Die Baukunst in Goethes Werk [Reprint 2021 ed.] 9783112537763, 9783112537756


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German Pages 30 [33] Year 1951

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Die Baukunst in Goethes Werk [Reprint 2021 ed.]
 9783112537763, 9783112537756

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D E U T S C H E A K A D E M I E DER WISSENSCHAFTEN Z U B E R L I N VORTRÄGE U N D S C H R I F T E N H E F T 38

DIE B A U K U N S T IN G O E T H E S W E R K von Carl

Weickert

1950 AKADEMIE-VERLAG BERLIN

Erschienen im Akademie-Verlag GmbH., Berlin NW 7, Schiffbauerdamm Lizenz Nr. 1 1 6 ' 100 / 1 / 50 Gedruckt in der Buchdruckerei Oswald Schmidt GmbH., Leipzig M 118 Bestell- und Verlagsnummer 2003/38 Preis D M 1,50

DIE BAUKUNST IN GOETHES WERK Vortrag, gehalten am Leibniztag der Deutschen Akademie der Wissenschaften den 30. Juni 1949

„Das Andenken merkwürdiger Menschen, so wie die Gegenwart bedeutender Kunstwerke, regt von Zeit zu Zeit den Geist der Betrachtung auf. Beide stehen da als Vermächtnisse für jede Generation, in Taten und Nachruhm jene, diese wirklich erhalten als unaussprechliche Wesen" (JA 34, io) 1 ). Mit diesen Worten leitete Goethe im Jahre 1805 seine Abhandlung über Winckelmann ein. Sie verpflichten, im 200. Jahr der Wiederkehr seines Geburtstages, sich seines Vermächtnisses bewußt zu werden. Dieses Vermächtnis gehört nicht nur den Deutschen, allen Deutschen, sondern der Welt. Ein Wort Goethes bestimme dieses Verhältnis. Es stammt aus dem Jahr 1801: „Vielleicht überzeugt man sich bald, daß es keine patriotische Kunst und patriotische Wissenschaft gebe. Beide gehören, wie alles Gute, der ganzen Welt an und können nur durch allgemeine freie Wechselwirkung aller zugleich Lebenden, in steter Rücksicht auf das, was uns vom Vergangenen übrig und bekannt ist, gefördert werden" (Flüchtige Übersicht über die Kunst in Deutschland, JA 33, 277). Es ist nicht möglich, des Vermächtnisses, das Goethe heißt, in der nur zu knappen Zeit gerecht zu werden, die für einen kurzen Vortrag zur Verfügung steht. Daher m'ag an einemThema, das zunächst sehr speziell erscheint, versucht werden, ohne es auch nur entfernt ausschöpfen zu können, einen Zugang zu diesem Vermächtnis zu gewinnen und dem Bild Goethes, das wir zu besitzen glauben, einen wesentlichen Zug hinzuzufügen. Die Untersuchungen um Goethes Verhältnis zur Kunst bex

) Die Zitate sind nach der Jubiläums-Ausgabe (JA), einige nach der Weimarer-Ausgabe (WA) gegeben. i *

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fassen sich hauptsächlich mit der bildenden, auf die sein Interesse in erster Linie gerichtet schien. Goethes Art jedoch, die Welt anzuschauen und alle Erscheinungen des Sichtbaren in den Bereich seiner tätigen Wirksamkeit zu ziehen, macht es notwendig, auch der Baukunst einen bestimmten, und zwar einen zentralen Platz in seinem Leben und Werk anzuweisen. Goethes künstlerische Haltung erscheint manchem als klassizistisch. Doch ist es von vornherein bedenklich, einen solchen Begriff auf die Ergebnisse eines langen und reichen Lebens anzuwenden. Die Schöpfungen der Baukunst wirken in einem höheren Maße auf den Mitlebenden ein, als die Werke der bildenden Kunst. Ob er sie aufsucht und anschaut oder nicht, er ist gezwungen, mit ihnen und in ihnen zu leben. Daher ist es zunächst erforderlich, sich klarzumachen, welche Form der Baukunst zur Zeit von Goethes Geburt Geltung hatte und wie sie sich während seiner Lebenszeit wandelte. Dabei wird sich herausstellen, daß manches von dem, was vom heutigen Blickpunkt als bezeichnend für seine Person erscheinen mag, nichts anderes ist als das gegebene Verhalten zur damaligen Gegenwart. In den Jahrzehnten vor Goethes Geburt hatte in Deutschland eine Generation hochbedeutender Baumeister die Architektur in den Vordergrund des künstlerischen Geschehens gerückt, und Bildhauerei und Malerei wurden weitgehend nur mehr zu Dienerinnen der Baukunst. In den Jahren 1714—1753 starben Andreas Schlüter, der ältere Fischer von Erlach, Matthias Daniel PÖppelmann, Lukas von Hildebrandt und kurz nach Goethes Geburt im Jahre 1753 Johann Balthasar Neumann. Eine Generation, die auch nur entfernt reich an großen Baumeistern gewesen wäre, hat nicht wieder gelebt. Das Werk dieser Meister ist durchaus nicht einheitlich. Eine ausgesprochen klassische Richtung des Barock, vertreten vor allem durch Schlüter und Fischer von Erlach, ist in ihrer älteren Stufe abhängig von der römischen Renaissance, in der jüngeren von gewissen Strömungen der französischen Klassik und von England, die ihrerseits auf Palladio und Leon Battista Alberti zurückgriffen. Die großartigsten E r -

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scheinungen der anderen Richtung sind PÖppelmann, Hildebrandt und Neumann. Sie streben im speziellen Sinne dessen, was im allgemeinen Barock und später Rokoko genannt wird, nach Befreiung von dem strengen tektonischen Gerüst und nach einer die Phantasie ansprechenden räumlichen Wirkung, die von dem Spiel mit den überkommenen tektonischen Formen und üppigem Ornament begleitet wird. Auf der einen Seite stehen z. B. die Südfront des Berliner Schlosses, die Karlskirche in Wien, das Schloß Schönbrunn, entstanden zwischen den Jahren 1697 und 1750, und auf der anderen Seite der Zwinger in Dresden, Schloß Pommersfelden, das für den Prinzen Eugen errichtete Belvedere in Wien und endlich die Wallfahrtskirche von Vierzehnheiligen, diese aus den Jahren 1711—1772. Im Beginn der langen Bauzeit von Vierzehnheiligen liegt Goethes Geburt. Aufschlußreich ist es, sich klarzumachen, daß die Berliner Oper von 1741, die Berliner Universität von 1748—1766 und das Stadtschloß in Potsdam von 1745-1751 mit ihrer durchaus klassischen Haltung ungefähr derselben Zeit angehören. In Süddeutschland wird um die Zeit von Goethes Geburt nach 1746 die Wallfahrtskirche Wies von Dominikus Zimmermann erbaut. In der ersten Hälfte der Lebenszeit Goethes fand die Entwicklung des Spätbarock und Rokoko, die ihre Möglichkeiten erschöpft hatten, ihren Abschluß. Die Erbauung der Bibliothek in Berlin am Forum Friderizianum in den Jahren 1774—1780 stellt einen spätesten und fast schon nicht mehr zeitgemäßen Ausläufer dar. Um die Mitte von Goethes Leben, um 1790, entstand das Brandenburger Tor, am Ende, in den 20er Jahren des 19. Jahrhunderts z. B. das Alte Museum in Berlin. Wer mit seiner Zeit ging, wer modern empfand, mußte sich für das Klassische entscheiden. Schon von hier aus gesehen ist es fraglich, ob es berechtigt ist, diese Entwicklung, die die ältere strenge Richtung der Fischer von Erlach und Schlüter fortsetzt, als klassizistisch zu bezeichnen. Jedenfalls darf dann unter Klassizismus nicht ein bewußtes und hemmendes Zurückgreifen verstanden werden. Wenn den Knaben Goethe im Vaterhaus am Hirschgraben

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Stiche nach römischen Ruinen und Renaissancebauten anzogen, die sich ihm tief eindrückten (Dichtung und Wahrheit, JA 22,12), so stimmt das vorzüglich zu diesem Bilde. Eine sehr wesentliche Ergänzung erfährt es jedoch dadurch, daß eben die Vaterstadt Frankfurt, auch nach dem großen Brande von 1711, der manche Erneuerung nötig gemacht hatte, im Grunde eine mittelalterliche Stadt war, die mit ihren enggedrängten Häusern, den gewundenen Straßen, den Stadtmauern, und nicht zu vergessen der Brücke, bewirkte, daß eine gewisse Neigung zum Altertümlichen bei dem Knaben sich festsetzte (Dichtung und Wahrheit, JA 22, 17)In dem ehemaligen Kloster der Barfüßer, dem Sitz des Gymnasiums, hatte das Kind die langen dunklen Gänge, die in Visitenzimmer verwandelten Kapellen, das unterbrochene, treppenund winkelhafte Lokal mit schaurigem Behagen durchstrichen (Dichtung und Wahrheit, JA 22, 145fr.). Von daher ist es verständlich, daß der junge Goethe, umgeben von einer Zeitstimmung, die allem mittelalterlichen Wesen durchaus abgewandt war, in den Jahren seines Sturmes und Dranges nicht mit in den allgemein geltenden Vorklassizismus einstimmte, der sich seit dem Jahrzehnt seiner Geburt immer stärker durchsetzte, sondern daß er für sich das Mittelalter und die Gotik mit sicherer und unbefangener Anschauung neu entdeckte. Hier steht sein Hymnus auf Erwin von Steinbach „ V o n deutscher Baukunst" über das Straßburger Münster aus dem Jahre 1772. Schon einige Jahre später, gelegentlich der 1775 unternommenen Reise in die Schweiz, die ihn auch wieder nach Straßburg führte, schreibt Goethe in der dritten Wallfahrt nach Erwins Grabe von jenem Frühwerk: „ I c h schrieb ehmals ein Blatt verhüllter Innigkeit, das wenige lasen, buchstabenweise nicht verstanden, und worin gute Seelen nur Funken wehen sahen des, was sie unaussprechlich und unausgesprochen glücklich macht. Wunderlich war's von einem Gebäude geheimnisvoll reden, Tatsachen in Rätsel hüllen, und von Maßverhältnissen poetisch lallen!" (JA 33, 43). Er fühlte vor dem Straßburger Münster mit, wie der Geist der

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Massen über den Meister gekommen war (Von deutscher Baukunst, JA 33, 4), daß seine Seele sich erhob zu dem Gefühl der Verhältnisse, die allein schön und von Ewigkeit sind, deren Hauptakkorde man beweisen, deren Geheimnisse man nur fühlen kann (Von deutscher Baukunst, JA 3 3 , 1 1 ) . Gleich sei angemerkt, daß der junge begeisterte Dichter schon damals einen musikalischen Begriff auf die Baukunst anwendete. Wie einen Abschluß seiner Jugendeindrücke faßt Goethe 1775 zusammen, was ihm an dem ersten großen und bedeutenden Bauwerk, das er aus eigener Anschauung aufnahm, gewiß mit unter dem Einfluß Herders aufgegangen war: „daß Schöpfungskraft im Künstler sei aufschwellendes Gefühl der Verhältnisse, Maße und des Gehörigen, und daß nur durch diese ein selbständig Werk, wie andere Geschöpfe durch ihre individuelle Keimkraft hervorgetrieben werden" (Dritte Wallfahrt zu Erwins Grabe, JA 33, 44). Wiederum sei angemerkt, daß Goethe bereits jetzt Kunstwerk und Naturgebilde als sich entsprechende Geschöpfe anschaut. Was diese Sätze enthalten, zielt nicht auf das speziell Gotische, sondern auf Baukunst überhaupt. Am gotischen Riesenwerk Erwins war ihm zum erstenmal Architektur begreiflich geworden. Noch dreimal kommt Goethe später auf sein Jugendwerk zurück: in den Annalen von 1810 gedenkt er bei den mit den Brüdern Boisseree mit größtem Nachdruck betriebenen Studien über gotische Baukunst der Bewunderung, die ihm einst das Straßburger Münster abnötigte und ihn zu seltsamen, aber tief empfundenen enthusiastischen Äußerungen veranlaßte (JA 30, 255). Im zwölften Buch von Dichtung und Wahrheit, also vor 1813, sagt er, daß man die gotische Baukunst, die er in der Jugendbegeisterung eine deutsche hatte nennen wollen, nicht mit der Baukunst der Griechen und Römer vergleichen dürfe, weil sie aus einem ganz anderen Prinzip entsprungen sei (JA 24, 73), und daß sein Erwin von Steinbach gewidmeter Druckbogen mehr Wirkungen getan hätte, wenn er ihn klar und deutlich, in vernehmlichem Stil abgefaßt und nicht durch Hamanns und Herders Beispiel verführt, diese ganz einfachen Gedanken und Be-

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trachtungen in eine Staubwolke von seltsamen Worten und Phrasen gehüllt hätte (JA 24, 74). Endlich in dem zweiten, späten Aufsatz von deutscher Baukunst aus dem Jahre 1823 heißt es: „Daß ich ... öfters meiner frühern Anhänglichkeit an den Straßburger Münster gedachte und des damals, 1773, im ersten Enthusiasmus verfaßten Druckbogens mich erfreute, da ich mich desselben beim späteren Lesen nicht zu schämen brauchte, ist wohl natürlich: denn ich hatte doch die innern Proportionen des Ganzen gefühlt, ich hatte die Entwicklung der einzelnen Zieraten eben aus diesem Ganzen eingesehen . . . und wenn jener Aufsatz etwas Amphigurisches in seinem Stil bemerken läßt, so möchte es wohl zu verzeihen sein, da wo etwas Unaussprechliches auszusprechen ist" (Von deutscher Baukunst, J A 35, 237). Dazu stimmt eine Äußerung, die er in demselben Jahre Eckermann gegenüber tat: „ M a n sieht in den Werken der altdeutschen Baukunst die Blüte eines außerordentlichen Zustandes. Wem eine solche Blüte unmittelbar entgegentritt, der kann nichts als anstaunen; wer aber in das geheime innere Leben der Pflanze hineinsieht, in das Regen der Kräfte und wie sich die Blüte nach und nach entwickelt, der sieht die Sache mit ganz anderen Augen, der weiß, was er sieht" (21. 10. 1823). Der Übergang vom Staunen zum Schauen, das ist es, worauf es Goethe ankommt (Farbenlehre, Polemischer Teil, WA I I , 2, 2, 89). „Das ist die wahre Symbolik, wo das Besondere das Allgemeinere repräsentiert, nicht als Traum und Schatten, sondern als lebendig-augenblickliche Offenbarung des Unerforschlichen" (Maximen und Reflexionen, herausgegeben von J . Hecker 2 , S. 47). Eben dies erlebte der junge Goethe vor dem Münster. „ E i n ganzer, großer Eindruck füllte meine Seele, den, weil er aus tausend harmonierenden Einzelheiten bestand, ich wohl schmecken und genießen, keineswegs aber erkennen und erklären konnte." Und erst nach immer wiederholten Besuchen zu den verschiedensten Tageszeiten offenbarte sich ihm „in leisen Ahnungen, der Genius des großen Werkmeisters. ... Alle diese Massen waren notwendig ... Nur ihre willkürliche Größen hab' ich zum stimmenden Ver-

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hältnis erhoben" (Von deutscher Baukunst, JA 33, 8). Es war die jugendliche und revolutionäre Tat Goethes, daß er unter Tadlern der gotischen Baukunst aufgewachsen, im Münster eine neue Offenbarung erblickte, indem ihm „jenes Tadelnswerte keineswegs erschien, sondern vielmehr das Gegenteil davon sich aufdrang" (Dichtung und Wahrheit, JA 23, 20$). Das „Münstergebäude hatte einen sehr ernsten Eindruck in mir zurückgelassen, der als Hintergrund zu solchen Dichtungen" (Faust und Götz von Berlichingen) „gar wohl dastehn konnte" (Dichtung und Wahrheit, JA 24, 73). Dieser mittelalterliche Hintergrund wirkte bis in die Konzeption von Faust II. In den ältesten kurzen, stichwortartigen Aufzeichnungen zum Helena-Drama, die die unmittelbare Einwirkung der französischen Revolution verraten, also in den 90er Jahren des 18. Jahrhunderts niedergeschrieben sein dürften, soll die Szene nicht in der Peloponnes, sondern in einem „freundl. Ort Rhein thal" spielen (WA 1 , 1 5 , 1 8 4 , Paralip. 84), und noch in einer Notiz von 1824 für den vierten Teil von Dichtung und Wahrheit, der erst nach Goethes Tod erschien, soll der Wohnsitz des neuen Paares ein altes Schloß sein, dessen Besitzer in Palästina Krieg führt. Faust sollte als deutscher Ritter wunderbar gegen die antike Heldengestalt stehen (WA 1 , 1 5 , 1 7 6 ) . Wie ein Minneritter sollte er vor seiner Herrin knien und mit Handkuß Schärpe und Ring empfangen (WA I, 15,228 und 229). Aber verzeichnen wir nicht das Bild? Hat nicht die italienische Reise dem Verhältnis Goethes zur Kunst eine völlig neue und andere Richtung gegeben? Der Beginn der Reise durch Deutschland glich einer Flucht. In den kurzen und dürftigen Aufzeichnungen des Tagebuchs wird keines noch so bedeutenden Bauwerkes gedacht, obwohl Goethes Weg über Regensburg und München führte. Nur zweimal, in Regensburg und Trient, erwähnt Goethe, ohne ein Wort der Kritik, Jesuitenkirchen, also Bauten in dem geläufigen Zeitstil des Spätbarock. Der gefällige Prunk der Kirchen dieser Väter findet auch sonst Goethes Beifall (Italienische Reise, JA 26, 5; 366fr.), die Solidität ihrer

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Bauten (a. 0 . 363; Eckermann 3. 4. 1829), das Große und Vollständige ihrer Anlagen flößte ihm wie allen Menschen insgeheim Ehrfurcht ein (Italienische Reise, JA 26, 6). Zeigt sich hier Goethe vom Geschmack seiner Zeit abhängig, so erst recht, als er in Italien leibhaftig vor ihm stehenden Bauten des meist angerufenen Meisters begegnet, der für alle maßgebend war, die sich vom Barock ab und einem Fortschritt zu wandten, Palladio. Mit einer bisher unbekannten Leidenschaft gibt er sich in Verona, Vicenza und Venedig dem Studium seiner Bauten und seiner theoretischen Schriften hin. Was am Münster wie verhüllt unter vielfältiger Form verborgen lag und nur mit Anstrengung aufgefunden werden konnte, schien sich ihm unter des Meisters Anleitung an den klaren, aus der Antike entwickelten Verhältnissen ablesen zu lassen und auf die mit Inbrunst gesuchte Antike selbst hinzuführen. Trotzdem schreibt er 1786 im Tagebuch von Vicenza, 14 Jahre nach dem Aufsatz über Erwin: „Was mich freut ist daß keine von meinen alten Grundideen verrückt und verändert wird, es bestimmt sich nur alles mehr, entwickelt sich und wächst mir entgegen" (Tgb. 25. 9. 86). In Venedig schreibt Goethe, daß Palladio ihm zu aller Kunst und Leben den Weg geöffnet habe (Tgb. 4. 10. 86). Nimmt man diese Worte ernst, wie seine Worte genommen sein wollen, auch wenn sie der Ausfluß einer augenblicklichen Stimmung sein mögen, so haben ihm seine architektonischen Studien in Oberitalien etwas sehr Wesentliches, bisher allgemein Empfundenes endgültig geklärt. In der Fassung der italienischen Reise fügt Goethe jenem Satz betonend hinzu: „Es klingt das vielleicht ein wenig wunderlich, aber doch nicht so paradox, als wenn Jakob Böhme bei Erblikkung einer zinnernen Schüssel durch Einstrahlung Jovis über das Universum erleuchtet wurde" (JA 26; 98). Leicht ist ihm diese Offenbarung nicht geworden, denn mitten in der Palladiobegeisterung schreibt er am 27. 9. 1786 in Padua ins Tagebuch: „Die Baukunst steht noch unendlich weit von mir ab, es ist sonderbar wie mir alles darin so fremd, so entfernt ist, ohne mir neu zu seyn. Ich hoffe aber auch diesmal wenigstens in ihre Vorhöfe ge-

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lassen zu werden." Es geht also nicht um Gotik oder Klassik, nicht um Erwin oder Palladio, nicht darum, ob sich Goethe für lange Zeit ganz von der Gotik abwandte und gelegentlich harte Worte über sie sprach, nicht darum, daß er niemals ein Verhältnis zur älteren Baukunst des Mittelalters fand, das liegt alles an der Peripherie und verhüllt den Blick auf das Wesentliche, sondern es geht um die Baukunst als solche, wie sie als am engsten mit dem Leben der Menschen verbundene Kunst auf Goethe und in seinem Werk gewirkt hat. Nochmals wiederholt er ausdrücklich nach seiner Abreise aus Venedig: „ E s ist unglaublich was mich diese acht Wochen auf Haupt und Grundbegriffe des Lebens so wohl, als der Kunst geführt haben" (Tgb. 22.10. 86). Mit ähnlichem Nachdruck spricht Goethe von der Baukunst bei Gelegenheit der Schilderung der phantastischen und unsinnigen Bauten des Prinzen Pallagonia bei Palermo: daß nämlich durch solchen Widersinn „das Gefühl der Wasserwage und des Perpendikels, das uns eigentlich zu Menschen macht und der Grund aller Eurhythmie ist, in uns zerrissen und gequält w i r d " (Italienische Reise, JA 26, 289). Hier ist auf Grund einer negativen Erfahrung der Zusammenhang zwischen der Kunst und einem Grundgesetz menschlichen Daseins unmittelbar aus der Architektur abgeleitet. Positiv erfährt das Goethe am stärksten in Paestum. Beim ersten Besuch dieser Tempel erging es ihm wie vor dem Münster in Straßburg. Nach dem Studium Palladios und dem Umgang mit den Antiken Roms befand er sich hier in einer völlig fremden Welt. „ N u n sind unsere Augen und durch sie unser ganzes inneres Wesen an schlankere Baukunst hinangetrieben und entschieden bestimmt, so daß uns diese stumpfen, kegelförmigen, enggedrängten Säulenmassen lästig, ja furchtbar erschienen." Einen Nachhall findet dieser erste Eindruck der paestaner Tempel noch im zweiten Teil des Faust: Durch Wunderkraft erscheint allhier zur Schau, Massiv genug, ein alter Tempelbau. Dem Atlas gleich, der einst den Himmel trug, Stehn reihenweis der Säulen hier genug;

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Carl Weickert Sie mögen wohl der Felsenlast genügen, Da zweie schon ein groß Gebäude trügen. Das wär' antik! ich wüßt' es nicht zu preisen, Es sollte plump und überlästig heißen. Roh nennt man edel, unbehilflich groß . . .

( J A 1 4 , 69).

„ D o c h " , fährt Goethe in dem Bericht über Paestum fort, „ . . . i n weniger als einer Stunde fühlte ich mich befreundet"; und von den Säulen sagt er: „ n u r wenn man sich um sie her, durch sie durch bewegt, teilt man ihnen das eigentliche Leben mit: man fühlt es wieder aus ihnen heraus, welches der Baumeister beabsichtigte, ja hineinschuf" (Italienische Reise, J A 2 6 , 2 5 8 ) . T i e feres ist über griechische Architektur nicht gesagt worden; hat Goethe doch, seiner Zeit vorauseilend, sie als Plastik erfühlt. Mit derselben untrüglichen Sicherheit und Unbefangenheit der Anschauung hatte er schon bei der ersten Begegnung mit der griechischen Plastik selbst an den Abgüssen des Mannheimer Antikensaales deren Wesen erkannt: „ E i n Wald von Statuen, durch den man sich durchwinden, eine große ideale Volksgesellschaft, zwischen der man sich durchdrängen mußte" (Dichtung und Wahrheit, J A 24, 65). Damit spricht Goethe aus, daß nur das Gefühl für die körperliche Gemeinschaft zwischen Schöpfer oder Betrachter und plastischem Kunstwerk dieses entstehen lassen oder zu seinem Verständnis führen kann. Vorübergehend hatte der Concordiatempel von Girgenti den Eindruck von Paestum getrübt: er verhält sich zu den Tempeln von Paestum „wie Göttergestalt zum Riesengebilde" (Italienische Reise, J A 26, 325). Als aber dann Goethe auf der Rückreise von Sizilien nach Rom zum zweitenmal Paestum berührt, fällt das entscheidende Wort: „ A u c h ist der mittlere Tempel nach meiner Meinung allem vorzuziehen, was man noch in Sizilien sieht." Goethe meint den Poseidontempel, den Zeitgenossen des Parthenon. Paestum ist „die letzte und fast möcht' ich sagen herrlichste Idee, die ich nun nordwärts vollständig mitnehme" (Italienische Reise, J A 2 7 , 4 ) . Goethe, der sonst so gern kunstgeschichtliche Vorstellungen und Begriffe anwendet und sich nur

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zu leicht fachmännischen Meinungen ihm nicht ebenbürtiger Zeitgenossen unterwirft, spricht hier nicht von einer Ordnung oder von Stil, ja nicht einmal von Griechisch, sondern von einer Idee, die er aus der Baukunst empfängt. Im Grunde ist es dasselbe in der klaren, ruhigen Sprache des Alters, was der Jüngling vor dem Münster in glühende Worte hüllte. Die Pole stehen weit auseinander, zwischen ihnen spannt sich das Leben des Dichters. E r spricht es selbst in einer Maxime aus: „ D e r ist der glücklichste Mensch, der das Ende seines Lebens mit dem Anfang in Verbindung setzen kann" (Maximen und Reflexionen, herausgegeben von J. Hecker 2 , S. 22). Wir greifen noch einmal auf jenes frühe Wort zurück von dem im Künstler aufschwellenden Gefühl der Verhältnisse, Maße und des Gehörigen. Die beiden ersten Begriffe sind mathematische, oder wenn man will, ästhetische. Der dritte aber ist ein sittlicher. Was meint Goethe mit dem Begriff des Gehörigen im Kunstwerk ? Als Beispiel für viele möge die Beschreibung des Amphitheaters von Verona dienen: „Wenn irgend etwas Schauwürdiges auf flacher Erde vorgeht und alles zuläuft, suchen die Hintersten auf alle mögliche Weise sich über die Vordersten zu erheben: man tritt auf Bänke, rollt Fässer herbei, fährt mit Wagen heran, legt Bretter hinüber und herüber, besetzt einen benachbarten Hügel, und es bildet sich in der Geschwindigkeit ein Krater. Kommt das Schauspiel Öfter an derselben Stelle vor, so baut man leichte Gerüste für die, so bezahlen können, und die übrige Masse behilft sich, wie sie mag. Dieses allgemeine Bedürfiiis zu befriedigen, ist hier die Aufgabe des Architekten. E r bereitet einen solchen Krater durch Kunst, so einfach als nur möglich, damit dessen Zierat das Volk selbst werde . . . so sieht das vielköpfige, vielsinnige, schwankende, hin und her irrende Tier sich zu einem edlen Körper vereinigt, zu einer Einheit bestimmt, in eine Masse verbunden und befestigt, als eine Gestalt, von e i n e m Geiste belebt" (Italienische Reise, J A 26,4of.). Und ähnlich knapp und eindringlich heißt es zum Aquädukt von Spoleto im Tagebuch: „ D a s ist nun das dritte Werck der

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Alten das ich sehe, und wieder so schön natürlich, zweckmäsig und wahr. Diesen grosen Sinn, den sie gehabt haben!" (Tgb. 27. 10. 1786). Eben in solchem Sinne schreibt er selbst von der claudischen Wasserleitung in Rom: „Der schöne große Zweck, ein Volck zu träncken, durch eine so ungeheure Anstalt!" (Tgb. 1 0 . 1 1 . 1 7 8 6 , an Herders; vgl. Italienische Reise, JA 26,155). Oder von der mächtigen Prunkfassade der Aqua Paola in Gestalt eines fünfbogigen Triumphbogens: „Man wird durch Säulen und Bogen, durch Gesims und Attiken an jene Prachttore erinnert, wodurch ehmals kriegerische Überwinder einzutreten pflegten; hier tritt der friedlichste Ernährer mit gleicher Kraft und Gewalt ein und empfangt für die Mühen seines weiten Laufes sogleich Dank und Bewunderung" (Italienische Reise, J A 27, 174). Jenes „Gehörige" kann man wenigstens zum Teil mit einem Spruch aus den Wanderjahren deuten, in dem die Begriffe in umgekehrter Abfolge stehen: „Vom Nützlichen durchs Wahre zum Schönen" (JA 19,72). Eine etwas abweichende, aber immerhin verwandte, dreifache Gliederung der Zwecke der Baukunst, des nächsten, des höheren und des höchsten, sieht Goethe in dem von ihm ungedruckt gelassenen Aufsatz „Baukunst. 1795", nämlich das Notwendige und Nützliche, dann das „Sinnlich-Harmonische" und endlich, was „die Überbefriedigung des Sinnes sich vornimmt und einen gebildeten Geist bis zum Erstaunen und Entzücken erhebt" (WA I, 47, 68f.). An einer anderen Stelle, in dem von ihm selbst nicht veröffentlichten Aufsatz „Kunst und Handwerk", wohl aus dem Jahre 1797, spricht Goethe noch von dem „Gehörigen"; man könnte es danach als „das Notwendige in angenehmer Gestalt" definieren: „Alle Künste fangen von dem Notbwendigen an; allein es ist nicht leicht etwas Nothwendiges in unserm Besitz oder zu unserm Gebrauch, dem wir nicht zugleich eine angenehme Gestalt geben, es an einen schicklichen Platz und mit andern Dingen in ein gewisses Verhältniß setzen können. Dieses natürliche Gefühl des Gehörigen und Schicklichen, welches die ersten Versuche von Kunst hervorbringt, darf den letzten Meister nicht verlassen, welcher die höchste Stufe

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der Kunst besteigen will; es ist so nahe mit dem Gefühl des Möglichen und Thulichen verknüpft, und diese zusammen sind eigentlich die Base von jeder Kunst" (WA I, 47,55). — Schiller schreibt am 9. November 1795, zu einer Zeit also, in der Goethe sich auf eine nie ausgeführte, zweite italienische Reise vorbereitete, an W. von Humboldt von einem Gespräch mit Goethe über Architektur: „Goethe verlangt von einem schönen Gebäude, daß es nicht bloß auf das Auge berechnet sei, sondern auch einem Menschen, der mit verbundenen Augen hindurchgeführt würde, noch empfindbar sein und ihm gefallen müsse" (Goethes Gespräche, in Auswahl herausgegeben von Flodoard Freiherr von Biedermann, S. 133). Dieser Gedanke hat Goethe im Jahre 1795 stark beschäftigt. In dem eben angeführten Aufsatz „Baukunst. 1795" schreibt er nämlich, jene Bemerkung Schillers ergänzend und erklärend: „Man sollte denken, die Baukunst als schöne Kunst arbeite allein für's Auge; allein sie soll vorzüglich, und worauf man am wenigsten Acht hat, für den Sinn der mechanischen Bewegung des menschlichen Körpers arbeiten; wir fühlei>eine angenehme Empfindung, wenn wir uns im Tanze nach gewissen Gesetzen bewegen; eine ähnliche Empfindung sollten wir bei jemand erregen können, den wir mit verbundenen Augen durch ein wohlgebautes Haus hindurchführen. Hier tritt die schwere und complicirte Lehre von den Proportionen ein, wodurch der Charakter des Gebäudes und seiner verschiedenen Theile möglich wird" (WA I, 47, 68f.). In einem Paralipomenon zu diesem Aufsatz heißt es ähnlich: „Diese Empfindung sollte ein Blinder haben, der durch ein Wohlgebautes Haus geführt würde" (a. O. 328). Aus diesen Worten geht hervor, daß Goethe das Gefühl für Proportionen in unmittelbare Verbindung mit dem Körpergefühl bringt. Die Maße, die er in jenem frühen Ausspruch neben dem Gehörigen als Kennzeichen vollkommener Baukunst ansah, sind eben diese Proportionen oder die Verhältnisse. „Das Schöne ist eine Manifestation geheimer Naturgesetze, die uns ohne dessen Erscheinung ewig wären verborgen geblieben",

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schreibt Goethe in einer Maxime (JA 35, 305). In der herrlichen Zwiesprache, die er mit Diderot über dessen Versuch über die Malerei hält, wendet er diesen Gedanken ausdrücklich auf die Kunst an: Die Künstler „bilden zuletzt die Regeln aus sich selbst, nach Kunstgesetzen, die eben so wahr in der Natur des bildenden Genies liegen, als die große allgemeine Natur die organischen Gesetze ewig tätig bewahrt" (JA 33,213). Welches sind die Verhältnisse, von denen Goethe schon in dem Hymnus auf Erwin sprach, deren Hauptakkorde man beweisen, deren Geheimnisse man nur fühlen könne? (Von deutscher Baukunst, J A 3 3 , 1 1 ) . Was besagen sie dem Dichter, der ausspricht: „Was uns allein zum wahren Genuß des Schönen bilden kann, ist das, wodurch das Schöne selbst entstand: ruhige Betrachtung der Natur und Kunst als eines einzigen großen Ganzen" (Über die bildende Nachahmung des Schönen, JA 33, 63). Dem Dichter ruht „Stil auf den tiefsten Grundfesten der Erkenntnis, auf dem Wesen der Dinge, insofern uns erlaubt ist, es in sichtbaren und greiflichen Gestalten zu erkennen" (Einfache Nachahmung der Natur, Manier, Stil, JA 33, 57). Was meinte er, wenn er Stil als den höchsten Grad bezeichnet, „welchen die Kunst je erreicht hat und je erreichen kann" (a. O. 59) und der das Individuum zum höchsten Punkt erhebt, „den die Gattung zu erreichen fähig ist" (Diderots Versuch über die Malerei, JA 33,253) ? In dem Vorspiel „Was wir bringen" zur Eröffnung des Theaters zu Lauchstädt von 1802 sprechen Verse, die Merkur vom „Knaben Phantasie" sagt, es aus: Ja, er bändigt Sogar sich selbst, sobald ich ihm den Stab Vertrauend überliefre, der die Seelen führt. Sogleich ist er geregelt, und ein roher Stoff Zu neuer Schöpfung bildet sich zusammen. Wie von Apollos Leier aufgefordert, Bewegt zu Mauern das Gestein sich her, Und wie zu Orpheus' Zaubertönen eilt Ein Wald heran und bildet sich zum Tempel (JA 9,236).

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Dies ist ein antikes, bei Apollonios Rhodios (Argonautika I, 740) für Amphion überliefertes Motiv. Im Fragment „Pandora", das 1808 entstand, wird ein ähnlicher. Gedanke ausgedrückt. Da singt Epimetheus von der Schönheit: Sie steiget hernieder in tausend Gebilden, Sie schwebet auf Wassern, sie schreitet auf Gefilden, Nach heiligen Maßen erglänzt sie und schallt, Und einzig veredelt die Form den Gehalt, Verleiht ihm, verleiht sich die höchste Gewalt. (JA 15,166.) Die gleichen heiligen Maße durchdringen gebildetes Kunstwerk und Musik. Den langsamen Zerfall eines Palastes schildert Goethe in „Des Epimenides Erwachen" 1814: Die mächtig riesenhaften Quadern Sie scheinen unter sich zu hadern. Die schlanken Säulenschäfte zittern, Die schönen Glieder, die in Liebesbanden Einträchtig sich zusammen fanden, Jahrhunderte als Eins bestanden — Erdbeben scheinen sie zu wittern, Bei dringender Gefahr und Not, Die einem wie dem andern droht, Sich gegenseitig zu erbittern. Ein Wink, ein Hauch den Bau zu Grunde stößt, Wo sich von selbst das Feste löst. (JA 9,1158.) Verse zum Geburtstag des Erbgroßherzogs im Jahre 1817 lauten sehr ähnlich: Mit Säulen schmückt ein Architekt aufs beste, Mit Statuen, Gemälden seine Hallen; Dann finden sich am frohen Tag die Gäste Von Melodie bewegt, einher zu wallen. (Bilderszenen, JA 3,35.) Gemeint ist hier nicht eine hörbare, sondern die dem Auge wahrnehmbare Melodie, die von der Architektur der Hallen ausstrahlt. 2 Weickert, Die Baukunst in Goethes Werk

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Hier reiht sich nun die berühmte Stelle aus dem i. Akt des zweiten Teils des Faust an: Der glühnde Schlüssel rührt die Schale kaum, Ein dunstiger Nebel deckt sogleich den Raum; Er schleicht sich ein, er wogt nach Wolkenart, Gedehnt, geballt, verschränkt, geteilt, gepaart. Und nun erkennt ein Geister-Meister-Stück! So wie sie wandeln, machen sie Musik. Aus luftigen Tönen quillt ein Weißnichtwie, Indem sie ziehn, wird alles Melodie. Der Säulenschaft, auch die Triglyphe klingt, Ich glaube gar, der ganze Tempel singt. (JA 14, 70.) Wenn man sich erinnert, daß diese Verse in einer Herzstelle des Dramas, der Beschwörung der Mütter, stehen und daß unmittelbar vor dieser, in der dämmernden Beleuchtung des Rittersaales der Kaiserburg, jene bereits zu Paestum angeführten Verse von dem plumpen, überlästigen Tempel gesprochen wurden, dann durchleuchtet diese aus den wallenden Nebeln sich lösende und sichtbar werdende Musik der Sphären auch die geheimnisvollen Beschwörungsworte Fausts am Schlüsse dieser Szene: Ist dieser Schlüssel nicht in meiner Hand! Er führte mich, durch Graus und Wog' und Welle Der Einsamkeiten, her zum festen Strand. Hier fass' ich Fuß! Hier sind es Wirklichkeiten, Von hier aus darf der Geist mit Geistern streiten, Das Doppelreich, das große, sich bereiten. (JA 14, 76.) Im letzten, erst 1829 geschriebenen Teil der Italienischen Reise, der den zweiten römischen Aufenthalt behandelt, nennt Goethe Architektur geradezu stumme Musik: „Wenn man bedenkt, daß Jahrhunderte hier im höchsten Sinne architektonisch gewaltet, daß auf übrig gebliebenen mächtigen Substruktionen die künstlerischen Gedanken vorzüglicher Geister sich hervorgehoben und den Augen dargestellt, so wird man begreifen, wie sich Geist und Aug' entzücken müssen, wenn man unter jeder Beleuchtung diese vielfachen horizontalen und tausend vertikalen Linien

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unterbrochen und geschmückt wie eine stumme Musik mit den Augen auffaßt und wie alles, was klein und beschränkt in uns ist, nicht ohne Schmerz erregt und ausgetrieben wird" (JA 27,123). Diese Worte stehen, anknüpfend an eine Erwähnung von Raffaels Loggien im Vatikan, eigentümlich fremd in ihrer Umgebung. Fast möchte man meinen, dem alten Dichter seien beim Niederschreiben seine Jugendeindrücke vom Straßburger Münster wieder lebendig geworden. In einer Niederschrift aus dem Nachlaß, wohl der spätesten Jahre, spricht Goethe ausführlich von der tönenden Architektur: „Ein edler Philosoph" — gemeint ist Friedrich Wilhelm Schelling — „sprach von der Baukunst als einer erstarrten Musik ... Wir glauben diesen schönen Gedanken nicht besser nochmals, einzuführen, als wenn wir die Architektur eine verstummte Tonkunst nennen. Man denke sich den Orpheus, der, als ihm ein großer wüster Bauplatz angewiesen war, sich weislich an dem schicklichsten Ort niedersetzte und durch die belebenden Töne seiner Leier den geräumigen Marktplatz um sich her bildete. Die von kräftig gebietenden, freundlich lockenden Tönen schnell ergriffenen, aus ihrer massenhaften Ganzheit gerissenen Felssteine mußten, indem sie sich enthusiastisch herbeibewegten, sich kunst- und handwerksmäßig gestalten, um sich sodann in rhythmischen Schichten und Wänden gebührend hinzuordnen. Und so mag sich Straße zu Straße anfügen! An wohlschützenden Mauern wird's auch nicht fehlen" (Maximen und Reflexionen, JA 35> 323)Das scheint Fabel, Dichtung. Und doch verhüllt sich in dem Bilde das Gesetz. Die Physik lehrt, „daß zwei angeschlagene Saiten dann harmonisch zusammen klingen, wenn (bei sonst gleichen Eigenschaften) ihre Längen in einem einfachen rationalen Verhältnis stehen. Dies bedeutet, daß dem menschlichen Ohr eine Gesamtheit von Tönen dann sinnvoll und harmonisch scheint, wenn in ihm einfache mathematische Beziehungen verwirklicht sind, obwohl diese Beziehungen dem Hörenden nicht bewußt werden" (Werner Heisenberg, Wandlungen in den 2*

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Grundlagen der Naturwissenschaft 1945, 54f.)- Ein rationales Verhältnis besteht zwischen ganzen Zahlen. Daß der Mensch solche Verhältnisse mit seinen Sinnen aufnehmen und als harmonisch oder schön empfinden kann, muß auf der Übereinstimmung seiner Physis mit solchen einfachen Verhältnissen beruhen. Sie reicht dem Geist den Stoff, und - um nun mit einem Wort Goethes fortzufahren: „Wem die Natur ihr offenbares Geheimnis zu enthüllen anfängt, der empfindet eine unwiderstehliche Sehnsucht nach ihrer würdigsten Auslegerin, der Kunst" (Maximen und Reflexionen, JA 35, 306; vgl. Wanderjahre, JA 19,269). Doch geht die Kunst über jene rationalen Verhältnisse hinaus und findet ihr Genüge nicht in einer einfachen mathematischen Symmetrie, sondern offenbar erst in einer aufeinander einwirkenden Vielfalt solcher Verhältnisse. Darum können in der Musik die Disharmonie, in der Baukunst die gestörte Symmetrie in Harmonie verwandelt werden. Die einfachsten Gesetze der Natur — der junge Goethe sagte, die. beweisbaren Hauptakkorde liegen verhüllt in den aus Menschenhand und -geist hervorgegangenen Werken einer höheren Natur ebenso zugrunde wie in dem, der sie anschaut und aufnimmt. Diese Gesetze erfaßt Goethe in der Baukunst, an ihr enthüllen sie die Mütter dem Faust, um sie ihm endlich in schönster menschlicher Gestalt, in Paris und Helena, erscheinen zu lassen. Daher nimmt es nicht Wunder, daß Goethe für das vollendetste Geschöpf: „das letzte Produkt der sich immer steigernden Natur ist der schöne Mensch" (Winckelmann, JA 34,17)., das Bild des Bauwerks anwendet, so in der Achilleis von 1789: Daß der schöne Leib, das herrliche Lebensgebäude, Fressender Flamme soll dahingegeben zerstieben! (JA 6, 247.) In dem 1799-1803 gedichteten Trauerspiel „Die natürliche Tochter", dem ersten Teil einer Torso gebliebenen Trilogie, in dem wie kaum einem anderen Werk Goethes die architektonische Struktur der Dichtung selbst hervortritt, spricht Eugenie Worte aus, die als ein Grundmotiv angesehen werden können:

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Wenn wir in raschen, mutigen Momenten Auf unsern Füßen stehen, strack und kühn, Als eigner Stütze froh uns selbst vertraun, Dann scheint uns Welt und Himmel zu gehören. (JA 12, 240.) Ähnlich ist das in der Antike, von Marc Aurel, ausgesprochen worden: „Aufrecht stehend - nicht aufgerichtet!" (Selbstbetrachtungen 7, 12). In umfassender Schau endlich schreibt Goethe 1820 mit bildlicher Anwendung der Harmonie des Gebäudes: „Wir können bei Betrachtung des Weltgebäudes in seiner weitesten Ausdehnung, in seiner letzten Teilbarkeit uns der Vorstellung nicht erwehren, daß dem Ganzen eine Idee zum Grund liege, wonach Gott in der Natur, die Natur in Gott, von Ewigkeit zu Ewigkeit, schaffen und wirken möge" (Bedenken und Ergebung, JA 39, 34t). Umgekehrt ist Unvollendetes oder Zerstörtes Goethe im tiefsten zuwider, aber immer als der Gegenpol der Harmonie gegenwärtig. In der Rede des Maurers zur Grundsteinlegung des neuen Hauses in den Wahlverwandtschaften wird schon der künftigen Zerstörung des noch kaum begonnenen Baues gedacht (JA 21, 75). Vom Kölner Dom, dem schmerzvollen Denkmal der Unvollendung (Annalen, JA 30, 283), sagt Goethe: „Ich will nicht leugnen, daß der Anblick des Kölner Doms von außen eine gewisse Apprehension in mir erregte ... so tritt uns hier ein Unvollendetes, Ungeheures entgegen, wo eben dieses Unfertige uns an die Unzulänglichkeit des Menschen erinnert, sobald er sich unterfangt etwas Übergroßes leisten zu wollen. Selbst der Dom inwendig macht uns, wenn wir aufrichtig sein wollen, zwar einen bedeutenden, aber doch unharmonischen Effekt; nur wenn wir ins Chor treten, wo das Vollendete uns mit überraschender Harmonie anspricht, da erstaunen wir fröhlich, da erschrecken wir freudig und fühlen unsere Sehnsucht mehr als erfüllt." So 1823 in der zweiten Schrift von deutscher Baukunst (JA 35,235f.). In dem vom Erdbeben zerstörten Messina war ihm einzig unangenehm „der Anblick... einer sichelförmigen Reihe von wahr-

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haften Palästen ... Alles waren steinerne, vierstockige Gebäude von welchen mehrere Vorderseiten bis aufs Hauptgesims noch völlig stehen, andere bis auf den dritten, zweiten, ersten Stock heruntergebrochen sind, so daß diese ehemalige Prachtreihe nun aufs widerlichste zahnlückig erscheint und auch durchlöchert; denn der blaue Himmel scheint beinahe durch alle Fenster" (Italienische Reise, J A 26, 362). So in Dresden: „Diese köstlichen, Geist und Sinn zur wahren Kunst vorbereitenden Erfahrungen wurden jedoch durch einen der traurigsten Anblicke unterbrochen und gedämpft, durch den zerstörten und verödeten Zustand so mancher Straße ... Die Mohrenstraße im Schutt, so wie die Kreuzkirche mit ihrem geborstenen Turm drückten sich mir tief ein und stehen noch wie ein dunkler Fleck in meiner Einbildungskraft" (Dichtung und Wahrheit, J A 2 3 , 1 3 1 f.). Und zur Belagerung von Mainz schreibt Goethe: „am linken Ufer sodann die herrliche Stadt: zusammengebrochene Turmspitzen, lückenhafte Dächer, rauchende Stellen untröstlichen Anblicks" (Belagerung von Mainz, J A 28, 237f.). Im vierten Aufzug des Tasso, diesem schmerzvollen Denkmal menschlicher und künstlerischer Unzulänglichkeit, kehren solche Bilder wieder: Hat nicht die Ankunft dieses Manns allein Mein ganz Geschick zerstört, in einer Stunde? Nicht dieser das Gebäude meines Glücks Von seinem tiefsten Grund aus umgestürzt? (JA 1 2 , 1 9 7 . ) Und noch einmal gegen Schluß des letzten Aufzugs: Und bin ich denn so elend, wie ich scheine? Bin ich so schwach, wie ich vor dir mich zeige ? Ist alles denn verloren? Hat der Schmerz, Als schütterte der Boden, das Gebäude In einen grausen Haufen Schutt verwandelt? (JA 12, 219.) Fast wörtlich kehrt dieses Bild in der Natürlichen Tochter wieder:

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Wie öde, hohl und leer Liegt alles vor mir da, und ausgebrannt, Ein großer Schutt, die Stätte meines Glücks. (JA 12, 278.) Im letzten Aufzug desselben Werkes endlich wird im Angesicht der wohlgebauten und tätigen Hafenstadt das düstere Bild der unausweichlich drohenden Zukunft entworfen: Wenn ich beim Sonnenschein durch diese Straßen Bewundernd wandle, der Gebäude Pracht, Die felsengleich getürmten Massen schaue, Der Plätze Kreis, der Kirchen edlen Bau, Des Hafens masterfüllten Raum betrachte: Das scheint mir alles für die Ewigkeit Gegründet und geordnet; diese Menge Gewerksam Tätiger, die hin und her In diesen Räumen wogt, auch die verspricht, Sich unvertilgbar ewig herzustellen. Allein wenn dieses große Bild bei Nacht In meines Geistes Tiefen sich erneut, Da stürmt ein Brausen durch die düstre Luft, Der feste Boden wankt, die Türme schwanken, Gefügte Steine lösen sich herab, Und so zerfällt in ungeformten Schutt Die Prachterscheinung. Wenig Lebendes Durchklimmt bekümmert neuentstandne Hügel, Und jede Trümmer deutet auf ein Grab. Das Element zu bändigen, vermag Ein tiefgebeugt, vermindert Volk nicht mehr, Und rastlos wiederkehrend füllt die Flut Mit Sand und Schlamm des Hafens Becken aus. (JA 12,341.) Aber so, in hoffnungsloser Zernichtung des Geordneten soll es nicht enden. Aus Ungestaltetem und mit Absicht Zerstörtem erhebt sich das neue Werk des Meisters. „Die Hoffnung muß wieder eintreten, und dann kommt ja auch sogleich die Tätigkeit

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wieder, durch welche, wenn man es genau besieht, die Hoffnung in jedem Augenblick realisiert wird" (Goethe an Graf Reinhard 28. 9.1807: JA 9,410). Hat Natur, nach ihrem dunklen Walten, Hier sich Bergreihn hingezogen, droben Felsen aufgezackt und gleich daneben Über Talgestein und Höhn und Höhlen Heilig ruhend alten Wald gepfleget, Daß den unwirtbaren Labyrinthen Sich der Wandrer gräusend gern entzöge — Sieh! da dringt heran des edlen Menschen Meisterhand; sie darf es unternehmen, Darf zerstören tausendjähr'ge Schöpfung. Schallet nun das Beil im tiefsten Walde, Klingt das Eisen an dem schroffen Felsen, Und in Stämmen, Splittern, Massen, Trümmern Liegt zu unbegreiflich neuem Schaffen Ein Zerstörtes gräßlich durcheinander. Aber bald dem Winkelmaß, der Schnur nach Reihen sich die Steine, wachsen höher; Neue Form entspringt an ihnen, herrlich Bildet mit der Ordnung sich die Zierde, Und der alte Stamm, gekantet, fugt sich, Ruhend bald und bald emporgerichtet, Einer in den andern. Hohen Giebels Neuer Kunstwald hebt sich in die Lüfte. Sieh! des Meisters Kränze wehen droben, Jubel schallt ihm, und den Weltbaumeister Hört man wohl dem irdischen vergleichen. So vermag's ein jeder. (JA 9,197f.) Mit diesen Versen, die 1807 zur Wiedereröffnung des Weimarischen Theaters geschrieben wurden, betreten wir von neuem wie mit der Deutung des „Gehörigen" das Gebiet des Sittlichen. Wie sehr Goethe sich in diesem Sinne auch in der Baukunst selbst betätigte, sei nur angedeutet. Das Vaterhaus in Frankfurt,

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das Pfarrhaus in Sesenheim (Dichtung und Wahrheit, JA 24, 13 f.), das Theater und besonders der Wiederaufbau des Schlosses in Weimar hatten hier in seinem Leben eine große und bedeutende Rolle gespielt, worüber in Dichtung und Wahrheit (JA 25, 240) und in der zweiten Reise in die Schweiz Ausführliches nachzulesen ist (JA 29, 90 ff.). Die schönste Verherrlichung solcher Tätigkeit hat Goethe in der Rede des Maurers zur Grundsteinlegung des neuen Hauses in den Wahlverwandtschaften ausgesprochen. Doch wir wenden uns zurück zu jener Reflexion über die verstummte Musik. Da fährt Goethe fort: „Die Töne verhallen, aber die Harmonie bleibt. Die Bürger einer solchen Stadt wandeln und weben zwischen ewigen Melodien, der Geist kann nicht sinken, die Tätigkeit nicht einschlafen, das Auge übernimmt Funktion, Gebühr und Pflicht des Ohres, und die Bürger am gemeinsten Tage fühlen sich in einem ideellen Zustand; ohne Reflexion, ohne.nach dem Ursprung zu fragen, werden sie des höchsten sittlichen und religiösen Genusses teilhaftig. Man gewöhne sich, in Sankt Peter auf und ab zu gehen, und man wird ein Analogon desjenigen empfinden, was wir auszusprechen gewagt. — Dagegen in einer schlecht gebauten Stadt... lebt der Bürger unbewußt in der Wüste eines düstern Zustandes" (JA 35, 323I). Diese Einwirkung des Gebauten auf den Menschen findet in den Wahlverwandtschaften ergreifenden Ausdruck. Ottilie besucht allein die wiederhergestellte Kapelle: „Sie stand, ging hin und wider, sah und besah; endlich setzte sie sich auf einen der Stühle, und es schien ihr, indem sie auf und umher blickte, als wenn sie wäre und nicht wäre, als wenn sie sich empfände und nicht empfände, als wenn dies alles vor ihr, sie vor sich selbst verschwinden sollte" (JA 2 1 , 1 6 1 ) . Über den Umfang dieser Wirkung schreibt Goethe 1795 an Heinrich Meyer: „nirgends ist das erste Bedürfniß und der höchste Zweck so nah verbunden (wie bei der Baukunst): des Menschen Wohnung ist sein halbes Leben, der Ort, wo er sich niederläßt, die Luft, die er einathmet, bestimmen seine Existenz"

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(Goethes Briefwechsel mit H. Meyer i , 169, Nr. 61 vom 30.12. 1795). Erst von solcher Grundhaltung aus versteht sich, und versteht sich gut, warum Goethe seinen Dienst für den Staat nicht weniger ernst nahm als seine Kunst. Ähnliches sprechen Verse des Prologes zur Eröffnung des Berliner Theaters am 26. Mai 1821 aus: Denn euretwegen hat der Architekt Mit hohem Geist so edlen Raum bezweckt, Das Ebenmaß bedächtig abgezollt, Daß ihr euch selbst geregelt fühlen sollt; (JA 9,298.) Daher ist die Verantwortung des Baumeisters groß. „Der Bauende soll nicht herumtasten und versuchen", schreibt Goethe in den Wanderjahren; „was stehen bleiben soll, müß recht stehen und, wo nicht für die Ewigkeit, doch für geraume Zeit genügen. Mag man doch immer Fehler begehen, bauen darf man keine" (JA 20,12). / In den Lehrjahren begegnet der Gedanke der sittlichen Wirkung der Baukunst auf den Menschen begreiflicherweise am häufigsten, mit wachsendem Nachdruck ausgesprochen: in das Haus des Oheims eingetreten, fühlt sich Wilhelm, den Pracht und Zierde sonst nur zerstreut hatten, hier gesammelt und auf sich selbst zurückgeführt (JA 18,146). Und an anderer Stelle: „Es war die reinste,"schönste, würdigste Baukunst, die er gesehen hatte. Ist doch wahre Kunst... wie gute Gesellschaft: sie nötigt uns auf die uns angenehmste Weise, das Maß zu erkennen, nach dem und zu dem unser Innerstes gebildet ist" (JA 18, 284). Und endlich noch stärker: „Alle diese Pracht und Zierde stellte sich in reinen architektonischen Verhältnissen dar, und so schien jeder, der hineintrat, über sich selbst erhoben zu sein, indem er durch die zusammentreffende Kunst erst erfuhr, was der Mensch sei und was er sein könne" (JA 18,312). Wer nun aber doch glauben wollte, der Dichter dieses 1777 bis 1796 entstandenen Werkes, dem die Baukunst im höheren

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Sinne ein ernstes, hohes, festes Dasein ausdrücken sollte (Reise in die Schweiz 1797, JA 29, 23), sei eben doch ein Klassizist und der mächtige Geist in solch enges Fach einzuordnen, der sei an ein Wort aus dem Nachlaß verwiesen, das in den Kreis dieser Gedanken gehört und auf jene beiden Pole, das große Doppelreich Fausts, zurückführt, von denen wir ausgingen: „Antike Tempel konzentrieren den Gott im Menschen; des Mittelalters Kirchen streben nach dem Gott in der Höhe" (Maximen und Reflexionen, JA 35, 328). Jener Begriff des Gehörigen darf also dem des Nützlichen in einem höheren Sinne gleichgesetzt werden: die vollendete Form des Bauwerks oder des Kunstwerks, nicht dessen Zweck oder Gehalt allein, bewirkt im Betrachter, ohne daß er sich dessen bewußt wird, eine sittliche Klärung. Auch vom Künstler selbst kann eine solche Wirkung nicht beabsichtigt werden. So entsprechen und erklären sich gegenseitig das Gehörige und das Nützliche, die Maße und das Wahre, die Verhältnisse und das Schöne. Aber damit ist der tiefste Sinn, den Goethe in der Kunst erkennt, noch nicht erfaßt. Schon in jenem frühen Jahre 1772 schreibt er: „Was wir von Natur sehn, ist Kraft, die Kraft verschlingt ; ... die Kunst ist gerade das Widerspiel: sie entspringt aus den Bemühungen des Individuums, sich gegen die zerstörende Kraft des Ganzen zu erhalten" (Über Sulzer, Die schönen Künste, JA 33,16). Diesem, nun die letzte und höchste sittliche Forderung enthaltenden Gedanken, der an einen Vers aus dem Gedicht „Das Göttliche" vom Jahr 1785 erinnert, Nur allein der Mensch Vermag das Unmögliche: Er unterscheidet, Wählet und richtet; Er kann dem Augenblick Dauer verleihen.

(JA 2, 64.)

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können wiederum Worte des Greises nicht entgegen, sondern zur Seite gestellt werden. Sie finden sich in der Schilderung des zweiten römischen Aufenthalts der italienischen Reise und sprechen die Baukunst unmittelbar an: „ D i e Peterskirche ist gewiß groß gedacht, und wohl größer und kühner als einer der alten Tempel, und nicht allein, was zweitausend Jahre vernichten sollten, lag vor unsern Augen, sondern zugleich, was eine gesteigerte Bildung wieder

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zubringen vermochte . . . E s darf uns nicht niederschlagen, wenn sich uns die Bemerkung aufdringt, das Große sei vergänglich; vielmehr wenn wir finden, das Vergangene sei groß gewesen, muß es uns aufmuntern, selbst etwas von Bedeutung zu leisten, das fortan unsre Nachfolger, und war' es auch schon in T r ü m m e r zerfallen, zu edler Tätigkeit aufrege, woran es unsre Vorvordern niemals haben ermangeln lassen" ( J A 2 7 , 1 7 8 ) . In der X V . römischen Elegie klingt im Vers derselbe Gedanke auf: Sahst eine Welt hier entstehn, sahst dann eine Welt hier in Trümmern, A u s den Trümmern aufs neu' fast eine größere W e l t ! (JA 1 , 1 6 7 . ) Vifas Goethe in seiner Jugend als Grundzüge des Stiles der Baukunst erkannte, die Verhältnisse, die Maße, das Gehörige, wurde, wie er es selbst aussprach, bestimmend f ü r sein Leben, wurde in jenem Sinn der Stil seiner Person, der das Individuum zum höchsten Punkt erhebt, den die Gattung zu erreichen fähig ist.

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