gern für niedriger gehalten hätte und die ihm unheimlich schien« (S. 83f.). Sobald aber Diederich die »Bändigung« Napoleon Fischers gewärtigt, wallt mit dem Rassen- und Klassenbewußtsein auch die sexuelle Angriffslust auf: [...] Napoleon Fischer schlich, je aufrechter und heller Diederich dastand, desto affenähnlicher vorbei, die Arme nach vorn hängend, mit schiefem Blick und den fletschenden Zähnen, in seinem dünnen schwarzen Bart: als der Geist des gebändigten Umsturzes ... Dies war der Moment, gegen Guste Daimchen vorzugehen. Diederich machte Besuch (S. 132).

Diese Dialektik von Verteidigung und Angriff, Selbstzweifel und Selbstbehauptung hatte sich stets auch in Diederichs Unsicherheit hinsichtlich der eigenen »Manneskraft« zu erkennen gegeben - etwa im ambivalenten Verhältnis zur Mutter oder im Unterlegenheitsgefühl gegenüber Mahlmann, seinem Nebenbuhler um die Gunst Agnes Goppels. Diederichs Charakterstruktur zeugt von jener starken Dissonanz zwischen natürlicher »Weichheit« und einem verrohten Männlichkeitsideal, von jener Mischung aus »Brutalität und Verzärtelung der Sinne«, die Friedrich Nietzsche 1884 als Signatur der »Modernität« diagnostizierte.20 Agnes Goppel hingegen gibt das unter der wilhelminischen Studentenschaft gängige Bild einer gleichzeitig idealisierten und zum Sexualobjekt erniedrigten Weiblichkeit ab.21 Agnes ruft in Diederich Sehnsüchte wach, die ihn von den Erfordernissen »dieser harten Zeit« ablenken und ihn untauglich machen könnten, sich den ersehnten sozialen Aufstieg zu erkämpfen. So wirft Heinrich Mann ein kritisches Licht auf den von dem

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Friedrich Nietzsche: Späte Wagner-Aphorismen. In Dieter Borchmeyer (Hg.): Friedrich Nietzsche. Der Fall Wagner. Schriften und Aufzeichnungen über Richard Wagner, Frankfurt/M. 1983, S. 417. Konrad H. Jarausch: Students, Society and Politics in Imperial Germany, Princeton 1982, S. 243f.

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wilhelminischen Adel zäh aufrechterhaltenen Glauben, daß »männliche« Tugenden wie Ehrenhaftigkeit und Heroismus materiellem Ehrgeiz unbedingt den Rang abzustreiten hätten. 22 Demgemäß läßt Mann seinen Helden den neufeudalen sexuellen Ehrenkodex »neubürgerlich« umfunktionieren. Diederich flieht vordem »männlichen« Selbstbehauptungsgebaren der »Neuteutonia« zu Agnes und von deren »Weichheit« in die Verbindung zurück. Währenddessen gelangt der »eigentliche Diederich, der, der er hätte sein sollen« (S. 59), gelegentlich zur Einsicht, daß er sich nur mit Hilfe von Agnes der menschen verachtenden Ideologie der »Neuteutonia« zu entledigen vermag: Juden oder Arbeitslose, was gingen einen die an, warum sollte man sie hassen? Diederich fühlte sich bereit, sie zu lieben ! Hatte er denn wirklich, er selbst, den Tag in einem Gewühl von Menschen verbracht, die er für Feinde gehalten hatte? Sie waren Menschen: Agnes hatte recht! [...] Er erkannte, daß er, bis Agnes kam, ein hilfloses, bedeutungsloses und armes Leben geführt habe. Bestrebungen wie die eines Fremden. Gefühle, die ihn beschämten, und niemand, den er liebte bis Agnes kam! [...] Er weinte, drückte das Gesicht in das Diwankissen, worin er ihren Duft noch spürte, und unter Schluchzen, wie als Kind, schlief er ein (S. 54f.).

Hatte der »eigentliche« und »natürliche« Diederich im Zustand selbstvergessener Hingabe an die Landschaftsmalereien mit Agnes zusammen in einem Kunstmuseum wieder »zu sich« gefunden, geht der erneute Selbstentfremdungsentschluß aus dem Argwohn hervor, daß »Ränke gesponnen wurden gegen seine Freiheit und seine Zukunft. Er wehrte sich dagegen vermittels schroffen Auftretens, Betonung seiner männlichen Selbständigkeit und durch Kälte, sobald die Stimmung weich ward« (S. 64). Das Bedrohliche an der Kunst besteht für Diederich darin, daß sie das geltende »Realitätsprinzip« herausfordert: Da in der Tradition des deutschen Idealismus die Kunst »die Ordnung der Sinnlichkeit« vertritt, ruft sie eine tabuisierte Logik auf »die Logik der Erfüllung gegen die der Unterdrückung«. 21 Diese Versuchung zur >Selbstbefreiung< bannt Diederich, indem er seine Schiller-Ausgabe verkauft. Die »erotische« und zugleich »befreiende« Funktion der Kunst hatte Mann übrigens 1905 in seinem Roman Professor Unrat ironisch in ihr Gegenteil verkehrt. Der triebgehemmte Gymnasiallehrer Unrat biegt die befreiende Wirkung der Kunst in ein Instrument der Unterdrückung um, indem er seine Schüler mit dem widersinnigen Aufsatz-Thema über »das dritte Gebet des Dauphins« in Schillers Jungfrau von Orleans schikaniert. 24 In dem Maße, wie Diederich sich einer dezidiert antiidealistischen Ästhetik zuwendet, sinkt Agnes für ihn immer mehr zu einem bloßen Gebrauchsgegenstand herab:

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Fritz Stern: Money, Morals, and the Pillars of Bismarck's Society. In Central European History 3 (1970), S. 52. 2 ' Herbert Marcuse: Triebstruktur und Gesellschaft. Ein philosophischer Beitrag zu Sigmund Freud, Frankfurt/M. 1990, S. 183. 24 H. Mann: Professor Unrat. Zwischen den Rassen, Zwei Romane, Düsseldorf 1976, S. 11.

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A g n e s kam, sooft er sie bestellte, und ging fort, wenn es Zeit für ihn war, zu arbeiten oder zu kneipen. Sie verführte ihn nicht mehr zu Träumereien vor Bildern, seit er einmal an einem Wurstgeschäft angehalten und ihr erklärt hatte, das sei für ihn der schönste Kunstgenuß (S. 65).

Das Schema von ungewollter Hingabe an seine »eigentlichen« und »natürlichen« Veranlagungen und Flucht nach vorn »in diese harte Zeit«, in der »jeder seinen Mann stehen« muß (S. 57), bestimmt schließlich den Abbruch des Verhältnisses zu Agnes während eines Ausflugs im ländlich-idyllisch ausgemalten Ferienort Mittenwalde. Gerade in dem Augenblick, da der »eigentliche« Diederich in äußerster Gefahr steht, Agnes völlig zu erliegen, weicht er abrupt auf die Erfordernisse einer sozialdarwinistisch aufgefaßten Tauglichkeitslehre zurück, wonach »natürliche« Regungen allein im Verhältnis von Herrschaft und Unterwerfung zur Geltung kommen. Darin unterscheidet sich Diederich deutlich von der Gestalt des adeligen Liebhabers Botho von Reinäcker in Theodor Fontanes 1887 erschienenem Roman Irrungen, Wirrungen, in welchem eine vergleichbare »Landpartie« vorkommt, die Heinrich Mann zur Vorlage gedient haben dürfte. 25 Auch fürFontanes Rienäcker verkörpert die kleinbürgerliche Geliebte »Einfachheit, Wahrheit und Natürlichkeit«. 26 Rienäckers Abbruch der Beziehung zu Lene Nimptsch und sein Entschluß, in eine »standesgemäße« Ehe einzuwilligen, sind auf äußere, traditionsbestimmte Einflüsse zurückzuführen, nämlich das Drängen der Mutter. Während Rienäckers »natürliche« Empfindungen traditionellen Standesschranken ungewollt zum Opfer fallen, ist Diederich fest entschlossen, über die von der Mutter ererbten Neigungen zu kleinbürgerlicher Selbstbescheidung hinwegzukommen. Der Gedanke an eine Eheschließung mit Agnes ruft in ihm jene kindlichen Ängste vor den modernen Erwerbsverhältnissen wach, die er weiterhin mit Erinnerungen an die Mutter verbindet. Er hat jenen Argwohn verinnerlicht, den der Vater gegenüber der Mutter gehegt hatte: Deren »gefühlsselige Art [...] verdarb das Kind fürs Leben« (S. 6). Nicht in erster Linie die bescheidenen geschäftlichen Aussichten Herrn Goppels sind für Diederich entscheidend, sondern sozialpsychische Rücksichten. Agnes, so befürchtet er, könnte ihn »aus seiner Bahn [...] reißen« (S. 71 ) und »ganz untauglich [...] für diese harte Zeit« machen (S. 75). An dem Kontrastbild zwischen der ersten Freundin Agnes Goppel und der späteren Ehefrau Guste Daimchen gibt sich Diederichs Sexualität als die Umkehrung jenes Frauenideals zu erkennen, das Heinrich Mann 1905 in seinem Essay Gustav Flaubert und Georg Sand hochgehalten hatte: Seit Rousseau scheine »Zurück zur Natur!« immer »Zurück zur Frau!« zu bedeuten: »In Georg Sand liest man keinen Schriftsteller: man erlebt das weibliche Genie selbst, mit seiner Neigung, zu versöhnen, das Gute und das Wahre in einem zu fühlen«. 27 Ganz anders als bei

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Klaus Schröter: Heinrich Mann: >UntertanZeitalterNeue Romanik< (Die Gegenwart 48, 1895, S. 40-42) und >Barbey d'AurevillyBurgeoisie< (sie) ließe sich vielleicht zum Theil als unbewußter Protest gegen eine Störung der natürlichen Ordnung erklären [,..]44

Ein wesentliches Kontinuitätsmoment zwischen der bürgerlich-konservativen Vorwärtsverteidigungsideologie des jungen Deutschnationalen und dem späteren bürgerlichen Demokraten Heinrich Mann besteht darin, daß das »naturgegebene« Aufgehobensein des Bürgertums in der Ständehierarchie durchweg im Zusammenhang mit dessen »unschuldigem« sozioökonomischem und kulturellem Status steht, potenziert durch das Bewußtsein, ein »Opfer« der Modernisierung zu sein (vgl. S. 97f. unten): Die ureigentlichsten Tugenden des deutschen Bürgertums, die Friedfertigkeit und die Selbstbescheidung, drohen ihm zum Verhängnis zu werden. Denn die Allgemeinheit, so Mann 1895, habe ihre Aufmerksamkeit vor allem auf die Arbeiterschaft gerichtet, um »den zunächst ungefährlichen Mittelstand, dessen Elend sich nicht mit Ostentation ausbreitet, um so sicherer vernachlässigen zu dürfen«. 45 In der Nachfolge des frühen Nietzsche sehnt sich Mann nach dem »reinen und kräftigen Kerne des deutschen Wesens«, welcher »die gewaltsam eingepflanzten fremden Elemente ausscheiden« werde, damit der deutsche Geist »sich auf sich selbst zurückbesinnen« könne und »sich nach einem Führer umblicken«, der ihn »wieder in die längst verlorene Heimat zurückbringe«. 46 Wie vor ihm Nietzsche, befürchtet Mann, daß die Deutschen sich 1871 »selbst zu verlieren anfingen, als sie sich endlich wiedergefunden hatten«. 47 Mit dem frühen Nietzsche verbindet Mann

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47

Das Reichstags-Wahlrecht, a.a.O. S. 471 f. In diesem Sinne einer Wiederherstellung des ökonomischen wie sozialpsychischen Gleichgewichts - als Überwindung des »Dilettantismus« in dem durch Paul Bourget vermittelten Sinn (vgl. Klaus Schröter: Anfänge Heinrich Manns. Zu den Grundlagen seines Gesamtwerks, Stuttgart 1965) - hatte 1894 die bürgerliche Familienidylle in Manns erstem Roman In einer Familie gegolten. Auch hier treffen »Natur« und »Gemeinschaft« im Interesse bürgerlicher Identitätssicherung zusammen. Kriegs- und Friedensmoral II. In Das Zwanzigste Jahrhundert 6 (1895), S. 21. F. Nietzsche: Die Geburt der Tragödie. In KarlSchlechta(Hg.): Friedrich Nietzsche. Werke in drei Bänden, a.a.O. Bd. 1, S. 128. F. Nietzsche: Mahnruf an die Deutschen, ebd. Bd. 3, S. 306.

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also das Bewußtsein jenes »Krankheitszustandes«, an dem das deutsche Wesen »vornehmlich seit der Französischen Revolution [...] zu leiden« gehabt habe namentlich die »eigentlich kulturwidrige Doktrin« des Liberalismus. 48 Wie bedenkenlos dieser bürgerliche Opfermythos bei dem jungen Heinrich Mann in eine rassisch-völkische »Angriffsideologie« (Wehler) 49 überzugehen vermochte, zeigt sich am eindringlichsten in seiner bürgerlich-«humanistischen« Rechtfertigung des Antisemitismus. Indem eine unschuldige Bürgerlichkeit ihren festen Platz in der ständisch-hierarchischen Ordnung naturgesetzlich verankert glaubt, stellt die Bedrohung dieses »nothwendigen Ausdruck[s] natürlicher Zustände« bereits das physische Überleben des Gegners in Frage: Die Juden seien »in mancher Beziehung unser böses Gewissen. Sie erinnern uns täglich an den Preis, der für eine mißverstandene und künstliche >FreiheitKultur< ist hinfällig, so lange man die wilden Thiere im >freien Spiel der Kräfte< duldet, anstatt sie auszurotten oder in Käfige zu sperren!« 50 Ähnlich wie bei den Versuchen Otto Ammons, zwischen einer »gemäßigten« und einer »radikalen« Rassen- und Klassenprivilegien legitimierenden Auslegung Darwins zu vermitteln, hat der junge Heinrich Mann die bürgerlichen Mittelschichten für die Hauptrolle in einer »natürlichen« und »gesunden« Sozial- und Staatsordnung ausersehen. 5 ' Als Ziel des nationalen und sozialen Gesundungsprozesses behält er jene »vorrevolutionäre« Einheit der Klassen im Auge, für die Bismarck Pate steht und die von einem regelrechten »Vernichtungskrieg« bedroht sei, der entschiedene Gegenmaßnahmen verlange: Nicht nur im Nationalen, auch im Psychischen bedürfe Deutschlands »verfeinerte Geistigkeit« einer Infusion von Macht, ja einer Armee

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Ursprünglich geplantes Vorwort zur >Geburt der Tragödie< an Richard Wagner (22. Februar 1871). In Friedrich Nietzsche: Der Fall Wagner, a.a.O. S. 286. H.-U. Wehler: Wie >bürgerlich< war das Deutsche Kaiserreich? In Jürgen Kocka (Hg.): Bürgerund Bürgerlichkeit im 19. Jahrhundert, Göttingen 1987, S. 253. H. Mann: Jüdischen Glaubens. In Das Zwanzigste Jahrhundert 5 ( 1895), S. 460, 462. Vgl. Alfred Kelly: The Descent of Darwin. The Popularization of Darwin in Germany, 18601914, Chapel Hill 1981, S. 106.

gegen den »rohen und skrupellos gebliebenen Osten«. Eine solche Ausbreitung nach Osten, »ob sie mit oder ohne Gewalt vor sich gehe«, werde »mit der Zeit gerade so unvermeidlich sein, wie die Einnahme gesunder und fruchtbarer Kolonien«. 52 Indem er die Suche nach Kolonien befürwortete, galten die Sympathien Manns keineswegs den wirtschaftlichen Interessen der Kolonialgesellschaften. Ebenso wie die meisten Wortführer des »Alldeutschen Verbands« erblickte er vielmehr in dem Erwerb von Kolonien die notwendige Existenzgrundlage für ein künftiges unabhängiges deutsches Kleinagrariertum. 53 Dennoch arbeitetete Mann mit seinem selbsttrügerischen I m p e r i a l i s m u s der Unschuld< 1895/96 letztenendes einer expansionistischen »Weltpolitik« in die Hände, die den von dem wilhelminischen Mittelstand als bedrohlich empfundenen monopolkapitalistischen Entwicklungen ungewollt Vorschub leistete. Indem er die idealistischen Interessen einer »höheren Gemeinschaft« in einem sozialdarwinistischen Sinne umbog, trat Mann 1895/96 jene Flucht nach vorn in die Unterordnung unter die Notwendigkeiten einer »harten Wirklichkeit« an, deren sozialpsychische Wurzeln er am Vorabend des Ersten Weltkrieges im Untertan bloßlegte: Solche Verschränkungen von psychischem Orientierungsbedürfnis und nationalem Sendungsbewußtsein veranschaulicht der Untertan im begeisterten Einsatz des Fabrikbesitzers und Großaktionärs Diederich Heßling für die kaiserliche Flottenpolitik. 1895 bieten - angesichts der durch die rasche Modernisierung bewirkten persönlichen und sozialen Orientierungslosigkeit - »kriegerische Epochen« paradoxerweise Sicherheit und Geborgenheit: [...] gerade im Kriege werden die Gefühle Aller voll und einfach. Eine kriegerische Epoche erhebt ihre Kinder auf eine für gewöhnlich unerreichbare Höhe. Der Ausblick von dort oben ist umfassend und dabei vereinfacht. Es reden in diesen Menschen nicht mehr die alltäglichen kleinlichen Gesichtspunkte gegeneinander an. Der Neid und die Gewinnsucht schweigen, eine allgemeine Ehrlichkeit hat die gewöhnliche Heuchelei jedes Tages und jeder Minute ersetzt [,..]54

Die Bemühungen des jungen Heinrich Mann, sich in die soziale und psychische Stabilität einer von preußisch-militärischen Tugenden bestimmten nationalen Gemeinschaft zu retten, galten für ihn bereits 1896 endgültig als gescheitert. Dafür sind bisher keine äußeren Anlässe bekannt, und Mann ließ über seine deutschnationale

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H. Mann: Kriegs- und Friedensmoral I. In Das Zwanzigste Jahrhundert 5 (1895), S. 592. Vgl. Roger Chickering: We Men Who Feel Most German, Boston/London/Sydney 1984, S. 91. Bereits in dem 1894 gegründeten »Bund der Landwirte« setzten die Junker eine der nationalsozialistischen Unterscheidung zwischen »raffendem« und »schaffendem« Kapital funktionsverwandte Form des Antisemitismus ein, um die Unterstützung der Kleinbauern zu gewährleisten. Siehe Barrington Moore, Jr.: Social Origins of Dictatorship and Democracy. Lord and Peasant in the Making of the Modern World, Penguin Books 1969, S. 448. 1895 unterstütze Heinrich Mann den Kampf des Bundes der Landwirte gegen eine Demokratisierung des Wahlrechts. Vgl. Das Reichstags-Wahlrecht, a.a.O. S. 475f. H. Mann: Kriegs- und Friedensmoral II, a.a.O. S. 25.

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Frühphase nichts mehr verlauten. 55 Die im September 1896 entstandene und 1898 im Simplicissimus erschienene Novelle Das gestohlene Dokument gibt klar zu erkennen, daß Mann nicht länger gewillt war, den für den wilhelminischen »Untertanen« charakteristischen »Verfolgungs- und Größenwahn«, zu dem die »modernen Erwerbsverhältnisse« Anlaß gaben, 56 >fremdartigen< Ursachen zuzuschreiben. Ort der Handlung ist das Preußische Ministerium des Innern. Dort herrschen keineswegs preußisch-deutsche Vertrauensseligkeit und Einmütigkeit. Die Beamtenstuben wimmeln vielmehr von agents provocateurs. Die persönliche Verunsicherung und der Verfolgungswahn gehen so weit, daß sogar der Minister des Innern »geäußert haben [soll], daß er sich selbst nicht mehr traue«. 57 Die Nibelungentreue seines Geheimrates von Glumkow will es, daß er seinen Traum, er habe eine Geheimakte gestohlen, nicht von der Wirklichkeit zu unterscheiden imstande ist. Mit Rücksicht auf seine honorig-traditionsreiche Familie- »fünf Generationen ehrenwerterBeamter« - nimmt er sich das Leben. Mit diesem Beamtenselbstmord setzt Heinrich Mann symbolisch den Schlußstrich unter die eigene Bismarck-Nostalgie, im Zeichen derer er die ständisch-vorindustrielle Gesellschaftsordnung in die Moderne hatte hinüberretten wollen. Die Befürchtung Manns aus dem Jahre 1895 - »Man nennt sich entschieden liberal, wenn man die Großindustrie bereichern, die Börse vor Unbequemlichkeiten behüten möchte« 58 - war inzwischen zur Gewißheit geworden. In dem Essay Bauerndichtung aus demselben Jahr hatte sich ihm die deutsche Hauptstadt noch als Ausnahmezustand dargestellt, den die düsteren Milieuschilderungen der deutschen Naturalisten irrigerweise als typisch für das Ganze ausgaben: Was Berlin angehe, seien die »faulen Zustände«, wie sie der französische Romancier Guy de Maupassant im Hinblick auf Paris geschildert habe, allenfalls »in seltenen Winkeln« zu finden. 59 1898 hingegen, als Mann die Arbeit an seinem Roman Im Schlaraffenland aufnahm, diente ihm Maupassants Roman Bei Ami (1885) zur Vorlage für seine Berliner Gesellschaftssatire. 60 Die »faulen Zustände« Berlins hatten ihre »seltenen Winkel« nunmehr verlassen. Im Schlaraffenland verweist nur noch ironisch auf die Möglichkeit einer Aussöhnung zwischen dem modernen »freien Spiel der Kräfte« und »bürgerlicher Kultur«, zwischen »Macht« und »Geist«. Im Gegensatz zu den Versuchen Manns im

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Eine Anspielung darauf findet sich im Essay >Flaubert< (1905): Gute Satiren habe nie jemand geschrieben, er hätte denn »irgendeine Zugehörigkeit gehabt zu dem, was er dem Gelächter preisgab: ein Apostat oder ein Nichteingelassener. In Satiren ist Neid oder Ekel, aber immer ein gehässiges Gemeinschaftsgefühl. Einem Fremden gelingt keine« (E, 113). H. Mann: Die Aachener Sachverständigen. In Das Zwanzigste Jahrhundert 5 (1895), S. 368. H. Mann: Novellen, Hamburg 1963, S. 103 (Hervorhebung i. Orig.). H. Mann: Das Reichstags-Wahlrecht, a.a.O. S. 469. H. Mann: Bauerndichtung. In Das Zwanzigste Jahrhundert 5 (1895), S. 348. Ulrich Weisstein: Bel-Ami im Schlaraffenland. Eine Studie über Heinrich Manns Roman >Im Schlaraffenland*. In Rudolf Wolff (Hg.): Heinrich Mann. Werk und Wirkung, Bonn 1984, S. 77-93.

Zwanzigsten Jahrhundert, den Selbsterhaltungstrieb (Darwin) mit der soziokulturellen »Gesundung« des Bürgertums (Nietzsche) in Einklang zu bringen, gehen Darwin und Nietzsche die schlimmstmögliche Kombination ein. Nietzsches »Übermensch« dient nur noch zur Rechtfertigung der rücksichtslosesten Ausbeutung durch das »Genie der Tat«, 61 den Großfinanzier und Börsenschwindler Türkheimer. In diesem Roman machen jene »thierischen Instinkte«, deren Zähmung sich Mann 1895/96 noch erhofft hatte, geradezu die Signatur des wilhelminischen Berlins aus. Die »gutmütige« deutsche Bürgerlichkeit ist bei dem modernen Typus der Unternehmer »mit ihren Raubtierinstinkten gerade so verquickt wie ihre allgemein menschliche Dummheit mit ihrer geschäftlichen Schlauheit«. 62 Wie an seinem Versuch deutlich wird, es Wilhelm II. im Bartwuchs gleichzutun, befindet sich bei dem ehrgeizigen Kleinbürger Andreas Zumsee, ähnlich wie bei Diederich Heßling im Untertan, der Machtwille in einem umgekehrten Verhältnis zu seiner psychischen Stabilität und seinem persönlichen Selbstwertgefühl. Zumsee sucht Zuflucht in jener »Verkleidung und Verstellung«, die Nietzsche in seiner zweiten Unzeitgemäßen Betrachtung 1873 als Ergebnis des Leidens der Deutschen an der »Schwäche der Persönlichkeit« 63 diagnostiziert hatte: Bei Anlage der neudeutschen Barttracht kam ihm der schwache Wuchs seines Schnurrbartes zu Hilfe; er vermochte die Haare einzeln nebeneinander zu legen, bevor er sie bis an das untere Augenlid hinaufführte. Die Härte und Entschlossenheit seines Blickes [...] verstand er durch dunkle Schatten, mit Kohle hergestellt, noch wirksamer zu machen."

Anders als bei Diederich jedoch ist das schauspielerische Auftrumpfen Zumsees ein bloßes Schattenspiel. Der Kleinbürger bleibt zum Schluß doch Kleinbürger. Ähnlich liegt der Fall bei dem Nietzsche-Epigonen und »heroischen Nihilisten« Spießl in dem 1903 erschienenen Roman Die Jagd nach Liebe. Dieser kleine Versicherungsangestellte biegt Nietzsches starke »Persönlichkeit« zur Rechtfertigung eines rücksichtslosen Wirtschaftsegoismus sozialdarwinistisch um. Ebenso wie der Untertanentypus Gottlieb Hornung im Untertan liefert Spießl, indem er dem »Recht des Stärkeren« die naturgesetzliche Weihe verleiht, die ideologische Rechtfertigung für die eigene Subalternität. Der ressentimentgesteuerte Kleinbürger Professor Unrat im gleichnamigen Roman (1905) hingegen sucht wirksamere Kompensationen für die eigenen Ohnmachtsgefühle. Ersteigert sich - gleich Diederich Heßling - in die Rolle des absolutistischen

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H. Mann: Der Untertan. Im Schlaraffenland. Zwei Romane, Düsseldorf 1976, S. 745. Ebd. S. 563. Auf die Bedeutung der Tiersymbolik in diesem Roman macht Renate Werner aufmerksam: Ästhetizismus und Skeptizismus, a.a.O. S. 75ff. F. Nietzsche: Vom Nutzen und Nachteil der Historie für das Leben. Werke in drei Bänden, a.a.O. Bd. 1,S. 234. H. Mann: Im Schlaraffenland, a.a.O. S. 806.

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Herrschers hinein, welcher entschlossen ist, sein Reich »gegen Aufrührer« zu verteidigen. 65 Aber anders als bei Diederich entladen sich bei Unrat die Spannungen zwischen realer Machtlosigkeit und überhöhtem Selbstbewußtsein, staatserhaltender Konformität und innerem Anarchismus in der Selbstzerstörung. Seine Hilflosigkeit gegenüber dem Vehikel seiner Rache an der bürgerlichen Gesellschaft, Rosa Fröhlich, läßt ihn buchstäblich als Gefangenen dieser Gesellschaft enden, als deren Opfer, ja Sündenbock. 66 Im Gegensatz zu Unrat jedoch hat Diederich Heßling gelernt (wie aus seinem Verhältnis zu Agnes Goppel ersichtlich wurde), den Versuchungen der Weiblickeit zu widerstehen und in bewußter Selbstentfremdung das Liebesbedürfnis in Selbstbehauptungsenergien umzufunktionieren. Und anders als Andreas Zumsee meint es Diederich mit der »Verkleidung« und »Verstellung« ernst. Unmittelbar nach dem endgültigen Bruch mit Agnes und kurz vor der Rückreise nach Netzig läßt er seinen Schnurrbart zeitgerecht im Stil Wilhelms II. umfrisieren. Dies stellt für Diederich den entscheidenden Schritt in der Überwindung seiner kleinbürgerlichen Selbstbescheidung dar: Bislang war ihm die neudeutsche Barttracht »nur zu vornehm erschienen, um nachgeahmt zu werden« (S. 76). Schon aus dem ersten Auftreten Diederichs vor seinen Arbeitern erhellt der sozialgeschichtliche Tatbestand, daß das deutsche Bürgertum sich gegenüber dem Proletariat als priviligierte Klasse konstituierte, ohne vorher als Stand die volle Ebenbürtigkeit gegenüber dem Adel erlangt und die politische Macht übernommen zu haben. 67 Kaum in Netzig angelangt, ergänzt der neue »Herr-im-Haus« die »vornehme« Pose des Kaisers durch dessen »moderne« Persönlichkeit im Sinne eines auf wirtschaftliche Expansion drängenden »Neuen Kurses«: Droben legte Diederich vor Mutter und Schwestern seine Pläne dar. Die Fabrik war zu vergrößern, das hintere Nachbarhaus anzukaufen. Man mußte konkurrenzfähig werden. Der Platz an der Sonne! (S. 81).

In Kaisersworten, wie sie Wilhelm II. am 5. März 1890 in einer Tischrede bei einem Festbankett des brandenburgischen Provinzial-Landtages geäußert hatte, um den Rücktritt Bismarcks zu erzwingen, 68 erklärt Diederich vor versammelter ArbeiterMannschaft seine Unabhängigkeit gegenüber dem alten, auf nüchterne Selbstbegrenzung bedachten Buchhalter Sötbier. Mit einer »bonapartistischen« Mischung aus patriarchalischer Fürsorglichkeit und nackten Drohgebärden verkündet Diederich seinen »neuen Kurs« - die Modernisierung und Vergrößerung der Papierfabrik:

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Professor Unrat, a.a.O. S. 127. Siehe Frithjof Trapp: > Kunst< als Gesellschaftsanalyse und Gesellschaftskritik bei Heinrich Mann, Berlin/New York 1975, S. 139-185. Gerhard A. Ritter/J. Kocka (Hg.): Deutsche Sozialgeschichte 1870-1914, a.a.O. S. 69. Vgl. Lothar Gall: Bismarck: Der weiße Revolutionär, Frankfurt a. M./Berlin/Wien 1980, S. 700.

Jetzt habe ich die Steuer selbst in die Hand genommen. Mein Kurs ist der richtige, ich führe euch herrlichen Tagen entgegen. Diejenigen, welche mir dabei behilflich sein wollen, sind mir von Herzen willkommen; diejenigen jedoch, welche sich mir bei dieser Arbeit entgegenstellen, zerschmettere ich. [...] Einer ist hier der Herr, und das bin ich. Gott und meinem Gewissen allein schulde ich Rechenschaft. Ich werde euch stets mein väterliches Wohlwollen entgegenbringen. Umsturzgelüste scheitern aber an meinem unbeugsamen Willen [...] (S. 80).

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II. Integration und Auflosung

1. Die Personalisierung der Politik Daß Anachronismen sich vorzüglich zur satirischen Behandlung eignen, davon haben Wilhelm II. und der Simplicissimus wohlbekannte Beispiele abgegeben. Im Untertan geht es Heinrich Mann jedoch nicht vorrangig darum, durch den simplen Kunstgriff einer Kaiser-imitatioden wilhelminischen »Untertanengeist« karikierend der Lächerlichkeit preiszugeben. Was auf den ersten Blick nach Schematisierungen und Vergröberungen in der Personenzeichnung aussehen mag, ist nicht von vornherein mit der Vereinfachung, gar Verzerrung psychologischer oder historischerSachverhalte gleichzusetzen. Mann gibt sich nicht damit zufrieden, die politische Verfügbarkeit »anachronistischer« Persönlichkeits- und Gesellschaftsstrukturen aufzuzeigen. Seiner ideologiekritischen Intention, das Mißverhältnis zwischen harmonisierender Ideologie und antagonistischer Wirklichkeit in der wilhelminischen Gesellschaft aufzudecken, liegen die »ungleichzeitigen« Widersprüche zwischen Integrations- und Modernisierungskräften in einer Zeit des raschen Übergangs von der Stände- zur modernen Industriegesellschaft zugrunde. Bereits vor der Jahrhundertwende und nicht zuletzt dank der eigenen Beobachtungen und Erfahrungen 1895/96 hatte Mann einer Einsicht vorausgespürt, die inzwischen fast zu einem Gemeinplatz der Geschichtswissenschaft geworden ist - , daß nämlich das »persönliche Regiment« Wilhelms II. »der teils bewußt, teils unbewußt unternommene Versuch« war, »die Widersprüche zwischen politischer Struktur und gesellschaftlicher Entwicklung durch eine personale, symbolische Zuspitzung des konstitutionellen Machtgefühls zu lösen«.1 Die integrative Symbolkraft der Monarchie hatte Mann bereits 1900 in Im Schlaraffenland als Ablenkungsmanöver für die Börsenmanipulationen der Großbourgeoisie bloßgelegt. Voller Bewunderung für einen von dem Großfinanzier Türkheimer inszenierten Börsenschwindel hatte Andreas Zumsee nach der modern-kapitalistischen Verfügbarkeit eines als anachronistisch erfahrenen Kaisertums gefragt: Wo befindet sich denn jetzt die Macht? Wo wird denn über die höchsten Interessen der Nation entschieden? [...] Wenn Sie eine ausgestopfte Uniform tragen würden, Herr Generalkonsul, mit

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Michael Stürmer: Bismarcks Deutschland als Problem der Forschung. In ders. (Hg.): Das kaiserliche Deutschland. Politik und Gesellschaft 1870-1918, Düsseldorf 1970 und 1977, S. 20.

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vielen goldenen Tressen, Schnüren, Knöpfen und Quasten, und einen Helm mit wild wehendem Federbusch auf dem Haupte, dann würden alle sehen, wo die Macht sich befindet. So aber traut der blöde Pöbel sie noch immer jenen anderen, Buntgekleideten zu, die bloß Theater spielen, Reden halten, Orden verleihen, feierlich frühstücken und Ehrenjungfrauen auf die Stirne küssen, öffentlich beweihräuchert und hinterrücks verulkt [,..].2

Hatte sich Zumsee in der Rolle des Bewunderers der bestehenden Machtverhältnisse zurechtgefunden, um nach Gutdünken der Mächtigen gelegentlich Gewinn aus diesen Verhältnissen zu schöpfen, wendet Diederich Heßling im Untertan sozioökonomische Widersprüche systematisch zum eigenen Vorteil. Verglichen mit der karrieredienlichen Mobilmachung des Kaisertums durch Diederich, nimmt sich die »Feudalisierung« Zumsees recht harmlos aus. Seine selbsttrügerische Namensänderung in »zum See« gegen Ende des Romans verweist lediglich auf seine tatsächliche Abhängigkeit von der Willkürherrschaft der Großbourgeoisie. Diederich hingegen wittert in Wilhelm II. die widersprüchlichen Tendenzen der Epoche. Indem er sich mit diesen Widersprüchen befreundet und sie gleichzeitig zu verschleiern sucht, stellt er das spiegel verkehrte, ins Bürgerliche transponierte Bild Wilhelms II. dar. Diederich nimmt das publikumswirksame Bild des Kaisers, in dem sich die tradierte »Friedenskaiserideologie« eines von Gott berufenen »Arbiter mundi« mit den expansionistischen Zielen eines modernen europäischen Nationalstaates verband, 3 in Beschlag, um sich den Weg vom kleinen Unternehmer zum Großindustriellen zu bahnen. Im Wirtschaftlichen schützt Diederich den Kaiser einerseits als Verkörperung der modern-unternehmungslustigen, »großzügigen« Persönlichkeit vor, andererseits als Traditionssymbol für einen autoritäts- und schutzbedürftigen, letztenendes von der eigenen Konkurrenzfähigkeit nicht überzeugten »wohlverstandenen Liberalismus«. Gleichzeitig trägt er dem psychischen Bedürfnis einer anachronistischen Autorität nach Selbstvergewisserung Rechnung: In Fortführung der Bismarckschen Strategie, die staatstragenden Schichten als Garanten bürgerlicher Sicherheit und Ordnung angesichts des äußeren wie des inneren Feindes schmackhaft zu machen, 4 beruhte die wilhelminische Spielart »bonapartistischer«, akklamatorisch-plebiszitärer Herrschaftssicherung durchaus auf Gegenseitigkeit zwischen den traditionellen Eliten und dem Bürgertum. Das Verhältnis zwischen Kaiser und Volk, »Führer« und »Masse« zeigt sich bei Heinrich Mann in einer schillernderen sozialpsychologischen Perspektive als etwa bei Freud, der die Identifikation mit der Führerpersönlichkeit gleichzeitig die Identifikation mit allen anderen Mitgliedern der »Masse« mit sich ziehen sah. 5 Im

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H. Mann: Im Schlaraffenland, a.a.O. S. 748. Elisabeth Fehrenbach: Wandlungen des deutschen Kaisergedankens 1871-1918, München/Wien 1969, S. 162. Vgl. H.-U. Wehler: Das Deutsche Kaiserreich, a.a.O. S. 63-69. Sigmund Freud: Massenpsychologie und Ich-Analyse. In ders.: Gesammelte Werke, 4. Auflage, Bd. XIII, Frankfurt/M. 1963, S. 128.

Untertan antizipiert die Orientierung auf den achtunggebietenden »großen Mann« jenen Mechanismus der »Stereotypie«, 6 die dezisionistische Denkmuster politisch massenwirksam macht: Die Fixierung auf eine charismatische Führergestalt verhilft dem »willensschwachen« vorkapitalistischen Wirtschaftsmenschen (W. Sombart), der sich mit den harten Wirklichkeiten moderner Erwerbsverhältnisse konfrontiert sieht, zur besseren Erkennbarkeit des »Feindes« und leitet ihn zu entschlossenem, durchschlagskräftigem Handeln an. So ist die gleichzeitig traditionelle und »moderne« Gestalt Wilhelms II. jener Radikalisierung hergebrachter Maßnahmen der Herrschaftsstabilisierung förderlich, die Diederich schon in der Schule und der Studentenkorporation »Neuteutonia« erprobt hatte. In beiden Fällen hatte er den Rahmen des »Üblichen und Gebotenen« gesprengt, und sein entschiedenes Vorgehen gegen das »Feindbild« hatte ihm Ansehen und Erfolg eingebracht. Ähnlich wie einige Jahre später der Zeitungsreporter bei der Arbeitslosendemonstration in Berlin, hatten bereits Diederichs Mitschüler seine Bezwingung des »Feindes« als Befestigung des allgemeinen sozialen Einverständnisses kolportiert. Am augenfälligsten gibt sich diese Paradoxie eines durch antagonistisches Freund-Feind Denken herbeigeführten nationalen Scheinkonsens in dem Hergang und Verlauf des gegen den freisinnigen Fabrikanten Lauer geführten Majestätsbeleidigungsprozesses zu erkennen, welcher die entscheidende Phase des wirtschaftlichen, sozialen und politischen Aufstiegs Diederichs in Netzig markiert. Nach der Erschießung eines von Diederich entlassenen und vor dem Hause des Regierungspräsidenten von Wulckow demonstrierenden Arbeiters durch einen Wachposten überreicht Diederich dem Redakteur der Netziger Zeitung eine selbstverfaßte »kaiserliche Depesche«, die den Todesschützen zum Gefreiten befördert. Daraufhin wird eine in der Netziger Zeitung abgedruckte, von Diederich fingierte Grußadresse Wilhelms II. durch den kaisertreuen Berliner Lokal-Anzeiger bestätigt: Da stand es, unter anderen unbezweifelten Dingen, in dem einzigen Blatt, das Seine Majestät selbst las! [...] Kein Dementi: eine Bestätigung! Er machte Diederichs Worte zu den seinen, und er führte die Handlung aus, die Diederich ihm unterlegt hatte!... Diederich breitete das Zeitungsblatt aus; er sah sich darin wie in einem Spiegel, und um seine Schultern lag Hermelin (S. 131).

Die Erschießung des Arbeiters gibt den Anlaß zu einer Auseinandersetzung zwischen »freisinnigen« und »nationalgesinnten« Bürgern im Netziger Ratskeller. In deren Verlauf provoziert Diederich Lauer zu der Bemerkung, daß auch die allerhöchsten Adelskreise in Deutschland »verjudet« seien. Wiederum sind es die gängigen Feindbilder - Sozialdemokratie und Judentum - die für Diederichs Erfolge den Ausschlag geben. Und wiederum gibt für die politische Wirksamkeit dieser Feindbilder

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Th. Adorno: Studien zum autoritären

Charakter, a.a.O. S. 188. Vgl. oben, S. 21 f.

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ein Kaiser die Folie ab, der »mehr als ein Schattenkaiser« zu sein habe (S. 110). Historisch gesehen kam die Taktik des Kanzlers von Bülow, den Argwohn Wilhelms II. auszuräumen, lediglich ein »Schattenkaiser« zu sein, einem unter dem Bürgertum weitverbreiteten Bedürfnis nach einem wirksamen Integrations- und Kontinuitätssymbol an der Spitze des Staates entgegen. 7 In diesem Sinne dient auch im Untertan die Personalisierung der Macht dazu, jede kritische Öffentlichkeit von dem politischen Bewußtsein der Bürger fernzuhalten, so daß die Symbolfigur sozialer Kohäsionskraft und nationalen Selbstbewußtseins, die »persönlichste Persönlichkeit« (S. 98) Wilhelms II., als alles andere überlagernder Programmpunkt auf der politischen Tagesordnung verbleibt. Die politische »Biegsamkeit« nationalliberaler Politik, 8 die mit dazu beitrug, die Fiktion von dem Staat »über den Parteien« und jenseits von jeder wirtschaftlichen Interessevertretung aufrechtzuerhalten, bereichert Heinrich Mann um eine sozialpsychologische Perspektive. In der »vorkapitalistischen«, konkurrenzscheuen Schicht seiner Persönlichkeit befürchtet Diederich, daß »alle gerissener und brutaler im Leben vorgingen als er selbst. Die große Aufgabe war: wie ward man energisch« (S. 129). Wann immer die Gewalt des eigenen Selbstbehauptungstriebes ihm von dritter Seite zuzustoßen droht, sucht Diederich in Tränen, Kindheitsphantasien und romantischen Sehnsüchten Zuflucht, um dann desto energischer vor der eigenen »Untauglichkeit« die Flucht nach vorn in eine demonstrativ zur Schau getragene »praktische« und »pragmatische« Manneskraft anzutreten. Als seine vermeintlichen Gesinnungsgenossen sich noch kurz vor dem Prozeß aus geschäftlichen Rücksichten von ihm distanzieren, sucht Diederich Zuflucht in kleinbürgerlicher Selbstbescheidung: »Sein Verhalten im Prozeß gegen Lauer sei aus frommer Absicht geschehen, in übergroßer Verehrung der Macht: gleichviel, jetzt hieß es sich besonnen verhalten [...] sich ducken und ganz klein machen, bis man ihr vielleicht doch noch entrann. Wer erst wieder dem Privatleben gehörte! Diederich versprach sich, fortan ganz seinem geringen, aber wohlverstandenen Vorteil zu leben (S. 161). Diederichs bedächtiges Lavieren in den Frühstadien des Majestätsbeleidigungsprozesses macht im opportunen Augenblick einem entschiedenen Entweder/ Oder Platz. Eine darwinistisch gestimmte Tier- und Naturmetaphorik von Verteidigung und Angriff bestimmt denn auch den Fortgang des Prozesses: Vor dem »Geierschnabel« des Gerichtsvorsitzenden Sprezius windet sich Diederich zunächst in der Unschuld des konfliktscheuen »Unpolitischen«. Sobald aber der kraftstrotzende Junker Wulckow - »im Jagdanzug mit großen, kotigen Stiefeln« (S. 166) - den Gerichtssaal betritt, findet Diederich zu seinem >machtgestützten< Selbstbewußtsein

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»Das deutsche Volk will keinen Schattenkaiser, es will einen Kaiser von Fleisch und Blut«. Hartmut Eggert: >Das persönliche Regiments Zur Quellen- und Entstehungsgeschichte von Heinrich Manns >UntertanUntertanUntertanZeitalterDer Untertam. In Literaturwissenschaftliches Jahrbuch 7 (1966), S. 209-227.

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einen noch Höheren wird er lärmend und unsolide. Kein Zweifel: die Siege seiner Eitelkeit werden geschäftlichen Zweeken dienen. Zuerst bringt die Komödie seiner Gesinnung einen Majestätsbeleidiger ins Gefängnis. Später findet sich, was daran zu verdienen ist« (S. 182f.). Diese Verquickung von modernem Draufgängertum und patriarchalisch-honoriger Tradition - »Unternehmungsgeist und Großzügigkeit« (S. 124) - weist die preußischen Ehrbegriffe sowie das Persönlichkeitsideal Bismarcks als Traditionsbestände aus, die sich nach Belieben zu »modernen« Zwecken umfunktionieren lassen. So hatten die beiden Hauptvertreter des »Geistes von 1871 « und Stützen des Kriegervereins, Major Kunze und Professor Kühnchen, sich zu Anfang des Prozesses von der »Skandalaffäre« des »Denunzianten« Diederich distanziert (S. 135, 167). Als jedoch Lauers Verurteilung beschlossene Sache ist, lassen sie Diederich auf Anregung Wulckows wissen, daß seiner Mitgliedschaft im Kriegerverein nichts mehr im Wege stehe. Nun ist es der »moderne« Diederich, der den Ton angibt. Er diktiert Kunze und Kühnchen sogar die Begrüßungsrede für seine Aufnahme in den Kriegerverein und läßt sich darin bestätigen, daß er seine »treudeutsche und kaiserliche Gesinnung« bewährt habe und daß er aus »einem unter den größten persönlichen Opfern geführten Kampf [...] als lauterer, echt deutscher Charakter hervorgegangen« sei (S. 186f.). Daß der Prozeß schließlich »für alle Zeit [die] gesellschaftliche Stellung Diederichs in Netzig« sichern (S. 178) werde, beginnt sich rasch zu bewahrheiten, als die »Netziger Zeitung« sich wegen eines Teils der Papierlieferung an ihn wendet. Zu den Paradoxien einer durch Ausgrenzung des »inneren Feindes« herbeigeführten nationalen Einmütigkeit gehört es auch, daß die Spaltung der Liberalen - unter diesem Vorzeichen steht der Majestätsbeleidigungsprozeß - letztenendes eine Art nationalen »Burgfrieden« herbeiführt. Politisch läuft der abrupte Wechsel von dem mimikryhaften Verhalten des von Haus aus konfliktscheuen Diederich zu der Kampfhaltung des »modernen« Mannes darauf hinaus, »einen glatten Strich [zu] ziehen zwischen Kaisertreuen und Umsturz« (S. 222), um so im Dienste einer »negativen Integration« das »freisinnige« Feindbild radikal auszugrenzen und jener von Hans-Ulrich Wehler beobachteten »ideologischen Homogenisierung unterschiedlicher Klassen und Schichten zu einem national gesinnten Bürgertum«12 Vorschub zu leisten. (Einer solchen Homogenisierung kommt auch Diederichs Abstempelung des Liberalismus als »Vorfrucht der Sozialdemokratie« entgegen; S. 95). Auf Reichsebene hatte sich die Spaltung der Liberalen bereits 1884 vollzogen, obwohl die Mehrzahl der deutschen Städte - wie auch das »freisinnige Nest« Netzig - vorläufig noch Hochburgen des Liberalismus blieben. Ebenso wie im Untertan der alte Achtundvierziger Buck Diederich vor dem Junker Wulckow als die größte Gefahr für die Selbstverwaltung Netzigs warnt (S. 90f.), suchten die Liberalen im Deutschen Kaiserreich die bürgerliche Selbstverwaltung der Städte gegen staatliche Eingriffe zu verteidigen. Ausschlaggebend für Manns kritischen Rückblick auf den

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H.-U. Wehler: Wie >bürgerlich< war das Deutsche Kaiserreich?, a.a.O. S. 253.

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deutschen Liberalismus im Untertan ist der Umstand, daß sich schließlich der »Bourgeois« und nicht der »Citoyen« an die Spitze der politischen Vertretung des deutschen Bürgertums schob.' 3 Die Tarn- und Alibifunktion des gleichzeitig traditionellen und »modernen« Persönlichkeitsbildes Wilhelms II. verhilft der »Partei des Kaisers« (den Nationalliberalen) zu ihrer Anspruchsgeltung als einzig zeitgerechte politische Kraft. Dagegen erscheinen die übrigen Parteien als »alter Trödel« (S. 98). Derartige, sich als »sachlich« und »überparteiisch« verstehende Apologien für den neuen Nationalismus - »sachlich sein heißt deutsch sein«, meint Diederich (S. 288) - waren charakteristisch für das Bürgertum in Heinrich Manns Heimatstadt Lübeck um 1900: Das nationalliberale Bürgertum der norddeutschen Hansestädte wie Lübeck, so erinnert sich Arnold Brecht, verstand die eigenen »sachlichen« Ansichten im Gegensatz zu den »politischen« Ansichten Andersdenkender. 14 Die integrative Wirkung des Majestätsbeleidigungsprozesses reicht so weit, daß auch die Angehörigen der Freisinnigen Partei sich zu einer Art »Burgfrieden« gesellen. Damit vollzieht sich die »offene Entscheidung«, auf welche die Funktion des Kaisers als »Agitator« (S. 223) zugeschnitten ist. Die Furcht davor, bei den Nationalgesinnten in Verruf zu kommen, bestimmt auch das endgültige Umschwenken des freisinnigen Bürgermeisters Scheffelweis. Der Prozeß, wie Diederich dem Bürgermeister bedeutet, habe »einen Umschwung der öffentlichen Meinung bewirkt« : »Heute muß man sich offen entscheiden, Herr Bürgermeister. Seine Majestät haben es selbst gesagt: Wer nicht für mich ist, ist wider mich! Unsere Bürger sollen endlich aus dem Schlummer erwachen und bei der Bekämpfung der umwälzenden Elemente selbst mit Hand anlegen!« (S. 217). Sogar der bisher entschieden liberale Doktor Heuteufel beteiligt sich am Rufmord an der Familie Buck, da es ihn »drängte, seine eigene Haltung im Prozeß nachträglich zu verbessern« (S. 213). Schließlich spitzt sich die innenpolitische Frontenbildung, die der Prozeß in Gang gesetzt hat, in einer imperialistischen Stimmungsmache zu und trägt zur Bewilligung der Heeresvorlage bei. Die auf die Bismarck-Zeit zurückgehende »Herrschaftstechnik der Kriseninszenierung und innenpolitischen Mobilmachung« (W. Hardtwig), wie sie der Majestätsbeleidigungsprozeß im Untertan veranschaulicht, war gerade zur Zeit der Niederschrift dieses Teils des Romans 1 5 nicht zu übersehen, als die Jubiläumsfeiern zu den Befreiungskriegen von 1813 bewußt für die Durchsetzung der Militärvorlage instrumentalisiert wurden. Diesen Zusammenhang verdeutlicht auch Diederichs Vereitelung eines »Attentatversuchs« auf den Kaiser in Rom. Damit liefert Diederich

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D. Langewiesche: Liberalismus in Deutschland, a.a.O. S. 210. Arnold Brecht: Aus nächster Nähe. Lebenserinnerungen 1 8 8 4 - 1 9 2 7 , Stuttgart 1966. Zitiert bei Gerhard A. Ritter/J. Kocka (Hg.): Deutsche Sozialgeschichte 1 8 7 0 - 1 9 1 4 , a.a.O. S. 407. Für die Gestaltung des Majestätsbeleidigungsprozesses erbat Mann am 1 8 . N o v e m b e r 1 9 1 2 v o n seinem Rechtsberater Maximilian Brantl Einzelheiten über das Gerichtswesen. S. Anger (Hg.): Heinrich Mann 1 8 7 1 - 1 9 5 0 , a.a.O. S. 127f. Vgl. auch die Briefe Manns an Brantl vom 19.12.12, 29.12.12, 1.1.13 und 14.12.1913. Ebd. S. 128f.

den Beweis für die Notwendigkeit einer intakten, durch das Kaisertum legitimierten traditionellen Gesellschaftsordnung. Der Kampf um die Militärvorlage im Reichstag, den Diederich unmittelbar nach seiner Rückkehr nach Netzig aus Rom aufnimmt, sichert ihm die nötige Protektion für seine weitere wirtschaftliche Expansion, fördert seine politische Laufbahn als Stadtverordneter und trägt dazu bei, das noch liberale Netzig endgültig auf nationalliberalen Kurs zu bringen. In der Rom-Episode ist es wiederum die Furcht des Kaisers, nur ein »Schattenkaiser« zu sein, die zur Stabilisierung des pseudokonstitutionellen politischen Herrschaftssystems instrumentalisiert wird: »Er [Diederich] erklomm vor der Tür einen Stuhl und richtete an das Volk eine Ansprache, die von nationalem Geiste getragen war und der schlappen Bande die Vorzüge eines strammen Regiments klarmachte und eines Kaisers, der kein Schattenkaiser war« (S. 283). Daß in den Augen Heinrich Manns die Spannungen zwischen traditionellem und modernem Selbstverständnis im wilhelminischen Deutschland einen propagandistischen, der modernen Massengesellschaft angemessenen, eher als einen dynastischen Führungsstil'6 ergaben, gibt sich darin zu erkennen, daß Diederich gleichzeitig als »Massenmensch« und als »Führerpersönlichkeit« in Erscheinung tritt. An der »Spitze eines Häufleins« verfolgt er jede Bewegung des Kaisers und steht Wache unter seinen Fenstern. Als er schließlich »ein verdächtig aussehendes Individuum« erspäht und »entwaffnet«, entpuppt sich dessen »Bombe« als Zahnpulver. Dessenungeachtet kommt Diederich dank seines Vorgehens gegen den »Feind« in die Zeitung - und diesmal findet sich der »Beamte im persönlichen Dienst des Kaisers«, dessen Geistesgegenwart einen Attentatsversuch verhindert habe (S. 283), mit Wilhelm II. sogar auf demselben Zeitungsblatt vereinigt. Auf der psychischen wie auf der politischen Ebene wirkt die Rom-Episode wie zur Bestätigung der Überzeugung Max Webers, daß Wilhelm II. als »charismatische« Führerpersönlichkeit, die der Macht partikularer Interessenverbände entgenwirke und den Typus des autonomen, selbstverantwortlich handelnden Bürgers förderlich sei, am allerwenigsten geeignet war.'7 Im Untertan bewirkt das kaiserliche »Charisma« das genaue Gegenteil von psychischer Reife: Diederichs Kaiser-Erlebnis gipfelt eindeutig in regressiven Verhaltensmustern. Nach einer Zechtour sitzt er, an eine Mauer gelehnt, in einer Lache von Urin. Eine vergleichbare Selbsterniedrigung hatte sich im Anschluß an die Arbeitslosendemonstration in Berlin ergeben, als Diederich im Augenblick des höchsten Fanatismus ausglitt und »sich mit Wucht in einen Tümpel [setzte], die Beine in die Luft, umspritzt von Schmutzwasser« (S. 47).

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Thomas A. Kohut: The Politicization of Personality and the Personalization of Politics, a.a.O. S. 152, 167.

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Wolfgang Mommsen: Zum Begriff der >plebiszitären FührerdemokratieWeltmacht< bekanntes Papier produzierten, sie lag Diederich mehr als alles am Herzen [...]« (S. 342). Die ideologische Funktion der Flottenpolitik, antagonistische Gesellschaftsstrukturen durch ein stabilitätsförderndes Kontinuitätsbewußtsein zu verdecken, verdeutlicht Heinrich Mann in der Gestalt Professor Kühnchens, des Veterans der Sedanschlacht von 1870 und Netzigs fanatischster Befürworter des »neuen Kurses«: »Wer am meisten triumphierte, war Kühnchen. Die Taten, die der schreckliche kleine Greis einst im großen Krieg vollführt hatte, jetzt endlich, ein Vierteljahrhundert später, fanden sie ihre wahre Bestätigung in der allgemeinen Gesinnung« (S. 342f.). Darüber hinaus verweist Mann durch die fadenscheinigen Zusammenhänge, die Diederich zwischen der wilhelminischen Flottenpolitik und dem bürgerlichen Humanismus von 1848 gelten läßt, ironisch auf den völligen Kontinuitätsbruch mit den emanzipatorischen Bestrebungen von 1848: Inder Politik [...] war bekanntlich jede Ideologie vom Übel. Seinerzeit im Frankfurter Parlament hatten gewiß hochbedeutende Männer gesessen, aber es waren noch keine Realpolitiker gewesen, und darum hatten sie nichts als Unsinn gemacht, wie Diederich bemerkte. Übrigens, milde gestimmt durch seine Erfolge, gab er zu, daß das Deutschland der Dichter und Denker vielleicht seine Berechtigung gehabt habe. »Aber es war doch nur eine Vorstufe, unsere geistigen Leistungen heute liegen auf dem Gebiet der Industrie und Technik. Der Erfolg beweistDer Untertans a.a.O. S.103f. H. Mann: Die Moral der Entwicklungslehre. In Das Zwanzigste Jahrhundert 5 (1895), S. 298. 47 Ebd. S. 296. 4 " Aus einem Kommentar H. Manns zu Madame Legros, vermutlich Anfang der zwanziger Jahre verfaßt. In S. Anger (Hg.): Heinrich Mann 1871-1950, a.a.O. S. 489. 44

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und »eigentlichen« Regungen panzern zu müssen: »Gerechtigkeit, Vernunft, und Tugend: ich glaube nicht an sie und trage sie dennoch, ich, den sie niederwerfen sollen, im eigenen Herzen. 49 Chevalier ist auch darin mit Diederich vergleichbar, daß sich seine Selbstentfremdung in verdinglichter Sexualität äußert: Für seine Vermittlungsdienste zugunsten des Gefangenen Latude erwartet er von Madame Legros eine sexuelle Gegenleistung. Doch deren selbstloser Einsatz für die gerechte Sache Latudes erweckt bei Chevalier jene menschenfreundlichen Regungen wieder, die er gewohnt war, gewaltsam zu unterdrücken: »Ich glaubte, Sie einst im Haß zu lieben, als Feindin, die man unterwirft und schändet. Und Sie waren vielmehr die, die mich erhob und mich wider meinen Willen mit den Menschen befreundete«. 50 Das Vorbild Madame Legros' kommt jedoch weder bei dem Volk noch bei den Mitgliedern der Französischen Akademie zur Wirkung. Bedenkenlos ermordet die aufgebrachte Menge Chevalier und drängt auf eine blutige Ausbreitung des Aufstands. Das Akademiemitglied, das Madame Legros - unter Geheimhaltung des Anlasses mit dem staatlichen Tugendpreis auszeichnet, zeugt von der Gesellschaftsferne der repräsentativen Intellektuellen. Die Überwindung der Dichotomie von >kopfloser< Masse und > volksfremder< Intellektualität bleibt dem bürgerlichen Intellektuellen in einer ferneren Zukunft vorbehalten. Dessen soziale Vermittlungs- und Ausgleichsfunktion erblickt Mann 1915 in der Wesens Verwandtschaft zwischen der Kleinbürgerin Madame Legros und dem mustergültigen modernen Intellektuellen Emile Zola: Das Beispiel Madame Legros' sei »ein seelisches Vorspiel der Revolution« gewesen: »Zola ist, auch wenn er an seinem Schreibtisch sitzen blieb, unter den Volksgenossen umgegangen als ihr Gewissen, wie vormals Madame Legros« (Zola; E, 231 ). Damit ist selbstverständlich nicht gesagt, daß sich in Madame Legros eine »inzwischen erreichte Sicherheit im Politisch-Geistigen« bei Mann kundtut. Dieses Drama ist nicht ohne weiteres als »frei von allen Spuren eines Ringens um politische Selbstvergewisserung« 5 ' von Seiten des Autors zu bewerten. Gerade das voluntaristische Zusammendenken von Geistigem und Politischem verweist auf den unversöhnten Widerspruch zwischen demokratischem Ideal und politischer Wirklichkeit imDenken Heinrich Manns am Vorabend des Ersten Weltkrieges. Nicht zuletzt wollte Mann múMadame Legros]en&\ Schriftstellern entgegentreten, die im Verlauf des Jahres 1913 in zahlreichen Theater- und Festspielaufführungen anläßlich der Jahrhundertfeier der Befreiungskriege die Verbindungen zwischen den nationalen und den bürgerlich-emanzipatorischen Bestrebungen von 1813/14 vergessen machten. 52 Der Ungültigkeitsnachweis jedoch, den Mann der allgemeinen

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H. Mann: Madame Legros. In Ausgewählte Werke in Einzelausgaben, Berlin 1951-1962, Bd. X, S. 274. Ebd. S. 314. Wolfgang Rothe: Heinrich Mann. >Madame LegrosBesitz und BildungErsatz-Sonderweg< zu erkennen, der auch Manns Schwierigkeiten verrät, mit gesellschaftlichen und politischen Modernisierungsprozessen im wilhelminischen

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Max Horkheimer/Theodor W. Adorno: Dialektik der Aufklärung, Frankfurt/M. 1969, S. 90. H. Mann: Die Armen: Leipzig 1917, S. 216f. Grundsätzlich zu den Armen siehe Klaus R. Scherpe: >Poesie der Demokratien Heinrich Manns Proletarierroman >Die Armen« als Fortschreibung des >Untertandie Sachwerte erfaßt