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German Pages [345] Year 2018
Jürgen Hasse
Die Aura des Einfachen
Mikrologien räumlichen Erlebens
VERLAG KARL ALBER
https://doi.org/10.5771/9783495813690
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B
Jürgen Hasse Die Aura des Einfachen
VERLAG KARL ALBER
A
https://doi.org/10.5771/9783495813690 .
Jürgen Hasse The aura of the simple Micrologies of spatial experience Volume 1 The media steers our attention mainly towards the »big« topics in politics, economics and society. The small, simple, banal and worldly incidents on the other hand hardly seem worth mentioning. This book takes four day-to-day situations and uses them for phenomenological reflection: the sudden confrontation with an aversive smell, waiting in the airport lounge, the wind blowing and the spellbound state resulting from an atmosphere of quiet. »Micrological« descriptions of detailed situational experiences enable us look where there is seemingly nothing to see. Focus is potentially placed on everything that can be experienced through heightened awareness. The phenomenological view of the simple and seemingly banal not only provides insight into objects that have been overlooked, it also heightens selfawareness of the subject and enables access to daily experienced relations to the self as well as to reflection.
The author: Jürgen Hasse, born 1949, Professor emeritus at the Institute of Human Geography at Johann Wolfgang Goethe University in Frankfurt am Main. Specialist field: Spatial socialization of humans, spatial and environmental perception, phenomenological urban research, the relationship between humans and nature, aesthetics.
https://doi.org/10.5771/9783495813690 .
Jürgen Hasse Die Aura des Einfachen Mikrologien räumlichen Erlebens Band 1 Unsere von den Medien gelenkte Aufmerksamkeit gilt zumeist den »großen« Themen aus Politik, Ökonomie und Gesellschaft. Das Kleine, Einfache, Banale und lebensweltlich Übersehene hingegen erscheint kaum der Beachtung wert. In diesem Buch werden vier alltägliche Situationen herumräumlichen Erlebens zum Anlass phänomenologischer Reflexion – ein zufällig angreifender aversiver Geruch, das Warten in Airport-Lounges, das Wehen des Windes und das Gebannt-Werden von Atmosphären der Stille. »Mikrologische« Beschreibungen detaillierten Situationserlebens lassen uns hinsehen, wo es scheinbar nichts zu sehen gibt. Im Fokus steht potentiell alles, was sich in wacher Achtsamkeit erkunden lässt. Die phänomenologische Durchquerung des Einfachen und scheinbar Banalen eröffnet nicht nur Einblicke ins Übersehene auf Seiten der Objekte. Auf der Subjektseite schärft sie das Selbst-Bewusstsein und macht alltäglich gelebte Beziehungen zum eigenen Selbst wie zum Herumwirklichen dem Nachdenken zugänglich.
Der Autor: Jürgen Hasse, geb. 1949, Professor emeritus am Institut für Humangeographie der Johann Wolfgang Goethe-Universität in Frankfurt am Main. Arbeitsgebiete: Räumliche Vergesellschaftung des Menschen, Raum- und Umweltwahrnehmung, phänomenologische Stadtforschung, Mensch-Natur-Verhältnisse, Ästhetik.
https://doi.org/10.5771/9783495813690 .
https://doi.org/10.5771/9783495813690 .
Jürgen Hasse
Die Aura des Einfachen Mikrologien räumlichen Erlebens Band 1
Verlag Karl Alber Freiburg / München
https://doi.org/10.5771/9783495813690 .
Originalausgabe © VERLAG KARL ALBER in der Verlag Herder GmbH, Freiburg / München 2017 Alle Rechte vorbehalten www.verlag-alber.de Umschlagmotiv: © Zurijeta – shutterstock_82798783 Satz und PDF-E-Book: SatzWeise GmbH, Trier Herstellung: CPI books GmbH, Leck Printed in Germany ISBN (Buch) 978-3-495-48852-2 ISBN (PDF-E-Book) 978-3-495-81369-0
https://doi.org/10.5771/9783495813690 .
Inhalt
Einleitung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
11
1. 1.1 1.2 1.3 1.4
»Mikrologien« – Autopsien des Infra-Gewöhnlichen . . . . »Domus interior« . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Dichte Beschreibung einer psychopathologischen Störung Dichte Beschreibung eines Raumes . . . . . . . . . . . Zur Dimensionalität phänomenologischer Mikrologien .
21 26 28 29 30
2.
Zum Verhältnis von Ort und Raum im Eindrucks-Erleben .
34
3. Zur Methode der Mikrologien . . . . . . . . . . . . . 3.1 Schärfung der Wahrnehmung – ein antizivilisatorisches Projekt . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3.2 Die Methode der Beobachtung . . . . . . . . . . . . . 3.2.1 Die Beobachtung im sozialwissenschaftlichen Methodendiskurs . . . . . . . . . . . . . . . . 3.2.2 Die Beobachtung der Mikrologien . . . . . . . . 3.3 Dimensionen der Reflexion mikrologischer Eindrücke . 3.3.1 Leiblich-intelligentes Denken . . . . . . . . . . 3.3.2 Hermeneutisch-intelligentes Denken . . . . . . 3.3.3 Analytisch-intelligentes Denken . . . . . . . . 3.4 Methodologische Schlussfolgerungen . . . . . . . . . 3.5 Das »projektionstheoretische Veto« . . . . . . . . . . 3.6 Zum Präzisionsanspruch der Mikrologien . . . . . . . 4. Immersive Schwaden . . . . . . . . . . . . . . . 4.1 Aversives Geruchserleben . . . . . . . . . . . . 4.2 Zur Macht des Olfaktorischen . . . . . . . . . . 4.2.1 Zur Sinnlichkeit des Gestanks . . . . . . . 4.2.2 Zur Herkunft und Wirkung von Gerüchen
. 92 . 93 . 97 . 98 . 100
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44
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54 62
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62 64 71 72 73 74 75 84 87
7 https://doi.org/10.5771/9783495813690 .
Inhalt
4.2.3 Gerüche sind »umgreifend« und vom Charakter eines atmosphärischen Akkordes . . . . . . . 4.2.4 Gerüche und ihre Explikation . . . . . . . . . 4.2.5 Gerüche – starke Empfindungen und Gefühle . 4.2.6 Zum Verhältnis von Leib und Körper . . . . .
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102 104 106 108
5. Räume der Stille . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5.1 Stille, die von hinten kommt . . . . . . . . . . . . . . 5.1.1 Temperatur und Raumklima . . . . . . . . . . 5.1.2 Ruhe – Ordnung – Stille . . . . . . . . . . . . 5.1.3 Bewegung in der Stille . . . . . . . . . . . . . 5.1.4 Räumlichkeit der Stille . . . . . . . . . . . . . 5.1.5 Das Lautliche »in« der Stille . . . . . . . . . . . 5.2 Ästhetizistisch »überbaute« Stille . . . . . . . . . . . 5.2.1 Zur Architektur der Jesuitenkirche Sankt Michael 5.2.2 Größe – Weite – Stille . . . . . . . . . . . . . . 5.2.3 Das »störende« Denken im Stille-Erleben . . . . 5.3 Stille eines winterlich verlassenen Ortes . . . . . . . . 5.3.1 Zur Ortsqualität von »Spielplätzen« . . . . . . . 5.3.2 Nichts – Leere – Stille . . . . . . . . . . . . . . 5.4 Resümee . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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113 114 120 121 126 130 133 135 142 144 149 153 158 163 170
6. Die stimmende Macht des Windes . . . . . . . . . 6.1 Seichter Wind . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 6.1.1 Windstille . . . . . . . . . . . . . . . . . . 6.1.2 Nichthaftigkeit des Windes . . . . . . . . . 6.1.3 Die Rolle des Lichts im Wind-Erleben . . . . 6.1.4 Die Rolle der Geräusche im Wind-Erleben . 6.1.5 Das Echo und die Verwirrung der Sinne . . . 6.2 Starker Wind . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 6.2.1 Zur Situation starken Windes . . . . . . . . 6.2.2 Atmosphärische Disharmonien . . . . . . . 6.2.3 Wind und Bewegung . . . . . . . . . . . . 6.2.4 Haltung und Habitus . . . . . . . . . . . . 6.2.5 Zum Verstehen bewegter »Witterungsbilder« 6.2.6 Die Wahrung des Gleichgewichts im Wind . 6.2.7 Wind-Diskurse . . . . . . . . . . . . . . . 6.2.8 »Gelebte Distanz« (Minkowski) . . . . . . .
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173 175 180 182 186 187 189 192 196 197 198 200 204 206 207 209
. . . . . . . . . . . . . . . .
8 https://doi.org/10.5771/9783495813690 .
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Inhalt
6.3 Sturm . . . . . . . . . . . . . . . . . . 6.3.1 Sturm und Bewegung . . . . . . . 6.3.2 Sinnlich-leibliche Präsenzen . . . 6.3.3 Exkurs: Etymologische Resonanzen 6.4 Resümee . . . . . . . . . . . . . . . . .
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211 216 217 220 225
Airport-Wartezonen . . . . . . . . . . . . . . . Warten auf dem Flughafen Frankfurt am Main . Warten auf dem Flughafen Wien . . . . . . . . Warten auf dem Flughafen Klagenfurt . . . . . . Warten auf dem Amsterdamer Flughafen Schiphol Phänomenologie des Wartens . . . . . . . . . . 7.5.1 Warten im engeren und weiteren Sinne . . 7.5.2 Sitzen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 7.5.3 Innen- und Außenwelten . . . . . . . . . 7.5.4 Leibnahe Technik-Sphären . . . . . . . . 7.5.5 Atmosphärische Räume . . . . . . . . . . 7.5.6 Raum symbolischer Gesten . . . . . . . . 7.5.7 Verwicklungen . . . . . . . . . . . . . . 7.6 Resümee . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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228 232 239 242 245 246 247 259 276 284 297 299 301 303
Methodologische Nachbemerkungen . . . . . . . . . . .
308
Literaturverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
319
Abbildungsverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
328
7. 7.1 7.2 7.3 7.4 7.5
8.
Stichwortverzeichnis
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. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 327
9 https://doi.org/10.5771/9783495813690 .
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Einleitung
Die sinnliche Wirklichkeit des täglichen Lebens ist von unerschöpflicher Vielfalt. Dies ist insofern aber nur eine Potential-Vielfalt, als erst eindrücklich und atmosphärisch gegenwärtig werden kann, was die Schwelle der Aufmerksamkeit auch überschritten hat. Die Ökonomie der Wahrnehmung des alltäglichen Lebens setzt ihre eigenen Akzente. Und so bestimmen zunächst vordergründige Nützlichkeitserwägungen, was in der sinnlichen Welt von den Netzen der Aufmerksamkeit erfasst wird. Unter der Macht der Selbstverständlichkeit des Alltäglichen gilt in aller Regel nur das als »nützlich«, was die Filter aktueller gesellschaftlicher Bedeutungen (in den Bereichen der Arbeit, der Politik, der technischen Artefakte etc.) passiert hat. Aber der Mensch geht nicht in Systemen auf, auch wenn sie ihn tendenziell hermetisch umschließen und für Interessen nutzbar machen. Was uns angeht, ist nicht allein in »externen Utilitarismen« begründet; es sind auch – je nach persönlicher Situation mitunter sogar dominierend – Dinge, Sachverhalte und Situationen, deren Bedeutungen in einem affektiven Sinne nahe gehen. In den Fokus affektiver Aufmerksamkeit tritt dann, was im eigenen Leben virulent ist. Das sind oft Programme wie Wünsche, Pläne oder Hoffnungen, aber auch Probleme, die Sinn stiftende Erwartungen eintrüben. Eine Vielfalt zahlloser Facetten des Wirklichen bleibt unserer Wahrnehmung aber entzogen. In der Folge wird Vieles gar nicht erst eindrücklich. Was der Aufmerksamkeit aber entgeht, kann sich nicht als etwas Denkwürdiges erweisen und ebenso wenig den Schatz der selbst- wie weltbezogenen Erfahrung bereichern. Dieses Buch wendet sich dem Einfachen, Übersehenen und Infra-Gewöhnlichen zu und damit all jenen sinnlichen Facetten des Wirklichen, die von den Netzen alltäglicher Aufmerksamkeit nur ausnahmsweise erfasst werden. Mikrologische bzw. »dichte« Beschreibungen werden höchst kontingente Felder des Denkwürdigen aufschließen und die Wahrnehmung gerade mit jenen Facetten des Wirklichen konfrontieren, die dem Gewohnten entgehen. Die mikro11 https://doi.org/10.5771/9783495813690 .
Einleitung
logische Hinwendung zum Infra-Gewöhnlichen folgt nicht dem Ziel der beliebigen Durchquerung übersehener Provinzen des Denkens, sondern einem methodischen Anspruch: der Übung einer sich selbst schärfenden Aufmerksamkeit. Auch dies geschieht aus keinem Selbstzweck; das Üben genauen »Hinsehens«, worin sich das Sehen in einem visuellen Sinne weit überschreitet, folgt vielmehr dem Programm der Sorge um das eigene Selbst, wie es (mit Alkibiades) zum Beispiel bei Foucault zum Thema der Hermeneutik des Subjekts wird. Solche Sorge überschreitet die alltagsweltliche Bedeutung dessen, was als Gegenstand der Sorge in einem engeren Sinne gilt. Die Sorge um das eigene Selbst ist Ausdruck einer existenzphilosophischen Praxis und nicht auf diese oder jene konkrete (gleichsam einzelne) Sorge bezogen. Sie gilt dem eigenen Leben »in Gänze«, indem sie es als etwas Denkwürdiges der Anästhesie des Selbstverständlichen entwindet. Der erste und wichtigste Schritt auf diesem Wege liegt in der Erweiterung der Wahrnehmung und damit in der Vergrößerung der Potentiale des Denkbaren und schließlich in der Vermehrung der Ressourcen der Verfügung über das eigene Selbst. Auf dem erkenntnistheoretischen Hintergrund der Neuen Phänomenologie wird das situative Erscheinen von Menschen, Dingen und Sachverhalten des täglichen Lebens zum Gegenstand mikrologischer Beschreibungen. In einer lebensweltlich ungewöhnlichen Breite und Tiefe werden die von der Aura des Einfachen ausgehenden Eindrücke dabei schon auf dem Niveau der sprachlichen Explikation sachverhaltlich in gewisser Weise implodieren. Die Mikrologien räumlichen Erlebens erweisen sich so als phänomenologische »Autopsien«, die das, was sie der Reflexion zugänglich machen, allein der geschärften Aufmerksamkeit verdanken und nicht ausgefeilten Suchinstrumenten wissenschaftlicher Theorien. Die sich in diesem Rahmen darstellenden Einblicke in die sinnliche Welt aktueller Eindrücklichkeit werden sodann nach phänomenologischen Kategorien »durchquert« und auf dem Hintergrund dieser Aufbereitung zum Anlass detaillierten Bedenkens. Was hier zum Gegenstand einer erfahrungsorientierten Reflexion gemacht wird, steht auf dem Grat zwischen erscheinender Wirklichkeit und dessen subjektivem Spüren und Gewahr-Werden im Medium leiblichen Mit-Seins. Gleichwohl bleibt die phänomenologische Perspektive nicht die ausschließliche Methode der nachdenkenden Annäherung an Wirklichkeit. Sie wird dann zum Beispiel in den Bereich der Kultur- und Sozialwissenschaften überschritten, wenn gesellschaftliche Verhältnisse eine Macht zu 12 https://doi.org/10.5771/9783495813690 .
Einleitung
erkennen geben, aus deren Schatten heraus eindrücklich gewordene Situationen erst verstanden werden können. Grundlage aller Interpretationen sind Ad hoc-Niederschriften, die eine Schnittstelle markieren zwischen der Aktualität eines Erscheinens und der in der Dauer der Zeit einer Beobachtung sich verkettenden Eindrücke. Grundlage der phänomenologischen »Autopsien« von Situationen räumlichen Erlebens sind damit »im Feld« verfasste handschriftliche Protokolle. Diese Niederschriften sind Ausdruck von Resonanzen der Aufmerksamkeit wie der sie leitenden Gefühle. Zwar handelt es sich dabei um Eindrucks-Protokolle, aber sie entsprechen nicht dem fragmentarischen Charakter jener »Stehgreiferzähungen«, durch die sich »authentische« bzw. als authentisch suggerierende Ad-hoc-Niederschriften in der ethnographischen Forschung oft zu verstehen geben. 1 Dies aus zwei Gründen: Zum einen sind sie bereits in der aktuellen Situation eines Eindrucks sprachlich weitgehend detailliert und umfassend fixiert worden. In Vorstudien hat sich gezeigt, dass gerade die Disziplin zur Ausführlichkeit die Aufmerksamkeit im Prozess der Wahrnehmung noch einmal zu schärfen vermag, die sprachlich detaillierte Explikation der Möglichkeit genauer Beobachtung wie dichter Beschreibung also entgegenkommt. Zum anderen haben die Niederschriften auch deshalb einen sprachlich eher erschöpfenden und nicht fragmentarisch-situationsverhafteten Charakter, weil noch am Tage der Durchführung der mikrologischen Beschreibungen, das heißt in einer noch lebendigen emotionalen Nähe zum Eindrucks-Erleben, die abschließende sprachliche Bearbeitung erfolgte. Diese eindrucksnahe sprachliche Ergänzung hatte nicht das Ziel einer interpretativen Erweiterung, die über das hinausgegangen wäre, was schon im Moment der Niederschrift eindrücklich und denkwürdig geworden ist. Die Nachbearbeitung folgte allein dem Ziel der Sicherung sprachlicher Eindeutigkeit, um das Material für die später stattfindende Interpretation – gewissermaßen für die Perspektive der Beobachtung zweiter Ordnung – zu sichern. Grundsätzliche erkenntnistheoretische Überlegungen zur Methode der Erhebung werden in Kapitel 3.2 ausführlich diskutiert. * Die Mikrologien lassen sich auch als Beitrag zu einer praktischen Lebensphilosophie verstehen – als eine Form der Besinnung »auf die 1
Vgl. z. B. Schütze, Kognitive Figuren des Stehgreiferzählens.
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Einleitung
verschiedensten Phänomene und Dimensionen des Lebens« 2. Dabei geht es nicht um das Erleben irgendwelcher »Probanden«, sondern notwendigerweise um das des Verfassers, da nur in der Ersten Person im engeren Sinne mikrologische Aussagen getroffen werden können. Dies heißt aber nicht, dass die in der Interpretation gewonnenen Einsichten vom Rahmen individueller Subjektivität umschlossen wären, also nur eine einzelfallbezogene Bedeutsamkeit hätten. In der Methode der Phänomenologie ist der Einzelfall keine erkenntnistheoretische Sackgasse, er fungiert vielmehr als Illustration prinzipiell möglichen Eindrucks-Erlebens. In einem idiographischen Sinne erhebt die Phänomenologie keine repräsentativen Ansprüche, und sie will auch keine gesellschaftlichen Verhältnisse analysieren. Sie strebt nach einem tieferen Verstehen gelebter Situationen, in denen Aspekte des Wirklichen im Rahmen individueller Begegnung konkret geworden sind. Keine Gesellschaft ist eine unverbundene Ansammlung von Individuen; diese werden durch die verschiedensten Prozesse und »Mechanismen« der Vergesellschaftung (insbesondere qua Sozialisation und Kulturindustrie) in ein kollektives gesellschaftliches Subjekt eingeleibt, so dass sich in ihm letztlich jene Aspekte räumlichen Situations-Erlebens wiederfinden lassen, die auf individuellem Niveau erkennbar werden. Bliebe die Deutung im Einzelfall gefangen, müsste sie in die Psychologie und Psychoanalyse führen. Wenn die Phänomenologie auch in engen Beziehungen zu diesen beiden Disziplinen steht, so bietet sich die Analyse individueller Eindrücke doch darin für die Überschreitung des Einzelfalles an, dass sie für im weiteren Sinne vergleichbare Situationsbegegnungen auch auf Horizonte ähnlichen Erlebens hinweist. Im Übrigen können auch die positivistischen Wissenschaften nur im Rahmen der von ihnen vorgenommenen – also konstruierten – methodischen Ausgangsbedingungen ihrer Forschung eine Übertragbarkeit ihrer Ergebnisse versprechen. Die Phänomenologie ist nicht an Repräsentativität interessiert, wie sie von den empirisch arbeitenden Sozialwissenschaften angestrebt wird. Ihre Reflexionen streben danach, den Menschen ihr eigenes Leben verständlicher zu machen, und dies heißt nicht zuletzt, den Individuen ihre Verfügungsgewalt über ihre eigenen Sinne aus dem Einflussbereich der Macht der Zivilisation gewissermaßen zurückzugeben, um – wenn auch sicher nie in Gänze, so doch in erweiterten Handlungsfeldern – selbst-bewusst agieren zu können. 2
Kozljanič, Lebensphilosophie, S. 15.
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Einleitung
In der Bedeutung, die der individuellen Lebenserfahrung zukommt, steht die Phänomenologie in der Tradition der Lebensphilosophie. Diese hat nach Philipp Lersch ihre Bedeutung als eine Form »philosophische[r] Besinnung auf die Inhalte des Erlebens« 3. Das Moment der Besinnung ist in seinem reflexiven Anspruch durch einen starken Selbstbezug gekennzeichnet. »Besinnung« heißt hier vor allem: sich seiner selbst bewusst werden. Zu Recht weist Lersch ebenso auf die Inhalte des Erlebens hin, denn ohne sie gäbe es kein Erleben. Deshalb geht es nach Lersch auch um die Frage, »ob und wieweit das Erleben imstande ist, uns den Bereich der Wirklichkeit aufzuschließen.« 4 Inhalte des Erlebens sind in aller Regel – von reinen Imaginationen ohne um- oder mitweltlichen Bezug abgesehen – zweipolig. Zum einen kommen sie irgendwo her, zum Beispiel von einem Geräusch oder dem, was Menschen tun, das ein Geräusch »macht«; zum anderen sind sie aber auch darin Inhalt, dass diese Eindrücke zum Beispiel als ein Gefühl der Weite oder Enge, der Beruhigung oder Beunruhigung empfunden werden. Jede im engeren wie im weiteren Sinne subjektbezogene geisteswissenschaftliche Methode der Forschung führt letztlich in die erkenntnistheoretische Debatte über die sinnlichen Modalitäten des Eindrucks-Erlebens, die Wege der Wahrnehmung, die Prozesse der Bewusstseinsbildung und die Konstitution von Wissen. Auch die im Zentrum dieses Bandes stehenden Mikrologien kreisen immer wieder um dieses grundlegende Thema. Damit berühren sie die Frage, welche Bedeutung die Thematisierung des eigenen Selbst auf der Schnittstelle situativen Erscheinens zum einen wie sinnlichen und emotionalen Erlebens zum anderen haben kann. Es wäre aber naiv, von einer methodologisch »einfachen« Herangehensweise an die Anschluss- und Syntheseprozesse zwischen Ausdruck und Eindruck, Realität und Wirklichkeit, Objekt und Subjekt auszugehen. Wenn Ferdinand Fellmann anmerkt, »die Philosophen scheinen den Gebrauch des Erfahrungsbegriffs in Verbindung mit dem Selbst zu fürchten wie der Teufel das Weihwasser« 5, so klingen damit große Spannungen zwischen den verschiedenen wissenschaftstheoretischen Strömungen an, die nicht nur innerhalb der Philosophie verlaufen, sondern mehr noch zwischen Philosophie zum einen und den (gegenstandbezogenen) Sozialwissenschaften zum anderen. 3 4 5
Lersch, Erlebnishorizonte, S. 42. Ebd. Fellmann, Lebensphilosophie, S. 13.
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Einleitung
Auch die hier wiedergegebenen und zum Gegenstand phänomenologischer Reflexionen gemachten Mikrologien beruhen auf subjektiven Eindrücken von Wirklichkeit, die zum Ausdruck gekommen und damit zum Stoff der Lebenserfahrung in situ geworden sind. Die Beispiele zeigen, dass diese situative Verwicklung in ein eindrücklich werdendes Erscheinen in der Beobachtung und Wahrnehmung nie vom interpretativen Denken abgespaltet werden kann. Jeder Beobachter – von was auch immer – ist a priori (affektiv) in »sein« Feld involviert. Und so »meldet« sich ein interpretierendes Zwischenspiel im Prozess des Verstehens sowie als dessen Bedingung von selbst, um produktiv in dieses Verstehen »einzugreifen«. Deshalb ist jeder Prozess einer lebensphilosophisch bedeutsamen Erfahrung auch kein gefühlsneutraler Vorgang. Allerdings geht kein subjektiver Eindruck in Gefühlen auf. Deshalb merkt Robert Kozljanič an: »Lebenserfahrung ist Selbst- und Welterfahrung!« 6 Und so illustrieren die Mikrologien innerhalb ihres Beziehungs-Charakters nicht nur Figuren des Erlebens, sondern auch Facetten vorscheinender Wirklichkeit. Nur handelt es sich dabei eben nicht um Gegenstände einer »objektiven« Realität, sondern um etwas, das sich auf dem Grat sinnlichen Erlebens – und damit als Thema potentieller Erfahrung – von etwas Wirklichem abhebt. In ihrem erkenntnistheoretischen Programm konkurrieren die Mikrologien nicht mit dem der positivistischen Wissenschaften, wenn deren Befunde mitunter auch hilfreiche Erklärungsansätze für ein tieferes Verstehen eben systemlogisch produzierter Gefühlssuggestionen (zum Beispiel in der Produktwerbung oder in der Produktion parteipolitscher Ideologien) vermitteln können. Der Nutzen der Mikrologien erweist sich auf dem Horizont des täglichen Lebens als doppelter Beitrag zu einer Schärfung der Aufmerksamkeit und Differenzierung von Wahrnehmungsvermögen, kommt doch ein differenzierteres Selbst- wie Wirklichkeitsbewusstsein einem aufgeklärteren Umgang mit dem eigenen Selbst ebenso zugute wie dem Vermögen kritischen Manövrierens auf den Bühnen der gesellschaftlichen Systeme. * Die Mikrologien sind nicht zuletzt ein Beitrag zur Atmosphärenforschung. Subjektives Erleben von Eindrücken, die zum Thema phänomenologischer Reflexionen werden, präsentiert sich immer in Atmo6
Kozljanič, Lebensphilosophie, S. 12.
16 https://doi.org/10.5771/9783495813690 .
Einleitung
sphären. Als Umwölkungen geben sie zu spüren, was in bestimmter Weise zu einer Zeit an einem Ort wirklich (im Sinne eines Geschehens) existiert hat. Dabei geht es um kein Existieren im Sinne des Hier- oder Dort-Seins von materiellen Dingen. Atmosphären gibt es in keinem relational-räumlichen Hier und Dort, sie existieren in einem gleichsam schwimmenden und flüchtigen Sinne als ein aufscheinendes und verschwindendes Oszillieren. Atmosphären sind ätherische Seins-Gestalten, die sich mit dem Sein von physischen Gegenständen nicht vergleichen lassen. Jedes Erleben ist sowohl auf der Objektseite eines (mitweltlich) Wirklichen wie auf der Subjektseite dessen aufmerksam wahrgenommener Erlebnisgestalt atmosphärisch disponiert. Während das atmosphärische Erscheinen der Dinge und Situation auf der Objektseite eines städtischen Quartiers zum Beispiel vom Wetter und dem Rhythmus der performativen Ströme der Stadt atmosphärisch gestimmt wird, so die Aufmerksamkeit und Sensibilität gegenüber einem Erscheinenden durch die persönliche Stimmung des erlebenden Individuums. 7 Um beides geht es in den Mikrologien, die deshalb auch als Explikation mehrschichtiger, kommunizierender und ineinander verwobener Atmosphären gelesen werden können. * Der folgende Überblick über die einzelnen Kapitel dient der Orientierung. Die ersten drei Kapitel diskutieren methodologische Eckpunkte zur Durchführung der phänomenologischen »Autopsien« subjektiver Eindrücke. Besonders das dritte Kapitel vertieft erkenntnistheoretische Fragen zum Ertrag der Reflexion von Subjektivität und der darin virulenten Gefühle. Die relativ umfangreich geführte Diskussion erscheint schon deshalb geboten, weil sich die erkenntnistheoretische Selbstverortung der Wissenschaften in einem ständigen Wandel befindet. Wenn Ferdinand Fellmann die Frage danach stellt, »wie das Selbst beschaffen sein muß, um überhaupt Gegenstand der Erfahrung werden zu können« 8, so reklamiert sich darin die sachliche Dringlichkeit der in diesem Kapitel geführten Debatte, aber auch deren Ausführlichkeit. Die Kapitel 4 bis 7 bieten vier Mikrologien räumlichen Erlebens. Die erste ist einer Atmosphäre des Geruchs gewidmet. Sie Zur Beziehung von Atmosphäre und Stimmung vgl. auch Hasse, Die Stadt als Raum der Atmosphären. 8 Fellmann, Lebensphilosophie, S. 13. 7
17 https://doi.org/10.5771/9783495813690 .
Einleitung
dient der überschaubaren Einführung und Veranschaulichung des Prinzips der Mikrologien. Das Kapitel ist deutlich kürzer als die anderen. Dies liegt auch daran, dass die hier thematisierte Situation von deutlich geringerer Komplexität ist als die der anderen Beispiele, die zudem durch die Variation weiterer ähnlicher Fälle ausführlicher angelegt sind. Das fünfte Kapitel widmet sich den Atmosphären der Stille. Darüber führt es unverzichtbar in die Reflexion der von Atmosphären ausgehenden Stimmungen. Anhand von drei Beispielen wird schließlich zu diskutieren sein, inwieweit dem Erleben von Stille atmosphärisch spezifische Ruhe-Qualitäten entgegenkommen können. Insbesondere im Vergleich zweier sakraler Räume mit einem von Menschen weitgehend verlassenen Ort am Strand einer Nordseeinsel wird sich die große Bedeutung eindrucksvermittelnder Bedingungen herausstellen, die unabhängig vom subjektiven Befinden zum Beispiel vom räumlichen Umfeld einer spürbaren Atmosphäre ausgehen. Schon an diesem Punkt zeigt sich der Ertrag der Mikrologien im Hinblick auf das tiefere Verstehen einer Schnittstelle, die sich zwischen wirklichen Milieus und erlebenden Personen bzw. Ausdruck und Eindruck in äußerst vielfarbiger Weise Gestalt gibt. Auch das sechste Kapitel, in dem es um das Eindrucks-Erleben des wehenden Windes geht, entfaltet sich anhand von drei spezifischen Mikrologien – am Beispiel einer beinah eingetretenen Windstille, eines starken Windes und schließlich eines Sturms. Das leibliche Spüren steht hier im Vordergrund. Aber auch hier korrespondiert ein Eindruck mit einem Ausdruck (dem des lokalen Wettergeschehens), so dass die ergreifende Macht eines Halbdings (das Wehen des Windes) schon deshalb zu einem Gegenstand phänomenologischer Erkundung werden muss, weil die lebendige Winddynamik das Selbstund Raumerleben in seinen aktuell-situativen Wandlungen maßgeblich stimmt. Das Beispiel illustriert die nichthafte Wirklichkeit des Windes in ihrem Einfluss auf das aktuelle Ergehen in einer raumzeitlichen Situation. In der vierten und in diesem Band am umfangreichsten ausgearbeiteten Mikrologie geht es um das atmosphärische Erlebnismilieu eines spezifischen Raum-Typs – um die Wartezone vor den Gates bei den Flughäfen des Personenlinienverkehrs. In der vierfachen Variation der Orte (Flughäfen Frankfurt am Main, Amsterdam, Wien und Klagenfurt) werden mehrere Mikrologien zum Anlass einer gründ18 https://doi.org/10.5771/9783495813690 .
Einleitung
lichen und facettenreichen Vertiefung eines Raum-Typs mit je eigenen umweltlichen Gegebenheiten. Schon auf dem Niveau der dichten Beschreibung wird schnell deutlich, dass im Zentrum dieser Mikrologien im engeren Sinne gar kein typischer Raum steht, sondern eine spezifische raumzeitliche Situation. Der Sonder-Raum neben den Flugsteigen wird im Hinblick auf das in ihn eingeschriebene WarteProgramm fragwürdig. Scheinbar nur innenarchitektonische und darin ästhetische Gestaltungsmomente erweisen sich als Elemente der räumlichen Organisation einer pathischen Situation. Das phänomenologische Studium dichter Beschreibungen subjektiven Erlebens führt zur Reflexion einer Form institutionalisierten Wartens, habitueller Implikationen des Sitzens, aber auch des lebendigen und kulturindustriell formatierten Umgangs mit der »gelebten Zeit« (Minkowski). Das achte Kapitel ist einigen methodologischen Nachbemerkungen gewidmet. Die einzelnen Mikrologien der Kapitel 4 bis 7 können unabhängig voneinander gelesen werden. Entsprechende Rückverweise erleichtern deren Verknüpfung untereinander. Das dritte Kapitel ist vornehmlich an einen Leserkreis adressiert, der an der erkenntnistheoretischen Legitimation der Methode der Mikrologien interessiert ist. Das gilt auch für das letzte Kapitel, das grundlegende wissenschaftstheoretische Fragen abschließend aufgreift. Das Projekt der Mikrologien ist auf drei Bände angelegt. Der zweite wird sich allein der Atmosphäre von Märkten zuwenden und an unterschiedlichen Beispielen (Wochenmarkt, Fischmarkt, Blumenmarkt, Weihnachtsmarkt) der Frage ganz spezifischer Ausdrucksformen urbaner wie situativer Lebendigkeit nachgehen. Der dritte Band wird die Rationalität wechseln, in der sich mikrologische Beschreibungen explizieren lassen. So wird es dort nicht die Sprache bzw. die wörtliche Rede sein, deren spezifische Ausdrucksmittel emotionales Erleben fixieren und dem tieferen Verstehen zugänglich machen, sondern das fotografische Bild. Der letzte Band wird damit auch der Diskussion einer medien- und bildtheoretischen Frage gewidmet sein: Welche Rolle kann die Fotografie in der Verständigung über das Sein auf der letztlich atmosphärischen Schnittstelle Mensch – Raum spielen?
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1. »Mikrologien« – Autopsien des Infra-Gewöhnlichen
Der Begriff der »Mikrologie« kommt in der Alltagssprache nicht vor. Auch in den so verschiedenen wissenschaftlichen Fachsprachen ist er äußerst selten. Indes ergeben sich aus der Bedeutung der Vorsilbe Mikro… und der Nachsilbe …logie treffende Erklärungsansätze. In der Hauptsache geht es ums Einfache und in gewisser Weise ums Kleine. Indem dieses nun zum Gegenstand nachspürender Suche nach verdeckten Seins-Weisen wird, bringt sich mit Begriff und Programm der Mikrologien zugleich eine gewisse Form der »Kunde« in Stellung. Mikrologie lässt sich daher als »Erkundung des Kleinen«, Einzelnen und darin Besonderen verstehen. Seit den 1930er Jahren spielt die Idee der Mikrologien auch in der Soziologie eine methodologisch bemerkenswerte Rolle. Mikrosoziologische Studien streben im Sinne einer Art »Tiefensoziologie« 1 Erkenntnisse aus dem Studium mikrosozialer Elemente, das heißt kleinster Gruppen, an. Marianne Schuller und Gunnar Schmidt haben im literaturwissenschaftlichen Kontext an einer Mikrologie »literarischer und philosophischer Figuren des Kleinen« gearbeitet. Methodologisch stellt sich jede Mikrologie, die einer letztlich systematisch betriebenen Bereicherung der Erkenntnis zustrebt, als eine methodische Herausforderung und Gratwanderung dar, die Ansprüche an eine Selbstkultur der Achtsamkeit stellt. Diese Gratwanderung kann nur gelingen, wer dem Abrutschen ins Beliebige durch geschulte Disziplin der Wahrnehmung zuvor kommt. Schuller und Schmidt fragen deshalb kritisch: »Erschöpft sich dieser Blick in Haarspalterei, die sich an ihrem eigenen Eifer erfreut, oder erschließt er etwas, das abgründig, heimlich und unheimlich in den Dingen keimt, wimmelt monaden- und atomhaft haust?« 2
1 2
Vgl. Gurvitch, Mikrosoziologie, S. 693. Schuller / Schmidt, Mikrologien, S. 7.
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»Mikrologien« – Autopsien des Infra-Gewöhnlichen
Die Beschäftigung mit dem Kleinen muss Erkenntniszielen gerecht werden, die eine gewisse lebensweltliche und/oder wissenschaftliche Bedeutsamkeit für sich in Anspruch nehmen können. Die Arbeit an Mikrologien setzt daher nicht nur Genauigkeit der Aufmerksamkeit sowie nachdenkliche wie nachdenkende Sorgfalt im Umgang mit dem Ent-deckten voraus, sondern auch ein Gespür für legitimierbare Erkenntnisinteressen. Mikrologien lassen sich als spezielle »Autopsien« verstehen, nur dass es bei ihnen nicht um Totes geht. Zur Sache der Autopsie kann potentiell alles werden, was sich durch waches Selbst-Hineinsehen erkunden lässt. Was im gleichsam gedehnten Blick geschärfter Aufmerksamkeit wahrnehmbar und bedenklich wird, erschließt in aller Regel ein viel größeres Feld des Wissens als das, was sich die Erkenntnis im sprichwörtlich »ersten« und flüchtigen Blick zugänglich macht. Eine Details gegenüber sensible und aufgeschlossene Achtsamkeit der Wahrnehmung ist stets vorausgesetzt. Sie ist zugleich das Ziel der Methode der Mikrologien. Vor allem kommt es auf die unvoreingenommene Haltung an, in der sich der spontanen Reflexion öffnet, was zur Escheinung kommt – an den Dingen, komplexen Situationen, aber auch am eigenen Sein mit alldem. Keine phänomenologische Autopsie genügt sich im Studium wissenschaftlicher Bücher und gelehrter Reden. Sie erfordert das selbst-hinsehende und -hinspürende Finden von Mustern, die sich in eine beinahe endlose Vielfalt vernetzter Details verzweigen. Beachtung verdient aber nicht erst – wenn überhaupt – das gesellschaftlich »Wichtige«, das oft von Politik und Massenmedien nur wichtig gemacht worden ist. Das Neuland, dessen Erkundung erkenntnistheoretische Impulse vermittelt, liegt in einem Abseits. Der französische Schriftsteller Georges Perec hatte es einmal das Terrain des »InfraGewöhnlichen« genannt. Als solches sah er weniger die normalen Dinge und die immer wiederkehrenden langweiligen Ereignisse des Alltages, sondern das von ihm freigesetzte Hintergrundrauschen, worin das Normale und Langweilige gleichsam schwimmt. Das InfraGewöhnliche ist das Meta-Normale, das »Biotop«, in dem das Gewöhnliche wurzelt. Die Mikrologien öffnen den Blick für überraschende Einsichten – nicht weil es eine methodische Kunst wäre, das Wirkliche zu autopsieren, sondern weil im Langweiligen und »Infra-Gewöhnlichen« die unerwartete Erkenntnis bemerkenswerter und denkwürdiger Sachverhalte keimt. Im Feldweg merkte Martin Heidegger bereits an, es 22 https://doi.org/10.5771/9783495813690 .
»Mikrologien« – Autopsien des Infra-Gewöhnlichen
gebe »die unerschöpfliche Kraft des Einfachen.« 3 Diese liegt darin, dass das Einfache nur als etwas Einfaches erscheint und in diesem Scheinen sich das Denkwürdige des Unbedachten und Übersehenen verbirgt. Der Alltag ist ein Meer der Selbstverständlichkeiten wie des scheinbar Unbedeutenden, das atmosphärisch von einem Rahmen des Infra-Gewöhnlichen zusammengehalten wird. Als »einfach« erscheint zum Beispiel das Banale, das sich im Prozess der aufmerksamen und ins Einzelne gehenden Betrachtung schnell als hoch komplex erweisen kann. Die Mikrologien dieser Studie stellen sich nicht als ein Projekt der Verfeinerung begrifflich abstrakter Reflexionen dar. Sie stehen sogar – trotz aller im Detail notwendig werdenden wissenschaftlichen Reflexion – im Kontrast zur Vorstellung, dass Erkenntniszuwächse nur auf dem Wege der Steigerung von Abstraktionsgraden intelligiblen Denkens zu erlangen seien. Die sich fordernden Übungen der Reflexion haben daher zunächst wörtlich zu nehmen, was »Reflexion« bedeutet, nämlich »das Vermögen, alles zurückscheinen zu lassen, was rein in ihm selbst erscheint und dadurch anwest.« 4 Sache einer Autopsie des Wirklichen wäre es, den »Versuch zu wagen, unser gewohntes Vorstellen in eine ungewohnte, weil einfache, denkende Erfahrung umzustimmen.« 5 Es versteht sich, dass diese denkende Erfahrung von einer sich differenzierenden sinnlichen, leiblichen, pathischen Wahrnehmung begleitet sein muss, damit sich dem Denken überhaupt etwas darstellen kann, das die Formate gewohnten Vorstellens zu sprengen vermöchte. Produktive Umstimmungen gewohnten Denkens sind an jenen Schnittstellen zu erwarten, an denen das erlebende Subjekt in Situationen verwickelt ist und eigene Empfindungen und Gefühle etwas über ein aktuelles mitweltliches Befinden erzählen. Erst in der Explikation machen die Autopsien »sichtbar«, was im täglichen Herum zwar eindrücklich und spürbar wird, aber infolge seiner Diffusität und Gewöhnlichkeit des Bedenkens doch meistens nicht für würdig gehalten wird. Eine aufgeschlossene, mehr noch eine interessierte Aufmerksamkeit gegenüber Ent-deckbarem wie seinem nachspürenden Bedenken setzt eine Lust am Detail voraus – nicht um der sichtbar werdenden Details willen, sondern weil die Durchquerung mikrologischer Befunde eine 3 4 5
Heidegger, Der Feldweg, S. 7. Heidegger, Gesamtausgabe, Bd. 4, Abt. 1, S. 160. Ebd., S. 154.
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»Mikrologien« – Autopsien des Infra-Gewöhnlichen
Reise ins Ferne eines allzu Naheliegenden und Eigenen verspricht. Einen methodologischen Kern der Phänomenologie sieht auch Peter Sloterdijk in der Explikation: »Die Phänomenologie ist die erzählende Theorie vom Explizitwerden dessen, was anfangs nur implizit vorhanden sein kann. Implizit sein will hier sagen: im unentfalteten Zustand vorausgesetzt, im kognitiven Ruhezustand belassen, vom Druck ausführlicher Erwähnung und Entwicklung entlastet, im Modus dunkler Nähe gegeben – noch nicht schon auf der Zunge liegend, nicht schon im nächsten Augenblick abrufbar, nicht vom Diskursregime mobilisiert und nicht in Verfahren eingebaut.« 6
Die anstehenden Erkundungen stellen einen zweischichtigen Wissenszuwachs in Aussicht. Wer den Blick aufs Einfache (und oft genug Banale) wirft, erfährt etwas über jene Facetten des Wirklichen, die unserer alltäglichen Achtsamkeit entgehen – im Erscheinen gleichsam zwischen Realität und Wirklichkeit. Daneben erzählen die unerwarteten Einsichten aber auch etwas über die eigene Beziehung zu einem Sachverhalt oder Gegenstand, dem Bedeutungen anhaften, die das subjektive mitweltliche Befinden stimmen. Eine befreundete Künstlerin beschreibt mir, wie sich ihr Blick ganz zufällig in die Erkundung eines auf dem Schreibtisch stehenden großen Bürolochers verliert. Dass sie dabei kleinste Dinge, Materialunterschiede, Formen, Kanten, gealterte Fingerspuren auf der Farbe usw. entdeckt, erschließt ihr den Gegenstand als reales Ding genauer. Das Wissen über Locher, mehr noch ihren Locher, differenziert sich auf diese Weise. Aber dann spricht sie die Gestalt des Lochers, insbesondere des großen Locher-Hebels atmosphärisch an. Indem sie sich nun selbst klein denkt und den kleinen Raum unter dem Hebel groß, geht es nicht mehr um objektivierbare Eigenschaften des Gegenstandes, sondern eine leiblich spürbar werdende atmosphärische Zumutung, die wiederum nur auf dem Hintergrund der Imagination zustande kommt. Vielleicht ist es die ganz und gar nicht-alltägliche Perspektive, die sie einnimmt, welche auf diese zweite Ebene mikrologischer Annäherung im Wege der Mimesis an etwas (hier einen banalen Gegenstand) besonders deutlich verweist. Das Beispiel illustriert zugleich den kaskadenhaften Effekt des mikrologischen Eintauchens in die Atmosphäre eines Gegenstandes, Ereignisses oder Sachverhalts. Die mimetische Herstellung einer mikrologisierenden 6
Sloterdijk, Sphären III, S. 74/76.
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»Mikrologien« – Autopsien des Infra-Gewöhnlichen
Beziehung zu einem Gegenüber der Wahrnehmung öffnet immer neue Fenster der selbst- wie weltbezogenen Erkenntnis. Schon die alltägliche Situation des Wartens am Flugsteig eines Airports (s. Kapitel 7) offenbart sich im Spiegel mikrologischer Autopsien als Kaleidoskop des Nicht-Alltäglichen. Wer einen geschärften Blick auf die verdeckt lebendige Dynamik des Wartens wirft, erfährt nicht nur etwas über die Arten und Weisen meist sitzenden Ausharrens. Auch die Räume des Wartens geben uns über ihre Ausstattung und organisatorische Ordnung zu verstehen, wie wir warten sollen. Indem wir dies alles wahrnehmen und dieses Wahrnehmen als etwas bemerken, das an und mit uns geschieht, erfahren wir etwas über unsere Art und Weise, in der Welt zu sein. Es ist aber nicht nur die Welt um uns herum, deren geschärfte Wahrnehmung uns zu denken gibt. Auch das eigene Selbst wird als weltlicher Horizont unseres Mit-Seins in lebendigen Situationen vermehrt denkwürdig. Der geschärfte Blick aufs Geschehen sensibilisiert die Aufmerksamkeit auch für diesen Blick, und so ziehen die Mikrologien die erkenntnistheoretischen Bahnen einer Doppelspirale, die vom Einfachen ins darin entdeckte Neue und Fremde hinabführt, um schließlich eine ordnungsbedürftige Vielfalt der Eindrücke, Gefühle und Gedanken zu erschließen – ein Feld notwendig neuen Denkens. Und so stoßen wir nicht nur in unserer herumwirklichen Welt, sondern auch in unserer gelebten Beziehung zu dieser »Herumwirklichkeit« 7 auf alltäglich Übersehenes. Der differenzfreudige Blick aufs eigene Selbst ist dabei nicht Ausdruck esoterischer Weltflucht; er ist habitueller Widerhall einer geradezu programmatischen Hinwendung des Erkenntnisinteresses auf jene Schnittstellen, auf denen das eigene Selbst im performativen Theater des Lebens seine Rollen spielt – im Kleinen wie im Großen. Es sind dies Situationen, in denen sich die emotional teilhabende Verwicklung ins Herumwirkliche mit jeder nur erdenklichen Dynamik dahinströmenden gesellschaftlichen Lebens überlagert und vermischt. Wer sich auf das Experiment der Mikrologien und damit auf die Explikation von Eindrücken (oft in der Ersten Person) einlässt, muss Genauigkeit in die eigene Wahrnehmung investieren und Ausdauer
Dürckheim verwendet den Begriff des »Herumwirklichen« und des »gelebten Raums« zur Akzentuierung der »Vitalqualitäten« in den Situationen des täglichen Herum; vgl. Dürckheim, Untersuchungen zum gelebten Raum.
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»Mikrologien« – Autopsien des Infra-Gewöhnlichen
haben in der erkenntnisorientierten Hingabe an das scheinbar Langweilige und Infra-Gewöhnliche. Er muss sich selbst gegenüber darauf bestehen, es im Wahrnehmen des »Herumwirklichen« im »gelebten Raum« (Dürckheim) nicht beim gewohnten Hinsehen zu belassen, setzt sich im schnellen Blick doch allzu leicht der gewöhnliche Impuls des Über-etwas-hinweg-Sehens durch. Sorgfalt stellt sich in einem methodischen Sinne als eine Lust am produktiven Sich-Verlieren in die Kleinigkeiten des täglichen Lebens dar. Dabei lockt am Beginn dieser autopsierenden Versenkungen ins Kleinste des Kleinen noch nicht einmal ein bestimmter Erkenntnisgewinn am Horizont anstrengender Bemühungen ungewohnten Hin- und Hineinsehens in einen immer schneller ins Kleinste sich verästelnden Strudel. Zu Beginn geht die Explikation subjektiven Erlebens oft genug ins Blaue. Zunächst steht – völlig unsystematisch – allein das Sammeln aufgespürter Eindrücke und Einsichten an. Die andauernde Lust am Hinsehen und Hineindenken speist ihren vitalen Vortrieb aus dem Vertrauen in die Rekonstruierbarkeit einer Struktur und Logik des Ent-deckten, die unserer täglichen Aufmerksamkeit und Erkenntnis üblicherweise entgeht. Was in der Berührung mit lebendigen mitweltlichen Situationen schließlich zusammengetragen wird, staut sich zu einer produktiven Ressource nachspürender Ausdeutung von Sinn auf. Mikrologien können sich auf dem Niveau ihres »Gegenstandes« in kategorial unterschiedlichen Dimensionen entfalten. Ich illustriere hier einführend drei verschiedene Typen, um auf diesem kontrastierenden Hintergrund einen vierten Weg zu skizzieren, der diese Studie anleiten wird.
1.1 »Domus interior« Das klösterliche Leben der Angehörigen einer Ordensgemeinschaft folgt vor allem dem Ziel, durch die täglichen Übungen der Meditation und Kontemplation in größtmögliche Gottesnähe zu gelangen. »Als höchstes Perfektionierungsziel war dem Religiosen vorgegeben, die Sinne vor den Eindrücken der äußeren Welt gänzlich abzuwenden und sie auf eben diese domus interior zu richten. In sie hinein sollte der einzelne Mönch – wörtlich formuliert – ›sehen‹ und ›hören‹, denn nur dort, so hieß es, finde und erkenne er Gott tatsächlich. Es war ein persönlicher Weg der Hinwendung des Einzelnen zu Gott und damit ein Weg, der institutioneller
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»Domus interior«
Formen als Stütze und […] als diskursiver Plattform zwar noch bedurfte, diese zugleich aber transzendierte.« 8
Unter weitgehender Ausschaltung aller sinnlicher Brücken zum mannigfaltigen um- wie mitweltlichen Geschehen sucht der Religiöse Gott in Formen spirituellen »Sehens«. Dabei wendet er sich nicht Gott zu, sondern Gott findet ihn durch die Ausstrahlung seines, das Irdische transzendierenden, gottergebenen Habitus’. Die Architektur des klösterlichen Raumarrangements, die atmosphärische Macht der Liturgie und die gemeinschaftlichen Diskurse der Brüder suggerieren einerseits die ubiquitäre Gegenwart Gottes (im heterotopen Raum des Klosters). Andererseits arbeitet sich der Geistliche aber auch auf dem diskursiven Weg des Gesprächs in der Glaubensgemeinschaft an der Überwindung der Ferne zu Gott ab, in gewisser Weise in einem unendlichen Prozess fiktiver Annäherung. »Das Kloster läßt sich also als eine – um mit Benedikt zu sprechen – ›Werkstatt‹ definieren, deren zentrale Leitidee darin bestand, die Nähe Gottes durch Aufweis seiner erst aufzuhebenden Ferne zu produzieren.« 9 So konzentriert sich das Programm der Mitglieder des Ordens auf eine geradezu exzessive spirituelle Praxis, in deren Mitte das Gebet steht und damit das »persönliche ›Sprechen mit Gott‹« 10. Als kontemplative Innenschau hat diese Praxis den Charakter einer ganz spezifischen und im Prinzip nicht endenden Mikrologie. In diesen kontemplativen Übungen sind die Sinne nicht nur von höchst nachrangiger Bedeutung; sie sind sogar hinderlich. Eine Beziehung zu Gott kann am ehesten gefunden werden, wenn die Seele des Geistlichen »nicht den Eindrücken der körperlichen Sinne erliegt und in die exteriora abschweift.« 11 Diese spirituelle Form der Mikrologie ist nach »innen« gewandt, sie ist eine introjektionistische Schau, die programmatisch nicht das Spüren des eigenen Selbst in Umgebungen zum Ziel hat, sondern allein die religiöse Gewahrwerdung sich suggerierender Gottesnähe. Diese »findet sich« gleichsam im eigenleiblichen Spüren auf dem Wege reiner Imagination. Der Geistliche ist nicht Gott »selbst« nahe, sondern einem auratischen Gefühl, das als Gottesnähe empfunden wird. Melville, Im Zeichen der Allmacht, S. 42. Ebd., S. 37. 10 Ebd., S. 31. 11 Ebd., S. 33. 8 9
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»Mikrologien« – Autopsien des Infra-Gewöhnlichen
1.2 Dichte Beschreibung einer psychopathologischen Störung Die klinische Psychopathologie bedient sich unter anderem phänomenologischer Methoden, um einen sensiblen Zugang zum Verstehen krankhafter Störungen zu finden. Auf der Basis detaillierter Gesprächsprotokolle und Einzeluntersuchungen werden charakteristische Fälle von Depressionen, Wahnvorstellungen und Schizophrenien so dem therapeutischen Prozess zugänglich gemacht. Das folgende Zitat gibt die Erlebnisbeschreibung eines Patienten wieder, der nach Eugéne Minkowski unter einer ambivalenten Depression (dem Zerfall des Zeitbegriffs) gelitten hat. »Seit Beginn meiner Krisis war ich immer überzeugt, ein an der Zeit Erkrankter zu sein. Ich fühle mich im Verhältnis zum Leben verschoben. Ich spüre die Zeit fliehen, aber ich habe nicht den Eindruck, der Bewegung zu folgen; ich habe das Empfinden, in entgegengesetzter Richtung zur Erde zu drehen. Mir fehlt ein Anhaltspunkt in der Zeit; daher das Empfinden, das ich durch die Worte ›ätherisches Wesen‹ ausdrücke. Durch meine Handlungen vergegenwärtige ich mir die Stunden des Tages und nicht umgekehrt, das heißt, dadurch daß ich eine bestimmte Handlung setze, wie die des Anziehens oder des Ausgehens, weiß ich, daß es so oder so spät sein muß; das Gegenteil müßte geschehen, das heißt, weil es so spät ist, müßte ich wissen, daß ich dieses oder jenes zu tun habe. Ich habe den Eindruck, daß die Zeit sehr schnell vorbeigeht, schneller als für die andern, zu schnell, und es ist gräßlich. Ich verspüre dann den Wunsch zu handeln, aber dann tritt eine Reaktion auf, die der normaler Leute entgegengesetzt ist, das Phänomen des Stehenbleibens | taucht auf und führt zu einer vollkommenen Entmutigung. […] Ich habe den Eindruck von negativer Leere. Ich verspüre das Bedürfnis, wie ein herrenloser Hund jemandem nachzulaufen, aber es gelingt mir nicht.« 12
Auch diese Beschreibung hat den Charakter einer Mikrologie. Aber sie ist keine nach innen gewendete kontemplative Schau. Sie stellt sich eher als deren Umkehrung dar – die Extrovertierung eines höchst persönlichen und nicht irgendeines Umwelt-Erlebens, keines sozialen Ereignisses in der Begegnung mit Dritten und schon gar keiner spirituellen Erfahrung. Wer dies expliziert hat, war sich der pathologischen Störung seines Zeit-Erlebens bewusst. Und er war sich darüber im Klaren, dass die größtmögliche Detailliertheit seiner Beschreibungen aus therapeutischen Gründen geboten erschien. Minkowskis 12
Minkowski, Die gelebte Zeit II, S. 166 f.
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Dichte Beschreibung eines Raumes
Patient hatte eine extrovertierte Mikrologie beschrieben, in deren Fokus allein das Erleben des eigenen Selbst stand und nicht die Erfahrung von etwas »Äußerem«, das in seinem Herum geschehen wäre.
1.3 Dichte Beschreibung eines Raumes Im dritten Beispiel kommt abermals ein anderer Fokus zur Geltung. Auch hier geht es um eine dichte Beschreibung, die ihren Gegenstand aber nun in einem umweltlichen Geschehen findet. Der im Folgenden zitierte Auszug stammt aus dem sechsundsiebzigsten Kapitel des Romans Das Leben. Gebrauchsanweisung von Georges Perec. Thema der Beschreibung ist der Kellerraum von Madame Beaumont. »Alte Gegenstände: eine ehemalige Schreibtischlampe mit Kupfersockel und halbkugelförmigem Lampenschirm aus hellgrünem Opalin, stark angeschlagen und schartig, ein Rest von einem Schürhaken, Kleiderständer. Von Reisen aus den Ferien mitgebrachte Souvenirs: ein getrockneter Seestern, winzige Puppen, als serbisches Paar verkleidet, eine kleine Vase mit einer Ansicht von Etretat; Schuhschachteln, die überquellen von Postkarten, Bündel von Liebesbriefen, zusammengehalten von heute ausgeleierten Gummibändern, Arzneimittelprospekte: [Abbildung eines Prospekts]. | Kinderbücher in denen Seiten fehlen und die Einbände herausgerissen sind: Die grünen Geschichten meiner Großmutter, Die Geschichte Frankreichs in Bilderrätseln, aufgeschlagen bei einer Zeichnung die eine Art Operationsmesser, einen Salatkopf und eine Ratte zeigt, ein Bilderrätsel […].« 13
Perec beschreibt ganz im Sinne einer Mikrologie, was er im Kellerraum der Madame Beaumont zu sehen glaubt. Er macht aber nicht sein Erleben zum Thema, sondern widmet seine ganze Aufmerksamkeit dem, was er erblicken kann. Aber er sieht nicht oberflächlich hin, so dass er nur berichten könnte, was hier und dort zu finden ist, nachdem er den Kellerraum betreten hat und sich die Dinge hätte aneignen können wie auf einem Flohmarkt. Seine Beschreibung fällt, wie Perecs Darstellungen im Allgemeinen 14, durch einen nicht-alltäglich hohen Grad der Detailliertheit auf. Sie nimmt den Leser auf einen virtuellen Gang durch einen Raum zahlloser Dinge mit, die eigentlich nur aufgezählt worden sind. Eine Orientierung im Raum wie im situativen Kontext der Dinge ist dem Leser nicht möglich. Perec ist 13 14
Perec, Das Leben, S. 574 f. Vgl. Perec, Platz.
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»Mikrologien« – Autopsien des Infra-Gewöhnlichen
Sammler von Eindrücken, die zumindest in diesem Beispiel – als der Reihe nach genannte Fundstücke – unsystematisch nebeneinander liegen. Wie die Beschreibungen des Patienten von Eugène Minkowski, so hat auch die Mikrologie von Georges Perec einen extrovertierten Charakter. In ihrem Fokus steht nicht die eigene Beziehung zu etwas Beschriebenem, sondern die Mitteilung einer Vielfalt von Eindrücken von etwas Äußerem; es sind Hinweise auf das, was in einem Herum »war«. Noch nicht einmal von einem Geschehen ist in diesem Textauszug die Rede, weder von einem sozialen Prozess noch von einem Eindrucks-Erleben. In welcher Weise Perec vielleicht durch die in jenem Kellerraum so eindrücklich gewordenen Dinge auch hier und da affektiv berührt worden ist, bleibt weitgehend offen. Perecs Mikrologie bewegt sich beinahe ausschließlich auf der Ebene objektiver Sachverhalte; er beschreibt, was sich wie und wo befindet. Mitunter fügt er eine ansetzende Interpretation zur Herkunft und möglichen Geschichte einer Sache bei. Sich selbst hält er in seiner Beziehung zum Entdeckten zurück – zumindest in diesem Auszug, zumindest dem Anschein nach.
1.4 Zur Dimensionalität phänomenologischer Mikrologien Die vorgestellten Beispiele kennzeichnen Typen mikrologischer Autopsien, die darin sehr speziell sind, dass sie sich jeweils in gewisser Weise eindimensional, in eine Perspektive vertiefen. Der Typ Mikrologie, um den es in dieser Studie gehen wird, ist in einem dreisträngigen Sinne konzipiert. Zum ersten werden die in diesem Buch vorgestellten und detailliert diskutierten Mikrologien vornehmlich städtische Situationen thematisieren. Innerhalb dieser Perspektive wird die Aufmerksamkeit auf Dinge und umweltliche Sachverhalte sowie auf um- und mitweltliches Geschehen gerichtet. Zum zweiten rückt die Art und Weise der Berührung ins methodologische Zentrum und damit die Frage nach den von diesen Begegnungen ausgehenden Eindrücken. Drittens werden die den Beschreibungen zugrunde liegenden Situationen in fotografischen Bildsequenzen zur Anschauung gebracht und damit im Modus einer zweiten (ästhetischen) »Rationalität« erschlossen. Die Mikrologien dieser Studie vertiefen sich als genaue »SelbstSichtungen« im Sinne der Autopsie an jenen Schnittstellen ins täg30 https://doi.org/10.5771/9783495813690 .
Zur Dimensionalität phänomenologischer Mikrologien
liche Leben, an denen sich die Erscheinung der Dinge mit den eigenen darauf bezogenen Gefühlen überlagern und das Ganze dieses Erlebens durch vorhandenes Wissen gefiltert und gelenkt wird. Mikrologische Beschreibungen können also nicht als streng rationale Befunde in einem wissenschaftlich traditionellen Verständnis gedacht werden. Letztendlich rational »geklärt« können sie schon deshalb nicht sein, weil die Ökonomie der Aufmerksamkeit in vitaler Weise vom Irrationalen gelenkt wird. Ganz im Gegensatz zu den erkenntnistheoretischen und methodologischen Voraussetzungen der Mikrologien dieses Bandes strebt der wissenschaftliche Erkenntnisprozess in seiner paradigmatischen wie forschungsmethodischen Regulierung zumindest im gegenwärtigen Mainstream der sozialwissenschaftlichen Disziplinen danach, erkenntnis-»trübende« Kräfte, die im Verdacht stehen, im Irrationalen zu wurzeln, methodisch abzuscheiden. Die Methoden und stummen Wege solcher Selbstdisziplinierung werden im Prozess der wissenschaftlichen Sozialisation so nachhaltig »zwischen den Zeilen« explizierter wissenschaftlicher Sätze kommuniziert, dass eine gleichsam aseptische Erkenntnis-Haltung als spezifische Beziehung zur Generierung wissenschaftlichen Wissens vom sogenannten wissenschaftlichen »Nachwuchs« prädiskursiv einverleibt werden kann. Die mit solcherart impliziten Methode des Lernens einhergehenden Verdrängungen sind immer wieder Thema ethnopsychoanalytischer und feministischer Kritik am Prozess der Produktion wissenschaftlichen Wissens geworden, der sich als weitgehend robust gegenüber subjektivistischen Verunreinigungen suggeriert. Im Zentrum solcher Kritik stehen – eher in der Vergangenheit als in der Gegenwart neoliberaler Universitäten – die Praktiken der Verdrängung und Unbewusstmachung vitaler Antriebe. 15 Durch die rhetorisch und prozedural mit großer Geste kommunizierte Suggestion forschungsmethodischer Rationalitätsstandards gaukelt Wissenschaft ihren Rezipienten letztlich eine »Reinheit« verstandesmäßiger Argumentation nur vor, die wiederum als Ausdruck einer irrational unterströmten Rationalität verstanden werden kann. Tatsächlich verschiebt sie irrationale Interessen und Begehren der Erkenntnis auf diese Weise in einen unexplizierten Hintergrund.
Vgl. Müller-Freienfels, Irrationalismus, Meier-Seethaler, Gefühl und Urteilskraft, Erdheim, Psychoanalyse sowie Hasse / Kozljanič, VIII. Jahrbuch.
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»Mikrologien« – Autopsien des Infra-Gewöhnlichen
In den hier vorliegenden phänomenologisch motivierten Mikrologien kommen dagegen programmatisch in konstruktiver Weise irrationale Kräfte und Mächte der Erkenntnis zu Wort. Zu Recht sprach Arnold Hauser in seiner Philosophie der Kunstgeschichte von einem »Luxus der Irrationalität« 16. Mehr noch setzt jede phänomenologische Reflexion dichter Beschreibungen sogar die Explikation des »Irrationalen« in Gestalt von Gefühlen und Empfindungen voraus, denn Facetten von Beziehungen zu den Dingen, Ereignissen und Situationen kommen erst außerhalb rational verklärter Aufmerksamkeiten und Erkenntnishaltungen in den Blick. Als wichtige und vitale Anknüpfungspunkte phänomenologisch nachspürender Interpretationen erweisen sich Situationen, in die das Subjekt auf einer vitalen Ebene affektgeladen verwickelt ist. Die Mikrologien der folgenden Kapitel werden im Wesentlichen auf einem sprachlichen Wege expliziert. Daneben folgt eine visuelle Ergänzung im Medium der Fotografie. Einer großen Tradition der ästhetischen Explikation von Mikrologien begegnen wir in der Kunst, in besonderer Weise in der Malerei. So lässt sich das Gemälde »Woge« von Iwan Aiwasowski 17 aus dem Jahre 1889 als eine affektiv besonders immersive Darstellung der Dynamik einer bei Orkan aufgewühlten See verstehen 18 (s. Abb. 1). Durch keine noch so genaue sprachliche Beschreibung könnte ein vergleichbarer Grad der Anschaulichkeit einer ganz spezifisch lebendigen Situation des Meeres erreicht werden. Das Beispiel weist auf die Inkommensurabilität der Modalitäten unterschiedlichster Formen der Explikation hin. So sind sich die sprachlichen und visualisierenden Medien in der Darstellung von Gefühlen und atmosphärischen Eindrücken weitgehend fremd, selbst wenn sie sich gegenseitig bereichern. Aber auch innerhalb der Sprache sind die Ausdrucksvermögen der prosaischen und der poetischen Sprache in ihren je eigenen Reichweiten des Bedeutens zu unterscheiden. Hubert Tellenbach war sogar der Auffassung, das Wort sei »der präverbalen und präreflexiven Welt des Atmosphärischen inHauser, Kunstgeschichte. Vgl. Nowouspenski, Aiwasowski, S. 132 f. 18 Dass das Werk von Iwan Aiwasowski (1817–1900) in Europa wenig rezipiert wurde, mag daran liegen, dass er ein russischer Maler war (und kein englischer, französischer oder gar US-amerikanischer). Wenn seinem Werk in einer Kritik in der FAZ indirekt sogar eine gewisse Langweiligkeit attestiert wird (»Eine spannende Entwicklung ist nicht zu entdecken.«), so entspricht das ganz dem westlichen Umgang mit russischem Kulturgut; vgl. Karich, Schiffbruch. 16 17
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Zur Dimensionalität phänomenologischer Mikrologien
Abb. 1: Regenbogen (1873) von Iwan Aiwasowski. 19
kommensurabel« 20. Schon aufgrund der ganz eigenen Arten und Weisen des Erlebens im Unterschied zu den möglichen (medialen) Wegen, darüber zu sprechen, ist ganz im Sinne von Tellenbach von einer Beziehung der Inkommensurabilität auszugehen. Daher kommt es im (kommunikativen) Leben auch viel weniger auf Identität von Eindruck und Ausdruck an, denn auf Ähnlichkeit. Damit stellt sich die Frage nach den Mitteln der Explikation. Wie kann die »beste«, das heißt eindrucksähnlichste Annäherung erreicht werden? Die hier vorgestellte Methode der Mikrologien versteht sich als ein Beitrag zu dieser Diskussion.
Entnommen aus: Aiwaskowski, Iwan. Maler des Meeres. Bournemouth und Petersburg 1995, S. 119. 20 Tellenbach, Geschmack und Atmosphäre, S. 116. 19
33 https://doi.org/10.5771/9783495813690 .
2. Zum Verhältnis von Ort und Raum im Eindrucks-Erleben
Wenn »etwas« eindrücklich wird – zum Beispiel der von einem Menschen ausgehende Körpergeruch (vgl. Beispiel in Kapitel 4) –, so hat dieses Erleben eine örtliche und eine räumliche Dimension. Auf relationale Orte, auf geodätisch bestimmbare Koordinaten und Felder, also auf Plätze, die in Landkarten verzeichnet sind, soll es hier in erster Linie nicht ankommen. Raum wird in dieser Studie im neophänomenologischen Sinne als leiblicher Raum und Ort als absoluter Ort eines spürbaren Hier verstanden. Was in diesem erkenntnistheoretischen Rahmen in einem räumlichen Charakter merklich wird, entfaltet sich zwischen Enge und Weite in einem mit »Vitalqualitäten« 1 aufgeladenen Herum. Schmitz sieht Ausdehnung deshalb als Minimalkriterium des Räumlichen; danach ist der Weite die Enge in einem privativen Sinne entgegengesetzt. 2 Solche Weite ist nicht vermessbar oder auf andere Weise objektivierbar: »Weite wird am eigenen Leib unmittelbar gespürt« 3. Das gleiche gilt für das Gefühl der Enge. So bewegt sich das leiblich spürende Selbst nicht in einem zweckorientiert kalkulierenden, sondern sensitiven Sinne zum Beispiel in räumlich ausgedehnter Stille, im Raum des Schalls, der Gerüche und anderer Atmosphären. In diesem phänomenologischen Verständnis ist der Raum nicht euklidisch-dreidimensional, sondern prädimensional ausgedehnt, also nicht durch metrische Abstände und auch nicht durch Flächen, Kanten, Linien oder fixe Punkte begrenzt. Der »objektive« Raum, in dem es Flächen gibt, ist dem Leib fremd. In einem relational-räumlichen Metier agieren Planer, Architekten und Zimmerleute. Die Unterstellung wäre aber falsch, in ihrer Welt würde allein die Logik des relationalen Raumes herrschen. Auch der rationalistische Raum-Akteur stößt schon in der Welt seines eigenen professionalisierten Alltages – mehr im Handwerk als in 1 2 3
Dürckheim, Untersuchungen zum gelebten Raum, S. 39. Schmitz, Band III, Teil 1, S. 8. Ebd., S. 8.
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Zum Verhältnis von Ort und Raum im Eindrucks-Erleben
»rein« intellektuellen Zünften – an Grenzen relational-räumlichen Denkens. Diese werden dann berührt, wenn sich zum Beispiel in der Arbeit des Zimmermanns oder Metallbauers die Abschätzung (und nicht die Vermessung) von Abständen einfordert, so dass sich das sprichwörtliche »Fingerspitzengefühl« bewähren muss. Mit seinem (räumlich orientierten) Tast-Gefühl muss der Handwerker spüren, ob ein zum Beispiel mit der Feile bearbeitetes Stück Eisen dünn genug ist, um in einen Zwischenraum zu passen. Mit einem Blick muss der Zimmermann den Abstand zwischen zwei Balken »erkennen« und der Innenarchitekt im »Gespür« für eine Atmosphäre »wissen«, was wie zu platzieren ist, um zumindest die Möglichkeit behaglichen Wohnens (für einen ihm persönlich bekannten Auftraggeber) anbahnen zu können. Nicht alles, was in einen Raum »passen« soll, lässt sich mit Hilfe technischer Geräte im Hinblick auf Ausdehnung, Größe, Stärke oder Fläche im dreidimensionalen Raum vermessen. Der euklidische Raum verlangt in seiner Einrichtung andere Kompetenzen der Wahrnehmung als die Inszenierung des atmosphärischen Raumes. Deshalb ist der prädimensionale, leiblich spürbare, atmosphärische Herum-Raum der Objektivierung auch nicht wie der tatsächliche Raum zugänglich. Er entfaltet sich ausgehend von leiblich orientieren »absoluten Orten«. Dies sind leibliche Räume der Weite oder Enge. Dass sie auch zu irgendeinem relativen Ort im tatsächlichen Raum in Beziehung stehen, spielt hier eine nachgeordnete Rolle. Mit anderen Worten: Man kann sich auch leiblich in einen Ort versetzen, den es nur in der Imagination gibt und nicht auf tatsächlichen Koordinaten. Schmitz versteht den absoluten Ort als »die ohne Rücksicht auf Lagen und Abstände zu anderen Orten eindeutig bestimmte Quelle aller Lokalisierung, die bei den Umgebungsdingen erst durch deren Bindung an den eigenen ausgezeichneten Ort möglich wird.« 4 Da Menschen aber »auch« im relationalen Raum leben und sich an seinen Maßen und der physischen Ausdehnung der Dinge orientieren müssen, die sich nach Abständen um ihn herum befinden, gibt es folglich eine Beziehung zwischen absoluten Orten (eigenen spürenden Befindens) zum einen und relativen Orten (tatsächlichen DaSeins an einer geodätischen Stelle) zum anderen. Da die Differenz zwischen relationalem und leiblichem Raum bzw. relativem und ab-
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Ebd., S. 13.
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Zum Verhältnis von Ort und Raum im Eindrucks-Erleben
solutem Ort in allen Mikrologien von grundlegender Bedeutung ist, seien beide Raum- und Ortsbegriffe hier kurz erklärt. Zur Verdeutlichung bedient sich Hermann Schmitz mit dem Beispiel eines Wanderers, der an einem Hang über einem tiefen Abgrund ins Rutschen gerät, einer hier weiterhelfenden Differenzierung. Die Stelle, an der die fiktive Person den Halt am Boden zu verlieren beginnt, ist ein relativer Ort (genau diese Stelle zwischen einem Stein und einer Baumwurzel) im relationalen Raum, in dem der Hang über einem Tal und unter einem Felsvorsprung liegt. Die Ursache des Rutschens liegt in der Bodenbeschaffenheit und am Neigungswinkel des Geländes. Die Bedingungen und Merkmale, die diesen relationalen Raum ausmachen, konkretisieren sich am relativen Ort in einer Weise, dass jeder weitere Schritt zum Absturz führen könnte. In der akuten Situation der Gefährdung interessiert sich der Rutschende aber (zunächst) nicht für seinen relativen Ort. Die angstvoll erlebte Gefährdungs-Situation wird ganz vom Befinden am absoluten leiblichen Ort eines fragil gewordenen Standpunktes be- und gestimmt. Dieser absolute Ort ist unter der Macht der Angst durch ein Gefühl geprägt, in dem die leere Weite des Abgrundes schon spürbar wird. Nun ist der Gefährdete in der Bewusstwerdung seiner Situation aber zu sehr handelnder Mensch, als dass er in seiner Angst auf Dauer gefangen bliebe. Deshalb interferieren in der aktuellen Situation beginnenden Abrutschens die Formen des leiblichen und nachdenkenden Reflektierens in der intuitiven Suche nach einer Praxis (und weniger einer abgewogenen Strategie) der Gefahrenabwehr. »Dadurch tritt an die Stelle der Verschiedenheit des eigenen relativen Ortes von dem der Tiefe ein chaotisches Verhältnis beider Orte, d. h. ihre Unentschiedenheit hinsichtlich Identität und Verschiedenheit.« 5 Dies heißt nicht, dass es keinen bewussten und nachdenkenden Rückbezug auf das Sein am relativen Ort geben könnte. Im Gegenteil, es ist sogar davon auszugehen, dass zumindest dann, wenn der Stürzende nach einer ersten Lähmung durch den begegnenden Schreck die Gefahr noch für abwendbar hält, eine rückbesinnende Phase der Prüfung von Optionen möglicher Rettung einsetzt. Diese orientiert sich dann zwangsläufig am relationalen Raum und den Eigenschaften der an relativen Orten befindlichen Dinge (einem festen Stein, auf dem
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Ebd., S. 149.
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Zum Verhältnis von Ort und Raum im Eindrucks-Erleben
man Halt finden könnte, oder einer Baumwurzel, an der man sich auf rettend festen Grund zurückziehen könnte). An diesem Punkt reklamiert sich eine weitere Unterscheidung, die auch für das Verstehen der Mikrologien bedeutsam ist. Der Hinweis auf die rationale Bewertbarkeit der aktuellen Situation, zu der die Bodenverhältnisse gehören, bedeutet zwar nicht, dass es neben der subjektiven Wahrnehmung eine objektive gäbe, die uns die »Dinge an sich« vor Augen führen könnte. Aber das Beispiel zeigt, dass es in der Wahrnehmung der eigenen Angst zum einen und einer (offensichtlich) fest im Boden sitzenden etwa 10 cm dicken Baumwurzel einen Unterschied gibt. Nur wird auch die Wurzel nicht in einem objektiven Sinne wahrgenommen, sondern als etwas, worüber sich aus Erfahrung intersubjektiv bewährte (allgemeingültige) Aussagen treffen lassen. Dies hat mit »Objektivität« nichts zu tun, dagegen mit kulturell (auf die Bedürfnisse des Menschen bezogenen) bewährten Methoden erkenntnistheoretischer Aneignung von Wirklichem. Was sich schließlich mit dem Begriff der »Appräsentation« beschreiben ließe, prägt auch die Wahrnehmung der »Objektseite« einer Situation. Wahrgenommen wird danach Vieles, was im engeren Sinne (zum Beispiel visuell) gar nicht sichtbar ist. So verständigen wir uns lebensweltlich erfolgreich mit anderen über das Sein und den Lauf der Dinge. Solche Verständigung geht auf Wahrnehmungs-Übereinkünfte zurück, auf erkenntnispraktische Konventionen, in deren Mitte etwas steht, worüber nicht nur ein Individuum in seiner persönlichen Situation eine Aussage treffen könnte, sondern auch andere (Dritte) Sachgemäßes zu explizieren in der Lage wären. Wenn also hier – und im Folgenden wiederholt – ein wesentlicher Ertrag der Mikrologien auch in einer Differenzierung der Wahrnehmung von Dingen und Situationen im tatsächlichen Raum gesehen wird, so handelt es sich dabei um Gegebenheiten auf der Objektseite einer Situation, über die wir bei genauem Hinsehen und -spüren in der Tat mehr zu sagen (und in der Folge zu denken) vermögen als auf dem Hintergrund einer lebensweltlich weitaus weniger geschärften Aufmerksamkeit. Mit Vermischungen von absoluten und relativen Orten im leiblichen und relativen Raum haben wir es stets dann zu tun, wenn wir dem Erleben von Situationen nachgehen. Was um uns herum geschieht und affektiv in bestimmter Weise leiblich berührt, hat im relationalen Raum meist eine Quelle. So kommt ein Geruch von einer Stelle im relativen Raum, an der etwas Riechendes oder Stinkendes 37 https://doi.org/10.5771/9783495813690 .
Zum Verhältnis von Ort und Raum im Eindrucks-Erleben
(eine Emissionsquelle) ist; ein Geräusch hat eine Quelle, von der aus sich ein Ton oder Klang im Schallraum ausbreitet. Aber nicht alle Eindrücke haben einen Ursprungsort im relativen Raum, den Dürckheim auch als »tatsächlichen Raum« 6 anspricht. So kommt zum Beispiel die einen Raum »füllende« Stille von nirgendwo her; sie konstituiert sich vielmehr im Milieu der Eindrucksmacht einer mannigfaltigen Gemengelange von Gegebenheiten in einer Gegend. 7 Solche Gegebenheiten bilden sich wiederum als ein Gemisch aus Merkmalen im tatsächlichem und atmosphärischen Raum heraus, so dass die Stille schließlich in einer Weise in einem Herum ist, ohne dass sich über ihre Ausdehnung etwas »Objektives« sagen ließe, wie über die Größe eines Gebäudes. Zwar lässt sich über das leibliche Spüren einer im prädimensionalen Raum ausgedehnten Atmosphäre durchaus Differenziertes (verständigungsorientiert) explizieren, aber es ließe sich nicht in einem einfachen Verständnis an Dingen im relationalen (tatsächlichen) Raum festmachen. Jedes Erleben von Situationen im Raum (zum Beispiel einer Stadt) verdankt sich meist verschiedener sinnlicher Eindrücke. Diese können von Dingen an relativen Orten ausgehen, sie können aber auch aus dem »Nichts« des atmosphärischen Raums kommen. Deshalb benötigen wir einen doppelten Begriff des Raumes wie des Ortes. Was zwischen den Gefühlen der Weite und der Enge im leiblichen Raum zur Escheinung kommt und an »Leibesinseln« (in der Magengegend, im Spüren der Hand oder als eine niederdrückende Schwere am ganzen Leib) bewusst wird, »ankert« nicht immer im relationalen Raum und an einem in diesem lokalisierten Ort. So befindet sich ein städtischer Platz in seiner flächenmäßigen Ausdehnung unbestreitbar im relationalen Raum der Stadt. Er hat eine gewisse Größe, die sich in Quadratmetern oder Hektar bemessen ließe, er ist mehr oder weniger geschlossen umbaut, also von Häusern umgeben, die an Straßen liegen, und er weist ein bestimmtes Steinpflaster auf oder ist asphaltiert. Als relativer Ort hat er materielle Dürckheim, Untersuchungen zum gelebten Raum, S. 61. Hier und im Folgenden spreche ich von »Gegend« im Sinne der Heidegger’schen Bedeutung: »Mit diesem Ausdruck meinen wir zunächst das Wohin der möglichen Hingehörigkeit des umweltlich zuhandenen, plazierbaren Zeugs. In allem Vorfinden, Handhaben, Um- und Wegräumen von Zeug ist schon Gegend entdeckt.«; Heidegger, Sein und Zeit, S. 368. Eine Gegend ist also kein räumliches Irgendwo, sondern ein durch Bedeutungen und deren Bezüge zu möglichem Tun wie Da-Sein schon eingerichteter Raum.
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Zum Verhältnis von Ort und Raum im Eindrucks-Erleben
Eigenschaften, die ihn für bestimmte Zwecke mehr oder weniger prädestinieren. So lässt sich ein Platz in seiner Zweidimensionalität im Raum der Stadt als relativer Ort (im relationalen Raum der Stadt) in all seinen tiefbautechnischen Eigenschaften beschreiben. Derselbe Platz hat zugleich aber auch ein prädimensional spürbares atmosphärisches Volumen – der Lebendigkeit, Ruhe, Gespanntheit, vielleicht auch der Gerüche und Geräusche. Schließlich wird er in wechselnden und abermals räumlichen Formen der Zeitlichkeit spürbar – etwa in der lichten Helle des frühen Morgens sowie in der schweren Dunkelheit des späten Abends. Das sich morgendlich allmählich entfaltende urbane Treiben ist von einer anderen atmosphärischen Voluminösität als die abendlich abklingende Lebendigkeit des Tages. Zudem wird jeder Platz durch eine unbestimmte Vielzahl rhythmischer Figurationen des Sozialen gestimmt und so auf je eigene Weise raumzeitlich situiert. Noch in der tiefen Nacht ist die volumninös-prädimensionale Atmosphäre eines menschenleeren Platzes in seiner Eindrucksmacht so suggestiv, dass er vielleicht gerade dann – atmosphärisch eingebettet in eine Situation der Nacht – das mitweltliche Erleben ergreift und die persönliche Stimmung in dieser Zeit in immersiver Weise einfärbt. Jeder öffentliche Platz bedarf einer geeigneten Fläche im tatsächlichen Raum der Stadt. Diese muss vor allem dem Zweck eines Platzes gerecht werden. Aber dieser ist kein »einfacher«. So soll ein Platz, auf dem unter anderem Märkte abgehalten werden sollen, ja nicht nur funktionieren wie eine »Raummaschine«. Er soll auch, und dies nicht zuletzt im Hinblick auf die Konstitution eines lebendigen und attraktiven urbanen Ortes, eine als angenehm erlebte Aufenthaltsqualität haben. »Funktion« heißt in einem weiteren Sinne also, dass sich zur Zeit des Marktes auf dem Platz in stets wechselnden Vitalqualitäten eine menschlichen Bedürfnissen gerecht werdende Atmosphäre ausbreiten kann – in der unermesslichen wie unüberschaubaren Buntheit der Farben, Vielfalt und Vermischung der Gerüche, im gelassenen bis hektischen Treiben einer gleichsam zäh dahinfließenden Menschenmenge. Zwar sind auch diese räumlich, haben aber mit den Dimensionen des tatsächlichen Platz-Raums nichts zu tun. Zudem setzt das Gefühl, in der »Mitte« eines Marktes zu sein, im Allgemeinen kein exaktes Wissen um den relativen Ort einer mathematischen Mitte voraus. Viel wichtiger ist das Raumgefühl des Mitgehens in einem gleichsam schwingenden Raum spontaner Bewegungsflüsse. Der tatsächliche Raum des Platzes wird im Erleben sei39 https://doi.org/10.5771/9783495813690 .
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ner aktuellen Atmosphäre zu einem leiblich »umwölkenden« 8 Raum, in dem euklidische Maße unwichtig werden, dafür sinnliche Anziehung, habituelle Faszination, spürbare Distanz und aus dem Nichts kommende Anziehung von Ereignisorten ästhetisch an Bedeutung gewinnen. So sind es nun auch Weite- und Enge-Beziehungen zu einem räumlichen Geschehen, die die Bewegung im ästhetischen Raum orientieren und nicht Lage- und Abstandsbeziehungen zwischen tatsächlichen Orten. Die ästhetisch motivierte Bewegung zwischen atmosphärischen Orten ist von allokativen Bewegungen (von einem Gemüsestand auf der Koordinate A zum Stand eines Fischhändlers auf der Koordinate B) zu unterscheiden, wenn beide auch in einem Bewegungsablauf verschmelzen, der sowohl eigenleiblich wie körperlich vollzogen wird. Die Menschen lassen sich im atmosphärischen Raum eines Marktes weit stärker von aktuellen Bedürfnissen, Gefühlen und spontanen Wünschen leiten als im Raum eines Bahnhofs, wenn sie in großer Eile von einem Gleis zum anderen hasten, um einen Anschlusszug zu erreichen. Die Atmosphäre eines Marktes trägt die Menschen in einem leiblichen Sinne wie in einem Bewegungsstrom, in dem mehr der vitale Antrieb das Wohin bestimmt als das abgewogene Kalkül. Solche Bewegungen sind oft Ausdruck einer nachgebenden (ästhetischen) »Stellungnahme« zu einem sinnlichen Eindruck. Wenn sich in den leiblichen Rhythmus der Bewegung auf einem öffentlichen Platz auch rationale Zwecke der Orientierung des Gehens einmischen mögen, so begegnen wir dennoch jener von Schmitz angesprochenen chaotisch-mannigfaltigen Vermischung zweier grundverschiedener Weisen, im Raum und an einem Ort zu sein. Schließlich denken wir auch über das affektiv Begegnende im leiblichen Raum nach, weil wir über das uns (gegenständlich und atmosphärisch) Begegnende (der epistemisch unterschiedlichsten Art) mehr oder weniger wissen. Wir können also nicht nur das tatsächlich im relationalen Raum Begegnende reflektieren. Auch die unterschiedlichsten Arten »mit« etwas zu sein, machen wir zum Gegenstand des Bedenkens; neben der körperlichen Verortung im tatsäch-
Tellenbach sprach die Räumlichkeit der Atmosphären mit dem Begriff der »Umwölkung« an, vgl. Geschmack und Atmosphäre, S. 111. In einem ähnlichen Sinne spricht Peter Sloterdijk später von »schaumartigen Gebilden«; vgl. Sloterdijk, Sphären III, S. 28.
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Zum Verhältnis von Ort und Raum im Eindrucks-Erleben
lichen Raum können wir unser leibliches Befinden im atmosphärischen Raum bedenken und uns dessen bewusst werden. Für das Projekt der Mikrologien bedeutet dies, dass eine Explikation subjektiven Erlebens und Befindens nie einen epistemisch homogenen Charakter haben kann. Vielmehr gehen – als Spiegel eines mehrdimensionalen Mit-Seins in den mit Vitalqualitäten aufgeladenen Räumen – auch die Arten der Selbstgewahrwerdung durcheinander. Das Aufspüren von und Sich-Finden in Situationen drängt zum einen relativ unmittelbar nach Explikation. Zum anderen ist es aber im Moment des Hineingeratens in eine Situation von schlagartig gegenwärtigen Bedeutungen so überlagert, dass das Vermögen zur (meist sprachlichen) Explikation überfordert ist und der intuitiven Ordnung bedarf. Indem der Mensch in (lebensbegleitenden) Prozessen der Sozialisation zu sich kommt, kann es auch keine gleichsam »jungfräuliche« Wahrnehmung geben. Wie sollte man ohne jedes Wissen etwas Begegnendes in einem verstehenden Sinne als Dieses begreifen können? Gelernt werden aber nicht nur Wissenselemente und ganze -bestände im engeren kognitiven Sinne, sondern auch affektive Dispositionen. Deshalb sind die Gefühle der Menschen weder in einem konstruktivistischen Sinne als »geschlossen« zu verstehen, noch als Projektionen (vgl. dazu auch Kapitel 3). Sie öffnen sich vielmehr im Spiegel neuer Situationen für die Revision des Gewohnten im (eben situativen) Verstehen und Begreifen der Welt. Deshalb fädelt sich in den Prozess der Explikation von Mikrologien auch ein, was wir über etwas Erlebtes – in der Aktualität eines Eindrucks anders als in der Ex-postReflexion – wissen. So gibt es kein Erleben, das nicht a priori in gewisser Weise ein interpretierendes wäre. Im Rahmen dieser Studie werden die explizierten Mikrologien der phänomenologischen Interpretation zugänglich gemacht. Darin entfaltet sich eine »zweite«, nun systematisch betriebene Interpretation, denn schon das Explizierte ist ja bereits interpretiert, das heißt verstehend als Dieses oder Jenes erschlossen. Was wir in Räumen und an Orten erleben, stellt sich als Stoff leiblicher Kommunikation dar, indem wir uns sinnlich auf das Begegnende einlassen und von ihm affiziert werden. Noch »in« der Situation wird das Erlebte zu einem Gegenstand verstehender Annäherung. Im Raum der Enge und der Weite vollzieht sich das Wahrnehmen als »leibliche Kommunikation«, das heißt als leibliche Zuwendung eines Wahrnehmenden an einen Partner der Kommunika41 https://doi.org/10.5771/9783495813690 .
Zum Verhältnis von Ort und Raum im Eindrucks-Erleben
tion. 9 Zur Illustration mag man sich zwei Personen vorstellen, die ihre aufeinander zugehenden Bewegungen intuitiv so organisieren, dass sie nicht zusammenstoßen. Solche »autopoietische« Abstimmung ohne wörtliche Rede wiederholt und behauptet sich täglich im gedrängte Aneinander-Vorbeilaufen der Menschen in den dichten Räumen der Innenstädte. Leibliche Kommunikation setzt aber keinen sozialen Partner der Kommunikation im engeren Sinne voraus. Sie liegt der Zuwendung eines Wahrnehmenden zu Gegenständen zugrunde. Auch hier spricht Schmitz von antagonistischer Einleibung, denn »sie ist nicht nur unter Leibern möglich, sondern auch im Verhältnis zu einem leblosen Gegenstand wie einem heranfliegenden Stein.[…] Dies liegt an den Brückenqualitäten, die sowohl am eigenen Leib gespürt als auch an begegnenden Gestalten – ruhenden, bewegten und ihren Bewegungen – wahrgenommen werden können.« 10
»Leibliche Dynamik ist von vornherein dialogisch, weil Engung und Weitung als Spannung und Schwellung an einander gebunden sind, solange das bewußte Erleben nicht aussetzt.« 11 Die leibliche Verstrickung in umgebende Räume ist so grundlegend, dass sie vom Raumerleben nicht zu trennen ist, wie das oben illustrierte Beispiel des Platz- oder Marktlebens gezeigt hat. Jeder Gegenstand, möge es sich dabei um einen Baukörper handeln oder eine vom Sturm hin- und hergerissene Weide, suggeriert sich in seiner Wahrnehmung a priori als leibliches Gegenüber. Um beim Beispiel des Marktes zu bleiben: Leibliche Kommunikation bestimmt die Art des Mit-Seins im sinnlichen Raum des Marktes. Die in der Menge langsam dahergehenden, aber auch hektisch getriebenen Menschen oder die bunten Auslagen der Marktstände sehen wir ebenso wenig allein mit den Augen, wie wir die schwadenartig aus dem Nichts kommenden Gerüche allein mit der Nase riechen. Alles, was uns begegnet, affektiv berührt und oft genug sogar sinnlich zudringlich wird, erleben wir in einem leiblich-ganzheitlichen Sinne als spürbare Präsenzen in prädimensionalen Volumina, in die wir uns hineingezogen fühlen. So wird die sehr schmale Gasse, die von einem offenen Platz abzweigt, als beengend erlebt, der große Raum des leeren Platzes in der lethargischen Ruhe mittäglicher Hitze vielleicht in einem Gefühl Schmitz, Kurze Einführung, S. 40. Ebd. 11 Schmitz, Neue Grundlagen, S. 123. 9
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42 https://doi.org/10.5771/9783495813690 .
Zum Verhältnis von Ort und Raum im Eindrucks-Erleben
der Weite. In der Dunkelheit einer verregneten Nacht und bei schneidend kaltem Wind vermittelt derselbe Raum wahrscheinlich eher ein beengendes Gefühl. Die Bedeutungen, die sich atmosphärisch aufdrängen, werden stets vor dem Hintergrund von Situationen spürbar. Die aktuelle persönliche Gestimmtheit einer Person spielt dabei eine wichtige Rolle. Es gibt deshalb auch kein deterministisches Eindrucks-Erleben, das in einem linearen Sinne vom Charakter eines (z. B. materiellen) Gegenstandes leiblich gleichsam »durchschlagen« würde. Die Enge einer spitzen Zimmerecke (im relativen Raum) kann einmal als bedrückend erlebt werden, weil sie (am absoluten Ort leiblichen Befindens) keinen Raum der Bewegung bietet; dieselbe Ecke kann aber – als absoluter Ort des Rückzugs und der Ruhe – in einer anderen persönlichen Situation und Stimmung auch als behaglich empfunden werden. Die Übertragung von Eigenschaften des tatsächlichen Raumes wie tatsächlicher Dinge in das leibliche Spüren findet über »Bewegungssuggestionen« und »synästhetische Charaktere« statt. Bewegungssuggestionen sind Bewegungstendenzen, »die nicht Bewegungen sind, sondern solche ankündigen, aufdrängen oder nahelegen« 12. So überträgt sich zum Beispiel die Masseneigenschaft der Dunkelheit in der Suggestion langsamer Bewegungen in das eigenleibliche Gefühl in diesem Raum. Die Bewegungssuggestion ist eine Brücke im Sinne eines synästhetischen Charakters; auf ihr überschneiden sich »das Leibliche und das gegenständlich Wahrgenommene« 13. Die Differenzierung zwischen einem relationalen, geodätischen, mathematischen oder tatsächlichen Raum auf der einen Seite und einem leiblichen, spürbaren atmosphärischen Raum auf der anderen Seite ist unverzichtbar, um aus dem Wechselwirkungsprozess einer selbst- und gegenstandsbezogenen Schärfung der Wahrnehmung einen erkenntnistheoretischen Gewinn zu generieren.
Schmitz, Band III, Teil 5, S. 38. Bewegungssuggestionen, die sich an Gestalten abzeichnen, nennt Schmitz »Gestaltverläufe«; vgl. ebd., S. 40. 13 Ebd. 12
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3. Zur Methode der Mikrologien
Die in den folgenden Kapiteln dargestellten und interpretierten Mikrologien verstehen sich als subjektive Beschreibungen, die dem situativen Mit-Sein in atmosphärisch changierenden Räumen im Detail nachgehen. Städtische Räume sind in ihrem urbanen SituationsCharakter dadurch gekennzeichnet, dass in ihnen spezifische Verhältnisse gegenwärtig existieren, während andere programmatisch zukünftig sein sollen. In aller Regel ist im Erscheinen der Dinge und Sachverhalte außerdem vieles fraglich. Deshalb stehen in den nachfolgenden Mikrologien auch nicht immer (relative) »Orte« im tatsächlichen Raum der Stadt im Zentrum (wie zum Beispiel ein Platz oder eine Pier), sondern in besonderer Weise die sinnlich an- und ergreifenden Eindrücke, die sich gewissermaßen zwischen einem relational räumlichen Ort und einem leiblichen Ort konstituieren und als spezifische Wirklichkeit lebendig sind. Die detaillierte Beschreibung atmosphärischer Herumräume ließe sich mit Clifford Geertz auch als »dichte Beschreibung« 1 verstehen, die sich im Modus der Dauer wie der Betroffenheit aus dem Erleben situativ gleichsam anstehender Vitalqualitäten eines Ortes erschließt. Es sind dies Orte, die sich im subjektiven Mit-Sein als »umwölkende« 2 (Tellenbach) »Herumwirklichkeiten« 3 (Dürckheim) zu spüren geben. Zwar hat die methodische Annäherung an die Erlebniswirklichkeit von Orten empirischen Charakter, aber dieser entzieht sich dem üblichen erfahrungswissenschaftlichen Verständnis, wie man es aus den Sozialwissenschaften kennt. Im weitesten Sinne könnte die hier vorgestellte Methode der Mikrologien als qualitative Forschungsmethode aufgefasst werden, wenn die praktizierte Art der mikrologischen Situationserfassung auch durch eine Reihe besonderer Merkmale gekennzeichnet ist. Unter anderem kommt der Subjek1 2 3
Vgl. Geertz, Dichte Beschreibung. Tellenbach, Geschmack und Atmosphäre, S. 111. Dürckheim, Untersuchungen zum gelebten Raum, S. 36.
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Zur Methode der Mikrologien
tivität des Forschenden eine weit stärkere Rolle zu, als dies nach den herrschenden methodologischen Regeln der scientific community im Mainstream empirischer Wissenschaften sein dürfte. Diese bedingte Geringschätzung subjektiver Verwicklungen eines Forschenden in sein wissenschaftliches Tun drückt insofern gegenstandsbezogene Präferenzen aus, als von einer emotionalen Involviertheit des Wissenschaftlers in seinen Forschungsgegenstand bestenfalls marginale, wenn überhaupt irgendwelche konstruktiven Beiträge zum besseren, das heißt sachangemessenen Verstehen erwartet werden. Es darf nicht verwundern, dass im Unterschied zu den Sozialwissenschaften in der Ethnologie eine größere methodologische Sensibilität gegenüber der sinnlichen und leiblichen Involviertheit des forschenden Subjekts in »sein« Forschungsfeld besteht. Das daraus resultierende Votum für eine produktive Integration des subjektiven (Forscher-)Erlebens in den wissenschaftlichen Analyse- und Erkenntnisprozess reklamiert sich aus der evidenten (performativen) Präsenz der »ganzen« Person des Wissenschaftlers in seinem methodischen Tun. Diese Offenheit ist aber nur bedingt der Besonderheit der Ethnologie bzw. ihrer Forschungsgegenstände geschuldet. Auch sozialwissenschaftliche Disziplinen arbeiten unter strukturell ähnlichen Ausgangsbedingungen in je eigenen, oft sogar sehr ähnlichen sozialen Feldern. Umso mehr sind dort beharrende Strömungen bemerkenswert, die eine weitgehende Ausgrenzung subjektiver Eindrücke aus dem Forschungsprozess anstreben, diese also eher als Störungen betrachten, obwohl sie doch tatsächlich von keinem methodisch noch so disziplinierten Wissenschaftler aus der Verarbeitung von empirischem Material herausgehalten werden können. Wie das alltägliche Leben, so kann auch wissenschaftliche Forschung nicht diesseits der menschlichen Sinne betrieben werden. Die Subjektivität der Wahrnehmung kann weder vom Alltagsmenschen noch vom wissenschaftlich Forschenden programmatisch ausgeschaltet werden. Schon der Versuch, die Vielfalt subjektiver Eindrücke im Prozess der Generierung wissenschaftlichen Wissens ausklammern zu wollen, liefe auf einen erkenntnistheoretischen Selbstbetrug hinaus. Umgekehrt wirkt ja sogar die auf wissenschaftlichen Analysen und rationalen Entwürfen beruhende Planung auf das subjektive, sinnliche und leibliche Erleben ein, wenn zum Beispiel Räume der Stadt ästhetisch »geliftet« werden. Indem spürbare Atmosphären zur Wirklichkeit der Stadt gehören, lässt sich diese – auch im Fokus des Forschenden – nicht angemessen in der Beschränkung auf ratio45 https://doi.org/10.5771/9783495813690 .
Zur Methode der Mikrologien
nalistische Erkenntnismittel erfassen. Schon der Umstand, dass eine Stadt als »inspirierend« empfunden werden kann, bedeutet ja, dass (zum Beispiel urbane) Umgebungen Gefühle ansprechen. Simone Eggert merkt deshalb an: »Ein ästhetischer Zugang vermag die Stadtforschung zu bereichern und den Realitäten eines solchen Gegenstands tatsächlich näher zu bringen. Auch aus einer ethnographischen Perspektive sind Sinneseindrücke – etwa in der Beschreibung einer Situation – von zentraler Bedeutung.« 4
Sie erweitern für den Wissenschaftler den Horizont begründbarer theoretischer Annahmen und vermitteln dem Rezipienten wissenschaftlicher Befunde die Möglichkeit, sich in eine beschriebene Lebenswelt hineinzuversetzen. 5 Auch Marion Linska fordert Offenheit gegenüber dem Feld ethnologischer Forschung: »Offensein ist […] keine Konstante, es ist eine Haltung, die laufend aktualisiert werden muss.« 6 Sie ist also auf die situativ gegebenen Affektstrukturen eines herumwirklichen Milieus immer wieder neu zu beziehen. In dem Maße solche Gefühlssuggestionen auf den Forschenden – wie auf jeden anderen Menschen im Einflussbereich eines gestimmten Raumes – einwirken, sind Empfindungen und Gefühle auch im Prozess der Generierung wissenschaftlichen Wissens der Reflexion zugänglich zu machen. 7 »Emotionale Offenheit ist daher auch für die kognitive Offenheit von Bedeutung, sie bedingen einander.« 8 Mit Merleau-Ponty macht Marion Linska den eigenen »Körper« zu einer Basis des Verstehens. 9 Dass hier kein physischer Körper gemeint sein kann, sondern der Leib als dessen spürbare Kehrseite, versteht sich an dieser Stelle von selbst. 10 Mit Pierre Bourdieu führt Linska schließlich aus, dass die RefleEgger, Die Stadt spüren, S. 283. Vgl. ebd., S. 283. 6 Linska, Personale Feld-Reflexion, S. 74. 7 Vgl. ebd., S. 75. 8 Ebd., S. 76. 9 Vgl. ebd., S. 84. 10 Gleichwohl ist die hier auf Merleau-Ponty zurückgehende Körper-Metaphorik in sozialwissenschaftlichen Diskursen ubiquitär verbreitet und lässt nur wenig erkenntnistheoretische Spielräume, um die Leiblichkeit des Menschen in ihrer Bedeutsamkeit für das Verstehen gefühlsmäßiger Verwurzelung in Situationen angemessen zur Geltung zu bringen. So plädiert auch Anja Schwanhäußer (mit Regina Bendix) dafür, eigene körperliche Regungen im Prozess der Erfassung wissenschaftlich für relevant 4 5
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Zur Methode der Mikrologien
xion subjektiven Erlebens »der Verstärkung und Verfeinerung der Erkenntnismittel unter Anerkennung der Grenzen theoretischer Erkenntnis« diene und »damit zutiefst antinarzisstisch« 11 sei. Was Linska zur Beziehung Forschender zu ihrem Forschungsgegenstand sagt, vertiefen die Mikrologien auf dem Niveau der Explikation dessen, was subjektiv über ein Erfahrungsfeld ausgesagt werden kann. Karl Jaspers sprach die Verschränkung unterschiedlicher Modalitäten der Reflexion mit zwei Begriffen an, dem der »reflexiven« und »transzendierenden Besinnung« 12. Die Mikrologien heben als Ausdruck ihrer methodologischen Programmatik das Moment der subjektiven Wahrnehmung innerhalb eines größeren Erfahrungszusammenhanges hervor, um an Beispielen gleichsam im Sinne Jaspers’ doppelter Besinnung zu verdeutlichen, welchen Erkenntniswert die Autopsie solchen Erlebens im Hinblick auf das erfahrende Subjekt und seine Erkenntniswege, aber auch auf die Erscheinungsweisen eindrücklich werdender Wirklichkeit vermitteln kann. Das Mitdenken der Involviertheit des Forschenden in die Lebendigkeit einer ihn in gewisser Weise umhüllenden Situation entspricht auch der ethnographischen Methode, die James Clifford unter dem Titel »writing culture« diskutiert hat. An diesem Ansatz ist die erkenntnistheoretische Situiertheit von Kulturbeschreibungen bemerkenswert. Diese ist unter anderem dadurch gekennzeichnet, dass als Folge der Involviertheit in ein Feld die Möglichkeit einer (objektiven) »Dokumentation« als ausgeschlossen betrachtet wird. »Die Ethnographie situiert sich aktiv zwischen mächtigen Sinnsystemen. Sie stellt ihre Fragen an den Grenzen von Zivilisationen, Kulturen, Klassen, Rassen- und Geschlechterverhältnissen (genders).« 13 Auf der Grenze zwischen der gesellschaftlichen Imprägnierung von Gegenstandsbedeutungen zum einen und den ihnen folgenden Protentionen 14 des Wissenschaftlers im Hinblick auf das, was er vom gehaltener Eindrücke nicht auszuklammern, sondern ebenso zu notieren »wie die mentalen«; Schwanhäußer, Stadtforschung, S. 89. 11 Linska, Personale Feld-Reflexion, S. 85. 12 Jaspers, Was ist der Mensch?, S. 120 f. 13 Clifford, Kulturen schreiben, S. 223. 14 Nach Edmund Husserls ist eine Protention zu verstehen als »intentionale[r] Bezug des Bewußtseins auf solches Bewußte, dessen Eintritt in der Bewußtseinsgegenwart unmittelbar bevorsteht«; Held, »Protention«, Sp. 1528. Eine Protention lässt sich auch als eine »vorgreifende Erwartungsintention« verstehen; Henning, »Vorgriff; Vorhabe; Vorsicht«, Sp. 1189.
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Erscheinen einer Sache erwarten darf, zum anderen, liegen auch die Mikrologien als Denkstücke der fruchtbaren Exotisierung des Gewohnten wie Infra-Gewöhnlichen. Auf dem Hintergrund der Phänomenologie leisten sie damit etwas sehr ähnliches wie das, was Pierre Bourdieu mit seiner »Soziologie der Soziologie« anstrebte, nur eben mit erkenntnistheoretisch anderen Mitteln. In beiden Projekten geht es darum, das reflexive Moment im Prozess der Produktion wissenschaftlichen Wissens zu stärken, um den Blick dafür zu schärfen, »daß die Theorie das Produkt eines theoretischen Blicks ist« 15. Bourdieu plädiert dafür, »die eigenen wissenschaftlichen Waffen gegen sich selbst« 16 zu richten, um die »gesellschaftlichen Determinanten der wissenschaftlichen Tätigkeit« 17 der kritischen Analyse zu unterwerfen. So hintergehen die Mikrologien in ihrer produktiven »Theorielosigkeit« die Lenkung der Aufmerksamkeit durch paradigmatische »Suchkategorien«. Dadurch öffnen sich Perspektiven auf den Gegenstand der Reflexion, die möglicherweise über diesen unerwartet neue Einsichten offenlegen und daneben die erkenntnistheoretischen Wege der Annäherung des forschenden Subjekts zumindest in Umrissen sichtbar machen könnten. Die sich (später) anschließende Reflexion einer Explikation von Infra-Gewöhnlichem führt aber auch zu einer Rückführung der Reflexion in den wissenschaftlichen Theorieraum und damit zu dessen Eichung an Situationen des Wirklichen. Ein eindrückliches Beispiel liefert die in Kapitel 4 einführend interpretierte Mikrologie einer belästigenden Geruchssituation in einem Zugabteil. In einem Nebeneffekt macht sie deutlich, dass jede Beschreibung einer kulturellen Situation eine »Erzählung« ist. In dem Beispiel ist es letztlich eine scheinbar unbedeutende Ortsveränderung von nur wenigen Metern (die »Flucht« vor einem aversiv empfundenen Geruch) aus dem Zugabteil heraus, die den Verlauf der niedergeschriebenen »Geschichte« aus einem nahe liegenden sinnlichen Grund beeinflusst. Daraus lässt sich, ohne dem Beispiel weiter vorgreifen zu müssen, im Allgemeinen resümieren, dass jede Ortsveränderung die Wahrnehmung und in der Folge den performativen Verlauf einer Geschichte verändert. Mit der körperlichen Bewegung im Feld verändern sich also nicht nur Orte im relationalen Raum. So wäre es auch eine Illusion, die vor einem ekelerregenden Geruchsfeld 15 16 17
Bourdieu, Narzißtische Reflexivität, S. 370. Ebd., S. 372. Ebd., S. 373.
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ausweichende Bewegung nur als eine Allokation zu betrachten. Das Beispiel gibt vielmehr ein erkenntnistheoretisches Dilemma zu erkennen. Indem wir in der Beschreibung sozialer Welten meistens fortwährend unseren Ort im Raum verändern – situieren wir uns nicht nur in neuen relational-räumlichen Ortsgefügen; durch allokative Prozesse verändern wir auch den absoluten, leiblichen Ort unseres Empfindens. Folglich sind wir in der Beschreibung von Situationen auch nie in der Rolle von Boten, die ein versiegeltes Dokument überbringen; schon die Art des Protokollierens hat a priori einen Einfluss auf die Erzählstruktur situations- und ortsabhängiger Eindrücke. Es sind gerade die unerwarteten Exkurse eines performativen »Streunens« im Feld des Infra-Gewöhnlichen, die die Theorie als Ressource situationserklärender Annahmen in gewisser Weise lahmlegen, um die Aufmerksamkeit – frei von gesellschaftlich und wissenschaftlich vordefinierten Kategorien der Zuschreibung von Identität – für die leibliche Erfahrung zu öffnen. Auf dem Hintergrund scheinbar solipsistischer Investitionen des Nachdenkens über Banalitäten ist Theorie nur noch bedingt hilfreich; sie erklärt nichts, nur weil sie als Theorie innerhalb einer wissenschaftlichen Gemeinschaft sozial anerkannt ist. Aber sie kann einen Beitrag zum Verstehen leisten, wenn sie sich in ihrem Bezug auf das mikrologische Erleben als fruchtbar erweist. Zunächst rücken wissenschaftliche Theorien in die oben skizzierte Position der Erzählung. Sie fallen damit in ein Vakuum, denn sie werden, indem ihnen jeder apriorische Dignitätsanspruch genommen wird, selbst zu etwas Banalem. Sie können sich als Instrumente des Verstehens bewähren, sie können sich aber auch im Abstraktionsgrad ihrer Erklärungs- und Verstehensangebote forschungspraktisch als unbrauchbar erweisen. Das Bewusstwerden dieses Dilemmas führt in eine Not der Explikation: Der wissenschaftliche Beobachter steht in einem Feld der Geschehnisse (im Raum einer Kirche, auf einem Markt, in einem Airport-Warteraum etc.), das seine Aufmerksamkeit findet. Charakteristische Aussagen über die Wahrnehmungsstruktur von Eindrücken lassen sich in dieser vitalen Situation im vorschnellen Rückgriff auf eine generalisierende Theorie sicher nicht treffen, wenn das auch weithin übliche wissenschaftliche Praxis sein mag. Damit reklamieren sich experimentelle Verfahren der Artikulation situativer Eindrücke, um gleichsam »mit allen Mitteln« der Explikation eines am eigenen Leib als authentisch Empfundenen gerecht werden 49 https://doi.org/10.5771/9783495813690 .
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zu können. Dabei können Grenzen zwischen Wissenschaft und Kunst überschritten werden, wenn Artikulationsstile für angemessen gehalten werden, wie sie üblicherweise zum Beispiel in der Form der metaphorischen Schreibweise in der ästhetischen Literatur vorkommen. Trotz aller Kreativität der Explikation bleibt in aller Regel die eindrucksgemäße Wiedergabe eines Erlebens in einer unerreichbaren Ferne: »Literarische Verfahrensweisen wie Metaphorik, rhetorische Figuren, Erzählstil beeinflussen die Art und Weise, wie kulturelle Phänomene festgehalten werden« 18. Die Mittel der Explikation verändern ihren Gegenstand, weshalb ethnologische Schriften für Clifford »Fiktionen« sind. 19 Die Art und Weise des kommunikativen Transports von Sinn (oder auch nur von sinnlichen Eindrücken) ist ohne Interpretation nicht möglich, denn jede auch nur halbwegs gelingende Explikation setzt ein Verstehen schon voraus. Sonst könnten nur unzusammenhängende Eindruckselemente in einem erratischen Sinne aufgelistet werden. Für die phänomenologisch systematische Interpretation hat dies zur Folge, dass interpretative und aus Vorwissen gespeiste Assoziationen, die sich in den Prozess der Protokollierung von Eindrücken immer wieder »eingemischt« haben, als dessen essentielles Moment zu begreifen und deshalb ihrerseits als Gegenstand der Interpretation zu behandeln sind. Die Tatsache, dass keine Beobachtung je von einem Begleitprozess des Verstehens und Auslegens frei sein kann, wird in der Methode der Mikrologien anerkannt und für den Erkenntnisprozess nutzbar gemacht. Wie sich die Beobachtung im Sinne einer Dialektik von Wahrnehmen, Verstehen, Schärfung des Wahrnehmens usw. in situ vollzieht und sich gerade dadurch auf fruchtbare Weise ins Detail treibt, so muss diese Verwicklung perspektivischer Rationalitäten in der phänomenologischen Auswertung der Mikrologien transparent gemacht werden. Angesichts der prinzipiellen Inkommensurabilität zwischen emotionalem Eindruck und dessen sprachlichem Ausdruck kritisierte auch Margret Mead die Grenzen der Sprache in der situationsangemessenen Beschreibung eines ethnologisch relevanten Feldes. Ein Mittel der Erweiterung, Ergänzung und Überschreitung allein sprachlicher Mittel der Äußerung war für sie die Fotografie. »Allein in ihrer Bali-Feldforschung produzierten Mead und Gregory Bateson 18 19
Ebd., S. 225 f. Vgl. ebd., S. 230.
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mehr als 25.000 Fotografien und 6.700 Meter Filmmaterial.« 20 Mead votierte deshalb für eine »sensible Ethnographie, […] die durch die ethnographische Methode dieses ›Ganze‹ sinnlich und kreativ erfassen, analysieren und ethnographisch beschreiben« 21 sollte. Die Mikrologien stellen sich zugleich als forschungsmethodische Bemühung um eine reflexive Wiederaneignung der Sinne dar (s. auch Kapitel 3.1). Insofern bringen sie als Revision einer abstraktionistischen Wahrnehmungskultur ein antizivilisatorisches Moment im Prozess der Generierung wissenschaftlichen Wissens zur Geltung. Die Fokussierung der Wahrnehmung auf Banales exotisiert das Infra-Gewöhnliche und öffnet die Wahrnehmung für das Nach- und Bedenken des im persönlichen Fokus Erscheinenden. So kann das Ent-deckte die kulturindustriell imprägnierten Wahrnehmungsroutinen aufbrechen, wenn nicht zerbrechen und damit auch die gleichsam akkreditierten Themen (massen-)medial inszenierter Wichtigkeit in einen Hintergrund verschieben. Es geht in den Mikrologien um eine Autopsie der Wahrnehmung, die das Ziel verfolgt, am Beispiel konkreter Situationen eines Wahrgenommenen die Prinzipien dieser Wahrnehmung selbst freizulegen. Damit rücken Fragen nach den Erkenntniswegen in den Fokus, deren Reflexion ebenso etwas über die Tiefenstruktur des Wahrgenommenen sagt wie über die Methoden des Wahrnehmens und die durch dieses Wahrnehmen disponierten Aufmerksamkeiten. Die Mikrologien liefern – so gesehen – empirisches Rohmaterial für die phänomenologische Interpretation. Im Fokus stehen Erscheinungsweisen des Wirklichen, dessen leibliche Gegenwärtigkeit und situatives Verstehen. Dabei geht es nicht um Repräsentativität, sondern um die Illustration des mit den Mitteln individueller Wahrnehmungsvermögen im Prinzip Erfassbaren, das folglich immer beispielhaften Charakter hat. Dies schließt ein, dass die mikrologischen Konkretisierungen in ihrer thematischen wie perspektivischen Breite und phänomenologischen Differenziertheit an die individuelle Aufmerksamkeit und Erkenntnishaltung gebunden sind. Die Wege der Wahrnehmung und die Orientierung der Aufmerksamkeit könnten also auch ganz anderen Richtungen folgen – je nach persönlicher Situation, Assoziation und Beziehung zu einer aktuellen »Herumwirklichkeit« (Dürckheim). Darauf soll es hier nicht ankommen. Die Ein20 21
Chakkalakal, Sensible Ethnographien, S. 345. Ebd., S. 356.
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blicke in Tiefenschichten subjektiven Raum-, das heißt Mitwelt-Erlebens sollen beispielhaft zeigen, worin ein Nutzen der Erweiterung der Aufmerksamkeit gegenüber eindrücklich Gegebenem zugunsten einer Erweiterung des Denkwürdigen liegen kann. Mit anderen Worten: Die unfassbare Fülle an Marginalien, Banalitäten, Beiläufigkeiten und Infra-Gewöhnlichkeiten, denen es an gesellschaftlich und massenmedial inszenierter und suggerierter Relevanz gerade mangelt, öffnet in ihrem Erscheinen wie in ihrer affektiven Zudringlichkeit unser Nachdenken gegenüber Selbst- wie Weltverhältnissen. Das Streben zu den Mikrologien eines subjektiv Erscheinenden ist nicht neu. Es prägte schon die erkenntnistheoretischen Ideale der Neuzeit. Charakteristischerweise war es der Universalgelehrte Leonardo da Vinci, der für die Form mikrologischer Genauigkeit eintrat. Alessandro Nova resümiert in diesem Sinne: »Es war Leonardos Traum, atmosphärische Erscheinungen exakt im Augenblick ihres Entstehens festzuhalten, sie in all ihrer Komplexität zu beschreiben und diese mit den ihm zur Verfügung stehenden graphischen Mitteln zu fixieren.« 22
Bemerkenswert ist der Hinweis auf das Bedürfnis einer multidimensionalen bzw. -rationalen Erfassung von Situationen. Allein im Bild war ihm eine Explikation in der Sache nicht hinreichend scharf genug, so dass ihm die parallele und nach Komplementarität strebende Explikation im Medium der wörtlichen Rede unverzichtbar erschien. Im 19. und 20. Jahrhundert sollten sich die verschiedenen in gewisser Weise mikrologistischen erkenntnistheoretischen Programme dem Pseudo-Objektivismus der positivistischen Wissenschaften mitunter scharf entgegenstellen. Insgesamt steht die Phänomenologie seit Edmund Husserl in diesem kritischen Spannungsverhältnis zum Szientismus. Es war und ist im Großen und Ganzen bis in die Gegenwart nicht nur ein Spannungs-, sondern ein Widerspruchsverhältnis, das die erkenntnistheoretischen Methoden der positivistischen Wissenschaften zum einen und der Phänomenologie zum anderen kennzeichnet. Im Kern dieses methodologischen Dissens’ steht der Umgang des Wissenschaftlers mit Bedeutungen, die in Gefühlen ruhen. Gefühle liegen zum ersten in der Sache, zum Beispiel der melancholischen Inszenierung eines Begräbnisplatzes. Gefühle liegen zum
22
Nova, Kirche, Nation, Individuum, S. 73.
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zweiten in der Person des Wissenschaftlers und fallen im Prozess der Generierung wissenschaftlichen Wissens gleichsam an. Auch in der phänomenologischen Philosophie von Jean Paul Sartre ist die Explikation emotionaler Erlebnisweisen subjektiven In-der-Welt-Seins von zentraler Bedeutung: »Daß es diese und jene Emotion und nur diese bestimmten Emotionen gibt, das zeugt zweifellos für die Faktizität der menschlichen Existenz. Und diese Faktizität macht dann auch einen geregelten Rückgriff auf die Empirie nötig« 23.
Auf andere Weise stand Albert Camus in seiner existenzphilosophischen Orientierung dem Ausdruck subjektiven Erlebens nahe. Bei Henri Bergson ist es schließlich die »Intuition«, die das Subjektive im Prozess der Wahrnehmung sogar noch über das hinaus als empirische Basis in Anspruch nimmt, was sich in der sinnlichen Welt unmittelbar darbietet. Bergson kam es nicht allein auf die aktuellen Impressionen an, sondern auch auf die Erinnerung als »Zugang zu den verborgenen Tiefen des inneren Lebens« 24. Damit wird das in einer Begegnung (assoziativ) wachwerdende Wissen als Ressource der Wahrnehmung anerkannt – und nicht als projektionistisches Material ihrer verfremdenden Überschreibung abgewertet (s. Kapitel 3.5). Bergsons Philosophie läuft auch wegen dieser methodologischen Profilierung auf eine explizite, mehr aber noch eine implizite Kritik am Szientismus hinaus. Dieser stelle a priori eine mangelhafte Form und Kultur der Wahrnehmung dar, die erst der Vervollständigung durch den Begriff bedürfe. 25 Mit Blick auf Martin Heideggers Wende zur dichterischen Sprache, wodurch die Spuren lebendiger gefühlsmäßiger Verwurzelung des Lebens sichtbarer und spürbarer hervortreten als in abstrakten Theoremen, weist Ferdinand Fellmann auf eine geradezu typische Abwehrreaktion der Rationalisten in der Wissenschaft hin: »Die Wende zum Dichterischen war rationalistisch orientierten Denkern ein Gräuel: Unbestimmte Begriffe, etymologisierende Wortspielereien usw. wurden zum Gegenstand des Gespötts.« 26
23 24 25 26
Sartre, Die Transzendenz des Ego, S. 195. Vgl. Fellmann, Lebensphilosophie, S. 82. Vgl. Bergson, Denken und schöpferisches Werden, S. 153. Fellmann, Phänomenologie, S. 97.
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Zur Methode der Mikrologien
Diese Kritik geht aber am Kern der Sache vorbei, denn auch der (empirische) Rückgriff auf Gefühle und sinnliche Eindrücke kommt (als geisteswissenschaftliches Projekt) nicht ohne Begriffe aus. Nur beziehen sich diese auf eine dem leiblichen Erleben nahe Erfahrungsschicht, deren Abstraktionsbasis auf der Ebene unwillkürlicher leiblicher Lebenserfahrung liegt und nicht – gemäß szientistischer Wissens-Produktions-Kultur – auf der Ebene von Theoremen. Was auf den ersten Blick solipsistisch erscheinen mag, ist in Befunden subjektiver Gewahrwerdung begründet und bietet sich deshalb für die reflektierende Analyse der Situiertheit des Subjekts an. Dass diese immer auch gesellschaftlich vermittelt ist, versteht sich von selbst. Beispielhaft kann auf die soziologischen Mikrologien im Sinne phänomenologischer Erkundungen des Alltäglichsten bei Georg Simmel verwiesen werden (zum Beispiel die Soziologie der Mahlzeit 27), entfaltet sich aber auch an großen thematischen Feldern zum Beispiel von grundlegender kunsttheoretischer Reichweite. 28
3.1 Schärfung der Wahrnehmung – ein antizivilisatorisches Projekt Die phänomenologischen Mikrologien banaler gesellschaftlicher Situationen lassen sich auch unter ein ästhetisches Projekt der Wissenschaftskritik subsummieren. Die »dichte Beschreibung« subjektiver, nicht durch empiristische Objektivierungsansprüche standardisierter Beobachtung folgt dem Pfad einer doppelten Differenzierung – der Schärfung gegenstands- wie selbstbezogener Unterscheidungsvermögen. Sowohl auf der Seite der Objektwelt, der Dinge, Sachverhalte und Geschehnisse im tatsächlichen Raum als auch auf der Seite des darauf bezogenen subjektiven Erlebens streben die Mikrologien eine Steigerung der Sensibilität der Aufmerksamkeit und Wahrnehmung an. Die Zeit spielt in diesem Projekt der Übung eine zentrale Rolle, denn Kulturen der Aufmerksamkeit, die sich im Schatten der Macht massenmedialer Sozialisation sedimentiert haben, lassen sich nicht schnell freilegen, bewusstmachen und revidieren. Eine veränderte
27 28
Vgl. Simmel, Soziologie der Mahlzeit. Vgl. Simmel, Rembrandt.
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Schärfung der Wahrnehmung – ein antizivilisatorisches Projekt
Kultur der Aufmerksamkeit kann sich erst im Prozess der Übung in der Zeit, also in bedacht gesetzten einzelnen Schritten entfalten. Langsam treten die Früchte dieses Bemühens in Gestalt sich vermehrender Sichten auf etwas, das als immer dasselbe erscheint, zu Tage – im Sinne eines Immer-besser-Könnens. Mit dem Spektrum des Wahrgenommenen wird das des Denkbaren erweitert. Auf diesem Wege aktualisiert sich Aufklärung als leiblich gelebte Kritik am Prozess der Zivilisation der Masse, das heißt eines Vorgangs der Vergesellschaftung, der die Vielfalt individueller Vermögen durch ein gesellschaftlich kollektives (Nur-)Können ersetzt. Die Mikrologien treten gegen die Macht zivilisationshistorischer Abschleifungen und Zurichtungen von Sensibilität und Achtsamkeit an. Dabei sind stets nur relative Fortschritte zu erwarten, denn die Macht der Überschreibung aller noch so individuellen Vermögen durch die immersiven Verführungen und Suggestionen der Kulturindustrie bleibt schon deshalb nachhaltig und einflussreich, weil die Individuen in gemeinsamen Situationen leben, die gesellschaftlich gerahmt und kulturindustriell disponiert sind. Ich will im Folgenden zwölf Argumente für das Projekt einer mikrologisierenden Schärfung der Wahrnehmung in einem zum Teil resümierenden, vor allem aber pointierenden Sinne zusammenfassen: 1.) Die »dichte Beschreibung« selbst- wie weltbezogener Eindrücke aktuellen Erlebens macht die gelebte Dynamik alltäglicher Umgebungen dem differenzierten Nachdenken und Verstehen zugänglich. Indem die Eindrücke einer Welt des Alltäglichen durch ihre Explikation ins Bewusstsein gehoben werden, erweitert sich das Spektrum des Denkbaren in einem zweifachen Sinne: zum einen in Bezug auf das individuelle Mit-Sein in Umgebungen und zum anderen in Bezug auf das Erleben anderer (Mit-)Menschen, Dinge, Tiere und ganz generell von Situationen der umgebenden Welt. 2.) Ein Grund für die Übung genauen Wahrnehmens liegt in der zivilisatorischen Distanzierung des Menschen von der Welt des sinnlich Gegebenen zugunsten einer Sensibilitätssteigerung gegenüber einer expandierenden Welt der Virtualität und Digitalität. Mit der Mediatisierung des Sozialen durch das Technische geht eine Fokussierung der Wahrnehmung aufs Visuelle einher. Das Erscheinende wird tendenziell in die Zweidimensionalität eingeschmolzen – gemäß 55 https://doi.org/10.5771/9783495813690 .
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der Transformation des gesprochenen Wortes ins technische Format von Bildschirm und Display. Die Verfeinerung der Aufmerksamkeit zielt auf die schrittweise Resensibilisierung der sinnlichen Wahrnehmung für das Lautliche, Taktile, Olfaktorische und Leibliche. 3.) Die Erfahrungslosigkeit, von der Odo Marquard 29 (und vor ihm schon Arnold Gehlen 30) sprach, hat ihren Grund in zivilisations- wie sozialisationsbedingten Zurichtungen der Wahrnehmung. Deren zeitgemäß aktualisierende Habitualisierung ist auch Produkt der subjektiven Einverleibung abstraktionistischer Kommunikationsstandards, denen das Individuum in der sogenannten postindustriellen Spätmoderne gerecht werden muss, um seine Sozial- und Systemintegration nicht zu verspielen. Schon Georg Simmel sprach von einer »Atrophie der individuellen [und] Hypertrophie der objektiven Kultur«, von einer Steigerung des Nervenlebens in den modernen Großstädten um 1900 31 und einer daraus resultierenden Intellektualisierung der Wahrnehmung. 32 Die Verschiebung des Denkens und Sprechens auf höhere Abstraktionsebenen impliziert die Vergrößerung des Abstandes besonders gegenüber solchen sinnlichen Eindrücken, deren Bedenken keinen gesellschaftlichen Mehrwert zu versprechen scheint. Deshalb erfährt gerade die kulturelle Bedeutungsminderung des vermeintlich wie tatsächlich Banalen durch eine Verfeinerung sinnlich pluraler Sensibilitäten der Aufmerksamkeit eine Relativierung und Korrektur. 4.) Als Folge des wissenschaftlichen wie technischen Fortschritts in der Spätmoderne werden Aufmerksamkeiten nach systemischen Erfordernissen regelrecht »eingestellt«. Solche »Spezialisierungen« bewirken eine nachhaltige Desensibilisierung gegenüber scheinbar »unnützen« Eindrücken einer selbstverständlich gegebenen Welt. Vgl. Odo Marquard spricht von einer »Karriere des Hörensagens«, die vor allem jene Bereiche betrifft, die sich lebensweltlich außerhalb »fachjargonabhängiger« und »superspezialistischer« Erfahrungen entfalten; Marquard, Zeitalter der Weltfremdheit, S. 83. 30 »Der industrielle oder administrative oder gelehrte Spezialist« arbeitet – so die Diagnose in einer sozialpsychologischen Analyse von Arnold Gehlen – in »ereignisverdünnten Räumen […], die sich meist überhaupt der Vorstellbarkeit entziehen«; Gehlen, Die Seele im technischen Zeitalter, S. 48. 31 Simmel, Großstädte, S. 119. 32 Vgl. ebd., S. 120. 29
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Schärfung der Wahrnehmung – ein antizivilisatorisches Projekt
Insbesondere wirken signifikante parteipolitische Akteure mit legalen, aber illegitimen Methoden der Täuschung auf die Transformation der Wahrnehmung ein. Dabei werden auch Bedeutungen und Gefühle zur Beurteilung komplexer Situationen simplifiziert. Die Durchsetzung solcher Denk-, Sprach- und Gefühlsregime schließt die Produktion des Unaussprechlichen ein. 5.) In einer Gesellschaft, die vermehrt auf abstraktionistischen Niveaus in Systemwelten kommuniziert, gerät das Unauffällige und Beiläufige aus dem Fokus des Beachtenswerten und Denkwürdigen. Dabei wird aber nichts der Wahrnehmung »Unwürdiges« unsichtbar gemacht, sondern das die Konstitution des täglichen Lebens Begleitende. Die performative Dynamik des Alltäglichen wird in ihrem reibungslosen Fluss in besonderer Weise von diesen »Marginalien« durchströmt, wenn sie in einem aseptisch systemtheoretischen Sinne auch bedeutungslos zu sein scheinen. Ganz und gar gewöhnliche Fermente des Alltäglichen berühren sich zum Beispiel in den Rückzugswelten des Wohnens als Medien behagender und umfriedender Atmosphären. Bemerkenswert ist deshalb auch der Umstand, dass das Banale, Gewöhnliche und Beiläufige in postmodernen Kulturen des Urbanen nicht zufällig eine ästhetische Aufwertung erfährt. Vieles spricht sogar für eine vielleicht eher unbewusste als reflexiv intendierte Hinwendung zu einer Welt des Überflüssigen. Besonders die Freizeitund Unterhaltungsindustrie recycelt noch das Infra-Gewöhnliche und Mega-Ordinäre im Design eskapistischer Dispositive der Abfederung systemischer Verhärtungen des täglichen Lebens. 6.) Die Einlassung auf die mikrologisierende Beobachtung von Orten führt im Rahmen der selbstbezogenen Differenzierung der Wahrnehmung zu einem leiblichen Gewahrwerden dessen, was mitweltlich gegenwärtig ist. Damit entfaltet sich in der spätmodernen Gesellschaft eine kulturindustriell gegenströmende Sensibilität, die sich auf produktive Weise gesellschaftlich-kollektiver Ökonomien der Aufmerksamkeit entzieht. Die umgebenden Dinge, Menschen, Tiere und Situation werden nicht allein als Verfügungspotential des qua Handlung Gestaltbaren betrachtet. Sie kommen als etwas Begegnendes in den Blick, das vor jeder Nutzungs- und Verwertungsrationalität um seiner und unserer Wahrnehmung willen Beachtung verdient. An die Stelle der Erwägung möglicher handelnder Verfügung tritt das 57 https://doi.org/10.5771/9783495813690 .
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Bestreben, sich seiner selbst in »leibhaftigen Herumwirklichkeiten« 33 bewusst zu werden. Im Sinne einer »Archivierung« des Gewöhnlichen leisten die Mikrologien eine Funktion der Speicherung von Segmenten der Geschichte im kulturellen Gedächtnis von Ort und Stadt. 7.) Bewussteres und differenzierteres sinnliches wie leibliches Mitwelt-Erleben vermittelt nicht zuletzt ein Sensorium für Protentionen, denn man kann nur auf etwas gefasst sein, das man gelernt hat, für möglich zu halten. Etwas aus guten Gründen erwarten zu können, setzt Übung im Erfassen dessen voraus, was im Gang der Ereignisse im Milieu des Vielen und im Verlauf immer neuer Bifurkationen geschieht. Eine Sensibilität gegenüber dem, was in nahender Zukunft eintreten könnte, birgt aber auch politische Potentiale, ist doch die Erwägung des Denkbaren stets von der Fähigkeit zur Antizipation des Möglichen abhängig. 8.) Die Mikrologien stellen eine bewusste Beziehung zu jenen Geschehnissen her, die die subjektive Wirklichkeit dies- und jenseits intentionaler und rationaler Handlungen bestimmen. Die spätmoderne Mystifizierung des Individuums als ein sich und seine Umwelt rational beherrschendes Wesen relativiert sich in der Sensibilisierung für das Unerwartete, das Nicht-Intendierte und sich jeder Beherrschung entziehende Zufällige. 9.) Die Fähigkeit zur differenzierten Beobachtung mündet in die sich abzuringende Arbeit der Explikation von Eindrücken. Erst die explizierte Erlebnisgestalt steht dem reflektierenden Denken in angemessener Breite und Tiefe zur Verfügung. Die Explikation folgt in aller Regel Form und Regelwerk der Sprache; sie kann aber auch – wie in dieser Studie – zumindest ergänzend im Medium des (zum Beispiel fotografischen) Bildes zum Ausdruck gebracht werden. Im SprechenLernen über das Banale entfaltet sich ein geradezu revolutionär-antizivilisatorisches Kapitel der Übung des »Unnützlichsten«, das die Gesellschaft und ihre auf Effizienz getrimmten Systeme vom Individuum erwarten. So treten die Mikrologien auch gegen die Zumutungen Vgl. Dürckheim, Untersuchungen zum gelebten Raum, S. 36. Solche Herumwirklichkeiten zeichnen sich durch einen bestimmten »Vitalton« im Raumerleben aus; ebd. S. 39.
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Schärfung der Wahrnehmung – ein antizivilisatorisches Projekt
mehr verdummender als bildender Spektakel einer massenmedialen »Unterhaltungsindustrie« an, deren kulturindustrieller Sinn sich seit Adornos und Horkheimers Analysen 34 nicht prinzipiell, sondern nur variationell geändert hat. 35 Insbesondere die Schule, die in Inklusions- und PISA-Zeiten allein noch der Illusion hingegeben ist, Zielen einer bemerkenswerten allgemeinen Bildung zuzustreben, trägt das Ihre zu einem Niedergang genauen Sprechen-Könnens (längst nicht allein) im Bereich der leiblichen Selbst- und Weltwahrnehmung bei. Umso dringlicher ist auch im Sinne einer politischen Bildung eine Form und Qualität der Übung, die gegen die Verstümmelungen eigenständigen Denkens antreten könnte. Was Adorno an der Vergesellschaftung durch die Kulturindustrie der Kritik unterwarf, lässt sich in der Gegenwart beinahe bruchlos auf das allgemein-»bildende« Schulwesen übertragen: »Dadurch, daß die Individuen gar keine sind, sondern bloße Verkehrsknotenpunkte der Tendenzen des Allgemeinen«, wird es möglich, »sie bruchlos in die Allgemeinheit zurückzunehmen.« 36 Es liegt auf der Hand, dass in einer Kultur, die alles »mit Ähnlichkeit schlägt« 37, kein Platz für emanzipierte und aufgeklärte Individuen sein soll. Mit anderen Worten: Zu einem selbstbewussten Individuum gehört die Fähigkeit, sich differenziert in der selbst- wie weltbezogenen Sache eigener Erfahrungen artikulieren zu können. Die Mikrologien entfalten sich in diese Richtung. 10.) Die Verfeinerung des Wahrnehmens berührt nicht allein die an einem Ort wahrnehmbaren Sachen. Über die Reflexion des sinnlich und leiblich Erlebten sowie des sich gesellschaftlich Ereignenden schlägt sie eine Brücke zur Reflexion des mit dem Sinnlichen verbundenen Sinns. Schon die Suche nach einem nie a priori gegebenen Sinn des sinnlich Erscheinenden und Geschehenden vermittelt Anknüpfungspunkte der Revision einverleibter Wahrnehmungsroutinen. Vgl. Adorno / Horkheimer, Dialektik der Aufklärung. Der Sinn des Sinnentaumels und der des kollektiven Gelächters geht in Gänze in dem alten Prinzip »Brot und Spiele« auf und dient damit der großen Ablenkung von den Zuspitzungen immer widersprüchlicher werdender gesellschaftlicher Verhältnisse. Es ist evident, dass sich dieser Taumel der Sinne im Banalen einer strukturell anderen Logik verdankt als das Projekt einer Aneignung der Sinne mit dem Ziel, Horizonte für mögliche Annahmen des Denkens zu verbreitern. 36 Adorno / Horkheimer, Kulturindustrie, S. 139. 37 Ebd., S. 108. 34 35
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Zur Methode der Mikrologien
Die konstruktive Kritik an dissuasiven kulturindustriellen Verführungsofferten steht dabei in ihren Überwindungsstrategien vor dem Dilemma, dass die im Laufe der Zivilisationsgeschichte 38 einverleibten Dispositive des Wahrnehmens die Achtsamkeit im Bereich der Sinnlichkeit tendenziell entalphabetisiert bzw. auf standardisierte Formate reduziert hat. Vor allem sollte der Prozess der christlich geprägten Zivilisation in der westlichen Welt eine vereinseitigte Kultur der Wahrnehmung entfalten. In ein immer mächtiger werdendes Zentrum rückten visuelle Vermögen des Sehens sowie lautliche des Hörens. In einem komplementären Sinne ist das »Können« der sogenannten »niederen« Sinne auf ein residuelles Niveau zurückgefallen. Die zivilisationshistorische Zurichtung der Menschen auf bestimmte Wahrnehmungsvermögen ist nicht zuletzt Ausdruck politischer Macht, denn in geradezu idealer Weise bietet sich das in seiner sinnlichen und leiblichen Selbstwahrnehmung teilanästhesierte Subjekt als Objekt der Dissuasion und Verführung durch Politik, Kultur und Ökonomie an. 11.) Nicht zuletzt soll ein wissenschaftstheoretisches Argument für die Durchführung von Mikrologien angesprochen werden. Die szientistische Welt gleicht vor allem in den sozialwissenschaftlichen Disziplinen einem selbstreferentiellen System abstraktionistischer Theorien und Terminologien, die der Welt des sinnlich Erlebbaren tendenziell inkommensurabel gegenüber stehen. Mit anderen Worten: Was sich nicht unter die Kategorie intelligiblen Handelns subsummieren lässt, fällt weitgehend aus dem paradigmatischen Rahmen szientistischer Aufmerksamkeitsprofile heraus. Es wird oft stumm als etwas »Privates« und »Irrationales« vorausgesetzt, das sich bestenfalls am Rande qualitativer Sozialforschung als entspannender und von intellektueller Anstrengung entlastender Stoff für sogenannte »Storylines« anbietet. Eine wissenschaftstheoretische Sinn-Dimension der Mikrologien liegt schon darin, einen Wirklichkeitsbereich des täglichen Lebens dem Be-Denken zugänglich zu machen, der abseits der Aufmerksamkeit des sozialwissenschaftlichen Mainstreams liegt. Die gleichsam schichtenweise »Obduktion« von ge- und belebten Orten legt Segmente und Sequenzen sozialer Lebendigkeit offen. Die Mikrologien, die sich nur vordergründig in Details zu »verlieren« scheinen, widmen sich – so gesehen – paradigma38
Vgl. i. d. S. Elias, Prozeß der Zivilisation.
60 https://doi.org/10.5771/9783495813690 .
Schärfung der Wahrnehmung – ein antizivilisatorisches Projekt
tischen Schattengestalten des Zivilisations- und Vergesellschaftungsprozesses. 12.) Gegenstand der Wahrnehmung wird gerade in den Mikrologien jenes mitweltliche Sowohl-als-Auch, in dem sich das Stimmende einer Umgebung mit subjektivem Gestimmt-Sein verbindet. Erwin Straus sprach den Charakter solch affektiver Teilhabe mit dem Begriff des »Pathischen« 39 an. Das Pathische konstituiert sich nicht über das sprachlich schon Vorgefasste und eigentlich Abstrakte, sondern auf sympathetischem Wege im Moment der »Wahrnehmung und Empfindung […] als eine unmittelbar vorbegriffliche Kommunikationsweise mit den Dingen.« 40 Weil solch spürendes Mit-Sein nicht nur auf das aktuelle situative Befinden einwirkt, sondern auch auf die Art und Weise, wie wir uns zu einer Situation und den sich in ihr öffnenden Perspektiven verhalten, sieht Hartwig Wiedebach das Pathische als Moment der Vernunft. 41 Die »pathische Haltung« ist es, die sich zu den Geschehnissen auf andere Weise in Beziehung setzt als die Rationalität. »Die pathische Haltung sieht im Leben wesentlich ein Widerfahrendes, ja Erlittenes.« 42 Es ist letztlich eine andere Aufmerksamkeit gegenüber dem performativen Lauf der Dinge, die in der mikrologischen Einlassung auf den Fluss von Situationen auch eine andere Sensibilität gegenüber Mitweltlichem zur Geltung bringt. Im Blick auf die Mikrologien des Alltäglichen kommt eine ästhetische Seite des Lebens zur Geltung, die nicht Gegenstand der (rationalistischen) Verfügung ist, aber das individuelle wie kollektive Leben ganz grundlegend fundiert. Auf den ersten Blick bieten sich nur die im tatsächlichen Raum beobachtbaren Seinsweisen und stattfindenden Geschehnisse der erfahrungsorientierten Reflexion an; aber diese sachverhaltlichen Milieus sind zugleich in Atmosphären gleichsam »eingekleidet«, so dass der lebendige Raum samt aller auf ihn bezogenen Imaginationen zum Gegenstand der Mikrologien werden muss. Deshalb geht es in der Rekonstruktion subjektiven Raumerlebens auch um die Bedingungen der Konstitution ephemerer Raumqualitäten wie atmosphärischer Milieus. So geht die Analyse in einem zweiten Schritt notwendig 39 40 41 42
Vgl. Straus, Formen des Räumlichen, S. 167. Passie, Psychiatrie und Psychologie, S. 152. Wiedebach, Pathische Urteilskraft, S. 39. Ebd., S. 194.
61 https://doi.org/10.5771/9783495813690 .
Zur Methode der Mikrologien
über die Illustration eines breiten Spektrums erlebter Situationen hinaus, um die Rhythmen, nach denen die verschiedensten Orte gelebt werden, in systematischer Weise zu sichten und zu ordnen. Indem sich dieser Weg der Illustration und Reflexion an der Neuen Phänomenologie von Hermann Schmitz orientiert, folgen die Kategorien der Unterscheidung einer erkenntnistheoretischen Struktur. Die angestrebten Denk-Stücke verstehen sich oft zugleich als Elemente einer produktiven Zivilisations- und Gesellschaftskritik. Diese gründen nicht in den großen zivilisations- und gesellschaftskritischen Werken des 20. Jahrhunderts, sondern in einer (neo-)phänomenologischen Perspektive, in deren Zentrum die subjektive Betroffenheit von Eindrücken steht. Die Art und Weise, wie sich Menschen situativ an Orten, in Milieus und Atmosphären finden, über die sie oft nur wenig in einem propositionalen Sinne wissen, sagt viel über die Bedeutung von Orten im Leben der Menschen aus. Ohne theoretische Voreingenommenheit gegenüber spezifischen räumlichen Stimmungsqualitäten wird in den Kapiteln 4 bis 7 eine Reihe meist gewöhnlicher Orte im Sinne der »Autopsie« durchquert.
3.2 Die Methode der Beobachtung Die Bedeutungen des Begriffs der »Beobachtung« weisen schon in den etymologischen Wurzeln auf differenzierungsbedürftige Programme hin. So findet sich bei Grimm der zwar dürre, aber dennoch hilfreiche Hinweis: »Wahrnehmung ist mehr als Bemerken, Beobachtung mehr als Wahrnehmung.« 43 Die meteorologische Beobachtung des Wetters stellt folglich andere Anforderungen an ihre methodische Durchführung als die Beobachtung einer aktuellen sozialen Beziehung oder der Wirkung (synästhetisch) warmen Lichts auf das aktuelle leibliche Befinden von anwesenden Personen.
3.2.1 Die Beobachtung im sozialwissenschaftlichen Methodendiskurs Die Methode der Beobachtung hat in den Sozialwissenschaften eine andere Funktion als in einem phänomenologischen Projekt. An dieser 43
Grimm / Grimm, Deutsches Wörterbuch, Bd. 1, Sp. 1478.
62 https://doi.org/10.5771/9783495813690 .
Die Methode der Beobachtung
Stelle sollen einige charakteristische Eckpunkte aus der Sicht der sozialwissenschaftlichen Methodendebatte zur methodologischen Kontrastierung der Anwendung der Methode der Beobachtung in einem phänomenologischen Projekt pointiert werden. Es handelt sich dabei eher um Bemerkungen als um eine auch nur in Umrissen grundlegende methodentheoretische Erörterung. Die folgenden Anmerkungen sollen allein der Abgrenzung vom hier zur Geltung kommenden methodischen Verfahren dienen. Die Aufgabe der Beobachtung ist in den Sozialwissenschaften im Allgemeinen auf die Erfassung eines objektiviert Darstellbaren (objektive Tatsachen i. S. von Schmitz) fokussiert. So findet sich bei Anselm Strauss das Beispiel der Beobachtung einer Krankenschwester, die einen frisch operierten Patienten versorgt. Alle Protokollaussagen der Beispielstudie haben den Charakter von »Beobachtungsdaten« 44, die auch in den weiteren dokumentierten Auswertungen objektlogisch dargestellt sind. 45 Die Besonderheit des Beispiels macht deutlich, dass der methodische Aufbau der regelmäßig durchzuführenden Beobachtungen einem eng begrenzten Erkenntniszweck dient, der sich aus der Organisationsstruktur des klinischen Systems ergibt. Deshalb enthält das Beobachtungsprotokoll auch mindestens zwei Aussagen, die sich auf die Aufmerksamkeit der Schwester (und damit ein affektives Moment ihres In-der-Situation-Seins) beziehen. Diese Protokollierungen werden in der dokumentierten Auswertung (»Kodierung«) aber bestenfalls in einem objektlogisch verdünnten Kontext wieder aufgegriffen. Forschungen, die die Funktionsweise komplexer Systeme untersuchen, bedienen sich im Allgemeinen solcher Beobachtungsverfahren, die in besonderer Weise quantifizierbare Sachverhalte und Prozesse erfassen können. Erst im Rahmen qualitativer Forschung kommen Formen subjektiven Befindens in persönlichen und gemeinsamen Situationen substanziell in den Fokus. Die Protokollierung einer Beobachtung kann nach Diekmann entweder in »frei formulierten Notizen oder mittels eines strukturierten Beobachtungsschemas« erfolgen. 46 Die Entscheidung über die anzuwendende Form hängt von den Zielen der Forschung ab. Der unstrukturierten Beobachtung liegen nach Atteslander »keinerlei inhaltliche Beobachtungsschemata zugrunde, sondern lediglich die 44 45 46
Strauss, Grundlagen qualitativer Sozialforschung, S. 95. Vgl. ebd., S. 95 ff. Diekmann, Empirische Sozialforschung, S. 565.
63 https://doi.org/10.5771/9783495813690 .
Zur Methode der Mikrologien
Leitfragen der Forschung.« 47 Diese können sehr vage sein und sich zum Beispiel darauf konzentrieren, den situativ ineinander verschachtelten Situationscharakter städtischer Orte und Ereignisstätten in einem mikrologischen Sinne zu erfassen, um zu verstehenden wie erklärenden Aussagen über die spezifische Lebendigkeit dieser Orte zu gelangen. Die unstrukturierte Beobachtung dient nach Atteslander nicht der Überprüfung, sondern der Findung von Hypothesen. 48 So wird auch die Funktion der Selbstbeobachtung beurteilt. »Introspektiv gewonnene Daten erfüllen […] nicht das Kriterium intersubjektiver Nachprüfbarkeit.« Dennoch könne die Methode ein Weg sein, »um Hypothesen zu gewinnen« 49. Das zugrunde gelegte Filter der Wahrnehmung wird bei unstrukturierten Beobachtungen als sehr grob vorausgesetzt; der Methode wird deshalb nicht zugetraut, im Detail erhellende und erkenntnisvermittelnde wie theoretisch relevante Aussagen zu generieren. Insgesamt gilt die weitgehend unstrukturierte Beobachtung auch bei Atteslander bestenfalls als Suchinstrument. Deshalb sei die sofortige Aufzeichnung auch nicht nötig. Allerdings sollte sie nicht erst mehrere Tage nach Durchführung der Beobachtung erfolgen. 50
3.2.2 Die Beobachtung der Mikrologien Die Explikation von Situationen mitweltlichen Erlebens basiert in den Mikrologien auf Beobachtungen, die einer zweifachen Aufmerksamkeit folgen. Zum einen fokussieren sie das herumwirkliche Geschehen und Erscheinen von Dingen auf der Objektseite von Situationen. Zum anderen sind sie auf das subjektive Erleben dieser Gegebenheiten und damit auf die Subjektseite von Situationen gerichtet. Wie sich schon auf dem Hintergrund der unter 3.1 zusammengefassten zwölf Argumente für das Projekt der Mikrologien und im Hinblick auf die Anmerkungen zur Rolle der Beobachtung im Kanon der sozialwissenschaftlichen Forschungsmethoden zeigte, unterscheidet sich der Typ dieser Beobachtung in programmatisch grund47 48 49 50
Atteslander, Methoden der empirischen Sozialforschung, S. 88. Vgl. ebd. Diekmann, Empirische Sozialforschung, S. 569. Vgl. Atteslander, Methoden der empirischen Sozialforschung, S. 89.
64 https://doi.org/10.5771/9783495813690 .
Die Methode der Beobachtung
legenden Merkmalen vom methodologisch verbreiteten erfahrungswissenschaftlichen Verständnis der Beobachtung. Nach Letzterem sind Beobachtungssätze – im Sinne von Neurath – »Protokollsätze«, die sich aus den Aufzeichnungen von Sinnesdaten ergeben. 51 Nicht in einem engeren Sinne beobachtbar sind alle interpretativen Hinzufügungen und Deutungen. Sie gehören deshalb auch nicht zur Beobachtung nach diesem Verständnis, bauen vielmehr interpretativ auf ihnen auf. Die wissenschaftliche Beobachtung unterliegt einer regulierten Systematisierung, die darauf abzielt, »subjektive Einflüsse des Beobachters« auf den Forschungsprozess einzuschränken 52, indem sie Hypothesen oder theoretischen Annahmen folgt. Es versteht sich angesichts all dessen, was bisher zum phänomenologischen Projekt der Mikrologien ausgeführt worden ist, von selbst, dass wir es hier mit einem Weg der Erkenntnisgewinnung zu tun haben, der für die Generierung der Mikrologien nicht beschritten werden soll. Sie folgen ja gerade dem Ziel, die subjektive Verwicklung eines »Beobachters« in sein Milieu nicht von dem abzuschneiden, was er beobachtet, sondern selbst zu einer Sache seiner Beobachtung zu machen. Subjektives Erleben macht ganz wesentlich aus, was uns ein Ort in der Situation seiner erfahrenen Gegenwärtigkeit zu spüren gibt. Damit wird die Beobachtung lebendiger, oft städtischer Orte in einen doppelten Beobachtungsrahmen gestellt, (a) den des umweltlich in wechselnden Szenen und Situationen Erscheinenden und (b) den des persönlichen Erlebens. Im zweiten Punkt klingen Momente einer Selbstbeobachtung an, weil nicht nur das gleichsam äußerlich in Umwelten eindrücklich Werdende erfasst werden soll, sondern ebenso das Berührt-Werden von diesem Erfassen. Generell wird die Möglichkeit der Selbstbeobachtung in der methodologischen Literatur eher skeptisch beurteilt. 53 Das hier angewandte Beobachtungsverfahren zielt aber nicht darauf ab, in einem psychologischen Sinne Erkenntnisse über das eigene Selbst zu gewinnen; es will vielmehr das subjektive Gestimmt-Werden durch etwas Wahrgenommenes der Explikation und damit der Reflexion zugänglich machen. Mit Verweis auf methodologische Debatten in der Ethnologie wurde 51 52 53
Vgl. Gessmann, Philosophisches Wörterbuch, S. 89. Hillmann, Wörterbuch der Soziologie, S. 83. Vgl. Dorsch, Psychologisches Wörterbuch, S. 377.
65 https://doi.org/10.5771/9783495813690 .
Zur Methode der Mikrologien
bereits angemerkt, dass die situative Verwicklung eines (forschenden) Subjekts in sein aktuelles mitweltliches Milieu gegenüber dem Bewusstsein a priori nicht ausgeschaltet werden kann. Die zu treffenden Aussagen über ein erlebnisrelevantes Geschehen streben die phänomenologische Analyse der Explikationen subjektiv evidenter Situationen in einem insofern systematischen Sinne an, als sich diese Analyse am phänomenologischen System der Philosophie von Hermann Schmitz wesentlich – wenn auch nicht in Gänze – orientiert. Die Rolle des Beobachters ist stets relational und daher im Hinblick auf die Bewertung der Beobachtungsergebnisse zu reflektieren. Die forschungsmethodisch übliche Trennung zwischen einer Theoriesprache und einer Beobachtungssprache soll hier nicht intendiert werden. Was bedeutet das für die Explikation einer beobachteten Situation? Der Verzicht auf die Tabuisierung theoretischer Sätze läuft darauf hinaus, dass das in einem gewissen Sinne »in einem Außen« Beobachtete jederzeit zum Anlass seiner situationsgebundenen interpretativen Kommentierung werden darf. Es kommt also zu keiner Neutralisierung von Beobachtersituationen, wonach im Prozess des Wahrnehmens ein Filter dafür zu sorgen hätte, dass keine assoziativ deutenden Aussagen getroffen werden. Vielmehr stehen in der Praxis der dichten Beschreibung Protokollierungen eines im engeren Sinne Wahrgenommenen neben Protokollierungen zur (mitdenkenden) Verwicklung in eine Beschreibung. Auch im vitalen Mit-Sein gibt es keine solche Trennung, und auch durch keine noch so gründliche methodische Vorkehrung könnte sie wirksam eingerichtet werden. Die Grenze zwischen einem Eindruck und dessen spontan-reflexivem Bedenken könnte indes nur um den Preis einer hier nicht intendierten szientistischen Abstraktion errichtet werden. Zum Eindrucks-Erleben gehören untrennbar all jene »Nebengedanken«, die uns dieses oder jenes Erlebte erst als etwas Bestimmtes verständlich machen, nicht erst im Zuge einer rekapitulierenden, forschungsmethodisch gesicherten, disziplinierten und gleichsam nachlaufenden Reflexion, sondern als Ausdruck vitalen Mitdenkens. Mit anderen Worten: Jede Erfahrung, die sich schon im Prozess des Erlebens in einem verstehenden Sinne entfaltet, kann nur auf dem Boden subjektiv verfügbaren und intuitiv sich aktualisierenden Deutungswissens gelingen. Da sich das methodische Interesse der Mikrologien auf die Explikation atmosphärisch lebendiger Situationen richtet, kann eine Grenze zwischen Beobachtersubjekt auf der einen Seite und Beobachtungswelt auf der anderen Seite nicht überzeugend ge66 https://doi.org/10.5771/9783495813690 .
Die Methode der Beobachtung
zogen werden. Dies schon deshalb nicht, weil die (terminologischen und kategorialen) Erkenntnisinstrumente im Subjekt schon angelegt sind und in der aktuellen Begegnung als Orientierung vermittelndes Wissen von selbst »anspringen«. Die dichten Beschreibungen der Mikrologien vollziehen sich also konzeptionell in einer für sozialwissenschaftliche, empirische Forschungsstrategien unüblichen Einheit von Beobachter- und Beobachtungswelt. Die Wahrung dieser Grenze bewährt sich dagegen vor allem bei maschinengestützten Beobachtungsverfahren der Naturwissenschaften aus guten methodologischen Gründen im Allgemeinen mit überzeugendem Erfolg. Auch bei den meisten sozialwissenschaftlichen Forschungsprojekten würde sich eine »Einmischung« subjektiver Impressionen in den Forschungsprozess als Störung erweisen und in vielen Fällen zu unbrauchbaren Aussagen führen. Im gegebenen Forschungsrahmen der Mikrologien geht es aber von vornherein nicht um die methodische Isolierung einer erfahrungsunabhängigen Welt. Atmosphärisch erlebte Situationen gibt es a priori nicht als etwas, das man sich außerhalb des eigenen Selbst und von Gefühlen und Empfindungen »gereinigt« vorstellen könnte. Die Mikrologien zielen daher programmatisch darauf ab, das atmosphärische Erleben einer Situation zu erfassen. Die affektive Teilhabe an einer sich aktuell konstituierenden Wirklichkeit macht die empirisch relevante Situation, die zum Gegenstand der Annäherung werden soll, sogar essentiell aus. Damit steht das Sich-Finden in Situationen ebenso im Fokus der Mikrologien wie die objektivierende Erfassung solcher UmgebungsMerkmale, die auf diese atmosphärischen Eindrücke Einfluss nehmen. »Allerdings wäre es aussichtslos, zum Zwecke dieses Nachweises [des SichFindens, JH] bei dem bloß vorstellenden und meinenden Bewußtsein, das vielleicht an erster Stelle durch die Formulierung cogito nahegelegt wird, anzusetzen. Bloß die stellungnehmenden Akte des Bewußtseins, an denen wir affektiv beteiligt sind, eröffnen eine Gelegenheit dazu. Ein vorstellendes und theoretisch urteilendes Subjekt könnte niemals zur Gewißheit eines Sichfindens gelangen.« 54
Eine Reduktion der Beobachtung auf scheinbar Objektives müsste zur Abstraktion von der subjektiven Verwicklung in Situationen führen. Das kann beim Projekt der Mikrologien aber nicht das Ziel sein. Daneben wäre die subjektive Verwicklung in Situationen zu kurz ge54
Schmitz, Band I, S. 5.
67 https://doi.org/10.5771/9783495813690 .
Zur Methode der Mikrologien
sehen, betrachtete man nur das unmittelbar leiblich-affektive Berührt-Werden, das sich in Gefühlen der Enge oder Weite darstellen mag, um den Preis der Abschneidung aller mitlaufenden Gedanken. Schmitz macht selbst einen Unterschied zwischen verschiedenen Formen des Bewussthabens, womit auch das reflektierende Nach-Denken des Affizierenden in den Blick kommt. 55 Und tatsächlich bildet das affektive Berührt-Sein von aktuellen Situationen mit dem spontanen, darauf bezogenen Reflektieren eine nicht auflösbare Ganzheit. Es lohnt sich an dieser Stelle daher, einen Blick auf Schmitz’ Differenzierung zu werfen. Zunächst hebt er im Sinne eines faktizistischen Wahrheitsbegriffes hervor, dass der Begriff der »nackten Tatsachen« bzw. »tatsächlichen Sachverhalte« seine Legitimation lediglich der Wirklichkeit verdanke, deren Wahrnehmung durch Evidenz gekennzeichnet sei. 56 Als evident bezeichnet er dabei ein »Ereignis […] in dem ein Sachverhalt als Tatsache unzweifelhaft hervortritt.« 57 Die Bindung der Wahrheit an Rationalität führe ebenso in die Irre wie ihre pragmatistische Verknüpfung mit der Kategorie der Nützlichkeit. 58 Damit bahnt sich eine für die folgenden Überlegungen wichtige Unterscheidung zwischen Objektivität und Subjektivität an. Im Gegensatz zur naturwissenschaftlichen Methodologie geht Schmitz davon aus, dass nicht Objektivität der Erkenntnis einen größeren Erfahrungsschatz vermittelt, sondern Subjektivität. Dies deshalb, weil der um Objektivität bemühte Mensch seine subjektive Verwicklung in eine Situation zurückstellen müsse. Dies liefe darauf hinaus, alle subjektiven Momente zugunsten objektivierender Aussagen programmatisch zu unterdrücken. »Die subjektiven Tatsachen sind also reicher als die entsprechenden objektiven oder neutralen, deren Tatsächlichkeit durch den Ausfall der Subjektivität verarmt (gleichsam abgeblasst) ist.« 59 Hermann Schmitz hebt den alltagssprachlich ungewohnten Begriff des Bewussthabens von dem des Bewusstseins ab. Während Letzterer die Bedeutung eines innerlichen in Elemente zerlegbaren Wissens impliziert, thematisiert der Begriff des Bewussthabens das Gefühl ganzheitlich affektiven Betroffenseins in seinen Bezügen zu einer Wirklichkeit des Erlebens; vgl. auch Schmitz, Der unerschöpfliche Gegenstand, S. 194–199. 56 Schmitz, Gibt es die Welt?, S. 33. 57 Ebd., S. 38. 58 Vgl. ebd., S. 41 f. 59 Ebd., S. 54 f. 55
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Die Methode der Beobachtung
Soweit beide Perspektiven nebeneinander Bestand haben und ihre je eigenen Beiträge für eine Erkenntnis liefern, habe man es mit einer »Doppelseitigkeit« des Erkenntnisprozesses zu tun. »Gefährlich wird es erst, wenn der Betreffende seine Objektivität ausschließlich setzt und sein affektives Betroffensein nur noch als einen Gegenstand auffasst, den er in nüchterner Einstellung zur Kenntnis nimmt und gleichsam seziert, statt sich in dem Erkenntnisstreben zugleich darauf einzulassen.« 60
Und so resümiert Schmitz: »Der in seiner Objektivität befangene Beobachter verliert sich selbst.« 61 »Tatsachen des affektiven Betroffenseins sind solche, die einem Bewussthaber […] nahe gehen, erfreulich, betrübend oder auch nur seinen Eifer treibend oder lähmend.« 62 Affektiv betroffen ist also nicht erst jemand, der im Mark erschrickt oder im Gefühl der maximalen Enge die Orientierung in seiner Welt urplötzlich verliert. Affektiv betroffen ist man schon im Moment der in ein Geschehen oder eine Sache investierten Aufmerksamkeit, die einem Interesse und damit einem (affektiv fundierten) vitalen Impuls folgt. Während die gegenstandsbezogene Erkenntnis danach strebt, verständigungsorientierte und konsensfähige Aussagen über einen Sachverhalt oder eine diesen bergende Situation zu treffen, ist die selbstbezogene Erkenntnis, in der das pathische Moment der Verwicklung in eine Situation (durch affektive Teilhabe) im Fokus steht, nur in der ersten Person aussagbar. An dieser Stelle soll der Wert einer Unterscheidung zwischen Situationen auf der Objektseite (worüber jeder eine Aussage treffen könnte) und Situationen auf der Subjektseite (worüber nur in der Ersten Person Aussagen gemacht werden können) für die Begründung der epistemischen Unterschiedlichkeit mikrologischer Beschreibungen nützlich gemacht werden. Das wahrnehmende Subjekt kann Eindrücke von einer Objektseite ebenso als Folge sensibler Wachsamkeit gegenüber der umgebenden Welt in Einzelnes zerlegen wie Eindrücke aus seinem eigenen Erleben, die zunächst nur ihm selbst transparent sind. Keine Einzelnes fokussierende Wahrnehmung spitzt sich aber schon im ersten Blick auf eine Situation zu. Der unvoreingenommene Blick investiert seine Aufmerksamkeit zunächst 60 61 62
Ebd., S. 46. Ebd., S. 48. Ebd., S. 49.
69 https://doi.org/10.5771/9783495813690 .
Zur Methode der Mikrologien
in das intuitive Verstehen eines situativen Zusammenhangs und Zusammenhalts eines sich darbietenden Eindrucks. Erst in einer bereits (interpretativ) orientierten Annäherung werden dann Segmente aus einem ganzheitlich (grob) verstandenen Zusammenhang herausgelöst. Diese können sodann wieder in den großen Rahmen eingebettet werden, der sich schon im Moment der ersten Aufmerksamkeit als etwas Ganzes dargestellt hat. Aussagen in der Ersten Person beziehen sich also nicht schon a priori auf »private« Formen der Affizierung von einem Geschehen, dessen Verstehen auf das individuelle Subjekt beschränkt bliebe. In der Ersten Person können auch einem Dritten gegenüber plausibilisierbare Aussagen getroffen werden. Das hermeneutische Paradigma des Verstehens strebt diese Übersetzung subjektiver Aussagen in den sozialen Raum anderer grundsätzlich an. Aussagen in der Ersten Person gründen zwar im Individuell-subjektiven; sie lassen gleichwohl in gewisser Weise »von außen« erkennen, wie ein Individuum eine Situation erlebt hat und als was. Solche Einblicke legen Thesen zur allgemeinen Erklärung menschlicher Wahrnehmungsweisen in bestimmten Situationen nahe. Um die Mannigfaltigkeit einer Situation in einem ordnenden und kategorisierenden Sinne der reflexiven Durcharbeitung zugänglich zu machen, kann eine Person aus dem, was sie »mit einem Schlage« 63 in einem ganzheitlichen Sinne erlebt hat, Einzelnes herauslösen. Solche (zum Beispiel beobachtende) Segmentierung kann sich auf etwas gegenständlich Gegebenes beziehen (zum Beispiel die vom Wehen des Windes in Bewegung versetzten Dinge), aber auch auf die Art und Weise, in der dieses Geschehen wahrgenommen wird (zum Beispiel das leibliche Spüren des Windes). »Was so freigesetzt wird, sind Sachverhalte, Programme und Probleme.« 64 In Abgrenzung von Husserls erkenntnistheoretischer Orientierung an »Sachen« merkt Schmitz an: »Statt in der Wiedergabe von Sachen hat die Erkenntnis […] in der zutreffenden Auszeichnung von Sachverhalten als Tatsachen ihre Aufgabe zu erblicken.« 65 Die Mikrologien werden auf dem Wege der verdeckten und im Allgemeinen nicht-teilnehmenden Beobachtung erhoben (s. auch 2 und 3 in Kapitel 3.1). Dieses Vorgehen hat den Vorteil, dass sich der 63 64 65
Schmitz, Bewusstsein, S. 88. Schmitz, Gibt es die Welt?, S. 72. Ebd., S. 132.
70 https://doi.org/10.5771/9783495813690 .
Dimensionen der Reflexion mikrologischer Eindrücke
Beobachter dem Kreis der Beobachteten nicht zu erkennen geben muss (oder nur auf Rückfrage den Zweck der Forschung zu erklären und offenzulegen hat). Die Situation des Beobachteten kann auf diese Weise von Interferenzen im Feld der Forschung unberührt bleiben. Ethische Probleme resultieren daraus insofern nicht, als der Gegenstand der Beobachtung Situationen in öffentlichen Räumen sind. Private Räume kommen als Forschungsmilieu nicht in Frage, es sei denn das persönliche Erleben des Forschenden. Die verdeckte nicht-teilnehmende Beobachtung kann also den Vorteil für sich in Anspruch nehmen, dass der Forscher vom Kreis der Beobachteten weitgehend unentdeckt bleibt. Im Übrigen stehen im Rahmen der Mikrologien in aller Regel gar keine (besonderen) Individuen im Fokus; sie gehen vielmehr in gemeinsamen Situationen auf. Es geht um Situationen und nur insofern um individuelle Formen der Gegenwärtigkeit, als diese aus einer Situation resultieren sowie diese verständlich machen. In den Fällen, in denen dieses aufgrund einer segmentierten persönlichen Situation der Fall ist, bleibt ein Individuum im forschungsleitenden Interesse in den umfriedenden Rahmen einer gemeinsamen Situation eingebettet. In den Mittelpunkt rücken dann öffentliche Alltagsaktivitäten 66, wie sie auf Märkten, in Flughäfen, Parkhäusern, auf Bahnhöfen, Festen und in ähnlich komplexen sozialen Situationen zu beobachten sind. Diese durch eine gemeinsame Situation gerahmten Individuen stehen dann im Zentrum der Beobachtung, nicht aber die gleichsam dahinter stehende individuellen Personen etwa in selbst explizierten Befindlichkeiten, Einstellungen oder Handlungsbegründungen. Daneben gibt es jene ganz und gar »menschenfreien« Beobachtungsfelder, wie zum Beispiel einen Raum der Stille am menschenleeren Ufer eines Gewässers.
3.3 Dimensionen der Reflexion mikrologischer Eindrücke Sowohl im Prozess der rational als auch der emotional orientierten Erkenntnis kann in seiner Binnenstruktur erst aufgeschlossen werden, was expliziert – in welcher Form auch immer – gleichsam »vorliegt«. Damit stellt sich eine Aufgabe des Denkens (im Sinne des Beund Nach-Denkens), das nach Hermann Schmitz, im Unterschied 66
Vgl. Diekmann, Empirische Sozialforschung, S. 571.
71 https://doi.org/10.5771/9783495813690 .
Zur Methode der Mikrologien
etwa zum ziellos schweifenden Denken, intelligiblen Ansprüchen gerecht zu werden hat. Der reflexive Umgang mit Situationen entfaltet sich auf drei Wegen: dem des (a) leiblich-intelligenten Denkens, (b) hermeneutisch intelligenten Denkens und (c) analytisch-intelligenten Denkens. Wie sich zeigen lassen wird, werden damit je spezifische – wenn auch nicht immer klar voneinander zu trennende – Situationen denkender Involviertheit zum Gegenstand phänomenologischer Betrachtung.
3.3.1 Leiblich-intelligentes Denken Leibliche Intelligenz bedarf keiner Explikation; sie verdankt sich der Einleibung in Dinge oder Situationen und kommt in deren ganzheitlicher Erfassung zur Geltung. Schmitz spricht hier oft von »Wahrnehmung mit einem Schlage«. Das Wahrgenommene besteht folglich nicht aus schon zerlegten Segmenten eines vielfältig Eindrücklichen, vielmehr stellt es sich in »Situationen mit binnendiffuser Bedeutsamkeit« 67 und damit als etwas »Ganzes« dar. So versteht sich auch, dass diese Form gefühlsmäßigen Mitschwingens bzw. Hineinschwingens in eine Situation der wörtlichen Rede grundsätzlich gar nicht bedarf. Leiblich-intelligentes Denken ist Voraussetzung dafür, dass überhaupt etwas in einem verstehenden Sinne über die ganzheitliche Verklammerung einer Situation ausgesagt werden kann. In den Kapiteln 4 bis 7 wird sich zeigen, dass das Verstehen dessen, was in seiner geradezu überbordenden Vielfalt an Eindrücken gegenwärtig wird, zunächst dieses Ganze einer Situation betrifft. Sprachlich bringt sich dies in einem auf leiblicher Intelligenz aufbauenden hermeneutischen und analytischen Denken zur Geltung. Dass man sich im Wind oder in einem sakralen Raum befindet, »analysiert« man nicht, indem man zahllose Einzelheiten zu einem Gesamteindruck gleichsam zusammenrechnet. Wo man ist, erfährt man im aktuellen Moment leiblichen Hinzutretens. Dabei ist dieses Hineingeraten in eine Situation nicht auf den tatsächlichen Raum begrenzt. Das Sein in einem solchen ist aber in aller Regel Voraussetzung dafür, dass wir die sich in einer Gegend konstituierende Atmosphäre überhaupt leiblich spürend bemerken können.
67
Schmitz, Bewusstsein, S. 89.
72 https://doi.org/10.5771/9783495813690 .
Dimensionen der Reflexion mikrologischer Eindrücke
3.3.2 Hermeneutisch-intelligentes Denken Hermeneutisches Denken beruht auf der Bewusstwerdung leiblich spürbarer Gegebenheiten und drückt sich in der Explikation aus, welche sich in aller Regel der Sprache bedient. »Der wesentliche Zug des hermeneutisch intelligenten Denkens besteht darin, dass bei der Explikation auf die Integrität der Situation oder der Situationen, aus denen expliziert wird, Rücksicht genommen wird.« 68 Das geschieht in den hier zur Diskussion stehenden Beispielen verschiedener Mikrologien atmosphärischer Orte durch nachspürende Anpassung an die Dynamik aktuell präsenter Wirklichkeit. Was erscheint und eindrücklich wird, bleibt also in seiner ganzheitlichen Verklammerung erhalten und wird nicht in Teile zerlegt und damit auch nicht in Konstellationen bzw. atomistisch gedachte Entitäten transformiert. Es wird sich in den einzelnen Mikrologien zeigen, dass die Grenze zwischen leiblichem und hermeneutischem Denken fließenden Charakter hat. Zum einen bauen auf dem Hintergrund hermeneutischen Denkens getroffene Aussagen unmittelbar auf leiblichem Denken auf. Zum anderen gibt es aber auch eine rückläufige Befruchtung von leiblichem Denken durch hermeneutisches Denken, denn das verstehend Erschlossene fördert wiederum die Schärfung der leiblichen Aufmerksamkeit. Daraus folgt ein im Prinzip zirkuläres Verhältnis zwischen leiblicher und hermeneutischer Intelligenz. Ebenso ist hermeneutisches Denken mit analytischem Denken verbunden. Grundsätzlich bleibt jede sprachliche Explikation situativen Erlebens in den Grenzen des expressis verbis überhaupt Aussagbaren gefangen. Schmitz weist selbst auf diese Grenzen des Aussagbaren hin. 69 Aus diesem Grunde werden den Mikrologien ergänzend (im Sinne ästhetischer Explikation mit nicht-sprachlichen Mitteln) Fotografien beigegeben, mit denen es in ganz anderer Weise als auf dem Wege der wörtlichen Rede gelingen kann, situativ ganzheitlich Verklammertes zur Anschauung zu bringen. Da das Bild hier stets im Kontext sprachlicher Konkretisierungen steht, überschreitet es in seiner Kontextualisierung auch die Grenzen dessen, was sich allein im Medium der Sichtbarkeit vermitteln lässt.
68 69
Ebd., S. 90. Vgl. ebd., S. 91.
73 https://doi.org/10.5771/9783495813690 .
Zur Methode der Mikrologien
3.3.3 Analytisch-intelligentes Denken Im analytischen Denken erfolgt der in gewisser Weise zerlegend-rekonstruierende Zugriff auf die durch hermeneutisches Denken verstehend erschlossene Situation. Diese wird nun in Konstellationen übertragen. Das Ganze der Situation wird dazu zerteilt, um es in einem erneuten Zugriff in einem theorieorientiert-analytischen Sinne in Facetten durchzuarbeiten. »Diese Übersetzung von Situationen in Konstellationen dient dazu, die Situationen in den Griff zu nehmen, auf das Wesentliche zu reduzieren, Ansatzpunkte für ihre Behandlung nach Zwecken zu gewinnen.« 70 Zwar kommt auch darin ein Verstehen zum Ausdruck, aber nun steht nicht das pathische Nachvollziehen im Mittelpunkt, sondern das verstandesorientierte Rekonstruieren von Bedeutungen und Funktionen im Ganzen einer zum Gegenstand gewordenen Situation. Analytisches Denken dominiert das natur- wie das sozialwissenschaftliche Denken – auf je eigene Weise. Wenn wir seinen erkenntnisvermittelnden Gebrauchswert aus diesen Anwendungssituationen auch kennen und aus guten Gründen zu schätzen wissen, so unterscheidet sich dieses szientistisch-analytische Denken doch kategorial vom phänomenologischen Denken. Letzteres baut nicht auf Theorien und Versuchsanordnungen auf, deren Ablauf durch ein strenges Gerüst theoretisch gestützter Beobachtungsvariablen gelenkt ist. Der Rückgang auf das leibliche Mit-Sein in Situationen und das hermeneutisch verstehende Hineinfühlen in deren Bedeutungshöfe bildet in der Perspektive der Phänomenologie den Ausgangspunkt analytischen Denkens. Es folgt dem Ziel, erklärende Aussagen über atmosphärische bzw. leiblich wahrgenommene Situation zu treffen, leibliches Mit-Sein also auf dem Hintergrund der Phänomenologie verständlich zu machen.
Ebd., S. 93. Hermann Schmitz merkt an anderer Stelle an: »Der Mensch ist berufen, Situationen näherungsweise als Konstellationen zu rekonstruieren; das ist sein Lebensrecht, denn anders kann er sich nicht behaupten und durchsetzen. Er tut aber gut daran, dabei die Situationen, aus denen er schöpft, in ihrer binnendiffusen Bedeutsamkeit im Auge zu behalten und zu respektieren.«; Schmitz, Kurze Einführung, S. 54.
70
74 https://doi.org/10.5771/9783495813690 .
Methodologische Schlussfolgerungen
3.4 Methodologische Schlussfolgerungen Auf dem Hintergrund der vorausgehenden methodologischen Diskussion zur empirischen Forschungsmethode der mikrologischen Beobachtung ergeben sich nun folgende Schlüsse: 1.) Es kann nicht bestritten werden, dass jede subjektive Verwicklung in ein lokales Ortsgeschehen ein methodisches Wagnis ist. Dies schon deshalb, weil sich Struktur und Rhythmik dahinströmenden Eindrucks-Erlebens nicht steuern lassen. Im Prinzip gilt die Verringerung der Distanz des Forschenden gegenüber dem Gegenstandsbereich oder »Feld« seines Interesses in methodologisch regulierter Form selbst in den Sozialwissenschaften bereits seit Mitte der 1980er Jahre als legitimer Weg der Erkenntnisgewinnung. Gleichwohl ist der individuell Forschende in der Methode der Mikrologie in einem weit höheren Maße als zum Beispiel beim qualitativen Interview an seine biographisch geprägte persönliche Situation gebunden. Er kann nur erleben, wie er gelernt und einverleibt hat, sich sinnlich und leiblich auf ein affizierendes Milieu einzulassen. 2.) Die Beobachtung städtischer Orte und Situationen erfolgt in aller Regel in nicht-teilnehmender Form 71 und (soweit dritte Personen im oben erläuterten Sinne zum Gegenstand der Mikrologie werden) verdeckt. Was zum Gegenstand einer Beobachtung gemacht worden ist, hatte seinen Ort im öffentlichen Raum, dessen Lebendigkeit und Atmosphäre durch die aktive oder passive Anwesenheit von Menschen geprägt war. Die Form der nicht-teilnehmenden Beobachtung sichert somit auch die methodische »Unversehrtheit« des Feldes. Eine Offenlegung der Beobachterrolle war aus ethischer Sicht nicht geboten, weil durch die angewandte Methode der Forschung in öffentlichen Räumen keine Persönlichkeitsrechte berührt wurden. Dennoch kann die Beobachterrolle gelegentlich transparent werden. Dies ist dann der Fall, wenn die eigenen Beobachtungsaktivitäten zum Anlass interessierter Rückfragen werden. Während es beim textlichen Protokollieren nicht zu solche Situationen kam, war das FotoNur die Beobachtung der Wartenden an den Flugsteigen dreier Flughäfen (vgl. Kapitel 7) erfolgte aus der Rolle der Teilnahme an der Situation des institutionalisierten Wartens. Zugleich bot diese Rolle die besten Voraussetzungen der verdeckten Durchführung von Protokollaufzeichnungen.
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75 https://doi.org/10.5771/9783495813690 .
Zur Methode der Mikrologien
grafieren mehrmals Anlass für solche Rückfragen, besonders dann, wenn das Hantieren mit der Kamera über einen längeren Zeitraum wiederholt denselben Personen in einem Feld auffiel. Dann ist das Forschungsprogramm der mikrologischen Beschreibung des betreffenden Raumes kurz dargelegt worden. Das stieß in aller Regel auf Interesse, und es kam in keinem Fall zu einer Ablehnung gegenüber der fotografischen Illustration von Dingen oder Geschehnissen. Zu solchen Rückfragen kam es (selten) bei lang andauernden Beobachtungen über die Zeit mehrerer Stunden, so in der Beobachtung des Treibens auf einem Wochenmarkt 72 (vgl. auch Band 2). 3.) Das phänomenologische Projekt der Mikrologien geht von einer Untrennbarkeit der vitalen Situation des Beobachters zum einen und dem Gegenstand der Beobachtung zum anderen aus – zum Beispiel einer räumlichen Situation der Stille, des Windes oder des Wartens im Abflugbereich eines Airports. Streng genommen besteht die Möglichkeit der Beobachtung eines umweltlichen Geschehens gar nicht, wird dieses doch erst aus einer mitweltlichen Perspektive zugänglich und nicht aus einer Sicht, die je für sich in Anspruch nehmen könnte, nicht vom Fluss des Beobachteten berührt worden zu sein. Dies ändert sich auch nicht dadurch, dass im forschungsmethodischen Sinne mit einer Ausnahme keine »teilnehmenden«, sondern nicht-teilnehmende Beobachtungen durchgeführt worden sind. Dennoch geht etwas, das eindrücklich wird, nicht in Subjektivität – gleichsam in einem realitätsfreien Milieu – auf, denn jedem »Erfahrungsaufwand« korrespondiert ein Sein außerhalb des eigenen Selbst. 73 4.) Das methodische Konzept der Mikrologien baut essentiell auf der Explikation eindrücklich gewordener Empfindungen und Gefühle auf. Der Verzicht auf die selbstbeschreibenden Anteile müsste daher zu Verzerrungen in der Sache führen, denn die Komplexität einer Situation verlangt im mikrologischen Sinne eine hohe Auflösung der Detailgeschehnisse, die im Verzicht auf die Perspektiv der Betroffenheit unvollständig dargestellt werden müssten. Zu einer Situation Zwei niederländische Marktstandbetreiberinnen suchten das Gespräch zum »Sinn und Zweck des Ganzen«; vgl. dazu auch Band II. 73 »Große lichte Räume mit hohen Decken und großen Fenstern können nicht als eng und dunkel erfahren werden; ein Gebäude mit vielen Räumen und langen Fluren und Treppenhäusern braucht einen anderen Erfahrungsaufwand als eine Hütte mit nur einem Raum«; Figal, Gibt es wirklich etwas draußen?, S. 14. 72
76 https://doi.org/10.5771/9783495813690 .
Methodologische Schlussfolgerungen
der Stille gehört ja die sie geradezu prägende Atmosphäre. Diese lässt sich aber nicht unter Abzug eigener Subjektivität beschreiben, da sie sich auf einer Schnittstelle zwischen Selbst und einem sinnlich Gegebenen konstituiert. Gernot Böhme schreibt den Atmosphären deshalb einen Status »zwischen Subjekt und Objekt« zu. 74 In ähnlicher Weise versteht sie Hermann Schmitz nicht als »private Zustände seelischer Innenwelten, sondern räumlich ausgedehnte Atmosphären« 75, die erst im leiblichen Erleben wahrnehmbar und konkret werden. »Das primäre Thema von Sinnlichkeit sind nicht die Dinge, die man wahrnimmt, sondern das, was man empfindet: die Atmosphären.« 76 Die Besonderheit phänomenologischer Orts- und Raumbeschreibungen liegt in einer sensiblen Aufmerksamkeit gegenüber Eindrucksqualitäten, die von einem »Draußen« kommen und spürbare Gestalt finden. Deshalb wäre die Rede zum Beispiel über Geräusche nur in einer höchst artifiziellen bzw. »technischen« Form möglich, wenn man auf die mit dem Berührt-Werden von einem Geräusch verbundenen Gefühle und Empfindungen verzichten müsste. Die auf Sachliches im objektivistischen Sinne reduzierte »Explikation« wäre durch ein akustisches Messgerät in einem quantitativen Sinne effektiver zu leisten. Der wesentliche Forschungsertrag der Mikrologien wird gerade darin gesehen, auf der Grundlage leiblichen und hermeneutischen Denkens die subjektive Erlebnisseite eines scheinbar nur »äußerlichen« (bzw. umweltlichen) Geschehens im subjektiven Spiegel affektiver Berührungen transparent und verstehbar zu machen. Dabei wird kein Anspruch der Repräsentativität im empiristischen Sinne erhoben, sehr wohl aber von der These ausgegangen, dass die Mikrologien Aufschluss über mögliche Wege der Wahrnehmung geben können. Die gegebenen Beispiele machen deshalb auch auf allgemeine Prinzipien der Wahrnehmung aufmerksam wie die Eindruckswirkung von Erscheinungsweisen auf das (individuelle und kollektive) Erleben. Auf dem Niveau tatsächlichen Geschehens geht es folglich um die Differenzierung zwischen subjektiven Sachverhalten (dass und wie man zum Beispiel von einer klanglichen Atmosphäre tangiert wird) und Sachverhalten auf einer Objektseite (dass Geräusche ihre Herkunft im tatsächlichen Raum haben, aber auch, dass sie einen 74 75 76
Böhme, Atmosphäre, S. 22. Schmitz, Gefühle als Atmosphären, S. 33. Böhme, Atmosphäre, S. 15.
77 https://doi.org/10.5771/9783495813690 .
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Ort in einer Weise stimmen, über dessen atmosphärische Charakteristika relativ leicht eine intersubjektive Verständigung hergestellt werden könnte). 5.) Der Präzisierungsanspruch an die Methode der auf Beobachtung basierenden mikrologischen Beschreibung verlangt im Unterschied zu den oben beispielhaft zitierten Positionen aus der forschungsmethodischen Literatur die Protokollierung in situ. Die Reflexion der sich in einem Raum verändernden Atmosphären setzt eine »dichte« Beschreibung oft schnell eintretender Veränderungen voraus. Das betrifft vor allem die Ebene der Sachverhalte (was an einem Ort ist), aber auch die der Programme (was an einem Ort sein soll) sowie die der Probleme (die offene Frage, ob etwas ist). Die Methode der Situationsbeschreibung stützt sich auf zwei Säulen – zum einen die textliche Niederschrift unmittelbar erlebter Eindrücke und zum anderen die bildliche Erfassung situationscharakteristischer Momente im Medium der Fotografie. Die textliche Erfassung der Mikrologien folgte der Intention, an Ort und Stelle, und das heißt unter dem leiblich unmittelbar präsenten Eindruck mikrologischer Situationen (zum Beispiel des Wind-Erlebens) zu einer möglichst detaillierten Beschreibung zu gelangen. Zwar waren diese Aufzeichnungen durch die jeweilige Situation der Erfassung schon zeitlich limitiert, und das Schreiben musste oft in »unbequemen« Haltungen und Positionen erfolgen. Dennoch konnten auf diese Weise hinreichend konkrete, detailreiche und ausführliche Beschreibungen generiert werden. Der Ertrag dieser Vorgehensweise, die eine Disziplinierung zur Ausführlichkeit voraussetzt, bestätigte sich unmittelbar im Zuge der noch am Tage der Beobachtung ausgeführten Transkription und sprachlich abschließenden Formulierung. Die Detailliertheit der Beobachtungsprotokolle überstieg deutlich das aus der Mannigfaltigkeit der pluralen Ereignisse ohne Verschriftlichung noch Erinnerbare. Auch der Umfang der Erhebungen bot auf der Grundlage der Erfassung vor Ort eine so hohe Dichte an Eindrücken, die in der allein erinnernden Rekonstruktion entlang stichwortartiger Notizen nicht möglich gewesen wäre. Vor allem hätte die nachträgliche Rekonstruktion von Beobachtungen den Preis der weitgehenden Abstraktion vom leiblichen Erleben in situ gefordert und schon deshalb zu unbrauchbaren Ergebnissen geführt. Schließlich spricht der Integralcharakter von leiblichem, hermeneutischem und analytischem Denken für die unmittelbare Nieder78 https://doi.org/10.5771/9783495813690 .
Methodologische Schlussfolgerungen
schrift der Eindrücke einer in reflexiven Schleifen sich fortsetzenden und differenzierenden Beobachtung. Dabei sind zwei Formen analytischen Denkens (s. oben) zu unterscheiden. In der Situation der Beobachtung folgt das analytische Denken noch nicht dem Pfad der systemischen Interpretation und resümierenden Zusammenfassung. Analytisches Denken entfaltet sich zunächst im Rahmen der situationsimmanenten Protokollierung auf einem assoziativen Niveau in der unmittelbaren Bezugnahme aktuellen Erlebens auf gleichsam schlagartig anspringendes deutungsrelevantes Wissen. In viele Beobachtungen verstricken sich so Sätze des Verstehens, die dem Ziel zustreben, das Erlebte intuitiv aus der Ordnung eines größeren Zusammenhangs zu begreifen. Diese Form des Denkens läuft auf keine vorgezogene systematische Interpretation hinaus, vielmehr ist sie untilgbares Moment jedes individuellen Mit-Seins in Situationen, das sich einem halbwegs orientierten Bewusstsein dessen verdankt, was in einem Herum aktuell ist und geschieht. Hermann Schmitz spricht hier von »entfalteter Gegenwart«. 77 Die systematische Interpretation ist zentrales Moment der später folgenden reflexiven Arbeit mit den Mikrologien und macht auch die intuitive Interpretation zu ihrem Gegenstand. 6.) Die methodische Rolle der Fotografie entfaltet sich auf mehreren Ebenen. Zum ersten illustriert das Bild die Beschreibung einer Beobachtung. Damit vermittelt es eine Konkretisierung im Sinne eines ikonographischen Kommentars. Das Bild steht als komplementäres Ausdrucksmittel im Charakter seiner ästhetischen Rationalität neben einer schriftsprachlichen Aussage. Während der Text eine Situation an-spricht, zeigen sich im Bild visuelle Facetten desselben Gegenstandes. So dient das Medium der Fotografie der Verdichtung der Niederschrift, da es – zumindest im Metier der Visualität – eine Brücke zur Vermittlung von Momenten des Eindrucks-Erlebens baut. Dieser Bildverwendungspraxis liegt kein naives Dokumentationsverständnis zugrunde, schon deshalb nicht, weil jede Fotografie in ihrem Herstellungscharakter auf einer eher intuitiven als rational lückenlos begründbaren Auswahl (unter vielen möglichen wie tatsächlich aufMit dem Begriff »entfaltete Gegenwart« spricht Schmitz im Unterschied zu »primitiver Gegenwart« einen Zustand subjektiver Orientiertheit nach erkenntnistheoretisch grundlegenden Dimensionen an (Sein, Hier, Jetzt, Subjektivität, Dieses); vgl. Schmitz, Neue Grundlagen, S. 110 ff.
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79 https://doi.org/10.5771/9783495813690 .
Zur Methode der Mikrologien
genommenen Bildern) beruht. 78 Gleichwohl vermag die Fotografie einen Eindruck im Sinne eines ästhetischen Narrativs zu vermitteln und stellt sich so dem Text annotierend zur Seite. Bild und Text treten damit in ein additives und integrales Verhältnis zueinander. Das Wort steht neben dem im Bild sichtbar Werdenden. Wie sich das Wort durch den Prozess des Bildverstehens hindurchzieht, so mischt sich das Bild in den Prozess des Textverstehens ein. Ein ähnliches Vorgehen zeichnet auch die Studie von Benjamin F. Coles über den Londoner Borough Market aus, in der er die »Topographie« eines Marktes (das heißt die Beschreibung der ihn konstituierenden Praktiken) mit einem »photoessay« verbindet. Indes geht es Coles in seiner Markt-Analyse um soziologisch verstandene Aneignungsformen (place-making) und Raumkonstruktionen (»humans construct reality« 79) und nicht um die Erfassung der atmosphärischen Dynamik der sich mitunter oft und schnell wandelnden Situationen eines Marktes. 80 In der wechselseitigen Ergänzung beider Medien – der Sprache wie des Bildes – ergeben sich explikative Synergieeffekte, wonach das expressis verbis Ausgesagte eine visualisierende Veranschaulichung erfährt. Dennoch bleibt nicht nur das gesprochene Wort wie das fotografierte Bild hinter der im Prinzip unaufschließbaren Mannigfaltigkeit der Ereignisse oder auch nur des variationsreichen Seins der Dinge zu einer Zeit zurück. Auch die Synthese von Wort und Bild vermag diese Lücke nicht zu schließen. Im Sinne einer »schwachen Annährung« des medial Dargestellten an die in ihrem situativen Erscheinen so mannigfaltige Dynamik des Wirklichen vermag die Synthese indes eine prinzipiell nicht auflösbare Differenz zu verkleinern. 7.) Gegenstand einer mikrologischen Erfassung sind einmalige bzw. besondere Situationen, die im Sinne eines Spiegels prinzipiell möglicher Performativität sozialen Lebens hinreichend relevant erscheiAn anderer Stelle habe ich ausführlich erkenntnistheoretische Möglichkeiten und Grenzen der Brauchbarkeit der Fotografie im Kontext phänomenologischer Forschungen diskutiert. Dabei bin ich auch auf die fotografie-theoretischen und -historisch einschlägigen Diskurse zurückgegangen; vgl. Hasse, Der Leib der Stadt, s. bes. Kapitel 4.3. 79 Coles, Making the market place, S. 516. 80 Coles stellt treffend zur Bedeutung der Fotografien fest: »As essays a collection of photographs can work at the boundaries of knowledge by allowing the author to circumvent more traditional modes of investigation and representation.«; ebd., S. 519. 78
80 https://doi.org/10.5771/9783495813690 .
Methodologische Schlussfolgerungen
nen, um unter phänomenolgischen Gesichtspunkten erkenntnistheoretische Aufmerksamkeit zu finden. Das Spektrum des Möglichen ist indes durch den sachverhaltlichen und programmatischen Rahmen einer Situation begrenzt. So konstituieren sich auf einem Wochenmarkt performative Markt-Geschichten um den Handel mit verderblichen Lebensmitteln (Gemüse, Eier, Käse, Fisch etc.) und nicht mit Wertpapieren. Auf dem Niveau der »dichten« Beschreibung wird die phänomenologische Arbeit der Autopsie von Orten in einem phänomenographischen Sinne zunächst angebahnt. Zur eigentlich phänomenologischen Durcharbeitung kommt es erst in der systematisch resümierenden Analyse der aufgenommenen Protokolle eindrücklich gewordenen Erlebens. Auf den ersten Blick könnten Ähnlichkeiten des hier beschriebenen methodischen Verfahrens mikrologischer Beobachtung mit Georges Perecs »Versuch, einen Platz in Paris zu erfassen«, vermutet werden. Beide Projekte unterscheiden sich aber in der Art und Weise, wie sie eine Beziehung zu Situationen herstellen. Perec notiert völlig fragmentarisch was geschieht (»Ankunft der Tauben; sie scheinen mir weniger zahlreich als gestern. 81 […] Es regnet immer noch 82 […]. Ein Vogel setzt sich auf die Spitze eines Laternenpfahls 83 […] Vorbeifahrt eines 63ers« 84). Seine Aufzeichnungen haben den Charakter stichwortartiger Protokollierungen. Er radikalisiert die Methode der dokumentarischen Narration des Beiläufigen, des Infra-Ordinären, wie er es nennt 85, indem er nur niederschreibt, was er sieht und hört. Aber auch Perec ist sich seiner Beobachterrolle durchaus bewusst, die er in einer an »Objektivität« nicht zu überbietenden Nüchternheit seiner Beschreibungen spielt. So merkt er zum Beispiel an: »Autobusse fahren vorbei. Ich verliere vollständig das Interesse an ihnen« 86 oder: »Ich trinke ein Vittel, während ich gestern einen Kaffee getrunken habe (inwiefern verändert das den Platz?)« 87. Damit zeigt er die Grenzen des Authentischen auf, die er schon in der Art seines Daseins auf dem Place Saint-Sulpice in Paris überschritten sieht. Genau genommen protokolliert Perec gar nicht, was im Detail 81 82 83 84 85 86 87
Perec, Platz, S. 37. Ebd., S. 36. Ebd., S. 49. Ebd. Vgl. auch Scheffel, Kleine Nachbemerkung, S. 57. Perec, Platz, S. 37. Ebd., S. 38.
81 https://doi.org/10.5771/9783495813690 .
Zur Methode der Mikrologien
passiert – er zerlegt den Fluss der Ereignisse in isolierte, stückartige Sequenzen. Vor allem macht er diese nicht zum Gegenstand einer systematisierenden Reflexion. So beschließt Perec sein Büchlein mit den Zeilen: »Vier Kinder. Ein Hund. Ein kleiner Sonnenstrahl. Der 96er. // Es ist zwei Uhr.« 88 Für die Dürftigkeit seiner Aufzeichnungen spricht die aporetische Leere, in die der Leser am Ende des Werkes stürzt – und durch die er gezwungen ist, sich selbst einen Reim auf die Bedeutung des immerwährenden Übersehens infra-gewöhnlicher Hintergrundgeräusche der Stadt zu machen. Er steht damit – ohne Opfer irgendeiner Pädagogik geworden zu sein – an der Schwelle einer Kritik der eigenen Wahrnehmung. 8.) Die Auswertung der Mikrologien strebt zwei Ziele an: Zunächst folgt sie dem Ziel der Illustration komplexen örtlichen und räumlichen Geschehens, das sich in großen Teilen als etwas ganz und gar Beiläufiges und Banales ereignet und deshalb üblicherweise der wissenschaftlichen Betrachtung als nicht würdig angesehen wird. In der Mikrologie eines Ortes wird dessen Rhythmus konkret, der sich im mitspürenden Gewahrwerden einer Situation zur Geltung bringt. Damit stellt sich die Aufgabe der am Einzelfall orientierten Beobachtung der Lebendigkeit eines Ortes bzw. der Rhythmik des »gelebten Raumes« (Dürckheim). Die Art und Weise, in der solche Milieus atmosphärisch erlebt werden, drückt sich unter anderem in der Präsenz von Menschen, ihrem Verweilen, der ortsspezifischen Abfolge von Geschehnissen usw. aus. Was auf der Grundlage der Beschreibung detaillierter Beobachtungen über ein Erleben expliziert werden kann, bleibt in den Grenzen individuellen Erfassen-Könnens gefangen. Bezogen auf die »singulär-fundierte Wesenserkenntnis« sah Johannes Volkelt dieses Erfassen als »ein Erschließen ins Transsubjektive hinein« 89. Aber auch der Horizont des Transsubjektiven ist relativ offen; keine Erfahrung kann je alle Attribute einer Sache erfassen, »denn es sind unendlich viele, wohl gar überzählbar unendlich viele« 90. Es gibt letztlich keine scharf durchzuführende Trennung zwischen diesen beiden Perspektiven, ist es doch gerade zentrales Merkmal phänomenologischer Analysen, dass es im Fluss des Mitweltlichen kein reines Dort 88 89 90
Ebd., S. 55. Volkelt, Gewissheit und Wahrheit, S. 442. Schmitz, Phänomenologie der Zeit, S. 157.
82 https://doi.org/10.5771/9783495813690 .
Methodologische Schlussfolgerungen
(als Milieu »objektiver« Dinge und Geschehnisse) und auch kein reines Erleben (im Sinne einer »seelenartigen« Innerlichkeit) geben kann. 9.) Die vier Kapitel der verschiedenen Mikrologien sind in ihrer Darstellung in diesem Band, wenn auch nicht in gleicher, so doch in ähnlicher Weise aufgebaut. Zum einen erfordert der jeweilige Einzelfall schon aufgrund bestimmender Ortscharaktere eine angemessene Würdigung objektivierbarer Gegebenheiten. Es ist evident, dass die Bedeutungen, die einen Ort in seinen Funktionen und Vitalqualitäten gleichsam »tragen«, bei einem urbanen Platz anderer Art sind als in den Warteräumen neben den Flugsteigen auf den Flughäfen und wieder anders als in einem sakralen Raum. Zum anderen steht in phänomenologischer Sicht die Frage im Zentrum, wie sich Orte aus der subjektiven Perspektive der (distanzierten) Teilhabe an ihrem Geschehen durch die Präzisierung der Vielschichtigkeit ortsspezifischer Vitalqualitäten auf der Basis von Beobachtungen beschreiben lassen. Die Auseinandersetzung mit der Frage, in welcher Weise zum Beispiel der Orts-Typ der Wartezonen neben den Flugsteigen auf den großen und kleinen Flughäfen im Allgemeinen Ausdruck eines Raumprogrammes ist und damit eine bestimmte gesellschaftliche Funktion (unter wiederum bestimmten historischen Voraussetzungen) erfüllen soll, müsste – genau genommen – in eine umfassende historische Architekturtheorie spezifischer Orts-Typen führen. Es liegt auf der Hand, dass der phänomenologische Rahmen dieser Studie die Setzung anderer Akzente verlangt, wonach das Ziel der Systematisierung subjektiven Raumerlebens im Hinblick auf bestimmte ortsspezifische Charakteristika im Mittelpunkt steht. Dennoch soll im Einzelfall die mehr oder weniger umfangreiche Charakterisierung eines allgemeinen Orts-Typs erfolgen. In diesem Kontext ist auch der besonderen Geschichte eines Ortes in seiner funktionalen wie ästhetisch-gestalterischen Entwicklung Aufmerksamkeit zu widmen. 10.) Je kürzer die phänomenologische Interpretation der Mikrologien zeitlich den Aufzeichnungen folgt, desto größer ist die Gefahr des »Hineinragens« noch lebendiger Erinnerungen an affektive Eindrücke in den Prozess der Interpretation. Deshalb wurde – gewissermaßen zur Herstellung einer erkenntnistheoretisch produktiven »Entfremdung« vom Ausgangsmaterial der Mikrologien – ein zeitlicher Abstand zur Interpretation von etwa sechs Monaten eingehal83 https://doi.org/10.5771/9783495813690 .
Zur Methode der Mikrologien
ten. Oft lag ein Jahr zwischen der Situationserfassung und ihrer systematisierenden Auswertung.
3.5 Das »projektionstheoretische Veto« Wo subjektive Beobachtungen bzw. die Explikation subjektiven Erlebens zum Gegenstand der phänomenologischen Reflexion werden, lässt die methodologische Kritik nicht lange auf sich warten. In deren konstruktivistischem Zentrum steht insbesondere das wahrnehmungspsychologische Argument, der Gegenstand subjektiver Beobachtung sei durch mehr oder weniger mächtige Spuren projektiver Beziehungen »verunreinigt«. In dieser Sicht gilt ein subjektiver Eindruck (zumindest potentiell und damit für die Kritik im Allgemeinen) weniger als etwas »Authentisches« denn als eine »Hinausverlegung« unbewusster Erwartungen in etwas, das assoziativ nur an dieses Erwartete oder Erwünschte erinnert. Gegenstand der Übertragung wären damit eigene unbewusste Vorstellungen, Gedanken, Motive und Wünsche. 91 In den Fokus der Psychoanalyse rücken darüber hinaus unbewusste Affekt-Verschiebungen. Der mögliche Einspruch des Projektionismus sollte sich auf dem Hintergrund der vorliegenden Studie als bedeutungslos erweisen, weil in der Explikation subjektiven Eindrucks-Erlebens von Orten Abwehrmechanismen im psychoanalytischen Sinne kaum von Belang sein dürften. Das Problem der »Projektion« stellt sich im gegebenen Kontext eher in einem lebensweltlichen Verständnis der Übertragung von Erfahrungen auf einen erwarteten Eindruck und nicht auf dem Hintergrund einer situativen Mobilisierung existenzieller Ur-Erfahrungen im Sinne von Archetypen nach C. G. Jung. Der Kern einer prinzipiell formulierbaren projektionistischen Kritik an der Methode der Mikrologien dürfte sich somit auf die Frage konzentrieren, inwieweit eine transferartige Übertragung im nichtpsychoanalytischen Sinne vorliegen könnte, wonach etwas schon Bekanntes auf das Verstehen von etwas aktuell Begegnendem angewendet wird. Dem Einwand des Projektionismus ist generell entgegenzuhalten, dass jedes Verstehen eines sinnlich Begegnenden a priori durch Erinnerung bzw. epistemische Vorprägungen »verschmutzt« 91
Vgl. Pongratz, Hauptströmungen der Tiefenpsychologie, S. 351.
84 https://doi.org/10.5771/9783495813690 .
Das »projektionstheoretische Veto«
ist. Jede verstehende Erfahrung ist zivilisationshistorisch und biographisch durch Sozialisation vorgeprägt. Jedes im Rahmen einer »neuen« Begegnung entstehende epistemische Vakuum wird so auch auf dem Resonanzhintergrund von Erlerntem (in phylogenetischer wie ontogenetischer Hinsicht) situativ und aktuell gefüllt. Ohne solche »Projektion« von gesellschaftlich erworbenem (Vor-)Wissen kann es kein Verstehen geben. Man könnte hier auch vom Ausgleich kognitiver Dissonanzen sprechen. Hermann Schmitz setzt sich dezidiert mit dem Problem des sogenannten Projektionismus auseinander, nicht zuletzt weil diese spezifische Kritik mit der Geschichte der Phänomenologie und der Diskussion ihrer erkenntnistheoretischen Relevanz verbunden ist. Der Projektionismus beruhe auf dem Dogma, dass die Welt aus Einzelheiten besteht, deren Bedeutungen im Prozess der Wahrnehmung erst gleichsam Stück für Stück zu einem ganzen Bild wieder zusammengesetzt werden. Dagegen macht Schmitz geltend, dass Bedeutungen nicht Einzelnem anhaften, sondern zu Situationen gehören, die durch einen ganzheitlich-mannigfaltigen Charakter gekennzeichnet sind. Daraus folgt: »Die Bedeutsamkeit ist primär und kann nicht erst bedeutungslosen Einzelwesen nachträglich durch Projektion aufgeprägt werden.« 92 Den Grundfehler projektionistischer Kritik an der Phänomenologie sieht Schmitz in einem Physiologismus 93, wonach eine Projektion gleichsam automatisch in der Situation eines Erlebens durch Abruf von Assoziationsbildern erfolgt. Aus wissenschaftspsychologischer Perspektive drückt sich im Vorwurf der Projektion ein Abwehrmechanismus aus. Kern der Projektionismus-Kritik ist in dieser Sicht die Abwertung empirischer Verfahren, die die Bedeutung und Macht des Konstruktivismus in Frage stellen könnten. Alle Verfahren, die Subjektivität nicht nach objektivierenden Standards »rastern«, stehen in einer mehr oder weniger scharfen Opposition zu positivistischen Schulen. Die Essenz der Projektionismus-Kritik ist streng genommen wenig originell. Sie lässt sich auf jede Situation der Wahrnehmung anwenden, in der sich Erfahrungen durch Konfrontation mit etwas noch Unbekanntem erst entfalten müssen. Alle anderen, vor allem alle lebensweltlich bewährten Wahrnehmungen greifen auf schon Bekanntes zurück und werden damit von der Verstehens- und Deutungs-Macht bereits verfüg92 93
Schmitz, Neue Grundlagen, S. 62. Vgl. Schmitz, Der unerschöpfliche Gegenstand, S. 148.
85 https://doi.org/10.5771/9783495813690 .
Zur Methode der Mikrologien
barer Wissensbestände auf begegnende Situationen gelenkt. Dies ist – auf selbstverständliche Weise – insbesondere in der methodisch nicht formal regulierten lebensweltlichen Erfahrung der Fall. Jedes in seiner (Deutungs-)Welt orientierte Individuum, das sich im Sinne von Schmitz in entfalteter Gegenwart bewegt, agiert (rational wie irrational) auf dem Hintergrund bereits geflochtener epistemischer Netze. Mit anderen Worten: Jedes Tun und Handeln verdankt sich a priori der Übertragung affektiver und kognitiver Erklärungs- und Verstehens-Muster auf etwas Begegnendes. In Situationen alltäglicher Erkenntnisgewinnung sind deshalb aber nicht sogleich schon dunkle Übertragungs-Mächte am Werke; vielmehr werden existierende Wissensbestände situativ mobilisiert, über die die Menschen aufgrund ihrer unwillkürlichen Lebenserfahrung verfügen wie zum Beispiel über das Wissen, dass man zur Öffnung einer verschlossenen Tür (meistens) eines Schlüssels bedarf. Was im Fokus erkenntnistheoretischer Kritik »Projektion« genannt wird, stellt sich so gesehen als »Anwendung« und »Transfer« lebenspraktisch bewährten Wissens dar. Zu einem erkenntnistheoretischen Problem werden diese »Übertragungen« in der Wissenschaft dann, wenn die Phantasie ermächtigt wird, in der Explikation von Eindrücken den Kurs zu bestimmen. Die hier in meist sprachlich ausführlichen Protokollierungen dargestellten Mikrologien kommen dieser Gefahr der spekulativen Aufblähung eindrücklich werdender Situationen dadurch zuvor, dass nicht stichwortartige Notizen das Rohmaterial der Beschreibungen bilden, sondern in situ formulierte und in der Sache des Eindrucks-Erlebens differenzierte Niederschriften. Im Unterschied dazu steht das in der Kunst durch die Kunstwerke hergestellte Verhältnis zur Realität wie zur Wirklichkeit des Erscheinenden, werden die ästhetischen Werke der Kunst von der Transformation des Tatsächlichen ins Imaginäre ja geradezu getragen. Darin drückt sich eine kunstspezifische Beziehung zur gesellschaftlichen Welt der Realien wie des Erscheinenden aus. Während die Rolle der Kunst darin besteht, Bilder als Medien einer Kommunikation über das Leben in und mit Wirklichkeit zu produzieren, ergibt sich die Aufgabe der Mikrologien aus einem erkenntnistheoretisch anderen Rahmen. Angestrebt wird nicht – wie besonders in der modernen Kunst – die Irritation des Selbstverständlichen, sondern die phänomenologische Reflexion dieser Selbstverständlichkeiten täglichen Lebens, um das unhinterfragt Hingenommene (besser) verstehen zu können. Sie dienen damit der Aufdeckung jener Wahr86 https://doi.org/10.5771/9783495813690 .
Zum Präzisionsanspruch der Mikrologien
nehmungsprozesse, die wir dann geneigt sein könnten, projektionistisch fehlzudeuten, wenn es an differenziertem Wissen über die Wege der Wahrnehmung mangelt. Der Gefahr phantastischen »Abhebens« sprachlicher Explikationen von der Evidenz eines Erscheinenden begegnen die hier wiedergegebenen Mikrologien durch die Wahrung der oben beschriebenen und diskutierten Grundsätze forschungsmethodischer Vorgehensweisen. Zu den methodisch beherrschbaren erkenntnistheoretischen Vorbehalten einer erlebnis-»authentischen« Erfassung von sinnlichen Eindrücken gehört auch der Einwand der Relativität dessen, was sich als evident suggeriert. Danach könnte erst die intersubjektive Prüfung nach Kriterien der Kohärenz wissenschaftliche Widerspruchsfreiheit suggerieren. Evidenz ist im phänomenologischen Kontext aber schon in der »Offenbarung der Tatsächlichkeit« 94 gegeben, im hier philosophisch relevanten Theorierahmen nach Hermann Schmitz also schon durch »exigente Nötigung durch die Autorität der Wirklichkeit gekennzeichnet« 95. Sie bedarf folglich also weder einer intersubjektiven »Wahrheits«-Prüfung noch einer kohärenzspezifischen Auslotung im Prozess konsensueller Verständigung.
3.6 Zum Präzisionsanspruch der Mikrologien Die Methode der Mikrologien ist nicht auf intersubjektive »Absicherung« ihrer Explikationen hin angelegt. Sie kann auch deshalb nicht so entworfen werden, weil etwas, das in seinem Erscheinen erlebt wird, nicht verhandelt werden kann. Dagegen käme es entscheidend darauf an, subjektiv Hervorscheinendes in seiner Evidenz so transparent und nachvollziehbar darzustellen, dass das am Einzelfall Wahrgenommene auf allgemeine Modalitäten des Erscheinens wie Wahrnehmens hin geprüft werden könnte. Evidenz wird nicht an intersubjektiver Wahrheit geeicht, sondern für die intersubjektive Verständigung plausibilisiert. Schon deshalb stellen sich an die Methode der Mikrologien Ansprüche der Präzision und Ausführlichkeit. Dazu gehört die maßvolle Redundanz, die das nachvollziehende Verstehen anbahnen und erleichtern kann und sich deshalb auch nicht als Schwäche rauschender 94 95
Schmitz, Neue Grundlagen, S. 243. Ebd., S. 244.
87 https://doi.org/10.5771/9783495813690 .
Zur Methode der Mikrologien
Überhänge eines schon Gesagten zu verstehen gibt. Das gebotene Mittel der Generierung gehaltvoller Befunde ist die unvoreingenommene Wahrnehmung und die ihr folgende mikrologische Aufmerksamkeit. »Wir wollen ›ohne Hilfsmittel‹ schauen und sagen, was wir sehen. Das ist übrigens gegen allen Anschein eine schwierige Aufgabe.« 96 In diesem Sinne merkt Wolfgang H. Gleixner in einer phänomenologischen Studie an: »Wir konstruieren nicht, sondern schauen wirklich einfach hin und uns selbst zu. Das hat uns bisher begleitet und wird auch weiterhin unser ›phänomenologischer Stab und Stecken‹ sein.« 97 Dieses Hinschauen und Explizieren dessen, was sich dabei gezeigt hat, folgt nicht der tradierten Methode wissenschaftlichen Denkens und Schreibens. Es orientiert sich zunächst an der Eindrücklichkeit eines sinnlich Erlebten, hebt sich also vom StoffCharakter abstrakter Theorien ab. Darin liegt aber keine Absage an das Prinzip wissenschaftlichen Denkens. Diesem soll vielmehr zugänglich gemacht werden, was dann in aller Regel verschüttet wird, wenn der erkenntnistheoretische Zugriff auf etwas zu Erklärendes von einer bereits theoretisch formatierten Abstraktionsbasis aus erfolgt. Gegen diesen Effekt einer Form der Wirklichkeitsvernichtung durch die Bemächtigung der Dinge mit den Mitteln terminologisch abstraktionistischer Wissenschaftssprachen richtete sich schon Rilkes Gedicht »Ich fürchte mich so vor der Menschen Wort«. Darin beklagte er nicht nur eine Entzauberung der Dinge, sondern diesen gegenüber auch ein Starr- und Stumm-Werden, was sich am Schluss zuspitzt: »Ihr bringt mir alle die Dinge um.« 98 Schließlich ist es auch das Ziel der phänomenologischen Methode der Mikrologien, der Projektion in der Interpretation des Explizierten nach den Kategorien phänomenologischer Theorie entgegenzuarbeiten. Nur was sich letztlich in systematisch geklärten Kontexten auf dem Hintergrund eines erweiterten Verständnisses begreifen lässt, kann Bestand haben und sich damit vom nur Imaginierten abheben. Der Aufbau der vorliegenden Mikrologien folgt dieser methodischen Behandlung. Jede thematisch spezifische Mikrologie basiert auf einer, meistens aber mehreren ausführlichen Beschreibungen. Es folgt eine systematische Durcharbeitung des sprachlich (und bildlich) Explizierten, um die theoretisch aufgearbeiteten Befunde schließlich 96 97 98
Minkowski, Die gelebte Zeit I, S. 15. Gleixner, Lebenswelt Großstadt, S. 147. Rilke, Ich fürchte mich so vor der Menschen Wort.
88 https://doi.org/10.5771/9783495813690 .
Zum Präzisionsanspruch der Mikrologien
in einem fallübergreifenden Sinne nach Gemeinsamkeiten bestimmter Erlebnisformen zu durchleuchten. Auch gestalttherapeutische Methoden zielen »auf die Intensivierung des Gewahrseins im Hier und Jetzt, auf die Klarheit der Wahrnehmung und auf die Förderung des Gefühls-Erlebens und des Gefühlsaudrucks, denn nur dadurch ist die Offenheit und Wachheit im befriedigenden Kontakt und Austausch mit der Mitwelt und Umwelt wieder herstellbar.« 99
Umgekehrt ließe sich auch sagen: In einer abgestumpften Aufmerksamkeit und wenig differenzierten Wahrnehmung drücken sich gestörte Kontakte zum um- und mitweltlich Erscheinenden aus. Der Begriff der »Störung« wird hier in keinem pathologisierenden Sinne gebraucht. Er hebt vielmehr das im Kontakt mit »Herumwirklichkeiten« Verarmte hervor, das auf die Wirksamkeit unterschiedlichster kultureller Filter der Wahrnehmung zurückzuführen ist. Kontaktstörungen sind auch nicht Ausdruck persönlicher Nachlässigkeit oder Oberflächlichkeit der Aufmerksamkeit in einer bestimmten Situation; sie sind vielmehr strukturell in zivilisationshistorisch einverleibten Mustern gelenkter Aufmerksamkeit begründet. Zumindest die im westlich-christlichen Kulturkreis geprägten Menschen haben gelernt, das Zählbare, Materielle, Körperliche – die Stoffe des Positivismus – mit einer rationalistischen Aufmerksamkeit zu registrieren. Im Schatten dieser einverleibten Aufmerksamkeits-Muster, die meist an vordergründigen Kalkülen einer »Nützlichkeit« des Wahrgenommenen für die Verfolgung von (oft ökonomisch motivierten) Interessen orientiert sind, haben sich blinde Flecken der Desensibilisierung ausgebreitet. Beispielhaft kann auf ganze Eindrucksfamilien verwiesen werden, in denen das Luzide, Diffuse, Temporäre, Atmosphärische, Nicht-Quantifizierbare und Leibliche bestimmend ist. Die aus dieser Disposition der menschlichen Aufmerksamkeit resultierende strukturelle Wahrnehmungsschwäche sprechen die Gestalttherapeuten als »Kontaktstörung« an. 100 Auf diesem Hintergrund geht es deshalb um die Schärfung der Aufmerksamkeit gegenüber dem konkret Gegebenen, dem ›Aufscheinenden‹ 101. Das Projekt der Mikrologien hat zwar keinen therapeutischen Anspruch. Es zielt dennoch auf die Schärfung der Wahrnehmung Boeckh, Gestalttherapie, S. 17. Vgl. ebd., S. 51. 101 Ebd., S. 23. 99
100
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Zur Methode der Mikrologien
und damit die Vermehrung dessen ab, was dem Denken zugänglich gemacht werden kann. Urteile über und Bewertungen von Situationen können differenzierter ausfallen und besser im Detail begründet werden, wenn die ihnen zugrunde liegenden Wahrnehmungen in ihrem Differenzierungsgrad die Reflexion herausfordern. So stellt sich das Projekt auch als eine Übung der Revitalisierung sinnlicher und leiblicher Vermögen der Wahrnehmung sowie einer Verbreiterung der Aufmerksamkeit dar. Mikrologische Beschreibungen subjektiven Eindrucks-Erlebens haben schon deshalb keinen beliebigen, subjektivistisch gleichsam solipsistischen Charakter, weil sie im sozialen Milieu einer Gesellschaft immer als eine Schnittstelle zu anderen Formen der Subjektivität verstanden werden müssen. Es kommt nicht auf die Deckungsgleichheit subjektiver Erlebnisweisen an, sondern auf die Ähnlichkeit subjektiver Erfahrungen. Deshalb erheben die Mikrologien auch keinen Anspruch auf Repräsentativität. Sie sollen deutlich machen, wie Wahrnehmung – stets an Fallbeispielen veranschaulicht – in lebendigen Milieus geschieht. Die Frage der Übertragbarkeit bzw. Repräsentativität ist auch deshalb obsolet, weil es gar keine »zweite« Perspektive der Wahrnehmung geben kann, die mit einer »dichten Beschreibung« im hier dargestellten Rahmen konkurrieren könnte. Schon Position und Situation in einem Raum und in der (biographischen Lebens-) Zeit begründen stets eine gleichsam singuläre Authentizität von Perspektiven, die sich der Vergleichbarkeit im Sinne sozialwissenschaftlicher Empirie entziehen. Schließlich sind die Ressourcen der Wahrnehmung in Gestalt von Sensibilität, theoretischem Vorwissen, Empathie, Wachheit, Interesse etc. von so kategorialer Bedeutung im Hinblick auf eine allein situativ zustande kommende Aufmerksamkeit, dass es keine Generalisierung geben kann. Es ist also deutlich zwischen solchen Formen qualitativer Empirie, die Richtungen eines wie auch immer gearteten Gemeinsamen offenlegen wollen, zum einen und jenen Formen wiederum qualitativer Empirie zum anderen zu unterscheiden, die – wie hier in den Mikrologien – dem Ziel zustreben, aus der Tiefe eines eindrücklich Werdenden allgemeine Aussagen über im Einzelfall mögliche Formen sowie Arten und Weisen des Erlebens zu schöpfen. Dabei stehen wiederum nicht repräsentative Einsichten im Fokus, sondern Einblicke in die Potentialität der Wechselwirkung zwischen dem, was auf der Objektseite einer Situation (sachverhaltlich, atmosphärisch) ist und sich performativ ereignet sowie dem, was diese phänomenale Wirklichkeit auf der Subjekt90 https://doi.org/10.5771/9783495813690 .
Zum Präzisionsanspruch der Mikrologien
seite derselben Situation in einem spürbaren Sinne bedeutet. Auf einem Niveau der Subjektivität werden affizierende Berührungen und ihre Bedeutungen zum Thema; dagegen bleibt die Herausarbeitung »durchschnittlicher« Erlebnisweisen eines in bestimmten Situationen Erscheinenden der Erforschung durch die Sozialwissenschaften vorbehalten.
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4. Immersive Schwaden
Das Prinzip der Mikrologien soll an einem einführenden Beispiel veranschaulicht werden. Dieses ist zur Erleichterung eines orientierenden Überblicks vor allem in der Interpretation deutlich kürzer als die weiter hinten in den Kapiteln 5 bis 7 folgenden Mikrologien. Auch handelt es sich nicht um eine typische Mikrologie der Stadt. Der Ort des sinnlichen und atmosphärischen Erlebens ist das Abteil eines fahrenden Zuges – zweifellos ein Ort in einem relationalen Raum, aber doch ein äußerst eigentümlicher Ort. Indem der Zug fährt, fahren auch alle ihn konstituierenden verorteten Dinge »mit« ihm. Zwar gibt es relationalräumliche Bezüge zwischen ihnen, aber auch diese werden gefahren, ohne dass dieses Fahren direkten Einfluss auf die herrschenden Lagebeziehungen zwischen den Dingen hätte. Wie die Teller und Schüssel, die der Kellner auf einem Tablett durch den Speisesaal trägt, in der Zeit der Bewegung an ihrem Platz verharren, so bleibt auch innerhalb des Zuges gegenüber seiner Fortbewegung alles neutral. Ein fahrender Zug ist ein heterotoper Raum, der nicht zuletzt von Utopien angetrieben wird. Als raumzeitliche Gefährte größter Heterogenität und Dichte der in ihnen platzierten Benutzer repräsentieren Züge in gewisser Weise charakteristische Merkmale von Städten in mobilen und spätmodernen Gesellschaften. Aber auch ein dystopisches Merkmal großer Städte kommt in ihnen zum Ausdruck; es spiegelt sich im (zumindest potentiell) krisenhaften Charakter der Dichte-Situation wider, womit sich die Reisenden in einem voll besetzten Zugabteil ganz selbstverständlich arrangieren müssen. Dichte und Heterogenität bergen im sozialen Raum a priori konfliktbedingte Krisen. In einer weiteren Facette ist das Zugabteil Modell urbaner Welten – in der Anonymität der sozialen Beziehungen, die das Erleben von Dichte, Enge, sozialer (nicht immer willkommener) Nähe noch einmal überprägt. Gegenstand der Mikrologie ist aber nicht die vielschichtige, besondere Dichte-Situation in fahrenden Zügen, sondern der atmosphärische Eindruck des in aversiver Weise zudringlich werdenden 92 https://doi.org/10.5771/9783495813690 .
Aversives Geruchserleben
Geruchs eines Mitreisenden. Dieses Eindrucks-Erleben spiegelt etwas höchst Banales und Gewöhnliches wider, eine Erfahrung aus dem täglichen Leben, die die meisten Menschen so oder ähnlich schon einmal gemacht haben. »Unangenehme« Situationen, denen man für die Dauer einer absehbaren Zeit ausgesetzt ist, ohne sich ihnen wirksam entziehen oder eine effektive Veränderung zum Besseren erreichen zu können, werden im Allgemeinen mangels nahe liegender Auswege mit Geduld und Beharrungsvermögen »ausgehalten«. Zu einem Gegenstand der Reflexion werden die mit einem solchen Geschehen einhergehenden Gefühle aller Regel nicht. Die immersiv Betroffenen befinden sich in viel zu bannender Weise in einer Art sinnlicher Gefangenschaft, als dass ihnen das Denken ein drängendes Bedürfnis sein könnte. So ist die Art und Weise eines am eigenen Selbst spürbar werdenden Empfindens sinnlich zwar gegenwärtig, als denkwürdiger Gegenstand bleibt sie aber doch meist in weiter Ferne. Das einführende Beispiel soll zeigen, welchen Erkenntnisgewinn die Autopsie des Mit-Seins in einer – am Beispiel der Situation in einem Zugabteil wenig komplexen – aktuellen Situation vermitteln kann. Dabei wird zunächst eine scheinbar höchst einfältige Situation dem tieferen Verstehen erschlossen, die sich jedoch bald in einer unerwarteten Dynamik und Lebendigkeit entpuppt. Im Fortgang dieser Ent-deckung höchst existenzieller Momente des Seins in lebendigen Situationen wird sich schließlich die Frage stellen, in welcher Weise akteurs- und patheursspezifische Dispositionen aufeinander bezogen sind, sitzen am gegebenen Beispiel beide Seinsweisen infolge der Ausweglosigkeit der Umstände doch auf beeindruckende Weise aneinander fest. Was lebensweltlich unterhalb jeder thematischen Differenzierung alltagssprachlich auf vielsagende Eigenschaften wie »unangenehm« oder »schlecht riechend« reduziert werden dürfte, gewinnt im Moment phänomenologischer Durchforstung eine geradezu aufregende Gestaltvielfalt.
4.1 Aversives Geruchserleben Die folgende Mikrologie 1 handelt von einer Geruchsbelästigung. Sie hat somit nichts mit intentionalem Handeln zu tun, sondern besitzt
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Tag und Zeit der Protokollierung: 30. 09. 2015 | 14–15 h.
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Immersive Schwaden
vielmehr performativen Charakter. Gleichwohl werden sich daran Handlungen vom Charakter des vitalen Antriebs entzünden. Auf der Fahrt in einem Intercity-Express zwischen Bremen und Hannover steigt ein Mann mittleren Alters zu und besetzt den letzten freien Sitzplatz in einem Zugabteil. Der Fahrgast nimmt in der Mitte einer von zwei sich gegenüber liegenden Dreier-Sitzreihen Platz. Das situative Erleben setzt mit einem aufmerkenden, sich vorspürenden Riechen ein, eine Art des Sich-»Vorriechens« in ein unsichtbares, aber unmittelbar angreifendes Milieu. Dieses vortastende Riechen findet seinen Anlass in einem schimmlig-modrigen und fauligen Geruch, der irgendwo und irgendwie im Raum liegt, aber doch schlagartig in einer sinnlich angreifenden Weise zudringlich wird. Er geht von einer Person aus, die am letzten Bahnhof zugestiegen ist. Der Geruch kommt zwar von diesem gerade eingestiegenen Mann, dennoch ist er nur »irgendwo« und »irgendwie«. Sowohl in seiner Intensität und Eigenart, wie in seiner Ausdehnung ist er unsichtbar, nicht »klar« identifizierbar wie die rein-weiße oder tief-schwarze Farbe eines Gegenstandes. Er wird als ein akkordartiges Ganzes zudringlich, besteht aber doch zugleich aus spürbar vorscheinenden Komponenten, die im Geruchseindruck sinnlich vernehmbar eigene Rollen spielen, dennoch aus der Ganzheit des Eindrucks nicht zu trennen sind. Da ist eben »etwas« Schimmliges, »etwas« Modriges und »etwas« Fauliges. Das Voraus- und durch die andrängenden Schwaden Hindurch-Riechen gelangt indes zu keiner weiteren »Erkenntnis« als der Bestätigung, dass da dieser in seinen Nuancen schillernde an- und umgreifende Geruch »ist«. Darüber hinaus gibt es nichts Differenzierbares zu erkunden, wie man gewohnt ist, mit den Augen etwas immer detaillierter auf- und durchspüren zu können, um schließlich zunehmend präzise Aussagen über Eigenschaften und Erscheinungsweisen eines Begegnenden treffen zu können. Der Geruch ist in seiner räumlichen Herkunft weder genau zu lokalisieren, noch in seiner Eindrucksqualität zu präzisieren. Er ist nicht genau »dort« und nicht genau »hier«. Er hat zwar »da« seine Quelle, wo die übel riechende Person sitzt, aber er bleibt nicht an diesem Quellpunkt. Zwar gibt es einen Herd, aber das an ihm Ausströmende ist – indem ich es wahrnehmen kann – auch schon »in« mir. Dieses mit der Nase vernehmbare »Es« dringt in einer Weise in mich ein, wie kein Gegenstand meine körperlichen Grenzen je überschreiten könnte. Zum einen ist der Gestank in meinem Herum, zum 94 https://doi.org/10.5771/9783495813690 .
Aversives Geruchserleben
anderen aber auch schon über dieses Herum hinaus – im Raum und »in« mir. Ich werde von etwas gleichsam »Heranwehendem« gestimmt, ohne dass ich auch nur die geringste Möglichkeit der Verweigerung oder Abwehr hätte. Ich versuche, mich zu »retten«, indem ich die Nase einseitig verschließe; aber das Manöver bewährt sich in keinem anhaltenden Erfolg. In der Not der Bedrängnis keimt die Hoffnung, »es« könnte bald vorüber sein. Was dieser Hoffnung Nahrung gibt, ist nicht ein sich ankündigendes Ausbleiben des irgendwie »vielfarbigen« Gestanks, sondern nur die Änderung seiner Erscheinungsweise. Ich spüre seine Ausbreitung – als Ausdruck scheinbar abflauender Intensität – jetzt in einer gewissen Wellenartigkeit. Was das mit der Ausbreitung des Geruchs im Raum zu tun hat, bleibt mir verschlossen, weil ich ihn ja nur im Hier wahrnehmen kann. Auf andere als riechende Weise kann ich nicht erfassen, was da auf eine bestimmte, hoch dynamische Weise »ist«. Der eindringende Gestank weckt ein Gefühl des Ekels und disponiert meine ambivalente Aufmerksamkeit: zum einen die (weitgehend vergebliche) Abschottung der Wahrnehmung und zum anderen ihre pointierte Zuwendung. Da ist ein starkes Bedürfnis nach Abwendung; zugleich wird dieses aber – wie bei der unstillbaren Schaulust der Gaffer beim langsamen Vorbeifahren an einer Unfallstelle – auch von dem festgehalten, was ich doch eigentlich fliehen will. Das Eklige an diesem Gestank scheint sich durch gleichsam insistierendes Eindringen immer wieder aufs Neue zur Geltung bringen und mich dadurch fesseln zu wollen. Mein Versuch der sinnlichen Distanzierung durch die Veränderung der Sitzposition hat sehr mäßigen, obendrein wohl nur eingebildeten Erfolg – weg von der olfaktorischen Quelle des beengenden Unbehagens, hin zur Fensterscheibe, möglichst noch über die schon äußerst randliche Kopfstütze neben dem Fenster hinaus, so dass ich mit dem Kopf an der Scheibe des Abteilfensters klebe. Auch diese Selbst-Mobilisierung bietet letztlich keine anhaltende Linderung – sie bleibt eine hilflose Geste mir selbst gegenüber, die umso mehr in die bittere Gewissheit des Aushalten-Müssens mündet. Entlastung vermittelt allein das zeitweise Verlassen des Zugabteils. Der sinnlichen Macht des Gestanks ist nur in der körperlichen Bewegung aus dem Einflussfeld der Emission zu entkommen. Wenn diese distanzierende Flucht auch eine Bewegung im euklidischen Raum voraussetzt, so folgt sie doch keinem im engeren Sinne räum95 https://doi.org/10.5771/9783495813690 .
Immersive Schwaden
lichen Ziel, sondern allein dem Impuls »WEG!«. Dabei ist es aber nicht nur der Gestank, der eine so immens mobilisierende Macht entfaltet, sondern auch die durch ihn ins Unerträgliche überprägte Atmosphäre des Raumes. Die mikrologische Eindrucksbeschreibung soll im Folgenden phänomenologisch durchforstet werden. Dabei wird das Ziel verfolgt, das (im Sinne von Georges Perec) Infra-Gewöhnliche für die nach-denkende Reflexion – im Sinne der phänomenologischen Autopsie – zu öffnen. Was auf den ersten Blick einem exzessiven Exkurs in die Fermente eines ohnehin »nur« Banalen zu folgen scheint, dient, genauer betrachtet, der Wahrnehmung einer unzeitgemäß erscheinenden, aber in der Sache der Übung genauen Hinsehens drängenden Aufgabe: der Erkundung mitweltlicher Verwicklungen, wie sie täglich an und mit uns zig- wenn nicht hundertfach geschehen, ohne dass uns das dabei Geschehende auch nur im mindesten interessieren würde. Schließlich ist ihm nichts abzugewinnen, das beim Manövrieren in den Systemwelten von Arbeit, Freizeit und Massenmedien irgendeinen offensichtlichen Nutzen verspräche. Die Effekte solch unzeitgemäßen Nach-Denkens über allzu Selbstverständliches liegen in der Tat auf erkenntnistheoretischen Brachen – weit abseits der Relevanzen, wie sie durch Akteure in Politik, Bildung und Massenmedien suggeriert werden. Vielleicht versprechen sie gerade deshalb einen Zuwachs an Autonomie des eigenen Selbst, weil sie einen Beitrag zur Re-Alphabetisierung der Sinne leisten, die sich doch in besonderer Weise als ideales Milieu der Affizierung durch verdeckte Strategien der Dissuasion anbieten, um das selbstbewusste Handeln der Menschen manipulativen Interessen zu unterwerfen. Im Metier des Ästhetischen werden – zum Beispiel in der olfaktorischen Behandlung von Verkaufsräumen im Einzelhandel – atmosphärische Milieus erzeugt, die Verstand und Vernunft unterlaufen sollen, um die Individuen im Bereich der sogenannten »niederen Sinne« in dispositive Kalküle zu verwickeln. So ist die obduzierende Arbeit an der Subjektivität der Wahrnehmung letztlich auch als ein aktualisierendes Projekt der Aufklärung zu verstehen. Wenn ein methodisches Merkmal der ausführlicheren Mikrologien in den folgenden Kapiteln auch darin besteht, eine zweite Annäherung an das Verstehen des im tatsächlichen Raum verorteten Erlebens in Gestalt von Fotografien zu vermitteln, so muss diese ästhetische Annotierung beim gegebenen Beispiel schon deshalb ent96 https://doi.org/10.5771/9783495813690 .
Zur Macht des Olfaktorischen
fallen, weil sich Gerüche der Verbildlichung im engeren Sinne – von synästhetischen und metaphorischen Übertragungen abgesehen – entziehen. Die folgende »Autopsie« sinnlichen Erlebens wird sich in gebotener Kürze darauf beschränken, das mehrdimensionale MitSein in einer aktuellen Situationen zu erhellen und damit ein Segment jener sozialen Wirklichkeit dem Nachdenken zugänglich zu machen, das üblicherweise zu keinem Thema der Reflexion wird. Was für die sinnliche Wahrnehmung von Gerüchen charakteristisch ist, kann für das ästhetische Mit-Sein in einer Landschaft nicht in gleicher oder ähnlicher Weise Gültigkeit beanspruchen. Was im engen und dichten Raum eines Zugabteils seine besondere Berechtigung hat, stellt sich im stillen Weiteraum sakraler Architektur ganz anders dar. Mit anderen Worten: Die Mikrologien sind idiographische Explorationen, die in erster Linie das erkundete Milieu erhellen, in zweiter Linie aber auch Prinzipien der Wahrnehmung freilegen, die in variierter Form auch im Erleben ganz anderer Situationen zu beobachten sind.
4.2 Zur Macht des Olfaktorischen Die Mikrologie wird von der impressiven Situation eines aversiven Geruchseindrucks bestimmt. 2 Deshalb werden sich alle folgenden Rekonstruktionsversuche, die auf dieses Erleben Bezug nehmen, auf Aspekte des Riechens konzentrieren. Diese Fokussierung ist der lebendigen Dynamik der persönlichen Situation geschuldet und nicht einer methodisch nachträglichen Akzentuierung. Das heißt aber nicht, dass der Ertrag dieser Art nach-denkender Durchforstung einer Situation sinnlicher »Gefangenschaft« auf das Thema des Geruchs beschränkt bleiben muss. Das Geruchserleben steht zugleich beispielhaft für viele andere Arten der leiblich-sinnlichen Verwicklung in Situationen, die sich am Eindrücklich-Werden von Gerüchen nur in sinnlich spezifischer Weise konkretisieren.
Hermann Schmitz spricht dann von einer impressiven Situation, wenn die in ihr geronnenen Sachverhalte unwillkürlich erwartet werden, ganzheitlich-diffus und mit Programmen der Anziehung oder – wie hier – der Abstoßung verbunden sind; vgl. Schmitz, Situationen und Konstellationen, S. 53.
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Immersive Schwaden
4.2.1 Zur Sinnlichkeit des Gestanks Die Etymologie des Gestanks gibt einen ersten Aufschluss über die historische Entwicklung von Bedeutungen, die auch in dem oben dargestellten sinnlich aversiven Geruchserleben lebendig sind. Grundlegend ist eine Polarität der Gerüche, wonach dem stets als »übel« und »widerlich« 3 empfundenen Gestank der Wohlgeruch gegenübersteht. Um die von einer Person ausgehenden Gerüche mit einer relativ konkret lokalisierbaren Quelle in Verbindung zu bringen, kennt schon die Alltagssprache Differenzierungen, die zwischen den olfaktorischen Herkunftsorten Unterschiede machen; danach kommt ein Geruch zum Beispiel aus dem Mund, von den Füßen oder den Achseln. In der Bewertung eindrucksmächtiger unangenehmer Gerüche – ganz gleich, wo sie herkommen – ist ein starker Affekt von zentraler Bedeutung. Vom üblen Geruch, mehr noch vom Gestank, ging zu allen Zeiten eine Macht der Vertreibung 4 aus. Nicht immer kann man aber – wie das Beispiel zeigt – vor einem Gestank fliehen, so dass man ihm für die Dauer einer Zeit ausgesetzt ist und bleibt. Unter anderem darauf dürfte die metaphorische Rede von einem »krankmachenden« Gestank zurückzuführen sein. 5 Gestank bzw. schlechte Gerüche kann man (aktiv) produzieren oder (eher passiv) von sich geben. 6 Kein Gestank verbindet sich mit einer positiven Bedeutung, so dass er auch als etwas betrachtet wird, das »des Teufels« 7 ist. So lag die Übertragung eines schlechten Geruchs auf den ihn emittierenden Menschen nahe, so dass man auch sagte, jemand stinke »wie ein Teufelsdreck« 8. Die angreifende Macht von Gestank drückt sich nicht zuletzt darin aus, dass man im Mittelalter sogenannte Gestankkugeln anfertigte, um Feinde in die Flucht zu schlagen, die die Stadtmauer bezwingen wollten. Bei diesen Gestankkugeln handelte es sich um Kränze aus Schwefel, Teufelsdreck, Harz und Pferdehuf. 9 Grimm / Grimm, Deutsches Wörterbuch, Bd. 5, Sp. 4201. Vgl. ebd. 5 »Voll solch geschwebliches gestancks, das es alle, die da umher stunden, kranck machte«; ebd. 6 Vgl. ebd. 7 Ebd., Sp. 4202. 8 Ebd., Bd. 21, Sp. 282. Teufelsdreck ist die volkstümliche Bezeichnung für Asant (Ferula assa-foetida), der auch als Stinkasant bekannt ist und unter anderem im Iran vorkommt. Bei Grimm heißt es über die Herkunft von Teufelsdreck, man hole ihn »aus Persien«; vgl. ebd. 9 Vgl. ebd., Bd. 5, Sp. 4202. 3 4
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Zur Macht des Olfaktorischen
Noch im industriellen Zeitalter sind im Zuge eines allgemeinen »Hygienismus« neben dem Gestank vor allem jene Gerüche abgewertet worden, die auf die gleichsam archaische Natur des Menschen verwiesen hatten: »der natürliche Geruch bedeutet von nun an ekelerregende Ausdünstung, was im Verkauf von »desodorierenden« Mitteln gipfelt, mit deren Werbung letztlich einzig und allein der Widerwille des Menschen gegen den Geruch seinesgleichen bewiesen wird.« 10 Die so an- und ergreifende Macht der Übelgerüche hat ihren Grund in einer sinnlichen Eigenschaft olfaktorischer Eindrücke, die es im Bereich anderer Wahrnehmungen in einer im weitesten Sinne vergleichbaren Form nur noch bei lautlichen bzw. akustischen Eindrücken gibt – ihre unmittelbare Immersivität. Gegenüber visuellen Störungen kann man sich abwenden oder die Augen schließen. Bei Gerüchen, die unmittelbar in den Körper eindringen, ist das nur bedingt möglich. Zwar kann man die Nase zuhalten und durch den Mund atmen, aber es gibt einen natürlichen Schutzreflex, wonach man wissen will, was man einatmet, so dass der olfaktorische Sinn nicht für längere Zeit »abgeschaltet« werden kann. Schließlich ist die Nase auch Kontrollmedium mit einer anthropologisch programmierten Anzeige- bzw. Warnfunktion. Übelgerüche sind schon deshalb machtvolle Eindrücke, weil ihnen kaum wirksam zu entkommen ist. Welche praktischen Folgen sich daraus ergeben, spiegelt sich in der Mikrologie wider, wobei diese nur bestätigt, was im täglichen Leben in zahlloser Variation erfahren werden kann. Der Geruchssinn ist nicht nur empfindlich, er ist vor allem grenzenlos und steht immer in der Gefahr der plötzlichen Immersion. Schon deshalb verdient das riechende Mit-Sein in Situationen des täglichen Lebens erhöhte Aufmerksamkeit. Das Beispiel zeigt auch, dass Gerüche nicht »nach und nach« in einem schrittweise aufspürenden Sinne wahrgenommen werden, nicht so, wie man ein komplexes Gebäude langsam und Schritt für Schritt zu begreifen versucht. Die Wahrnehmung von Geruchseindrücken vollzieht sich im Sinne ganzheitlichen Erfassens von Situationen. Schmitz spricht hier, wie vor ihm schon Karlfried Graf von Dürckheim, von »schlagartiger« Wahrnehmung. 11 Die Mikrologie gibt ein anschauliches Beispiel für diese schlagartige Plötzlichkeit Virilio, Die Sauberkeitsideologie, S. 133. Dürckheim, Untersuchungen zum gelebten Raum, S. 29. Schmitz spricht hier von der Wahrnehmung »mit einem Schlage«; Band III, Teil 1, S. 21.
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Immersive Schwaden
eines unbegrifflichen Ganzen, das vor allem in seiner Immersivität (zunächst) mit dem Gefühl des Ekels ergreift.
4.2.2 Zur Herkunft und Wirkung von Gerüchen Wenn wir Gerüche auch nur »in der Nase« riechen, so sucht die Frage nach einer räumlichen Herkunft doch einen Quellort im tatsächlichen Raum. Die meisten Gerüche gehen von etwas aus, das einen konkret bestimmbaren Ort im menschlichen Herum eines wahrnehmenden Individuums hat. So liegt ein übel riechender Käse als körperlicher Gegenstand an einer exakt benennbaren Stelle, an einem bestimmten Ort. Letztlich ist diese Verortung aber nicht hinreichend präzise, weil sie nur für den ursächlichen Gegenstand zutrifft, der als Quelle eines Geruchs angesehen werden kann, aber nichts Treffendes über den Ausgangsort eines Geruchs sagt. Da Gerüche keinen körperlichen Charakter haben, lösen sie sich schon im Moment der Entstehung an ihrem Emissionsherd in eine dunstartige Atmosphäre auf. Das ist auch am Beispiel des übel riechenden Fahrgastes nicht anders. Der Mann sitzt zwar in seiner Körperlichkeit (gleichsam dinghaft) an einer klar abgrenzbaren und präzise benennbaren Stelle im Abteil des Zuges: Aber der von ihm ausgehende Übelgeruch ist schon im Moment seiner Entstehung nicht zu »verorten«, vielmehr schwebt er im Raum um einen Emissionsherd herum. Seine Ausdehnung ist nicht messbar wie die einer auf eine Fläche aufgetragenen Farbe; sie wird allein an Inseln des leiblichen Raumes spürbar, als »Vorragen« einer atmosphärischen Quelle. Konkret wird diese in der Explikation eines Gefühls der Betroffenheit vom sinnlichen Empfinden an jenem absoluten Ort, an dem ein Geruch in ein Geruchserleben umschlägt und leiblich zudringlich wird. Wie sich derselbe Geruch an anderen Orten »niederschlägt«, lässt sich nicht objektivierend sagen, sondern allein über die abermalige (nur für sich Gültigkeit beanspruchende) Explikation individuell leiblicher Geruchseindrücke von anderen betroffenen Personen illustrieren. Dürckheim sprach solche atmosphärischen Felder als herumwirkliche Räume an (s. o.), womit er phänomenologisch treffend den räumlichen Charakter einer spürbaren »Vitalqualität« (wie er solche atmosphärischen Volumina nannte) umschrieben hatte. Indem sich ein Geruch nicht wie eine Linie im geometrischen Raum ausdehnt, sondern in unsichtbaren Rhythmen, sind auch seine 100 https://doi.org/10.5771/9783495813690 .
Zur Macht des Olfaktorischen
Reichweiten zum einen von der Intensität eines Geruchsherdes abhängig, zum anderen aber auch von unterschiedlichen atmosphärischen Bedingungen des Ausbreitungsraumes (Temperatur, Be- und Durchlüftung etc.). Auch die Präzisierung der »Ankunft« eines Geruchs oder Gestanks in örtlicher und räumlicher Hinsicht stellt sich als äußerst schwierig dar, ist er doch wiederum von der Art und Weise seiner Ausbreitung abhängig. Zumindest tendenziell wird man der Ausbreitung der Gerüche eine wellenartige Zentrifugalkraft zusprechen können. Schon die angesprochenen Geruchswellen, die in der Beschreibung der Situation im Zugabteil (auch mit dem Hinweis auf einen »schillernden« Charakter) Erwähnung finden, sorgen dafür, dass es keine Gleichmäßigkeit der Diffusion gibt. Folglich lässt sich auch kein Ort einer Einwirkung bestimmen, sondern nur ein blasenartiger Raum, innerhalb dessen es Orte gibt, an denen ein Geruch (je nach der Sensibilität des Geruchssinns mehr oder weniger eindrucksmächtig) wahrgenommen werden kann. Bei der Auflösung der sich in diesem Rahmen stellenden Fragen hilft eine von Hermann Schmitz vorgeschlagene Differenzierung nach der Herkunft und Wirkung von Gefühlen. Darin spricht er nicht von Orten, sondern von Zentrierungs-Bereichen, in denen Gefühle entstehen und zur Wirkung gelangen. Diese Unterscheidung lässt sich auch auf die Phänomenologie der Gerüche anwenden, weil auch sie als Empfindungen und in damit einhergehenden Gefühlen spürbar werden. Schmitz unterscheidet eine Zentrierung im Verdichtungsbereich und eine im Verankerungsbereich. 12 »Der Verdichtungsbereich einer Gestalt ist die Stelle, wo deren Gepräge sich anschaulich sammelt, z. B. beim menschlichen Gesichtsausdruck gewöhnlich die Augengegend, beim Blatt oder belaubten Zweig der Umriß. Als Verankerungspunkt bezeichnet Metzger dagegen ›denjenigen Punkt, von dem aus das Ganze aufgebaut erscheint, und der deshalb auch den Ort des Ganzen in seiner Umgebung repraesentiert‹.« 13
Ein Geruch verdichtet sich danach im Geruchserleben des von seiner Emission Betroffenen. Verankert ist ein solcher Eindruck samt allen damit verbundenen Gefühlen (des Ekels, der Abscheu sowie des Bedürfnisses nach Distanz) an der Quelle des Geruchs, das heißt hier in der übel riechenden Person. Diese ist nun aber nicht als »Punkt« im
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Vgl. Schmitz, Band III, Teil 2, S. 316 f. Ebd., S. 317.
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Raum zu verstehen, sondern als atmosphärisch-wolkiger AusgangsBereich, denn es bleibt ja auch im annotierten Beispiel undeutlich, wo genau in oder an der Person der üble Geruch seinen Herd hatte. Das macht auf ein weiteres charakteristisches Merkmal von Gerüchen aufmerksam. Zum einen riecht etwas, zum anderen wird etwas gerochen. Im intransitiven wie im transitiven Sinne riecht vor allem das Tier. 14 Beim Menschen ist die Rolle des Geruchssinns durch den Prozess der Zivilisation überschrieben und damit auch seine Beziehung zum intransitiven wie transitiven Riechen kulturell formatiert. Zwar kann und muss er (im transitiven Sinne) riechen können, schon um die Gefahr der Vergiftung durch verfaulte Nahrungsmittel abwehren zu können. Dagegen versucht er sein intransitives Riechen in seinen als belästigend empfundenen Ausdünstungen zu dämpfen, während er das kulturell veredelte (dissuasive) Riechen durch gleichsam halluzinative Geruchsstoffe (Parfum) zu befördern sucht. Im willkürlichen oder unwillkürlichen Einsatz von Medien der Steuerung intransitiven Riechens tun sich archaische (quasi-tierische) Abgründe auf, gilt das Spiel mit dem Geruch doch letztlich der Ansprache zivilisationshistorisch vielfach überdeckter leiblicher Reaktionsmuster. Im gegebenen Beispiel macht das archaische Reliktvermögen transitiven Riechen-Könnens auf die Herausforderung der Affektbeherrschung aufmerksam, die sich eine Person schon um des sozialen Friedens willen schuldig ist. Das nicht beherrschte oder vielleicht gar nicht beherrschbare intransitive Riechen eines Emittenten erinnert somit auch an eine weithin verbreitete Kultur der üblicherweise gelingenden »Deckelung« ästhetisch unzumutbarer Geruchswirkungen im sozialen Raum.
4.2.3 Gerüche sind »umgreifend« und vom Charakter eines atmosphärischen Akkordes Gernot Böhme spricht in seinem Atmosphären-Ansatz, den er auf die Phänomenologie von Hermann Schmitz stützt, Atmosphären als »Zwischenphänomene« an. Danach kann eine Atmosphäre weder ganz der Seite eines Subjekts noch ganz der eines Objekts zugerechnet werden. 15 Nach Schmitz sind »Gefühle nicht private Zustände 14 15
Vgl. Tellenbach, Geschmack und Atmosphäre, S. 20. Vgl. Böhme, Aisthetik, S. 55.
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seelischer Innenwelten, sondern räumlich ausgedehnte Atmosphären« 16, in deren Bann man in leiblichem Spüren gerät. Hubert Tellenbach hatte den atmosphärischen Charakter der Gerüche schließlich als etwas »Umgreifendes« 17 beschrieben. Für diese verschiedenen, sich aber doch ergänzenden Verständnisweisen bietet auch die oben beschriebene Mikrologie wiederum hinreichend starke Argumente. Was für Atmosphären generell gilt, ist in der Sache der Gerüche nicht anders. Sie lassen sich in ihrer Anwesenheit nicht zerteilen und auf Einzelbestandteile reduzieren. 18 Deshalb nennt Tellenbach sie auch etwas Einfaches bzw. Einfältiges. 19 In einem präzisierenden Sinne finden wir einen phänomenologisch beachtenswerten Hinweis auf das Wesen von Atmosphären in Willy Hellpachs »Sinne und Seele« aus dem Jahre 1946. Auch darin kommen Atmosphären als etwas »Einfältiges« in einem ganzheitlichen Verständnis vor, nur betont Hellpach nun das Zusammenspiel von Vielem im Klang des Einen, wenn er – metaphorisch – von einem atmosphärischen »Akkord« 20 spricht. In ihm sind verschiedene Schichten eines Eindrucks in ständiger Bewegung – das, was sich zwar ansatzweise unterscheiden lässt, dann aber unter der sinnlichen Macht der Zumutung des RiechenMüssens doch wieder in einem diffusen Ganzen aufgeht. In diesem Sinne ist auch in der Mikrologie von einem »akkordartigen Ganzen« (mit vorscheinenden Elementen) sowie einem »vielfarbigen Gestank« die Rede. Einen Akkord kann man ebenso wenig in einzelne Klänge auflösen, um ihn »genauer« zu hören, wie man einen Schatten heller machen kann, um ihn besser zu sehen. In der Metapher des Akkords klingt jene unaufhebbare Ganzheit an, die jeder Geruchsatmosphäre eigen ist. Der ganzheitlich umgreifende Charakter der Atmosphären entspricht dem japanischen »ki«, dessen Bedeutung der des Pneumas 21 bzw. des Dampfes 22 benachbart ist. Im Erleben sind mit diesen Phänomenen immer Bedeutungen verbunden. Auch das Beispiel der oben explizierten Mikrologie macht darauf aufmerksam, dass eine Atmo16 17 18 19 20 21 22
Schmitz, Gefühle als Atmosphären, S. 33. Tellenbach 1968, S. 57. Vgl. Tellenbach, Geschmack und Atmosphäre, S. 61. Vgl. ebd., S. 60. Hellpach, Sinne und Seele, S. 61. Vgl. Tellenbach, Geschmack und Atmosphäre, S. 57. Vgl. Hisayama, Erfahrungen des ki, S. 19.
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sphäre nie als etwas Bedeutungsloses empfunden wird, sondern, so schlagartig wie sie im Erlebnisfeld eines Individuums auftaucht, schon mit einer Bedeutung geladen ist. Atmosphären werden auf unterschiedliche Weise von einem Individuum empfunden. Im Falle des Geruchs im Zugabteil war die Situation eindeutig, denn der Geruch wurde als Gestank, also in einem aversiven Sinne erlebt. Dabei ist gleichwohl vorausgesetzt, dass ein übler, von einem Menschen ausgehender Geruch im Vergleich intersubjektiver Eindrücke im Allgemeinen nicht zwischen aversiven und angenehmen Empfindungen schwankt. Indes kann es – allzumal bei kranken Menschen – auch zu stark abweichenden bis kontrastierenden Erlebnisweisen kommen. Hisayama weist auf Unterschiede in der Art atmosphärischen Erlebens hin, die auch diese möglicherweise starken Diskrepanzen erklären können. Danach kann eine Atmosphäre der eigenen Stimmung nicht nur entsprechen, sondern ihr auch widersprechen. Deshalb trennt er eine Homosphäre von einer Heterosphäre. 23 Die Leibsphäre entspreche dabei dem, was man »als ›die eigene Sphäre‹ wahrnimmt.« 24 Das sinnlich Aversive wird danach als ein Zurückweichen des eigenen Leibes gespürt; es ist Folge des Ausgesetzt-Seins gegenüber einer Heterosphäre. »So sehr ein Wohlgeruch uns mit der Welt eint, so tief kann freilich der Übelgeruch uns in den Abgrund des Ekels hinabstürzen.« 25
4.2.4 Gerüche und ihre Explikation An anderer Stelle macht Hisayama auf eine atmosphärische Besonderheit aufmerksam, die auch für die Erlebnisweise von Gerüchen Bedeutung hat – das kehai. Der Begriff kommt aus der japanischen Kultur und bezeichnet das, was von einer nahenden oder anwesenden Person atmosphärisch spürbar wird, aber selbst nicht Teil von deren physischem Körper ist. Beispielhaft weist Hisayama auf den Klang der Schritte hin, der einer sich nähernden Person in gewisser Weise voraus geht. Das »kehai erweist sich dabei als die ›Vorgestalt‹ eines Menschen« 26. Der Eindruck des kehai deutet etwas Nahendes an. Das 23 24 25 26
Vgl. ebd., S. 34. Ebd. S. 35. Tellenbach, Geschmack und Atmosphäre, S. 26. Hisayama, Ästhetik des kehai, S. 23.
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darin anklingende Hin- bzw. Verweisende gehe aufgrund seiner schweren Fassbarkeit mit einem spürbaren »Explikationsdruck« 27 einher. Ein grundsätzlich ähnlicher Explikationsdruck dürfte sich generell mit Geruchseindrücken verbinden. Die Art und Weise, in der Geruchsatmosphären – etwa im Unterschied zu einem visuellen Eindruck – leiblich angreifen, macht auf herausgehobene Ansprüche an eine Explikation aufmerksam. Es gibt im Falle der Gerüche keine Möglichkeit der Objektivierung, weil es an intersubjektiver Vergleichbarkeit mangelt, die zum Beispiel in der Verständigung über die scharfen oder runden Kanten eines Gegenstandes relativ leicht fallen dürfte. Wenn ein Gerucheindruck auch nicht objektivierbar ist, so ist er im Hinblick auf intersubjektive Wege der Verständigung doch qualifizierbar (z. B. eklig, dumpf, dicht, frisch, dumpf, schwül, gespannt usw.). 28 Auch hierzu bietet die Mikrologie viele Konkretisierungen, die alle mit den Mitteln der Alltagssprache ausgesagt werden konnten. Schmitz beschreibt diese Qualitäten als synästhetische Charaktere, das heißt als leiblich gespürte im Unterschied zu symbolisch verstandenen Eigenschaften. Danach unterscheidet er unter anderem – ähnlich wie Tellenbach – zwischen kantigen, eckigen, individuellen und abgerundeten oder weniger abgerundeten Qualitäten. Damit sind Gefühle gemeint, wie sie aus dem »eigenleiblichen Spüren bekannt« sind. 29 Das heißt aber auch, dass Gefühle wie zum Beispiel des Spitzen im synästhetischen Sinne von einem tatsächlich spitzen Gegenstand ausgelöst werden können, um sich dann in eine spitze Empfindung zu übertragen. Am Beispiel der spitzen Ecke in der Architektur habe ich das an anderer Stelle ausführlich diskutiert und veranschaulicht. 30 Die Schwierigkeit der Explikation von Geruchseindrücken erhöht sich noch einmal durch deren akkordartigen Charakter, den Hellpach in seiner grundsätzlichen Diskussion städtischer Atmosphären (s. o.) angesprochen hatte. Schmitz spricht dieses Merkmal mit dem Begriff der Kombinations- bzw. Mischgerüche oder auch der Koinzidenzgerüche an. Bei ihnen fließen die verschiedenen »Nuancen ohne Wettstreit bequem zusammen[fließen], so daß schwer zu ent27 28 29 30
Ebd., S. 24. Vgl. Tellenbach, Geschmack und Atmosphäre, S. 63. Schmitz, Band III, Teil 5, S. 61. Vgl. Hasse, Atmosphären der Stadt, S. 101 ff.
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scheiden ist, ob sie ein Nebeneinander oder einen einheitlichen Mischgeruch bilden« 31. Die Anteile sind dann so innig durchflochten, dass »weder der Eindruck einer Mehrheit aufkommt, noch die Komponenten sinnlich zu sondern sind« 32. So gibt es bitter beißende Gerüche, in denen sich das Bittere nicht vom Beißenden trennen lässt. Zwar werden dann verschiedene Zumutungsqualitäten gleichsam »nebeneinander« empfunden, so dass sie auch in gewisser Weise für sich wahrgenommen werden können; aber sie bleiben doch von der Immissionsmacht des »ganzen« Geruches gefangen, der nach Hubert Tellenbach ein »einfacher« ist. So heißt es in der Mikrologie, dass einzelne Geruchskomponenten »sinnlich vernehmbar eigene Rollen spielen, dennoch aus der Ganzheit des Eindrucks nicht zu trennen sind.« Schmitz würde hier vom relativ chaotisch-mannigfaltigen Situations-Charakter eines Eindrucks sprechen. Nicht alles wäre im Hinblick auf Identität und Verschiedenheit dann unentschieden, sondern nur manches. 33 Genau dies kennzeichnet die in der Mikrologie beschriebene Situation, in der ein Gestank in für sich je charakteristischen, zugleich aber auch in wechselnden Komponenten zudringlich spürbar wird, während andere Komponenten in ihrer Verfugung mit dem Rest der Eindruckssituation undeutlich bleiben.
4.2.5 Gerüche – starke Empfindungen und Gefühle »Die Duftcharaktere, von denen wir uns stimmen lassen, bewegen sich zwischen den Extremen der frischen, klaren oder reinen Luft und dem stickigen, giftigen Dunst.« 34 Dabei – und darin liegt der lebensweltliche Anschluss an die alltägliche Erfahrungswelt – kennen wir die abweisenden und engenden Empfindungen des Ekligen. »Die Charaktere des stimmenden Duftes sind selbst in ihrem abstoßenden Extrem, im Geruch von Unrat, Faulendem oder Verwesendem, Charaktere des Natürlichen und Vertrauten, wenngleich Aufdringlichen.« 35 Vor allem an dem aversiv erlebten Gestank wird eine
31 32 33 34 35
Schmitz, Band III, Teil 5, S. 205. Henning, zitiert bei Schmitz, Band III, Teil 5, S. 204. Schmitz, Der unerschöpfliche Gegenstand, S. 66. Tellenbach, Geschmack und Atmosphäre, S. 35. Ebd., S. 35 f.
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spezifisch olfaktorische Eindrucksmacht deutlich, die über die (physiologischen) Empfindungen in eindringlicher Weise die Gefühle stimmt. »Der Mensch, der sich ekelt, prallt zurück, wirft den Kopf in den Nacken, rümpft die Nase, stößt den Atem aus, hält die Nase zu, wendet sich ab, erbricht.« 36 Oft ist das Aversive und darin Ekelerregende aber so mächtig, dass es die Faszination fesselt. Danach will der von einem üblen Gestank Ge- wie Betroffene ganz intuitiv wissen, was es ist und woher es kommt, was ihn so immersiv einnimmt. Bemerkenswerterweise enthält die Mikrologie einen deutlichen Hinweis auf diese Ambivalenz der Aufmerksamkeit. Zum einen hatte der Gestank den (vergeblich bleibenden) Versuch des Ausweichens ausgelöst, zum anderen war der Eindruck in seiner Mächtigkeit im unmittelbaren Sinne des Wortes aber auch so beeindruckend, dass seine nicht »abschaltbare« Gegenwart zur pointierten Zuwendung verführt hatte. Weil Gerüche immersiven Charakter haben, sind sie nach Kant »der Freiheit zuwider« 37. Man kann sich nicht nachhaltig gegenüber ihrem Einfluss abschirmen. Alle Versuche der Isolation sind temporär begrenzt und in ihrer Wirkung brüchig. Gerüche haben etwas Bezwingendes. »Geruch ist gleichsam ein Geschmack aus der Ferne. Andere werden gezwungen, mitzugenießen, sie mögen wollen oder nicht, und darum ist er, als der Freiheit zuwider, weniger gesellig als der Geschmack.« 38
Nach Johannes Volkelt muss man im Hinblick auf das Geruchserleben auch deshalb zwischen Intensitäten unterscheiden. Während uns Düfte »umschweben […], ohne daß wir unser Zusammentreffen mit den reizenden Stoffen spüren« 39, spaltet sich der Stofflichkeitscharakter der Gerüche dann von einem emittierenden Gegenstand ab, wenn er in seiner Intensität als übermächtig empfunden wird. Dann rückt einem ein Geruch (etwa als Gestank wie im gegebenen Beispiel) auf den Leib und greift in seiner Stofflichkeit an. Umschwebende Gerüche bleiben dagegen mehr bei ihrem Herd, als dass sie »sie selbst« würden, so dass »der Geruch gleichsam in den Stimmungseindruck des Gegenstandes völlig hineingezogen« 40 wird. 36 37 38 39 40
Ebd., S. 36. Zit. bei Tellenbach, Geschmack und Atmosphäre, S. 25. Kant, zit. bei Tellenbach, ebd. Volkelt, System der Ästhetik, Band 1, S. 97. Ebd., S. 102.
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Auch diese Differenzierung schärft die Wahrnehmung gegenüber der Eindrucksmacht und -weise der Gerüche und vermittelt ein vertieftes Verstehen spezifischen sinnlich-leiblichen Erlebens. So verbindet sich der Wohlgeruch einer Rose mit der Blüte, so dass sie es letztlich ist, die von der Wahrnehmung ihres Geruchsausdrucks profitiert. Am hier diskutierten Beispiel ist das etwas anders. Der Gestank ist so mächtig, dass er die leibliche Dynamik ganz in Anspruch nimmt, während der personale Geruchsherd in Gestalt des Fahrgastes beinahe in einem Hintergrund verschwindet. Aber er hebt sich doch nie ganz auf, denn dafür ist zu evident, wo der Gestank herkommt. Daher verbindet sich das Ekelerregende auch leicht mit dem Hässlichen wie das süß Umwebende mit dem Schönen. 41 Auch in der Explikation solcher vom Ästhetischen ins Ethische »springenden« Gefühle haben die Lektionen der Zivilisationsgeschichte keine Sensibilität entfaltet und kein genaues Sprechen-Können über Geruchsempfindungen sowie die damit ausgelösten Gefühle und implizit kommunizierten Bedeutungen vermittelt. Das (transitive wie das intransitive) Riechen gehört – weit unterhalb der Nobilität des denkenden Kopfes und seiner »höheren« Sinne des Sehens und des Hörens – zum gering geschätzten Bereich der sogenannten »niederen Sinne«. 42
4.2.6 Zum Verhältnis von Leib und Körper Die dynamische Beziehung, in der sinnliche Eindrücke in das Empfinden, Fühlen und Denken eingreifen, ist bereits weiter oben mit dem Begriff »leiblicher Kommunikation« umrissen worden (s. Kapitel 2). Die Schlagartigkeit, in der komplexe sinnliche Eindrücke erlebt werden und eine gefühlsmäßige Berührung vermitteln, macht schon deutlich, dass vor jedem rationalen Bedenken einer eindrücklich werdenden Situation die leibliche Affizierung steht. Die Mikrologie spiegelt auch diese Rhythmen wider, indem sie veranschaulicht, wie Gefühl und Verstand ineinandergreifen. Das Eindringen eines als aversiv empfundenen, angreifenden Gestanks hat zunächst in die spannungsreiche Enge getrieben. Dies äußerte sich leiblich im Gefühl eines engenden Angegriffen-Werdens, was den Impuls vermittelte, 41 42
Ebd., Band 2, S. 234. Vgl. auch Hasse, Fundsachen der Sinne, Kapitel 2.1.4.
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den Körper (als Ausdruck leiblicher Kommunikation) im Raum allokativ umzusetzen. In dieser Bewegung kommt letztlich ein intuitives Ausweichen zur Geltung, ein vitaler Impuls des Heraus-Wollens aus der Enge. Das Beispiel der Mikrologie zeigt deutlich, dass und warum im Erleben von Gerüchen, die in Form von Körperausdünstungen von einem Menschen ausgehen, zwischen Leib und Körper zu unterscheiden ist (s. auch Kapitel 2). Wie jeder materielle Körper, so beansprucht auch der des Menschen Platz im relationalen Raum. Je größer die materielle Ausdehnung, desto mehr Platz wird neben anderen körperlichen Dingen in Anspruch genommen. Der von einem Menschen ausgehende Geruch (ganz gleich ob es sich dabei um einen Wohlgeruch handelt oder einen Übelkeit erregenden Gestank) wird immer von seinem physischen Körper in einem intransitiven Sinne emittiert. Zwar wird er insofern auch von einem physisch-körperlichen Menschen wahrgenommen, als dieser ein materielles Wesen mit spezifisch ausgebildeten Sinnesorganen ist (hier vor allem dem Geruchssinn), einen olfaktorischen »Sinnesreiz« also empfangen und im Gehirn verarbeiten kann. Diese Sichtweise ist aber in der Frage der emotionalen Bedeutung eines Geschehens im subjektiven, situativen Befinden wenig hilfreich, weil sie den physiologischen Prozess neuronaler »Daten-Verarbeitung« fokussiert und nicht das leiblich stimmende Eindrucks-Erleben. Dieses kann besser verstanden werden, wenn der wahrnehmende Mensch nicht in seiner materiellen, organischen Körperlichkeit samt aller neurophysiologischen Prozesse in den Mittelpunkt rückt, sondern in seiner spürend-wahrnehmenden Leiblichkeit. Diese drückt sich bei aversiv erlebten Geruchseindrücken – wie auch in der obigen Beschreibung – in Gefühlen der Beengung aus. Mădălina Diaconu veranschaulicht auf dem Hintergrund empirischer Studien zu Geruchseindrücken in der Stadt sehr detailliert, wie Gerüche auf die Wahrnehmung urbaner Orte zurückwirken. 43 Auch in der mikrologischen Beschreibung stehen Hinweise auf emotionale Erlebnisweisen im Mittelpunkt und nicht solche, die sich (sinnvoll) als Belege für ein Verständnis des Geruchserlebens auf dem Hintergrund physikalisch-körperlicher Prozesse angeboten hätten. Leibliches Spüren des eigenen Selbst kommt deshalb »ohne Anleihen beim Besehen und Betasten des materiellen Körpers und ohne Rück43
Vgl. Diaconu, Sinnesraum Stadt.
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sicht auf die Einordnung von Gegenständen in räumliche und zeitliche Verhältnisse« 44 aus. Während der relationale Raum, wie die sich in ihm befindenden körperlichen Dinge, dreidimensionalen Charakter haben, die Dinge also nach Abständen in einem euklidischen Koordinatenraum lokalisiert werden können (s. auch Kapitel 2), ist die Ausdehnung des leiblichen Raumes flächenlos. Er dehnt sich nicht in einem dreidimensionalen Sinne aus, sondern hat den Charakter eines »prädimensionalen Volumens« 45. Nicht euklidische Abstände bestimmen die Ausdehnung des leiblichen Raums, sondern Gefühle, die sich zwischen den Polen der Enge und der Weite ausbilden. Schmitz stellt auf dem Hintergrund seines Konzepts leiblicher Kommunikation (als phänomenologisches Modell der Wahrnehmung) in diesem Sinne fest: »Die ganze Skala spürbarer Zustände, die in der Dimension von Enge und Weite angesiedelt sind […] bezeichne ich als den Bereich der leiblichen Regungen.« 46 Diese werden »in Gestalt von Leibesinseln« gespürt; der Leib ist folglich ein »Gewoge verschwommener Inseln.« 47 Auch hierzu bietet die mikrologische Beschreibung (s. Kapitel 4.1) aus der Perspektive des Mit-Seins in einer olfaktorisch beengenden Situation Konkretisierungen. Schon die Beziehung zum menschlichen Herd einer als unangenehmen empfundenen Erregung hatte atmosphärischen Charakter, war also im prädimensionalen Enge-Raum begründet. Selbstverständlich ist für Gerüche zunächst die Nase von zentraler Bedeutung. Hierbei geht es nun aber nicht um das physische Organ der Nase, sondern um die »Leibesinsel«, die sich in ihrer Gegend und nicht in einem relationalräumlichen Sinne an einer exakten Stelle (etwa dem Sitz des sensorischen Systems in der Nase) herausbildet. In phänomenologischer Sicht kommt es nicht in erster Linie auf den relationalen Ort der ästhetisch-morphologischen und physiologisch-organischen Nase an, sondern auf die (inselhafte) Gegend der Nase, in der das belästigende Gefühl zunächst eindrücklich wird. In der mikrologischen Beschreibung wird aber schnell deutlich, dass es gar nicht die Nase ist, die von Ekel ergriffen wird, sondern der ganze Leib. Der in der Mikrologie beschriebene Versuch des Ausweichens über die Kopfstütze des Sitzes und beinahe noch über die Schei44 45 46 47
Schmitz, Der Leib, S. 1 f. Ebd., S. 7. Ebd., S. 4. Ebd., S. 8.
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be des Abteilfensters hinaus illustriert dies überaus plastisch. Nicht die Nase will weg, sondern der ganze Leib, der sich in seiner »Erfülltheit« vom Gestank in die Enge getrieben fühlt. Dass dazu der Körper im allokativen Sinne bewegt werden muss, versteht sich zwar von selbst, ist aber kein Grund, um das ganze Ausweichmanöver als eine rein körperliche Sache misszuverstehen. Darin drückt sich noch einmal die schon in Kapitel 2 diskutierte Verschränkung von Körper und Leib in ihrer Unaufhebbarkeit aus. Während die Verschiebung des eigenen Körpers durch einen leiblichen Impuls (Schmitz spricht hier vom »vitalen Antrieb«) ausgelöst wurde, so musste doch der Körper als »Gegenstand« letztlich versetzt werden. Sie war Bedingung der Möglichkeit der Vergrößerung des relational-räumlichen Abstandes zum Körper des Sitznachbarn und damit der störenden Geruchsquelle. Es wäre zu einfach, diesen Abstand allein in einem metrischen Sinne zu verstehen. Der metrische bzw. körperliche Abstand wird ja nur mit dem Ziel vergrößert, um eine leibliche Distanz zu einem spürbaren Problemherd zu erhöhen. Es ist bemerkenswert, dass dieses Ausweichmanöver die maximale Enge im physischen Raum hinnimmt, um leiblicher Enge zu entkommen. Die Allokation im tatsächlichen Raum strebt deshalb im engeren Sinne auch keinem Ziel im Abteil des Zuges zu. Dass hierbei nicht rational vorgegangen wurde, sondern nach dem Impuls des vitalen Antriebs, mit anderen Worten irrational, bestätigt schon die (im Prinzip absehbare) Vergeblichkeit der Positionsveränderung. Im Rahmen einer rationalen Strategie wäre von vornherein klar gewesen, dass derartige Bemühungen nur vergeblich ausgehen konnten. Indes verweist die Beschreibung aber auch auf eine rationale (Akteurs-)Strategie des Ausweichens. Hierfür steht das zeitweise Verlassen des Abteils; aus guten, in Sachverhalten liegenden Gründen konnte nämlich nun erwartet werden, dass auf dem Wege des tatsächlichen Entzuges eine spürbare Besserung zu erreichen sein musste, wenngleich dafür auch der Preis der temporären Aufgabe des Sitzplatzes zu akzeptieren war. Es sei abschließend darauf hingewiesen, dass die Körperausdünstungen eines Menschen in anderer Weise in die Enge treiben als Verkehrs- und Industrieabgase. Beengende Körpergerüche unterschreiten auf immersive Weise jede personale Distanz, deren Einhaltung im Bereich willkürlicher Handlungen üblicherweise selbstverständlich eingehalten wird. Sie haben also – im Unterschied zu Industriegerüchen – eine soziale Dimension der Bedeutungen. Eine prinzipiell 111 https://doi.org/10.5771/9783495813690 .
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vergleichbare Unterschreitung geschieht im Gebrauch von Parfums, die strategisch in der Verfolgung (unausgesprochener) dissuasiver Programme intentional eingesetzt werden. Auch diese können, indem sie ungefragt einen gemeinsamen leiblichen Raum schaffen, als aversiv erlebt werden, vor allem dann, wenn sie eine idiosynkratisch empfundene soziale Welt repräsentieren. Ganz anders werden dagegen quasi-objektive (jedenfalls entpersonalisierte) Gerüche zum Beispiel städtischer Orte (U-Bahnstation, Nähe einer Papierfabrik etc.) gerochen. Werner Bischoff hat im Zuge einer empirischen Studie illustriert, in welcher Weise städtische Quartiere an ihren Gerüchen erkannt werden können. 48 Eine große Rolle spielen die unterschiedlichsten Gerüche auch in Mădălina Diaconus »multisensorischer Anthropologie«, die die Stadt als Sinnesraum diskutiert. 49 Die Verfasserin arbeitet im Rahmen dieser Studie auch eine Kategorisierung herkunftsabhängiger Gerüche heraus, in deren Erleben sich tief im individuellen Menschen verwurzelte pathische Sensibilitäten als Maßstab mehr oder weniger großer Distanzbedürfnisse erweisen. Dabei kommt es weniger auf die tatsächliche Nähe zu einer Geruchsquelle an, denn auf die persönliche Nähe zu ihr, welche letztlich wiederum soziale Beziehungen spiegelt.
48 49
Vgl. Bischoff, Nicht-visuelle Dimensionen des Städtischen. Vgl. Diaconu, Sinnesraum Stadt, besonders S. 237 ff.
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5. Räume der Stille
Die Stille ist in ihrem affizierenden Ausdrucksgehalt schwer zu erfassen und in ihrem atmosphärischen Erleben noch schwerer zu beschreiben. Sie ist in anderer Weise sinnlich als die Lautlosigkeit, die an der Erinnerung des Lautlichen hängt und abermals anders als die Farblosigkeit, in deren Erleben sich der Mangel einer Farbe reklamiert. Die Stille ist auch nicht zu vergleichen mit etwas physisch Großem oder sichtbar Langsamen. Zwar »ist« sie als eine Vitalqualität des Erlebens »im« spürbaren Leib eines Individuums; aber sie konstituiert sich doch im atmosphärischen Herumraum. Die nächsten drei dem Thema der Stille gewidmeten Mikrologien folgen dem Ziel einer doppelten Konkretisierung. Zum einen soll deutlich werden, was Stille im atmosphärischen Erleben (aber auch als Stimmung) ausmacht. Zum anderen soll der Frage nachgegangen werden, wodurch Stille – gleichsam außerhalb des erlebenden Individuums – durch Dinge und räumliche Situationen disponiert wird. Weil Art und Ausstattung der Orte im Sinne tatsächlicher Räume einen nicht unerheblichen, bisweilen sogar maßgeblichen Einfluss auf das (mögliche) Stille-Erleben haben, werden diese auf situationsangemessene Weise in Bezug auf die Beispiele kurz dargestellt. Die Erläuterungen zu den »Schauplätzen« des einen wie des anderen Stille-Erlebens variieren in ihrer Ausführlichkeit mehr oder weniger. Dem Versuch einer objektivierenden Annäherung dienen auch einige Fotografien, die den jeweiligen Orten ein visuelles Gesicht geben sollen. Die ersten beiden Beispiele sind sakralen Räumen gewidmet. Ein drittes thematisiert die Stille-Atmosphäre eines profanen, von Menschen verlassenen Ortes. Die drei Mikrologien machen auf je eigene, situationsspezifische Charakteristika von Stille aufmerksam. Deshalb werden die Beschreibungen zunächst fallbezogen durch eine phänomenologische Durchquerung abgeschlossen. Am Ende des fünften
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Räume der Stille
Kapitels sucht eine zusammenfassende Sichtung nach Gemeinsamkeiten und Differenzen.
5.1 Stille, die von hinten kommt Die erste Mikrologie beschreibt das Innenraumerleben einer katholischen Kirche in einer Kleinstadt des ländlichen Raumes. 1 In der Mitte der emsländischen Kleinstadt Rhede wurde im Jahre 1913 die katholische Pfarrkirche St. Nikolaus im neoromanischen Stil errichtet (s. Abb. 2). Der Sakralbau hat zwei große Westtürme mit je quadratischem Grundriss. Dass die Kirche von der regionalen Bevölkerung oft als Dom bezeichnet wird, mag an der insgesamt physiognomisch herausragenden Architektur des Bauwerkes liegen, insbesondere an dem eindrucksvollen Vierungsturm, der das Gebäude von kleineren Kirchen unterscheidet. Schon aus der Ferne fällt die Kirche durch ihre vertikale Dimension als Landmarke auf. Auch das Innenraumerleben wird stark von der architektonischen und atmosphärischen Präsenz des Turmes bestimmt. Der gute bauliche Zustand geht auf die letzte Renovierung zurück, die im Jahre 1999 durchgeführt wurde. Ich befinde mich im kalten Innenraum der Kirche, etwa 20 Meter vom Altar entfernt und knapp hinter dem Vierungsturm. Die relative Helle des Raumes geht zum einen auf die Laternen im Vierungsturm zurück. Zum anderen sorgen die Kirchenfenster mit ihrer relativ hellen Verglasung dafür, dass der noch weihnachtlich geschmückte Innenraum für eine katholische Kirche beinahe schon ungewöhnlich lichtdurchflutet ist. Neben dem Altar steht am rechten Hauptpfeiler der Apsis eine rote brennende Kerze auf dem Boden (s. Abb. 3). Nicht der Lichtschein der Flamme ist es, der meine Aufmerksamkeit trifft, sondern die leicht unruhige Bewegung der Flamme. Die Luftzirkulation verursacht gelegentlich ein lebendiges Flackern. Die Art und Weise, wie die Kerze unruhig brennt, kontrastiert die im Raum herrschende Stimmungs-Ordnung. Außer dieser Flamme bewegt sich im ganzen Kirchenschiff nicht das mindeste. Vom Wackeln, Schwanken und Flackern der Flamme geht deshalb eine atmosphärisch besonders nachhaltige Stimmungsmacht aus. 1
Tag und Zeit der Protokollierung: 07. 01. 2015 | 13–14:15 h.
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Stille, die von hinten kommt
Abb. 2: Katholische Pfarrkirche St. Nikolaus in Rhede (Emsland); Bild: Jürgen Hasse.
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Räume der Stille
Abb. 3: Pfarrkirche St. Nikolaus; brennende Kerze vor dem Chor; Bild: Jürgen Hasse.
Die Ordnung des Raumes erscheint im Eindruck absoluten Stillstandes. In dieser Ordnung nistet die Stille. Die Atmosphäre wird schlagartig so stimmungsmächtig, dass sie gar nicht mehr aus der Perspektive emotionaler Distanz – ohne Betroffenheit vom atmosphärischen Gefühl des gestimmten sakralen Raumes – wahrgenommen werden kann. Das liegt neben der lautlichen Ruhe ganz wesentlich an der Situation der Menschenleere. Außer mir ist kein Mensch in dieser Kirche – und es ist auch nichts zu hören. Der sich aufdrängende Eindruck schwankt zwischen Lautlosigkeit und Stille. Dennoch ist da eine Abfolge im Zudringlich-Werden des atmosphärischen Eindrucks spürbar; zuerst kommt die Lautlosigkeit und dann die Stille. Die Lautlosigkeit wirkt in einer Weise atmosphärisch, als wäre sie eine Bedingung für die Erlebbarkeit von Stille, die im engeren Sinne gar keine »einzel«-sinnliche Qualität hat. Lautlosigkeit kann man in gewisser Weise hören, Stille aber nur als Gefühl am eigenen Leib spüren. Vielleicht geht sie deshalb in der Macht ihrer Immersivität auch über das Lautlose hinaus. Stille hat nur in einem Nebensinn mit »abwesenden« oder »fehlenden« Geräuschen, Tönen oder Klängen zu tun. Dennoch kommt relative Lautlosigkeit ihrer Konstitution fördernd entgegen. Im Raum der Kirche ist es so lautlos, dass eigene Organ-Geräu116 https://doi.org/10.5771/9783495813690 .
Stille, die von hinten kommt
sche im Körperinneren hörbar werden, die im Alltag der bewussten Wahrnehmung entgehen: in erster Linie sind es die Geräusche des Atmens, die in ihrer rhythmischen Permanenz die Aufmerksamkeit gleichsam bezwingen. Aber da ist auch ein Grundton, dessen Herkunft undeutlich bleibt; es ist unklar, ob er von innen oder von außen kommt. Auch darin drückt sich ein atmosphärisches Charakteristikum des lautlosen Raumes aus: Das Hören wird exotisiert. Es bleibt nicht beim vermeintlichen Nichts-Hören. Das auffällige Wenig-Hören verfremdet das Gefühl eigenen So-da-Seins. Das gänzlich ungewohnte lautliche Nichts bewirkt eine strukturelle Veränderung der sinnlichen Aufmerksamkeit im Ganzen. Das hat viele Rückwirkungen auf eine gleichsam zwischen Weite und Enge »gespannte« Sensibilität des Leibes. Es ist weniger die Lautlosigkeit als die Stille, in deren affektivem Spiegel schon die geringsten Veränderungen anderer sinnlicher Eindruckssegmente bewusst werden. Dazu gehören die plötzlichen, aber nur wenige Momente dauernden Veränderungen der Helligkeit des natürlichen Lichts. Vorbeiziehende Wolken lassen es im Kirchenraum ganz kurz beinahe halbdunkel werden. Aber nur beinahe, denn wegen der lichtflutenden Fenster beharrt eine atmosphärisch sich immer wieder behauptende Rest-Helligkeit. So ist innerhalb der Fahlheit des Lichts zwischen einer Halbhelle zum einen und einem Halbdunkel zum anderen zu unterscheiden. Fünf blau ausgemalte Segmente zwischen den Kreuzrippen der halbkreisförmigen Überwölbung der Apsis (s. Abb. 4) suggerieren ein Gefühl des Aufgenommen-Werdens. Der Raum der Apsis wird in seiner konkaven Bauform als etwas Anziehendes leiblich spürbar. Die einem Magneten ähnliche Anziehung drückt sich aber nicht nur über die nach außen und nach oben drängende Gestalt der Architektur aus; in das Raumerleben mischt sich auch die sichtbare Symbolik der Heiligenfiguren ein, die auf dem blauem Grund des Deckengewölbes zum Versammlungsraum der Kirche gerichtet sind. Das hebt die ästhetische Situierung der Apsis noch einmal hervor. Innerhalb der numinosen Atmosphäre der Kirche konstituiert sich der Raum der Apsis in einer spezifischen Sub-Atmosphäre. Ihre Architektur bringt sich im Eindruck eines Sowohl-als-Auch zur Geltung. Mit ihrem aus dem Raum der Kirche nach außen gleichsam herausragenden Halbrund kündigt sich der Abschluss des Kirchenraumes an. Aber dies ist kein »schroffes« Ende, wie es eine glatte und gerade Wand bildet, die Decke und Boden in einem nüchternen Sinne ver117 https://doi.org/10.5771/9783495813690 .
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Abb. 4: Pfarrkirche St. Nikolaus; Chor; Bild: Jürgen Hasse.
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bindet. Es ist eher eine mit symbolischen Bedeutungen geladene und damit wichtig gemachte Schnittstelle, an der der Raum des Kirchenschiffs in keinem »einfachen« Sinne endet. Vielmehr sakralisiert die Bauform den tatsächlichen und atmosphärischen Raum und verstärkt damit die numinose Aura des gesamten Kirchenraumes. Dies kommt der Erfahrung einer Stille entgegen, die in keinem profanen Sinne erlebt wird, sondern als Stille im »heiligen Raum«. So steigert sich in der Situation des Numinosen die Stille in ihrer Intensität und Immersivität noch einmal. Der Turm vermittelt in seiner gleichsam schwebenden Gestalt eine spürbare Vertikalität des Raumes, die nun in eine Beziehung zur Richtungs-Suggestion der Apsis tritt. Damit entstehen konkurrierende Eindrucksqualitäten, die sich vor dem Altar und unter dem Vierungsturm kreuzen. Nach vorne zur Apsis hin öffnet sich der Raum in anderer Weise und erlebter Bedeutung als nach oben in die sich durch den aufragenden Turm andeutende Himmelshöhe. So entsteht eine Raum-Atmosphäre, in der sich infolge architektonischer Gestalten Richtungs-Suggestionen konstituieren, die die spezifische Ordnung des sakralen Raums verstärken. Die farbig gestalteten Fenster, die ornamentalisierten Sandsteinsäulen und die Deckenmalereien schaffen eine numinose Resonanz, die in der Situation göttlicher Stille ihre ganze Eindrucksmacht entfaltet. Stille resultiert nicht nur aus bestimmten atmosphärischen Bedingungen wie ruhender Ordnung und relativer Lautlosigkeit. In der Besinnung auf die sich im sakralen Raum anbahnende Stimmung verdichtet sie sich zudem. In der Stimmung der Stille drängen sich die Deckenmalereien als Medien des Numinosen auf. Das gilt auch für die Wandgemälde. Sie alle beeindrucken so nachhaltig und mächtig, weil es in dieser Stille nichts gibt, das sich zwischen ihr Erscheinen und ihre Wahrnehmung stellt oder ins Ausströmen des Bildhaften – mehr noch des Ge-Bildeten – einmischt. Die Stille exotisiert die Wahrnehmung, und so öffnet sie unsichere Blicke auf alltägliche Dinge. Alle Dinge – nicht nur die Malereien – erscheinen in der Stille in einer weitaus eindrucksmächtigeren Immersivität als im klanglich bzw. lautlich erfüllten Raum. Die Stille spüre ich vor allem als etwas Mächtiges hinter mir. Zwar ist sie auch vorne in der Apsis und oben in der Wölbung des Vierungsturmes – und in den seitlichen Arkaden, die auch hier dafür sorgen, dass der Kirchenraum nicht an Raumgrenzen erlebt wird, die der profanen Welt näher stehen als der religiösen. Vorne drängt sich 119 https://doi.org/10.5771/9783495813690 .
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die Stille vor allem durch eine »sichtbare« Bewegungslosigkeit auf, wenngleich im Nichts der Bewegung im engeren Sinne ja nichts Sichtbares insistiert. Hinten ist die Stille im leiblichen Sinne ein lautloses aber intensives Nichts, das in seiner diffusen, aber eindringlichen und voluminösen Spürbarkeit mehr Macht entfaltet als alles Sichtbare. Man könnte vereinfachend sagen: Es gibt im Raum eine mächtig »spürbare« Stille. Es kennzeichnet ihren leiblichen Charakter, dass sie nur spürbar einnimmt und nicht als etwas Sichtbares, Hörbares oder Tastbares erfahren wird. Die Stille, in der ich mich als lebendiges Individuum im sakralen Raum erfahre, hat die Macht einer Selbst-Thematisierung. Sie wirft – was sich schon in der plötzlichen Wahrnehmung der eigenen Atemgeräusche ankündigte – das eigene Selbst auf sich selbst. Das vermeintliche Nichts im Herum bündelt die gesamte Aufmerksamkeit. Sie wird sogar um ihren so überlebenswichtigen Außenbezug gebracht. Sie kehrt sich in gewisser Weise um und fokussiert das bloße Sein – ohne Möglichkeit der willentlichen Entscheidung für oder gegen diesen Selbstbezug – als Folge des Entzuges von allem Vielen, in dem sich die gerichtete Wahrnehmung tagtäglich verfängt. Das volle Nichts der Stille verdichtet sich im Gefühl für das eigene Sein, das sich seinerseits als volles – eben erfahrbares – Nichts im Medium der Stille zu spüren gibt.
5.1.1 Temperatur und Raumklima Dass die mikrologische Beschreibung eines Kirchenraumes mit einem Hinweis auf die empfundene Kälte beginnt, ist keine Marginalie. Kälte wird leiblich unmittelbar zudringlich, besonders dann, wenn sie schon beim Eintreten in einen Raum aggressiv und plötzlich in beengender Weise angreift. So weist die Anmerkung auch nicht auf eine »objektive« Temperatur hin, sondern auf eine Kälte-Empfindung. Solche Empfindungen werden leiblich spürbar und stehen in einer Beziehung zum atmosphärischen Raumklima. Hermann Schmitz spricht solche (zum Beispiel scharf bzw. intensiv) angreifenden Gefühle als Halbdinge 2 an, die als mehr oder minder aggressive Kräfte gespürt werden. So kommt und geht die Kälte (wie die Wärme), ohne 2
Vgl. Schmitz, Band III, Teil 5, S. 207.
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dass sich sagen ließe, wo sie ist, wenn sie nicht mehr da ist. Kälte oder Wärme sind in einem Raum nicht anwesend wie Gegenstände; sie liegen gewissermaßen »in der Luft« und umgreifen in einer umhüllenden Mächtigkeit. Der Hinweis auf die Kälte im Raum der Kirche ist für alle weiteren Eindrucksbeschreibungen der Mikrologie von Bedeutung. Die Kälte-Empfindung stimmt in ihrer Immersivität das leibliche Gesamtbefinden und nimmt damit gleichsam filternden Einfluss auf die Resonanzfähigkeit gegenüber Eindrücken aller Art: »Weil Kälte zu dieser ungefügten Schroffheit eines absoluten Eindrucks neigt, tritt sie meist befremdend zwischen das Subjekt und die wahrnehmbaren Dinge, lenkt die Aufmerksamkeit eher auf sich als auf diese, denen sich die Wärme leichter anschmiegt« 3.
Sie wirkt auch insofern auf die mikrologischen Detailbeschreibungen ein, als das Kälteempfinden so stark gewesen sein muss, dass es sich gegenüber anderen Eindrücken behaupten und diese schließlich grundieren konnte. Die erlebte Kälte hat in einer gewissen Weise wie ein Widerstand fungiert, der nur jene betroffen machenden Wahrnehmung gleichsam hat passieren lassen, die eindrucksmächtig genug waren, um – trotz leiblich angreifenden Frierens – spürbar zur Geltung gelangen zu können.
5.1.2 Ruhe – Ordnung – Stille Die unter 5.1 wiedergegebenen Beschreibungen werden einem differenzierteren Verstehen auf dem Hintergrund von Umrissen einer Phänomenologie der Stille leichter zugänglich. Diese sollen daher im Folgenden im Rückbezug auf die obigen Konkretisierungen skizziert werden. Deren Erträge werden sich auch in der Reflexion den beiden weiteren Mikrologien (Kapitel 5.2 und 5.3) als nützlich erweisen. Stille steht nicht im Zentrum alltäglicher Aufmerksamkeit. Ihre Wahrnehmung gehört eher zu den leicht der Esoterik verdächtigen Atmosphären. Schon gar nicht lässt sich die Ökonomie kapitalistischer Systeme in ihrem barbarischen Wettbewerb und Verdrängungskampf im Modus der Stille zum Erfolg führen. Stille hat in westlich-kapitalistisch geprägten Kulturen ihre speziellen Nischen3
Ebd., S. 212 f.
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Orte. Eines ihrer mythisch verklärten Milieus ist der dunkle und tiefe Wald, ein anderes das windstille, offene Meer. 4 Während die Medien der Waldes-Stille die Tiefe und das Halbdunkel sind, ist es beim Meer neben der Weite die Wind-»Stille«. Diese ist zunächst nur eine meteorologische Ruhe (als systemischer Ordnungszustand). Unter bestimmten Umständen einer Reihe anderer Umgebungsqualitäten kann sie auch eine atmosphärische Qualität vermitteln. Wenn Schmitz von der »zarte[n] Stille in der Natur« 5 spricht, so deshalb, weil mit Stille oft das Fragile und Flüchtige assoziiert wird. Stille kann aber auch zu einer beträchtlichen Stimmungsmacht werden. Unter deren Einfluss bahnen sich besonders Situationen der Kontemplation an. Ein in seiner ganzen Aufmerksamkeit auf sich Gerichteter geht dann »in sich«, ist also in seinem Stille-Empfinden dem turbulenten und hektischen Großstadttreiben um sich herum kaum noch zugewandt. Kontemplation hat viel mit Ruhe im psychologischen Sinne zu tun. Wie das Beispiel der über dem Meer »liegenden« Windstille zeigt, ist die Bedeutung der Stille etymologisch eng mit der der Ruhe verknüpft. Aber dies sind nur Nähen, Nachbarschaften und Verzahnungen; eine Isomorphie der Bedeutungen gibt es nicht. Das illustrieren auch die verschiedenen Stille-Mikrologien in diesem Kapitel (5.1, 5.2 und 5.3) in vielen Bemerkungen zum situativen Raumerleben. Auch auf dem Niveau dieser Beschreibungen wird sich schließlich zeigen, dass die die Stille vermittelnde Ruhe nichts Einfaches im Sinne eines Einfältigen ist, Ruhe sich dagegen als vieldeutig erweist und auf ganz unterschiedliche Weise in Beziehung zur Stille steht. Diese Beziehung kann mitunter so eng werden, dass die Ruhe selbst sogar spezifische Erlebnisformen der Stille zum Ausdruck bringt: »Leb also in stiller Ruh« 6. Stille Ruhe ist ein in sich gleichsam versunkenes und darin ruhiges Beharren – etwa im Unterschied zur Ruhe, wie sie der Arzt einem Kranken verordnet. Deshalb kommt »verinnerlichte« Ruhe auch dem Bedeutungshof der Stille sehr nahe. 7 Wenn sich – am Beispiel einer Kirche oder eines Kirchhofs – das Erhabene mit der Bedeutung der Ruhe verbindet, so schwingt selbst hierin die der Stille
4 5 6 7
Zur Windstille s. auch Kapitel 6.1.1. Schmitz, Der unerschöpfliche Gegenstand, S. 337. Grimm / Grimm, Deutsches Wörterbuch, Band 14, Sp. 1419. Vgl. ebd., Sp. 1423.
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schon mit. 8 Aber auch in der profanen Welt vermitteln bestimmte Formen der Ruhe eine Atmosphäre der Stille: »Ruhig ist’s, still auf den Straßen« 9. Die hier gemeinte Ruhe hat atmosphärischen Charakter und geht weit über das hinaus, was allein mit dem »Fehlen« von Lärm gemeint sein könnte. Atmosphärische Ruhe dieser Art bezieht sich nur am Rande auf akustische Merkmale, im Wesentlichen dagegen auf einen spezifischen Rhythmus des urbanen Straßenlebens. Schließlich gibt es Stille-Bedeutungen, die wiederum eher mit einer prozesshaft verstandenen Situationen der Ruhe in Verbindung stehen, wie das »stille« Geschäft, in dem der Handel zum Erliegen gekommen ist. 10 Auch die Rede von einem »stillen Land« 11 verweist eher auf zuständliche Ruhe im Sinne von Friedlichkeit als auf etwas Akustisches. Wer etwas auf stille Weise tut, macht es »ohne Aufsehen« 12, was wiederum nichts mit Ton und Geräusch zu tun hat, sondern den Wesenszug eines Menschen in einer Situation zur Geltung bringt und die Art und Weise umschreibt, in der jemand etwas tut. Um das Merkmal eines charakterlich-zuständlichen Stimmungsgrundes geht es auch in der Metapher »stille Wasser sind tief« 13. Die Nicht-Durchschaubarkeit eines Menschen hat in dieser Redensart etwas Verunsicherndes, mitunter Beunruhigendes und Vorsicht Gebietendes. Die Bedeutung solcher Stille verweist auf eine strukturelle Ausdrucksarmut, einen »Mangel« an Ausdruck, der auch einen Wunsch nach Transparenz zur Geltung bringt. Es sind dies oft Charaktere, die wenig Aufhebens um sich und etwas machen, das sie tun. Eng mit dieser stillen Abwesenheit verwandt ist der (heimlich gehegte) »stille Wunsch« 14. Dagegen gibt er in der Art und Weise, wie er »im Stillen« gehegt wird, keinen Anlass für Befürchtungen wie bei der still und heimlich betriebenen Intrige. Eines verbindet all diese so verschiedenen Formen »stillen« situativen Da-Seins; es sind spezifische Formen der Lebensführung, und darin stehen sie der Stille des Todes krass entgegen. 15
Vgl. ebd. Ebd., Sp. 1439. 10 Ebd., Band 18, Sp. 2947. 11 Ebd., Sp. 2960. 12 Ebd., Sp. 2957. 13 Ebd., Sp. 2944 14 Ebd., Sp. 2982. 15 Vgl. Dürckheim, Japan und die Kultur der Stille, S. 8. 8 9
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Die Stille als »Stätte des Todes« 16 ist insofern von geringerer phänomenologischer Bedeutung, weil sie als kulturelle und religiöse Vorstellung einer metaphysischen Seinsweise (gleichsam im Nichtsein) jeder Erfahrbarkeit entzogen ist. Aber das Bedeutungsfeld der Totenstille reicht in das Erleben profan- und sakralräumlicher Situationen hinein. So verdichtet sich im Begriff der »Totenstille« das abgründige Schweigen angesichts einer religiösen bzw. mythisch imaginären Stille des Numinosen. Die Totenstille steht aber insofern durchaus in der Mitte des weltlichen Lebens, als sie sich über die mythische Verwobenheit des Todes für die atmosphärische Vorstellung einer unheimlichen Stille anbietet, die der Atmosphäre des Halbdunkels nahe steht. 17 Diese schillernden Bedeutungen des Stillen und der Stille sind in je eigener Weise und atmosphärischer Dichte im räumlichen Erleben der hier zur Diskussion stehenden Mikrologien lebendig. Während sich über das Halbdunkel in sakralen Räumen eine religiös verklärte Stille zu spüren gibt, vermittelt die ausgeprägte Helle, hier am Beispiel eines menschenleeren Inselstrandes (s. Kapitel 5.3), in Räumen der profanen Welt mitunter eine Stille-Erfahrung ohne Gott, gleichwohl auf der Grenze zum Göttlichen. Nach Rudolf Otto, der 1917 Grundlegendes über das atmosphärische und darin gefühlsmäßige Erleben des Göttlichen verfasste, bedarf es zur numinosen Atmosphärisierung des sakralen Raumes eines gewissen Halbdunkels. 18 Mehr noch als das Dunkle hat dieses zunächst eine die Wahrnehmung dämpfende Wirkung. 19 Nach Otto steht es in seiner mystischen Wirkung dem Schweigen und damit der Stille nahe. Mit besonderer suggestiver Eindrucksmacht vermittelt das Halbdunkel das Mystische; durch das Schweigen (das im kirchlichen Raum programmatisch geboten ist) wird die Eindrucksmacht der Stille oft noch gesteigert. In der Atmosphäre sakraler Grimm / Grimm, Deutsches Wörterbuch, Bd. 18, Sp. 2962. An dieser Stelle sei die fernöstliche Bedeutung des Schattens und des Dunklen als Ort meditativer Stille ausgeklammert; vgl. Jun’ichiro, Lob des Schattens. Ich werde an späterer Stelle hierauf zurückkommen; vgl. Kapitel 7. 18 Darin liegt ein Grund, weshalb sich in lichtdurchfluteten protestantischen Kirchen keine numinose Atmosphäre konstituieren kann. Martin Luther wollte ja programmatisch auf solche Mittel des Bauens verzichten, weil er der Meinung war, die Gläubigen bedürfen zu ihrer Vergemeinschaftung allein der leiblichen Zusammenkunft. Dass sich diese steile konstruktivistische These – nach Jahrhunderten – im Erleben der Menschen nicht bestätigen sollte, ist mittlerweile selbst den Liturgen unter den Protestanten bewusst. 19 Vgl. Otto, Das Heilige, S. 81. 16 17
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Räume verbindet sich das Numinose je nach der Intensität seines Erlebens auch mit dem Gefühl des Ungeheuerlichen, Unfasslichen und Unerwartbaren. Der sakrale Raum bedarf zur Steigerung seiner atmosphärischen Immersivität eines ganzen Verbundes einschlägig wirkmächtiger Eindrücke. Von grundlegender Bedeutung für das Erleben des Numinosen ist die architektonische Rauminszenierung des Erhabenen. Die Krypta ist gleichsam paradigmatisch der prädestinierte Ort für das Arrangement solch immersiver atmosphärischer Szenen eines abgründig Göttlichen. 20 Dabei verdankt sich das Erhabene ihrer Architektur auch des tiefen Halbdunkels im unterirdischen Raum. Mit Faust pointiert Otto das Ungeheure des Numinosen, das sich gerade dadurch auszeichne, dass es das Fassungsvermögen des Menschen übersteige: »Ergriffen fühlt er tief das Ungeheure.« 21 Stille greift mit situativ je eigenem emotionalem Gewicht an. Dies zeigen auch die drei Mikrologien. Sie ist nichts Äußerliches, das man von sich fernhalten kann wie einen Gegenstand. Als räumlich ergossene Atmosphäre ist sie in einer voluminösen Stofflichkeit zudringlich. Atmosphären »kommunizieren« die ihnen eigenen Bedeutungen über synästhetische Charaktere. So unterscheiden wir zum Beispiel »lähmende oder feierlich-heitere Sonntagsstille, dumpf brütende, bleierne Stille, leere Stille, zarte Morgenstille und friedliche Abendstille« 22. Dies sind keine symbolischen Bedeutungen, sondern sich synästhetisch zu verstehen gebende, leibliche Erlebnisqualitäten. Wenn Stille im Gefühl der Weite empfunden wird, hat sie in erster Linie emotionales Gewicht und Dichte und viel weniger symbolische Eigenschaften. Schwere und Dichte werden leiblich gespürt und nicht in einem semiotischen Sinne als Symbole »gelesen«. 23 Schmitz sieht in suggestiven Eindrucksqualitäten daher auch Masseneigenschaften, die es ebenso beim Schall gibt. Solche Massen sind die Stoffe gefühlsmächtiger Atmosphären. 24 Besonders deutlich wird die leibliche Dimension von Stille-Atmosphären in der drückenden Stille 25 oder dann, wenn die Stille in Nach Bollnow hat eine Begegnung in ihrer Nachhaltigkeit und pathisch berührenden (oft erschütternden Funktion) daher auch existenziellen Charakter; vgl. Bollnow, Begegnung und Bildung. 21 Otto, Das Heilige, S. 51. 22 Schmitz, Band III, Teil 4, S. 624. 23 Schmitz, Band III, Teil 5, S. 53. 24 Vgl. ebd., S. 63. 25 Vgl. ebd., S. 69. 20
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einem von hinten andrängenden Gefühl zudringlich wird (wie in dem in Kapitel 5.1 dargestellten Beispiel). Immer dann, wenn sie in einem um-, an- oder ergreifenden Sinne die persönlichen Gefühle stimmt, wird sie in atmosphärischer Stofflichkeit erlebt: »Ausgeprägte Stille ist ein Stoff.« 26 Stofflichkeit darf dabei nicht physikalisch verstanden werden, wonach man zum Beispiel an Holz, Stein, Eisen oder Wasser denken könnte. Die hier gemeinte Stofflichkeit hat prädimensionalen Charakter – ganz wie die der Atmosphären, die spürbar voluminös herumräumlich da sind, aber nicht vermessen werden können wie die physische Größe eines Gegenstandes. Nicht zuletzt mag es an dieser prädimensionalen Eindrucksmacht liegen, dass »die ergreifende Wirksamkeit atmosphärischer Stille […] zu den eindringlichsten Ereignissen affektiven Betroffenseins« 27 gehört.
5.1.3 Bewegung in der Stille Auf den ersten Blick scheinen »stillstehende« Dinge und zur Ruhe gekommene Abläufe die prädestinierten Medien der Stille zu sein. Beinahe alles, was sich im Raum der Kirche befindet, gehört zu den sogenannten »Immobilien« und wird im Allgemeinen nicht bewegt. Nur wenige Gegenstände werden im Rahmen liturgischer Rituale gleichsam performativ vom einen Ort zum anderen getragen. Die Milieus des Ruhenden und des Lautlosen bzw. des lautlich Gedämpften kommen der Konstitution von Stille auf simultane Weise entgegen. Schon die mindere Intensität von Laut und Bewegung vermittelt auf dem Wege der Synästhesien ein Erlebnisbild ruhiger Ordnung. Es ist in besonderer Weise die Ruhe, die sich in den verschiedenen Bereichen des sinnlich Wahrnehmbaren als wichtiges Medium der Stille erweist. Wie die Stille, so ist auch die Ruhe nicht sichtbar. Auch ist sie nur bedingt »hörbar«, jedenfalls anders hörbar als (positiver) Schall. Vielmehr übertragen sich visuelle und akustische Eindrücke schon im Moment ihres Erlebens ins leibliche Spüren, das wiederum situativ und atmosphärisch disponiert ist. In der akkordartigen Überlagerung von sichtbar Stillstehendem und hörbar Lautlosem intensiviert sich der mächtige Stimmungscharakter leiblich spürbarer Stille. 26 27
Ebd., S. 229. Schmitz, Band III, Teil 2, S. 207.
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Deren Erfahrung setzt aber keine absolute Bewegungslosigkeit voraus. Sehr deutlich hatte sich in den Beschreibungen unter Kapitel 5.1 sogar gezeigt, dass in besonders suggestiver Weise die minimale Bewegung der Flamme einer Kerze die Aufmerksamkeit auf sich zog. Die Stille vermittelnde Ruhe im sakralen Raum wurde durch die Bewegung der Flamme also nicht aufgehoben, sondern noch intensiviert. Das erscheint auf den ersten Blick widersprüchlich, weil es in der Tat eine Bewegung war, die die Bewegungslosigkeit in ihrer atmosphärischen Präsenz unterstrichen hat, so dass die Stille atmosphärisch noch mächtiger werden konnte. Wenn es in der Mikrologie heißt, »außer der Flamme der Kerze bewegt sich im ganzen Kirchenschiff nicht das mindeste«, so kommt besonders der raren Bewegung eine zeigende bzw. hinweisende Bedeutung zu. Dieser Zusammenhang verstärkt sich noch einmal dadurch, dass es nicht ein zum Beispiel pendelnder Gegenstand ist, der sich bewegt, sondern die halbdinghafte Flamme einer Kerze. Stets spricht das Licht – hier das lebendige Licht einer Kerze – in geradezu immersiver Weise die Gefühle der Menschen an. Das im sonst bewegungslosen Raum flackernde Licht verdichtet in seiner leiblichen Ansprache die atmosphärische Stille im sakralen Raum. Es geht im Stille-Erleben nie um absolute Bewegungslosigkeit (als Ausdruck starrer Ruhe), sondern um relative Bewegungslosigkeit. Das Maß dessen, was in der Art und Weise einer Bewegung dem Stille-Erleben entgegen kommt, bezieht sich auf keine statische oder fixe Norm. Welche Bewegung ein Stille-Erleben fördern kann, hängt ganz von der konkreten und aktuellen Situation existierender und zueinander in Beziehung stehender Atmosphären ab. Während die emsländische Pfarrkirche St. Nikolaus in Gänze menschenleer und ihre Atmosphäre durch völlige Lautlosigkeit und beinahe totale Bewegungslosigkeit im Herumraum gestimmt war, wird sich im nächsten Beispiel der großen Renaissance-Basilika Sankt Michael in München ein höherer Grundpegel des Motorischen und Lautlichen zeigen. Je nach einer örtlichen Situation sind Profile eines gewissen »Hintergrundrauschens« sinnlich gegenwärtig, über die sich ein atmosphärischer Raum geradezu konstituiert. Diese sinnlichen »Profile« setzen auch den (atmosphärischen) Maßstab, wonach ein »unruhiger« Eindruck der Stille entgegenzukommen oder aber auch sie zunichte zu machen vermag. Nicht jede Bewegung, nicht jedes Geräusch, das auf dem Hintergrund relativer Ruhe vernehmbar wird, muss also die charakteristische Atmosphäre eines Raumes ver127 https://doi.org/10.5771/9783495813690 .
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stärken. Je empfindlicher diese gegenüber »Störungen« ist, desto leichter kann sie durch einen verfremdenden Eindruck auch aufgehoben werden. Die hohe Bedeutung relativer Bewegungslosigkeit hat ihren Grund als Medium der Stille darin, dass »Bewegung und Laut ursächlich zusammengehören« 28, in der Erlebniseinheit direkt auf Ruhe-Atmosphären einwirken und in der Folge die Erlebbarkeit von Stille fördern können. Etwas Unbewegtes, oder in langsamer Bewegung Befindliches wird als ruhig empfunden 29, etwas Schnelles als unruhig. Eine Reihe etymologischer Befunde aus der Alltagssprache aber auch aus verschiedenen Fachsprachen bekräftigt diesen Zusammenhang. Wenn es heißt, »still wie ein Stock oder ein Stein« 30, so sind es die unbewegten Dinge, die in ihrer Bewegungslosigkeit einen Eindruck der Stille bedeuten. Das gilt noch für die bildhauerisch-ästhetische Gestaltung, die aus dem Stein eine Skulptur macht (»in der stillen Steinwelt [der Statuen]«) 31, wenn es auch nun nicht die motorische Bewegungslosigkeit der steinernen Statue ist, die die Stille evoziert, sondern die in der Starre der Gestalt vorscheinende Abgründigkeit des Ewigen, die sich symbolisch mit dem Stein verbindet, dem Menschen in der Begrenztheit seines Lebens aber fern bleibt. In der Seefahrt gilt das Meer als still, wenn die Luft windstill und die Oberfläche der See arm an Bewegungen ist. Ruhig ist die See also dann, wenn sie sich beinahe nicht bewegt oder die Wellen nur flach und »ruhig« dahinrollen. Ist das Wasser dagegen spiegelglatt, bewegt sich also weder der Wind noch die See, drückt sich in dieser meereslandschaftlichen Physiognomie zwar auch eine Stille aus; doch sitzt dieser dann die Bedeutung der Totenstille auf. Ebenso ist die »gute« Ordnung des täglichen Lebens nicht still in diesem Sinne. Sie entfaltet sich vielmehr in der produktiven Lebendigkeit einer zumindest mäßigen Dynamik. Gänzliche Ruhe kippt allzu schnell ins Totenstille und Dystopische. Zur Zeit der »alten Seefahrt«, in der es nur Segelschiffe gab, lauerte in der totalen Ruhe über dem Wasser der offenen See der Tod. Im maximalen Ordnungszustand unbewegter Ruhe ist nur wenig lebendig. Dieser Bedeutung ist auch die Redewendung von
28 29 30 31
Grimm / Grimm, Deutsches Wörterbuch, Bd. 18, Sp. 2940. Ebd. Ebd., Sp. 2941. Ebd.
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der letzten Ruhe bzw. der Ruhe im Tod 32 verwandt. Deshalb steht die Ruhe dem Nachlassen einer Bewegung, Anstrengung, Arbeit etc. im Sinne der Pause und Rast 33 näher als dem völligen Erlöschen letztlich Lebendigkeit verbürgender Bewegungen. Eine willkommene Ruhe ist auch jene, die einem »gelassen« wird oder die man »vor« etwas hat. 34 Auch diese hat den Charakter einer Unterbrechung oder Pause – vom Ende aller Bewegung kündet sie nicht. Jede Unterbrechung einer existenziell bedeutsamen oder die Existenz tangierenden Bewegung ist nur so lange lebensbejahend, wie sie in ihrer Dauer begrenzt ist. Und so keimt in der zur Stille sich dehnenden Ruhe schon die neue Ausrichtung von Bewegung sowie der Aufmerksamkeit auf etwas. Das in der Ruhe Beharrende bleibt an den Gegensatz der Bewegung gebunden. 35 Auch deshalb ist es insbesondere das Langsame (wie im Übrigen das Halbdunkle und Leise), das das Lebendige bezeugt und damit einer vitalen Form der Stille nahe steht. Daher nennt man, was langsam fließt, auch etwas still Fließendes. 36 Besonders im Sitzen öffnet sich ein Weg »in« die Stille. Zwar ist das Sitzen selbst im engeren Sinne keine Form der Wahrnehmung, aber eine Haltung, die die Aufmerksamkeit der Wahrnehmung disponiert. Im Still-Sitzen sieht Dürckheim daher die Quellkraft der Stille. 37 Die Haltung des Sitzens (das Sitzen als körperliche und leibliche Haltung) disponiert die sich sammelnde Konzentration auf das eigene Selbst-Sein (vgl. auch Kapitel 7.5.2). Diese Konzentration mündet nie in die reine Innerlichkeit. »Innerlichkeit muß sich äußern« 38, entweder habituell oder, wie in den hier ausgeführten Beispielen, in der sprachlichen Explikation. Daneben öffnet sich im bildnerischen Gestalten eine weit in die Kulturgeschichte zurückreichende Tradition des Ausdrucks »innerlich« erlebter Stille. Dieses Kapitel mit drei Mikrologien zur Stille ist das erste, in dem Fotografien der annotierenden Konkretisierung tatsächlicher Räume, von deren Erleben die Mikrologien handeln, dienen. Sie sollen das bessere Verstehen atmosphärischer Räume der Stille unter32 33 34 35 36 37 38
Vgl. ebd., Bd. 14, Sp. 1421. Ebd., Sp. 1418. Vgl. ebd., Sp. 1419. Vgl. ebd., Sp. 1422. Ebd., Bd. 18, Sp. 2943. Vgl. Dürckheim, Der Alltag als Übung, S. 53. Brantschen, Weg der Stille, S. 144.
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stützen. Darstellen können sie sie nicht. Der Band 3 der Mikrologien wird sich explizit der Frage zuwenden, welche Ausdruckspotentiale sich in phänomenologischer Sicht in der Explikation situativen Erlebens mit dem Mittel der Fotografie eröffnen.
5.1.4 Räumlichkeit der Stille Die Mikrologie des Kapitels 5.1 enthält einige Hinweise zur Übertragung architektonischer Merkmale eines Kirchenschiffes ins eigenleibliche Befinden. Auch darin drückt sich die Räumlichkeit der Stille in ihrer Vermitteltheit durch Sachverhalte im tatsächlichen Raum recht konkret aus. Auf dem Wege der Gestaltverläufe und Bewegungssuggestionen übersetzen sich in gewisser Weise die räumlich relationalen Ordnungsstrukturen des gebauten architektonischen Raumes in das leiblich gestimmte Gefühl, in besonderer Weise in einem Raum zu sein. Stille wird darin zunächst im herum-wirklichen Gefühl einer atmosphärischen Stimmungsqualität empfunden. Mit seinem Begriff des »Herumwirklichen« hob Dürckheim auf die stimmende Macht räumlich präsenter Vitalqualitäten ab – wozu auch die Stille gehört. Atmosphären der Stille werden mit keinem »einzelnen« Sinn wahrgenommen, vielmehr simultan über plurale Wege der sinnlichen Wahrnehmung erfasst und leiblich gespürt. Schon Friedrich Nietzsche hob diese Simultaneität der leiblichen Wahrnehmung hervor: »Der Leib ist eine große Vernunft, eine Vielheit mit Einem Sinne, ein Krieg und ein Frieden, eine Heerde und ein Hirt.« 39
Nur im Fokus des Konstruktivismus müsste man von einer neuronalen Belieferung des zentralen Nervensystems mit Sinnesdaten sprechen. Das leibliche Spüren von Atmosphären der Stille ist aber nicht in erster Linie ein körperlicher und auch kein neuronaler Prozess. Es geht ja nicht um etwas Physisch-Stoffliches, das sich im Milieu der Atmosphären zu spüren gäbe, sondern um etwas AtmosphärischStoffliches. Stille ist in ihrer wahrnehmbaren prädimensionalen Mächtigkeit ein umwölkendes Gefühl, das sich unterschiedlichster Eindrücke verdankt. Auf die Bedeutung der Ruhe, der Bewegung bzw. (relativen) Bewegungslosigkeit wurde bereits hingewiesen. Stille 39
Nietzsche, Sämtliche Werke, Band 4, S. 39.
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steht daneben in einer Beziehung zum Licht und zum Lautlichen (s. dazu auch Kapitel 5.1.5). Auch diese Modalitäten der Wahrnehmung haben insofern räumlichen Charakter, als alle leiblich vernehmbaren Eindrücke zwischen Gefühlen der Enge und der Weite empfunden werden. Mit einem Zitat von Hans Lipps weist Schmitz auf die Stille als atmosphärisch erlebbare Ordnung hin. Eine solche Ordnung drückt sich zum Beispiel in der Stille des Sonntags aus, »in der angehalten ist, was sonst die Straßen füllt [… und …] sich lähmend auf einen legen kann« 40. Diese Situation unterscheidet sich von der des tagtäglichen Lebens in den Stadtstraßen. Das urbane Treiben, das an Werktagen die Straßen flutet, folgt einem lebendigen bis hektischen Rhythmus. Von der Situation der – zumindest durchgängigen – Stille ist der Rhythmus turbulenten städtischen Lebens weit entfernt. Würde sich tatsächlich zur Hochzeit des Geschäftslebens Stille ausbreiten und zudem atmosphärisch behaupten, wäre eine Ruhe zu befürchten, die jede urbane Lebendigkeit aufheben müsste. 41 In der profanen Welt der Stadt ist die Stille etwas Besonderes. Und so bringt sie in ihrer atmosphärischen Immersivität keine alltäglichen Normalzustände zur Geltung. Der Raum der Stadtstraßen ist in seiner relationalen Ordnung weitestgehend 42 neutral gegenüber den ihn durchströmenden urbanen Rhythmen. Das gilt aber nicht im umgekehrten Sinne. Die sich in ein und demselben tatsächlichen Stadtraum in vielfältigen Ausdrucksgestalten konstituierenden atmosphärischen Räume suggerieren höchst unterschiedliche Welten. Der atmosphärische Charakter der Stille unterscheidet sich von anderen Atmosphären durch eigene Mächtigkeit. So ist der Atmosphäre der Stille eine spezifische Weite des Raums eigen, die sich deutlich unterscheidet von der leiblichen spürbaren Vitalqualität der Atmosphäre urbaner Lebendigkeit oder der Fröhlichkeit auf einem innerstädtischen Festplatz. Wenn Schmitz in der Atmosphäre der Lipps, zit. bei Schmitz, Band III, Teil 2, S. 99. Zur Bedeutung der Lebendigkeit im Konzept und Phänomen von Urbanität vgl. auch Hasse, Der Leib der Stadt. 42 Es soll an dieser Stelle nicht weiter vertieft werden, in welcher Weise auch der Rhythmus der die Stadtstraßen durchströmenden Aktivitäten Rückwirkungen auf die Ordnungen im relationalen Raum hat; letztlich sind es doch zahllose Dinge, die mit den Bewegungen der Menschen von einem relationalen Ort zum anderen bewegt werden. So wirken auch die in hohem Maße atmosphärischen Bewegungen im Raum auf dessen dingliche Ordnung zurück. 40 41
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Räume der Stille
Stille die spürbare Präsenz einer »gestauten Mächtigkeit« ähnlich einer Gewitteratmosphäre 43 sieht, so kommt darin etwas eigenartig Räumliches zur Geltung. Von der mächtigen Stauung einer Atmosphäre geht ein andrängender und umschließender Einfluss aus, der sich der synästhetischen Wirkung eines prädimensionalen Volumens verdankt. Besonders deutlich wird die spürbare Anwesenheit prädimensionaler atmosphärischer Volumen auch in der Rede von bleierner Stille, die an das simultane Mit-Spüren einer schweren Masse appelliert. »Diese Stofflichkeit der phänomenalen Stille ist ihrer Dichte, ihrem Gewicht und ihrer Weite zu verdanken.« 44 Stille schafft Weite. 45 Auch die obige Beschreibung (s. Kapitel 5.1) stellt Bezüge zum Weiteraum her, wenn die theoretische Aufmerksamkeit in der Reflexion dann auch wieder aus dem Weiteraum heraus in bestimmte Richtungen der thematischen Fokussierung führt. In einer aktuellen Situation räumlichen Erlebens sind es oft die Blicke, die eine Richtung in die Weite bahnen – zum Beispiel auf den halbgeschlossenen Raum der Apsis oder die Bögen über den seitlichen Arkaden. In solcher Aus-richtung der Aufmerksamkeit auf etwas werden zentrifugale Richtungsvektoren aufgespannt. 46 In der Beschreibung findet sich aber auch ein Hinweis auf eine zentripedale Richtung. Darin wird der Unterschied zwischen einer Stille beschrieben, die »vorne« an der »sichtbaren« Bewegungslosigkeit der Dinge und Halbdinge im Raum gleichsam »gesehen« werden kann und einer Stille, die von »hinten« aus dem lautlosen Nichts kommt. Diese spürbar von hinten kommende Stille bahnt sich gleichsam auf zentripedalen Vektorbahnen einen Zugang zum leiblichen Raumerleben. Dass sie als stärker und mächtiger empfunden wird, denn jene quasi-sichtbar zur Geltung kommende Stimmung, liegt am Geheimnisvollen und Rätselhaften dessen, was sich in der Situation des ruhigen Dasitzens in einem unsichtbaren »Hinten« gleichsam aufbaut. So kommt der Eindruck zustande, dass die Stille aus zwei Richtungen in unterschiedlichen Intensitäten spürbar wird und nicht richtungslos räumlich ist wie das Gefühl der Heiterkeit oder der Trauer. Von vorne kommend lenkt die Stille schon dadurch von sich ab, dass die sie ver43 44 45 46
Vgl. Schmitz, Band III, Teil 2, S. 203. Ebd., S. 204. Vgl. Schmitz, Band III, Teil 4, S. 639. Vgl. Schmitz, Der unerschöpfliche Gegenstand, S. 300.
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Stille, die von hinten kommt
mittelnden räumlichen und dinglichen Arrangements die Aufmerksamkeit auf sich ziehen. Dagegen wird die von hinten kommende Stille als reines Nichts in einer beunruhigenden Macht spürbar. Was sich in einem Raum des »Hinten« befindet, ist dem Dunklen ähnlich. In dieser Situation muss die Wahrnehmung auf visuelle Eindrücke ganz verzichten.
5.1.5 Das Lautliche »in« der Stille Wie die rare Bewegung die motorische Ruhe in der Stille hervorhebt, so ist für die lautliche Ruhe das kaum noch hörbare Geräusch eine von mehreren Voraussetzungen für die Konstitution von Stille. Deshalb ist es auch in besonderer Weise Sache der Musik, klangliche Räume der Stille durch ihre eigene Unterbrechung zu schaffen. Stille entsteht dann dadurch, dass die Musik zunächst eine Klangkulisse aufbaut, die im Moment der Unterbrechung – des Innehaltens und Wechsels eines Grundrhythmus’ – die Aufmerksamkeit besonders eindrücklich weckt. Solche »Pausen« (die im engeren Sinne gar keine Pausen, sondern produktive Unterbrechungen sind) gehen also nicht ins Leere; vielmehr führen sie geradewegs in die Intensivierung eines KlangErlebens wie dessen Bewusstwerdung und in der Folge in die Gewahrwerdung einer programmatischen Stille, die letztlich einem musikdramaturgischen Plan folgt. Im Bereich der Lautlichkeit entspricht solche Unterbrechung ganz dem, was im höfischen Tanz zur Zeit der Renaissance die Posa bezweckte. Als förmliche Unterbrechung intensivierte sie das Bewusstsein für einen ablaufenden Bewegungsprozess und sensibilisierte für dessen feinsinnige Fortführung. 47 Stille wird auf dem Hintergrund lebensweltlicher Redekonventionen und -gewohnheiten meistens zunächst mit Lautlosigkeit assoziiert. 48 Das täuscht darüber hinweg, dass es – wie eben beschrieben – Die Posa war nicht nur eine formale choreographische Unterbrechung eines Bewegungsablaufes im Tanz, sie war ein Prozess, »den ich in einer Vielfalt von Haltungen zwischen den einzelnen Schrittfolgen vollzog.« Die Unterbrechung diente also der Ansprache des Bewusstseins einer habituell notwendig immer wieder herstellungsbedürftigen Ganzheit einer choreographischen Figur: »Die Bewegungen in sich geschlossener Schrittperioden kamen an den Punkten des Einhaltens zwischen ihnen nicht zu einem Ende, sondern wurden auf sie selbst und auf das Folgende reflektiert.«; zur Lippe, Vom Leib zum Körper, S. 275. 48 Im Sinne der sprichwörtlich »lautlose[n] Stille«; Schmitz, Band III, Teil 4, S. 239. 47
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Räume der Stille
auch eine gegen das Hörbare beharrende Stille gibt, die sich so lange gegen die Eindrücklichkeit von etwas tatsächlich lautlich Hörbarem behaupten kann, bis die Intensität von Tönen und Geräuschen die Aufmerksamkeit ganz in Anspruch nimmt. Gegenüber allzu lauten Umgebungsgeräuschen führt auch der Augenschluss nicht mehr zur Rettung des Stille-Erlebens. Im Allgemeinen ist der Augenschluss »ein Mittel, sich in gesammelte Stille – die von körpereigenen Geräuschen wie dem Ohrensausen keineswegs durchbrochen wird – zurückzuziehen.« 49 Die Atmosphäre im Inneren der Rheder Pfarrkirche wird indes als so lautlos beschrieben, dass schon ohne den Augenschluss Bewegungen im organischen Körperinneren (zum Beispiel des Atmens) hörbar werden, wenn dies auch mehr ein spürendes als ein hörendes »Hören« ist. Etwas Lautes ist auch deshalb so immersiv und eindrücklich, weil es in viel nachhaltigerer Weise affiziert als etwas Sichtbares. Ähnlich wie der Geruch drängt es an und versetzt den spürenden Leib als Resonanzmedium bewusst und spürbar in Erregung. 50 Diese steht der tendenziell kontemplativen Hinwendung zur Stille dann krass entgegen. Wir sprechen also nicht nur dann vom »Hören«, wenn wir im akustischen Sinne etwas vernehmen. Deshalb verbindet sich in der Etymologie das Hören auch mit ambivalenten Bedeutungen des Verstehens. Der Knecht, der die Anordnung seines Herren nicht »hörte« (oder – mehr noch – nicht hören wollte) 51, galt als störrisch oder widerspenstig. Auch bei einer Nachricht, die sich »hören lässt« 52, kommt es nicht auf das lautliche Hören an, sondern darauf, dass sie als gute Nachricht gilt. Auch das Hören von Stille geht von einem anderen Wahrnehmungsverständnis aus. Dabei kommt es nicht auf ein Hören im engeren Sinne an, wonach man etwas eben sehr laut oder ganz leise hören kann. Das Hören von Stille ist aber auch nicht in einem rein atmosphärischen Sinne zu verstehen, weshalb Schmitz anmerkt: »Während es absurd wäre, die Geruchlosigkeit riechen zu wollen, kann man die Stille hören, weil diese ein akustisches Phänomen von gleicher Fülle wie der Schall ist, den sie an Aufdringlichkeit ein- und überholen kann.« 53 Gleichwohl wird hier doch nur eine Ebd., S. 632. Vgl. auch Gosztonyi, Grundlagen der Erkenntnis, S. 80. 51 Hier steht das Hören für eine aufmerksame Hinwendung; vgl. Grimm / Grimm, Deutsches Wörterbuch, Band 10, Sp. 1810. 52 Ebd., Sp. 1809. 53 Schmitz, Band III, Teil 2, S. 203. 49 50
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Ästhetizistisch »überbaute« Stille
Facette der Stille betont, nämlich die, die der lautlichen Ruhe nahe steht. Mächtiger als der akustische Ruhe-Pol der Stille ist die atmosphärische Macht der Stille, die sich »gegen« manches Geräusch zu behaupten vermag. Ihre besondere Mächtigkeit geht dann nicht auf etwas Akustisches zurück, sondern auf die ein Individuum erfassende Stimmungsmacht der Stille, die eine Person stärker auf sich selbst richtet als zum Beispiel auf den störenden Eindruck einer akustischen Emission. Stille ist also nur zunächst eine Privation, ein lautlicher Entzug. Deshalb treten in der Mikrologie (s. Kapitel 5.1) auch entsprechende Verknüpfungen im Erleben von akustischer Ruhe als Bedingung des Erlebens von Stille so stark hervor. Wie sich schon bei der raren Bewegung zeigt, so sind auch leise Klänge eher fördernde Medien der Gewahrwerdung von Stille als deren Feind. Stille wird oft dann besonders intensiv erlebt, wenn sie durch ein hintergründiges oder sporadisches Geräusch kontrastiert wird. Indem also etwas zu hören ist und dieses spärlich Hörbare das Wesen der Stille noch herausstreicht, relativiert sich der privative Charakter der Stille. 54 Und so betont Schmitz: »Die Stille ist so wenig ein solcher Mangel, daß sie sogar noch verharrt, wenn dieser gar nicht mehr besteht.« 55 Gegen den Charakter der Privation spricht auch diese Steigerungsfähigkeit von Stille. Mit Sören Kierkegaard führt Schmitz als Beleg die folgende Textstelle an: »Dort wächst die Stille so wie der Schatten, wie das Schweigen wächst: eine beschwörende Zauberformel!« 56 Auch bei Martin Heidegger heißt es: »Die Stille wird mit seinem letzten Schlag [dem des »Stundenhammers«, JH] noch stiller.« 57 In der Konsequenz heißt dies, dass die Stille durch lautliche Ruhe zwar gefördert wird, ihrer letztlich aber gar nicht bedarf (vgl. dazu auch die Mikrologie des Wartens in Kapitel 7.5.1).
5.2 Ästhetizistisch »überbaute« Stille In der Fußgängerzone der Münchner Innenstadt steht die zwischen 1583 und 1597 im Stil der Renaissance errichtete Jesuitenkirche 54 55 56 57
Vgl. ebd., S. 201. Ebd., S. 202. Ebd. Heidegger, Der Feldweg, S. 6.
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Sankt Michael. 58 In seiner Erscheinung erinnert das Gebäude eher an ein spätmittelalterliches Rathaus als an einen Sakralbau. Indes gibt sich die theologische Programmierung der Fassade über zahlreiche Wand- und Giebelfiguren zu verstehen, die aus der christlichen Mythologie stammen (s. Abb. 5). In der Mitte der pulsierenden bayerischen Landeshauptstadt bietet sich die Kirche als »Ort der Stille« an. Schon im ersten Moment des Eintretens 59 breitet sich der sakrale Raum der Jesuitenkirche Sankt Michael in einem atmosphärischen Gefühl besonderer Mächtigkeit aus. Der Innenraum wird schlagartig als ein umschließendes Milieu erlebbar. In seiner offenen, säulenfreien Höhe und einem daraus resultierenden Eindruck der Größe suggeriert der Raum ein Weite-Gefühl, das in der lichten Offenheit des Herums stumm macht. Offenheit und Weite vermitteln sich aber nicht nur durch Höhe und Größe, sondern auch durch die in der säulenfreien Halle schlagartig sich aufdrängende Übersichtlichkeit der Struktur des Raumes. Diese steigert den herumräumlichen Eindruck der Größe ins atmosphärisch Mächtige. Mit dem Betreten des Sakralraumes wird die Aufmerksamkeit geradezu in eine Richtung »gezwungen«, die durch den ganzen Raum »hindurchgeht« und unmittelbar auf den Chor und den Hochaltar führt, der in der Apsis seine ganze ästhetische Pracht entfaltet (s. Abb. 6). Zugleich öffnet sich eine Richtung der Aufmerksamkeit, die in die Höhe des Tonnengewölbes aufsteigt und wie eine Bewegung spürbar wird. In der Haupthalle ist das Gewölbe durch Kassetten und Ornamente gegliedert. Der Hochaltar schließt den tiefen Chor mit seinem Gestühl ab. Zwischen den Säulen der Apsiden nehmen die Wände die Figuren der zwölf Apostel auf. Die Deckensegmente sind mit figuralen Gemälden ästhetisiert. Die Apsis wird von dem goldenen bis ins Deckengewölbe aufsteigenden Hochaltar bestimmt. Der Chor beeindruckt durch seine Tiefe. Aufgrund dieser Ausdehnung wirkt er weniger als räumlicher Abschluss, denn als eine mächtige, in die Tiefe des Raumes gehende Verlängerung des Kirchenschiffs – und fasziniert auf anziehende und zugleich Distanz gebietende Weise. Im gesamten Langhaus liegen vor den kurzen Querschiffen, die die Das riesige Tonnengewölbe der Jesuitenkirche ist bis in die Gegenwart das zweitgrößte freitragende der Welt. Das Hauptschiff weist eine säulenfrei überspannte Breite von 20 Metern auf; vgl. auch Kirchenstiftung, Sankt Michael. 59 Tag und Zeit der Protokollierung: 15. 01. 2015 | 13–14 h. 58
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Ästhetizistisch »überbaute« Stille
Abb. 5: Jesuitenkirche St. Michael in München; Bild: Jürgen Hasse.
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Räume der Stille
Abb. 6: Jesuitenkirche St. Michael; Chor und seitliche Absiden; Bild: Jürgen Hasse.
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Ästhetizistisch »überbaute« Stille
Abb. 7: Jesuitenkirche St. Michael; Grundriss (Situation vor dem Zweiten Weltkrieg); Quelle: Staatliches Bauamt München.
nach Norden weisende Kontinuität des linear wirkenden Raumes unterbrechen, auf jeder Seite in je drei nicht sehr tiefen Seitenarmen triumphbogenartig ausgeführte Kapellen mit Altar und Beichtstuhl. Der gesamte Kirchenraum ist architektonisch übersichtlich und klar strukturiert (s. Abb. 7). In seiner ästhetischen Gestaltung ist er so vielfältig ausgearbeitet, dass sich die räumliche Ordnung von Grundund Aufriss erst in der Bewegung im komplexen sinnlichen Raum erschließt. Die unterhalb des Tonnengewölbes liegenden Fenster sind farblos-transparent verglast, so dass alles relativ hell wirkt. Auf die goldfarbenen Säulen und figuralen Gestaltungselemente des Hochaltars fällt das Sonnenlicht breitflächig; dadurch erhöht sich der Glanz in der Apsis noch einmal. Eine Atmosphäre der Stille – noch weit vor ihrer stimmungsmäßigen Verfestigung – entfaltet sich nur in wenigen Momenten. Zwar bahnt sie sich im Eindruckserleben des Erhabenen der Architektur wie des daraus resultierenden Numinosen an; aber sie kann sich in keinem insistierenden Eindruck, in keinem eindrucksmächtig entfaltenden Gefühl behaupten. Sie steht vielmehr in einem permanenten und unentschieden bleibenden atmosphärischen Dialog mit einer dreifach beharrenden Ruhe auf dem Grat. Da ist zum Ersten eine weitgehende Bewegungslosigkeit, die die Atmosphäre im Raum der Kirche beherrscht. Nur wenige Menschen bewegen sich in ihrem offenen Innenraum. Zum Zweiten verharrt die Ruhe im Eindruck relativer Lautlosigkeit, und zum Dritten drückt die architektonische Ordnung des Raumes Ruhe aus. Eine Atmosphäre der Stille kommt nicht 139 https://doi.org/10.5771/9783495813690 .
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zu sich, obwohl die sie ablenkenden Eindrücke prinzipiell ihrer Konstitution entgegenkommen. Wenige Besucher (darunter zahlreiche asiatische Touristen) stören zwar nicht den Eindruck der Ruhe; aber sie irritieren das Erleben aufkeimender Stille. Auch die vielgestaltige und ornamentreiche Renaissance-Ästhetik kommt der Stille-Erfahrung nicht entgegen. Die Vielfalt der Formen und Gestalten fasziniert nicht nur visuell durch vielfaltbedingte Unruhe, sondern auch ikonographisch durch die symbolische Sprache der Bilder. So entsteht eine vielarmige Gestik der Ablenkung, und der sakrale Raum kommt in der Helle des sonnigen Tages in einem Gesicht visueller Beredtsamkeit zur Erscheinung. Es sind insbesondere die zahlreichen Gemälde sowie Wand- wie Deckenbemalungen, die im Chor und in den Seitenkapellen zwischen den Wandpfeilern ans symbolische Verstehen appellieren und damit die Aufmerksamkeit vom eigenen Selbst weglenken und auf äußere Dinge richten. In eindringlicher Weise beansprucht das Gemälde im Hochaltar das denkende Da-Sein im sakralen Raum; es stellt den Kampf des Erzengels Michael mit dem Teufel dar. Die ästhetisch eindrucksmächtige Rauminszenierung fordert in einem beinahe intellektualistischen Sinne das Verstehen religiöser Symbole. Der Konstitution eines Gefühls der Stille als besonderer Form der Selbstgewahrwerdung steht die kolossale Inszenierung eher entgegen (s. Abb. 8). Diese an der Schwelle zur Stille-Erfahrung gleichsam ins Umweltliche »kippende« Atmosphäre verdankt sich einer allein spürbaren, aber nicht hörbaren Ausdrucksqualität. Es ist dies ein anderes Nichts-Hören als man es von jener Lautlosigkeit kennt, die durch ein Ausbleiben von Geräuschen gekennzeichnet ist, welche man zum Beispiel von umhergehenden Menschen erwartet. Aber es sind auch tatsächlich in einem akustischen Sinne hörbare – oft hallende – Geräusche, die der aufkommenden Atmosphäre der Stille sprichwörtlich in die Quere kommen. Zudem geht der Hall mit einer lautlichen Ortsverwirrung einher, weil man nicht genau verorten kann, wo ein Geräusch herkommt. Etwas Hallendes breitet sich eher in »Gegenden« aus und nicht an konkret lokalisierbaren Orten – über Schritte, scharrende Geräusche, das Klacken niederfallender Dinge, leise Stimmen oder das hintergründig dumpfe Schlagen einer Tür. Allein stilleinsistierend ist das Licht einer Kerze im linken Querschiff, das in seiner flackernden, aus sich selbst entstehenden lautlosen Bewegung die Aufmerksamkeit anzieht und eine geradezu hypnotisierende Macht entfaltet. 140 https://doi.org/10.5771/9783495813690 .
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Abb. 8: Jesuitenkirche St. Michael; Hochaltar; Bild: Jürgen Hasse.
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Nichts von alldem, was zur Stille drängt, kann sich in einem atmosphärisch mächtigen Vitalton des Gesamtraumes durchsetzen. Vor allem die Pracht der symbolischen Inszenierung des Raumes bindet den visuellen Sinn in einer so nachhaltigen Weise und bestimmt den Gesamteindruck des sakralen Raumes, dass die Aufmerksamkeit in ihrer emotionalen Ausrichtung beinahe in Gänze mit den Dingen im Raum beschäftigt ist. Ein Selbstbezug der Wahrnehmung, worin Stille als etwas nicht-Visuelles spürbar erst zur Geltung käme, kann sich nicht anbahnen. Stille bleibt fern und damit eine leere Erwartung; sie ereignet sich nicht. Wenn sie sich auch wesentlich (aber eben nur optional) durch eine im tatsächlichen und atmosphärischen Raum erlebbare Ruhe, Ordnung und weitgehende Lautlosigkeit ankündigt, so ist die Macht des Visuellen doch größer als die Ausbreitungstendenz eines stimmungsmäßigen Gefühls der Stille.
5.2.1 Zur Architektur der Jesuitenkirche Sankt Michael Die Mikrologie zum Raum- und Stille-Erleben in der katholischen Jesuitenkirche Sankt Michael wird nachvollziehbarer und in der Interpretation effizienter erschließbar, wenn im Folgenden wenige Bemerkungen zur Architektur der Kirche vorangestellt werden. Die vorbereitenden Reflexionen werden zeigen, in welcher Weise Art und Ausstattung des tatsächlichen Raums sowie dessen bauliche und liturgische Inszenierung das Erleben von Atmosphären der Stille fördern können. Das Bauwerk wurde von 1583 bis 1597 in München im Stil der Renaissance errichtet. Das das Hauptschiff säulenfrei überspannende mächtige Tonnengewölbe weist eine Breite von 20 Metern auf. Unter dem Chorbogen steht der Volksaltar; die Kanzel ist links im Kirchenschiff mit einem Pfeiler fest verbunden. Der Hochaltar schließt den tiefen Chor mit seinem Gestühl ab. An den Wänden befinden sich zwischen den Säulen der Apsiden die Skulpturen der zwölf Apostel. Ein kurzes Querschiff, etwa in der Mitte der Kirche, geht nicht über das Maß der Triumphbögen hinaus. Auch deshalb ist der Innenraum der Kirche übersichtlich gegliedert. Dominant ist indes der nach Norden gerichtete Chor, der etwa ein Drittel der Gesamtlänge des Kirchenschiffes misst (s. Abb. 7). Daneben sind die Triumphbögen bestimmend, die über das gesamte Langhaus vor den Querschiffen 142 https://doi.org/10.5771/9783495813690 .
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auf jeder Seite in drei kurzen Seitenarmen ausgeführt sind (mit Kapellen, Altären und einem Beichtstuhl). Der gesamte Kirchenraum beeindruckt durch architektonische Vielfalt und ausgeprägte formale Regelmäßigkeit. Nach Boullée muss eine große Kirche so angelegt werden, dass die von ihr ausgehenden Eindrücke vergrößert und ausgeweitet werden. 60 Nur dann kann sie sich im Erleben ins Erhabene (was die Architektur betrifft) und ins Numinose (was die Atmosphäre des sakralen Raumes betrifft) steigern. Die besondere Raumwirkung eines Sakralbaus hängt nach Evers auch entscheidend von der Gestaltung des Eingangs ab, 61 der in einer direkten linearen Beziehung zum Hochaltar steht. Der Bogen, der dem Portal in den meisten Fällen seine Gestalt gibt, kann nur dann Hoheit und Macht vermitteln, 62 wenn er symbolisch ausdrucksstark inszeniert wird. Die atmosphärische Wirkung des Portals verdankt sich auch der Größe und Weite seiner Überspannung, die zugleich als aufnehmende bzw. bergende Macht erlebt werden kann. Die überaus klare Raumgliederung der Basilika, dank derer die Größe des Raums so eindringlich erlebt werden kann, hat nach Boullée ihren Vorteil darin, dass die Säulen dem Anblick zwar nie ganz, aber doch weitgehend entzogen sind. 63 So entstehe Größe, die man in einer Basilika anders empfinde als in einer gotischen Kathedrale. Das schwere Tonnengewölbe komme diesem Erleben entgegen. Es betont nur scheinbar eine Längswirkung des Kirchenschiffes, denn tatsächlich ist es quergerichtet. 64 Die Breitrichtung der Basilika entsteht ebenfalls durch den Querdruck der Gurtbögen. Die Tonnen sind nach Evers daher nicht nur als technische Bauelemente zu begreifen, sondern auch als ästhetische, insbesondere spirituelle Medien. 65 Evers verweist diesbezüglich auf Sankt Michael in München, deren seitliche Arkaden, die sich in ihrer Exedraform zum Mittelschiff hin öffnen, für eine Basilika charakteristisch seien. 66 Die an den Rückwänden angeordneten Sitzreihen des Presbyteriums lassen relikthaft erkennen, dass die ursprüngliche Sitzordnung 60 61 62 63 64 65 66
Boullée, Architektur, S. 72. Vgl. ebd., S. 81 Vgl. Evers, Tod, Macht und Raum, S. 104. Vgl. ebd., S. 81. Vgl. ebd., S. 137. Vgl. ebd., S. 138. Vgl. ebd., S. 142.
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in christlichen Kirchen bis ins 17. Jahrhundert nicht auf die Apsis hin gerichtet war, sondern auf die Mitte des Kirchenschiffs, auf das Zentrum des kultischen Raums, wo der Altar stand und die Predigt stattfand. 67 »Der Raum entfaltet sich dort, wo die kultischen Handlung ist, nicht dort, wo die Menschen sind. Das heißt also: diese Raumfassung gilt immer noch nicht den Menschen wie eine Wohnform, wie eine Behaglichkeit, sondern gilt noch dem zusammengefaßten und zusammenfassenden Kult.« 68
Für das Raumerleben der Basilika ist die sich konzentrierende Kraft entscheidend, die sich in der Größe und Ordnung des Raumes ausdrückt. Evers spricht hier von der »Entstehung des Raumes als einer architektonischen, als einer ordnenden und zusammenhaltenden Kraft« 69, einer Kraft, die sich eben typisch in der Bauform der Basilika entfalten könne.
5.2.2 Größe – Weite – Stille Der beim Betreten der Jesuitenkirche gleichsam schlagartig zudringlich werdende Eindruck atmosphärischer Mächtigkeit weist über die allein architektonische Dimension des Bauwerks hinaus. Der Eindruck verdankt sich vor allem der Größe und offenen Weite des Raums. Die umgreifende Macht der Stille wird in ihrem atmosphärischen Erleben aber in einem ambivalenten Sinne durch die Architektur des kirchlichen Raumes gefördert. Sie breitet sich nicht ohne widerstreitende Eindrücke aus, kommt also je nach aktueller Situation des Da-Seins im sakralen Raum mehr oder weniger 70 zur Entfaltung. Das Beispiel zeigt auch, dass die Eindruckswirkung des Numinosen nicht a priori dem Erleben von Stille entgegenkommt. Zunächst verdient die Architektur der Basilika in ihrer gebauten Größe Beachtung. Sie steht auch in einem Mittelpunkt der im Sinne Vgl. ebd., S. 161. Zur Sitzordnung in der Apsis und im Kirchenschiff vgl. auch S. 155. 68 Ebd., S. 164. 69 Ebd., S. 161. 70 Besonders protestantische Kirchenneubauten, die nach dem Zweiten Weltkrieg in Deutschland errichtet worden sind, entbehren aufgrund ihrer atmosphärisch vorherrschend pragmatischen Nüchternheit oft jeder Erhabenheit und können folglich auch das Aufkeimen numinoser Atmosphären kaum vermitteln; vgl. Hasse, Atmosphären im heiligen Raum. 67
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Ästhetizistisch »überbaute« Stille
des Wortes »sensationellen« Eindruckswirkung des sakralen Raumes. Bezogen auf die verwendeten Baustoffe stellt sich dieser als eine Architektur des Steins dar. Als solcher ist er nicht (wie skandinavische Stabkirchen) aus Holz gebaut, aber auch nicht (wie moderne Nachkriegs-Neubauten) aus Stahlbeton. Der den ersten Eindruck dominierende Baustoff verdient nun insofern Beachtung, als er wesentlich an der ästhetischen Gestalt des sakralen Raums teilhat. Die physiognomischen Ausdruckswege werden ja wesentlich durch die verwendeten Baustoffe bestimmt. Die physikalische Stofflichkeit einer Kirche disponiert schließlich die Möglichkeiten der Vermittlung Stille konstituierender Eindrücke des Lichts, der Klanglichkeit, der Ruhe usw. Am Beispiel der Münchner Basilika ist der Stein das physisch und ästhetisch beherrschende Material. Nie war der Stein in seiner Bedeutung ein allein bau-technisches Material. Zugleich fungierte er als Medium der »Kommunikation« symbolisch wie synästhetisch übertragbarer Bedeutungen. Rudolf Otto hatte die Rolle der Architektur in der Herstellung von Atmosphären des Numinosen durch die bauliche Inszenierung des Erhabenen betont. Er hatte aber auch darauf hingewiesen, dass sich die Eindruckspotentiale des Numinosen nicht von selbst einstellen. Es bedürfe der sicheren Anwendung von ästhetischem InszenierungsWissen, um über die Anordnung der Dinge, die Art und Weise der architektonischen Inszenierung von Weite, Offenheit und Höhe die Menschen durch Eindrücke des Numinosen nachhaltig auch affizieren zu können. Deshalb reklamierte Boullée eine dem Bau angemessene Einfühlsamkeit. Es sei Aufgabe des Architekten, mit Gespür und Empfindsamkeit das atmosphärisch Mögliche zur Wirkung zu bringen. 71 Das sich reklamierende Wissen geht notwendig über allein formale, eher bau-technische Kompetenzen hinaus und verdankt sich ganz wesentlich einer leiblich-intuitiven Sensibilität bei der Herstellung atmosphärischer Räume. Dieses einverleibte ästhetische Wissen um die Wege der affizierenden Kommunizierbarkeit religiöser Bedeutungen durch Baugestalten war historisch auf je charakteristische Weise im architektonischen Können der Kirchenbaumeister angelegt. Schon in vorchristlicher Zeit stellte sich die Inszenierung jenseitsweltlicher Mythen als Aufgabe der symbolischen Bewältigung des Todes. Im vorchristlichen Großstein-Zeitalter habe man nach Otto das Numinose mit der Ordnung des Steins zu arrangieren versucht. 71
Vgl. Boullée, Architektur, S. 66.
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Dabei habe das Aufstellen riesiger Felsblöcke den Sinn gehabt, »in magischer Weise das Numinose massiv aufzuspeichern, zu lokalisieren« 72. In frühchristlicher Zeit sollte nach Hans Gerhard Evers die »Steinbedeutung vom Bauwerk selbst auf das im Bauwerk benutzte Gerät« (den Stein) übertragen werden. 73 Es gab und gibt also eine Macht, die vom Material ausgeht und ins Atmosphärische aufsteigt. Wenn Evers 1917 feststellte: »Auch heute noch ist es die Architektur, die sich aufs Material zurückziehen kann und eben aus dieser Einschränkung ihre innersten Kräfte gewinnt« 74, so ist das in der Spätmoderne nicht prinzipiell anders geworden, wenn sich das Spektrum der Materialien auch immens vergrößert hat und damit die Wege atmosphärischer Affizierung. Evers entwarf eine architekturtheoretische Philosophie des sakralen Steins, in deren Mitte die atmosphärische Schwere und Dichte des Materials stand. Dabei machte er auch auf synästhetische Wege der Übertragung von Bedeutungen aufmerksam, die sich im ästhetisch gestalteten Raum unter anderem dem Ausdruck der Pfeiler verdanken, indem sie »den Menschen bannen oder von Platz zu Platz drücken.« 75 In phänomenologischer Sicht ist es evident, dass dieses »Drücken« nur im Sinne leiblicher Kommunikation als eine bewegungssuggestive Wirkung verstanden werden kann. So waren es die mit dem Stein errichteten Gestalten, die affizieren und atmosphärisch ansprechen sollten. Schon aus der Mikrologie wird deutlich, dass sich vor allem die Richtung des Strebens in die Höhe aufdrängt. Nicht nur sichtbar, sondern leiblich auch spürbar entfaltet daneben das freitragende Tonnengewölbe eine über der Halle liegende Spannung. So wird im atmosphärischen Raumerleben eine tragende Kraft lebendig. Diese gleichsam von oben kommende Eindrucksmacht verbindet sich synästhetisch mit einem Gefühl lastender Schwere, so dass sich das atmosphärische Amalgam für die Aufnahme im Raum gegenwärtiger religiöser Bedeutungen angeboten hat. So gewinnt die Decke den Ausdruck des Himmlischen. Es kommt aber eine zweite Richtungsqualität hinzu, die im Raumerleben der Basilika von Bedeutung wird. Es ist dies die horizontale Richtung in die Tiefe des Raumes, die 72 73 74 75
Otto, Das Heilige, S. 78. Vgl. Evers, Tod, Macht und Raum, S. 66. Ebd., S. 71. Ebd., S. 72.
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an der tabuisierten Grenze zum Chor, der ein Drittel der gesamten Länge der Basilika misst und atmosphärisch in einer ans Mystische grenzenden Macht in Anspruch nimmt. Mit Verweis auf die Kunst des Ostens machte Otto auf die atmosphärische Bedeutung räumlicher Leere für die Konstitution des Numinosen aufmerksam: »Das weite Leere ist gleichsam das Erhabene in der Waagerechten.« 76 Dem Erhabenen in diesem Sinne begegnen wir in der obigen Beschreibung nicht nur in der Offenheit des begehbaren Raumes, sondern in ganz eigener Weise auch in der räumlichen Tiefe des Chors. Diese ist aber ganz und gar nicht leer; sie ist in gewisser Weise gestaut und im synästhetischen Sinne dicht. Das dichte und gestaute Volumen des Chor-Raums ist aufgrund seiner Ausdehnung (gleichsam in die Tiefe) dem Blick nicht in Gänze zugänglich. Auch darf der Raum der Apsis durch den sich in der Kirche bewegenden Gläubigen nicht betreten werden. Gerade weil die Tiefe des Raumes der unmittelbaren leiblichen Erfahrung dadurch entzogen ist, verbindet sie sich mit mystischen und abgründigen Atmosphären und wird zu einem prädestinierten Raum-Medium des Numinosen. In ihm nisten in einem atmosphärischen Sinne Phantasmen göttlicher Größe. In der obigen Mikrologie ist von einer atmosphärischen Ambivalenz die Rede, wonach die sich der Wahrnehmung entziehende gesamte Tiefe des Chors »auf anziehende und zugleich Distanz gebietende Weise« beeindruckte. Dank der Entwicklung der Statik konnte die Baukunst Höhen und Breiten verwirklichen, die zuvor unerreichbar waren, und über die erhabene Raumwirkung abermals einen Beitrag zur Intensivierung des Numinosen im sakralen Raum leisten. Die »numinose Macht, zu der wesentlich das Hohe gehört, also die ganze Tiefe des Raumes« 77, sollte sich besonders in der Gotik entfalten und die zur Erde drückende Lastigkeit der romanischen Kirchenbauten überwinden. Große innenräumliche Höhen vermitteln auch deshalb das Numinose, weil sich das Hohe nicht »oben« im dunklen Raum verliert, sondern in der lichten zum Himmel strebenden Richtung erst mit letzter Wirkmacht durchsetzt. Zur Zeit der Renaissance schuf die Architektur in der Wiederaufnahme von Stilmitteln der römischen Antike ein reichhaltiges Angebot an bewegungssuggestiv und synästhetisch eindrucksmäch76 77
Otto, Das Heilige, S. 82. Schmitz, Band III, Teil 4, S. 123.
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Räume der Stille
tigen Gestalten. Am Beispiel von Sankt Michael in München ist es die beinahe säulenfreie, in gewisser Weise »schwebende« Höhe der Halle, die in ihrer atmosphärisch eindrücklichen Macht den Charakter des Numinosen spürbar macht. Es gehört zum Stil der Renaissance, dass der Sakralbau in dieser Zeit zum einen durch eine strenge formale Ästhetik geprägt war, zum anderen aber auch exzessive Gesten des Ornaments eine Rolle spielten, so dass der Raum mit seinen vielfältigen Schmuckmotiven geradezu als gesättigt erscheint. 78 Diese gleichsam zentrifugale Ästhetisierung steigert noch die Unruhe im Ausdruck der Baugestalt und kommt einer Besinnung in Atmosphären der Stille damit nicht entgegen. Trotz dreifach beharrender Ruhe (weitgehende Bewegungslosigkeit, relative Lautlosigkeit und architektonische Ordnung) vermag eine Atmosphäre der Stille deshalb auch kaum eindrücklich werden, geschweige denn, sich in einem atmosphärisch teilhabenden Gefühl festigen. Mit dem Wandel der Baustile entwickelte sich auch eine je nach dem historischen Stil der Bauwerke mehr oder weniger überwältigende symbolisch ausgreifende und synästhetisch angreifende Formensprache. Insbesondere in der Kirchenarchitektur sollte mit den Mitteln des Stils die Reichweite mystischer Beeindruckung voll ausgeschöpft werden und das bis dahin Übliche an Wirkung übersteigen. »Die im Kunstwerk sich darstellenden leiblichen Dispositionen [sind] zu vielstimmig, als daß sie auf eine einfache, glatte Formel gebracht werden könnten« 79. Das wird besonders in Phasen des Wechsels von einem zum anderen Stil deutlich. Beim Übergang von der romanischen zur gotischen Architektur tritt eine andere als die bis dahin gewohnte Spannung auf, »in der epikritische Tendenz überwiegt und Spannung mit privativer Weitung durch das deutliche Hervortreten der Richtung harmonisch vereint wird.« 80 In der Zeit der Renaissance ist es die Dichte der Symbole und Allegorien, die im Inneren des Sakralbaus bis in die Gegenwart ästhetisch nachhaltiger fasziniert als die vergleichsweise Schlichtheit zum Beispiel in romanischen Sakralbauten.
Vgl. Wasmuths Lexikon der Baukunst, Band 4, S. 163 ff. Schmitz, Spiegel der Kunst, S. 166. 80 Ebd., S. 196. »Der gotische Stil […] hebt sich durch stärkeres Gewicht der epikritischen Tendenzen gegen den romanischen ab.«; ebd., S. 203. 78 79
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Ästhetizistisch »überbaute« Stille
5.2.3 Das »störende« Denken im Stille-Erleben In der stillen Weite vermittelt der sakrale Raum die Bedingung ästhetischer Andacht 81 und (optional) religiöser Kontemplation. Die Mikrologie hat aber gezeigt, dass Größe, Mächtigkeit, Weite und Tiefe nicht schon a priori Stille suggerieren – auch dann nicht, wenn der atmosphärische Raum mit religiösen Bedeutungen hoch aufgeladen ist. Zwar gibt es nach Schmitz eine Stille, die sich in der Situation ästhetischer Andacht vom Objekt her einfordert. 82 In der Betrachtung eines großen Kunstwerkes im Museum ist das ebenso möglich wie bei der Beisetzung eines Verstorbenen. Vom Objekt her kommen dann jene Wirkungen zur Geltung, die Hans Gerhard Evers schon an den numinosen Inszenierungs-Programmen beeindruckender Steinbauten in vorchristlicher Zeit erkannte. Aber es gibt auch atmosphärische Interferenzen, die gleichsam aufhalten, was sich ohne sie zu freier Entfaltung bringen könnte. Solche »konkurrierenden« atmosphärischen Eindrücke standen der Konstitution von Stille-Eindrücken im Raum der Basilika entgegen. Es waren dies vor allem die von Geräuschen ausgehenden Störungen und Ablenkungen, die den Eintritt in eine Situation der Stille gleichsam gestoppt hatten. Neben laut vernehmlichen und oft sogar hallenden Geräuschen machte eine regelrechte Bilderflut die im Prinzip in diesem Raum mögliche Erfahrung von Stille weitgehend zu Nichte. Schon die phänomenologische Reflexion in Kapitel 5.1.2 hatte gezeigt, dass die Konstitution von Stille unterschiedlicher Bedingungen bedarf, um sich im Sinne eines Akkordes effektiv zu einem Wirkungsstrang verbinden zu können, durch den dann eine situationsspezifische Synthese von Merkmalen beeindrucken kann. Ein disharmonisierender Eindruck kann schnell zu einer »Verstimmung« dieses Akkordes führen und die atmosphärische Durchsetzung von Stille im »gelebten Raum« 83 vereiteln. Der Stille fördernde Akkord einer sakralräumlichen Atmosphäre wurde am gegebenen Beispiel durch die Präsenz symbolisch gesättigter Gemälde verstimmt, weil diese – gleichsam gestisch – intellektualistische Ansprüche an ihr VerVgl. Schmitz, Band III, Teil 4, S. 639. Vgl. ebd., S. 648. 83 Ich benutze hier wiederholt die Metapher des »gelebten Raumes« von Graf Dürckheim, weil sich Stille in ihrer atmosphärischen Vitalqualität stets in einem vitalen »Herumraum« entfaltet, den es nur als einen gelebten geben kann; vgl. auch Dürckheim, Untersuchungen zum gelebten Raum. 81 82
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Räume der Stille
stehen stellten. Letztendlich konnten die verschiedenen Ruhe-Dispositionen des Raums deshalb kein Stille-Erleben anbahnen. Die »Pracht der symbolischen Inszenierung«, die in Gestalt gerahmter Gemälde sowie Fresken an Wänden und Decke eine stark affizierende Eindrucksmacht entfaltete, reklamierte nach-denkende Kompetenzen und nicht, gleichsam gegenläufig, die leiblich-emotionale, letztlich mimetische Anverwandlung an ein spürbares Weitemilieu. So ist das Gewölbe in der Haupthalle ornamental stark gegliedert, und im Bereich des Chors sind die Decken-Segmente figural ausgemalt. Das Gemälde im Hochaltar stellt den Erzengel Michael im Kampf mit dem Teufel dar. Es nimmt eine zentrale Position in der bildlichen Inszenierung der Kirche ein und zieht die Aufmerksamkeit besonders nachhaltig auf sich. 84 Gemälde sind Medien des Schweigens, so dass ihnen im Prinzip die Stille eigen ist. Indes steht die Skulptur dem Ruhenden näher als das Gemälde. Johannes Volkelt betonte sogar, dass die Skulptur im Unterschied zur Malerei das Ruhende ausdrücke. »Die Bildnerei hat daher im Gegensatze zur Malerei die wesentliche Tendenz in sich, uns der Unruhe und Hitze des Lebens, dem Verwirrenden und Betäubenden seiner Kämpfe zu entrücken.« 85 Wenn die Skulptur in ihrer Dreidimensionalität dem Bauwerk auch näher stehen mag als dem flächigen Gemälde, so gelten die von Schmitz genannten synästhetischen Ausdrucksmerkmale der Skulptur doch nicht in gleicher Weise auch für die Architektur, wenngleich diese sich ebenso skulpturaler Merkmale verdankt. Ebenso appelliert das Gebaute an seine gefühlsmäßige also leibliche Wahrnehmung, wenn zum Beispiel das Band farbiger Fenster in der Wand eines sakralen Raumes im Spiel mit Licht und Farbe das lebendige Mit-Sein in einer numinosen Atmosphäre intensiviert. Bei der Ruhe, die von einem Gemälde ausgeht, kommt es (im Vergleich zu Skulptur und Architektur) auf eine bemerkenswerte Armut an Bewegungssuggestionen an. Diese werden durch eine dreidimensionale Gestalt in ganz anderer Vielfalt und Lebendigkeit kommuniziert (im Sinne leiblicher Kommunikation). Indes teilen die Skulpturen der Bildhauerei mit den Gemälden einen Mangel an lebendiger Bewegung. Schon deshalb sind sie Dinge der Ruhe. Indes sind beide – Skulpturen und Gebäude auf der einen und Gemälde 84 85
Vgl. Kirchenstiftung, Sankt Michael. Volkelt, System der Ästhetik, Band 3, S. 427.
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Ästhetizistisch »überbaute« Stille
auf der anderen Seite – Gestalten, die auf ganz unterschiedliche Weise verstanden werden wollen. Während eine Skulptur in ihrer gebildeten Körperlichkeit auf dem Wege leiblicher Kommunikation ans intuitive Körperverstehen appelliert, verlangt das Gemälde in seiner flächigen Zeichenhaftigkeit in weit größerem Maße das »decodierende« Verstehen. Auch das Gebäude – hier die Basilika – fordert mehr die leibliche Resonanz heraus als das bauliche Formen und ästhetische Gestalten rekonstruierende Denken. Die Mikrologie beinhaltet in dieser Hinsicht eine Reihe von Hinweisen auf leibliches Raumerleben. Im gegebenen Beispiel spitzt sich die »Aufgabe« eines gleichsam intellektualistischen Bild-Verstehens am Gemälde über dem Hochaltar zu (Sankt Michael im Kampf mit dem Teufel von Christoph Schwartz aus dem Jahre 1587, s. Abb. 8). Das Verstehen des Kampfes verlangt mehr geistige Anstrengung als das leibliche Begreifen einer begehbaren architektonischen Raumgestalt. Gleichwohl affiziert das gleichsam monströse Gemälde in seiner inszenierten Platzierung und inhaltlichen Dramatik auch schon weit unterhalb seines (im weiteren Sinne kunsthistorischen) Verstehens und evoziert geradezu unmittelbare Gefühle des mystisch Großen, Göttlichen und Übermenschlichen. So konkurrieren zwei Wege ästhetischer Erfahrung miteinander: ein geistiger und ein leiblicher Weg. Deshalb darf das Sehen eines Bildes auch nicht auf einen allein intellektualistischen Akt reduziert werden. So merkt Georg Simmel an, »indem man das sinnliche Sehen vergeistigt, darf man das geistige Sehen versinnlichen« 86. Im Bild-Sehen spielt also ebenso wie im Wahrnehmen einer Skulptur die leibliche Kommunikation eine unverzichtbare Rolle. Nur geht diese eben im Bild-Erleben (schon durch die Begrenzung auf die Zweidimensionalität) andere Wege als im Erleben einer aufgerichteten und umschreitbaren Skulptur. Ein sakrales Gemälde fungiert in seiner symbolischen Gegenständlichkeit als religiöse Stimmungsmacht, die »den einzelnen zu ihrem Gefäß macht, das sie bis zum Rande erfüllt.« 87 Dieser affizierenden »Füllung« geht das symbolische Verstehen eines Bezeichneten zwar voraus, aber dieses kann sich doch auch im Metier »leiblichen Denkens« (s. Kapitel 3.3.1) vollziehen, muss also nicht den Weg durch die Wissensarsenale einer Kultur erst beschreiten. In der intellektualistischen Beanspru86 87
Simmel, Rembrandt, S. 40. Ebd., S. 157.
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Räume der Stille
chung geistigen Verstehens liegt indes eine Macht der Ablenkung und damit die mögliche Blockade der Selbstbesinnung auf die gefühlsmäßige Haltung der Stille. Symbolische Ordnungen verlangen aufgrund einer gewissen Komplexität und Differenziertheit ihrer aufeinander bezogenen Elemente in ihrem Verstehen die reflektierende und darin gerichtete Aufmerksamkeit: »Zum Symbol gerinnt eine Situation, wenn Sachen und Sachverhalte (Programme, Probleme) so deutlich und zart zugleich aus ihr hervortreten, daß sie als Ganzes hindurchgespürt werden kann, ohne Aussicht auf vollständige Individuation, durch die alle in ihr integrierten Gegenstände einzeln hervortreten und, soweit sie Sachverhalte sind, beschrieben werden könnten.« 88
Gegen die in der Basilika allzu präsenten Ansprüche verstehenden Mit-Seins im sakralen Raum konnte sich keine Stille durchsetzen. Auch das flackernde Licht einer die Aufmerksamkeit im Kirchenraum bannenden Kerze konnte sich angesichts einer Ubiquität der Appelle ans Geistige nicht behaupten. Indes veranschaulicht die große Eindrucksmacht des spärlichen Lichts im riesigen Raum der Basilika die beträchtliche Bedeutung, die dem lebendigen Licht als Medium der Stille zukommt. Das Licht einer Kerze unterscheidet sich dadurch vom einfallenden Licht der Sonne, dass es in seiner eigenständigen, lokalen und aus sich heraus kommenden Bewegung eine Art der Lebendigkeit veranschaulicht und spürbar macht, die das religiöse Bild menschlichen Lebens in weitaus eindrücklicherer Weise verbildlicht als das »natürliche« Licht der Sonne. Die in dieser sichtbaren und spürbaren Bewegung sich im atmosphärischen Raum geradezu »breit« machende Ruhe stimmt die Aufmerksamkeit für die individuelle Erfahrung von Stille. Dieses Erleben ist von ganz anderer leiblicher Intensität als das Verstehen eines mit kulturellen und mythischen Bedeutungen geladenen Gemäldes, wie es über dem Hochaltar hängt. Wenn die von Eindrücken ausgehenden Atmosphären im sakralen Raum in einen Wirkungskonflikt geraten, entscheidet sich situativ, welcher Wahrnehmungsmodus die größere Macht (als Vermögen der Einflussnahme) entfaltet, und nicht ein nur im Prinzip existierendes Affizierungsvermögen.
88
Schmitz, Band III, Teil 4, S. 546.
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Stille eines winterlich verlassenen Ortes
5.3 Stille eines winterlich verlassenen Ortes Der Ort, der im dritten Beispiel zum Gegenstand einer Mikrologie geworden ist 89, hat nur scheinbar den eindeutigen Charakter eines Spielplatzes. Zwar sind vor den Dünen und schon im Hochwasserbereich der Flut, also unmittelbar vor dem Borkumer Strand Spielgeräte aufgestellt worden, wie man sie auch andernorts von Spielplätzen kennt. Der »Platz« unterscheidet sich dennoch in formaler Hinsicht von üblichen Spielplätzen. Dies schon deshalb, weil es keine eindeutig definierten Abgrenzungen gibt. Es fehlt ein Zaun, eine Hecke oder irgendeine andere lineare Markierung. So ist es eher eine »Gegend«, die mit Spielgeräten ausgestattet ist, als ein »Platz« im förmlichen Sinne. Es gibt weder ein Eingangstor noch einen wie auch immer gestalteten, wenigstens symbolisch markierten Ein- bzw. Ausgangsbereich. Der Spielplatz ist im engeren Sinne gar kein »Platz«; er ist eher ein diffuses Feld mit imaginären Grenzen. Diese Gegend hat keinen formalen, sondern einen allein situativen Charakter. Daran ändert auch ein schräg im Boden stehendes Schild nichts, das auf die Haftung der Eltern hinweist. Auf die mikrologische Beschreibung des Ortes hat dieser verwischte Ortscharakter insofern einen Einfluss, als es gerade die fehlenden Grenzen des Proto-Platzes sind, die der Wahrnehmung eine räumliche Kontinuität anbieten, in der es kein klar erkennbares »Drinnen« und ebenso wenig ein klar erkennbares »Draußen« gibt. Es mangelt dem »Spielplatz« an einem spezifischen Ortscharakter. Auf der Ostfriesischen Insel Borkum liegt abseits des insularen Siedlungskerns zwischen Düne und Strand ein aus wenigen Spielgeräten bestehender Kinderspielplatz im feuchten und bräunlichen Sand. Das Gelände ist nass, weil es vor kurzem offensichtlich mehrmals überflutet worden ist. Hinter und zwischen den Spielgeräten staken ein paar Krähen im Boden herum. Nur ganz weit entfernt – vielleicht in 400 Metern – sind zwei Menschen am Strand zu sehen. Es gibt eine Schaukel, eine große und eine kleine Rutsche, eine Wippe und – etwas abseits – einen Basketballkorb, der an einem maroden Gestell etwas schräg scheinbar in der Luft hängt (s. Abb. 9). Weiter weg stehen zwei Tore mit Netzen, in denen sich je ein Zielfeld befindet. Ein Gestell hängt in einem Priel fest – wahrscheinlich weil das Tor von 89
Tag und Zeit der Protokollierung: 28. 02. 2015 | 14–15:15 h.
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Räume der Stille
Abb. 9: Informeller Spielplatz auf der Insel Borkum; Basketballkorb; Bild: Jürgen Hasse.
einer ablaufenden Sturmflut mitgenommen und in den Schlick eingeschlämmt worden ist (s. Abb. 10). Außer einem von hinten kommenden Wind ist hier im Moment nichts zu hören. An silbernen Eisenketten hängen zwei Schaukeln an einem Metallgestell (s. Abb. 11). Ab und an werden sie vom Wind in unregelmäßig schwingende Pendelbewegungen versetzt. Der Strandhafer bewegt sich zuckend mit dem Rhythmus der Windböen. Außer den Spielgeräten gibt es an diesem Ort nichts, das nicht – wie eine Sandverwehung oder ein neuer Priel – Produkt der Gezeiten wäre. Die Gegend hat eine beruhigende Wirkung, der man sich nur schwer entziehen kann. Aber es ist keine Ruhe, die Ausdruck von etwas zur Ruhe Gekommenem wäre. Die Situation des Ortes ist durch eine relative Lautlosigkeit gekennzeichnet. »Über« der Ruhe ist noch etwas anderes atmosphärisch Angreifendes – eine Stille, die nichts mit Geräuschen zu tun hat, sondern mit dem spürbar unlebendigen Charakter des Ortes. Sie ist nicht hörbar wie klangliche Ruhe oder Geräuschlosigkeit; sie wird als etwas Umwölkendes spürbar, das in einem mitweltlichen Sinne umschließt. Sie hängt am atmosphärischen Gefühl toter Leere, obwohl der Ort tatsächlich doch gar nicht leer ist. Mitten im Winter sind die Dinge des Sommers da – Relikte einer verflogenen Fröhlichkeit. Gerade diese »menschlichen« Dinge 154 https://doi.org/10.5771/9783495813690 .
Stille eines winterlich verlassenen Ortes
Abb. 10: Informeller Spielplatz auf der Insel Borkum; Tor; Bild: Jürgen Hasse.
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Räume der Stille
Abb. 11: Informeller Spielplatz auf der Insel Borkum; Schaukel; Bild: Jürgen Hasse.
sind es, die den Ort in seiner »Möblierung« so leer erscheinen lassen. Die Spielgeräte scheinen auf etwas zu warten, obwohl sie doch einfach nur dastehen und es absurd wäre, ihnen einen Willen zuschreiben zu wollen. Dennoch stehen sie da wie Gesten. Als solche machen sie weniger auf »etwas« aufmerksam, als auf das, was an und mit ihnen fehlt; sie verweisen auf eine abwesende Wirklichkeit. Weil ihnen die Spuren eines verflüchtigten Lebens anhaften, wirken sie als etwas Geschichtliches. Obwohl sie doch nur einem einfachen Zweck dienen, sind die Gerätschaften in der Situation ihres sinn-entleerten So-dastehens vielsagend. Zwei leere Schaukeln, die einzig vom Wind in völlig sinnlose Bewegungen versetzt werden, geben etwas von einem lebendigen Kinderspiel zu spüren, das ganz selbstverständlich einmal zu diesem Ort gehört hat und mit Beginn des nächsten Sommers sicher wieder gehören wird. Im Moment der Leere bedeuten sie aber auch vieles Andere, das mit spielenden Kindern nur mittelbar zu tun hat. Vor allem aber sind sie Medien eines leeren und toten Ortes, der gerade in der Art und Weise spürbar ist, wie die Dinge auf einen offensichtlich nicht gelebten Zweck verweisen. Nun präsentiert sich das Spielzeug allein als banales Rohrzeug im Sand. In ihrer menschlichen Geschichte sind sie kulturelle Artefakte. Dennoch werden sie Tag und 156 https://doi.org/10.5771/9783495813690 .
Stille eines winterlich verlassenen Ortes
Nacht von der Meeresnatur angegriffen. Für den Sturm und die Strömungen der See sind sie nur Widerstände. Weit und breit ist niemand, um sich in ein Spiel mit den zur Bewegung herausfordernden Dingen verwickeln zu lassen. Diese Ferne der Menschen ist so gegenwärtig, dass sie eine immersive Atmosphäre der Stille heraufbeschwört. Der Ort ist verlassen und öde. Die Dinge sind ihres Zweckes beraubt, so »normal« das auch an einem kalten Tag im Februar sein mag. Es ist ausschließlich die ferne Abwesenheit derer, die die Gerätschaften erst beleben könnten, die das Ganze als eine Ansammlung von totem Zeug erscheinen lässt. Von der Ausdrucksmacht dieser reinen Abwesenheit, die als tote Leere beharrt, wird die Stille in ihrer Voluminösität eindrücklich gefüllt. Und so gerinnt sie in ihrem eigentümlich räumlich umschließenden Charakter. Es ist nicht die dingliche Ausstattung eines Proto-Platzes, die den Raum atmosphärisch ausmacht, sondern das Beharren einer Leere. Deren Volumen ist voll von der andrängenden Intensität eines Nicht-Geschehens. Krähen und Dohlen bekräftigen das ausgedehnt abgründige Nichts (s. Abb. 12). Sie laufen und fliegen in einer Weise »rücksichtslos« herum, die erkennen lässt, dass sie keine menschliche Irritation fürchten. Alles bleibt; nichts verändert sich – außer dass die Schaukeln mal zur einen, mal zur anderen Seite hin und her geweht werden. Die minimalen, trudelnden Bewegungen der Ketten unterstreichen den Stille-Charakter des Ortes. Dabei ist es nicht die fast artifiziell wirkende Bewegung schlechthin, die diesen Eindruck macht. Es ist die menschenferne Bewegung, die – wie das Negativ einer Fotografie – unmittelbar auf einen situativ entzogenen menschlichen Sinn verweist. Die im Wind unregelmäßig dahintorkelnden und -schwappenden Schaukeln sind die intensivsten Eindrucksvermittler, über die sich die Stille in Gestalt eines motorisch Nicht-Stillen und Unruhigen, ausbreitet. Die nur vom Wind bewirkte, beinahe unhörbar quietschende Bewegung insistiert atmosphärisch geradezu gespenstisch auf einer Präsenz leeren Nichts. Das sich ohne jede menschliche Form Gestalt gebende Hin und Her dessen, was nicht ganz fest ist, macht im Unterschied zu den sonst starr dastehenden Dingen die Stille noch mächtiger – so mächtig wie das Bellen eines Hundes in der Nacht, die dunkle, weite und leere Stille noch abgründiger macht.
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Räume der Stille
Abb. 12: Informeller Spielplatz auf der Insel Borkum; Dohle; Bild: Jürgen Hasse.
5.3.1 Zur Ortsqualität von »Spielplätzen« Der Interpretation der Mikrologie seien einige Überlegungen zum Ortscharakter von Spielplätzen vorangestellt, weil sich das beschriebene atmosphärische Erleben des Ortes auf räumliche Qualitäten bezieht, die unter bestimmten Herstellungsbedingungen solcher Plätze üblicherweise Normen unterliegen. Noch nicht einmal in der Spielpädagogik ist der Begriff des »Spielplatzes« so eindeutig formuliert, wie man das erwarten sollte. Zunächst wird nämlich neben institutionalisierten und infrastrukturell ausgestatteten Spielplätzen in besonderer Weise die vom Menschen nicht inszenierte Natur als der beste »Spielplatz« für Kinder angesehen. »Der ideale Spielplatz ist die ungestaltete Wildnis. Sie animiert durch ihre Vielfalt an Farben und Formen, ihrer Lebendigkeit, Frische und Wandlungsfähigkeit den Menschen, sich mit ihr und sich selbst zu beschäftigen.« 90 Hier 90
Hohenauer, Spielplatzgestaltung, S. 11
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wird ein Begriff des Spielplatzes verwendet, der gar keinen Platz voraussetzt, sondern nur einen Umgebungsraum. Schließlich ließe sich ein »Spielplatz« in »ungestalteter Wildnis« von umgebenden Räumen auch gar nicht effektiv abgrenzen. Eine solche Gegend wiese keine typische räumliche Physiognomie auf, wie man sie von einem Spielplatz im engeren formalen Sinne erwarten würde. So wird der Begriff des Spielplatzes zur Metapher; jede Gegend, in der man sich spielend entfalten könnte, wird zu einem Spielplatz. Bemerkenswert ist im oben genannten Zitat auch der der Natur zugeschriebene »Wildnis«-Charakter, der – durch und durch romantizistisch – als prädestiniertes pädagogisches Milieu idealisiert wird. Offensichtlich wird hier kein naturphilosophisch reflektierter Natur-Begriff zugrunde gelegt, sondern einer, der auf den homo ludens schon bezogen ist. Die ist eine ästhetisch gefällige, bequeme und nach kulturellen Standards als »schön« empfundene Natur, ganz sicher keine gefährliche wie die eines unberechenbar reißenden Gebirgsbaches oder eines brüchigen, absturzgefährdeten Felsvorsprungs und damit gerade keine Wildnis. Der in der Mikrologie beschriebene »Platz« am Meeresstrand und im Überflutungsbereich der offenen See dürfte nach diesen Kriterien nur bedingt als eine spielplatztaugliche Natur, viel eher dagegen als »gefährlicher« Raum am offenen Gezeitenmeer angesehen werden. In aller Regel ist, wenn von einem Spielplatz im terminologisch engeren Sinne die Rede ist, ein formalisierter, normierter und in seiner Funktion eindeutig erkennbarer, meist auch umfriedeter Raum für Kinder einer bestimmten Altersgruppe gemeint. In aller Regel sind solche Spielplätze typisch städtische Räume. Gerade der Großstadt mangelt es nach Auffassung von Spielpädagogen an Spielräumen, wobei der nicht-pädagogisierte (Erlebnis-) Raum der Stadt mit seinen verführerischen Brachen und »finsteren Ecken« als Spielraum offensichtlich ausgeschlossen ist. Ein Spielplatz ist ein pädagogisierter Ort, auch wenn Hohenauer anmerkt: »Spielplätze sollten nicht nur Flächen sein, die mit all dem bestückt werden, was die Spielzeugindustrie entwickelt hat oder Pädagogen, Psychologen, Soziologen u. a. nach ihren Kriterien für erforderlich halten.« 91 Der Rolle der Natur sei besondere Aufmerksamkeit zu widmen. Natur kommt nun aber nicht gewissermaßen »roh« ins Spiel, sondern als eine kompensationsästhetisch aufbereitete Natur, als mediales Feld mit psycho91
Ebd., S. 9.
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logischen Gütekriterien. Indirekt wird solchen Kompensationsmilieus eine »heilende« Funktion zugeschrieben, die wiederum auf den Hintergrund urbaner Sozialisationswelten bezogen bleiben. »Naturnahe« Spielwelten werden mit Normen beladen und als »authentische Wirklichkeit« 92 überhöht. Wilde, geschweige denn zerstörerische oder gar lebensgefährliche Natur gibt es in diesem Bild der Natur nicht. Natur – bzw. was man für sie hält – wird nach normativen Auslesekriterien bewertet, so dass am Ende bestimmte Segmente einer institutionalisierten KulturNatur als akkreditierungswürdig übrig bleiben. Im Allgemeinen werden spielpädagogisch anerkennungsfähige Räume erst mit ihrer Möblierung durch Spiel-Geräte zu tatsächlichen Spielplätzen, die inmitten der Stadt als pädagogisch inszenierte Räume mit Baum und Strauch dekoriert und mit technischem Gerät ausstaffiert werden. Das sagt zum einen etwas über die Modalitäten der Regulierung des Zuganges zur Natur in der Stadt und zum anderen etwas über das gesellschaftliche Bedürfnis, die Bewegungsmuster von Kindern zu standardisieren, zu zivilisieren und zu domestizieren. So dient die Einrichtung der Spielplätze ganz offensichtlich auch einer kanalisierenden Ausgrenzung von Kindern aus dem öffentlichen und nicht-öffentlichen Raum der Stadt. Die Aneignung öffentlicher Parks als offene Experimentierfelder eines im Sinne des Wortes freien und nicht pädagogisierten Spiels ist oft nicht gestattet, und erst Recht das kindliche Spiel in den »wilden« Zonen städtischer Natur administrativ und polizeilich tabuisiert. Spielplätze dienen nicht zuletzt der Bindung von Kindern an kontrollierte Räume sowie der heimlichen Durchsetzung einer Kultur normierter Bewegungsmuster, die in industriell gefertigte und standardisierte Gestelle schon eingeschrieben sind. Die Institutionalisierung der Spielplätze setzt schließlich nicht nur die (EU-einheitliche) Normierung der Geräte voraus, sie mündet auch in eine Domestizierung von »wildem« kindlichem Verhalten. Dass sich darin nur kulturindustrielle Serialisierungen des Individuums ausdrücken, entspricht ganz jenem Sozialisationsprogramm, das schon mit der Vorschule damit beginnt, Kinder auf die Angebote eines Marktes technischer (sogenannter »Kommunikations«-)Medien einzustellen und einzustimmen. Spielplätze sind in ihrer Art und Gestaltung Medien der Regulierung, Instrumente einer heimlichen Durchsetzung 92
Ebd., S. 15.
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von identifikationstauglichen Standards »gezähmter« Kreativität. Und so werden Schaukeln, Wippen und Klettergerüste in einer konzertierten Aktion professioneller Akteure für das zivilisatorische Programm der Durchsetzung einer systemverträglichen Kindheit entworfen und in Serie produziert. Spielgerätepsychologen und Spielpädagogen entscheiden unter Beachtung eines differenzierten Netzes an DIN-Normen im Verbund mit Baurechts-Juristen über die Errichtung von Spiel-»Gestellen«, die den Anforderungen an einen »hohen Spielwert« 93 gerecht werden müssen. Bei der Aufstellung der Spielgeräte am Ort der Beschreibung dieser Mikrologie sind Normen offensichtlich von untergeordneter Bedeutung gewesen. Deshalb lässt sich das »Areal«, in dem sich einige Spielgeräte, die zum Teil von einer Sturmflut schon verdriftet worden sind (s. Abb. 10), auch nicht als Spielplatz in einem förmlichen Sinne verstehen. Das Gelände ließe sich in seinem dispersen Charakter eher als Proto-Spielplatz beschreiben. Es mangelt schon an halbwegs erkennbaren Grenzen. Die wenigen Geräte stehen vor den Dünen und im Flutsaum der Nordsee. Indes ist eine gewisse Orientierung der Ausstattung am Kanon dessen, was Kinder aus den urbanen Räumen kennen und gewohnt sind, evident. Das gleichsam in den Raum geworfene Spielzeug ist mehr an Eltern als an Kinder adressiert, Ausdruck symbolischer Bemühungen um die Zufriedenheit einer von urbanen Unterhaltungsgewohnheiten und -märkten sozialisierten Elternschaft. Der Aufwand beschränkt sich indes auf die Beschaffung und undogmatische Aufstellung von normiertem Gerät, das durch keine wie auch immer erkennbare Ordnung beeindruckt. Auch weist der Proto-Spielplatz in seinem improvisierten Charakter bestenfalls parodierende Merkmale eines heterotopen Raumes im Foucault’schen Sinne 94 auf. Ein schräg im Sand stehendes Schild droht prophylaktisch mit der Haftung der Eltern; andere Indizien irgendeiner Formalisierung gibt es nicht. Rechtsnormen haben in dieser Raumgestaltung keine sichtbar gewordene Macht entfaltet. Üblicherweise sichern sie – vom Baugesetzbuch, über die Bauordnungen der Länder bis zur Deutschen Industrienorm 18034 (»Spielplätze und Freiräume zum Spielen – Anforderungen für Planung, Bau und Betrieb« 95) die Wahrung so93 94 95
Vgl. Barz, Spielraum für alle?, S. 15. Vgl. dazu Foucault, Die Heterotopien. Vgl. auch Barz, Spielraum für alle?
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genannter Qualitäts- und Sicherheitsstandards. Seit dem Jahre 2010 ist zum Beispiel eine spezielle Norm für die Herstellung und Aufstellung von »Korbeinrichtungen für Kleinfeldtore in Kombination mit Korbballeinrichtungen« 96 rechtskräftig, unter deren Kategorie die halb im Dünensand versunkene Basketballanlage nur im dystopischen Sinne fallen dürfte (s. Abb. 9). Normen regeln indes nicht nur die Herstellung und technische Ausführung; sie raten auch von Eigenbauten ab. 97 Noch die Art des Bodens, auf dem die industriellen Anlagen errichtet werden sollten, ist in naiver behördlicher Regulierungssucht definiert: »Man muss davon ausgehen, dass der Boden hindernisfrei und fest sein muss.« 98 Die in den Sand gesunkene »Korbballeinrichtung« dürfte auch dann noch gegen die geltenden Normen verstoßen, wenn sie zu Beginn der Feriensaison wieder zurechtgerückt worden sein dürfte. Für die Reflexion der mikrologischen Ortsbeschreibung hat der Exkurs in die Welt der formalisierten Produktion und Administration von Spielplätzen und Spielgeräten eine Reihe von Konsequenzen. Bemerkenswert ist zunächst, dass sich der insulare Spielraum im Überflutungsbereich der Nordsee befindet und sich der Wahrnehmung nicht als abgegrenzter und institutionalisierter Raum anbietet. Er zeigt sich vielmehr als eine sonderbare Gegend, in der es manches gibt, das aus einer Welt der Administratoren und Ökonomen kommt und sich in einer Welt der Kinder bewähren soll. In nicht identifizierbaren Randzonen kommt es zu Eindrucksüberlagerungen, die von jenen Spannungen leben, die sich der informellen Unordnung des Ortes verdanken. Zudem ist die formlose Durchdringung zweier »Welten« von chaotischen Naturprozessen so weit überformt, dass eine ästhetische Spannung über diesem Ort liegt, in dessen bizarrer Widersprüchlichkeit sich Atmosphären der Leere und einer daraus folgenden Stille ausbreiten. Schließlich ist die in Teilen tatsächlich (und nicht nur symbolisch) dahin-»geflossene«, eigenartige Raumordnung Ausdruck einer sich gleichsam parodierenden (und darin selbst bestreitenden) pseudo-heterotopologischen Ordnung. Es ist das in mehrfacher Weise dystopisch erscheinende Bild des Ortes, der kein Platz ist, welches ein atmosphärisches Vakuum füllt, das in seiDIN EN 15312, vgl. Agde / Degünther / Hünnekes, Spielplätze und Freiräume, S. 114 f. 97 Vgl. ebd., S. 115. 98 Ebd. 96
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Stille eines winterlich verlassenen Ortes
ner Ferne zu gesellschaftlichen Utopien »guter« Kindheit, die sich in einem Spielplatz widerspiegeln sollen, dem Leeren, Verlassenen, Scheiternden und Abgründigen nahe steht. Die Betrachtung eines abwesenden Platz-Programmes als Negativ eines zerfallenen oder nie zu Ende »errichteten« Dispositivs macht auf die Bedeutung der Situationen auf der Objektseite aufmerksam und ihren Einfluss auf das, was in einer Gegend in bestimmter Weise atmosphärisch erlebt werden kann. In seiner offensichtlich regelwidrigen und gegen alle pädagogischen Programme verstoßenden Unordnung steht der Proto-Platz zwischen Utopie und Dystopie. Er spaltet jede Erwartung eines »ordentlichen« Spielplatzes und insistiert in seiner bizarren Atmosphäre auf Fortbestand einer finalen Improvisation. Die Menschenleere spitzt die an diesem Ort spürbar werdenden Widersprüche zu. Gleichsam auf dem Grat unvollendeter Sachverhalte (was ist, ist halb defekt), auf der Strecke gebliebener Programme (was sein soll, geht ins Leere) und einer extremen Dichte völlig diffuser Probleme wächst die Stille aus dem Nichts. Diese verdankt sich einer doppelten Ruhe – der Verlassenheit eines sozialen Ortes und dessen atmosphärischer Unbegrenztheit in einer von Menschen unverfügbaren Natur.
5.3.2 Nichts – Leere – Stille Die dritte Mikrologie thematisiert die Stille an einem halbwegs inszenierten Ort im Raum der Meeresnatur, der in seiner Ausstattung, Funktion und Verortung in keiner Weise mit einem sakralen Raum zu vergleichen ist. Der Ort der Mikrologie liegt weit abseits der großen Städte auf einer winterlich halb verlassenen Nordsee-Insel, deren Tourismus im Februar jahreszeitlich bedingt weitgehend zum Erliegen gekommen ist. Diese Rahmenbedingungen haben nachhaltigen Einfluss auf das situative Stille-Erleben. Ein temporär verlassener Spielplatz am Meer beeindruckt mit einer ganz eigenen Atmosphäre immersiver Stille. Diese verdankt sich zu allererst dem unlebendigen Charakter eines Ortes, der ja gerade für den lebendigen Gebrauch angelegt ist. Ein Ort, der weniger einen formalen Platz-Charakter hat (vgl. Kapitel 5.3.1) als den eines Proto-Platzes, fesselt in seiner atmosphärischen Präsenz durch beharrende Leere, die in der Abwesenheit noch warmer sozialer Spuren begründet ist. Deshalb ist in der Mikrologie auch von einem Ort 163 https://doi.org/10.5771/9783495813690 .
Räume der Stille
»reiner« Abwesenheit die Rede. In ihrer Unbelebtheit unterscheidet sich die Gegend von den unmittelbar rechts und links zwischen Dünen und Strand »anschließenden« Räumen nur bedingt. Zwar wird der Eindruck des Unlebendigen weit und breit nicht durch eine lebendige soziale Situation kontrastiert; dennoch würde man die Atmosphäre benachbarter Strandzonen und Dünentäler nicht als unbelebt oder tot empfinden. Diese offenen Naturräume sind immer so, wie sie jetzt erscheinen; zu keiner Zeit »fehlt« irgendetwas in ihnen. Die besondere Stille des Proto-Spielplatzes ist daher auch kein Effekt sinnlicher Ruhe-Merkmale oder anderer sinnlicher Eindrücke des Geruchs, Hörbaren, Sichtbaren oder Tastbaren. Die hier atmosphärisch gleichsam »anstehende« Stille wird von einem spürbaren Mangel gefüllt. In dem, was der aktuellen Wirklichkeit des Ortes entzogen ist, insistiert sein offensichtlicher Zweck. An dieser so vitalen Abwesenheit entzündet sich gleichsam die ganze Macht der atmosphärischen Leere des Ortes, die sich in eine eindrucksmächtige Stille überträgt. Diese Leere ist in ihrer Bezogenheit auf die zuständliche Situation des Ortes eine andere als die eines Behälters, in dem sich nichts befindet. Auch die Etymologie kennt eine Leere, die nicht nichts ist, sondern auf etwas verweist. Als »leer« empfinden wir häufig, »was ein Gegenstand nach seiner Art als unentbehrliche Eigenschaft haben soll« 99, tatsächlich aber nicht aufweisen kann. Aus solchem Mangel erklärt sich auch die Öde des Ortes, auf die in der Beschreibung verwiesen wird; »öde« sind die von Menschen verlassenen Orte. 100 In der »schweigenden Öde« steigert sich das Nur-Öde ins Abgründig-Öde. Im »Mangel des Gewohnten« 101 stellt es sich in einem noch immersiveren Charakter dar. Neben der Bedeutung des Mangels ist in der Mikrologie sodann von einem »Nichts« die Rede. Aber dabei handelt es sich um ein gefülltes Nichts. Johannes Volkelt merkte schon in diesem Sinne an, »daß der Eindruck eines »Nichts« dort entsteht, wo man zu empfinden gewohnt ist oder gerne empfinden möchte.« 102 Ein solches »Nichts« verweist also genau genommen auf ein Etwas. In der noch so öden Leere ist folglich nie wirklich »nichts«, denn »selbst wo uns ein Nichts anzugähnen scheint, ist den Empfindungen immer noch Grimm / Grimm, Deutsches Wörterbuch, Band 12, Sp. 509. Vgl. ebd., Bd. 13, Sp. 1142. 101 Ebd., Sp. 1146. 102 Volkelt, System der Ästhetik, Band 2, S. 153. 99
100
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ein Anhalt geboten.« 103 Volkelt betont, dass das Leere nur dann zu seiner charakteristischen Wirkung gelangt, wenn es sich im Vakuum eines unerwarteten und plötzlichen Ausbleibens ausbreitet. Das Beispiel zeigt nun aber, dass das Ausbleiben der Lebendigkeit auf einem winterlichen Kinderspielplatz, der zu guten Teilen von den Sedimenten der Meeresnatur schon eingenommen worden ist, weder unerwartet noch plötzlich eingetreten ist. Dennoch konnte die Szene durch eine höchst mächtige stille Leere beeindrucken. Von noch grundlegenderer Bedeutung als die Plötzlichkeit eines Ausbleibens scheint für die Konstitution eines Stille vermittelnden Gefühls der Leere die spürbare Ferne eines Abwesenden zu sein. Diese Ferne wird durch herumspringende Krähen und Dohlen unterstrichen, die an einem menschlichen Platz durch ihre so selbstverständliche Präsenz der Leere des Ortes Nachdruck verleihen (s. Abb. 12). Die Ferne einer entzogenen Lebendigkeit ist der hauptsächliche Grund der spürbaren Leere-Empfindung an diesem Ort. Abwesend ist ja nicht irgendeine gerade jetzt fehlende Nutzung des »Platzes«; die Abwesenheit hat darin ihre Besonderheit und atmosphärische Schwere, dass sie eine zeitlich andauernde Ferne ist. Die Dauer einer verflossenen Zeit wird in den Spuren von Verwehungen und Überflutungen höchst eindrucksmächtig veranschaulicht. An ihnen wird nicht nur die Transformation des Ortes sichtbar. Was die Strömung der Fluten und die Kraft vergangener Stürme ins Bild der Gegend eingeschrieben haben, macht die Zeit in der spürbaren Macht der Dauer geradezu sichtbar. Diese Dauer wird in der aktuellen Situation im Gefühl einer gestauten Zeit spürbar. Was an diesem Ort jetzt ist und geschieht, wird auf dem Hintergrund jener entzogenen Lebendigkeit erlebt, die die atmosphärische Intensität abgründiger und öder Leere immer größer werden lässt. Vernehmbare Klang- und Bewegungs-Gestalten unterstreichen das atmosphärisch volle Nichts, dessen voluminöse Leere-Resonanz den Ort in seinem Erleben stimmt. So wird ein hinter Windgeräuschen kaum hörbares Quietschen der Ketten, an denen zwei Schaukeln hin und her wabern, zu einem eindrucksmächtigen, geradezu theatralen sinnlichen Spektakel. Die Bewegungen der Schaukeln verbildlichen in der motorischen Unruhe eine atmosphärische Ruhe. Da sich sonst – außer dem Strandhafer – nichts bewegt, kontrastiert das Wenige des Unruhigen in der im Übrigen ubiquitären Ruhe des Ortes 103
Ebd., S. 153.
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dessen stille Verlorenheit. Die Schaukeln verdichten die Situation der Stille des Ortes, die im Gefühl der Stille verankert ist (s. auch Kapitel 6.1.1). Die gleichsam müden Bewegungen korrespondieren mit dem nächtlichen Bellen eines fernen Hundes, der die über einem Raum lastende Lautlosigkeit schlagartig in eine abgründige Stille verwandelt. Auch nun ist es das Wenige (ähnlich dem unruhigen Flackern der Kerze im sakralen Raum), das eine Atmosphäre machtvoll verdichtet. Die Stille an diesem Ort ist eine ganz andere als die eines »stillen und ruhigen Lebens« 104, das durch das Fehlen ausgreifender Bewegungen und herausragender Ereignisse geprägt ist. Auch hat diese Stille keinen sinnlichen Charakter der Laut- oder Geräuschlosigkeit. 105 Selbst wenn ein Sturm lärmen und die Brecher der See herandröhnen würden, wäre dieser Ort nicht weniger still, wenngleich in anderer Weise atmosphärisch gegenwärtig als in der Situation wetterbedingter »äußerlicher« Ruhe. Die diese Stille gleichsam tragende Abwesenheit verdankt sich in ihrem Erleben einer Übertragung, die Schmitz so beschreibt: Eine »Brücke zwischen der Tiefe des Gefühls und der praedimensionalen Tiefe des Raumes wird durch die Stille geschlagen.« 106 Für den atmosphärischen Typ der voluminösen Füllung von Stille nennt Schmitz einige Beispiele, wie die bleierne, (dumpf) brütende, lähmende, aber auch die feierlich-heitere Sonntagsstille, die zarte Morgen- oder friedliche Abendstille und schließlich die leere Stille. 107 Abwesenheit prägt zudem die Stille der Pause (s. auch Kapitel 5.1.5). Aber dies ist eine andere Stille als die auf dem leeren Spielplatz spürbare. Wenige Beispiele sollen den Unterschied deutlich machen. So gehört zum Beispiel die »in Andachtspausen während kultischer Handlungen« 108 herrschende Stille zur Situation dieser Handlung selbst. Die Stille solch produktiver Unterbrechungen hat eine ganz eigene Qualität; sie geht weit über das nur Leere und darin Neutrale hinaus, weil sie von Anfang an von Bedeutungen eingenommen ist, die sich einer Situation verdanken, zu der ein spezifisches Stille-Programm gehört. Wie die Stille der Pause in einer Sinfonie situativ auf Grimm / Grimm, Deutsches Wörterbuch, Band 18, Sp. 2949. Ebd., Sp. 2955. 106 Schmitz, Band III, Teil 2, S. 339. 107 Vgl. Schmitz, Der unerschöpfliche Gegenstand, S. 117 sowie Schmitz, Band III, Teil 4, S. 624. 108 Schmitz, Band III, Teil 2, S. 247. 104 105
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das intensive Erleben ihres Ganzen bezogen ist, 109 so kann die Bewegungs-Pause der Posa im höfischen Tanz des Quattrocento als inszenierte Phase der Besinnung auf die choreographische Ganzheit des Tanzes verstanden werden. Die Stille der Posa wächst gleichsam in der Bewegung, um wieder in ihr aufzugehen, damit die folgenden Bewegungs-Figuren aus der Besinnung ihre neuen Richtungen finden können. 110 Der Charakter der Abwesenheit ist in der Mikrologie des ProtoSpielplatzes anderer Art. Das Nichts, das diesen Ort atmosphärisch füllt, ist nicht Teil des Zweckes, den der Ort erfüllen soll. Es ist vielmehr der reine Entzug dieses Zweckes, und deshalb insistiert das Abwesende spürbar in einem Atmen des Unlebendigen. Es verweist in seiner Abwesenheit atmosphärisch immersiv auf ein Lebendiges. In diesem Sinne sagte Georg Simmel: »Wo wir Leben wahrnehmen und nicht einen erstarrten Querschnitt, der nur einen Inhalt, aber nicht die Funktion des Lebens als solchen bietet, nehmen wir stets ein Werden wahr (sonst könnte es nicht Leben sein), nur wo die eigentümliche Fähigkeit in Funktion tritt: das Jetzt in der Kontinuität eines zu ihm sich streckenden Ablaufs anzuschauen, haben wir wirklich Leben gesehen.« 111
Im Wegfall eines orts-typischen Lebens liegt nun jene atmosphärische Kraft, aus der sich das »ausgedehnt abgründige Nichts« leiblichen Stille-Empfindens nährt. Die Abgründigkeit affektiv angreifender Stille hat ihren Grund darin, dass Gefühle der Leere nicht nach Richtungen gegliedert sind. 112 Gefühle ohne Richtungsquelle (wie Kummer oder Depression, die aus dem Nichts überfallen) sind abgründig. 113 An diesem Punkt wird auch plausibel, weshalb Stille Angst einflößen kann. Diese geht nach Schmitz auf eine ungewohnt spürbare Leere zurück. Dies ist aber keine Leere, die sich auf das Beispiel anwenden ließe, sondern die Leere einer depressiven Stimmung. Sie hat keinen wesentlichen Anlass in einem aktuellen Eindruck (etwa einer räumlichen Umgebung), generiert sich vielmehr aus der perZur Macht der Stille als Situation der Pause in der Musik vgl. auch Schmitz, Der unerschöpfliche Gegenstand, S. 142. 110 Zur Posa vgl. besonders zur Lippe, Vom Leib zum Körper; s. auch Fußnote 47, S. 133. 111 Simmel, Rembrandt, S. 43 f. 112 Vgl. Schmitz, Der unerschöpfliche Gegenstand, S. 308. 113 Vgl. ebd., S. 306. 109
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sönlichen Situation einer Person gleichsam von selbst. Um solche Leere geht es hier aber nicht. Die Mikrologie hat gezeigt, dass sich die Atmosphäre der Leere der Abwesenheit einer orts-typischen Lebendigkeit verdankt und schließlich die immersive Macht einer »dichten Stille« 114 begründet. Diese Leere ist also ganz und gar kein sinnloses »Nichts«. Wäre die Leere des Ortes als sinnlos empfunden worden, hätte sie den Eindruckscharakter der »Ungefülltheit einer Weite« gehabt, 115 denn Sinnlosigkeit ist als Gefühl noch leerer als einfache Stille. 116 Aber die Stille des insularen Ortes war mit einer spürbar vitalen Abwesenheit dicht gefüllt. Ein als leer und öde empfundener Ort, dessen Atmosphäre durch eine abwesende Intensität charakterisiert worden ist, war durch ein abgründiges Nichts mit atmosphärisch mächtiger Füllung ganz wesentlich gestimmt. Jede Rede von einem »Nichts« suggeriert zunächst, dass es sich um etwas handelt, das mit dem »reinen Nichts« des Todes verglichen werden könnte. In phänomenologischer Sicht ist dieses existenzphilosophische Nichts hier aber nur von geringem Interesse. Viel mehr kommt es auf die Füllung jenes Nichts an, das ja, wenn es als solches empfunden werden kann, als Etwas (und nicht als Ganz-und-garNichts) zudringlich wird. So gibt es »Nichtse«, die im Leben eine bestimmende Rolle spielen. In diesem Sinne merkt Hermann Schmitz auch an, dass der Anteil des »Nichtseienden an der Welt« ungeheuer groß sei. 117 Dabei zählt er zum Nichtseienden, was war oder sein wird, und setzt es in einen Gegensatz zum »seienden Gegenwärtigen« 118. Folglich gibt es auch schon deshalb einen »Übergang von Nichtsein in Sein« und »von Sein in Nichtsein«, weil immer etwas entsteht und vergeht. 119 Das Neue schiebt Seiendes nach, »so dass sich Vergehen und Entstehen die Waage halten« 120. In der Welt übersteigt »die Einzelheit die Grenze des Seienden ins Nichtseiende hinein«, weil »Einzelnes phantasierend, planend, erinnernd usw. in dieses hinein projiziert werden kann.« 121 114 115 116 117 118 119 120 121
Ebd., S. 58. Vgl. Schmitz, Band III, Teil 2, S. 227. Vgl. ebd., S. 224. Schmitz, Phänomenologie der Zeit, S. 141. Ebd., S. 147. Vgl. ebd. Ebd., S. 148. Ebd., S. 163 f.
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Das abwesende Spiel der Kinder auf dem Borkumer Proto-Spielplatz ist in diesem Verständnis ein Nichtseiendes, das es als solches nur im Wissen um seine temporäre Anwesenheit geben kann. Es existiert ein Wissen um seine jahreszeitlich, klima- und wetterbedingt lebensweltlich nachvollziehbare Gegenwärtigkeit; deshalb gibt es die sichere, durch Erfahrung genährte Erwartung, dass das spielende Treiben bald (im nächsten Frühjahr und Sommer) an diesen Ort wieder »zurückkehren« wird. Damit rückt das Abwesende schon in der Zeit seiner Abwesenheit in gewisser Weise über die Grenze des Nichtseienden ins Seiende wieder hinein. Aus dieser Spannung generiert sich die Stille, die sich darin von der Leere solcher Orte abhebt, die endgültig verlassen sind. Der temporär unlebendige Ort eines Proto-Spielplatzes unterscheidet sich situativ von anderen Orten temporärer Abwesenheit, die auf ihre Weise als Orte der Stille empfunden werden können. Hier ist insbesondere an solche städtischen Orte zu denken, deren StilleCharakter in einem geradezu kontemplativen Kontrast zur Hektik des urbanen Treibens steht. Es sind dies zum Beispiel Orte wie Kirchen, Friedhöfe und Parks. Einen noch viel profaneren und gänzlich informellen urbanen Ort der Stille beschreibt Hermann Hesse: »Mit diesen gewohnten Gedanken lief ich auf der nassen Straße weiter, durch eins der stillsten und ältesten Quartiere der Stadt. Da stand gegenüber, jenseits der Gasse, in der Finsternis eine alte graue Steinmauer, die ich immer gerne sah, sie stand immer so alt und unbekümmert da, zwischen einer kleinen Kirche und einem alten Hospital, auf ihrer rauhen Fläche ließ ich bei Tage oft meine Augen ausruhen, es gab wenige so stille, gute, schweigende Flächen in der innern Stadt, wo ja sonst auf jedem Quadratmeter ein Geschäft, ein Advokat, ein Erfinder, ein Arzt, ein Barbier oder Hühneraugenheilkünstler einem seinen Namen entgegenschrie.« 122
Ein Ort der Stille ganz banaler Art, ein kultureller Ort programmatischer Ruhe, der gegen die lautliche Überfülle des täglichen Lebens in urbanen Dichteräumen konzipiert wurde, ist der Ruhebereich des ICE, der als Raum des Schweigens die Abwesenheit sinnlich überbeanspruchender Lautlichkeit zur Norm macht. Ähnliche »Sonderzonen« des Schweigens gibt es unter anderem in Bibliotheken, Schwimmbädern und Saunen.
122
Hesse, Der Steppenwolf, S. 50.
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5.4 Resümee Die drei Mikrologien haben äußerst facettenreiche Eindrücke zu Situationen unterschiedlichen Stille-Erlebens illustriert und einer phänomenologischen Durchquerung zugänglich gemacht. Allein die Explikation der dichten Beschreibungen in situ konnte ein so reichhaltiges authentisches Ausgangsmaterial verfügbar machen. Dies ist insofern als authentisch anzusehen, als es das subjektive Mit-Sein in einer räumlich-atmosphärischen Situation dokumentiert. Zu dieser Selbstgewahrwerdung gehörte die Ad-hoc-Reflexion ohne theoretische »Eichung« oder etymologische Auslotung assoziierter Bedeutungen und empfundener Eindrücke. Es entspricht auch lebensweltlichen Situationen der affektiven Verstrickung in eine aktuelle Situation, dass sinnliche Eindrücke von einem inneren Dialog begleitet werden, der die unmittelbare, oft intuitiv und völlig spekulative Klärung diffuser Eindrücke anstrebt, um Orientierung zu gewinnen. Diese Art der Proto-Theoretisierung unterscheidet sich indes kategorial von systematisch angelegten phänomenologischen Erkundungen. Die dichte Beschreibung expliziert unsystematisch, was sich reflexiv nachdenkend in die Verarbeitung von Eindrücken einmischt. Die gleichsam mitlaufende Reflexion dokumentiert damit nicht zuletzt einen Prozess der Bewusstwerdung situativen Mit-Seins, der nie auf rein emotionales Spüren begrenzt ist. Die Befunde machen aber auch – wie jedes Material qualitativer Forschung – auf den individuellen Charakter des Explizierten aufmerksam. Der große Differenzierungsgrad der drei Mikrologien verdankt sich ausschließlich der protokollierenden Explikation atmosphärischen Erlebens in der aktuellen Situation des Mit-Seins. Eine nachträgliche Rekonstruktion aus der Erinnerung hätte nur eine weit geringere Kleinteiligkeit der selbst- wie um- sowie mitweltbezogenen Beobachtungen zum Ausdruck bringen und der Interpretation zugänglich machen können. Die interpretative Sichtung der subjektiven Beschreibungen hat auf Gesichter der Stille aufmerksam gemacht, die sich als Spiegel von Situationen gezeigt und zum Teil stark voneinander unterschieden haben. Die Mikrologien haben aber auch gezeigt, welch hohe Bedeutung dem umweltlichen Milieu im Hinblick auf die Evozierung von Atmosphären zukommt, die sich im Falle der Stille oft auf dem Grat zur Stimmung befanden. 123 123
In der Differenzierung zwischen Atmosphäre und Stimmung beziehe ich mich
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Resümee
Nun liegt es am Charakter der Stille, dass sie eher zur Stimmung tendiert (von der kontemplativen und transzendenten bis zur tendenziell depressiven) als zum Beispiel eine Atmosphäre der Hektik innerstädtischer Verkehrsströme. Aber auch die immersive Atmosphäre der Stille im sakralen Raum erwies sich als gleichsam performatives Produkt von Umgebungsbedingungen. Im ersten Beispiel einer kleinstädtischen Pfarrkirche war es vor allem die menschenleere Ruhe im Sakralraum, die auf eine ganze Reihe von Konstitutionsbedingungen jener Stille aufmerksam gemacht hat, die in der christlichen Mystik der Kontemplation als »eher passives Durchdrungensein von der Gegenwart Gottes« 124 entgegenkommen soll. Im Vergleich dazu hatte die Situation herumlaufender Menschen in der Renaissance-Basilika in München die Aufmerksamkeit so stark gefangen, dass spürbare Stille-Eindrücke fern geblieben sind. Zudem beanspruchte dort die große Dichte an christlichen Symbolen eine gleichsam (mit-)denkende Präsenz, die abermals der Einkehr in eine Erfahrung der Stille entgegenstand, deren Charakteristikum ja gerade in einer Abwendung von äußeren Eindrücken besteht. Stille hat sich als eine äußerst vielschichtige atmosphärische Disposition erwiesen, die durch höchst unterschiedliche Eindruckssegmente gefördert, aber auch behindert werden kann. Sie ist zumindest für den westlichen Zivilisationstyp, der in Meditationstechniken nicht geübt ist, in besonderer Weise von atmosphärischen Bedingungen des umgebenden Raums abhängig. Damit findet die Fragilität und Flüchtigkeit Stille vermittelnder Atmosphären besondere Beachtung. Im sakralen Raum entfaltet sie optional ihren leiblich spürbaren weitenden Einfluss, der sich entweder zur christlichen Spiritualität oder aber auch zur Transzendenzerfahrung hin anzubahnen vermag, die nicht im engeren Sinne religiös, also nicht auf ein bestimmtes Glaubenssystem bezogen sind. Es sei im Übrigen dahingestellt, inwieweit kontemplative Transzendenzerfahrungen aus der Stille überhaupt einen nicht-göttlichen Charakter haben können. In dem dabei zu bedenkenden Verständnis kommt es – mit Heidegger – nicht auf einen Gott an, sondern auf die insbesondere auf Bollnow. Danach ist in jeder Stimmung »die Welt schon in einer ganz bestimmten Weise ausgelegt«; Bollnow, Das Wesen der Stimmungen, S. 57. Während über Atmosphären die intersubjektive Verständigung möglich ist, kann der persönlich ergreifende Gefühlsgehalt einer Stimmung nur in der Ersten Person ausgesagt werden; vgl. auch Hasse, Atmosfere e tonalità emotive. 124 Vorgrimler, Neues Theologisches Wörterbuch, S. 363.
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Räume der Stille
Erfahrung des »Göttlichen« als Numinoses, worin sich das dem Menschen unerklärlich Bleibende mystisch verdichtet. Damit zeigt sich zugleich eine Grenze der Mikrologien als erkenntnistheoretische Methode, die ja nur Produkt ihrer inneren Differenzierung sein kann. Was sie der Thematisierung zugänglich machen kann, ist stets spiegelbildlich an die Breite und Tiefe bewusst gewordenen situativen Mit-Seins gebunden. Hier stehen zwei Stille-Situationen in sakralen Kirchenräumen einer dritten Mikrologie gegenüber, die die Eindrücke eines artifiziellen Raums – gleichsam zwischen Natur und Kultur – zum Thema gemacht hat. Wenn diese Situationen in ihren räumlichen Gegebenheiten auch unterschiedlicher nicht sein konnten, so haben doch alle drei gemeinsam die Macht umweltlicher Dinge, Halbdinge, Ereignisse und Performanzen vor Augen geführt, die je spezifische Stille überhaupt erst haben aufkommen lassen. In gewisser Weise zeigen schon diese wenigen Konkretisierungen leiblichen Stille-Erlebens, dass es atmosphärische Gemengelagen gibt, die in übergeordneten Stille-Atmosphären erst kulminieren: Atmosphären der Ruhe, der Lebendigkeit, der Lautlichkeit bzw. Lautlosigkeit, des Lichts und vieler anderer sinnlicher Eindrücke.
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6. Die stimmende Macht des Windes
Der Wind ist in seinem Wehen etwas Selbstverständliches. Solange er nicht in die Ekstase tobenden Sturms mündet oder sich gar in die katastrophische Gestalt eines Leib und Leben bedrohenden Orkans zuspitzt, findet sein Wehen kaum Beachtung. Wie Licht und Schatten oder der Wechsel von Tag und Nacht, so gehört auch der Wind zu den Seins- und Erscheinungsweisen des Wirklichen, die keiner Reflexion würdig zu sein scheinen. Die Lebenswelt zeichnet sich gerade dadurch aus, dass in ihrem Geltungsrahmen der Thematisierung – erst Recht der Problematisierung – entzogen ist, woran sich die Menschen gewöhnt haben. Dazu gehört alles, was in seiner infra-gewöhnlichen Einfachheit das tägliche Leben begleitet. Solange die Dinge hintergründig bleiben, bedürfen sie keiner Erklärung. Auch der Wind ist so gewöhnlich, dass er keines Nachdenkens – schon gar nicht um seiner selbst Willen – bedarf. Er weht ganz unabhängig davon, was die Menschen gerade tun oder lassen. Die phänomenologische Eigentümlichkeit des Windes zeichnet sich – im Unterschied zur Welt der Dinge – in besonderer Weise dadurch aus, dass er ganz wie die Stille nicht sichtbar ist und in einer ähnlichen Nichthaftigkeit aufgeht wie der Klang einer Glocke, die Wärme der Sonne oder die stechende Kälte tief winterlichen Wetters. Der Wind ist in seinem Wehen nur indirekt wahrnehmbar; an dem was der Wind bewegt hat, kann man auf ihn schließen. Dennoch ist er nicht erst in naturwissenschaftlicher, sondern schon in lebensphilosophischer und phänomenologischer Sicht von existenzieller Bedeutung. Dass er uns schon in unserem Grundbefinden spürbar stimmt, erkennen wir daran, dass wir ihn nicht erst dann bemerken, wenn er sich im Gesicht eines tobenden Sturmes zeigt. Der Wind entfaltet seine spürbare Macht auch dann, wenn er auf sanfte Weise »umhüllt« 1.
1
Lars Frers hat einmal die treffende Charakterisierung des Atmosphärischen als et-
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Die stimmende Macht des Windes
Das folgende Kapitel wird sich mit der Eindrucksmacht des Windes beschäftigen, einer dynamischen Kraft der Natur, die sich unbemerkt in einem ständigen Wandel befindet. Der hohe Explikationsgrad der Mikrologien wird das Wirken des Windes um uns herum bewusst machen und die Aufmerksamkeit gegenüber der Lebendigkeit des Windes in den wechselnden Situationen des täglichen Lebens schärfen. In der Durcharbeitung der Mikrologien wird sich zeigen, dass ein sich differenzierendes Wind-Verstehen letztlich das Bewusstsein unserer Selbst wie das uns umhüllender (Natur-)Prozesse alphabetisieren kann. Das Ausgangsmaterial des Kapitels besteht aus vier Mikrologien, die sich auf jeweils besondere Windverhältnisse beziehen. Die ersten beiden sind im innerstädtischen Teil des Emder Seehafens entstanden – dem Delft-Hafen. 2 Sie werden im Zusammenhang interpretiert, weil beide Situationen durch eine sehr geringe Windgeschwindigkeit gekennzeichnet sind. Trotz ihrer Ähnlichkeit unterscheiden sie sich aber durch die Veränderung des Standortes der Beobachtung. Die gemeinsame phänomenologische Durchquerung wird zeigen, worin die (mediale) Rolle des Windes in der Wahrnehmung umgebender Eindrücke auch bei ähnlicher Windstärke liegt. Die dritte Mikrologie wurde bei starkem Wind in dem niederländischen Seehafen Delfzijl im Bereich der unteren Emsmündung aufgenommen. 3 Das Kapitel wird sodann mit einer Beschreibung zum Erleben sich anbahnenden Sturmes abgeschlossen. 4 Diese geht auf Aufzeichnungen im niederländischen Emsmündungshafen Eemshaven zurück, der nur rund 20 km nördlich von Delfzijl liegt, aber unter einem direkteren klimatischen Einfluss der Nordsee steht, weshalb die Windgeschwindigkeiten hier auch deutlich höher sind.
was »Umhüllendes« gebraucht. Auf diese synästhetische Rede komme ich hier zurück; vgl. Einhüllende Materialitäten. 2 Tag und Zeit der Protokollierung: 04. 11. 2015, 13–14:30 h. 3 Tag und Zeit der Protokollierung: 19. 11. 2015, 12–ca. 13:30 h. 4 Tag und Zeit der Protokollierung: 19. 11. 2015, 14:30–ca. 16 h.
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Seichter Wind
6.1 Seichter Wind Die Wasserfläche im Hafenbecken ist beinahe eben und durch dunkle, flache und gerade einmal angedeutete Wellen verzeichnet (s. Abb. 13). Das Gegenlicht der Sonne spiegelt sich in einem leicht zerrissenen optischen Feld auf dem Wasser. Auf dem Dach des Verwaltungsgebäudes einer Reederei steht ein Fahnenmast. Die Flagge des Unternehmens bewegt sich in müde dahinlaufenden Wellen – zwischen fadem Wind und momentan immer wieder sich ankündigender, letztlich aber doch ausbleibender Windstille. Über eine Eisenbahn-Klappbrücke rollt ein leerer Güterzug mit scheinbar zahllosen Waggons für den Transport von Personenwagen zum Außenhafen. Ein eisernes Grollen, Quietschen und kurz getaktetes Schlagen breitet sich über dem Wasser aus und verschluckt alle anderen Geräusche, die sich gegen das metallene Dröhnen nicht behaupten können. Dann ist es wieder ruhig. Es entsteht aber der Eindruck, als wäre es nun noch ruhiger. Aber es ist nicht still. Schon der leicht dahinfließende Wind lässt keine Atmosphäre der Stille aufkommen. Auch die optische Unruhe der leicht bewegten Wasseroberfläche steht dem Erleben von Stille im Wege; ebenso die scharfen Konturen der im Gegenlicht hart erscheinenden Dinge wie Häuser, Brückenteile und Kräne (s. Abb. 14). Stille kündigt sich bestenfalls an – in der Vorstellung von spiegelglattem Wasser. Bestimmend ist dagegen eine große Ruhe, die in ihrer spürbaren Mächtigkeit raumzeitlich ausgebreitet ist. Ab und an streicht ein Windhauch – aus dem Nichts kommend – vorüber. Die Möwen sitzen fast verschlafen auf der ruhig erscheinenden Wasseroberfläche. Von diesem Wind gehen keine Geräusche aus, kein Rauschen, kein Pfeifen, kein Sausen, nichts, das sich zu Gehör brächte. Es ist so leise, dass man das Rauschen einer vorüber fliegenden Möwe hören kann. [Am anderen Ufer des Hafenbeckens] Mit der Sonne im Rücken erscheint der Wind »stiller«. Die Schiffe liegen in einem warmen und weichen Licht an ihren Tauen. Der Wind trägt keine Geräusche weiter. Nur jene breiten sich im Raum aus, die gleichsam »für sich« laut genug sind, um über die Ränder ihres Herkunftsortes hinausdringen zu können. Eine Ente schnattert zum Aufschrecken laut. Sie sitzt unter der Ufervegetation der zum Hafenbecken abfallenden Böschung. Ein ro175 https://doi.org/10.5771/9783495813690 .
Die stimmende Macht des Windes
Abb. 13: Annähernde Windstille; Bild: Jürgen Hasse.
ter Regionalzug der Deutschen Bahn poltert über die Eisenbrücke. Seine Klangkulisse ist im Vergleich zum Güterzug geradezu einsilbig; ähnlich der IC, der kurz darauf folgt und sich in einem beeindruckenden Gewicht suggeriert. Ein schweres, dumpfes Rollen ist von der Brücke her zu hören. In einer Entfernung von etwa 500 Metern wird neben einem Hafenbecken ein Fundament gerammt. Rhythmisch breitet sich in einem monotonen Dreiklang ein schweres, schlagendes, metallenes Geräusch aus. Von der ungefähr gegenüber liegenden Seite hallt die maschinistische Klangfolge zurück. Wie der Wind so ist auch der Klang nicht sichtbar. Deshalb hört es sich an, als käme der Hall aus den Wohnhäusern, die hinter dem Hafenbecken stehen, aber nicht von da, wo sich die Ramme befindet. Das Sanfte bzw. Seichte des Windes kann man den Wellen des Wassers ansehen, aber auch den Flaggen, die sich wellig durch eine scheinbar zäh wirkende Luft bewegen. Dagegen ist das Schlagen der Ramme nur dieses Schlagen selbst. Was sich zu Gehör bringt, ist an keinem anderen Medium wahrnehmbar als dem eigenen spürenden Hören. Kein Geräusch bringt sich – wie der Wind – an »etwas« zur Geltung. Sobald es da ist, ist es auch schon in mir – stark, wenn es seine Quelle in der Nähe hat, und schwach, wenn es von weiter her176 https://doi.org/10.5771/9783495813690 .
Seichter Wind
Abb. 14: Seehafenstadt Emden; Hafenbecken vor der Eisenbahnbrücke; Bild: Jürgen Hasse.
Abb. 15: Stockenten-Paar am Ufer; Bild: Jürgen Hasse.
kommt. – Und schon wieder poltert ein scheinbar schwerer IC über die Brücke. Ein Stockenten-Paar klettert die Uferböschung herauf und nähert sich mir bis auf einen Meter (s. Abb. 15). Zwischen den rhyth177 https://doi.org/10.5771/9783495813690 .
Die stimmende Macht des Windes
Abb. 16: Delfthafen Emden; »Waterfront«-Bebauung; Bild: Jürgen Hasse.
misch-metallenen Schlägen und dem sich überlagernden Echo sowie einem nun über die Brücke dahin-quietschenden Güterzug ist eine leise Schnatter-»Sprache« der Enten zu hören – das Klappern der Schnäbel, wenn sie das abgerissene Gras fressen. Eine andere Ente landet mit weit nach vorne gestreckten Füßen am Rande des Hafenbeckens. Wenn der Vogel über die Wasserfläche gleitet, zischt es unter den Schwimmhäuten in einer ganz eigenen Klangexotik. Dann folgt ein beharrliches Geschnatter. Das Geräusch der Ramme, das nur gelegentlich aussetzt, entfaltet eine atmosphärisch rahmende Eindruckswirkung. Trotzdem können sich gleichsam neben dem Lärm auch andere – sogar leise – Geräusche behaupten. Ein offensichtlich in den 1960er Jahren erbauter Wohnturm am Wasser sieht aus, als wäre das Leben in ihm sediert (s. Abb. 16). Es ist das fahle Sonnenlicht, das in der beinahe stillen Atmosphäre des Hafens einen trüben Schleier bildet. Er legt sich wie eine irreal-sonderweltliche Patina über die Häuser. Auch die lauten Rhythmen der Ramme können diese atmosphärische Ruhe in der Fast-Stille des lauen Windes nicht aufheben.
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Die Mikrologien beziehen sich auf zwei raumzeitlich ähnliche Situationen. Im Vergleich zeigt sich aber, dass schon geringfügige Veränderungen des Ortes nicht nur ein anderes Erleben des natürlichen Lichts zur Folge haben, sondern auch ein anderes Raumerleben. Das wird besonders daran deutlich, dass die erste Beschreibung ganz wesentlich durch das Gegenlicht der Sonne bestimmt war. Die zweite Mikrologie erfolgt zwar im selben Raumausschnitt und zeitlich nur wenig später als die erste. Jedoch liegt der Ort der Beobachtungen am anderen Ufer des Binnenhafens und damit auch in einer anderen Position zum einfallenden Sonnenlicht. Letztlich hängt jedes räumliche Erleben in der Art der sich konstituierenden Vitalqualitäten zwar von allen Eindrücken ab, die am Ort eines Aufenthalts wahrgenommen werden und das aktuelle Befinden stimmen, gleichwohl gibt es situationsspezifische Modalitäten des Wetter-Erscheinens, die einen geradezu akzentuierenden Einfluss auf die sinnliche und emotionale Wahrnehmung einer Atmosphäre haben. Während in der Situation der ersten Beschreibung die relative Ruhe über dem Wasser trotz lauter Geräusche vorbeifahrender Züge atmosphärisch besonders eindrücklich ist, dominiert in der zweiten der Lärm vorbeifahrender Züge sowie das rhythmische Schlagen einer Ramme das gesamte Erleben der Hafenszene. Mit dem Blick auf einen innenstadtnah am Ufer des Delft-Hafens gelegenen Wohnturm aus den 1960er Jahren mischt sich ein gesellschaftlich-anachronistisches »Bild« des Wohnens – und damit ein politisches Thema zum »Wohnen in der Stadt« – in die Situation des Raumerlebens ein. Tatsächlich erinnert das Wohngebäude, das kein neoliberales Objekt exzessiver Exklusion ist, in seiner Art und Platzierung am Wasser an die in vielen Metropolen boomenden Immobilien-Projekte, die von Investment-Gesellschaften in lukrativen Waterfront-Quartieren realisiert werden. Die teuren Wohnimmobilien mit einem ausgeprägten ästhetischen und atmosphärischen Mehrwert finden schnell liquide Käufer mit einem ausgeprägten Sinn für soziale Distinktion und einem starken Bedürfnis nach sozialräumlicher Exklusion. Der (stadtsoziologisch) interpretierende Kommentar innerhalb der mikrologischen Beschreibung macht auf die von keiner lebendigen Situation der Wahrnehmung zu trennenden affektiven Berührungen durch Bedeutungen aufmerksam, die sich assoziativ mit einem Gegenstand des Erlebens verbinden. 5 Auf dem methodologi5
Siehe dazu auch die Kapitel 3.2.2. und 3.5.
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schen Hintergrund der Sozialwissenschaften wären solche gleichsam mitlaufenden Bewertungen nicht hinnehmbar, weil sich forschungsrelevante Befunde auf Aussagen »beschränken« müssten, »die empirisch überprüfbar sind.« 6 Die mit jedem Eindruck (hier des Windes) ganz selbstverständlich anspringenden Bedeutungen wären deshalb als »Verunreinigung« wissenschaftlicher Erkenntnis zu betrachten. Sie hätten als Ausdruck der subjektiven Perspektive eines individuellen Beobachters keinen erkenntnistheoretischen Mehrwert, denn schon ein beliebiges anderes Individuum könnte zu einer kontrastierenden gesellschaftlichen und politischen Bewertung gelangen, so dass derartig subjektivistische Einlassungen über eine zu analysierende Situation nichts Denkwürdiges zu sagen hätten. Im Rahmen phänomenologischer Forschung macht der subjektiv deutende »Exkurs« indes auf den Situationscharakter aktuellen Erlebens aufmerksam. Jedes Verstehen kann sich nur auf dem Hintergrund einer persönlichen Situation entfalten, zu der auch einstellungs- und haltungsspezifische Bedeutungen der unterschiedlichsten Art gehören. Vielen Atmosphären, die sich im städtischen Raum zur Geltung bringen, haften deshalb auch politische Bedeutungen an, die sich oft unbemerkt in einem imprägnierenden Sinne vor alles eindrücklich Werdende schieben bzw. dieses »einfärben«. Wenn Gernot Böhme von gesellschaftlichen Charakteren spricht, die Atmosphären anhaften, 7 so ist damit impliziert, dass es bestimmte Eindrücke gibt, deren Verstehen ohne die Übertragung von Bedeutungen auf etwas Wahrgenommenes gar nicht möglich ist.
6.1.1 Windstille Beide Mikrologien sind durch die Situation relativer Windstille geprägt. Gänzlich eingetretene Windstille müsste sich indes als Ruhe des Windes darstellen und nicht schon a priori auch als kontemplative Stille, wie sie im fünften Kapitel konkret wurde. Beide Situationen des wehenden Windes sind insofern durch Ruhe geprägt, als nur ein minimales Wehen und nur stark verlangsamte Bewegungen auf der Oberfläche des Wassers zu beobachten sind. Dinge bewegen sich kaum, sie werden allenfalls vom sanften Wind tingiert. Ganz glatt 6 7
Atteslander, Methoden der empirischen Sozialforschung, S. 24. Vgl. Böhme, Aisthetik, S. 89 f.
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wird der Wasserspiegel wegen der vielen kleinen Wellenbewegungen nicht. Im Blick auf die phänomenologischen Reflexionen der Stille reklamiert sich damit die Betonung eines Unterschiedes zwischen wetterbedingten Ruhezuständen zum einen und atmosphärisch spürbarer Stille zum anderen. Gerade die sehr seicht dahinrollenden Wellen und die müde sich durch die zäh wirkende Luft quälenden Bewegungen der Fahnen lassen Stille auf einem Grat erlebbar werden. Sie kündigt sich an – aber sie kommt in der gesamt-atmosphärischen Situation letztlich doch nicht zu sich. Die mitunter lauten Geräusche schärfen die bewusst spürende Wahrnehmung von Ruhe, die nach einem heftigen Lärm als noch intensiver empfunden werden kann. Eine ausgeprägte Ruhe aller Bewegungen auf der Wasseroberfläche kann sich indes nicht in eine Atmosphäre der Stille steigern. Das liegt hier aber nicht am Mangel Stille evozierender Ruhe und auch nicht an störendem Lärm. Vielmehr spielt im aktuellen Situationserleben die Erwartung von Windstille eine wichtige Rolle in der Bewusstwerdung beinahe eingetretener Windstille. Indem man aus Erfahrung weiß, in welcher Weise Windstille das Bild des Wasserspiegels zum Beispiel in einem Hafenbecken verändern müsste, bleibt sie (im Wissen um das Gefühl ihrer atmosphärischen Präsenz) bewusst aus. Wenn der Wind in der Nähe der Nordsee gar nicht weht, drückt er sich – im Entzug seines Wesens – allzu leicht als etwas Beunruhigendes aus. Weil das Gesicht der Küstenlandschaften im Sinne des Wortes wesentlich vom Wehen des Windes gezeichnet ist, wird die Windstille als eine Abweichung von gewohnten Ordnungszuständen der Natur empfunden. Darin liegt eine gewisse Exotisierung landschaftlicher Bild-Erwartungen. Auf dem Hintergrund solcher Protentionen hat die Windstille dann etwas Beunruhigendes, das auch zur stille-grundierenden Ruhe im Widerspruch steht. Auch die ungewohnten Geräusche, auf die in der Beschreibung verwiesen wird, künden von etwas Merkwürdigem, wenn auch noch nicht von etwas Bedrohlichem. Merkwürdig, weil man die Atmosphäre einer nahezu eingetretenen Windstille vom »Luftton« (Hellpach, s. u.) der Umgebungen her zumindest in einer küstennahen Gegend nicht oder eher selten kennt, in der wehende Winde zur alltäglichen Erfahrung des Wetters gehören. Die »Stille« des Windes steht im Kontrast zu seiner lebendigen Dynamik. Für die Erfahrung heißt das: Man weiß, wie Windstille »ist« und sich am eigenen Leib zu spüren gibt, weil man 181 https://doi.org/10.5771/9783495813690 .
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über pathische Erinnerungs-Bilder unterschiedlich intensiven Wehens verfügt. Um dieses im Medium des Hörens bewusst zu machen, hat der spanisch-baskische Bildhauer Eduardo Chillida stählerne Windkämme als »Hörmale« des Windes an der Küste von San Sebastian fest mit den Felsen verbunden. Sie brechen das Wehen des Windes und erst recht des Sturms und bringen damit eine archaische Lebendigkeit der Natur zu Gehör. 8 Das für jeden Wind charakteristische, aber eben unterschiedliche Wehen wird so – neben dem, was man den Dingen, die der Wind bewegt hat, an Dynamik an-sehen kann – der Wahrnehmung lautlich gleichsam zugearbeitet. Der Charakter des Windes besteht in seinem Wehen, aber sein Gesicht, die Arten leichten Säuselns zum einen und zerstörerischen Reißens zum anderen wandeln sich beständig. 9 Charakter und Gesicht wurzeln im Falle des Windes in aktuellen Situationen, die sich gleichsam fortwährend variieren. Seit der Antike gelten die Winde als die »kosmischen Kräfte und dynamischen Antriebe der Natur« 10. Bei Plinius ist der Wind der »Atem, der das Universum hervorbringt« 11, also ein fundamental schöpferisches und Existenz ermöglichendes Element. Und für Hildegard von Bingen drückt sich in der Windnatur die Dynamik der Welt schlechthin aus. 12 Deshalb umfassen die vier Winde das Ganze der Erde. Der Wind ist das alles durchströmende Medium. Zwischen Stille und Ekstase entfaltet sich auch die klimatologische Natur des Windes. In einem globalen und kosmologischen Sinne galten die Kardinalwinde 13 deshalb als das »Regiment der Natur« 14. Der Wind ist das alles durchströmende Medium. Er ist die Bewegung par excellence und vermittelt zugleich die Erfahrung universellen Bewegt-Werdens.
6.1.2 Nichthaftigkeit des Windes So unsichtbar wie die Luft ist auch der Wind. Er kann vor allem an bewegten Dingen und Halbdingen wie den Wolken gesehen werden. Vgl. auch Nova, Das Buch des Windes, S. 157 ff. Vgl. Schmitz, Band III, Teil 5, S. 133. 10 Ebd., S. 224 f. 11 Ebd., S. 236. 12 Ebd., S. 217. 13 Dies waren die vier Hauptwinde, die aus den vier Himmelsrichtungen kamen. 14 Schmitz, Band III, Teil 2, S. 243. 8 9
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Er weht hinweg, was seiner Kraft kein hinreichend widerständisches Gewicht entgegenzustellen vermag. Deshalb gelten in der bildlichen Rede jene Worte auch als »in den Wind geredet«, die trotz aller Lautlichkeit kein Gehör finden können. Ebenso gilt ein Rat, der auf keine Resonanz stößt, als »in den Wind geschlagen« 15. Mit der Nichthaftigkeit des Windes verbindet sich die Bedeutung des Wehens. Und so wird, wer »viel Wind macht«, als »Schaumschläger« angesehen, der mit aufgeblähten Worten und luftiger Rede in der Sache nur Dürftiges zu sagen hat. So unsichtbar wie der Wind, so luftig ist hier die Substanz einer Rede. An keiner Stelle der Beschreibungen ist von einer unmittelbaren Sichtbarkeit des Windes die Rede. Dass da ein Wind ist, wird an der Bewegung der Dinge und der Wellen des Wassers in gewisser Weise »abgelesen«. Dies ist aber kein »Lesen« in einem semiotischen Sinne, sondern vielmehr eine synästhetische Übertragung von Bewegungen, die der Wind in das mit- und nachspürende Situationsverstehen vermittelt. Auch dann, wenn der Wind so schwach ist, dass er am eigenen Körper gar nicht gespürt werden kann, helfen uns die sich bewegenden Dinge, sicher sein zu können, dass es diesen schwachen Wind tatsächlich gibt. Die Nichthaftigkeit des Windes wird – so paradox es erscheinen mag – gerade dann in seinem Wehen erkennbar, wenn wir über synästhetische Brücken der Vermittlung von Wahrnehmungen gehen müssen. Das Wehen des Windes verweist in seiner Immaterialität auf etwas, das in seiner Ontologie – auf dem Hintergrund einer Logik der körperlichen Dinge – einem Nichts ähnlich erscheint. Wichtige Zeugen der Schwäche eines Wehens sind nicht zuletzt die Geräusche, die sich in einer anderen Weise im Raum ausbreiten, als hätte sich der Wind zu einem Sturm vergrößert und würde nun laut und vernehmlich dröhnen. Auch in der Art und Weise, wie die Möwen auf dem fast glatten Spiegel des Hafenbeckens sitzen oder eine Ente auf dem Wasser ganz sanft und hörbar rutschend dahingleitet, bekräftigt sich im Medium der Atmosphären der Sachverhalt, dass es in dieser Situation nur einen schwachen und kaum spürbaren Wind gibt. Das Wehen des Windes ist aber nicht nur indirekt an Eindrücken zu beobachten, die aus der äußeren Welt kommen (von Dingen, die sich bewegen, oder Geräuschen, die man hören kann), sondern auch im leiblichen Spüren des eigenen Selbst. Der Wind ergreift oder berührt dann aber nicht wie ein physischer Körper, hat er doch – 15
Grimm / Grimm, Deutsches Wörterbuch, Band 30, Sp. 240.
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wie die Stille – prädimensionales Volumen. Deshalb wird er auch nicht in der Gestalt eines körperlichen Gegenstandes wahrgenommen, sondern als etwa Umschließendes, das kommt und geht, ohne dass sich solches Annähern oder Verschwinden in einfach wahrnehmbarer Weise zur Geltung bringen würde. Eine alte sächsische Rechtsgebärde macht auf eine mächtige Bedeutung der Nichthaftigkeit des Windes aufmerksam, derer man sich beim gerichtlichen Zweikampf vergewisserte, »wenn der Beklagte nicht erschien. Der Kläger sollte dann dreimal in den Wind schlagen und hatte damit formal den Zweikampf gewonnen.« 16 Geradezu existenzielle Bedeutung erlangt die Nichthaftigkeit des Windes im Alten Testament, wonach das ganze menschliche Leben mit einem »Wind« verglichen wird. 17 Solche Flüchtigkeit tritt in jenen Bibel-Übersetzungen noch deutlicher zu Tage, in denen das menschliche Leben noch nicht einmal mit einem Wind, sondern nur noch mit einem »Hauch« verglichen wird. In der Mikrologie findet sich zudem ein Hinweis auf die Unmöglichkeit der unmittelbaren Vorhersehbarkeit der Winddynamik. Eine sich unsicher »ankündigende, dann aber doch ausbleibende Windstille« weist auf eine Unkalkulierbarkeit des Windes hin, die sich wiederum mit jener Nichthaftigkeit verbindet, welche das Wesen eines Wehens ausmacht. Auch diese Eigenschaft drückt sich in der sprichwörtlichen Rede aus. So steht ein sich »drehender« Wind 18 für eine ganz spezifische Unberechenbarkeit, die vom Wind auf den menschlichen Charakter übertragen wird. Die Rede vom »richtigen« Wind, auf den man warten muss, spielt auf eine schwer vorhersehbare Stimmung einer Situation an, die sich – in der Art einer »Witterung« – eher intuitiv vernehmen, als exakt vermessen lässt. Die Unberechenbarkeit des Windes wird schließlich anthropomorphisiert, wenn ein schwer kalkulierbarer Mensch als jemand gilt, der seinen »Mantel nach dem Winde hängt« 19. Wie die Stille so ist auch der Wind kein Ding, sondern ein »Halbding«. Er steht zwischen den Dingen und den Qualen in der Mitte. 20 »Der Wind geht in seiner Äußerung, zu wehen, viel mehr
16 17 18 19 20
Röhrich, Lexikon der sprichwörtlichen Redensarten, Band 3, S. 1731. Hiob 7,7. Lexikon der sprichwörtlichen Redensarten, Band 3, S. 1734. Ebd. Vgl. Schmitz, Band III, Teil 5, S. 117.
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auf, als wir bei einem Ding erwarten dürfen.« 21 Der Halbding-Charakter des Windes bezeugt sich insbesondere in den Phasen seiner Wandlungen an Intensität und sinnlich vernehmbarer Präsenz. Wenn sich der tobende Sturm für einen Moment in einen wehenden Wind gleichsam »zurück«-zieht, so kommt er auch dann nicht als jener Sturm zurück, der er eben noch war, sobald er wieder zu stürmen beginnt. Der Wind ist kaum noch derselbe, »wenn er nach einer Phase der Windstille erneut bläst.« 22 Sein nichthafter Charakter drückt sich deshalb auch darin aus, dass man keinen exakten Ort lokalisieren kann, an dem er sich zu einer bestimmten Zeit »befindet«. Als Halbding kann sich ein Wind an keinem Ort »befinden«; vielmehr ist bzw. west er als spürbare Macht in einer luftigen, atmosphärisch wahrnehmbaren und leiblich spürbaren »Herumwirklichkeit«. Dass er als physikalisches Feld von Gasen, die unter bestimmten Druckverhältnissen stehen, ganz andere proto-materielle Eigenschaften hat, spielt weder phänomenologisch eine Rolle, noch spiegelt sich diese abstrakte Seite des Windes in etymologischen Quellen in nennenswerter Weise wider. In der Situation des Erlebens ist der Wind allein in seinem (aisthetischen) Escheinen von Belang; und in dieser Perspektive ist er ein relatives Nichts. Diesem verdankt er ebenso seine immersive und (potentiell plötzlich) überfallende Eindrucksmacht wie seine unfassbare Flüchtigkeit. In seiner Spürbarkeit macht der Wind auf die dialektische Verschränkung von Körper und Leib aufmerksam. Ohne den physischen Körper, der ja in seiner materiellen Voluminösität vom Wind berührt und von einem schweren Sturm als Hindernis geradezu angegriffen wird, gäbe es das Gefühl gar nicht, wonach man sich unter dem mächtigen Druck eines Sturmes in seinem Gleichgewicht bedroht fühlt. Auch das laue Umspielt-Werden von einem frühlingshaften Luftzug setzt einen physiologisch spürenden Körper voraus, ohne den es keinen wahrnehmenden Leib geben könnte. Dieses merkende Spüren macht uns auch darauf aufmerksam, dass ein und derselbe Wind mal so, mal anders empfunden werden kann. Es hängt schließlich von den Bewegungen des eigenen Körpers ab, wie und als was ein Wind gespürt wird. Und so wird er je anders empfunden, »wenn man mit ihm geht, als wenn man gegen ihn geht.« 23 Schmitz stellt fest, dass der 21 22 23
Ebd., S. 118. Ebd., S. 123. Ebd., S. 117.
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Wind als Phänomen nur vorkommen kann, indem er zudringlich wird. 24 Zur Erfahrung solcher Zudringlichkeit gehört die Gewahrwerdung der eigenen (mehr oder weniger) massiven Körperlichkeit, gegen die der starke Wind und Sturm seine ganze Kraft aufbietet. Alle Beschreibungen der Mikrologie sind nur auf dem Hintergrund der Nichthaftigkeit des Windes zu verstehen. Auch das dem Erleben einer fast glatten Wasseroberfläche anhaftende Eindrucksmoment der Beunruhigung – die letztlich der Konstitution von Stille entgegensteht – hat seinen Grund in dieser Nichthaftigkeit, die in den polaren Gesichtern seines Wehens besonders eindrucksvoll wird. Zum einen verschwindet das Wehen in der annähernden Windstille beinahe ganz, zum anderen bricht es in orkanartigen Ekstasen geradezu katastrophisch aus.
6.1.3 Die Rolle des Lichts im Wind-Erleben An mehreren Stellen beider Beschreibungen ist vom Licht die Rede, denn es hat seinen mitunter beträchtlichen Einfluss auf das Erleben des Windes. Besonders das Gegenlicht der Sonne, das die Dinge scharf konturiert und »hart« macht, hatte in der ersten der beiden WindMikrologien das Mit-Sein in einer ganz spezifischen Atmosphäre gestimmt. Im harten Licht dominieren die epikritischen Eindrücke, so dass sich keine warme Atmosphäre der Ruhe ausbilden kann. Umgekehrt ist es das als weich empfundene Licht, welches dem Erleben der Stille in der Wind-»Stille« zumindest optional besser entgegenkommt als die scharfe und kantige Atmosphäre des Gegenlichts. Nicht zuletzt wirkt das Gegenlicht auch deshalb in einem synästhetischen Sinne hart, weil es die Farben als atmosphärische Erlebnisqualitäten um ihre Nuancen bringt und im Effekt verflacht. Im Gegensatz dazu werden sie vom »weichen« Sonnenlicht diffus verzeichnet. »Mit der Sonne im Rücken erscheint der Wind ›stiller‹«, heißt es in der Beschreibung. Das fahle Licht stimmt aber nicht nur das WindErleben, sondern – in der relativen Windstille und Ruhe aller Bewegungen – auch das Erleben von Objekten, deren sinnliche Wahrnehmung sich besonders für die Vermischung mit gesellschaftlichen Bedeutungen anbietet. So taucht selbst der Wohnturm, dessen Gesicht an neoliberale Waterfront-Projekte erinnert, obwohl es doch tatsäch24
Vgl. ebd., S. 122.
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lich in den Ideen des sozialen Wohnungsbaus vergangener Zeiten verwurzelt ist, im weichen Licht der leicht verhangenen Sonne in das romantizistisch-traumvisionäre Bild »sedierten« städtischen Lebens ein.
6.1.4 Die Rolle der Geräusche im Wind-Erleben Außerordentlich vielfältig und facettenreich sind die Hinweise auf Geräusche, die in spezifischer Weise hörbar werden. In der annähernden Windstille gibt es noch nicht einmal ein leises und leichtes Windrauschen, so dass sich eine nicht-alltägliche, gleichsam exotische Situation der Lautlichkeit einstellt. In der ersten Beschreibung sind es die in der Nähe über eine Eisenbahnbrücke fahrenden Güter-, Regional- und ICZüge, deren Poltern sich in dieser relativen Stille-Atmosphäre ohne jede Filterung durch dämpfende Windgeräusche ausbreiten kann. Deshalb erscheinen sie nicht nur besonders nah, sie werden auch als intensiv und eindringlich erlebt. Das liegt nicht zuletzt daran, dass sie sich nicht mit anderen sogenannten »Neben«-Geräuschen vermischen. Willy Hellpach hatte auf die Bedeutung der Töne im Erleben eines »Witterungsbildes« hingewiesen. Was wir in und von unserer Umgebung hören, hat einen beträchtlichen Einfluss auf das Ergehen in einem Wetter. Hellpach sprach dabei zwar nur vom Lautlichen und nicht vom Wind. Aber der Wind drückt sich als eine Modalität aktuellen Wetter-Erlebens auch lautlich aus. Deshalb lässt sich auf den Wind übertragen, was Hellpach ganz allgemein über das Wetter sagte. Nachdruck verlieh er seinem Hinweis auf die Bedeutung des Hörens im Wetter-Erleben mit den Beispielen vom »Summen der Bienen« wie dem »Konzert der Singvögel« 25. Beides sei nur zu hören, wenn die akustische Hintergrundkulisse es erlaube, Nuancen zu vernehmen. Am Beispiel der unter Kapitel 6.3 wiedergegebenen Mikrologie zum Sturm-Erleben wird sich dies konkretisieren. Das Toben des Sturmes übertönt nämlich dann alle anderen Geräusche, und atmosphärisch bestimmend ist nur noch ein ekstatisch stürmendes und »lärmendes Durcheinander« 26. Die unter 6.1 wiedergegebene Mikrologie enthält aber ebenso einen Beachtung verdienenden Hinweis, wonach das laute Dröhnen 25 26
Hellpach, Sinne und Seele, S. 64. Grimm / Grimm, Deutsches Wörterbuch, Band 20, Sp. 576.
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der Züge allen anderen Geräuschen ihren lautlichen Ausbreitungsraum nimmt. Es gibt aber auch akustische Konkurrenzen, also nebeneinander bestehende Mikrologien der Lautlichkeit, die sich in ihrem je eigenen Raum – mitunter auf Inseln der Hörbarkeit – entfalten. Solche verinselten Klanglandschaften entstehen vor allem dann, wenn ein die ganze Aufmerksamkeit dominierender Lärm plötzlich abbricht. Dann entsteht die Situation eines »Danach«, in der es noch leiser zu sein scheint als zuvor, so dass die vorbeifliegenden Möwen nicht nur ein Bewegungsbild bieten, sondern sich auch im Klangbild eines seichten Rauschens ihrer Flügel in der Luft zu Gehör bringen können. Der Wind – so scheint es – trägt, wenn er nicht weht, keine Geräusche mehr durch den Raum, wie er es tut, wenn er kräftig weht. Deshalb gibt es in der Windstille lautliche Präsenzen, die es »im Wind« nicht gibt; so zum Beispiel die geradezu plastischen Geräusche einer schnatternden Ente. Bemerkenswert ist schließlich das Nebeneinander akustisch ganz unterschiedlich intensiver Geräusche, die sich dank des fast stillstehenden Windes geradezu störungsfrei von ihrem nahen oder fernen Entstehungsherd her ausbreiten können. Was von sich aus laut ist, dringt (wie zum Beispiel der Lärm der über eine Eisenbahnbrücke fahrenden Züge) weit in den Raum hinein. Was von sich aus dagegen eher leise ist, bleibt als hörbares Geräusch in der Nähe des akustischen Quellortes (zum Beispiel das Klappern des Schnabels einer Stockente, die sich über die Uferböschung genähert hat, oder das Zischen des Wassers unter den Füßen einer auf der fast glatten Oberfläche des Hafenbeckens landenden Ente). Das Beispiel macht deutlich, dass in der Windstille Geräusche ganz unterschiedlicher Lautstärke im Erleben nebeneinander Bestand haben können. Dabei geht es immer um atmosphärische Konkurrenzen des Lautlichen. Immer bringt sich das Wehen des Windes zu Gehör (in der Windstille extrem leise bis fast verstummt oder im lärmenden Donnern des Orkans). Der Wind erzeugt in seinem Wehen ein Grundgeräusch, das gleich einer Kulisse zu allen anderen Eindrücken des Lautlichen in einer Beziehung steht. Die tatsächlichen Abstände zu einer Geräuschquelle spielen aus der Hör-Perspektive des absoluten Ortes (»Hier«) keine erlebnisrelevante Rolle. So kann das »Leise« neben dem »Lauten« existieren, weil das Laute aus der Ferne so leise werden kann, wie das Leise in der Nähe laut. So gesehen ist das Schnattern der Enten nicht lauter und nicht leiser als das hörbare maschinistische Hämmern einer (tatsächlich) schweren Industrieramme in relativer Ferne. Aus phänomenologischer Sicht kommt es 188 https://doi.org/10.5771/9783495813690 .
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in der Frage der Wirkung eines Geräuschs auf das Befinden eines Menschen an, im Sinne von Hellpach auf sein Ergehen in einer bestimmten Situation – zu der zwangsläufig auch Lautliches gehört. Genormte Immissionsgrenzwerte entziehen sich dieser Logik des Erlebens; sie bringen Akzentsetzungen einer eigenen Rationalität zur Geltung. So wird nach dem Bundes-Immissionsschutzgesetz (BImSchG) 27 die potentielle Beeinträchtigung von Menschen durch ein Geräusch allein nach der Dezibel-Stärke beurteilt und nicht nach der Qualität eines Geräusch-Erlebens. Dies macht noch einmal auf die Rolle des nicht wehenden Windes im Raumerleben des Lautlichen aufmerksam. Dies umso mehr, als sich Geräusche in der Art ihrer empfundenen Ausbreitung und Wirkung auf das aktuelle Befinden als atmosphärisch eindrückliche Stimmungsmedien erwiesen haben. In ihrem erspürenden Hören breiten sich Geräusche in der (relativen) Windstille anders aus, als im laut vernehmlichen Rauschen eines Sturmes. In der Windstille gibt es schließlich gar keinen windbedingten, hintergründigen Geräuschteppich, der zu hören wäre und auf alles Hörbare einwirken könnte. In der Folge können sich die an ihren Orten auf je unterschiedliche Weise entstehenden Geräusche in der Situation der Windstille in einer gewissen »Reinheit« ausbreiten. Es kommt zu keiner Vermischung durch ein windbedingtes Hintergrundrauschen. Deshalb können sich nun auch, wie explizit in der zweiten Mikrologie beschrieben, verschiedene Geräusche gleichzeitig und gleichsam »nebeneinander« entfalten, die der Wind in seinem Grundrauschen sonst vermengen würde.
6.1.5 Das Echo und die Verwirrung der Sinne Geräusche, die vom Wind davongetragen werden, verlieren sich in einer imaginären Ferne. Sie lösen sich gleichsam auf, indem sie immer leiser werden. Sie können aber auch darin ihre eigene Zeitlichkeit zum Ausdruck bringen, dass sie in der mitunter unerwarteten Klanggestalt eines Echos von einer ganz anderen Seite als der Gegend der Schallquelle wiederkommen und erst dann vergehen. Die zweite »Gesetz zum Schutz vor schädlichen Umwelteinwirkungen durch Luftverunreinigungen, Geräusche, Erschütterungen und ähnliche Vorgänge« in der Fassung vom 17. Mai 2013; BGBl. I S. 1274 ff.
27
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Beschreibung in Kapitel 6.1 enthält einen beachtenswerten Hinweis zum räumlichen Charakter eines solchen Echos. Der Schall ist nach Hermann Schmitz geschichtlich, »indem er sich – anders als die Farbe – mit seiner vergangenen Dauer gleichsam auflädt, so dass diese in ihm als Retention noch mit- oder nachgehört wird.« 28 Das ist beim Echo in sinnlich unmittelbar erfahrbarer Weise der Fall. Weil ein Geräusch so wenig sichtbar ist wie der Wind, ist auch die räumliche Ausbreitung des Echos unsichtbar; sie ist nur in ihrer Lautlichkeit vernehmbar. Am gegebenen Beispiel beeindruckt zunächst die »Reinheit« des metallenen Rammgeräuschs, dessen tatsächliche Quelle sich irgendwo im relationalen Raum außerhalb des Sichtfeldes befindet. Eindrucksmächtig ist aber weniger dieses Geräusch, dessen Quelle in einer Entfernung von etwa 500 Metern vermutet wird, sondern seine hallende Wiederholung. Dabei zeigt sich, dass das Echo eine das Hörbare verwischende Wirkung hat. Jeder Versuch genauen »Hin«-Hörens in eine Richtung, in der ein Quell-Ort des Hämmerns vermutet wird, bleibt vergeblich. In phänomenologischer Sicht kommt es deshalb auch nicht auf die physikalische Tatsächlichkeit einer Lärmquelle an. Im Erleben gibt es Gründe für etwas Wahrgenommenes, aber keine Kausalitäten im naturwissenschaftlichen Sinne. Jedem Kausalitätsverdacht wiederspricht schon der Eindruck, wonach im Vernehmen eines Echos die geglaubte Ordnung im relationalen Raum durcheinandergerät. So stellt sich im Hören des Widerhalls auch gar nicht die Frage, wo die hallenden Amplituden sind. Das Echo verwirrt schon die Möglichkeit, an ihm etwas Nahes oder Fernes überhaupt entdecken zu können. Schon beim nicht hallenden Geräusch bleibt jede Verortung einer tastsächlich im relationalen Raum existierenden Quelle ein vergeblicher Versuch der rationalen Rekonstruktion objektiver Sachverhalte. Dieser muss sich auf Erfahrungswerte stützen, die letztlich Spuren wissenschaftlichen Wissens enthalten, das in die Lebenswelt diffundiert ist. Solches Wissen vermag in der aktuellen Situation des gleichsam durchs Echo »verzerrten« Hörens aber keine Orientierung zu versprechen. Im Echo wechselt ein Geräusch mit der Amplitude seines Hinund Hergehens in gewisser Weise seinen sich suggerierenden Herkunftsort. Es scheint auf merkwürdige Weise im Raum hin und her zu schwimmen. Dabei wissen wir schon lebensweltlich – auch ganz ohne das »bessere« szientistisch überformte Schulwissen einer so28
Schmitz, Phänomenologie der Zeit, S. 243.
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genannten »Allgemeinbildung« –, dass ein Echo zwar auf eine tatsächliche Geräuschquelle verweist, aber in seinem »Pendeln« die Sinne und die Orientierung in Raum und Zeit verwirrt. Das Echo produziert in gewisser Weise ein »Nachhören«, so dass etwas noch einmal hörbar wird, dessen Klang »eigentlich« schon vergangen ist. Mit einem solchen »Nachhören« hat man es auch dann zu tun, wenn ein Ton oder Geräusch ohne Echo verhallt. Auch dann hört man ihn noch als »Etwas«, zwar nicht in einem akustischen Sinne, aber doch als etwas spürbar Nachklingendes. Das Vergehen eines Klanges hat seine eigene Dauer 29. Aus guten Gründen der Evidenz wird es dennoch als etwas ernst genommen, das es gibt. Und so leben die Menschen in ihrem Vermögen zur Rationalität in einem alter Ego und lassen sich von einem Echo faszinieren, das eigentlich nur »Schall und Rauch« ist. Sie spielen sogar damit, indem sie es durch lautes Rufen an geeigneten Stellen auslösen, um daran ihre Freude zu haben. Damit zeigen sie, dass sie selbst Trügerisches – unter bestimmten Voraussetzungen – bereit sind, ernst zu nehmen. Der Schall des Echos ist nicht weniger eindrucksstark und immersiv als der eines Geräuschs, das ein Individuum auf gleichsam »geradem« Wege trifft. Das Echo wabert im prädimensionalen Raum als etwas scheinbar Schwebendes wie Schwimmendes umher, das sich in seinen ProtoBewegungen mit metrischen Abstandsmaßen nicht nachvollziehen lässt. So entsteht schließlich auch die in der obigen Mikrologie hervorstechende, scheinbar absurde Aussage, der Hall des maschinistisch-rhythmischen Hämmerns mache den Eindruck, als käme er aus den Wohnhäusern. Das Beispiel des Echos bzw. des Halls macht das gewohnte Verständnis des Hörens als den zweiten »wichtigen Fernsinn« 30 (neben dem Sehen) denkwürdig. Diese Einschätzung rührt daher, dass wir weiter in den Raum und die Ferne sehen und hören als mit den Fingern tasten können. Indes wird schon beim Riechen die »Reichweite« der Sinne in produktiver Weise bedenklich, kommt es doch in der Frage, ob wir »weit« in den Raum hineinriechen können oder dabei auf die nächste Nähe begrenzt bleiben, auf die Intensität eines Geruchs an sowie auf die Art und Weise, in der der Wind einen Geruch »transportiert«. Die Phänomenologie des Echos macht auch die allzu selbstverständliche Klassifizierung des Gehörsinns als »Fernsinn« 29 30
Vgl. ebd., S. 58. Gosztonyi, Grundlagen der Erkenntnis, S. 77.
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fragwürdig. Oben hatte sich bereits gezeigt, dass es beim Hören-Können von etwas nicht auf die Nähe oder Ferne einer Geräuschquelle ankommt, sondern allein auf die Hörbarkeit von etwas. Dabei spielt die Frage keine Rolle, ob ein Geräusch (im immissionstechnischen Sinne) »tatsächlich« laut ist wie das Aufschlagen einer Ramme oder »tatsächlich« leise wie das Klappern von Entenschnäbeln. Auch die von Alexander Gosztonyi aufgestellte Behauptung, der Gehörsinn sei »raumverkürzend« 31, führt in die Irre. Zwar können wir etwas, das laut genug ist, um das Gehör zu erreichen, auch hören, wenn die Geräuschquelle tatsächlich weit weg ist. Aber wir verkürzen dann nicht den Raum. Im Hören vermischt sich das Nahe und Ferne. Darauf macht schon das Hören-Können von etwas Leisem aufmerksam, das sich in großer Nähe ereignet und mit etwas anderem Leisen vermischt, das (als etwas »eigentlich« Lautes) aus einer unbekannten Ferne kommt. Es ist also eher eine Raumvermischung als eine Raumverkürzung, die das Hören »betrügt«. Die Macht des Windes unterstreicht dies nachdrücklich, vermag sie es doch nicht nur, uns ein aus der Ferne kommendes Geräusch nahe zu bringen, sondern auch umgekehrt, ein tatsächlich in der Nähe entstehendes Geräusch davonzutragen und aus dem Raum des Wahrnehmbaren beinahe ganz hinauszuschieben.
6.2 Starker Wind Die zweite Mikrologie setzt sich mit dem atmosphärischen Spüren von stärkerem Wind auseinander. Der Ort, an dem die Niederschrift erfolgte, ist die niederländische Seehafenstadt Delfzijl. Die eher flachen Wellen des Wassers künden von einem starken, aber nicht stürmischen Wind. Das Hafenbecken liegt tief und könnte in seiner Binnenlage gar nicht so aufgewühlt werden wie das Wasser des Meeres. Auch gibt es in diesem Hafen keinen Durchfluss frischen Wassers wie in einem offenen Tidehafen. Der nur leicht gekräuselte Wasserspiegel suggeriert eher Ruhe als eine tendenziell chaotische Sturm-Dynamik. Der Wind weht stark; ab und zu bläst er böig, als wollte er sich im Stürmen bewähren – er bläst sich im Sinne des Wortes auf. 31
Ebd., S. 78.
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Starker Wind
Der öffentliche Platz am Hafen ist von einer Mauer umfriedet, die auf ihrer ganzen Länge mit ungefähr 100 Blumenkästen dekoriert ist. In allen stehen die gleichen gelben Stiefmütterchen. Die Atmosphäre wirkt an diesem Platz schon durch die blühenden Blumen im kalten vorwinterlichen Sturm künstlich und skurril – als wollte die Stadtgesellschaft dem natürlichen Rhythmus der Jahreszeiten etwas entgegensetzen und den spürbar nahenden Winter zumindest symbolisch auf Distanz bringen. Das Ganze wird dadurch noch sonderbarer, dass die ab und an aufkommenden Sturmböen an den Blüten und Stengeln der gelben Stiefmütterchen reißen. Die Pflänzchen zittern so heftig, dass man schon erwartet, abgerissene Köpfe umherfliegen zu sehen. Hinter mir steht ein Aluminiummast, an dem eine Fahne flattert. Wenn ich die Fahne auch nicht sehen kann, so ist sie in ihren hörbaren Bewegungen doch gegenwärtig. Das beinahe kontinuierlich knatternde Schlagen des Stoffs wird im Eindruck schneidender Härte zudringlich. Immer, wenn die Sonne kurz zwischen den finsteren Wolken hindurchscheint, wirft der Schatten der flatternden Fahne ein unruhiges Muster auf das Pflaster des Platzes. Der Zustand des Stoffes (der untere Saum hat sich bereits gelöst und folgt einer vibrierenden Eigendynamik) verrät etwas von der zehrend-zerstörerischen Kraft des Windes. Der Himmel ist dramatisch bewölkt. Man kann ihm das bewegte Wetter ansehen. Die Unruhe des Windes drückt sich atmosphärisch im »Bild« des Himmels aus. Das spürbare Wetter zögert dagegen noch mit seinem Durchbruch ins Dramatische. Die Freizeitboote schaukeln unter dem Einfluss der Böen in schnellen und abgehackten Bewegungen hin und her. So entsteht der Eindruck hektischer Bewegungsintervalle. Es ist das gleichzeitige Sich-Bewegen der Boote, das den Wind in seiner dynamischen Kraft ins Bild setzt. An einer Pier weiter hinten liegt ein großer niederländischer Fischtrawler, ein seegängiges Polizeiboot und eine Reihe kraftstrotzender Hochseeschlepper (s. Abb. 17). Ab und zu geht ein Hafenarbeiter in gelbem Ölzeug über den Steg. Die über die Pontons laufenden Männer haben meistens die Hände in den Taschen und bewegen sich in einer zusammengezogenen Haltung, als könne ihnen der Wind, wenn sie sich eng und schlank gemacht haben, weniger unangenehm werden. Im Unterschied zu den kleinen Booten liegen die Hochseeschiffe bewegungslos an ihren armdicken Tauen. Im Hintergrund drehen sich zahlreiche Windkraftanlagen – eine steht still. Die riesigen dreiblättrigen Rotoren bewegen sich im Sturm kaum 193 https://doi.org/10.5771/9783495813690 .
Die stimmende Macht des Windes
Abb. 17: Delfzijl (Niederlande); Yachthafen; Bild: Jürgen Hasse.
schneller als bei flauem Wind; dank stufenloser Getriebe wird die Kraft des Windes ohne unnötigen Drehaufwand gleichmäßig in Strom verwandelt. Am intensivsten ist der Wind am eigenen Leib spürbar. In der Berührung der Gesichtshaut kündigt sich seine scharf schneidende Macht aber nur an. Die Haut ist ein Kontaktmedium im Wetter-Erleben und eine Brücke zum leiblichen Spüren. Mitunter reißt der böige Wind an der Kleidung und treibt die Kälte durch den wetterfesten Stoff. In einem leiblich umgreifenden Charakter wird der Wind dann in seinen a-rhythmischen Böen zudringlich. Das angreifend kalte Wehen kommt zwar von hinten, verliert sich aber in einem Nichts. Die Böen behaupten sich trotz ihrer Unsichtbarkeit im wechselnden Spiel einer noch mäßig bleibenden an- und ergreifenden Macht. Die Verkehrsgeräusche einer nahe gelegenen Straße sind nur in den Windflauten kurz hörbar. Das Rauschen des Windes übertönt Vieles; es ist »an« allen möglichen rauschenden Widerständen hörbar. So bekommt man den Wind als leibliche und körperliche Person in einer doppelten Weise zu spüren: leiblich als Gefühl des Umgriffenund Angegriffen-Werdens sowie in der Übertragung der motorischen Unruhe des Wehens in eine atmosphärisch am eigenen Selbst gefühlte Unruhe. Aber ich stehe auch als körperliches »Etwas« im Wind, das den stürmischen Böen im Wege ist und für den durch den Raum strömenden Wind ein Hindernis darstellt. Als körperlicher Widerstand werde ich zu einem Gegen-Stand. Ich kann den Wind zwar an 194 https://doi.org/10.5771/9783495813690 .
Starker Wind
Abb. 18: Delfzijl (Niederlande); Hafen-Bistro; Bild: Jürgen Hasse.
den Dingen sehen, die er in Bewegung versetzt; spüren kann ich seine Stärke nur leiblich, indem ich den wehenden Angriff als Druck und damit als etwas aktuell Eigenes empfinde. Am eindrücklichsten zeigt sich die Macht des Windes in der Kraft, mit der er den eigenen Körper spürbar erfasst. [Wechsel des Ortes vom innenstadtnahen Hafen in den Innenraum eines Hafen-Bistros am Ufer der Außenems] Was man aus der Perspektive eines geschützten und beheizten Innenraumes von den mitunter stürmischen Böen zu sehen bekommt, gleicht einem Theater, das auf dem leinwandartigen Präsentationsmedium eines »Draußen« abläuft. Es ist dies nur noch ein bildliches Spiel scheinbar gestischer Bewegungen in einer atmosphärisch entfernten Welt, die sich vor den Fensterscheiben eines Hafen-Bistros in Gestalt eines kulissenartig stattfindenden Naturschauspiels darbietet. Der Eindruck verdankt sich in besonderer Weise der erhöhten Position des Gebäudes, das auf Stelzen halb über dem seeschifftiefen Wasser der Außenems steht (s. Abb. 18). Der sinnliche Kontakt zum Wind ist im gut beheizten Innenraum aufs Visuelle reduziert. Die Distanz unterbricht nicht den visuellen, aber den leiblich spürbaren Kontakt mit dem Wind. Im Blick durch das Fenster kann der Wind ausschließlich interpretierend »identifiziert« werden. In der gleich195 https://doi.org/10.5771/9783495813690 .
Die stimmende Macht des Windes
sam isolierenden Hülse des Hauses gehört er nur noch entfernt und im bildlichen Sinne zum eigenen Mit-Sein. [ nach dem Verlassen des Gebäudes ] Erst das Draußen-Sein im Wind macht aus einer Um-Welt wieder »meine« Mit-Welt. Aber dieser Übergang ist kein abrupter. Für einen Moment nehme ich die behagliche Wärme in einem leiblichen Sinne noch ins stürmische und kalte Draußen mit. Erst allmählich setzt sich die Macht des Wetters gegen das verblassende Gefühl bergender Wärme wieder durch. Die voranstehende Mikrologie unterscheidet sich durch die spürbar größere Stärke des Windes von der ersten; der Wind zeigt sich nun in einem anderen Gesicht. Das subjektive Ergehen in der Lebendigkeit dieses Wehens wird durch die besonderen Rhythmen mächtiger Böen geprägt. Die im Folgenden zu diskutierenden phänomenologischen Aspekte situativen Wind-Erlebens werden zum Teil auch Momente anderer Mikrologien zum selben Thema berühren.
6.2.1 Zur Situation starken Windes Jedes Erleben ist situativ gerahmt. Das gilt auch für das AusgesetztSein in einem Wind, ganz gleich, ob es sich dabei um einen lauen und milden Luftzug handelt, der sich knapp oberhalb der Windstille zu spüren gibt, oder um einen eisig schneidenden Sturm, der sich in seiner Schärfe massiv ins leibliche Befinden durchsetzt. Das aktuelle Da- und So-Sein im Wind kann auf beinahe unspürbare Weise von einem seichten Wehen grundiert, aber eben auch von der stürmenden Macht eines reißenden Orkans ganz eingenommen werden. So wird die Situation der Niederschrift zu dieser Mikrologie von einem Wind begleitet, der etwa die Stärke 6 nach der Beaufort-Skala hatte. Schon im ersten Absatz der Beschreibung klingen Eindrucksmomente an, die auf den Situations-Charakter des Erlebens dieses Windes an diesem Ort verweisen. Dabei zeigt das Beispiel, in welcher Weise vor allem sachverhaltliche Gegebenheiten das subjektive leibliche Befinden und auch die damit einhergehende sinnliche Sensibilität als Aufnahmebereitschaft und -fähigkeit gegenüber einem umweltlichen Geschehen stimmen. Es ist also nicht nur die Stärke bzw. Art und 196 https://doi.org/10.5771/9783495813690 .
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Weise des Wehens, die eine windige Situation disponiert; auch die Vielfalt der räumlichen Umgebungsbedingungen wirkt auf die mögliche Beziehung ein, die man zu einem Wind haben kann. Von programmatischer Bedeutung ist am gegebenen Beispiel zunächst die Situation eines Seehafens, in dem die festgemachten Schiffe als Ausdruck einer lebendigen und komplexen Welt der Arbeit gegenwärtig sind. Zunächst ist ein Seehafen durch vielfältige Programme (was sein soll) der marinen Wirtschaft und Hafenlogistik bestimmt. Zur Situation auf der Objektseite gehört folglich auf einer sachverhaltlichen Ebene alles, was es in einem Seehafen im Hinblick auf die Erfüllung seiner primär logistischen Funktionen gibt. Dies sind in erster Linie schifffahrtsbedingte Infrastrukturen und solche des Güterverkehrs sowie des Handels. In der der Mikrologie zugrunde liegenden Situation ist auch ein öffentlicher Platz relevant, auf dem die Eindrücke des wehenden Windes protokolliert wurden. Er grenzt direkt an den Wirtschaftshafen an und öffnet den Blick über die schwimmenden Laufstege mit den ungezählten Motoryachten und Segelbooten hinweg zu den größeren Piers, an denen die Fischtrawler und Hochseeschlepper liegen. Dies sind die evidenten Seiten der Realität eines Seehafens, dessen Ordnung der Dinge diesen Hafen ausmacht. Zweifellos gibt es gute und sich selbst erklärende Gründe, von ähnlichen Gegebenheiten auch in anderen Seehäfen dieser Art und Größenordnung auszugehen. Aber das ist hier nicht von Belang. Keine zuständliche Situation eines Seehafens könnte mit der eines anderen identisch sein. Erst Recht gibt es keine in gewisser Weise »fixen« aktuellen Situationen, denn ein Hafen pulsiert in dem, was in ihm geschieht, mit den verschiedenen Rhythmen der Natur, aber auch des lebendig gelebten Raums.
6.2.2 Atmosphärische Disharmonien Am Beispiel ist – als Ausdruck eines besonderen Ortes – zunächst eine ästhetische Raumgestaltung auffällig, die in einem Seehafen als virulentem Ort der maritimen Wirtschaft unpassend wirkt. Bemerkenswert sind die über die gesamte Länge einer Mauer zum Hafen in einer geraden Kette aufgereihten gelben Garten-Stiefmütterchen (viola wittrockiana), die man in einem Hafengebiet nicht erwartet. Die gärtnerisch ästhetisierte Pflanz-Szenerie erinnert an die drapierte Kulisse eines Stadtparks, der nach kleinbürgerlichen Standards »nett« 197 https://doi.org/10.5771/9783495813690 .
Die stimmende Macht des Windes
dekoriert wurde. Die Monotonie dieser Ästhetik folgt in ihrer Geometrie und Linearität der Formensprache kleingärtnerischer Geschmackskonventionen. Die Inszenierung erinnert ebenso an staatlich geförderte Verschönerungsaktionen, deren Ästhetik einem unstillbaren Begehren nach Ordnung zu folgen scheint. So entsteht eine beinahe surrealistische Spannung zur Performativität des Geschehens in einem Hafen, der sich aufgrund der in ihm ablaufenden Prozesse in keiner Weise als Beispielort gelungener kleinstädtischer Verschönerungsbemühungen anbietet. Diese gleichsam atmosphärische Disharmonie birgt ein idiosynkratisches Moment, das vom »reinen« Wind-Erleben ebenso ablenkt wie von all dem, was einen vitalen Hafen ausmacht. Für das Verstehen der Mikrologie ist die Komplexität dieser Bild-Störung bemerkenswert, zeigt das Beispiel doch, dass es ein »reines« Wind-Erleben, wenn überhaupt, so doch nur selten geben kann. Und so ist jedes MitSein durch Bedingungen gestimmt, die den Gegenstand eines Interesses mitunter weit überschreiten. Schließlich steht jedes situative Wahrnehmen im Rahmen einer persönlichen (zuständlichen wie aktuellen) Situation, die auch als affektives Fenster zur Welt des Erscheinenden verstanden werden kann. Die persönliche Stimmung soll am Beispiel dieser wie der anderen Mikrologien aber nicht grundsätzlich thematisiert werden, 32 sondern nur insofern, als sie durch ein Wehen des Windes ganz offensichtlich gestimmt wird.
6.2.3 Wind und Bewegung Die Bedeutungen, die Bewegungen im Erleben eines Windes und mehr noch eines Sturmes zukommen, sind schon im Kapitel 6.1 zur Situationen annähernder Windstille konkret geworden. Mit Nachdruck stellt sich nun ein stark wehender Wind im Medium dessen dar, was sein Wehen der Wahrnehmung zugänglich gemacht hat. Es liegt auf der Hand, dass die Bewegung des Windes in der Alltagssprache wie in der sprichwörtlichen Rede zu allen Zeiten die Erfindung bildhafter Worte herausgefordert hat. So kehrt die Dynamik der GeEs würde den Rahmen dieser Studie überschreiten, die Disponiertheit der persönlichen Stimmung im Hinblick auf ihre Einflüsse auf das Wahrnehmen und Erleben einer Situation zu einem expliziten Thema methodologischer Überlegungen zu machen.
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schwindigkeit und Schnelligkeit stürmischen Wehens unter anderem in der Rede vom »rasenden Sturm« 33 wieder. Der stärker oder stark wehende Wind setzt die beweglichen Dinge auf andere Weise in eine dynamische Bewegung als ein kaum spürbares und eher kraftloses Wehen. Am gegebenen Beispiel macht unter anderem das zitternde Hin- und Hergerissen-Werden von Stiefmütterchen auf der Hafenmauer auf eine gewisse Mächtigkeit des Windes aufmerksam. Ähnliche Eindruckswirkung geht vom Flattern einer Flagge sowie deren vom Sturm herausgerissenem Saum aus. Besonders das knatternde Schlagen des Stoffes macht das laute Geräusch nicht nur hörbar, sondern auch spürbar. Die Unruhe eines Windes drückt sich aber, wie das Beispiel illustriert, nie allein in dem einfachen Sachverhalt aus, dass er Dinge in Bewegung versetzen kann. Ganz entscheidend kommt es vielmehr auf die Art der Begegnung mit einem in Bewegung versetzten Medium an. Zwar bedeuten die auf den unruhigen Wellen hin- und her schwankenden Freizeitboote in ihrem Schaukeln »Wind«. Es sind aber vor allem die schnellen, abgehackten und gleichzeitigen – scheinbar synchronisierten – Bewegungen der kleinen Boote, die auf diesen recht starken Wind hinweisen. Im Erleben, das sich an lebensweltlich relevanten Bedeutungen orientiert, kommt es auf die Art und Weise an, in der sich das Wehen eines Windes darstellt und unter welchen situativen Bedingungen er so oder so angreift und vielleicht atmosphärisch stimmt. So kommt es nicht auf die windbedingte Bewegung von Booten im Allgemeinen an, die im unruhigen Wasser an ihren Liegeplätzen schaukeln, sondern auf ihr relatives Bewegungsverhalten, das von Art und Größe der Schiffe abhängig ist. Auch an den weiter entfernten Piers liegen Schiffe, nur bewegen sie sich in diesem Wind (noch) nicht. Das Schaukeln der Boote sagt also auch darin etwas über das Wirken eines Windes, wie es atmosphärisch gespürt wird. Dieses pathische Verstehen (s. o.) ist schließlich die Voraussetzung dafür, was ein als körperlich im Wind stehendes Wesen von diesem Wind erwarten bzw. befürchten muss.
33
Grimm / Grimm, Deutsches Wörterbuch, Band 20, Sp. 588.
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6.2.4 Haltung und Habitus Eine besondere Form der Bewegung drückt sich in der Haltung der über die Piers gehenden Hafenarbeiter aus. Wenn in der Beschreibung dieses Gehens vom Habitus die Rede ist, so rückt im phänomenologischen Kontext nicht die soziologische Bedeutung im Sinne von Pierre Bourdieu in den Fokus. Danach wird »Habitus« 34 nämlich als das charakterspezifische Auftreten und Erscheinen einer Person verstanden, sofern es auf deren Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Gruppe verweist. 35 Auch Bernhard Waldenfels diskutiert den Habitus (mit Aristoteles) zwar als das im Erscheinen einer ganzen Person zum Ausdruck kommende Beziehungsgeflecht zur Welt, das sich eine Person durch Gewöhnung angeeignet hat. Aber darin klingen andere Akzente an als im soziologischen Habitus-Begriff. Dennoch steht auch in diesem Verständnis weniger das aktuelle Sein in einer Situation im Vordergrund als ein auf dem Wege der Sozialisation grundlegend erlerntes Verhalten. »Gewöhnung heißt, daß wir lernen, in der Welt zu wohnen, und daß überhaupt eine Welt für uns entsteht, die es nicht gäbe, wenn von einem Augenblick zum anderen immer alles ganz anders verliefe.« 36
Hinter dem Begriff des »Habitus« steht in etymologischer Sicht der des »Habit«. Dies ist der klösterliche Habit, die ordensspezifische Kleidung der Mönche. Er muss als programmatischer Ausdruck einer Glaubensgemeinschaft verstanden werden. Der Habitus muss – seiner Glaubwürdigkeit halber – zum Habit passen. Erst die Einheit von Habit und Habitus verweist auf das Selbstverständnis eines Ordens. Die Bekleidungsordnung bündelt und reguliert die erwünschten und vor allem einheitlich zu handhabenden Ausdrucksmittel entsprechend der Programmatik des Ordens. »Habit« nannte man aber nicht nur das klösterliche Gewand, sondern auch andere typische Berufskleidungen, die fest mit dem Bild einer Profession verbunden waren und vom Habitus des Trägers nicht getrennt werden konnten (richterlicher Habit oder Professorenhabit). Schließlich machte der Begriff »Habit« auf die Situation einer typischen Bekleidung aufmerksam. Man wusste also, woran man bei einer bestimmten Kleidung (i. S. eines Habits) denken musste (so gab es zum Beispiel einen kostbaren Jagdhabit, einen Nachthabit oder einen Haushabit). Einen seinem Habitus im unmittelbarsten Verständnis gemäßen Habit trug der Narr: einen »kälbernen Habit mit einem paar Hasenohren, vorn mit Schellen geziert«; ebd. Band 10, Sp. 94 f. Im 17. Jahrhundert nannte man generell das Hauptstück der Kleidung Habit, womit ein Zusammenhang zwischen der Erscheinung einer Person und ihrer Kleidung eindrucksvoll zur Geltung kam. 35 Vgl. Bourdieu, Habitus. 36 Waldenfels, Das leibliche Selbst, S. 184. 34
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Zu diesem Lernen im Umgang mit der Welt gehört es aber eben auch, Haltungen einzunehmen und Bewegungsrhythmen zu folgen, in denen man einer Situation gerecht werden kann, die nicht durch gesellschaftliche Merkmale ausgezeichnet ist. Die Einnahme einer leiblichen Haltung gegenüber der Kälte, die aus der Umgebungsluft zudringlich wird, lernen wir nicht auf einem kognitiven Wege wie das Einmaleins, sondern intuitiv über leibliche Kommunikation. Kein Mensch muss erst in einem formalen Sinne »lernen«, sich eng und klein zu machen, um sein Frieren zu mindern. Situationsangemessenes Dasitzen, Stehen, Gehen oder Laufen lernt man gänzlich diesseits pädagogischer Programme. Wenn Norbert Elias vom »psychischen Habitus« 37 spricht, so zeigt das Beispiel der Haltung von Hafenarbeitern, die sich in der Kälte auf eine ganz bestimmte Art über den Steg bewegen, dass es auch einen leiblich disponierten Habitus gibt. Selbst Bourdieu weist darauf hin, dass ein Habitus inkorporiert, also einverleibt ist. 38 Zwar springt dieses in gewisser Weise Kälte abschirmende Bewegungsund Haltungs-Muster in der aktuellen Situation spürbarer Kälte im wehenden Wind gleichsam automatisch an. Solches Sich-so-Bewegen drückt aber insofern einen habituellen Kern aus, als die Art und Weise, sich auf bestimmte Weise in der Kälte zu bewegen und zu »halten«, nicht erst Ausdruck der Beherrschung dieser Situation ist. Habituellen Charakter hat dieses leibliche Können darin, dass es Facette eines immens breiten Spektrums einverleibter VerhaltensRepertoires zum Ausdruck bringt, wonach Menschen mit ihrer ganzen – und nicht zuletzt leiblich disponierten – Haltung auf aktuelle Situationen reagieren. Das Beispiel der haltungsspezifischen Fortbewegung der Arbeiter auf dem Steg spiegelt aber nicht nur die leibliche Kommunikation der Männer mit dem Wind wider, der in der Kälte frieren lässt. Die Situation stellt sich vielmehr als eine zweiseitige dar: Auf der Objektseite ist sie durch einen spätherbstlichen, kalten Wind bestimmt, auf der Subjektseite durch die Einnahme einer kälteabwehrenden Körperhaltung. Bourdieu zielt mit seinem »Habitus«-Begriff aber nicht auf
37 38
Elias, Prozeß der Zivilisation, Band 2, S. 387. Vgl. Bourdieu, Habitus, S. 58 und 61.
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die Erklärung individuellen und »akuten Sichfühlens« 39 ab. Die typische Haltung »frierenden Gehens« ist nur scheinbar Ausdruck allein akuten So-Seins in einer Situation. Vielmehr drückt sich in ihr das situative Anspringen eines anthropologisch (in der Natur des Menschen) begründeten Musters leiblicher Kommunikation mit kaltem und angreifendem Wetter aus. Für den kollektiven Charakter einer habituellen Disposition kommt es nicht auf soziale (geschweige denn politische) Kollektivität an, sondern darauf, dass (aus welchen Gründen auch immer) eine durch leibliches Spüren induzierte Körperhaltung situationstypisch unter Menschen verbreitet ist und darin allgemeinen Charakter hat. 40 Ganz in diesem Sinne spricht sich Peter Sloterdijk für eine Entzerrung des soziologischen Habitus-Begriffs aus, das heißt, »ihn von der Fixierung auf Klassenphänomene zu lösen und ihm den Bedeutungsreichtum zurückzugeben, den er in der aristotelischen und später in der empiristischen Tradition besaß.« 41 Wie das konkrete Beispiel zeigt, liegt die Schwäche des soziologischen Habitus-Konzepts darin, »dass es die individualisierten Formen existenzieller Selbst-Entwürfe nicht erfassen kann.« 42 Wenn man dem Habitus der über den Steg laufenden Hafenarbeiter auch eine bestimmte Haltung zum kalten Wind und damit zu sich selbst ansehen kann, so liegt diese durchaus ähnliche körperliche Haltung nicht allein am Wind und seiner Stärke und nicht allein an messbaren Temperaturen. Willy Hellpach hatte gezeigt, wie die verschiedenen »Lufttöne« ein je eigenes »Witterungsbild« entstehen lassen. Solche Witterungsbilder werden atmosphärisch wahrgenommen. Bemerkenswert ist nun, dass Hellpach neben dem Spüren des Wetters von einem damit einhergehenden Ergehen 43 gesprochen hat: »›Kälte‹ von + 3º kann ›beißend‹ sein, obwohl es sich nicht um Frost handelt, über Nacht sinkt die Temperatur auf – 3º, und die Luft erscheint uns als ›milde Frostluft‹, wir gehen gern in sie hinaus, in ihr spazieren, während wir froh waren, jener viel wärmeren (objektiv wärmeren) ›beißenden‹ ins geschützte Zimmer zu entkommen.« 44 Vgl. Trčka, Ein Klima der Angst, S. 201. Vgl. ebd., S. 210. Nina Trčka bietet in ihrem Beitrag einen Vergleich zwischen dem Habitus-Begriff bei Bourdieu und der Bedeutung habitueller Dispositionen in der Neuen Phänomenologie. 41 Sloterdijk, Du mußt dein Leben ändern, S. 293. 42 Ebd., S. 286. 43 Vgl. Hellpach, Sinne und Seele, S. 65. 44 Ebd., S. 61 f. 39 40
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So situieren wir uns in den verschiedenen Lufttönen in unseren Bewegungen auf je eigene habituell einverleibte Weise. Nicht zuletzt fühlt sich eine Person in ihrer Art sich zu bewegen, in eine Situation ein. Und so vermag sie auch die Bewegung eines anderen Menschen als dessen Einfühlung in einen gegebenen situativen Rahmen zu verstehen. Dieses Verstehen setzt je nach seiner Art und bezogen auf ein sich bewegendes Objekt einen leiblich nachspürenden Sinn voraus. Wenn den über die Bootsstege laufenden Männern an ihrem Habitus gleichsam abgelesen werden konnte, dass sie in einer unangenehmen Weise vom Wind berührt worden sein müssen, so setzt dieses »Sehen«, das genau genommen ein synästhetisches Wahrnehmen ist und den visuellen Sinn deutlich überschreitet, hermeneutische und leibliche Intelligenz voraus. Gemeint ist hier das Vermögen zur »intuitiven Wahrnehmung«. Wer intuitiv das Ganze einer Situation erfassen kann, erkennt in einem simultanen Sinne, »was los ist« 45. In diesem Erkennen laufen die Fäden einzelsinnlicher Aufmerksamkeiten zu einem Ganzen zusammen. Letztlich ist es die eigenleibliche Erfahrung, die uns sagt, dass jemand friert, der in einer zusammengezogenen Haltung und mit den Händen in den Hosentaschen seines Weges geht. Die Menschen bewegen sich in der schneidenden Kälte eines winterlichen Sturms anders als in der Hitze eines sommerlichen Tages. Das jeweilige Befinden in diesem oder jenem Wetter drückt sich über körperliche Haltungen habituell aus. Dabei ist der hier zugrunde gelegte Begriff des Habitus auf das leibliche Befinden bezogen und nicht auf ein distinktives Verhalten im soziologischen Sinne. Gerade das Wehen des Windes fordert zur Einnahme eines bestimmten Habitus heraus. Weil wir ihn von eigenen Gefühlen in ähnlichen Situationen kennen, können wir ihn an anderen auch er-kennen. Was wir uns auf so selbstverständliche Weise und ganz prädiskursiv angeeignet haben, wird in den zugrunde liegenden Mustern oft erst deutlich, wenn wir uns in einer anderen Region, in einem anderen Land oder Kontinent befinden und mit den dort erlebten Fremden auf das fremden Menschen Vertraute aufmerksam werden.
45
Schmitz, Bewusstsein, S. 89.
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6.2.5 Zum Verstehen bewegter »Witterungsbilder« Die Rede vom »Verstehen« des Windes bzw. ganz allgemein einer Situation des Wetters ist auf den ersten Blick irritierend. Indes reklamiert sich in der Perspektive der Phänomenologie nicht in erster Linie ein kognitives, intellektuelles bzw. geistiges Verstehen, sondern ein pathisches, das sich eines einverleibten Gefühls- und AtmosphärenWissens aus leiblich-spürenden Wetterbegegnungen verdankt. Dabei überträgt sich unter anderem das Gestaltbild des Himmels auf synästhetischem Wege in eine (habituelle) Haltung, die der aktuellen Situation eines Wetters gerecht wird. Indem der Wind als etwas spürbar wird, das in gewisser Weise »aus dem Himmel« kommt, werden die Wolken in ihrem Aussehen, in ihrer Schichtung und in der Geschwindigkeit ihres Dahinziehens auch als Anzeiger guter oder schlechter Winde gedeutet. Das ist in der Tat ein Deuten und Zeichenverstehen, denn die Wolken sind in ihrem Dahinziehen im engeren Sinne nicht spürbar. Aber sie gestalten ein Bild des Himmels, das von ruhigen oder schlimmen Wettern kündet. Willy Hellpach hatte hier den atmosphärischen Ausdruck bestimmter »Witterungsbilder« verwendet (s. oben). Solche Witterungsbilder werden in einem leiblichen Sinne insofern »verstanden«, als man auf einen Blick weiß, woran man ist, wenn man »ins Gesicht« eines Wetters blickt. Ein hoch sensibles atmosphärisches Vermögen zur Wahrnehmung nahender Wetter, insbesondere zu befürchtender Winde, hatten die Seeleute. Für sie war es überlebenswichtig, zwischen einem nahenden starken Wind und einem potentiell vernichtenden Orkan, dem Seesturm 46 als dem mächtigsten aller Stürme, unterscheiden zu können. Bis ins 19. Jahrhundert konnten die Seeleute ein bevorstehendes Wetter in einem spürenden Sinne intuitiv aus Erfahrung erahnend erkennen. Sie konnten dies in einer Zeit, in der es noch nicht auf meteorologische Messgeräte ankam, die auf der technischen Grundlage weltumspannender Daten- und Informationssysteme funktionieren. Die auf Segelschiffen fahrenden Seeleute der »alten« Seefahrt mussten sich auf ihr Spüren-Können dessen verlassen, was auf dem Weg war, sich als bedrohliches Wetterereignis – zum Beispiel eines Sturmes – zu nähern. Der Grad der existenziellen Bedrohung durch ein Unwetter drückte sich insbesondere in der anthropomorphisierenden Rede aus. 46
Vgl. Grimm / Grimm, Deutsches Wörterbuch, Band 20, Sp. 586.
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Weil bei den Seeleuten jeder potentiell gefährlich werdende Sturm verhasst war, nannten sie ihn einen »stinkenden Sturm« 47. Mit einem aus der japanischen Philosophie kommenden phänomenologischen Begriff kann man davon sprechen, dass die Seeleute ein kehai des Wetters vernehmen konnten. Dies entspräche der meteorologischen Wendung dessen, was Yuho Hisayama im kehai als spürbares Nähern eines Menschen angesprochen hatte. 48 In diesem Sinne konnten die Seeleute aus ihrer pathischen Sensibilität gegenüber einem sich ankündigenden Wetter intuitiv vernehmen, mit welchen Wettergefahren sie zu rechnen hatten. Im Prozess ihrer (technischen) Sozialisation haben die Menschen gelernt, auch abstraktes Wissen für das Verstehen einer Situation heranzuziehen. So wissen die modernen Menschen an den Küsten von Nord- und Ostsee, dass sich die Rotoren von Windkraftanlagen auch dann nur relativ langsam drehen, wenn der Wind sich schon längst zum Sturm ausgeweitet hat. So ist das (relativ viel zu) langsame Drehen der Windräder nur zu verstehen, wenn man es gerade nicht als Anzeichen eines Sturms betrachtet, sondern als Ausdruck einer High-Tech-Konstruktion, die gar nichts mehr über die Schnelligkeit des Windes zu verstehen gibt. So hat das lebensweltlich-technische Wissen letztlich seinen Einfluss auf die Protentionen, die uns spürend auf etwas Bevorstehendes hin orientieren. Deshalb erwarten wir schließlich, was man eigentlich nicht erwarten dürfte, weil es jeder Erfahrung widerspricht. Mădălina Diaconu weist in diesem Sinne darauf hin, dass »the possibility of an aesthetic experience of the wind attests that we are dealing with a culturally molded phenomenon.« 49 Dies ist nicht nur im Bereich der Kunst der Fall, sondern auch in dem der Aisthetik, also der tagtäglichen Wahrnehmung. Sozialisation in spätmodernen High-Tech-Zeiten drückt sich aber eben auch in einer gewissen Ent-Alphabetisierung im Verstehen von Naturprozessen aus, auch wenn diese das tägliche Leben ganz selbstverständlich in der räumlichen Nähe begleiten. Wer lernt, sich auf Wettervorhersagen zu verlassen, deren oft schlechte Prognosen auf Großrechnern modelliert werden, lässt die Sensibilität eigenleib-
Ebd., Sp. 587. Als »stinkend« wurde in der älteren deutschen Sprache generell das Unangenehme bezeichnet; so sprach man auch vom »stinkenden Nebel«; ebd., Band 18, Sp. 3151. 48 Vgl. Hisayama, Ästhetik des kehai. 49 Diaconu, Grasping the Wind?, S. 4. 47
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Die stimmende Macht des Windes
lichen »Wetterspürens« im Sinne pathischen Verstehens dessen, was ein Witterungsbild bedeutet, schließlich verkümmern.
6.2.6 Die Wahrung des Gleichgewichts im Wind In leibphänomenologischer Hinsicht ist neben der taktilen Berührung der Haut durch den wehenden Wind dessen Einfluss auf den Gleichgewichtssinn bemerkenswert. Im Angegriffen-Werden durch einen andrängenden Wind wird seine Macht überhaupt erst spürbar. Was man dann als äußerliches – gleichsam physisches – BewegtWerden des eigenen Körpers fühlen kann, macht auf eine Paradoxie des Windes aufmerksam, die Ausdruck seiner nichthaften Unsichtbarkeit ist. Zum einen ist er unsichtbar, zum anderen entlädt sich sein Kraftpotential immer wieder periodisch in der Überflutung von Küsten und in der Zerstörung von Wäldern wie von Menschen errichteten Bauten. Wenn das Wesen des Windes in seinem Wehen liegt, so stellt sich sein ekstatisches Stürmen als Insistieren seiner Macht dar. Der Wind zeigt sich darin in einer besonders gewaltigen Lebendigkeit, die sich zwar atmosphärisch ankündigen mag wie ein Gewitter, aber sich dann doch nicht nähert wie ein heranrollender Fels, sondern plötzlich gleichsam aus dem Nichts da ist und den festen Stand der Dinge in Gefahr bringt. Als körperliches Wesen wird auch der Mensch von dieser im Sinne des Wortes »erschütternden« Wirklichkeit des Windes berührt. Dabei darf nicht vergessen werden, dass der Wind in der Wechselhaftigkeit seiner Gesichter auch jene wärmend-besänftigende Seite hat, in der er das behagliche Gefühl der Weite vermittelt. Die wahrnehmungstheoretische Plausibilität des Konzepts der leiblichen Kommunikation von Hermann Schmitz (s. auch Kapitel 2) tritt am Beispiel der Wahrung des eigenen Gleichgewichts im Sturm sehr deutlich hervor. Der Begriff des Wind-Erlebens setzt genau genommen falsche Akzente, indem er eine rezeptive und keine dialogische Beziehung des Menschen zu dem ihn berührenden Wind suggeriert. Jedes Erleben des Windes impliziert aber – diesseits intellektueller Herausforderungen an Akteure – ein pathisches Einfühlungsvermögen in unsichtbare, aber spürbare Veränderungen körperlich andrängender Kräfte. Der spürbare Gegendruck eines von vorne kommenden Sturmes fordert in seiner Bewegungssuggestion den schlagartigen Einsatz von Körperhaltung und -gewicht, um nicht 206 https://doi.org/10.5771/9783495813690 .
Starker Wind
wie etwas Leichtes zum Spielball und Gegenstand äußerer Kräfte zu werden. Der Körper muss im Ausgleich seines gefährdeten Gleichgewichts in Bewegung versetzt werden, um den festen Stand zu sichern. Die intuitive Anpassung an die sich fließend verändernden Gravitationsverhältnisse ist indes ein leibliches und kein körperliches Vermögen. Nur auf dem Wege der leiblichen Wahrnehmung kann der Körper im Sinne eines koagierenden Spiels mit dem Wind seinen aufrechten Stand sichern. Das Beispiel des Windes macht auf ähnliche Formen leiblicher Kommunikation mit Situationen des Wetters aufmerksam, wie zum Beispiel den habituellen »Umgang« mit Wärme oder Kälte. Auch diese Situationen beherrscht der Mensch intuitiv, macht sie in aller Regel also nicht zum Thema der Reflexion seiner Selbst wie seiner Beziehung zum Wirklichen. Wenn Gernot Böhme anmerkt, »die Phänomenologie des Wetters ist bis heute ein Desiderat« 50, so drückt sich darin nicht nur eine thematische Leerstelle geisteswissenschaftlicher Reflexion aus, sondern auch ein lebensweltlicher Mangel an Selbstbewusstsein. Dieses in einer zivilisationshistorisch tief eingegrabenen Subjekt-Objekt-Spaltung begründete Unvermögen ist mit einfachen Rezepten nicht zu überwinden. Die gesamte Methode der Phänomenologie ist als ein Weg zu verstehen, verschüttete Sensibilitäten der Welt- und Selbstgewahrwerdung freizulegen und für eine selbstbewusste und -bestimmte Lebensführung nutzbar zu machen. Gernot Böhme sucht daneben einen Weg in der Meditation und sieht in diesem Rahmen die Entfaltung von »Präsenzbewusstsein« als eine Aufgabe.
6.2.7 Wind-Diskurse Die Verständigung über die Stärke des Windes hat sich im Prozess des technischen Fortschritts beinahe ganz vom Fühlens-Können abgekoppelt und in eine maschinentaugliche Sprache transformiert. In den zeitgemäßen Wettervorhersagen der Massenmedien wird die Stärke eines Windes nach Geschwindigkeiten, die jeder vom Autofahren kennt, angegeben – in Kilometer pro Stunde (km/h). Zwar mag das Gefühl des Fahrens in einem Auto bei einer Geschwindigkeit von 50, 100 und vielleicht noch 150 km/h vertraut sein, aber auch 50
Böhme, Das Wetter und die Gefühle, S. 163.
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Die stimmende Macht des Windes
dabei darf nicht übersehen werden, dass dies nur ein Erfahrungswissen ist, das bestimmte (gewohnte) fahrzeugtechnische Fahrgestell-, Federungs- und Geräuschdämm-Techniken voraussetzt. Dagegen kann der Vorstellung, wie sich ein Wind mit 50 km/h zu spüren gibt, mit Hilfe dieses Wissens nicht wesentlich geholfen werden. Erst recht sagt uns eine äußerst hohe Windgeschwindigkeit von 140 km/h (Orkangeschwindigkeit) nichts in einem pathischen Sinne Nachvollziehbares. Man weiß eben nur (wiederum in den meisten Fällen eher aus dem Massenmedien denn aus eigener Erfahrung), dass solche Stürme oft ein schlimmes Ende nehmen. Das Sprechen über die Winde ist in seiner Anpassung an die Verwissenschaftlichung der Lebenswelt abstrakt geworden. In der Alltagssprache spiegelt sich die Anwendung von Fragmenten naturwissenschaftlicher Terminologien auf alle erdenklichen Bereiche des täglichen Lebens wider. 51 Solch scheinexakte Sprachen müssen in der Verständigung über jene Bereiche des Lebens versagen, in denen es auf pathisches Verstehen ankommt, also auf einverleibtes Gefühlswissen und nicht auf propositionales Faktenwissen. In der Rede über die Stärke der Winde waren die zu Beginn des 19. Jahrhunderts von Beaufort entwickelten Indikatoren der Windgeschwindigkeiten deshalb der modernen Sprache auch weit überlegen. Die daraus abgeleiteten Skalen, in denen numerische Angaben (von 1 bis 12) durch sinnlich nachvollziehbare Kurzerläuterungen zur Intensität eines Wehens konkretisiert wurden, sind zwar zigfach revidiert, präzisiert und umgearbeitet worden. Aber all diese Revisionen folgten stets dem Ziel der (pathischen) Nachvollziehbarkeit. Dabei war immer vorausgesetzt, dass man den Wind nur an seinem Erscheinen an »etwas« anderem (einem Schiff, den Wellen, sich bewegenden Baumästen etc.) beschreiben konnte. Die Beaufort-Skala war in ihren vielen Varianten nach phänomenologischen Kriterien aufgebaut und bot dem nachfühlenden Verstehen direkte Anhaltspunkte. Deshalb musste es auch unterschiedliche Tabellen für Land- und Seewinde geben. Ein stürmischer Wind der Stärke 8 auf See war an »ziemlich hohen Wellenbergen« zu erkennen, »deren Köpfe verweht werden« und die »überall Schaumstreifen« haben. An Land werden bei derselben Windstärke »große Bäume […] bewegt, Fensterläden werden geöffnet, Zweige brechen von Bäumen« und beim Gehen muss man mit erheblichen Behin51
Vgl. Schmitz, Band III, Teil 5, S. 104.
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Starker Wind
derungen rechnen. 52 Auch das Fehlen eines jeden Windes bezeichnete man einst nicht mit 0 Km/h; es wurde mit Hilfe phänomenologischer Beobachtungen konkretisiert. Windstille erkannte man daran, dass »kein Blättchen an den Bäumen sich bewegte«. Und man musste, oder ahnte aus Erfahrung: »Je länger die Windstille dauert, je stärker wütet der auf sie folgende Sturm« 53.
6.2.8 »Gelebte Distanz« (Minkowski) Der Wechsel des Ortes der Explikation aktuellen Wind-Erlebens in einen beheizten und gegenüber dem Wind abgeschirmten Innenraum eines Hafen-Bistros macht auf ein ganz eigenes leiblich spürbar werdendes Distanzerleben aufmerksam. Mit dem Eintritt in einen warmen Innenraum wird der Raum der Kälte und des Windes verlassen und damit auf Abstand gebracht, obwohl die Trennung zwischen den klimatisch so kontraststreichen Räumen doch nur durch eine Tür erfolgte, wodurch sich die Rede von einem »Abstand« im üblichen Verständnis stark relativiert. Man kann zu einem Gegenstand auf Distanz gehen, indem man zwei oder hundert Meter zurücktritt. Das wäre eine metrische Distanz. Auf diese kommt es hier nicht an. Distanz hat nun die Bedeutung eines gespürten Unterschiedes zwischen einem Hier und einem Dort. Und so hat sich die im Inneren des kleinen Gebäudes herrschende Raumatmosphäre in einer leiblich bemerkbar werdenden Behaglichkeit als distanzierendes Milieu erwiesen. Distanz ist in dieser Situation nicht aus der Größe eines Abstands bewusst geworden, sondern in der Konsolidierung eines kontrastierenden Gefühls. Eugène Minkowski spricht solche Distanz in ihrem affektiven Kern als »gelebte Distanz« an. 54 Sie ist – phänomenologisch betrachtet – durch ein Moment gespürter Weite gekennzeichnet. In einer solchen Atmo-
N.N., Beaufortskala. Grimm/Grimm, Deutsches Wörterbuch, Band 30, Sp. 326. 54 Minkowski sprach im Übrigen ganz grundsätzlich in seinem zweibändigen Werk über die »gelebte Zeit« unter anderem »über den zeitlichen Aspekt psychopathologischer Phänomene«; vgl. Minkowski, Die gelebte Zeit I und II. Darin baute er eine Brücke zum »gelebten Raum«, den schon Graf Dürckheim zum Gegenstand einer phänomenologischen Abhandlung gemachte hatte; vgl. Dürckheim, Untersuchungen zum gelebten Raum. 52 53
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Die stimmende Macht des Windes
sphäre der Weite berührt ein sonst vielleicht mächtiger Eindruck nur noch in abgeschwächter Weise: »Indem ich das ›Ich-Hier-Jetzt‹ behaupte, behaupte ich es im Verhältnis zu einem Werden der Umwelt, das von ihm entfernt ist, getrennt und vereint mit ihm durch diese ›Sphäre des Wohlbehagens‹«, in der sich mein Leben entfalten kann.« 55
Diese Distanz kann man nicht nach dem objektiven Maßstab metrischer Abstände einnehmen, sondern nur leiblich. Objektive Abstände sind dabei von geringer Bedeutung, wenngleich sie sich meistens nicht ganz erübrigen. Im gegebenen Beispiel reicht schon der Abstand von der Stärke einer Tür aus, um das Milieu stark windigen Wetters gegen die Behaglichkeit eines angenehm warmen Raumes in Gänze zu wechseln. Nur die Tür trennte ein kaltes und stark windiges Draußen von einem warmen und bergenden Drinnen. Aber auch im Moment des Heraustretens aus dem wärmenden Stelzenhaus zurück in den kalten Wind am Meer bleibt das spürbare Gefühl engenden Ergriffen-Werdens von diesem kalten Wehen noch einen Augenblick auf Distanz, obwohl es im tatsächlichen Raum diese Distanz gar nicht mehr gibt. Wie das langsame Verblassen einer nachwirkenden Atmosphäre so wirkt auch das wärmende Raumgefühl so lange noch nach, bis die angreifenden Eindrücke des kalten Windes in ihrer spürbaren Zudringlichkeit wieder so stark geworden sind, dass sie die gelebte Distanz schließlich aufheben bzw. verdrängen können. Minkowski sieht in der gelebten Distanz ein Attribut im Prinzip aller Lebewesen. Mit Blick auf »das Gesamt der Lebewesen« merkt er an: »Wir gelangen dann zu einem Phänomen, das wir die Weite des Lebens nennen können.« 56 Dies ist ein Weite-Verständnis, wie wir es im Sinne der Leiblichkeit auch aus der Neuen Phänomenologie kennen. Es ist dies eine Weite, in der uns die Menschen begegnen, ohne uns affektiv unmittelbar zu berühren. Das tun sie erst dann, wenn sie aus der distanzierten Weite heraus- und in den Bereich der persönlichen Situation eintreten.
55 56
Minokwski, Die gelebte Zeit II, S. 236. Ebd., S. 240.
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Sturm
6.3 Sturm Die Niederschrift einer letzten Mikrologie zur Situation wehenden Windes fand im niederländischen Seehafen Eemshaven statt. Er liegt am Übergang der Unteren Ems in die Nordsee und ist nur rund 20 km von Delfzijl entfernt. Das räumliche Umfeld wird von technischen und baulichen Artefakten eines reinen Industriehafens bestimmt (s. Abb. 19 und 20). Das gesamte Hafengebiet ist zur Seeseite von hohen Seedeichen begrenzt (s. Abb. 21). Auf den ausgedehnten, aber nur locker bebauten Flächen des Industriehafens stehen ausschließlich Zweckbauten. An den Kaianlagen sind einige Frachter und zahlreiche Fischtrawler festgemacht. Daneben ist der Hafen auf die Versorgung von Offshore-Plattformen in der Nordsee spezialisiert. In dem gesamten mehrere Kilometer langen Hafenareal wohnt augenscheinlich niemand. Einzig das Gebäude der Seemannsmission (s. Abb. 22), das sich im Stil experimenteller Architektur ästhetisch von den nüchternen Zweckbauten abhebt, steht inmitten dieser artifiziellen Welt der hafentechnischen Anlagen, Kräne, Lagerhäuser, Öltanks und Windkraftanlagen. Üblicherweise werden Häfen, insbesondere in atmosphärischer Hinsicht, zugleich als maritime Städte vorausgesetzt. Eemshaven ist aufgrund seiner Lage und jungen Geschichte aber ein Hafen ohne Stadt. Im Bereich der seeschifftiefen Außen-Ems hat das Wehen den Charakter eines Sturmes. Riesige Öltanks wechseln im schnellen Wandel des natürlichen Lichts unter dem Einfluss der dahinziehenden Wolken ihr farbliches Erscheinen. Im einen Moment wirken sie freundlich und beinahe durchscheinend, im nächsten dunkel, geheimnisvoll und düster. Die Atmosphäre des Industriehafens zeigt in diesem stürmischen Wetter ein schnell wechselndes Gesicht, in das sich neben der Wechselhaftigkeit des natürlichen Lichts vor allem die Wirkungen des Sturmes einschreiben. Geradezu alles wird in dieser Gegend vom Wehen des Sturmes bestimmt. Er ist an diesem Ort viel mächtiger als in der nicht weit entfernten, etwas südlicher gelegenen Hafenstadt Delfzijl. Das Wasser im Becken eines zur See hin offenen Tidehafens ist aufgewühlt. Während der starke Wind die Grenze der schützenden Kleidung schon überwunden hatte, dringt der Sturm nun mit weitaus größerer Kraft regelrecht in sie ein. Dieses »Hinein« ist in zweifacher Weise zu spüren; einmal als gewaltiger Druck, der den Gleichgewichtssinn he211 https://doi.org/10.5771/9783495813690 .
Die stimmende Macht des Windes
Abb. 19: Industriehafen Eemshaven; Windkraftanlagen; Bild: Jürgen Hasse.
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Sturm
Abb. 20: Industriehafen Eemshaven; Windkraftanlagen und Rohöltanks; Bild: Jürgen Hasse.
Abb. 21: Industriehafen Eemshaven; Rohstofflagerflächen hinter dem Seedeich; Bild: Jürgen Hasse.
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Die stimmende Macht des Windes
Abb. 22: Industriehafen Eemshaven; Windkraftanlage und Gebäude der Seemannsmission; Bild: Jürgen Hasse.
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Sturm
rausfordert, und sodann als spitze Kälte, die sich mit jeder starken und für einige Momente anhaltenden Böe geradezu schlagartig als eine nichthafte Intensität – zwischen Kleidung und Haut – breitmacht. Die nachfühlende Besinnung auf das, was da im Herumwirklichen geschieht, ergreift und atmosphärisch stimmt, fällt schwer, weil die Aufmerksamkeit beinahe ganz vom Sturm im Draußen in Anspruch genommen wird. Das Gras am Boden vor den Öltanks flattert; jeder einzelne Halm zittert – die herbstlich fahl-grüne Wiese verwandelt sich in eine vibrierende Fläche. Zwar ist der sichere Stand am Boden in diesen Sturmböen noch nicht gefährdet, aber das eindringliche Wehen beginnt, die Beherrschung des Gleichgewichts als eine »Aufgabe« der Balance bewusst zu machen. Es ist kaum etwas anderes hörbar als das Rauschen, Pfeifen und Heulen des Sturmes, noch nicht einmal die Rotoren der nahen Windkraftanlagen. Das Dröhnen und Röhren der Böen bannt die ganze Aufmerksamkeit und übertönt alle anderen Geräusche – selbst die technischen, von denen man aus Erfahrung weiß, dass sie »eigentlich« laut sind. Das auf den Schiffen und an den Kais stattfindende Geschehen scheint sich nur auf bildhaft flachen Oberflächen abzuspielen. Die tiefen Wolkenfelder ziehen unruhig vorüber, die hohen stehen scheinbar still. Der Sturm »verschont« zwar die fest an ihrem Ort stehenden Dinge, aber atmosphärisch verändert er die Präsenz des ganzen Raums. In seiner Macht über den eigenen Körper beansprucht er eine ganz ungewohnte Konzentration auf das eigene Gleichgewicht. Außer dass ich ihn als etwas imaginär Kraftvolles zu spüren bekomme, sehe ich ihn nur an den Bewegungen dessen, was leicht genug ist, um von seinem Wehen erfasst zu werden. Was ich sehe, spielt sich in einem Herum ab. Was ich aber als mächtiges Tosen von diesem Wehen zu spüren bekomme, erfasst mich in meinem leiblichen Da-Sein unmittelbar und ohne mediale »Übersetzung«. Dabei ist das Hören wie eine Begleitmusik der angreifenden Macht eines andrängenden Druckes. Das atmosphärisch Ergreifendste an diesem aufkommenden Sturm ist die Naturgewalt, in der sich dieses »Nichts« präsentiert. Dass sich im Sturm eine Kraft der Natur zur Geltung bringt, suggeriert schon die archaische, aus sich selbst entstehende Wechselhaftigkeit, in der es mal stark und mal stärker weht. Auch im Zentrum dieser Mikrologie steht ein spezifisches (im Sinne des Wortes »eigenartiges«) Wehen, das sich im Spiegel subjektiven Seins in einem Wetter konkretisiert – in der Wahrnehmung eines 215 https://doi.org/10.5771/9783495813690 .
Die stimmende Macht des Windes
Sturmes, man könnte auch von einer beginnenden Wind-Ekstase sprechen. Gleichwohl unterscheidet sich die in der vorstehenden Beschreibung dargestellte Situation noch beträchtlich von den machtvollen Angriffen eines Orkans. Der oben beschriebene Sturm hatte etwa die Stärke 8 nach der Beaufort-Skala, deren größte Intensität mit 12 angegeben wird. Die Energie, mit der schon dieser beginnende Sturm auf das leibliche Befinden eingewirkt hat, machte die Grenze dessen deutlich, was den methodischen Mitteln der Explikation (in situ) noch zugänglich sein mag. In einem Sturm der Windstärke 11 oder 12 wäre es gänzlich unmöglich, auch nur die mindeste Aufmerksamkeit für die schriftsprachliche Niederschrift eines Ergehens aufzubringen. Auch rein praktisch wäre dies schon deshalb unmöglich, weil ein Sturm, bei dem man sich im Freien und nicht in einem schützenden Gebäude oder Fahrzeug befindet, spätestens ab der Stärke 10 die gesamte leibliche Aufmerksamkeit für die Wahrung des Gleichgewichts verlangt. Gleichwohl deuten die Eindrücke der beschriebenen Situation »Vitalqualitäten« (Dürckheim) eines Sturmes an, die (in einem pathischen Sinne) schon erahnen lassen, in welcher Weise ein Orkan die Sinne in Gänze fesseln müsste.
6.3.1 Sturm und Bewegung Während schon die Situation des starken Windes (s. Kapitel 6.2) dessen leiblich angreifende Macht zur Geltung brachte, intensiviert sich diese unter dem Einfluss des Stürmens noch einmal beträchtlich. Nun treten zwei duale Modalitäten des Wind-Erlebens noch deutlicher hervor: zum einen die um- und mitweltlich beobachtbaren Bewegungen an Dingen (wie Grashalme, Fahnen) und Halbdingen (ziehende Wolken), zum anderen die gegen den materiellen Körper drückende Kraft, die am eigenen Leib spürbar wird (s. auch Kapitel 6.3.2). Wie das Wehen im Sturm ekstatischen Charakter hat, so auch die Bewegung der vom Sturm erfassten Dinge. Es dürfte der Lage des Hafens und seiner technischen Ausstattung geschuldet sein, dass es neben einigen wenigen Flaggen, die auf Dächern oder an Gebäudefassaden montiert sind, nichts gibt, das dem in der Nähe des Meeres häufig tobenden Sturm zum Opfer fallen könnte. So wird die Intensität des Wehens nur am Gras der Wiesen zwischen den nicht genutzten Grundstücken sichtbar – im Zittern und Flattern der Halme – oder im Blick auf das scheinbare Vibrieren seiner ganzen Fläche. 216 https://doi.org/10.5771/9783495813690 .
Sturm
Das wechselnde Licht sowie das Spiel der Farben bringen die Bewegung der tief und schnell dahinziehenden Wolkenschichten in ihrer ganz besonderen Wetterdramatik zur Geltung und weisen auf sich anbahnende stürmische Virulenzen hin: »Alles wird wesentlich vom Wehen des Windes bestimmt.« Die gleichsam lebendige Performanz der den Himmel verzeichnenden Bewegungen überträgt die unruhige Atmosphäre des Stürmischen aber nicht nur ins »Bild«, sondern auf dem Wege der Bewegungssuggestionen auch ins aktuelle Ergehen in diesem Wetter.
6.3.2 Sinnlich-leibliche Präsenzen Im Unterschied zur lediglich stark windigen Situation im Hafen von Delfzijl vermittelt das stürmische Wehen durch den vom andrängenden Wind ausgehenden spürbaren Druck eine besonders immersive Form des Berührt-Werdens. Das Im-Wind-Stehen muss sich in der Aufbringung eines Gegen-Drucks behaupten, so dass der eigene Körper als windresistenter »Gegen-Stand« erfahren wird. Das Wehen mittlerer Winde um-greift, indem es in einem umhüllenden Sinne den eigenen Körper umströmt. Ein Sturm präsentiert sich dagegen in einer Dynamik, die merklich an-greifende Macht entfaltet. Kommt der Druck von vorne, muss man sich ihm entgegenstellen, kommt er von hinten, muss man sich zur Vereitelung des Nach-vorne-Fallens leicht nach hinten »lehnen« – gleichsam ins Nichts. Das dabei entstehende Gefühl der Unsicherheit ist Ausdruck der Unberechenbarkeit luftig wehender Kräfte. Dabei muss man – mit großer Vorsicht – ungefähr die gleiche Kraft aufbieten wie der Sturm, um seinem andrängenden Einfluss genau so viel Eigen-Gewicht entgegenzustellen, wie erforderlich ist, um ein labiles Gleichgewicht zu sichern. Dies ist in jedem Moment bedroht, denn zur wehenden Natur des Windes gehört seine unvorhersehbare Dynamik und Rhythmik, wonach der Druck in einem Moment noch stärker wird, im nächsten sich schon wieder vermindert und möglicherweise einen Moment später beinahe ganz verschwindet. Das Gleichgewicht zwischen der andrängenden Kraft des Sturmes und dem aufgebrachten Gegengewicht durch Schrägstellung des eigenen Körpers muss immer wieder neu und blitzschnell austariert werden. Wenn ein Sturm dagegen von der Seite andrängt, ist der leiblich spürende Ausgleich weit schwerer zu vollziehen. 217 https://doi.org/10.5771/9783495813690 .
Die stimmende Macht des Windes
Schmitz spricht diesen »Dialog« mit dem Sturm als eine spezifische Form leiblicher Kommunikation an. Es dürfte kaum ein anderes so eindrucksvolles Erleben geben, das in ähnlicher Weise ausschließlich vom Vermögen einer schlagartig spürenden Wahrnehmung 57 bestimmt wird. Aufgrund der vielfältigen existenziellen Bedeutsamkeit des Windes hat sich seine Personifizierung in der sprichwörtlichen Rede stets angeboten. Die anthropomorphisierende Beschreibung steht in dem folgenden Text von Paul Volz aus dem Jahre 1910 im Vordergrund: »Auch die Luft ist eine Art Zusammenfassung der unsinnlichen Sphäre; ihrem Wesen nach ist sie vor allem Element, Fluidum; sie tritt aber zuweilen ganz personhaft auf, der Wind kann klagen, heulen, brüllen, säuseln, oder er ist ein Kraftwesen, das stößt, trägt, aufregt, niederdrückt. Er wirkt stürmisch, explosiv, stoßweise eintretend, plötzlich aufhörend, immer vorhanden und immer wirkend, auch wenn man sein Wirken nicht spürt. Er ist das Geheimnis, denn man erfährt seinen Einfluß und sieht ihn doch nicht, weiß nicht, woher er kommt und wohin er geht.« 58
Den Wind erleben wir in einem leiblichen Sinne an Empfindungen, die sich vom Körper, der vom Wind getroffen oder berührt wird, auf das leibliche Empfinden übertragen. Schmitz merkt dazu an: »Der Kampf mit Wind […] ist selbst eine intensive und rhythmische Konkurrenz von Spannung und Schwellung, engender und weitender Tendenz; bald ist die expansive, um Durchbrechen bemühte, bald die hemmende, aufhaltende, sich gegen den Durchbruch behauptende Rolle auf der Seite des Betroffenen und dann wieder auf der Gegenseite der als energischer Angriff ihm begegnenden Macht.« 59
Die Macht des Sturmes ist so nachhaltig immersiv, dass sie die Aufmerksamkeit fast in Gänze bindet und in ihrer Zuspitzung ein Gefühl der Beengung vermittelt. Es ist besonders die Gleichzeitigkeit der Unsichtbarkeit und Macht des Sturmes, die die Wahrung des Gleichgewichts vor beispiellose Herausforderungen stellt. Die umfassende leibliche Beanspruchung hat auch zur Folge, dass es in der Situation des Sturmes, der man unmittelbar ausgesetzt ist, keine atmosphärischen Konkurrenzen mehr gibt, wie sie noch in der unter 6.1.4 beschriebenen Situation annähernder Windstille bemerkt worden sind. 57 58 59
Vgl. dazu auch Schmitz, Bewusstsein, S. 88. Volz zitiert bei Schmitz, Band III, Teil 2, S. 272. Schmitz, Band III, Teil 5, S. 106.
218 https://doi.org/10.5771/9783495813690 .
Sturm
Im reißenden Sturm konzentriert sich die Aufmerksamkeit gegenüber umweltlichen Eindrücken ganz auf das eigene aktuelle Da-Sein. Was außerhalb dieses engen persönlichen Raumes geschieht, wird viel weniger ausgeblendet, als dass es einfach aus der Wahrnehmung verschwindet. Diese zieht sich in die Enge des leiblichen Selbst zurück. In der Gefährdung des sicheren Standes auf festem Grund verschärft sich ein allgmeiner Sinn fürs Gegenwärtige in eine alarmierte Wachsamkeit, die von der aktuellen Not des sicheren Gleichgewichts gefangen ist. Sie nähert sich jenem Zustand, den Hermann Schmitz mit dem Begriff der »primitiven Gegenwart« (im Unterschied zur »entfalteten Gegenwart«) beschreibt. 60 Auch der Hinweis auf die flächen- und bildhafte Präsenz der Abläufe im Hafen und auf den Schiffen weist auf diese Verengung der Konzentration hin. Das Gefühl leiblicher Enge bestimmt das aktuelle Befinden und nicht das der Weite. Minkowski hatte die Weite und nicht die Enge als Milieu gelebter Distanz beschrieben. Das Beispiel zeigt aber, dass auch die Enge distanzbildend ist. Gleichwohl entfaltet sich in der Atmosphäre der Weite eine ganz andere Distanz als in der der Enge. Die Atmosphäre der Weite verdankt sich im Beispiel der Mikrologie zum starken Wind allein des erholsamen Rückzugs ins gewärmte Hafen-Bistro, also des Entzuges aus der beengenden Situation. So kann die EntFernung des Wetters sogar zum Gegenstand ästhetisch-kontemplativer Entspannung werden. Das spürbar scharfe, aber doch unsichtbare Angegriffen-Werden vom Wehen des Sturmes war in dieser geschützten Situation verflogen und in eine bildliche Szene verwandelt, die sich vor den Fensterscheiben des auf Stelzen am Wasser stehenden Gebäudes abspielte. In der beengenden Situation andrängender Sturmböen haben wir es dagegen mit einer anderen Qualität der Distanz zu tun. Aber auch diese Distanz lässt das Äußere zurücktreten, so dass Kapazitäten der Aufmerksamkeit gleichsam frei werden für eine gebotene Konzentration auf das eigene Selbst, hier die Sicherung des Gleichgewichts. Gelebte Distanz, wie sie Minkowski beschreibt, versteht sich als Ausdruck der Weite des Lebens. Distanz gibt es – wie das Beispiel zeigt – aber eben auch als Ausdruck einer Enge in der Not.
60
Vgl. auch Fußnote 77, S. 79.
219 https://doi.org/10.5771/9783495813690 .
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6.3.3 Exkurs: Etymologische Resonanzen Seit Jahrhunderten bietet sich der Wind in seiner existenziellen Bedeutung der sprichwörtlichen Rede als Brücke der Kommunikation an. Diese Bedeutungen knüpften daran an, was die Menschen aus ihrem eigenen Spüren des Windes gut kannten und verstehen konnten. Weil es sich um ein leibliches Wissen handelte, das zahlreichen Wind-Metaphern zugrunde lag, ließen sich die Bedeutungen leicht und vor allem intuitiv auf Situationen übertragen, in denen es um keinen tatsächlichen Wind ging. Genau genommen waren die meisten sprachlichen Wind-Analogien aber gar keine Metaphern, sondern synästhetische Charaktere, die nicht nur in der Alltagssprache, sondern in aller Regel auch in der sozialwissenschaftlichen Fachsprache unter den Begriff der »Metapher« subsumiert wurden. Der wesentliche Unterschied zwischen Metaphern und synästhetischen Charakteren besteht darin, dass Metaphern rein sprachliche Bilder sind (im Unterschied zu den ikonographischen Bildern in Gestalt der Allegorien), während synästhetische Charaktere im Sinne von Hermann Schmitz an das leibliche Verstehen appellieren. 61 Synästhetische Charaktere ließen sich an vielen Beispielen verdeutlichen; von etwas »Wind bekommen« 62, bedeutet zum Beispiel ja nicht, dass jemand im Wind steht und dessen tatsächliches Wehen zu spüren bekommt. Vielmehr drückt sich darin etwas Charakteristisches von der Natur des Windes aus, das nun auf die Welt sozialer Bedeutungen übertragen wird: sein flüchtiges, schwer fassbares, aber doch spürbar präsentes Wesen. Folglich erfuhr jemand, der »Wind bekam« auf verschlungenen und nicht gut einsehbaren Hinterwegen etwas über eine Sache. 63 Auch die Redewendung von einem »drehenden« Wind wird auf den »Unschlüssigen«, der sich »von jedem Winde bald dahin, bald dorthin treiben« lässt, 64 übertragen. Trotz aller Anthropomorphisierung der Redewendung spiegelt sich darin auch ein lebendiger Aspekt des wehenden Windes wider. Die Bedeutungen existenziellen Be»Synästhetische Charaktere bringen diese [die sinnlichen Qualitäten, JH] über die Grenzen der spezifischen Sinnesqualitäten hinweg miteinander […] in verwandtschaftlichen Zusammenhang«; Schmitz, Der unerschöpfliche Gegenstand, S. 145. 62 Früher »Wind vernehmen«; vgl. Röhrich, Lexikon der sprichwörtlichen Redensarten, Band 3, S. 1731. 63 Heute heißt es eher »Wind von etwas bekommen«. 64 Grimm / Grimm, Deutsches Wörterbuch, Band 30, Sp. 241. 61
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Sturm
rührt-Werdens von einem Wind bieten sich gerade deshalb zur Übertragung auf den Bereich menschlicher Eigenschaften an, weil sie am Erregungs-Charakter des Windes anknüpfen können, der selbst eine sinnliche Qualität ist. Der Wind ist so unbeständig und situativ wechselhaft wie die Gefühle und deshalb »eine übermächtig den Menschen ergreifende Erregung.« 65 Daher haben die Gefühlswallungen nach Lukrez Windcharakter. 66 Die elementare leibliche Natur des Menschen ist das Medium, in dem er seine eigenen Empfindungen und Gefühle zu spüren bekommt. Weil sie kommen und gehen wie ein Wind, werden sie auch mit der Windnatur 67 des alles Bewegenden in Verbindung gebracht (s. auch Kapitel 6.1.1). Gerade die auf dem Wege der leiblichen Wahrnehmung unmittelbar angreifende und immersive Windnatur kontrastiert jene abstrakten Begriffe, die erst der übersetzend-verstehenden Aneignung durch den Kultur-Menschen bedürfen. Sinnliche Eindrücke des Windes finden im leiblichen Spüren ihre Resonanz, auch wenn sich dieser Vorgang dem aktuellen Bewusstsein entzieht. Dabei ist die Mächtigkeit der Bindung von Achtsamkeit von der Art und Weise abhängig, in der ein Wehen vernommen wird. Das erlebende Individuum wird von einem leichten Wehen in anderer Weise gestimmt als von einem starken Wind oder gar den ekstatischen Böen eines Orkans. Ein Wind kann kräftig und energisch wehen, aber auch – geradezu wütend – in einer alles zerreißenden Weise toben. Und so kennt die sprichwörtliche Rede den Wind sicher nicht nur als ein spürbares Nichts. Gerade seine dynamische Lebendigkeit hat sich für die Übertragung in die bildliche Rede mit höchst unterschiedlichen Situationsbezügen angeboten. So wird das Schnelle und Unvermutete als etwas angesprochen, das unberechenbar kommen und gehen kann »wie der Wind« 68. Das Bedeutungsfeld der Schnelligkeit und unvermittelten Gegenwart von etwas geht in einem synästhetischen Sinne auf die sprichwörtliche Rede über. Es ist die leibliche Erfahrung mit dem »schnellen« Wind, die sich als Übermittlerin eines Gefühls bewährt und nicht als ein symbolisches Denken in semiotischen Kategorien. Der Schatz der leiblichen Erfahrungen, die jeder Mensch mit dem Wehen des Windes in zahllosen 65 66 67 68
Schmitz, Band III, Teil 2, S. 271. Böhme / Böhme, Feuer, Wasser, Erde, Luft, S. 184. Vgl. Schmitz, Band III, Teil 2, S. 268. Vg. Röhrich, Lexikon der sprichwörtlichen Redensarten, Band 3, S. 1733.
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Die stimmende Macht des Windes
Situationen seit der frühen Kindheit gemacht hat, bietet sich als Ressource der Übertragung leiblichen »Wissens« in die bildliche Rede an. Es ist evident, dass der Wind für Tiere in ganz anderer Weise existenziell bedeutsam ist als für Menschen. Während das Reh die Nase in den Wind hebt, um Witterung aufzunehmen, haben die spätmodernen Zeitgenossen zumindest das »systemrelevante« Riechen an technische Sensoren abgetreten, so dass der Kultur-Mensch sich in seinem Riechen vermehrt auf transitives wie intransitives Umgehen mit Wohlgerüchen zurückziehen kann. Eine etymologische Spur, die noch auf ein (residuelles) Riechen-Können verweist, finden wir in der bereits oben zitierten Redewendung, wonach man »von etwas Wind bekommt«. In der Ikonographie des Windes beeindruckt ein großes Spektrum höchst heterogener Bedeutungen, die sich in den meisten Fällen mit Gefühlen verbinden, deren soziale Dynamik die Essenz zwischenmenschlicher Begegnungen ausmacht. Noch »mit göttlichen Konnotationen versehen und als abstraktes Phänomen verstanden, ist der Wind in unterschiedlichen Formen dargestellt worden: als menschliche Figur, als wohlwollende und engelgleiche Personifikation oder niederträchtig, bösartig oder sogar dämonisch.« 69 Schließlich bietet sich der Wind als Allegorie guter und böser schicksalhafter Ereignisse wie moralischer Situationen an. Die Schnelligkeit des Windes und sein potentiell unerwartetes Auftreten bedeuten nicht nur Unberechenbarkeit; sie stehen auch für ein hohes Maß an Lebendigkeit und Dynamik. Die unzuverlässige Seite dieses Wesens drückt sich in der anthropomorphisierenden Rede vom »Windhund« aus, jenem Zeitgenossen, dem man in dem, was er tut, keine Beständigkeit zutraut. Aber der Wind repräsentiert eben auch, ganz ohne anhaftende Moral, eine Kraft, die er als Potential der Natur zu entfalten vermag (»vor dem Wind segeln« sowie »Wind in den Segeln« oder »im Schiffsheck haben« 70). Der Wind, den man »von vorne« bekommt, deutet zudem auf dieses Kraftpotential hin, das sich als andrängende Macht bemerkbar macht, wenn darin auch etwas Widerständisches anklingt, das zugleich auf den Kraftverlust dessen hindeutet, der frontal vom Wind getroffen wird. So ist nicht jeder mächtig begegnende Wind eine die eigene Energie aufzehrende Gegen-Kraft. 69 70
Nova, Das Buch des Windes, S. 63. Röhrich, Lexikon der sprichwörtlichen Redensarten, Band 3, S. 1733.
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Sturm
In den Seestücken, die in der Malerei seit dem 16./17. Jahrhundert ohne biblischen Bezug direkt auf das Meeres- und Wettergeschehen bezogen sind, sticht der Schiffbruch als herausragendes Thema hervor. In der Ästhetik des Apokalyptischen drückt sich das paradoxe Bedürfnis aus, das in seiner Abgründigkeit Undarstellbare zu verbildlichen. Einer Reihe von Kunstwerken ist es überaus faszinierend gelungen, Szenen des Schiffbruchs in einer Ästhetik des Erhabenen auf einen emotionalen Grat zu setzen. 71 Zwischen Faszination und Abschreckung beeindrucken diese Kunstwerke mit affizierend-bannenden Atmosphären. Die großen Werke der Malerei thematisierten meistens die imaginierte Teilhabe am Sturm in seiner katastrophischen Abgründigkeit. Diese affektiv so immersiven, meist der ästhetischen Programmatik der Romantik folgenden Kunstwerke zeigen das apokalyptische Spektakel stets für die Perspektive kommoder Sicherheit. Sie transferieren das Grauenhafte und unfassbar Abgründige in die sichere Genießer-Perspektive, die das reine Grauen ins Erhabene veredelt. Edgar Allen Poe hat im Malstrom die Position des Erzählers einer Perspektive eingenommen, 72 in der ein Fischer in den Ekstasen eines verheerenden Seesturms schon verloren scheint. Ins Erhabene konnte er die grauenvollen Imaginationen steigern, ja geradezu »veredeln«, indem er seinen Stoff im Medium der poetischen Rede in einer ästhetischen Perspektive gefällig machte, ohne dabei die Spannung von Faszination und Distanz angesichts des geschilderten »Überlebenskampfes« eines Schiffes aufzuheben. Die Quelle von Poes Erzählung war kein authentisches Erleben in situ, sondern die reine Phantasie. Solch imaginativ inszenierte Naturbegegnung mit dem Sturm evoziert zwar Betroffenheit, wenn sie in ihrem erhabenen Charakter auch kulturell verzeichnet ist und deshalb kompensationsästhetisch jeder vertrauten und gewohnten leiblichen Wind- oder Sturmbegegnung entgegensteht. Angesichts der Bedeutsamkeit und Unberechenbarkeit der Winde ist es kein Wunder, dass die Seeleute in ihnen etwas Geisterhaftes sahen. Selbst die Windstille verstanden sie noch als eine wesenhafte Erscheinung. Das mag einen Grund darin haben, dass – wie auch die Mikrologie unter 6.1 gezeigt hat – der ausbleibende Wind in der Tat etwas Beirrendes hat. Aber für die Seeleute, die bis in die 70er Jahre des 19. Jahrhunderts mit Segelschiffen die Meere befuhren, kam noch 71 72
Vgl. Nova, Das Buch des Windes, S. 126 f. Poe, Der Malstrom.
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Die stimmende Macht des Windes
eine seefahrtspezifische Bedeutung der Windstille hinzu, die an eine oft übersehene Seite der existenziellen Wind-Abhängigkeit der alten Segelschifffahrt erinnert. Nicht nur vom Orkan ging eine Gefahr für Schiff und Mannschaft aus, sondern auch von der finalen Flaute, die ein Segelschiff in der Weite der offenen See an einem Ort in gewisser Weise fixierte und die Mannschaft bei extrem langer Windstille der Katastrophe preisgab. Deshalb verstand man die Windstille in einer beseelten und tendenziell hoffnungsvollen Vorstellung auch als eine »Beratung der Winde« 73. Eine nahe liegende vergesellschaftete Bedeutung des Sturms kehrt in der Sprache der Militärs wieder. Vielleicht haben sich aufgrund der historischen und menschlichen Erschütterungen, die große Schlachten stets auch bedeuteten, diese Bilder des Sturmes über die Sprache des Militärs in die Alltagssprache übertragen. Noch heute steht der »Sturm« für Verheerungen unterschiedlichster Art, 74 die auf eine Eroberung, einen Angriff und ein Unwetter 75 zurückgehen. Eine geradezu maximal existenzielle Bedeutung hat der Wind im Gesicht jenes Sturmes, der im Todeskampf und sodann im Untergang des Lebens endet. 76 Seine zerreißende Macht, die in der letzten Mikrologie nur vorscheinen konnte, transformiert sich nun ins Gefühlsbild eines finalen, aber doch verlorenen Kampfes. Vielen Hinweisen zufolge sprach man dem Wind eine eigene Lebendigkeit zu, wie man sie sonst nur bei im engeren Sinne lebenden Naturwesen kennt (der Wind als »belebtes, handelndes Wesen« 77). Darauf deutet zudem die Rede von den »herrschenden« Winden hin, die die Idee eines Windherrschers impliziert 78, den man sich als vogelartiges Luftwesen auch mit Flügen vorgestellte. 79 Die wesenhafte Lebendigkeit des Windes suggeriert sich aus der Zusammenkunft zweier seiner Merkmale: erstens seiner Nichthaftigkeit und zweitens seiner Mächtigkeit, mit der er auf alles Mögliche einwirken kann (von Dingen, die er herumschleudert, bis hin zu Stimmungen und Lebensgefühlen, die er durcheinander wirbelt). So musste der
73 74 75 76 77 78 79
Grimm / Grimm, Deutsches Wörterbuch, Band 30, Sp. 233. Vgl. ebd., Band 20, Sp. 577. Vgl. ebd., Sp. 586. Vgl. ebd., Sp. 577. Ebd., Band 30, Sp. 232. Ebd., Sp. 235. Vgl. ebd.
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Resümee
Wind als »lebendiges Wesen« gleichsam zwangsläufig eine mystische Rolle spielen, zum Beispiel als »himmlisches Kind«.
6.4 Resümee Dieses Kapitel hat Situationen sinnlichen wie leiblichen Wind-Erlebens zum Gegenstand phänomenologischer Autopsien gemacht. Alle Beispiele haben gezeigt, dass die nachspürende Durchquerung räumlichen Mit-Seins eine produktive Erweiterung des Denkbaren vermittelt. Zu dem darin sichtbar werdenden Nutzen der Phänomenologie merkt Hermann Schmitz an: »Der Fortschritt besteht darin, immer genau zu merken, was merklich ist. Phänomenologie ist ein Lernprozess der Verfeinerung der Aufmerksamkeit und Verbreiterung des Horizonts für mögliche Annahmen.« 80
Die phänomenologischen Rekapitulationen haben am Beispiel des Windes illustriert, dass sich das Einfache und Infra-Gewöhnliche nicht auf einfache Weise versteht. Was Theodor W. Adorno in seiner Ästhetischen Theorie ansprach, gilt mit Nachdruck für die Phänomenologie: »Pure Unmittelbarkeit reicht zur ästhetischen Erfahrung nicht aus. Sie bedarf neben dem Unwillkürlichen auch Willkür, Konzentration des Bewußtseins; der Widerspruch ist nicht fortzuschaffen.« 81
Welchen Erkenntniswert verspricht die Explikation und Reflexion von Atmosphären des Windes? Und welchen Nutzen lässt die damit einhergehende Schärfung des Bewusstseins für das Leben in einer zweckrationalen Welt erwarten, in der es kaum auf das Fühlen von »Belanglosem« ankommt, sondern auf Erfolge in der Sache des Geldes, der Technik und der Macht? Die Übung der Explikation von Atmosphären folgt einem Ziel der Sorge, die dem stets drohenden Stillstand der Entfaltung des eigenen Selbst gilt. Im Sinne von Michel Foucault ginge es um eine Steigerung selbstverantwortlicher Lebensführung. Das gnostische Programm der Selbst-Erkenntnis erweitert sich durch das pathische Programm der Sorge um sich selbst. 82 Dabei geht es nicht um Esoterik, die in erster Linie der sozialpsycho80 81 82
Schmitz, Kurze Einführung, S. 14. Adorno, Ästhetische Theorie, S. 109. Vgl. Foucault, Hermeneutik des Subjekts, S. 17.
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Die stimmende Macht des Windes
logischen Kompensation von Orientierungsverlusten in der Spätmoderne und Enttäuschungen von leeren Versprechen eines letztlich sich zynisch zuspitzenden Neoliberalismus gilt. Im Zentrum stehen vielmehr späte Übungen im andauernden Projekt der Aufklärung. Dabei sind keine Institutionen gefordert, sondern die Selbsterhaltungskräfte der Subjekte. Während der Konstruktivismus in einer vereinseitigten Weltsicht die Handlungsmacht der Akteure gestärkt hat, geht es im Projekt der Selbstsorge bei Foucault um die Entfaltung einer Macht der Selbstbeherrschung und damit um die Selbstkonstitution der Subjekte. Deshalb begreift Foucault die Sorge um das eigene Selbst auch als eine Lebensform 83, die der Sammlung aller Kräfte des Selbst bedarf. Es sollte nicht verwundern, dass die Übung der Meditation hier ins Spektrum jener Praktiken gehört, die der Vervollkommnung bedürfen. 84 Mit Nachdruck stellt sich die Aufgabe der Selbstsorge gerade in dem historischen und zivilisatorischen Moment, in dem der Staat sukzessive die individuelle existenzielle Sorge durch ein immer engmaschigeres System der Ver-sorgung obsolet macht. So werden die Menschen zu »Erwartern« von Dienst- und Sicherungsleistungen, die abstrakte Institutionen garantieren und über Rechtsansprüche verstetigen (Sicherung gesetzlich verbriefter Ansprüche). 85 Die Übung genauen (selbst- wie weltbezogenen) Wahrnehmens steht dem Habitus eines Anspruchsdenkens entgegen, das die »Last« der Selbstsorge auf externe Dienstleister abwälzt. Damit reklamiert sich ein lebensphilosophisches Projekt, das besonders an den spätmodernen Menschen adressiert ist. Schon Heidegger hatte mit der Metapher des »Gevierts« die Sorge als eine existentielle Aufgabe entworfen, die ein nicht endendes Bedenken der Seinsweise des Menschen auf der Erde und in der Natur zum Ziel hat. Was am Beispiel der Explikation von Atmosphären des Windes nur beginnt, setzt sich – auf der Grundlage übend erfahrenen Könnens differenzierten leiblichen Wahrnehmens – in anderen Bereichen des Mit-Seins in Milieus der (zweiten) Natur fort. Wo Böhme vom Vgl. ebd., S. 603. Vgl. ebd., S. 609. 85 Vor diesem Hintergrund reklamiert Sloterdijk (mit Nietzsche), »daß die große Mehrheit der Menschen nicht daran denkt, mehr werden zu wollen, als sie sind. Ermittelt man die Durchschnittsrichtung ihrer Wünsche, ergibt sich der Befund: Sie wollen, was sie haben, nur komfortabler.« Sloterdijk, Du mußt dein Leben ändern, S. 278. 83 84
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Resümee
»Natur selbst sein« 86 spricht, wird eine Differenz zum gegenstandsorientierten Natur-Denken deutlich, das sich in technisch-naturwissenschaftlichen Objekt-Naturen zuspitzt. Die Fähigkeit zum leiblichen Sich-selbst-Spüren ist das Andere der Fähigkeit, äußerliche Natur-Verhältnisse (wie den Abbau von Kohle) zu produzieren und zu bedenken. Bringt sich die Rede über eigenes Natur-Sein in den Diskurs über die Stadt ein, bildet sie ein kategoriales Gegengewicht zur gewohnten Objektivierung von Sachverhalten. Stadt stellt sich dann nicht allein als ein durch intelligible Akteure herstellbarer materieller und symbolischer Raum dar; sie kommt zugleich als eine luzide, flüchtige und changierende Welt situativ eindrücklich werdender Natur in den Blick. Mit der Thematisierung atmosphärischen Befindens in einer doppelten Natur (der um uns herum wirkenden wie der am eigenen Leib spürbaren Natur) pluralisieren sich die Bezugspunkte einer nicht zuletzt rationalen Verfügung über Räume, in denen Menschen zukunftsorientiert wohnen wollen.
86
Böhme, Kritische Theorie der Natur, S. 71.
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7. Airport-Wartezonen
Die letzte der vier in diesem Band vorgestellten und diskutierten Mikrologien ist einem Raum gewidmet, dessen Programm ganz der Situation des Wartens auf einem Flughafen gilt. Zur organisatorischen Umsetzung dieses Programmes werden architektonische wie innenarchitektonische (situationsspezifische) Sachverhalte mit je ortsspezifischen und ästhetischen Eigenarten geschaffen. Die drei Elemente einer Situation – Sachverhalte, Programme und Probleme – sind am Beispiel der monofunktionalen Airport-Wartezonen besonders dicht verbunden. Die Gestaltung der Orte, die Art ihrer Ausstattung sowie der Zweck der an ihnen zu verbringenden Zeit des Aufenthalts folgen ausschließlich einem Warte-Programm. Unter dem Aspekt der Atmosphären verdient dieses in zweifacher Hinsicht Beachtung. Zum einen weil sich die auf einen Flug wartenden Menschen in den Sonderräumen neben den Flugsteigen in die Situation eines Aushaltens »leerer« Zeit gleichsam einfinden und diese in einem pathischen Sinne verbringen müssen. Zum anderen werden diese atmosphärischen Räume deshalb denkwürdig, weil die innen-architektonischen und technischen Arrangements von planenden Akteuren im Wissen um die besonderen atmosphärischen Anforderungen an die Raum- und Situationsgestaltung als Räume des Wartens hergestellt worden sind. An allen größeren und kleineren Flughäfen, an denen Linienflüge des Personenverkehrs abgefertigt werden, gibt es direkt bei den Flugsteigen (den sogenannten »Gates«) Wartezonen. Bei größeren Flughäfen sind sie mit einem räumlich ausgedehnten System von gastronomischen Betrieben ebenso vernetzt wie mit Einzelhandelsgeschäften, die zollfreie Waren anbieten. Da viele Reisende über mehrere Stunden in diesen Zonen auf Anschlussflüge warten müssen, sichern die Flughafenbetreiber ein reichhaltiges Service-Angebot. In den Duty-Free-Shops werden insofern »spezielle« Waren verkauft, als sie in gewisser Weise auf die Situation der (Durch-)Reise bezogen sind. In einer Ausgabe des Manager Magazins kommentiert ein Au228 https://doi.org/10.5771/9783495813690 .
Airport-Wartezonen
tor die Angebotsvielfalt in der ganz eigenen Konsumwelt der Airports so: »Die unproduktiven Stunden am Flughafen lassen sich sinnvoll nutzen – mit Schlafen, Schlemmen, Shoppen oder Surfen. Manche Airports bieten ganz besondere Attraktionen.« 1 Abgesehen von der Denkwürdigkeit des vorausgesetzten »Sinn«-Verständnisses (Schlafen, Schlemmen, Shoppen, »Surfen«) macht das Zitat auf mächtige kulturelle Konventionen in der Gestaltung von Zeiten des Wartens aufmerksam. Diese sind unter anderem durch das gesellschaftliche Verständnis dessen geprägt, was sich mit dem Begriff der »Freizeit« verbindet. Wartezeiten gelten lebensweltlich als »freie« Zeiten, die durch kein Programm in irgendeiner Weise mit Tätigkeiten gleichsam »aufgefüllt« sind. Tatsächlich können die Menschen in der speziellen Wartezeit, die sie neben den Flugsteigen verbringen müssen, frei darüber entscheiden, was sie tun, solange sie den situativen Rahmen des Programmraums nicht sprengen. Dennoch sind die Angebote in den Ladenzonen nicht nur als Be-sorgung freier Zeit zu verstehen; zugleich stellen sie sich angesichts einer weitreichenden kulturindustriellen »Kolonisierung« von Ressourcen der Freizeit auch als Ausdruck der Ent-sorgung einer problematischen Zeit dar. Thema der folgenden Beispiele sind neben den räumlich oft weit ausgedehnten und verzweigten Wegesystemen innerhalb der Airport-Sicherheitszone vor allem die Wartezonen im engeren Sinne. Diese direkt den Flugsteigen vorgelagerten Warteräume unterscheiden sich nach Größe, Architektur, räumlicher Lage, innenarchitektonischer Gestaltung und Qualität der Ausstattung. Meistens beschränkt sich die Innenraumgestaltung in diesen Zonen auf Sitze, die zu Gruppen angeordnet sind, und auf sanitäre Anlagen, die mitunter im weiten Gangsystem der Ladenzone für mehrere Flugsteige zugleich verfügbar sind. 2 Die Wartebereiche befinden sich innerhalb Laage, Wartezeit. Die eher einfachen Wartebereiche sind von den sogenannten »Lounges« zu unterscheiden. Diese sind keine einfachen Aufenthaltsräume. Sie dienen vielmehr dem komfortablen Aufenthalt. Es gibt sie insbesondere auf den großen Flughäfen; dort stehen sie den ökonomisch privilegierten Passagieren der Business-Class oder Vielfliegern zur Verfügung. Eine Lounge suggeriert sich zumindest als atmosphärisch behagliches Milieu. Kommode Raumqualitäten werden im Allgemeinen durch eine entsprechende Innenarchitektur und Mobiliar ebenso vermittelt, wie durch einen dieser Qualität entsprechenden Gastronomie-Service. Neuerdings werden nach asiatischem Vorbild auch abgeschirmte Ruhe- und Schlafbereiche (sogenannte »Sleeping Pods«) angeboten. Eine Lounge soll vor allem individuellen Wünschen der Entspannung entgegenkommen, wenn sie aus systemischer Sicht auch hauptsächlich dazu
1 2
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Airport-Wartezonen
der Sicherheitszone, in der sich nur Reisende aufhalten, die bereits die Pass- und Personenkontrollsysteme durchlaufen haben. Deshalb liegen sie auch gleichsam barrierefrei in der »inneren« Flughafenzone. Die phänomenologische »Autopsie« der Atmosphären von Airport-Wartezonen thematisiert spezifische Situationsräume, die durch einen besonderen institutionellen Rahmen gekennzeichnet sind. In den Mikrologien steht damit die Frage im Fokus, was Menschen tun, wenn sie – wartend – scheinbar »nichts« tun. Die Konkretisierung erfolgt an vier Beispielen – einem ersten ausführlicheren zum Flughafen Frankfurt am Main 3 sowie drei jeweils kürzeren zur Raumatmosphäre in den Wartezonen der österreichischen Flughäfen Wien 4 und Klagenfurt 5 sowie des internationalen niederländischen Airports Amsterdam-Schiphol 6. Alle vier Beispiele gehen im Großen und Ganzen nicht vom eigenen Wartezeit-Erleben aus, sondern vom Eindrücklich-Werden des Wartens anderer. Die Beschreibungen werden wieder nach dem methodischen Vorgehen der anderen Kapitel phänomenologisch auf den Charakter ihrer Situationen und die darin vorscheinenden Bedeutungen hin interpretiert. Bei dem Ausgangsmaterial der Erhebungen handelt es sich um dichte Beschreibungen in der Perspektive subjektiven Mit-Seins. Damit wird eine in aktuellen situativen Segmenten gleichsam punktuell aufscheinende Kultur der Zeit der Reflexion zugänglich gemacht. Indem die von Dritten gelebten Bedeutungen zum Gegenstand der Interpretation werden, spitzt sich die hermeneutische Problematik der phänomenologischen »Autopsien« insofern zu, als es geschaffen sein dürfte, ein logistisches und sicherheitstechnisches Problem zu lösen. Von diesen Lounges soll hier nicht die Rede sein. Sie sind auch in keiner der vier Mikrologien zum Gegenstand einer Situationsbeschreibung geworden. Die Vielfalt Lounge-artiger Räume ist in der Gegenwart so groß, dass einfache Definitionsversuche fehlschlagen müssen. Das deutsche Universalwörterbuch von 1989 kennt die Lounge allein als »Hotelhalle« oder »Gesellschaftsraum in einem Hotel«. Zwanzig Jahre später nennt der Duden darüber hinaus die Lobby, die Bar und den Club »mit anheimelnder Atmosphäre« sowie den luxuriös ausgestatteten Aufenthaltsraum auf Flughäfen, in Bahnhöfen und großen Stadien. Aber auch darüber hinaus hat sich die Lounge als Prinzip räumlicher Vergesellschaftung in vielen kulturellen Bereichen etabliert; vgl. dazu Hasse, »Lounge«. 3 Tag und Zeit der Protokollierung: 30. 10. 2014 | 13:00–14:30 h. 4 Tag und Zeit der Protokollierung: 30. 10. 2014 | 16:30–17:20 h. 5 Tag und Zeit der Protokollierung: 31. 10. 2014 | 18:50–19:40 h. 6 Tag und Zeit der Protokollierung: 10. 12. 2014 | 14:30–16:00 h.
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Airport-Wartezonen
nun nicht um die Reflexion eigenen Erlebens geht, wie in den Kapiteln über die Stille und den wehenden Wind, sondern um die Reflexion von sozialem Verhalten. In den Fokus der Aufmerksamkeit rückt also nicht das subjektive Erleben herumräumlichen Geschehens, in dem die Aktivitäten von Menschen bestenfalls eine randlich vermittelnde Rolle spielen. Im Zentrum steht der durch die Gegenwart von Menschen gestimmte atmosphärische Raum. Wenn sich die phänomenologische Durcharbeitung von sinnlichen Eindrücken dennoch auf die eigene Subjektivität und nicht die anderer Personen bezieht, so stellt sich darin im Prinzip keine andere Reflexionsaufgabe als am Beispiel der Stille oder des Wind-Erlebens, werden doch hier wie dort mit Bedeutungen geladene Eindrücke thematisiert, bei denen es zunächst nicht darauf ankommt, ob sie von Dingen und Halbdingen ausgehen oder von dem, was anwesende Menschen in einem räumlichem Milieu tun. Was im So-Sein von Menschen im halböffentlichen Raum der Wartezonen eindrücklich wird, ist Gegenstand der Mikrologien und nicht der Sinn, den die Individuen ihrem So-Sein selbst zuschreiben. Thema der phänomenologischen Reflexion ist auch in den folgenden Beispielen das subjektive Mit-Sein in Situationen und nicht die sinnhaft aufgebaute Lebenswelt Dritter. Eine zentrale Rolle nimmt in den folgenden thematisch verwandten Kapiteln wiederum die Atmosphäre von Räumen ein, hier die der Airport-Wartezonen. Diese Atmosphären sind mit Bedeutungen geladen, die sich im Prozess des Wartens herausbilden bzw. zu erkennen geben, wie Räume institutionalisierten Wartens in ihren Vitalqualitäten qua Architektur, Innenarchitektur und Design disponiert sind. Sie lassen spürbar werden, in welcher Weise Menschen im Erleben anderer gegenwärtig sind, wenn sie im herkömmlichen Sinne gar nichts »tun«. Im Unterschied zu den Mikrologien zur Stille und zum Wind werden die folgenden nicht je für sich, sondern im Zusammenhang diskutiert und interpretiert. Im Fokus aller Beschreibungen steht das Warten, das in seinen unterschiedlichen Praktiken eher im unmittelbaren Vergleich der phänomenologischen Analyse zugänglich gemacht werden kann als auf dem Niveau der einzelnen Mikrologien.
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Airport-Wartezonen
7.1 Warten auf dem Flughafen Frankfurt am Main Der Warteraum beim Gate 20 ist ungefähr quadratisch. Durch zwei je ca. vier Meter breite Ein- bzw. Ausgänge ist er an die großen inneren Fußgängerstraßen des Terminals angebunden. Doppelseitige Dreierund Vierersitze bilden Reihen, die rückwärtig miteinander verbunden sind. Seitlich neben den Sitzplätzen befinden sich Ablageflächen, die gerade so groß sind, dass eine mittlere Reisetasche darauf passt. So sitzen die Menschen nebeneinander und mit dem Rücken zueinander. Die Decke ist mit matt silbernen Metallprofilen verkleidet. Eine Betondecke liegt darüber; hinter dem eloxierenden Blendwerk sieht man schemenhaft Kabelstränge und -schächte. An den Metallverkleidungen ist eine futuristisch wirkende Lichtquelle montiert – raumschiffartige Strahler, wie man sie aus Science-Fiction-Filmen kennt (s. Abb. 23). Sie leuchten die Decke ebenso an wie die mit weißen Kunststoffplatten verkleideten Wände. Große bis zum Boden reichende Fensterflächen bieten einen Ausblick auf das Rollfeld. Eine Passagierbrücke mit seitlich aufgedruckter TOTAL-Werbung mündet in den Flugsteig. Auf den Bänken sitzen acht Personen; drei liegen ausgestreckt auf den Sitzen und schlafen. Der Raum hebt sich als Warte-Raum atmosphärisch von der direkt neben den Zugängen verlaufenden Hauptachse der Bewegungsströme im inneren Flughafenterminal »A« ab. Deshalb entsteht das Gefühl eines »Drinnen«, das sich von einem »Draußen« im Durchgangsbereich des Terminals unterscheidet, obwohl die Räume doch unmittelbar und barrierefrei ineinander übergehen. Es sind zwei grundverschiedene, aber doch – tatsächlich wie atmosphärisch – ineinander verzahnte Räume. Das »Draußen« erscheint als Transit-Raum der Eiligen; schnelle Bewegungsrhythmen prägen die Atmosphäre. Im vermeintlichen »Innen«-Raum ist dagegen eine geradezu spürbare Bewegungslosigkeit und Ruhe bestimmend. Die Wartenden, die nicht schlafen, bewegen sich nur wenig auf ihren Sitzen – nur soweit es das Ausharren auf der Stelle erfordert, zum Beispiel beim Umblättern von Zeitungen oder Zeitschriften. In scheinbar regelmäßiger Folge werden die Beine neu auf die Situation des Wartens »eingestellt«, das rechte Bein über das linke oder das linke über das rechte geschlagen. Die Schlafenden liegen da wie tot. Zwei Frauen, die sich mit ihren Utensilien auf drei aneinander hängenden Sitzen ausgebreitet haben, sprechen miteinander. Die 232 https://doi.org/10.5771/9783495813690 .
Warten auf dem Flughafen Frankfurt am Main
Abb. 23: Warteraum im Flughafen Frankfurt am Main; Bild: Jürgen Hasse.
anderen Wartenden sind in eine Zeitung vertieft oder wischen auf den Displays ihrer Smartphones herum. Damit verschwinden sie – obwohl sie sich doch körperlich nicht von der Stelle bewegen – in einer imaginär wirkenden »Innenwelt«, die ihre ganze Aufmerksamkeit auf zähe Weise zu binden scheint. Man könnte den Eindruck gewinnen, als sähen sie gar nicht tatsächlich auf etwas, als würden ihre Augen Buchstabenkolonnen oder Bilder nur streifen, ohne sich im engeren Sinne verstehend auf das einzulassen, was sie vor sich haben. Ist das alles nur ein prophylaktischer Abwehrschirm gegenüber möglicher Kommunikation mit Fremden, die durch habituell regelrecht zur Schau gestelltes Nichts-Tun vereitelt wird? Offensichtlich ist allein, dass sich die Wartenden im abseitigen und von den großen Bewegungsflüssen isolierten Raum eine persönliche Nische des Rückzugs geschaffen haben. Wer so da ist und vor sich hinsieht, befindet sich in einer Eigen- und in keiner Mitwelt. Inmitten Tausender von Menschen auf diesem Flughafen ist dies nur eine von vielen Ruheinseln, die ihren Zweck der Isolation durch relative Abschottung erfüllen. Als behagliche Räume des Bleibens bieten sie sich jedenfalls nicht an. Man bleibt eben nur so lange, wie es sein muss. Geräusche vom Hauptgang schwappen herein – lauter als alles, was man sonst hier zu hören bekommt. Sie werden nur von 233 https://doi.org/10.5771/9783495813690 .
Airport-Wartezonen
kleinsten Pausen, in denen der Strom der Reisenden kurz abreißt, unterbrochen. Immer wieder dringen undeutliche Lautsprecherdurchsagen heran. In einem menschenleeren Seitentrakt der Wartezone lässt sich eine arabisch erscheinende Frau mittleren Alters in der »Uniform« eines Reinigungsdienstes nieder. Sie setzt sich auf einen der Lederschalensitze und stellt ein paar graue halbgefüllte Plastik-Müllsäcke vor sich ab. Ungefähr zehn Minuten sitzt sie da. Sie ist die einzige Person, die weder spricht, noch liest oder irgendetwas anderes »tut« – sie scheint noch nicht einmal zu warten. Sie sieht vor sich hin – sonst nichts. Aber sie tut das nicht, als wäre es nichts, sondern etwas Besonderes – als gäbe es eine Möglichkeit der Steigerung oder Intensivierung im Nichts sich verlierender Blicke. Schließlich steht sie auf, nimmt die Müllsäcke und verschwindet im Hauptgang wieder in der Menge der vorüberströmenden Menschen. Von Anfang an war sie keine Wartende, wie sie offensichtlich keine Reisende war. Sie kam als jemand, der die Abfälle der Reisenden wegzuschaffen hatte, eine Arbeiterin der Airport-Stadt am unteren Ende der Hierarchie aller Arbeitsplätze, die es in dieser Sonderwelt gibt. Sie hatte keinen Grund zu warten, wie Reisende es tun, bevor ihr Flieger eintrifft. Vielleicht suchte sie nur ein Versteck im halböffentlichen Raum, um sich ihrer eigenen Verzweckung für einige Momente zu entwinden – vielleicht um die an sie gerichteten Reinigungs-Effizienz-Erwartungen gewissermaßen für sich zu unterbrechen. Sie wartete nicht, zog sich vielmehr in die Ent-spannung zurück. Auf einer zeiträumlichen Insel tat sie zum Schein, was alle taten und brachte sich damit im Strom des äußerlich Ähnlichen für eine kurze Zeit zum »Verschwinden«. Eine Zweiklang-Glocke tönt zwischen eine Lautsprecheransage, die nur Zahlen, Flugziele, Aufforderungen, Hinweise und fragmentarisch Unverständliches zu hören gibt. Im Seitengang – genau da, wo eben noch die Service-Frau saß – hat sich ein Mann mittleren Alters mit Anzug und Krawatte niedergelassen. Er telefoniert. Schlagartig ändert sich die gesamte klangliche Atmosphäre der Gegend um ihn herum. Während die Stimmen anderer Wartender in hier und da geführten Vis-a-Vis-Gesprächen nur hintergründig hörbar sind, werden nun abgehackte Sprachfetzen verstehbar. Der soziale Gebrauch der (Mobilfunk-)Technik scheint diese Art des Sprechens zu fordern – ein relativ lautstarkes Hinein-Tönen in eine Minatur-Maschine, die einen leiblich präsenten Menschen vertritt. Der Telefonierer ist aber nicht nur an seiner zum Teil lautlich vernehmbaren Sprache zu er234 https://doi.org/10.5771/9783495813690 .
Warten auf dem Flughafen Frankfurt am Main
Abb. 24: Warteraum im Frankfurter Flughafen; Telefonierer; Bild: Jürgen Hasse.
kennen, sondern auch (und noch dann, wenn er hörbar gar nicht spricht) an seinen Bewegungen – insbesondere seiner Gesichtsdynamik. Auch seine Haltung unterscheidet sich von der der Lesenden oder Gar-nichts-Tuenden. Er streckt die Beine aus, zieht sie wieder zurück, wippt mit dem rechten Fuß auf und ab, stellt beide Füße nebeneinander, wippt dann mit dem linken Fuß (s. Abb. 24). Er zupft sich an den Haaren, greift in einer ausladenden Bewegung durch die Luft, spielt mit Daumen und Zeigefinger, macht eine raumgreifende Geste mit dem rechten Arm, als wollte er jemandem bekräftigend etwas erklären: »… genau … genau …«. Und immer wieder ist ein Wort – die kommunikative Leerstelle schlechthin – hörbar: »… genau … genau …«. Eine Frau beschäftigt sich mit ihrem Smartphone. Immerzu streicht sie mit dem Finger das Display hinauf und wieder hinunter – wie man es aus der U- und S-Bahn, der Straßenbahn, dem Linienbus und aus der Fußgängerzone kennt. Ein Mann, der zwei Plätze weiter sitzt, tut dasselbe auf der Scheibe seines Tablet-Computers. Drei Personen sind zwischenzeitlich gegangen. Der Raum ist nun beinahe leer, und er wirkt jetzt noch steriler als schon zuvor. Von draußen dringt das Kreischen eines Kindes herein. Wie ein Schnitt fährt der schrille Ton ins Innere des ruhigen Raumes. Es gibt 235 https://doi.org/10.5771/9783495813690 .
Airport-Wartezonen
eine Ruhe, die sich im offenen Raum mehr situativ-atmosphärisch als lautlich hörbar konstituiert und sich von der Klanglandschaft des beinahe fortwährend durchströmten Hauptganges im Terminal abhebt. Zwei sich gegenüber Sitzende wechseln ein paar Worte. Die Leere des Raumes wird dadurch noch größer, dass nur hier und da – gleichsam verloren – die eine oder andere Person sitzt. Der Telefonierer hat sein Gespräch beendet. Er sieht nun wie die vielen anderen auf sein Display, streicht mit dem Daumen rauf und runter – und fängt ein neues Telefonat an: »… ich bin’s …«. Ich wechsle in eine andere benachbarte Wartezone. Auch hier sitzen kaum mehr Leute. Aber die Atmosphäre ist vielfältiger. Ein junger, großer, dunkelhäutiger Mann mit einer grell-roten Kappe geht laut telefonierend (er spricht spanisch) auf und ab. Ein büromäßig erscheinender Mann mit Brille liest in der BILD-Zeitung. Ein anderer mit Hut hantiert mit seinem Laptop, den er aufgeklappt auf den Knien vor sich festhält. Ein Mann mit Kappe schläft; die Kopfbedeckung ist ihm ins Gesicht gerutscht. Eine Frau liest in einem Buch. Drei Mädchen und ein Junge sitzen an einem runden Tisch, sprechen miteinander und essen Brötchen. In einer Ecke sitzt ein Mann am Laptop, der vor ihm aufgeklappt auf dem Tisch steht. Ein Mann mit braunem Filzhut steht auf und verstaut seinen Laptop in einer Tasche. Dann hängt er einen roten Plastikrucksack über seinen Anzug, nimmt die Tasche mit dem Laptop und geht. Es ist immer dasselbe. Trotz aller szenischen und zufälligen Variationen des Geschehens – der bestimmende Rhythmus der AirportWartezonen vor den Flugsteigen folgt dem Programm eines temporären Bleibens, das mit Beiläufigkeiten gefüllt wird. Einzig das Warten ist geboten, eigentlich nur unausweichlich notwendig, undiskutabel, so dass sich alles Tun auf nichts Besonderes konzentriert; es scheint in irgendetwas Leeres hineinzuströmen und sich darin zu verlieren. Ein älterer Mann mit Krawatte und der Süddeutschen Zeitung setzt sich an einen freien Tisch. Er hat einen braunen Lederkoffer neben sich abgestellt – einer von denen, die man im Frankfurter Bankenviertel des Öfteren sieht. Sie dienen am Wenigsten der Aufbewahrung und dem Transport von Dingen, erschöpfen sich beinahe in Gänze in einer symbolischen Geste der Distinktion – als Medien habitueller Präsenz. Noch ein Mann (dem Anschein nach Geschäftsmann) mit Rollkoffer samt aufgesteckter Aktentasche kommt und stellt sich an die Fensterfront. Er nimmt am äußersten Ende des Raumes Platz, holt 236 https://doi.org/10.5771/9783495813690 .
Warten auf dem Flughafen Frankfurt am Main
sein Smartphone aus der Jackentasche und streicht mit dem Finger darauf herum. Das tun nun neben dem Spanier mit der roten Kappe auch drei der fünf Jugendlichen, die nur noch Verpackungsabfälle vor sich auf dem Tisch haben. Eine junge Frau fährt mit einem Gepäckwagen herein, sieht sich um und setzt sich auf einen freien Platz. Der Mann mit dem »besonderen« Lederkoffer geht. Ein Schwarzer 7 mit blauen Handschuhen kommt herein und füllt die Zeitungsbestände in einem Regal auf. Es wird angesichts eines offensichtlich an diesem Flugsteig bevorstehenden Abflugs lebendiger – Kommen, Herumschauen, Hinsetzen, Aufstehen, Gehen. Die meisten der Hereinkommenden sind schon haptisch mit ihren Smartphones beschäftigt und so in ihrer Aufmerksamkeit gebunden. Eine Fülle beinahe standardisierter Bewegungen aus habituellen Sequenzen deckt ein dennoch unvorhersehbares Bild aufblitzender Ereignisse in diesem Raum ab, in dem im engeren Sinne gar nichts geschieht. Wenn Wartende herumschauen, so tun sie es meistens anscheinend grundlos; wie man eben irgendwo hin sieht, wenn man wach ist und den Blick nicht auf eine Zeitung oder ein Display fixiert. Vielleicht sind Smartphones und Mobiltelefone gerade in dieser gemeinsamen Situation des In-die-Zeit-hinein-Wartens ideale Verlegenheitsmedien, die dem Blick einen Ort des Ausharrens anbieten. Der Raum wird voller, aber es geschieht nichts anderes, als wären nur drei oder fünf Personen anwesend. Der Rhythmus aller Bewegungen und Ereignisse verdankt sich eines sich kaum variierenden Kommens – Bleibens – Gehens. Allenfalls dann, wenn die Zeit des »Boarding« naht, breitet sich eine zunächst an marginalen Aktivitäten atmosphärisch spürbar werdende nervöse Unruhe aus (s. Abb. 25). Zwar bleiben die Menschen einstweilen weiterhin sitzen; aber sie bewegen sich nun öfter und vor allem schneller. Angesichts einer nahenden Zeit- und Ereignis-Schwelle bietet sich eine letzte Möglichkeit für ein Telefonat; es wird an Taschen herumgezupft, Reißverschlüsse ratschen auf und wieder zu, man geht ein paar Schritte in die eine Richtung und wieder zurück in die andere Rich-
Nach einem Ratgeber für Journalisten der Bundeszentrale für politische Bildung ist das Wort ebenso wenig akzeptabel wie »Afrikaner«; korrekt wäre indes »schwarzer Mensch«; vgl. Bundeszentrale für politische Bildung, Ratgeber. Ich bleibe dennoch, ausdrücklich ohne Diskriminierungsintention, bei dieser lebensweltlich gebräuchlichen sprachlichen Form.
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237 https://doi.org/10.5771/9783495813690 .
Airport-Wartezonen
Abb. 25: Flughafen Frankfurt am Main; boarding-bedingte Unruhe; Bild: Jürgen Hasse.
tung. Leere Richtungen werden so zu Zwischenzielen in einem scheinbaren Kampf mit der Zeit. Die sich kennen, sprechen nun sporadisch miteinander, tauchen vor dem Erreichen des Warte-Zieles aus ihrer Starre gleichsam auf. Der BILD-Leser hat das Medium schon vor einer Zeitlang gewechselt. Er geht nun mit der Frankfurter Rundschau in der Hand, einen Aluminium-Koffer hinter sich herziehend, in die Richtung des offenen Durchgangs. Die Situation löst sich mit dem Beginn des Boarding auf und der Raum leert sich. Bald wird der Warteraum erneut in denselben Kreislauf wiederkehrender Beiläufigkeiten eintreten, für den er gemacht wurde. Er ist ein Raum der Nichtigkeiten, die von den Wartenden offensichtlich in einer als leer empfundenen Wartezeit zelebriert werden. Warteräume sind keine Handlungsräume – sie sind Zonen des Ausharrens, des Leerlaufs, des Auf-der-Stelle-Lebens.
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Warten auf dem Flughafen Wien
Abb. 26: Offene Wartezone im Flughafen Wien, noch halb leer; Bild: Jürgen Hasse.
7.2 Warten auf dem Flughafen Wien Kein Flughafen ist wie der andere, wenn sich in struktureller Hinsicht auch alle ähnlich sind. Dennoch variiert die Raumordnung und Gestaltung der Wartezone mitunter stärker. Auf dem Wiener Flughafen beeindruckt deren Offenheit. Es gibt keine engen Verbindungswege von den Wartezonen zu den großen Magistralen des fußläufigen Airport-Verkehrs; die Längsseiten der Wartebereiche vor den Gates gehen direkt in die Fußgängermagistralen zwischen zwei großen Laufbändern über, die genau in der Mitte zwischen getrennten WarteZonen auf beiden Seiten des Terminalgebäudes liegen. Die Raumdecke ist zweistufig und schießt über mir hoch hinauf. Dadurch wirkt der Raum nicht eng oder gar beengend. Sein atmosphärischer Charakter macht die Funktionskreisläufen des Flughafens spürbar. Eine großflächige Glasfront reicht bis zum Boden herunter und bietet einen direkten Blick auf das Rollfeld. Die Größe der Wartezone entspricht der Menge des an diesem Flugsteig abgewickelten Personenverkehrs (s. Abb. 26). Wie überall so sind auch hier die Stühle (nun aus einfachem, aber bequemem Kunststoff) nebeneinander bzw. miteinander zu 239 https://doi.org/10.5771/9783495813690 .
Airport-Wartezonen
Abb. 27: Flughafen Wien; Rauminseln; Bild: Jürgen Hasse.
Sitzketten verbunden. Aber mitten im Raum stehen – nahe bei den großen zum Boden reichenden Glasfronten – große gepolsterte Sitzlandschaften, die anscheinend mit schwarzem Leder überzogen sind. Im Raum sind einige Arbeitsnischen verteilt, in die man sich zurückziehen kann (s. Abb. 27); es gibt nur einen Sichtschutz, so dass die Geräuschkulisse des ganzen Raumes auch in diesen »Nischen« nicht gebrochen wird. Diese werden (aktuell) von Männern genutzt, die sich an den Tischen mit ihren Computern beschäftigen. Man könnte die Rauminseln auch für eine Zwischenmahlzeit in Anspruch nehmen. Indes scheinen sie einen Zweck so perfekt zu suggerieren, dass jeder, der hier sitzt, die Gehäuse im Raum in eine Bürowelt verwandelt hat. Aus der Menschenmenge ragen gelegentlich Sprachfetzen hervor – »… genau …« ist auch hier das ubiquitäre »LeerWort«, das von gar nichts kündet. Alle, die (lautlich) nicht sprechen, sitzen – soweit es die Menge der Wartenden erlaubt – mit dem Abstand eines leeren Platzes nebeneinander. Ein Mann hat einen Laptop auf den Knien, der daneben wandert mit seinem Daumen über das Display eines Smartphones: »… ich checke das morgen mal …«. In würfelartigen Vierer-Nischen agieren fast nur Männer mit Klapp-Rechnern und Smartphones. Ein Wartender telefoniert. 240 https://doi.org/10.5771/9783495813690 .
Warten auf dem Flughafen Wien
Abb. 28: Flughafen Wien; Laufbänder neben der Wartezone; Bild: Jürgen Hasse.
Die Atmosphäre des Raumes entfaltet sich dank ihrer eigenen Architektur in einer gewissen »Halb-Ruhe«. Auf der anderen Seite des Laufbandes, über das Menschen wie ausgestopfte Staffagegestalten vorbei zu schweben scheinen (s. Abb. 28), liegt spiegelbildlich ein weiterer Wartebereich. Innerhalb der Zone F02 befinden sich acht Schalter der Austrian Airlines. Die dort stattfindenden Gespräche fügen sich in die transitorische Situation des Raumes ein. Das Warten konzentriert sich an allen Orten gleichsam auf sich selbst – und drückt sich in einer atmosphärischen »Zähigkeit« aus. Beiläufige Tätigkeiten gibt es hier nun in großer Vielfalt; abermals dienen sie offensichtlich allein dem Zeitvertreib, wenn man darin einen Zweck sehen will. Ein älterer asiatischer Mann sitzt mir gegenüber – vielleicht ein Japaner? Er tut augenscheinlich gar nichts; er verbringt die Zeit des Wartens nicht wie die anderen, die sie zu vernichten scheinen. Er sieht noch nicht einmal umher, schaut nicht dort und nicht hier hin. Er sitzt wie erstarrt da – wie in Harz gegossen – mit über den Beinen zusammengefalteten Händen und übereinandergeschlagenen Füßen. Dieses ganz persönliche Warten scheint sich in der habituellen Präsenz des Mannes im Bild eines scheinbaren Binnenraumes gelebter Zeit zu verdichten. Nur die Augen wandern manchmal nach oben 241 https://doi.org/10.5771/9783495813690 .
Airport-Wartezonen
und dann wieder nach unten, aber nie zu den Seiten. Er beobachtet nicht und nichts. Er scheint sich die Zeit in einer Weise einzuverleiben oder sich von der Dauer ergreifen und tragen zu lassen, wie es unserer westlichen Kultur fremd ist. Als der Beginn des Boarding ausgerufen wird, steht er auf, um seine Jacke anzuziehen. Aber er stellt sich nicht in die sich zusammendrängende und -drängelnde Schlange, sondern setzt sich wieder zurück in seine Position, die mehr eine Situation und Haltung zur Zeit ausdrückt als ein leeres Warten von der Art eines Zeitvertreibs. Er erscheint immer mehr wie jemand, der sich schont, seine Kräfte regeneriert, bündelt und sammelt. Wenn alle Wartenden so dasäßen, hätte der Raum eine völlig andere Atmosphäre. Ihr Akzent läge dann nicht auf dem Warten, sondern auf einer merkwürdig konzentrierten Präsenz. Ein Unterschied zu dem, was man »Warten« und »Anwesend-Sein« nennen könnte, drängt sich auf. Zwar ist Warten für sich genommen nichts Aktives, eher ein pathisches Aushalten einer Zeit, die wir gelernt haben, als nichtsnutzige Null-Zeit zu bewerten und zu empfinden. Die scheinbar reduzierte Anwesenheit des aus dem Fernen Osten stammenden Mannes stellt sich der in der westlichen Kultur vorhandenen Einstellung, Wartezeiten eher zu neutralisieren als für die Intensivierung irgendeiner Form der (Selbst-)Besinnung zu nutzen, auf denkwürdige Weise entgegen.
7.3 Warten auf dem Flughafen Klagenfurt Flughafen-Innenwelten repräsentieren etwas von der Weltoffenheit oder Provinzialität »ihrer« Stadt. Die Klagenfurter Wartezone befindet sich neben einer Glastür, die direkt auf das Rollfeld führt (s. Abb. 29); der Raum ist nüchtern eingerichtet. Die Tür öffnet sich, wenn ein Flugzeug gelandet ist oder zum Start bereitsteht. Es scheint kein besonderer Bedarf nach einem Raum mit einer bedacht arrangierten Aufenthaltsqualität gegeben zu haben. Die Atmosphäre ist kalt und reduziert: Kunststoff(küchen)boden, graue Plastikschalensitze, die zu Vierer-Doppelreihen verschraubt sind, ein Dutzend Leute, die sich mit Tablet-Computern und Smartphones je individuell beschäftigen oder ablenken, um nicht in das Loch einer leeren Zeit zu stürzen. Vor dem Fenster liegt das (freie) Rollfeld – weit entfernt 242 https://doi.org/10.5771/9783495813690 .
Warten auf dem Flughafen Klagenfurt
Abb. 29: Flughafen Klagenfurt; Warteraum; Bild: Jürgen Hasse.
steht auf dem monotonen Asphalt ein zweistrahliger Privatjet (s. Abb. 30). Die Linienmaschine, der das Warten in diesem Raum gilt, steht aus. Das Warten ist hier ganz auf sich geworfen. Es gibt keine Ablenkung außer dem, was man selbst an Ablenkendem tun kann. Das Ausharren im langweiligen Raum hat beinahe kathartischen Charakter. Da ist nur eine Glasscheibe, hinter der sich ein menschenleerer Duty-Free-Shop befindet. Als ob die Addition leerer oder fast leerer Räume die Leere noch größer machen würde. So jedenfalls wirkt dieses Nebeneinander des Ultra-Langweiligen. Hinter dem Duty-Free-Shop liegt ein Kontrollraum mit Sicherheitsschleusen; man kann durch die Spirituosen- und Schokoladenregale zu ihm hinübersehen. Auch da ist es ruhig; es kommen im Moment keine neuen Fluggäste. Es ist allein das Wissen um das Warten auf einem Flugplatz, das das HierSein von einem Warten im Gesundheitsamt oder dem dürftig ausgestatteten Show-Room eines Auto-Händlers unterscheidet. Eine Frau kommt herein; ihre Schritte klingen unter den harten Absätzen artifiziell in diesem verlorenen Raum. Sie tönen, als würde jemand einen letzten Kontrollgang durch eine ausgeräumte Wohnung machen, in der alle Geräusche in einem Nichts fehlender Resonanzkörper nachhallen. 243 https://doi.org/10.5771/9783495813690 .
Airport-Wartezonen
Abb. 30: Flughafen Klagenfurt; Rollfeld vor dem Warteraum; Bild: Jürgen Hasse.
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Warten auf dem Amsterdamer Flughafen Schiphol
7.4 Warten auf dem Amsterdamer Flughafen Schiphol Der Raum ist – wie die meisten Wartezonen – mit einfachem, aber halbwegs bequemem Sitzmobiliar ausgestattet. In Viererblöcken sind in je doppelten Reihen relativ harte, ungepolsterte Lederschalensitze montiert. Der Raum ist in funktionalistischer Nüchternheit an der Decke mit Kunststoffprofilen verkleidet, hinter denen einzelne Fragmente eine technische Röhrenwelt ankündigen. Der Raum ist ungefähr halb besetzt. Nur wenige Menschen sprechen miteinander. Die meisten scheinen sich fremd oder bleiben aus anderen Gründen »bei sich«. Wenige füllen die Zeit des Wartens mit dem Lesen von Zeitungen und Zeitschriften. Die meisten tippen auf die Displayflächen ihrer Smartphones. Manche haben sich über einen Kopfhörer mit ihren Geräten verbunden. Der Eindruck separierter Individuen ist bestimmend. Miniatur-Computer sind als eine dispers ubiquitäre Technostruktur allgegenwärtig. Sie machen den Eindruck von EntbindungsMedien, die gegenüber einer herumräumlichen und sinnlich präsenten Welt Grenzen schaffen. Das Warten dreht sich wie ein intensives Nichts auf der Stelle. Vereinzelte Wortfetzen sind zu hören, aber sie ergeben keinen zusammenhängenden Sinn. Die in der Innenarchitektur des Raumes verbauten Werkstoffe scheinen alle Geräusche aufzusaugen. – Hier und da ein Husten. Eine Frau mit einem hellen Pullover zieht mit ihrem Lippenstift die Konturen nach. Dann holt sie einen kleinen Klapp-Rechner aus der Tasche (s. Abb. 31). Zuvor hatte sie kurz mit ihrem Mobiltelefon hantiert. Ein mir gegenüber sitzender Mann schläft. Der Raum wird nach einer halben Stunde voll; viele Leute müssen stehen. Neben mir sitzen zwei Briten, die miteinander reden. Sie sind etwa zwischen 50 und 60 Jahre alt. Der eine hat ein kurzärmeliges Hemd an, so dass man auf seinen Unterarmen ornamentreiche Tätowierungen sehen kann. Der ältere der beiden hat Tätowierungen auf beiden Händen; jedes Fingerglied ist in ein einfaches, aber umfassendes Muster einbezogen, das das Bild der ganzen Hand bestimmt. Die Gegenwart der beiden hat etwas Abstand Gebietendes. Eigentlich hat sich in der Raum-Situation nichts verändert, und doch vermögen schon zwei in ihrer besonderen ästhetischen Präsenz herausragende Personen die Aufmerksamkeit zu binden. Eine Boden-Stewardess kündigt die beginnende Abfertigung an, die in diesem Bereich für mehrere Flüge abgewickelt wird. Daher ist es weitaus unruhiger als in jenen Wartezonen, die ausschließlich für 245 https://doi.org/10.5771/9783495813690 .
Airport-Wartezonen
Abb. 31: Flughafen Amsterdam-Schiphol; der Computer als Zeitfüller; Bild: Jürgen Hasse.
einen Flug reserviert sind. Der Geräuschpegel hebt etwas an, vor allem aber breitet sich eine mehr spürbare als sichtbare Unruhe aus.
7.5 Phänomenologie des Wartens In der Mitte der folgenden sieben phänomenologischen Autopsien steht das Warten. Aber es ist nicht nur das Warten im engeren Sinne dessen, was Menschen tun, wenn sie warten, und wie sich dieses Warten darstellt und sich in (körperlich sichtbaren) leiblichen Regungen zu verstehen gibt. Es sind auch die mit einer »Architektur des Wartens« verbundenen räumlichen Zumutungen und Atmosphärisierungen, die im Rahmen einer institutionalisierten Welt des Wartens zum Thema werden. Dabei muss eine spätmoderne Technik-Kultur der Proto-Kommunikation besondere Aufmerksamkeit finden – der Umgang mit Klapp-Computern, Mobiltelefonen und Smartphones.
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Phänomenologie des Wartens
7.5.1 Warten im engeren und weiteren Sinne Die Schaffung von Wartezonen unmittelbar neben den Schleusen der Flugsteige geht auf die Notwendigkeit einer raumzeitlichen Organisation einer umfassenden Flughafen-Logistik zurück. Die Notwendigkeit dieser Airport-spezifischen Organisation des Wartens ist insofern Folge sicherheitstechnischer Erfordernisse, als in einer gewissen Kontinuität frühzeitig vor Beginn eines Fluges Personen- und Gepäckkontrollen durchgeführt werden müssen. Im Warten drückt sich aber auch eine individuelle Beziehung zu einem er-warteten Ereignis aus. Was Individuen tun, wenn sie warten, ist, wenn nicht gesellschaftlich »definiert«, infolge massenmedial zirkulierender Bilder des Wartens doch durch Klischees disponiert. In der institutionalisierten Situation des Wartens an einem Flugsteig vermischen sich technisch- und ablaufbedingte Warte-Programme mit persönlichen Beziehungen zu einer anstehenden Reise. Mit der zwangsläufigen Nutzung der Warteräume neben den Gates konstituiert sich eine raumzeitliche Situation, die infolge des halb-öffentlichen Charakters der Wartezonen a priori eine soziale Dimension hat. In allen vier Mikrologien stehen Beschreibungen im Mittelpunkt, die direkt oder indirekt auf eine spezifische Situation des Wartens bezogen sind, ein zwar nicht erzwungenes, aber doch unfreiwilliges Warten in speziell dafür geschaffenen Aufenthaltsräumen. Es wurde durch die folgenden atmosphärischen Merkmale eindrücklich: a) Das Warten erschien als ein »temporäres Bleiben, das mit Beiläufigkeiten gefüllt wird« (s. Kapitel 7.1). b) Allein die Richtungen, in die sich die Blicke vieler Wartender verloren haben, drückten eine gleichsam »leere« Beziehung zu diesem Warten aus. Sie machten den Eindruck, als haben sie niemandem und nichts gegolten. c) Eine Atmosphäre der Nichthaftigkeit des Wartens spiegelte sich in Gestalt fragmentarischer Gespräche zwischen Fremden wider; dies waren eher sprachlich verloren erscheinde Fetzen als Dialoge. Mitunter gaben sie Gruppen zu erkennen, die sich für die Zeit ihres gemeinsamen Wartens flüchtig konstituiert hatten. d) Was in den Wartezonen geschah, hatte sich in der Qualität einer »atmosphärischen ›Zähigkeit‹« ausgedrückt – im Rhythmus einer gleichsam gelähmten Zeit, keiner Zeit für oder mit, sondern vor etwas – mit anderen Worten, der Zeit in einem »Draußen« (s. Kapitel 7.2). 247 https://doi.org/10.5771/9783495813690 .
Airport-Wartezonen
e)
f)
g)
Warten und Anwesend-Sein erschienen als Modi der gelebten Zeit, ohne sich als etwas äußerlich Unterscheidbares zu erkennen zu geben. Der ausharrende Charakter des Wartens verdichtet sich – unterstützt durch leere und langweilige Räume – im immersiven Eindruck der scheinbaren »Abwesenheit« Anwesender. Die Situation des Wartens hat die Wartenden zu spezifischen Tätigkeiten im halböffentlichen Raum herausgefordert, die als Rückzug aufgefasst werden konnten.
Die Mikrologien verweisen auf verschiedene Aspekte des Wartens, die in den folgenden Unterkapiteln zum Anlass einer kleinen Phänomenologie des Wartens werden sollen. Das Warten bildet das Zentrum aller Bedeutungen, die in dieser Raum-Situation gelebt werden. Die (Innen-)Architektur der Wartezonen der hier thematisierten Flughäfen verleiht dem Raumprogramm einen monofunktionalen Charakter. Meistens waren die Räume nach minimalistischen Prinzipien eingerichtet. Und so stellte sich die Zeit des Aufenthalts in den Wartezonen als eine Zeit »reinen« Wartens dar. Dennoch tun Menschen in ihrem Warten in aller Regel irgendetwas, wenn sie nicht sitzend oder liegend schlafen. Umso mehr wirft sich damit die Frage auf, wie »Warten« in einem engeren und weiteren Sinne verstanden werden kann. Etymologische Orientierung Warten kommt von Warte, dem »Ort der Ausschau« 8, von dem aus im Mittelalter über die Sicherheit der Stadt gewacht wurde. Wer in diesem alten Wortsinn »wartet«, wirft seinen Blick auf etwas und sieht sich um. 9 »Warten« hat daher zunächst die Bedeutung aufpassenden Hinsehens und wachsamen Wahrnehmens. 10 Eine relikthafte Spur dieser alten Bedeutung hat sich im sorgenden Aufpassen auf eine Sache erhalten, zum Beispiel im Warten 11 einer Maschine, eines Fahrzeuges oder anderer meist technischer Gerätschaften.
Grimm / Grimm, Deutsches Wörterbuch, Band 27, Sp. 2111. Vgl. ebd., Sp. 2127 f. 10 Vgl. ebd., Sp. 2130. 11 Vgl. ebd., Sp. 2138. 8 9
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Phänomenologie des Wartens
Vom aufpassenden Warten ist die Bedeutung des Er-wartens abgeleitet. Sie hängt zugleich an der des metaphorischen Sehens, denn wer etwas noch Ausstehendes er-wartet, sieht dessen Ankunft entgegen. Die Bedeutung entspricht ganz dem Er-warten, das wir auch in der gegenwärtigen Alltagssprache kennen; sie drückt eine insofern gespannte Beziehung aus, als die Aufmerksamkeit auf den Eintritt eines erhofften (oder auch befürchteten) Ereignisses gerichtet ist. So ist auch die Situation des Wartens am Flugsteig ganz auf ein solches Er-warten bezogen; im Prinzip liegt darin die Essenz eines jeden Wartens, wenn es nicht in der kathartischen Besinnung programmatisch ganz andere Wege sucht oder auf welchen Wegen auch immer die Sammlung einer selbstbezogenen Aufmerksamkeit vermitteln soll. Die etymologischen Wurzeln des Erwartens reichen ins frühe Mittelhochdeutsche zurück. Im Zentrum dieser Bedeutung steht ein Warten auf etwas hin: »Wer einem Kommenden entgegensieht, pflegt stehen zu bleiben, bis dieser eintrifft.« 12 Harrendes Warten ist dem wachenden Warten auf der Warte nicht gleichbedeutend. Wer auf etwas wartet, erwartet nicht, dass nichts geschieht. Während das Warten auf der Stadtmauer gerade darin seinen bestmöglichen und beruhigenden Erfolg zu vermelden gehabt hatte, hat das erwartende Warten einen harrenden, hoffenden und zutrauenden Charakter. 13 Im Harren keimt schon die Bedeutung des Erwartens. 14 Dass ein Warten auch auf ein Bevorstehendes 15 gerichtet sein kann, gabelt die Bedeutung zum einen ins Erhoffte und zum anderen ins Befürchtete hin. Warten kann deshalb »mit Ungeduld«, mit »Schmerzen« oder gar »mit Verlangen auf den Ausgang der Sache« 16 gerichtet sein. In jedem Falle wendet sich der Mensch in der Erwartung etwas Bevorstehendem, noch Ausstehendem und in bestimmten Gefühlen und Vorstellungen sich Ankündigendem zu. Der Gegenstand einer Erwartung ist in der Sache dann offen, wenn man »(fast) keine einzelne Sache als diese absolut identische identifizieren kann.« 17 Noch der reflexive Gebrauch des »Wartens« zeugt von affektiver Involviertheit: »sich zu Tode warten«, »sich müde warten«, »sich zum 12 13 14 15 16 17
Ebd., Sp. 2154. Vgl. ebd., Sp. 2154. Vgl. ebd., Band 3, Sp. 1044. Vgl. ebd., Band 27, Sp. 2157. Vgl. ebd., Sp. 2161. Schmitz, Phänomenologie der Zeit, S. 158.
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Airport-Wartezonen
Narren warten« 18. Das illustriert auch die sprichwörtliche Rede, in der es zum Beispiel heißt: »Man muss nicht warten, bis der Bock gar zu weit in den Garten kommt« oder »man muss nicht warten, bis die Kühe Eier brüten« 19. Warten ist sozial situiert und in den meisten Fällen mit Hoffnungen verknüpft; deshalb rechnet ein Wartender mit einem »Ergebnis«, das seine Hoffnungen erfüllt oder auch – unter ungünstigen Umständen – ein befürchteter Misserfolg oder Fehlschlag eintritt. 20 Die affektive Spannung eines nicht nur Ausschau haltenden Wartens entsteht schon deshalb, weil jeder Wartende am Ende seines Wartens mit »etwas« rechnet 21 und deshalb ein Er-wartender ist. Das Wesen des Wartens spitzt sich in der affektiven Spannung zu. Erich Bloch spricht deshalb von einem »Erwartungs-Affekt«, der über die Hoffnung einen Weg zum Noch-Nicht bahnt. 22 Zur Emotionalität des (Er-)Wartens Die Besonderheit erwartenden Wartens liegt in seiner intentionalen Ausrichtung; darin liegt auch der lebensweltliche Kern eines jeden Wartens. 23 In seiner Gerichtetheit auf »etwas« ist es durch Sinn fundiert. Je nach der Art der Situation eines Wartens konstituiert sich ein spezifisch zeitliches Sein, dessen »Vitalqualität« 24 zwar grundsätzlich affektiv geladen ist, während Art und Intensität der Spannung durch den Verankerungspunkt des Wartens bestimmt sind. Man wartet auf das Abklingen eines Schmerzes anders als auf das Eintreffen einer verspäteten Passagiermaschine der Lufthansa und abermals anders als auf den Tod. Kein Warten ist affektneutral, noch nicht einmal jenes, das um seiner selbst willen zu geschehen scheint (zum Beispiel in der Kontemplation oder meditativen Besinnung 25); auch dann ist es ja an Grimm / Grimm, Deutsches Wörterbuch, Band 27, Sp. 2166. Ebd., Sp. 2167. 20 Vgl. ebd., Band 3, Sp. 1046. 21 So heißt es in diesem Sinne zum Beispiel: »Er musste damit rechnen, gesteinigt zu werden.«; ebd. 22 Vgl. Lanz, »Affekt«, Sp. 99. 23 Wenn dagegen Derrida aus der Perspektive einer politischen Philosophie für eine »Erwartung ohne Erwartungshorizont« plädiert und damit dafür »das Erwartete radikal offenzulassen«, so ist dies eine Art des Wartens, die es in der Lebenswelt nicht gibt; Derrida, zit. bei Rohrbeck, »Verzeitlichung«, Sp. 1027. 24 Im Sinne von Dürckheim, Untersuchungen zum gelebten Raum. 25 Streng genommen ist auch dieses Warten nur insofern »erwartungsoffen« (vgl. 18 19
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Phänomenologie des Wartens
einen »Erfolg« gebunden, der wiederum erwartet wird. Jedoch folgt daraus nicht, dass die gesamte Zeit eines Wartens unter der aktuellen Macht eines »Erwartungs-Affekts« (Bloch) stehen muss. Zumindest dann, wenn ein Wartender relativ genau um die Terminiertheit seines Wartens (in der kalendarischen Lagezeit eines »Später« 26) weiß, steht der »Ausfüllung« der Wartezeit durch andere Tätigkeiten nichts im Wege. Dies macht auch das Wesen jener Situationen des Wartens aus, wie es sich in verschiedenen Szenen in den vier Elementen der Mikrologie dieses Kapitels dargestellt hat. Wenn Schilling »zwischen einem Überbrückungswarten und einem Zielwarten« 27 unterscheidet, so geht es dabei um dieses Verhältnis der Tätigkeiten innerhalb einer Zeit, bezogen auf ein Ziel des Wartens. Indes scheinen dies doch Kategorien zu sein, die der befindlichen Seite einer Situation des Wartens kaum gerecht werden können. So evident die Differenz auch zu sein scheint, so sieht sie doch davon ab, dass jedes »Überbrückungswarten« nur im Rahmen eines »Zielwartens« Sinn machen kann, mehr noch, dass ein Warten ohne Ziel die existenzphilosophische Ausnahme des Wartens schlechthin darstellt. Es sind stets irgendwelche Tätigkeiten, die das Warten »ausfüllen«, ohne dass eine dieser »zeitfüllenden« Tätigkeiten dabei je Zweck des Da-Seins an diesem Ort gewesen wäre. Der »Erwartungs-Affekt« erlischt dann nicht, aber er wird im Zeithorizont hinausgeschoben. Die Zeit des Wartens rahmt so alle anderen möglichen Tätigkeiten ein, so dass man sagen kann, der Erwartungs-Affekt wartet in gewisser Weise selbst, indem er in die ursprüngliche Bedeutung des Wartens gesetzt wird, wonach er darauf achtet, dass der zeitliche Rahmen des Wartens durch Nebenbeschäftigungen nicht überschritten wird – wäre doch dann letztlich alles erwartende Warten umsonst gewesen. In der obigen Auflistung von Merkmalen sind es besonders die Beispiele zu a) und b), die diese die aktuelle Gegenwart überspringende Orientierung des Wartens erkennbar werden lassen (einmal in der Ausfüllung temporären Bleibens mit beiläufigen Tätigkeiten und so-
Fußnote 23, S. 250), als es sich durch einen meditationstheoretischen Überbau legitimiert, also eines Zieles wegen betrieben wird, das einer Sorge um das eigene Selbst Ausdruck verleiht. 26 Im Unterschied zu einem »Zukünftigen« in der Modalzeit. »Die Modalzeit steht dem subjektiven Erleben näher als die Lagezeit«; Schmitz, Phänomenologie der Zeit, S. 109. 27 Schilling, Welche Farbe hat die Zeit?, S. 288.
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Airport-Wartezonen
dann ausgedrückt in richtungsmäßig verlorenen Blicken, die nichts und niemandem gegolten haben). Die affektive Gerichtetheit des Wartens baut sich auf dem Hintergrund von sogenannten Protentionen auf. Hermann Schmitz beschreibt den Charakter des im Sinne solcher Protentionen Bevorstehenden im Rahmen seines situationstheoretischen Konzepts als einen noch ausstehenden Sachverhalt. Bei einer Erwartung sei »an eine[n] vorschwebende[n] Sachverhalt zu denken, in dem Sinn, wie man von einer Erwartung spricht, daß etwas geschieht« 28. Protentionen können nichts Exaktes aus der Kontingenz des Noch-Nicht herausschälen. Deshalb ist, »worauf man gefasst ist, nicht gereiht, sondern gespeichert in der binnendiffusen Bedeutsamkeit von Situationen als willkürlich erwartete Sachverhalte« 29. Wer wartet, er-wartet nur dann etwas, wenn sein Warten auf ein Ziel gerichtet ist. Der Fluss der Zeit wird in der modalen Lagezeit erlebt, in der die Ereignisse in Vergangenes und Gegenwärtiges gegliedert sind. 30 Schmitz zitiert William James mit einer auf das Erleben der Zeit bezogenen Metapher: »Die Einheit des Aufbaus unserer Zeitwahrnehmung ist eine Dauer, die einen Bug und ein Heck – gewissermaßen ein rückwärts- und ein vorwärtsblickendes Ende – hat.« 31 Dies ist noch dann der Fall, wenn zum Bespiel eine düstere Entwicklung erwartet wird. 32 Auch einem dunkel Befürchteten liegt eine Erwartung zugrunde, die im »Bug« der Zeit ihren noch nicht entdeckten Platz hat. Dieses Warten ist aber nicht auf ein eindeutiges Ziel (wie die Ankunft eines Flugzeuges oder Zuges) gerichtet. Es »rechnet« vielmehr damit, dass eine bevorstehende atmosphärische Situation eintritt. Es ist deshalb in seiner affektiven Fundierung anders auf etwas »gerichtet« als ein Warten-Auf. Auch Bernhard Waldenfels spricht jenes Warten an, »das nicht etwas erwartet, das nicht erwartend nach etwas Ausschau hält […], sondern wartet, daß etwas geschieht.« 33 Diesem Warten sei das Zögern und Innehalten verwandt. 34 Insgesamt subsumiert er diese und andere Formen des WarSchmitz, Band III, Teil 5, S. 114. Schmitz, Phänomenologie der Zeit, S. 250. 30 Vgl. ebd., S. 144. 31 James, zit. bei Schmitz, ebd. S. 67 f. 32 Hermann Schmitz spricht hier von den »Erwartungsgefühlen«, vgl. Band III, Teil 2, S. 300 ff. 33 Waldenfels, Bruchlinien der Erfahrung, S. 220. 34 Vgl. ebd. 28 29
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Phänomenologie des Wartens
tens unter »Figuren des Zwischen« 35. Sie unterbrechen einen zeitlichen Fluss oder etwas, das als zeitlich zusammenhängend erlebt wird. Diese Unterbrechung geht in ihrer affektiven Richtung in aller Regel nicht in sich selbst auf wie das »reine« Warten, zum Beispiel angesichts eines in der Ferne schon sichtbar auf den Bahnhof zufahrenden Zuges. Die »Figuren des Zwischen« sind ja gerade deshalb »Figuren«, weil sie selbst eine Erlebnisgestalt haben, die sich als »etwas« vor ein noch relativ fernes Erwartungsziel schiebt. Solche in ihrer Sinnorientierung eigenständigen Zwischenfiguren illustrieren sich in den Mikrologien zahlreich, ganz gleich ob sie im Telefonieren, der Beschäftigung mit dem Smartphone oder dem Lesen von Zeitungen bestehen (s. auch Kapitel 7.5.4). Tun – nicht Handeln Von den handelnden, bewusst auf ein Ziel gerichteten Aktivitäten sind solche Formen des Wartens zu unterscheiden, die sich im Dazwischen der gedehnten Zeit »vor« etwas Erwartetem befindlich und habituell konstituieren. Sie zeigen sich in Gesten, die eher eine Beziehung zum Warten ausdrücken, als dass sie irgendetwas »wollten«, so wie die sich in einem Nichts verlierenden Blicke einfach nur dasitzender Personen. Noch weiter weg vom zielgerichteten Warten ist das atmosphärisch spürende Erwarten eines sich nähernden Menschen, wofür die japanische Sprache das Wort kehai kennt. Es meint die spürbar werdende Vorgestalt eines Menschen. 36 Mit einem WartenAuf im unmittelbaren Sinne hat diese Bedeutung nichts gemeinsam. Auch trifft es nicht die Bedeutung eines Erwartens, ist doch auch dieses auf etwas Bestimmtes gefasst. Im kehai klingt vielmehr die hoch verdünnte Form eines Wartens im weiteren Sinne an, das sich angesichts einer atmosphärisch spürbar nähernden Person in die Form eines Erwartens erst einfindet. Es ist nahe liegend, dass auch solche Situationen im Ereignis-Rahmen dessen liegen, was im Milieu einer Airport-Wartezone in einem performativen und nicht vorhersehbaren (bzw. »erwartbaren«) Sinne geschieht. Wartendes Tun schließt Leerstellen in einem handlungstheoretischen Sinne ein – mit Alfred Schütz und Thomas Luckmann ließen sie sich auch als Unterbrechungen vom Charakter eines »Einhalten[s] 35 36
Ebd., S. 221. Vgl. Hisayama, Ästhetik des kehai.
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Airport-Wartezonen
im Handlungsverlauf« 37 verstehen. Gleichwohl liegen solche Unterbrechungen nicht a priori allen beiläufigen Tätigkeiten zugrunde, denn oft genug finden diese in sich einen Sinn. Mit Unterbrechungen vom Charakter eines Einhaltens im Handlungsverlauf hat man es eher bei Gesten, leiblichen Dispositionen, Gefühlen und habituellen Präsenzen zu tun, die in einem engeren Sinne nichts anstreben, vielmehr leiblicher Ausdruck einer (wartenden) Unterbrechung sind; Dürckheim sprach in solchen Fällen von »zielstrebensfreiem« Tun 38. Das (reine) Warten selbst ist keine Handlung, sondern nur auf das Beginnen- oder Fortsetzen-Können einer Handlung gerichtet. Es wäre zutreffender als »Leerstelle« einer Handlungskette zu bezeichnen, weil es den Weg sich aneinanderreihender Handlungen unterbricht. Erst in dieser Perspektive kommen aktuelle Daseinsweisen in den Blick, die sich im Mangel einer evidenten Bedeutung im konstruktivistischen Blick der Aufmerksamkeit entziehen würden (Blicke, Gesten etc.). Das (reine) Warten lässt sich auch als »Durchleben von Übergangsphasen« 39 verstehen; solches Warten folgt nicht der Logik von Handlungen, will aber in einer – wenn auch tendenziell beliebigen – Chronologie der Abläufe in der Zeit »nach vorne«. Das sieht Heinz Schilling anders: »Bezieht man den Handlungsgrad mit ein, dann unterscheiden wir zwischen der passiven Variante des Erduldens der Hemmung und des Aushaltens der dissatisfaktionierenden Zeit, jenes Noch-nicht einerseits und der aktiven Variante andererseits, in der versucht wir, die Situation zu klären« 40.
Es versteht sich, dass sich der Mensch in der Suche nach Strategien der absichtsvollen Überwindung der Leere des Wartens als handelndes Subjekt in der Findung einer Problem-Lösung fordert. Es darf indes als zweifelhaft gelten, ob dies auch für die Phase des »Erduldens der Hemmung und des Aushaltens« gilt, ist diese Zeit doch durch ein pathisches Dasein gekennzeichnet, das sich gerade vom aktionalen Akzent des Tuns abhebt. Schillings Hineindeuten der passiven Variante des Erduldens in die Kategorie der Handlung lässt sich auch als Ausdruck der Macht eines sozialwissenschaftlichen Denkstils verstehen, der alle menschlichen Daseinsäußerungen außerhalb (treffender 37 38 39 40
Ebd. Vgl. Dürckheim, Erlebensformen. Hisayama, Ästhetik des kehai, S. 249. Schilling, Welche Farbe hat die Zeit?, S. 300.
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Phänomenologie des Wartens
sollte man »unterhalb« sagen) von Handlungen auf einer anthropologischen Schwundstufe tendenzieller Belanglosigkeit ansiedelt. Beispielhaft mag hier die aktuelle Situation des auf dem Wiener Airport meditierenden Asiaten sein (s. Kapitel 7.2), der sich zwar im Sinne einer aktiven Handlung zu irgendeinem Zeitpunkt seines Wartens dazu »entschieden« haben muss, die Zeit für eine meditative Übung zu nutzen. Es wäre dagegen absurd, die kontemplative Selbstversenkung selbst als eine Zeit der Handlung zu begreifen, dient doch das Still-Sitzen gerade der Zurückdrängung der Macht des Verfügenden und Gegenständlichen. Es gibt also im Warten Zeiten, die als handlungstheoretische Leer-Stellen angesehen werden können. Dies wären jene raumzeitlichen Situationen, in denen sich der Mensch nicht als Akteur in die Welt der Mitmenschen, Tiere und Dinge einmischt, sondern als Patheur ganz bei sich oder auch bei anderen ist. Das lange Warten sieht Schilling auch als eine autoreflexive Phase. 41 Damit sind nun keine Zeiträume im Stundenmaß gemeint, sondern eher biographisch bedeutsame Wartezeiten: »Zur Signatur des Lebens gehören all diese zum Warten führenden Unterbrechungen, Aufschübe, Wiederholungen als Erfahrungskategorien.« 42 Als eine existenzphilosophische Aufgabe stellt sich das Warten neben den Flugsteigen indes nur unter besonderen Bedingungen der Übung des Selbst. Gleichwohl wirft Schillings Thematisierung einer gleichsam zuständlichen Langzeit-Situation des Wartens die Frage auf, inwieweit bestimmte kulturelle Praktiken im Umgang mit Situationen des Wartens nicht geradezu idealtypisch eine Übung von »Selbstkultur« 43 vermitteln, wie sie in den Übungen des Asiaten offensichtlich vorscheint. Zu denken wäre hier zum Beispiel auch an die von Gernot Böhme empfohlene Übung des Leibes, die die Kultivierung einer spezifischen Bewusstseinsform anstrebt. 44 Als Nischen der Zeit und ZeitRäume des Subjekts bieten sich für solche Übungen in der Tat auch die mittleren Wartezeiten an, die weitgehend frei sind von Programmen wie von oktroyiertem Sinn. Im Warten liegt insofern die pathische Option der Erfahrung der Abwesenheit von Programm, Erwartung und Zwang. Scheinbare Leer-Zeit ist dann keine Zeit leid-
41 42 43 44
Vgl. ebd., S. 249. Ebd., S. 248. Vgl. in diesem Sinne insbesondere Foucault, Hermeneutik des Subjekts. Böhme, Bewusstseinsformen.
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Airport-Wartezonen
vollen Aushaltens, sondern bietet sich vielmehr als Ressource der Selbstbesinnung und -bereicherung an. WarteRaum Zu Recht macht auch Heinz Schilling darauf aufmerksam, dass das Warten nicht nur eine Frage der Zeit, sondern gleichermaßen eine Frage der Orte ist. 45 Unter einem Warte-Ort versteht Tomislav Pusic »einen Raum, der nur dafür geschaffen wurde, damit Menschen sich dort aufhalten sollen, bis sie zu neuen Zielen aufbrechen.« 46 Es gibt eine ganze Reihe spezieller Warteorte, die mitunter gerade deshalb in die Kategorie der »Nicht-Orte« 47 (Augé) eingeordnet werden, weil man sich in oder an ihnen nur zum Zwecke des Wartens aufhält und die Qualität dieser Orte deshalb unbedeutend und ihre Gestaltung vernachlässigt werden könne. Dass die These der Nicht-Orte schon im Allgemeinen wenig überzeugend ist, drückt sich allein darin aus, dass oft gerade diese Nicht-Orte stark mit Gefühlen aufgeladen sind. Augé stellt dem Nicht-Ort den anthropologischen Ort gegenüber: »Ein ›anthropologischer Ort‹ ist nach meiner Definition jeder Raum, der nachhaltig von sozialen Beziehungen (zum Beispiel von strengen Verhaltensregeln) oder von einer gemeinsamen Geschichte geprägt ist (zum Beispiel Kultstätten).« 48
Orte des Wartens sind keine ästhetisch neutralen und »leeren« Räume, auch weisen sie als Nicht-Orte Merkmale des anthropologischen Ortes auf, wonach, wie Augé anmerkt, sich die darin anwesenden Menschen strengen Verhaltensregeln unterwerfen müssen, wenn sich deren Explikation im Falle der Airport-Warteräume infolge einer perfekten Programmierung der Räume gleichwohl erübrigt. Auch die weitgehende Uniformität der Wartezonen wie der Flughäfen in einer immer ähnlicher werdenden Welt begründet letztlich nicht den in gewisser Weise aseptischen Charakter dieser Orte. Für einen Wartenden ist es doch ein maßgeblicher Unterschied, ob er sich in einem Warteraum seines Heimatflughafens weiß oder in einem sehr ähn-
45 46 47 48
Vgl. Schilling, Welche Farbe hat die Zeit?, S. 250. Pusic, Schalensitzwelten, S. 351. Augé, Orte und Nicht-Orte. Ebd., S. 124.
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Phänomenologie des Wartens
lichen in der Ferne eines anderen Kontinents. Nicht-Orte haben also durchaus ihren situativ eigenen atmosphärischen Erlebniswert, einen Vitalton, der ein leiblich gespanntes Ergehen begründet. Deshalb sind die Warteräume trotz aller scheinbaren Uniformität ihrer Gestaltung auch keine affektneutralen und bedeutungslosen Orte. So gibt es Räume, die durch Architekten und Innenarchitekten mit atmosphärischen Raumqualitäten ausgestattet worden sind, um das Warten in einer Weise erträglich machen zu können, so dass seine Zeit weniger als nur »auszuhaltende« Phase empfunden werden muss, sich vielmehr für die Zwischennutzung durch andere (oft banale) Aktivitäten anbietet. Deshalb hebt Pusic auch die »Qualität des Wartens« hervor, »die sich z. B. in der Gestaltung der Sitzplätze, der optischen und akustischen Reize um einen herum und der Sauberkeit und Hygiene am jeweiligen Ort ausdrückt.« 49 Dies darf aber nicht darüber hinwegtäuschen, dass die Gestaltung der Räume des Wartens im Falle gescheiterter Planung Bedingungen des Aufenthalts zur Folge haben kann, die unter Umständen als unerträglich empfunden werden. Schon die wenigen Beschreibungen in diesem Kapitel weisen auf große Unterschiede in der Aufenthaltsqualität von Airport-Warteräumen hin. Es würde indes auf eine zu grobe Vereinfachung hinauslaufen, wollte man einen Determinismus zwischen (innen-)architektonischer Raumgestaltung und erlebten atmosphärischen Raumqualitäten behaupten. Vielmehr geht jede Gestaltung in einer grundierenden Situation auf, die sich als gelebter Raum erst in Gestalt behagender oder befremdender Atmosphären aktualisieren muss. Die Wartezonen auf Flughäfen sind (von kleinen Einrichtungen vom Charakter des Landeplatzes abgesehen) insofern besondere Räume, als sie situativ im Allgemeinen im Rahmen nicht-alltäglichen Reisens stehen. Schon die Sicherheitsanforderungen haben eine Architektur und Technik zur Folge, die zu einer gewissen Langatmigkeit der logistischen Abläufe führt. Die daraus resultierende Zähigkeit der Zeit verbindet sich atmosphärisch nicht nur mit der Situation dieses Reisens, sondern auch mit dem Erleben solcher Räume. Besondere Räume in der Stadt sind schließlich die Flughäfen selbst, befinden sie sich doch in ihrer Lage – anders als die zentrale U-Bahn-Station und abermals anders als der Hauptbahnhof – nicht
49
Pusic, Schalensitzwelten, S. 351.
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»in« der Stadt, sondern vor der Stadt oder an einem ihrer Ränder. Der Flughafen ist in aller Regel räumlich von der Stadt getrennt. Auch darin ist begründet, dass sich das Warten an diesem heterotopen Ort als Aufenthalt in einer Sonderwelt prinzipiell vorhersehbarer Abläufe erweist. Schon die Zwänge der Sicherheitstechnik kommen dem plötzlichen Ereignis zum Beispiel einer Demonstration, einer spontanen Theaterimprovisation oder eines anderen kulturellen Spektakels zuvor. Deshalb merkt Pusic auch an, der Flughafen sei kein Ort für Überraschungen: »Es gibt keine Feuerschlucker und Artisten und schon gar keine Junkies, Asozialen oder Obdachlosen.« 50 Das weist darauf hin, dass auf Flughäfen, und mehr noch innerhalb ihrer Sicherheitszonen samt den sich darin befindenden Flugsteigen, die Urbanität der städtischen Welt unterbrochen ist. Mit anderen Worten: Flughäfen gibt es zwar nur im Verbund mit Städten eines hohen Urbanisierungsgrades. Die zu diesen Städten in gewisser Weise gehörenden Flughäfen sind aber selbst keine urbanen Orte, sondern logistisch funktionierende Stätten. 51 An die Stelle urbaner Lebendigkeit tritt ein dicht gesponnenes Netz »ortsgerechter« Verhaltensmuster. Wenn ein Flughafen auch nicht insgesamt als heterotoper Raum im Sinne von Michel Foucault angesehen werden kann, sondern diese Merkmale im engeren Sinne nur innerhalb der Sicherheitszone erfüllt sind, so ist doch in seinem atmosphärischen Milieu schnell spürbar, dass in dieser Welt die Rhythmen einer speziellen Zeit herrschen. Der Raum des Flughafens gehört zur Stadt, aber er ist keine Stadt im urbanistischen Sinne. Wenn dennoch gerade die großen internationalen Airports oft als »Städte« bezeichnet werden, so nur in einem funktionalistischen Sinne als Räume des Vielen auf engem Raum. Atmosphärisch und logistisch sind Flughäfen nur Knotenpunkte im globalen Netz der Luftverkehrslinien. Die technischen Imperative und Security-Automatismen ihres Betriebs fordern die Regulation von Rhythmen des Kommens und Gehens, denen sich die Waldenfels’schen »Figuren des Zwischen« zu unterwerfen haben. Alle oben von a) bis g) aus den Mikrologien zusammengestellten Merkmale des Wartens können auch als Resonanz auf die besondere Raumstruktur und -atmosphäre der Airport-Wartezonen verstanden werden.
50 51
Ebd., S. 358. Vgl. dazu Hasse, Der Leib der Stadt.
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7.5.2 Sitzen Die vorherrschende Art körperlicher Präsenz im Bereich der Wartezonen ist die des Sitzens. Schon die Innenarchitektur der Räume ist ganz darauf ausgelegt, die Menschen sitzend in Raum und Zeit gleichsam aufzubewahren, bevor sie sich gehend über die Fluggastbrücken (sogenannte »Gangways«) in die Passagierflugzeuge begeben dürfen. Mehr implizit als explizit handeln alle mikrologischen Beschreibungen des Wartens in den vier Aufenthaltszonen vor den Flugsteigen verschiedener Flughäfen vom Sitzen bzw. von sitzenden Tätigkeiten. Zwar stehen und gehen die Menschen in diesen Bereichen auch, wenn sie warten; jedoch ist das Raum-Programm der Wartezonen auf das Sitzen angelegt und nicht den Aufenthalt in körperlich-allokativer Bewegung. Wenn es auch kein Gebot des Sitzens gibt, so reguliert sich die sitzende Platzierung der Körper doch in einem autopoietischen Sinne von selbst. Die Menschen folgen der Bewegungssuggestion der Sitzplätze und -reihen und fügen sich ein in die an diesem Ort systemisch erwünschten Muster relativer Unbewegtheit. Es muss nicht erst jemand kommen und expressis verbis sagen, was von den Wartenden idealtypischerweise erwartet wird. Der relative Stillstand alltäglich üblicher Bewegungsabläufe stellt sich gleichsam von selbst ein. Die Disposition der Menschen zum sitzenden Aufenthalt legt eine Reihe von phänomenologischen Exkursen zum Sitzen nahe. Die folgenden Unterkapitel sollen auf dem Hintergrund der Dominanz des Sitzens bei den Flugsteigen der Frage nachgehen, was es bedeutet, zu sitzen – und sich nicht ausgreifend im offenen Raum zu bewegen und häufig zwischen verschiedenen Orten hin und her zu gehen. Etymologie des Sitzens Es ist evident, dass der Mensch im Liegen einem anderen Modus der Ruhe nahe ist als im Stehen. Aber auch sitzend kommt der Mensch zur Ruhe. 52 Vor allem der allokative Bewegungsfluss eines Körpers wird im Sitzen stillgestellt. Für die Dauer seiner Zeit unterbricht das Sitzen die Fort-Bewegung in der Form des Hin- und Hergehens zwi»Da man den hintern niederlässet, und ihn also zur ruhe bringet, zum unterschiede von dem stehen und liegen«; Grimm / Grimm, Deutsches Wörterbuch, Band 16, Sp. 1281 f.
52
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schen verschiedenen Orten. Gleichwohl kommt nicht die ganze Bewegung des Menschen in seinem Sitzen zum Stillstand; die allokative Motorik des Körpers ist gebremst; aber körperliche Motorik drückt sich auch in sitzenden Bewegungen, in einer »immobilisierten« Bewegung »auf der Stelle« aus. Sitzende Bewegungen bedeuten also nicht Stillstand, sie sind vielmehr Spiegel einer Umstellung der Rhythmen der Bewegung auf Formen einer »ortfesten Dynamik«. Die Ruhe des Stehenden ist eine andere als die des Sitzenden. Wer steht, muss seine Erwartung nicht erst auf die notwendig werdende allokative Bewegung einstellen; zum Stehen gehört die jederzeitige Um-»Stellung« auf das Gehen. Wer dagegen sitzt, hat sich in seiner aktuellen leiblichen Disposition vom Gehen distanziert. Deshalb kommt die Ruhe des Sitzens der des Liegens entgegen und damit der befindlichen Anbahnung des Schlafs. Im Modus des Sitzens verändert sich folglich auch die Wahrnehmung. Dieser Wechsel ist Ausdruck einer leiblichen Umstimmung der Aufmerksamkeit, in deren Zentrum nun (zulasten der Wachsamkeit gegenüber dem Fernen) das Nahe rückt. Nur scheinbar braucht der Sitzende weniger Energie als der Läufer, gibt es doch spezifisch sitzende Formen mentaler Bewegung, die weit mehr Energie reklamieren als die physische Beanspruchung durch das einfache Hin- und Hergehen zwischen zwei Orten. Sitzend befindet sich der Mensch in einem reduzierten Bereitschaftsmodus gegenüber dem, was von außen eindrücklich wird. Besonders die erregende Affizierung vermittelt in ihrer plötzlichen Form und aufschreckenden Intensität den sinnlichen Aufruhr – so dass der Aufgeschreckte sich zumindest mental erhebt. Wer sodann aus der Haut fährt, ist, selbst wenn er immer noch sitzt, ein Entsetzter. Ursprünglich bedeutete »entsetzen« nur »aufstehen«, eine Belagerung aufgeben oder ein Sitzen beenden. 53 Das heute übliche Verständnis des Entsetzens gibt dagegen zu verstehen, dass dies eine Form des Aufstehens ist, die auf eine gefühlsmäßig und leiblich dynamische Erregung zurückgeht. 54 Deshalb spiegelt sich in der disziplinartechnisch erzwungenen »Durchsetzung« des Hinsetzens (zum Beispiel von Delinquenten im Verhör) auch eine Form der AffektBeherrschung wider. Wer sitzt, ist in gewisser Weise be-ruhigt und wechselt deshalb im Allgemeinen weniger in den Modus der »Auf53 54
Vgl. ebd., Bd. 3, Sp. 620. »kalt ergrif mich das entsetzen« (Schiller); ebd., Sp. 624.
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sässigkeit« als jemand, der steht oder sich in Bewegung befindet. Und so kommt im gegenwärtigen Verständnis des »Entsetzens« zudem ein erregtes Ende der Ruhe zum Ausdruck – nicht nur symbolisch, sondern auch motorisch, leiblich, affektiv und allokativ. Von der Durchsetzung von Zwangsmaßnahmen einmal abgesehen, entscheiden die Menschen im Allgemeinen selbst, ob sie stehen oder sitzen wollen. Indes gibt es Situationen, in denen das Stehen opportun ist (zum Beispiel bei der Entgegennahme einer ehrenden Auszeichnung), und solche, in denen das Sitzen geboten ist (als Zuschauer einer Theateraufführung, sofern es sich nicht um einen speziellen Stehplatz oder ein Straßentheater handelt). Wenn Hajo Eickhoff im Platznehmen auf Stühlen, Hockern, Sesseln oder Bänken den Ausdruck eines »Wille[ns] zur Ordnung und Macht und zum reibungslosen Einfügen ins Bestehende« 55 sieht, so abstrahiert diese Sicht von all jenen Imperativen des Sitzens, die mit einem freiwilligen Impuls zu tun haben und nicht, als hierarchieorientierte Durchsetzungs-Praktiken, Strukturen der Macht und Herrschaft zur Geltung bringen. Das drückt sich noch einmal mehr darin aus, dass das Sitzen, wie Eickhoff zu Recht anmerkt, 56 weniger eine Körper- als eine »Leibeshaltung« zu spüren gibt, und zwar zum einen dem Sitzenden selbst, zum anderen aber auch all jenen, die diesem gegenüber-sitzen oder -stehen. Wie das Stehen, Liegen oder Laufen so situiert auch das Sitzen. Es situiert in einem befindlichen Sinne und für bestimmte Programme, die sich mit Sitzenden leichter und besser vollziehen lassen als mit Stehenden oder Gehenden. Wer sitzt, fühlt sich (leiblich) anders als ein Stehender oder Liegender. So ver-steht es sich auch, dass es die unterschiedlichsten gesellschaftlichen Situationen gab und gibt, in denen der Mensch eine situations-adäquate Haltung – entweder sitzend oder stehend – einzunehmen hatte bzw. hat. »Das Sitzen auf Stühlen führt zu den Fertigkeiten des Ordnens und Überschauens wie Affektbeherrschung, Abstraktionsvermögen und Selbstkontrolle.« 57 Es war und ist auf einem Makro-Niveau einer Kultur Sache der Zivilisation und auf dem Mikro-Niveau der überschaubaren sozialen Beziehungen Sache der Sozialisation, ein »intuitives« Gefühl für die »richtige«, das heißt situationsangemessene Haltung zu vermitteln. 55 56 57
Eickhoff, Sitzen, S. 495. Vgl. ebd. Ebd., S. 496.
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Airport-Wartezonen
Die kulturelle Praxis der Platzierung von Menschen in der Zeit ihres Aufenthalts in der Wartezone vor einem Flugsteig gibt vieles zu erkennen, worin sich das Programm dieses speziellen heterotopen Raumes nur ausdrückt. Vor allem sollen die Wartenden in sitzende Wartende transformiert werden; in dieser Körperhaltung werden sie gleichsam von innen heraus in einem leiblichen Sinne be-ruhigt. Anstelle eines in welcher Weise auch immer explizierten Sitz-Gebots kommuniziert sich das Programm des Sitzen-Sollens bewegungssuggestiv schon über die räumliche Ordnung des Gestühls. Die Suggestion beschränkt sich aber nicht auf das Gebot des Sitzens im Allgemeinen; sie impliziert darüber hinaus ein spezielles Bild des Sitzens-mit-Anderen. Dieses bringt sich in der Art der innenarchitektonischen Anordnung der Sitz-Gestelle (im Heidegger’schen Sinne) zum Ausdruck. Nicht zuletzt kommen bestimmte Positionierungen der Wartenden zueinander der Durchsetzung tendenziell niedriger Erregungsschwellen in der Zeit des Wartens entgegen. So sitzen die Wartenden schon der fixierten Montage der Sitze wegen aufgereiht nebeneinander wie Güter, die für eine effiziente Verfrachtung angeordnet sind. Sie werden als Körper behandelt, die einer Art der Zwischenlagerung bedürfen. Deshalb müssen sie in der Planung der Sitzräume als leibliche Wesen kalkuliert worden sein, denn nur dann, wenn die Ordnung des So-Sitzens die leibliche Disposition der Wartenden programmgemäß einzustellen vermag, können die Kalküle des Sitzen-Machens auch ihren disziplinierenden Erfolg versprechen. Dem Raumprogramm der Wartezonen liegt kein »Interesse am Menschen« zugrunde. Dieser ist, sobald er sich in die im engeren Sinne logistische Sphäre eines Airports begibt, ein automobiles Frachtgut, dessen Gefühl möglicher Zufriedenheit nur insofern von Bedeutung ist, als die reibungslose Logistik des Megasystems Airport erst gelingen kann, wenn der Fracht-Mensch willig den Strömen seinesgleichen folgt, sich nicht sperrt, ent-setzt oder gegen technisch gebotene Abläufe stellt. Sitz-Haltungen Das systemgemäße Warten in der Wartezone setzt bestimmte Haltungen des Wartens voraus. Hierbei handelt es sich aber nur scheinbar allein um Körper-Haltungen. Von mindestens ebenso großer Bedeutung sind die sich in körperlichen Haltungen zur Geltung bringenden sogenannten »inneren« Haltungen. Genau genommen 262 https://doi.org/10.5771/9783495813690 .
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haben diese aber wenig mit einem »Innen« zu tun, das ja dann wieder ein körperliches sein müsste. Solche »innerlichen« Haltungen sind daher eher im Sinne dessen zu verstehen, was die Phänomenologie mit dem »Leib«-Begriff anspricht. Leibliche Haltungen sind zwar oft auch an körperlichen Haltungen zu erkennen, entscheidend ist aber vielmehr ihre gefühlsmäßig-befindliche Disposition. In aller Regel wird sich solches Befinden auch an körperlich sichtbaren Ausdrucksformen erkennen lassen; so ist die Entspannung eines gelassen Dasitzenden an Ausdrucksgestalten seiner körperlichen Präsenz meistens sichtbar, etwa im Unterschied zu einer Person, die aufgeregt und von emotionalen Spannungen »gezeichnet« ist. Hajo Eickhoffs Rede von den sogenannten »Körpertechniken« des Sitzens 58 greift deshalb zu kurz; sie suggeriert, Sitzen sei allein als eine bestimmte Körper-Haltung zu verstehen. Ich möchte eher vom Habitus des Sitzens sprechen, weil im Begriff des Habitus’ der Ausdruck subjektiven Befindens präsenter ist als im Begriff der Körper-Haltung. 59 Zum einen drückt sich in einer habituellen Haltung des Sitzens aus, was kulturell akzeptiert und toleriert ist. So sind die Sitze in den Wartezonen der Flugsteige zwar für das Sitzen gemacht, aber es gilt aufgrund mitunter langer Zeiten des Wartens (über Nacht) als durchaus tolerabel, wenn diese Sitze zudem zum Liegen (und Schlafen) genutzt werden. Aber auch die prinzipielle Fehleranfälligkeit des Systems des globalen Flugverkehrs bedarf im Falle stundenlangen Wartens gestrandeter Fluggäste auf Anschlussflüge zumindest der Möglichkeit liegend-schlafenden Wartens auf Sitzen, die im engeren Sinne nur Sitze sind. Dennoch muss das Mobiliar in Airport-Wartezonen schon aus Gründen der Platzökonomie das Sitzen suggerieren und nicht das Liegen. Erst auf einem verdeckten Niveau (und in der Hierarchie der Optionen nachrangig) gibt das Raumprogramm der Wartezone die mögliche Nutzungsform liegenden Wartens zu verstehen. Ganz im Unterschied dazu sollen zum Beispiel auf den Bahnsteigen der Deutschen Bahn die Gestaltverläufe und Bewegungssuggestionen des Materials der Sitze das Liegen generell vereiteln (etwa
Vgl. ebd. Der Begriff der Körper-Haltung verweist noch nicht einmal zwingend auf ein lebendes Wesen, können doch auch tote Dinge eine Haltung in Relation zu anderen Dingen im Raum haben, so zum Beispiel ein Besenstiel, der in einer bestimmten »Köperhaltung« schräg an einer Wand steht.
58 59
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durch die Montage vertikaler Armlehnen zwischen zwei Sitzplätzen und gerundete Sitzflächen). Es gibt eine ganze Reihe gesellschaftlicher Situationen, die das Sitzen verlangen und über Sitzmobiliar deshalb bestimmte Körper-»Einstellungen« (im physischen Sinne) fordern. Dabei spielt es aus meist institutionellen Gründen keine Rolle, ob diese Körper-Haltung auch Ausdruck einer emotional entsprechenden leiblichen Haltung in einer Situation ist. Mit anderen Worten: Welche (Sitz-)Haltungen im engeren und im weiteren Sinne kulturell als akzeptabel gelten, ist vom Programm der Institution abhängig und nicht von der persönlichen Situation des Sitzenden. Sitzendes Warten verlangt im Falle seiner Institutionalisierung aber nicht allein die Einnahme einer Köper-Haltung, sondern auch die gefühlsmäßige Einwilligung ins sitzende Warten, und dies heißt in aller Regel ins Ruhig-Sitzen. Wer sich gegen das Sitzen(müssen) wehrt und vielleicht lieber umherlaufen möchte, mag zwar eine körperliche Sitz-Haltung einnehmen können; diese spiegelt dann aber nicht die leibliche Verfassung gelassener Ruhe wider, die dem freiwilligen, vielleicht sogar genießenden Sitzen entspräche. Das Beispiel macht darauf aufmerksam, dass das Sitzen besondere Stimmungen einer Person begünstigen kann, die andere Körperhaltungen nicht in ähnlicher Weise fördern können. In der Wartezone des Flughafens Wien wird die habituelle Haltung eines Asiaten (wahrscheinlich eines Japaners) beschrieben, der »wie starr da-saß« und sich durch seine ruhige Präsenz von den anderen Wartenden unterschieden hatte. Aus dieser Präsenz wurde in der Mikrologie auf dem Hintergrund einer längeren Beobachtung geschlossen, dass sich der Mann in einer meditativen Haltung befunden, also seine ganze Aufmerksamkeit von der Außenwelt des Treibens auf dem Airport weg auf sich selbst und sein Befinden gelenkt haben dürfte. Die sich mit dieser Haltung verbindende Form des Sitzens soll hier und im Folgenden als meditatives Sitzen beschrieben werden. Meditatives Sitzen Im Gegensatz zu jenen Formen des Wartens, die sich im Aus- und Durchhalten der Zeit erschöpfen, sowie jenem Warten, das sich über Ketten von Zwischenaktivitäten durch die Wartezeit gleichsam hindurch-robbt, steht die Nutzung der Zeit für die Meditation. Der meditativ Sitzende befindet sich in einer von Grund auf anderen habituellen Beziehung zur Zeit des Wartens. Der in der Wiener Airport264 https://doi.org/10.5771/9783495813690 .
Phänomenologie des Wartens
Lounge sitzende, ältere asiatische Mann weckte die Aufmerksamkeit für diese Form des Sitzens, die weniger als Warten erschien, denn als ein spezielles Da-Sein in der aktuellen RaumZeit. Zwar lässt sich nicht mit letzter Sicherheit aus dem Erscheinen seines Dasitzens folgern, dass sich der Mann tatsächlich in einer Situation der Meditation befunden hat. Doch darauf kommt es auch gar nicht an, sondern vielmehr auf die Möglichkeit, anstelle leeren Wartens eine Art und Weise der Anwesenheit zu praktizieren, in der die Zeit nicht mehr ausgesessen oder für Beiläufiges genutzt, sondern durch Übungen der Selbstsorge gefüllt werden kann. Der in diesem Sinne anders Wartende hob sich auch in seiner leiblichen Haltung von der Art der körperlichen und leiblichen Präsenz der anderen Wartenden ab. Der Mann saß bemerkenswert aufrecht, mit geschlossenen Augen, gleichsam schwebend und wie in Wachs gegossen auf seinem Platz. Im Kontrast dazu waren die anderen Wartenden mit situationsspezifischen Aktivitäten und Nebentätigkeiten beschäftigt. Zwar saßen auch die meisten anderen Fluggäste »gerade« und aufrecht auf ihren Plätzen, aber der Unterschied drückte sich im Habitus des einen wie des anderen Sitzens aus. Gernot Böhme weist auf die Bedeutung des Gerade-Sitzens in der Meditation hin. So werde der Körper auf eine Balance hin eingestellt, die eine Atmung ermöglicht, in deren Medium eine »Meditation in Bewegung« 60 stattfinden kann. Wenn er konkret von der typisch buddhistischen Zazen-Meditation spricht, so bauen doch auch andere Sitz-Mediationen auf die vertikale Aufrichtung des Körpers, die dem leiblichen Wechsel von Engung und Weitung im dialogischen Rhythmus der Atmung entgegenkommt. Die Haltung ist aber nicht nur Mittel zum Zweck leiblicher Selbsterfahrung, sie bildet das leibliche Milieu des Sich-selbst-Spürens im dynamischen Rhythmus des Atmens. In dieser Haltung enthält sich der Meditierende »gänzlich des Handelns, und im Leiblichen ist das Spüren – der Haltung, des Sitzens, des Atmens – die zentrale Verhaltensweise.« 61 In der japanischen Philosophie steht das ki (ähnlich dem aus dem Griechischen kommenden Begriff »pneuma« als Lebensgeist) für Luft und Wind in einer Bedeutung, die über die Atmung und den Hauch eng mit der Lebensenergie verbunden ist. 62 In beidem geht es um eine »atmo60 61 62
Böhme, Bewusstseinsformen, S. 130. Ebd., S. 131. Vgl. Hisayama, Erfahrungen des ki, S. 122.
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sphärische Substanz der Welt« 63. Auch bei Karlfried Graf von Dürckheim, der ein großer Kenner der asiatischen Kultur der Mediation war, ist die (Körper-)Haltung von entscheidender Bedeutung für die Anbahnung einer meditativen Einstellung, in der neben der aufrechten Sitzhaltung die Atmung eine zentrale Rolle spielt; sie gilt als die Quellkraft der Stille im Still-Sitzen. 64 »Die Stille, die in der Unbewegtheit des zu seiner besten Form versammelten Leibes eintritt, ist die Quelle tiefster transzendenter Erfahrung, die sich gerade im Leerwerden von allen ›Inhalten‹ öffnet.« 65
Der Ruhezustand des Still-Sitzens weist erneut darauf hin, dass Stille nicht auf etwas Lautliches begrenzt ist (s. auch Kapitel 5). Sie hängt gleichsam am Faden einer leiblichen Form der Ruhe, die aber nicht mit der Ruhe einer zum Stillstand gekommenen Maschine vergleichbar ist, die keine Geräusche mehr macht und deshalb in einem klanglichen Sinne »still« ist. In der Stille des Still-Sitzens kommt es auf ein leibliches Sich-Hineinversetzen in die Ruhe an, auf ein Leerwerden für die Konzentration aufs Selbst-Sein. »Geübt wird der Übende selbst, der Übende als jener jemand, jenes personale Subjekt, das in seiner ursprünglichen Einheit vor, in und nach aller möglichen Unterscheidung von leiblichen und seelisch-geistigen Äußerungen und Inhalten da ist.« 66
So geht es in der Konzentration aufs Still-Sitzen um die Übung des Leibes als die Weise, »in der wir in der Welt da sind.« 67 Voraussetzung dieser Erfahrung ist die Loslösung der Konzentration »von der Bedeutung der Dinge, als deren Eigenschaften das rationale Ich sie auffaßt.« 68 Was auf dem Hintergrund der Vergesellschaftung westlicher Werte-Kulturen schwer vorstellbar ist, bildet in der asiatischen Welt eine Sinndimension – das selbstreferentielle Spüren des eigenen Selbst, das keiner Sache und keinem Thema folgt und nicht fragt, was es im Unterschied zu einem Anderen spürt, sondern sich darin genügt, dieses Spüren wahrzunehmen und in diesem das eigene Sein. 69 Ebd., S. 123. Dürckheim, Der Alltag als Übung, S. 53. 65 Ebd., S. 54. 66 Ebd., S. 56. 67 Ebd. 68 Ebd. 69 Grundsätzlich gilt der Zustand der Stille als Weg zur Begegnung mit der eigenen Subjektivität. In seinen Bemerkungen zur Fotografie stellt Roland Barthes deshalb 63 64
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Der Jesuit und Zen-Meister Niklaus Brantschen merkt auf die Frage, wie er Stille praktiziere, um zur Ruhe zu kommen, an: »Ich sitze.« 70 Dabei geht es nicht um ein »normales« Sitzen, wie die Menschen beim Arzt im Wartezimmer sitzen oder in den Sitzreihen neben den Flugsteigen. Das zur Stille führende Sitzen »braucht Entschiedenheit, sich aufrecht zu halten – gut gespannt, aber nicht verspannt. Und es braucht die Entschlossenheit, nicht herumzurutschen, sich zu kratzen oder sonstwie abzulenken, sondern einfach nur da zu sein.« 71 Die alte japanische Kultur strebt solche Wege zur Stille an – als Form der Transzendenz, in der die Spaltung zwischen Ich und der Welt der Gegenstände aufgehoben wird. Die verschiedensten Konzentrationsübungen sollen helfen, auf diesen kontemplativen Weg zu gelangen. Zu ihnen gehört unter anderem das Sitzen. Damit wird »das Selbstverständlichste zum Gegenstand eigener Übung: Das Gehen, das Stehen, Sitzen, das Atmen, Essen und Trinken, das Schreiben, Sprechen und Singen.« 72 Die Übung des Sitzens gilt dabei der Erreichung einer »Unbewegtheit des Leibes« 73. Selbst Dürckheim merkt zum Bild der übend Dasitzenden an: »Es ist unheimlich, wie still diese Menschen stehen und sitzen können.« 74 Die Konzentration dient der Hütung der »inneren Kreise« und der Abwehr aller Eindrücke, die »Maß und Gleichgewicht in Frage zu stellen vermöchten« 75. Deshalb wirkte der Mann auf dem Wiener Flughafen in seiner fixierten Haltung auch so isoliert von allem, was ihn umgab. Selbst nach dem Anziehen der Jacke befand er sich noch in seiner abgesonderten Welt der Konzentration und meditativen Sammlung, dass er sofort wieder in sie zurückzuschlüpfen vermochte. Dürckheim beschreibt diese Haltungen in der Stille als ein Sein in der Leere. 76 So heraus: »Die absolute Subjektivität erreicht man nur in einem Zustand der Stille, dem Bemühen um Stille (die Augen schließen bedeutet, das Bild in der Stille zum Sprechen zu bringen).«; Barthes, Die helle Kammer, S. 65. Das gilt sicher nicht nur für die Anschauung von Fotografien, sondern auch für andere Formen der Anschauung, bei denen es darauf ankommt, zum Kern einer persönlichen Beziehung zu etwas vorzudringen. 70 Brantschen, Weg der Stille, S. 142. 71 Ebd. 72 Dürckheim, Japan und die Kultur der Stille, S. 32. 73 Ebd., S. 35. 74 Ebd., S. 37. 75 Ebd., S. 55. 76 »Die Stille im Raum, auf der sie stehen oder sitzen, ist eigentlich leer.« Ebd. S. 71.
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drängte sich in jenem Meer der Hyperlebendigen, die allesamt – einschließlich des asiatischen Mannes – auf denselben Flieger warteten, ein rätselhafter Eindruck auf. Letztlich muss das Bild des Asiaten für jeden exotisch und unverständlich bleiben, der über ein sachlich-distanziertes Wissen um die asiatische Kultur der Meditation hinaus nicht auch aus eigener leiblicher Erfahrung ein Gefühl dafür hat, was es bedeutet, so in der RaumZeit zu sein. Die sitzende Erfahrung der Stille ist nicht an die asiatische Kultur gebunden. Im einem weiteren Sinne kommt sie auch in den traditionellen Praktiken der Übung religiöser Kontemplation vor, die seit dem Christentum des Mittelalters aber keinen im engeren Sinne meditativen Charakter hatten, sondern »dem Ziel einer personalen Gottes- bzw. Christuserfahrung« 77 dienten. Das macht im gegebenen Kontext aber nur auf die Macht der Stille in der Förderung von Situationen selbstbezogener Besinnung aufmerksam. Und noch Martin Heidegger merkt an, dass die Stille »beruhigt, indem sie uns in das Bleibende versammelt« 78. Sie konzentriere auf das Sein im Augenblick – eine Ekstase der Zeitlichkeit. 79 Mit ganz anderen lebensweltlichen Bedeutungen wird die Stille des Sitzens in den kulturindustriell überformten kapitalistischen Gesellschaften des Westens assoziiert. Hier ist sie eher mit düsteren Befürchtungen verbunden als mit der Option der Selbsterkenntnis, »als sei sie nichts anders als eine Schrecken erregende Leere, vor der ihn [den Menschen, JH], wo immer das Leben ihn einmal einen Augenblick lang aus ihrer Tiefe berührt, der horror vacui ergreift.« 80 Dürckheims Rückbezug auf die japanische Kultur der Stille leistet nun insofern etwas zum besseren Verstehen der in ständiger Bewegung sich ausdrückenden Verhaltensmuster in institutionalisierten Situationen des Wartens, wie es sie auf Flughäfen gibt, als im Fokus asiatischer Traditionen der Stille ein kontrastierender Horizont erscheint, auf dem verständlicher werden kann, was es bedeutet, »leere« Zeit allein mit ständiger Unruhe, Bewegung, Kommunikation und konsumistischen Exzessen auszufüllen. Nicht zufällig sind die Wartezonen der Flughäfen gleichsam umwickelt von einer schillern-
77 78 79 80
Vorgrimler, Neues Theologisches Wörterbuch, S. 411. Heidegger, zit. bei Vetter, Grundriss Heidegger, S. 348. Vgl. ebd., S. 235. Dürckheim, Japan und die Kultur der Stille, S. 8.
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den Welt des Konsums. Deshalb erscheint die westliche Gesellschaft aus der Perspektive des alten Japans als eine »vornehmlich materialistische Zivilisation« 81, in der die Stille leicht zur Schwäche abgewertet wird. Stille wird danach erst dann zu einem positiven Wert, wenn das »Schaffensverlangen des Geistes sich endlich zum ›Großen Heimgehen‹ rüstet.« 82 In der (alten) östlichen Kultur suchte dagegen der Mensch, »sich nicht in der Welt zu behaupten oder gar sie zu ordnen, sondern zuerst im Innern die Große Heimat zu finden.« 83 In der Regungslosigkeit des Still-Stehens und -Sitzens üben sich die Japaner in der Erfahrung der Stille. 84 Was letztlich Stille in diesem asiatisch-meditativen Sinne bedeutet, ist auf dem Hintergrund spätmoderner westlicher Kultur schwer nachvollziehbar. Sie ist ein Zustand der Wahrnehmung und bringt darin ein Verhältnis zur Welt ebenso zur Geltung wie zum eigenen Selbst. Die Erfahrung der Stille setzt die Lautlosigkeit keineswegs voraus, wie das Beispiel des im Wiener Airport wartenden und zugleich meditierenden Japaners zeigt. »Die Kultur der Stille als rechtes Aufgehenlassen der Innerlichkeit, wie auch als rechtes Vernehmenlassen der Welt der sichtbaren Formen erfüllt sich erst dort, wo alle Gegensätzlichkeit von Zuständlichkeit und Gegenständlichkeit ganz aufhört.« 85
In der Stille – so könnte man phänomenologisch betrachtet sagen – wird das Befinden von einem atmosphärischen oder stimmungsmäßigen Gefühl getaktet, in dem gerade die für die wache Wahrnehmung übliche Trennung zwischen dem eigenen Selbst und »seiner« Welt aufgehoben ist – reguliert über das differenzierte Gefühl für das eigene Selbst zum einen und die Gegen-Stände der dinglichen Welt zum anderen. Der besondere Ruhezustand der Stille setzt keine lautlichen Qualitäten voraus. In der Stille des Still-Sitzens geht es um ein leibliches Sich-Hineinversetzen in die Ruhe, das heißt um ein LeerWerden für die Konzentration auf das Selbst-Sein. »Geübt wird der Übende selbst, der Übende als jener jemand, jenes personale Subjekt, das in seiner ursprünglichen Einheit vor, in und nach aller mög-
81 82 83 84 85
Ebd., S. 15. Ebd., S. 23. Ebd. Vgl. ebd., S. 37. Ebd., S. 64.
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lichen Unterscheidung von leiblichen und seelisch-geistigen Äußerungen und Inhalten da ist.« 86
So geht es in der Konzentration auf das Still-Sitzen um die Übung des Leibes als die Weise, »in der wir in der Welt da sind.« 87 Voraussetzung für diese Erfahrung ist die Loslösung der Konzentration »von der Bedeutung der Dinge, als deren Eigenschaften das rationale Ich sie auffaßt.« 88 Auch wenn der Japaner im Wiener Airport in der Art seines sitzenden Wartens »tatsächlich« gar nicht meditiert hat, so zeigt doch schon die Reflexion der Möglichkeit dieses Tuns, wie die Menschen der westlich geprägten Kulturen in ihrem multi-aktionalen Warten im Allgemeinen nicht sind. Während das wartende Sitzen in der Situation der Mediation im Sinne von Minkowski die Distanz zum eigenen Selbst aufbaut, um einen Raum des Werdens zu intensivieren, ohne dabei etwas Bestimmtes »werden« zu lassen, so deuten die massenkulturell üblichen Arten der Anwesenheit in der Zeit des Wartens entweder auf eine »Abschaltung« des wachen Bewusstseins (im Schlaf) hin oder auf eine Verkettung meist beiläufiger infra-normaler Tätigkeiten auf Programme der Ablenkung. Wo das kulturindustriell auf Konsum und Produktion gedrillte Subjekt-Objekt im (handelnden) Tun kollabiert, führt die fernöstliche Tradition der meditativen Intensivierung der Ruhe des Dasitzens zwar weg vom Aktionismus, kehrt aber deshalb nicht auch schon der wirklichen Welt des Lebens den Rücken zu. Letztlich verkettet die intensivierte Ruhe dieses Sitzens die »gegenseitige Durchdringung der beiden wesentlichen Prinzipien unseres Lebens: der personale Elan, insofern er einen Graben zwischen uns und der Umwelt schafft, und der vitale Kontakt mit der Wirklichkeit, insofern er Harmonisches und Beruhigendes enthält.« 89 Bewegung versus Sitzen Die Daseins-Form des Sitzens kommt in einer ganz anderen Logik als der der Meditation einer allgemeinen spätmodernen Körperhaltung entgegen, die sich zivilisationshistorisch durch eine geradezu ubiquitäre Intensivierung des Sitzens als »die« Haltung des postmodernen 86 87 88 89
Dürckheim, Der Alltag als Übung, S. 56. Ebd., S. 65. Ebd. Minkowski, Die gelebte Zeit I, S. 84.
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Menschen schlechthin aktualisiert. So vermehrt sich das Spektrum sitzend zu verrichtender Arbeiten zulasten jener Tätigkeiten, die der eigen-motorischen Bewegung noch bedürfen. Insbesondere die neuen Kommunikationsmedien fügen sich in die Logik einer späten zivilisatorischen Sesshaftmachung des Menschen im Sinne einer »Intensivierung« des Sitzens ein. Nicht das Stehen oder Umhergehen behauptet sich als die priorisierte Form des individuellen Daseins in den systemischen Arbeits-Sphären sogenannter »nachindustrieller« Gesellschaften, sondern das Sitzen. Nach Paul Virilio ist »das Zeitalter der intensiven Zeit […] nicht mehr das der physischen Transportmittel. Es ist, im Gegensatz zu derjenigen der vormals extensiven Zeit, ausschließlich dasjenige des Telekommunikationsmittels, anders gesagt: dasjenige des Auf-der-Stelle und der häuslichen Bewegungslosigkeit.« 90
So kommt das Sitzen-Machen der Wartenden neben den noch nicht eingetroffenen oder in der Startvorbereitung befindlichen Passagierflugzeugen der Intensivierung einer Kultur eingeschränkter Mobilität fördernd entgegen. Immer weniger müssen sich die Menschen zu den Dingen hin bewegen; anstatt dessen werden die Dinge zu den Menschen oder diese mit Fahrzeugen durch den Raum bewegt. Die relative Bewegungslosigkeit implodiert aber schon unterhalb der Schwelle einst noch notwendig gewesener körperlicher Selbstbewegung. An die Stelle der eigenleiblichen Bewegung an den Ort eines Gesprächs unter körperlich und leiblich Anwesenden ist schon lange der Griff zu Telefon und Bildtelefon getreten. Es dürfte kein Zufall sein, dass Apple sein Bildtelefonie-Programm FaceTime nannte und damit nicht nur einen symbolischen Beitrag zum Verschwinden des allokativen Raums geleistet hat. An die Stelle zahlloser Bewegungen des Körpers zum Zwecke allein höchst banaler Intervention im tatsächlichen Raum ist die energetisch und muskulär niederschwellige Bewegung der Finger auf den Displays digitaler Kommunikationsmedien getreten. Aufgrund ihrer Größe und Festnetzunabhängigkeit erweisen sich die High-Tech-Zwerge letztlich – weit weniger harmlos als sie scheinen – als Dispositive eines tendenziell universellen Aktionismus sowie als Medien der Kolonisierung der Aufmerksamkeit in der RaumZeit des Wartens. So bewähren sie sich als ideale Ergänzungs-Medien einer innenarchitektonischen Welt des Wartens. 90
Virilio, Rasender Stillstand, S. 44.
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Im Prinzip bedürfen alle Aktivitäten, die die Menschen neben den Flugsteigen im Zustand des Wartens auf den Übertritt in eine Sphäre maximaler Beschleunigung verrichten, nur minimaler eigenkörperlicher Bewegung – vom Blättern der Seiten einer Zeitung über das Bewegen eines Hamburgers bis hin zu einem zivilisationshistorisch noch jungen Typ des Fingergebrauchs: der Ausführung technisch immersiver »Befehle« über das Interface eines digitalen Apparates, dessen mindere Größe seinen hypermaschinistischen Charakter nur verbirgt (s. auch Kapitel 7.5.4). Derweil bietet die Ergänzungswelt der Wartezonen mit ihren zahllosen und sich in verzweigten Wegeverläufen labyrinthischer Systeme beinahe verlierenden Ladenzeilen eine Ersatz-Sphäre zivilisatorisch zunehmend verschwindender Bewegung. Aber es sind dies eben Bewegungen, die unter der Logik kulturindustrieller Suggestionen und Dissuasionen stehen. Dabei lassen sich die Versuchungen der Läden in der Duty-Free-Zone »beinahe« sitzend genießen – allein in der Überwindung höchst kurzer Distanzen. Die »Laborsituation« der Duty-Free-Zonen bietet sich geradezu idealtypisch für die Erprobung individualisierter Low-Cost-Transporter für ein sich rasch vermehrendes, aber in seiner Mobilität eingeschränktes Senioren-Heer an. Die Fahrzeugindustrie wird sich schon zur Sicherung von Absatzmärkten vor allem in urbanen Räumen der Erfindung, Distribution und Implementierung mobilisierender Technostrukturen widmen müssen. Die Wartezonen der Airports sind, so gesehen, paradigmatische Stillstand-Räume, die die Generierung von technischen Medien der Mobilisierung herausfordern. Wartend in der Zwischen-Zeit eines kaum nennenswerten Geschehens ist es vor allem ein Sinn-Vakuum, das mit Surrogaten frischer Verheißungen gefüllt werden will. Die Duty-Free-Zonen spielen mit der Lust und dem Begehren. In Scheinwelten immer gleicher Pfade vermitteln sie die Intensivierung dessen, worin es im üblichen (ausgehaltenen) Warten geht – die Füllung eines Zwischens, die Bewältigung eines Nichts. Die Bewegung zu den Kult-Orten des bezahlbaren Luxus-Konsums hat strukturelle Ähnlichkeit mit der in einem Fitness-Studio geleisteten Bewegung, in der sich deren zivilisatorische Abspaltung von der Bedingung der leiblich spürbaren Zurücklegung einer Strecke im Abstandsraum zuspitzt. So folgt die Mobilität in der Wartezone und ihren vernetzten dissuasiven Raumgebilden einer allein noch kulturellen Geste, die frei ist von jeder Not tatsächlicher Selbst-Mobilisierung – und damit in die Nähe medizinischer Rettungsprogramme vom Typ eines phy272 https://doi.org/10.5771/9783495813690 .
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siologisch-kompensatorischen Ersatztheaters gerät, dessen Hauptstück sich nur noch darum dreht, die Antiquiertheit des Menschen in einer Welt technischer Gestelle vergessen zu machen. Sitz-Orte In Situationen, in denen die allokative Bewegung der Menschen (in der Form freien Hin- und Hergehens zwischen mindestens zwei Orten) zu einer systemisch unerwünschten (auch »nur« atmosphärischen) Unruhe führen könnte, wird die angestrebte Beruhigung durch eine Art »Fest-Setzung« vermittelt, die den Betroffenen aber nicht als solche erscheinen darf. Solche Praktiken verbinden sich eng mit einer ganzen Reihe gesellschaftlich charakteristischer Settings. Die staatliche Regelschule basiert (aus einem disziplin-strategischen Herrschafts-Kalkül heraus) ebenso auf dem Prinzip der Fixierung wie (in je eigener Weise) die Gerichtsverhandlung, das polizeiliche Verhör oder die notarielle Verlesung einer Urkunde. Im Vergleich zu repressiven und ordnungspolitisch begründeten Sitz-Geboten ist das Sitzen in den Airport-Wartezonen gering reguliert. Dennoch gehören diese speziellen Räume zu den gesellschaftlich institutionalisierten »Sitz-Orten«. Während geschlossene Institutionen wie Schule und Gericht das Sitzen strukturell erzwingen, ist es im gegebenen Beispiel aus den Funktionsabläufen des Systems »Airport« rein praktisch geboten. Das sitzende Warten kommt den logistischen Prozessen der Abfertigung des Passagierverkehrs entgegen; deshalb suggerieren die gebauten Gesten des räumlichen Arrangements das Sitzen, ohne dass es eines expliziten Gebots bedürfte. Am wirksamsten lässt sich das Wunsch-Programm auf dissuasivem Wege mit dem Angebot bequemer Plätze durch-setzen. Wenn Airport-Wartezonen auch als programmatische Sitzwelten entworfen sind, so thematisieren sich (Innen-)Architektur, Materialität und Design des Sitzgeräts doch nur im Fokus analytischen Denkens. In der Situation der infra-gewöhnlichen Benutzung bleibt das Arrangement stumm. Jede Erklärung scheint auch deshalb obsolet zu sein, weil die Schalenform der Sitze einer tendenziell globalen Norm und ganz selbstverständlich der Anatomie des Menschen gerecht wird. Hinter diesem Normalitätsverdacht entzieht sich der Aufmerksamkeit, dass die Synthese von Material und Form das Wunsch-Programm des Sitzens zur Norm macht. Und so verbildlichen die Dinge in ihrer räumlichen Ordnung und ästhetischen 273 https://doi.org/10.5771/9783495813690 .
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Präsenz das Programm des Sitzen-Wollens. Daher liegt es – mit Mădălina Diaconu – nahe, der Präsenz einer höchst gewöhnlichen Bestuhlung eine reflektierende Aufmerksamkeit zu widmen. Bei dem Sitzmobiliar, mit dem die Reisenden der Economy-Class Vorlieb nehmen müssen, handelt es sich üblicherweise um ergonomisch geformte Schalensitze, die in Reihen montiert und rückseitig fest miteinander verbunden sind. Bestenfalls sind sie mit (strapazierfähigem) Leder überzogen. Diaconu weist aus gutem Grund auf die Bedeutung der Taktilität von Sitzgelegenheiten hin, haben Stoffeigenschaften doch wesentlichen Anteil daran, wie das Sitzmobiliar im Warte-Raum auf dem Hintergrund bestimmter Situationen seines Gebrauchs als »Kulturartefakt« 91 wahrgenommen wird. In den Wartezonen der Economy-Reisenden erscheint das Sitzgerät in keiner Aura des Besonderen. Das Material bezeugt vielmehr einen Kompromiss: Das Sitzen soll sich über die Ästhetik der Bestuhlung zwar anbieten, das Material muss angesichts Stunden währenden Wartens aber in erster Linie belastbar und langlebig sein. Komfortable Polstersitzmöbel kommen bestenfalls in den Lounges und VIP-Räumen vor, die für die Passagiere der First-Class sowie für privilegierte Vielflieger reserviert sind. Insbesondere auf kleinen »Provinz-Flugplätzen«, die als Wirtschaftsunternehmen oft zu kämpfen haben, sind eher einfache, nackte Kunststoffschalen üblich, wie man sie von öffentlichen Warteplätzen kennt, die dem Wetter ausgesetzt sind. Die sich über die Stofflichkeit des Materials sowie die (An-)Ordnung der Dinge suggerierende Raum-Atmosphäre hat eine zweifache Bedeutung. Zum einen spricht sie die Wartenden als Sitzende an, die sich auf dem Wege »leiblicher Kommunikation« zwar auch in den Gegenstand des Sitzens, mehr aber noch in die Situation des Wartens einfühlen sollen. Hart, kalt und rutschig erscheinende Sitzflächen könnten das behagliche Befinden nur schwerlich vermitteln, denn in der Steuerung sinnlicher Erwartungen kommt es wesentlich auf die symbolisch-synästhetische Übermittlung von Protentionen an. Besonders auf visuellem Wege suggerieren sich gute wie schlechte Sitzund Aufenthaltsgefühle. Daneben drückt die Art der Gestaltung der für das Sitzen gemachten Dinge und Räume eine kulturelle Atmosphäre des Wartens aus, die sich mit situationsspezifischen Bedeutungsfeldern verbindet (unter anderem mit der bevorstehenden Flug-
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Diaconu, Sinnesraum Stadt, S. 144.
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reise, der kulturellen Bedeutung fliegenden Reisens und nicht zuletzt dem Image des Flughafens als aktuellem Aufenthaltsort). Was Angelika Jäkel über die Ausdruckswirkung von Architektur im Allgemeinen sagt, 92 gilt nicht zuletzt für die Design-Sprache der Dinge. Diese repräsentieren sich nicht nur in einem semiotischen Sinne in Bedeutungen; sie drücken sich auch im Medium gestischer Kommunikation aus. Es sind dies keine Gesten, wie man sie aus der sogenannten »Körpersprache« kennt, sondern solche, die sich über ein spezifisches Erscheinen (zum Beispiel das Design) gestalteter Dinge synästhetisch aufdrängen. So gibt sich die (vermeintliche) Bequemlichkeit von Sitzmobiliar ebenso zu »erkennen« wie – wenn auch in anderer Weise – die atmosphärische Erlebnisqualität eines architektonisch gestalteten Raumes. Mit solchem Erscheinen geben sich Programm-Elemente zu verstehen, in denen einem Gegenstand Aufgaben schon zugewiesen sind. Es ist dem Situationscharakter der Wartezonen eigen, dass sich in ihnen kein eindeutiges Sitz-Programm zur Geltung bringt (s. oben). Gleichwohl ist die liegende (bzw. schlafende) Form des Wartens nicht explizit ausgeschlossen; der gestaltete Raum soll aber auch nicht zu dieser Form der (im Prinzip abweichenden) Aneignung einladen. Im Allgemeinen gehört das Liegen im öffentlichen Raum nicht zu den kulturell tolerierten Positionierungen des menschlichen Körpers; es wird eher als Ausdruck des Verlustes »der körperlichen Selbstkontrolle« 93 oder als Zeichen sozialer Verelendung gedeutet. Mit situationsspezifischen Orten verbinden sich bestimmte KörperPositionierungs-Programme, die zugleich bestimmte Arten des Aufenthalts nahe legen. Deren befindliche Seite wird erst dann zu einem Thema, wenn die Implementierung eines Sitz-Programms durch empfundene Unbequemlichkeit oder andere Formen »spröder« Aneignung gestört wird. In der Gestaltung der Wartezonen müssen somit subjektive Bequemlichkeitsansprüche mit systemischen Erfordernissen der »Ruhigstellung« synchronisiert werden. Mădălina Diaconu hatte in ihrer multisensorischen Anthropologie die phänomenologische Bedeutung des Sitzens herausgestellt und drei Haltungen unterschieden, nach denen sich der Mensch im Raum und zu sich selbst positioniert und situiert: eine stehende, eine sitzende und eine liegende. Da der Mensch in jeder dieser drei Positionen anders in der 92 93
Jäkel, Gestik des Raumes. Diaconu, Sinnesraum Stadt, S. 146.
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Welt ist, unterscheiden sie sich nicht nur im Hinblick auf die je eigene Platzierung des Körpers, sondern auch im Hinblick auf die Förderung oder Hemmung situationsbezogener Warte-Programme. Alle vier beispielhaften Mikrologien illustrieren, dass das der Möblierung der Wartezonen zugrunde liegende Programm sitzender Verortung weithin reibungslos seine Zwecke erfüllen konnte. Die Menschen blieben im Raum des Wartens, weil sie (relativ) an ihre Plätze fixiert waren. Die Erwartung der Reise (bzw. deren Fortsetzung) war affektiv stark genug, um die immobilisierte Form des Wartens zu akzeptieren.
7.5.3 Innen- und Außenwelten Flughäfen befinden sich meistens nicht in der Mitte der Städte, sondern in größerer Entfernung vom Zentrum. Der öffentliche Personennahverkehr schafft die Verbindung zwischen der Stadt und »ihrem« Flughafen, der sich in ihrem »Außen« befindet. Mit dem Wort »Außen« verbinden sich in einem etymologischen Sinne Bedeutungen eines »Extra« oder »Allein«. 94 Darin kommt eine Spannung zur Geltung, die schon im Allgemeinen die Beziehung zwischen Innen und Außen kennzeichnet. »Innen« steht bis in den gegenwärtigen lebensweltlichen Sprachgebrauch für etwas Wesenhaftes und damit in Opposition zu einem hüllenhaften und täuschungsanfälligen »Außen« 95, das eher als etwas scheint, denn als etwas »Wirkliches« zu sein. Der (trügerische, ideologische etc.) Schein kann an dieser Stelle in seiner allgemeinen Bedeutung außer Acht gelassen werden. Vom phänomenalen Erscheinen, das nichts mit Werten zu tun hat, sondern in der Frage der Wahrnehmung zunächst allein mit den Sinnen operiert, unterscheidet sich der Schein als etwas »Äußerliches«. Es versteht sich von selbst, dass es gerade zentrales Anliegen jeder phänomenologischen Reflexion von Wirklichem ist, das Er-scheinen (von was auch immer, von Dingen über Halbdinge bis hin zu komplexen Situationen) zum Gegenstand des Bedenkens zu machen und keinen Spekulationen über ein möglicherweise »trügerisches« Scheinen 96 nachzugehen. Grimm / Grimm, Deutsches Wörterbuch, Band 1, Sp. 1025. Vgl. ebd., Sp. 1127. 96 Gleichwohl bietet Phänomenologie gerade deshalb einen erkenntnistheoretischen Nutzen für die Gesellschaftswissenschaften, weil sie zum Beispiel die wahrneh94 95
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Mit einem »Innen« verbindet sich zunächst die einfache Vorstellung eines geschlossenen Raumes. 97 Ohne Innen macht die Rede von einem Außen keinen Sinn und umgekehrt die von einem Außen nicht, wenn kein Innen (welcher Art auch immer) vorausgesetzt werden kann. Deshalb kommt es weniger auf das eine oder andere an, als auf die sich in einem »Zwischen« konstituierenden Differenz-Beziehungen. In diesem Sinne liegt ein Flughafen zwar im Außen der Stadt; als räumliches Innen konstituiert er sich aber doch auch an seinem »eigenen« Ort. Dieses Innen ist kein einfaches wie das einer Kanne oder Dose, sondern wiederum selbst durch vielfältige InnenAußen-Spannungen gestaltet. In den vier Elementen der Mikrologie treten sie deshalb in einer bemerkenswerten Differenziertheit hervor. Außenraum im Innenraum In den Beschreibungen der Wartezonen großer Flughäfen spielen relational-räumliche und atmosphärische Beziehungen zum unmittelbar angrenzenden Durchgangsbereich, der zugleich die Einzelhandelsgeschäfte der Ladenzone beherbergt, eine wichtige Rolle. Beide Räume liegen innerhalb der Sicherheitszone, bilden also wiederum zusammen ein Innen im Innen des öffentlichen und frei zugänglichen Airports. Aufschlussreicher sind dagegen die Innen-Außen-Beziehungen im Inneren der Sicherheitszone selbst. In diesem Sinne verweist die Mikrologie zur Wartezone des Frankfurter Flughafens auf das Draußen in einem »Transitraum der Eiligen«, das dem »InnenRaum« spürbarer »Bewegungslosigkeit und Ruhe« in der Wartezone gegenübergestellt wird. Zwischen beiden Räumen gibt es aber schon aus Gründen notwendiger Übergänge keine tatsächlichen Grenzen. Die Wartezonen müssen wegen der Erreichbarkeit von Restaurants, Cafés, Geschäften und sanitären Anlagen offen und barrierefrei mit der Durchgangszone vernetzt sein. Obwohl beide Bereiche ineinander übergehen, werden sie doch in einer extremen Unterschiedlichkeit erlebt – mit dem Wechsel der subjektiven Perspektiven mal als ein Raum des Innen, mal als einer des Außen. Dabei verdankt sich das Innen-/Außen-Erleben vor allem der Atmosphären, die beide Räume samt der in ihnen stattfindenden Interaktionsrhythmen unterscheimungstheoretische bzw. kommunikative Funktion kulturindustrieller Praktiken kalkülhaften Erscheinen-Machens und leiblichen Affizierens erhellen kann. 97 Grimm / Grimm, Deutsches Wörterbuch, Band 10, Sp. 2126.
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den. Diese werden ebenso durch die Architektur und Ordnung der Dinge wie durch den situativen Charakter des einen wie des anderen Raums disponiert. Der Durchgangsbereich ist mit seinen Laufbändern, die die Flugsteige verbinden und den weiten Raum der DutyFree-Zone erschließen, vor allem ein funktionaler Bewegungsraum. Dagegen sind die Wartezonen neben den Flugsteigen monofunktionale Räume des Stillstandes. Die Architektur und Raumausstattung mit fest verbautem Gestühl folgt allein diesem Zweck. Aus der Synthese von Funktion und dinglicher Raumausstattung ergeben sich situationsangepasste Funktionsräume, die sich auch atmosphärisch in jeweiligen Milieus eines Innen wie Außen zur Geltung bringen. Die Unterschiede drücken sich wesentlich durch je eigene Bewegungsmuster aus. Sie lassen sich aber nicht allein an verschiedenen Tempi festmachen, sondern sind eher raumspezifisch getaktet. So steht der »Transit-Raum der Eiligen« dem Innen-Raum der Wartenden als Milieu spürbarer »Bewegungslosigkeit und Ruhe« (s. Kapitel 7.1) gegenüber. Neben den Dingen im Raum sind es vor allem die Bewegungsrhythmen, die eine spürbare Grenze zwischen zwei Welten markieren. Dabei geht es nicht um die Bewegung von Körpern, die den Gesetzen der Physik folgen. Vielmehr drücken sich in den so verschiedenen Bewegungs-Sphären je eigene Zusammenhänge von Bewegung und Empfindung aus. Die Bewegung scheinbar unbewegter Körper, die auf Laufbändern durch den Raum zu schweben scheinen, wirkt statisch – im Unterschied zu einer auf den unmittelbar bevorstehenden Abflug wartenden Person, die eher den Eindruck eines »sich bewegenden Leibes« 98 macht. Die sich in großer Unterschiedlichkeit artikulierenden Bewegungs-Welten folgen je eigenen Rhythmen. Die Räume des Innen wie des Außen sind tatsächliche Räume. Deshalb können neben dinglichen auch atmosphärische Ausstattungen zum Zwecke der konstruierenden Programmierung von Situations-Räumen arrangiert werden. Imaginäres Außen Dass sich die tatsächlichen Gegebenheiten räumlicher Situationen auch in atmosphärischen Grenz-Überlagerungen ausdrücken, illustriert der Hinweis auf Lautsprecherdurchsagen aus der logistisch-administrativen Steuerungswelt des Flughafens. Es ist ein spezielles In98
Straus, Vom Sinn der Sinne, S. 57.
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nen-Außen-Verhältnis, das sich im Medium des Hörbaren auf lautliche Weise im Raum konstituiert. Wie sich schon die Geräusche aus dem Durchgangsbereich der Eiligen in den Ruhebereich der Wartenden gleichsam »hinein« ausbreiteten, so überschreiten (nur in anderer Weise, aber nicht weniger immersiv) ebenso die über versteckte Lautsprecher verkündeten Informationen und Durchsagen von Ankunfts- und Abflugzeiten eine in besonderer Weise atmosphärische Grenze. Dabei sind mindestens zwei »Klangfamilien« zu unterscheiden; zum einen sind es reine Geräusche zum Beispiel in Gestalt eines scheinbar unaufhörlichen Vorüberrollens von Koffern und Gepäckstücken. Es sind dies Geräusche, die (semantisch) im engeren Sinne nichts zu verstehen geben. Zum anderen wird die Klangkulisse von Ansagen gleichsam »gefüllt«, mit denen die Wartenden aus der Decke beschallt werden. Bemerkenswert ist der imaginäre Charakter des Raumes, aus dem kommt, was sich aus Lautsprechern zu hören gibt. Das inhaltlich »Bedeutende« wird von einem Irgendwo der technischen Steuerzentrale des Flughafens übertragen. Der »tatsächliche« Herkunftsort ist für die Brauchbarkeit aller Bekanntmachungen wie deren Sinnverstehen belanglos. Was die Menschen letztlich bewegt, was in der Situation ihrer Reise wichtig ist, kommt aus dem Außen einer imaginären »Ferne«. Was vergleichsweise gar nichts bedeutet, wie die zum Beispiel von Laufbändern transportierten Gepäckstücke anderer Reisender, hat dagegen seine sichtbare und hörbare Quelle in einem unmittelbar wahrnehmbaren Hier. So bilden sich klangliche Überlagerungsräume auf lautlich flüchtigen Inseln im Inneren des Warteraumes sowie in den angrenzenden Transiträumen. Im klanglichen Raum konstituieren sich Grenzen nach anderen Regeln als im tatsächlichen Raum. Im Metier des Hörens haben die Botenstoffe der Kommunikation einen »luftigen« Charakter. Sie breiten sich aus, ohne Hürden zu überwinden. So bilden sich atmosphärische Räume und fließende wie flüchtige Raumgrenzen. Dennoch können sich auf diese Weise sonderräumliche Erlebniswelten mit je eigenen immersiven Potenzen bilden. Wenn Sloterdijk von »Phonotopen« 99 spricht und damit »GeräuschOasen« meint, die das spezifische Milieu ihrer Bewohner zu Gehör bringen, so sind auch die Wartezonen solche Phonotope und damit zugleich Affekträume vom Situations-Charakter des Gemeinsamen. Stimmende Wirkung geht dabei nicht nur von der immersiven wie 99
Sloterdijk, Sphären III, S. 377.
279 https://doi.org/10.5771/9783495813690 .
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insulierenden Macht immergleicher Klangkulissen aus; affektbildend ist auch die Art und Weise, wie die Proto-Insel der Wartenden mit dem dynamisch durchströmten trajektologischen Raum des Herum verbunden ist. Innenraum im Innenraum So infra-normal die Erfahrung auch sein mag, dass man zumindest nicht klar und deutlich hören kann, was Menschen in einer mittleren Entfernung vom eigenen Standpunkt zueinander sagen, so denkwürdig ist die daraus folgende Einsicht, dass sich mit dieser Art des »Fading« (im elektrotechnischen Sinne) abermals räumliche ProtoInseln bilden. Am gegebenen Beispiel weisen diese auf etwas lebensweltlich Banales hin und überdecken dessen (nachrichten-)politische Dimension. Grenzen der Hörbarkeit entstehen ja nicht nur durch Zufälle, wie eine Wand den Blick aufhält und den Laut dämpft oder eine Sturmböe den vernehmbaren Sinn eines gesprochenen Satzes verschluckt. In der Gestalt der Räume, die Menschen sich selber geben, kommt es neben dem, was der Zufall ins Spiel bringt, auch darauf an, was mit den Dingen getan wird, um erwünschte Raumeffekte absichtsvoll zu erzeugen. Und so können Brücken wie Barrieren des Hörens durch technische Mittel aufgebaut wie abgebrochen werden. Die Warteräume neben den Flugsteigen sind doppelte Inseln. Zum einen sind sie qua Architektur auf Dauer gestellt und zum anderen flüchtige Hörinseln von halbdinghaftem Charakter. Als technische Übertragungsräume können sie gleichsam ein- und wieder ausgeschaltet werden – ganz nach aktuellem Bedarf der Übermittlung von Informationen durch die in den Decken platzierten Lautsprecher (s. oben). Während das übertragungstechnische Hören-Machen weitgehend normiert ist und Hörbarkeit innerhalb bestimmter räumlicher Grenzen gewährleisten kann, ist das beim vitalen Sprechen in Vis-a-vis-Situationen anders. Aber auch das informationstechnisch nicht verfügbare Hören-Können von Gesprächsfetzen kann sich nur in Grenzen – also wiederum in Räumen innerhalb von Räumen – entfalten. Die Reichweiten des Hörbaren sind begrenzt – durch die Lautstärke, in der die Menschen miteinander sprechen, Personen oder Dinge, die im akustischen Ausbreitungsraum als »Puffer« umherstehen. Grenzen der Hörbarkeit können aber auch durch den Einsatz geräuschdämmender Baustoffe gezogen werden. Solche Dämmung, Filterung, Abschwächung und Vernebelung von Klang, Ton und Ge280 https://doi.org/10.5771/9783495813690 .
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räusch kann derweil selbst über die technische Planung nur bedingt zu erwünschten Erfolgen führen. So wenig es universelle Allhörbarkeit geben kann, so wenig gibt es eine totale »Verfinsterung« lautlichinsularer Zonen. Von zwei Seiten reklamieren sich Grenzen der Gestaltbarkeit: zum einen von der Seite einer atmosphärologischen Raum-Hygiene. Eine Airport-Warteinsel ist nicht nur dinglich und architektonisch im Sinne des Wortes »eigenartig«; sie ist es auch in der Lautlichkeit ihrer Atmosphäre, die schließlich als Medium der Identifizierung fungiert, indem sie auf einen bestimmten Raum-Charakter hinweist. Deshalb ist der atmosphärisch gestimmte Raum ganz wesentlich auch affektiv gefärbt, und sein Erleben entscheidet in herausgehobener Weise über eine gute oder schlechte Zeit des Aufenthalts. Von einer zweiten Seite suggerieren sich Grenzen im akustisch-physikalischen Sinne, denn ein gänzliches Eindämmen des Lautlichen müsste die elektrotechnisch gebahnten Wege der Kommunikation verstopfen und damit zunichtemachen. Wenn die Umlegung eines Fluges auf einen anderen Flugsteig mitgeteilt werden muss, darf sich das Gesprochene nicht in einem sonoren Hintergrundrauschen verlieren. Es kann gleichwohl daran gezweifelt werden, ob tatsächlich über die so zahlreichen und vielfältigen Modalitäten dessen, was man hören kann und soll, von planenden Akteuren auch entschieden wird, wenn durch die Wahl bestimmter Baustoffe akustische Verhältnisse geschaffen werden. Wahrscheinlicher ist die gleichsam automatische Einhaltung von DIN-Normen bei der Entscheidung über bezahlbare Baustoffe. In der Beschreibung des Raumerlebens in der Amsterdamer Wartezone wird angemerkt, was sich auch für die anderen Räume in mehr oder weniger ähnlicher Weise findet: Die Gespräche der Menschen sowie die Geräusche dessen, was sie tun, entziehen sich der Möglichkeit »genauen« Hörens. Die stimmlichen Sphären variieren nicht nur mit der (messbaren) Lautstärke der Sprecher, sondern auch mit dem Rezeptionsvermögen der Hörer. Daneben werden sie auf der Objektseite eines gleichsam »tatsächlichen« akustischen Geschehens von der am lokalen Ort angewandten Schallschlucktechnik disponiert. So sind es wiederum Baustoffe, die einen spezifischen Einfluss darauf haben, wie Räume in Räumen zu Brücken oder Barrieren der Kommunikation werden. Die Menschen befinden sich in den Airport-Wartezonen (unbemerkt) in einem multiplen, gleichsam monadenhaften Raumgebilde, das dem Bild einer russischen MatroschkaPuppe ähnlich ist, die sich in ihrer Gestalt fortwährend verändert. 281 https://doi.org/10.5771/9783495813690 .
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Imaginäres Innen Mit einem Begriff des »Innen«, der in der lebensweltlichen Kommunikation – zwischen Metaphysik und Psychologie – in diffusen Themen affektiven Befindens Scheindienste der Verständigung erfüllt, erweitert sich die Verschachtelung der erlebbaren Räume innerhalb der Wartezonen ein weiteres Mal. Gerade die gelebte Situation des Wartens suggeriert ein doppeltes Innen: das eines innenarchitektonischen Raumes und das eines imaginären Innen, das sich zahllosen Reisenden im ubiquitären Gebrauch von Miniatur-Computern verschiedenster Art eröffnet und das Verschwinden des eigenen Selbst in einer immersiven Medienwelt anbahnt. Solche mentalen InnenWelten werden als Milieus virtueller Tätigkeiten erschlossen – als Räume der Unterhaltung, Ablenkung und nicht zuletzt der Flucht aus der Gewahrwerdung der Dauer und damit des eigenen Seins. Solche Auswege gab es zu allen (auch vortechnischen) Zeiten; darunter waren indes vor allem Fluchtwege, die keiner (technischen) Medien bedurften. In der Gegenwart der High-Tech-Gesellschaft bieten sich für immer mehr Menschen die Printmedien nicht mehr als Brücken in imaginäre Vorstellungswelten an. An deren Stelle treten mit größer werdender Macht die sogenannten »interaktiven« 100 Kommunikations-Technologien in Gestalt von Miniatur-Computern der unterschiedlichsten Art. In den vier Mikrologien dieses Kapitels hat die Präsenz von Klapp-Computern und sogenannten Smartphones nicht nur das Bild, sondern zugleich die Atmosphäre der Räume bestimmt. Darin drückt sich eine nachhaltige Verschmelzung von Mensch und Maschine aus. Der Einstieg in eine imaginäre Welt der Simulakren impliziert zumindest in Grenzen den »Ausstieg« aus einer archaischen Wirklichkeit, in der die Menschen sinnlich mit gegenwärtigen Dingen, anderen Menschen und Tieren in einem Kontakt standen, der in aller Regel die Möglichkeit der taktilen Beziehung eröffnete. Gegenwärtig bewährt sich das in seiner Form implodieren-
Die Zuschreibung eines »interaktiven« Charakters der High-Tech-Medien drückt insofern einen reinen Euphemismus aus, als die »Vermögen« computerbasierter Systeme in ihren Programmierungen zwangsläufig deterministisch sind. Damit geht es schlechthin nur um automatisch-maschinistische »Reaktionen«, die auf dem Hintergrund von Schaltungen allein auf Impulse antworten können, die von einem Benutzer gesetzt werden. Interaktivität benötigt indes mindestens zwei Akteure, die zur selbstgewählten und -bestimmten Aktion fähig sind.
100
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de Prinzip des computertechnischen Maschinismus in der miniaturisierten Gestalt des Smartphones dagegen als »Entbindungs-Medium«. Es schafft Grenzen »gegenüber einer herumräumlichen und sinnlich präsenten Welt«. Als Sphäre der Simulation und Imagination bietet es sich als Gegenlager zum tatsächlichen Raum des Wartens an. In seinem zivilisationshistorischen Rückzug ins Imaginäre priorisiert der Mensch den Weg über bilderflutende digitale Medien. Eines ihrer besonders denkwürdigen Merkmale besteht darin, dass sie das Subjekt von sich selbst entbindet und ein (hypertechnisches) »Außen« ermächtigt, der Imagination »Nahrung« zu bieten. Was das Subjekt – wenngleich in anderer Weise – auch von sich aus könnte, überlässt es der Führung durch die Matrix gängelnder Programme. Draußen im Drinnen Die Mikrologie zum Aufenthalt in der Frankfurter Wartezone weist auf ein weiteres Innen-Außen-Verhältnis hin, das zwar im weiteren Sinne auf mentaler Separierung beruht, aber doch einem ganz eigenen Ziel folgt. Eine in den Warteraum eintretende arabisch erscheinende Frau mittleren Alters scherte aus dem Raumprogramm der Wartezone aus. Die Uniform eines Reinigungsdienstes gab ihre Funktion im System des Airports zu erkennen. Zwar saß sie rund 10 Minuten nur da und tat nichts; dennoch unterschied sich die Atmosphäre ihrer Gegenwart kontrastreich von der der wartend gegenwärtigen Reisenden. Von Anfang an war der Raum für sie kein Warte-Raum. Vielleicht nahm sie deshalb, im (intuitiven) Wissen um ihre von der offiziellen Funktion des Wartebereichs abweichende Nutzung, in einer deutlichen Distanz zu den Wartenden, in einem toten »Abseits« des Raumes und fern der Aufmerksamkeit anderer Platz. In einer Raumnische konnte sich ihr Ausscheren aus dem Verhaltensmuster der Wartenden in gewisser Weise tarnen. Im Gegensatz zum Er-wartungshorizont der Reisenden hatte sie an diesem Ort nichts zu erwarten – außer die auf ihr lastenden Reinigungs-Erwartungen für eine kurze Zeit der Regeneration zu unterbrechen. So machte sie das Innen der Reisenden für sich zu einem Außen, das ihr Abstand von ihrer Arbeitswelt bieten konnte. Die Separierung, eine Form der Exklusion, vermittelte ihr zugleich den zeitlich begrenzten »Ausbruch« aus all jenen schnellen Rhythmen des Flughafens, denen auch sie unterworfen war. Abseits der Ströme und Kreisläufe, deren Abfälle sie zu entsorgen hatte, fand sie ein Refugium ganz anderer Art als es 283 https://doi.org/10.5771/9783495813690 .
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die wartenden Reisenden im selben Raum in Anspruch genommen haben. Die Ungleichzeitigkeit der Situation verdankte sich einer kaum wahrnehmbaren Überlagerung zweier höchst unterschiedlicher Programme. Während die Reisenden von ihrer Rolle als Wartende in gewisser Weise gefangen waren, machte sich die Frau eines Reinigungsdienstes genau dieses Raumprogramm für ihre aktuelle persönliche Situation nützlich. Dieser »anderen« Aneignung kam die Atmosphäre des Raumes unmittelbar entgegen. Es kam ihr ja nicht nur auf einen freien Platz an, den sie auch außerhalb der Wartezonen in den breiten Durchgangsbereichen des im weiteren Sinne öffentlichen Terminals gefunden hätte. Es war gerade die Atmosphäre des halb leeren Wartebereichs, die ihrem Wunsch-Programm des temporären und zugleich verdeckten Rückzugs entgegenkam. Nicht als Wartende, sondern als Ausruhende hielt sie sich an einem Ort auf, dessen Programm sie zu ihrer gleichsam abweichenden Aneignung eingeladen hatte. Das Innen der anderen wurde für sie zu einem Außen. In ein und demselben tatsächlichen Raum überlagerten sich konfliktfrei zwei programmatisch unterschiedliche Welten – eine offizielle und eine inoffizielle. Im weit verzweigten Raum- und Gangsystem fand sie ein »Versteck im Offenen«, das der sichtbaren Tarnung nicht bedurfte, weil sie sich im Passivitätsmodus der Wartenden jeder Aufmerksamkeit entziehen und »ihrer Verzweckung für einige Momente entwinden« konnte. Mit ihrer Gegenwart ging auch eine atmosphärische Spannung einher, die aber aufgrund des mangelnden Interesses der Reisenden an ihr sowie infolge ihrer abseitigen Sitzposition unbemerkt blieb. Dieser latenten Spannung mag sie sich in einem pathischen Sinne bewusst gewesen sein, weshalb sie sich nicht mitten unter den Reisenden niedergelassen hatte, sondern in einem »weißen Raum« des Abseits. Ihr baldiges Verschwinden dürfte von Anfang an Teil ihres persönlichen Programms einer abweichenden Raumaneignung gewesen sein, denn jeder längerfristige Aufenthalt hätte sie aus der Atmosphäre des Raumes gleichsam »auftauchen« lassen.
7.5.4 Leibnahe Technik-Sphären Alle vier Mikrologien verweisen auf eine Form semi-aktiver Tätigkeiten im Umgang mit Miniatur-Computern, Smartphones und Mobiltelefonen. Das Hantieren mit High-Tech-Geräten verlangt von 284 https://doi.org/10.5771/9783495813690 .
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ihren Nutzern eine gerätebezogene Aufmerksamkeit, die ganz eigener Art ist und sich von der unterscheidet, die das Lesen von Büchern, Zeitungen und anderen sogenannten Printmedien verlangt. Beispielhaft seien folgende Verweise aus den dichten Beschreibungen zusammengefasst, in denen dieses Thema hervortritt: a) In allen vier Räumen dominierte unter den Tätigkeiten zur »Bewältigung« des Wartens das Hantieren mit Mobiltelefonen und Smartphones. Die Praxis dieses Mediengebrauchs führte zu einer isolationsartigen Verinselung der Individuen im sozialen Raum. b) Wenn die verwendeten Geräte auch von Menschen gemacht worden sind, so dreht sich diese Kausalität im sozialen Gebrauch doch um. Zwar entscheidet eine Person, ob sie in der Zeit des Wartens ein technisches Gerät benutzt oder die Zeit auf andere Weise verbringt. Mit dem freiwilligen Beginn der Nutzung enden insofern souveräne individuelle Freiheitsgrade in der Verfügung über das eigene Selbst, als die Programmstruktur der Maschine nun den Verhaltensmodus determiniert; das Gerät wird zum sogenannten Aktanten und disponiert das Tun »seiner« Benutzer. Diese Umkehr spitzt sich im Gebrauch von Smartphones zu. Aus dem intelligiblen Subjekt wird ein mit den Fingerspitzen über Glasflächen streichendes, wischendes und geradezu infantil anmutendes »fingerndes« Wesen. In der Situation des Wartens mit anderen Menschen drängt sich die Frage auf, inwieweit speziell diese Geräte als »prophylaktische Abwehrschirme gegenüber möglicher Kommunikation mit Fremden« (s. Kapitel 7.1) verstanden werden können. c) In der Frankfurter Wartezone weckte ein Mobil-Telefonierer im schwach besetzten Warteraum geradezu zwangsläufig die Aufmerksamkeit. Bemerkenswert ist weniger die körperliche Präsenz als die sich darin zum Ausdruck bringende leibliche Fixierung auf ein fernes »Gegenüber«. Neben dem Habitus ließen Gestik und Gesichtsdynamik das merkwürdig asynchrone Bild einer Person entstehen, die aus der Gegenwart entwurzelt zu sein schien. Das (tele-)kommunikative Geschehen, das diese Theatralik rein äußerlich widerspiegelte, blieb im Dunkeln. Lediglich abgerissene (oft nichtig erscheinende) Sprachfetzen waren plötzlich und ganz unvermittelt im Raum wie ein Insekt.
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d) Viele Fluggäste hatten sich über Kopfhörer mit einem elektronischen Geräte verbunden. Das intensivierte ihre Verinselung zusätzlich. Wenn dies auch Telefonierer taten, wirkten deren habituelle Gesten noch entwurzelter. Indem nicht mehr zu erkennen war, dass sie sich in einem Fern-Gespräch 101 befanden, entstanden Eindrücke szenischer Sequenzen, die an Dissoziationsstörungen erinnerten (unvermitteltes Hinein-Sprechen und »wildes« Gestikulieren ins Leere). Die Beispiele machen schnell deutlich, dass die Neuen Medien ihre Nutzer über technisch determinierte Gebrauchsformen situieren, indem sie diese ihrer Programmstruktur unterwerfen. Durch die Verbindung von Mensch und Maschine konstituieren sich anthropotechnische Schnittstellen mit hoher atmosphärischer Immersivität. Die Stimmung der Räume des Wartens geht dabei ganz wesentlich auf eigenartige habituelle Präsenzen zurück, die auf abwesende Formen der Gegenwärtigkeit verweisen. Wenn Kommunikation auch vermehrt – und zudem ubiquitär – in eine hohe Abhängigkeit von High-Tech-Medien gerät, so werden die Atmosphären solcher Kommunikation infolge haptischer Interaktion mit der Maschine doch immer noch – und darin archaisch anmutend – durch den Gebrauch der Hand bestimmt. Damit rücken Fragen der Hand-Habung in den Fokus. Dies umso mehr, als die hier zur Debatte stehenden High-Tech-Medien auch als sinnliche Dispositive betrachtet werden können, deren Machtentfaltung die systemgerechte Hand-Habung voraussetzt. Dem kulturellen Gebrauch der Hand kommt dabei – dem dieser Praxis innewohnenden Anachronismus zum Trotz – eine weit größere Rolle zu als in »vordigitalen« Zeiten, in denen die Menschen im Übertritt in imaginative Welten vielmehr auf sich selbst, das heißt auf ihre ureigene, nicht erst technisch vermittlungsbedürftige Vorstellungskraft angewiesen waren. Anthropologie der Hand Die Reflexion des Bedeutungswandels der Hand beansprucht in Zeiten ubiquitärer High-Tech-Medien eine zweifache Beachtung. Zum einen wird die Hand als Medium der Verrichtung körperlicher Arbeit Das Wort »Ferngespräch« bezeichnete in Zeiten der alten Telefonie jene Telefongespräche, die aufgrund der Entfernung der Gesprächsteilnehmer mit höheren Gebühren berechnet wurden als sogenannte »Ortsgespräche«.
101
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insofern zu einem subsidiären Medium, als die tendenziell leistungsfähigere, belastbarere und weniger verletzliche »Hand« der Maschine mehr und mehr an ihre Stelle tritt. Das maschinistische Paradigma drückt sich im Bild der Bewegung ferngesteuerter edelstählerner Hydraulikarme aus. Davon soll hier nicht die Rede sein. Aber der technik-zivilisatorische Bedeutungswandel der Hand hat eine Kehrseite. Auf ihr stellen sich in speziellen Handlungs-Segmenten differenzierte motorische und haptische Ansprüche. Das Smartphone repräsentiert – wie es sich in den vier Mikrologien verschiedener Situationen in Airport-Wartezonen illustriert hat – diese postmoderne WiederIndienstnahme der Hand, die von der schweren physischen Beanspruchung von Haut und Knochen in zahlreichen professionellen Praxisfeldern entbunden ist. Der (lustbetonte) Gebrauch der Hand dient der kulturindustriellen Einstellung des Menschen auf die Systemerfordernisse technischer Dispositive. Grundsätzlich hat sich der Mensch in allen Zeiten der Zivilisationsgeschichte die Welt mit seinen Händen erschlossen. Gunter Gebauer sagt über die Hand: »Sie ist eine Brücke oder ein Übergang vom Körper zur umgebenden Welt.« 102 Damit kommt ihre gleichsam archaische Funktion in den Blick und zugleich jene Welt, die innerhalb des eigenen Körper-Radius’ erreichbar ist – die Welt der zuhandenen Dinge. Was die Hand zu leisten vermag, ist nie allein Ausdruck ihrer materiellen Beschaffenheit und Zugehörigkeit zum menschlichen Körper. Was sie zu tun und zu bewegen vermag, wird auch durch Eigenschaften der Dinge disponiert. Zuerst ist hier an das physische Gewicht eines Objekts zu denken, das sich der Hand als Gegen-stand darstellt. Die kraftvolle Hand kann schwer-gewichtige Dinge bewegen (in Tateinheit mit dem Arm und dem ganzen Körper). Indes verweigert der von Krankheit geschwächte Körper der Hand die erforderliche Kraft zur Verrichtung aufwändiger Bewegungsabläufe. Dass die Hand zum Körper des Menschen gehört, ist evident. Zugleich hat der lebendige Gebrauch der Hand eine leibliche Bedeutung. Gebauer übergeht diese zweite phänomenologische Beachtung verdienende Seite der Hand. Das wird deutlich, wenn er sagt: »Das Hin-Deuten auf den Gegenstand zeigt diesen mit Hilfe des Körpers.« 103 Zu denken gibt, dass man anstelle der Hand oder der Finger auch einen Zeigestock benutzen könnte, um dasselbe zu erreichen. 102 103
Gebauer, »Hand«, S. 479. Ebd., S. 480.
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Nun ist es aber nicht von gleicher Bedeutung, ob jemand den Finger, den Stock oder – noch weiter vom lebenden Subjekt als dem eigentlich Zeigenden entfernt – den »Laser-Pointer« auf etwas richtet. Wenn fast alle Gesten des Zeigens (vom Blick einmal abgesehen) auch eines physischen Mittlers bedürfen, so reklamiert sich in der Reflexion des Zeigens doch noch eine zweite Ausdrucks-Dimension – die der Geste des Zeigens. Diese überschreitet in ihrer Leiblichkeit die Grenze dessen, was sich mit dem Begriff des Körpers sinnvoll noch erfassen und beschreiben lässt. 104 Genau genommen zeigt die auf etwas hin deutende Hand nie allein aufgrund ihrer Körperlichkeit; das Zeigen öffnet im engeren Sinne eine mit der hinweisenden Geste gebahnte leibliche Richtung, die da ihren Endpunkt hat, wo das Ge-zeigte für einen Wahrnehmenden ist. Zu Recht spricht Gebauer vom Hindeuten und nicht vom Anzeigen, das man sich in der Tat als etwas völlig Maschinistisches vorstellen kann. Im Hin-deuten drückt sich eine leibliche Vitalität des Zeigenden aus, die Moment seiner aktuellen Situation ist. Die auf etwas hin-deutende Hand stellt eine Blick-Richtung her, die keinen optisch-physikalischen Charakter, sondern einen leiblich-berührenden hat. Die in die Geste eines Zeigens (freiwillig wie unfreiwillig) Verwickelten werden so in einen Dialog leiblicher Kommunikation einbezogen. Deshalb müssen Richtungen des Zeigens auch nicht in einem intentionalen oder konstruktiven Sinne »entworfen« werden; sie bilden sich als Ausdruck eines mimetischen Prozesses in einem autopoietischen Sinne. So ist die Hand viel weniger »Brücke oder […] Übergang vom Körper zur umgebenden Welt« 105, als vielmehr ein leiblich spürendes Medium vitalen Selbst- und Mit-Seins in Situationen. Das spiegelt sich nicht zuletzt in den habituell unendlich differenzierbaren Formen des Zeigens wider – vom laschen und völlig gleichgültigen bis energischen und lustvollen Zeigen. 106 Die Hand stellt mit ihren HAND-lungen Beziehungen der unterschiedlichsten Art her – produzierende, symbolische, vernichtende, aber auch gestisch-emotionale; gerade die gefühlsmäßige Beziehung drückt sich neben der Geste des Zeigens in immersiver und sinnlich unmittelbarer Weise in der taktilen Berührung aus. Es wäre Noch deutlicher wird der Unterschied im Fühlen, verlangt doch das Ertasten des Blutkreislaufes eines Menschen eine qualitativ ganz andere Sensibilität, als man sie von einem Messgerät verlangen muss. 105 Ebd., S. 479. 106 Zum Zusammenhang von Zeigen und Lernen vgl. auch Prange, Die Zeigestruktur der Erziehung. 104
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aber wiederum zu einfach, die »Reichweite« der Hand darauf zu reduzieren, was sie in einem unmittelbar stofflichen Sinne betasten kann. Selbst das taktile Zufassen lässt sich auf keine Mikrophysik der Finger reduzieren. Die Welt der Hand geht nicht in einer Körper-Welt auf. Mit mindestens gleicher Bedeutung gehört sie zur Welt des Leibes und damit zu einer Sphäre der Atmosphären, Gefühle, Imaginationen und Bilder. Schon in der Art und Weise, wie man auf einem Fischmarkt zum Beispiel einen Kabeljaukopf samt Skelett und daran herunterhängenden Fleischresten aus einer Kiste heraushebt, um das Ganze zu betrachten, zu ertasten und zu beriechen, geht weit über eine nur körperliche Aktion hinaus. Nicht zuletzt die Geste, mit der man dem Fischhändler den Fischtorso zeigt, um ihm ein Kaufinteresse zu verstehen zu geben, drückt die Vermischung zwei höchst unterschiedlicher HAND-lungen aus. Die Hand ist Medium der Vermittlung allokativer Handlungen, Medium symbolischer Gesten und darin Medium leiblicher Kommunikation (s. auch Kapitel 2 über einen niederländischen Wochenmarkt in Band 2). Wenn Gebauer mit dem Hinweis auf die Brücken-Funktion der Hand auf die Übertragung von Gefühlen hinweist, so schränkt er die phänomenologische Bedeutung dieser Geste doch weitgehend ein: »Allerdings darf man nicht annehmen, daß es dabei zu einer Übertragung von Empfindungen kommt – von wirklichen oder authentischen Gefühlen kann hier keine Rede sein –, sondern es geht um eine Öffnung gegenüber den Gefühlen anderer Personen aufgrund eines Ergänzens der Wahrnehmung.« 107
Gebauer reduziert so das mit der Hand Ausdrückbare auf eine Information in einem semiotischen und kybernetischen Sinne. Darin klingt ein (konstruktivistisch akzentuierter) informationstheoretisch-reduktionistischer Denkstil an. Übersehen wird auf diese Weise, dass die Hand im Prozess leiblicher Kommunikation Gefühle »mit einem Schlage« 108, also ganzheitlich und recht unmittelbar ausdrücken kann. Zwar vermag die den Haushund streichelnd berührende Hand dessen Wahrnehmung zu erweitern (in einem informations-technischen Sinne kaum zu bezweifeln); viel mehr jedoch gibt der sinnliche Kontakt dem Tier die wohlwollende Gegenwart eines Menschen zu verstehen. Die Reduktion dieser gestischen Vitalqualität leiblicher 107 108
Gebauer, »Hand«, S. 485 f. Schmitz, Bewusstsein, S. 88.
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Gegenwart auf ein informationstheoretisches Datum unterschreitet (in der intellektualistischen »Hand«-habung wissenschaftlicher Erkenntnisinstrumente) einen humanistischen Punkt: Was wir denken können, ist stets auch Produkt dessen, was wir uns einbilden, denken zu sollen, und nicht zuletzt Ausdruck dessen, was wir denken wollen. Die Hand allein als etwas Körperliches zu betrachten, führt ganz in diesem Sinne zu einer Absehung von jener kommunikativen Bedeutungsübertragung auf dem Wege der Gesten, in denen der körperliche Charakter der Hand zwar zu Recht selbstverständlich vorausgesetzt, aber allein doch nicht erklärend ist. Eine im weiteren Sinne damit vergleichbare leibliche und zugleich symbolische Zeigefunktion der Hand konkretisiert sich in der Beschreibung einer Situation des Wartens im Amsterdamer Airport mit dem Hinweis auf die affektive Berührung von den Tätowierungen auf den Fingern eines britischen Fluggastes. Dass diese und viele andere Kulturen der Selbstästhetisierung als Ausdruck eines ZeigenWollens mit dem Mittel des Körpers interpretiert werden können, versteht sich von selbst. Dieser fungiert aber doch letztlich wiederum nur als leibliches Medium der Weckung von Aufmerksamkeit und damit der Kommunikation von Gefühlen. »Selbstzeichnungen« dieser Art können ihre symbolische Macht nur entfalten, wenn sie in ihrer atmosphärischen Präsenz affizieren und im leiblichen Raum spürbar werden. Genau in diesem Sinne ist das Erleben der beiden Personen, die sich durch ihre je unübersehbare Selbstbeschriftung zu erkennen gegeben haben, in der Mikrologie auch zum Ausdruck gebracht worden (s. Kapitel 7.4 und 7.5.7). Die HAND-habung der High-Tech-Medien Oliver Ruf thematisiert die Hand im (zivilisations-)historischen Wandel ihrer Funktionen und Hand-lungen. Unter dem Aspekt einer »allgemeinen Kybernetisierung unserer Lebensformen« 109 betrachtet er die Bedeutung der Hand auf dem Horizont der Zeit der Neuen Medien. In den Blick kommen damit genau jene technischen Artefakte, die auch die Zeit des Wartens auf einen Linienflug insofern mit denkwürdigen Aktivtäten gefüllt haben, als sich bei diesem Hantieren aus der Distanz nie bestimmen ließ, ob es dabei um kommunikative Handlungen im engeren Sinne, um Spielereien oder nur den 109
Ruf, Die Hand, S. 14.
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Ausdruck einverleibter Automatismen ging, die sich im Umgang mit einem Leitmedium der technologischen Postmoderne gewissermaßen von selbst immer wieder aktualisiert haben. Es sind dies die »TouchMedien«, bei deren Benutzung Schalter, Knöpfe, Tasten und ähnlich archaische Schnittstellen aus einer alten Zeit der Elektrotechnik durch berührungsempfindliche Vektorfelder beinahe restlos ersetzt wurden. Diese berührungsempfindlichen Punkte sind schon dadurch vom physischen Kipp-Schalter unterschieden, dass taktile Berührungen in einem ganz anderen Sinne physikalische und systemische Folgen haben als die mechanische Induzierung eines Prozesses zum Beispiel durch das Umlegen eines Hebels. Die Ingangsetzung von Kettenreaktionen in der virtuellen Maschine hängt mit nichts Mechanischem mehr zusammen, sondern mit programmierten Kaskadenwirkungen, die »in« glasartigen Oberflächen verborgen zu sein scheinen. Im Gebrauch postmoderner Touch-Medien tritt die Greif-Funktion zugunsten vermeintlich »einfühlsamer« Berührungen zurück. Gebot der Technik ist eine Feinfühligkeit, die ihren zivilisationshistorischen Platz ursprünglich im Umgang des Menschen mit seinesgleichen und anderen Lebewesen hatte. Nun verlangen technische Parameter eine systemangepasste sinnliche Sensibilität, die an der Belastbarkeit des Materials geeicht ist. Diese bestimmt das Spektrum von Intensität und die Art der Kontakte. Werkstofftechnisch geboten ist ein sachtes Streichen mit dem Finger und kein harter Druck, geschweige denn ein Hantieren mit scharfkantigem Werkzeug. Die Paradigmen der »Berührung zwischen Mensch und Maschine« 110 werden im Prinzip fortwährend neu definiert. Nachhaltig folgt das Mögliche den Parametern einer Maschinenwelt, in die die sinnlichen Bedürfnisse leiblich spürender Menschen eingeschrieben sind. Der Umgang mit den High-Tech-Kommunikationsmedien in der Form miniaturisierter Computer ist vom Aufwand physischer Anstrengung ebenso entkoppelt wie das mechanische Transportieren schwerer Lasten von der Spürbarkeit dessen, was bewegt wird. Die »Leichtigkeit« einer Berührung korrespondiert ganz mit der Unsichtbarkeit der Macht zum Beispiel der Ölhydraulik beim technisch vermittelten Heben, Schieben und Tragen. »Von Gewicht« ist mehr das kulturell Bedeutende als das physikalisch Schwere. Auf einem anthropologischen Nebenschauplatz wird mit solchen Verschiebungen 110
Ebd., S. 33.
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der Aufmerksamkeit der Gebrauch der Sinne neu formatiert. Michel Serres stellt die metaphorische Diagnose: »Während die alten Arbeiten und Werke mit wenigen zufälligen Ausnahmen nur das Lokale berührten, verändert Hermes das Globale. Als Arbeiter und Bearbeiter eines Universums weben die Engel eine andere Welt.« 111
Das Tippen, Ziehen, Fallenlassen und Wischen auf resistiven (druckempfindlichen) Touch-Screens löst mitunter folgenreiche Steuerbefehle aus. Solche »Operationen« sind dem Gegenstand einer Aktion gegenüber unempfindlich; ob durch Antippen eine Pizza bestellt oder ein Aktienpaket geordert wird, ist gleich-gültig. Beim archaischen Betasten eines physischen Gegenstands (wie einer Tischplatte) berührt die Hand noch eine materielle Grenze, die in ihrer Gegenständlichkeit beharrt. In der Berührung des Touch-Screens kommt es auf solche Grenzen nicht mehr an. Sie überschreitet eine traditionelle Schwelle 112, die in der archaischen Welt der Dinge mit deren materieller Oberfläche gleichbedeutend war. Auch darin wird die Ambivalenz der Körper-Maschine-Schnittstelle überaus deutlich. Zum einen suggeriert sich der High-Tech-Maschinismus insbesondere im Anwendungsbereich von Smartphones und über eine massenmedial verbreitete subkulturelle Inszenierung 113 als eine ins technisch Erhabene stilisierte Welt. Zum anderen mangelt es derselben Technik an minimalster Empfindsamkeit, wie sie vom Benutzer in archaischen Hand-werker-Zeiten noch aus allein operativ-technischen Erfordernissen materialgerechter Handhabung verlangt wurde. Das noch so komplexe Smartphone macht zwischen dem, was es prozessiert, so wenig einen Unterschied wie die Schubkarre zwischen dem, was sie transportiert – »gleich-gültig« in der Frage der jeweiligen Füllung. Der Gebrauch der Neuen Medien steht damit unter einer doppelten Last der Demütigung ihrer Benutzer. Zum einen degradiert die überstilisierte Aura von Smartphone und Laptop den Benutzer zum Pawlow’schen Aktionisten. Zum anderen bleiben alle Artefakte dieser Art im Unterschied zu Hammer und Säge in ihren essentiellen Funktionen für jeden Laien Black Boxes. Design schafft, so Peter Sloterdijk, »bei komplexem Gerät jene Fassade aus Zeichen und BerühSeeres, Atlas, S. 117. Vgl. Ruf, Die Hand, S. 52. 113 Man denke an die quasi-religiöse Aufladung ganzer Produktketten des US-amerikanischen Computerherstellers Apple, der einen Teil seines globalen Geschäftserfolges dieser emotionalen Überladung profaner Gegenstände verdankt. 111 112
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rungspunkten, an welcher der Benutzer ohne spürbare Demütigung seine evidente Inkompetenz« 114 erfahren kann. Der ästhetische Bluff gehört unverzichtbar zum System; deshalb verlangt die Integration der Hand in den Maschinismus auch die Verwirklichung eines Lustmoments, das das Geschäft mit Gütern der High-Tech-Industrie auf Dauer stellt und deren Gebrauch zur Sucht hin disponiert. Unter neuen Vorzeichen simulativer Welten erklärt sich so noch im Zeitalter der Neuen Medien eine »anhaltende Präsenz der Hand« 115. Dabei nivelliert der Begriff der »Präsenz« die sich sozial und arbeitsmarktpolitisch immer weiter differenzierenden qualitativen, sinnlichen wie taktilen Anforderungen an den Einsatz der Hand. Nur scheinbar haben sich die zivilisatorischen Ansprüche an das Vermögen der Hand aber in Gänze differenziert; vor allem hat sich das, was Hände können müssen, sozial verzweigt. Während High-Tech-basierte berufliche wie lebensweltliche Kompetenzen (Anwendung von mikrochirurgischen Instrumenten zum einen und der Gebrauch des Smartphones zum anderen) höchst spezifische, maschinengerechte Sensibilitäten reklamieren, bleibt die Hand in hierarchisch tief stehenden und schlecht bezahlten Berufen das archaische AnthropoWerkzeug schlechthin. Zur Ästhetik gerätebedingter Benutzerstrukturen und -oberflächen gehört der Selbstbetrug, wonach sich das fingerfertige Manövrieren auf imaginären Schaltflächen hinter sogenannten »Buttons« als Kompetenz suggeriert, obwohl die Bewegungen doch allein dem Algorithmus der deterministischen Programmsprache einer Maschine folgen. An dieser Umwertung menschlichen Könnens haben neben den Massenmedien und der Produktwerbung auch die sogenannten allgemein-bildenden Schulen ihren Anteil, fördern sie in ihren Ausbildungs-Programmen doch in erster Linie die Routinisierung eines affirmativen Oberflächen-Handlings von Hard- und Software – zulasten einer gründlichen Reflexion des Wandels, den die TechnikIndustrie dem Menschen zumutet. 116 In der institutionalisierten Bildung wird der (subjektiv bewusste) Gebrauch der Sinne weitgehend Sloterdijk, Das Zeug zur Macht, S. 16. Ruf, Die Hand, S. 77. 116 Im Zuge einer bildungspolitisch induzierten und schnell voranschreitenden EntBildung der Gesellschaft in Gestalt eines Umbaus traditioneller Bildungs-Institutionen zu solchen einer allein noch tauschwertorientierten Ausbildung leisten die meisten öffentlichen Schulen in der Frage der Übung von Kulturen des Gebrauchs Neuer Medien genau das Gegenteil dessen, wofür Heidegger plädiert hat, nämlich »das We114 115
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unkritisch als etwas Infra-normales vorausgesetzt, während das Pawlow’sche »Touching« auf »Buttons«, hinter denen virtuelle Linien und Punkte die Bewegung der Finger mit einer abgründigen Funktionswelt der Informatik nur verbinden, als arriviertes Können gilt. Der Gebrauch der Sinne wird im digitalen Zeitalter durch die technischen Dispositive kontinuierlich auf visuelle Fähigkeiten des Auges und damit auf eine »Kompetenz« system-konformen Sehens und Tuns eingeschränkt. Es dürfte nur eine Kehrseite des meist beträchtlichen ökonomischen Wertes der alltagsweltlich massenhaft gebräuchlichen Geräte sein, dass allem, was man mit ihnen tun könnte, auch ein kulturell hoher Wert zugeschrieben wird, der auratisch auf die Potentialmaschine übertragen wird. Die hierin liegende Differenz entspricht ganz der Lücke zwischen fiktiven und tatsächlichen Gebrauchswerten. Auch diese (Selbst -)Täuschung dient letztlich der Vertuschung von Scheinrelevanzen. So wird leicht übersehen, dass das taktile Manövrieren auf Touch-Screens strukturell von viel minderem Können zeugt als die sensible bis sensitive Berührung von etwas Lebendigem, das nicht maschinistisch, sondern in seinem Befinden selbst sensibel auf Berührung reagiert. Im zivilisatorischen Projekt der Umnutzung der Hand wie der Finger kehrt sich auf unbemerkte Art die Richtung des Vorschreitens einer Entwicklung um. Das Vermögen und der potentielle Gebrauch von High-Tech-Artefakten der Kommunikationstechnologien suggeriert die Zugehörigkeit ihrer »User« zu einem »hohen« Level zivilisatorischer Entwicklung. Die Ansprüche an den Benutzer machen jedoch vergessen, dass die geringen Freiheitsgrade deterministischer Maschinen dieser Suggestion eines technisch »Erhabenen« ganz und gar nicht entsprechen. Während jedes Hantieren mit dem Smartphone nur technisch definierten Prozessschritten folgen kann, verlangt allein die prüfende Berührung von Fisch und Obst auf einem Markt die sinnlich gleichsam mitdenkende Bewegung und intuitive Benutzung von Haut und Fingern. Das Glatte des Displays repräsentiert eine scheinbar aseptisch saubere Welt. Damit symbolisiert es ein ästhetisches Paradigma der Gegenwart, denn zumindest medial wird das Schmutzige aus den Berührungszonen der postmodernen Gesellschaft verdrängt. Entweder wird es von Angehörigen niederer Proto-Kasten, Hartz-Vier-Zusatzsen der Technik zu erblicken, statt nur auf das Technische zu starren«; Heidegger, Die Frage nach der Technik, S. 32.
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verdienern, freiberuflichen Tagelöhnern oder anderen Trägern eingeschränkter Arbeitsrechte geleistet oder in die Länder der Südhalbkugel verschoben. Doch latent bleibt es gegenwärtig: das archaisch Sinnliche der uns umgebenden Stoffe. Wer zum Beispiel den Fisch mit den Fingern noch selbst berührt, um seine Qualität und Frische zu prüfen, und nicht zur Einschweißware mit aufgedrucktem Verfallsdatum greift, lässt sich auf die sinnliche und ästhetische Erfahrung des Klebrigen ein. Nach zeitgemäßen Standards spätmoderner Lebensmittelindustrie käme dies indes einem zivilisatorischer Rückfall gleich, sollen doch der Verpackung aufgedruckte Informationen mit allen möglichen, oft genug juristisch erzwungenen Beschreibungen von Eigenschaften in scheinbar völlig hinreichender Weise genau diesem Zweck dienen. Kulturindustriell durchgesetzte Berührungs-Sensibilitäten machen glatte, klinische und »technische« Oberflächen zur ästhetischen Norm. Die Vermeidung des Klebrigen ist dabei aber keine Marginalie, unter der man alles subsumieren könnte, was tendenziell aseptischen Sauberkeits-Erwartungen zuwider liefe. Das Klebrige verschwindet als Kontakterfahrung vielmehr deshalb aus der Welt der Berührung, weil es vergessen macht, was die Berührung der Displays datenpolitisch mit sich bringt. So ist es mehr eine Ideologie als auch nur im Ansatz ernst zu nehmen, dass wir in dem, was wir tun, keine Spuren erzeugen: Und so lassen sich im Schatten der Illusion des Sauberen noch umstandsloser digitale Netze zur Erfassung potentiell aller Berührungen aufspannen, die es an der Schnittstelle digitaler Maschinen je gegeben hat. Was im Unterschied dazu das »Behaftetsein« von stofflichen Spuren einer taktilen Berührung bedeutet, hatte Jean-Paul Sartre am Beispiel des Klebrigen unter anderem so beschrieben: »Eben im Rahmen dieses Aneignungsentwurfs enthüllt sich aber das Klebrige und entwickelt seine Klebrigkeit. Diese Klebrigkeit ist also schon – seit dem ersten Erscheinen des Klebrigen – Antwort auf eine Frage, schon Selbsthingabe; das Klebrige erscheint bereits als Andeutung einer Verschmelzung der Welt mit mir; und was es mir von sich zeigt, seine Eigenart eines Saugnapfes, der mich ansaugt, ist bereits eine Antwort auf eine konkrete Frage« 117.
117
Sartre, Über die Qualität, S. 255. Hervorhebung im Original.
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Die medienphilosophische Rede von der Überwindung einer »Schwelle«, die Oliver Ruf am Beispiel des Touch-Screens anspricht, geht in eine andere Richtung als die der Ertastung des Klebrigen. Immersiv ist die Berührung des Touch-Screens, weil schon der Hautkontakt die Schwelle zur Binnenstruktur der Software überschreitet. Aber auch die Berührung eines Fisches ist immersiv; nur ist es nun die Haut des Tastenden, die im leiblichen Spüren nach »innen« hin überschritten wird. »In« den Fisch geht nichts in einer Weise hinein, wie es beim Übertritt einer Berührungs-Schwelle des Touch-Screens geschieht. Der Fisch bleibt »verschont«, sein (stoffliches) »Innen« wird durch Berührungen dieses Typs nicht angetastet. Indes hinterlässt der ertastete Stoff des Tieres auf und in der Haut des Tastenden etwas von sich. Sonst könnte kein Fischgeruch an der Hand haften bleiben. An banalen Orten des Alltags offenbart sich die Reichweite einer in der Tat revolutionären Transformation der Taktilität in ihrer ganzen Breite. In einer der Sinnlichkeit gegenüber sich zunehmend spezialisierenden und anästhesierenden Kultur bleibt dieser Wechsel dagegen weitgehend unbemerkt. Die Zivilisation der Hand wie der Finger verändert nicht nur die Bewegung und die Art der Berührung, sie verändert auch den aisthetischen Kontakt zur Welt und damit das Verhältnis der Individuen zum eigenen Leib. Gerade in Situationen des Wartens muss das in kurzen zeitlichen Intervallen wiederholte Überstreichen von Touch-Screens deshalb als zeitgeschichtliches Ausdrucksverhalten verstanden werden. Es ist keine Geste wie eine »vitale Hand- oder Köperbewegung« 118. Als Bewegung bedeutet das »Manövrieren« zwischen virtuellen Buttons nichts; kommunikationstheoretisch ist es auf dem Niveau Pawlow’scher Reflexe anzusiedeln. Dennoch stimmt diese Art des Agierens – abgesehen von möglichen juristischen Reichweiten solcher Aktionen – die aktuelle persönliche Situation der Wartenden. Es ist dieses mit Beiläufigkeiten gleichsam aufgefüllte Warten, das sich unbemerkt – durch eigene Praktiken – als Übung einer sinnlichen Umprogrammierung anthropologischer Basisvermögen entpuppt. Die banale Utopie »freier« Zeit, die im Warten zwischen Utopie und Dystopie auf den Grat gerät, widerlegt sich praktisch selbst in einer nicht endenden Kette infra-normaler Nebentätigkeiten, deren erste Aufgabe darin besteht, die Zeit (in ihrer Bewusstwerdung) zu fressen. Ein »Problem« der Wartezeit in den Wartezonen der Airports besteht 118
Grimm / Grimm, Deutsches Wörterbuch, Band 5, Sp. 4207.
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darin, dass die gebotenen Räume nur nacktes Gestühl bieten – eben nüchternes Material zum Warten. So ist der Wartende im Prinzip gezwungen, mit Wenigem bei sich zu sein. Was die Wartenden (offensichtlich) in ihren Aktivitäten mehrheitlich tun, illustriert streng genommen keine Formen des Wartens, sondern jenes von Martin Heidegger beschriebene Nicht-warten-Können. Zugleich ist es die rudimentäre Ausstattung der Wartezonen, die zumindest den Keim des Wachwerdens im Vakuum des Nichts-Tuns birgt – und darin ein zivilisationskritisches Potential. Der Gebrauch von High-Tech-Kommunikationsmedien spitzt die phänomenologische Reflexion zum Wesen des Wartens zu. Nach Heidegger wartet, wer »sein Wesen des Seins wartet, indem er es denkend hütet.« 119 Die digitalen Praktiken der Ablenkung weiten das Bedeutungsfeld des Wartens radikal aus. In der »Frei«-Zeit des Wartens vermitteln die digitalen Medien indes nicht die Begegnung des Menschen mit sich selbst, nicht die Wartung des eigenen Seins; sie intensivieren auch nicht das imaginäre Selbst-Gespräch, sondern jene gegenläufige Begegnung, wonach die Menschen in den von ihnen hervorgebrachten Artefakten »überall nur noch [sich] selbst« 120 treffen.
7.5.5 Atmosphärische Räume Die (innen-)architektonische Ausstattung der Wartezonen hat einen beträchtlichen Anteil am atmosphärischen Raumerleben im Sicherheitsbereich der Flughäfen. Atmosphären werden in diesen Räumen leichter bewusst als an den meisten städtischen Orten, weil sie im Unterschied zu urbanen Zentren überlaufender Turbulenz Orte des spürbaren Stillstandes sind. Die Aufmerksamkeit sammelt sich gleichsam in all dem, was in diesen Räumen in einem sachverhaltlichen Sinne ist, bzw. in dem, was atmosphärisch spürbar wird. In einer Reihe von Aussagen werden atmosphärisch relevante Ausstattungsmerkmale in den Mikrologien konkret vermerkt: –
119 120
Der Raum war zweckmäßig gestaltet, die Sichtbarkeit technischer Elemente und Strukturen gab einen funktionalistischen Heidegger, Die Frage nach der Technik, S. 41. Ebd., S. 27.
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Charakter zu erkennen: Silberne Metallprofile in der abgehängten Decke im Frankfurter Flughafen, eine vorscheinende Betondecke, weiße Kunststoffplatten als Wandverkleidung, eine futuristisch wirkende Lichtquelle. In der Erlebnisperspektive des Aufenthaltes vermittelte der Raum eine relativ geringe Aufenthaltsqualität: »Man bleibt nur so lange, wie es sein muss.« Die relative Unwirtlichkeit spiegelt sich insbesondere in der Situation weitgehender Menschenleere in einer kalten, harten und kantigen Atmosphäre wider. Als ähnlich nüchtern und funktionalistisch werden die Ausstattungsmerkmale im Amsterdamer Wartebereich beschrieben: Kunststoff-Profile in der Decke und der Eindruck technischer Röhren hinter den Verkleidungen. Die kleinräumliche Situation der Klagenfurter Abflughalle fiel durch ausgeprägte Schlichtheit der Raumausstattung auf: unter anderem durch nicht gepolsterte Kunststoffschalensitze und einen scheinbaren »Kunststoff(küchen)boden«. Der Warteraum war der Größe des Flughafens angepasst; die abfertigungstechnischen Anlagen sowie ein miniaturisierter Duty-Free-Shop grenzten unmittelbar an den Warteraum an. Der Eindruck einer weitläufigen Sicherheitszone konnte aufgrund dieser räumlichen Nähe flughafenspezifischer Orte bzw. Einrichtungen gar nicht erst aufkommen. In dieser Situation verdichtete sich das Warten auf das reine Aushalten der Zeit bzw. deren »besinnungslose« Füllung mit zeitzehrenden Aktivitäten. Aufgrund der geringen Größe des Flughafens, der im Unterschied zu Frankfurt, Amsterdam und Wien eher nationale Bedeutung hat, fiel die Situation der Leere (in einer gewissen Zeit vor der Abwicklung des sogenannten »Boarding«) besonders auf: »Als ob die Addition leerer oder fast leerer Räume die Leere noch größer machen würde. So jedenfalls wirkt dieses Nebeneinander des Ultra-Langweiligen.« Im Unterschied dazu beeindruckte die Wiener Wartezone durch Offenheit und experimentell erscheinende innenarchitektonische Elemente in der Nähe bodentiefer Glasfronten am Rollfeld. Große gepolsterte Sitzgebilde hoben nicht nur die formale Monotonie des Raumes auf; sie gaben ihm auch eine lebendige Atmosphäre. Dem kamen einfache nischenartige Raumecken entgegen, die von Männern mit Computern genutzt wurden.
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In den Beschreibungen finden sich zudem Hinweise zur Bedeutung des (natürlichen wie technischen) Lichts in seiner atmosphärischen Stimmungsmacht. Das Licht »temperiert« in gewisser Weise die Atmosphäre eines Raumes. Auch die Farben der dinglichen Ausstattung – von Baustoffen im engeren Sinne bis zu Einrichtungsgegenständen wie Sitzmobiliar – beeinflussen den »Farbton« des Raumes. Ob dieser hell, gedämpft oder mäßig dunkel erscheint, hat (in einem synästhetischen Sinne) Rückwirkungen auf den atmosphärischen Vitalton »kalten« oder »warmen« Raumerlebens. Helle Dinge wie metallene Deckenverkleidungen reflektieren das Licht und machen es in gewisser Weise noch heller, während dunkle Dinge wie die schwarz gepolsterten Sitzblöcke im Wiener Airport das Licht eher »schlucken«. Dass allzu helle Räume bei zugleich nüchterner Architektur kalt, beengend und abweisend wirken können, ist aus der Innenraumgestaltung zahlloser Neubauten evangelischer Kirchen bekannt, die nach dem Zweiten Weltkrieg weitgehend ohne Gespür für Atmosphären errichtet worden sind. Im Wiener Flughafen vermittelten die eher dunklen Farben des Gestühls und der Polsterelemente in Verbindung mit dem einflutenden Tageslicht und dem Blick auf das Rollfeld eine warme, entspannte und anregende Raumatmosphäre. Aus Platzgründen soll das Thema des Lichts wie das der Farben an dieser Stelle nicht vertieft werden. Schon die wenigen darauf bezogenen Bemerkungen machen aber mit Nachdruck darauf aufmerksam, dass die Zeit des Wartens zugleich eine Zeit des Erlebens von Umgebungsqualitäten ist. Wenn diese auch nicht explizit in die Perspektive des Wartenden kommen, so werden sie in der gelebten Zeit der Anwesenheit doch gerade durch Akzente der Raumgestaltung in einem unterströmenden Sinne atmosphärisch gestimmt.
7.5.6 Raum symbolischer Gesten Wartezonen von Flughäfen sind als halböffentliche Räume und damit als Räume der zwangsläufigen Gegenwart Fremder ideale Milieus der Selbstdarstellung. Auch unabhängig vom Wunsch der Präsentation des eigenen Selbst gehört die personale Präsenz zum situativen Charakter öffentlicher Räume der Stadt. Der Charakter der Öffentlichkeit ist in den Ruheräumen neben den Gates durch das situierte Warten geprägt. Aber die von dieser Situation zusammengefassten Individuen bilden eine zufällige Gruppe, die deshalb nur unter formalen 299 https://doi.org/10.5771/9783495813690 .
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und höchst äußerlichen Bedingungen der Gleichzeitigkeit und des Aufenthalts ganz unterschiedlicher Menschen in ein und demselben Raum eine »gemeinsame« Situation teilen. Das bedeutet im Hinblick auf mögliche Distinktionsbedürfnisse, dass die Menge der Anwesenden sozial nicht (wie im Wohnquartier durch soziale Segregation) »vorsortiert« ist. Distinktions-Effekte können unter Bedingungen sozialer Un-Ordnung folglich kaum erwartet werden, allenfalls solche Effekte, die sich schon im Gefühl der Selbstvergewisserung sozialer Herausgehobenheit genügen und gar keiner Außenwirkungen bedürfen. Unter der Bedingung der Anonymität schießen repräsentative Gesten somit gleichsam ins Leere. Wenn auf dem Frankfurter Flughafen ein Mann mit einem »besseren Lederkoffer« erwähnt wird, so tritt hier etwas vom Lebens- und Selbstverständnis einer Person in die Öffentlichkeit, das sich ganz unabhängig von einem möglichen Distinktions-Wunsch entfaltet. Es gibt spezifische subkulturell (und sozioökonomisch) verwurzelte Medien der Distinktion, die eine Identität zuschreibende Rolle ausfüllen – ganz gleich wie ein Situationsraum sozial programmiert ist. Solches Sich-Zeigen drückt etwas einer Person Eigenes aus. Dieses kann sich in der Art und Weise ihres wahrnehmbaren So- und DaSeins gar nicht in einem wertneutralen Sinne zu erkennen geben. Ein Individuum ist im Moment seines Erscheinens aufgrund seiner habituellen Präsenz im sozialen Raum der Gesellschaft sozial platziert und situiert. Im wahrnehmenden »Erkennen« Dritter kommt es auf verbreitete (zwangsläufig vorurteilsvolle) soziale Automatismen der Zuschreibung von Identität an und nicht auf das, was einen Menschen in der Art und Weise, wie er sein Leben (mit anderen) führt, ausmacht. Von einem »wahren«, »tatsächlichen« oder »echten« Charakter einer Person kann in diesem Kontext schon deshalb nicht die Rede sein, weil Identität immer als ein vielschichtiges soziales Produkt in einem Wechsel von Selbst- und Fremdzuschreibung zustande kommt. Die Situation der Wartezonen bringt in einem Nebeneffekt die soziale Situation der Anonymität ebenso hervor wie es auch die Kurzzeitigkeit, Unverbindlichkeit und Zufälligkeit der gleichzeitigen Anwesenheit von Menschen tun. So bildet sie sich auch als ein Milieu des Scheins, der Vermutungen, Verdächtigungen und generell ins Kraut schießenden Imaginationen. »Identitäten« sind unter diesen Bedingungen nicht mehr, als das, was sich im Sinne des Wortes »grundlos« zeigt, und auf nichts verweist außer auf das, was der Wahrnehmung aktuell zugänglich ist. 300 https://doi.org/10.5771/9783495813690 .
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In wiederum spezifischer Weise haben sich viele laut sprechende und raumgreifend gestikulierende Mobilfunktelefonierer »inszeniert«, von denen nur abgehackte und fragmentarische Sätze verständlich wurden. Aber auch hier kommt es auf keine Intention zur »Inszenierung« oder demonstrativen Selbstdarstellung an, sondern allein auf den Eindruck, der von solchen aktuellen Situationen der Selbstpräsenz ausgeht. Der in einem anonymen Milieu Wartende ist gleichsam gezwungen, noch dem eine zumindest beiläufige Aufmerksamkeit zu zollen, was in einem durch konkrete Erwartungen ganz anders gestalteten Alltag gar nicht in seinen Blick käme. Mit anderen Worten: Der affektive Haushalt der Aufmerksamkeit wird durch den ganz spezifischen Raum-Zeit-Charakter der Situation strukturell erzwungenen Wartens hypersensibilisiert. So hat die Situierung der Wartenden in der RaumZeit der Warteräume ganz unabhängig von individuell möglichen Wünschen einer Selbstinszenierung exponierende, pointierende und nicht zuletzt auch isolierende Effekte. Das Mithören-Müssen noch ganz selbstverständlich dahingesprochener modisch-klischeehafter wie endlos reproduzierter Floskeln (»genau genau«) produziert unter der Bedingung der gedehnten Zeit eine Art der Aufmerksamkeit, der nicht zu entkommen ist.
7.5.7 Verwicklungen Unter Kapitel 3.2 wurde im Fokus der Methodologie die Abhängigkeit einer jeden Beobachtung von »mitlaufendem« interpretativ-basalem Verstehen diskutiert. Dies drückt sich nun in Kapitel 7.4 in einem Beispiel aus, das den Charakter wertenden Verstehens noch einmal in einer besonderen Facette illustriert. So fixierte sich in der Amsterdamer Wartezone neben dem Flugsteig eines erwarteten KLM-Linienfluges nach Hull (England) die Aufmerksamkeit auf die Tätowierungen zweier Männer aus Großbritannien. Dabei fielen diese Zeichnungen nicht nur wegen ihrer ganz eigenen Ästhetik auf; der »ältere der beiden hat Tätowierungen auf beiden Händen; jedes Fingerglied ist in ein einfaches, aber umfassendes Muster einbezogen.« Es waren also zunächst gar nicht die Personen, die Aufmerksamkeit fanden, sondern das, was sie an sich hatten, das aber – anders als Kleidung, die man wechseln kann – zum Habitus der leiblichen Gegenwart eines Menschen dazugehört. Es handelte sich nicht um jene zahllos variierten modischen Tätowierungen, wie man sie in jeder 301 https://doi.org/10.5771/9783495813690 .
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Warteschlange vor einer Supermarktkasse als Ausdruck einer kulturindustriell formatierten Durchschnitts- und Massen-Ästhetik sehen kann. Es waren eher Selbst-Zeichnungen, die in ihrer Symbolik an die archaischen Muster erinnerten, die sich Seeleute oder Hafenarbeiter in den 1950er Jahren tätowieren ließen. Die in der Mikrologie vermerkte emotionale Beziehung zu den Männern war dabei zum einen durch die »Irritation« 121 angesichts eines ungewohnten Eindrucks bedingt, drückte aber darüber hinaus eine »Abstand gebietende Aura« und damit einen leiblichen Impuls zur unwillkürlichen Einnahme einer Distanz aus. Bemerkenswert ist die Deutlichkeit, mit der sich die »Einstellung« der Wahrnehmung durch eine interpretative (mit Bedeutungen geladene) Haltung gegenüber einem Erscheinenden zur Geltung gebracht hat. Dies konnte aber erst deshalb so pointiert hervortreten, weil die Interpretation in ihrer hohen affektiven Ladung als Ausdruck einer wertenden Beziehung in die Beschreibung gleichsam »hineinfunkte«. Die emotionale Art der Ausrichtung der Aufmerksamkeit auf eine soziale Situation ist zwar immer Produkt einer Haltung der Wahrnehmung, aber in diesem Beispiel ist es das auf ungewohnte Weise ästhetisch Auffällige, das die Fokussierung vermittelt hat. Mit anderen Worten: Es waren die eigenen Vorurteile, die – mit (dunklen) Protentionen geladen – das Aufmerken zugespitzt haben. Dabei spielt es im Fokus der Phänomenologie zunächst keine Rolle, ob Vorurteile oder lebensweltliches Erfahrungswissen die Schärfung der Wahrnehmung vermittelt haben. Es ist also von nachrangiger Bedeutung, ob die die Männer umhüllende Atmosphäre auf wie auch immer begründete »Befürchtungen« gestützt war oder ob sie sich nur in einem Amalgam diffuser Ängste zusammengebraut hat, die in der Sache – also aus distanzierter, objektivierender, kritischer sowie vorurteilsfreier Sicht – völlig unbegründet gewesen sein mochten. Für die Authentizität des Situations-Erlebens ist allein das sich bemerkbar machende, Distanz gebietende Gefühl entscheidend. Von ihm allein ging auch im Beispiel die Macht aus, aufgrund deren sich die ganze Raumatmosphäre in der individuell-subjektiven Wahrnehmung eingefärbt hatte. Obwohl im engeren Sinne nichts geschehen ist, das mich als eine von der gegenwärtigen sozialen Präsenz unbeteiligte Person hätte berühren können, hat sich mein atmosphäZur erkenntnistheoretischen Bedeutung der Irritation vgl. auch Kapitel 4.1.7 in Band 2.
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Resümee
risches So-Sein insofern von Grund auf verändert, als die Anwesenheit dieser exotisch erscheinender Personen die Vitalqualität des ganzen Raumes überprägt hat. Dies hatte insofern Auswirkungen auf das Gefühl des Wartens, als sich das Moment eines gewissen Unbehagens in der aktuellen Rahmensituation der Zeit-mit-anderen-in-einemRaum festsetzte. Der sich hier beispielhaft kontrastierende Umschwung subjektiven Situations-Erlebens macht darauf aufmerksam, dass sich das Warten auf dem Erlebnishintergrund einer »leeren Zeit« auf eine Haltung hin konzentriert, die sich in zwei Richtungen gabeln kann: zum einen in die der Isolation und Abschottung von allem Äußeren – wie das viele Smartphone-Benutzer tun. Zum anderen bahnt das Gefühl des Durchhalten-Müssens einer als leer empfundenen Zeit (zumindest potentiell) die Öffnung der Aufmerksamkeit für Beliebiges an. Was in der Situation der affektiven Beengung durch das Unbehagliche in der Mikrologie so deutlich spürbar wurde, verweist im Prinzip auf all jene Eindrücke, die sich durch eine wie auch immer begründete Prägnanz vom atmosphärisch bestimmenden »Grau« der Leere des Wartens abhoben.
7.6 Resümee Die Wartezonen innerhalb der Sicherheitsbereiche zahlloser Flughäfen unterscheiden sich nicht grundlegend, denn sie folgen in erster Linie logistischen Anforderungen. Wenn sich eine große Ähnlichkeit im Vergleich der Wartezonen im Frankfurter und Amsterdamer Airport zwar bestätigt, so weicht die Innenarchitektur des Wiener Flughafens doch deutlich von der eher kalten und nüchternen Raumgestaltung anderer Bereiche ab. Darin zeigt sich auf dem Niveau des tatsächlichen Raumes die Bedeutung der Disposition atmosphärischer »Farben« des Wartens durch Architektur und Design. Was Menschen in der Zeit des Wartens tun, wie sie sich zu sich und der Welt stellen können, wird nicht zuletzt durch die Gestaltung der Räume des Wartens voreingestellt. Auf Entscheidungen über Formen der Architektur, Innenarchitektur sowie des Designs wirken im Rahmen der Gestaltung der Wartezonen aber nicht nur vordergründige ästhetische Normen ein, sondern auch kulturelle Vorstellungen darüber, was die Menschen in ihrem potentiell länger währenden Warten tun sollen – und was 303 https://doi.org/10.5771/9783495813690 .
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nicht. Darin ist ein kulturindustrielles Interesse an der Synchronisierung menschlicher Bedürfnisse und Begehren mit Anforderungen systemischer Differenzierung virulent. Ein »Wachwerden« des Menschen im Zivilisationsprozess kann deshalb Prozessen einer (effizienzsteigernden) Systemdifferenzierung nicht entgegenkommen. Auch muss das Warten schon aus kulturindustriell manifesten Interessen an der Sicherung der Macht über die Zeitverwendungskulturen der Menschen vor Überraschungen geschützt werden. HighTech-Medien (der Unterhaltung wie der Kommunikation) spielen hierbei eine formal wichtige Rolle im Zivilisations- und Sozialisationsprozess. Sie drücken den Einfluss der Kulturindustrie auf die gesellschaftlichen Praktiken im Umgang mit der sogenannten »freien« Zeit aus. Nicht zufällig werden Smartphones, I-Pads und KleinComputer mit Programmen zur Steigerung der Gebrauchslust ausgestattet, auf dass sie sich als Schnellstraßen in einem globalen Netz instrumentalisierter Affekte bewähren können. Wartezonen sind heterotope Räume, die nicht nur der Organisation des Wartens dienen, sondern auch die freie Zeit an der Schwelle zum globalen Transit idealisieren. Sie schaffen Kompensationsräume der Illusion, die »im Gegensatz zur wirren Unordnung unseres Raumes eine vollkommene Ordnung« aufweisen.« 122 Die so entstehende Spannung ist aber nicht nur auf die Unordnung des täglichen Lebens bezogen, sondern zugleich auf die Grundgestimmtheit des Menschen, die zur Entfaltung von Kreativität einer gewissen Unordnung bedarf. Die keinem anderen ausgewiesenen Zweck als dem des Wartens dienenden Räume suggerieren eine Ordnung und Sicherheit, die es – gleichsam im Ernst – in keiner Gesellschaft wie in keinem lebenden System geben kann. Maximierte Ordnung (zum Beispiel der Ruhe des Wartens) läuft auf die Reduktion von Komplexität hinaus und bedeutet das Ende jeder Kreativität und Lebensdynamik. Auch in der Wartezone kann der quasi-anästhesierende Zustand einer maximal geordneten Zeit nur um den Preis der Ablenkung aufrechterhalten werden. Die Duty-Free-Zonen sowie die Airport-spezifischen Einzelhandelsfilialen mit einem vermeintlich »gehobenen« Angebot dienen neben dem Zweck der Versorgung der Menschen mit Gütern ihrer Zerstreuung. Was die Offensiven der Verführung nicht zu leisten vermögen, vollbringen die Reisenden im intensiven Gebrauch von Miniatur-Computern der verschiedensten Art an sich selbst. Deshalb 122
Foucault, Die Heterotopien, S. 19 f.
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Resümee
kann sich in den Wartezonen auch keine produktive »Kultur der zähen Zeit« konstituieren. Die raumzeitlichen Zwischen-Räume werden so zu Übungswelten systematischer Absehung vom eigenen Selbst. Nur in Klagenfurt kollabierte der Mythos und die Essenz des Wartens trat in seiner »reinen« (ablenkungsarmen) Form hervor. Die ent-deckte Vielschichtigkeit der situativen »Farben« des Wartens hat die Frage nach dessen Charakter zugespitzt und die nach dem Zeitbewusstsein Wartender außerhalb institutioneller WarteSituationen provoziert. Die gelebte Zeit ist im Modus des Wartens affektiv in anderer Weise akzentuiert als unter der Bedingung zielorientierter Verrichtungen. Charakteristisch ist die Langsamkeit, die durch Gefühle leiblicher Weite und Offenheit fundiert ist. In der Schnelligkeit ist die Dauer flüchtig; die Langsamkeit dagegen bedeutet »die entsprechende Verzögerung des Abschieds.« 123 Der Abschied – im Sinne des Abscheidens von etwas – wird in der gedehnten Zeit in die Langeweile gleichsam hineingestreckt. Wenn der Abflug eines Flugzeuges bevorsteht, ist nichts außer dem vorhanden, was das Warten als Füllung vermeintlich »leerer« Zeit zulässt. Das Warten führt, wenn nicht »in«, so doch zumindest an den Rand einer Grenzsituation. Zwar ist die Situation des Wartens keine typische Grenzsituation wie die Konfrontation mit schwerer Krankheit oder dem Sterben. Aber aufgrund ihres Zeit-Charakters der Verlangsamung weist das Austrocknen der Zeit im Warten doch eine große Nähe zu ihr auf. Eine Grenzsituation ist nach Karl Jaspers dadurch geprägt, dass in ihr das Gefühl, sich an sicher geglaubten Fixpunkten orientieren zu können, geschwunden ist. Situationen, in denen »nichts Festes da ist, kein unbezweifelbares Absolutes, kein Halt, der jeder Erfahrung und jedem Denken standhielte« 124, sind »für das Leben unerträglich« 125, weil in ihnen alles ins Fließen gerät. Jaspers geht der Frage nach, wie der Mensch seine lebendigen Kräfte nutzt, um sich Halt zu geben. An diesem Punkt taucht das Warten als Problem (im phänomenologischen Sinne der Ungewissheit, ob etwas sei) auf. Deshalb keimt im Warten die Grenzsituation; es ist der dem Warten eigene Ruhezustand, der das »Streben auf irgendwelche Ziele, Zwecke, Werte, Güter hin« 126 (optional) unterbricht. In dieser Un123 124 125 126
Schmitz, Phänomenologie der Zeit, S. 63. Jaspers, Psychologie der Weltanschauungen, S. 229. Ebd. Ebd., S. 230.
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Airport-Wartezonen
terbrechung liegt das aporetische Potential der Grenzsituation. Dass die Verlangsamung des vitalen Elans im Warten den zum Problem sich zuspitzenden Stimmungscharakter einer Grenzsituation im Allgemeinen aber nicht annimmt, liegt an den Praktiken der Vereitelung des individuellen Einbruchs ins Fragwürdige. Insbesondere im Schlaf entgehen die Menschen dem »Wachwerden«; in der Selbstanästhesie durch miniaturisierte High-Tech-Medien der »Unterhaltung« erfolgt dies nur auf andere Weise. Letztlich befindet sich aber selbst der Meditierende (s. Beispiel in Kapitel 7.2) in der Perfektionierung seiner Techniken der Konzentration auf das leibliche Selbst-Sein in der Notwehr gegenüber der Gefahr aporetischer Ratlosigkeit. Jede Wahrnehmung – und so auch jede wissenschaftliche Annäherung an einen Erkenntnisgegenstand durch die Methoden der Beobachtung – setzt das interpretative Erkennen voraus, denn keine Bedeutung erschließt sich in der sozialen Welt diesseits des Verstehens. Jede Interpretation impliziert somit ein subjektivistisches Moment. Das Beispiel der vorurteilsgeladenen Wahrnehmung der beiden tätowierten britischen Fluggäste hat dies illustriert. Zwar lassen sich affektive Beziehungen zum Gegenstand einer Beobachtung (mit dem Ziel der Beschreibung und Erklärung) methodisch »filtern«. Umso mehr tritt aber dann die Frage in den Vordergrund, wo das Weg-Gefilterte geblieben ist. Carola Meier-Seethaler erinnert in diesem Zusammenhang an »die Verzerrung der Wirklichkeit durch einseitige Realitätswahrnehmung oder ›Verwerfung‹ durch Verdrängung« 127. Der Sinn der Mikrologien erweist sich in diesem Kapitel vor allem darin, dass sie nicht in eine im Prinzip beliebige Aneinanderreihung von Einzelnem führt, sondern in die phänomenologische Autopsie des Wartens. Dazu gehört die des Sitzens als prioritärer Körperhaltung, auf die hin die Wartenden domestiziert werden. Dabei hat sich gezeigt, dass nicht nur das Warten in seinem Zeit-Erleben einen emotionalen Kern hat; auch in der Haltung und leiblichen Disposition des Sitzens konstituiert sich der (wartende) Mensch affektiv zu sich und der ihn umgebenden Welt; dies je nach seiner (habituellen) Haltung in eigener Weise; im tendenziell passiven Liegen anders als im gleichsam sedierten Hin- und Hergehen und abermals anders als im wachen Liegen, Stehen oder Gehen. Es ist schon die sinnliche Präsenz, die durch Körperhaltungen und damit einhergehende leib127
Meier-Seethaler, Gefühl und Urteilskraft, S. 306.
306 https://doi.org/10.5771/9783495813690 .
Resümee
liche Dispositionen »formatiert« wird und den Sitzenden – in aller Regel anders als den Gehenden – auf spezifische Weise in der Welt seines Herum situiert. Die »innere« Haltung der Wartenden wird ganz wesentlich vom Modus ihrer Körper-Haltung wie ihrer damit einhergehenden leiblichen Dynamik bestimmt. Das Beispiel des kleinen Klagenfurter Flughafens hat illustriert, dass sich im Blick »zwischen« das nur scheinbar immer Gleiche keineswegs nur beliebige Variationen von Sachverhalten und Programmen zu erkennen geben. Gerade in der Reflexion des Ähnlichen erweitert sich das Spektrum des in der Sache des (institutionalisierten) Wartens begründeten Denk- und Fragwürdigen.
307 https://doi.org/10.5771/9783495813690 .
8. Methodologische Nachbemerkungen
Phänomenologische Forschung kann als aseptischer Prozess im Modus kognitiver Auseinander-Setzung nicht gelingen. Das ist keine Kampfansage an die Fähigkeiten des Verstandes noch der Vernunft. Aber es gibt einen Unterschied in der Art und Weise, wie sich ein Mensch den Belangen seines Lebens im Medium der Reflexion nähern kann. Der Weg der Sozialwissenschaften führt über die vielfach bewährten erkenntnistheoretischen Magistralen, ebenso aber über die Nebenwege »kleiner« Theorien. Es sind dies insofern abstraktionistische Wege, als die Rolle der Theorien von Anfang an eine richtungsweisende Funktion hat. Von einer gleichsam ganz anderen Seite arbeitet sich die Phänomenologie an die aus ihrer Sicht existenziellen Fragen des Lebens heran. Sie bedient sich in der Beschreibung von Situationen der Alltagssprache und macht zum Thema der Reflexion, was Menschen in ihrem So- und Da-Sein affektiv berührt. Trotz aller Kontrastierung darf nicht übersehen werden, dass sich diese so scharf erscheinenden Gegensätze angesichts der grundlegenden Verschiedenheit der Erkenntnisgegenstände relativieren. Mit anderen Worten: Was die Sozialwissenschaften zum Gegenstand ihrer Forschung machen, ist nicht dasselbe wie das, was in den Fokus der Phänomenologie gelangt. So vermitteln zum Beispiel Soziologie und Politikwissenschaft mit ihren je eigenen Erkenntnismitteln wichtige Einsichten, die selbst in der Führung des eigenen Lebens von Belang sein können; nur sind dies eben Forschungsgegenstände, die sich auf einer Objektseite in sozialen, politischen und dinglichen Beziehungsgefügen befinden. Die Mikrologien haben gezeigt, dass es einen Weg der Annäherung gibt, der auf der Subjektseite seinen Verlauf nimmt und den Menschen ihr Leben in seiner affektiven und atmosphärischen Verwicklung in Situationen erklärbar macht und weniger auf der Seite ihrer Verwicklung in Systeme nach Antworten sucht. Dieser subjektbezogene Weg verlangt eine ganz eigene wissenschaftliche Sensibilität gegenüber den Belangen des Lebens, zu denen 308 https://doi.org/10.5771/9783495813690 .
Methodologische Nachbemerkungen
maßgeblich die Gefühle und die Atmosphären gehören. Die Reflexion von flüchtigen »umwölkenden« (Tellenbach) »Vitalqualitäten« (Dürckheim) eines Ortes setzt nicht nur ein Wissen um die Bedeutung der Gefühle im Leben und ihre Funktion im Wahrnehmungsund Erkenntnisprozess voraus, sondern auch pathische Sensibilität. Sie bringen uns erst in die Lage, sinnlichen Eindrücken aufgeschlossen begegnen zu können. Das bedarf – und so zeigen sich die mikrologischen Beschreibungen – einer bewussten und schrittweisen Anverwandlung an bzw. Identifikation mit einem Gegenstand der Forschung. Was es bedeutet, als lebendige Person vom Gefühl der Stille oder – in ganz anderer Weise – von der Macht einer Sturmböe erfasst zu werden, erschließt sich nicht aus dem kognitiven und propositionalen Wissen über einen Begriff der Stille oder die skalierbare Stärke eines Sturmes, sondern allein über das sensible Auf- und Erspüren der sinnlichen und leiblichen Eindrücke entsprechender Situationen. Damit werden zwei gleichsam isolierende Beziehungen zu einem Gegenstand des wissenschaftlichen Interesses überwunden. Zum einen verliert der Gegen-stand den Charakter seines distanziert empfundenen Gegen-über. Zum anderen verliert sich der Gegen-standsCharakter, in dem die Dinge in flüssigen Situationen erscheinen und in einem Feld der Begegnung in Bewegung versetzt werden. An die Stelle theoretisch imprägnierter Beziehungen zu einer Sache tritt die Identifikation mit einem Milieu, wodurch die »Sache« (in ihrer Strittigkeit) eigentlich erst als etwas in die Welt kommt, das Fragen provoziert und sich als etwas zeigt, das Rätsel birgt. Der Gegenstand phänomenologischen Interesses stellt sich als etwas in einem pathischen Sinne Begegnendes heraus. Damit fällt die Grenze zwischen der Subjektivität eines erkennenden Individuums und der Objektivität eines zu erkennenden Gegenstandes. Dieser Weg der Annäherung wie des Eintretens in eine mitweltliche Sphäre lässt sich auch als Verdichtung einer Beziehung beschreiben. In der Art und Weise der Explikation situativen Erlebens drückt sich diese Beziehung aus und macht sich der phänomenologischen Interpretation verfügbar. Das Begegnende taucht als Stille, Erfasst-werden von einem Wind, Atmosphäre eines Geruchs oder als Dauer des Wartens in der persönlichen Situation eines Wahrnehmungs-, Verstehens- und Erkenntnisaktes auf. In der Virulenz der Atmosphären verlaufen die Grenzen zwischen ICH und JENEM. Die Kultur und Sensibilität der Aufmerksamkeit der Mikro309 https://doi.org/10.5771/9783495813690 .
Methodologische Nachbemerkungen
logien ist paradigmatisch gegen den tradierten Strom wissenschaftlichen Erkennens und Analysierens gerichtet. Sie konfrontiert mit einer grundlegenden zivilisationsgeschichtlichen sowie sozialisationsbedingten Prägung einer entfremdeten Aufmerksamkeit des spätmodernen Menschen in Bezug auf seine Selbst- wie Weltbeziehungen. So repräsentieren die Mikrologien in ihrer Hinwendung zum sinnlichen Erscheinen und leiblichen Erleben von Atmosphären nicht zuletzt das Andere einer intellektualistischen Kultur, wonach unter der Scheinherrschaft der Rationalität die Gefühle nur negiert, tatsächlich aber auf Hinterbühnen des Handelns verschoben werden, so dass sie aus dem Schatten einer vermeintlich reinen Verstandeswelt erst Recht Verwerfungen in gelebten Selbst- wie Weltbeziehungen produzieren. Diese Dynamik der »offiziellen« Zurückstellung der Gefühle zugunsten einer Lenkung des (gesellschaftlichen) Lebens durch die Herrschaft von Rationalität und Verstand pointierte Albert Camus einmal so: »Logisch zu sein ist immer bequem. Nahezu unmöglich ist es aber, logisch bis ans Ende zu sein.« 1 Die Unmöglichkeit, gleichsam in Gänze auf dem Pfad der Rationalität bleiben zu können, ist anthropologisch begründet, denn wir »gewöhnen uns ans Leben, ehe wir uns ans Denken gewöhnen.« 2 Da es der Natur des Menschen entspricht, nicht nur über Verstand, sondern auch über Gefühl zu verfügen und im Metier der Vernunft beides zu einer Synthese zu bringen, müssen strukturelle Vereinseitigungen zu Spannungen führen, die auf dem Niveau der Vergesellschaftung des Menschen in besonderer Weise die Ethno-Psychoanalyse beschäftigt. 3 Die Mikrologien sind in der Art ihrer Reflexion auf einer Schnittstelle zwischen dem gefühlsmäßig-befindlichen und rationalreflektierenden Sein verortet. Sie suchen in der Rekapitulation der Bedingungen atmosphärischen Sich-Findens in Situationen nach Wegen des Verstehens mitweltlicher Verstrickungen. Damit weisen sie sowohl einen Subjekt- als auch einen Gesellschaftsbezug auf, denn was Menschen affiziert, verdankt sich nicht allein dem Zufall und der Dynamik des Performativen, es ist auch – allzumal unter der Macht der Massenmedien und Kulturindustrie – Produkt interessengeleiteter Inszenierungen. Insbesondere die affektive Aufladung Camus, Der Mythos des Sisyphos, S. 21. Ebd., S. 20. 3 Vgl. z. B. Meier-Seethaler, Gefühl und Urteilskraft sowie Erdheim, Psychoanalyse und Sozialforschung. 1 2
310 https://doi.org/10.5771/9783495813690 .
Methodologische Nachbemerkungen
städtischer Räume, wie sie im »atmosphärischen Nach- und Umrüsten« 4 urbaner Orte in den postmodernen Metropolen allenthalben geschieht, folgt in aller Regel nicht dem Plan der Aufklärung des Menschen. Zu Recht stellt Reinhard Knodt heraus: »Um sich atmosphärisch mit [zum Beispiel einem, JH] Platz auseinanderzusetzen, wäre es auch nötig, sich eine Zeitlang seiner Atmosphäre auszusetzen« 5. Die Mikrologien illustrieren nicht nur die Notwendigkeit solcher »SelbstAussetzung«; sie zeigen auch, dass solche Auseinandersetzung, die im Übrigen allem widerspricht, was die Institutionen der Bildung an Wissenswertem vermitteln, der Übung bedürfen und erst im Modus der Dauer die Möglichkeit der Reflexion tieferer Selbst-Welt-Beziehungen versprechen. Solche Begegnungen haben keinen gnostischen, sondern pathischen Charakter, und so setzen sie sinnliche und leibliche Nähe voraus, in der eine Atmosphäre sich der Autopsie ihrer affizierenden Wirkungen erst anbietet. Dies ist keine metrische, sondern eine leibliche Nähe. Sie verlangt daher weniger die Annäherung an ein Objekt im relationalen Raum als die Bereitschaft, sich für Begegnungen auf der Schnittstelle zwischen Selbst und Welt zu öffnen. Darin klingt kein esoterisches Programm an, sondern eines der Sorge um das eigene Selbst. Wie die Mikrologien gezeigt haben, legt die phänomenologische Rekonstruktion räumlichen Erlebens breit gefächertes Wissen über das wirk-liche Geschehen in mitweltlichen Milieus wie über die davon ausgehende Macht der Tingierung persönlichen Befindens, das mitunter mehr von Gefühlen gelenkt wird als von rationalen Erwägungen, frei. Diese sinnliche Berührung vollzieht sich auf dem Weg leiblicher Kommunikation, »spricht« also die Person in ihrem sich selbst spürenden Sein an. Hier kommt es wesentlich darauf an, dass sich die pathische Erfahrung (das gefühlsmäßige Mit-Sein betreffend) von der gnostischen Erfahrung (die denkend-vergegenständlichende Form der Rationalität betreffend) im Modus der »Ansprache« kategorial unterscheidet. Deshalb versteht Böhme »Leibsein im Sinne von ausgedehntem leiblichen Spüren als ein Beispiel von Non-Dualität« 6. Mit dem Begriff der Non-Dualität zielt er auf die Überwindung von Gegensätzen ab, insbesondere »die Aufhebung der Zweiheit von Sub4 5 6
Knodt, Ästhetische Korrespondenzen, S. 52. Ebd., S. 58. Böhme, Bewusstseinsformen, S. 136.
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Methodologische Nachbemerkungen
jekt und Objekt.« 7 Diese Aufhebung basiere auf dem Paradox, dass der Gegenstand des Spürens dieses Spürens selbst sei. 8 Solche Überwindung tradierter Grenzen geschieht zum Beispiel im atmosphärischen Erleben oder im Wahrnehmen von Gefühlen, die die eigene Präsenz bewusst machen. Böhme spricht hier von »Präsenzbewusstsein« 9. Auch die Mikrologien zielen im Prinzip auf eine gesteigerte Sensibilität und Aufmerksamkeit im Sinne von »Präsenzbewusstsein« ab. Dies aber nicht aus meditativen Gründen der Anbahnung von Wegen leibbezogener Kontemplation, sondern mit dem Ziel der Erweiterung des Denkbaren und der Kritik der eigenen gesellschaftlichen Selbstwerdung sowie jener gesellschaftlichen Verhältnisse, die im Spiegel aktuellen Leib-seins als eine einnehmende und aneignende Macht aufscheinen. Phänomenologie verzahnt sich damit über scheinbar apolitische Grenzen hinweg mit einem Erkenntnisinteresse, das den Prozess der Vergesellschaftung der Subjekte in den Blick nimmt. Wenn Habitus – noch im soziologischen Sinne von Pierre Bourdieu – auf Einverleibung basiert, so erweist sich leibliches Spüren als seismographisches Feld, das die Wirksamkeit von Dispositiven der Macht nicht nur zu spüren, sondern auch zu denken gibt. Ob solches Leib-Sein im MitSein in performativen Strömen, dem Begegnen von Dingen oder im plötzlichen Auftauchen existenzieller Fragen bewusst wird, ist insofern zunächst nicht von Bedeutung, als damit allein die Gegenstände der Erfahrung variieren. Formal kommt es indes darauf an, dass solche Prozesse der Bewusstwerdung auf einen Zuwachs an Reflexion hinauslaufen. Das Zurückscheinen eines herumwirklich Gegebenen schärft in seiner erfahrungsorientierten Reflexion jenes von Böhme bezeichnete »Präsensbewusstsein« und führt zu einer zweifachen Steigerung des Bedenkens – zum einen des Erscheinens wie der darauf bezogenen subjektiven Verwicklungen zum anderen. Die Mikrologien haben gezeigt, in welcher Weise schon die in der Zeit gedehnte und in der Sache des Begegnenden geschärfte Aufmerksamkeit diese Erweiterung von Selbstpräsenz vermitteln kann. Ganz entgegen alltäglich-selbstverständlicher Überzeugungen, die sich durch vermeintliches Wissen über komplexe Systemabläufe suggerieren, steht das Banale und Infra-Gewöhnliche in einer un7 8 9
Ebd., S. 137. Vgl. ebd., S. 136. Vgl. ebd., S. 159.
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Methodologische Nachbemerkungen
erwartet engen Beziehung zum Ernst des Lebens. Es ist weniger die unfassbare Vielfalt der Eindrücke, die von solchem Ernst-Charakter zeugt, als der Umstand, dass sich hinter und in dieser Kontinuität banalen Erscheinens die Prinzipien der Wahrnehmung verstecken, herausbilden und bekräftigen, die unser In-der-Welt-Sein disponieren. Kein Moment realer gesellschaftlicher Verhältnisse ist gleichsam sonderweltlich gegenüber gesellschaftlichen Sphären des Ernstes eingeklammert wie die Abläufe eines Spiels, nur weil etwas Erscheinendes banal und vielleicht ohne ökonomische oder politische Bedeutung ist. Ernst-Charakter hat die Art und Weise, in der sich Menschen zu ihrem Herum in Beziehung setzen, ganz gleich, ob sie sich darin auf etwas Selbstverständliches oder aber auf etwas gründlich Bedachtes beziehen. Damit werden die Formen des sinnlichen wie leiblichen Erlebens wie Erfahrens im tagtäglichen Umgang mit dem Infra-Gewöhnlichen in seiner Denkwürdigkeit noch einmal in methodologischer Hinsicht aufgewertet. Sie können nicht ernst genug genommen werden, vielleicht gerade deshalb, weil sie sich wegen einer »objektiv« oft geringen Bedeutung ihrer Inhalte der Aufmerksamkeit entziehen. Als infra-gewöhnlich, also durch das Alltägliche geradezu hindurchgehend und völlig unauffällig, gelten zudem all jene Atmosphären, die – in welcher Weise auch immer – herausragende Situationen anzeigen. Besonders wenn die Vitalqualitäten eines Herum zu spüren geben, dass etwas »anders« ist, treten Atmosphären in ihrem Gefühls-Charakter ins Bewusstsein. Zwar bleiben sie selbst dann in aller Regel etwas Nebensächliches, weil der Zivilisationsprozess gelehrt hat, (ökonomische) Gegenstände von Wert ernst zu nehmen und nicht gleichsam wabernde nichthafte Gefühlslagen. Bemerkenswert sind gerade dann mitunter offensichtlich werdende Probleme der Synchronisierung dessen, was man fühlen und was man denken kann. Und so werden gerade in der Krise, die sich im Gefühl der Bedrohung zu spüren gibt, Entscheidungen »in der Sache« getroffen, die vom Gefühl getaktet sind, aber nicht in sachangemessener Weise kritisch geprüft und abgewogen sind. Zwar werden Gefühle dann sogar in herausgehobener Weise ernst genommen, aber gerade nicht zum Gegenstand der durcharbeitenden Erfahrung gemacht. Das verdeutlicht noch einmal die Wichtigkeit einer differenzierten Reflexion von Fühlen und Denken. Auch vor diesem Hintergrund stellen sich die Mikrologien als Übungen produktiver Reflexion dar. Nicht zuletzt darin liegt ihr Beitrag zur Erhöhung der Transparenz von Forschungsprozessen, die 313 https://doi.org/10.5771/9783495813690 .
Methodologische Nachbemerkungen
sich auf der Schnittstelle zwischen einem (erscheinenden) Gegenstand des wissenschaftlichen Interesses und darauf bezogenen meist verschlungenen Erkenntnis-Wegen ereignen. So bietet die Arbeit der Mikrologien auch auf dem methodologischen Hintergrund der Phänomenologie – gewissermaßen programmgemäß – einen Beitrag zu einer (fiktiven) Psychologie der Wissenschaft, die es (aus guten Gründen der Verschonung herrschender Machtverhältnisse im System der Wissenschaften) gar nicht gibt. 10 Beachtung verdient in der Kritik wissenschaftlichen Handelns im Allgemeinen die Rationalität der Durchführung analytischer Verfahren wie der Herangehensweise an das Material qualitativer Sozialforschung. Die Frage der affektiven Involviertheit des Forschenden in seinen Gegenstand und den Prozess der Wissensproduktion wird meist übersprungen. Auf die weitaus bewusstere und reflektierte Rolle der Ethnologie in der Umgehensweise mit dieser Transzendenz-Problematik wurde bereits in Kapitel 3 hingewiesen. Was für die Methode der Ethnographie zutrifft, gilt auch für die Arbeitsweise der meisten Sozialwissenschaften: »Ethnography is a very personal and imaginative vehicle by which anthropologists are expected to make contributions to theoretical and intellectual dicussions, both within their discipline and beyond.« 11
Mit anderen Worten: Die Position des Forschenden und damit auch desjeningen, der sich in einem sozialen Feld oder in der Situation der Bewusstmachung eigenen um- wie mitweltlichen Erlebens befindet, ist insofern relativ isoliert, als er in der Frage der (das heißt: seiner ganz persönlichen) Subjektivität mit sich allein ist. Alles, was sich über ein Erleben sagen lässt, ist gerade dann, wenn es mit noch so intellektualistisch disziplinierenden Methoden für die rationale Analyse gefiltert ist, von subjektiven Dispositionen und Stimmungen in Bezug auf das Erlebte durch- und in gewisser Weise auch ver-zeichnet. Weil es dem Mythos reiner sich im würdigen Umhang der Dignität schützender Wissenschaft zuwider läuft, spielen in der Generierung wissenschaftlichen Wissens affektive Resonanzen in Bezug auf einen Forschungsgegenstand eine mehr als randständige Rolle. Zweifellos kann keine Wissenschaft – in welcher methodologischen Form Diesem Thema ist das VIII. Jahrbuch für Lebensphilosophie. Kritik und Therapie wissenschaftlicher Unvernunft gewidmet; vgl. Hasse / Kozljanič. 11 Marcus / Fischer, Anthropology as Cultural Critique, S. 21. 10
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Methodologische Nachbemerkungen
der Annäherung an einen Gegenstand auch immer – die »ganze Wahrheit« erzählen. Aber sie kann doch weit mehr für die Aufhellung der Produktionsbedingungen wissenschaftlichen Wissens tun, als es im Hinblick auf die Rolle der Gefühle im Allgemeinen und des als selbstverständlich aufgefassten wissenschaftlichen Handelns geschieht. Deshalb streicht Clifford auch den performativen Charakter von (ethnologischer) Forschung heraus und bestreitet damit die Möglichkeit der »Abbildung« realer Verhältnisse: »In what follows I treat ethnography itself as a performance emplotted by powerful stories.« 12 Wenn er schließlich darauf hinweist, dass wir letztlich nicht kontrollieren 13 können, was wir beschreiben, macht dies auch auf eine untilgbare erkenntnistheoretische Differenz aufmerksam, die gleichwohl zur spezifisch menschlichen Möglichkeit von Erkenntnis gehört. Es mag zudem ein Ausdruck der Naturferne des Menschen bzw. seiner Beheimatung in (s)einer Zweiten Natur sein, die ihn gegenüber der Rolle blind macht, die er in der Natur als deren Wesen spielt. Was sich zum Ausdruck bringen lässt (mit den Mitteln der Sprache oder ästhetischen Formen der Repräsentation), hat zunächst einen nicht reduzierbaren Überschuss; zugleich ist es aber auch vom Mangel dessen gezeichnet, was sich jeder Explikation entzieht. Die Ausführlichkeit der Mikrologien weist auf beide »Schattengestalten« hin. Was gesagt ist, ist trotz aller mikrologischen Mannigfaltigkeit im Detail doch nie »das Ganze« dessen, was in der Situation der Beobachtung gegenwärtig war. Zugleich bringt es wiederum »mehr« zum Ausdruck, als sich – in welcher Art der Rezeption auch immer – erfassen lässt. Dieses Unbehagen angesichts eines in scharfer Aufmerksamkeit (relativ) genau Explizierten gründet im Falle der Ethnologie wie der Mikrologien wesentlich auch darin, dass eine Beschreibung – zum Beispiel die einer Situation des Wartens – immer zwei Zielen folgt. Zunächst, und darin ist die Methode der Phänomenologie der anderer Wissenschaften relativ nahe, will sie etwas über einen Gegenstand der Wahrnehmung (meistens aus der herumwirklichen Welt) präzisieren. Daneben will sie aber auch ein explizit zum Ausdruck gebrachtes sinnliches und leibliches Erleben dem Verstehen zugänglich machen. Dieses subjektivistische Verstehen ist an einen selbstbezogenen Verstehens-Anspruch zurückgebunden. Und so wird etwas Er12 13
Clifford, On Ethnographic Allegory, S. 98. Ebd., S. 121.
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Methodologische Nachbemerkungen
scheinendes im Spiegel der von ihm ausgelösten Empfindungen zum Anlass einer Vertiefung des Selbstverstehens. So sind auch die Versuche zu bewerten, sich spürbar werdende Atmosphären von Orten verständlich zu machen, die sich in einem Grenzkorridor situieren – zum einen in einer herumwirklichen Welt, zum anderen in einer Welt der individuellen Teilhabe. Es gibt keine Atmosphären jenseits des erlebenden Subjekts, keine Atmosphären ohne Gefühl, denn Atmosphären sind Gefühle. Was man im sinnlichen Wahrnehmen, also in Prozessen leiblicher Kommunikation intuitiv erschließen kann, bietet sich erst dann als Ressource der Bereicherung der Erfahrung des Subjekts in Bezug auf seine gesellschaftliche (nicht nur lebensweltliche, sondern auch systemische) Situiertheit an, wenn es der rationalen (vielleicht sollte man sagen einer rational gemachten) Durcharbeitung zugänglich geworden ist. Darin zeigt sich noch einmal die besondere Bedeutung der Reflexionsbedürftigkeit persönlicher Situationen im Verstehen eines Erscheinenden. Der Prozess der reflexiven Anbahnung von Erfahrung ist ein von Anfang an vergesellschafteter, der noch nicht einmal vor der Möglichkeit steht, sich allein auf das zu beziehen, was eindrücklich geworden ist. Darin liegt ja gerade der Grund für die weitgehende Ausblendung der Macht der Gefühle aus der Rekonstruktion von Entstehungsprozessen wissenschaftlichen Wissens. »At times one still hears expressed as an idea of ethnography a neutral, tropeless discourse that would render other realities ›exactly as they are‹, not filtered through our own values and interpretative schema.« 14
Die eigenen diskursiven Praktiken sind immer durch Dritte, den Zeitgeist, wissenschaftliche Denkstile sowie vielfältig ausgebildete aktuelle gesellschaftliche Verhältnisse mit-geprägt. 15 Eine methodologische Bekräftigung erfährt das Projekt der Mikrologien schließlich durch Michel Foucault. Seine im Resümee des sechsten Kapitels angesprochene emanzipations- und aufklärungsorientierten Sorge um das eigene Selbst läuft auf Übungen der Konzentration hinaus, in deren Mitte das eigene Selbst steht. Solche SelbstKultivierung ist weit von jedem Verdacht esoterischer Kompensations-Psychologie entfernt. Sie strebt einer Selbstermächtigung zugunsten einer Erweiterung subjektiver Ressourcen tendenziell freier 14 15
Pratt, Fieldwork in Common Places, S. 27. Vgl. ebd.
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Methodologische Nachbemerkungen
Selbstkonstitution zu und setzt damit all jenen gesellschaftlichen Kräften – zu allererst kulturindustriellen Dispositiven – ein widerständiges Potential der Selbstbehauptung entgegen, die die Subjekte nur in die Kalküle fremder Interessen verstricken. Unter den Übungen der Selbstkonzentration spricht Foucault im Rückgriff auf die Kultur der Stoiker und Epikureer die »Bedeutsamkeit des Schreibens« 16 an: »Notizen über das Gelesene machen, über die Gespräche und über die Gedanken, die man gehört hat und sich selbst macht. Anlegen von Heften über wichtige Themen (was die Griechen hypomne-mata nennen) und regelmäßiges Lesen derselben, um sich den Inhalt zu vergegenwärtigen.« 17
So gesehen können die Mikrologien auch als eine Technologie des Selbst verstanden werden. Sie setzen in ihrer Methode unverzichtbar auf die Explikation von Eindrücken – hier im Modus der Schrift. In der denkenden Form des Niederschreibens werden die Dinge klarer, als würden sie nur aus-gesprochen. Die Schrift ist die Basis einer reflexiven Haltung zum Selbst (des eigenen wie des kulturellen). 18 Im Auf-schreiben verfestigt sich etwas nur Gedachtes oder Gesprochenes, so dass es in der vergegenständlichenden Verschriftlich-ung zu einem »Material« der Reflexion werden kann. Diese Form der schreibend-denkenden Erfassung hat ihren Nutzen in einem hohen Grad der Detailliertheit. Die mikrologischen Autopsien eigenen Erlebens bieten sich schließlich gerade deshalb der reflektierenden Durchquerung an. Dem qua Sozialisation erlernten schnellen und flüchtigen Hinsehen liegt eine Kultur der Aufmerksamkeit zugrunde, die an gesellschaftlichen Relevanz-Systemen geeicht ist und darin nur widerspiegelt, was zu einer Zeit in einer Gesellschaft als wichtig gilt. Schnelles Erfassen impliziert strukturell das Übersehen von TiefenMorphologien eines Erscheinenden. Sache der Mikrologien ist es, dieses Übersehene, das sich im Infra-Gewöhnlichen verdichtet, dem Denken zugänglich zu machen – nicht des Gewöhnlichen wegen, sondern zur Vertiefung selbst- wie weltbezogenen Denken-Könnens. Die Erweiterung des Denkbaren läuft indes auf kein intellektualistisches Spiel der Beliebigkeiten hinaus. Das Eintreten in noch unerschlossene Denk-Räume vermittelt vielmehr Horizonte erweiterten Seins in
16 17 18
Foucault, Hermeneutik des Subjekts, S. 610. Ebd. Vgl. Assmann, »Schrift«, Sp. 1417.
317 https://doi.org/10.5771/9783495813690 .
Methodologische Nachbemerkungen
mitweltlichen Milieus. Vergrößerte Felder der Selbst-Konstitution setzen auch vergrößerte Reflexionsvermögen voraus, die die Dispositive der Kulturindustrie gerade nicht verlangen.
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Stichwortverzeichnis
Abendstille –, friedliche 125, 166 Abgründigkeit –, katastrophische 223 Ablenkung 149, 270, 282, 297, 304 –, Macht der 152 Abscheu 101 Abschottung –, relative 233 Abschreckung 223 Abschwächung 280 Abseits 283 Abstand 35, 209 Abstraktion –, szientistische 66 Abstraktionsbasis 54, 88 Abwehrmechanismus 85 Abwehrschirm 233 Abwendung 171 Abwesenheit 248 –, reine 164 Achtsamkeit 21 Affekt –, -Beherrschung 260–261 –, -Verschiebung 84 Affizierung –, leibliche 108 Ähnlichkeit 33, 59, 256 Aisthetik 185, 205, 296 Akkord 149 –, atmosphärischer 102 Aktanten 285 Akteur 93, 226 –, intelligibler 227 Akustisches 123 Allegorie 148 Allokation 111
Alltagssprache 308 Altar 114, 144 Ambivalenz –, atmosphärische 147 Amplituden –, hallende 190 Analyse –, rationale 314 Anästhesie 296 Andacht –, ästhetische 149 Angegriffen-Werden 108 Angst 36, 167, 302 Annäherung –, interpretative 70 –, verstehende 41 Anonymität 92, 300 Anschauung 73 Anthropologie –, multisensorische 112 Anthropomorphisierung 220 Antike –, römische 147 Antrieb –, vitaler 40, 111 Anwendung 86 Anwesend-Sein 242, 248 Appräsentation 37 Apsiden 136, 142 Apsis 117, 132, 144 Architektur 27, 105, 114, 117, 125, 139, 142, 144–145, 150, 231, 241, 303 –, -theorie, historische 83 –, gotische 148 –, Renaissance- 147 –, romanische 148
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Stichwortverzeichnis Archivierung 58 Arkaden 119, 132 Artefakte –, technische 290 Ästhetik 96, 135–136, 148, 274 –, Massen- 302 Atem 182 –, -geräusche 117, 120 Atmosphären 17, 32, 34, 45, 57, 61, 72, 75, 96, 228, 297, 309, 313, 316 –, -forschung 16 –, abgründige 147 –, bizarre 163 –, der Stille 140 –, des Numinosen 145 –, ergossene 125 –, gefühlsmächtige 125 –, kalte 242 –, kantige 186 –, klangliche 234 –, numinose 117 –, sakralräumliche 149 –, warme 186 Atmung 265 Atrophie 56 Auf-der-Stelle 271 Aufenthalt –, Gefühle des 274 Aufenthaltsqualität 39 Aufklärung 55, 96, 226, 311 Aufmerksamkeit 55, 219, 237 –, abgestumpfte 89 –, affektive 11 –, ambivalente 107 –, beiläufige 301 –, Erweiterung der 52 –, gerichtete 152 –, leibliche 216 –, Ökonomie der 31 –, Schärfung der 89 –, szientistische 60 –, Verfeinerung 225 Aufsässigkeit 261 Aufstehen 237 Auge 294 Augenschluss 134 Ausbreitung 95
Ausbreitungsraum 101, 188 Ausdehnung 38, 100, 147 Ausdruck 15 –, sprachlicher 50 Ausdrucksqualität –, spürbare 140 Ausdünstungen 102 Ausgesetzt-Sein 104 Aushalten 95, 254 Ausharren 232 –, Ort des 237 Ausweglosigkeit 93 Ausweichmanöver 111 Autopsien 22 –, mikrologische 30 –, phänomenologische 12, 17, 22 Bahnhof 71 Balance 215 Banales 23–24, 49, 82, 312 Barrieren 280–281 Basilika 143–144, 146, 149, 151 Baustoffe 145 Bedeutsamkeit –, binnendiffuse 252 Bedeutung 52, 91 –, existenzielle 224 –, gesellschaftliche 186 –, religiöse 145–146 Bedrohung 181 –, existenzielle 204 Beeindruckung –, mystische 148 Beengung 109, 218 –, affektive 303 Befinden –, atmosphärisches 227 Befürchtungen 249, 302 Begegnendes 40 Begegnung 53, 125, 199, 297 –, neue 85 Begehren 31, 198, 272, 304 Begreifen –, leibliches 151 Behaglichkeit 210 Beiläufigkeiten 236, 265, 296 beißend 106
328 https://doi.org/10.5771/9783495813690 .
Stichwortverzeichnis Beobachterwelt 67 Beobachtung 50, 62 –, nicht-teilnehmende 70, 75 –, phänomenologische 209 –, sich differenzierende 79 Beobachtungsdaten 63 Beobachtungsprotokoll 63, 78 Beobachtungssprache 66 Beobachtungswelt 67 Beredtsamkeit –, visuelle 140 Berührt-Werden 65 Berührung 30, 295 –, affektive 179 –, affizierende 91 –, gefühlsmäßige 108 –, sensitive 294 –, taktile 206, 288, 295 Beschleunigung 272 Beschreibung –, dichte 29, 32, 44, 55, 78 Besinnung 15, 119, 167, 215, 242, 268 –, meditative 250 –, reflexive 47 –, transzendierende 47 Betroffenheit 223 Betroffensein –, affektives 69, 126 Beunruhigendes 181 Bewegung 40, 42–43, 49, 92, 126, 136, 139, 152, 182, 186, 191, 198, 216, 259, 270 –, abgehackte 193 –, atmosphärische 131 –, auf der Stelle 260 –, gestische 195 –, hörbare 193 –, körperliche 95 –, langsame 128 –, mitdenkende 294 –, müde 166 –, quietschende 157 –, relative 199 –, trudelnde 157 –, unruhige 114 Bewegungsbild 188
Bewegungslosigkeit 120, 127, 132 –, absolute 127 –, relative 127–128, 130, 271 –, weitgehende 139, 148 Bewegungsmuster 278 –, normierte 160 Bewegungsraum 278 Bewegungsrhythmen –, schnelle 232 Bewegungssuggestion 43, 130, 146, 150, 206, 259, 262–263 Beziehung –, gefühlsmäßige 288 Bild-Erleben 151 Bild-Erwartung 181 Bild-Störung 198 Bilderflut 149 Bildung –, allgemeine 59 Bildverstehen –, intellektualistisches 151 bitter 106 Bleiben 237 –, temporäres 236, 247 Blick 132, 195, 204, 234, 247, 252– 253 –, theoretischer 48 Bluff –, ästhetischer 293 Böen –, mächtige 196 Charakter –, gesellschaftlicher 180 –, synästhetischer 43, 105, 125, 220 Chorbogen 142 community –, scientific 45 Dämmung 280 Dampf 103 Dasein –, pathisches 254 Dasitzen 201, 267, 270 –, ruhiges 132 Dauer 191, 242, 252, 259, 282, 311 Deckenmalerei 119
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Stichwortverzeichnis Demütigung 292 Denken –, analytisch-intelligentes 72, 74 –, hermeneutisch-intelligentes 73 –, inteligibles 23 –, interpretatives 16 –, leiblich-intelligentes 72 –, phänomenologisches 74 –, rekonstruierendes 151 –, sozialwissenschaftliches 74 Denken-Können 317 Denkwürdiges 52, 57 Depression 28 Desensibilisierung 56, 89 Design 231 Deutungen 65 Dialog 288 dicht 105 Dichte 92, 125, 132 –, -räume, urbane 169 –, atmosphärische 124, 146 Diffusion 101 Digitalität 55 Dignitätsanspruch 49 Disharmonien –, atmosphärische 197 Dispositive 60, 163 –, kulturindustrielle 317–318 –, sinnliche 286 –, technische 287 Dissonanz –, kognitive 85 Dissuasion 60, 96, 272 Distanz 101, 219, 283, 302 –, gelebte 209, 219 –, leibliche 111 –, personale 111 Distanzierung –, sinnliche 95 Distinktion 300 Dokumentation 79 Dom 114 Domus interior 26 Donnern –, lärmendes 188 Draußen –, windiges 210
Drinnen –, bergendes 210 Druck 211 –, mächtiger 185 Duft 107 –, stimmender 106 dumpf 105 dunkel 124, 133, 211 Durcheinander –, lärmendes 187 durchscheinend 211 düster 211 Dynamik –, gelebte 55 –, leibliche 42, 108 –, ortfeste 260 Dystopie 92, 163 Dystopisches 128 Echo 178, 189–190 Eindeutigkeit –, sprachliche 13 Eindrücke 15, 30 –, affektive 83 –, emotionale 50 –, sinnliche 38 Eindrucks-Erleben 15 Eindrucksmacht –, olfaktorische 107 Einfaches 21, 24, 103, 122, 173 Einfältiges 103 Einfühlung 203 Einfühlungsvermögen 206 Einleibung –, antagonistische 42 Einzelfall 14 Einzelnes 70 Ekel 95, 101, 104, 106, 110 Ekelerregendes 108 eklig 105 Ekstase 182 –, orkanartige 186 Elan –, vitaler 306 Emission –, akustische 135 Emissionsherd 100
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Stichwortverzeichnis Empfindung –, engende 106 Empirie –, qualitative 90 Enge 34, 38, 108, 110–111, 131, 219 –, maximale 111 Engel 292 Engung 42 Ent-Bildung 293 Entfremdung –, produktive 83 Entsetzen 260–261 epikritisch 148, 186 Erdulden 254 Erfahrung 11, 16 –, ästhetische 151 –, eigenleibliche 203 –, leibliche 54, 147 –, spirituelle 28 –, verstehende 85 Erfahrungsbegriff 15 Erfahrungslosigkeit 56 Ergehen 189, 196, 216–217 Erhabenes 122, 125, 139, 143, 145, 147, 223 –, technisch 292 Erhofftes 249 Erinnerung 53, 84, 170 Erinnerungs-Bild 182 Erkenntnisprozess 309 Erkundung 21 Erleben 31, 41 –, atmosphärisches 67 –, leibliches 45 –, mitweltliches 64 –, räumliches 132 –, Selbst- 29 –, sinnliches 16 –, subjektives 64–65 –, Umwelt- 28 Ernst-Charakter 313 Erregung 110, 134, 260 Erregungsschwelle 262 Erscheinen 15, 55, 59, 198, 200, 208, 310 –, farbliches 211 Ertasten 288
Erwartung 169, 181, 249 –, leere 142 Erwartungs-Affekt 250 Erzählung 48–49 Erzengel Michael 150 Esoterik 121, 225 Ethnologie 45, 65, 314 Ethnopsychoanalyse 31, 310 Evidenz –, individuelle 87 Exedraform 143 Existenz –, menschliche 53 Existieren 17 Exklusion 179 Exotisierung 48, 181 Explikation 52, 170, 209, 216, 225, 315, 317 –, detaillierte 13 –, Formen der 32 –, Mittel der 33, 50 –, sprachliche 41, 73, 87 –, subjektiven Erlebens 41 –, von Eindrücken 25, 58 –, von Gefühlen 76 –, von Gerüchseindrücken 104 –, von Situationen 64 Explikationsdruck 105 FaceTime (Apple) 271 Faktenwissen 208 Farbe 150, 217 Farblosigkeit 113 Faszination 107, 223 Faulendes 106 Feinfühligkeit 291 Feldweg (Heidegger) 22 Ferne 192, 253 –, imaginäre 189 –, spürbare 165 Fernes 190 Fernsinn 191 Filterung 280 Finger 288 Fingerspitzengefühl 35 Fixierung 273 Flackern 114, 140
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Stichwortverzeichnis Flamme 114 –, Bewegung der 127 Flattern 199, 216 Flaute 224 Fließendes –, still 129 Flucht 282 Flüchtiges 122 Flüchtigkeit 184–185 Flughafen 71 Flugsteig 25, 83, 229 Forschungsprozess 313 Fotografie 32, 50, 58, 73, 76, 78–79, 96, 129, 157 Fragiles 122 Fragwürdigkeit 306–307 Freizeit 229 Fremde 285 Fremdes 25 Friedhof 169 Friedlichkeit 123 frieren 121, 201 frisch 105 Frost 202 Fühlen 288 Ganzes –, akkordartiges 94, 103 –, unbegriffliches 100 ganzheitliche Mannigfaltigkeit 85 Gebet 27 Gebrauchswert 294 Gedächtnis –, kulturelles 58 Gefangenschaft –, sinnliche 93, 97 Gefühle 23, 32, 40, 46, 52, 110, 309– 310 –, beengende 43 –, kontrastierende 209 –, Übertragung 289 –, umwölkende 130 Gefühlssuggestion 16 Gefühlswallung 221 Gefühlswissen –, einverleibtes 208 Gegen-Druck 217
Gegend 38, 110 Gegenlicht 175, 186 Gegenstand –, wissenschaftlicher 309 Gegenwart –, entfaltete 79, 86, 219 –, leibliche 290 –, primitive 79, 219 geheimnisvoll 211 Gehen 201, 237, 306 –, frierendes 202 Geisterhaftes 223 gelebte Zeit 209 gelebter Raum 149 Geräusch 38–39, 77, 116, 123, 133– 134, 175, 183, 187, 191, 199, 243, 281 –, -Erleben 189 –, -losigkeit 154 –, -Oase 279 –, -teppich 189 –, intensives 188 –, metallenes 176 –, plastisches 188 Geruch 17, 34, 37, 39, 93, 134, 191 –, -losigkeit 134 –, fauliger 94 –, herkunftsabhängiger 112 –, schimmlig-modriger 94 Geruchsatmosphäre 105 Geruchsbelästigung 93 Geruchserleben –, aversives 93, 98 Geruchskomponenten 106 Geruchsquelle 112 Geruchssinn 99, 109 Geruchsstoffe –, halluzinative 102 Geruchswellen 101 Geruchswirkungen 102 Geschehen –, herumwirkliches 64 Geschmack 107 Gesicht 186, 206 –, wechselndes 211 gespannt 105 Gespanntheit 39
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Stichwortverzeichnis Gespräch 281 Gesprächsprotokolle 28 Gestaltverlauf 130 Gestank 98, 107 –, vielfarbiger 103 Gestankkugeln 98 Geste 253, 272, 275, 285, 288 –, repräsentative 300 –, symbolische 299 gestikulieren 286, 301 Geviert (Heidegger) 226 Gewicht 132 Gewitteratmosphäre 132 Gewöhnung 200 Gleichgewicht 206, 215 Gotik 147 Gott 26, 171 Göttliches 151 Grauen 223 Grenze 277 –, spürbare 278 Grenzsituation 305 Größe 136, 143–144 –, göttliche 147 Großes –, mystisch 151 Großstein-Zeitalter 145 Grund 190 Grundgeräusch 188 Haarspalterei 21 Habit 200 Habitus 200, 203, 263, 265, 285, 312 –, psychischer 201 Halbding 18, 120, 132, 182, 184 Halbdunkel 117, 122, 124, 129 Hall 140, 176, 190–191 Haltung 129, 200, 235, 242 –, des Sitzens 129 –, Körper- 202, 262 –, körperliche 129 –, leibliche 129, 201, 261, 263 –, pathische 61 –, situationsangemessene 261 –, Sitz- 262 Hämmern –, maschinistisches 188
Hand 286, 296 –, -Habung 286 –, kraftvolle 287 Handeln –, intelligibles 60 Handlung 254, 289 –, kultische 144, 166 Härte –, schneidende 193 Harz 98 Hässliches 108 Hauch 184 Hauptwinde 182 Hautkontakt 296 Heiligenfiguren 117 heimlich 123 Heiterkeit 132 Helle –, ausgeprägte 124 Hermes 292 Herumschauen 237 Herumwirklichkeit 25, 44, 130, 215 –, luftige 185 Heterogenität 92 Heterosphäre 104 Himmel 193 himmlisches Kind 225 Hinhören 190 Hinsehen 12, 26, 37, 96 –, flüchtiges 317 Hinsetzen 237 Hintergrundkulisse 187 Hintergrundrauschen 127, 189 Hinzutreten –, leibliches 72 Hochaltar 136, 150 Höhe 136, 145–146 –, schwebende 148 Hoheit 143 Homosphäre 104 Hörbarkeit 192 Hören 134, 187 –, spürendes 176 Hypertrophie 56 Identität 106, 300 –, Zuschreibung von 49, 300
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Stichwortverzeichnis Idiographie 14, 97 Idiosynkratisie 198 Illusion 304 Imagination 24, 27 Immersivität 99, 119, 121, 296 –, atmosphärische 131 Immission 189, 192 Improvisation –, finale 163 Impuls –, vitaler 109 Individuen –, rationale 58 –, separierte 245 Industriegerüche 111 Infra-Gewöhnliches 22, 48, 225 Inkommensurabilität 32, 50, 60 Innehalten 252 Innen 282 Innenarchitektur 19, 231, 245, 259 Innenraum 280 Innenraumgestaltung 229, 299 Innenschau –, kontemplative 27 Innerlichkeit 129 Insel 280 –, zeiträumliche 234 Inselstrand 124 Inszenierung 301 –, bildliche 150 –, symbolische 142, 150 Inszenierungs-Programme –, numinose 149 Inszenierungs-Wissen 145 Intelligenz –, hermeneutische 203 –, leibliche 203 Intensität –, abflauende 95 Interaktionsrhythmen 277 Interaktivität 282 Interferenzen –, atmosphärische 149 Interpretation 30, 50, 170, 195, 301– 302, 306 –, nachspürende 32 –, phänomenologische 41
Intuition 53 Involviertheit –, affektive 314 Irrationales 31 Irrationalität 32, 60 Irritation 302 Kälte 120, 207 –, spitze 215 –, spürbare 201 Kanten –, runde 105 –, scharfe 105 Kardinalwinde 182 Kausalität 190 kehai 104, 205, 253 Kellerraum 29 Kerze 127, 140, 152 –, brennende 114 ki 103, 265 Kindheit –, systemverträgliche 161 Kirche 114, 122, 126, 130, 139, 142– 143, 169, 299 –, protestantische 124 Kirchenneubauten –, protestantische 144 Kirchhof 122 Klang 103, 116, 145, 173, 191 –, -bild 188 –, -Erleben 133 –, -exotik 178 –, -familie 279 –, -folge, maschinistische 176 –, -gestalt 189 –, -kulisse 133, 176 Klebriges 295 Koinzidenzgerüche 105 Kommentierung –, interpretative 66 Kommunikation –, leibliche 41, 108, 110, 150, 201, 206, 218, 288 –, mögliche 233 –, Proto- 246 –, Tele- 285 Kommunikationsstandards 56
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Stichwortverzeichnis Kommunikationsweise –, vorbegriffliche 61 Kompensationsästhetik 159, 223 Konkurrenzen –, akustische 188 –, atmosphärische 188 Konstellationen 73–74 Konstruktivismus 85, 130, 226 Konsum –, -Welt 269 Kontakterfahrung 295 Kontaktstörung 89 Kontemplation 26, 122, 169, 250, 268 –, religiöse 149 Konzentration 316 Körper 108, 183, 185, 207, 215, 217, 259, 278, 287 –, -geruch 34, 111 –, -haltung 306 –, -haltung, kälteabwehrende 201 –, -lichkeit 151 –, -Motorik 260 –, -sprache 275 –, -techniken 263 –, als Gegenstand 111 –, materieller 109 Kraft –, andrängende 206 –, architektonische 144 –, drückende 216 –, tragende 146 –, wehende 217 Kreativität –, gezähmte 161 Krise 313 Krypta 125 Kultur –, -industrie 14, 55, 268, 287, 304 –, -Mensch 222 –, intellektualistische 310 Kunst 50 künstlich 193 Kybernetisierung 290 Lagezeit –, modale 252
Land –, stilles 123 Langeweile 305 Langsames 129 Langsamkeit 305 Langweiliges 22, 26, 298 Laufen 201 laut 188 Lautliches 56, 131, 133 Lautloses 126 Lautlosigkeit 113, 116, 127, 133 –, relative 139, 148, 154 Lebendigkeit 39, 152, 224 –, archaische 182 –, des Windes 174 –, entzogene 165 –, orts-typische 168 –, soziale 60 –, urbane 131, 258 Lebenserfahrung 15–16, 54 –, unwillkürliche 86 Lebensphilosophie 15 Leere 156, 163, 243, 286, 298, 300 –, -Resonanz, voluminöse 165 –, atmosphärische 162, 164 –, beharrende 157, 163 –, räumliche 147 –, Sein in der 267 –, spürbare 167 –, stille 165 –, tote 154 Leerlauf 238 Leerstelle –, kommunikative 235 Leerwerden 266 Leib 46, 108, 185 –, und Körper 109 Leibesinsel 38, 110 leise 188 Licht 131, 145, 150, 186, 299 –, fahles 117 –, flackerndes 127, 152 –, lebendiges 127 –, natürliches 117, 211 –, spärliches 152 –, wechselndes 217 –, weiches 175
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Stichwortverzeichnis Liegen 260, 263, 275, 306 Liturgie 27 Lounge 229 Luftton 181, 202–203 Luftwesen 224 Luftzug 185 Macht 143, 261 –, ergreifende 194 –, numinose 147 –, schneidende 194 –, sinnliche 95 –, zerreißende 224 Mächtigkeit 199 –, gestaute 132 –, prädimensionale 130 –, umhüllende 121 Mahlzeit 54 Malerei 32 Malstrom (Poe) 223 Markt 42, 71, 76, 80 Maschine 287 Masse –, schwere 132 Massenmedien 293, 310 Mediatisierung 55 Medien –, Entbindungs- 245 –, High-Tech- 286 –, Neue 290 –, visualisierende 32 Meditation 26, 171, 207, 226, 255, 264–265, 270, 306 Meer –, offenes 122 –, stilles 128 Meeresstrand 159 Menschenleere 116, 163 Merkwürdiges 181 Metapher 220 Mikrologien 13, 18, 21, 26, 30, 310 Milieu –, umschließendes 136 Mimesis 24, 150, 288 Mischgerüche 105 Mit-Sein 25, 42, 97, 150, 152, 170 –, riechendes 99
Mitwelt-Erleben 52 mitweltlich 23 Mobiltelefone 246 Monotonie 198, 298 Morgenstille –, zarte 125 Musik 133, 167 Mystik, christliche 171 Mystisches 124 Mythen, jenseitsweltliche 145 Mythologie –, christliche 136 Nachhören 191 Nacht –, verregnete 43 Nachvollziehen –, pathisches 74 Nähe –, leibliche 311 –, räumliche 205 Nahendes 104 Nahes 190 Narrativ –, ästhetisches 80 Nase 99–100, 110 Natur 182 –, -Begriff 159 –, -ferne 315 –, -wesen 224 –, Kraft der 174 –, städtische 160 –, stille 122 –, zweite 226, 315 Nebel –, stinkender 205 Nebengeräusche 187 Nebentätigkeiten 265 Netze –, epistemische 86 Nicht-Orte (Augé) 256 Nichthaftigkeit 173, 182, 247 Nichtigkeiten 238 Nichts 163–164, 167, 183, 194, 206, 215, 217, 234, 243 –, abgründiges 167
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Stichwortverzeichnis –, existenzphilosophisches 168 –, gefülltes 164 –, sinnloses 168 Non-Dualität 311 Notizen –, stichwortartige 78 Nüchternheit –, funktionalistische 245 Numinoses 119, 124–125, 139, 143– 144, 172 Objektivität 68 Öde –, schweigende 164 Olfaktorisches 56 Ordnung 121, 198 –, architektonische 139 –, atmosphärische 131 Ordnungsstrukturen –, relationale 130 Organ-Geräusche 117 Orkan 32 –, ekstatischer 221 –, vernichtender 204 Ort –, absoluter 34, 49, 188 –, anthropologischer 256 –, heterotoper 258 –, inszenierter 163 –, öder 157 –, pädagogisierter 159 –, städtischer 75 –, toter 156 –, unlebendiger 154 –, urbaner 109 Orts-Begriff 36 Paradigma –, hermeneutisches 70 Parfum 102, 112 Park 169 Parkhaus 71 Patheur 93, 255 Pathisches 61 Pause 166 Performativität 17, 25, 49, 61, 80, 198
Person –, Erste 70 –, individuelle 71 Perspektive –, mitweltliche 76 Pferdehuf 98 Phänomenologie 52, 308, 312 –, Neue 62 Phonotop 279 photoessay 80 Physiologismus 85 Platz 39, 81, 83, 153, 197 –, leerer 42 Platzierung –, inszenierte 151 Plötzliches 312 Plötzlichkeit 99, 165 Pneuma 103 Poltern 187 Posa 133, 167 Pracht –, ästhetische 136 Prädimensionalität 34, 38 Präsenz 293 –, -bewusstsein 207, 312 –, ästhetische 245 –, habituelle 236, 286 –, konzentrierte 242 –, leibliche 265 Privation 135 Probleme 78, 163, 228 Programme 78, 163, 197, 228, 261 –, dissuasive 112 –, Warte- 247 Projektion 86 Projektionismus 53, 84 Protentionen 47, 58, 181 Protokoll –, -aussagen 63 –, -sätze 65 –, Eindrucks- 13 Protokollierung 170, 197 –, ausführliche 86 –, in situ 78 –, stichwortartige 81 Pseudo-Objektivismus 52
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Stichwortverzeichnis Psychoanalyse 14, 84 Psychologie 14 –, der Wissenschaft 314 Psychopathologie 28 Quelle –, atmosphärische 100 Rationalität 61, 68, 310 –, ästhetische 79 Rationalitätsstandards 31 Raum –, -Begriff 36 –, -gebilde, monadenhafte 281 –, -gefühl, wärmendes 210 –, -gehäuse 240 –, -insel 240 –, -inszenierung 140 –, -klima 120 –, -programm 262 –, -qualitäten, ephemere 61 –, -verkürzung 192 –, -vermischung 192 –, architektonischer 130 –, atmosphärischer 35, 228, 231 –, blasenartiger 101 –, gelebter 26, 82 –, halböffentlicher 231, 234, 248 –, heiliger 119 –, heterotoper 27, 92, 161, 304 –, isolierter 233 –, kultischer 144 –, langweiliger 243, 248 –, lebendiger 61 –, leiblicher 34, 100, 110 –, öffentlicher 71, 75, 275 –, relationaler 34, 38 –, sakraler 83, 113, 125, 127, 143, 145, 171 –, sinnlicher 139 –, tatsächlicher 35, 130 –, Tiefe 146 –, umfriedeter 159 Re-Alphabetisierung 96 Realität 15, 24 Redundanz 87 Reflexion 23, 68, 310
–, abstrakte 23 –, erfahrungsorientierte 12, 61 –, Modalitäten 47 –, sinnliche 59 –, wissenschaftliche 23 Reichweite 101, 191 Reißen 182 Renaissance –, -Ästhetik 140 –, -Basilika 127, 171 –, -Stil 142 Repräsentativität 14, 51, 77, 90 Resensibilisierung 56 Resonanz –, affektive 314 –, leibliche 151 Rest-Helligkeit 117 Rhythmen –, urbane 131 Rhythmik –, unvorhersehbare 217 Rhythmus –, hektischer 131 Richtung –, Blick- 288 –, leere 238 –, zentripedale 132 Richtungsqualität 146 Richtungsquelle 167 Richtungsvektoren 132 Riechen –, intransitives 102 –, transitives 102 –, vortastendes 94 Rituale –, liturgische 126 Rollen –, dumpfes 176 Romanik 147 Romantik 223 Rückzug –, Nische des 233 Rufe 191 Ruhe 39, 121–122, 129, 139, 145, 148, 186, 259–260, 305 –, -Atmosphäre 128 –, -insel 233
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Stichwortverzeichnis –, atmosphärische 123 –, beharrende 129 –, lautliche 116, 135 –, letzte 129 –, menschenleere 171 –, relative 127, 179 Ruhendes 126 Ruhigsitzen 264 Sachverhalte 78, 163, 199, 228 –, ausstehende 252 –, objektive 30 –, tatsächliche 68 Sakralbau 136 Sankt Michael 127, 136, 142–143, 148, 151 Säuseln 182 Schall 34, 125, 134, 190 Schatten 124, 135 Schau –, introjektionistische 27 –, kontemplative 28 Schaumschläger 183 Schiffbruch 223 Schizophrenie 28 Schlagen –, knatterndes 193 –, rhythmisches 179 Schleier –, trübe 178 Schmutz 294 Schnelligkeit 222, 305 Schönes 108 Schreck 69 Schule –, allgemeinbildende 293 Schulwissen 190 Schwefel 98 Schweigen 124, 135, 150 Schwellung 42, 218 Schwere 125 –, atmosphärische 146 –, lastende 146 schwül 105 Seefahrt –, alte 128 Seeleute 204, 223
Seesturm 204, 223 Segmentierung 70 Sehen 249 –, geistiges 151 –, sinnliches 151 –, spirituelles 27 Sein –, spürendes 311 Selbst –, -anästhesie 306 –, -beherrschung 226 –, -beobachtung 64–65 –, -besinnung 152, 256 –, -betrug, erkenntnistheoretischer 45 –, -bewusstsein 16, 207 –, -disziplinierung 31 –, -erfahrung 265 –, -Erkenntnis 225 –, -gewahrwerdung 140, 207 –, -konstitution 226, 318 –, -kultur 255 –, -Sein 269 –, -Sichtungen 30 –, -sorge 226, 265 –, -technologie 317 –, -Thematisierung 120 –, -verstehen 316 –, leibliches 219 Selbstkontrolle 261 –, körperliche 275 Sensibilität 54, 288 –, pathische 112, 205 –, sinnliche 196, 291 –, verschüttete 207 –, wissenschaftliche 308 Separierung –, mentale 283 Sicherheitszone 230 Sichtbarkeit 183 Sinn 59 Sinne –, Gebrauch der 292 –, höhere 108 –, niedere 96, 108 –, Wiederaneignung 51
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Stichwortverzeichnis Sinnes-Organe 109 Sinnesdaten 65, 130 Sinnesraum –, Stadt 112 Situation 32 –, aktuelle 37, 170, 197, 201 –, auf der Objektseite 64 –, auf der Subjektseite 64 –, besondere 80 –, gemeinsame 71, 237 –, gesellschaftliche 54, 264 –, impressive 97 –, komplexe 22, 76 –, lebendige 25, 66 –, mitweltliche 26 –, persönliche 51, 180, 210 –, raumzeitliche 19, 247 –, Reflexion 72 –, städtische 30 –, transitorische 241 –, windige 197 Situationsverstehen –, nachspürendes 183 Situierung –, ästhetische 117 Sitz-Orte 273 Sitzen 129, 259, 306 –, meditatives 264 Sitzwelten 273 Skulptur 128, 150–151 skurril 193 Sleeping Pod 229 Smartphone 233, 242, 246 Solipsismus 54, 90 Sonnenlicht –, fahles 178 –, weiches 186 Sonntagsstille –, feierlich-heitere 125 –, heitere 166 Sorge 12, 225 –, Selbst- 311, 316 Sozialforschung –, qualitative 314 Sozialisation 14, 85, 261 –, massenmediale 54 –, wissenschaftliche 31
Sozialisationswelt –, urbane 160 Sozialwissenschaften 45, 48, 62, 75, 91, 180, 308, 314 Spannung 42, 146, 169, 218 –, affektive 250 –, surrealistische 198 Spätmoderne 56 Spektakel –, apokalyptisches 223 –, theatrales 165 Sphären –, Technik- 284 Spielpädagogik 158 Spielplatz 153 Spiritualität –, christliche 171 Sprache –, poetische 32 –, prosaische 32 Sprachfetzen 240 Spuren 156 –, eigenleibliches 27 –, leibliches 183 –, stoffliche 295 Stadt 46, 109 Stehen 201, 261, 306 Stein 145–146 Still-Sitzen 129, 255, 266, 269 Stille 18, 38, 113, 119, 121, 129, 133, 139, 144, 149, 182, 267, 269 –, -Atmosphären 172 –, -Erfahrung 140 –, -Erleben 142 –, -Erleben, situatives 163 –, abgründige 166 –, angreifende 167 –, atmosphärische 127 –, aufkeimende 140 –, beharrende 134 –, bleierne 125, 132 –, dichte 168 –, drückende 125 –, Erfahrung der 268 –, immersive 119, 163 –, Konstitution von 186 –, Kultur der 267
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Stichwortverzeichnis –, leere 125, 166 –, situationsspezifische 113 –, spürbare 126 –, Steigerungsfähigkeit 135 –, voluminöse 157 Stillstand –, Raum des 272, 278 –, relativer 259 Stimmung 17, 43, 104, 113, 132, 171, 184, 198, 264, 314 –, depressive 167 Stimmungseindruck 107 Stimmungsmacht 114, 122 –, religiöse 151 Stimmungsmedien 189 Stofflichkeit 107 –, atmosphärische 126 –, prädimensionale 126 –, voluminöse 125 Straßenleben –, urbanes 123 Stunden –, unproduktive 229 Sturm 183, 211 –, lärmender 166 –, rasender 199 –, reißender 219 –, schneidender 196 –, stinkender 205 –, tobender 173 Stürmen 185 –, ekstatisches 206 Subjektivität 68 Suggestion –, kulturindustrielle 272 Symbol, Symbolik 148, 152, 302 Systemwelten 57 Szientismus 52 Taktiles, Taktilität 56, 274 Tast-Gefühl 35 Tätigkeit –, beiläufige 241 Tatsachen –, nackte 68 Täuschung 57 –, Selbst- 294
Technik 294 Teilhabe –, affektive 67, 69 Temperatur 120 Teufelsdreck 98 Theorien –, abstraktionistische 60 –, wissenschaftliche 49 Theoriesprache 66 Tiefe 136 –, praedimensionale 166 Tod 128, 145, 168 Todeskampf 224 Ton 116, 123, 134, 191 Tonnengewölbe 136, 143, 146 Totenstille 124, 128 Transfer 86 Transkription 78 Transsubjektivität 82 Transzendenz-Problematik 314 Transzendenzerfahrung 171 Trauer 132 Treiben –, urbanes 131, 169 Tun –, zielstrebensfreies 254 Übelgerüche 99–100, 104 Übergänge 277 Übergangsphase 254 Übermenschliches 151 Übertragung 84, 86 –, synästhetische 183 Übung 267, 311, 313, 316 –, des Leibes 266 Umgebungsgeräusch 134 Umgebungsqualitäten 299 Umgreifendes 103 Umwölkung 40, 44 Unaussprechliches 57 Unbedachtes 23 Unbehagen –, beengendes 95 Unbehagliches 303 Unberechenbarkeit 184, 217
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Stichwortverzeichnis Unbewegtheit –, des Leibes 267 –, relative 259 Unbewusstmachung 31 Ungewissheit 305 Uniformität 257 Unrat 106 Unruhe 199 –, gefühlte 194 –, motorische 165 –, nervöse 237 –, optische 175 –, spürbare 246 Unsicherheit 217 Unsichtbarkeit 194, 206, 218 Unterhaltungsindustrie 57, 59 Unterscheidungsvermögen 54 Unwetter 204 Urbanität 131 Utopie 163 Vakuum –, atmosphärisches 162 Verankerungsbereich 101 Verdichtungsbereich 101 Verdrängung 31, 306 Verelendung –, soziale 275 Verfügung –, Selbst- 12 Verführung 60 Vergesellschaftung 312 Vergesellschaftungsprozess 61 Verhalten –, soziales 231 Verhaltens-Repertoires –, einverleibte 201 Verinselung 286 Verlangsamung 305 Verlegenheitsmedien 237 Verlorenheit –, stille 166 Vermischung 192 Vernunft 61, 96 Verortung 100 Verschiedenheit 106 Verschwinden 234
Verstand 96, 310 Verständigung –, intersubjektive 87 Versteck 234 Verstehen 150, 204 –, decodierendes 151 –, intuitives 70 –, kognitives 204 –, leibliches 220 –, pathisches 199, 208 Verstimmung 149 Vertreibung –, Macht der 98 Verwesendes 106 Verwicklung –, mitweltliche 96 –, subjektive 65, 67, 75 Verwirrung 189 Verwissenschaftlichung 208 Vibrieren 216 Vierungsturm 114 Virtualität 55 Vitalqualität 34, 39, 100, 130, 149 Volumen –, atmosphärisches 39 –, gestautes 147 –, prädimensionales 110 Vorurteile 302 Wachsamkeit 219 Wahnvorstellung 28 Wahrnehmung –, Differenzierung der 37 –, Disziplin der 21 –, Erweiterung 12 –, fokussierende 69 –, intuitive 203 –, leibliche 23, 226 –, mit einem Schlage 72 –, Prinzipien der 77, 97 –, Schärfung 54 –, schlagartige 99, 218 –, simultane 130 –, spürende 181 –, synästhetische 203 –, Verfeinerung der 59 Wahrnehmungsmodi 152
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Stichwortverzeichnis Wahrnehmungspsychologie 84 Wahrnehmungsroutinen 51 Wahrnehmungsschwäche –, strukturelle 89 Wald –, tiefer 122 Wärme 120, 207 –, bergende 196 Warte-Orte 256 Warten 25, 228, 248, 274, 282 –, harrendes 249 –, In-die-Zeit-hinein- 237 –, leeres 265 –, liegendes 263 –, Phänomenologie des 246 –, reines 254 –, situiertes 299 –, Überbrückungs- 251 –, wachendes 249 –, Ziel- 251 Warteraum 83, 247 Wartezeit 230 –, mittlere 255 Wartezone 18, 262–263 –, Möblierung der 276 Wasser –, stille 123 –, tiefe 123 Wehen 173, 182–183, 188, 199, 206, 215 –, eigenartiges 215 –, kaltes 194 –, kraftloses 199 –, leichtes 221 –, seichtes 196 Weite 34, 38, 110, 125, 131–132, 143– 144, 206, 209 –, des Lebens 210 –, leere 36 –, stille 149 –, ungefüllte 168 Weitung 42 –, privative 148 Welt –, -flucht, esoterische 25 –, sinnliche 11
Werden –, Raum des 270 Wetter 17, 62, 179, 187, 193, 196 –, -Erleben 194 –, -spüren 206 –, -vorhersagen 207 Wildnis 158 Wind 18, 173 –, -Diskurse 207 –, -dynamik 18, 184 –, -Erleben 186 –, -geräusche, dämpfende 187 –, -hund 222 –, -natur 182 –, -rauschen, leises 187 –, bekommen 220 –, drehender 184, 220 –, kalter 43, 202 –, Paradoxie des 206 –, schwacher 183 –, spätherbstlicher 201 –, starker 196, 204 –, wehender 180 Winde –, Beratung der 224 –, herrschende 224 Windstille 122, 128, 175, 180, 188, 196, 209, 223 –, annähernde 187, 198 –, eingetretene 181 –, lange 224 –, relative 180, 186 Wirklichkeit 15, 24, 67 –, Autorität der 87 –, präsente 73 –, subjektive 58 Wirklichkeitsvernichtung 88 Wissen 15, 31 –, abstraktes 205 –, Deutungs- 66 –, deutungsrelevantes 79 –, leibliches 220 –, wissenschaftliches 31, 45, 51, 315 Wissenschaft 50 –, positivistische 14 Wissenschaftler –, Person 45
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Stichwortverzeichnis Wissenschaftssprache 88 Witterung 184, 222 Witterungsbild 187, 202, 204 Wohlbehagen 210 Wohlgeruch 98, 104, 108, 222 Wolken –, dahinziehende 211 writing culture 47 Wünsche 40 Zähigkeit –, atmosphärische 241, 247 Zeichenverstehen 204 Zeigestock 287 Zeit –, -bewusstsein 305 –, -lichkeit 189 –, -wahrnehmung 252 –, Durchhalten der 264 –, extensive 271 –, gelebte 19, 241, 248
–, leere 228, 303, 305 –, problematische 229 –, Zähigkeit der 257 Zentrierungs-Bereiche 101 Zerstreuung 304 Zittern 216 Zivilisation 14, 102, 261, 270 Zivilisationskritik 62 Zivilisationsprozess 304 Zögern 252 Zudringlichkeit 186, 210 Zufall 280, 300 Zug –, fahrender 92 Zumutung 103 Zurückweichen 104 Zuwendung 95 Zwischen –, Figuren des 253 Zwischenphänomen 102
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