Photographie und Phänomenologie: Mikrologien räumlichen Erlebens 9783495823750, 9783495491287


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Table of contents :
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Inhalt
Einleitung
Zum Aufbau dieses Bandes
Zu den einzelnen Kapiteln des ersten Teils
Teil I: Das photographische Bild in der Phänomenologie: Theoretische Orientierungen
1. Der gesellschaftliche Ort der Photographie
1.1 Photographie als ästhetische Praxis ihrer Zeit
1.2 Zur Situiertheit theoretischer Auffassungen von Photographie
1.3 Der gesellschaftliche Ort der im Bild aufgehobenen Affekte
2. Photographie – eine spezielle Mikrologie des Wirklichen
2.1 Erfassung des Besonderen und Einzelnen
2.2 Bild-Begriffe und -Ideologien
2.3 Der diskursive Charakter der segmentierenden Photographie
3. Die Photographie im Fokus der (Neuen) Phänomenologie
3.1 Die Situiertheit der Bilder
3.2 Das Einzelne in seinem Verhältnis zum Ganzen
3.3 Erkenntnistheoretische Pfade der Bildaneignung
3.4 Bild-Begegnungen
3.5 Durch Bilder denken und das Üben des Hinsehens
4. Die Bedeutung des Technischen
4.1 Technikgeschichte der Photographie
4.2 Ausdrucksverstehendes Bilderleben und Erkenntnis
4.3 Das Schnelle und das Langsame
4.4 Photoapparate und ihre Programme
4.5 Der technische Apparat im Spiegel von Zivilisations- und Kulturkritik
5. Die Zeitlichkeit
6. Auf dem Grat der Rationalitäten
6.1 Das eine und das andere – transrationale Brückenschläge im Allgemeinen
6.2 Bild – Rede – Bild
6.3 Koexistenzen
6.4 Das Punctum bei Roland Barthes
6.5 Die produktive Verfehlung – das Rauschen
6.6 Phänomenologische Herausforderungen
7. Das Sichtbare und das Unsichtbare
7.1 Das Luzide, Verschwommene und Entzogene
7.2 Mimetische Annäherung statt Bildgläubigkeit
7.3 Die Darstellung des Verdeckten – Optionen und Grenzen
8. Photographie als Resonanz- und Explikationsmedium
8.1 Der Blick als Resonanzachse
8.2 Resonanz und das Ähnliche
9. Photographie und Atmosphäre
9.1 Das im Bild Fixierte und das im Leben Strömende
9.2 Die Transzendenz der Bilder
9.3 Zur Verbildlichung aktueller und zuständlicher Situationen
9.4 Die Produktion von Bildern und die Bedeutung von Erinnerung, Imagination und Gefühl
10. Gesten des Zeigens
10.1 Zeigen und sprechen
10.2 Der lenkende Hinweis der Bildunterschriften
11. Bildarchive der Erinnerung
11.1 Zur Zeitlichkeit bildgestützter Erinnerung
11.2 Die dokumentarische Photographie als spezifisches Erinnerungsmedium
12. Zwischen Verführung und Gabe
12.1 Das photographische Bild als dissuasives Medium
12.2 Das photographische Bild als Gabe
13. Die Stadt und die Photographie
13.1 Die Photographie und die Stadt – die Stadt und ihre Photographie
13.2 Die Photographie der Architektur und die Stadt der Architekturphotographie
14. Bilder verstehen – ein mimetischer Prozess
14.1 Die Photographie als Gegenstand der Interpretation
14.2 Die methodisch hoch regulierte Interpretation von Photographien
14.3 Die phänomenologische Aus- und Eindrucksmacht der Photographie
14.4 Die »weckende« Funktion überraschender Bilder
Teil II: Das photographische Bild in der Phänomenologie: Autopsien in fünf Feldern
Zum Aufbau des zweiten Teiles
Kapitel II.1:
Kapitel II.2:
Kapitel II.3:
Kapitel II.4:
Kapitel II.5:
II.1 Garagen
Garagen als umbaute Stellplätze
Anmerkungen zur Aufnahmesituation der Photographien
Phänomenologische Durchquerung
Verfallende Garagen
Doppelgaragen und Garagengruppen
Garagenhöfe
Graffiti-Garagen
II.2 Ein Stadtquartier im Niedergang
Das Fish Doc-Quartier in Grimsby (GB)
Anmerkungen zur Aufnahmesituation der Photographien
Phänomenologische Durchquerung
II.3 Schiffshäute
Wände/Häute
Anmerkungen zur Aufnahmesituation der Photographien
Phänomenologische Annäherungen
Das Flache
Spuren
Farben
Material
II.4 Krematorium
Das Krematorium: ein transversaler Raum
Anmerkungen zur Aufnahmesituation
Phänomenologische Annäherungen
II.5 Naturbegräbnisplatz
Ein Naturbegräbnisplatz als semi-heterotopologischer Raum
Anmerkungen zur Aufnahmesituation
Phänomenologische Annäherungen
Abschließende Bemerkungen
Literaturverzeichnis
Abbildungsverzeichnis
Stichwortverzeichnis
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Photographie und Phänomenologie: Mikrologien räumlichen Erlebens
 9783495823750, 9783495491287

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Jürgen Hasse

Photographie und Phänomenologie Mikrologien räumlichen Erlebens

B

https://doi.org/10.5771/9783495823750 .

Jürgen Hasse Photographie und Phänomenologie

VERLAG KARL ALBER

A

https://doi.org/10.5771/9783495823750 .

Jürgen Hasse Photography and Phenomenology Micrologies of spatial experience Volume 3 Photographs make something visible while appealing to feelings. They show the most »infra-ordinary« and challenge our unquestioned relations to the self and the world. Images do not »speak« in the sense of literal speech; they rather express points of view by aesthetic means in order to establish a discourse. By reflecting subjective perceptions and thus surprising people by what others have seen, they become impressive. In 14 chapters, volume 3 of Micrologies of Spatial Experience explores the epistemological potential of photography in the focus of phenomenology. One part of the pictures concretizes ways of communicating social situations in five thematic fields (garages, urban quarters, ship skins and thanatological spaces).

The author: Jürgen Hasse, born 1949, Professor emeritus at the Institute of Human Geography at Johann Wolfgang Goethe University in Frankfurt am Main. Specialist field: Spatial socialization of humans, spatial and environmental perception, phenomenological urban research, the relationship between humans and nature, aesthetics.

https://doi.org/10.5771/9783495823750 .

Jürgen Hasse Photographie und Phänomenologie Mikrologien räumlichen Erlebens Band 3 Photographien machen sichtbar und sprechen Gefühle an. Sie geben noch das Infra-Gewöhnlichste zu sehen und fordern das Bedenken unhinterfragter Selbst- und Weltverhältnisse heraus. Bilder »sprechen« zwar nicht im Sinne wörtlicher Rede; aber sie äußern Standpunkte mit ästhetischen Mitteln und münden in den Diskurs. Indem sie subjektive Wahrnehmungen spiegeln und damit überraschen, was andere gesehen haben, werden sie eindrücklich. In 14 Kapiteln geht der Band 3 der Mikrologien räumlichen Erlebens dem erkenntnistheoretischen Potential der Photographie im Fokus der Phänomenologie nach. Ein Bildteil konkretisiert in fünf thematischen Feldern (Garagen, Stadtquartiere, Schiffshäute und thanatologische Räume) Wege der Kommunikation gesellschaftlicher Situationen.

Der Autor: Jürgen Hasse, geb. 1949, Professor emeritus am Institut für Humangeographie der Johann Wolfgang Goethe-Universität in Frankfurt am Main. Arbeitsgebiete: Räumliche Vergesellschaftung des Menschen, Raum- und Umweltwahrnehmung, phänomenologische Stadtforschung, Mensch-Natur-Verhältnisse, Ästhetik.

https://doi.org/10.5771/9783495823750 .

https://doi.org/10.5771/9783495823750 .

Jürgen Hasse

Photographie und Phänomenologie Mikrologien räumlichen Erlebens Band 3

Verlag Karl Alber Freiburg / München

https://doi.org/10.5771/9783495823750 .

Originalausgabe © VERLAG KARL ALBER in der Verlag Herder GmbH, Freiburg / München 2020 Alle Rechte vorbehalten www.verlag-alber.de Coverfoto: © Jürgen Hasse Satz und PDF-E-Book: SatzWeise, Bad Wünnenberg Herstellung: Těšínská Tiskárna a. s., Český Těšín Printed in the Czech Republic ISBN (Buch) 978-3-495-49128-7 ISBN (PDF-E-Book) 978-3-495-82375-0

https://doi.org/10.5771/9783495823750 .

Inhalt

Einleitung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

11

Teil I: Das photographische Bild in der Phänomenologie: Theoretische Orientierungen 1. Der gesellschaftliche Ort der Photographie . . . . . 1.1 Photographie als ästhetische Praxis ihrer Zeit . . . 1.2 Zur Situiertheit theoretischer Auffassungen von Photographie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1.3 Der gesellschaftliche Ort der im Bild aufgehobenen Affekte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

. . . . . .

21 22

. . .

28

. . .

32

Photographie – eine spezielle Mikrologie des Wirklichen . Erfassung des Besonderen und Einzelnen . . . . . . . . Bild-Begriffe und -ideologien . . . . . . . . . . . . . . Der diskursive Charakter der segmentierenden Photographie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

35 35 38

3. 3.1 3.2 3.3 3.4 3.5

Die Photographie im Fokus der (Neuen) Phänomenologie Die Situiertheit der Bilder . . . . . . . . . . . . . . . Das Einzelne in seinem Verhältnis zum Ganzen . . . . Erkenntnistheoretische Pfade der Bildaneignung . . . . Bild-Begegnungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Durch Bilder denken und das Üben des Hinsehens . . .

. . . . . .

47 48 52 54 60 62

4. 4.1 4.2 4.3 4.4

Die Bedeutung des Technischen . . . . . . . . . . . Technikgeschichte der Photographie . . . . . . . . Ausdrucksverstehendes Bilderleben und Erkenntnis Das Schnelle und das Langsame . . . . . . . . . . Photoapparate und ihre Programme . . . . . . . .

. . . . .

69 71 74 75 76

2. 2.1 2.2 2.3

. . . . .

. . . . .

42

7 https://doi.org/10.5771/9783495823750 .

Inhalt

4.5 Der technische Apparat im Spiegel von Zivilisations- und Kulturkritik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

80

5.

Die Zeitlichkeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

85

6. Auf dem Grat der Rationalitäten . . . . . . . . . . . . . 6.1 Das eine und das andere – transrationale Brückenschläge im Allgemeinen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 6.2 Bild – Rede – Bild . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 6.3 Koexistenzen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 6.4 Das Punctum bei Roland Barthes . . . . . . . . . . . . 6.5 Die produktive Verfehlung – das Rauschen . . . . . . . 6.6 Phänomenologische Herausforderungen . . . . . . . . .

93 95 99 108 110 115 119

7. 7.1 7.2 7.3

Das Sichtbare und das Unsichtbare . . . . . . . . . . . . Das Luzide, Verschwommene und Entzogene . . . . . . Mimetische Annäherung statt Bildgläubigkeit . . . . . . Die Darstellung des Verdeckten – Optionen und Grenzen .

124 125 129 131

8. Photographie als Resonanz- und Explikationsmedium . . . 8.1 Der Blick als Resonanzachse . . . . . . . . . . . . . . . 8.2 Resonanz und das Ähnliche . . . . . . . . . . . . . . .

135 136 142

9. 9.1 9.2 9.3

Photographie und Atmosphäre . . . . . . . . . . . Das im Bild Fixierte und das im Leben Strömende . Die Transzendenz der Bilder . . . . . . . . . . . . Zur Verbildlichung aktueller und zuständlicher Situationen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 9.4 Die Produktion von Bildern und die Bedeutung von Erinnerung, Imagination und Gefühl . . . . . . .

. . . 148 . . . 149 . . . 152 . . . 156 . . . 158

10. Gesten des Zeigens . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 10.1 Zeigen und sprechen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 10.2 Der lenkende Hinweis der Bildunterschriften . . . . . .

163 168 171

11. Bildarchive der Erinnerung . . . . . . . . . . . . . . . . 11.1 Zur Zeitlichkeit bildgestützter Erinnerung . . . . . . . . 11.2 Die dokumentarische Photographie als spezifisches Erinnerungsmedium . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

176 178

8 https://doi.org/10.5771/9783495823750 .

186

Inhalt

12. Zwischen Verführung und Gabe . . . . . . . . . . . . . . 12.1 Das photographische Bild als dissuasives Medium . . . . 12.2 Das photographische Bild als Gabe . . . . . . . . . . . .

192 193 195

13. Die Stadt und die Photographie . . . . . . . . . . . . . . 13.1 Die Photographie und die Stadt – die Stadt und ihre Photographie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 13.2 Die Photographie der Architektur und die Stadt der Architekturphotographie . . . . . . . . . . . . . . . .

201

14. Bilder verstehen – ein mimetischer Prozess . . . . . . 14.1 Die Photographie als Gegenstand der Interpretation . 14.2 Die methodisch hoch regulierte Interpretation von Photographien . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 14.3 Die phänomenologische Aus- und Eindrucksmacht der Photographie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 14.4 Die »weckende« Funktion überraschender Bilder . .

202 212

. . 221 . . 222 . . 225 . . 228 . . 234

Teil II: Das photographische Bild in der Phänomenologie: Autopsien in fünf Feldern II. 1 Garagen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . II. 2 Ein Stadtquartier im Niedergang II. 3 Schiffshäute

254

. . . . . . . . . . . . . 284

. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 311

II. 4 Krematorium

. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 340

II. 5 Naturbegräbnisplatz . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Abschließende Bemerkungen

356

. . . . . . . . . . . . . . . . . 373

Literaturverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

377

Abbildungsverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

388

Stichwortverzeichnis

. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 389

9 https://doi.org/10.5771/9783495823750 .

https://doi.org/10.5771/9783495823750 .

Einleitung

Bilder sind in spätmodernen Gesellschaften zu unverzichtbaren Medien der Kommunikation avanciert. Es ist vor allem die computerbasierte Integration der miniaturisierten »Kamera« ins Smartphone, der dieser Boom zu verdanken ist. Die tendenziell narzisstische Geste der Selbstinszenierung vor allen nur erdenklichen Kulissen stellt sich als eine neue soziale Praktik ästhetischer (Selbst-)Reflexivität dar. Voraussetzung des neuen Bilderbooms ist die ökonomisch, technisch wie praktisch leichte Verfügbarkeit sogenannter »Foto-Apps«. Die Perfektionierung schreitet schnell voran. Jedoch gibt es keinen sozialen Ort der psychologischen Folgenabschätzung der exponentiellen Vermehrung der Bilder, in denen sich Selbst- wie Weltverhältnisse ästhetisch spiegeln. Dieser Mangel wiegt insofern umso schwerer, als nicht nur die subjektiv relevanten (gleichsam privaten) Bildmengen expandieren, sondern das Bild auch als gesellschaftliches Kommunikationsmedium mächtiger wird. In seiner Philosophie der Visiotype hatte Uwe Pörksen die Notwendigkeit einer Kritik des Bildgebrauchs schon vor über 20 Jahren reklamiert. 1 Gegenwärtig fordert sich diese angesichts einer ubiquitären digitalen Kommunikation mit Nachdruck ein. Vor deren Hintergrund entfaltet das Bild eine immer suggestivere Macht – von der scheinbar nur privaten Bedeutung von »Selfies« bis hin zu Photographien, die selbst noch von den öffentlich-rechtlichen TV-Sendern für die Zwecke geradezu offensichtlicher ideologischer Manipulation eingesetzt werden. Der medientheoretische Kontrast von bildlicher Darstellung und wörtlicher Rede ist aber kein neues Thema. In religionsphilosophischer Sicht war das Bild schon vor Jahrhunderten ein exponiertes Streitobjekt (Bilderanbetung, Bilderverehrung, Bildervernichtung). In nahezu jeder Gesellschaftskritik sind Bilder gleichsam paradigmatische Medien, in denen sich Praktiken der Ausübung

1

Pörksen, Weltmarkt der Bilder, S. 35.

11 https://doi.org/10.5771/9783495823750 .

Einleitung

dunkler manipulativer Mächte über Menschen illustrieren 2 – vom Gemälde über das Hologramm bis zur analogen oder digital um- bzw. ganz neu »programmierten« Photographie. Bei Cynthia Fleury geraten die massenmedial ins Beliebige sprießenden Bilder zudem unter den Verdacht, gesellschaftlich sich schnell ausbreitende allgemeine Verdummung noch einmal zu beschleunigen. 3 In welchem Fokus die Kritik der Bilder bzw. einer sich zunehmend ikonographisch ausdrückenden Kultur auch betrieben wird – sie steht in einem unaufhebbaren Spannungsverhältnis zum (gesprochenen oder niedergeschriebenen) Wort. Die sich mit diesem Band stellende Aufgabe fädelt sich nicht in eine beinahe universelle Kritik von Bildgebrauchskulturen ein. Sie folgt vielmehr dem Pfad der erkenntnistheoretischen Integration des photographischen Bildes in eine phänomenologisch begründete Reflexion von Selbst- und Weltverhältnissen. Das Bild soll also – als das Andere der wörtlichen Rede sowie in seiner unaufhebbaren Beziehung zur Sprache – zu einem Gegenstand des Bedenkens werden. Es kommt aus der Perspektive der Wahrnehmung 4 in den Fokus und verbindet sich mit der Frage, welchen Beitrag das sichtbar Gemachte für die Erweiterung einer nachdenkenden Autopsie des Wirklichen leisten kann. Das Bild rückt damit in den paradigmatischen Rahmen der Mikrologien räumlichen Erlebens, der schon in den Bänden 1 und 2 aufgespannt worden ist. 5 Während Photographien dort jedoch »nur« eine illustrative Funktion hatten, sollen sie nun als Medien der Bewusstmachung von Bedeutungen und Beziehungen zum Wirklichen ins erkenntnistheoretische Zentrum rücken. Umso mehr muss an dieser Stelle eine Grenze gezogen werden. Intendiert ist keine allgemeine Bildtheorie. Sie müsste notwendig in einer so mannigfaltigen Multiperspektivität und konzeptionellen Umfänglichkeit angelegt werden, dass das hier im Fokus stehende phänomenologische Projekt aus dem Blick geriete. Jede wie auch In der »Kulturindustrie« bei Adorno und Horkheimer ist das Bild (neben dem Kinofilm und dem organisierten Freizeitspektakel) eines der manipulativsten Medien, die dem Programm einer sozialpsychologisch arrangierten Flucht vor der Wirklichkeit folgten. In einem sich prinzipiell von dieser Kritik nicht unterscheidenden Sinn formuliert Pörksen: »Das Bild eignet sich als Nasenring, an dem man leicht geführt werden kann« (ebd., S. 289). 3 Vgl. Fleury, Die Unersetzbaren. 4 Vgl. Sachs-Hombach, Bild, S. 66. 5 Vgl. Hasse, Die Aura des Einfachen, und Hasse, Märkte und ihre Atmosphären. 2

12 https://doi.org/10.5771/9783495823750 .

Zum Aufbau dieses Bandes

immer orientierte bildtheoretisch grundsätzliche Debatte führt in ein methodologisches und metatheoretisches Dickicht und damit in die Gefahr, vor lauter Bäumen den sprichwörtlichen Wald aus den Augen zu verlieren. Eine grundlegende Durchforstung dessen, was ein Bild ist oder sein könne, müsste ins medien- wie kunsttheoretische Projekt einer (postmodernen) Medienphilosophie abgleiten. Trotz dieser Abgrenzung muss die Erwartung enttäuscht werden, man könnte nun im verkleinerten Rahmen auch nur halbwegs mit überschaubaren Grenzen photographischer Bild-Begriffe rechnen. Ebenso muss der Wunsch nach einem konsistenten Begriff des photographischen Bildes unerfüllt bleiben. Im Bereich der Photographie gibt es weder eine Einfalt des Bildes, noch einen singulären Bildbegriff. Das photographische Bild bietet sich als Medium des Ausdrucks situativen Erlebens an. Die Explikation affizierender Eindrücke wird durch etwas sinnlich Erscheinendes evoziert. Die bildliche Explikation geht über die ästhetische Brücke der Bildgebung, gestaltet sich also im Moment der Aufnahme im Rahmen eines mimetischen Prozesses. Jede Bildnahme (das heißt jede anschauende Bildbetrachtung) bietet sich wiederum für den Ausdruck von Gefühlen an, die von einer im Bild sichtbar gemachten Situation geweckt werden. Daher muss auch das Bild-Erleben als Spiegel eigenen Affiziert-Seins aufgefasst werden. In der Produktion wie in der Rezeption von Photographien sind Gefühle virulent, die zu einem Bildsujet in Beziehung stehen. Sie werden von Erwartungen getragen, etwas Eindrückliches entweder produktiv in ein Bild setzen oder rezeptiv in einem bereits aufgenommenen Bild etwas wiedererkennen oder erinnern zu können, das mit individuell oder kollektiv gelebten Gefühlen geladen ist. Das gilt in Grenzen noch für die sogenannte »dokumentarische« Photographie, ist es doch vom Programm einer Dokumentation abhängig, was zu ihrem Gegenstand und damit auch zur Sache der Kommunikation von Bedeutungen werden soll (ein materielles Objekt, die Bewegung einer Menschenmenge, die Atmosphäre eines Gewitters in der Mitte einer Metropole etc.).

Zum Aufbau dieses Bandes Im Zentrum der folgenden 14 Kapitel stehen medientheoretische Fragen zum erkenntnisvermittelnden Wert der Photographie als bildgebender Methode bzw. des photographischen Bildes als Ausdrucks13 https://doi.org/10.5771/9783495823750 .

Zu den einzelnen Kapiteln des ersten Teils

und Erkenntnismedium. Die Neue Phänomenologie fungiert dabei als integrale Wahrnehmungstheorie. Zwar folgen die einzelnen Kapitel ihrem je eigenen Thema. Grenzen zwischen ihnen lassen sich jedoch oft nur schwer ziehen. Das Technische der Photographie drückt sich in einer spezifischen Zeitlichkeit des fixierten Bildes aus, und das zwischen Sichtbarkeit und Unsichtbarkeit flüchtige Sujet einer Aufnahme kehrt thematisch in der phänomenologischen Debatte um die photographische Darstellbarkeit von Atmosphären wieder. Überschneidungen in der erkenntnistheoretischen Reflexion der Photographie wie ihrer Erzeugnisse sind unvermeidbar. Fließende Ränder bewirken zum einen schwimmende Übergänge, zum anderen eine Form der Redundanz, die das Argument einer besseren Lesbarkeit für sich in Anspruch nehmen kann. Redundanzen gehen schließlich mit einem insofern additiven Aufbau des Bandes einher, als die Kapitel zwar in einem sich wechselseitig ergänzenden Zusammenhang stehen, perspektivisch aber auch je eigenständige Wege zum Thema anbieten.

Zu den einzelnen Kapiteln des ersten Teils Das erste Kapitel setzt sich mit der gesellschaftlichen Situierung der Photographie auseinander. Diese allgemeine Orientierung geht jeder phänomenologisch speziellen Fokussierung theoretischer Fragen der Photographie insofern voraus, als diese a priori nur vor dem gesellschaftlichen Hintergrund der zu einer Zeit herrschenden technischen und ästhetischen Normen der Bildgebung wie der Bildrezeption bzw. Bildnahme verstanden werden kann. Das zweite Kapitel bahnt die phänomenologische Perspektive der Methode der Mikrologien an. Im Blick auf die historische Entwicklung der Photographie wie ihrer Kritik wird ihre problematische Ambivalenz zum Thema. Auf der einen Seite fixiert sie mit technischen Mitteln, was sich visuell erfassen lässt; auf der anderen Seite öffnet sie den Blick auf eine Sphäre der Bedeutungen, welche sich leiblich zu spüren geben. Was auch immer ein Bild dem Blick anbietet – es fordert die Übung leiblicher Kommunikation, – entweder bezogen auf Wirklichkeit, die ins Bild gesetzt werden soll, oder den Ausdruck eines erscheinenden Bildes. Eine Einordnung relevanter bildtheoretischer Ansätze in die Phänomenologie erfolgt im dritten Kapitel. Photographie wird hier 14 https://doi.org/10.5771/9783495823750 .

Zu den einzelnen Kapiteln des ersten Teils

als Medium erörtert, in dem sich eindrücklich gewordene Situationen ästhetisch explizieren lassen. Jedes Bild ist zwar eine visuelle Abstraktion von Wirklichem. Dennoch vermag es Verdecktes, Ausgeblendetes und Hintergründiges bewusst zu machen. Die Photographie steht produktiv wie rezeptiv auf einer Schwelle. Sie macht sichtbar und sie entzieht, sie verführt ins (allzu) einfache Objektverstehen und sie verrätselt das scheinbar Offensichtliche. Für das Verstehen von Prozessen der Bildgebung wie der Bildnahme ist die Situiertheit des produzierenden wie rezipierenden Subjekts von zentraler phänomenologischer Bedeutsamkeit. Sowohl die Aufnahme als auch die Bildbetrachtung lassen sich schließlich als je eigenartige Formen von »Begegnung« auffassen. Stets ist dabei zwischen der Situierung eines Bildes und der Situierung des Bildverstehens zu unterscheiden. Die ästhetische Praxis der Photographie basiert auf lichttechnischen und -chemischen oder computertechischen Verfahren. Die Bedeutung des Technischen im Akt der Bildgebung wie der Aneignung entwickelter Bilder ist Thema des vierten Kapitels. Es war in der Geschichte der Modernisierung und Automatisierung des Photoapparates vor allem die Umstandslosigkeit seiner Handhabung, die seinem gedankenlosen Gebrauch entgegenkam. Von phänomenologischem Interesse ist die Photographie als Medium der Steigerung des Bewusstseins von Verfahren der Bildgebung wie der Bildnahme. In seinen mannigfaltigen Implikationen bewusst gemachtes Photographieren fördert die Aufmerksamkeit, das Denken in Zwischentönen und das Sprechen-Können über Eindrücke. Aber jedes Bild ist auch »nur« Spiegel der Technik, die es letztlich ermöglicht. Ein Charakteristikum, das in jeder medientheoretischen Debatte zumindest mitschwingt, ist die besondere Zeitlichkeit der Bilder. Das fünfte Kapitel diskutiert explizit die dem photographischen Bild eigene Herstellung heterochroner Beziehungen zum Wirklichen. Insofern bringt es eine Grenzsituation zur Anschauung, als das sichtbar Gemachte immer schon der Vergangenheit angehört, sobald es sich dem Blick zeigt – auch dann, wenn es mit großer massenmedialer Eindringlichkeit das Denken und Fühlen der Menschen (um-) stimmt. Das sechste Kapitel widmet sich explizit (und detaillierter als in den anderen Kapiteln) theoretisch grundsätzlichen Überlegungen zu der wiederkehrenden Frage der »Stofflichkeit« der Bilder. Auf der einen Seite ist das Bild ein ästhetisches Medium, auf der anderen eines der diskursiven Reflexion. Die sich daraus ergebende Spannung 15 https://doi.org/10.5771/9783495823750 .

Zu den einzelnen Kapiteln des ersten Teils

setzt es auf einen Grat der Rationalitäten. Gerade in der Unüberwindbarkeit dieser Grenze erweist es sich als überaus produktiv. Es fördert die Kreativität und fordert die wörtliche Rede heraus. Das Sichtbare steht aber nicht nur dem Sagbaren gegenüber, sondern auch dem Geheimnisvollen, Verrätselten und Unsagbaren. Jeder Annäherung ans Bild bleibt das letztendliche Verstehen dessen versagt, was darin sichtbar wird. Es steckt in einem produktiven Sinne in einem Rauschen fest – trotz aller noch so großen technischen Perfektion. Die phänomenologische Reflexion fördert die tentative Annäherung an ein situatives Empfinden, dessen Essenz sich ästhetisch im Bild darstellt. Ein weiteres, jede theoretische Debatte um die Photographie durchwirkendes Thema ist dem zwischen Sichtbarkeit und Unsichtbarkeit bestendenden Verhältnis zum Sujet eines Bildes gewidmet. Das siebte Kapitel unterscheidet die verschiedenen Ebenen, auf denen eine Photographie der Wahrnehmung zugänglich wird. Davon sind technische Fragen der Abbildungsparameter nicht zu trennen. Was man mit den Augen sehen kann, muss jedoch nicht mit der atmosphärischen »Genauigkeit« einer Aufnahme identisch sein. Photographien sind, indem sie eine ästhetische Beziehung zur Wirklichkeit herstellen, Medien der Resonanz. Diese wird in Kapitel acht in den Chiffren bildlicher Explikation eindrücklich gewordener Situation gesehen. Was der technisch vermittelte und sich im photographischen Bild ausdrückende Blick zu sehen gibt, kann nie mit dem identisch sein, was zur Aufnahme einer Referenzwirklichkeit motiviert hat. Jedes Bild kann lediglich Ähnlichkeitsbeziehungen herstellen. Indem es also Essentielles weglassen muss, bietet es sich als Gegenstand des produktiven Streits über Wirklichkeit an. Die Herausforderungen in der sensiblen Handhabung der Kamera spitzen sich im Bereich der Atmosphären zu. Das neunte Kapitel behandelt ein mehrschichtiges Profil. Technische Belange stehen dabei nicht an erster Stelle, sondern solche der aufmerksamen Einstimmung auf den affektiven Gehalt von Situationen. Die von ihnen ausstrahlenden Atmosphären sind komplex, aber auch konkret. Umso mehr reklamiert sich in der bildlichen Erfassung ein Sensorium für transversale Übergänge. Was in und von einer Situation erlebt wird, bildet einen Rohstoff der Wahrnehmung, welcher sich – im Medium leiblicher Kommunikation – der Übertragung ins Bild anbietet. Nur wenn dieser Sprung gelingt, kann eine Photographie sichtbar machen, was im engeren Sinne der visuellen Wahrnehmung entzogen ist. 16 https://doi.org/10.5771/9783495823750 .

Zu den einzelnen Kapiteln des ersten Teils

Photographien können schließlich als Medien des Zeigens aufgefasst werden. Was allzu evident zu sein scheint, erweist sich bei genauerer Betrachtung als vertrackt, unter anderem weil »Zeigen« die Frage nach einem Zeigenden impliziert. Das zehnte Kapitel nimmt Spuren aktiven, intentionalen, hinweisenden Zeigens ebenso auf wie eines Sich-selbst-etwas-Zeigens. Es geht nicht zuletzt der Frage nach, inwieweit das sich performativ ereignende Erscheinen eines Bildes Ausdruck eines Sich-selbst-Zeigens sein könnte. Schließlich wirft der linguistic turn die strittige Frage auf, ob jedes (ästhetische) Bilderfassen nicht a priori schon sprachlich formatiert ist. Photographien sind Erinnerungsmedien par excellence. Sie werden für die Rekonstitution von Vorstellungen und Gefühlen aufgenommen und schließlich in der Erwartung betrachtet, dass sich vergangene Gedanken und Gefühle auftauen oder in erwünschter Weise wecken lassen. Ihre Funktion unterscheidet sich je nach der Einbettung in eine ästhetische Praxis. Mehr als nur graduelle Unterschiede bestehen zwischen privater Nutzung und professionellem Gebrauch zum Beispiel im amtlichen Denkmalschutz oder in der Arbeit kommunaler Stadtarchive. Das elfte Kapitel stellt in diesem Rahmen auch die Frage (nach den Dilemmata) der dokumentarischen Photographie zur Diskussion. Dokumentieren Bilder das Gezeigte oder nicht vielmehr die aktuelle Facette einer affektlogischen Beziehung zu einem Gegenstand im Moment einer Aufnahme? Das Kapitel zwölf spannt eine polare Beziehung auf, die im gestischen Bildausdruck emissionsspezifische Differenzierungen nahelegt. Zum einen sind Photographien – in besonderer Weise in ihrer massenmedialen Instrumentalisierung – suggestive und sedierende Medien. Sie dienen der Verführung wie der Ablenkung, aber auch der nüchternen »sachlichen« Information. Was auf Bildern zu sehen ist, bietet sich angesichts der Vielschichtigkeit des Nicht-Sichtbaren zur Verknüpfung mit »fremdem« Sinn an. Daneben lässt sich das photographische Bild aber auch als Gabe auffassen. Als etwas, das sich im bildlichen Erscheinen gibt und Nachdenklichkeit erzeugt. Deren Fruchtbarkeit entfaltet sich im Üben des Denkens. Die Gabe ist insofern das Andere der Verführung, als sie nichts will – keinen Ausgleich, keine Gegenleistung und keinen Preis. Städte sind in der Imagination der Menschen stets an ihre Raum- und Ortsbilder gebunden. Bewohner, Touristen wie ansiedlungsinteressierte Unternehmen machen sich aber nicht oder nur bedingt ihr eigenes Bild; sie folgen meistens zunächst den in disperser 17 https://doi.org/10.5771/9783495823750 .

Zu den einzelnen Kapiteln des ersten Teils

Weise zirkulierenden Bildern der Print- und TV-Medien sowie in zunehmendem Maße der Bilderflut des Internet. Das dreizehnte Kapitel wirft einen Blick auf Wechselwirkungsverhältnisse zwischen Stadt und Photographie. Zum einen gibt es photographische Bilder der Stadt. In ihnen geht Architektur im Kontext urbaner Lebendigkeit auf. Es gibt daneben aber auch die Architekturphotographie. Hier ist es nicht die Stadt, die im Erscheinen eines ihrer Quartiere ins Bild gelangt, sondern (in einem mikrologischen Sinne) das Haus, der Kirchturm, die Brücke bzw. das einzelne architektonische Objekt. In beiden Modi des Ästhetischen wird ein je eigener Raum zum Objekt des Zeigens. Das letzte (vierzehnte) Kapitel setzt sich mit der Photographie als Gegenstand der Interpretation auseinander. Im phänomenologischen Fokus stellt sich die Anwendung systematisch und darin zergliedernder Analysekategorien als wenig ertragreich dar. Favorisiert wird deshalb zunächst der Weg der intuitiv wie assoziativ sich vortastenden Annäherung. Die sich auf der Basis leiblich-kommunikativer Beziehungen differenzierende Aufmerksamkeit arbeitet eher verdeckte als offen zu Tage liegende Bedeutungen heraus. Sowohl im Moment einer Aufnahme wie in dem des angestrebten Bildverstehens aktualisieren sich Beziehungen zu umgebungsspezifischen Milieus in gleichsam rahmenden Gefühlen. Diese bieten sich schließlich für die segmentierende Analyse an, die ihrerseits jedoch auf den ganzheitlichen Ausdruck einer Photographie bezogen bleibt. Der zweite Teil des Bandes gliedert sich in fünf Bildkapitel. Eine theoretische Einleitung ist ihnen vorangestellt. Die jeweiligen Bildserien konkretisieren an unterschiedlichen Beispielen die phänomenologische Explikation von Eindrücken im Medium des photographischen Bildes. Das Bild spielt in der Perspektive der Aufnahme eine andere erkenntnisvermittelnde Rolle als in der Situation der Rezeption. Ist eine Photographie Resultat der Annäherung an das sinnlich Gegenwärtige, also ästhetisches Produkt, so expliziert sich in ihrem Ausdruck eine subjektive Beziehung zu einer erlebten »Herumwirklichkeit« 6. Wird das Bild dagegen zum Objekt der Betrachtung, fordert es einen (im Prinzip beliebigen) Rezipienten zur sprachlichen Explikation von Bild-Eindrücken heraus. Auf zwei verschiedenen Wegen werden so gegenstands- bzw. sujetspezifische Bedeutungen zur Sache subjekt- wie weltbezogenen Bedenkens. 6

Vgl. auch Dürckheim, Untersuchungen zum gelebten Raum, S. 36.

18 https://doi.org/10.5771/9783495823750 .

Teil I Das photographische Bild in der Phänomenologie: Theoretische Orientierungen

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1. Der gesellschaftliche Ort der Photographie

Was Menschen tun, die unter ihresgleichen aufgewachsen sind, hat den Geruch der Herde. Je stärker der Imperativ des »Man«, desto ähnlicher das Tun und Wollen, die Denkmuster und die Gefühlsregime. Allzumal in Fragen ästhetischer Belange des täglichen Lebens setzt sich eine heimliche Macht der Angleichung ans Ähnliche durch – vom identitätsverheißenden Tattoo bis zum idyllischen Familienfoto. Unter anderem sind es die verschiedensten ästhetischen Praktiken, die dazu dienen, dem Mitschwimmen im Verband der Herde den nötigen Vorschub zu geben. Wer vom Sog der Menge bewegt ist, will das auch zu erkennen geben, indem er etwas Charakteristisches von ihrem Wesen in sich selbst hineinkopiert. Lebensweltliches Photographieren steht als ästhetische Praktik par excellence unter dem Druck des Kollektivs, folgt sie doch dem Gebot der Anverwandlung individuellen Tuns ans Muster dessen, was viele tun. Gerade sie hat deshalb einen gesellschaftlichen Ort. Das gilt – wenn auch ganz anders – ebenso für die professionelle Photographie und in abermals anderer Weise für die der Amateure, die ihre Erzeugnisse in Wettbewerben im Spiel endloser Variationen des Ähnlichen einander zeigen. Alle Gruppen folgen ihren je eigenen Regeln, Normen, Kriterien der Anerkennung und nicht zuletzt Ritualen der Selbstinszenierung. Die gesellschaftliche Disponiertheit der Photographie ist ganz wesentlich ökonomisch bestimmt. Wenn dieser Aspekt in einer phänomenologischen Reflexion erkenntnistheoretischer Potentiale der Produktion wie der Rezeption photographischer Bilder auch keine unmittelbare Rolle spielt, so muss doch darauf verwiesen werden, dass Photographie als gesellschaftliche Praxis selbst im privaten Anwendungsbereich von ökonomischen Interessen gelenkt wird. Schon die Beschaffung und Bewirtschaftung des technischen Geräts erfordert monetäre Investitionen, und mit der Erteilung eines Auftrages an ein Fotoatelier werden nicht nur ästhetische, sondern zugleich geldwerte Erwartungshorizonte aufgespannt. In der Architekturund Werbephotographie sind die Zusammenhänge allzu offensicht21 https://doi.org/10.5771/9783495823750 .

Der gesellschaftliche Ort der Photographie

lich; wer als Betreiber eines gewerbsmäßig betriebenen Ateliers mittelfristig keine Photographien verkaufen kann, wird über kurz oder lang zum Amateur. Der Künstler bedarf oft stützender Stipendien und nicht zuletzt der ökonomisch motivierten Kooperation mit einer Galerie. So gerät er selbst in ein Wirtschaftssystem monetärer Werte hinein, und dies noch dann, wenn die Werke in den offenen Widerspruch zur Rationalität des Kapitalismus treten. Es ist in der Geschichte der Photographie schon in der frühen Zeit des 19. Jahrhunderts belegt, dass selbst bekannte Photographen schnell in ökonomische Not geraten konnten, wenn sie keine Absatzmärkte für ihre Arbeiten erschließen konnten. Der Erfolg »guter« Photographie wird immer auch (wenn nicht ausschließlich) am Geld gemessen, das eine Aufnahme durch ihren Verkauf einbringen kann. Umso mehr ist es bemerkenswert, dass die ökonomische Seite der Photographie in der Theorie über Photographie nur eine eher marginale Rolle spielt.

1.1 Photographie als ästhetische Praxis ihrer Zeit Die Photographie ist a priori gesellschaftlich gerahmt. So sind auch Photographen wie Photographien Kinder ihrer Zeit, und das in jeder Hinsicht: Von den Techniken der Produktion bis zu subkulturellen Rezeptionsreflexen. Schon die wechselnde Mode optischer Unschärfe weist darauf hin, dass Bildeigenschaften, die scheinbar nur Folge technischer Abläufe sind, als Ausdruck eines ästhetischen Stils meistens kulturell codiert sind. 1 Weil die mit Smartphones gemachten Bilder in der Gegenwart ubiquitärer High-Tech-Kommunikationsmedien in aller Regel automatisch technisch mindestens zufriedenstellend und das heißt dann auch »gestochen scharf« sind, haben formale Merkmale der Bildqualität prinzipiell auch wenig mit technischer oder ästhetischer Kompetenz zu tun. Wie Bilder aussehen, ist vielmehr Ausdruck des Umstandes, dass es beinahe unmöglich ist, mit gänzlich automatisierten Applikationen keine »perfekten« Aufnahmen zu machen. Gewissermaßen »umgekehrt« lässt sich aber auch sagen, dass das maschinistische Programm des Apparats (das technische Dispositiv) in einer ästhetische Norm der Alltagskultur wurzelt, wonach unter anderem die »scharfe« Photographie als erstrebenswert gilt und das verschwommene Bild als fehlerhaft und 1

Vgl. Ullrich, Die Geschichte der Unschärfe, S. 8.

22 https://doi.org/10.5771/9783495823750 .

Photographie als ästhetische Praxis ihrer Zeit

unbrauchbar in seinem Wert gemindert wird. Nur in Kunst und professioneller Photographie ist das mitunter anders. Dort ist die Differenzierung zwischen absichtlich scharfen und unscharfen Bildern in besonderer Weise Spiegel ästhetischer Präliminarien kreativer Bildgestaltung. Nicht nur Bilder entstehen, auch Sichtweisen werden produziert. Der Zusammenhang zwischen dem, was man erkennt und dem, was man (noch) nicht kennt, ist prinzipiell offen. Im Verstehen von Eindrücken muss man sich ans bereits Gewusste halten, zum anderen aber auch offen sein gegenüber dem, wofür man noch keine Deutungsschablonen hat. Wäre das Wahrnehmungsvermögen geschlossen, könnte es erstens nicht entstehen und wäre zweitens auch nicht in der Lage, sich situationsgemäß zu erweitern. Die Grenzen zwischen dem, was man »sicher« kennt (oder zu kennen glaubt) und dem, was zunächst irritiert, vielleicht weil etwas an ihm ganz und gar neu erscheint, sind fließend. Vorausgesetzt ist, dass jedes Erscheinen auf eine Resonanz der Betroffenheit stößt; ohne sie gäbe es keine Aufmerksamkeit und Erscheinen bliebe etwas allein Virtuelles. Zu Recht macht Ludwik Fleck deshalb auch auf die Macht vorhandener epistemischer Strukturen aufmerksam, die wie Orientierung vermittelnde Schablonen funktionieren. Von den Routinen des Erkennens werden nicht nur »einfache« dingliche Eigenschaften erfasst (z. B. etwas Hölzernes oder Metallenes), sondern auch komplexere Situationen, die erst mithilfe ganzer Ordnungen spezifischen (Vor-) Wissens verstanden werden können (z. B. die Geschehensverläufe auf einem ganz und gar banal erscheinenden Markt 2). Komplexe Zusammenhänge gibt es nicht erst in den Wissenschaften, sondern schon in infra-gewöhnlichen Situationen des täglichen Lebens. Sie zeigen sich in performativen Augenblicken des Lebens, aber auch in Photographien, die sichtbar machen, was es zu einer bestimmten Zeit an einer Stelle im Raum gegeben hat. Was wir erkennen und uns als dieses oder jenes erklären, ist in besonderer Weise ans kollektive Vermögen der Wahrnehmung gebunden, spiegelt also gesellschaftliche sowie gruppenspezifische Muster wider, mit deren Hilfe die Menschen Dinge und Situationen verstehen. Das, was wir auf diese Weise »sehen« können, ist offensichtlich auch Produkt weltanschaulicher sowie »intellektueller Moden« 3. Dies ließe sich für 2 3

Vgl. dazu Hasse, Märkte und ihre Atmosphären. Fleck, Schauen, Sehen, Wissen, S. 309.

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Der gesellschaftliche Ort der Photographie

die Wissenschaften am Beispiel erziehungswissenschaftlicher und soziologischer Debatten, die unter einem mächtigen ideologischen Einfluss stehen und mit dem Wandel gesellschaftlicher und politischer Werte schnell wechseln, kontrastreich zeigen. Grundsätzlich steht der photographische Zugriff auf die gesellschaftlich formatierte Welt zutiefst in den Sedimenten subjektiver und kollektiver Erfahrungsschichten: »Aber wenn das Sehen selbst ein Produkt der Erfahrung und der Akkulturation ist – einschließlich der Erfahrung des Bildermachens –, dann ist das, womit wir die bildliche Darstellung vergleichen, in keiner Weise eine nackte Wirklichkeit, sondern eine Welt, die bereits in unsere Repräsentationssysteme gekleidet ist.« 4 Eindrückliche Beispiele für die Wege der Einbettung von Photographien in ideologische Klischees liefern die Arbeiten von Alexander Michailowitsch Rodtschenko (1891–1956). Sie sahen sich der medialen Durchsetzung des revolutionspolitischen Programms der UdSSR verpflichtet. Auch die sogenannte »Sozialphotographie« 5, die in den 1970er Jahren Ausdruck des Zeitgeistes der damaligen Bundesrepublik Deutschland war, darf als ein Bildprojekt zur Durchsetzung ideologischer Deutungen gesellschaftlicher Verhältnisse verstanden werden. Bestimmte Sichtweisen haben »ihre Zeit«. Das gilt nicht nur für das Fühlen und Denken in Begriffen, sondern auch für die Produktion und Rezeption von Bildern. Es muss schon deshalb Übergänge zwischen einer diskursiven und einer ästhetischen Rationalität geben, weil das (scheinbar rein kognitive) Denken mit komplementären Gefühlen synchronisiert werden muss und umgekehrt. Gesellschaftliche Sichtweisen wurzeln (wenn auch anders als wissenschaftliche Theorien) in mächtigen Imperativen eines So-und-nicht-anders-Verstehens. Pörksen hat am Beispiel der Visiotype gezeigt, dass und wie Bilder als epistemische Fähren fungieren. Fleck sprach (noch diesseits der Logik der Bilder) von einer leicht unterschätzten »Soziologie des Denkens«. Je besser sie von politischen Dämagogen und Ideologen gekannt und missbraucht wird, desto »schlechter kommt die ganze Menschheit dabei weg.« 6 Das Denken war nie von Bildern zu trennen. Es produziert sie und nimmt sie als ästhetische Brücken des Verstehens in sich auf. In der Gegenwart steht die Photographie mehr 4 5 6

Mitchell, Bildtheorie, S. 65. Vgl. Günter, Fotografie als Waffe. Fleck, Schauen, Sehen, Wissen, S. 314.

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Photographie als ästhetische Praxis ihrer Zeit

denn je im Zentrum der Produktion von Meinungen und politischen Positionen. »Wenige sind sich bewusst, dass die Photographie im Auge des Sturmes steht. Sie hat immer noch einen 100-prozentigen politischen und sozialen Einfluss, selbst in unserer Hyperdemokratie, in der ein Schnappschuss ein Gesetz ändern kann. […] Das Proletariat, ohne Macht über das Wort, hat sich das Bild erfunden, damit man miteinander reden kann. Und das Bild hat sich als etwas viel Schnelleres als das Wort erwiesen.« 7 Gerade die der Staatsräson nahestehenden sogenannten »öffentlich-rechtlichen« Fernsehanstalten leben in der Art und Weise, wie sie Meinungen im Medium der Bilder kommunizieren, von einer in ihrem Wertempfinden wabernden Masse, »die stets an den Grenzen des Unbewußten umherirrt.« 8 Die Masse »denkt in Bildern und das hervorgerufene Bild löst eine Folge anderer Bilder aus, ohne jeden logischen Zusammenhang mit dem ersten. […] Die Vernunft beweist die Zusammenhanglosigkeit dieser Bilder, aber die Masse beachtet sie nicht und vermengt die Zusätze ihrer entstellenden Phantasie mit dem Ereignis.« 9 Was Le Bon 1908 sagte, hat an Gültigkeit kaum eingebüßt. Allenfalls dürfte sich »die« (singuläre) Masse, von der er spricht, schon längst in Fraktale pluralisiert haben, die ihr eigenes Korrespondenzleben in einer Gesellschaft der Massen führen. Bilder werden für Erwartungen gemacht und um Erwartungshorizonte zu stimmen. So oder so – ihre politische wie lebensweltliche Bedeutsamkeit erhalten sie erst vor dem Hintergrund eingestellter Erwartungen. Die von George W. Bush zur Legitimierung des Irak-Krieges herangezogenen Fälschungen von Satellitenbildern angeblicher Fabriken für die Produktion von Chemiewaffen repräsentieren die mit politischen Kalkülen verbundenen Praktiken der Produktion von Sichtbarkeit im Namen einschlägiger Interessen. Das Urlaubsfoto, auf dem die Kinder nicht vor dem Müllcontainer, sondern neben dem blühenden Strauch stehen, symbolisiert die »harmlose« Seite der Anpassung des Bildes ans ästhetische Programm – hier an eine emotionale Bilderlebnis-Erwartung. Zur gesellschaftlichen Relevanz der Bilder gehört die subjektive Perspektive, die scheinbar »nur« individuell ist und sich in Mustern der Beliebigkeit zu verlieren scheint. Selbst wenn persönliche Präferenzen der Bildgebung 7 8 9

Meier, Unsere rasante Bildkultur macht Angst. Le Bon, Psychologie der Massen, S. 22. Ebd., S. 23.

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Der gesellschaftliche Ort der Photographie

auch scheinbar allein in Biographie und Aktualität begründet sein mögen, so sind doch alle diese Sichten auf etwas, das so oder so ins Bild gesetzt wird, auch Spiegel historisch-gesellschaftlicher Verhältnisse, die Menschen für ein bestimmtes Sehen disponieren. In besonderer Weise kann das die Porträtphotographie veranschaulichen, die – von eher geringen Variationen abgesehen – im Prinzip von ihren Anfängen bis in die Gegenwart einem relativ konstanten ästhetischen Format folgt. Auch die rituelle Verbildlichung des eigenen Selbst (im sogenannten »Selfie«) kennt nur wenig Spielräume. Massenmedial gleichsam gestanzte Schablonen der Sichtbarmachung sind beherrschend. So entstanden auch mit den von August Sander in schier zahlloser Reihe und weitgehend vereinheitlichter Geste abgebildeten Personen Bilder von Menschen, die Ernsthaftigkeit, Glaubwürdigkeit und Authentizität ausstrahlen. Sander arbeitete wie nahezu alle bekannten Photographen, die sich mit einem künstlerischen Anspruch vom Heer der massenhaften Porträt- und Hochzeitsphotographen unterschieden hatten, nach einem eigenen aber dennoch standardisierten Stil 10: So wurden die »Modelle« zum Beispiel nachhaltig angewiesen, nicht zu lachen, sondern ein überaus ernstes Gesicht zu machen. Man wird zu Recht von Modellen sprechen dürfen, weil die abgelichteten Menschen nicht spontan in vitalen Lebenssituationen photographiert wurden, obwohl die Aufnahmen doch in aller Regel in keinem Studio, sondern in authentischen sozialen Milieus stattfanden. Beherrschend war der imaginäre Hintergrund der ästhetischen Inszenierung. Dieses Formmerkmal ist jedoch nicht nur für Sander typisch; es zeichnet schon die Arbeiten von John Thomson aus dem 19. Jahrhundert aus, ebenso die von Lewis Hine, der in seiner Arbeit von einem sozialpolitischen Engagement angetrieben wurde 11, die wenigen Bilder von Eugène Atget, die nicht leeren städtischen Orten, sondern den Gewerbetreibenden und Händlern in den Straßen von Paris gewidmet waren 12 und schließlich den Porträts von Bernice Abbott 13. Menschen lachen auf all diesen Bildern lediglich in raren und geradezu begründeten Fällen; meistens ist es auch dann nur ein verhaltenes und dramaturgisch evoziertes Lächeln. Mit anderen Worten: 10 11 12 13

Vgl. Sander, Antlitz der Zeit. Vg. Hine, Men at Work. Vgl. Adam, Eugène Atget. Vgl. Van Haaftern, Einführung.

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Photographie als ästhetische Praxis ihrer Zeit

Erst der Entzug eines zum Lebensalltag gehörenden Ausdrucks stattete diesen Typ von Bildern mit einem »Echtheits«-Anspruch sowie mit einer vermeintlichen »Authentizität« aus. Der Entzug einer vielleicht nur flüchtigen aber doch lebendigen Erscheinungsweise suggeriert eine Ernsthaftigkeit, dank derer der Blick in eine Tiefe fallen kann, in der etwas Allgemeines ans Licht tritt, etwas Thesenhaftes und Abstraktes, das von individuellen Personen abgelöst ist. Kommuniziert werden im strengen Sinne des sichtbar Gemachten mehr Programme als Gestalten lebendiger Personen. Kein Mensch repräsentiert in seinem mimischen Habitus, in dem er in Aufnahmen von August Sander erscheint, in charakteristischer Weise das Bild eines Berufes oder Standes. Starre Mienen geben sich vielmehr als Spiegel eines gleichsam »befohlenen« Blickes zu verstehen. Es wäre aber zu einfach, die Inszenierung von Ernsthaftigkeit allein auf den mimischen Ausdruck von Gesichtern beschränkt zu sehen. Die Wirkung ging stets weiter; sie erzeugte eine Spannung, die sich in die leibliche Präsenz der ganzen Person in einer Weise hineingefressen hatte, dass Bilder »schockgefrosteter« Situationen entstehen konnten. Mit anderen Worten: Je mehr die bildliche Erscheinung einer Person von der Vitalität ihres Lebens abstrahierte, desto stärker rückte sie in die Nähe eines Allgemeinen. Eine ganz andere Methode praktizierte der moderne niederländische Photograph Ed van der Elsken. 14 Indem er sich mit der Kamera dem urbanen Amsterdamer Leben zuwandte, bewegte er sich selbst im lebendigen Strom der Stadt, so dass es ihm gar nicht erst möglich wurde, die Menschen ohne ihr Lachen und Lächeln, ohne ihre gestischen, habituellen und mimischen Züge sowie vitalen Ausdrucksgestalten ins Bild zu setzen. »Die Frage, was Bildlichkeit überhaupt ausmacht«, berührt nicht erst eine ästhetische Dimension, sondern schon die Verstrickung von Apparat und Interesse, denn jedes hergestellte Bild stellt einen Beitrag »zur Welterschließung« dar. 15 »Wer ein Bild sieht, sieht es nicht als Gegenstand in Kontinuität mit anderen Gegenständen in einem bestimmten Raum.« 16 Es ist aus dieser Kontinuität herausgeschnitten; der Gebrauch des Suchers hat seine wesentliche ästhetische Funktion unter anderem in der Wahrung einer gewissen ikono14 15 16

Vgl. van der Elsken, Camera in love. Bertram, Spuren von Spuren, S. 97. Ebd., S. 102.

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Der gesellschaftliche Ort der Photographie

graphischen Hygiene. Daraus folgt für Georg W. Bertram, »dass jedes Bild gerahmt ist, unabhängig davon, ob es faktisch einen Rahmen hat oder nicht.« 17 Nicht nur in den Ausdrucksformen der Kunst spiegeln sich gesellschaftliche Vorstellungen, Ideen und Ideologien. Die gesellschaftlichen Verhältnisse einer Zeit bringen sich ebenso in der lebensweltlichen Photographie zur Geltung, und noch in der scheinbar allein sachlich motivierten dokumentarischen und wissenschaftlichen Photographie, wenn auch in anderer Weise. Photographie steht spätestens dann, wenn sie in ihrer Ästhetik an kommunikative Zwecke gebunden wird (und das ist prinzipiell immer der Fall), in einem Rahmen gesellschaftlicher Werte und Normen. Mit anderen Worten: Sie wird von Affektschwellen reguliert, die weniger bewusst als autopoietisch eine lenkende Funktion haben und wie Schleusen, Weichen und Einbahnstraßen arbeiten, aber auch wie Tabuzonen.

1.2 Zur Situiertheit theoretischer Auffassungen von Photographie Wie die gesellschaftlichen Verhältnisse die Erzeugnisse von Kunst und Photographie rahmen, orientieren, disponieren und situieren, so wird die Auffassung von Photographie durch wissenschaftliche Theorien in Bahnen gelenkt. In diesem Band wird die Phänomenologie maßgeblich auf das Verständnis von Photographie und ihrer Bilder Einfluss haben. Wenngleich die Phänomenologie auch unter dem Verdacht steht, sich gegenüber gesellschaftlichen und machtpolitischen Verhältnissen paradigmatisch weitgehend zu verschließen, so muss allzumal vor dem Hintergrund der Neuen Phänomenologie insofern dieses Vorurteil relativiert werden, als gerade das Schmitz’sche System der Philosophie Situationen explizit in ihr theoretisches Zentrum stellt. Menschen leben, »indem sie aus Situationen schöpfen« 18. Dies sind ganzheitliche Gefüge, die mit ihren Sachverhalten und Programmen (oft zudem Problemen) nach Bedeutungen geordnet sind. Situationen halten die Dinge in gewisser Weise zusammen. Zwar können sie als Einzelnes verstanden werden, sind im Erleben aber doch Ausdruck eines rahmenden Ganzen. Und so folgt schon aus 17 18

Ebd. Schmitz, Situationen und Konstellationen, S. 9.

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Zur Situiertheit theoretischer Auffassungen von Photographie

dem Eingewurzelt-Sein des Menschen in persönliche und gemeinsame Situationen, dass er stets in und aus einem Rahmen vergesellschafteter Verhältnisse lebt. In diesem findet er, was ihm etwas (oder nichts) bedeutet, was er gelernt hat, als minder- oder hochwertig zu empfinden und wofür er bereit ist, viel oder gar keine Energie zu investieren. Dies heißt dann auch, dass sowohl der bildgebende Akt des Photographierens wie der bildnehmende Gebrauch materieller Photographien gesellschaftlich situiert und disponiert ist. Alles, was mit Photographie zu tun hat, muss im Spiegel gesellschaftlicher Verhältnisse verstanden werden. Das drückt sich nicht zuletzt in der Kritik der Photographie als Methode und ästhetische Praxis aus. Die Beispiele geradezu zersetzender Ideologiekritik sind vielfältig. »Linke« Gesellschaftskritik boomte in der Zeit der späten 1960er Jahre, bis sie angesichts des Aufkeimens postmodernistischer Strömungen in den 1980er Jahren allmählich schwächer wurde. Zu den prominentesten Vertretern tendenziell »linker« Herkunft dürften Susan Sontag und Pierre Bourdieu gehört haben. Ideologisch verblendete Kritiken treiben allerdings bis in die Gegenwart bemerkenswerte Blüten. Im Kanon stereotyper Medienkritik an der Photographie spielt die Parodierung der sogenannten »Knipserphotographie« eine sich stets variierende Rolle. Dabei wird selten Neues vorgetragen, fällt es doch allzu leicht, sich über die weithin unreflektierten Praktiken der Alltagsphotographie zur Erheiterung sich kritisch gebender Zeitgenossen zu erheben. Bedenklich ist dabei ein gewisser Geruch akademischer Arroganz. Diese gipfelt bei Barry King darin, dass er den knipserspezifischen »Fotokonsumismus« 19 als ein neurotisches Verhältnis zur Zeit abkanzelt. Mit weit größerer medienpolitischer Berechtigung könnte man zahllose Erzeugnisse aus dem Genre der Pressephotographie unter ideologiekritischen Beschuss nehmen, wonach geldwerte Szenen des aktuellen Zeitgeschehens zum Gegenstand eines schier unerschöpflichen Programms von Bildredaktionen zahlreicher Print- und TV-Medien werden, um (eingekleidet in »Nachrichten« und »Informationen«) Gefühle zu manipulieren. Diese lassen sich mit Bildern leichter und wirksamer kommunizieren als mit rationalen Argumenten. Systematisch arrangierte Politik der Dissuasion stellt die Ideologiekritik vor weit größere Herausforderungen als das noch so naive »Knipsen« für den privaten Gebrauch. 19

King, Über die Arbeit des Erinnerns, S. 175.

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Der gesellschaftliche Ort der Photographie

Über den »Knipser« lachte schon Max Frisch, indem er anmerkte, knipsen »frißt nur und verdaut nicht.« 20 Das gilt nicht nur für die Geste der Bildgebung, sondern in ganz ähnlicher Weise für die der Bildnahme, allzumal in Zeiten einer massenmedialen wie privaten Eutrophie der Bilder. Wie am Fließband werden sie für den schnellen Verkehr und oberflächlichen Konsum produziert. Zum Anlass vertiefender Betrachtung werden sie höchst selten. Was der vielgescholtene »Knipser« letztlich in welcher Situation aus seinen Erzeugnissen heraussieht und -denkt, hängt weniger vom Gegenstand des Abgelichteten ab, als von der Haltung des »Knipsers« zu dem, was er im Moment seiner Aufnahme gesehen hat und sich bemüht, später in der Bildbetrachtung wieder zu entdecken. Vorschnell und kategorisch urteilt Max Frisch über Knipser-Photographie: »Mehr Oberfläche gibt sie, vom Wesen aber erfaßt sie überhaupt nichts« 21. Für Frisch scheint jede ernsthafte Auseinandersetzung mit diesem photographischen Genre von Anfang an verloren. Ganz lapidar pointiert er schließlich: »Je mehr Filme entwickelt werden, umso unentwickelter bleibt die Erinnerung.« 22 Denkwürdig an der Photographie der »Knipser« ist dagegen das naheliegende wie nachvollziehbare Bedürfnis, eine aktuelle Situation für die Erinnerung im Bild zu speichern. Dies dürfte in aller Regel weit diesseits ideologischer Programme und fernab machtpolitischer Bedürfnisse geschehen und ohne auf die massenhafte Sichtweise strittiger Themen der Zeit Einfluss nehmen zu wollen. Vielleicht stehen die gewöhnlichen Photographien des täglichen Lebens der phänomenologischen Methode der Explikation von Eindrücken im Medium des Bildes viel näher, als es angesichts ihrer naiven Veranlassung scheint. King interpretiert die große Flut der gewöhnlichen, gleichsam niederen Bilder des Alltagslebens dagegen in einem akademischen Habitus als Ausdruck eines Kampfes gegen das Altern. Das folgende Zitat illustriert nicht nur die solcher Kritik zugrundeliegende Ideologie, sondern zudem die idealisierende Verdrehung dessen, was (vermeintlich) gute, also »professionelle« Photographie ausmachen soll: »In krassem Gegensatz zu professionellen Normen wird der Schnappschuß niemals als vollständige visuelle Aussage mit einer sich selbst genügenden 20 21 22

Frisch, Knipsen oder sehen?, S. 73. Ebd. Ebd., S. 71.

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Zur Situiertheit theoretischer Auffassungen von Photographie

Bedeutung gesehen, sondern als ein Anlaß für Bedeutungen, die sich durch eine mündliche Erzählung herauskristallisieren.« 23

Zum einen tut King so, als gäbe es in der professionellen Photographie keine Schnappschüsse. Zum anderen unterstellt er, dass diese insofern fragmentarisch seien, als sie einer narrativen Absicherung erst noch bedürfen. Gerade in der Pressephotographie als dem wohl größten professionellen Anwendungsfeld der Photographie ist der Schnappschuss aber besonders spektakulär und oft Bindeglied für alles Mögliche, das sich ans Bild in seiner Offenheit für viele Deutungen anhängen lässt. Eine breite Debatte um die Unverzichtbarkeit von Bildunterschriften erinnert gerade am Beispiel des Schnappschusses an die Dringlichkeit der ergänzenden Rahmung von Bildern durch das gesprochene oder geschriebene Wort. Letztlich kann es nur so gegen die tendenziell beliebige Missinterpretation geschützt werden. King geht indes davon aus, dass »alle Details die konkrete Besonderheit des darauf [auf einer Photographie, JH] Abgebildeten zum Ausdruck oder auf den Punkt bringen« 24 können. Zwar spricht Roland Barthes, auf den er sich bezieht, vom punctum (s. auch Kapitel 6.4), in dem alles Wesentliche einer Bildessenz kulminiert. Aber dieses ist etwas Ganzheitliches und keine Summe von Details. Im Übrigen dürfte noch im Falle eines noch so treffenden Punctums gelten, dass das Missverstehen potentiell jederzeit möglich ist, weil der Reduktionismus einer jeden Photographie die Schleppe situativ erscheinender Wirklichkeit mehr oder weniger abschneidet. Mit anderen Worten: Ein Punctum kann evident sein; es kann sich aber auch gerade unter Hinzuziehung von ergänzenden Erläuterungen als Fake erweisen. Deshalb hatte es Roland Barthes mit dem studium verbunden. Auf diesem Wege kommt im Umgang mit dem Bild eine ethische Rechenschaftspflicht ins Spiel. In einer kritisch reflexiven Offenlegung wären Bezüge zum Ganzen dessen herauszuarbeiten, was zur Wirklichkeit außerhalb eines Bildes gehört.

23 24

King, Über die Arbeit des Erinnerns, S. 182. Ebd., S. 202.

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Der gesellschaftliche Ort der Photographie

1.3 Der gesellschaftliche Ort der im Bild aufgehobenen Affekte Im Unterschied zu Susan Sontag, die »dem Medium [der Photographie, JH] jegliche Verbindung zur Welt abspricht, es der Manipulation und Irreführung bezichtigt und seine Betrachterinnen und Betrachter in Platons Höhle verortet, verteidigt Rautert die Photographie unermüdlich als Zugang zur Welt und als Möglichkeit, dieser Welt Erkenntnis abzuringen. Nicht etwa im Sinne eines objektiven Untersuchungsinstrumentariums, sondern im ständigen Bewusstsein des subjektiven Blicks […]« 25. Es ist gerade dieses Bewusstsein der Verwurzelung einer jeden (absichtsvoll und zielgerichtet gemachten) Photographie, welches sicherzustellen vermag, dass das Medium als Brücke zum Denken wie zur Gewahrwerdung der situationsspezifischen Lebendigkeit von Orten, Dingen und Personen erschlossen werden kann. Dabei verdankt sich die Sensibilisierung der Wahrnehmung der Herstellung neuer Aufmerksamkeiten und Sichtbeziehungen. Am Beispiel einer Ausstellung von Bruno Latour im Karlsruher Zentrum für Kunst und Medien (ZKM) weist der Humangeograph Peter Lindner auf ein transversales Vermögen von Kunstwerken hin, das in ähnlicher Weise auf die potentielle kommunikative Leistung von Photographien übertragen werden kann. »Bruno Latour and his team make use of the expressive potential of artwork to translate his thinking and present it to audience far beyond academia.« 26 Die Kunst vermittelt neue Ansichten des Wirklichen, sie stellt »erschreckende« Behauptungen auf, formuliert Irritationen oder provoziert durch die Komposition ungewohnter Ordnungen, in denen das Reale durcheinander gerät und dem Denken als etwas fremd Gemachtes zugearbeitet wird. So findet sie sich in der Rolle, »to find new ways to ›raise the world‹ by transgressing academic environments.« 27 Bemerkenswert ist einstweilen weniger der Umstand, dass Kunst die WisConze/Wilton, Der Konjunktiv der Photographie, S. 12 f. Tim Rautert ist Photograph und Hochschullehrer für Photographie, der sich in den 1960er Jahren einer Grammatik der Photographie gewidmet hat, um dem Sinn des Mediums als Methode der Kommunikation sowie ihren Gestaltungsprinzipien auf die Spur zu kommen. Als Hochschullehrer hat er sich mit medien- und photographietheoretischen Fragen befasst. 26 Lindner, Reset Modernity!, S. 209. 27 Ebd. 25

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Der gesellschaftliche Ort der im Bild aufgehobenen Affekte

senschaft (wie die Lebenswelt) in ihren tradierten Denkroutinen, -voraussetzungen wie verdeckt kommunizierten Normen zu irritieren in der Lage sein kann, sondern dass es zwischen Wissenschaft und Kunst eine produktiv-kreative aber auch instabile Grenze gibt. Im Mittelpunkt phänomenologischen Bildverstehens steht der Versuch, »das Bild nicht als Zeichen zu interpretieren, sondern in seiner besonderen Sichtbarkeit zu beschreiben« 28. Dieses Verständnis verbindet Bildtheorie deshalb auch mit Wahrnehmungstheorie. 29 Im Bild stellt sich dar, was »mit etwas, das wir kennen, Ähnlichkeit« 30 hat. Zwar kann man einem Bild semiotisierend einen Inhalt zuschreiben. Auch bietet es sich schon infolge seiner gegenstandsspezifischen Unterbestimmung für die Anhängung möglicher Bedeutungen an. Semiotik wird jedoch falsch, »wenn sie sich zum Ganzen aufbläht.« 31 Zum einen wollen und sollen Bilder nicht immer etwas bedeuten; gerade in der modernen Kunst kommunizieren sie nicht a priori Bedeutungen. Oft konstituieren sich erst in der Bildrezeption bedeutungsgenerierende Beziehungen. Indem sie sich einer ubiquitären gesellschaftlichen Welt der Zeichen und Bedeutungen aber entziehen, bewirken sie das Gegenteil. Im Sinne einer radikalisierten Semiotik könnte man das Argument stark machen, dass gerade Werke, die sich in einer semiotischen Leere präsentieren, auf eine Übermacht der Zeichen verweisen. Es gibt aber auch den Bildern zugrundeliegende Bedeutungen, die sich der semiotischen Decodierung verschließen, weil diese ohne ergänzende Narrative gar nicht ent-deckt werden können. Eine Bedeutung muss nicht im Sinne einer naiven Entstehungs-Authentizität mit dem Akt der Bildproduktion schon begründet sein! Für eine gewisse Umkehrlogik stehen all jene kreativen Gebrauchsformen der Photographie, in denen ein Bild erst dadurch in gesellschaftlich zirkulierende Sinnfelder einsickert, dass sich in seinem kulturellen Gebrauch neue projektive Sinn- und Bedeutungswelten auftun. Indem der Ort der Photographie gesellschaftlich disponiert ist, heißt das zweierlei. Zum einen: Ihre Erzeugnisse folgen in der Bedienung erwarteter Rezeptionsweisen kulturell verbreiteten Standards der Bildgebung. Zum anderen: Sie widersetzen sich solchen Standards und 28 29 30 31

Wiesing, Das Bild aus phänomenologischer Sicht, S. 154. Vgl. ebd., S. 156. Ebd., S. 158. Böhme, Das Bild als atmosphärisches Phänomen, S. 224.

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Der gesellschaftliche Ort der Photographie

öffnen gegen die Macht herrschender Normen des Verstehens Spielräume einer Ästhetik, die nicht schon auf Routinen der Bildaneignung festgelegt ist. Das Bild hat nach Waldenfels einen Nicht-Ort. Der wird jedoch nicht schon in seiner Übertragung auf einen »Gemeinort« aufgehoben; beide Bildlokalitäten bestehen beinahe unabhängig voneinander, wie das »Bildgeschehen« und das »Bilderlebnis« 32 zwei Seiten eines Prozesses sind. Die schnelle massenmediale wie kulturindustrielle aber auch interpretativ normierte und standardisierte Vereinnahmung der Bilder ist nicht hermetisch. Das Bild büßt deshalb seine Tiefe nicht ein und es wird durch Veroberflächlichung seiner potentiellen Essenz nicht beraubt. Jenen Nicht-Ort der Bilder hatte Roland Barthes als das Punctum beschrieben, als eine Art Sub- oder MetaBild, das sich hinter dem sichtbar Gemachten mehr zu spüren gibt, als dass es nach fixierten und methodisch regulierten Verfahren »sauber« entziffert werden könnte. Es ist eine Art Off des Bildes, sein Abgrund, sein Verborgenes – ein Implizites und Erschließungsbedürftiges. Das vom Sichtbaren gleichsam Geborgene entspricht jenem Affizierenden, Ansprechenden und Atmosphärischen im Bild, das die immersive Aufforderung impliziert, den deutenden Weg in die ästhetischen Tiefenschichten eines Bildes anzutreten. Der Affektbezug geht also weit über den nur visuellen Modus hinaus, in dem ein Betrachter zu einem Bild steht. Wenn Waldenfels von der »Geburt des Bildes aus dem Pathos« 33 spricht, so weist er darauf hin, dass schon die Entstehung eines Bildes in einem Affekt gründet. Das dürfte noch für das banale Familienbild gelten, das im Fotoalbum landet und nicht im klimatisierten Raum einer Galerie. Mit Schmitz ließe sich der Impuls, der den Druck auf den Auslöser vermittelt, auch als »vitaler Antrieb«, das heißt als leiblich vermittelte Handlung verstehen und damit als das Ausleben eines Ausdrucksbedürfnisses, das einem Eindruckserleben nur folgt.

32 33

Vgl. Waldenfels, Phänomenologie der Aufmerksamkeit, S. 218. Ebd., S. 225.

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2. Photographie – eine spezielle Mikrologie des Wirklichen

Photographien sind als bildliche Medien spezielle Mikrologien herumwirklichen Erlebens. 1 Das gilt jedoch nicht für automatisch entstandene Bilder wie die ordnungsbehördlichen »Schnappschüsse« einer Radarfalle. Vorausgesetzt ist ein Habitus der Bildgebung, eine Absicht, »etwas« ins Bild zu setzen, um es einer nachträglichen Betrachtung zugänglich zu machen. Photographien sind a priori auf Erinnerung angelegt. Aber sie drücken sich doch ganz anders aus als eine Beschreibung mit den Mitteln der wörtlichen Rede, eine Tonbandaufnahme von Gesprächen, Geräuschen oder lautlichen Ereignissen.

2.1 Erfassung des Besonderen und Einzelnen Wenn eine Kamera auch nur ablichten kann, was – technisch vermittelt durch das Objektiv – in ihren »Sicht«-Bereich gelangt, so arbeitet sie innerhalb ihrer Funktionsparameter doch mikrologisch. Sie fixiert das Besondere und Einzelne aus der Weltfülle der Dinge und Halbdinge 2 – die Präsenz von Personen wie die Komplexität von Situationen. Was nicht in ihrem optischen Feld liegt, fällt beinahe im wörtlichen Sinne aus dem Rahmen und wird zum Stoff möglicher anderer »Aufnahmen«. Die mikrologische Art und Weise, in der die Kamera »hinsieht«, ist zum einen technisch durch die Struktur des Apparates disponiert. Daraus erwächst zwar keine Determination, aber eine Disposition. Wenn auch niemand ein Apparate-Programm in Gänze seiSeit den 1930er Jahren taucht der Gedanke der Mikrologien auch in der methodologischen Struktur der Soziologie auf – als Mikrosoziologie, vgl. Gurvitch, Mikrosoziologie, S. 693. Im Sinne einer Art »Tiefensoziologie« strebte sie Erkenntnisse aus dem Studium mikrosozialer Elemente an. 2 Halbdinge unterscheiden sich von Volldingen nach Hermann Schmitz dadurch, dass sich nicht sagen lässt, wo sie sind, wenn sie nicht mehr da sind; vgl. Schmitz, System der Philosophie, Band III/5, § 245. 1

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Photographie – eine spezielle Mikrologie des Wirklichen

nem Willen unterwerfen kann, so lässt es sich doch kreativ an Interessen und Bilderwartungen anpassen. Das Gestell kann für bewusst gesetzte Zwecke eingespannt werden. Die Brennweite entscheidet über die »Menge« dessen, was neben- und übereinander auf einer später sichtbar werdenden Photographie zu erkennen sein wird. Das Weitwinkelobjektiv öffnet den Blick, während ihn das Teleobjekt verengt und zugleich komprimiert. Im engeren Sinne steht es der Mikrologie in anderer Weise nahe als das Weitwinkelobjektiv; es zieht die Dinge heran und gewährt Einblicke, die – je länger eine Brennweite ist, desto mehr – sichtbar machen, was das Auge mit seiner natürlichen Kraft nicht bzw. nicht so »genau« sehen könnte. Die Belichtungszeit hat einen wesentlichen Einfluss auf die bewegungsbedingte und die Wahl der Blende auf die tiefenbedingte Abbildungsschärfe (s. dazu auch Kapitel 4.1). Auf einem erkenntnistheoretischen Hintergrund leistet die Photographie einen darin ganz eigenen mikrologischen Beitrag zur Wahrnehmung, dass sie fixierend feststellt, was in Wirklichkeit einem unaufhörlichen Wandel unterworfen ist. Ihr fixierender Charakter, der jede Bewegung in die Starre verweist, bahnt eine künstliche Art der Wahrnehmung an, die frei ist von der Angst, im nächsten Moment könnte alles schon wieder anders und damit diesem Bedenken entzogen sein. Die mikrologische Funktion des Bildes bereitet die Frage vor, welche Bedeutung der Photographie im Fokus der Phänomenologie erkenntnistheoretisch zukommt? Schon zur Zeit ihrer Erfindung um die Mitte des 19. Jahrhunderts entbrannte ein intensiver Streit über ihren wissenschaftlichen Erkenntnis- und künstlerischen Ausdruckswert. Schnell bildete sich selbst zwischen Kontrahenten wie Baudelaire und Figuier ein Konsens im Hinblick auf die Ansprüche, die man an (künstlerische) Photoerzeugnisse zu stellen hatte. »Wirkliche Kunst muss geprägt sein von der Individualität und phantasievollen Interpretation ihres Schöpfers« 3. Es galt als selbstverständlich, dass eine »mechanische« Abbildung diesem Anspruch nicht gerecht werden konnte. Das dürfte ebenso für das gedankenlose »Knipsen« gelten, das aufgrund einfachster technischer Möglichkeiten in der Gegenwart von jedem planvoll-bewussten Hantieren und Agieren entbunden ist und deshalb im Prinzip keines »handwerklichen« Könnens mehr bedarf. Wenn die Photographie auch schon im 19. Jahrhundert professionellen und kritischen Anwendern als technologisch 3

Daston/Galison, Photographie als Wissenschaft und Kunst, S. 321.

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Erfassung des Besonderen und Einzelnen

wie ästhetisch ambivalentes Medium bewusst war, genoss sie in ihrem massenmedialen Gebrauch doch (bis heute) ein großes Wahrheitsvertrauen. Dieses war (und ist) insbesondere darin begründet, dass der Photograph im Akt des Photographierens den Gesetzen der Optik und in der Entwicklung seiner Filme wie der Herstellung seiner Abzüge denen der Chemie bzw. computer-maschinistischer Algorithmen unterworfen ist. Was schließlich in Gestalt eines Bildes sichtbar wird, kann in naiver Betrachtung auf »objektive« (naturwissenschaftliche) Methoden zurückgeführt werden. Die Photographie (wie schon die Daguerreotypie und Woodburytypie) erschien damit dem dunklen Verdacht weitgehend entwunden, alles könnte letztlich nur Widerschein mogelnder Interventionen cleverer Photographen sein. Das neue Medium fand schon deshalb eine prominente Aufmerksamkeit, weil seine Erzeugnisse relativierend der tendenziell beliebig agierenden »Subjektivität« des Wissenschaftlers entgegengestellt werden konnten. 4 Generell hat die Photographie mikrologischen Charakter. Sie kann nur Besonderes und Einzelnes darstellen, nie Allgemeines. Was sich mit ihren Mitteln erfassen lässt, findet sich allein auf dem Niveau des Konkreten, soweit es direkt oder indirekt der Sichtbarkeit zugänglich gemacht werden kann. Die als »objektiv« geltenden Bilder wurden vor allem in der frühen Zeit ihres sich langsam professionalisierenden Gebrauchs als etwas angesehen, das die Natur selbst in eine lichtempfindliche Schicht eingeschrieben hatte. Henry Fox Talbot nannte die Photographie den Prozess, »durch den natürliche Objekte dazu gebracht werden, sich selbst abzubilden ohne die Hilfe des Stiftes eines Künstlers« 5. Dabei wurde ihr methodologisch sogar eine gewisse »Mechanik« zugeschrieben. Besonders darin klang die Ambivalenz einer gleichzeitigen Auf- wie Abwertung durch. Was keinen individuell schöpferischen Aufwand bedeutete und in der Ausführung – in dem bis dahin bekannten Sinne – keine künstlerische Kompetenz verlangte, konnte auch nicht besonders viel wert sein. Würdigende Aufmerksamkeit fand nun, was sich der Regie und Einwirkung eines Autors entzog und »nur« als Durchschrift des Lichts verstanden werden konnte. 6 Gerade darin gründet bis heute – insbesondere im lebensweltlich-naiven Blick – die herausgehobene Eignung der Pho4 5 6

Vgl. ebd., S. 325. Zit. bei Kemp, Geschichte der Photographie, S. 14. Vgl. Daston/Galison, Photographie als Wissenschaft und Kunst, S. 325.

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Photographie – eine spezielle Mikrologie des Wirklichen

tographie für die Dokumentation. Bis in die Gegenwart wird eine kaum erschütterbare »Wahrheits«-Erwartung auf sie projiziert – trotz ihrer technologiebedingt allzu offensichtlichen Manipulierbarkeit. In der Ambivalenz der ihr zugeschriebenen Bedeutungen ist sie im Hinblick auf ihre erkenntnisvermittelnden Vermögen strittig geblieben. Fragen zur Theorie der Photographie werden vor dem Hintergrund disziplintheoretischer Zuständigkeiten heute im Wesentlichen in der Kunstwissenschaft und zunehmend in der Medienphilosophie verhandelt. Bildtheoretische Überlegungen sind überwiegend der Ästhetik zugeordnet. Angesichts des Umstandes, »dass Photographie eine Sache vieler Disziplinen geblieben ist« und sich besonders in den raumbezogenen Künsten durchgesetzt hat, spricht sich Wolfgang Kemp gegen eine Photowissenschaft im engeren Sinne aus: »Sie ist ja auch als das erste »Neue Medium« notwendig universal und relativ unbestimmt in Wesen und Wirkung.« 7 Gegen eine eindeutige disziplintheoretische Verortung spricht die Vieldeutigkeit des allgemeinen Bild-Begriffes, weshalb auch in der Photographie-Theorie keine Festlegung zu erwarten ist.

2.2 Bild-Begriffe und -Ideologien Klaus Sachs-Hombach unterscheidet drei Bild-Begriffe: erstens Bilder im engeren Sinne, die wahrnehmungsnah rezipiert werden (Gemälde, Photographien etc.), zweitens Bilder im weiteren Sinne, die zwar ebenfalls wahrnehmungsnah rezipiert werden, aber nicht »flächig, artifiziell sowie relativ dauerhaft« sind, sondern auch skulpturaler und temporärer Gestalt sein können (wie Wolkenbilder). Drittens hebt er hiervon die mentalen Bilder ab, die (wie Menschen- oder Weltbilder), nicht mehr auf eine wahrnehmungsnahe Art rezipiert werden. 8 Alle drei Bild-Begriffe sind für die theoretische Behandlung photographischer Bilder im Rahmen eines phänomenologischen Ansatzes relevant. Schon deshalb, weil »die Phantasie […] Medium […] des mentalen Bildes« 9 ist und unverzichtbares mimetisches Milieu, in dem die »tatsächlichen« Bilder dechiffrierend nicht nur »gelesen«, 7 8 9

Kemp, Man kann beinahe sagen: Ich bin die Verkörperung einer Bruchstelle, S. 11. Vgl. Sachs-Hombach, »Bild«, S. 62 f. Schmidt-Biggemann, Wie sich zeigt, S. 94.

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Bild-Begriffe und -Ideologien

sondern in kreativer Anschauung angeeignet werden. Damit tritt im Hinblick auf das Programm der Mikrologien erneut eine Doppelstruktur der Photographie hervor. Diese liegt in der Spannung zwischen der Objektivität eines tatsächlich existierenden photographischen Gegenstandes und dem, was auf der Subjektseite persönlichen und unwillkürlichen Erlebens im Prozess der gestalterischen Aneignung davon ins Bild gesetzt wird. In der Tat ist es eine gewisse Widersprüchlichkeit, die die Photographie als mikrologisierendes Medium präjudiziert. Photographiert wird (rein stofflich und materiell), was es zu einer Zeit an einem Ort tatsächlich gegeben hat. Aber der Ausdruck suchende und bildende Zugriff auf Segmente von tatsächlich Existierendem folgt dem persönlichen Willen, individuellen wie gruppenspezifischen Interessen, einem vielleicht nur momentanen Begehren sowie einer Reihe weiterer (u. a. ästhetischer) Auswahlkriterien. Kaum anders gestaltet sich der Prozess der Bildnahme, denn noch nicht einmal in einer formal und methodisch hoch regulierten Bild-Interpretation kann alles erfasst werden, was ein Bild zu sehen gibt. Es muss Bestimmtes »herausgesehen« werden, nicht nur Einzel- und Besonderheiten, die sich in besonderer Weise Bild-Erlebniserwartungen, Erinnerungsbedürfnissen und anderen Voreinstellungen der Wahrnehmung fügen. »Herausgesehen« wird nicht nur Einzelnes, sondern auch ganzheitlich Erscheinendes. Dabei wird die Grenze der Sichtbarkeit apperzeptiv überschritten. In der Sache des Bildverstehens kommt es deshalb insbesondere dann zum Dissens, wenn sich das Bildverstehen je nach Herangehensweise mehr kategorial als nur nuanciert unterscheidet. Unter anderem war es eine von Grundwidersprüchen gekennzeichnete ästhetische Praxis und Methode, die die Photographie wie ihre Bilder immer wieder ins Fadenkreuz kontroverser Debatten rückte. Folglich ist die Vielfalt der Reflexion des photographischen Bildes theoretisch eher unübersichtlich als einheitlich. Nicht zuletzt aus dem Mangel einer Leitdisziplin 10 ist eine schier unüberschaubare Flut an Literatur entstanden, die sich der kunst- und bildtheoretischen wie kunsthistorischen Erkundung des photographischen Bildes widmet. 11 Die jüngere wissenschaftliche Disziplin der Medienphilosophie, in deren paradigmatischer Ordnung die Neuen Medien eine Vgl. Geimer, Einleitung, S. 16. Um nur zwei Titel zu nennen: Belting, Bild-Anthropologie, sowie Bredekamp, Theorie des Bildaktes.

10 11

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Photographie – eine spezielle Mikrologie des Wirklichen

herausgehobenen Rolle spielen, integriert die Photographie an zentraler Stelle, schon wegen ihrer eigenen und historisch jüngeren Technik- wie Mediengeschichte. Umrissartige Einführungen klären über ihre Geschichte auf 12, umfangreiche Kompendien bieten thematisch wie historisch vielfältige Quellentexte zum besseren Verständnis der Methode, von den ersten labortechnischen Experimenten bis zur digitalen Praxis in der Gegenwart. 13 Die Geschichte der Photographie ist nicht nur von einem mitunter schnell voranschreitenden technischen Wandel gekennzeichnet; sie ist auch von wechselnden Phasen der Bewertung ihrer medientheoretischen Potentiale nicht zu trennen. Eine mehr als marginale Rolle spielten vor allem in den 1970er bis 1980er Jahren sogenannte »linke« Kritikströmungen, die ihr keine aufklärungsorientierten und bildungsrelevanten Spielräume zuerkannten, sie vielmehr allein in einem affirmativen Verhältnis zu den gesellschaftlichen Verhältnissen sahen. Mehr noch, die Photographie wurde in einem geistigen Klima theoretischer wie ideologischer Überheblichkeit als Form der Kommunikation über Wirklichkeit nicht selten verlacht. Namhafte Autorinnen und Autoren zeigten nicht die mindeste Bereitschaft, konstruktiv nach einem möglichen Beitrag im Bestreben nach verbesserten Wegen der Erkenntnis durch den Gebrauch von Bildern Ausschau zu halten. Äußerst schwerwiegende Einwände gegen einen ernst zu nehmenden Ertrag der Photographie breitete Susan Sontag in langatmigen Texten aus (s. schon 1.2). Für sie war Photographieren eine a priori vergebliche, ja geradezu lächerliche Geste – immer schon in der Logik des Warenhauses gefangen. 14 »Durch die Kamera werden die Menschen zu Kindern oder Touristen der Realität.« 15 Sie fokussierte die dunkle Seite der Photographie, jene massen- bzw. kulturindustriell voreingestellte soziale Praxis (die auch Max Frischs symbolische »Vernichtung« des Knipsers motiviert haben dürfte), von der nichts Beachtenswertes erwartet werden konnte, außer einer unendlichen Reihe klischeehaft wiederholter und beliebig variierter Spiegelartefakte, die allein von Scheinindividualität kündeten. Dass der Gebrauch der Kamera als technisches Gerät in der emanzipierten 12 13 14 15

Vgl. z. B. Geimer, Theorien der Photographie. Vgl. Kemp, Theorie der Photographie, Bd. I–III sowie IV. Sontag, Über Photographie, S. 108. Ebd.

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Hand bewusster Bildgestalter ein differenziertes wie subtiles Ausdrucksmittel sein konnte, und dies schon im 19. Jahrhundert, wollte sie würdigend nicht in den Blick nehmen. Es ist umso bemerkenswerter, dass im Werk einer Reihe bekannter Photographen des 19. und frühen 20. Jahrhundert bereits tragfähige Wege der mikrologisierenden Betrachtung komplexer Sachverhalte (man denke an die Arbeiten von Lewis Hine und John Thomson) beschritten worden sind. Eine geradezu stereotyp wiederholte Herabwürdigung ist, vor allem in »kritischen« Debatten, nicht zuletzt im Realismus der Methode der Photographie begründet. Auch bei André Bazin wird das im photographischen Bild sichtbar Werdende geringschätzend kommentiert und mit dem Verdacht belegt, hinter den Fassaden des Sichtbaren dürfe man keine verborgenen Schichten des Seienden erwarten. So merkt er an, die Photographie befriedige »das Verlangen nach Realismus endgültig« 16. Ebenso wenig kommt bei Victor Burgin die Oberfläche des Sichtbaren als mikrologische Stärke in den Blick, vielmehr dagegen als erkenntnistheoretische Hypothek. »Die Oberfläche des Fotos verbirgt nichts außer der Tatsache der eigenen Oberflächlichkeit.« 17 Schon Günther Anders erschien die Gefangenheit der Photographie in den gesellschaftlichen Netzen der Massenkultur so endgültig und hoffnungslos, dass er keine kritischen Optionen erkennen konnte, weder in der Bildproduktion, noch in Situationen der Rezeption. Dem steht eine ganz andere Gebrauchsform des photographischen Bildes entgegen, in der es zum Gegenstand genauen Verstehens wird und deshalb mehr die tentativ sich vortastende Annäherung herausfordert als die lediglich technische Ablichtung. So kommt sie als ein Medium des »Hintergründigen« in den Blick, das unterhalb seiner Oberflächen Verborgenes 18 enthält und damit fragile Stoffe der Kommunikation über das eigene Selbst und die nahe wie ferne Welt anzubieten hat.

Bazin, Ontologie des photographischen Bildes, S. 61. Burgin, Einleitung, S. 37. 18 Dass das Prinzip »Realismus« indes nicht am Schein der Oberflächen im Sinne einer kulturindustriellen Ästhetik eines klischierten Massengeschmacks leerlaufen muss, illustriert der Magische Realismus im Bereich der Malerei zum Beispiel bei Franz Radziwill (vgl. z. B. Henkel/Nievers, Franz Radziwill). Auch in der Photographie steht das Prinzip der »optischen Durchschrift« dem Surrealismus zumindest nahe. Nicht zuletzt deshalb hatte Man Ray die realistischen, dokumentarischen Fotoarbeiten von Eugène Atget diesem Genre zugeordnet. 16 17

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Photographie – eine spezielle Mikrologie des Wirklichen

2.3 Der diskursive Charakter der segmentierenden Photographie Aus dem historischen und emotionalen Abstand gegenüber vernichtenden Kritiken werden relativierende Sichtweisen in der Gegenwart stärker, und in jüngerer Zeit treten vermehrt würdigende Deutungen hervor. Herta Wolf stellt die eigene (ästhetische) Denkweise 19 der Photographie heraus, der sie eine diskursive 20 Qualität zuerkennt. Das photographische Bild gelangt in einen paradigmatischen Rahmen, in dem die Methode als etwas Prinzipielles und Leitendes (vom Charakter eines Musters) zum Gegenstand der Reflexion wird. Diskursiven Charakter hat sie dabei in einem doppelten Sinne: Zum einen bilden nahezu endlos zirkulierende Texte und expressiv verbis formulierte Äußerungen über Bilder einen vielstimmigen Diskurs. Zum anderen muss die Methode der Photographie selbst, das heißt ihre spezifische Art und Weise der Explikation von Eindrücken, als diskursiv angesehen werden. Grundsätzlich ist ein Diskurs nicht an die wörtliche Rede gekettet, wenngleich er (allzumal in den Wissenschaften) in besonderer Weise in der denotativen Sprache beheimatet wird. Der produktiv-diskursive Charakter der Photographie, wonach sie als Medium und Sensorium der Wahrnehmung und Vermittlung von Eindrücken aufgefasst werden kann, prädestiniert sie als mikrologische Methode. Das photographische Bild wird damit zur seismischen Schwelle, auf der ein Umschlag subjektiver und gesellschaftlicher Weltbilder stattfindet. Es dokumentiert in diesem Sinne nichts, stellt vielmehr etwas zur Diskussion und macht es dem theoretisch unvoreingenommenen Bedenken zugänglich. Mit anderen Worten: Die Photographie erzeugt schon deshalb nichts Einfaches, weil ihre Bilder auch »unterhalb« ihrer visuellen Oberfläche erschlossen werden können. Sie stehen auf einem hinterwie untergründigen Boden, oft gar an Abgründen. Wenn aus der Perspektive der Lebenswelt die (medientheoretisch vermessene und überzogene) Erwartung wie Hoffnung auch nachvollziehbar sein mag, dass sie in ihrer scheinbaren Einfachheit als etwas tatsächlich Simples angeeignet werden kann, so zeigt sich doch schnell, dass jedes tiefergehende Bildverstehen nur als eine Annäherung gelingen kann, die bestreitbar bleibt. Es gibt in aller Regel viele Bilderlebnis- und 19 20

Vgl. Wolf, Paradigma Photographie. Vgl. ebd.

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Der diskursive Charakter der segmentierenden Photographie

-verstehensweisen und folglich auch je eigene Erkenntniswege. Mag ein Bild noch so konkret und scheinbar selbstverständlich allein Dieses zu erkennen geben – das Sichtbare ist trügerisch und in seiner scheinbaren Evidenz fraglich. Es ist vom Unsichtbaren getränkt. Deshalb fordert es auch einen im Prinzip nicht endenden Prozess verstehender Durchquerung heraus. In der Frage, wie und als was eine Photographie verstanden werden kann, kommt es nicht allein auf methodisch wohlüberlegte wie sachlich treffende Fragen an, noch auf die spezifische Rationalität theoretischer Verwertungswege sowie zielorientierter Gebrauchskulturen. Verstehen wird wesentlich von der Haltung zum Akt der Anschauung geprägt. Daher muss schließlich die Richtung, in die eine Bildaneignung im Allgemeinen gedacht wird, auch herumgedreht werden können. Dann sind nicht wir es, die das Bild anschauen; es ist nun das Bild, das uns anschaut. Das Schauende ist dabei nicht als Subjekt vorausgesetzt, sondern als etwas gestisch im Sinne leiblicher Kommunikation Berührendes, ein Medium, das gleichsam von selbst aus sich heraustritt und anspricht. Es ist nicht erst dann gegenwärtig, wenn sich ihm eine Person in einer rationalen Erkenntnishaltung zuwendet. Es ist schon unter uns, sobald es Eindruckswirkungen gibt, die unser Empfinden sowie unsere Aufmerksamkeit erreichen. Ein Windzug wird auch nicht erst dann zu einer Sache eigenen Wahrnehmens, nachdem er zu einem Thema des Denkens gemacht worden ist, sondern bereits, wenn er durch sein Wehen spürbar wird. Die meisten Diskurse, die das Wesen photographischer Bilder zu umkreisen suchen, sind nicht in einem linearen Sinne auf einfache Frage-Antwort-Ketten programmiert. Im theoretisch sensiblen Umgang mit dem Bild stellt sich die Frage nach der Rolle der kreativen »Anbahnung« von Wegen zum Bild(verstehen). Deshalb ist in der theoretischen Annäherung an Bilder ebenso mit Irrwegen zu rechnen wie mit Sackgassen, Täuschungen und Antwortperspektiven schwacher Plausibilität. Dann suggeriert sich mit eindringlicher Macht der Überzeugung der Neuanfang und nicht das Festhalten an tradierten Sichtweisen und Deutungsmustern. Im Bild zeigt sich nichts »selbst«. Oft legen Haltungen sein Verstehen nahe – Haltungen in Gestalt theoretischer Einstellungen und Haltungen in Gestalt von Gestimmtheiten gegenüber dem Gegenstand eines Bildes. Eine sich mikrologisch noch so nachhaltig ins Wirkliche vertiefende Photographie bedeutet nie schlussendlich, was sie in ihrem Sujet zu sein scheint. Auf keinem Weg der metatheore43 https://doi.org/10.5771/9783495823750 .

Photographie – eine spezielle Mikrologie des Wirklichen

tisch-methodologisch reflektierten Bildaneignung wird genau dieses oder jenes sichtbar. Die wie auch immer fassbare Essenz einer Photographie ist auf keiner singulären Spur mit dem Wirklichen verbunden. Was sie eindrücklich macht, ist nur zu einem Teil in dem begründet, was sichtbar gemacht wird. Zu einem weiteren Teil ist sie Produkt der Art und Weise, wie etwas zur Anschauung gebracht und visuell fixiert worden ist. Drittens ist sie zu einem oft noch mächtigeren Teil darin begründet, wie der Akt der Aufnahme methodisch, in besonderer Weise medienphilosophisch oder -soziologisch aufgefasst wird. Die Geste bildgebenden Schauens ist im Sinne von Vilém Flusser daher auch stets eine – wenn auch höchst verdeckte – Geste der »theoria« 21. Das gilt noch für die Bildnahme des lebensweltlich naiven Betrachters, der in seinem eigenen Smartphone-Schnappschuss ganz selbstverständlich eine Beglaubigung des Realen sieht. Schon zur Zeit ihrer Erfindung wurde bewusst, dass sich jeder, der sich des Mittels der Photographie bediente, nicht nur einen Apparat, sondern auch sich selbst auf ein bestimmtes (im Blick schon antizipiertes) Bild einstellte, das Aufgenommene also Produkt einer mehrdimensionalen Einstimmung war. 22 Dieses Bewusstsein ist essentielle Voraussetzung für den phänomenologischen Gebrauch der Photographie als Mittel der mikrologischen Explikation von Eindrücken. Als ästhetische Praxis genauen »Sehens« reklamiert sich die Konkretisierung dieser Einstellungen auf der gestalterisch-produzierenden Seite der Bildgebung wie auf der gestalterisch-rezeptiven Seite der Bildnahme. Der in diesem Band eingeschlagene Weg muss – schon um der Verwirrung durch ein transdisziplinäres Rauschen zuvorzukommen – einem eigenen phänomenologisch beschilderten Pfad folgen. Auf diesem gibt es keine exakte »Navigation«. In einer jeden Photographie ist neben materiell sichtbaren Gegenständen oder halbdingartigen Phänomenen wie Helligkeit, Halbdunkel, Licht und Schatten etc. auch präsent, was »nur« spürbar ist. Wenn Julia van Haaften mit Berenice Abbott anmerkt, »Photography can only represent the present« 23, so impliziert dies, dass sich in einem Bild weit mehr darstellen lässt als das, was sich nur in einem optischen Sinne zeigt. Wäre es nur ein visuelles Medium, das allein den Augen etwas geben könnte, 21 22 23

Flusser, Die Geste des Photographierens, S. 118. Vgl. Flusser, Fotografieren als Lebenseinstellung, S. 84. Van Haaften, Berenice Abbott: A Life in Photography, S. 449.

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Der diskursive Charakter der segmentierenden Photographie

müsste es in der Tat als äußerst eingeschränktes Ausdrucksmittel angesehen werden. Abbildungs- bzw. Bildgebungsmöglichkeiten folgen zwar den Parametern eines optischen Apparates. Daraus folgt aber nicht, dass eine im photographischen Bild erscheinende Wirklichkeit lediglich im Modus des Visuellen zu sehen ist. Indem Photographie veranschaulicht und nicht wie ein mechanischer Abdruck etwas Materielles reproduzierend nur wiedergibt, macht sie wahrnehmbar, was die Grenzen des im engeren Sinne optisch Fassbaren überschreitet – Atmosphären, sozialen Sinn, Bedeutungen etc. Darin kündigt sich einer der wesentlichen Erträge der photographischen Dimension der Mikrologien an: Bildern haftet etwas an, das sich erst in der phänomenologischen Durchquerung für sein ergebnisoffenes Bedenken freilegen lässt. Dieser überschüssige Charakter der Photographien macht auch das Interesse von Roland Barthes aus, wenn er feststellt, Photographien seien »Zeichen, die nicht richtig abbinden, die gerinnen wie Milch. Was immer auch ein Photo dem Auge zeigt und wie immer es gestaltet sein mag, es ist doch allemal unsichtbar: es ist nicht das Photo, das man sieht.« 24 Man sieht den Bildträger, und »auf« ihm etwas Konkretes, das auf etwas anderes verweist, das es irgendwo zum Zeitpunkt der Aufnahme gegeben hat. Wer für die Hintergründe von Bildern sensibilisiert ist, blickt (als Moment phänomenologisch motivierten Arbeitens mit ihnen) ins Verborgene. Dies geschieht in der Praxis der Bildgebung, also im Moment der Aufnahme als Versuch der Explikation von Eindrücken. Auf eine ganz andere Weise geschieht es (wenn auch mit eigenen Mitteln) im rezipierenden Prozess der Bildnahme dann, wenn sich jemand, der eine Photographie gar nicht aufgenommen hat, zu ihr in Beziehung setzt und nach Bedeutungen sucht, wie nach denkwürdigen Anhaltspunkten, die sich vielleicht in der Erweiterung persönlicher Wahrnehmungs- und Erkenntnisfähigkeiten bewähren. Nicht nur die Geste des Photographierens setzt einen (gewollten) Blick für das im Mikrologischen Verborgene voraus, sondern auch die Geste der Zuwendung zu einem Bild. Schon in der produktiven wie rezeptiven Einstimmung des Blickes kommt nicht nur eine interpretierende Haltung zur Geltung, sondern – viel weniger intentional und systematisch – eine Bereitschaft zur Verwicklung in atmosphärisch »anstehende« Sinn- und Bedeutungsordnungen. Diese 24

Barthes, Die helle Kammer, S. 14.

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Photographie – eine spezielle Mikrologie des Wirklichen

prinzipiell offene Haltung ist immun gegenüber den lenkenden Suggestionen methodisch operationalisierter wie thematisch-inhaltlich gerichteter Interpretationsverfahren. Das Verhältnis zum Wirklichen, das im Bild vorscheint, ist offen und Ausdruck lebendigen Mit-Seins im Wirklichen. Auch das manipulativ eingesetzte Bild ist nur eine Ablichtung, die auf keinen deterministischen Pfad einer ideologischen Rezeption gezwungen werden kann. In einer Zeit der ubiquitär durch Massenmedien und politische Akteure (eher schlecht) erklärten und nach Klischees kategorisierten Welt, baut sich ein Vakuum ungestellter wie unbeantworteter Fragen auf, ein Feld für das Üben freien Denkens. Darin liegt eine essentielle Aufgabe des reflexiven Umgangs mit Photographien, die im erwartungsoffenen Blick keine vertrauten Panoramen, keine gewohnten Dinge und keine xfach reproduzierten Ansichten von allem Möglichen zeigen. Diese Aufgabe schwankt zwischen der Versenkung ins Besondere und der dabei entstehenden Suche nach einem übergreifenden Allgemeinen. Arbeit mit der Photographie und ihren Bildern, die sich gegenüber Bedeutungen als sensibel erweist, baut auf das verbesserte Wahrnehmen-Können von Verdecktem, Unbemerktem und Übersehenem. Und noch einmal erscheint das Bild als unbestreitbar visuelles Medium, das – im Sichtbaren verborgen – Verweise aufs Andere des Visuellen enthält: Spuren des Lautlichen, des Ertastbaren, des Riechbaren, des Geschmacklichen. Es ist nie allein optisches Medium, vielmehr Brücke leiblicher Kommunikation. Die Photographie drängt aber auch an die Grenze der wörtlichen Rede. Im Sinne von Roland Barthes’ poststrukturalistisch-semiotischer Argumentation hat sie deshalb auch eine dem theoretischen Wissen komplementäre Funktion. 25 In den Mikrologien wird fassbar und verständlich, was auf dem Wege der Explikation mit expressis verbis formulierten Mitteln der Aussage ins Bedenken gehoben wird. Vielleicht ist es gerade das Unsichtbare in und hinter den Bildern, das an der Sprache zerrt und das Üben genauen Sprechens provoziert. Damit gewänne die Obduktion des in den Bildern Verborgenen und Versteckten nicht zuletzt eine bildungspolitische Dimension. Das Bild, welches Übersehenes, InfraGewöhnliches und auf den ersten Blick Langweiliges – mitunter sogar völlig bedeutungslos Erscheinendes – zeigt, wird so zum Katalysator emanzipatorischer Selbstbildung.

25

Vgl. ebd., S. 38.

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3. Die Photographie im Fokus der (Neuen) Phänomenologie

Die Herstellung einer Photographie ist ein individuell-kreativer Akt. Auch die Bildrezeption hat individuellen Charakter, stellt sich jedoch insofern in einer anderen Komplexität dar, weil der Blick aufs Bild nur einen scheinbaren Weg zu dessen sinnlicher Referenzwelt öffnet. Das Bild fungiert dann als mediale Brücke der Erinnerung und unterstützt in gewisser Weise das Selbstgespräch des Photographen über einen zeitlich oft schon lange vergangenen Eindruck. Sobald es jedoch im sozialen Milieu einer gemeinsamen Situation zum Gegenstand kollektiver Aufmerksamkeit wird (absichtlich oder zufällig), tritt es in eine Beziehung zu überindividuellem Wissen, gesellschaftlich zirkulierenden Gefühlen, Einstellungen und Haltungen. Wegen der Möglichkeit vielfältiger Assoziationen öffnet es sich für tendenziell zahllose Verknüpfungen mit Sinn und Bedeutung. In Verläufen solcher Kommunikation bilden sich Schnittstellen pluraler Weltsichten. Sowohl in der Aufnahme als auch in der Bildrezeption werden Gefühle freigesetzt, denen Bedeutungen anhaften. Kommunikation im Medium der Bilder (wie über sie) schließt im phänomenologischen Fokus daher die Kommunikation über Gefühle und (individuell-biographische wie kollektiv-gesellschaftliche) Bedeutungen ein. Photographie rückt im Kontext der Phänomenologie in ihrer strukturell doppelten Beziehung zur Subjektivität des Menschen in den Fokus. Zum einen ist sie Ausdrucksmedium, indem sie – vermittelt über die Geste des Photographierens – ein situatives Eindruckserleben der Kommunikation zugänglich macht. Photographien sind als materielle Bilder Ver–äußerlichungen; als Ausdrucksmedien sind sie Äußerungen. Ihre Funktion als Medien der leiblichen Kommunikation entfalten sie auf der Schwelle von Eindruck und Ausdruck. Zum anderen ist eine Photographie aber auch ein Eindrucksmedium, um auf einen Rezipienten einen Eindruck zu machen, Betroffenheit zu wecken oder auf etwas hinzuweisen.

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Die Photographie im Fokus der (Neuen) Phänomenologie

3.1 Die Situiertheit der Bilder Als erscheinende Medien wecken Bilder das phänomenologische Interesse. Was sichtbar wird, verdankt sich spezifischen Ausdrucksqualitäten, die wiederum suggestive wie immersive Mächte freisetzen. Die Emission eines Bildes lässt sich wirkungsangemessen daher auch nicht als »optische Datenmenge« verstehen, die in einem kybernetischen Sinne nur eine sachverhaltliche »Aussage« kommuniziert. Schon über die Modalitäten der Aufnahme(technik) drücken sich subjektive Beziehungsmomente eines photographierenden Individuums zu seinem sinnlichen Herum aus. Indem ein Subjekt durch eine persönliche Lebenslage situiert ist, schreibt sich zumindest »etwas« von seiner Situiertheit auch in die Ästhetik eines aufgenommenen Bildes ein. Ebenso ist jeder Betrachter einer Aufnahme durch seine aktuelle wie zuständliche Lebenslage situiert und damit gegenüber bestimmten Wegen des Bilderlebens aufgeschlossen, anderen gegenüber eher verschlossen. Wenn im phänomenologischen Fokus das ganzheitliche Erleben eines Bildes Beachtung findet, so unterscheidet sich dieser Weg von solchen Wahrnehmungskonzepten, in deren Zentrum nicht Eindrücke, sondern Informationen stehen, die rational begriffen und semiotisch »gelesen« werden. Theoretische Leitlinien der phänomenologischen Reflexion theoretischer Fragen der Photographie werde ich im Folgenden mit einem besonderen Akzent an der Neuen Phänomenologie von Hermann Schmitz orientieren. Diese zeichnet sich in der Art und Weise ihrer konzeptionellen Eigenart durch eine Reihe spezifischer Merkmale aus. Übergeordnet ist ihr systematischer Charakter. Die erkenntnistheoretischen Begriffe und Konzepte der Neuen Phänomenologie sind aufeinander bezogen und damit geeignet, systematisch ebenso auf das perzeptive Bildverstehen angewendet zu werden wie auf den produktiven Akt der Bildgebung. Die Neue Phänomenologie geht nicht wie die Husserl’sche Philosophie von Sachen aus, sondern von Sachverhalten, die »mit der Sache auch die Hinsicht [umfassen], indem sie etwas als Fall von etwas bestimmen.« 1 Was zur Erscheinung kommt (hier im Bild), wird als situiert verstanden, das heißt als etwas, das (u. a. durch Programme, wonach etwas sein soll, und Probleme, wonach etwas vor dem Hintergrund von Programmen als 1

Schmitz, Kurze Einführung in die Neue Phänomenologie, S. 13.

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Die Situiertheit der Bilder

fraglich erscheint) bereits gesellschaftlich gerahmt ist. Die Neue Phänomenologie strebt auch keine »phänomenologische Reduktion« an, wie Husserl sie wollte. Dessen Idee der isolierenden »Einklammerung« einer (eindrücklichen) »Sache« zugunsten einer rein phänomenologischen Reflexion muss schon deshalb scheitern, weil alle Bedeutungen gesellschaftlich vermittelt sind. Auch die, die zur phänomenologischen Reflexion herangezogen werden. Es gibt somit gar nicht erst die Möglichkeit, durch eine »nüchterne« Sicht diesseits allen vorausschießenden (Vor-) Wissens, Denkens, Hoffens und Glaubens 2 Situationen (durch Einklammerung) freizuschälen. Zum Erscheinen von etwas gehören Bedeutungen von Anfang an wesensmäßig dazu. Man kann folglich nicht abspalten, was die Essenz einer eindrücklich werdenden Situation von vornherein ausmacht. Die Neue Phänomenologie denkt die gesellschaftliche Bedingtheit von Subjektivität und Gefühl mit. In den Ausdrucksmodalitäten des Erscheinenden sieht sie Brücken der leiblichen Kommunikation von Bedeutungen, die soziale Veränderungen in der Gesellschaft bewirken und das Selbst- und Weltverstehen stimmen. »Von leiblicher Kommunikation im allgemeinen will ich immer dann sprechen, wenn jemand von etwas in einer für ihn leiblich spürbaren Weise so betroffen und heimgesucht wird, daß er mehr oder weniger in dessen Bann gerät und mindestens in Versuchung ist, sich unwillkürlich danach zu richten und sich davon für sein Befinden und Verhalten in Erleiden und Reaktion Maß geben zu lassen.« 3

Mit der Fokussierung der Leiblichkeit des Menschen strebt das Projekt der photographischen Mikrologien gegen den Zeitgeist, das schnelle Konsumieren und Genießen glamouröser Oberflächen. Es sucht vielmehr das Erscheinen und das hinter einem ersten Eindruck sich Versteckende – das, was nicht beharrt, was sich dem sicher erfassenden Blick entzieht und die nachspürende hermeneutische Reflexion herausfordert. Der Medienkünstler David Claerbout merkt zur Kunst auf Ausstellungen und öffentlichkeitswirksamen Veranstaltungen an: »Es ist schade, dass es in der Ausstellungskultur nur noch um Illustrationen und nicht mehr um Phänomene geht. […] Interessant finden viele Künstler nur noch, was man damit [mit den Dingen, Dies vor allem deshalb, »weil kein Mensch je ganz weiß, was er glaubt«, Schmitz, Neue Phänomenologie, S. 21. 3 Schmitz, System der Philosophie, Band III/5, S. 31 f.; ausführlich vgl. auch ders., Der Leib, Kapitel 4. 2

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Die Photographie im Fokus der (Neuen) Phänomenologie

JH] tut.« 4 Das entspricht der Aufmerksamkeit in den Sozialwissenschaften, die viel mehr auf Handlungen und Körper fixiert sind, als dass sie gegenüber sinnlichem Erscheinen aufgeschlossen wären. Denkwürdigkeit wird unter diesen Voraussetzungen nicht von der affizierenden Präsenz eines Gegenstandes, Dinges oder Halbdinges geweckt, sondern von ekstatischen Effekten und spektakulären Inszenierungen. Wenn sich Phänomenologie aber als ein »Denken der Eröffnung und der Entbergung« 5 darstellt, so fungiert die Photographie als Methode der Sichtbarmachung des erst der Eröffnung Bedürftigen. Sichtbar wird dann nicht nur die Faktizität der Sachverhalte, Dinge und materiellen Gegenstände, sondern ebenso das daran vorscheinende Leben sowie die Spuren seiner Kraft und Affektivität. Damit erfasst die Photographie etwas Verborgenes. Sie entbirgt im Sinne von Michel Henry, weil sie auf einem Niveau des Verdeckten zeigt, was auf Leben zurückgeht. Dies ist nicht a priori das menschliche Leben. Es ist ebenso das der Tiere und Pflanzen, des Klimas und Wetters, der Böden und von allem, was von der Kraft der natura naturans geformt wird. »Das Leben ist in sich der Welt fremd, es ist akosmisch. […] Das Leben ist unsichtbar, und dennoch ist es kein phänomenologisches Nichts, sondern weit davon entfernt!« 6 Die in Teil II dieses Bandes gezeigten Photographien haben im phänomenologischen Rahmen ihrer erkenntnistheoretischen Einbettung deshalb auch eine gegenüber Texten oder anderen sprachlichen Explikationen komplementäre Funktion. Sie werden als Medien aufgefasst, in denen sich eindrücklich gewordene Situationen mitweltlichen Erlebens ästhetisch ausdrücken. Damit rückt zugleich die methodologische Frage in den Fokus, inwieweit Photographie als ästhetische Praxis (neben der diskursiven Sprache im engeren Sinne) geeignet ist, subjektives Befinden zu explizieren und der Kommunikation zugänglich zu machen. Die phänomenologische Rekonstruktion der Praktiken des herstellenden wie perzeptiven Gebrauchs photographischer Bilder strebt die Reflexion nicht-sprachlich kommunizierter Eindrucks- und Ausdrucksqualitäten situativen Erlebens an. »Im Zielpunkt dieses Verstehensprozesses zeichnet sich letztlich die Frage ab, welche sinnlichen Wertorientierungen zu festigen oder

4 5 6

Meier, Unsere rasante Bildkultur macht Angst. Henry, Affekt und Subjektivität, S. 106. Ebd., S. 112.

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Die Situiertheit der Bilder

neu zu erschließen es [das photographische Bild, JH] imstande ist und in welche Freiräume« 7 der Imagination es Rezipienten dabei führt. Mit anderen Worten: Welche Irritations-, Begegnungs- und Denkpotentiale birgt das photographische Bild im Prozess der Bewusstmachung einer subjektiven (und zugleich gesellschaftlich vermittelten) Beziehung zu einem Erscheinenden? Dies ist nichts Fixes, wenn es in einem chemischen Sinne auch fixiert oder in einem digitalen Sinne gespeichert ist. »Bilder sind nicht einfach passive Wesen, die mit ihren menschlichen Wirten koexistieren. Sie verändern die Art, in der wir denken, sehen und träumen. […] Der beste Beweis für das Leben von Bildern ist die Leidenschaft, mit der wir sie zu zerstören oder zu töten suchen.« 8 Sie vermitteln mimetische Beziehungen, in denen das bildbetrachtende Subjekt seine Selbst- und Weltverhältnisse in reflexiver Weise verflüssigen kann. Wenn Michel Henry »Erscheinen« als »Ins-Licht-Kommen« 9 begreift, so drückt die LichtMetapher nicht zufällig einen Zuwachs an Erkenntnis aus. Die Photographie sitzt als Methode einer ästhetischen Praxis indes einer Reihe erkenntnistheoretischer Reduktionen auf, die der einfachen Übertragung eines sinnlichen Erlebens ins Bild im Wege stehen: »Aus einem Objekt ein Bild zu machen heißt, all seine Dimensionen nach und nach zu entfernen: das Gewicht, die Räumlichkeit, den Duft, die Tiefe, die Zeit, die Kontinuität und natürlich den Sinn.« 10 Das Verführerische der Isolation wesentlicher Konstituenten des Wirklichen, der Entziehung des Fokussierten liegt nach Baudrillard darin, dass die Welt im Allgemeinen »ziemlich enttäuschend« ist. Das Bild verspreche symbolische und darin vor allem ästhetische Rettung: »Im Detail gesehen und gewissermaßen überrumpelt ist sie immer von einer perfekten Evidenz.« 11 Das ist die dissuasive Seite des photographischen Isolationismus, der sich in einem oberflächenorientierten Ästhetizismus entfaltet.

Krüger, Zur Eigensinnlichkeit der Bilder, S. 19. Mitchell, Bildtheorie, S. 292 f. 9 Henry, Affekt und Subjektivität, S. 16. 10 Baudrillard, Denn die Illusion steht nicht im Widerspruch zur Realität, S. 264. 11 Ebd. 7 8

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Die Photographie im Fokus der (Neuen) Phänomenologie

3.2 Das Einzelne in seinem Verhältnis zum Ganzen Eine zweite Seite hat kreativ-produktive Kräfte. Diese können sich erst in einem erkenntnistheoretisch-programmatischen Rahmen differenzierten Sehen- und Begreifen-Wollens durchsetzen. Gewissermaßen gegen die Suggestion wie gegen die überrumpelnde Macht des »ersten Eindrucks« kann die photographische Aufmerksamkeit tiefer hinter den schönen oder auch hässlichen Schein der Dinge vordringen und in der mikrologischen Betrachtung die Grenzen des selektiven wie portionierenden Blickes sprengen. Der Stillstand-Charakter einer jeden Photographie reklamiert schon von sich aus die Erinnerung einer vitalen wie plastischen Wirklichkeit. Der Strom der Zeit und der darin stattfindende Wandel der Situationen ist auf keinem Bild als solchem zu erkennen. Der photographische Isolationismus schneidet schließlich nicht nur Objekte ab. Er lässt auch sichtbare Kontexte im wortwörtlichen Sinne »bei Seite«. So wird das Bild zum Schatten einer ausgeblendeten Wirklichkeit und damit zur Provokation für jedes sich an Differenzen abarbeitende Denken. Die andauernde und sich ins Erscheinende einbohrende Betrachtung sucht geradezu nach (fehlenden) Details, um das um Vieles gekappte Ganze besser erklären zu können – nicht in Gänze aber doch umfassender in einem erweiternden Sinne. Diese Suche bleibt insofern strukturell vergeblich, als sie in visuellen Qualitäten nichts Tatsächliches in einem direkten Sinne finden kann. Das vor unseren Augen daliegende Bild kann nur zur Imagination herausfordern – zur Vorstellung wolkiger und luftiger Bilder. Photographie ist und bleibt – trotz aller daran sich übenden Denkarbeit – ein Entzug, eine materialisierte Vor-Stellung, die von Vielem abstrahiert, was sich der technischen Bildform verweigert. Wenn Baudrillard anmerkt, die »Ausleuchtung des Details [könne] man auch durch geistiges Training oder durch eine Verfeinerung der Sinne herbeiführen« 12, so reklamiert er eine notwendige Übung des Denkens. Dabei sind es in besonderer Weise die Fixierungen, die sich als »Stoff« des Denken-Lernens anbieten. Weil die Objekte photographischen Begehrens in der Situation der Aufnahme »fixiert, intensiv betrachtet und vom Blick gelähmt werden« 13 müssen, damit sie im Bild

12 13

Ebd. Ebd., S. 266.

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Das Einzelne in seinem Verhältnis zum Ganzen

vor uns stehen können, fordern sie zur übenden Kultivierung des Bedenkens der Bilder heraus. Das sichtbar Gemachte treibt so lange an ästhetischen Oberflächen, wie die auf ihrer Haut austretenden Bedeutungen rätselhaft bleiben. Erst mit ihrem Aufbrechen strömt aus imaginären Tiefen ein sich Verbergendes aus. Es darf als Sache der Kunst (und insbesondere der Photographie als Kunst) angesehen werden, eine gewisse »Verstofflichung von Imaginärem« 14 anzustreben. Es ist gerade Sache phänomenologisch geschulter Aufmerksamkeit, diese luziden wie flüchtigen Schichten hinter dem Sichtbaren von Bildoberflächen autopsierend freizulegen. Erst dann bahnt das photographische Bild Blickbahnen in metaphorische, allegorische und synästhetische Sphären. 15 Die transversalen Knoten verschlungener Bedeutungen vermitteln ein mimetisches Spiel der Transzendenz, in das sich im engeren Sinne mentale Bilder wie Halluzinationen und sich verbildlichende Psycholandschaften einmischen. Wenn Romano Guardini über die von Hölderlins Gedichten ausgehenden Eindrücke schreibt, man sehe Landschaften 16, so stehen diese hier nicht für triassische Sedimentationen oder pleistozäne Erosionen, sondern für etwas Ganzheitliches, das paradigmatisch im Begriff der Landschaft auf der Schwelle von sinnlichem Erscheinen und phantastischer Imagination lebendig ist. Was Photographien abbilden, steht insofern mit »Landschaften« in Beziehung, als das sichtbar Gemachte in Vorstellungswelten aufgeht, sobald ein Bild »angeeignet«, das heißt mimetisch mit subjektiven Bedeutungen verflochten wird. Soweit wir wissen, kennen Tiere keine Bilder, und so produzieren sie auch keine, noch betrachten sie welche als solche. In anthropologischer Sicht sind Bilder »Artefakte des Menschen« 17, in semiotischer Sicht Zeichen, in wahrnehmungstheoretischer Perspektive Gegenstände der Sichtbarkeit. 18 Im phänomenologischen Rahmen kommen sie in erster Linie in ihrer Sichtbarkeit in den Blick. Aber ihre Sichtbarkeit ist nur der Brückenkopf, von dem aus Bahnen ins Stoffliche dessen weisen, was die Bilder leiblich zu spüren und auf einem ganzheitlichen Niveau zu verstehen geben – wie eine Land-

14 15 16 17 18

Hans Ulrich Reck, zit. bei Krüger, Zur Eigensinnlichkeit der Bilder, S. 23. Vgl. Sachs-Hombach, Bild, S. 61. Vgl. Guardini, Form und Sinn der Landschaft in den Dichtungen Hölderlins, S. 26. Wiesing, Artifizielle Präsenz, S. 17. Vgl. ebd., S. 18.

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Die Photographie im Fokus der (Neuen) Phänomenologie

schaft oder eine beliebige andere »mit einem Schlage« wahrnehmbare Situation. Wie sich das Bild erst auf dem Niveau des von ihm Transzendierenden abrundet und in gewisser Weise von selbst rahmt, so ist auch der produktive Akt einer Aufnahme nicht auf die simple Handhabung des technischen Foto-Apparates zu reduzieren.

3.3 Erkenntnistheoretische Pfade der Bildaneignung Zum Thema einer phänomenologischen Theorie der Photographie werden daher auch weder binäre »Sender-Empfänger«-Beziehungen noch »Reize« im hirnphysiologischen Sinne. Man Ray hatte die technisch-gestalterische Dimension treffend auf den scheinbar einfachen Nenner gebracht: »To make a picture you need a camera, a photographer and above all a subject.« Darin kündigt sich im Sinne von Clément Chéroux eine »holistische Auffassung der Photographie« 19 an, ein von diversen Spannungen durchzogenes ästhetisches Tun. Photographie verlangt als ästhetische Praxis weit über nur technische Fertigkeiten im Umgang mit dem Apparat hinaus eine multisensorische Aufgeschlossenheit gegenüber allem, was eindrücklich werden kann. So kann zum Beispiel die urbane Atmosphäre eines innerstädtischen Platzes nur dann auch in einer Photographie spürbar und nicht nur sichtbar werden, wenn im Moment der Aufnahme eines Einzelbildes oder einer Serie die Situation des Platzes in ihrer Eindrücklichkeit im Bild zur Geltung kommt. Erst dann gelingt die ästhetische Übersetzung eindrucksvermittelnder Kräfte ins Metier der Sichtbarkeit. Gedruckt vorliegende – in gewisser Weise »fertige« – Bilder geben Anlass zur Differenzierung zwischen zwei Sichten. Nach Lambert Wiesing kann man im Bildverstehen zwei erkenntnistheoretischen Pfaden folgen – erstens einem semiotischen und zweitens einem wahrnehmungstheoretischen. Weil diese Wege grundverschieden sind, verlangen sie methodologisch auch je eigene Herangehensweisen. In semiotischer Sicht ist das Darstellende ein Zeichenträger, die Darstellung hat Sinn sowie Inhalt und das Dargestellte Bedeutung. Im Unterschied dazu ist das Darstellende in wahrnehmungstheoretischer Hinsicht der Bildträger, die Darstellung das Bildobjekt

19

Chéroux, Ich träume von einer holistischen Auffassung der Fotografie, S. 40.

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Erkenntnistheoretische Pfade der Bildaneignung

und das Dargestellte ein Bildsujet. 20 Daraus folgt für die Semiotik das »Lesen« von Bildern, in deren Prozess Einzelnes zu einem größeren Zusammenhang synthetisiert wird. Die Wahrnehmungstheorie geht im Unterschied dazu – als Phänomenologie – von sinnlicher Anschauung aus, in der das Einzelne von Anfang an in ein umfassendes Ganzes eingebettet ist. Aus lebensweltlicher Perspektive sowie in der sozialen Praxis des Umgangs mit Bildern mögen diese Unterschiede arbiträr erscheinen. Im phänomenologischen Fokus sind sie markant, weil sie eigene Zugänge zum Bildverstehen eröffnen. Der semiotische Weg begünstigt eher Einsichten zum Aufbau des Bildes durch seine Elemente sowie zur kommunikativen Funktion der Zeichen. Im Prozess semiotischen »Lesens« rückt Einzelnes in den Vordergrund, um das Verstehen analytisch generierter »Summen« von Zusammenhängendem anzubahnen. Der phänomenologische Weg nimmt im Unterschied dazu nicht Einzelnes in den Blick, sondern Eindruckswirkungen, und fragt aus der ganzheitlichen Perspektive nach der Ausdruckmacht, in dem Einzelnes aufgeht. Phänomenologie will die Vermittlungswege klären, auf denen sich Affizierendes eindrücklich zu spüren gibt. Was es an dem in einem Bild Dargestellten zu verstehen gibt, lässt sich in phänomenologischer Perspektive als thematischer Stoff verstehen, dem Bedeutungen anhaften. Bedeutungen hängen im semiotischen Sinne an gesellschaftlich kommuniziertem Sinn, im Fokus der Phänomenologie an subjektiv gelebten Beziehungen zu einem Bildgegenstand. Bedeutungen, die sich bildlich darstellen, lassen sich in ihrer Symbolik zum einen gesellschaftlich verstehen, darin jedoch zugleich über die spürbare Affizierung von einem atmosphärischen Ausdruck, dessen Gefühl vom Rahmen einer persönlichen und/oder gemeinsamen (d. h. wiederum gesellschaftlichen) Situation eingefasst und gestimmt wird. 21 Natürlich ist die Frage des Bild-Sujets von einer zweiten nicht zu trennen: danach, worauf ein Bild verweist. Verweist es zum Beispiel auf ein bestimmtes im Verfall befindliches Haus in einem historischen Fischereihafen (s. Kapitel II.2) oder nur auf das Bild desselben Hauses? Jens Ruchatz stellt so die Allgemeingültigkeit der von Roland Barthes als Charakteristikum der Photographie getroffenen 20 21

Vgl. Wiesing, Artifizielle Präsenz, S. 33. Vgl. Böhme, Aisthetik, S. 157.

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Die Photographie im Fokus der (Neuen) Phänomenologie

Feststellung in Frage, wonach eine Photographie immer auf etwas verweist, das »so gewesen« sei: »Ob die Photographie eines Steinpilzes in einem Bestimmungsbuch oder die photographische Reproduktion eines Gemäldes in einem Ausstellungskatalog tatsächlich sagen: ›Es ist so gewesen‹, scheint mir sehr fraglich.« 22 Zweifellos haben auch solche Photographien, die nicht auf einen performativen Rahmen (z. B. eine soziale Szene) bezogen sind, sondern auf tote Dinge, einen technisch abbildenden Charakter in der Weise, dass sie etwas (wieder) zeigen, wie es sich der Kamera im Modus des Lichts und der Optik im Moment der Aufnahme gezeigt hat. Dass die Konstitutionsbedingungen des Photographierens wie des Gebrauchs einer entstandenen Aufnahme in der Reflexion eines Bildes zu berücksichtigen sind, ist medienwissenschaftlich evident. Der Zusammenhang zwischen dem erscheinenden So-Sein von etwas und dessen lichttechnischer »Bannung« auf einem Film oder digitalen Trägermedium konstituiert sich dagegen von Fall zu Fall. Dass die digitale Photographie auf einen paradigmatischen Bruch hinausläuft, macht zwar auf die Entgrenzung von Möglichkeiten der kreativen »(Zer-)Störung« des Zusammenhangs von Bild und dargestellter Wirklichkeit aufmerksam, darf aber nicht darüber hinwegtäuschen, dass schon die analoge Photographie ihre spezifischen Techniken kannte, das in einem Bild von einer Referenzwirklichkeit zur Erscheinung Kommende in gewisser Weise zu verwirren. Es versteht sich von selbst, dass die Photographie einer Photographie oder Zeichnung ihren entstehungsgeschichtlichen Quellpunkt nicht in dem hat, was das Bild zeigt. Darum soll es hier nicht gehen, vielmehr um eine insofern »authentische« Situation einer Aufnahme, als sich diese auf etwas bezieht, das in einem Moment in einer Gegend vor der Kamera existiert hat. Dieses Authentizitäts-Verständnis ist keineswegs unbedeutend; es weist auf die Beziehung des Photographen zu »seinem« Objekt hin (z. B. dem im Verfall befindlichen Haus), das in seiner atmosphärischen Präsenz in seiner Beziehung zum Wirklichen nur zur Erscheinung kommen kann, wenn es sinnlich als dieses Haus im Moment der Aufnahme auch zugegen war. An dieser Authentizitäts-Beziehung mangelt es in Gänze, wenn nicht das im Verfall befindliche Haus selbst photographiert, sondern eine vielleicht ältere Photographie von ihm nur reproduziert wird.

22

Vgl. Ruchatz, Medienwissenschaftliche Fotografieforschung.

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Erkenntnistheoretische Pfade der Bildaneignung

Auf die Beziehungsqualität, die in einem für »authentisch« gehaltenen Bild stets durchscheint, wirkt auch die Motivation ein, dieses oder jenes zu photographieren bzw. zur Darstellung zu bringen. 23 So wird der engere Rahmen einer am Objekt orientierten Darstellung überschritten, wenn es einer Aufnahme (des verfallenen Hauses) kommunikativ gar nicht um diesen tatsächlichen Gegenstand geht, sondern an dessen Stelle etwas Abgeleitetes tritt – zum Beispiel ein intendierter Werbeeffekt, in dessen Kalkül das Abgebildete zum Medium einer ganz anderen Darstellungsabsicht wird (z. B. dasselbe Haus als Werbemedium für ein Quartiers-Sanierungsprogramm). Im gegebenen phänomenologischen Kontext soll innerhalb der vielfältigen photographischen Ausdrucksmotive das Bedürfnis Beachtung finden, eine Beziehung zur sinnlich wirklichen wie anschaulich gegenwärtigen Welt mit bildlichen Mitteln zu explizieren. Wenn Michel Henry von einer »Aktualisierung des Lebens der Sinnlichkeit« 24 spricht, so lässt sich die Geste des Photographierens als ein Akt solcher Aktualisierung eines Befindens verstehen. Die in welcher Weise auch immer betroffen machende leibliche Verwurzelung aktuellen Seins in einer gegebenen Situation löst den Impuls aus, etwas mit den Mitteln der Photographie »einzufangen«, das einem aktuellen Gefühl sinnlichen Mit-Seins nahe kommen soll. Das Bild(-gebungsprogramm) rückt damit in einen ästhetischen Rahmen, dessen Fassung nicht nur einen Gegenstand, sondern auch ein situatives Gefühl festhalten und dem Bedenken ex post zugänglich machen soll. Daher bieten sich auch weniger Einzelbilder zur Darstellung bewegender und berührender Eindrücke an als Serien, in denen die Variation und Nuancierung einer Situation und nicht nur eines segmentierten Gegenstandes zur Darstellung gelangt. Eine phänomenologisch ausgerichtete Praxis der Photographie sucht die Ganzheitlichkeit einer Situation im Bild zu explizieren und nicht Einzelnes aus ihr herauszuschneiden; auch dann nicht, wenn sie etwas Besonderes mikrologisch fokussiert. Der Maßstab einer Abbildung sagt allein noch nichts über das Verhältnis des im Bild sichtbar Gemachten zum Ganzen seiner Referenzwirklichkeit aus. Ein strukturell vergleichbares Verhältnis zeigt sich in der Perspektive des Betrachters bzw. der intendierten Aneignung eines Bildes. Jedes Verstehen dessen, was es ausstrahlt, bleibt an die Indivi23 24

Vgl. Schmidt-Biggemann, Wie sich zeigt, S. 93. Henry, Die Barbarei, S. 50.

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Die Photographie im Fokus der (Neuen) Phänomenologie

dualität der sich annähernden Person gebunden und damit partiell bzw. sektoral. Es kommt insofern über eine Annäherung nicht hinaus, weil jede individuelle Person auf ihrem Weg vom aktuellen Bilderleben in ihrer Art der Verwicklung mit einer Wirklichkeit des Aufnahmemilieus eine komplexe gestalterische Aufgabe bewältigen muss. Diese wird noch dadurch erschwert, dass sich in jeder mimetischen Bild-Beziehung subjektiv-individuelle Spuren der Selbstwerdung mit solchen einer kollektivierenden Vergesellschaftung überlagern und vermischen. Bedeutungen, die im Prozess der Aneignung einer Photographie aufs Ganze oder auch nur auf Teile des Sichtbaren projiziert werden, verdanken sich zum einen dieser doppelten Einschreibung. Zum anderen treffen aber auch die vom Bild ausgehenden Suggestionen auf eine mit Bedeutungen geladene Aufmerksamkeit. In jedem Prozess des Verstehens spielen Momente emotionalen Bilderlebens eine mehr oder weniger große Rolle. Keine mimetische Bildaneignung hat einen rein rationalen Charakter. Mimetische Beziehungen zu einem ästhetisch präsenten Gegenstand sind schon im Modus der Aufmerksamkeit affektiv eingefasst. Aus dieser Fassung heraus bahnen sich auch analytische Blicke zu dem, was eine Photographie in ihren Bedeutungen innerhalb eines Sujets dem Verstehen in gewisser Weise nahelegt. In der Bildannäherung drängen sich deshalb auch nie allein sichtbare Dinge und Gegenstände auf; mit ihnen werden zugleich ganzheitliche Situationen eindrücklich. Was ein Bild zu sehen gibt, ist schon im Moment der sich anbahnenden Betrachtung mit Wahrnehmungspräferenzen, Idiosynkrasien und allen möglichen Werten kontaminiert. Affektgeladen sind aber nicht nur die sich aus der Verwicklung des Bilderlebens ergebenden Beziehungen zum Sichtbaren, sondern ebenso die sich in diesen Prozess einmischenden Imaginationen sowie subjektive wie gesellschaftliche Beziehungen zur Referenzwirklichkeit einer Aufnahme. Jede Annäherung an eine Photographie muss als palimpsesthafter Prozess aufgefasst werden. Darin verwirren sich die Dinge, wie sie sich wieder entwirren, aber dennoch in einem mit Geheimnissen gesättigten Geschehen gefangen bleiben und schließlich in unabsehbaren Bahnen mäandrieren. Schon die tendenziell chaotische Überlagerung multipler Dispositionen der Wahrnehmung hebt jede Möglichkeit eines »richtigen« oder »wahren« Bildverstehens auf. So gibt es auch keinen rein rationalen Weg zum Bild, nicht in der Produktion und nicht in der Rezeption. Dass und inwieweit Verfahren methodisch hoch regulier58 https://doi.org/10.5771/9783495823750 .

Erkenntnistheoretische Pfade der Bildaneignung

ter Bildinterpretation geradezu im krassen Gegensatz zur prinzipiellen Unfassbarkeit ästhetischer Erzeugnisse stehen, wird später zu diskutieren sein (s. Kapitel 14.2). Die strukturell offene Beziehung zwischen Photographie und Betrachter setzt die mimetische Bildannährung deshalb aber nicht einer Quadratur des Kreises aus. Nicht-Linearität, Offenheit des Verstehens und Unvorhersehbarkeit der Erkenntnisse machen die zu leistende »Beziehungsarbeit« weder überflüssig noch vergeblich. Nur muss sie Nuancen gegenüber aufmerksam und sensibel vorgehen und nicht rechnend. Sie führt absehbar ohnehin in eine Begegnung von »nur« subjektivem Charakter (s. auch Kapitel 3.4). Es ist jedoch gerade diese subjektive Begegnung, an der sich die Potentiale einer ästhetischen Explikation im Medium des photographischen Bildes offenlegen lassen. Daran wird sich zugleich zeigen, welche Bedeutung der Kreativität im Prozess mimetischer Bildbeziehungen zukommt. Am Beginn der Herstellung einer jeden Aufnahme steht die Arbeit der Situierung eines gleichsam »anstehenden« Bildes durch einen Photographen. Es soll hier von »Situierung« die Rede sein und nicht von kreativer Gestaltung oder intentionaler Auswahl, weil sich mit dem Begriff der Situierung eine bildgebende Aufmerksamkeit zur Geltung bringt, die aufs Ganze eines Erscheinenden wie seiner Ausdruckwirkung geht. Die Situierung einer Aufnahme kann jedoch nie ganz im Rahmen intentionaler Arrangements aufgehen. Sie verdankt sich sogar ganz wesentlich der Eindrucksmacht des Augenblicks. Von der Seite der subjektiven Disponiertheit des Photographen hat außerhalb unmittelbar kamera- und aufnahmebezogener technischer Einstellungen das individuelle (zuständliche wie aktuelle) stimmungsmäßige Befinden einen unterschwellig wirksamen Einfluss auf den Stil des Photographierens, die Haltung zum Objekt, aber auch den rein praktischen Umgang mit dem technischen Apparat. Zu Recht merkt Wolfgang Kemp an: »der Photograph [hat] nie eine totale Kontrolle über die Aufzeichnung« 25. Auch der Betrachter ist in seiner Beziehung zu einem Bild situiert. Die Vielfalt persönlich wie gesellschaftlich bedingter Variablen impliziert, dass nie alles wahrgenommen werden kann, was ein Bild zu sehen und zu verstehen geben könnte. Schon bildungsspezifische Profile (im Allgemeinen wie in berufsspezifischer Hinsicht), haben

25

Kemp, Geschichte der Fotografie, S. 14.

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Die Photographie im Fokus der (Neuen) Phänomenologie

mehr oder weniger große Abweichungen im »Sehvermögen« eines Betrachters zur Folge, wenn auch in anderer Weise als mehr oder weniger entfaltetes lebensweltliches Wissen. Die Situiertheit des Betrachters hat in Bezug auf Aufmerksamkeit und Haltung gegenüber einem Bild strukturell ähnlichen Charakter wie die des Photographen gegenüber der Referenzwirklichkeit seines ästhetischen Tuns, wenngleich beide auch in ihrer jeweiligen Spezifik (der Situation der Bildgebung wie der Bildnahme) andere sind. Beim Betrachter kommt ein weiteres Moment hinzu, das die subjektiv-individuelle Bewertung einer Photographie (zumindest optional) mitbestimmt. Dies berührt die Frage, inwieweit spezifische Dispositionen des bildgebenden Handelns eines Photographen auf das letztlich entstehende Erzeugnis Einfluss haben und dies im Bild sichtbar wird. Was von einem Bild beim Betrachter (spürend wie denkend) im phänomenologischen Sinne »ankommt«, kann schließlich durcheinander geraten, wenn ein Bildgegenstand auf Akzeptanz stößt oder in einem Gefühl der Verweigerung abgewiesen wird. Nicht zuletzt sind es irrationale Beziehungen zum Photographen (in seiner institutionellen wie gesellschaftlichen Rolle), die die Haltungen der Wahrnehmung gegenüber einem Bild filtern, öffnen oder abschirmen. Ähnliches wäre über gegenstandslogisch verstrickte und unbewusste Beziehungen zu einem Bildsujet zu sagen. Schon angesichts der vielfältigen wie subtilen Brechungsverhältnisse, denen Bildgebung wie Bildnahme ausgesetzt sind, verliert sich jeder mimetische Bezug zu einem Wirklichen wie zu dem des darauf bezogenen Bildes in einem Gewirr tendenziell chaotischer Gabelungen von Aneignungspraktiken. Authentisch ist ein Bild gleichwohl im Hinblick auf die Subjektivität einer photographierenden Person bezüglich des Zugriffs auf Wirklichkeit wie der (nicht weniger subjektiven) Bildaneignung. Diese Art der Authentizität hat mit der des Bildes (wie es von den Massenmedien üblicherweise als »Beleg« und »Beweis« benutzt wird) indes nichts gemeinsam.

3.4 Bild-Begegnungen Beide Beziehungen – zum Akt der Herstellung einer Photographie wie zum photographischen Bild – lassen sich als Begegnung je eigenen Typs auffassen. Der Photograph begegnet einem Objekt, einer Gegend, einem Haus, einer Person oder einem materiellen Objekt, 60 https://doi.org/10.5771/9783495823750 .

Bild-Begegnungen

der Betrachter schließlich der visuellen Darstellung von Gegend, Haus, Person oder was auch immer. Dabei hat jeder etwas ganz anderes vor Augen, obwohl das Bild doch etwas darstellt, das es in einem weiteren Sinne gegeben hat – zu einer Zeit und an einer Stelle im Raum. Auf diese Unterschiedlichkeit soll es nun aber nicht ankommen, vielmehr auf die je eigenartige Disposition einer Begegnung mit etwas sinnlich aktuell Gegenwärtigem oder einem nur auf der Oberfläche eines Bildträgers Erscheinendem. Die Qualität des einen wie des anderen Erscheinens ist je eigenartig (im Sinne des Wortes). Zwar hat man es in beiden Beziehungen zu einem Gegenstand der Wahrnehmung mit Eindrücken zu tun. Diese vermitteln sich zum ersten (was die Aufnahme betrifft) auf einem Weg der Simultanität sinnlichen Erlebens. Zum zweiten (was die Bildrezeption betrifft) kommen die Eindrücke allein von der flächigen Papierhaftigkeit eines Abzuges oder von einem nicht weniger flächenhaften Bildschirm, auf dem ein Bild in seiner digitalen Form erscheint. In der Folge konstituieren sich in der Qualität der jeweiligen Begegnung je eigene Erscheinungswelten. Wenn Romano Guardini am Beispiel der Wahrnehmung einer Landschaft sagt, sie sei »nicht in sich fertig, sondern entsteht aus der Begegnung des Einzelnen mit der umgebenden Wirklichkeit« 26, so thematisiert er damit implizit die Macht einer aktuellen Situationen der Wahrnehmung, die sich in die eine oder andere Form des Verstehens gleichsam einmischt. In diesem Prozess überlagern sich – wie an anderen Beispielen oben schon beschrieben – kognitive und affektive Momente des Mit-Seins mit einem Erscheinenden. Für die Qualität einer Begegnung ist dies insofern folgenreich, als sie nach Guardini zuvorderst Resultat eines Bewegt-Werdens ist und damit ein ausgeprägt affektives Gewicht hat. Deshalb zeichnet sich eine jede Begegnung in ihren sich prozessual verdichtenden Wechselwirkungen zwischen Selbst und einem Anderen auch durch eine gewisse Chaotik und Turbulenz aus. Gelenkt bzw. getaktet wird diese Dynamik des Mit-Seins im Moment der Bildgebung durch die sich in einer Situation der Begegnung freisetzenden Gefühle, die das Nach- und Bedenken eines Eindrucks einfassen. Es sind mehr Gefühle als nüchterne Gedanken der Verstandesrationalität, die kreative Spannungs-

26

Guardini, Form und Sinn der Landschaft in den Dichtungen Hölderlins, S. 12.

61 https://doi.org/10.5771/9783495823750 .

Die Photographie im Fokus der (Neuen) Phänomenologie

momente der Überkreuzung und Hybridisierung von Vertrautem in eine Begegnung hineintragen. Sinnlich »herumwirkliche« Umgebungen gibt es in der Betrachtung einer Photographie nicht. Deren erscheinende Wirklichkeit hört immer an ihren papierenen Rändern auf. Wenn diese Ent-setzung eines Referenzobjekts das Denken auch in überaus produktiver Weise wie in eigenartigen ästhetischen Qualitäten herausfordern mag, so disponiert sie doch eine ganz eigene Beziehung zu einem Objekt. Im Bild kann dieses (in seiner gerahmten Umgebung) aber nicht als etwas atmosphärisch vital Herumwirkliches erlebt werden; es kann nur in den Grenzen einer visuellen Reduktion gesehen werden. Begegnung, wie Guardini sie versteht, gibt es im Gewitter bei Blitz und Donner in Gestalt affektiv unmittelbar ergreifender Gefühle erstarrender Angst oder – aus der Perspektive der Sicherheit gegenüber demselben Gewitter – als Atmosphäre des Erhabenen. Es gibt sie schließlich in der kontemplativen Versenkung ins Bild einer ähnlichen aber – dank seiner Bildform – beruhigten Gewitterszene. Wenn unter bestimmten Aufnahmebedingungen die Darstellung eines erhabenen Ereignisses im Bild auch möglich sein mag, so sind doch geradezu kategorial unterschiedliche Ausdrucks- und Wirkungsreichweiten im Vergleich von sinnlich und leiblich erfahrbarer Wirklichkeit hier und einer bildlichen Wiedergabe dort zu bedenken. Zahlreiche Beispiele aus der Photographiegeschichte illustrieren vor allem die konstruktiven Möglichkeiten der ästhetischen Verbildlichung emotional eindrücklicher Szenen. Großartige Arbeiten von Alfred Stieglitz, Berenice Abbott oder Ed van der Elsken beeindrucken durch geradezu massive Affizierung. Als atmosphärisch wirkmächtige Medien der Begegnung strahlen sie aber eine ganz andere »Emission« aus als die Referenzwirklichkeit der Bilder selbst.

3.5 Durch Bilder denken und das Üben des Hinsehens Nur äußerst eindrucksvolle Photographien können Achtsamkeit als nachhaltige Art und Weise des Achtens-auf-etwas wecken. Sie intensivieren eine Haltung der Aufmerksamkeit gegenüber Dingen und Situationen. Die übende Anschauung von Photographien lehrt (auf einem methodologischen Niveau) das noch so trivial, simpel und langweilig Erscheinende als Aufforderung anzunehmen, sich selbst und seine Welt spürend wie denkend über das schon lange Bekannte 62 https://doi.org/10.5771/9783495823750 .

Durch Bilder denken und das Üben des Hinsehens

und Gewusste hinaus zu erkunden. Das dabei zugrunde liegende Verständnis von »Achtsamkeit« ist kein esoterisches, sondern ein erkenntnistheoretisches. Im Sinne von Gernot Böhme versteht sie sich als »eine wache Zuwendung zu mir selbst, anderen Menschen, Dingen und Lebewesen, durch die die Adressaten der Achtsamkeit in ihrer Individualität und Bedürftigkeit wahrgenommen werden.« 27 Wo das Bild in seiner Stillstellung von allem, was aus einer lebendigen Wirklichkeit optisch herausgeschnitten worden ist, das Denken kultiviert, bahnt sich zugleich ein Prozess der Selbstbildung an. Eugen Fink sagte: »Im Erscheinen gibt sich uns das Seiende kund in einer vertrauenswürdigen Weise.« 28 Gemeint ist damit nicht, dass dem Erscheinenden unbedingt Glaubwürdigkeit und Wahrheit zukommt, sondern nur, dass, was in der alltäglichen Lebenspraxis und der Glattheit des Selbstverständlichen zur Erscheinung kommt, zunächst nur dieses selbst ist. Es entspricht heute ganz und gar nicht dem Habitus des »kritischen« Zeitgenossen, die Dinge im Sinne Finks zu betrachten. Zweifellos wollte dieser mit seinem Plädoyer für das Vertrauen gegenüber dem Erscheinenden jedoch sicher nicht zur Gegenaufklärung erziehen. Vielmehr dürfte er ein gewisses Innehalten bewirkt haben wollen, um ein Moment der Nachdenklichkeit ebenso zu stärken wie einen Impuls vorsichtiger Zurückhaltung in der allzu schnellen Identifizierung von etwas als dieses oder jenes. Das Gebot der Nachdenklichkeit auf die Photographie zu beziehen, ist mehrfach treffend. Schon deshalb, weil Photographien oft in einer gewissen Beweis-Erwartung wahrgenommen werden, die der Übung nachdenklicher wie pathisch sensibler Reflexion vereitelnd entgegensteht, anstatt sie zu evozieren. Im Allgemeinen appellieren – allzumal gewerbsmäßig erzeugte und massenhaft in Umlauf gebrachte – Photographien ans naive Hinnehmen des Gezeigten als etwas Wahres. Das Votum für die Photographie als Medium der Übung von Nachdenklichkeit ist auch deshalb berechtigt, weil sie auf das Lernen genauen und suchenden Hinsehens hinausläuft. Sie fördert einen Habitus des Hinschauens, der über das ausdauernde Moment der Vertiefung das kritische Nach-Denken in Gang zu setzen vermag. In der Dauer der kontemplativen Betrachtung wird der gewohnheitsmäßig-konsumistische Blick gebrochen und das Sehen für

27 28

Böhme, Philosophieren, S. 72. Fink, Sein, Wahrheit, Welt, S. 95.

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Die Photographie im Fokus der (Neuen) Phänomenologie

eine Weitung der Perspektiven nachdenkenden Erlebens sensibilisiert. Daraus erwächst keine Bild-Didaktik der Besserwisserei; Reflexion meint in einem nicht-intellektualistischen Verständnis die Übung nachspürenden »Denkens« im Modus des Ästhetischen und Affizierenden. Nie vollzieht sich Reflexion lediglich mit den Mitteln verstandesbegrifflicher Rationalität und nie folgt sie allein Zwecken der Verbesserung gegenstandslogischer Unterscheidungsvermögen. Reflexion gestaltet sich in einem zweiten Sinne im Modus des Pathischen, verdankt sich damit ganz wesentlich einer Dehnung des Blicks sowie einer Aufhellung von Schattenzonen der Wahrnehmung. Hieraus erwächst eine spezifische Haltung zum Bild. Was in bzw. auf einer Photographie wahrnehmbar wird, setzt die Anstrengung intensivierter Aufmerksamkeit voraus. Das dann letztlich sichtbar und denkwürdig Werdende ist auch Resultat der Selektivität von Erkenntnismethoden. Dem photographischen Blick haftet eine strukturverschiedene doppelte »Schwäche« an: eine technische (der Apparat kann nicht alles erfassen, was im Radius eines Objektivs an Wirklichem existiert) und eine wahrnehmungsgemäße (eine Person kann nur in den Grenzen ihrer Subjektivität und Wahrnehmungsvermögen erfassen, was ihr sinnlich gegenwärtig ist). Es kommt ein weiteres Moment hinzu, das die Erfassung einer Szene im Medium der Photographie schwer macht. Eugen Fink spricht es so an: »Das Ding hat sich in seinem Selbst verschanzt und zeigt uns nur mehr oder weniger gültige Anblicke.« 29 Das ist schon in der nicht-technischen Wahrnehmung mit allen Sinnen so. Umso mehr muss sich dadurch der Ertrag des photographischen Blickes begrenzen, denn die Welt bewegt sich, ist verdeckt, erscheint verstellt und verwirrt unsere Wahrnehmung in undeutlich verschwimmenden Eindrücken. Jedes Seiende hat nach Eugen Fink ein »darbietendes Sein« 30, das »nicht zufällig und gelegentlich« zum Vorschein kommt. »Das Seiende scheint an ihm selbst, – das Erscheinen ist nicht von ihm abzutrennen oder abzuziehen, es macht vielmehr gerade wesentlich sein Sein mit aus.« 31 Indem der Blick auf das Seiende nie allein von der Macht des Erscheinenden gelenkt wird, darf auch das im Bild Fixierte nur als eine »Anspielung«

29 30 31

Ebd., S. 101. Ebd., S. 102. Ebd., S. 103.

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Durch Bilder denken und das Üben des Hinsehens

auf etwas Seiendes betrachtet werden – wenn sich dies auch als noch so wahr suggeriert und jeder Zweifel sich von selbst zerstreut, es könnte vieles auch ganz anders sein. Um aber (für uns) erscheinen zu können, müssen sich die Dinge (das gilt ebenso für die Halbdinge 32 wie Licht und Schatten, Klang und Geruch) in ihrem anwesenden Sein bewegen. Dies setzt keine allokative (Fort-)Bewegung voraus, sondern die Bewegung eines dynamischen Lebensausdrucks, der noch an einem »toten« Stein sichtbar wird: Wenn die Sonne ihn uns im warmen Licht hell und weich oder im trüb-fahlen Licht schwer und finster erscheinen lässt. Zu beinahe allen Gegenständen gehören schließlich Eigenschaften, die sich der sinnlichen Wahrnehmung ganz entziehen – allerkleinste Merkmale, die dem Auge nicht zugänglich sind. Die Dinge erfassen wir schließlich über ihre Gestalt (Größe sowie Kubatur etc.) und Bewegungssuggestion (das Sanfte des Runden oder das Harte des Kantigen etc.), so dass der Blick dann nicht durch intentionale Aufmerksamkeiten, sondern auf leiblich spürbare Weise durch Richtungsbahnen gelenkt wird. 33 Gestalten wie Bewegungssuggestionen folgen im herumwirklichen Feld der Wahrnehmung aber anderen Bahnen der Eindrucksverarbeitung als in der Situation der Betrachtung einer Photographie. Das hergestellte Bild bietet nur zweidimensionale und sinnlich reduzierte Ansichten. Es stellt keine »wirkliche« Tiefe des Raumes dar. Dennoch spricht es, sofern es atmosphärische Momente hinreichend eindringlich zum Ausdruck bringt, in einer leiblichen Weise an, die über den Kanal des Visuellen hinausgeht. Der Blick ist kein optischer Strahl, der auf etwas geworfen wird wie der Lichtkegel einer Lampe auf einen im Dunkeln liegenden Schuh. Mit Wilhelm Pinder merkt Schmitz zur Wahrnehmung von Plastiken der Kunst an, dass es nicht auf den fixierenden Blick ankomme, sondern den »laufenden« und lebendigen Blick, der nicht verweilt, sondern »wandert in gleitender Bewegung, in Blicklinien an der Figur entlang« 34. Es ist dies ein im produktiven Sinne unruhiger Blick, der nicht nur Skulpturen abtastet, sondern jeden Gegenstand der Wahrnehmung, der dreidimensional und sinnlich gegen-

32 33 34

Zum Begriff der Halbdinge vgl. auch Fußnote 2 in Kapitel 2. Vgl. Schmitz, System der Philosophie. Band II/2, S. 114. Ebd.

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Die Photographie im Fokus der (Neuen) Phänomenologie

wärtig ist. In diesem Sinne muss auch »anschauende Versenkung« 35 verstanden werden. Bestenfalls liegt sie – in der bewussten und sensiblen Hinwendung zu einem Objekt – dem Akt der photographischen Bildgebung zugrunde. Viel schwerer ist sie in der Betrachtung einer Photographie erreichbar. Dennoch strebt jedes Bild, das als Ausdrucksmedium aufgenommen worden ist, danach, die tiefe Schau und nicht nur das oberflächliche Sehen zu evozieren. »Die Möglichkeit der Schau beruht in dieser Distanzierung dessen, was vor das Sehen gesetzt und somit von ihm gesehen wird. Dies ist die phänomenologische Definition des Gegen-stands: das, was vor uns gesetzt, auf diese Weise sichtbar gemacht wird.« 36 Gegenstand ist somit auch eine Photographie (als materieller oder digitaler Gegenstand). Sie ist zwar nicht das Wirkliche selbst, setzt aber doch etwas im Bild Erscheinendes als Sache der Wahrnehmung vor uns. In der phänomenologischen Auseinandersetzung mit dem erkenntnistheoretischen Potential des photographischen Bildes sind prinzipiell mehrere Bild-Typen relevant, die im Prozess der Bewusstseinsdifferenzierung ihr je eigenes Gewicht haben. Vier Beispiele seien abschließend pointiert: 1. Historische Photographien, die in einer Gesellschaft als Spiegel des Zeitgeistes fungieren (z. B. von bekannten Repräsentanten und Repräsentantinnen wie John Thomson im 19. Jahrhundert, Eugène Atget im frühen 20. Jahrhundert, August Sander knapp 50 Jahre später bis hin zu Ed van der Elsken oder Gudrun Kemsa in der Gegenwart). Sie explizieren im Rahmen einer ästhetischen Praxis sowie im erlebenden und nachdenkenden »Umgang« mit der Welt eindrücklich werdende Situationen und drücken ein zu einer bestimmten Zeit aktuelles Erleben aus. Sie dürfen daher als eine »eigene«, unmittelbar situationsbezogene Spiegelung pathischer Beziehungen betrachtet werden. Zugleich sind sie mediale Brücken zwischen historisch unterschiedlichen Gemengelagen gesellschaftlicher Verhältnisse. Sie machen für die Wahrnehmung denk- und fragwürdig, was das Leben in einer Vergangenheit bewegt hat. 37

Ebd., S. 3. Henry, Affekt und Subjektivität, S. 15. 37 Abbildungen dieser Art finden sich zahlreich im zweiten Teil meines Buches zum Leib der Stadt. 35 36

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Durch Bilder denken und das Üben des Hinsehens

2. Photographien aus zirkulierenden Bild-Text-Verbundmedien (aus dem Bereich des gesamten Nachrichtenwesens). Die postmoderne Bilderflut, die einen massenmedialen Kernbestand von TV und Internet ausmacht, lässt sich auch als Feld der Explikation von Eindrücken deuten. Dieser Typ photographischer Bilder ist allerdings von massenmedial gefilterten Tagesaktualitäten getaktet. Komplexe spätmoderne Mediensysteme erfüllen unter anderem aber nicht zuletzt die Aufgabe, die Gesellschaft programmatisch (und ideologisch) mit Bildern zu versorgen, die in ihrer Symbolkraft die herrschende Hygiene des politischen Denkens und Fühlens tragen und nicht beeinträchtigen oder stören. 3. Kunst-Photographien, die dem System der Kunst zuzuordnen sind. Objekte, die (als Kunstwerke etikettiert und inauguriert) nach außen treten und auf die gesellschaftliche Wahrnehmung einwirken, stehen in einem spezifischen Verhältnis zu kulturellen Bedeutungen. Sie werden erst dann vom diffusen Kunstsystem assimiliert, wenn sie von Systeminsidern auch als Kunstwerke »angenommen« worden sind. Im Rahmen einer phänomenologischen Rekonstruktion von Situationen des Erlebens müssen sie umso mehr de- und rekontextualisiert werden. Aus fachlicher Sicht nimmt sich insbesondere die Kunstgeschichte dieser Aufgabe an. 4. Im zweiten Teil dieses Bandes werden allein solche Photographien in einen phänomenologischen Kontext gestellt, die sich als Explikation von Eindrücken in das erkenntnistheoretische Programm der Schärfung der Aufmerksamkeit einfügen. Die unter II.1 bis II.5 gezeigten Bildserien dienen der Veranschaulichung der prinzipiellen Explizierbarkeit sinnlicher und situationsgebundener Eindrücke mit den Mitteln der Photographie. Sie sind im Laufe mehrerer Jahre zusammengetragen worden. Aufgenommen wurden Orte im Raum und Dinge an Stellen im Raum. Auch diese Photographien stehen in der Logik eines spezifischen Gebrauchswertes. Sie sollen zeigen, dass und unter welchen Bedingungen eindrücklich werdende Situationen zum Ausdruck gebracht und dem nachspürenden Bedenken von Wirklichem zugeführt werden können. Die Geste ausdrucksorientierten Photographierens spiegelt eine Hinwendung zur Welt wider, die sich profilierter Aufmerksamkeit verdankt. Wer dagegen nur wenig empfindet und vornehmlich diffus 67 https://doi.org/10.5771/9783495823750 .

Die Photographie im Fokus der (Neuen) Phänomenologie

wahrnimmt, was um ihn herum ist und geschieht, kann sich auch nur trübe Bilder machen. So ist die photographische Geste unmittelbar mit dem Leib verbunden. Henry versteht ihn als das »Vermögen, welches uns auf die Welt hin öffnet und so das Prinzip unserer Erkenntnis ist« 38.

38

Henry, Affekt und Subjektivität, S. 114.

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4. Die Bedeutung des Technischen

Die Herstellung photographischer Bilder vollzieht sich nicht nur als kreativer, sondern vor allem – und vor jeder qualitativen Frage – als technischer Prozess. Schon die großen Gemälde der Kunstgeschichte verdanken sich nicht »rein« menschlichem Können. In ihrer Entstehungsgeschichte spielten technische Medien stets eine unverzichtbare Rolle. Allein die Verwendung von Pinsel und Spachtel zum Auftrag der Ölfarben auf eine Leinwand muss bereits als Ausdruck eines technischen Arrangements verstanden werden. Es gibt jedoch markante Unterschiede zwischen der einen und der anderen Technik. Während »einfache« Techniken in der Zivilisationsgeschichte des Menschen meistens auf den Gebrauch handwerklich hergestellter Instrumentarien beschränkt waren (schon der Zahnstocher ist in diesem Sinne ein technisches Gerät), sind die meisten Apparaturen der Spätmoderne komplexe High-Tech-Gebilde, deren Funktion auf abstrakten Algorithmen basiert. In der Gegenwart werden motorische und mechanische Prozessabläufe zunehmend von virtueller Hand (durch Computerprogramme) gelenkt. Schon einfache handwerkliche Vorgänge werden immer mehr mit Verfahren »weicher« SoftwareSteuerung verknüpft. Einen philosophisch grundlegenden Zugang zum Wesen des Technischen begründete Martin Heidegger, indem er zwischen einer instrumentellen und einer anthropologischen Bestimmung der Technik unterschieden hatte. Das Wesen der Technik liegt danach nicht in ihrem instrumentellen Charakter, denn: »Die Technik ist nicht bloß ein Mittel. Die Technik ist eine Weise des Entbergens« 1, die Erkenntnis und Aufschluss darüber bietet, in welcher Weise die Apparatewelt des Technischen im Leben der Menschen virulent ist. Das gilt in besonderer Weise für die spätmoderne Technik. Sie bahnt an, lässt entstehen – und sehen. Das durch die Technik der Photographie hervorgebrachte Bild ist im Unterschied zum Eiswürfel einer automatischen 1

Heidegger, Die Frage nach der Technik, S. 12.

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Die Bedeutung des Technischen

Eiswürfelmaschine kein einfacher physischer Gegenstand, sondern ein Medium der Imagination. Als Katalysator der Sichtbarkeit entbirgt es Wirkliches. Es stellt das Photographierte in der Form eines Bildes fest, um es der zeitlich im Prinzip beliebig andauernden Betrachtung zugänglich zu machen. Damit werden photographische Bilder aber nur bestenfalls auch zu Medien tatsächlich nachhaltigen Bedenkens. Ganz grundsätzlich zielt die Technik der Photographie auf die Generierung von Stoffen der Imagination und Affizierung ab, ganz gleich, ob sie einen andauernden materiellen Bestand haben oder als digitale, bildschirmtaugliche »Images« nur aufleuchten und dann wieder verschwinden. Sie sind Medien der Bewegung, der Emotionalisierung und des Darstellens. Ganz sicher sind sie keine Texte. Sie haben auch keinen den Texten vergleichbaren Charakter. Sie dienen der Vorstellung als Anreiz und Unterstützung, können sich als Brücken der Erinnerung ebenso erweisen wie als Hilfen auf dem Weg ins Denken. Dieses nähme dann im Bild seinen Ausgang; ins Offene des Denkbaren zwingt es indes nicht. Bilder verlangen zur Vermittlung von Sichtbarkeit notwendigerweise zunächst einen Bildträger. Diesem kommt darüber hinaus kaum größere Bedeutung zu, denn Bilder sind im engeren Sinne etwas Immaterielles. »Das Bild ist immer in der einen oder anderen Weise immateriell gewesen. Neue Medien machen diese fundamentale Ontologie von Bildern nur auf neue Weise evident.« 2 Das unterscheidet die Technik der photographischen Bildgebung von anderen spätmodernen Produktionsverfahren, die der Herstellung materieller Artefakte dienen – von der Zahnbürste bis zum Regenhut. Das Wesen der Technik ist nichts Technisches, sondern eine mit dem technischen Wandel immer wieder auf neue Weise erscheinende Potentialität der Hervorbringung von etwas. Der Wandel gehört zum Technischen, das in einer dynamischen Gesellschaft je nur das aktuell Mögliche ausdrückt und sich autopoietisch in die Zukunft hinein »streckt« – synchron zu anderen technisch vorschreitenden Entwicklungen. Dieser Wandel folgt einer Logik der kapitalistischen Manie universeller Effizienzmaximierung, in deren Sinnzentrum in erster Linie ökonomische Begehren stehen. Optimierung kann vor diesem Hintergrund Beschleunigung bedeuten oder sich in einer anderen Form der Maximierung ausdrücken, zum Beispiel einem Weniger an 2

Mitchell, Bildtheorie, S. 298.

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Technikgeschichte der Photographie

Kosten, die für ein bestimmtes Ergebnis aufgewendet werden müssen, oder (zulasten monetärer Anstrengungen) einem qualitativen Mehr. Die meisten theoretischen Debatten zur Photographie machen das Wesen photographischen Entbergens (im Sinne von Heidegger) nicht zum Thema des Nachdenkens. Eher sind es technische Prozessabläufe, die in der Logik spezifischer Bildgebrauchswerte im Hinblick auf ihre Ergebnisse betrachtet werden. Technikreflexion beschränkt sich im Wesentlichen auf die instrumentelle Bestimmung der Photographie als Darstellungstechnik, die außerhalb der Kunst meist konventionellen Zwecken unterliegt. In der Kunst nehmen die Debatten andere Verläufe.

4.1 Technikgeschichte der Photographie Die im engeren Sinne technische Methode der Photographie wurde schon um 1800 in verschiedenen Varianten entwickelt. Es sind besonders zwei Namen, die historisch mit ersten erfolgreichen Experimenten mit lichtempfindlich gemachten Trägermaterialien hervortreten: Henry Fox Talbot und Jacques Mandé Daguerre, der zunächst mit Joseph Nicéphore Niepce zusammenarbeitete. Letztendlich konzentrierte sich die Aufmerksamkeit gegenüber den Erwartungen, die an die neue Methode geknüpft wurden, auf Daguerre, der 1839 auch beeindruckende Bildergebnisse vorlegen konnte. Dennoch bleibt die Frage offen, ob Daguerre und Talbot das Hauptverdienst zukommt, als Entdecker photographisch bildgebender Verfahren angesehen zu werden. Bereits im Jahre 1839 wurden erste handliche Kameras produziert. Die Etablierung eines neuen Dienstleistungsgewerbes sollte nicht lange auf sich warten lassen, und so gab es um 1860 in »Berlin 110 und in München immerhin 64 Photographen.« 3 In der frühen Zeit ihrer Anwendung wurde die neue Methode der Daguerreotypie mit großer Begeisterung aufgenommen. Die Technik galt als eine der wirkmächtigsten Schlüsselerfindungen der Neuzeit. Jules Janin übertraf so manche Euphorie, als er meinte, unter den großen Erfindern seiner Zeit gebühre »dem Erfinder der Dampfmaschine nur der zweite Platz«. 4 Indes sollte der Streit über den künstlerischen Rang der Photographie im Vergleich mit der Malerei schier unendlich werden. 3 4

Brauchitsch, Kleine Geschichte der Fotografie, S. 33. Janin, Der Daguerreotyp, S. 47.

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Die Bedeutung des Technischen

Abb. 1: Das technische Bild als Erfahrungsmedium

Schon 1870 stellte John Ruskin die Geschicklichkeit des Malers sowie anderer Könner im Bereich traditioneller handwerklicher Künste dem Mechanismus gegenüber, den man der Photographie immer wieder vorgeworfen hatte. Dennoch sah er in der gleichsam automatischen Bildaufnahme auch neue Möglichkeiten, Beziehungen zwischen Eindruck und Ausdruck im Verhältnis zum Wirklichen zu finden, die die Malerei nicht bieten konnte. Die Technik der Photographie sah er aus methodologischen Gründen dennoch kritisch. Ein wichtiges unterstützendes Argument lieferte Alfred Stieglitz knapp 30 Jahre später und damit nach der professionellen Ausbreitung der Photographie und ihrer Etablierung in verschiedensten Anwendungsbereichen: »Die fatale Leichtigkeit der Handhabung hat die Photographie als Mittel der Bilderzeugung bei vielen in Mißkredit gebracht.« 5 Bis heute begünstigt diese Leichtigkeit bzw. die lebensweltlich einfache Handhabung des Apparats seinen schnellen und unbedachten Gebrauch. In der Masse ihrer Nutzer verstärkte die Photographie deshalb auch eine Kultur oberflächlichen Sehens und Wahrnehmens (s. Abb. 1). Dagegen hat sich für den professionellen und künstleri5

Stieglitz, Bildmäßige Photographie, S. 220.

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Technikgeschichte der Photographie

schen Gebrauch der von Stieglitz reklamierte Grundsatz eher mehr als weniger durchgesetzt, wonach bildnerisch gelingendes Photographieren gestalterische Kompetenzen voraussetzt. Nur dann kann sich die Kamera als ein beherrschtes Werkzeug bewähren, anstatt in der besinnungslosen wie massenhaften Handhabung zu einem technischen Dispositiv zu verkommen. Der technische Wandel der Apparate, der Aufnahmeparameter, der Bildträger, der Objektive, kurzum des gesamten photographischen Maschinismus, disponiert die Bedingungen, die einen maßgeblichen Einfluss auf das Noem der Photographie haben. Die Technik an sich ist nicht gut und nicht schlecht, wie sie die aufmerksame Wahrnehmung nicht a priori verbessert oder auf den Hund bringt. Eine ausgeprägte Grundskepsis gegenüber der scheinbaren Linearität photographischer Darstellungen zeigte Walter Benjamin, indem er den Irrglauben zerstreute, das auf einem Bild Sichtbare zeige das Wirkliche, so wie es ist bzw. im Moment der Aufnahme war. Sein Kommentar kritisierte die Photographie als ästhetische Praxis aber nicht pauschal; er muss vielmehr als Fußnote zur lebensweltlichen Hinwendung der Menschen zum photographischen Bild verstanden werden. »Die exakteste Technik kann ihren Hervorbringungen einen magischen Wert geben, wie für uns ihn ein gemaltes Bild nie mehr besitzen kann. Aller Kunstfertigkeit des Photographen und aller Planmäßigkeit in der Haltung seines Modells zum Trotz fühlt der Beschauer unwiderstehlich den Zwang, in solchem Bild das winzige Fünkchen Zufall, Hier und Jetzt zu suchen, mit dem die Wirklichkeit den Bildcharakter gleichsam durchsengt hat, die unscheinbare Stelle zu finden, in welcher, im Sosein jener längstvergangenen Minute das Künftige noch heut und so beredt nistet, daß wir, rückblickend, es entdecken können.« 6

Die Bilder haben ihr Rätsel. Abgelichtet wird a priori mehr, als sich nur in einem optischen Sinne dem Auge präsentiert. Jede Photographie schneidet ein Moment aus einem dahinrinnenden und unendlich kontingenten Geschehen heraus, um es im Metier der Sichtbarkeit festzuhalten. Es ist nicht nur das technikbedingt exakt und realistisch wiedergegebene Detail, das sich dem nachdenkenden Blick anbietet oder in seiner optischen Präzision sogar zur Überraschung wird. Als bildentscheidend mag sich in besonderer Weise darstellen, was plötzlich (»gerade jetzt«) von einer schon lange vergangenen Situation 6

Benjamin, Kleine Geschichte der Photographie, S. 50.

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Die Bedeutung des Technischen

vorscheint und sodann mehr atmosphärisch als nur in einem visuellen Sinne vor den eigenen Augen steht. Das ist oft eher etwas im Bild Verstecktes als der Kern dessen, was eine Photographie zeigen sollte.

4.2 Ausdrucksverstehendes Bilderleben und Erkenntnis Nicht die Technik an sich ist erkenntnisvermittelnd (bzw. -behindernd). Erst das Sehen-Können »durch« das technische Dispositiv ist Ausdruck einer Kultur der Aufmerksamkeit, die durch den bewussten Gebrauch des Apparates geschult wird. Das Detail wie das Ganze einer situativen Wirklichkeit bleiben versiegelt, solange die Macht des technischen Apparate-Automatismus größer ist als die Anstrengung, selbst hinzusehen. Trotz noch so scharfer Objektive bleibt blind, wer nur einem gesellschaftlich diffusen aber wirkmächtig disponierten Impuls zur photographischen Reproduktion von geradezu allem nachgibt, das sich dem Auge bietet. Vielsagende Photographien verdanken sich erst einer Haltung pathisch sensiblen Eintauchens in ein atmosphärisches Milieu. Noch so vielfältige Details und komplexe Ausdrucksgestalten bleiben leer, wenn sie in ihrer Bildhaftigkeit nicht bewusst rezipiert werden, mit anderen Worten, wenn es am ausdrucksverstehenden Erleben des Wirklichen mangelt: »Zugleich eröffnet die Photographie in diesem Material die physiognomischen Aspekte, Bildwelten, welche im Kleinsten wohnen, deutbar und verborgen genug, um in Wachträumen Unterschlupf gefunden zu haben, nun aber, groß und formulierbar wie sie geworden sind, die Differenz von Technik und Magie als durch und durch historische Variable ersichtlich zu machen.« 7

Es sind die technischen Parameter, die zum einen ihren Anteil daran haben, dass und wie nicht zuletzt Atmosphären zur Anschauung gebracht werden, zum anderen aber auch darauf einwirken, in welcher Weise etwas in der Tiefe von Oberflächentexturen sichtbar und dem detaillierten Nachdenken zugänglich gemacht werden kann.

7

Ebd., S. 50 f.

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Das Schnelle und das Langsame

4.3 Das Schnelle und das Langsame In der frühen Zeit der Photographie brachten es die langen Belichtungszeiten lichtempfindlich beschichteter Platten mit sich, dass die aufgenommenen Orte und Plätze, auf denen sich allzumal in den großen Städten viele Menschen unaufhörlich bewegten, im Bild einen ganz eigenartigen Ausdruck erhielten. Oft waren die abgelichteten Szenen scheinbar menschenleer oder es waren nur wenige Personen (zudem schemenhaft und verwischt) auf einem Bild sichtbar, weil »eine« Photographie aus vielleicht zig unterbelichteten (Teil-) Aufnahmen bestand, die übereinander-belichtet erst das ganze »richtig« belichtete Bild ergaben. Trotz aller einfachen wie naiven Realitätserwartungen, die an eine Photographie gerichtet wurden, waren die so entstandenen Bilder als Folge einer »verlangsamten« Technik höchst synthetische Produkte. Sie wurden eher herrschenden Bilderwartungen gerecht als der Wirklichkeit schneller urbaner Rhythmen sich bewegender Menschen. In der Gegenwart sind es – gleichsam umgekehrt – blitzschnelle Belichtungszeiten, die wiederum eigene und eigenartige Ansichten von etwas erzeugen, was dem menschlichen Auge seiner Natur nach entzogen bleibt. Die schnellen Bilder von High-Tech-Apparaten arretieren Prozesse und Bewegungen. Das aus einem Hahn strömende Wasser erstarrt im photographischen Bild dank kürzester Verschlusszeiten in einem Moment scheinbar urplötzlich zur starren Säule. So abwegig die Vorstellung eines unter dem Hahn feststehenden Wasserkörpers ist, so im Prinzip die fixierende Einfrierung tatsächlich sich doch bewegender Menschen, Tiere, rollender Züge und am Himmel dahinziehender Wolken. Wozu die »Langsamkeit« der frühen Photographie beim Porträtieren führen konnte, hatte Walter Benjamin recht treffend illustriert: »Das Verfahren selbst veranlaßte die Modelle, nicht aus dem Augenblick heraus, sondern in ihn hinein zu leben; während der langen Dauer dieser Aufnahmen wuchsen sie gleichsam in das Bild hinein und traten so in den entschiedensten Kontrast zu den Erscheinungen auf einer Momentaufnahme« 8.

Es ist nicht nur ein eigenartiger Anblick, den langzeitbelichtete Menschen (wie alles sich Bewegende) vermitteln, der ein Moment des 8

Ebd., S. 52.

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Die Bedeutung des Technischen

Technischen in sich aufnimmt; es ist das Objekt der Photographie selbst. Eine abgelichtete Fürstin (oder Parteivorsitzende) ist nicht Spiegel ihres wirklichen Seins; was von ihrem Gesicht und Habitus im Bild bleibt, vermittelt einen oberflächlichen Eindruck von ihr – im Sinne des Wortes. Verdeckt bleibt, was dem Apparat in seiner dispositiven Beschränkung entgehen muss. Die Geste des Photographierens arretiert oder verflüssigt, was sich naturgemäß bewegt. Und sie unterschlägt, was riecht und tönt, aber auch was in seinem Erscheinen aktuell berührt und stimmt. Was für die Abbildungsschärfe des Objektivs gilt, ist bei allen anderen technischen Dispositionen und Programmen prinzipiell kaum anders; jeder bewusste Gebrauch eines Apparats verlangt die Entscheidung des Photographen für einen von mehreren möglichen Spielzügen oder eine Kombination. So verhält es sich unter anderem mit der Tiefenschärfe; sie ist eine technische Darstellungsvariable. Sie liefert nicht nur scharfkantige Objektgrenzen, sie ist auch ein ästhetisches Medium der Selektivität. Tiefenschärfe macht sichtbar 9 – und außerhalb ihres Bereiches unsichtbar.

4.4 Photoapparate und ihre Programme Das technische Programm des Apparates wurde aber auch – in einem gewissen Hochmut – schon früh zum Anlass genommen, um die neue Methode der Photographie über die Malerei zu stellen. Dass darin auch eine unkritische Haltung zum technischen Gerät zur Geltung kam, zeigt sich in einem Statement von George Bernhard Shaw, der in der Mechanik des photographischen Apparates den großen Vorzug einer freien künstlerischen Gestaltbarkeit des Bildausdrucks durch den Photographen sah. »Der Maler sieht in seinem Gegenüber nichts als seine Auffassung von dieser Person. Die Kamera hat keine Auffassung, sie hat nur eine Linse und einen Verschluß.« 10 Gerade daher könne sie viel eher dem Gefühl des Künstlers unterworfen werden. »Weil aber die Kamera nicht an diesen persönlichen Duktus gebunden ist, deswegen ist eine Photographie so viel weniger durch mechanische Bedingungen behindert und gehorcht viel eher dem Gefühl des Künstlers, als dies eine Zeichnung vermag.« 11 Vgl. Busch, Belichtete Welt, S. 346. Shaw, Das Unmechanische der Fotografie, S. 225. 11 Ebd. 9

10

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Photoapparate und ihre Programme

Der Apparat wird zum einen idealisiert. Sodann traut man ihm zu, die »Last« der Subjektivität aus der Welt zu schaffen. Zum anderen sei es gerade diese Technik, die dem Ausdruck der gefühlsmäßigen Beziehung des Künstlers zu seinem Gegenstand zur Geltung verhelfe, weil die Befreiung von der Mühsal des Handwerklichen bemerkenswerte Ausdrucksspielräume eröffne. Das Programm des Apparates wird so als Vermittler von Kreativität interpretiert. Dies setzt allerdings voraus, dass sich das technische Gerät in der Hand eines ästhetisch kompetenten Gestalters auch bewähren kann. So steht der Photograph – zu Recht oder aus einer technikeuphorischen Stimmung – schließlich neben dem Maler. Wie letzterer über den opportunen Einsatz von Pinsel und Farbe zu entscheiden hat, muss der Photograph bewusst wählen, wie was mit den verfügbaren technischen Möglichkeiten sichtbar gemacht werden soll. In seiner Argumentation nahm Shaw Aspekte dessen vorweg, was viel später Vilém Flusser zu einem großen Thema machen sollte – die Befreiung des Photographen vom lenkenden und gängelnden Programm seines Apparates. Vilém Flusser rückte die Macht des Apparatedispositivs ins Zentrum seiner Kritik. Er spannte eine zweipolige, konkurrenzähnliche Beziehung auf: Bedürfnis und Interesse des Photographen zum einen und das Programm des Apparates zum anderen. Aus mindestens zwei Gründen sei eine Photographie kein »objektives« Bild, vielmehr Produkt eines Maschinismus, der in seiner Wirkung und Bedeutung unter der Macht gesellschaftlicher Distributionssysteme stehe. Flusser setzt dabei voraus, dass die Photographie a priori in Märkte verstrickt ist. Es gibt aber zahllose Bilder, die diesseits instrumentalisierender und politisierender Mediensysteme produziert werden und kulturell zirkulieren. Flusser widmet der lebensweltlichen Gebrauchspraxis der Photographie keine auch nur halbwegs vergleichbare Aufmerksamkeit wie dem Bild als a priori ökonomischem Medium. Daraus folgt, dass ihn auch die optionale Rolle der Photographie als Medium der Explikation von Eindrücken nicht interessiert. Photographie steht für ihn von Anfang an in einem Kontext, der am systemischen Faden der Massenmedien hängt. Deshalb entgeht ihm die Technik der Photographie auch als Medium der Übung zur Verbesserung von Aufmerksamkeit. Photographieren-Können als Praktik eines sich immer besser durchsetzenden Sehens, Denkens, Spürens, Sprechens etc. ist nicht sein erstes Thema, wenngleich es in der Fokussierung eines professionellen Umgangs mit dem Apparat Beachtung findet. Die Aufgabe »einer »richtigen« Fotokritik besteht – im Unterschied zu einer 77 https://doi.org/10.5771/9783495823750 .

Die Bedeutung des Technischen

Kritik vorapparativer Kulturphänomene – darin, die im Foto verborgenen, sich kreuzenden Absichten von Mensch und Apparat aufzuhellen.« 12 In der Tat folgen alle Parameter einer photographischen Darstellung, und damit auch alle Bedingungen der Sichtbarmachung, der Programmierung des Apparates. Dass sich der herrschende Diskurs über Photographie im Allgemeinen sowie über konkrete Photographien im Besonderen kaum einer tiefergehenden Reflexion des Apparatedispositivs zuwendet, spiegelt nur die weitgehend reibungslose Machtentfaltung der Photographie als bildgebender Methode wider. Diese diskursive Lücke wiegt umso schwerer, als der überwiegend größte Teil aller massenhaft gebräuchlichen Apparate nach einem ähnlich automatischen Schema funktioniert und gerade deshalb eines von Grund auf kritischen Bedenkens bedürfte. Solange dies nicht geschieht, wird weitgehend selbstverständlich vorausgesetzt, dass Bilder (a) nur zweidimensional begrenzte und visuelle Vorstellungen vermitteln, (b) der Abbildungsausschnitt einer Brennweite folgt, (c) die Farbwiedergabe – von äußerst raren Apparaten, die für die ausschließliche Übertragung des Lichts in Grauwerte gemacht sind – ebenso gegeben ist wie eine »tatsächliche« Wiedergabe von Kontrasten und Farbwerten. Zu den massenhaft fraglos akzeptierten Bedingungen im habituellen Gebrauch des Apparates gehört schließlich (d) die Präjudizierung des Querformats, die sich schon aus der menschlichen Anatomie suggeriert und zur Folge hat, dass das Hochformat zur Ausnahme wird. Zum einen kann der Apparat bequem nur mit beiden Händen quer gehalten werden. Von großer Bedeutung dürfte hier das »natürliche Format« der menschlichen Wahrnehmung sein, das die Abbildungsästhetik des Querformats präferiert, hat der Mensch doch zwei Augen neben- und nicht übereinander. Schließlich (e) sind die meisten Apparate für eine Masse konzipiert, die von der Wahl einer Brennweite befreit sein will, so dass ein mittleres Weitwinkelobjektiv die Standardausstattung bestimmt und ein Objektivwechsel technisch gar nicht erst vorgesehen ist. Zahlreiche automatische Einstellungen (f) verdienen nicht zuletzt deshalb die kritische Aufmerksamkeit, weil sie jede Entscheidung der Bildgestaltung (in formaler wie ästhetischer Hinsicht) obsolet machen, die auf den Prozess der Bildgebung einen maßgeblichen Einfluss haben könnte (nicht nur in der Sache 12

Flusser, Fotokritik, S. 192.

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Photoapparate und ihre Programme

des Sichtbaren, sondern ebenso der Ästhetik des Erscheinens). Dazu gehören neben Tiefenschärfe und Bewegungsunschärfe (s. o.), unter anderem Weißabgleich, Kontrast, Härtegrade der Darstellung, Körnung, Empfindlichkeit des lichtsensiblen Trägers etc. Flusser beharrt zu Recht auf einer nachhaltigen Kritik von Apparateprogrammen, die doch – nur als benutzerfreundliche Gehilfen betrachtet – in ihrer bildgebenden Macht auf groteske Weise unbedacht bleiben. So stellt sich der Apparat als Materialisierung eines technischen und ästhetischen Dispositivs dar. Die (idealisierende) Diagnose, »daß jedes einzelne Foto das Resultat eines Kampfes zwischen menschlicher Absicht (der Freiheit) und apparatischen Programmen ist« 13, dürfte nur auf rare Anwendungssituationen zutreffen. Viel essentieller ist Flussers Kritik an der Macht von Apparateprogrammen und damit an der massenhaften Unterwerfung des (prinzipiell leiblich sinnlich-sensiblen) Individuums unter das Dispositiv einer bilderproduzierenden Maschine. Wenn auch praktisch beinahe keiner Laienaufnahme ein in diesem Sinne zu verstehender dialogischer Kampf zugrunde liegen dürfte, so fordert ihn doch im Prinzip jeder bewusste Akt gestalterischer Bildgebung heraus. Vorausgesetzt ist dabei jedoch, dass, wer photographiert, eine Vorstellung davon hat, was wie ins Bild gesetzt werden soll. Der Apparat wäre einer Idee zu unterwerfen, einem individuellen menschlichen Programm, einem Interesse, einer Absicht, einem Wollen, einer Lust am Sehen und Zeigen. Das wäre noch auf die radikal automatisierten Foto-Applikationen von Smartphones anzuwenden, bieten sie doch zumindest durch einfache 90°-Drehung die Möglichkeit des Wechsels vom Hoch- zum Querformat. Das Smartphone macht, wie schon die gute alte Kamera, das Format zu einer Selbstverständlichkeit und Folge der bequemen wie gewohnten Handhabung des Apparates. Deshalb zeigt sich im Sinne einer Nachjustierung der Anthropologie des Sehens das Standardbild des Smartphones nun nicht mehr als Quer-, sondern als Hochformat. Die technische Zivilisation des Sehens ist mächtiger als die natürliche Ausrichtung des Blicks auf einen Horizont, auf dem es im tagtäglichen Leben rechts und links mehr zu sehen gibt als oben und unten. Zumindest in den architektonischen Vertikalwelten ultramoderner Metropolen wird der Blick als Folge einer neuen wie repräsentativen

13

Ebd., S. 193.

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Die Bedeutung des Technischen

Hochbautechnik und Ästhetik des Urbanen auf ein neues Paradigma visueller Aufmerksamkeit eingestellt.

4.5 Der technische Apparat im Spiegel von Zivilisations- und Kulturkritik Ein strukturelles Schnittstellenproblem zwischen Mensch und Apparat liegt darin, dass die Routinen der Massen dem seriellen Algorithmus folgen und nicht Ausdruck kreativer wie selbstbestimmter Wege der Bildgebung sind. Das Gros der Benutzer automatischer Kameras und Foto-Applikationen folgt dem einstellenden Imperativ hintergründig unmerklich lenkender Software. 14 Wenn Flusser »das in der Apparatekultur schlechthin Verborgene« aufhellen will 15, so stellt sich darin eine Aufgabe von zivilisationskritischem Ausmaß. In deren Mitte steht nicht nur der Fotoapparat, sondern das Projekt einer kategorialen Entkräftung technischer Dispositive und das heißt die Rückeroberung handhabungssicherer Gestaltungskompetenz in allen Bereichen der Vorherrschaft des Technischen. Das setzt jedoch zunächst die Anerkennung einer erst noch zu übenden Denk- und Reflexionsarbeit voraus. In der breiten gesellschaftlichen Praxis einer gewohnheitsbedingt einfachen Handhabung aller möglichen Apparate dürfte der »Dienst« der Selbsttätigkeit dagegen durchaus willkommen sein. Flussers unüberhörbare Kritik des Apparatedispositivs geht also weit über die Benutzung der Kamera hinaus; sie macht nämlich die Essenz einer allgemeinen Kritik der Bedeutung technischer Gestelle im täglichen Leben aus. Flussers Fotokritik ist also nur scheinbar allein eine Kritik des Gebrauchs von Kameras und sogenannter Foto-Apps. Vielmehr fordert sie in einem sehr allgemeinen Sinne das Unterfangen einer »Emanzipation der Gesellschaft vom Apparat-Totalitarismus« 16. Das bedeutet keine Negation des Technischen im täglichen Leben, aber eine Bewusstmachung seiner Wirkungsweisen und Kolonisierungspotenziale existenzieller Vermögen der Aufmerksamkeit. Flussers Fotokritik ist insofern eine Insiderschrift, als sie in ihrer Resonanz kaum über akademische Kreise hinaus wirksam geworden 14 15 16

Vgl. Flusser, Die Geste des Fotografierens, S. 111. Flusser, Fotokritik, S. 194. Ebd.

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Der technische Apparat im Spiegel von Zivilisations- und Kulturkritik

ist. Die Praxis lebensweltlicher Photographie hat sie nicht erreichen, geschweige denn verändern können. Insbesondere in der Laienperspektive wird die Photographie in Bezug auf Glaubwürdigkeit und Authentizität ihrer Erzeugnisse eher überschätzt. Sie stärkt den Glauben, »daß es sich hierbei um die natürliche Repräsentationsform handele.« 17 Einen naiven Naturalismus im Spontanverstehen der technischen Ablichtung setzte einer ihrer Erfinder – Henry Fox Talbot – mit dem Buchtitel »The Pencil of Nature« schon früh in die Welt. 18 Die Kulturindustrie der Massenmedien schiebt das vermeintlich »informierende« Bild einer unkritischen Masse als »Beweis« für Realität unter. Der klischierende, veroberflächlichende und simplifizierende Gebrauch der Photographie erklärt sich auch in demokratischen Gesellschaften noch aus der Psychologie der Masse(n). Karl Jaspers nennt die Masse das technische Kollektiv der Gesellschaft: »Das technische Kollektiv der Gesellschaft […] ist beliebig übertragbar, identisch wiederholbar, hat keine Vergangenheit, die es in der Erinnerung trägt, ist restlos geplant, übersehbar und zu machen. Es kann jeden Menschen ersetzen, ohne sich zu ändern, es behandelt ihn nur als Mittel, als Teil und als Funktion. Es hat keine Zukunft als nur die nicht gefühlte, sondern gehaltlose des quantitativen Mehr-werdens, des Verbesserns der Maschinen, des Ersatzes des Verschlissenen an Menschen und Material.« 19

Ähnlich zivilisationskritische Einstellungen verbinden sich mit dem Denken zahlreicher anderer in ihrer theoretischen und philosophischen Orientierung mitunter äußerst weit auseinander liegender Autoren (von Arnold Gehlen über Martin Heidegger bis hin zu Theodor W. Adorno und Max Horkheimer). Auch sie erlebten und reflektierten zu ihrer Zeit einen umfassenden technologischen Wandel, der im kulturellen Rahmen einer schnellen Transformation stattfand, die im Westen Deutschlands von US-amerikanischen »Innovationen« der Kulturindustrie angetrieben wurde. Im Spiegel affektiver Betroffenheit von einer neuen weltgeschichtlichen Epoche erschienen zu jener Zeit die Kontraste größer als in der Gegenwart. Zudem gab es keine Sprech- und Denkblockaden, die im Sinne »politischer Korrektheit« als Filter des Nicht-Erlaubten fungiert hätten, so dass die Beziehungen zwischen Technik und Gesellschaft noch in einem ideologisch 17 18 19

Mitchell, Bildtheorie, S. 63. Talbot, The Pencil of Nature. Jaspers, Das Kollektiv und der Einzelne, S. 67.

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Die Bedeutung des Technischen

weitaus weniger eingefärbten Licht bedacht und ausgesprochen werden konnten und durften. Im kritischen Gebrauch der technischer Apparate der verschiedensten Art ist aus der Perspektiv der Gegenwart insofern ein Rückfall zu vermerken, als die Vielfalt aller möglicher High-Tech-Medien, die fast alle gesellschaftlichen Gruppen in ihrer alltäglichen Lebenspraxis geradezu überfluten, mit einer Selbstverständlichkeit des Gebrauchs einhergeht, die jede tiefergehende Kritik von vornherein abschirmt. Im 19. und frühen 20. Jahrhundert waren die Beziehungen zum Technischen weitaus spannungsreicher. Zwar galt in der Mitte des 19. Jahrhunderts die Photographie als »neutraler und transparenter Operateur, der sowohl als interventionsloses Aufzeichnungsinstrument dienen konnte als auch als Ideal für die moralische Disziplin der Wissenschaftler selbst« 20. In der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts wurde die Objektivität der Photographie dem Anspruch auf Genauigkeit aber auch kritisch entgegengestellt: »Die Genauigkeit sollte nicht der Objektivität geopfert werden.« 21 Zwar galt die Photographie als objektiv; nicht deshalb musste sie aber auch genau sein. Vieles, das in einem hohen Detaillierungsgrad und in mikrologischen Strukturen sichtbar gemacht werden konnte, entzog sich nicht nur lebensweltlicher Brauchbarkeit. Auch war vieles in der Art und Weise seiner photographisch hergestellten Sichtbarkeit – trotz beeindruckender Schärfe und objektiver Richtigkeit – nicht schon deshalb auch in der Sache des Objektverstehens treffend. Um der Genauigkeit willen war besonders in Botanik und Zoologie die zeichnerisch exakte Wiedergabe von Pflanze und Tier die erste Pflicht. Es kam auf eine Form sachbezogener Trefflichkeit durch Kontrastierung, Konturierung und Isolierung an, die mit den Mitteln der Photographie nur bedingt erreicht werden konnte. So fanden in der naturwissenschaftlichen Anwendung (z. B. in Anatomie- oder Botanik-Atlanten 22) nicht selten Zeichnungen den Vorzug vor der photographischen Darstellung. Auf ganz andere Weise wird dieses zumindest latent schwierige Verhältnis zwischen Objektivität und Genauigkeit in der phänomenologischen Nutzbarmachung der Photographie als Medium der Explikation von Eindrücken wiederkehren. Die Beispiele der Kapitel II.1 bis II.5 werden zeigen, dass das Bild – trotz aller Objektivität des Visualisierten – der 20 21 22

Galison, Urteil gegen Objektivität, S. 390. Ebd., S. 395. Vgl. ebd.

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Der technische Apparat im Spiegel von Zivilisations- und Kulturkritik

weiteren Ergänzung expressis verbis formulierter Sätze oder sprachlich gefasster Gedanken bedarf. Wenn Michel Henry sagt, »dass das Leben aufgehört hat, die Grundlage der Gesellschaft zu bilden« 23, so drückt sich darin implizit auch eine Kritik am massenhaft geradezu zelebrierten Bildgebrauch aus. Die hegemoniale Herrschaft der Abstraktionen und Institutionen hat eine perzeptive Versiegelung des Wirklichen bewirkt und den direkten sinnlichen Kontakt sowie die bewusst nachspürende pathische Verwicklung ins Wirkliche vernebelt. Damit geht eine neue Naivität und Gläubigkeit gegenüber »Nachrichten« in Wort und Bild einher, die die Massenmedien in der beinahe sicheren Erwartung emittieren können, auf eine weithin leichtgläubige Öffentlichkeit zu stoßen. Beinahe unbemerkt hat sich das (digitale) Bild vor die sinnliche Wirklichkeit geschoben, um zu einer imaginären Quelle postfaktischen Wissens aufzusteigen. Wer die Macht über die screens hat, hat auch die Macht über das Bild der Welt und damit das Denken und Fühlen der Menschen. Das Programm eines erkenntnistheoretisch und darin insbesondere phänomenologisch bewusstgemachten Umgangs mit dem Bild will diese Richtung der technischen Vergesellschaftung des Menschen umkehren und sucht deshalb selbstbewusste Wege der Bildgebung wie der Bildnahme. Das Wahrgenommene, das sinnlich Präsente wie das auf einem Bild sichtbar Gemachte wird zu einem Gegenstand kritischen Bedenkens wie sensiblen Nachspürens, um die Essenz dessen aufschließen zu können, was sich hinter den Sphären des Sichtbaren verbirgt. Dies ist ein Weg der Schärfung pathischer Aufmerksamkeit, unverzichtbar aber auch einer der intellektuellen Übung. Komplexe technische Apparaturen – im Bezug auf die Produktion photographischer Bilder – sind dabei nicht von Nöten. Die einfache, jedermann verfügbare Kamerafunktion des Smartphones reicht im Prinzip aus, um sich dieser zivilisationskritischen Aufgabe (bildgebend) zu stellen. Lewis Hine, dem es im Gebrauch der Kamera um die Zwecke der Sozialarbeit ging, hatte schon früh in der Geschichte der professionellen Anwendung der Photographie ein Sensorium für deren Potentiale entdeckt, indem er die Methode erfolgreich für die Darstellung von Atmosphären und Stimmungen sozialer Milieus nutzte. Schon 1909 merkte er an, »besser mit wenig

23

Henry, Die Barbarei, S. 205.

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Die Bedeutung des Technischen

Technik und viel Einfühlungsvermögen als umgekehrt« 24. Die in den Alltag diffundierten Routinen in der seriellen Handhabung sogenannter Foto-Apps illustrieren indes mehr die dringende Notwendigkeit der Intensivierung solchen Übens als bereits erreichte Fortschritte eines alphabetisierten und kritischen Bildgebrauchs.

24

Hine, Sozialfotografie, S. 272.

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5. Die Zeitlichkeit

Alexander Gardner machte 1865 eine Photographie von Lewis Paynes, der angesichts der unmittelbar bevorstehenden Vollstreckung seiner Todesstrafe ins Leere starrte. Am Beispiel dieses Bildes illustriert Roland Barthes das Punctum (s. auch Kapitel 6.4) als die bestimmende Situation und zeitliche Essenz einer Photographie. Die Zeit ist für ihn die »erschütternde Emphase des Noemas (»Es-ist sogewesen«)« 1. Allzumal im historischen Gebrauch der Photographie trete ihr Charakteristikum klar zu Tage: »die ZEIT zermalmt: dies ist tot und dies wird sterben.« 2 Historische Photographien zeigen immer etwas, das es – aus der Blickbahn des Bildes betrachtet – zumindest so nicht mehr gibt. Das sichtbar Gemachte ist vorüber. Sobald das Bild zur Erscheinung kommt, ist es eine Spur der Geschichte. Die Photographie von Gardner ist deshalb so faszinierend wie berührend und beinahe schockierend, weil der Proträtierte schon kurz nach der Aufnahme Opfer seiner Hinrichtung wurde. Was das Photo des Todeskandidaten auf die Spitze treibt, ist prinzipiell jeder beliebigen Photographie inhärent: Sie reißt etwas aus der Zeit heraus und legt den Fluss von Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft still. Im Prozess einer Aufnahme, die etwas vor Augen führen will, wird auf den Film oder einen anderen Bildträger gebannt, was aus der Vergangenheit kommt. Auch wenn die Dinge fortbestehen oder in vitaler Weise sogar fortleben, so sind sie doch in jeder auf die Betätigung des Auslösers folgenden Minute schon anders als im Augenblick der fixierenden Aufnahme. Im Bild kommt zur Erscheinung, was es so nicht mehr gibt. Das Gesicht, der Leuchtturm oder die Trauerweide künden, indem sie aus der dahinrinnenden Zeit herausgehoben wurden, in einer metaphorischen Weise vom Tod, denn nichts währt ewig. Es ist paradoxerweise ausgerechnet das Fixierte, das auf das Vergehen und das Vergangene hinweist. 1 2

Barthes, Die helle Kammer, S. 105. Ebd., S. 106.

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Die Zeitlichkeit

Die Referenz des photographischen Bildes hat immer einen in der Zeit rückwärtsgewandten Akzent. Darin legitimiert sich der besondere dokumentarische Wert der Photographie zum Beispiel für Denkmalschutz, Kunstgeschichte, Archäologie und Forensik. Eine ganze Reihe interdisziplinärer Archivierungsprogramme stützt sich auf die Photographie als Instanz der Beglaubigung durch Sichtbarmachung. Genauer genommen müsste man vom »ehemals« Sichtbaren sprechen, das dem Bewusstsein zugänglich gemacht werden soll. In der Gerichtsmedizin sind es Tote oder Teile von ihnen, in der Kunstgeschichte oft Jahrhunderte alte Gemälde, in der Denkmalpflege Bauten und Parkanlagen, die schon wieder verändert oder überwachsen sind, in der Archäologie Spuren von längst Sedimentiertem, die in einem Grabungsfeld für kurze Zeit ans Licht der Gegenwart traten. Was der Archivierung zufällt, hat nur in einer Vergangenheit existiert. Nach der Aufnahme – der Bildwerdung eines Wirklichen – gehört es bereits nicht mehr zur Gegenwart. Das Bildbeispiel akribisch archivierter Kontaktabzüge von zahllosen Schwarz-Weiß-Photographien eines Unbekannten spitzt diese Verfremdung mnemonischer Beziehungen zu einem einst vitalen und ganz persönlichen Leben zu (s. Abb. 2). Photographien, die jenseits naiver Abbildungserwartungen nachdenklich betrachtet werden, geben sich als Medien zu verstehen, die »zwischen« den Zeiten stehen. Schon der Moment der Aufnahme »verfrachtet« das Erscheinende in die Vergangenheit. Jedes Bild scheint aus einer zurückliegenden Zeit vor. Es ist schon der labortechnische Prozess der Film- und Bildentwicklung, an dessen Zu-EndeKommen die Photographie von ihrem optischen Träger freigemacht wird, um im engeren Sinne Bild zu werden und zugleich in ihrem Vergangenheitscharakter zu erscheinen. Bilder werden für eine nahe oder ferne Zukunft gemacht. Ohne die aufnahmebedingte Unterbrechung des Dahinrinnens der Zeit müssten sich die Menschen mit ihren Erinnerungen begnügen und mit dem zufrieden geben, was aktuell ist und geschieht. Der chronologische Bruch wird damit zu einem doppelten. Das Bild macht in einer Gegenwart etwas aus der Vergangenheit sichtbar, das für eine Zukunft aufgehoben werden soll. Was »später« im Blick aufs Bild nicht nur sichtbar, sondern lebendig wird, erscheint wie eine reanimierte Gegenwart. Deshalb »sagt« eine noch so banale Photographie (zum Beispiel eines Baumes unter Bäumen) auch nicht nur etwas über einen früheren Moment der wirklichen Existenz von etwas (dieses Baumes); sie gibt ebenso Auskunft 86 https://doi.org/10.5771/9783495823750 .

Die Zeitlichkeit

Abb. 2: Seite aus dem privaten Photoarchiv eines Architekten (1960er Jahre)

über die Arten und Weisen der Anschauung wie der Wahrnehmung, über die Produktion von Wahrnehmbarkeit, die Übertragung von Seherwartungen in ästhetische Formate und nicht zuletzt über das Verhältnis von Photograph und Betrachter. Ob es sich beim Bildsujet um etwas in Gänze Banales handelt oder durch und durch Sensationelles, Besonderes oder gar Spektakuläres, spielt eine untergeordnete Rolle. 87 https://doi.org/10.5771/9783495823750 .

Die Zeitlichkeit

Es versteht sich von selbst, dass Photographien, die schon durch ihre gebrochene Historizität nie in einem linearen Sinne verstanden werden können, die Arbeit des Nachdenkens herausfordern. Das Verstehen der Bilder folgt jedoch keinem linearen Programm. Was die Bilder sichtbar machen, fordert eine Art der Aneignung heraus, in der es für chaotische Sichtbeziehungen Raum geben muss, die sich durch affektive und suggestive Potentiale des Erscheinenden provozieren. Es ist der von Walter Benjamin angesprochene Zufallscharakter dessen, was im Bild sichtbar wird, der kreative und mimetische Beziehungen verlangt und keinen semiotischen Modus des »Lesens«. 3 Schon der Begriff des »Lesens« setzt ein regelhaftes Identifizieren voraus. Ich kenne die Schrift X und kann daher ein Schriftstück lesen, das in derselben Schrift X verfasst ist. Das kann man (abermals semiotisch) auch »Decodierung« nennen. Was im photographischen Bild anschaulich wird, affiziert, sobald es die Aufmerksamkeit weckt. Es spricht die Phantasie an, auf dass Verbindungen vom Sichtbaren zum Spürbaren zustande kommen und Bedeutungen lebendig werden, die dem Sichtbaren anhaften (in der Zeit der Aufnahme in aller Regel anders als in der Zeit der Präsenz des vergrößerten Negativs). Keine im Medium der Photographie wahrnehmbar werdende Bedeutung kann verständlich werden, wenn der die Zeit fixierende Charakter bilderspeiender Apparate nicht bedacht wird. Die Heterochronizität einer Photographie verlangt geradezu danach, die Spuren einer vorübergegangenen Zeit aufzunehmen. Was im Bild vorscheint, »ist« nie dieses oder jenes. Es ist stets Moment von etwas sich Wandelndem, das im Bild fixierend aus diesem Wandel herausgerissen worden ist. So macht jede Photographie darauf aufmerksam, dass »das Dasein im Ganzen […] unvollendet« 4 bleibt. Das gilt für die Dinge wie für die Menschen und schon für banale Situationen, deren Grenzcharakter darin wahrnehmbar wird, dass sie den Wandel von allem bewusst machen. Das Dasein hat eine antinomische Struktur. Diese wird der Reflexion aber nur zugänglich, wenn nicht das vermeintlich Fixierte und allein im Bild scheinbar dingfest Gemachte die Orientierung des Le-

Für Jessica Nitsche, die zur Bedeutung der Photographie im Werk von Walter Benjamin gearbeitet hat, steht die »Forderung nach einem aufmerksamen und geistesgegenwärtigen Lesen und Leser der Ereignisse« im Fokus; Nitsche, Walter Benjamins Gebrauch der Fotografie. 4 Jaspers, Was ist der Mensch?, S. 166. 3

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Die Zeitlichkeit

bens bestimmt, sondern das Bewusstsein des Ausgesetzt-Seins und Schwimmens in einer umfassenden Lebensdynamik. Erst dann öffnen sich die Spielräume möglichen Sein-Könnens dem Denken. »Statt in der Grenzsituation für mögliche Existenz ein Stauwerk der Hemmungen zu errichten, an dem sie im Dasein sich emportreibt, bleibt vielmehr der Widerstand aus; mein Leben, statt in ihm selbst zu werden, fließt gleichsam hindurch, in spielendem Schaum schöne Bilder blickend, aber ohne Substanz in sich, weil ohne ausschließende geschichtliche Bestimmtheit. […] Dann habe ich, gefesselt an ein bestehendes antinomisches Weltbild, die Grenzsituation doch für mich verloren.« 5

Karl Jaspers ruft – gegen jede Erstarrung, die paradigmatisch in der fixierten Photographie vorscheint – dazu auf, die Grenzsituationen anzunehmen, die diesseits existenzieller Abgründigkeit in jeder noch so banalen Situation keimen. Gegen das, was die Bilder in unserer Zeit als Medien sogenannter »Information« leisten, können sie den Durchgang, den Prozess und das Performative des Lebens der Wahrnehmung präsentieren und ins Fragwürdige treiben. Das tun sie zum einen, indem sie das Schöngemachte inmitten einer oft dystopischen Welt in Szene setzen und das Spiel einer kulturindustriellen Universalbetäubung 6 mitmachen – Provokation durch Übertreibung und Beschleunigung, satirisches Mitspielen und schlichte Widerspiegelung von real Existierendem. Wo in einem ästhetizistisch überschäumenden Leben die Wachheit jedoch abzusterben beginnt, verhallt auch die ekstatische Geste der eutrophierenden Bilder. Ein ganz anderer Weg öffnet sich in einer hyperventilierenden Kultur auf dem Wege der ästhetischen Konfrontation mit dem Daseinsmodus der Ruhe – der Verführung zur Kontemplation, der ruhigstellenden Fixierung des Blickes angesichts der Aura scheinbar langweiliger und leerer Bilder, die nichts Sehenswertes zu zeigen scheinen – Bilder wie Frottagen, die nur wie ein Abdruck oder eine Kopie etwas wiedergeben. Das Denkwürdige nistet im Noch-nicht-Entdeckten, in der Latenz des Sinns. Das Denken stößt ins Vakuum vor, in eine Sphäre, von der eigentlich nichts zu erwarten ist. Die Photographien von Schiffshäuten in diesem Band (s. Kapitel II.3) geben in diesem Sinne ein Beispiel. Schon in ihrer Fixierung bietet sich eine Photographie dem Denken an, zeigt sich das Erscheinende doch insofern als etwas Bedenk5 6

Ebd., S. 167. Vgl. dazu auch Hasse/Levin, Betäubte Orte.

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Die Zeitlichkeit

liches, als das sichtbar Gemachte aus seiner Zeit entrückt ist. »Was an seinem Ort ist, fällt in seiner Bildlichkeit nicht eigens auf. Es ist beruhigt.« 7 Im Akt der Bildnahme wird es seinem vitalen Milieu entrissen und ent-stellt ins Denken verfrachtet. Die Photographie kann sich gegen den Strom ihres massenkulturellen und konventionellen Gebrauchs als ein unterstützendes Medium menschlicher Selbstbewusstwerdung bewähren. Der nicht an Bildoberflächen haftende Blick gewinnt damit existenzphilosophischen Charakter. »Das Erscheinen von Seiendem ist das Medium, in das der Mensch als Mensch versetzt ist, die allzu selbstverständliche Atmosphäre seines irdischen Aufenthalts.« 8 Zwar sind die Mittel der Photographie begrenzter als das menschliche Vermögen der Wahrnehmung. Vielleicht ist es jedoch gerade der in seiner Zeitlichkeit zerrissene Charakter der Photographien, der der Selbstbewusstwerdung als förderndes Mittel entgegenkommt. Nicht auf die Begrenztheit des Bildes aufs Sichtbare kommt es dabei an; Beachtung verdient vielmehr die Fixierung dessen, was sich der Dynamik des Werdens und Vergehens entzieht: das Stehen-bleiben-Können im Leben. Darin, dass die Bilder selbst der Zeit und der physischen Aufzehrung ausgesetzt sind, setzen sie ein Potential der Beunruhigung frei. Papierabzüge vergilben, wenn sie zu lange dem natürlichen Licht der Sonne ausgesetzt sind. Sie knicken, brechen und reißen als Folge von Gebrauch und Überschichtung mit anderen Dingen. Filme werden spröde oder fleckig – als späte Rache unzureichender Fixierung mit speziellen Natrium-Sulfatlösungen, die sie eigentlich haltbar machen und der Zukunft sichern sollten (s. Abb. 3). Ganz zu schweigen von den digitalen Bildern, die es nur im (virtuellen) Dateiformat gibt. Auch sie halten nicht ewig, verlieren sich irgendwann in einem Nichts. Von diesen Bildern bleiben noch nicht einmal Staub, Bruch und Schimmel. Photographien sind das Transitorische par excellence, in ikonographischer Hinsicht wie in Bezug auf ihre (Semi-, Pseudo- oder Post-)Materialität. Sie zeigen, was es nur in der dahinrinnenden Zeit gegeben hat und fordern das Denken in historischen Kategorien heraus. Sie reklamieren ein raumzeitliches Denken, in dem sich tradierte Grenzvorstellungen zwischen Raum und Zeit zugunsten einer integrativen Sicht auf das Leben wie alles, was sich darin bewegt, 7 8

Schmidt-Biggemann, Wie sich zeigt, S. 87. Fink, Sein, Wahrheit, Welt, S. 93.

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Die Zeitlichkeit

Abb. 3: Von Schnecken zerfressenes Dia

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Die Zeitlichkeit

auflösen. Nichts ist nur hier oder dort, nur gestern oder morgen, sondern jetzt hier so und morgen dort so. Photographien rufen ins Denken. In ihrer gleichsam totgestellten Fixierung verweisen sie aufs Lebendige. Mit Kracauer stellt Peter Geimer fest, »letztlich ist es nicht die Zeit, die hier abgebildet wird, sondern ›die räumliche Konfiguration des Augenblicks‹. Was im Moment der Aufnahme ins Bild eingeht, überlebt dort nicht.« 9 Dem Bild haftet stets das ihm Entzogene an; es ist das optisch nicht Sichtbare, das das Bild ausmacht. Entzogen ist der Augenblick als kraftvoller und affektgeladener Beziehungsgehalt. In der ersten Betrachtung eines Bildes ist dieses Gefühl atmosphärisch präsenter als in der wiederholten Zuwendung der Aufmerksamkeit. Zieht sich die Macht der affizierenden Beeindruckung mit der Abnutzung der Frische des zugeneigten Blickes zurück, bleibt ein optisches Gestell, das einst dem Zauber wie der Faszination Halt bot, Zu- und Abneigung, Anziehung und Aversion oder vielleicht sogar Liebe und Hass. Die Zeit ist es aber nicht, die im engeren Sinne ihres abstrakten Verrinnens die Bedeutungen löscht und für das Aufkeimen neuer Verbindungen zum Sichtbaren Platz macht. Es sind die Beziehungen eines Betrachters zu einem Gegenstand, die in ihrer vitalen Frische verblassen und zu einer Veränderung von Bedeutungen führen, als wären sie abgetragen wie gebrauchte Kleider. Das Leben ist es und nicht die Zeit, das das Bild in ein lebendig-totes Gehäuse verwandelt und es Zug um Zug als eine Wachstafel erscheinen lässt, auf die schon wieder Neues geschrieben werden kann.

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Geimer, Theorien der Fotografie zur Einführung, S. 128.

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6. Auf dem Grat der Rationalitäten

Bilder können als Medien der Kommunikation leisten, was Texten versagt ist. Sie stehen in einem doppelten Sinne neben Ausdrucksmedien der wörtlichen Rede (z. B. Texten). Zum einen begleiten sie sie in einem unterstützenden Sinne. Zum anderen zeigen sie in einer Art und Weise auf etwas, das der Sprache fremd ist. Dies ist kein genaues Zeigen, vielmehr ein vermittelndes Hinweisen, das den eher vagen Charakter einer Anspielung hat. Das indirekt »Gezeigte« lässt sich nur bedingt ins Bild setzen. Die Bedeutung dessen, was in einem Bild vorscheint, ohne in Gänze hervorzutreten, sitzt zwischen ästhetischer und diskursiver Explikation gleichsam fest. Die Rede wird durch das Bild bereichert und dieses durch das Wort. In einer Photographie drücken sich nie allein (optische) An-Sichten aus, sondern weit über das im engeren Sinne Sichtbare hinaus komplexe Situationen. Mehr noch: »Im Medium des Bildes werden Haltungen oder Standpunkte geltend gemacht, für die es überhaupt keine Texte gibt.« 1 Das heißt: »Bilder besitzen eine eigene, nur ihnen zugehörige Logik. Unter Logik verstehen wir: die konsistente Erzeugung von Sinn aus genuin bildnerischen Mitteln.« 2 Ästhetische Äußerungen sind ebenso begrenzt wie sprachliche. Beide Formen der Explikation sind nur in den Grenzen ihrer je eigenen Rationalität verständlich und ausdrucksstark. Die wörtliche Rede artikuliert sich in den Grenzen der diskursiven Rationalität. Wenn sie ausdrücken will, was ein Bild zu sehen gibt, stößt sie an Grenzen. Ebenso steht das Bild als ästhetisches Medium der diskursiven Rationalität fern. Es kann nicht sagen was es darstellt. Was im Bild zur Erscheinung kommt, tritt an einer Stelle im Raum ästhetisch hervor. »Zur Erscheinung kommen bedeutet, dass sich Raum und Stelle eröffnen. […] Raum ist in diesem Sinn Entfal-

1 2

Bernd Jussen, zitiert bei Wiggershaus, Bildhorizonte, S. 48. Boehm, Jenseits der Sprache? Anmerkungen zur Logik der Bilder, S. 67.

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Auf dem Grat der Rationalitäten

tung, Explikation des Anfänglichen.« 3 Die Emission eines Bildes dehnt sich atmosphärisch aus und affiziert in einem leiblichen Sinne – wie eine Berührung, die jedoch einem materiell-stofflichen Kontakt nicht vergleichbar ist. Berührung hat – im hier gemeinten Sinne – die Qualität einer atmosphärischen Schnittstelle. Das von einem Bild Bedeutete »schwimmt« in seiner darstellungsspezifischen Essenz. Es kann erst auf dem »Umweg« seiner explizierenden Übersetzung in die Aus-sprache gelangen. Zu einem ersten Bruch zwischen ästhetischer und diskursiver Rationalität kommt es also auf der Grenze zwischen Eindruckserleben und Ausdrucksgestaltung. Was den befindlichen Kern eines Erlebens ausmacht, kann weder eindrucksidentisch im Bild noch in der wörtlichen Rede ausgedrückt werden. Es gibt nur Annäherungen; sowohl das Wort bleibt hinter der Eindrucksmacht eines leiblichen Erlebens zurück wie das Bild. Zu einem zweiten Bruch kommt es, wenn ein so oder so gemachtes Bild von einem Dritten betrachtet wird – oder zu einer Zeit weit nach der Aufnahme von der photographierenden Person selbst. Auch der dann anstehende Übersetzungsprogress kann nie restlos gelingen, weil die Stimmung, die eine Person zur Aufnahme motiviert hat, weder ein fremder Betrachter kennen und schon gar nicht pathisch nachvollziehen kann. Auch der Photograph kann vom Erscheinen seines eigenen Bildes nie in einer identischen Weise, im Sinne einer Eins-zu-eins-Erinnerung, affiziert werden. Selbst er steht in seiner späteren Betrachtung dem eigenen Bild insofern distanziert gegenüber, als die Situation der Aufnahme mit einer aktuellen Stimmung verbunden war, die nicht mehr existiert. Es ist eine Grenze der Dauer und folglich der Situationen, die innerhalb der ästhetischen Rationalität den Zusammenhang von Sinngebung (im Prozess der Bildgebung) und Sinnverstehen (im Prozess der Bildnahme) zerreißt, zumindest brüchig werden lässt. Die Aufnahme eines Gegenstandes oder einer ihn umfassenden Situation setzt wie die Betrachtung einer Photographie einen Wechsel der Rationalitäten und damit eine Beziehung voraus, die diesem Wechsel gerecht wird. Derartige Transformationen haben den Charakter einer transversalen Umformung. Sie sind von erkenntnistheoretisch grundlegender Bedeutung und dürfen sogar als zentrales Gelenkstück im verstehenden Umgang mit Bildern begriffen werden.

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Schmidt-Biggemann, Wie sich zeigt, S. 88.

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Das eine und das andere – transrationale Brückenschläge im Allgemeinen

»Talbot hatte im Pencil of Nature erkannt, daß die Photographie aber nicht nur Träger eines vormals Realen ist, welches in der Photographie zu erkennen wäre, sondern daß die Photographie den Charakter einer Übersetzung annimmt, in der ein Wirkliches sich im Bezug mit dem Betrachter in endlosen Abwandlungen immer wieder neu herstellt. Nicht das Reale ist bedeutend, sondern die in der Wahrnehmung der Photographie ausgewiesene Differenz, die fortwährende Abschattung des einst Gewesenen. Nicht das Reale, seine Wirklichkeit hat sich der Betrachter in der Anschauung der Photographie einzubilden.« 4

Die auf dem Grat zweier Rationalitäten angesiedelte Problematik war bisher eher ein implizites Thema. Die folgenden Überlegungen werden Charakteristika der Photographie als ästhetische Praxis der Bildgebung wie der Bildnahme umreißen. Es liegt in der Sache der dabei aufzunehmenden Theoriespuren, dass die in Kapitel 3 bereits diskutierte Bewertung der Photographie als phänomenologische Methode nun und im Folgenden präzisiert wird.

6.1 Das eine und das andere – transrationale Brückenschläge im Allgemeinen Photographien haben eine vertrackte Beziehung zu »ihrem« Gegenstand. Was photographiert wird, ist immer etwas anderes als das letztlich im Bild Dargestellte. Weder innere stoffliche Eigenschaften von der Natur der Dinge lassen sich ablichten, noch deren Rückseiten, die dem Blick verborgen sind. Eine Photographie kann nur solche Dimensionen oder Erscheinungsweisen eines Wirklichen erfassen und fixieren, für die das technische Programm des Apparates auch aufnahmebezogene Schnittstellen anbietet. Der Apparat kann lediglich optische Eigenschaften im engeren Sinne zur Darstellung bringen, keine olfaktorischen, lautlichen, taktilen oder gustatorischen. Deshalb ist Photographieren ästhetisches Handeln auf einem Grat; es scheidet Wirkliches ab. In einem strengen Sinne kann ein Bild folglich auch im engeren Sinne nichts zur »Anschauung« bringen, weil in ihr die Referenzwirklichkeit in ihren pluralen sinnlichen Facetten gar nicht zur Geltung kommen kann. Ein Bild kann An- und Draufsichten präsentieren. Trotz all seiner repräsentationstheoretischen Beschränkungen ist es eines der prominentesten Äußerungsmedien. 4

Amelunxen, Die aufgehobene Zeit, S. 60.

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Auf dem Grat der Rationalitäten

»Mit dem Kopf« verstandene, wie mit allen Sinnen leiblich erlebte Situationen fordern in der sozialen Welt zur situationsangemessenen Äußerung heraus. Wer etwas erlebt hat, möchte dies anderen mitteilen – nicht zuletzt, um sich im Spiegel solcher Äußerungen seiner selbst zu vergewissern. »Situationsangemessen« bedeutet die in der Sache eines Erlebens halbwegs treffsichere Wiedergabe eines Eindrucks samt der ihm anhängenden Gefühle. Was ein Mensch erlebt, kann er a priori jedoch nie genau – in einem »erlebnisidentischen« Sinne wiedergeben. Es gibt nur mehr oder weniger treffende Annäherungen. Viel ist gewonnen, wenn am Ende eine Ähnlichkeit hergestellt ist, der auch zustimmen kann, wem das Beschriebene widerfahren ist. Existenziell ergreifende, erst recht angreifende Erlebnisse machen ebenso auf diese Schwelle aufmerksam wie auf das potentielle Scheitern solcher Übersetzungen. Das sich im Allgemeinen (unabhängig von Fragen photographischer Bildgebung) stellende Problem der Übertragung von Explikationen einer Rationalität in eine andere sei am Beispiel des Romans Die Schrecken des Eises und der Finsternis von Christoph Ransmayr pointiert. Er hatte – ohne Anspruch auf letztendliche Authentizität – anhand historischer Quellentexte die von 1872 bis 1874 durchgeführte (einzige) österreichisch-ungarische Polarexpedition des Segelforschungsschiffs Admiral Tegetthoff rekonstruiert. Der folgende Textauszug ist einer Beschreibung entnommen, in der es um den Rückzug von dem im Eis festsitzenden Segelschiff geht: »Bahnen sie sich aber den Weg mit Spitzhacke und Schaufel, geschieht es, daß nach einer Woche Grabarbeit die Scherbenwelt plötzlich auseinanderreißt und sich dann zu neuen, diesmal unüberwindlichen Mauern wieder zusammenfügt. Dann müssen sie umkehren und ihre Route anderswo suchen. Und so neigen sich ihre Lebensmittel und ihre Kräfte. Wenn sie Jagdglück haben, essen sie rohes Bärenfleisch und Seehundfett. Aber sie werden selber vom Eis verzehrt. Und wenn ein Tag endlich einmal gut war und sie dem Süden nun doch ein Stück näher gekommen zu sein glauben, dann erfaßt sie die Drift des Polareieses sanft, sehr sanft und versetzt sie Bogenminute um Bogenminute in den Norden zurück. Nach zwei Monaten der Mühsal sind sie kaum fünfzehn Kilometer von ihrem Ausgangspunkt entfernt, sind ihnen die Gebirge des Franz-Joseph-Landes nahe wie je.« 5

Der Text beruht auf einer doppelten Übersetzung eigenleiblichen Erlebens in eine sprachliche Aussage. Die erste stellte eine immense 5

Ransmayr, Die Schrecken des Eises und der Finsternis, S. 250.

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Das eine und das andere – transrationale Brückenschläge im Allgemeinen

Herausforderung des Kapitäns dar, der – den Tod vor Augen – bis an die Grenzen des Erträglichen erschöpft und in der klirrenden Kälte des Eismeeres von Erstarrung bedroht – schriftliche Aufzeichnungen machte. Existenziell ergreifende Gefühle konnte er in einer situationsadäquaten Weise ganz sicher nicht »einfach« niederschreiben. Außerdem waren sie an das (rollenspezifisch) persönliche Erleben des Kapitäns gebunden. Hätte ein völlig erschöpfter Bootsmann oder Matrose schließlich seine Eindrücke (»derselben« Situation) zu Papier gebracht, wäre das doch weit von dem entfernt gewesen, was der Kapitän in seiner persönlichen Situation, in der er zudem für seine Mannschaft verantwortlich war, am eigenen Leibe erlebt haben muss. Eine zweite Übertragung hatte der Romanautor zu leisten, als er die dokumentarischen Fundstücke in einen Romantext umschrieb und hinzufügte, was er für nötig hielt, um einen aus seiner Sicht authentischen Eindruck einer existenziellen Grenzsituation in Worte zu fassen. Einem Roman kann nur – allzumal an diesem Beispiel – eine mehrfach gebrochene, »versuchsweise« nachvollziehende Explikation eines Erlebens gelingen. Schließlich bauen sich für jeden Rezipienten abermalige Hürden angemessenen Verstehens auf, sitzt er doch nicht im Eis fest und kann deshalb pathisch auch nicht nachvollziehen, was verstanden werden soll. Vielleicht sitzt er mit einem Glas Rotwein in einem gut temperierten Zimmer mit erbaulichem Ausblick in eine romantisch anmutende Landschaft. Das »Nacherleben« einer existenziellen Grenzsituation muss zwangsläufig fade Vorstellungen vermitteln, wenn nicht gar ein vergeblicher Versuch bleiben. Aus der Position der Sicherheit kann kein Gefühl auch nur annähernd »authentisch« sein, dessen Referenzwirklichkeit dem Tode nahestand. Schon die Möglichkeit pathischen und nicht nur theoretischdistanzierten Nachvollziehens steht in den Sternen. Jeder Text – ein poetischer wie ein prosaischer – ist das irreduzibel Andere eines von affektiven Verwerfungen getragenen Erlebens. Diese Spannung, die ihre ästhetische und ihre diskursive Seite hat, verschiebt sich noch einmal auf ein ganz anderes Niveau, wenn sich die Aufgabe stellt, das Erlebte in ein Bild zu setzen, sei es mit der Kamera oder mit Pinsel und Farbe. Abermals hätte man es mit einer ganz eigenen Übertragung zu tun. Dabei wäre noch einmal ein Unterschied zwischen zwei ganz eigenartigen Situationen zu machen. Zum einen dem Ausdrucksbestreben, das sich am aktuellen Erleben in situ abzuarbeiten hätte, und zum anderen den Möglichkeiten, ein bewusstgemachtes Befinden erlebnisadäquat in Worte zu fassen oder 97 https://doi.org/10.5771/9783495823750 .

Auf dem Grat der Rationalitäten

in ein Bild zu setzen. Diese Grenze der Inkommensurabilität beharrt auch angesichts der leichten und schnellen Handhabbarkeit einer Kamera und der sich damit suggerierenden Leichtigkeit und Einfachheit der Fixierung eines Geschehens. Ein Bild ist und bleibt das Andere jeden leiblichen Erlebens. Die sich daraus ergebende Transformationsproblematik fordert vor allem den Bildjournalismus dazu heraus, was sich schon nicht »einfach« ablichten lässt, atmosphärisch zu fassen, um es der Kommunikation zugänglich machen zu können. Was im Bild sichtbar gemacht werden kann, hätte jedoch nicht einmal dann einen authentischen Charakter, wenn dem Photographen selbst zugestoßen wäre, was er zu verbildlichen versucht hat. In aller Regel zeigen die von Bildjournalisten aufgenommenen Photographien aber nur, was anderen passiert ist. Deshalb kann auch nur bedingt von der »Dokumentation« eines lebendigen Geschehens die Rede sein, denn dokumentiert werden kann im engeren Sinne nur, was jemand selbst erlebt und die Kamera als ein darauf bezogenes Ausdrucksmittel benutzt hat. Mit einem Zitat von Wittgenstein merkt Dieter Mersch an: »Was gezeigt werden kann, kann nicht gesagt werden.« 6 Diese Inkommensurabilität zwischen wörtlicher Rede und bildlicher Äußerung wirft einen Graben zwischen zwei strukturell verschiedenen Ausdruckswelten auf. Deshalb sieht Mersch zwischen Kunst und Wissenschaft auch weder »eine Differenz noch eine Indifferenz«. Beide folgen vielmehr »konträren Modi der Reflexion« 7. Photographien erschließen eine Welt des Sichtbaren und nicht – wie Texte – eine Welt des expressis verbis Sagbaren. Was mit welchen Mitteln in die kommunikative Welt gelangt, disponiert die Modi der Reflexion. 8 Während die Wissenschaften »auf eine Erforschung von Gesetzen, Strukturen oder Mustern gehen, wechseln die Künste buchstäblich die Ansichten, falten sie zu anderen Varianten auf oder proben den anamorphotischen Blick von der Seite, um dem jeweils Gezeigten noch das Abseitige, Entzogene oder Apokryphe zu entringen.« 9 Aber nicht nur zwischen Wissenschaft und Kunst schwimmen die Grenzen. Schon in der Lebenswelt sind sie zwischen diskursiver und ästhetischer Rationalität brüchig, flüchtig und verwässert. Wenn Peter 6 7 8 9

Mersch, Die Zerzeigung, S. 37. Ebd., S. 39. Vgl. ebd., S. 40. Ebd., S. 43.

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Bild – Rede – Bild

Lindner schließlich »between observing subject and observed object« 10 eine schwimmende Grenze konstatiert, so macht diese Bemerkung auf schwierige aber auch produktive wie potentiell fruchtbare Beziehungen zwischen einem Bild und seiner Betrachtung aufmerksam. Es gibt keine Linearität von Bezeichnen und Bedeuten zum einen und Verstehen zum anderen; Eindruck und Ausdruck folgen situativ je eigenen Wegen ins affektive Befinden und intelligible Denken. Ein bildlicher Ausdruck vermag viele (noch sich widersprechende) Eindrücke zu wecken, ein Eindruck viele Wege des Denkens zu bahnen. Sie gehen ihre je eigenen Wege und finden mitunter schwer zueinander. »Wir wissen englische und französische Literatur besser miteinander zu verbinden als englische Literatur und englische Malerei.« 11 Die Photographie steht in ihrer Beziehung zur Schrift wie zur Sprache in einem ganz ähnlich strukturell gebrochenen Verhältnis.

6.2 Bild – Rede – Bild Als sprechendes Wesen hängt der Mensch anthropologisch am Vermögen der wörtlichen Rede. Sie ist – zivilisationshistorisch kultiviert – sein erstes Mittel der Verständigung. Aber auch im Medium des Bildlichen drängt es ihn zur Äußerung. Daher stehen die Bilder, sobald es sie gibt, auch schon mit einem Bein in der Sprache. 12 Sie fordern – allzumal in ihrem massenmedialen Gebrauch – die Kommunikation im Modus der wörtlichen Rede heraus. Und so nehmen sie auf das Gesagte Einfluss, aber auch auf das Sagbare. Was im Bild zudringlich wird, zerrt an der Sprache. Wo es sie tatsächlich freisetzt und die Explikation von Aussagen evoziert, bildet sich eine Basis der Rekonstruktion wie der Schöpfung von Sinn und damit ein Rahmen für die Erweiterung möglicher Kommunikation. Im Unterschied zum Programm der Wissenschaften kommt es dabei nicht auf die (illusionäre) Suche von Identität zwischen dem Sujet eines Bildes und dem einer komplementären Aussage an, sondern auf die Initiierung einer Arbeit nachspürenden Denkens, das heißt auf eine in ihrem Ausgang offene Verständigung. 10 11 12

Lindner, Reset Modernity!, S. 214. Mitchell, Bildtheorie, S. 75. Vgl. Belting, Medium – Bild – Körper, S. 237.

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Auf dem Grat der Rationalitäten

Das Prinzip, wonach das Bild ein Köder ist, der möglichst wortlos geschluckt werden soll, bewährt sich vor allem in der Welt des Alltages. Bilder haben in der Art und Weise, in der sie zur Aussage von Sätzen mehr locken, als diese im Sinne einer linearen Übertragung auch zu leisten, ein Eigengewicht. Sie erschließen ihr Sujet wortlos; textliche bzw. sprachliche Äußerungen verlangen das diskursive Verstehen, sind deshalb aber nicht näher am Wirklichen als das Bild. Ihre Beziehung zu einem Gegenstand der Rede ist nur anders als die, die vom Bild ausgeht. Bilder können in einer komplementären Beziehung zu einer Aussage stehen oder im Verhältnis eines Widerspruchs. 13 Ohne mentale Fähigkeit zum bildhaften und damit transversalen Denken gelingt weder die Bildproduktion noch die Bildnahme. Dabei ist das Verhältnis zwischen mentalen Vorstellungen und ikonographischen Darstellungen komplex. Es ist nicht in einem einfachen Sinne linear. Eine bildgebende Darstellung einer Szene oder eines Gegenstandes wird nicht zwingend in Gedanken und Gefühlen schon vorgebildet, wenngleich die Kraft der Einbildung unverzichtbar ist. Auch die Bildrezeption bedarf ihrer, das heißt der Beziehung eines ikonographischen Bildes zu einem mentalen Bild. Schon wegen dieser lebendigen Austauschbeziehungen stößt die Trennung mentaler und physischer Bilder auch auf Probleme. 14 Es sind nicht zuletzt die Phantasiebilder, die phänomenologische Aufmerksamkeit verdienen, denn sie spielen eine wichtige Rolle als Brücken zwischen den verschiedenen Rationalitäten der Explikation von Eindrücken. Ebenso sind sie im Verstehen von Photographien unverzichtbar. Im mimetischen Prozess der Bildbetrachtung erfüllen sie die flexible 15 Funktion einer Schwelle oder Weiche. Indem Bilder auch als essentielle Resonanzmedien der Gefühle verstanden werden können, haben die Phantasiebilder große Macht über den Verlauf sozialer Prozesse der Kommunikation. Gleichsam unterhalb scheinbar intellektualistisch maximal transparenter »Decoding-»Programme für Bilder schleichen sich bildliche Eindrücke auf synästhetischem Wege ins gefühlsmäßige Erleben ein. Vor allem die von Photographien ausgehenden suggestiven Effekte verdanken sich solcher sy-

Vgl. Wiggershaus, Bildhorizonte, S. 45. Vgl. Wiesing, Artifizielle Präsenz, S. 22. 15 »Geistige Bilder scheinen (a) im Verhältnis zu realen Bildern nicht gleichermaßen stabil und dauerhaft zu sein, und (b) sie variieren von einer Person zur anderen«, Mitchell, Bildtheorie, S. 25. 13 14

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Bild – Rede – Bild

nästhetischen »Sprünge«. Was scheinbar nur sichtbar ist, springt im wahrnehmenden Erleben in andere sinnliche Bereiche über – in den der Klänge und Gerüche, des Taktilen und alles, was auf biographischem Wege leibliche Erinnerungsspuren zurückgelassen hat. Mimetisch werden sowohl lebensgeschichtliche Erinnerungen als auch andere, zum Beispiel massenmedial zirkulierende Phantasiebilder wachgerufen, die im Gefühl für das eigene Selbst diesseits rationaler Denkoperationen tragende Rollen spielen. 16 »Die Auffassung der Photographie als Medium, das die phantastischen Elemente aus dem Bild eliminiert, Authentizität und zugleich Objektivität verspricht und dadurch beweist und bezeugt, erfährt hier eine Umkehrung; grade ihre Fähigkeit, »realistisch« abzubilden, verleiht ihr ihren untergründigen Charakter (Verfahren wie Vergrößerung und ungewöhnliche Perspektiven tragen ihren Teil zur Verfremdung der in der Realität vorgefundenen Sujets bei). Dalí motiviert dies, die Photographie mit Poesie, Phantasie und dem Unbewussten in Zusammenhang zu bringen und damit ein Neues Sehen zu begründen« 17.

Die persönliche Beziehung eines Photographen zu seinem Bild-Gegenstand ist auf intransparente Weise verwoben. Sie entfaltet sich zwar auf einer Schwelle der Rationalitäten, vor allem aber zwischen Bewusstem und Un- bzw. Halbbewusstem. So ist die Eindrucksmacht der Photographie in »ihrer polaren Verankerung zwischen halbbewussten, magischen Tiefenzonen und dem rationalen Denkraum des Bewusstseins zu begreifen« 18. Dieses Sowohl-als-Auch verdient im phänomenologischen Blick herausgehobene Aufmerksamkeit, folgt der Akt der Bildgebung wie der Bildnahme (in je eigener Weise) doch affektiven Spuren. Das sichtbar Gemachte birgt Signaturen, die zu affektiven Tiefenschichten von Um- oder Mitweltbeziehungen in Verbindung stehen. Zum emanzipierten Bildgebrauch gehört die sozialpsychologische Reflexion solcher im kollektiven Unbewussten lagernden Assoziations- und Bedeutungsschichten. Dabei rückt nie allein das Thema eines Bildes in den Fokus, sondern zugleich die Methode seines Darstellungsprogramms, dem es sich letztlich verdankt. »Die dem Bild eigene Sinndichte« erschließt sich erst dann, wenn die Vgl. dazu auch die Beschreibungen von Benjamin zu einem Kinderbildnis von Kafka, die Jessica Nitsche unter diesem Aspekt diskutiert; Nitsche, Walter Benjamins Gebrauch der Fotografie, S. 231 ff. 17 Ebd., S. 110. 18 Krüger, Zur Eigensinnlichkeit der Bilder, S. 15. 16

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Auf dem Grat der Rationalitäten

Wahrnehmung nicht allein auf das dargestellte Sujet gerichtet ist, »sondern zugleich auf eine Mitwahrnehmung des Mediums« 19. Es ist also nicht dasselbe, ob eine Garage im photographischen Bild denkwürdig wird oder in einer Zeichnung, ob sie in Schwarz-Weiß oder Farbe, bei Sonne oder im Regen aufgenommen worden ist, ob sie im Erleben eines Individuums und einer ganzen Gesellschaft überhaupt Nennenswertes bedeutet oder ob sie als Neutrum angesehen wird. Bilder beschreiten, indem sie als äußere über ihre Entkörperlichung zu inneren werden, eine Metamorphose. Wenn Hans Belting schreibt: »Es findet ein Tausch zwischen ihrem Trägermedium und unserem Körper statt, der seinerseits ein natürliches Medium bildet« 20, so fragt er nach der körperlichen Substanz der Bilder. Ein Bild-Körper kommt jedoch nicht nur mit der Materialität des Trägers, auf dem man ein Bild sehen kann, in den Blick. Körperlich ist auch, was die Organe von Auge und Großhirn mit einem Bildeindruck in einem leiblichen Sinne machen. Belting sieht aber vom Leib wie der Leiblichkeit der Wahrnehmung ab und gelangt damit nicht zu einem Bildverständnis, das das mitunter geradezu entscheidende Moment der leiblichen Affizierung einschließt. Dass er dabei an ontologische Grenzen stößt, zeigt sich in der folgenden Bemerkung: »Wir übertragen die Sichtbarkeit, welche Körper besitzen, auf die Sichtbarkeit, die Bilder durch ihr Medium erwerben, und bewerten sie als einen Ausdruck von Anwesenheit, ebenso wie wir Unsichtbarkeit auf Abwesenheit beziehen.« 21 In seiner Fixierung auf Körper als Bedingung der Wahrnehmbarkeit entgeht ihm, dass man auch wahrnehmen kann, was in einem visualistischen Sinne unsichtbar ist und auch gar nicht in der Gestalt von Körpern (optisch) sichtbar wird. Schließlich verweist Unsichtbares nicht a priori auf Abwesendes. Man bedenke die Stille, die in ihrer außerordentlich immersiven und intensiven Wahrnehmbarkeit als etwas Anwesendes wahrnehmbar ist, obwohl sie doch ganz und gar unkörperlich und immateriell ist. Auch Gefühle, die nicht sichtbar sind wie Steine oder Vögel, lassen sich atmosphärisch ins Bild setzen. Es muss gleichwohl als eine Herausforderung der Photographie angesehen werden, diese und andere »Nichtse« zu verbildlichen, um sie über die Brücke des Ästhetischen dem diskur19 20 21

Ebd., S. 19. Belting, Medium – Bild – Körper, S. 240. Ebd., S. 247.

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Bild – Rede – Bild

siven Sprechen zugänglich zu machen (s. auch Kapitel 9). »Es ist dieses Nichts im Kern des Bildes, das seine Magie und Kraft ausmacht, das man meist mit dem Zwang der Bedeutungen austreibt.« 22 Baudrillard erinnert an die potentielle Bedeutungsleere der Bilder. Die mögliche Leere des Sinns gebietet ein Innehalten im Prozess der Annäherung, in der Suche nach einer Schnittstelle ergebnisoffener Aneignung, Mimesis und Verstrickung in einen unabsehbar mäandrierenden Strom des Bedeutens und Verstehens. Es ist in besonderer Weise der Surrealismus, der im Grad der Emotionalisierung eine erkenntnistheoretische Essenz der Photographie aufgeschlossen hat, vor allem in der Produktion des Nicht-Zusammenpassenden. Damit ist weniger interessant, »was sie [eine Bildmontage, JH] abbildet, sondern wie sie abbildet und wie die von ihr erzeugten Bilder wahrgenommen werden«. 23 Surrealistische Bildmontagen zwingen programmatisch geradezu in den Diskurs, wenngleich photographische Bilder auch nicht dafür gemacht sind, der Sprache unterworfen zu werden. Sie geben sich vielmehr über eine »Schranke der Verbalität hinaus« 24 zu verstehen – allzumal, wenn sie irritieren und Grenzen des Sagbaren berühren. Auch dann lastet auf jeder sprachlichen Aneignung der Schatten dessen, was hinter der wörtlichen Rede zurückbleibt. Was sich zeigt, geht schon wegen der Diskrepanz zwischen Bild und Text (ästhetische versus diskursive Rationalität) nie restlos in eine Explikation wörtlicher Rede über. Das Bild ist in seinen Überhängen des Nicht-Sichtbaren das Andere der Sprache und mündet deshalb, bevor ein Satz ausgesagt ist, in einen rauschenden imaginären Dialog. Gottfried Boehm sprach von einem auf jedes Bild drückenden »Schatten der Sprache« 25. Für Mitchel besteht ein »Interessenkonflikt zwischen sprachlicher und bildlicher Repräsentation« 26. Vilém Flusser denkt in gewisser Weise umgekehrt. Für ihn ist der Photograph jemand, in dessen Bildern sich Worte ausdrücken: »Der Photograph verschlüsselt seine Begriffe zu photographischen Bildern« 27. Damit unterstellt er eine diskursive Formatierung des ästhetischen Blicks, mit anderen Worten, eine Abhängigkeit der sinn22 23 24 25 26 27

Baudrillard, Denn die Illusion steht nicht im Widerspruch zur Realität …, S. 269. Nitsche, Walter Benjamins Gebrauch der Fotografie, S. 108. Boehm, Jenseits der Sprache?, S. 68. Ebd. S. 71. Mitchell, Bildtheorie, S. 74. Flusser, Für eine Philosophie der Fotografie, S. 44.

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lichen Wahrnehmung von der Verfügbarkeit situativ passender Worte. Diese Differenzierung reklamiert die Reflexion einer medienwissenschaftlichen Aufgabe. Zu Recht fordert Jens Ruchatz die kritische Prüfung des Verhältnisses »von Schrift und Photographie« 28. Damit steht nicht nur die Rekonstruktion der Differenz von sprachlicher und bildlicher Eindrucksexplikation an, sondern mehr noch das Bedenken der aus dieser Differenz folgenden performativen Dynamik. Denn zum einen wirken Bildmedien als Blockaden und Widerstände im Kommunikationsprozess, zum anderen jedoch auch als Mittel seiner Beförderung und Dynamisierung. 29 Das spannungsreiche Verhältnis von Schrift und Photographie birgt nicht zuletzt eine Aufgabe für die Phänomenologie. Dies in besonderer Weise deshalb, weil Photographien in ihrer massenmedialen Zirkulation in aller Regel gerade nicht darauf programmiert sind, in der sprachlichen Explikation ihre Entsprechung zu finden. Vielmehr sind sie dafür prädestiniert, auf dem Wege vagen Vernehmens und atmosphärischen Spürens etwas (ideologisch, dissuasiv, manipulativ oder auch nur gestisch) zu spüren zu geben, das sich zu einem gesellschaftlich bereits bestehenden und in der Regel sprachlich ausgestalteten Bedeutungsfeld in Beziehung setzt. Damit stellt sich das überaus komplexe Projekt der phänomenologischen, semiotischen und sozialpsychologischen Obduktion verworrener massenmedialer Kommunikationsbeziehungen: phänomenologisch im Hinblick auf die Art und den Grad der Affizierung durch Bilder, semiotisch im Hinblick auf die Konstruktion und Decodierung zeichenhafter Bedeutungen und sozialpsychologisch im Hinblick auf die Folgen rationalistisch gebrochener Synchronisierungen ästhetischer und diskursiver Äußerungen für den Affekthaushalt einer Gesellschaft. Die höhere Glaubwürdigkeit expressis verbis gesprochener Sätze gegenüber der ästhetischen Präsenz der (photographischen) Bilder liegt weniger an einer a priori gegebenen Präpotenz der wörtlichen Rede, als an einer zivilisationshistorisch stark gewordenen Machtposition der Sprache gegenüber dem Bild. Dieses so spannungsreiche Gefüge muss schon deshalb zum Träger von Widersprüchen werden,

Vgl. Ruchatz, Medienwissenschaftliche Fotografieforschung. In dieser Hinsicht sind die Praktiken politischer Parteien bemerkenswert, die zur Präsentation ihrer Akteure in den Massenmedien auch Photographen anstellen. So können sie gleichsam inkorporierte politische Programme gestisch im Bild durchsetzen, ohne Unsägliches aussprechen zu müssen.

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Bild – Rede – Bild

weil lange nicht über alles, was individuell wie gesellschaftlich bedeutsam ist, bevorzugt auch gesprochen wird. Oft ordnet sich darüber hinaus gerade das im Medium des Bildes Gezeigte nicht den Standards gesellschaftlich zulässiger Rede unter, sondern kommuniziert, was aus Gründen ethisch prekärer Legitimation auszusprechen nicht geboten wäre. Bilder emittieren hoch wirksame Affekte, ohne ein Wort zu sagen. Auf der Bruchzone zwischen dem, was ein Bild emotional zu spüren gibt und dem, was es als Kommunikationsmedium offiziell bedeuten darf, liegt in zahllosen Situationen des Bildgebrauchs eine besondere Wirkungsmacht. Die Präpotenz der Sprache bestimmt einerseits die Diskurse der Wissenschaft und andererseits die Welt der politisch korrekten Rede. Die subversive Wirkung der Bilder hat ein sich selbst generierendes wie expandierendes Machtpotential. Das bildlich Mitgeteilte fungiert daher nicht zuletzt als sozialpsychologisches Druckentlastungsmedium. Wenn Victor Burgin Photographien als Texte bzw. Medien eines ikonographischen Diskurses thematisiert 30, so rückt er die kulturelle Verwurzelung von allem in den Fokus, was mit den Bedeutungen von Bildern zu tun hat, denn »Photographie ist eines unter mehreren gesellschaftlichen Signifikationssystemen, das im gleichen Zuge, wie es seinen offensichtlichen ›Gehalt‹ ›kommuniziert‹, auch das ideologische Subjekt produziert.« 31 Diese Produktion genügt sich jedoch nie in der Emission solitärartiger Bilder; sie verlangt die Synchronisierung von Text und Rede, mit anderen Worten die Kon-TEXT-ualisierung im Sinne eines narrativen Framing. Dies heißt wiederum nicht, dass alles, was ein Bild zu sehen gibt, auch gesellschaftliche Signaturen ausdrückt. Die von Roland Barthes thematisierte Pointe eines Bildes kann sich ganz ohne jede politische Relevanz als eine Resonanz auf allein individuelle Bedeutungsnetze zu spüren geben. Individuell beliebige Assoziationen strömen ebenso in die kollektiven Muster der Vergesellschaftung des Menschen ein. Trotz aller noch so evidenten Beziehungen zwischen photographischem Bild und wörtlicher Rede ist kaum zu bestreiten, dass es eine »Bildlichkeit gibt, ohne dass diese versprachlicht sein muss. Aber erst die ineinander verschränkte bildliche und sprachliche Begrifflichkeit gewährleistet die Verfügbarkeit über Erfahrung.« 32 Erfahrung 30 31 32

Vgl. Burgin, Fotografien betrachten, S. 252. Ebd., S. 260. Schmidt-Biggemann, Wie sich zeigt, S. 92.

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Auf dem Grat der Rationalitäten

kommt also nicht schon in der affizierenden Bild-Wahrnehmung zu sich; sie setzt die nachdenkende wie nachspürende Durcharbeitung einer »Bild-Berührung« voraus. Etymologisch weist der Begriff der Er-fahr-ung deshalb auch auf einen Prozess hin, der den Charakter eines sich selbst bewegenden Hindurch hat. Das Bild entfaltet als das Andere der wörtlichen Rede dann eine gewisse Beunruhigung, wenn es sich tradierten Denk-, Gefühls- und Verstehensmustern widersetzt. Dieses Beunruhigungspotential lässt sich trotz aller Immersion jedoch nie in Gänze erfassen. Frieda Grafe weiß deshalb aus ihrer langjährigen Erfahrung als Filmkritikerin: »Mit gut ausgewählten Fotos kann man die Sprache wahnsinnig machen« 33. Das sich aus einer persönlichen Situation heraus spontan motivierende »Knipser«-Foto ist auf solche Differenzproduktion nicht aus; es will von einem tradierten Vorverständnis reibungslos aufgesogen werden (zur Kritik an der in »kritischen« Diskursen gängigen Verballhornung des Knipsens s. auch Kapitel 1.2). In der Konsequenz des Sprechens über Bilder heißt das sowohl für die widerspenstige wie die goutierende Bildrezeption: »Der Text klärt sicher nicht die Bilder auf, er macht die Fotos nicht intelligent. Er artikuliert auch nicht das Bild. Er ist im besten Fall eine Überdetermination, bei der sich Visuelles und Verbales verflechten.« 34 Mit anderen Worten: Text und wörtliche Rede schießen an den Bedeutungsordnungen der Bilder vorbei. Dieses Spannungsverhältnis berührt die Kritik systematisch (über-)regulierter Methoden der Bildinterpretation, die auf das rationalistisch-aseptische Studium von Bildfragmenten und formalen Konstruktionsprinzipien setzen und die analytisch (scheinbar) beherrschbare Unterwerfung des Ästhetischen unter das Diskursive anstreben. Es darf nicht verwundern, dass gerade wissenschaftlich »exakte« Methoden am suggestiven Zentrum der Bilder vorbeischlittern, weil sie kein hinreichend empfindliches Sensorium für verdeckt vorscheinende Bedeutungen mitbringen. Das Moment der vom Bild ausgehenden Irritation wird so aus der Welt geschafft, auch wenn es die Essenz zahlloser Photographien ausmacht. Die Beziehung zwischen Rede und photographischem Bild hat, als Moment einer aufgeklärten und kreativen Praxis der Bildrezeption, einen mimetischen und damit in hohem Maße inspirativen, experimentellen und assoziativen Charakter. Das Ins-Kraut-Schießen der 33 34

Grafe, Bilder illustrieren, S. 341. Ebd., S. 344.

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Bild – Rede – Bild

Bilder ist indes keine Folge programmatisch angestrebter Kreativität, sondern durch die den Bildern anhaftenden Gefühle bedingt. Deshalb kann die vollends synchronisierte Übersetzung bzw. Übertragung eines leiblich spürbaren Bildeindrucks in die Sprache auch nie in Gänze gelingen. Gefühle, »die […] immer wieder erschütternd oder doch selbst berührend an uns herantreten, [sind] für uns namenlos, so daß unsere Sprache hilflos und unverbindlich hinter ihnen zurückbleibt« 35. Die Sprache steht insofern den Gefühlen gegenüber in einem schwierigen Verhältnis, als sie spätestens dann, wenn sie sich an Dritte richtet, vor einem doppelten Übertragungsproblem steht: dem der sprachlich affektiv treffenden Explikation eines Gefühls und zudem der Bildung einer Aussage für den Verstehenshorizont eines Dritten. Nicht jeder versteht meine Gefühle, ganz zu schweigen von der Art und Weise, in der nur ich sie sprachlich auszudrücken vermag. Das liegt im Wesentlichen schon daran, dass individuell erlebte Eindrucksnuancen vom »Sprechen in impersonalen Konstruktionen unterschlagen werden« 36 müssen. Dies betrifft aber schon weit diesseits der Subjektivität der Gefühle im Bereich objektivierbarer Merkmale einer Situation alles, was der Visualität des Bildes entzogen bleibt. Was wir sehen, hören oder ertasten, bezieht »sich auf Ausschnitte der Wahrnehmung, die z. T. ziemlich natürlich und charakteristisch, z. T. aber auch gewaltsam nach Maßgabe der Zuordnung zu Augen, Ohren und anderen ›Sinnesorganen‹ gebildet sind« 37. Dies bedeutet für das Sehen, dass es stets weniger ist als das, was eindrücklich in Gestalt ganzheitlichen Erlebens berührt. Umso mehr verlangt das Sprechen-Können über Gefühle, die in Bildern geronnen sind, eine Erweiterung dieses Könnens, eine Übung immer besseren Sagen-Könnens. Sprachkonstitutiv ist die Herstellung einer Beziehung zum Wirklichen, die von Bedeutungsüberschüssen gekennzeichnet ist. Im Mehr-Sagen als eine Situation in der lebensweltlich »einfachen« Kommunikation »eigentlich« verlangt, liegt die Krux wie die generative Kraft der Sprache. Das Mehr macht das besondere »Leben des Lautes« 38 aus. Anthropologisch kommen semantisch hoch differenzierte Aussagen erst zustande, weil 35 36 37 38

Schmitz, System der Philosophie. Band III/5, S. 260. Ebd., S. 124. Ebd., S. 7. Gehlen, Der Mensch. Seine Natur und seine Stellung in der Welt, S. 193.

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der Mensch in einer strukturellen Offenheit gegenüber seinem Herum lebt, also mehr (sagen) kann als er muss. Aus dieser Offenheit resultiert für Arnold Gehlen eine »überschüssige Subjektivität, die einem Wesen eigen ist, das einen freien, nicht spezialisierten und umweltgeöffneten Antriebsüberschuß hat« 39. Ohne diese Überschüssigkeit seiner Vermögen hätte er über rudimentäre Laute hinaus gar keine sich immer weiter verfeinernde Sprache entwickeln müssen. Auch für die Äußerung in Bildern (von den Höhlenmalereien bis zu digitalen Formaten) bestünde kein Anlass. Was für die satzförmige Rede gilt, trifft für die Produktion von Bildern mit Nachdruck zu. Zum einen sind sie dicht mit Bedeutungsüberschüssen verzeichnet, zum anderen sind sie implizit zur Sprache hin gerichtet, münden im Moment ihrer Explikation im Medium wörtlicher Rede aber doch in die Unschärfe. Man macht Bilder nicht (nur), um sich sprach- und wortlos an ihnen zu erfreuen und von ihnen beeindrucken zu lassen. Man macht sie vor allem – wenn nicht in erster Linie –, um durch und mit ihnen sowie über sie zu sprechen. Deshalb sprechen sie uns auch dann an, wenn wir sie nicht selbst gemacht haben.

6.3 Koexistenzen Zwar macht die Inkommensurabilität von Bild und Text sowie die Übertragungsproblematik von bildlich sichtbar Gemachtem in die expressis verbis artikulierte Sprache oder lesbare Schrift schon deutlich, dass man es im sozialen Umgang mit Photographien stets mit schwierigen »Grenzübertritten« zu tun hat. Innerhalb solch gebrochener Beziehungen verdient die Koexistenz unterschiedlicher Rationalitäten besondere Aufmerksamkeit. Sie resultiert aus Inkommensurabilität, stellt sich jedoch in speziellen Beziehungsqualitäten dar. Diese weisen darauf hin, dass das Bild nicht mit der satzförmigen Rede konkurriert, vielmehr in einem kontingent-komplementären Verhältnis »neben« ihr steht. Photographien sind das Andere dessen, was einen Text ausmacht. Auch bei noch so gelungener Übersetzung in Worte, bleibt ihr Sujet nicht, was es in der Bildform des Ästhetischen war. Deshalb geraten die Bilder, sobald sie zu einem Gegenstand des Denkens gemacht werden, in eine problematische Beziehung zur Schrift wie zur wörtlichen Rede. Denn Bilder sind auch »an der Formierung 39

Ebd., S. 195.

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Koexistenzen

von Wissen maßgeblich beteiligt« 40; sie reproduzieren Sachverhalte nicht einfach, sie verändern sie, organisieren sie oder bringen sie sogar hervor. 41 Sobald sie in den Radius der Wahrnehmung gelangen, wirkt ihre visuelle Präsenz wie thematische Emission auf die Diskurse und das Denkbare ein. Bilder öffnen Korridore des Sprechens, Reflektierens, der Kritik und des produktiven Abkommens vom Weg konventioneller Denk- und Affektordnungen. Deshalb haben sie auch Rückwirkungen auf das, was Menschen in Bezug auf etwas bildlich Dargestelltes fühlen. Was trotz aller transversaler Verwandlung als das Eigene eines Bildes beharrt und sich der sprachlichen Fassung widersetzt, sind insbesondere atmosphärische und gefühlsmäßige Ausstrahlungen – spürbare Vitalqualitäten. Es sind gerade die Atmosphären, in denen das Geheimnis, das Verdeckte und Rätselhafte nistet. In diesem Sinne weist Paola-Ludovika Coriando mit Rilkes Malte darauf hin: »das Geheimnis kann und darf nicht neutralisiert werden (denn dies ist gerade die Entfaltungsrichtung des Maschinellen und Massenhaften). Das Große, das Geheimnis, der Abgrund, der Tod muss ›besser unsäglich‹ 42 werden.« 43 Die Rede ist von einer Art der Koexistenz, wie sie auch zwischen der sichtbaren und der unsichtbaren Dimension bzw. Emission eines photographischen Bildes besteht. Dem Geheimnis eines Bildes kommt am ehesten der Verzicht auf Versprachlichung entgegen (s. dazu auch Kapitel 9). Auch bei Roland Barthes schwingt etwas Geheimnisvoll-Rätselhaftes mit, wenn er von Koexistenz spricht. Er sieht das Geheimnis der Photographie in einem Beziehungskorridor der Annährung gleichsam schweben. Dies ist jene Schnittstelle, an der die rationale Erschließung eines Bildes etwas ganz anderes zu Tage fördert als die pathische Einlassung auf etwas, das sich als metonymische Kraft in Worten schwer fassen lässt und im Sinne einer »Koexistenz« 44 neben anderen Aggregatzuständen des Bildlichen seinen eigenen ästhetischen Bestand hat. Diese besondere Beziehung zwischen zwei sich wie Oberfläche und Untergrund zueinander verhaltenden Bildebenen betrifft weniger die Frage nach geeigneten Mitteln der Reduktion von

40 41 42 43 44

Geimer, Einleitung, S. 7. Vgl. ebd. Coriando, Affektenlehre und Phänomenologie der Stimmungen. Ebd., S. 221. Barthes, Die helle Kammer, S. 52.

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Inkommensurabilität als die nach der Option der Ausklammerung einer Bildbedeutungsebene durch »gewaltsame« Transformation. Die Unterwerfung des Ästhetischen unter die Geltungsansprüche der diskursiven Rationalität ist kein Weg der verstehenden Annäherung. Mit Lyotards Widerstreit 45 stellt sich viel eher die Aufgabe, der Koexistenz verschiedener Erkenntniswege zum Wirklichen zur Anerkennung zu verhelfen. In diesem Sinne steht auch das Punctum – die Pointe des Bildes – neben anderen seiner Ausdruckscharakteristika, die zum Beispiel durch das Studium in einer spezifischen Mannigfaltigkeit der Bedeutungen erkennbar werden.

6.4 Das Punctum bei Roland Barthes Der Begriff des Punctum entspricht in seiner Bedeutung ganz dem, was auch alltagssprachlich damit gemeint ist. Auf deutsch heißt punctum »Punkt«, also etwas Spitzes, Stechendes, Einzelnes, Herausragendes und deshalb Bemerkenswertes. 46 Im gegebenen Rahmen ist es die mitunter leicht überhörbare Hintergrundstimme eines Bildes. Sie entzieht sich jeder programmierbaren wie definierbaren Logik. Und so »respektiert das punctum weder Moral noch guten Geschmack; das punctum kann auch schlecht erzogen sein« 47. An dieser Stelle soll das Begriffsverständnis von Roland Barthes skizziert werden, weil es auf ein subjektives Beziehungsmoment aufmerksam macht, das in der Emission einer Photographie von zentraler Bedeutung ist. Es liegt (rezeptionstheoretisch) in einer Tiefenschicht des Bildes. Wenn Barthes das Punctum auch allein auf die Bildrezeption bezieht, so ist es doch insofern auch bereits in der Bildgebung virulent, als es ein Aufmerksamkeit evozierendes Moment im Wirklichen gibt, das eine Aufnahme affektiv initiiert. In gewisser Weise wird man daher auch vom Punctum einer Szene sprechen dürfen, die die Beziehung eines Photographen zu einer Situation disponiert, welche wegen irgendeiner Besonderheit abgelichtet werden soll. Das photographische Bild entsteht gewissermaßen zwischen einer objektiven Referenzwelt und einer sich an diese Welt annähernLyotard, Der Widerstreit. Vgl. Grimm/Grimm, Wörterbuch der Deutschen Sprache, Band 13, Sp. 2233. 47 Barthes, Das Grundprinzip der Fotografie und die zwei Arten des Interesses an Fotografien, S. 286. 45 46

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Das Punctum bei Roland Barthes

den subjektiven Bewegung eines Photographen. Im Kontakt mit sinnlicher Wirklichkeit wurzelt auch der Objektivitätsverdacht, der erkenntnistheoretisch auf Photographien lastet. In der scheinbaren Unwiderlegbarkeit bildlicher Darstellungen ist eine Facette der Magie der Bilder begründet; ebenso die Auffassung, »daß das Objekt alle Arbeit macht« 48, weil im Sinne von Roland Barthes der Referent haften bleibt. 49 Das Bild, das als technische Ablichtung in geradezu selbstverständlicher Weise nur wahr sein kann, suggeriert: »das da, genau das, dieses eine ist’s! und sonst nichts« 50. Und doch liegt dem Akt des Ablichtens eine Haltung der Annäherung zugrunde, die den Charakter einer kreativen wie affektiven Beziehung hat. Solche Annäherung ist weit mehr als nur eine körperlich-technische Hinwendung zu einem Gegenstand oder einer Situation, wie dies beim Photokopieren der Fall ist. Eine Photographie, die man auch als Reifikation eines gebahnten Blickes verstehen kann, ist der vergleichenden Vorstellung einer Kopie fremd. Eine Photokopie hat in ihrem blinden Maschinismus nichts mit einer mimetischen Beziehung zu tun. Es mangelt ihr an jedem einstimmenden Beziehungsmoment. Photographieren stellt sich dagegen schon weit diesseits künstlerischer Interpretation als subjektiver Akt dar. Daran ändert der Umstand nichts, dass die von einem Objekt ausgehende Anziehung (oder Abstoßung) noch nicht einmal mit herausstechender Prägnanz bewusst sein muss. Schon die unbegriffliche Beziehung zum Gegenstand einer Aufnahme impliziert ein atmosphärisches Moment. Dank dessen kommt etwas ins Bild, das seine Beachtung nur scheinbar seiner reinen Sichtbarkeit verdankt. Weitaus zündender ist der vom wirklichen So-Sein ausgehende Funke, der eine bildentscheidende Richtung bahnt, in deren Mitte das »gewisse Etwas« einer ästhetischen Essenz steht. Dieses nennt Barthes das Punctum. Das photographische Bild zeigt sich seinem Betrachter in einer Dualität, die sich nach zwei Dimensionen differenzieren lässt: der des studiums und der des punctums. »Das studium liegt auf der Hand: ich interessiere mich als gutwilliges Subjekt unserer Kultur voller Sympathie für die Aussage dieser Photographie« 51. Es erschließt diese als ein entzifferbares Objekt und eine Ressource von Sinn. Dabei dehnt 48 49 50 51

Baudrillard, Denn die Illusion steht nicht im Widerspruch zur Realität …, S. 271. Vgl. Barthes, Die helle Kammer, S. 14. Ebd., S. 12. Ebd., S. 19.

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sich die Verknüpfung mit möglichen Bedeutungen potentiell ins Unendliche. Das Studium vollzieht bzw. ist die Analyse des Bildes, gleichwohl in der Form eines planvollen und intellektuellen Verstehens. Es ist eine Art Obduktion kulturhistorisch evidenter wie verborgener Sinnschichten. Freigelegt werden symbolische Netze, die zur Zeit einer Aufnahme das Salz der Kommunikation waren. Das Punctum dagegen ist nicht auf einem linearen Weg erschließbar. Es entzieht sich der Perspektive nüchtern-sachlichen Hinsehens ebenso wie der analytischen Haltung. »Um das punctum wahrzunehmen, wäre mir daher keine Analyse dienlich« 52. Aber beide Weisen des Bilderscheinens hängen wie zwei Seiten einer Medaille aneinander: »Es ist nicht möglich, für die Beziehung zwischen studium und punctum (wenn letzteres auftritt) eine Regel aufzustellen.« 53 Studium und Punctum oszillieren – sofern es ein Punctum gibt. Ein Bild muss nämlich kein Punctum bergen. Jedoch kann sich auch das ganze Bild als Punctum erweisen; ebenso kann es aber auch völlig leer bleiben. »Das studium ist letztlich immer codiert, das punctum ist es nicht.« 54 Es offenbart sich im nachhinein, es überrascht, es irritiert, macht betroffen und berührt – aber all dies nicht, weil man diese Wirkung an ihm logisch nachdenkend entziffern kann – wie die objektive Situation eines faktischen So-Seins, das von etwas eindeutig Sichtbarem beglaubigt wird. Das Punctum tritt aus einer Latenz heraus, ragt vielleicht auch nur aus ihr hervor. Deshalb lässt es sich nicht ans Licht der Erkenntnis zerren, wie es in den Wissenschaften Routine ist, wenn nur methodisch konsequent genug regulierte Deutungsprozeduren mit hinreichender Beharrlichkeit angewendet werden. Das Hervortreten des Punctum verlangt die sensible Bereitschaft, sich von einem unerwarteten Eindruck irritieren, ja in gewisser Weise »anspringen« zu lassen. Das Punctum ist Produkt einer mimetischen Einlassung aufs Bild – es ist seine Immission. Es ist nicht »objektiv« da, es muss entdeckt werden und es hat seinen Stoff in dem, was sich affizierend geradezu eindringlich zu spüren gibt. Ein subjektiv angreifendes Erscheinen verdichtet sich im Moment affektiver Berührung. Daher gibt es auch keine formalisierte Regel der »Entzifferung« und erst recht keinen Algorithmus, mit dessen Hilfe man sich for52 53 54

Ebd., S. 52. Ebd. Ebd., S. 60.

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Das Punctum bei Roland Barthes

schend an den »Punkt« einer Bedeutungsessenz vorarbeiten könnte. Folglich ist und bleibt jedes Punctum strittig. Mehr noch wird man sagen können, dass es gar nicht erst zu einer Sache des Streites werden kann, weil es als die reine Immission am subjektiven Faden persönlichen Eindruckserlebens hängt. Zwar haftet das Punctum an dem von einem Bildobjekt ausgehenden Eindruck; aber es gibt sich erst innerhalb der Grenzen des subjektiven Selbstgesprächs über ein Bild zu spüren. Wenn Roland Barthes die Freisetzung eines Punctum in einem Moment der Stille des Bildes sieht, so ist das keine lautliche Stille, sondern ein Leer-Werden des Blickes gegenüber einem Meer von Bedeutungen, die umweben, was indirekt sichtbar ist. Erst in der ästhetischen Einstellung des Betrachters, der in der Situation der Stille viel weniger optischer Betrachter, als pathischer Teilhaber ist (einer der sich in die Rätselhaftigkeit des Bildes hineinziehen lässt), öffnen sich die hinter seiner Sichtbarkeit versteckenden Schichten. Oft hat das Punctum den Charakter einer Atmosphäre, eines sich spürbar wie flüchtig Ausdrückenden, das ähnlich einer Schwelle oder Weiche ist: es verdankt sich der Emission des Bildes, ist als Immersion aber doch das Extrakt einer mimetischen Beziehung. Es zeigt sich, bleibt jedoch im engeren (optischen) Sinne unsichtbar. Das Punctum »ist das, was ich dem Photo hinzufüge und was dennoch schon da ist.« 55 Das lässt sich in gewisser Weise zwar ebenso für das Studium sagen, denn auch das mehr oder weniger »einfach« Codierte »sagt« das Bild nicht von sich aus (die Blume auf dem Grab [a] als Zeichen der Trauer, [b] des Totengedenkens oder [c] allein als förmlicher Ausdruck der Teilnahme an einem Ritus). Was sichtbar erscheint, muss decodiert wie kontextualisiert und als dieses oder jenes verstanden werden. Wenn Barthes das Punctum als ein Produkt der Hinzufügung anspricht, so meint er etwas, das in einem metaphorischen Sinne außerhalb des Bildrahmens liegt und in gewisser Weise ästhetisch betäubt ist. 56 Es ist dies ein anderes Versteckt-Sein als das eines verborgenen aber im Prinzip von jedermann rekonstruierbaren Sinns, vorausgesetzt, man verfügt über genug spezifisches »Decodierungs«-Wissen. Roland Barthes beschreibt es auch als »eine Art von subtilem Abseits, als führe das Bild das Verlangen über das hinaus, was es erkennen läßt« 57. Es liegt in einem »Mehr an Sicht55 56 57

Ebd., S. 65. Vgl. ebd., S. 66. Ebd., S. 68.

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barem« 58. Die reflexive Vertiefung in Bilddetails bietet den Zugang zu einem »Infra-Wissen« 59, das an jenen Subduktionszonen aufsteigt, an denen sich das Visuelle im Sprachlichen aufschmilzt. Die sprachlich sich ins Punctum einfühlende Aneignungsbeziehung setzt dieses Infra-Wissen frei. Kein Punctum lässt sich jedoch freilegen wie man in der Archäologie Schicht um Schicht abträgt, um zu etwas vorzustoßen, das nur mit einem belanglosen und uninteressanten Stoff zugedeckt war. Das Abseits oder Außen eines Bildes thematisiert auch Georg Simmel in einem Essay über den Bildrahmen. Er hatte ihn als das ein Kunstwerk begrenzende Medium angesprochen, als das, was es in einem Innen hält und von der Welt des Ringsherum abschirmt. Deshalb dürfe er auch keine »Lücke oder Brücke« haben, »an der sozusagen die Welt hinein könnte oder an der es in die Welt hinaus könnte.« 60 Der Rahmen schickt sich aber nur für Gebilde abgeschlossener Einheit der Kunst. Die Photographie zählt Simmel offensichtlich nicht zur Kunst, sonst hätte er kaum hervorgehoben, dass man Photographien »nach der Natur nicht mehr in Rahmen« 61 findet. Für sie wäre ein Rahmen »widerspruchsvoll und gewalttätig.« 62 Die Verflechtung des im photographischen Bild Sichtbaren mit einer außerhalb des Bildes weitergehenden Welt verbiete es, sie mit einem Rahmen einzufassen. Es ist dieser Ausschluss des Rahmens, der den herausschneidenden Charakter der Photographie illustriere. Das photographische Bild steht für ihn also in einer kontinuierlicheren Weltbeziehung als das Gemälde. Der Punkt der größten Intensität des Bildsujets gibt sich in keinem linearen Sinne preis; er verlangt die Anstrengung einer pathischen Bilddurchquerung. Das legt die These nahe, dass sich ein Punctum erst in der Reflexion vom Charakter der Begegnung öffnet (s. auch Kapitel 3.4). Roland Barthes merkt an, es könne durch keine Analyse erfasst werden, noch gebe es eine Regel, nach der es in seiner Beziehung zum Studium (anderen Formen eher rationaler Annäherung an den im Bild sichtbar gemachten Gegenstand) aufgeklärt werden könne. 63 Begegnung entzieht sich jeder Vorhersehbarkeit, Pla58 59 60 61 62 63

Ebd., S. 53. Ebd., S. 38. Simmel, Der Bildrahmen, S. 48. Ebd., S. 50. Ebd. Vgl. ebd., S. 52.

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Die produktive Verfehlung – das Rauschen

nung wie rationalen Beherrschbarkeit. Für Romano Guardini ist sie an ein subjektives Moment der Öffnung gegenüber einem Erscheinenden gebunden, ganz gleich, ob es sich dabei um eine Person oder einen materiellen Gegenstand handelt. »Damit ist auch gesagt, daß echte Begegnung nicht gemacht werden kann. Niemand kann all das berücksichtigen, was für ihr Gelingen nötig ist. […] Ja die Weisheit sagt, echte Begegnung werde durch Wollen und Planen sogar gestört.« 64

Das Punctum als Produkt einer Begegnung aufzufassen, das sich einer pathischen Berührung vom affizierenden Bildsujet verdankt, hieße zweierlei: erstens die nicht-konfliktive Koexistenz von studium und punctum sowie zweitens die vorhersehbare Verfehlung der hermeneutischen Bildaneignung im Wege rationalistisch und formal durchdeklinierter Methoden der Bildinterpretation (s. auch Kapitel 14).

6.5 Die produktive Verfehlung – das Rauschen Die mehrdimensionale Problematik der transversalen Vermittlung zwischen Bild und wörtlicher Rede mündet in die unterschiedlichsten Praktiken der diskursiven Identifizierung des Ästhetischen. Das betrifft ganz wesentlich auch die Erschließung des Punctums. Das Sprechen über Bilder stellt sich als eine im Prinzip unüberwindbare Herausforderung dar, die in der Kontingenz des Ästhetischen und in der hauptsächlich spürbaren Präsenz atmosphärischer Evidenz begründet ist. Je weiter eine bildliche Ausdrucksqualität von der Möglichkeit expressis verbis formulierbarer Aussagen entfernt ist, desto mehr schießt die Rede ins Kraut. Für das Sprechen über Photographien hat dies ein diskursives Rauschen zur Folge, in dem sich ein strukturelles, mindestens sektorales Scheitern des Bildverstehens schon ankündigt. Das Sprechen über das der Aussprache gegenüber Inkommensurable hat dennoch seinen kommunikativen Sinn, der in der pathischen Sensibilisierung gegenüber dem im Prinzip Schonungsbedürftigen liegt. Das Verfehlen des Punctum macht in der formalisierten Überinterpretation auf die Dringlichkeit der Übung pathischer Sensibilität aufmerksam. Hartwig Wiedebach sieht in pathischer Urteilskraft ein 64

Guardini, Die Begegnung, S 17.

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Moment der Vernunft. 65 Die »pathische Haltung« setzt sich zu den Geschehnissen auf andere Weise in Beziehung als die rationalistische. »Die pathische Haltung sieht im Leben wesentlich ein Widerfahrendes, ja Erlittenes.« 66 Es ist evident, dass pathische Sensibilität der Erfassung der (verdeckten) Lebendigkeit einer Szene oder dem atmosphärischen Gehalt einer Situation nähersteht als die Nutzung logisch linear geordneter Erkenntnisverfahren. Theoretisch begründete Spannungen vom Charakter inkommensurabler Beziehungen zwischen ästhetischer und diskursiver Rationalität durchwirken auch die Kommunikation zwischen Wissenschaft und Kunst – nicht erst über Bilder, sondern schon im Allgemeinen. Reibungen werden in ihrer erkenntnistheoretischen Beunruhigung »beherrscht«, wo die Kunst unter die Perspektive und paradigmatische Ordnung der Wissenschaft »eingegliedert« wird – zum Beispiel in Kunstgeschichte und Kunsttheorie. Bestehen bleibt dabei der zwischen beiden Feldern charakteristische Widerspruch je eigener Praktiken der Bewältigung von Differenzen zwischen Fühlen und Denken. 67 Zumindest jene freie Kunst, die sich (um den Preis niedriger Einkünfte und dürftiger kulturpolitischer Resonanz) vom Sog kulturindustriell getakteter Massenmedien fernzuhalten vermag, lässt sich kaum von Regeln und Normen der Wissenschaften bändigen. Vor allem die sich ökonomischen oder politischen Strategien der Verführung programmatisch entziehende (Nischen-)Kunst bewegt sich ohnehin thematisch wie methodisch auf affektiven Subduktionszonen gesellschaftspolitischer Konfliktfelder. Deshalb unterstellt sie sich auch keiner Rationalität, die sie um die »Wildheit« ihrer eigenen Ausdruckskultur berauben würde. Oft genug ist sie ihrer Übersetzung in die Sprache der Massenmedien, der offiziellen Texte und Nachrichten gegenüber sogar gleichgültig. Die Beziehung zwischen Wissenschaft und freier Kunst entspricht einem nicht oder kaum regulierbaren koexistierenden Nebeneinander strukturell verschiedener Handlungs- und Geltungssphären. Das Interesse der Wissenschaft an der Erhellung des Allgemeinen ist von strukturell anderer Art als das der Kunst. Dennoch gibt es Berührungen und produktive Kontaktzonen, an denen sich Philosophie und Kunst dialogisch treffen. So bringt auch die Pho65 66 67

Wiedebach, Pathische Urteilskraft, S. 39. Ebd., S. 194. Vgl. Bianchi, Einen Kunstsinn suchen und finden, S. 54.

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Die produktive Verfehlung – das Rauschen

tographie mit den Mitteln des Ästhetischen Außerästhetisches zur Anschauung, um es der ethischen Reflexion mit den Mitteln diskursiver Verfahren zugänglich zu machen. Der Funke der Kreativität springt damit notwendigerweise von der Kunst auf die Philosophie über – weit seltener auf die sachlogisch und disziplinhistorisch differenzierten Wissenschaften im engeren Sinne. Aus den Ressourcen der Kreativität und nicht aus propositionalen Wissensbeständen werden letztlich die Übertragungen von Werten der Kunst in die Welt der Sprache gespeist: »Das kreative Vermögen steht hier direkt gegen das Begriffliche und seine Bestimmungen, gegen die Verwendung von Kategorien, auch letztlich gegen die rationale Sprache, denn das Bild widersetzt sich dem Begriff, der Rationalität, vielmehr geht es primär darum, mit seiner Kraft etwas Neues in eine Sichtbarkeit zu bringen, zu verkörpern.« 68

Indem sich das Bild dem Begriff widersetzt, aber trotzdem in den Machtradius der Worte gelangt, wird es mit Nachdruck denkwürdig. In der Kunst, in der Wissenschaft und in der Lebenswelt wird über Photographien gesprochen. Die lebensweltlichen Diskurse treten dadurch hervor, dass in ihnen nicht alles ausgesprochen wird, was den Gegenstand einer Kommunikation gerade ausmacht. Die Wissenschaften folgen dagegen im Allgemeinen der Tendenz, innerhalb eines gesetzten Themas keine weißen Flecken eines Nicht-Gesagten übrig zu lassen. Mit Husserl weist Gottfried Boehm darauf hin, dass das Sätze begründende »Pränominale« in der Lebenswelt liege. 69 Es verheddert sich gleichsam in seiner Verwicklung ins Ganzheitliche einer Situation. Das Pränominale ist das Andere wissenschaftlicher Erkenntnisinteressen. In den Wissenschaften findet es keine nennenswerte Beachtung, es muss neutralisiert und durch denotative Klarheit ersetzt werden. Umgekehrt lässt sich auch sagen: Was sich von selbst versteht, ist selten Produkt wissenschaftlicher Konstruktion; umso mehr trägt es das Milieu lebensweltlicher Gewissheit. Die Bilder liegen auf einer Grenze der Rationalitäten, über die hinweg sie nur gebrochen verstanden werden können. Nach Gottfried Boehm haben die Bilder einen »Überschuss des Imaginären« 70, weshalb sich auch »ohne die starke Kraft des Mannigfaltigen, des Vieldeutigen, Sinnlichen und Mehrwertigen […] über Bilder nicht wirk68 69 70

Mersch, Sprung in eine neue Reflexionsebene, S. 139. Boehm, Jenseits der Sprache?, S. 74. Ebd., S. 77.

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Auf dem Grat der Rationalitäten

lich nachdenken« 71 lässt. Das gilt ebenso für photographische Bilder, die im Charakter ihrer Bildlichkeit zur mimetischen Aneignung herausfordern. Was sich über sie schwer sagen lässt, ist dagegen im gesellschaftlichen Mainstream oft weit davon entfernt, als etwas Denkwürdiges angesehen zu werden. So merkt Frieda Graf an, in traditionellen Literaturverlagen herrsche immer noch die Überzeugung, »daß das, was die Fotos bringen, auch durch Beschreibung zu machen ist. […] Im Foto hat man konzentriert, momentan und raumhaft, was man sprachlich nur mit spürbarer Mühe und immer mit dem Beigeschmack einer ungehörigen Narrativität auf die Reihe bringt.« 72 Vor dem Hintergrund solcher Einstellungen hält sich »die oberflächliche Vormachtstellung der Sprache […] hartnäckig und mit ihr das eingefleischte Vorurteil gegen die Argumentationsfähigkeit von Fotos.« 73 Solange von diesen nicht mehr erwartet wird, als was sich im schnellen Blick darüber explizieren lässt, bleiben sie weitgehend unverstanden. Dann macht das Studium das Punctum zunichte, bevor es Aufmerksamkeit hätte finden und etwas Denkwürdiges werden können. Der erkenntnistheoretisch eher flache Umgang mit Photographien liegt auch daran, dass sie immer noch mit einem naiven Authentizitäts-Anspruch verknüpft werden. Dazu gehört ein unterreflektiertes Verständnis von Genauigkeit. Was optisch scharf abgebildet und in klaren Kontrasten durchgezeichnet ist, steht für eine andere Genauigkeit als jene, die Atmosphären auf ästhetischem Weg fokussiert. Vordergründiges (Schein-)Genauigkeits-Denken gründet in lebensweltlichen Abbild-Idealen, wonach etwas dann als »genau« dargestellt gilt, wenn alle sichtbaren Gegenstandsmerkmale in einem aufnahmetechnischen Sinne auch im Bild wiederzuerkennen sind (Kanten, Farben, Formen etc.). Diesem vereinfachten GenauigkeitsKonzept ist entgegenzuhalten, dass sich Genauigkeit nicht maximaler Detail-Mengen verdankt, sondern der charakteristischen Darstellung von etwas. 74 So ist es auch eher das »professionell geübte Auge« 75, das um Sinn und Bedeutungen dessen weiß, was sich »hinter« einem noch so präzise und objektiv Abgebildeten verbirgt. Der Einzelheiten Ebd., S. 75. Grafe, Bilder illustrieren, S. 340. 73 Ebd. 74 Vgl. auch den Hinweis zu Genauigkeitsansprüchen an zoologische Atlanten des 19. Jahrhunderts in Kapitel 4.5. 75 Galison, Urteil gegen Objektivität, S. 396. 71 72

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Phänomenologische Herausforderungen

eines Bildes formalistisch zusammenzählende und methodisch spitzfindig verrechnende Geist wird im Unterschied dazu den essentiellen Ausdruck einer Photographie eher verfehlen. Wem sich im Blick auf eine Photographie die Worte versagen, der gerät auf den Grat der Sprachlosigkeit. Der Weg nachdenkender Annäherung an die im Bild vorscheinenden Dinge der alltäglichen Welt verliert sich dann schnell in Wahrnehmungs- und Deutungskonventionen, die allzu leicht vom Einerlei massengesellschaftlichen Meinens gefüllt werden. Wer dagegen sprechen will, es aber nicht kann, bedarf der übenden Versenkung in die bildliche Verfremdung des Alltäglichen und Gewöhnlichen. Dabei alphabetisiert sich eine an Wahrnehmungskonventionen reibende Sprache in der immer präziser werdenden Benennung von Eindrücken. So werden Photographien spröde und entziehen sich ihrem vorschnellen Verstehen. Erst das dann Sagbare kann aufdecken, was im Alltag von der Macht des Selbstverständlichen zugedeckt ist. Das Denkwürdige liegt hinter dem Infra-Gewöhnlichen, das zum einen an den Gegenständen vorscheint, zum anderen mit Bildern aber auch erst sichtbar gemacht wird. Das Denkwürdige verdankt sich nicht zuletzt der Obduktion des Mikrologischen, des Kleinen und Kleinsten, das in und hinter den Oberflächen vertrauter Ansichten liegt oder als etwas ganz Eigenes Beachtung verdient. 76 Die Bildserien im zweiten Teil dieses Bandes werden an thematisch verschiedenen Feldern und in je eigenen methodischen Arrangements diese Wege illustrieren.

6.6 Phänomenologische Herausforderungen Die phänomenologische Thematisierung von einzelnen Photographien und Bildserien läuft weder auf einen Zwang zur Versprachlichung 77 hinaus, noch auf den Verzicht sinnerschließender Anstrengungen in der verstehenden Aneignung von Sichtbarem wie Unsichtbarem. Ihre Produktion wie Rezeption macht in emanzipierten Praktiken die Grenzen bewusst, an denen die Eintrübung von Ausdrucksqualitäten durch vorschnelle Transformation einer ästhetischen Explikation ins Diskursive droht. Jeder Umgang mit dem photographischen Bild stößt auf erkenntnistheoretisch situationsspezi76 77

Vgl. dazu auch Hasse, Die Aura des Einfachen, Kapitel 1 und 2. Vgl. dazu Grafe, Bilder illustrieren, S. 340.

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Auf dem Grat der Rationalitäten

fische Probleme. Und so führt die Aufgabe des ästhetischen Ausdrucks eines Erlebens tendenziell ebenso in die Quadratur des Kreises wie die sprachliche Erfassung eines bildlich explizierten Eindruckserlebens. Ein photographisches Bild äußert eine subjektive Beziehung zur »Sache« eines Themas. Im Bild wird dieses oder jenes sichtbar – ein verfallendes Gebäude oder die von einer Schiffswand abblätternde Farbe. Was sich so zu sehen gibt, ist – als bildlicher Ausdruck – das Andere dessen, was über denselben Gegenstand und sein Erleben ausgesagt werden könnte. Die phänomenologische Problematik liegt auf der Schnittstelle zwischen Eindruck und Ausdruck. Sie verdichtet sich in der Frage, wie die Differenz zwischen einem emotional eindrücklich werdenden Erleben und einem darauf bezogenen Ausdruck bewältigt werden soll. Auf dieser Schwelle aktualisiert sich auch die Gefahr der Auflösung des Punctums im Sinne von Roland Barthes. Dabei wird vorausgesetzt, dass es nicht nur im photographischen Bild das luzide Sinnzentrum eines Punctum gibt, sondern ebenso in Situationen aktuellen Erlebens wie in Aussagesätzen der wörtlichen Rede. Ein Erleben hat seine in gewisser Weise objektivierbaren Bedingungen; es zeichnet sich durch eine Fülle von Marginalien aus, aber eben auch durch die Existenz einer (oft verborgenen) Bedeutungsmitte. Man nimmt vieles wahr, auch wenn ein Moment im Zentrum steht, das alles andere um sich herum oder unter sich versammelt und zu Beiläufigkeiten macht. Auch die sprachliche Äußerung eines Eindrucks hat ihren essentiellen Mittelpunkt, wie sie zu dessen Substanzialisierung der Arrondierung untergeordneter Konnotationen bedarf. Sobald der pathisch sensible Blick auf das affektive Epizentrum eines Erlebens bzw. dessen bildlicher Explikation zu schwimmen beginnt und seinen Halt am Punctum einbüßt, verliert auch die phänomenologische Aufmerksamkeit ihr Zentrum. Die sich stellende Schwierigkeit liegt nicht zuletzt darin, dass photographische Bilder trotz aller Exaktheit ihrer Schärfe und Objektivität ihrer Referenz zum Wirklichen eine »Tendenz zum Diffusen und Unorganisierten […] nicht verleugnen [können]. Deshalb sind sie unvermeidlicherweise wie von einem Saum undeutlicher und vielfältiger Bedeutung umgeben.« 78 Jede Photographie kann schon aufgrund technischer Programmzwänge, der Begrenztheit auf ein Aufnahmeformat und wegen ihrer »Sprachlosigkeit« nie etwas in Gänze zeigen. 78

Kracauer, Das ästhetische Grundprinzip der Fotografie, S. 164.

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Phänomenologische Herausforderungen

Sie kann nur eine segmentierte Situation im Sinne von Hermann Schmitz sichtbar machen. Was über deren Rand hinausgeht, kann zum Anlass von Vermutungen, Hypothesen oder Spekulationen werden. Deshalb sind Photographien auch imaginär »gerahmt«, bevor sie gemacht werden. Aber sie sind – in ihrer Segmentiertheit – ästhetische Explikationen von Eindrücken, die sich von Vielem, das es zum Zeitpunkt einer Aufnahme in einem leiblichen Herum gab, in den Fokus der Aufmerksamkeit geschoben haben. Jede phänomenologisch tragfähige Autopsie subjektiven Erlebens verlangt – als wissenschaftliches oder philosophisches Projekt – die sprachlich differenzierte Durchleuchtung. Darin variiert sich die Arbeit der Reflexion sinnlicher Eindrücke im Allgemeinen aber nur durch die besonderen Anforderungen im Medium der Photographie. Dies bedeutet letztendlich, dass die Reflexion einer Photographie (formal wie inhaltlich, im Medium des Studiums wie des Punctums) in den Grenzen der wörtlichen Rede gefangen ist. Darin öffnet sich jedoch eine produktive Perspektive, die die Übersetzungskraft der Kreativität herausgefordert. Was in einem Bild sichtbar ist, kann in seinen Bedeutungen und Sinnverweisen nur erschlossen werden, wenn die verstehende Annäherung dem Rauschen des Ästhetischen anerkennend begegnet und in der metaphorischen Rede gerecht wird. Jede methodisch perfektionistische Serialisierung des Blickes auf Bilder muss zu faden Ergebnissen führen, weil es ihm an Inspiration ebenso mangelt wie an der Dynamik produktiv »ins Kraut schießenden« Assoziierens. Nur wo in der mimetischen Einlassung auf die Ausdruckspotentiale eines Bildes sprachliche Überschüsse produziert werden, kann neuer Sinn entstehen, kann vom Bild eines X auf ein Y geschlossen werden. Das wäre dann kein Beleg für die Unmöglichkeit von Interpretation und Verstehen, vielmehr ein Hinweis auf die unverzichtbare Macht der Kreativität, die im Umgang mit ästhetischem Material ihre eigenen Resultate generiert. Wie auch immer die Annäherung an ein Bild (wie eine ästhetisch und leiblich beeindruckende Situation) geschieht, beharrt das Problem des Fertig-werden-Müssens mit einer Grenze. Das Dilemma der Übertragung eines sinnlichen Eindrucks in die Form der Sprache spricht Goethe in der Farbenlehre so an: »Jedoch wie schwer ist es, das Zeichen nicht an die Stelle der Sache zu setzen, das Wesen immer lebendig vor sich zu haben und es nicht durch das Wort zu töten.« 79 79

Goethe, Schriften zur Farbenlehre, S. 245.

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Auf dem Grat der Rationalitäten

Der transversale Akt einer jeden Beschreibung eines sinnlich Gegenwärtigen oder auch nur Imaginierten birgt dieses Potential der Tötung von Lebendigem. Eine Lösung bahnt sich in der Art und Weise sprechenden Nachdenkens und Reflektierens über Bilder an. Wenn ihnen (insbesondere im phänomenologischen Rahmen) ein eigenlogischer Status zugesprochen wird, so folgt daraus für die Praxis der Bildrezeption nur, dass allein Berührungen vom Charakter der Anspielung auf Verdecktes und Verstecktes angestrebt werden können. Bedeutung und Sinn werden dabei nicht freigelegt und analysierbar gemacht wie die Ströme des Geldes zwischen Bankkonten. Die Rekonstruktion verbildlichter Situationen setzt beim Vorscheinen möglichen Sinns an; letztlich bleibt sie offen, verweist auf vieles Mögliche und noch auf Widersprüchliches. Explikationen im Medium der wörtlichen Rede bleiben zwar in einem irreduziblen Abstand zum Ästhetischen, dem die Explikation gilt. Sie können aber gar nicht anders, als in allen nur erdenklichen Beziehungen diesen Abstand auch zu wahren. Es gibt keine direkte Erfassung von Eindrücken, sondern allein die Umschreibung sowie ein sich in Fragen kleidendes hypothetisches Denken. Anstelle intensionaler Bedeutungen kommen die extensionalen der annäherungsorientierten und erwartungsoffenen Umkreisung im Medium der Sprache dem Eindrucksverstehen entgegen. Der Präzisionsanspruch denotativer Aussagen ist phänomenologisch unpassend. Von dem sich hinter einer Photographie verbergenden Ganzen bleibt in der sprachlich umschreibenden Reflexion ein nicht präzisierbares Maß an Unbestimmtem und Rätselhaftem. Das ist kein Rest, kein Mangel und kein Grund zur hermetischen Maximierung der Trennschärfe analytischer Methoden, vielmehr einer der letzten Horte menschlicher Lebendigkeit. Wenn nach Merleau-Ponty Reden und Schreiben bedeutet, Erfahrungen zu übersetzen 80, so heißt das noch lange nicht, dass Erfahrung der Sprache zwingend bedarf. Sie kann sich ihre Wege im Medium des Sprechens suchen und sich in der wörtlichen Rede ausdrücken. Sie muss dies aber nicht, um die Befunde einer Reflexion in den Bestand von Erfahrungswissen zu überführen. Auch nonverbale Formen der Verarbeitung eines Erlebens führen zur Erweiterung pathischen Wissens. Ähnliches gilt für das Zeigen. Auch dies sieht

80

Vgl. dazu Waldenfels, Das Bild in der Philosophie, S. 58.

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Phänomenologische Herausforderungen

Waldenfels, indem er es als »Nahtstelle zwischen Sagen und Sagen« 81 begreift, im weiteren Sinne als eine ans Sprechen gebundene Geste. Damit käme eine Art des Zeigens gar nicht erst in den Blick, das auf Situationen oder Erscheinungsweisen nur hindeuten würden, welche aufgrund ihrer ästhetischen Eigenart oder einer inhärenten Komplexität der Sprache gar nicht ohne weiteres zugänglich sind. Zeigen genügt sich als kommunikative Geste in spezifischen Situationen schon als wortloses Geschehen, allzumal dann, wenn Bilder aufgrund hoher Affizierungsrade stumm machen. 82 An der Schwelle zum Sprechen öffnet sich aber auch eine phänomenologisch unverzichtbare Gebrauchsweise des Bildes. Nach Bernhard Waldenfels hat die Phänomenologie den »Ehrgeiz, Begriffe an der Erfahrung zu überprüfen und in der Artikulation ungeahnter und unerhörter Erfahrungen neue Begriffe zu bilden.« 83 Darin dürfte er sich mit Hermann Schmitz einig sein, der sagt: »Phänomenologie ist ein Lernprozess der Verfeinerung der Aufmerksamkeit und der Verbreiterung des Horizontes für mögliche Aussagen.« 84 Und in der Tat vermitteln Photographien in der Art ihres ästhetischen Erscheinens bzw. ihrer bildspezifischen Vermittlung von Ansichten und Begegnungen mit Wirklichem eine Intensität nachspürender Bedenklichkeit, die das in seinen Bedeutungsnuancen bewusste Sprechen herausfordert.

81 82 83 84

Ebd. Zur Geste des Zeigens vgl. auch Kapitel 10. Waldenfels, Das Bild in der Philosophie, S. 56 f. Schmitz, Kurze Einführung in die Neue Phänomenologie, S. 14

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7. Das Sichtbare und das Unsichtbare

Photographien machen sichtbar, was es zum Zeitpunkt ihrer Aufnahme an einem Ort gegeben hat. Dennoch geben sie nichts wieder wie eine Fotokopie, die eine optische Vorlage einfach nur »verdoppelt«. Zum einen geben sie etwas zu sehen – meist optisch präzise und insofern »authentisch«, als das Gezeigte aufnahmetechnisch dem entspricht, was Gegenstand der Photographie war und nicht Produkt technisch intervenierender Raffinessen. Zum anderen entziehen sie dem Blick aber auch, was für eine (in der Situation der Betrachtung eines fertigen Bildes schon längst vergangene) Aufnahmesituation konstitutiv war. Deshalb birgt jede Photographie auch das Rätsel einer performativen Dynamik, die in keinem Bild weiterleben kann. Dieses Spannungsverhältnis zwischen Sichtbarem und Unsichtbarem ist für das photographische Bild grundlegend. Seine anästhetische Rückseite saugt sich mit einem Sinnvakuum voll, das so lange lediglich ein erkenntnistheoretisches Potential der Reflexion bildet, bis das Verdeckte tatsächlich zum Anlass des (Be-)Denkens wird. Es ist unter anderem dieser ästhetisch-anästhetische wie unbestimmte Zusammenhang, der Bilder so anziehend macht. Photographien scheinen dank ihrer visuellen Suggestivkraft das »Echte« par excellence zu repräsentieren. Was sie zeigen, gilt im naiven Blick deshalb als Spiegelbild der Realität. Nur gehen die Gegenstände nicht in sichtbarer Materialität auf. Auch deshalb sind die Bilder in ihrem zwischen Sichtbarkeit und Unsichtbarkeit schwimmenden Charakter Medien der Verführung. Zum einen tun sie so, als sei »alles« in ihnen zu sehen. Zum anderen wollen sie Fragen neutralisieren, die über die Grenzen des optisch wahrnehmbar Gemachtem hinausgehen. Aber schon das natürliche Sehen geht im Bereich der sinnlichen Wirklichkeit jenseits der Bilder über das nur OptischSensorische hinaus. In einem »Sehen« zweiter Ordnung erschließt es sich eine sinnlich plurale Welt. Diese ganzheitliche wie intuitive Form der Wahrnehmung verdankt sich denkend-spürender »Augen«. Sie geht Gefühlen nach, die vom Sichtbaren angesprochen werden, 124 https://doi.org/10.5771/9783495823750 .

Das Luzide, Verschwommene und Entzogene

aber auch von ihm versiegelt sind. Im Vitalitätszentrum begreifenden Sehens ist eine Haltung des Suchens wie hintersinnigen Fragens aufmerksamkeitsbestimmend. So wird das Bild in einem strengeren Sinne erst lebendig, sobald die reflexiv-mimetische Arbeit Brücken zum Verborgenen schlägt.

7.1 Das Luzide, Verschwommene und Entzogene Bilder erfüllen nicht zuletzt metaphysische Bedürfnisse, insbesondere in Religion und Magie. Dann repräsentieren sie das Unsichtbare. Im Unterschied zu den Ikonen, deren materieller Präsenz göttliche Kräfte zugeschrieben wird, liegt eine Hauptsache der photographischen Bilder im indirekt Abgebildeten, das von einem Jenseits seiner Sichtbarkeit durch- und vorscheint. Das Bild folgt dann keiner pragmatischen Mitteilungslogik. Es funktioniert vielmehr in einem metaphysischen Bereich der Kommunikation – jenseits der Grenzen seines allein praktischen Gebrauchs. 1 Es dient der Beschwörung und Betörung, der (Auto-)Suggestion, der Förderung des Glaubens, der Festigung der Wünsche, der Prolongierung des Hoffens und der Bekräftigung von Erwartungen. Es ist ein in beträchtlichem Maße irrationales Medium. Einer in gewisser Weise mythischen Wirkungslogik folgen die Bilder aber auch in modernen Gesellschaften. Selbst Aufklärung und Emanzipation haben daran nichts geändert. Die affizierende Macht der Bilder erweist sich sogar in überkomplexen sozialen Systemen als funktional. Dabei generieren sich die Stoffe imaginären Sinns zunehmend – meistens zur Unterstützung sprachlicher Wege der Kommunikation – aus der Bilderflut der Neuen Medien, auf dass der Zusammenhang von Gefühl und Verstand auf immer perfidere Weise aufgespalten wird. 2 Es ist an der Kulturindustrie 3, das an den Subduktionszonen zwischen Wunsch und Hoffnung hier sowie verschlisVgl. auch Bächtold-Stäubli, Handwörterbuch des deutschen Aberglaubens, Band 1, Sp. 1285. 2 »Die Trennung von Gefühl und Verstand, die es möglich macht, den Dummkopf frei und selig zu sprechen, hypostasiert die historisch zustande gekommene Aufspaltung des Menschen nach Funktionen.«; Adorno, Minima Moralia, S. 263. 3 Eine bis in die Gegenwart sich mehr verschärfende als abschwächende Aktualität bieten die Analysen der Kulturindustrie von Adorno und Horkheimer; vgl. Adorno/ Horkheimer, Kulturindustrie. 1

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Das Sichtbare und das Unsichtbare

senen Utopien eines besseren Lebens dort aufbrechende Vakuum mit »sichtbaren« Versprechen zu füllen. Wo sich Komplexität fortwährend steigert und Unübersichtlichkeit ausbreitet, wird das Bedürfnis nach Orientierung eher in illusionären als tatsächlichen Sphären bedient. Es sind vor allem kollektive Emotionen, die auf den Wegen der spätmodernen Massenkommunikation zirkulieren und sich in Bildern spiegeln. Nichts an ihnen ist sichtbar wie ein materieller Gegenstand. Allen Photographien ist eine gleichsam doppelte Existenz eigen; noch dem geblitzten Bild der Radarfalle. Neben dem unmittelbar Sichtbaren gibt es das davon Überdeckte, das Luzide, Verschleierte, Undeutliche, Verschwommene, Versteckte und in Gänze Unsichtbare. Die Krux der Bilder liegt nun darin, dass auf dieser gleichsam »zweiten« Ebene nichts Minderwertiges oder Belangloses archiviert ist, das von einem autopoietischen Relevanzfilter der »Realität« gleichsam ausgeschieden worden wäre, um den Bildbetrachter von unnötigem Ballast zu befreien. Nicht selten verbirgt sich auf verdeckten Tiefenschichten – im Milieu des Anderen visueller Sichtbarkeit – erst die Essenz eines Bildes. Trotz aller Exaktheit ihrer Schärfe und klarer Referenz zum Wirklichen ist bei photographischen Bildern eine »Tendenz zum Diffusen und Unorganisierten« 4 nicht zu leugnen. Übergänge ins Unsichtbare sind schon durch technische und apparative Programmzwänge bedingt; jede Photographie ist – abhängig von der Brennweite der verwendeten Objektive – auf einen Bildausschnitt begrenzt. Rechts und links sowie oben und unten muss sie etwas aus der sichtbaren Welt weglassen und in ein Außen der Aufnahme verbannen. Indem die Bilder schließlich sprachlos sind, scheiden sie ins Unsichtbare ab, was sich nicht bruchlos vom Sagen ins Zeigen transformieren lässt. Keine Photographie vermag etwas »lückenlos« und »vollständig« abzubilden und dem Nachdenken in einem multisensorischen Verständnis verfügbar zu machen. Was sich nicht in den Rahmen einer optisch segmentierten Situation einpassen lässt, bleibt »draußen«. Deshalb sind Bilder auch in einem metaphysischen Sinne bereits »gerahmt«, bevor sie gemacht sind und als Spiegel des Realen missverstanden werden. Aber sie sind – in ihrer Ausschnitthaftigkeit – ästhetische Explikationen einer (meistens segmentierten) Situation. So steht das pho4

Kracauer, Das ästhetische Grundprinzip der Fotografie, S. 164.

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Das Luzide, Verschwommene und Entzogene

tographische Bild auf einem Grat. Einerseits erscheint das Abgebildete in seiner Sichtbarkeit gleichsam schlagartig mit der Eindrucksmacht lebensweltlicher Evidenz. Was man sehen kann, gilt als »Dieses« und nicht als »Vielleicht-dieses-oder-Jenes«. Andererseits ist es in seiner ab- wie hintergründigen Undeutlichkeit einem Palimpsest ähnlich. Es birgt Rätsel und darin zugleich eine Aufgabe: die nachspürende wie nachdenkende Ent-deckung des Ver-deckten. Gelangt das Bild erst in die Fragwürdigkeit, steht es nicht mehr selbstverständlich vor den Augen eines Betrachters, sondern präsentiert sich als etwas in irgendeiner Weise Unvollständiges. Zwar ist es ein sichtbares »Dieses«, aber doch nur ein Erscheinendes, das undeutlich auf etwas Abwesendes verweist – wie man vor dem Eingang eines Fuchsbaus stehend weiß, dass zur Höhle ein Tier gehört. Der verschwommene und mehrdimensionale Grenzcharakter der Bilder wurzelt in der ihnen anhaftenden Mannigfaltigkeit der Bedeutungen, die in ihrem verschwommenen Charakter die Aufmerksamkeit magnetisch auf sich ziehen, das So- oder Anders-Verstehen herausfordern, zu Deutungen verführen und produktive Suchvorgänge antreiben. Für Alexa Färber haben die Bilder (der Stadt) zwei Dimensionen, die in ihrer Gleichzeitigkeit gleichwertig sind: »Das Nichtanwesende und Unsichtbare spielt deshalb dem Anwesenden und Sichtbaren eine ebenbürtige Rolle.« 5 Darüber hinaus aber weist diese Doppelstruktur auf eine mediale Regulierung von gesellschaftlich relevanten Symbolen und Bedeutungen hin. Noch in den banalsten Bildern scheint etwas vor, das die Sichtbarkeit des Abgebildeten transzendiert. Das Blitzbild der Radarfalle repräsentiert die erzwingbare Messung der Geschwindigkeit, die Möglichkeit der ordnungsstaatlichen Sanktionierung der Bewegung und nicht zuletzt die technische Kommunizierbarkeit von prinzipiell allem. Wenn der gesellschaftliche Gebrauch von Bildern ein Mehr dessen preisgibt, was in einem naiven Sinne sichtbar ist, so drücken sich in Photographien vieldeutige Spuren aus. »Die Spuren sind verfügbar, das, worauf sie verweisen entzieht sich.« 6 Das Bild ist die Spur, in den Dimensionen seiner ausgeblendeten Wirklichkeit entzieht sich jedoch das sichtbar Gemachte in rauschenden Symbolen. Wegen der Vexierhaftigkeit der Bilder merkt Bernhard Langerock an, die Photographie schaffe einen Zugang »zu Nähe und 5 6

Färber, Untiefen des Kulturellen, S. 216. Schmidt-Biggemann, Wie sich zeigt, S. 83.

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Das Sichtbare und das Unsichtbare

Ferne« 7, wobei es zu einer Verschiebung der »Grenzen der Vorstellung« 8 komme. Damit ist Mehreres zugleich gesagt; zum einen wirkt die Photographie, mit dem was sie darstellt, auf die Vorstellungen des im mathematischen Raum Nahen wie Fernen ein. Nah ist zunächst das Sichtbare, und fern, was hinter dem Horizont liegt oder gegenüber dem Blick verstellt ist. Zum zweiten sind Nähe-Ferne-Relationen aber schon in der Situation der Aufnahme begründet, stellt sich diese doch als eine artifizielle Beziehung dar, aus der heraus eine dreidimensionale Wirklichkeit ins zweidimensionale Bild »gepresst« wird. Ganz gleich, ob es sich bei dem auf einem Bild sichtbar Gemachten um etwas im Ortsraum »Nahes« oder »Fernes« handelt – es ist a priori gebrochen und durch die technischen Bedingungen des Photographierens verzerrt. In ihrem massenmedialen Gebrauch steht die Photographie in erster Linie jedoch nicht für die Veranschaulichung von lebensweltlich Nahem, sondern für die mediale Inszenierung von gefühlsmäßig aufgeladenen Dingen, Orten, Szenen etc. Bilder fungieren zwischen Subjekt und Gesellschaft als medialer Klebstoff von Beziehungen. In deren Mitte steht oftmals das psychologisch Ferne. Das Trivial-Nahe des Alltäglichen rückt eher in der (Photographie-) Kunst in den Fokus; in der massenmedialen Zirkulation der Bilder hat es keine größere Bedeutung. Unter phänomenologischer Perspektive verdienen gerade lebensweltlich verschleierte Nähe-Ferne-Beziehungen eine herausgehobene Aufmerksamkeit. Als »verschleiert« sollen solche angesehen werden, in denen sich Vieles zwar von selbst versteht, Essenzielles vom schnellen und gewohnten Blick aber übersehen wird. In diesem Sinne »gebrochene« Nähe-Beziehungen wird auch der Bildteil dieses Bandes zum Thema machen. Bilder rücken noch das topografisch wie lebensweltlich Fernste in die tatsächliche Nähe gedruckter oder digital visualisierter Bilder. Infra-gewöhnliche Dinge oder Ansichten müssen uns trotz aller Sichtbarmachung jedoch nicht auch in einem psychologischen Sinne schon nahe sein. Gerade was durch die gewöhnungsbedingte Macht der Routinen vertraut geworden ist, kann durch die bildliche Verfremdung in besonderer Weise in eine erkenntnistheoretisch ferne Nähe rücken. So sind Schlangengurken, die in winterlicher Kälte in jedem Supermarkt angeboten werden, zwar lebensweltlich wie lebenspraktisch unbestreitbar nahe, 7 8

Langerock, Die ferne Nähe und die nahe Ferne in der Fotografie, S. 120. Ebd.

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Mimetische Annäherung statt Bildgläubigkeit

nicht aber die dazugehörigen Produktionspraktiken in energieaufwendig beheizten Gewächshäusern. Noch nicht einmal dann, wenn sich diese auch in räumlicher Nähe zu den Orten ihres Erwerbs befinden. Einzelbildern von Gewächshäusern fällt es schwer, die ihren Objekten anhaftende ethische Dimension zu veranschaulichen. Eher kann es der Bild-Serie gelingen, über die räumliche Nähe der ubiquitär verfügbaren Waren auch deren psychologische Ferne bewusst zu machen: die Widerspüche der scheinbar so leichten Verfügbarkeit »unzeitgemäßer« Lebensmittel. So ist es gerade das ferne Nahe, das zur Herstellung von Denkwürdigkeit im Medium der Photographie herausfordert, weniger auf den Wegen der dokumentarischen Photographie, als denen der Kunst. 9

7.2 Mimetische Annäherung statt Bildgläubigkeit Photographische Bilder sind scheinbar Abbildungen von etwas. Verstehen kann sie nur, wer zum figürlichen Begreifen in der Lage ist. Darin drückt sich nicht nur kulturelles bzw. zivilisatorisches Können aus, sondern auch ein Grundvermögen komplexen Situationserfassens. In einem phänomenologischen Verständnis ist auf der Oberfläche eines Bildes nur zu sehen, was sich in seiner Lichthaftigkeit für die photographische Form einer photographischen Darstellung anbietet. Thema des Bildverstehens ist aber nicht die Verteilung eher heller und eher dunkler Flächen und Kanten auf dem Bromsilberabzug, sondern die dank dessen wahrnehmbare Darstellung. Der in aggressiver Angriffslust auf einem Bild sichtbare Hund haftet (als Bild) auf der Oberfläche des materiellen (oder digitalen) Bildträgers; es besteht nicht der geringste Grund zu der Befürchtung, er könnte das ikonographische Milieu verlassen und in einer wirklichen Welt leiblicher Wesen zubeißen. Kein Bild erschöpft sich in seinem vordergründigen Abbildungs-Charakter. Zu einer ästhetisch gestalteten Bild-Szene 10 gehört mehr als das optisch Sichtbare. Der auf einer Photographie erscheinende Hund zeigt sich in seinem aggressiven Habitus ja nicht nur in seinem gegenständlichen Körper. In seiner leiblichen Präsenz gibt er etwas von seinem situativen Affektzustand zu spüren. Damit weckt er bei einem Betrachter pathische Resonanz. Das Tier steht 9 10

Vgl. dazu auch Hasse/Lewin, Betäubte Orte. Vgl. Böhme, Aisthetik, S. 154.

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Das Sichtbare und das Unsichtbare

daher im eigentlichen Sinne auch nicht als körperliches Objekt in der Mitte des Bildes, sondern sein leiblich aggressiver Ausdruck. Gleichwohl ist es der Körper des Hundes, der in seinem gestischen Erscheinen als Medium der Kommunikation von Gefühlen unmittelbar sichtbar wird. Er verweist auf spezifische Lebendigkeit. Aber nur der Körper ist im engeren Sinne (mit den Augen) sichtbar und nicht der Leib. Zwar ist jedes photographische Bild schon durch den kameratechnischen Abbildungsmaschinismus mit dem Wirklichen verbunden. Es liefe jedoch auf dessen Überschätzung hinaus, der Photographie schon deshalb das Vermögen zur optisch »echten« Wiedergabe zuzuschreiben, geschweige denn zur umstandslosen Aufdeckung von Unsichtbarem. 11 Keine Photographie deckt von sich aus etwas auf; sie reproduziert in einem optischen Sinne, was einem lichtempfindlichen Aufzeichnungsmedium zugänglich gemacht werden kann. Jedes »Aufdecken« erfordert die Arbeit des Studiums und der pathisch-mimetischen Annäherung an palimpsesthaft überdeckte Bildebenen. Was in einem einfachen visuellen Verständnis nur zu sehen ist, setzt noch keinen ästhetischen Überschuss frei. Dennoch sind Photographien Medien, die sich der mimetischen Annäherung an verbogenen Sinn anbieten. Diese erfordert jedoch reflexive Arbeit und bezieht sich folglich nicht allein auf das, was optisch auf einem Bild zu sehen ist. Jedes Bild ist »Resultat einer Wahl und Inszenierung« 12, oft Spiegelbild eines Begehrens. Der Akt seiner Herstellung fällt immer wieder hinter die Utopie einer identischen Erfassung von Wirklichem zurück. Das gilt unabhängig davon, ob eine bewusste Entscheidung über den Einsatz spezifischer Programmalgorithmen, die Bahnung von Perspektiven, die Wahl eines Ausschnittes etc. getroffen wurde oder eine Aufnahme eher nur das Resultat einer intuitiven Geste ist. Jede Photographie ist in ihrem Zugriff aufs Sichtbare technisch und habituell vermittelt. Eine Aufnahme ist nur eine »Annäherung durch die Kamera«; sie ist »›künstlich‹ und zugleich ›objektiv‹.« 13 Dieser Prozess lässt sich auch als (performative) Bild-ung auffassen, die einem Gefühl folgt. In der Bild-Produktion gibt es eine große und vielfältige Breite an Formen der Ein- wie Aus-Bildung 14; sie alle 11 12 13 14

Vgl. Bazin, Ontologie des fotografischen Bildes, S. 63. Busch, Belichtete Welt, S. 338. Ebd., S. 339. Vgl. Wiesing, Artifizielle Präsenz, S. 22.

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Die Darstellung des Verdeckten – Optionen und Grenzen

stehen naiven Abbildungsideen entgegen. Die Situation der Bildrezeption unterscheidet sich davon weniger kategorial als situativ. »Als spectator interessierte ich mich für die PHOTOGRAPHIE nur »aus Gefühl«; ich wollte mich in sie vertiefen, nicht wie in ein Problem (ein Thema), sondern wie in eine Wunde: ich sehe, ich fühle, also bemerke ich, ich betrachte und ich denke.« 15

Die ästhetische Beziehung zu einer Photographie wurzelt für Roland Barthes im Pathischen. Der Betrachter tritt nicht rational in einen atmosphärischen Bild-Raum ein, er lässt sich affektiv in ihn hineinziehen. 16 Die Affizierung werde durch das Punctum als eine Art ephemerer Bildessenz vermittelt. Aber nicht jedes Bild hat das ästhetische Potential zur »Emission« eines Punctum. Es »meldet« sich spürbar als Verborgenes und fordert zur mimetischen Findung heraus. Was sich wie als atmosphärische Zwischenqualität der Beeindruckung entfaltet, ist nicht nur eine Frage der Komposition des Bildes, sondern ebenso der Beziehung eines Betrachters zum Bild und seinen verdeckten Bedeutungsebenen. John Ruskin, der die Potentiale der Photographie in der Polarisierung mit der Malerei sah, stellte heraus: »Gehen Sie und sehen Sie die Landschaft selbst an und halten den Eindruck im Gemüt fest; bilden Sie sich nicht ein, Sie könnten das Gute durch einen schwarzen Abdruck herausziehen und in einem Kasten herumtragen!« 17 Die in die Erschließung der Bilder investierte Aufmerksamkeit hat ihre affektiven Kraftquellen, und nur in zweiter Linie führen uns die rationalen Vermögen zur Entzifferung formaler Ordnungen des Bildaufbaus oder offizieller gesellschaftlicher Gegenstandsbedeutungen an die Essenz eines Bildes heran.

7.3 Die Darstellung des Verdeckten – Optionen und Grenzen Wenn Alfred Döblin den Photographen August Sander zu jener kleinen Gruppe von Gestaltern zählt, die nicht danach strebten, das Besondere eines individuellen Menschen zur Anschauung zu bringen, sondern etwas Allgemeines, das am Habitus des Handwerkers, GroßBarthes, Die helle Kammer, S. 30. Beim kulturindustriell zirkulierenden Bild, das für die massenhafte Rezeption nach Klischees produziert und möglicherweise noch manipuliert wurde, hat das Gefühl der Hinwendung den Charakter einer »Dressur« (vgl. ebd., S. 35). 17 Ruskin, Der Hauptaberglaube des 19. Jahrhunderts, S. 153. 15 16

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Das Sichtbare und das Unsichtbare

bürgers, Studenten, Künstlers, Intellektuellen usw. vorscheint, 18 so idealisiert er nicht nur Sander, sondern viel mehr noch die Möglichkeiten der Photographie. Aber genau darin lag das Programm von Sander. Im Endeffekt dürfte dieser jedoch mit seinen zahllosen Porträts über die Grenzen je vorscheinender Individualitäten nur wenig hinausgelangt sein. Wenn sich im Bild – zum Beispiel eines Konditors – auch schemenhaft etwas Allgemeines von einem beruflichen Leben hat zeigen lassen, so bleibt das konkrete Bild doch das Eine und die Arbeit von zahllosen Konditoren das Andere. Deshalb dürften Sanders Arbeiten dem Allgemeinen ganzer in sich heterogener Professionen auch eher fern geblieben sein. Bestenfalls können solche Photographien in der ästhetischen Gestalt eines Bildes die Frage in symbolischer Weise stellen, was einen Beruf oder Stand ausmacht. Alfred Döblin stellt in seiner recht knappen Einleitung zur Ausgabe von sechzig Photographien August Sanders fest: »Die Photographen können wie die Maler uns lehren, Bestimmtes zu sehen oder in bestimmter Weise zu sehen.« 19 Und tatsächlich tat Sander nichts anderes; es war immer seine persönliche Methode der Anverwandlung an eine von ihm wahrgenommene Situiertheit der Menschen, die ihn dazu gebracht hat, diese so oder so abzulichten. Sein Stil der Bildgebung entspricht also dem Stil seines Wahrnehmens, der – in ganz anderer Weise als zum Beispiel bei Eugène Atget – charakteristische Muster kollektiver Vorstellungen hervorgebracht hat. Wenn er auch Menschen an ihrem je eigenen gesellschaftlichen Ort gezeigt hat, so konnte er doch nur individuelle Personen und nicht deren allgemeine gesellschaftliche wie professionelle Verortung darstellen. Wenn er auch Spuren davon erahnt und erkannt haben mochte, so wusste er doch schon wegen seiner gemeinsamen Zeit mit seinen Porträtkandidaten mehr über sie als ein X-beliebiger Betrachter, dem nur der Blick auf einen Abzug vergönnt war. Mit den zur Verfügung stehenden photographischen Mitteln können viel weniger Menschen gezeigt werden, als etwas von einer ihrer aktuellen Situationen, das in einer wie auch immer begründeten Form der Sichtbarkeit an ihrem Erscheinen »hängen« bleibt. Dass darin etwas von einer berufsspezifisch gemeinsamen Situation wahrnehmbar wird, darf nicht zu der Überschätzung verleiten, das Bild eines Bäckers könne auch schon dessen Berufsstand im Allgemeinen repräsentieren. So sind Sanders 18 19

Vgl. Döblin, Von Gesichtern, Bildern und ihrer Wahrheit, S. 14. Ebd., S. 12.

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Die Darstellung des Verdeckten – Optionen und Grenzen

Bilder noch ein gutes Stück davon entfernt, typische soziale Milieus zu repräsentieren (weder das von Zöllnern, noch das von Betriebsingenieuren oder von Lyzealschülerinnen 20). Zweifellos erlauben es die Methoden der Photographie in ihrer professionellen Anwendung, über den Ausdruck von Gesichtern, Habitus und Kleidung sowie die gestalterische Zugabe berufsspezifischer Utensilien berufs- und standesspezifische Charakteristika zur Anschauung zu bringen. Letztlich gerät jede von Sanders Typen-Zuschreibungen schon dadurch unter einen gewissen Beglaubigungszwang, dass er seine Bilder mit Anmerkungen zu Beruf oder Stand betitelt und es damit allzu leicht gemacht hat, im individuellen Menschen ein Modell zu sehen. Bildunterschriften sind narrative Brücken des Bildverstehens. Sie vernetzen das sichtbar Gemachte im Sinne einer »Literarisierung aller Lebensverhältnisse« 21 mit den einer Photographie anhaftenden Überschüssen. Schon in den Photographien von John Thomson spielten textliche Erläuterungen eine programmatisch zentrale aber doch ganz andere Rolle als zum Beispiel bei Sander. In einem weitaus geringeren Umfang baute auch der Sozialarbeiter und Photograph Lewis Hine auf die Bildunterschrift als Hilfsmittel situationsbezogenen Bildverstehens. Während Thomson seine Arbeiten mitunter durch mehrseitige Berichte ergänzte, die auf der Grundlage umfangreicher Recherchen entstanden waren, fügte Hine seinen Photographien eher stichwortartige Ergänzungen hinzu. In beiden Praktiken drückt sich eine Haltung gegenüber den Grenzen dessen aus, was ein Bild von sich aus kommunizieren kann. Deshalb folgten insbesondere Thomsons Bilder auch keinem (ästhetizistischen) Selbstzweck, sondern einem sozialpolitischen Programm. Ihre narrativen Anhänge waren zugleich eine Antwort auf den seinerzeit ubiquitären Vorwurf der Lügerei und Zurechtrückerei von Wirklichkeit mit photographischen Mitteln. Lewis Hine musste sich bei seiner photographischen Arbeit in Acht nehmen, was er seinen Aufnahmen in textlicher Form hinzufügte. Da er mit seiner Kamera den Bau des Empire State Building begleitete, hätte er schnell mit mächtigen Kapitalinteressen kollidieMit je diesen Unterschriften findet sich je ein Beispiel in: N.N., August Sander, Tafel 36, 37, 39. 21 Benjamin, Kleine Geschichte der Photographie, S. 64. Abschließend fragt er: »Wird die Beschriftung nicht zum wesentlichsten Bestandteil der Aufnahme werden?« 20

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Das Sichtbare und das Unsichtbare

ren können. Kleinste Angriffspunkte hätten genügt, um in Misskredit zu geraten und sich den Zugang zur Baustelle in luftiger Höhe zu verspielen. Mit einer Fülle nüchtern sachlicher wie protokollartiger Ergänzungen konnte er seinen Bildern dennoch zu mehr politischer Durchschlagskraft verhelfen, etwa in der Frage der Kinderarbeit. Erst dank seiner Aufnahmen sah er sich »in der Lage, diejenigen zu widerlegen, die aus Optimismus oder Heuchelei behaupteten, es gebe keine Kinderarbeit in Neu-England« 22. »Wir können niemals ein Bild verstehen, solange wir nicht erfassen, wie es zeigt, was nicht zu sehen ist.« 23 In dem was vom Sichtbaren im Bild verdeckt ist, sieht Mitchel deshalb auch Spuren seiner nicht-visuellen Beredtheit: »Das Bild des Adlers mag einen gefiederten Räuber abbilden, aber es drückt die Idee der Weisheit aus und funktioniert als Hieroglyphe.« 24 Die Beziehung zwischen Sichtbarem und Verborgenem ist noch weit verzwickter und wurzelt lange nicht nur in kulturell tradierten und konsolidierten Symbol-Clustern; sie verliert sich nicht zuletzt in einem schier unübersehbaren Meer gesellschaftlich und individuell vorgezeichneter Assoziationen.

22 23 24

Hine, Sozialfotografie: Wie die Kamera die Sozialarbeit unterstützen kann, S. 271. Mitchell, Bildtheorie, S. 66. Ebd., S. 69.

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8. Photographie als Resonanz- und Explikationsmedium

Photographien stellen ästhetische Beziehungen zur Wirklichkeit her; damit kommt ihnen die Funktion von Resonanzmedien zu. In anderer Weise als die wörtliche Rede fungiert das Bild als »Membran« 1 zwischen einem Subjekt und seiner umgebenden Wirklichkeit. Die Herstellung eines Bildes folgt einer mimetischen Spur. Bilder drücken sich mit ästhetischen Mitteln aus und unterstehen keiner diskursiven Rationalität. Bildgebung geht nicht den Weg der Transformation sprachlicher Eindrucks-Rohstoffe ins Ästhetische. Trotz aller Unterschiede sind sich Sprache und Bild als Modi der Erfassung wie des Ausdrucks von Erlebtem nahe. Was wir mit den Augen sehen und den Sinnen spüren, drängt über transversale Brücken des Erlebten in die expressis verbis formulierte Aussage. Als sprechendes Wesen konstituiert sich der Mensch in besonderer Weise auf den Wegen sprachlicher Kommunikation; er teilt seine Eindrücke anderen sprechend mit, und er erklärt sich die Welt in einer sich sprachlich verständigenden Gesellschaft mit wortförmig gefassten Konzepten – trotz aller Schwellen und Hürden der Inkommensurabilität gegenüber anderen Formen der Kommunikation. Die Nachbarschaft von Bild und Wort dürfte auch William Henry Fox Talbot, der die Photographie 1834 entdeckte, bewusst gewesen sein, als er die Metapher der »Worte des Lichts« 2 benutzte, um zu beschreiben, was das Bild für ihn leistete. Dennoch war er weit davon entfernt, die Bildgebung mit chemischen und optischen Mitteln dem Vermögen der Rationalität von Schrift und Sprache gleichzusetzen. Viel zu sehr verherrlichte er dafür das Vermögen der Kamera als eine ganz eigene ästhetische Ausdrucksmethode, in der sich die Natur gleichsam von selbst ins Bild setzte. Aber es ist nicht nur das Licht, das dank chemischer Verfahren der Aufzeichnung, Entwicklung und Fixierung von Helligkeitsunter1 2

Krüger, Zur Eigensinnlichkeit der Bilder, S. 15. Vgl. Fox Talbot zit. bei Amelunxen, Die aufgehobene Zeit, S. 10.

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Photographie als Resonanz- und Explikationsmedium

schieden eine Resonanz zum Wirklichen im Medium des Bildes ermöglicht. Das Resonanzvermögen der Photographie ist ein doppeltes. Zum einen basiert es auf optischen und chemischen (bzw. digitalen) Prozessen, an deren Ende ein Bild im materiellen Sinne steht, ein Bildträger aus Papier, Kunststoff oder ein immaterielles Bild von der »Stofflichkeit« eines digitalen Datensatzes. Er unterwirft das Abgelichtete dem visuellen Fortbestand, zwingt ins Bleiben, was im Milieu des Wirklichen vom fortwährenden Wandel in Bewegung gehalten wird. Zum anderen basiert die Photographie aber auch auf sozialen Praktiken der Aufmerksamkeit – einer durch Gefühle gerichteten Hinwendung zu einem Wirklichen. Gefühle sind es auch, die mit Bildern eine imaginäre Emulsion bilden und dafür materieller Bilder nur hilfsweise bedürfen: Ziel der Bildgebung mit der Kamera ist die Produktion mentaler Bilder, Bilder der Vorstellung und Phantasie, die an einem lebendigen Faden mit Erinnerungen, Wünschen, ästhetischen, ethischen Weltbeziehungen oder auch ganz pragmatischen Informations- bzw. Mitteilungskalkülen in Verbindung stehen. Die mentalen Bilder sind die ersten, die da sind – lange bevor es einen Abzug gibt, den man in Händen halten und anderen zeigen kann, und noch bevor sich das Licht in die Bromsilberschicht oder den Sensor einprägt. Im Englischen macht es die Unterscheidung zwischen picture und image leichter, für die Wahrnehmung relevante Unterschiede zwischen Bild und Bildträger im Bewusstsein wach zu halten. »Man kann ein Gemälde (picture) aufhängen, aber man kann kein Bild (image) aufhängen. Das Bild (image) scheint ohne irgendein sichtbares Hilfsmittel zu schweben.« 3

8.1 Der Blick als Resonanzachse In seiner Soziologie der Weltbeziehungen macht Hartmut Rosa auf eine grundlegende Form der Kommunikation aufmerksam, die er mit dem Begriff der »Resonanz« belegt. Resonanzen bestimmen in einer geradezu unendlichen Vielfalt die Arten und Weisen, über die sich die Menschen nicht nur zu den Dingen, anderen Menschen, abstrakten Vorstellungen und noch zu sich selbst in Beziehung setzen. In anthropologischer Sicht ist der Blick eine der ersten sich ganz selbstverständlich bahnenden Resonanzachsen, auf denen schon das Kleinkind 3

Mitchell, Bildtheorie, S. 285.

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Der Blick als Resonanzachse

neben dem Tasten erste Beziehungen zur Welt außerhalb des Mutterleibes herstellt. 4 Jeder Blick wurzelt in einer Situation, habe sie nun einen biologischen, entwicklungspsychologischen, biographischen, kulturellen oder politischen Kern. Der Blick steht gewissermaßen zwischen Eindruck und Ausdruck, die einen wechselseitigen Zusammenhang bilden. 5 Der Blick nimmt Eindrücke auf, drückt aber auch eine Disposition individuellen So-Seins aus, ein Gefühl wie Angst und Schreck oder Entspannung und Müdigkeit, selbst eine komplexe Haltung gegenüber einer Situation kann man mitunter am Blick eines Menschen erkennen, wenn auch nur vage. Stets folgt der Blick einer Richtung; in gewisser Weise ist er (im Sinne leiblicher Kommunikation) sogar diese Richtung. In jeder Geste des Photographierens reifiziert sich ein Blick. Eine Aufnahme setzt eine hinblickende Aufmerksamkeit voraus. Ohne Blick auf etwas, kein Bild von etwas. Dabei kommt es nicht auf die in der Sache der Photographie immer wieder strittig diskutierte Frage an, ob es sich bei dem entstandenen ästhetischen Erzeugnis um ein Kunstwerk handelt oder »nur« um ein lebensweltlich banales Erzeugnis, oder um ein der Wissenschaft würdiges Dokument. Die Kunst ist nur eine spezifische Resonanzsphäre 6 in einem weit gefächerten Spektrum anderer ästhetischer Weltbeziehungen des Hin- und Herwie Wegblickens. Photographien halten, vermittelt durch das technische Dispositiv, Blicke fest. Nicht nur das Abgelichtete wird fixiert; indirekt auch die auf einen Gegenstand der Photographie hinblickende Haltung. Im Medium bildlicher Sichtbarkeit »hallt« die aktuelle Situation einer Aufnahme nach. Zugleich scheint sie vor, ragt sie doch aus der Vergangenheit in eine Gegenwart hinein, die sich ihrerseits im Blick auf das Bild aktualisiert. Aber diese Art der photographischen Blickfixierung ist insofern eine Abstraktion von einer (ehemals aktuellen) Situation der Wahrnehmung, als ein leiblich »gelebter« Blick immer mehr erfasst als im Bild letztlich von der visuellen Welt zurückbleibt. Der »gelebte« Blick ist mehr als nur die Ausrichtung der Augen. Er drückt eine Aufmerksamkeit aus, die sich der visuellen Wahrnehmung nur »bedient«. Wer einem affektiven Bedürfnis nach Erkenntnis folgend auf etwas blickt, ist zugleich hörend, riechend, taktil und 4 5 6

Vgl. i. d. S. Rosa, Resonanz, S. 115. Klages, Grundlegung der Wissenschaft vom Ausdruck. Vgl. Rosa, Resonanz, S. 247.

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Photographie als Resonanz- und Explikationsmedium

auf ganzheitliche Weise spürend in der Welt und somit auch leiblich auf etwas hin gerichtet. Es ist aber nicht nur die Simultaneität der Sinne, die im Moment der Aufnahme gleichsam unter den Tisch fällt, sondern darüber hinaus eben diese leiblich-habituelle Verwicklung in eine Situation – samt aller nur erdenklichen Beziehungen zu einem Gegenstand der Photographie und deren Veranlassung: Zuneigungen wie Abneigungen, Interessen, Erregungen sowie affektive Beziehungen zum Gegenstand wie zum Akt der Bildgebung. Schon die technischen Beschränkungen des Apparates und sein Programm führen zum Abzug vielfältiger vitaler Momente des Blickens wie des Tuns vom möglichen Ertrag einer Aufnahme. Die leibliche Aus-Richtung des Photographen auf sein Objekt spiegelt sich vor allem in den Perspektiven, dank derer etwas am Ende so oder so im Bild erscheint. Dennoch würde es weder einer Aufnahmesituation noch einem photographischen Bild gerecht, wollte man beides allein als blutleeren Widerhall der optisch-technischen wie räumlich-allokativen Platzierung einer Kamera im tatsächlichen Raum auffassen. In gewisser Weise lebt im Bild eine leiblich spürbar gewordene Resonanz fort, die in einem Eindruck wurzelt, der – aller visuellen Beeindruckung zum Trotz – in einem multisensorischen Erleben gründet. »Blicken« geht über die Herstellung optischer Bahnen hinaus. Wenn das Bild letztendlich auch von viel Nicht-Visuellem bereinigt sein mag, was die leibliche Kommunikation 7 mit einem Gegenstand im Moment der Aufnahme angetrieben hat, so transzendiert das Punctum doch das visuell Sichtbare. In der Folge fragt sich, ob und in welcher Weise die vitale Verwicklung eines Photographen in seine Aufnahmesituation noch im fertigen Bild spürbar ist, inwieweit und unter welchen Voraussetzungen Spuren eines habituell-befindlichen Mit-Seins im Bild also fortleben können. In der Diskussion der photographischen Darstellbarkeit von Atmosphären werde ich hierauf zurückkommen (s. auch Kapitel 9). Die Photographie vermag in ihrem (über die reine Ablichtung hinausgehenden) Resonanzvermögen mehr aufzunehmen, als das in einem engeren Sinne nur Sichtbare. In diesem Mehr schwingt mit, was auch der vitale Blick über das rein optische »Scannen« hinaus erfasst. Rein optisches Sehen könnte von panoptischen Systemen geleistet werden, dazu bräuchte es keiner pathisch sensiblen Aufmerksamkeit leiblich situierter Personen. Aber kein Überwachungs7

Zum Begriff »leiblicher Kommunikation« s. auch S. 170.

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Der Blick als Resonanzachse

medium kann ein Milieu so »durchspüren«, dass gerade in dem Moment eine ganz bestimmte Aufnahme entsteht, in der etwas sichtbar wird, das im engeren Sinne gar nicht zu sehen ist. Menschliches Sehen überschreitet in der Qualität seiner leiblichen Involviertheit in Situationen deshalb auch das Fassungsvermögen alle Methoden der technisch-optischen Stellung von Gegenständlichem. Was bereits zum Thema der Inkommensurabilität von Bild und Text diskutiert wurde, stellt sich nun in einer weiteren Facette dar: als Differenz zwischen Bild und Blick. Differenzen sind aber nicht immer Defizite; oft generiert ihre Spannung eine in die Bedenklichkeit vorschießende Herausforderung. Spannungen zwischen Bild und Blick bekommen wir ja zu spüren, weil sie uns zu schaffen machen, weil wir ein vitales Interesse haben, uns an einer Überbrückung bzw. Überwindung von Hürden abzuarbeiten. Vielleicht ist es sogar das absehbare, aber doch undeutlich bleibende Scheitern, das uns herausfordert und auf schwierigen hermeneutischen Wegen dennoch ein besseres Situationsverstehen vermittelt. Die Komplexität der Aufgabe steigert sich noch einmal dadurch, dass sich, allzumal im technisch vermittelten Blick, mit einem Gegenstand zugleich eine »dahinter« liegende vergangene Weltberührung 8 präsentiert und dem pathisch sensiblen Nach-denken anbietet. Es ist somit auch nicht »der« Blick im Allgemeinen, der eine Weltbeziehung herstellt; es ist vielmehr die Art dieses Blickes, seine habituelle Situierung, seine Stimmung und Bereitschaft des Sich-ansehen-Lassens, die mit dem Akt des Photographierens verstrickt ist. Habituell in diesem Sinne »gerahmte« Blicke verraten etwas von der Art der Beziehung zu dem, was angeblickt wird. Der stechende oder unter die Haut gehende Blick lässt eine andere Stimmung erkennen als der sanftmütige oder mitleidige Blick. Aber jeder Blick – und noch der in ein imaginäres Seelen-Innere gehende – hat eine Richtung. Ohne Aus-Richtung käme nicht dieses oder jenes in den Radius der Aufmerksamkeit. Das gilt noch für den sich bewegenden Blick, der auf keiner fixierten Stelle »ruht«, sondern zwischen verschiedenen Bezugspunkten oder -bereichen hin- und herwechselt. Der »flottierende« Blick ist eher der des Films. Der der Photographie mag sich zwar zur eingrenzenden Suche eines Objekts ebenso bewegen; letztlich muss er aber, indem er ein fixes Bild und keine sich bewegende Sequenz aufnehmen will, an einem relativ eng fokussierten Ort einer 8

Vgl. Lersch, Gesicht und Seele.

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Photographie als Resonanz- und Explikationsmedium

Umgebung zum Stehen kommen. Der menschliche Herumraum präsentiert sich »als leiblich zentrierter Richtungsraum«, in dem neben dem Blick auch das Greifen oder Schreiten »zwischen dem absoluten Ganzort des Leibes (oder dem absoluten Ort einer Leibesinsel) und der Weite« 9 vermittelt. Gebahnte Blick-Richtungen unterscheiden sich dadurch von Strecken, die man mit dem Zug von einem Ort zum anderen und wieder zurück fahren kann, dass sie als leibliche Richtungen »unumkehrbar aus der Enge in die Weite« 10 führen. Die eine Fahrstecke implizierende Richtung hat den Charakter einer Distanz im mathematischen Raum; deshalb ist sie auch Gefühlen gegenüber neutral. Dagegen ist ein persönlicher Weg der Ausrichtung auf ein Ziel mit (Erwartungs-)Gefühlen geladen. Ein »Hin« auf der Bahn einer leiblichen Richtung folgt dem Impuls eines »Voraus«. Blicke versteht Hermann Schmitz deshalb auch als »leibliche Regungen«. Über die Grenze des im Bild Darstellbaren sagt Ludwig Klages in Bezug auf das sich Bewegende: »Der Leib des lebendigen Menschen wird von jeder Art Abbild unüberbrücklich getrennt durch die auch selbst nicht sekundenlang pausierende Bewegtheit.« 11 Das gilt nicht nur für den lebendigen Menschen, sondern für jeden Gegenstand, der schon in seiner Unbewegtheit nicht immer gleich ist, sondern in jedem Moment seiner Veränderung anders erscheint. Das Prinzip der Bewegtheit lässt sich an allen Dingen und Halbdingen beobachten, weshalb sie auch in einer Wirklichkeit erscheinen, in der sie nicht auf ihre reale Materialität reduziert werden können. Das Dynamische und Lebendige geht nicht in Daten auf, die sich in einem lichtempfindlichen Medium abbilden lassen. Blicke »sehen« nicht nur, sie drücken in der Art ihrer Resonanz auch Dynamik und Lebendigkeit aus. Ein Blick der mich trifft, wird als »Einschlag am eigenen Leib« 12 gespürt. Spätestens daran bemerkt man, dass er Ausdruck leiblicher Kommunikation ist – einer Kommunikation, in die Dinge wie Personen einbezogen sind. Dabei werden die Bewegungsrichtungen vom motorischen (und nicht vom perzeptiven) Körperschema 13 orientiert. Dank seiner Einbettung in den Bewegungsstrom anderer Personen fungiert ein Blick als antizipato-

Schmitz, Der unerschöpfliche Gegenstand, S. 282. Schmitz, Der Leib, der Raum und die Gefühle, S. 55. 11 Klages, Grundlegung der Wissenschaft vom Ausdruck, S. 75. 12 Schmitz, Neue Grundlagen der Erkenntnistheorie, S. 126. 13 Vgl. ebd., S. 123. 9

10

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Der Blick als Resonanzachse

risches Wahrnehmungssensorium gegenüber den Bewegungstendenzen anderer Menschen, Dinge und Halbdinge. Siegfried Kracauer merkte schon an: »Nun ist Natur besonders dort unserem Zugriff entzogen, wo sie sich in flüchtigen, rasch wechselnden Erscheinungen zu erkennen gibt« 14, das heißt überall dort, wo etwas in dynamischen Atmosphären erscheint. Die Photographie gab in ihrer frühen Zeit, als ihre technischen Möglichkeiten noch sehr begrenzt waren, unmittelbar zu verstehen, dass ihre Erzeugnisse artifiziellen Charakter hatten, weil sie aus Wirklichkeit – trotz aller noch so bestechenden optischen Ähnlichkeit – etwas offensichtlich anderes machten. Photographische Platten erforderten in ihrer geringen Lichtempfindlichkeit lange Belichtungszeiten, so dass in den entstandenen Aufnahmen keine zeitlich extrem kurzen Augenblicke zu sehen waren, sondern schon beinahe Szenen, die sich in die Dauer hineingestreckt haben, aber letztlich doch still standen. Während der Dauer der Öffnung des Objektiv-Verschlusses wuchs eine Szene »gleichsam in das Bild hinein« 15. Das war nicht nur bei Szenen der Natur so, sondern ebenso bei Porträtaufnahmen, die im Studio angefertigt wurden und die Menschen dazu zwangen, in eingefrorener Pose dazustehen, um nicht am Ende verwackelt zu erscheinen. Die Technik der Photographie allein stellt keine Resonanz her. Zu einem Medium der Resonanz wird sie erst in der sensibel agierenden Hand eines Photographen. Erst im Akt der Bildgebung aktualisiert sich eine Resonanzbeziehung. Die Handhabung des Apparates ist deshalb auch als kreativer Schritt in der Herstellung einer situationsspezifischen Resonanzbeziehung aufzufassen. Schließlich ist es für jede photographische Resonanzbeziehung charakteristisch, dass eine Aufnahme nur Konkretes und nichts Allgemeines ins Bild setzen und in der Fixierung stilllegen kann. Im Bild gerinnen Momente – auch dann, wenn etwas Wirkliches infolge langer Belichtungszeit bzw. der Dauer der Öffnung der Blende verwischt und verwaschen ins Bild regelrecht »hineinzukriechen« scheint. In Photographien konkretisiert sich etwas Allgemeines im Spiegel eines Moments. Was photographiert wird, ist in der Natur wie in der sozialen Welt lebendig. Nichts steht tatsächlich so fest, wie es sich auf einem Bild suggeriert. Noch ein ganz einfach auf einer Wiese stehen-

14 15

Ebd., S. 162. Benjamin, Kleine Geschichte der Photographie, S. 52.

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Photographie als Resonanz- und Explikationsmedium

der Baum hat seine lebendige »Ablauf«-Geschichte, deren Dynamik letztendlich nur in sichtbar gemachten Segmenten abbindet. Das einem dargestellten Sujet vorausliegende Allgemeine (sein Wesen, sein Aufbau, sein taxonomischer Platz, seine systemische Funktion und vieles andere mehr) ist der Abbildung selbst nicht zugänglich. Es ist in Merkmalen begründet, die sich methodologisch der »Ablichtung« entziehen.

8.2 Resonanz und das Ähnliche Wenn es auch nichts Allgemeines ist, das im Bild zum Ausdruck gebracht werden kann, so gibt es doch Hinweise, die ans Allgemeine denken lassen, Beziehungen der Ähnlichkeit, die sich aus situativ wechselnden Erscheinungsweisen eines Besonderen dem Verstehen anbieten. Die viel diskutierte Ähnlichkeitsbeziehungen zwischen dem in einem Bild Sichtbaren und dem, worauf es verweist, konkretisiert sich durch eine symmetrische (im Unterschied zur asymmetrischen) Relation. 16 Ähnlichkeit ist durch »gewisse« Übereinstimmungen charakterisiert und nicht durch Identität. Wenn das Übereinstimmende allein von marginaler Bedeutung ist, überschneiden sich nicht wesentliche Merkmale dessen, was in charakteristischer Weise zueinander in Beziehung steht, sondern eher Zufälliges oder gar Unbedeutendes. Für Husserl machte »das physische Bild das Original vorstellig« 17. Auch dann bleibt es aber doch nur ähnlich, denn kein Bild kann vorstellig machen, wie etwas in einer Referenzwirklichkeit in Gänze und tatsächlich war. Es stünde dann für eine »Ähnlichkeit als abgeschwächte Gleichheit« 18. Das liefe aber auf eine Art Verdünnung hinaus und damit auf ein unbefriedigendes Verständnis, denn es bliebe undeutlich, wie man sich solche Verdünnung vorzustellen hätte. Ähnlichkeit sieht Schmitz im Unterschied zu Husserl als eine »etwas gedehnte Gleichheit« 19. Deren Merkmal besteht nun darin, dass etwas gar nicht einfach verdünnt wahrgenommen werden kann, Übereinstimmendes und Abweichendes vielmehr in einem chaotischen Verhältnis zueinander stehen, das nur gedank16 17 18 19

Vgl. Schmitz, Neue Grundlagen der Erkenntnistheorie, S. 46. Husserl, zit. bei Wiesing, »Ähnlichkeit«, S. 12. Schmitz, Neue Grundlagen der Erkenntnistheorie, S. 85. Vgl. ebd., S. 88.

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Resonanz und das Ähnliche

lich auseinander gehalten werden kann. 20 Gleiches kehrt folglich im Ähnlichen als Mannigfaltiges wieder. 21 Ähnlichkeit gibt sich aber nicht von selbst aus der Visualität eines bildhaft Erscheinenden zu verstehen; sie muss erfasst werden. Vor diesem Hintergrund macht das physische Bild (im Sinne von Husserl) das Original auch nicht vorstellig; es zeigt vielmehr etwas, das in einer variierten Gestalt zur Escheinung kommt, in dieser Variation aber doch eine gewisse Übereinstimmung aufweist. Diese ist insofern nur in einem gewissen Sinne ausgeprägt, als sich im variierten Bild ein je eigenartiges Gesicht ausdrückt. Das entspricht ganz dem, was eine Photographie von einer wirklichen Referenzwirklichkeit zur Darstellung bringt: etwas, das es so oder ähnlich »früher« an einem Ort gegeben hat – etwas, das es so oder ähnlich in Zukunft erneut geben könnte. Die naive Abbild-Idee ist damit passé, die der lebensweltlich verbreiteten Vorstellung einer linearen Beziehung eines photographischen Bildes zu »seiner« Wirklichkeit zugrunde liegt. Resonanztheoretisch gesprochen hieße dies, die Photographie basiert in der Herstellung bildgebender Resonanzachsen auf Ähnlichkeit. Darin lassen sich Beziehungen zwischen Bild und Wirklichkeit zwar rekonstruieren. Nur verweisen sie nicht auf Identität, sondern auf die Plausibilität von Abweichung und Verwandtschaft innerhalb dehnungsfähiger Gleichheit. Erneut stellt sich an diesem Punkt die Frage nach dem Beitrag, den das Barthes’sche Studium zum einen und Punctum zum anderen für ein besseres Bildverstehen leisten kann. Über das Studium lassen sich – formal reguliert – Beziehungen der Varianz innerhalb von Gleichheit ausmachen, während sich im Punctum situationscharakteristische Merkmale chaotisch mannigfaltig verdichten. Wie Situationen in der Ordnung ihrer Bedeutungen chaotisch mannigfaltig geprägt sind, so leuchtet auch im Punctum auf, was sich durch (situativ) einzelfallspezifische Ordnungen zu erkennen gibt. Vielleicht sprach Roland Barthes auch deshalb die Entdeckung des Punctum als ein Produkt subjektiver und kreativer Annäherung an und nicht (im Sinne des Studiums) als Resultat verrechnender Analyse objektivierbarer Bilddaten. Was eine Photographie im Einzelnen zeigt, ist nur eine Facette dessen, was sich vor dem mannigfaltigen Bedeutungshorizont einer Referenzwirklichkeit so oder auch ganz anders variieren könnte. Das 20 21

Vgl. ebd., S. 89. Vgl. ebd.

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Photographie als Resonanz- und Explikationsmedium

im Bild sichtbar Gemachte dehnt eine Gleichheit zur Ähnlichkeit hin; was im Bild als Ausdruck eines Allgemeinen vorscheint, hängt doch untrennbar am Konkreten einer sinnlich erfassbaren Darstellung. Gleichheit ist nicht Identität im Sinne eines starren Immer-so-Seins, sondern »Wiederkehr einer Art in verschiedenen Ereignissen.« 22 Es ist deshalb gerade das Ähnliche und nicht das Identische, das zur Suche nach tragenden und darin wechselhaften Merkmalen eines Gegenstandes herausfordert, zur fragenden Aufspürung von Widersprüchen und blinden Flecken des Wahrnehmbaren. Im Punctum drücken sich eher Fragen aus als dingfeste Suchbefunde. Das Punctum ist in gewisser Weise Frage und bleibt fortan als Frage präsent. Auf einer im Medium des photographischen Bildes hergestellten Resonanzachse bietet sich kein Abbild der Realität. Sie führt auf geradem Wege in den Heidegger’schen Imperativ des Denkens. Aber der denkende Umgang mit Photographien basiert auf einem »Sprung«, denn es gibt keine lineare und allein rational geschulte Aufschließung des in einem Bild vorscheinenden Sinns. Der Sprung führt zwangsläufig ins Ungeübte im nicht-vertrauten Umgang mit einem Schüsselmedium unserer Zeit. Mit anderen Worten: »Wir können das Denken nur lernen, wenn wir sein bisheriges Wesen von Grund aus verlernen.« 23 Oberflächliche Bildbetrachtungs- sowie Bildkonsum-Routinen müssen erst gebrochen werden, bevor sich entdecken lässt, was die Erwartungen nicht goutiert, sondern das Neu-Denken provoziert. Auch die gedruckte Photographie ist insofern ein Resonanzmedium, als sie im Prozess der Rezeption eine Beziehung zu etwas dokumentiert. Was das Bild zeigt, wird so zu einem Gegenstand ästhetischen Verstehens. Die Methoden der Kunstgeschichte und Kunstwissenschaft widmen sich diesem Verstehen mit eigenen Mitteln; die Sozialwissenschaften haben ihrerseits Verfahren der Bildinterpretation entwickelt, die eine gewisse Nähe zu dem haben, was Roland Barthes das »Studium« nennt. Resonanz-Erleben wird in der bewussten und zugewandten Bildbetrachtung in Resonanz-Sprechen übersetzt. Das ist aber nur indirekt die Explikation eines Eindrucks, eher eine Aussage dessen, wozu die bildliche Explikation eines Eindruckes herausfordert. Gleichwohl kommt es auch bei der Aneignung eines Bildes nie allein aufs rationalistische Verstehen und Decodieren 22 23

Ebd., S. 88. Heidegger, Was heisst Denken?, S. 5.

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Resonanz und das Ähnliche

von Zeichen an, sondern ganz wesentlich auf die intuitiv-mimetische Annäherung an Bildgehalte. In der modernen Gesellschaft »ist die Kunst […] eine unverzichtbar gewordene Reflexionsform. Sie vermag Wirklichkeitsoptionen und Gefühlsräume zu erzeugen und sie schärft gleichermaßen Möglichkeits- und Realitätssinn.« 24 Das gilt auch für die Photographie, die nicht a priori in den Bereich der Kunst fällt, aber als Produkt ästhetischer Aktivität der Kunst nahesteht. »Die Künste […] sind vielmehr zu einem Instrumentarium geworden, das die Welt mit Gegenentwürfen, unbekannten, sinnlichen Erfahrungen, Gefühlen und Neuanfängen bereichert« 25. Die Photographie leistet diesen Dienst an einer ästhetischen Form der Aufklärung als Kunst nur dann, wenn sie sich nicht der Prolongierung tradierter Weltdeutungen unterstellt, sondern dazu beiträgt, bewährte Muster der Wahrnehmung aufzubrechen und zu überwinden. Die massenmedial instrumentalisierte Photographie parodiert sich allzumal dann in dieser Rolle, wenn sie sich – wie in der Gegenwart noch im gebührensubventionierten Journalismus verbreitet – mit herrschenden Interessen in Politik und Ökonomie verbindet. In der Bewertung der Photographie als Medium der Herstellung kritischer Resonanzachsen kommt es letztlich nicht darauf an, ob sie formal bzw. kulturpolitisch offiziell der Kunst zuzurechnen ist oder nicht. Spätestens das Duchamp’sche Pissoir hat vorgeführt, dass die Frage der Zuerkennung von etwas als Objekt der Kunst vom Charakter der Institutionalisierung der Orte abhängig ist, die etwas zu Kunst machen, was in lebensweltlichen Milieus vielleicht nur als Abfall gälte. Der Reflexion des phänomenologischen Deutungsertrages von Photographien kommt eine Unterscheidung zugute, die Wolfgang Welsch getroffen hatte, indem er zwischen Kunst und ästhetischer Aktivität unterschied. So gehen zum Beispiel qua Design verbesserte Alltagsgegenstände auf die Investition gewisser ästhetischer Aktivitäten zurück. Mit Kunst hat die Gestaltung von Türklinken und Kochtöpfen dagegen nichts zu tun. Aber sie berührt die sinnliche Praxis des Umgangs mit lebensdienlichen Dingen. Deshalb erfüllen sie auch eine dem alltäglichen Leben entlastend entgegenkommende Aufgabe. Ästhetische Aktivtäten erfüllen Zwecke – im Unterschied zur freien Kunst. Dabei geht es neben der ästhetischen Verbesserung 24 25

Van der Berg, Ein neuer Realismus zeichnet sich gegenwärtig ab, S. 95. Ebd., S. 97.

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Photographie als Resonanz- und Explikationsmedium

der Lebenswelt auch »um die Ausreizung ästhetischer Potentiale für religiöse, politische oder auch private Zwecke.« 26 Im Fokus der Anthropologie sieht Welsch die ästhetische Aktivität auf Ergebnisse hin orientiert, die soziale Nützlichkeit für sich geltend machen können. 27 Die Photographien in Teil II dieses Bandes sind Produkte ästhetischer Aktivität; Kunst zu sein, beanspruchen sie nicht. Sie sind auch nicht zweckfrei hergestellt worden, sondern dienen dem phänomenologischen Programm der Offenlegung verdeckter Sinn- und Bedeutungsebenen, dem Bedenken von Seins-Schichten des Wirklichen, die der alltäglichen Wahrnehmung und Aufmerksamkeit entzogen sind. Sie vermitteln den Sprung ins Denken des Ungewöhnlichen hinter dem Gewöhnlichen, des Denkwürdigen im Banalen und Zufälligen. Die gezeigten Photographien folgen dem erkenntnistheoretischen Interesse der Verbesserung spürender Resonanzvermögen gegenüber lebendigen Situationen. Sie zeigen etwas, das das sichtbar Gemachte transzendiert. Photographische Resonanz ist kein rationalistisches Denkprojekt für intelligible Akteure. Sie zeichnet sich vielmehr durch die Übung sinnlicher Vermögen leiblich spürender Wahrnehmung aus, denn »ohne sinnliche Beteiligung bleibt das Weltgeschehen leer.« 28 Bianchi spricht auch von »Transsensualität« 29. Die steckt aber schon im Begriff der Synästhesie wie in der Hellpach’schen Metapher vom sinnlichen »Akkord« 30. Was Bianchi schließlich mit dem »Kunstsinn« verknüpft, ereignet sich bereits in der Aneignung ästhetischer Produkte diesseits der Kunst, zumindest dann, wenn sie als Imperativ aufgefasst werden, etwas von dem, was an ihnen vorscheint, zur Sprache und in die Denkwürdigkeit zu bringen. Treffend spricht Paolo Bianchi von einem »natürlichen Zugang zur Schwingungsfähigkeit zwischen Denken, Fühlen und Spüren, zwischen Gedanken, Gefühlen und Empfindungen« 31. Damit folgt die Arbeit am photographischen Bild den Spuren des phänomenologischen Projekts der Übung nachspürenden Denkens, um die hegemoniale Macht der Abstraktionen auf produktive Weise zu brechen. In diesem Sinne unterwirft Michel Henry in seiner kriti26 27 28 29 30 31

Welsch, Mittels der Kunst geht es eigentlich um Lebenskunst, S. 133. Vgl. ebd., S. 134. Bianchi, Einen Kunstsinn suchen und finden, S. 46. Ebd., S. 47. Hellpach, Sinne und Seele. Zwölf Gänge in ihrem Grenzdickicht, S. 61. Bianchi, Einen Kunstsinn suchen und finden, S. 47.

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Resonanz und das Ähnliche

schen Phänomenologie die moderne Wissenschaft einer Kritik des Reduktionismus, der alles Sinnliche, das sich nicht für rationalistische Kalküle der Wissensgenerierung als nutzbar erweisen konnte, abgespalten hat. »Aus dem Seienden hält sie [die Wissenschaft, JH] nur das zurück, was das ausdrückliche Thema ihrer Untersuchung ist. […] Was sie ausschließt, ist in umfassender Weise der sinnliche Charakter jener Welt, in der wir leben – ein Charakter, welcher aus ihr eine menschliche Welt, die ›Lebenswelt‹ macht.« 32

Vor diesem Hintergrund eröffnet die Photographie – trotz ihres eigenen ästhetischen Reduktionismus – einen Zugang zur Wirklichkeit, der sich in seiner Konkretheit und Nähe zum Sinnlichen schon dadurch von der Sprache unterscheidet, dass Bilder nicht in der wörtlichen Rede »sprechen«. Sie zeigen, geben zu sehen und lassen ästhetisch erscheinen; aber sie sprechen nicht. Umso mehr evozieren sie die Aussprache von Sätzen über das sichtbar Gemachte. Und so eröffnen sie einen Prozess der Verständigung. In Bildern zeigen sich Dinge, Halbdinge, Situationen und vieles, was sich nur schemenhaft andeutet. Die Photographie ist als Medium der Resonanz in kein Aufmerksamkeitssystem abstrakter Begriffe eingespannt. Sie fungiert wie ein Spiegel situativen Affiziert-Werdens, wie eine ästhetische Antwort auf ein Erscheinen. Ludwig Klages hatte darauf hingewiesen, dass der Eindruck der Erstmaligkeit »der Auswirkung der Erscheinungen zu Hilfe« 33 kommt. Die Photographien des lebensweltlich Ungewöhnlichen und noch des Infragewöhnlichen vermitteln das Einmalige, wie dies im Prinzip jede Photographie als Variation des Ähnlichen in der Gestalt gedehnter Gleichheit leistet. Was die Menschen immer wieder sehen oder ihnen in stumpfer Monotonie wiederholt gezeigt wird, berührt sie nicht mehr. Deshalb fungieren die Bilderkaskaden der Massenmedien mit besonderer Macht als Sedativa; sie kommunizieren ubiquitäre Sinnleere und Anästhesie 34 und in der Folge Besinnungslosigkeit.

Henry, Affekt und Subjektivität, S. 56. Klages, Grundlegung der Wissenschaft vom Ausdruck, S. 84. 34 Zur sozialpsychologischen Funktion betäubter wie betäubender Orte vgl. auch Hasse/Levin, Betäubte Orte. 32 33

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9. Photographie und Atmosphäre

Die Photographie lädt die Erwartungen an ihre Erträge mit einem Versprechen auf, an dem sie im Bereich der Darstellung von Atmosphären leicht scheitern kann. Ihre bildliche Darstellung verlangt deshalb umso mehr die Auslotung des praktisch Möglichen wie des erkenntnistheoretisch Vermittelbaren. Bilder, die in der Macht ihrer Ausstrahlung über das Zeigen von materiell Stofflichem hinausgehen und spürbar machen sollen, was eher in einer Gegend schwebt, als dass es seinen festen Platz im relationalen Raum hätte, haben einen visualistischen Überschuss, in dem sich vor allem Atmosphären zur Darstellung bringen. Vom mathematischen Raum relativer Orte hebt sich der atmosphärische Raum durch seine Prädimensionalität ab. 1 Prädimensionale Räume haben (im Unterschied zu feststofflichen Körpern) keine Flächen, Ecken und Kanten. Vor allem neu aufkommende bzw. sich verändernde Atmosphären werden bewusst, weil sie dem »Dasein eine andere Färbung, einen anderen Ton, eine neue Gestimmtheit« 2 verleihen. Gefühlsräumliche Volumen sind spürbar ausgedehnt – wie lautlich vernehmbarer Schall, ein einnehmender Geruch oder ein andrängender Wind. Nach Hubert Tellenbach bemerkt man Atmosphären wie etwas »Umwölkendes« 3, das wie ein blasenartiger Schaum 4 herumwirklich ist. Peter Sloterdijk umschreibt sie als »das Verblasen-Leichte, das Scheinhaft-Aufgeworfene, Unzuverlässig-Schillernde« 5, als »Bastard der Materie« 6 oder auch »Scharlatanerie aus Luft und Irgendetwas«.

1 2 3 4 5 6

Vgl. Schmitz, System der Philosophie, Band III/1, S. 373 ff. Tellenbach, Geschmack und Atmosphäre, S. 73. Ebd., S. 111. Vgl. Slotedijk, Sphären III. Schäume, S. 59. Ebd., S. 28 f. Ebd., S. 29.

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Das im Bild Fixierte und das im Leben Strömende

Atmosphären, die nach Schmitz nicht aus seelischen Innenwelten kommen, sondern als Gefühle räumlich ausgedehnt sind 7, werden auf andere Art und Weise im Raum erfahren als feste, körperliche Gegenstände. Daher sind sie der Photographie auch nur auf Umwegen zugänglich, denn einer Atmosphäre wird man nicht im optischen Sehen gewahr, sondern im leiblichen Spüren. An ihrem Erleben sind »Mächtigkeit, Energie, Kraftentfaltung und Andringen gegen Widerstand wesentlich beteiligt« 8. Gernot Böhme »verortet« sie – so unbestimmt und schwer beschreibbar sie auch sein mögen 9 – in Zwischenräumen, die weder ganz auf der Seite eines Subjekts, noch ganz der eines Objekts sind. 10 Der Ort ihres Erscheinens hat den Charakter einer Weiche, auf der Dinge und emotionale »Vitalqualitäten« 11 zueinander in Beziehung treten. Erlebbar werden sie nicht an festen Dingen im mathematischen Raum, sondern in einem befindlich spürbaren Herum. Vom Hier im leiblichen Raum richtet sich die Aufmerksamkeit auf »etwas« in einem herumwirklichen Milieu – hörend, sehend, riechend, tastend, vor allem aber ganzheitlich spürend und sich ins Diffuse einfühlend.

9.1 Das im Bild Fixierte und das im Leben Strömende Der Erwartung, die an die bildliche Darstellung einer Atmosphäre gestellt wird, steht der fixierende Charakter der Photographie im Prinzip entgegen. Das stehende Bild stellt das sich im Leben Bewegende scheinbar tot. Jeder Aufnahme mangelt es folglich an sichtbar dahinströmender Lebendigkeit. Eine Photographie ist keine Filmsequenz; sie arretiert jeden Bewegungsablauf. Die Dynamik des Lebens drückt sich jedoch gerade in Bewegungsflüssen aus – nicht nur des biologischen Lebens von Mensch, Tier und Pflanze, sondern auch der Lebendigkeit von Halbdingen (wie dem Wind, dem Wechsel von Licht und Schatten) oder dem performativen Geschehensfluss des Sozialen. Ähnlich wie der Pathologe eine optisch-spektroskopische Dünnschicht vom organischen Gewebe schneidet, fixiert der Vgl. Schmitz, Gefühle als Atmosphären und das affektive Betroffensein von ihnen, S. 33. 8 Schmitz, System der Philosophie, Band III/1, S. 388. 9 Vgl. Böhme, Atmosphäre, S. 21. 10 Vgl. Böhme, Aisthetik, S. 22 sowie S. 55. 11 Dürckheim, Untersuchungen zum gelebten Raum, S. 39 f. 7

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Photographie und Atmosphäre

Photograph eine mikrologische Ereignisschicht. Im Unterschied zum Schnitt des Pathologen ins Fleisch, »entnimmt« die bildgebende Geste einem wirklichen Geschehen jedoch nichts. Es ist die Dauer, die in der Photographie zum Stillstand kommt. Die Methode stellt sich als ein virtuelles Eingriffsverfahren ins Wirkliche dar; eine Aufnahme berührt ihr Milieu, ohne im taktilen Sinne tatsächlich etwas zu berühren. Und auch die Bildrezeption »berührt« – im optischen wie im affektiven Sinne – ohne stofflich zu berühren. Ihr Resonanz- bzw. Korrespondenzcharakter basiert auf einer Aufzeichnung aus der Ferne. Der Sekundenbruchteil einer Aufnahme greift in die abgelichtete Lebendigkeit einer Situation nicht ein. Trotz dieser geradezu klinischen Beziehung zum Referenzmilieu kommt im entwickelten Bild etwas zur Erscheinung, das nicht nur körperliche Dinge zeigt, sondern darüber hinaus mehr oder weniger ausgeprägte Spuren der Vitalität einer Szene. Darin liegt der so faszinierende Resonanzeffekt der Photographie, dank dessen es gelingen kann, einer Atmosphäre zum bildlichen Ausdruck zu verhelfen. Es stellt sich sogar die Frage, inwieweit die atmosphärische Pointe einer gelungenen Photographie nicht sogar das Punctum im Sinne von Roland Barthes ist. Georg Simmel macht in einem Aufsatz über die Transzendenz des Lebens auf dessen atmosphärisch dahinströmenden Charakter aufmerksam. Dieser lässt sich jedoch nicht im Bild fixieren wie der auf einem Teller liegende Fisch. Bestenfalls tritt eine luzide und flüchtige Atmosphäre in Erscheinung. Vorausgesetzt ist dabei, dass sich im Moment-Charakter einer Aufnahme die Vitalqualität einer lebendigen Situation auch verdichtet und das Still-Stehende etwas Wesentliches von ihrem Affektstrom wahrnehmbar macht. »Daß das Leben absatzloses Fließen ist und zugleich ein in seinen Trägern und Inhalten Geschlossenes, um Mittelpunkte Geformtes, Individualisiertes, und deshalb, in der anderen Richtung gesehen, eine immer begrenzte Gestaltung, die ihre Begrenztheit dauernd überschreitet, – das ist seine wesensbildende Konstitution.« 12

Die Herausforderung der Photographie überschreitet die allzu einfache Aufgabe, nur abzubilden, was sich im physischen Sinne bewegt. Im Punctum konzentriert sich das wahrnehmbare Moment einer Dynamik, die sich als eine situative Spannung bemerkbar macht, die 12

Simmel, Die Transzendenz des Lebens, S. 13.

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Das im Bild Fixierte und das im Leben Strömende

einen Ort gleichsam überwölbt. Was Simmel als »Leben« beschreibt, geht in seiner Essenz über das Verständnis biologischen Lebens deutlich hinaus. Zwar spricht er nicht von Atmosphären; jedoch sind es gerade sie, die in besonderer Weise im Raum schwebende Lebenskräfte und -tätigkeiten repräsentieren. Lebendigkeit in diesem Sinne setzt keine motorische oder allokative Bewegung voraus. Eine in tiefer Trauer erstarrte Person, die in einem motorischen Sinne bewegungslos dasitzt, wird doch als ein zutiefst bewegter und darin nicht nur lebender, sondern lebendiger Mensch angesehen werden müssen. In diesem »Ansehen« meldet sich etwas im engeren Sinne zwar Nicht-Sichtbares, umso mehr allerdings spürbar Anwesendes. Dessen empathisches Verstehen setzt das Nachvollziehen-Können gelebter Dauer voraus. Dies ist am gegebenen Beispiel einer existenziellen Grenzsituation (im Sinne von Karl Jaspers; s. auch Seite 90) die Erlebnisqualität einer erlittenen Dauer, die am emotionalen Gewicht niederreißender Schwere hängt. Wenn eine Photographie auch nur einen raumzeitlich fixierenden Schnitt machen kann, so muss ihr nicht deshalb schon die Darstellung einer atmosphärischen oder gar stimmungsmäßigen Bewegtheit versagt sein. Die atmosphärische Vitalqualität bewegungsloser Bewegtheit kann sie aber nur dann spürbar kommunizieren, wenn sie ein im Raum ausgebreitetes Gefühl auch eindrücklich sichtbar zu machen vermag. Die Lebendigkeit des Lebens hat viele Gesichter. Und sie zeichnen sich nicht nur am Habitus von Einzelpersonen und Kollektiven ab, sondern auch in Szenen der Natur (des Wetters), Entwicklungszuständen der Pflanzen (im Frühling und im Winter) oder Präsenzen der Tiere (dem schlafenden oder angreifenden Löwen). Die Photographie steht vor der Herausforderung, das jeweils Charakteristische eines dynamischen Erscheinens bildlich zu erfassen. Dabei muss ein aktuelles (und oft dahinter zugleich ein zuständliches) So-Sein in einer Weise zur Geltung gelangen, dass die darin aufgehobenen räumlich ausgedehnten Gefühle auch im Bild anwesend sind. Die ästhetische Aufgabe steigert sich damit in eine der Darstellung von Transzendenz. Zur Dynamik des Lebens merkt Georg Simmel an: »Es ist zugleich fest und variabel, geprägt und sich entwickelnd, geformt und formdurchbrechend, beharrend und weitereilend, gebunden und frei, in der Subjektivität kreisend und objektiv über den Dingen und über sich selbst stehend«.

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Photographie und Atmosphäre

Es ist das innerste Wesen des Lebens »über sich selbst hinauszugehen, seine Grenzen zu setzen, indem es über sie, d. h. eben über sich selbst, hinausgreift.« 13 Was Simmel als Transzendenz des Lebens auffasst, zeigt sich in jenen Momenten der Selbstüberschreitung, aus denen Lebendigkeit hervorquillt und nach Überwindung strebt. Es ist die Qualität eines Mehr, das sich zwar der einfachen gleichsam »auf der Hand liegenden« Aussprache entzieht, zugleich aber den tendenziell unaussprechlichen Kern einer Atmosphäre ausmacht. »Aber indem wir es erleben, ist noch etwas anderes dabei, das Unaussprechbare, Undefinierbare, das wir an jedem Leben als solchem fühlen: daß es mehr ist als jeder anzugebende Inhalt, daß es über jeden hinausschwebt, jeden nicht nur von ihm aus ansieht und hat, wie es das Wesen der logischen Inhaltsangabe ist, sondern zugleich von außen, von dem, was jenseits seiner ist.« 14

Wenn sich dieses Mehr in besonderer Weise atmosphärisch verdichtet, fragt sich, wie etwas Essentielles davon im Medium des Bildes zur Gerinnung gebracht werden kann. Mit anderen Worten: Wie kann die Immission einer Photographie der affektiven Kraft einer aufgenommenen Szene annäherungsweise ähnlich sein?

9.2 Die Transzendenz der Bilder Das fließende Moment der Transzendenz des Lebendigen spiegelt sich in der dynamischen Wirklichkeit von Atmosphären wider – etwa in der gespannten Eile, mit der die Feuerwehrleute eines Einsatztrupps ein brennendes Haus löschen und nach Überlebenden im Inneren suchen. Am Beispiel der Lebendigkeit eines Naturprozesses – eines heraufziehenden Gewitters – lässt sich zeigen, dass Atmosphären höchst unterschiedliche Gefühle bewirken können. Da ist zunächst die klimatologische Atmosphäre, deren Bestimmung eine naturwissenschaftliche Sache ist. Die vielfältigen Veränderungen der Luft wirken aber unmittelbar auf das leibliche Befinden der betroffenen Menschen ein; dies jedoch nicht in gleicher Weise. Während die existenziell drohende Gefahr des Blitzschlages zur beunruhigenden Erregung derer führt, die dem bevorstehenden Naturspektakel schutz-

13 14

Ebd., S. 15. Ebd., S. 23.

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Die Transzendenz der Bilder

los ausgeliefert sind, stellt sich dieselbe Lebendigkeit der Natur aus der Perspektive des nicht betroffenen und distanzierten (ästhetischen) Betrachters gar nicht als Gefahr dar. Wer im blitzschutzgesicherten Haus am Fenster zur freien Landschaft steht, kann das bevorstehende Grollen und Donnern sowie das Zucken der Blitze genießen und sich vom erschaudernd ergreifenden Behagen des Erhabenen fesseln lassen. Was von einer Situation (hier der des Gewitters) letztlich ins Atmosphärische transzendiert, ist wesentlich von persönlichen Situationen abhängig. Atmosphären geben sich stets in subjektiv bestimmter Weise zu spüren (individuell wie kollektiv). Deshalb verlangt die kompetente Handhabung der Kamera die sensible Aufmerksamkeit auch nicht nur gegenüber den Vitalqualitäten einer Gegend, sondern zusätzlich gegenüber der persönlichen Situation eines betroffenen Individuums oder der gemeinsamen Situation einer Gruppe. Die Herausforderungen sind im Bereich der gesellschaftlichen Atmosphären – zum Beispiel einer Stadt – kaum geringer, wenn sie sich auch in anderen Qualitäten darstellen. Hier ist es neben der persönlichen Situation, die eine Atmosphäre einfärbt, vor allem der sich zyklisch ändernde Rhythmus städtischen Lebens, der zur Auflösung spezifischer (meist lokaler) Atmosphären führt wie die Konstitution ganz neuer bewirkt. So findet die Zeit relativ beharrender großstädtischer Hektik ihr tagtäglich sich wiederholendes Ende, wenn das schnelle und eilige Treiben scheinbar zu »kippen« beginnt und »gegen« noch vernehmbare urbane Hektik sich allmählich abendliche Ruhe durchsetzt und schließlich behauptet. Auch hier stellt sich in der photographischen Arbeit die ästhetische Herausforderung, zum Ausdruck zu verhelfen, was das im engeren Sinne Sichtbare transzendiert. Dies verlangt eine schwierige Übersetzung. Sie beginnt zunächst in der Abbildung der Dinge, die man als etwas mit den Augen Sichtbares sehen kann: »Der Schritt von der puren Information über die Dinge zur Vermittlung einer Atmosphäre ist ein erster Schritt in die Ungegenständlichkeit, denn das Bild transportiert mehr als die Summe des Sichtbaren.« 15 Aber dieser »erste Schritt« ist kein chronologisches »Zuerst«, sondern ein Zuerst der Evidenz. Eine Photographie besteht nicht aus Teilaufnahmen, die sich zusammensetzen lassen wie ein Puzzle. »Alles« was eine Situation ausmacht, ist im Moment der Aufnahme fixiert. Somit 15

Brauchitsch, Städtische Atmosphären im Spiegel der Fotografiegeschichte, S. 178.

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Photographie und Atmosphäre

kommt es auf den Moment an, in dem das Charakteristische einer Situation in ihrem Zusammenhang zur Erscheinung kommt. Es ist auch nun wieder das Verhältnis von Sichtbarkeit und Unsichtbarkeit, das die erkenntnistheoretisch zentrale Frage nach den Möglichkeiten und Grenzen des im photographischen Bild Darstellbaren aktualisiert. Am Beispiel von Arbeiten des Photographen Wolfgang Tillmans stellt Ilka Becker dazu fest: »Die Sichtbarkeit von Atmosphären beschränkt sich dabei […] nicht auf die visuelle Schicht der Bilder. Sie ruft assoziierte Erfahrungen im Bereich des Tastsinns, der Gerüche und Geräusche ab.« 16 Ebenso merkt Boris von Brauchitsch an, dass sich der atmosphärische Gehalt einer Photographie nicht optisch zeigt, sondern gefühlsmäßig bemerkbar macht 17 Das szenische Verstehen einer Aufnahmesituation entscheidet sich auf einer Schwelle. Der das Punctum erfassende Wurf gelingt nur dann, wenn in der Aufnahme einer vitalen Szene pathisch-sensible und praktisch-ästhetische Vermögen auf treffende Weise intuitiv synchronisiert sind. Dabei kommt die Erinnerung affektiver Gedächtnisschichten dem Verstehen komplexer Situationen entgegen. Sie fördert die Übertragung eines sich aktuell ereignenden sinnlichen Geschehens ins Medium eines am Ende des photographischen Aktes stillstehenden Bildes. Rational rekonstruierende Anstrengungen spielen dabei eine eher marginale Rolle. In der Situation des Bildverstehens stellt sich schließlich eine in gewisser Weise umgekehrte Aufgabe – die Verknüpfung einer sichtbar (aber nicht hörbar, tastbar etc.) gemachten Szene mit Erinnerungen, die autopoietisch zu sinnlichen und leiblichen Erfahrungen sowie Affekten samt den damit verknüpften Bedeutungen Bezug nehmen (s. auch Kapitel 11). Photographien verlangen in ihrer Produktion wie Rezeption die autopoietische Synchronisation des szenisch Erlebten (im Falle der Bildrezeption des visuell Sichtbaren) mit Sedimenten eigenleiblicher Erfahrung. In welchem Maße diese Übersetzung gelingt, ist Resultat Becker, Fotografische Atmosphären, S. 186. Es darf als fraglich gelten, ob Becker tatsächlich »Assoziation« meint oder nicht viel mehr ein synästhetisches Verstehen auf dem Boden leiblicher Kommunikation. Während der Begriff der Assoziation kognitionspsychologisch akzentuiert ist, geht es Becker in der Sache doch nicht um die Freisetzung kognitiver Prozesse, sondern das nachspürende Zusammenbringen eines Bildeindrucks (kommuniziert durch das im Bild Sichtbare) zum einen und einem erinnernden (Nach-) Erleben eines ähnlichen, selbst erlebten Eindrucks zum anderen. 17 Vgl. Brauchitsch, Städtische Atmosphären, S. 186. 16

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Die Transzendenz der Bilder

eines komplexen Gestaltungs- bzw. Bildungsprozesses: in der Situation der Aufnahme kommt es auf die Art und Qualität der ästhetischen wie technischen Beziehung zum Gegenstand des potentiellen Bildes an und in der Situation der Bildbetrachtung auf das Vermögen einer Person, sich vom ästhetischen Ausdruck eines Bildes bewegen zu lassen. Marie Ulber stellt eine Reihe von Beispielen vor, in denen sie sich mit dem Mittel der Photographie der Explikation atmosphärischer Eindrücke widmet. Dabei arbeitet sie unter anderem mit der photographischen Serie. Mit der Reihe »Burgen« stellt sie eine Bildsequenz gewöhnlicher Einfamilienhäuser vor, die mehr den Eindruck einer Befestigung machen als den von Behausungen eines zur Welt hin offenen Wohnens. 18 Neben dem Beispiel zur Baukultur illustriert sie in einer Reihe von Farbphotographien einen zwischen Himmel und Meer je nach Licht und Tageszeit unterschiedlich erscheinenden Horizont. 19 Wenn sie resümierend feststellt, dass »der künstlerische Zugriff erlaubt, Atmosphären zu begreifen, zu übersetzen, zu verdeutlichen, zu verändern und zu vermitteln« 20, so rückt damit (noch diesseits der Kunst) die Bedeutung des Ästhetischen als Kommunikationsbereich von Atmosphären ins Zentrum. Mittel der Bildgestaltung sind letztlich immer ästhetischer Art. In der Aufnahme wie in der Bildrezeption stellt sich jeweils die Aufgabe, zwischen der Dynamik des Lebendigen einer (Referenz-) Wirklichkeit und deren Fixierung ästhetisch zu vermitteln. Zwar kann kein stehendes Bild strömende Prozess- und Bewegungsflüsse »konservieren«. Die gestalterischen Methoden der Photographie eröffnen jedoch Optionen, das von einem Gefühl vorscheinende Moment in Gestalt eines charakteristischen Segmentes zu erfassen. Boris von Brauchitsch sieht die Photographie vor der Herausforderung, eine Situation der Wahrnehmung für eine gewisse Dauer der Betrachtung festzuhalten: »Da Atmosphäre ein Zustand und kein Ereignis ist, ist die Photographie prädestiniert, diesen Zustand zu konservieren, beliebig abrufbar zu machen, ihm die Zeit zu geben, die er braucht, um wahrnehmbar zu werden.« 21 Jedes entstandene Bild gründet angesichts der (technologiebedingten) Fixierung eines Au18 19 20 21

Vgl. Ulber, Landschaft und Atmosphäre, S. 114 f. Vgl. ebd., S. 94 f. Vgl. ebd., S. 87. Brauchitsch, Städtische Atmosphären, S. 177 f.

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Photographie und Atmosphäre

genblicks in einer Praktik der Inszenierung. Von Brauchitsch stellt die Photographie damit zu Recht in den erkenntnistheoretischen Rahmen einer Situation andauernder Wahrnehmung.

9.3 Zur Verbildlichung aktueller und zuständlicher Situationen Keine Atmosphäre lässt sich in Gänze fest-stellen. Schon ihr dynamischer Charakter steht dem entgegen. Dennoch kann eine Aufnahme »etwas« im Sinne eines Segments isolieren, das für die Präsenz und Virulenz eines Ganzen charakteristisch ist. Der segmentierende und fixierende Charakter der Photographie impliziert schon die Möglichkeit, dass in einem Bild »etwas« aus dem dahinrinnenden Ganzen einer Atmosphäre sichtbar gemacht werden kann. Aufgrund ihrer vielfältigen, vor allem technischen Beschränkungen in der Darstellbarkeit einer Referenzwirklichkeit kann sie repräsentationstheoretische Limitierungen nicht außer Kraft setzen. In der Frage der Photographie von Atmosphären spitzt sich ihr isolationistischer Zug noch einmal zu, weil sie aus einem erscheinenden Ganzen grundsätzlich nur situative »Etwasse« rahmend herausnehmen kann. Umso mehr kommt es auf den erkenntnistheoretischen Zweck solcher Abspaltung an, den von Brauchitsch in der Konstruktion von Fenstern der Reflexion sieht, die ohne die FestStellung von Fließendem und Strömendem gar nicht geöffnet werden könnten. Dabei ist es nicht entscheidend, ob eine Atmosphäre als Zustand oder als ereignishafter Prozess aufgefasst wird. Prozesse können aktuellen wie zuständlichen Charakter haben. Es ist zum einen die Eigenart einer Situation, die das Verhältnis zwischen Zuständlichkeit und Aktualität gleichsam taktet. Was in der Dauer der Zeit beharrt, gibt sich zuständlich zu verstehen. Was sich in einem Moment ändert, zeigt sich in einem aktuellen und wandlungsoffenen Gesicht. Die Zuerkennung von Aktualität bzw. Zuständlichkeit hängt aber auch vom Maßstab der Wahrnehmung einer Atmosphäre ab. Am Beispiel eines Wochenmarktes habe ich im Blick auf die relativ lange dauernde Phase seines Zu-Ende-Gehens den Wechsel aktueller Situationen in ihrer Einbettung in die zuständliche Situation des Marktes zum Gegenstand einer facettenreichen phänomenologischen Betrachtung gemacht. 22 In der mikrologisierenden Schärfung 22

Vgl. Hasse, Märkte und ihre Atmosphären.

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Zur Verbildlichung aktueller und zuständlicher Situationen

der Aufmerksamkeit gegenüber einem ganzheitlichen, höchst mannigfaltigen und unübersichtlichen Geschehen kamen dabei atmosphärische Inseln samt der Interferenzen zwischen ihnen in den Blick. Photographien solch finaler Marktszenen können – indem sie kein Film sind – insofern nur aktuelle Momente vorstellen, als sie an die Grenzen des photographisch a priori nur in Segmenten Darstellbaren gebunden sind. Gleichwohl zeigt sich, dass solche Segmente auch über den »Rand« einer aktuellen Situation hinaus ebenso spezifische Merkmale einer zuständlichen Situation darstellen können. Letztlich öffnet etwas punkthaft Fixiertes der reflektierenden Bildbetrachtung ein Terrain perspektivischen und hypothetischen Verstehens, das auf ein im Konkreten vorscheinendes Allgemeines gerichtet ist. Von dessen Wegen der Reflexion hängt auch die Bewertung der »Schnittqualität« einer Aufnahme ab, mit anderen Worten die Beantwortung der Frage, worauf das abgebildete Segment einer Situation verweisen könnte. So baut scheinbar nur Einzelnes, das in einem Bild erscheint, eine ästhetische Brücke zum Verstehen des hintergründig Allgemeinen einer Situation. Trotz aller photographietheoretischen Hypotheken blockiert kein Bild die Erkenntnis; es bietet sich vielmehr als Medium der Bild-ung an, schon weil es in denkwürdiger Weise auf Wirklichkeit aufmerksam macht. Denkwürdig sollen angesichts des Ausschnittcharakters einer jeden Photographie ebenso die Methoden und Bedingungen der Bildherstellung werden, wie sich mit einem bestimmten Bildsujet oft schon andeutende Gebrauchs- und Konsumformen. Photographien von gewöhnlichen Garagen für Personenwagen (s. Kapitel II.1) werden auf einem ganz anderen kulturellen und assoziativen Bedeutungshintergrund wahrgenommen als solche von Begräbnisplätzen (s. Kapitel II.5). Das betrifft nicht nur das je abrufbare Wissen, sondern mehr noch die affektiven Beziehungen zum einen wie anderen Gegenstand. Angesichts der trügerischen und in ihren Bedeutungen changierenden Ausdruckspotenziale von Photographien können diese zu Katalysatoren der Denkwürdigkeit werden. In diesem Sinne argumentiert Ilka Becker für die kreative Verbildlichung von Atmosphären: »Interessant ist die Arbeit mit Atmosphären, Auren, Stimmungen, Glamour und Milieu meist dann, wenn man nicht einfach nur eine Form atmosphärischer Sichtbarkeit zum Beispiel aus der Werbung in der Kunst wiederholt, sondern eine reflektorische und kritische Distanz so einsetzt,

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Photographie und Atmosphäre

dass sie einen Erkenntnis- oder Erfahrungsgewinn anzustoßen vermag […].« 23

Was nicht einfach »ist«, soll der reflexiven Aneignung programmatisch angeboten werden. Letztlich dient das Spiel mit dem Erscheinen-Machen im Medium der Photographie der Anbahnung mimetischer Beziehungen gegenüber einem Verborgenen, dem NichtSichtbaren im Sichtbaren. Keine Photographie, allzumal wenn sie der Darstellung einer Atmosphäre dient, soll und kann wie ein sachlich nüchterner Text rezipiert werden. Am Beispiel der Architekturphotographie spricht Jörg Sasse das Verborgene im Bild an: »Das Unsichtbare ist fester Bestandteil von Architektur. Ein Foto als solches zeigt alles. Erst in der Betrachtung wird das ›Unsichtbare‹ hinzugefügt.« 24 Dabei setzt die Möglichkeit solcher Ergänzung voraus, dass das Bild einen zumindest assoziierbaren Überschuss birgt, der sich von der sichtbar gemachten Materialität abgelichteter Dinge gleichsam abhebt. Die photographische Darstellung von Atmosphären ist – mit Ilka Becker gesagt – einer »transpikturalen und multisensoriellen Auffassung des Photographischen selbst geschuldet.« 25

9.4 Die Produktion von Bildern und die Bedeutung von Erinnerung, Imagination und Gefühl Im Bereich der Photographie sakralarchitektonischer Atmosphären zeigen sich mit besonderer Schärfe die Herausforderungen der Verbildlichung von Transzendenz. Weil Sakralbauten im weiteren Sinne einer atmosphärischen Funktion dienen, muss eine das atmosphärische Punctum des heiligen Raumes auch treffende Photographie weit über die Abbildung nur baulicher Materialitäten hinausgehen. Sie muss in der Lage sein, die im Raum einer Kirche geleistete Inszenierung von Dingen und Halbdinge, deren synästhetische Übertragung in Gefühle, die Menschen auf das Erleben eines heiligen Raumes erst einstimmt, im Bild eindrücklich darzustellen. Die Photographien von Otto Hartmann sind in dieser Hinsicht bemerkenswert, weil durch sie eine besonders ungewöhnliche Lösung dieser Aufgabe gelungen ist. Mehrere Innenansichten eines Modells der Sternkirche von Otto 23 24 25

Becker, Fotografische Atmosphären, S. 184. Sasse, »(un-)sichtbar«, S. 72. Becker, Fotografische Atmosphären, S. 183.

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Die Produktion von Bildern

Bartning haben die atmosphärische Kraft des 1921/22 geplanten Sakralbaus beeindruckend veranschaulicht. »Auf den ersten Blick vermitteln diese Innenaufnahmen den Eindruck einer realisierten Architektur […]. Tatsächlich zeigen sie jedoch verschiedene Teilmodelle aus Gips.« 26 Dabei war es vor allem die diffuse Beleuchtung des Modells, die in den Photographien eine geradezu mystische Raumwirkung erzeugt hat, »wie sie eher zu katholischen Kirchen zu passen scheint. Sie entspricht aber auch einer zeittypischen Sehnsucht nach einer stärker irrational geprägten Religiosität im protestantischen Glauben, die auch Bartning beschäftigte.« 27 Diese und andere gelungene Beispiele illustrieren zum einen Wege der photographischen Darstellung atmosphärischer Milieuqualitäten. Zum anderen machen sie deutlich, dass eine allein rationale Durchdringung ästhetischer Bilder (im Unterschied zum Bild einer Gebrauchsanweisung) nur unzulängliche Wege des Verstehens öffnet, kann sie doch keine mimetische Beziehung aufbauen. Das Gebot der affektiven Einfühlung in die ästhetische Emission einer Photographie erinnert in ihrer Qualität an eine Form der der Annäherung, deren Kern Romano Gaurdini in der »Begegnung« sah (s. auch Kapitel 3.4). Gegenstand einer Begegnung war für ihn nichts, das mit einem bewegungsbedingten Zusammentreffen vergleichbar wäre. Begegnung in seinem Sinne baut auf leibliche Kommunikation und einen Prozess des Affiziert-Werdens durch ein Erscheinen. Was letztlich berührt, verdankt sich keiner Bewegung von Körpern, sondern von Gefühlen, die sich auf einer Schnittstelle zwischen Erscheinen und Ergriffen-Werden konstituieren. Begegnung ist in ihrer Unverfügbarkeit flüchtig. Dagegen gelingt das rein sachlogische »Lesen« eines Bildes von der Art einer technischen Zeichnung oder schematischen Photographie auf weitgehend affektfreien Wegen. Ästhetische Begegnung, die an das Punctum eines Bildes heranführt, ist luftig und fragil. Sie verlangt den »richtigen« Moment, in dem die Ausdrucksmodalitäten eines Bildes ein Gefühl evozieren, in dem die Bedeutungen eines Punctum lebendig werden können. »Begegnung gerät nicht immer. Wir sagen gern: die Stunde muß günstig

Metje, Inszenierung des Sakralen, S. 73. Das Bild »Market Day, Luzzara, Italy, 1953« habe ich an anderer Stelle vor diesem Hintergrund ausführlich kommentiert, vgl. Hasse, Der Leib der Stadt, S. 174 f. 27 Ebd., S. 174. 26

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Photographie und Atmosphäre

sein.« 28 Ganz in diesem Sinne merkt Roland Barthes zum Auftauchen des Punctum an, dass es plötzlich da sei – »mehr oder weniger virtuell, über eine expansive Kraft. Diese Kraft ist oft metonymisch.« 29 Nicht nur das Punctum ist deshalb unbestimmt und vage, sondern ebenso die Atmosphäre in deren Erlebnisgehalt es spürbar wird. Begegnung ist kein linearer Prozess, der im finalen Sinne zu einem Ende kommen kann; Begegnung ereignet sich in einer spiraligen Annäherung nachdenkender wie sich einfühlender Reflexion. Das Bild erweist sich (als image) vor diesem Hintergrund ein weiteres Mal als Produkt der (Ein-)Bildung, das in einem vielfältigen Verhältnis zur Welt der tatsächlich existierenden Dinge und Halbdinge steht. Dieser Prozess gibt sich in der Bildgebung (dem Moment der Aufnahme) in anderer Weise Gestalt als in dem der Bildnahme (dem Moment der Bildbetrachtung). Es gibt eine Reihe von Stilmitteln, um das über den immersiven Charakter einer Szene schwer Sagbare ästhetisierend ins Bild zu setzen und auf ein Punctum hin zu verdichten. Dazu gehören unter anderem die verschiedenen Arten der (z. B. tiefenschärfen- oder belichtungszeit- bzw. bewegungsbedingten) Unschärfe als technische Optionen atmosphärischer Aufladung (s. auch Kapitel 4). Herbert List (1903 bis 1975) strebte zum Beispiel danach, »das Magische im Vorübergehen« 30 zu erfassen, und zwar mit den Ausdrucksmitteln der Bewegungsunschärfe. Das Spiel mit der Unschärfe folgte zu allen Zeiten dem »Bemühen um eine künstlerische Aura«. 31 Auch eine Reihe von Alfred Stieglitz’ Aufnahmen besticht durch eine eigenartige Unschärfe, die offensichtlich programmatisch intendiert war, um etwa die Dynamik einer städtischen Situation oder den Umschwung des Wetters zu verbildlichen. Wenn solche Unschärfen auch einen leicht verwischten Eindruck wecken, so müssen sie doch in der Sache der atmosphärischen Bild-»Aussage« als eine Konkretisierung aufgefasst werden. Ein Meister der photographischen Repräsentation städtischer Vitalität war auch Paul Strand, der bei Lewis Hine Photographie studierte. Alfred Stieglitz hatte ihm einst zugeschrieben, sich in die Grenzen des photographisch im engeren Sinne Möglichen einzuspüren, um das die Dinge Transzendierende seinem Gefühl entsprechend 28 29 30 31

Guardini, Die Begegnung, S. 16. Barthes, Die helle Kammer, S. 55. Brauchitsch, Städtische Atmosphären, S. 177. Ebd., S. 176.

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Die Produktion von Bildern

ins Bild zu setzen. Und so gelang es ihm in gewisser Weise, die Fragilität der Welt zu konservieren. Das war keine einfache Sache der lediglich technischen Ablichtung. Herausgefordert war ein hohes pathisches Vermögen der Einfühlung in komplexe Situationen: »Strand once called photography ›the symbol of a great impersonal struggle‹« 32. Dank seiner ästhetischen Haltung zu und in seinem Tun konnte er zahllose Bilder mit außerordentlich vitalem Ausdruck schaffen. »These studies defy simple description; each succeeds in transmission the spirit of a time, a place, and a people.« 33 Der sensible Bezug zum Milieu einer in Bildern erscheinenden Welt ist jedoch keineswegs allein für Paul Strand bezeichnend. In seiner ausgesprochen einfühlsamen Haltung und Aufgeschlossenheit gegenüber sinnlichen Eindrücken zeigt sich vielmehr eine ästhetische Kernkompetenz professionell arbeitender Photographen im Allgemeinen. Die ästhetische Erfassung von Atmosphären verlangt einen ausgeprägten Spürsinn für chaotisch-mannigfaltige Situationen, eine abwartende Haltung der Bildgebung, welche sich produktiv erst »löst«, sobald intuitiv sicher wahrnehmbar wird, was in seiner Immersivität das Fassungsvermögen des visuellen Sinns übersteigt. Es war unter anderem der deutsche Photograph August Sander (s. auch Kapitel 7.3), dessen Mammutprojekt »Menschen des 20. Jahrhunderts« mit seinen Porträts nur so beeindruckend gelingen konnte, weil er es schaffte, seine Bildszenen auf ein Punctum hin zu inszenieren, in dem sich eine persönliche Situation (stets in der Schwebe zwischen einem Allgemeinen und dem einer individuellen Person anhaftenden Besonderen) verdichtet hatte. Der folgende Kommentar von John von Hartz würdigt die Arbeit von Sander, steigert sie aber auch tendenziell ins Ephemere: »Armed with his camera he went out among his people and brought back images of their souls.« 34 Wenn der Gebrauch der Seelen-Metapher auch ins Mystische abgleitet, so zielt die Pointierung doch treffend auf ein wesentliches Merkmal seines Schaffens ab, eine bemerkenswerte Präzision, mit der er etwas Charakteristisches einer Person im Medium einer umhüllenden Atmosphäre in den Bereich der Wahrnehmung brachte. Sanders Bilder sind auf einem kategorialen Niveau, und nicht nur wegen ihrer mannigfaltigen Variation, weit von üblichen gewerbsmäßig angefertigten 32 33 34

Haworth-Booth, (Essay), S. 7. Ebd., S. 5. Ebd., S. 9.

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Photographie und Atmosphäre

Porträtphotographien entfernt. Was seine Bilder auszeichnet und den Betrachter in seiner Aufmerksamkeit so nachhaltig bannt, mag man als »Überschuss« beschreiben. Aber es ist im eigentlichen Sinne kein Überschuss, sondern die Essenz dessen, worum es ihm in seiner Arbeit offensichtlich gegangen ist. Dies mag von Hartz dann auch zum Gebrauch seiner Seelen-Metapher verführt haben. Bei allem Respekt gegenüber der Lebensleistung von August Sanders überspannt von Hartz den Bogen, wenn er sein Werk mit dem auf den ersten Blick so eingängigen und überzeugenden Satz preist: »he simply showed the Germans – including the Nazis – as they were.« 35 So wenig er Seelen zur Anschauung bringen konnte, dürfte es ihm auch kaum möglich gewesen sein, (deutsche) Menschen zu zeigen wie sie waren. Gesicht und Habitus sind hoch verschlüsselte Ausdrucksgestalten und keine lesbaren Skripte. Auch die technische Disposition seiner Bilder stand zwischen der Authentizität einer Person und dem, was sich von deren aktuellem Erscheinen in ein Bild »retten« ließ. Am Beispiel der Photographie »Arbeitslos, 1928« habe ich an anderer Stelle diskutiert, in welcher Weise schon die Wahl eines Ausschnittes das szenische und situative Bildverstehen geradezu kategorial disponieren kann. 36 Keine noch so gelungene Photographie kann zeigen, wie etwas »tatsächlich« ist oder war.

35 36

Ebd. Vgl. Hasse, Der Leib der Stadt, S. 212–214.

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10. Gesten des Zeigens

Photographien sind Medien der Sichtbarkeit. Peter Geimer sieht sie in einer gewissen Ordnung der Sichtbarkeit. 1 Dennoch ist nicht alles, was Photographien so oder so sichtbar machen, auch auf Sichtbarkeit beschränkt. Schon der Sachverhalt, dass sie, um sichtbar sein zu können, in einer bestimmten Weise erscheinen müssen (nicht nur sinnlich, sondern auch thematisch), macht darauf aufmerksam, dass es verschiedene Modi des Zur-Erscheinung-Kommens bzw. -Bringens gibt. Während sich das einer szenischen Lebendigkeit verdankende, spontan aufgenommene Bild eines urbanen Platzes in der Performativität der Abläufe und Bewegungsmuster einer Augenblickssituation verdankt, sind die Bilder der Werbung intentional weitgehend »abgezirkelte« Medien und Spielfiguren der Manipulation auf dem Weg zur Durchsetzung einer erwünschten Wirkung. Die in einer Tageszeitung erscheinende Photographie brennender Barrikaden folgt wiederum einer anderen Logik der Aufmerksamkeitslenkung als die werbewirksame Präsentation eines Kleidungsstückes. Ökonomischem Begehren dürfte sie kaum unterworfen sein. Als journalistischer »Stoff« der Sortierung politischer Denk-und Fühlstile bewähren sich normativ aufladbare Bilder indes immer wieder als Medien der Dissuasion. So oder so, Photographien fungieren allzu oft und in zahllosen Gebrauchsformen als Fähren für den affizierenden Transport von Meinungen, Ideologien, Appellen und allen möglichen Suggestionen. Was eine Photographie zu sehen gibt, ist mit Bedeutungen verknüpft, derentwegen eine Aufnahme in aller Regel gemacht und in Umlauf gebracht wurde. Das heißt aber nicht, dass diese als solche Sinnverknüpfungen auch von jedem Rezipienten verstanden werden können. Die Synthese von Bild und Bedeutung ist oft kryptisch, weil die einer Aufnahme zugrundeliegenden ästhetizistischen Kalküle im Dunkeln liegen. Das gilt nicht für die Mission (und Emission) einer Photographie. Bilder sollen gesehen werden, weshalb sie anderen ge1

Vgl. Geimer, Ordnungen der Sichtbarkeit.

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Gesten des Zeigens

zeigt werden. Lambert Wiesing versteht sie deshalb auch als Gesten des Zeigens 2. Diese richten sich aber nicht immer an Dritte. Man kann sich auch selbst etwas zeigen. Aufnahmen von ganz und gar persönlichem Erinnerungswert werden »für sich selbst« aufgehoben – manchmal auch für einen kleinen Kreis Vertrauter. Um Gefühle wachzurufen, bedarf dieses Sich-selbst-etwas-Zeigen nicht zwingend erklärender, konnotierender oder wie auch immer begründeter sprachlicher Ergänzungen. Die ästhetische »Selbstgenügsamkeit« der Bilder resultiert schon aus ihrer Inkommensurabilität gegenüber sprachlichen Aussagesätzen. Aber es ist auch diese Barriere gegenüber der wörtlichen Rede, durch die das Bild das Sprechen provoziert – und zur Überwindung von Grenzen des nur schwer Sagbaren herausfordert. Nach Bernhard Waldenfels fungiert das Bild als »Brücke zwischen sprachlicher und bildlicher Präsentation« 3; es dient »einem sprachlichen Zeigen« 4. Dies jedoch nicht erst dann, wenn das Zeigen den Dialog zwischen mindestens zwei Personen herausfordert, sondern bereits, wenn es einen Betrachter in ein Selbstgespräch verwickelt. Kommunikative Effekte im Sinne der von Waldenfels angesprochenen Brückenfunktion entfaltet das Zeigen in dem Moment, in dem ein Zeige-Medium die Schwelle der leiblichen Kommunikation überschreitet und im Modus wörtlicher Rede auftaucht. Dem Zeigen liegt insofern ein »starker« vitaler Antrieb zugrunde, als es etwas will – bezogen auf den Zeigenden und die damit hergestellte Beziehung zu (einem) anderen. »Zeigen« impliziert die Bedeutung eines Aufweisens, Sehen-lassens, Sagens, Verkündigens, Äußerns, Erscheinen-Machens und Verweisens. 5 Wer zeigt, tut dies im Hinblick auf etwas. So bahnt die zeigende Geste eine leibliche Richtung 6 und schärft die Wahrnehmung die bewusste Erfassung eines Gegenstandes oder einer Situation. Im aufmerksamkeitsweckenden Zeigen konzentriert sich nach Ludwig Klages ein »Übergewicht des Anschauens über das Zugreifen, aus dem sein Richtungsbewußstein erwächst, und es ist das Richtungsbewußtsein« 7, dem Vgl. Wiesing, Sehen lassen. Waldenfels, Phänomenologie der Aufmerksamkeit, S. 216. 4 Ebd. 5 Zu den etymologischen Wurzeln des Zeigens vgl. auch Klages, Grundlegung der Wissenschaft vom Ausdruck, S. 263. 6 Vgl. ebd., S. 264. 7 Ebd., S. 265. 2 3

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Gesten des Zeigens

sich das Vermögen des Visierens und Zeigens verdankt. Die das Zeigen geradezu tragende kommunikative Geste entspricht einer Ausrichtung der Wahrnehmung. Deshalb sagt Klages, im Zeigen komme zum Erblicken von etwas »das Blicken auf etwas« wesentlich hinzu. 8 Zeigen vermittelt nicht nur ein optisches Sehen von etwas, sondern dessen fokussierendes und bemerkendes Erfassen. Weil jedes Zeigen durch Bilder bzw. Photographien nach Lambert Wiesing ein intentionaler Akt sei, könne sich nichts von sich aus zeigen. 9 »Photographien […] zeigen dann und nur dann etwas, wenn und weil sie zum Zeigen von jemandem verwendet werden.« 10 Sie schaffen die Voraussetzungen dafür, dass jemand etwas zu sehen bekommen und es sich sodann in seinen Bedeutungen als dieses oder jenes vergegenwärtigen kann. Erst durch die Annahme eines Zeigeangebots wird danach etwas auch tatsächlich zu einem Zeige-Medium. An diesem Punkt stellt sich die Frage, was eine Photographie, die als Geste des Zeigens (intentional und zur Weckung von Aufmerksamkeit) auf dem Tisch liegt, von derselben Photographie unterscheidet, die nur zufällig an derselben Stelle liegt, aber die gleiche Aufmerksamkeit desselben Rezipienten weckt. Nur im ersten Falle wären die von der Bildbetrachtung ausgelösten Gedanken und Gefühle Folge einer Geste des Zeigens. Im zweiten Falle kämen vielleicht dieselben Eindruckswirkungen zustande, jedoch nicht auf der Basis fremd-intentionalen Gezeigt-Bekommens, sondern der eines SichSelbst-Zeigens, einer Form der Aufmerksamkeit, der kein fremder, hinweisender Akt zugrunde gelegen hätte. Die Bedeutung der Intentionalität des Zeigens wird damit ebenso denkwürdig wie die Behauptung, dass sich nichts von selbst zeigen kann. Die Bedingungen, unter denen etwas zur Sichtbarkeit gelangt, setzen – wie auch immer – den Rahmen, innerhalb dessen etwas Bestimmtes wahrgenommen werden kann. 11 Das sich vielleicht nur zufällig ereignende Zur-Erscheinung-Kommen eines Bildes wäre schließlich einer intentionalen Geste des Zeigens insofern ebenbürtig. Aufmerksamkeit kann etwas als Folge eines Gezeigt-Werdens finden, ebenso aber auch durch sein sich ereignendes Erscheinen, dem weder die Absicht einer Person noch irgendein Plan zugrunde Ebd., S. 266. Vgl. Wiesing, Sehen lassen, S. 44. 10 Ebd., S. 200. 11 Vgl. dazu Heidegger, Sein und Zeit, § 7. 8 9

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Gesten des Zeigens

läge. Man kann sich auch selbst etwas zeigen, indem man seine Aufmerksamkeit auf etwas richtet, das Betroffenheit weckt oder zum Anlass der Denkwürdigkeit wird. Daher kommt es mehr auf die Frage der Beziehung zwischen einem Bild und einem Rezipienten an, als auf einen personalen Zeige-Imperativ, der schon für sich auf eine soziale Ordnung verwiese. Die Modalitäten des Erscheinens rücken erkenntnistheoretisch gleichbedeutend bzw. gleichwertig neben die des Zeigens. Etwas kann zum Beispiel durch Bewegungssuggestionen oder Gestaltverläufe sichtbar werden und damit durch Eigenschaften, die eher von einem Gegenstand der Wahrnehmung ausgehen als von einer auf ihn hinweisenden Geste. Auch was »von selbst« zur Erscheinung kommt, also von niemandem gezeigt wird, vermag Aufmerksamkeit zu finden und zu einem Medium des Sich-etwas-Zeigens werden. Das Erscheinende birgt (zumindest potentiell) mehr als das, was von einer Geste des Zeigens hervorgehoben werden kann. Das spricht nicht gegen eine gewisse Logik des Zeigens, wie sie von Ludwig Klages bis Lambert Wiesing herausgestellt wird; aber es relativiert die Bedeutung des Zeigens innerhalb des Aktes der Bildnahme. Auch ohne intentional hinweisendes Zeigen kommt etwas von dem, das man zeigen könnte, zur Erscheinung. Das dürfte in aller Regel »mehr« sein als das, was ein Zeigen für eine bestimmte Wahrnehmung isoliert. »Zeigen« zieht insofern gegenüber dem Erscheinenden Grenzen, als es aus dem, was zur Erscheinung kommt, etwas für die Wahrnehmung einfasst. Das Bild einer Nebelkrähe, die irgendwo am Straßenrand in einem Laubhaufen herumstochert, könnte sich als Medium des Zeigens allein im Hinblick auf die Farbe des schwarzen Gefieders genügen. Das nicht intentional gelenkte Erscheinen desselben Bildes würde dagegen alles, was sich aus den Ressourcen der Sichtbarkeit hermeneutisch herausarbeiten ließe, gleichermaßen der Wahrnehmung zugänglich machen (das Tier im Ganzen, sein erkennbares aktuelles Verhalten, das Zeug, in dem es herumpickt, das Stück eines Weges, auf dem der Haufen liegt, der Haufen selbst usw.). Erfolgreiches Zeigen setzt Verstehen voraus 12 – als Folge zielgerichteter Handlungen eines Dritten oder als Ausdruck einer selbstreferentiellen Geste. Was man sich selbst (dem Aufforderungscharakter des Sichtbaren folgend) zeigt, vermag weitere Horizonte des Verstehens zu 12

Vgl. Wiesing, Sehen lassen, S. 48.

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Gesten des Zeigens

öffnen als das, was jemandem aus der Überfülle des Zeigbaren hinweisend gezeigt wird. Diesem nicht festgelegten Verstehen steht in einem kreativen und produktiven Sinne ein Bild-Begriff nahe, der sich weniger an der Vermittlung einer Darstellung denn der Anbahnung einer Vorstellung orientiert. 13 Aus dem weiten Feld des visuell Sichtbaren gelangt erst dann etwas in die Betroffenheit oder die Denkwürdigkeit, wenn sich vom visuell bloß Vor-gestellten ein Sich-Darstellendes abschält. Jedes Darstellen ist, wie der Hinblick auf etwas, immer gerichtet. Lambert Wiesing merkt mit Heidegger an, es sei Aufgabe der Phänomenologie, etwas, das in einem Bild erscheint, nicht durch Hintergründiges oder Tiefsinniges zu verklären. Was gegenüber der Wahrnehmung sichtbar werde, erscheine lediglich in bestimmter Weise. 14 Das schließt aber nicht aus, dass es gerade das Verdeckte und Versteckte sein kann, das infolge kulturindustrieller Dispositive mit Macht in die Aufmerksamkeit transportiert werden soll (man denke an die Rolle sogenannter »Informations«-Angebote der Massenmedien). Wenn es Sache der Phänomenologie – als einer speziellen philosophischen Schule – ist, die Selbstreflexion zu üben, um mit Hermann Schmitz im »Sichbesinnen des Menschen auf sein Sichfinden in seiner Umgebung« 15 zu denkwürdigen Fortschritten zu gelangen, dann impliziert dies den Imperativ einer Schärfung der Wahrnehmung. Zur Sache übenden Hinsehens wird die nachspürende Aufmerksamkeit dann, wenn sichtbare wie spürbare Gesten des Zeigens in ihren Fokus rücken, um entdecken zu können, welchem Ziel die kryptische Emission eines Bildes dienen soll. Insofern spricht einiges dafür, in der Aufgabe der Phänomenologie das Projekt einer geradezu archäologischen Freilegung verschütteter Kompetenzen der Aufmerksamkeit zu erkennen. Die sich reklamierenden Übungen hätten sich indes nicht an bestimmten Inhalten zu schärfen. Entfaltungsbedürftig sind in methodologischer Hinsicht Wahrnehmungskompetenzen im Allgemeinen. Im Umgang mit Photographien stellt sich damit nicht zuletzt eine Aufgabe der Sorge um das eigene Selbst, wie sie von Michel Foucault 16 und – in anderer Weise – von Peter Sloterdijk 17 umrissen wird.

13 14 15 16 17

Vgl. ebd., S. 69. Vgl. ebd., S. 39. Schmitz, Kurze Einführung in die Neue Phänomenologie, S. 9. Vgl. Foucault, Hermeneutik des Subjekts. Sloterdijk, Du mußt dein Leben ändern.

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Gesten des Zeigens

Die spezifischen Praktiken des Zeigens wie Modi des Zur-Erscheinung-Kommens gründen in der Photographie in dem, was Flusser über den komplexen Zusammenhang von Apparat, Programm und den mehr oder weniger kreativen Umgang mit beidem geschrieben hat. Bilder sind auch dann, wenn sie nur erscheinen und es an Aufmerksamkeit weckenden Gesten des Zeigens mangelt, in einem methodologischen Sinne Medien der Weckung von Denkwürdigkeit. Sie zeigen ja nie nur, was das Sujet eines Bildes ausmacht; weit abseits irgendeiner Geste des Zeigens geben sie (wenn auch nur in einem verrätselten Sinne) ebenso die bildgebende Geste des Photographen wie die einem photographischen Projekt vorausliegenden Programme zu bedenken. In aller Regel lassen sie jedoch bestenfalls kryptische Spuren ihrer Entstehungsgeschichte erkennen. Der Autor eines Bildes (der für »sein« Bild Verantwortliche) fehlt auf seiner Photographie. Die Unsichtbarkeit des Gestalters oder Dramaturgen macht auf etwas paradigmatisch Abwesendes einer jeden Photographie aufmerksam: das Verschwinden der methodologischen Situiertheit der Produktion eines Bildes hinter seinem Erscheinen.

10.1 Zeigen und sprechen Wenn Bilder in ihrem medialen Charakter auch der ästhetischen und nicht der diskursiven Rationalität zuzuordnen sind, so stellt sich doch umso mehr die Frage, wie sie in der Explikation ihrer Bedeutung, Funktion und Macht zur wörtlichen Rede bzw. des expressis verbis Aussagbaren in Beziehung stehen. Lambert Wiesing vertritt in dieser Frage die bemerkenswerte Position, das Verstehen einer Photographie sei an die Sprache gebunden. Das auf einem Bild zum Beispiel sichtbar gemachte traurige Gesicht einer Person könne nur deshalb den »mentale[n] Zustand« von Traurigkeit zeigen, weil das im Bild Sichtbare sprachlich identifizierbar sei. 18 »Deshalb ermöglicht die sprachliche Gleichsetzung von sichtbaren physischen Formen mit unsichtbaren mentalen Zuständen, dass diese Formen etwas zeigen: eben Ausdruck haben.« 19

18 19

Vgl. Wiesing, Sehen lassen, S. 211. Ebd.

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Gesten des Zeigens

Erst die Sprache konstruiere die Ähnlichkeit zweier Identitäten, von etwas Physischem einerseits und etwas Mentalem andererseits. 20 Nun kommuniziert aber schon der Säugling mit der Mutter; und das tut er nicht auf der Grundlage expressis verbis ausgesagter Sätze, sondern im Wege leiblicher Kommunikation: insbesondere über Blicke und taktile Berührungen. Er verständigt sich auf Wegen der Äußerung, die weder diskursiven Charakter haben noch diskursive Sprachvermögen voraussetzen. Was die Neue Phänomenologie unter »leiblicher Kommunikation« 21 versteht, deckt einen anthropologisch breiten Bereich nonverbaler Verständigung ab, geht weit über gemeinsame Situationen der frühen Kindheit hinaus und deckt ein breites Feld symbolischen Handelns in komplexen sozialen Systemen ab. Am Beispiel der synästhetischen Charaktere zeigt Hermann Schmitz, dass es dank der Ausdruckswege leiblicher Kommunikation im Metier der Sinnlichkeit situationsspezifisches Verstehen gibt, das der wörtlichen Rede gar nicht bedarf. Im Bereich leiblichen Verstehens hat er das beispielhaft bezogen auf »das Scharfe, Grelle, Sanfte, Spitze, helle, Harte, Weiche, Warme, Kalte, Schwere, Massige, Zarte, Dichte, Glatte, Raue der Farben, Klänge, Gerüche« sowie am Beispiel des »Schalls und der Stille, des hüpfenden und des schleppenden Ganges, der Freude, des Eifers, der Schwermut, der Frische und Müdigkeit« 22. Dass sich Befindlichkeiten einer Person auch in Bewegungsgestalten sowie in ganzheitlichem Erscheinen zum Ausdruck bringen, ist evident. Es muss nicht irgendein Diskurs darüber stattfinden, ob und inwieweit ein offensichtlich niedergeschlagen dastehender Mensch vielleicht doch einer ist, der vor Glück nicht weiß, wie er sich zeigen soll. Dass es Täuschungen gibt und sogar absichtliche Irreführungen, sagt etwas über Ausnahmen bzw. das auch Mögliche. Aber solche Abweichungen müssen ebenso für das sprachgestützte Verstehen gelten. Schon die Assoziation von Bedeutungen, die mit Gefühlen verbunden sind, belegt in zahllosen Situationen des täglichen Lebens, dass es ganzheitliches und darin wesentlich gefühlsmäßiges Verstehen gibt, das der Sprache nicht bedarf, sich gleichwohl der Mittel diskursiver Kommunikation bedienen kann, um subjektive Eindrücke der intersubjektiven und sprechenden Verständigung zugäng20 21 22

Vgl. ebd., S. 212. Vgl. auch S. 139. Schmitz, Kurze Einführung in die Neue Phänomenologie, S. 40.

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lich zu machen. Die Aussprache bewahrt aber nicht davor, dass sich das in der Form der wörtlichen Rede Gesagte letztlich doch als mangelhaft erweist, weil es nur unscharf zu verstehen geben kann, was in einer Situation atmosphärisch spürbar ist. Erkenntnis ist nach Hermann Schmitz »Explikation von Tatsachen aus Situationen […]. Die Offenbarung der Tatsächlichkeit ist Evidenz« 23 und hängt damit an den Modi sinnlicher Gewahrwerdung und der Beschreitung der Wege leiblicher Kommunikation. Die poetische Sprache kann sagen, »was die explizierende Rede nicht direkt zu sagen vermag« 24. Letztere abstrahiert von der binnendiffusen Ganzheitlichkeit der in einer Situation verschwommenen Bedeutungen. Von einer Zerschlagung spricht Hermann Schmitz sogar, »wenn die Ganzheit der Situation bei der Explikation mißachtet« 25 wird. Die prosaische Sprache erzeugt gegenüber dem, was in einem (Bild-) Erscheinen atmosphärisch verschwommen (chaotisch-mannigfaltig), aber doch untrüglich als Dieses im Raum ist, einen gewissen Abstand. Die Differenz betrifft, was zwischen leiblich-befindlichem Verstehen und der individuellen Möglichkeit des Sagen-Könnens aufklafft. »Das Situationen explizierende menschliche Sprechen als Gebrauch einer Sprache ist daher ein Experimentieren, ein Balancieren zwischen Abgründen der Binnendiffusion, von denen der eine bei der Erschließung des anderen unentbehrlich ist.« 26 Hinge das Bild in seinem Verstehen tatsächlich am Faden satzförmig ausgesagter oder auch nur gedachter Sätze, wäre es letztlich nichts wesentlich anderes als die ästhetische Spiegelung dessen, was sich ohnehin in der diskursiven Sprache aussagen ließe. Mit anderen Worten: Photographien wären dann nur eine ästhetische Beglaubigung von Wissen, das es in der Form gesprochener oder geschriebener Sätze bereits gibt. Die qualitative Differenz zwischen diskursiver und ästhetischer Rationalität würde so zu einer Nebensache. Wiesing übersieht, dass Bewegungssuggestionen und synästhetische Charaktere nonverbal zu verstehen geben, was sich als Ausdruck einer Situation nicht in gleicher Weise in der Form der Rede sagen ließe. Dabei läuft die Ineinssetzung des Bildverstehens mit den Praktiken seiner sprachlichen Aneignung auf die strukturelle Einpressung eines ästhe23 24 25 26

Schmitz, Neue Grundlagen der Erkenntnistheorie, S. 243. Schmitz, Der unerschöpfliche Gegenstand, S. 461. Ebd. Schmitz, Die sprachliche Verarbeitung der Welt, S. 53.

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tisch dargestellten Sujets in das (andere) Fassungsvermögen der wörtlichen Rede hinaus. Die Dilemmata sind so absehbar wie die Brüche zwischen den am Ende asymmetrisch nebeneinanderstehenden epistemischen Formen; Jean François Lyotard hatte das Problem schon im Postmodernen Wissen aufgezeigt 27 und im Widerstreit vertieft. 28 Zurück zum Beispiel des traurigen Gesichts, das auf einem Bild zu sehen ist. In der lebensweltlichen Perspektive erkennen wir einen traurigen Menschen an seinem Gesichtsausdruck und seiner habituellen Präsenz gleichsam auf einen Schlag. Dazu bedarf es nicht erst einer Zuhilfenahme der Sprache; leibliche Ausdrücke erfassen wir nicht nur oder erst, weil wir gelernt haben, sie mit Hilfe einer eingeübten Nomenklatur von Wörtern in Sprache zu übersetzen. Vielmehr haben wir aus der chaotischen Mannigfaltigkeit lebendiger Situationen zu verstehen gelernt, was es bedeutet, wenn jemand traurig aussieht und niedergeschlagen dasteht. Wir erkennen traurige Gesichter, weil wir ihnen in Situationen begegnet sind, in denen es für den Betroffenen einen Grund zur Traurigkeit gegeben hat. Auch Reinhardt Knodt streicht heraus, »dass nicht die Sprache den Auslegungshorizont für unsere Interpretationen der Welt schafft, sondern jenes, was wir als Situation bezeichnen, in der ›interpretiert‹ wird.« 29 Wiesings Bindung des Bildverstehens an eine letztlich kognitive Sprachkompetenz spiegelt die Macht des linguistic turn wider, der im Verbund mit einem Sozialkonstruktivismus (etwa im Sinne von Anthony Giddens 30) alles Nicht-Intelligible im Menschen auf ein erkenntnistheoretisches Abstellgleis verschiebt.

10.2 Der lenkende Hinweis der Bildunterschriften Noch nicht einmal illustrative bzw. dokumentarische Photographien können auf ein definiertes Verstehen festgelegt werden. Bestenfalls können sie es akzentuieren oder disponieren. Bilder haben ästhetische Bedeutungs- und Sinnüberschüsse. Diese kommunizieren ihre Essenz neben und unterhalb dessen, was sich in derselben Sache auch 27 28 29 30

Vgl. Lyotard, Das postmoderne Wissen, S. 83 ff. Vgl. Lyotard, Der Widerstreit. Knodt, Der Atemkreis der Dinge, S. 143. Vgl. Giddens: The Constitution of Society.

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mit Worten sagen ließe. Ein gewisses Rauschen resultiert darüber hinaus aus der Spannung zwischen der ästhetischen Emission eines Bildes und seiner diskursiven Ergänzung in Gestalt einer Bildunterschrift. Kein Text, der einem Bild hinzugefügt wird, kann dessen Gegenstand in Form satzförmiger Rede bedeutungsidentisch wiedergeben. Aber er kann es sprachlich begleiten, eine Perspektive aufspannen, Deutungen nahelegen, andere abschwächen und ideologische Felder beackern, um auf diesen sodann die Saat von Sinnsuggestionen »aufgehen« zu lassen. Die in den Kunstgalerien präsentierten Gemälde großer Künstler haben meistens einen Titel. Der ist zwar oft ohne erhellenden Wert, mitunter legt er aber auch eine Fährte zum Bildverstehen. Das muss jedoch nicht a priori ein besseres Verstehen sein, denn narrative Ergänzungen können eine »Wahrheit« auch verfehlen. Texte stellen Kontexte her und kommunizieren Bedeutungen. Zahlreiche dokumentarische Photographien des 19. und 20. Jahrhunderts, die in naturwissenschaftlichen Atlanten 31 einem Objektivitätsanspruch folgten, erwiesen sich trotz optischer Präzision als problematisch, weil sie im Unterschied zu Zeichnungen nicht den Differenzierungsanforderungen der Profession entsprachen. So reklamierte sich schon aus fachlicher Sicht die Korrektur, Hervorhebung oder wie auch immer begründete technische Bearbeitung. Der redigierende Zugriff hatte dabei die Funktion, die Tauglichkeit eines Bildes für spezifische Gebrauchszwecke zu steigern. »Ein reiner kameragestützter Naturalismus war zu stumpf, um die Dinge zu zeigen, die die Atlasverfasser und -leser sehen wollten.« 32 Die Einsicht in die Grenzen der erkenntnistheoretischen Potentiale der Photographie führte in der Geschichte der Photographie (soweit es um Gegenstände von naturwissenschaftlichem Interesse ging) zum einen zur vergleichenden Abwägung mit anderen eher traditionell üblichen Arten der Darstellung (zum Beispiel kolorierten Handzeichnungen). Bei Aufnahmen, die gesellschaftliche Situationen betrafen, mündete die photographische Methode rein technischer Sichtbarmachung zum anderen aber auch schnell in die Erwägung, dass ergänzende Bildunterschriften geeignet sein könnten, eine Aufnahme zu kontextualisieren. Solche Hinzufügungen dienten und dienen jedoch nicht dazu, einem Bild (in einem informationstheoretisch naiven Sin31 32

Vgl. dazu auch S. 83. Galison, Urteil gegen Objektivität, S. 410.

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ne) »objektive« Hinweise und Erläuterungen hinzuzufügen, die seine ästhetische Präsenz nicht bieten konnte. Vielmehr setzen sie einen semantischen Rahmen, aus dem heraus ein Bild verstanden werden soll. Solches »Framing« kann vieles leisten, aber stets war und ist es auf ein spezielles Bildverstehen bezogen. Bei politisierbaren Bildsujets geht es in allererster Linie um die Lenkung der Assoziationen, meistens mit dem Ziel der Anbahnung ideologisch erwünschten Fühlens und Denkens. Dabei stehen im Hinblick auf die Durchsetzung bestimmter Eindruckswirkungen und Sichtweisen zahlreiche Wege der ästhetischen Disposition zur Wahl: Bildausschnitt, Belichtung, (Bewegungs-)Unschärfe, Korngröße, Farbe/Schwarz-Weiß u. v. a. 33 Narrative Ergänzungen leisten weit mehr als nur den Feinschliff in der Anpassung einer Darstellung an einen gesellschaftlichen Werterahmen. Bildunterschriften geben nicht nur Informationen. Sie stellen vor allem die Anbahnung »orientierter« Sichten sicher – oft in der Beschränkung auf wenige Worte. Und so kommunizieren sie eher verdeckte als offen zu Tage liegende Werte und Normen. Potentielle Bildbetrachter werden so eher emotional auf bestimmte Beziehungen zu einem Bildsujet eingestellt. Die Photographie einer innerstädtischen Revolte muss, wenn sie von »links« kommt und als Ausdruck einer demokratischen Gesellschaft angesehen wird, tendenziell idealisierend verklärt werden. Wird ein und derselbe Aufstand dagegen nach herrschender Auffassung als illegitime zum Beispiel »rechte« Entgleisung und unwillkommene Kritik an Institutionen der Macht interpretiert, wird das darauf bezogene Bild allzu leicht mit moralisch dunklen Assoziationen verklammert. Bildunterschriften implizieren Verstehens-Programme, die Elemente des Zeigens sind. Schon die in den 1920er Jahren in den USA begründete Idee des Dokumentarismus ist von der Durchsetzung erwünschter Sichtweisen auf einen Gegenstand der »Dokumentation« nicht zu trennen. Ein sodann in den 1930er Jahren durchgeführtes Programm der »Farm Security Administration« hatte von Anfang an das Ziel verfolgt, in ideologisch eingefärbten Darstellungen die Lebensweisen armer Landbevölkerung mit denen des »wohlhabenden Städters« zu kontrastieren, um »ein ›amerikanisches Gemeinschaftsbewußtsein‹ herzustellen« 34. Wo immer dokumentarisches Material für be33 34

Vgl. auch Kapitel 4. Matz, Gegen einen naiven Begriff der Dokumentarfotografie, S. 97 f.

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stimmte Verwendungspraktiken hergestellt und mit spezifischen Gebrauchswerterwartungen verknüpft wird, kann nur zum Schein von einem objektiven Programm der Dokumentation die Rede sein. Selbst die der Denkmalpflege dienenden Aufnahmen historischer Bauten gehen insofern über einen allein bestandsdokumentierenden Charakter hinaus, als sie nicht zuletzt in der Art und Weise der Sichtbarmachung zeigen sollen, was an einem Gebäude als erhaltenswert anzusehen ist. Gesten des Zeigens mit dem Medium des photographischen Bildes sind a priori defizitär, denn kein Bild kann mit letzter »Treffsicherheit« kommunizieren, was ein Thema oder einen Gegenstand in seiner Essenz ausmacht. Die Bedeutungsüberschüsse eutrophieren. Indem die Ressourcen der Kreativität auf dem Hintergrund höchst unterschiedlicher Menschen- und Weltbilder auf chaotisch-mannigfaltig verästelte symbolische Ordnungen zugreifen, fordert sich die narrative »Absicherung« der mit einer Photographie angestrebten Verstehensweise heraus. Was in der Ästhetik der Bilder konnotativ schwimmt, wird dann durch textlich fixierte »Verstehenshilfen« denotativ gefestigt. Schon wenige »treffend« gesetzte Worte vermögen ganze Assoziationsfelder umzustimmen, Wahrnehmungsweisen zu kippen und ideologische Deutungen umzukehren oder zu neutralisieren. John Thomson ergänzte die photographischen Sozialstudien seines Projektes Street-Life in London 35 schon in den 80er Jahren des 19. Jahrhunderts durch ausführlich recherchierte Hintergrundberichte, die er mit dem Journalisten Adolphe Smith machte. Das waren im engeren Sinne aber keine Bildunterschriften, sondern narrative Stränge, Erzählungen, Reportagen, Berichte etc. Diese strebten dem Ziel zu, Deutungshorizonte aufzuspannen, die den Rezipienten seiner Bild-Reportagen die prekären Verhältnisse einfacher Menschen am unteren Ende sozialer Hierarchien nicht zuletzt emotional näher bringen sollten. John Thomsons ethisches Text-Bild-Programm war emanzipatorisch und aufklärungsorientiert. Es sollte die kritische Aufmerksamkeit wecken. Damit stand es gewissermaßen am anderen Ufer dessen, was kulturindustrielle Bilderfluten den Menschen der Masse spätmoderner Gesellschaften manipulativ unterschieben.

Vgl. Thomson, Street-Life in London; vgl. auch Hasse, Der Leib der Stadt, Kapitel 4.4.4.

35

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Gesten des Zeigens

Die ambivalente Macht scheinbar objektiver Bildunterschriften illustriert ein Bildbeispiel aus dem Werk von August Sander. Im Jahre 1930 machte er eine Photographie mit dem Titel »Bergmannskinder«. Die Aufnahme zeigte auf eine Lebensweise der Menschen, die tief mit der regionalen Tradition des Kohlebergbaus verbunden war. Im weiteren Sinne erzählt das Bild von einer höchst komplexen Synthese von Leben und Arbeiten, die die soziale Welt großer Teile des Ruhrgebietes vom frühen 19. Jahrhundert bis in die 70er Jahre des 20. Jahrhunderts wesentlich prägte. Die drei abgebildeten Mädchen sollten also nicht als irgendwelche Kinder gesehen werden. Sie standen symbolisch für die kulturelle Sonderwelt des Steinkohlebergbaus. Das Bild taucht schließlich in einer britischen Publikation im Jahre 1977 wieder auf und erhält einen neuen Untertitel. Es heißt nun »Citychildren« 36 und führt zu einer krassen Dekontextualisierung bzw. zur Konstruktion eines ganz neuen Assoziations- und Interpretationsrahmens, der mit der zeigenden Geste Sanders nicht mehr identisch ist. »Stadtkinder« repräsentieren in einem äußerst unspezifischen Sinne alles Mögliche, das sich assoziativ mit Kindern in Verbindung bringen lassen könnte, die (ganz allgemein) in Städten leben. Bildunterschriften – seien sie knapp formuliert oder narrativ extrem ausgebreitet – sichern keine »richtige« Bilddeutung; sie ergänzen ein ästhetisches Medium mit diskursiven Mitteln und bahnen damit – als zum Bild hinzutretende Geste des Zeigens – eine spezifische Ausrichtung, Umstimmung oder Neujustierung der Aufmerksamkeit an.

36

Vgl. von Hartz, August Sander, S. 45/92.

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11. Bildarchive der Erinnerung

Die Bedeutung der Photographie als Medium der Erinnerung betrifft eine spezielle Facette der Zeitlichkeit des Bildes (s. auch Kapitel 5). Die Diskussion der mnemonischen Funktionen von Photographien erfolgt erst an dieser Stelle und separiert von der Behandlung der Zeitlichkeit der Bilder, weil zunächst die Diskussion ontologischer Fragen anstand. Über die Zeitlichkeit im engeren Sinne hinaus betraf diese auch spezifische Beziehungen des Bildes zu seiner Referenzwirklichkeit. Vieles, was also bereits über das photographische Bild gesagt wurde, erscheint im mnemonischen Fokus in einem neuen Licht und bietet sich so der erweiterten Reflexion an. Photographien bergen als Medien der Erinnerung Wissen unterschiedlicher epistemischer Struktur (technischer, kultureller, zoologischer u. v. a.). Neben einer (a) sachverhaltlichen Ebene haben sie (b) eine der Bedeutungen, auf der sie in aller Regel (c) mit Gefühlen verbunden sind. Sie machen Wissen abrufbar und stellen es der Reflexion zur Verfügung. Angesichts großer Mengen individuell gesammelter, mehr aber noch kulturell zirkulierender und systematisch archivierter Bilder haben diese Ressourcen virtuellen Charakter. Als Speicher werden sie permanent ausgebaut, um bedarfsorientiert zur Verfügung stehen zu können. Die Bestände befinden sich aber so lange lediglich in einem Zustand der Latenz, wie sie nicht abgerufen werden. Bedeutungen und die mit ihnen verklammerten Gefühle geben sich im Unterschied zu körperlichen Gegenständen in keinem visuellen Modus preis; sie verlangen die subjektiv verstehende Aneignung bzw. die Herstellung einer pathischen Brücke zum Ausdrucksganzen eines Bildes. Im Moment der Bildbetrachtung werden objektivierbare Eigenschaften einer dargestellten Szene aber nicht in einem bildidentischen Sinne von der Erinnerung abgerufen. Keine Erinnerung kommt aus einem aseptischen, gleichsam mathematischen Denkraum. Mit dem ersten Erscheinen noch so banaler Dinge reklamiert sich propositionales Fakten- und Sachwissen. Aus der Leere eines 176 https://doi.org/10.5771/9783495823750 .

Bildarchive der Erinnerung

epistemisch weißen Raumes kann kein Bild verstanden werden. Im Moment seiner Erinnerung wird es mit individuellen wie gesellschaftlichen Bedeutungen assoziiert und mit spontan sich meldenden Gefühlen umwoben. Welche Erinnerungen durch die affizierende Begegnung mit einem Bild freigesetzt werden, verdankt sich aufmerksamkeitslenkender Weichenstellungen. Deshalb kann ein und dieselbe Photographie auch ein sich potentiell unendlich gabelndes Eindruckserleben in Gang setzen. Dank der Macht der Erinnerung verweben sich Bildeindrücke nicht nur mit mannigfaltig gegliedertem Wissen, sondern ebenso mit Präferenzen der Aufmerksamkeit und spezifischen Reflexionsvermögen. Das Sujet einer Photographie hat einen weichenstellenden Einfluss auf die Verknüpfung von Erinnerungen mit Wissen. Jede Erinnerung hat imaginären Charakter, auch wenn sie an einem physischen Bildträger und dem darauf sichtbaren Bildgegenstand ihren Ausgang nimmt. Bilder sind mnemonische Resonanzmedien. In der Erinnerung von etwas sichtbar Gemachtem verbildlichen sie thematisch sujetspezifische Selbst- und Weltbeziehungen (zum Beispiel mit dem Bild einer aufgeheizten Atmosphäre, in der Demonstranten und Polizisten auf einem innerstädtischen Platz aneinander geraten). Auch wenn das photographische Bild als eine Geste des Zeigens aufgefasst wird und auf etwas Bestimmtes hinweist, so öffnen sich in der lebendigen Erinnerung vor dem Hintergrund subjektiv vielfältiger Bedeutungs- und Gefühlsordnungen doch ganz und gar unterschiedliche Richtungen der Aufmerksamkeit. Was im Moment einer Aufnahme – in der Situierung des Photographierens in Bezug auf einen Bildgegenstand – »einst« dieses bedeutet haben mag, wird in der Bildbetrachtung durch eine andere Person zu jenem. Solche Differenz dürfte sich noch in jeder zukünftigen Bildbetrachtung durch den Photographen selbst aktualisieren. Der situative wie historische Wandel einer persönlichen Situation lässt weder Assoziationsspektren noch erinnerbare Bedeutungen und Gefühle unberührt. Wenn Photographien auch für die Erinnerung gemacht werden, so ist das sinnstiftende Band, das ein Bild zwischen dem Jetzt und einem Später für die Möglichkeit der Erinnerung knüpfen soll, doch von vornherein zerrissen. Die in der Situation einer Aufnahme virulenten Eindrücke sind von denen verschieden, die später beim Anblick einer Photographie an einem anderen Ort wachgerufen werden. Beachtung verdient dieser Bruch umso mehr, als die zeitliche, situative 177 https://doi.org/10.5771/9783495823750 .

Bildarchive der Erinnerung

wie befindliche Differenz zwischen Aufnahme und Bildbetrachtung zu einem durchgreifenden Umbau von situations- bzw. bildbezogenen Erlebnisqualitäten führen kann. Dabei macht es einen Unterschied, ob die Erinnerung nur das kurzzeitige Vakuum eines Augenblicks füllt oder eine biographische Periode von geradezu epochalem Ausmaß.

11.1 Zur Zeitlichkeit bildgestützter Erinnerung Was die Erinnerung dem Denken und nachspürenden Fühlen zugänglich macht, kommt gleichsam aus einem Hinter- bzw. Untergrund von Geschichte wie biographisch gelebten Geschichten wieder hoch. Die Erinnerung greift dabei auf zwei Ressourcen zu; zum einen auf die gesellschaftlich zu einer Zeit anstehenden Erinnerungsbestände, auf ubiquitäres Wissen »über Gott und die Welt«, und zum anderen auf alles, was subjektiv erlebt worden und über persönliche Situationen mit biographischen Bedeutungen aufgeladen ist. Aleida Assmann weist darauf hin, dass es wenig Sinn macht, zwischen Geschichte und Gedächtnis zu polarisieren; ebenso unbefriedigend sei aber auch ihre völlige Gleichsetzung. 1 Erinnerung ist etwas Lebendiges; sie hat regulierende Macht darüber, was wir im Gedächtnis behalten und mit Vergangenem verbinden. Das gilt so auch für das kollektive Gedächtnis, das ebenso an der narrativen Gestalt von Mahnmalen Halt findet wie an Baustilen und rituellen GedenktagZeremonien. Es sind verschiedene »Aggregatzustände« von Gedächtnisressourcen zu unterscheiden. Aleida Assmann differenziert deshalb weiter zwischen einem Funktions- und einem Speichergedächtnis. 2 Während das Funktionsgedächtnis selektiv operiert und von der subjektiven Verwicklung in ein Geschehen orientiert wird, bewahrt das Speichergedächtnis die »amorphe Masse […] nicht-amalgamierter Erinnerungen« 3 auf, die das Funktionsgedächtnis wie einen Hof umgeben. Es ist das in Museen, Bibliotheken und Archiven »sedimentierte« Wissen, das sich als Quelle möglicher Erinnerung anbietet. Zwischen einem gleichsam leiblosen und einem gelebten Gedächtnis 1 2 3

Vgl. Assmann, Erinnerungsräume, S. 133. Vgl. ebd., S. 134. Ebd., S. 136.

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Zur Zeitlichkeit bildgestützter Erinnerung

verlaufen jedoch keine fixen Grenzen, die das eine Wissen vom anderen trennen. Was dem Speichergedächtnis überantwortet wird, ist (in der Psychohygiene einer individuellen Person) Produkt biographischer Bewertung, aber dennoch mit dem Kreislauf gesellschaftlicher Mythen verzahnt. Es gibt keine individualistische, gleichsam monadenhafte Biographie und daher auch keine isolationistische Speicherung von Erinnerungen. Nichts gelangt »einfach« ins Speichergedächtnis. Es ist Produkt einer Auswahl, Resultat von Akzentuierungen, und es steht meistens kryptisch zu Verdrängtem und Vergessenem in Beziehung. Speichergedächtnisse werden in der Struktur ihrer Bestände von der Lebendigkeit der Funktionsgedächtnisse getaktet, deren Aufbau einer Affektlogik individueller bzw. kollektiver Geschichten folgt. Umgekehrt wirkt das Speichergedächtnis auf das Funktionsgedächtnis ein, das sich wiederum in einem permanenten Prozess der Autopoiesis selbst an gesellschaftliche Situationen des Zeitgeistes anpasst, etwa dann, wenn sich eine kollektive Denk- und Gefühlshygiene im Bewusstsein »meldet« und dafür sorgt, dass wir gesellschaftlichen Standards des Denk- und Erinnerungs-Würdigen folgen. Photographische Bilder sind spezifische Speichermedien, die in beiden Gedächtnisformen je eigene Rollen spielen. Aber sie vermitteln auch zwischen beiden. Was in einem photographischen Bild von einem vergangenen Geschehen sichtbar wird, stimmt die Aufmerksamkeit und damit die Bezugspunkte des Funktionsgedächtnisses. Ein Bild ist nicht nur historischer Gerinnungsstoff; es wird – wenn es aus dem Speichergedächtnis wieder hervorgeholt wird – etwas Denkwürdiges, weil es dann in gelebte Kontexte rückt. Aus den Archiven für bestimmte politische Zwecke reaktivierte »alte« Bilder dienen oft dazu, individuelle Funktionsgedächtnisse nachzujustieren und auf den Geist der Zeit einzustimmen. Daher sehen gerade die sogenannten öffentlich-rechtlichen TV- und Rundfunkanstalten eine ihrer Aufgaben darin, durch die Kommunikation affektlogisch »richtiger« Strukturen die Wahrung einer politisch korrekten Denk- und Gefühlshygiene durchzusetzen. »Das politisch Korrekte wurde längst von dem optisch Korrekten eingeholt.« 4 Damit spricht Paul Virilio die Opportunitäts-Hygiene des »richtigen« Bildes (samt Bildunterschrift) an, die sich als Garanten systemfunktionalen Denkens und Fühlens erweisen müssen. 4

Virilio, Erscheinen oder Verschwinden, S. 328.

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Bildarchive der Erinnerung

Speichergedächtnisse können unendlich viel mehr aufbewahren als biographisch und situativ verwurzelte Funktionsgedächtnisse. Sie bieten sich schon daher als kulturelle Steuerungsressourcen an. »Die Möglichkeit, mehr niederzuschreiben, als das menschliche Gedächtnis behalten kann, hat zu einer Durchbrechung des Gleichgewichts im Haushalt des kulturellen Gedächtnisses geführt. Gedächtnisumfang und Erinnerungsbedarf sind auseinander getreten« 5. Speichergedächtnisse sind aber nicht nur durch expansive Wissensmengen gefüllt; ihr Gewicht beziehen diese auch aus der Macht des in ihm abgelegten (kollektiven) Unbewussten, das in soziologischer wie sozialpsychologischer Hinsicht in Gestalt von Unbewusstem und unbewusst Gemachtem auf Subjekt und Gesellschaft einwirkt. 6 Dieses »graue« Wissen unterscheidet sich von kulturell geradezu ritualisiert abgelegten offiziellen Erinnerungsbeständen dadurch, dass es der plangemäßen Reaktivierung gegenüber versiegelt ist. Unbewusstes wie unbewusst Gemachtes gibt es zum einen als Produkt der Reinigung des kollektiven Gedächtnisses – einer Reinigung, die sich reklamiert, wenn Wissen in der Gefahr steht, den eine Kultur tragenden Mythos zu destabilisieren. Es gibt es zum anderen ebenso auf einem individuellen Niveau, wo der Schatten einer Biographie die Sinnorientierungen einer Person zu verdunkeln droht. Erinnern schafft – als kollektives wie individualpsychologisch eingebettetes Vermögen – einen Ausgleich zwischen Anamnesis und Mneme. Die aktive und die passive Gedächtnisleistung konstituieren sich in einem Wechselwirkungsprozess. In den Memoria, zum Beispiel dem Totengedenken, überlagern sich beide Felder des Erinnerns und geraten in schwere Konflikte, wenn Erinnerungen Verdrängtes wachrufen. Auch deshalb gibt es keine eindeutig zu ziehenden Grenzen zwischen Phantasie und Erinnerung. Letztere mischt sich in die Phantasie ein und diese in die Erinnerung. Im Fokus der Psychoanalyse sind es insbesondere die Erinnerungsbestände von Traumata, die in einem abgespaltenen Bewusstsein abgelegt und dem Menschen nicht in einem linearen Sinne zugänglich sind. 7 Bilder können in diesem Kreislauf von Verdrängen und Erinnern die Rolle von Katalysatoren spielen. Assmann, Erinnerungsräume, S. 408. Vgl. dazu auch Erdheim/Nadig, Die Schwierigkeiten der Sozialwissenschaften mit der psychoanalytischen Forschungsmethode. 7 Vgl. Zepf, Allgemeine psychoanalytische Neurosenlehre, Band I, S. 152. 5 6

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Zu Wissens- und Erinnerungsabfall wird auf dem Niveau des Kollektiven, was die massenpsychologische Homöostase einer Gesellschaft ausscheidet, weil es die Hygiene ihres Affekthaushalts bedroht. Unter bestimmten psychologischen Bedingungen sickern solche »Abfälle« in eine verdeckte Schicht des Speichergedächtnisses ein. Bei Bedarf können sie zum Beispiel für die politische Vergangenheitsbewältigung in Dienst gestellt werden. Die politische Sprengkraft des kollektiven Gedächtnisses einer Gesellschaft verlangt die historisch-situativ abgestimmte Beherrschung. Auch das kollektive Bildgedächtnis einer (Sub-)Kultur besteht aus großen Mengen solcher »Abfälle«, über die politische Hygieneinstanzen wachen, damit zur »richtigen« Zeit die »richtigen« Bilder emittiert werden können. Infolge ihrer gefühlsmäßigen »Aufhängung« fügen sich Erinnerungen nicht in die Strukturen einer metrisierten Zeit. Sie kommen aus der Dauer und beziehen sich auf sie. Gerade die aktuell und plötzlich wie aus dem Nichts aufbrechende Erinnerung steigt aus den pathischen Sedimenten des Erlebten auf. Es ist das gefühlte Mit-Sein in Situationen, das dem Erinnern wie der Einlagerung von Eindrücken in die Erinnerungsbestände etwas Existenzielles verleiht. Vergangenheit erfährt der Mensch, indem er sich erinnert. 8 Damit fragt sich, wo die Grenze verläuft, die Vergangenes von anderen Zeitformen (Gegenwart und Zukunft) trennt. Das noch Anwesende gilt als vergangen, wenn es vorbei ist, obwohl es doch nur anders anwesend ist als etwas, das vor langer Zeit passiert ist und nur noch blasse emotionale Regungen wachruft. Es gibt Photographien aus der nahen Vergangenheit, von denen vitale Spuren in die Gegenwart gleichsam hineinwirken und es gibt solche aus längst vergangenen Zeiten, auf denen sich die Menschen kaum wiedererkennen. Solche »Selbstbegegnungen« sind affektiv abgründig und selten gefühlsneutral. Die Vergangenheit ist ein Milieu, »das für Geschehen unempfänglich ist. Aber gerade dieses Geschehens erinnert man sich doch. In der Erinnerung kann es gleichsam wieder lebendig werden.« 9 Die Aporie der Erinnerung pointiert Schmitz so: »Nichts kann sein und nicht sein, gegenwärtig und vergangen sein.« 10 Es ist der Erinnerung eigen, dass sie zum Beispiel mit Hilfe von Photographien wieder spür-

Vgl. Schmitz, Phänomenologie der Zeit, S. 73. Ebd., S. 177. 10 Ebd. 8 9

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bar machen und in gewisser Weise ins leibliche Erleben zurückholen kann, was schon lange nicht mehr ist. Es sind aktuelle Anlässe, die die Erinnerung in Bewegung setzen und ein schon längst abgelegtes Wissen dem Bedenken und Nachspüren wieder zugänglich machen. Der Anlass prägt zugleich die Erwartungen, die auf das Produkt einer Erinnerung bezogen sind. Deshalb sieht Hermann Schmitz auch ein »Verhältnis von Erwartung und Erinnerung« 11. Für die Umgehensweisen mit dem, was wir erinnern, dürfte dies bedeutsam sein. Man kann eine Erinnerung herbeiwünschen, die sich dann vielleicht wider Erwarten doch als fremd und irritierend erweist – als enttäuschend, schmerzend oder auch überraschend. Wie ein Eindruck als Erinnerungswissen im Gedächtnis abgelegt wird, so kehren die Erinnerungen, angesprochen durch aktuelle Situationen, wieder ins Bewusstsein zurück. Nur unterscheiden sich beide Situationen schon dahingehend von Grund auf, dass eine vergangene Aktualität in einem asymmetrischen Verhältnis zu dem steht, als was sie erinnert wird. Die einem Erleben Halt gebenden Bedeutungshöfe sind stets in übergreifende Situationen verwoben, die sich mit dem Wandel des Lebens verändern, so dass nur verzerrt, gedehnt und affektiv transformiert ins Jetzt passen kann, was in der gelebten Dauer und Betroffenheit eines Früher ganz anders lebendig war. Was sich in einem »Früher« ereignet hat, kann in aller Regel affektiv schon deshalb mit einem »Später« nicht mehr synchronisiert sein, weil sich die Bedeutungen und die sie tragenden Gefühle im Prozess voranschreitenden Lebens verschieben. Der erinnernde Zugriff auf Photographien wird deshalb von Erwartungen gelenkt – oft in Gestalt von Sehnsüchten. Die Protentionen sind es, die einen gewissen Auftauvorgang anstoßen, an dessen Ende ehemals aktuelle Gefühle in einem Bild wieder lebendig gemacht werden sollen. Das Authentizitätsproblem von Photographien ist deshalb in besonderer Weise in einer strukturellen Asymmetrie der Gefühle begründet. Schon im Moment der Aufnahme meldet sich eine Erinnerungs-Erwartung und spannt einen projektiven Bogen ins Erleben des fertigen Bildes. Dieser Zusammenhang ist aber von Anfang an brüchig, weil es die »Konservierung« eines Eindrucks nur in der idealistischen Erwartung gibt. In Grenzen mag es von der Technik der Photographie abhängig sein, wie weit sich die zeitliche Differenz

11

Ebd., S. 157.

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zwischen Aufnahme und erster möglicher Bildbetrachtung dehnt. Je kürzer in der Zeit die erste Bildbetrachtung an die Situation der Aufnahme Anschluss finden kann (wie in der digitalen Photographie), desto weniger setzt sich ein Moment der Enttäuschung und Entfremdung vom Eindruckserleben durch. Aber diese zeitnahe Situation der Erinnerung widerspricht dem Zweck der Bilder, die ja in der Regel nicht im Moment der Aufnahme betrachtet werden, sondern aus der erinnernden Perspektive einer näheren oder ferneren Zukunft. Jede Situation einer »späteren« Betrachtung muss daher ins Differenzerleben münden. Wie das aktuelle Vorbei-Sein noch im Gespür für das Jetzt wurzelt, so verfremdet der Schatten eines Nicht-mehr den sichtbar gemachten Eindruck eines Bildes. In der Erinnerung beginnen ehemals vitale Bedeutungsnetze zu reißen. Das mit Hilfe eines Bildes wachgerufene Gefühl einer situativ-emotionalen Verwicklung in ein vielleicht schon weit zurückliegendes Geschehen macht die Unerreichbarkeit von Vergangenheit bewusst. Das »geknipste« Bild steht der Sehnsucht der Erinnerung eines situationsauthentischen Gefühls näher als die denkmalbehördlich initiierte Photographie der Fassade einer Renaissance-Kathedrale. Während die private Bild-Rezeption tendenziell durch naive Gefühlserwartungen gestimmt ist, sucht die professionelle Bild-Aneignung die Abschälung des Faktischen und Sachlichen vom Überschüssigen. Dennoch sind auch in der fachlich distanzierten Betrachtung Gefühle virulent; zum einen biographiebedingte Regungen des Betrachters (ästhetische Präferenzen, die gesellschaftliche Moden und gestalterische Standards wiedergeben) und zum anderen Gestimmtheiten des Zeitgeistes (etwa architektonische Stile wie die gerundeten Formen der 1950er Jahre). Der professionelle Bildgebrauch verlangt dagegen die Distanzierung von persönlichen Geschmacksurteilen und -präferenzen. Ein routinierter Bild-Benutzer ist viel weniger als der Laie ein »Betrachter«. Sein Interesse ist nicht geschmacksästhetisch und subjektiv beliebig ausgerichtet; es folgt vielmehr fachlichen und sachlichen Erwägungen. Umso mehr reklamiert sich die Reflexion von Gefühlen, die sich an Objekten reifiziert haben. Die ästhetische Signatur, die in der Photographie eines Baudenkmals zu sehen ist, verdankt sich in ihrer bautechnischen Realisierung einer Professionalität, die ganz wesentlich in dem Vermögen wurzelt, die mit Gefühlen überschriebenen Baustile einer Zeit auch gestalterisch und handwerklich ins Werk zu setzen.

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»Photographien unterstützen den Erinnerungsprozess und überlagern manchmal die ursprüngliche Erinnerung.« 12 Damit spricht Bernhard Langerock eine ambivalente Rolle der Photographie in der Bildung der Vorstellung eines Gegenstandes an, ganz gleich ob es sich dabei um eine komplexe urbane Situation handelt, um einen einfachen materiellen Gegenstand oder ein flüchtiges Halbding. Indem ein Bild etwas darstellt, das es in einer dem Bild ähnlichen Weise gegeben hat, stützt es bestenfalls die Erinnerung. »Bestenfalls«, weil es nur dann überhaupt zur Erinnerung in ein produktiv unterstützendes Verhältnis treten kann, wenn das, was das Bild sichtbar macht, dem zumindest ähnlich ist, was sich in die Erinnerung eingeprägt hat. Dies hat zur Folge, dass streng genommen nur die Erinnerung des Photographen durch sein eigenes Bild unterstützt werden kann. Wer sonst sollte eine (dem Bild weitgehend ähnliche) Erinnerung an eine Aufnahmesituation haben können. Das gilt für die professionellen Architekturphotographie wie für die Bilder des wegen seiner Naivität gescholtenen Knipsers – nur in je eigener Weise. Vor allem Knipser-Bilder bauen auf das spätere Wiederanspringen situationsbezogener Erinnerungen und das Wachwerden ehemals lebendiger Gefühle. Sie werden aus (privaten) Archiven geholt, weil eine Sehnsucht etwas Vergangenem zustrebt. »Gesucht werden kann nur etwas, von dem bereits eine Vorstellung existiert. Finden ist ein Wagnis, auf das es sich einzulassen gilt. Da ist nichts, auf das Verlass wäre, sondern nur die Hoffnung auf ein überraschendes Ereignis.« 13 Die »Exhumierung« alter Photographien bahnt indes keinen geraden Weg in die Erinnerung. Im Moment der Bildaneignung verschwimmt ein vergangener Erlebniskontext, und die einer Situation anhaftenden Bedeutungen verschieben sich. Es kann keine Augenblicks-»Kopien« geben. Jedes ästhetische Bilderzeugnis hat mit dem Druck auf den Auslöser seine vitale Zeit schon hinter sich. Bedeutungen sind situationsgebunden, und sie zerreißen mehr oder weniger mit der Dynamik, in der sich die Verhältnisse ändern. Aber sie können – in Bildern vorscheinend – etwas Vergangenes einem neuen Verstehen zugänglich machen. Der mediale Gebrauch von Photographien geht über den persönlichen Erlebnisrahmen eines Individuums stets hinaus, werden auch »persönliche« Bilder doch in aller Regel nicht (nur) für sich selbst, 12 13

Langerock, Die ferne Nähe und die nahe Ferne in der Fotografie, S. 116. Bianchi, Einen Kunstsinn suchen und finden, S. 49.

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sondern (auch) für andere gemacht. Sie sind Medien der Kommunikation und stehen im Kontext sozialer Gebrauchspraktiken. Dies wiederum impliziert, dass sie nur dann eine erinnerungsunterstützende Funktion haben können, wenn sie individuell-biographisches wie kollektiv-gesellschaftliches Wissen (aus dem Bestand des Speicher- wie des Funktionsgedächtnisses) zu reanimieren vermögen, das mit aktuellen Bedeutungen aller Art Verbindungen eingehen kann. Schon deshalb kommuniziert ein Bild auch weniger »Informationen«; es stellt vor allem Relationen her. Es zeigt, dass erst lebendig wird, was zu etwas anderem in eine Beziehung tritt. Was auf einem Bild zu sehen ist, wird zum Anlass des Vorstellens von etwas, das damit zu tun hat. Während die Malerei die Illusion bedient, versorgt die Photographie das Verlangen nach Realismus. 14 Es ist aber Ausdruck eines romantizistischen Kunstverständnisses, allein im Gemälde die »Hypothek einer unvermeidlichen Subjektivität« 15 am Werk zu sehen. Technikhistorisch ist der Übergang vom handwerklichen Kunstschaffen zum photographischen Bild schon lange fließend. Die (Re-)Produktion von Kunstwerken ist bereits im 19. Jahrhundert üblich. In der Gegenwartskunst zeichnet sich schließlich ein »neuer Realismus« von »dokumentarischem Charakter« 16 ab, und in einem weiteren Sinne reicht die dokumentarische Photographie potentiell in den Bereich der Kunst hinein; nicht in der Form der Dokumentation, wie sie im Denkmalschutz gesucht wird, sondern wegen der Bedeutungsüberschüsse, in denen sich mehr zeigt, als auf den ersten Blick zu sehen ist. Der dem naturalistische Photo nahestehende Objektivitätsverdacht stützt sich dabei jedoch weniger auf eine »objektive« Art der Darstellung als auf technische Ablichtungsverfahren und den Gebrauch von »Objektiven«. Das auf Photographien Sichtbare verweist letztlich so viel und so wenig auf Originalität wie ein naturalistisches Gemälde. Indes ist der Gestaltungsspielraum in der Herstellung von Photographien (ohne Berücksichtigung digitaler Methoden der »Umschreibung« eines Originals) ungleich geringer als in der Malerei, die sich – impressionistisch – ganz ins Eindrückliche verlieren kann.

14 15 16

Vgl. Bazin, Ontologie des fotografischen Bildes, S. 61. Ebd. Van der Berg, Ein neuer Realismus zeichnet sich gegenwärtig ab, S. 91.

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11.2 Die dokumentarische Photographie als spezifisches Erinnerungsmedium Historische Bilder – zum Beispiel von Städten in spezifischen Entwicklungsphasen – gibt es seit Jahrhunderten in Form von Zeichnungen und Gemälden. Deren Bedeutung hat sich seit der Mitte des 19. Jahrhunderts stark verringert, weil sich die Photographie durch größere Detailgenauigkeit und Realitätsnähe als »echteres« Medium behaupten konnte. Dennoch sind auch technische Bilder – in anderer Weise als die Gemälde früherer Zeiten – an der Produktion und Prolongierung klischeehafter Vorstellungen von Städten, Orten und Landschaften beteiligt. Gerade mit dem Medium der Photographie verbindet sich die Erwartung dokumentarischer Informationen, weil sie Bilder dessen zu bieten hat, was schon lange dem Zahn der Zeit zum Opfer gefallen und durch Neues überwuchert ist. 17 Die Photographie ist in verschiedenen Archivsystemen (unter anderem denen der amtlichen Denkmalbehörden) zu einem unverzichtbaren Medium der Dokumentation aufgestiegen. Ohne Bildarchive müsste das administrative Speichergedächtnis beträchtliche Lücken aufweisen. Die mittlerweile angehäuften Archivbestände sind in Administration, Politik und Presse schon lange unverzichtbar. Im politischen Streit über Abriss oder Fortbestand historischer Bauten spielen sie unter anderem in der Stadtentwicklung eine wichtige Rolle. »Die Reproduktion erweckt sie [die Objekte der Kunst und ihre Stile, JH] zum Leben und zwingt sie, sich in ihrem Sinngehalt zu offenbaren« 18. Gleichwohl dürften sich Sinngehalte nicht schon in der puren Bildpräsenz zu erkennen geben, sondern erst in der systematisch reflektierenden Analyse und historischen wie denkmalschutzrechtlichen Bewertung. Im Streit wie in der Verständigung über die Bedeutung von Altem im gegenwärtigen Leben eröffnet das Bild des Vergangenen hilfreiche Perspektiven der Relativierung. In der Bewertung der dokumentarischen Photographie ist schließlich der methodologische Rahmen von Belang, der die Bildproduktion und -verwendung disponiert. In diesem Sinne unterscheidet Rolf Wiggershaus zwischen dokumentarischem Bild und dokumentarischem Stil. Dem letzteren sind auch bildliche Aussagen zuzuordnen, die nur so tun, als seien sie Dokumente, tatsächlich aber doch 17 18

Vgl. Steinfeld, Die Welt als Vorstellung, S. 57. Malraux, Das imaginäre Museum, S. 95.

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Die dokumentarische Photographie als spezifisches Erinnerungsmedium

eher durch ihren Erzählcharakter beeindrucken. 19 Das macht auf eine scheinbar formale Grenze aufmerksam, berührt in der Sache der Differenz aber den Habitus der Bilder und damit den Anspruch, mit dem sie etwas zeigen und entscheidungsrelevante Aufmerksamkeit fordern. Das naive (Laien-)Programm der Photographie steht dem der professionell betriebenen dokumentarischen Photographie entgegen. Der lebensweltliche Blick geht zwar »durch das Bild hindurch auf ein hinter ihm Liegendes« 20; er unterwirft das Bildsujet aber keiner systematischen Reflexion. »Der »Dokumentarist« lebt genau diese Ideologie: Je mehr er sich aus der Produktion seiner Photographien herauszuhalten scheint, desto exakter, glaubt er, könne sich die Wirklichkeit selbst artikulieren – klar, eindeutig und objektiv.« 21 Im leichten und flüchtigen Umgang mit Bildern liegt deren Wirkungsmacht, beeindrucken sie doch dank der »unbestreitbaren« Sichtbarkeit von Kirche, Rathaus oder Stadion in einer Scheinevidenz, die jede »haarspalterische« Problematisierung der Rolle des Photographen wie der methodologischen Präliminarien einer Darstellung zu erübrigen scheint. Reinhard Matz merkt kritisch zur Utopie der dokumentarischen Photographie an, dass gerade sie in einer sich ins Beliebige zersplitternden Welt »substanzielle Gewissheiten« 22 stifte. Was evident zu sein scheint, lebt oft geradewegs aus einem ideologischen Kern. Jeder substanzialistische Blick aufs photographische Bild verfängt sich letztlich im Netz der Illusionen. Was noch so »faktisch« im Bild vor Augen steht, ist tatsächlich keine unmittelbare und abbildlogische Widerspiegelung dessen, als was es sich suggeriert. Jede mit authentisch-retrospektivischen Rück- wie Einblicken lockende Photographie reklamiert die methodisch aufgeschlossene und in der Sache differenzierte Betrachtung, um das Sichtbare zu rekontextualisieren und in historisch meist schon lange zerfallene Zusammenhänge zurückzubetten. In diesem Sinne stellt sich zum Beispiel die Frage, was die Photographie eines leerstehenden und verfallenden Gebäudes im dahinrottenden Fischereihafen von Grimsby zu »dokumentieren« vermag (s. Kapitel 4.2): Den historischen aber immer noch geradezu trauma19 20 21 22

Vgl. Wiggershaus, Bildhorizonte, S. 46. Krüger, Zur Eigensinnlichkeit der Bilder, S. 10. Matz, Gegen einen naiven Begriff der Dokumentarfotografie, S. 17. Ebd.

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tisch nachwirkenden Niedergang der britischen Fischereiwirtschaft, den Mangel an Willen, aus dem Alten etwas zukunftweisend Neues zu machen, beinahe übersehbare Reliktnutzungen, das schöne bzw. schlechte Wetter, das sich so eindringlich in das Gesicht der kollabierenden Häuser einschreibt, oder der Blick in leere Straßen, die sich in einem vielleicht finalen aber doch undeutlichen Übergang befinden? Dokumentarische Photographien, wie sie tausendfach auch in der wissenschaftlichen Literatur zum Beispiel über innerstädtische Transformationsprozesse zu finden sind, sitzen einer doppelten Geste der Erinnerung auf: zum einen zeigen sie die sichtbaren Spuren des historischen Wandels. Zum anderen bergen sie, über die Dokumentation im engeren Sinne weit hinausgehend, eine Geste der Erinnerung dessen, was sich hinter der Substanz sichtbar gemachter Bauten und Straßen versteckt. So rufen dokumentarische Photographien am Beispiel dahinsiechender Viertel 23 nicht nur vergangene Zeiten, sondern viel mehr noch vergangene Situationen menschlichen Lebens in Erinnerung. Damit fordern sie das Bedenken von Lebensbedeutungen heraus, zum Beispiel die reaktualisierende Reflexion von Atmosphären der Tragik 24 scheiternder städtischer und gesellschaftlicher Entwicklungen. Zum Gegenstand der Erinnerung werden dann weit über nur bauliche Substanzen hinaus historische und aktuelle Beziehungen zu Prozessen des Wandels, die das Leben und Arbeiten der Menschen mehr existenziell als nur ästhetisch verändert haben. Die Grenze der Dokumentation wäre damit in ihrem eigenen Medium überschritten – in der Kommunikation über wertmäßiges Erleben. In zahllosen Fällen ihres Gebrauchs dienen Photographien in den Wissenschaften wie in Situationen des alltäglichen Lebens als Medien der Dokumentation wie der Illustration. Als solche der Dokumentation sollen sie etwas zeigen, belegen oder bekräftigen, als solche der Illustration sind sie einem anderen Medium (meistens einem Text) erläuternd beigegeben. Die einem Text nur angehängte Illustration geht tatsächlich jedoch schon deshalb über das nur ergänzende (illustrative) Hinweisen hinaus, denn sie entfaltet eine ästhetische Eigendynamik in der Wahrnehmung, die sich vom Text löst und sein VerVgl. Kapitel II.2. Der Gegenstand des Tragischen ist nach Max Scheler »die ‹Welt›, in der so etwas möglich ist«; Scheler, Gesammelte Werke, Band 3, S. 157. Das Tragische leitet sich nicht aus den Gegenständen ab, sondern aus ihrem gefühlsmäßigen Erleben anlässlich des Erscheinens im Bild. In dessen Mitte steht die Fassungslosigkeit angesichts einer Welt, die ein solches Scheitern ermöglicht hat.

23 24

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Die dokumentarische Photographie als spezifisches Erinnerungsmedium

stehen lenkt. Die Funktionen, die ein Bild als illustratives oder dokumentarisches Objekt erfüllen kann, geraten leicht ins Schwimmen. Die Überlagerung von Illustration, Dokumentation und anderen Formen der Explikation von Eindrücken werde ich am Beispiel der Bedeutung der Photographie in der Architektur ansprechen. 25 Aby Warburg benutzte Photographien zur Illustration von Vorträgen wie zur Dokumentation von Eindrücken, die er an fernen Orten sammelte. Nach dem Motto »Auf diesem Bild sehen Sie …« 26, hatte er seinem erstmals 1897 in Hamburg vor der Gesellschaft zur Förderung der Amateur-Photographie gehaltenen Vortrag über »eine Reise durch das Gebiet der Pueblo Indianer in Neu-Mexico und Arizona« 27 eine geradezu authentische Glaubwürdigkeit verliehen. Die verwendeten Aufnahmen stammten zum Teil aus eigenen Beständen, andere kamen von Amateuren. In seinem Vortrag hatte er auf ein Problem hingewiesen, das sich bei seinen Aufnahmen immer wieder stellte. »Fast alle Indianer [hatten, JH] vor dem Photographiert-Werden eine abergläubische Scheu« 28. Damit wies er auf ein wirklichkeitserzeugendes Moment seiner Bilder hin, machte also eine Anmerkung, durch die sich der allein illustrative Effekt seiner Aufnahmen aufgehoben hatte. Sie wurden darüber hinaus zu narrativen Medien, die etwas zum Mythos der abgelichteten Ureinwohner sagten. Mit anderen Worten: Er zeigte seinen Zuhörern Bilder, deren Referenzwirklichkeit insofern verzerrt zum Ausdruck kam, als man den abgebildeten Personen ihre Scheu vor der Kamera meistens gar nicht ansehen konnte. Sonst hätte er nicht explizit darauf hinweisen müssen, dass die Menschen auf seinen Bildern im Moment der Aufnahme Angst vor einem Zauber hatten. Das bedeutet aber, dass er seine Aufnahmen nur für den Moment ihres Sichtbar-Werdens auf einer Leinwand in einem narrativ erweiterten Sinne präsentierte. Nur vor dem Hintergrund dessen, was er über das Verhältnis der abgelichteten Menschen zu ihrem Photographiert-Werden sagte, wurden sie zu legitimen Medien der Dokumentation. Zu seinen Photographien gehörte in diesem Rahmen ganz unverzichtbar auch ihre Entstehungsgeschichte samt dem dazugehörigen Inszenierungscharakter. Der war

Vgl. dazu auch Kapitel 13. Warburg, Bilder aus dem Gebiet der Pueblo-Indianer in Nord-Amerika, S. 532. 27 Warburg, Eine Reise durch das Gebiet der Pueblo Indianer in Neu-Mexico und Arizona. 28 Ebd., S. 509. 25 26

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Bildarchive der Erinnerung

aber nicht sichtbar und illustrierte sich folglich nicht »mit« den gezeigten Bildern. Weil die das Bildverstehen letztlich tragenden Ergänzungen am Faden der begleitenden Rede hingen, dürften sie sich über die Dauer der Vortragssituation hinaus schnell ins Vergessen verloren haben. In der Erinnerung zahlloser Zuhörer und Zuschauer werden allein die Bilder von Indianern überdauert haben. Später arbeitet Aby Warburg an seinem evolutionstheoretischen Bildatlas, dem Mnemosyne-Projekt. Bilder fungierten darin »als Medium zur Darstellung einer Kulturgeschichte, die als ›Skala kinetischer Lebensäußerung phobisch-erschütterten Menschentums‹ erscheint.« 29 Sie waren Hilfsmittel illustrativen Zeigens. Indem sie kontextgebunden waren, hingen sie untrennbar mit der fachkundigen Erläuterung zusammen. »Sie schaffen ein Bildgedächtnis, das in Gestalt der Zitate, Wiederaneignungen und Umformungen vergegenwärtigt, aber erst in der je einzelnen Lektüre und durch den Kommentar gedeutet wird.« 30 Zu den Illustrationen seines Werkes sagte Warburg selbst: »Die ›Mnemosyne‹ will in ihrer bildhaften Grundlage, die der beigegebene Atlas in Reproduktionen charakterisiert, zunächst nur ein Inventar sein der antikisierenden Vorprägungen, die auf die Darstellung des bewegten Lebens im Zeitalter der Renaissance nachweislich mitstilbildend einwirkten.« 31 Bemerkenswert ist zum einen, dass er in Photographien von Skulpturen, Zeichnungen, Stichen, Gemälden etc. eine illustrative Kraft des Ausdrucks gesehen hat, die seine sprachlichen Aussagen nicht nur unterstützen, sondern ikonographisch erweitern sollten. Zum anderen verdienen sie Beachtung, weil sie in ihrem Verstehen an die textliche Erläuterung gebunden waren, Bild und Text also im Sinne eines sachangemessenen Verstehens einen Konnex bildeten. Nach einem ähnlichen Prinzip der stringenten Synthese von Text und illustrativer wie dokumentarischer Photographie hatte John Thomson schon sein Projekt Street-Life in London realisiert (s. auch S. 175). Seine Bildserien waren in ihrem gestellten Charakter allerdings im engeren Sinne weniger dokumentarische Aufnahmen, als dass sie einen dokumentarischen Stil repräsentieren (s. oben). Deshalb hatten sie aber keine geringere Wirkungsmacht und Bedeutung, als wären sie »Dokumente« des Zeitgeschehens gewesen. 29 30 31

Treml/Weigel/Ladwig, Mnemosyne, S. 613. Ebd., S. 614. Warburg, Mnemosyne Einleitung, S. 630.

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Die dokumentarische Photographie als spezifisches Erinnerungsmedium

Die produktive Schwellenfunktion der Bilder zeigt sich besonders in solchen Arbeiten, die als Stoffe der Erinnerung kommuniziert wurden, welche sich im Medium der wörtlichen Rede gar nicht mitteilen lassen. Zahlreiche Bildbeispiele von Thomson, die die existenzielle Grenzsituation des nahenden Todes in den Städten des 19. Jahrhunderts (etwa durch Epidemien) zum Thema machten, zeigen die Unverzichtbarkeit illustrativer Elemente für die treffliche Explikation von Situationen. Schon mittelalterliche Stiche und Holzschnitte vermitteln – wie in späteren Jahrhunderten angefertigte Ölgemälde – Eindrücke von der abgründigen Allgegenwart des Todes in den Städten. Mit den Mitteln der Sprache hätten sie nur bedingt – und auf ganz andere Weise – expliziert werden können. Dabei gelten diese Darstellungen in aller Regel nicht als Dokumentationen, auch dann nicht, wenn sie Szenen aus dem tatsächlichen Leben zeigen. Aber es waren hauptsächlich imaginäre Gemälde wie Die Pest von Arnold Böcklin (1898), die aus historischer Distanz gegenüber einer Zeit, in der die Pest nur noch in der kollektiven Erinnerung ein höchst lebendiges Menetekel war, den latent drohenden Tod zu verwinden suchten. Bildliche Darstellungen wie diese, die es in zahllosen Variationen und immersiver Mächtigkeit noch gibt, leisten eine wichtige Aufgabe der Speicherung von affektivem Wissen. Zum Gegenstand bildlicher Dokumentation gehören nicht nur sachbezogene, gegenstandslogische Inhalte, sondern auch emotionale Beziehungen zu dem, was so oder so in Bildern zum Vorschein kommt. Insofern können auch dokumentarische Bildmedien – je nach der Art ihres Gegenstandes – gefühlsmäßige Beziehungen dokumentieren oder (je nach Verwendungskontext) illustrieren. Es dürfte sogar ganz entscheidend den kulturhistorischen Wert »nicht-sachlicher« Bilder ausmachen, dass sie der Erinnerung weit über Ansichten von faktisch ehemals Seiendem hinaus mimetische Brücken pathischen Nachspüren-Könnens anbieten. Es sind letztlich diese Gemälde, Stiche, Zeichnungen und andere bildliche Darstellungen, die lange vor der Photographie für die Erinnerung archivierten, was deshalb in der Kultur der Nachgeborenen fortleben konnte. 32

32

Vgl. Vashold, Die Pest. Ende eines Mythos.

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12. Zwischen Verführung und Gabe

Im Zeitgeist der gesellschaftskritischen Wertorientierung der 1970er Jahre wurde die Photographie zum rhetorischen Gegenstand radikaler Verrisse. Der Stil von Susan Sontag ist repräsentativ für andere »linke« Kritiken, die sich allerdings mehrheitlich auf lebensweltliche Nutzungspraktiken konzentrierten. Vor diesem Hintergrund war es allzu leicht, den naiven Laien der Lächerlichkeit preiszugeben. Der berüchtigte »Knipser« ließ sich umstandslos an den Pranger selbst verschuldeter Unaufgeklärtheit stellen. Gleichsam frontal bot er sich für die Projektion eines medienspezifischen Versagens der Photographie an. Aus der erhabenen Position primär linker Intellektueller war er aber doch nur das Systemopfer einer geradezu peinlichen Leichtgläubigkeit, wonach der durchschnittliche »Knipser« an die Fassbarkeit der Welt in Bildern glaubte. Die Einsicht, dass der lebensweltliche Blick den heimlich arbeitenden Dispositiven ästhetizistischer Veroberflächlichung unterworfen war, schien für subkulturell inaugurierte Kritiker reserviert gewesen zu sein. Der sogenannte ›einfache Mensch‹ wurde stumm als der Erkenntnis unfähig vorausgesetzt, dass »eine kapitalistische Gesellschaft […] eine Kultur [braucht], die auf Bildern basiert. Sie muß unentwegt Unterhaltung bieten, um zum Kauf anzuregen« 1. Zum Problem wird solche Kritik nicht in der Retrospektive; aber dann, wenn sie noch heute auf die Praxis der Photographie angewendet wird. In der Gegenwart wirken die Dispositive einer ästhetizistisch hochgetrimmten Gesellschaft zwar fort. Aber die Kausalitäten haben sich verkompliziert. Die die kapitalistischen Subsysteme antreibenden psychosozialen Kräfte sind tief in ubiquitäre soziale Sinnwelten eingesickert und in ihrer Herkunft vernebelt. Eine zumindest in den westlichen Gesellschaften ausgebreitete narzisstische Unterströmung personalen Selbst-Seins bringt die antreibenden Interessen von Märkten und politischen Systemen beinahe ganz zum Verschwinden. 1

Sontag, Über Fotografie, S. 170.

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Das photographische Bild als dissuasives Medium

Vor diesem Hintergrund versteht sich von selbst, dass die Laienphotographie einerseits von einem geradezu unersättlichen Verschönerungsbegehren angetrieben wird, andererseits (bzw. komplementär dazu) von dem Motiv, alles Negative entweder zu neutralisieren oder spektakelhaft zu inszenieren. Im Reflexionsvermögen der »kleinen Leuten« wollte man weder ein ästhetisches, geschweige denn ein politisches Interesse am Hintergründigen für denkbar halten. Und so scheute sich noch nicht einmal Pierre Bourdieu, das heute Unaussprechliche zu sagen: »Zweifellos entspricht die Photographie (insbesondere in Farbe) den ästhetischen Erwartungen der unteren Schichten.« 2

12.1 Das photographische Bild als dissuasives Medium Die medientheoretischen Erträge der Demaskierung unaufgeklärter Praktiken im Gebrauch der Kamera hielten sich zu den Hochzeiten der gesellschaftskritischen Reflexion der Photographie in Grenzen. Eine theoretisch ungleich konsequentere, tiefgreifendere und auf die Hauptmerkmale gesellschaftlicher Widersprüche bezogene Kritik an den Massenmedien (und nicht nur der Photographie) bot schon in den 1940er Jahren die »Dialektik der Aufklärung« von Theodor W. Adorno und Max Horkheimer. Die Kulturindustrie kam darin als Filter in den Blick, deren Funktion darin bestand, die systembedingt enttäuschungs- und entbehrungsreichen Seiten des Lebens im Getriebe einer Massengesellschaft symbolisch zu reinigen. 3 Der überaus leicht handhabbare Photoapparat bot sich als billiges und zugleich Vergnügen bereitendes Instrument an, die Permanenz des gefühlten Mangels mit schönen Bildern zumindest für den flüchtigen Augenblick etwas erträglicher zu machen. Herbert Marcuse erweiterte die Analysen auf der theoretischen Schwelle zwischen Philosophie und Psychoanalyse. 4 Stets gab und gibt sich Bildgebung als heimlicher Akt der Verführung zu verstehen. So geschieht sie zur Optimierung hintergründig wirkender Systeme oder im eigenen Namen derer, die sich der Kamera als Maschine ästhetischer Weltaneignung und Selbstspiegelung bedienen. 2 3 4

Bourdieu, Der barbarische Geschmack, S. 182. Vgl. Adorno/Horkheimer, Kulturindustrie, S. 113. Vgl. Marcuse, Der eindimensionale Mensch.

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Zwischen Verführung und Gabe

Neben der privaten Praxis der Photographie waren und sind es ihre institutionalisierten Nutzungs- und Anwendungsformen, die in einem ihrer Hauptwirkungskalküle dem Ziel der Verführung folgen – in der Werbung wie in der (partei-)politischen Propaganda. In der redaktionellen Arbeit von Fernsehen und Printmedien steigt das Medium zum dissuasiven Dispositiv per excellence auf. In ihrem massenmedialen Gebrauch entgleitet die Photographie beinahe jedem Aufklärungsimpuls und trägt massiv zur gesellschaftlich schnell voranschreitenden Verdummung bei. Aufklärungsdefizite drücken sich kaum weniger in einer ungebremsten Ästhetisierungswut aus, die alles ins schöne Bild zerrt, was sich dem Blick bietet – sofern es nicht aus Mangel an Verhübschungs-Potential der Ignoranz zum Opfer fällt. Die Smartphone-basierte Alltagsphotographie sichert in ihrer ubiquitären Ausbreitung und ihrem technisch simplen Gebrauch nicht nur der Veroberflächlichung der Wahrnehmung eine breite Wirkungsfront; im Spiegel nicht endender Kaskaden sogenannter Selfies stärkt sie schließlich den Narzissmus als ganz selbstverständliches Spiegelungsbedürfnis breiter Massen. Das Medium der Photographie bietet sich wie kaum eine andere technische Erfindung zur Verführung und zur Selbstinszenierung an. »Das Proletariat ohne Macht über das Wort, hat sich das Bild erfunden, damit man miteinander reden kann. Und das Bild hat sich als etwas viel Schnelleres als das Wort erwiesen.« 5 Zur Schnelligkeit gesellt sich die Flüchtigkeit ebenso hinzu wie die Anfälligkeit fürs Klischee, das Vorurteil und das Unbedachte. Im Fokus ihrer Kritik der Gegenaufklärung steht aber nicht nur die Alltagsphotographie; auf andere Weise laufen auch die auf die Massen zielenden professionell emittierten Bilderfluten nicht auf Bildung, sondern Entbildung hinaus. Entgleisungen in Verführung und Entfremdung illustrieren sich gleichsam von selbst. Weit produktiver als die Fortführung der medienkritischen Dekonstruktion der Photographie erscheint die Suche nach erkenntnistheoretisch bereichernden Optionen ihrer Nutzung. Im Rahmen einer ästhetischen Praxis als methodologisches Mittel der Schärfung der Wahrnehmung rücken dann unter anderem die folgenden Fragen in den Blick: Was stellt die bildgebende Geste des Photographierens zur Verfügung, das der Selbstbesinnung Nahrung geben kann? Welche Potentiale zur Steigerung der Reflexion von Welt- wie Selbstver5

Meier, Unsere rasante Bildkultur macht Angst.

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Das photographische Bild als Gabe

hältnissen hält die Produktion von Bildern bereit? Die Photographie käme schließlich als eine Gabe in den Blick und nicht mehr (allein) als Ausdruck eines alles verzehrenden, konsumistischen Habitus. Dann erwiese sich noch die technisch so »anspruchslos« handhabbare FotoApplikation des Smartphones als vielversprechendes Medium der Kritik.

12.2 Das photographische Bild als Gabe Schon die alltagssprachlichen Worte Gabe und Geschenk weisen darauf hin, dass nicht alles, was um und mit uns existiert, Produkt berechnender Akteure ist. Es sind aber nicht nur Menschen, die uns aktiv und absichtsvoll etwas zeigen und geben. Es gibt schon etwas, das sich gleichsam selbst gibt, indem es erscheint und sodann da ist. Die etymologische Vielfalt des Wortes »geben« macht darauf aufmerksam, dass sich im Geben keine Kaskade der Wechselseitigkeit von »Geben und Nehmen« in Gang setzten muss. Zwar hat ein Geben lebenspraktisch oft ein Nehmen zur Folge; jedoch ist nicht jedes Geben a priori ausgleichsbedürftig. Das zeigt schon der Begriff der »Begabung« als das gegebene Talent. 6 Wer begabt ist, verfügt über Fähigkeiten, die nicht ausgleichend durch eine »Gegen«-Leistung wieder ins Lot gebracht werden müssen. Wie die Be-gabung gibt es Gaben, die auf gar keine persönliche Quelle zurückgeführt werden könnten, so dass sich auch kein Adressat für eine Gegengabe ausfindig machen ließe. Auch dem Geschenk folgt als spezieller Form der Gabe nicht schon selbstverständlich das wertkompensierende Nehmen eines Gegengeschenks. Bereits das einfache Geben, das sich auf nichts als die Weitergabe von etwas an einen Dritten beschränkt, weist auf diese Offenheit hin. Im alltäglichen Leben ist es von größter Bedeutung, dass Menschen anderen oder sich etwas zu verstehen geben, ohne die Wertkompensation eines »entgegenkommenden« Verstehens zu erwarten. Es gibt im sozialen Leben (und dem zahlloser Säugetiere) Entäußerungen, die einem anderen Individuum zugute kommen. Dies erfährt der Mensch nicht zuletzt im Leben mit einem Haustier – noch im Goldfisch, der das häusliche Aquarium auf immer gleichen Bahnen stumm und unaufhörlich durchkreuzt. 6

Grimm/Grimm, Deutsches Wörterbuch, Band 4, Sp. 1115.

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Zwischen Verführung und Gabe

Die Gabe ist für den sozialen, aber unverbindlichen Zusammenhalt der Gesellschaft grundlegend. Sie schafft Anerkennung, ohne dieser auf dem Fuße die Abrechnung folgen zu lassen. Sie ist von fundamentaler Bedeutung nicht nur für das menschliche In-derWelt-Sein und das Sein mit anderen, sondern auch für den Austausch mit den Arten der Natur. Die Menschen treten den Dingen in einer größeren Wertschätzung entgegen, wenn sie ihre Gegebenheit als etwas betrachten, das willkommene und schöne Eindrücke vermittelt und Anblicke gibt, worauf wir mit unserer Aufmerksamkeit gern antworten – nicht weil diese »Antwort« einen Gegenwert darstellen würde, sondern weil sie die Bereitschaft zum Ausdruck bringt, den Umgang mit dem Selbstverständlichsten würdigend zu bedenken. Auf dem Hintergrund ihrer soziologischen und kulturwissenschaftlichen Relevanz wird die Gabe oft in einer Nähe zum Tausch gesehen. Damit gerät sie unter die alles Soziale erdrückende Logik des Kapitalismus und wird ins Schuldenkonto noch ausgleichsbedürftiger »Leistungen« eingerechnet. Der Mythos der Gabe ist aber frei vom Prinzip der Herstellung von Gleichwertigkeit. Eine Gabe begründet keine Verpflichtung 7, wie sie kein tilgungsbedürftiger Kredit ist. Das berührt alle denkbaren Beziehungsqualitäten, die sich mit ihr verbinden. Sie ist nicht nur von jeder sozialen Bipolarität entbunden. Sie ist auch aus der zwischenmenschlichen und dialogischen Kommunikation entkoppelt, denn schon im Erscheinen toter Dinge drückt sich ein Geben aus, das in purer Präsenz aufgeht. Dieter Mersch betrachtet vor diesem Hintergrund schon den Blick als Gabe. In der charakteristischen Logik des Bildlichen sieht er die Manifestation einer »Ordnung von Gesten, Blicken und Gaben« 8. Im Sichtbarmachen wird eine Sicht hervorgebracht 9, die zu den grundlegendsten Gesten der Kommunikation gehört, sowohl zwischen Menschen, zwischen Tieren wie zwischen Mensch und Tier. Diese spezielle Art der Gabe zeigt zugleich, dass es sich bei ihr nicht von vornherein um etwas subjektiv Bereicherndes handelt, das wie ein Geschenk erfreuen muss. Der von akuter Angriffslust kündende Blick der Raubkatze hat keine Erquickung zur Folge, sondern den Rückzug ins Sichere. Der stechende Blick des Widersachers vermittelt kein weitendes Gefühl entspannter Gelassenheit, sondern das einer 7 8 9

Vgl. i. d. S. auch Köpping, »Gabe«. Mersch, Die Zerzeigung, S. 16. Vgl. ebd., S. 17.

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Das photographische Bild als Gabe

eindringlichen Bedrohung. Indem sich die Gabe in ihrem Wertempfinden gabelt, provoziert sich die Frage nach dem Gabe-Charakter der photographischen Bilder, erscheinen diese einem Betrachter doch als etwas, das sich in ganz und gar offener Weise zu sehen gibt. Ein Bild kann angenehme, erfrischende wie erfreuliche Erwartungen stillen; es kann aber auch zur nackten Enttäuschung geraten, den Zweifel an allem entzünden, was im Leben als sicher galt und das So-Sein ins Bodenlose reißen. Was hat es also mit dem Sichtbar-Werden von etwas auf sich, das sich der Wahrnehmung präsentiert? Bernhard Waldenfels differenziert zwischen einem »Sichtbarwerden in der Wahrnehmung und dem Sichtbarmachen in der bildenden Kunst« 10. Die angesprochene Bipolarität macht darauf aufmerksam, dass Photographien in doppelter Weise gegeben und für eine gebrauchsgebundene Wirkung hergestellt sind (als image wie als picture). Sobald sie präsentiert bzw. dem Blick verfügbar sind, werden sie auch sichtbar. Damit beginnt ein Wechselspiel des Sozialen, in dem es neben Akteuren, die alles mögliche machen und veranlassen, auch Patheure gibt, die von all dem berührt werden, ohne dass sie dabei selbst etwas tun müssten. Bilder, die mit ihrem Erscheinen einem potentiellen Betrachter gegeben sind, tauchen zunächst in den unterschiedlichen »Aggregatzuständen« in der Wahrnehmung auf: als körperlos zirkulierende Bilder, als visuelle Bilder, als ikonische Zeichen 11, als Visiotype 12 oder – im phänomenologischen Fokus – als leiblich affizierende Stoffe beglückender wie erfrischender Berührung, aber eben auch als Medien maximal abgründigen Erschreckens. Was sich bei Hermann Schmitz im Modus leiblicher Kommunikation mit Gefühlen der Weite und der Enge sowie wertspezifischen Bedeutungen verbindet, steht bei Bernhard Waldenfels, vor dem Hintergrund eines anthropologisch fundierten Bild-Begriffs, in einem wertneutralen Rahmen äußerer und innerer Bilder. 13 Mit der Polarität bzw. Dualität von Innen und Außen führt er eine Wechselseitigkeit ein, die eine transformative Beziehung impliziert. Danach gibt es äußere Bilder, die zu inneren werden können, indem sie auf dem Weg einer Übertragung andere werden – nicht nur in ihrem Aggregatzustand, sondern auch nach Art und Ge10 11 12 13

Waldenfels, Ordnungen des Sichtbaren, S. 112. Vgl. auch Belting, Medium – Bild – Körper, S. 235. Pörksen, Weltmarkt der Bilder. Vgl. Belting, Medium – Bild – Körper, S. 236.

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Zwischen Verführung und Gabe

wicht ihrer Bedeutung. Jede Übertragung von etwas auf einem Bildträger Sichtbarem in eine Vorstellungswelt ist von Verzeichnungen geprägt. Diese sind Produkt hoch komplexer wie dynamischer Transformationen. Es gibt keinen linearen, nicht-gebrochenen »Transport« eines »äußeren« Bildes in ein »inneres« Bild. Es folgt gewissermaßen aus der Macht einer Bild-Gabe, dass sich in der Rezeption bzw. ästhetischen Aneignung ein Wandel ereignet, der mit dem Bildsujet ebenso Bedeutungen und somit den Kern des Gegebenen selbst betrifft. Schmitz verzichtet in seiner Philosophie auf jede Innerlichkeitsmetapher, weil er vom Gefühl als einem Befinden ausgeht, das in keiner Innerlichkeit verborgen, sondern spürbar und expressis verbis aussagbar ist. Dieses Verständnis hat zur Folge, dass sich im Fokus der Neuen Phänomenologie gar nicht erst die Frage nach der Gestalt innerer Bilder stellt, sondern danach, wie ein gesellschaftlich zirkulierendes Bild das subjektive Erleben und Befinden berührt – zwischen behagender Weite und einschnürender Enge. Das zieht die Frage nach sich, welche Prozesse des Bedenkens vom gefühlsmäßigen GewahrWerden eines Bildes in Gang gesetzt werden können. Das sich im Prinzip mit jedem Erscheinen ausdrückende Geben versteht Heinrich Barth als »ein phänomenal qualifiziertes Sein« 14. Die Gegebenheit einer Erscheinung ist für ihn Wirklichkeit 15, weil sich im Gegebenen eine Anschauung vermittelt, die durch keine sprachliche Explikation eingeholt werden kann 16 (s. dazu auch Kapitel 6). Die transzendentale Potenz von anschaulich Gegebenem liegt darin, dass im Auftauchen von Gegebenheiten in der Wahrnehmung Gegenwart vorscheint. Und diese »gewinnt ihre Bedeutung nicht in einer Bezogenheit auf das ›Was‹ der Erscheinung, sondern auf das ›Daß‹ des Erscheinens.« 17 So gelangt – komplementär zum Sehen von Dingen und Stoffen – das prozesshafte Geschehen eines Zur-Erscheinung-Kommens in die Aufmerksamkeit. Im Unterschied zum Sujet eines Bildes kommt es hier auf die Art und Weise eines Erscheinens sowie die Ordnung der Bedingungen an, unter denen dieses einen Betrachter erreicht, ihm gegeben ist und sich in die ereignishafte Vorgängigkeit seines Lebens verwickelt. Was ein Erscheinen zu etwas Wirklichem (im Sinne eines Wirkenden) macht, ist der Modus, 14 15 16 17

Barth, Philosophie der Erscheinung, Erster Teil, S. 11. Ebd., S. 125. Vgl. Barth, Philosophie der Erscheinung, Zweiter Teil, S. 434. Ebd., S. 632 f.

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Das photographische Bild als Gabe

in dem es das Subjekt berührt. Was in einem Bild erscheint, berührt in der Art und Weise, wie es in ganz spezifischen Bedeutungsgefügen erscheint. Von Vielem mag sich das Subjekt nicht berühren lassen, so dass es dem Gesehenen gegenüber »kalt« bleibt. Von Vielem wird es jedoch angesprochen, irritiert, in Schrecken oder einen emotionalen Aufruhr versetzt. Vor allem das Affizierende ist nichts offen zutage Liegendes, sondern etwas Verdecktes. »Das liegt daran, dass jeder Schein als solcher sich mit einer Schattenzone umgibt. Das phänomenologisch Gegebene schließt Implikationen ein, deren Sinn jedes Mal darin besteht, auf etwas zu verweisen, das nicht da ist.« 18 Der Mensch verfügt über die Be-gabung, nicht nur oberflächlich, sondern in Tiefendimensionen wahrzunehmen und zu denken. Sein Mit-Sein in herumwirklichen Umgebungen hat einen korresponsiven, aktiven Charakter. In welcher Weite und Tiefe diese Begabung die reflexive Wahrnehmung induziert, ist damit zunächst nicht gesagt. Reflexion kann schnell und flüchtig, aber auch andauernd und intensiv sein. Reflexion, die das Verdeckte und Unbedachte mit Erfolg zu durchqueren beginnt, verlangt ein nachspürendes Denken, das indes der Übung erst noch bedürfte. Voraussetzung gelingend differenzierender Aufmerksamkeit ist eine Schärfung der Sinne wie ihr ausgeprägt sinnorientierter Gebrauch. Was auf ein Individuum einwirkt, als Eindruck berührt und etwas zu einem Begegnenden macht, lässt sich als aisthetische Gabe begreifen, die die Gegengabe der Achtsamkeit nahelegt – einer eher mehr als weniger ausgeprägten Aufmerksamkeit und Resonanzfähigkeit. »Die Anökonomie der Gabe äußert sich so insbesondere in der Fruchtbarkeit, die gibt, ohne zurückzuerwarten.« 19 Fruchtbar kann in diesem Sinne das sich der Anschauung gebende Bild sein, insofern es sich als Ressource der Bedenklichkeit anbietet, also zur Übung des Bedenkens herausfordert. Solches Bedenken ist keine Gegengabe; es geschieht, ohne herausgefordert worden zu sein. Die ins Offene gehende Gabe ist insofern selbstreferenziell, als sich der Mensch im Nehmen des Gegebenen zu verstehen gibt, dass er seiner Welt Aufmerksamkeit ebenso schuldig ist wie ihr kritisches Bedenken. Dies umso mehr einer Welt, die er im rabiaten Vollzug der Zivilisationsgeschichte in allen Dimensionen seinen Zwecken unterworfen hat. Achtsamkeit, die als Gegengabe auf ein Erscheinen folgt, 18 19

Henry, Das Wesen des In-Erscheinung-Tretens, S. 82. Hoffmann/Link-Wieczorek/Mandry, Einleitung, S. 20.

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Zwischen Verführung und Gabe

bringt eine Haltung zu um- und mitweltlich Gegebenem zur Geltung und damit die Öffnung einer pathisch induzierten Selbstreflexion, in deren Licht alle Weltbezüge fragwürdig werden. Im Imperativ Heideggers, das Denken zu üben, liegt das Versprechen einer Erhellung. 20 In besonderer Weise denkwürdig ist das immer schon Gedachte und gedanklich durchdrungen Geglaubte – was sich leicht und jedermann unmittelbar zu verstehen zu geben scheint. Es ist das Unbedachte, das sich hinter dem Schein des Selbstverständlichsten verbirgt. Das sich damit reklamierende Denken stellt sich erkenntnistheoretisch jedoch als eine geradezu überfordernde Herausforderung dar. Schon deshalb mündet sie in die nie endende Übung. Die Gabe (des Bildes) fordert zur Schubumkehr aller Lehren des Zeitgeistes heraus, denn: »Für die Selbstverständlichkeiten des gesunden Menschenverstandes aber bleibt das Unbedachte eines Denkens lediglich das Unverständliche.« 21 Die Übung im Umgang mit der Gabe des Bildes stellt sich als eine Anstrengung, die gegen die Macht curricular ins Werk gesetzter und bildungsinstitutionell vollzogener Unbildung antritt. Dies nicht um des Denkens willen, sondern mit dem Ziel der Erweiterung verantwortlicher Selbstverfügung. Schon im Innehalten und Bedenken dessen, was Menschen mit anderen tun, wenn sie mit ihnen sind und von ihnen nehmen, kommt es auf zwei Arten an, die uns den Weg zum erweiterten Bedenken unserer Selbst wie unserer Mitwelt bahnen. Zum einen ist es das Neue selbst, was zu sehen bekommt, wer die eigene Wahrnehmung kultivierend verfeinert. Zum anderen ist es aber auch die Art und Weise, wie wir unser Wahrnehmen üben, die zur Revision des Gewohnten führt. Deshalb macht Bernhard Waldenfels den Unterschied »zwischen der Möglichkeit, Neues zu sehen, und der Möglichkeit, auf neuartige Weise zu sehen.« 22 Dabei wird sich das eine und das andere nicht mit letzter Konsequenz als Verschiedenes, geschweige denn Getrenntes behaupten. Wer auf neuartige Weise zu sehen vermag, der sieht auch insofern Neues, als er wahrnimmt, das er vorher nicht kannte.

20 21 22

Vgl. Heidegger, Was heisst Denken?, S. 10. Ebd., S. 72. Waldenfels, Ordnungen des Sichtbaren, S. 114.

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13. Die Stadt und die Photographie

Städte sind von ihren Bildern nicht zu trennen. Sie sollen zeigen, wie eine Stadt aussieht, wenn auch mehr an ihren repräsentationsträchtigen als an ihren dunklen Orten. Sie sind wichtige Medien der Produktion von Vorstellungen, die sich die Menschen von einer Stadt und ihren Quartieren machen. Deshalb sind sie nicht selten auch politisch umkämpft, denn sie haben nicht nur einen gewissen Einfluss auf das gute oder schlechte Image einer Stadt sowie die Erwartungen und Befürchtungen, die sich mit dem Wohnen und Arbeiten in bestimmten Vierteln verbinden. Städte präsentieren sich gerne im Licht signifikanter Bauwerke. Sie werden aber auch unabhängig von stadtpolitisch forcierten Architektur-Visiotypen an ihren eher grauen Ecken identifiziert. Zumindest offiziell von Kommunen für das Stadtmarketing freigegebene Bilder haben hierauf keinen Einfluss. Es sind nicht nur fremde Städte, deren Vorstellung von Photographien geprägt wird. Mit der sich aufblähenden Macht der Bilder ist es zunehmend auch die »eigene« Stadt, deren bildliche Repräsentation immer mehr von kulturell zirkulierenden Photographien besorgt wird. Aber Straßen, Quartiere und Bauten bieten sich nicht als gleichwertige Resonanzmedien für die imagefördernde Verbildlichung einer Stadt an. Die emotional abweisenden Darstellungen halbdunkler Winkel halten den bildhygienischen Standards reputationsverheißender Medien nicht im Mindesten stand. Der Markt der Bilder ist kurzlebig und überhitzt, der Konkurrenzdruck groß. Affektiv halbwegs nachhaltig beeindrucken können vor allem maximal ästhetisierte Aufnahmen. Aber die Schatten des Schön-Gemachten sind lang und sie machen das Mittelmäßige gewöhnlich. Das Banale, »Infra-Gewöhnliche« und Durchschnittliche gilt ebenso wenig als abbildungstauglich wie das Dystopische, Dreckige und Kaputte. Der kulturindustriell am Ekstatischen und Exaltierten gedrillte Massengeschmack reagiert weitgehend anästhesiert auf Ansichten des Grauen und Trüben. Es steht für die Langeweile, nicht für das Denkwürdige. Außerhalb der freien Künste fallen Bilder ohne ekstatisch 201 https://doi.org/10.5771/9783495823750 .

Die Stadt und die Photographie

packende Erregungspotentiale durch die Relevanzraster einer ubiquitären Ökonomie der Aufmerksamkeit. Im Unterschied zum photographischen Programm der Hyperästhetisierung international vorzeigbarer Bauten und Orte der Stadt sollen im phänomenologischen Fokus die erkenntnistheoretischen Potentiale der Stadt- und Architektur-Photographie als bedeutungsgenerierende Kommunikationsmedien ausgelotet werden. Die Reflexion des Bildes mündet damit in ein philosophisches Projekt des Nachdenkens über die Stadt, ihre Lebensrhythmen wie ihre Bauten.

13.1 Die Photographie und die Stadt – die Stadt und ihre Photographie Stadtphotographie stellt die urbane Welt der Bauten in ihren Mittelpunkt und nicht segmentierte Szenen »reiner« Architektur. Das Haus, die Fabrik und die Kirche sollen in Bildern der Stadtphotographie daher auch zur »Anschauung« 1 kommen und in einem visualistisch eingeschränkten Sinne nicht aus ihrem räumlichen wie gelebten Kontext nur sichtbar werden. Architekturphotographie im engeren Sinne geht im Unterschied dazu anders vor. Sie schält das Gebaute aus seinem städtischen Umfeld heraus und thematisiert nicht zwangsläufig auch weiterreichende urbanistische Fragen. Die Perspektive der Architekturphotographie soll an dieser Stelle zugunsten einiger Überlegungen zur Stadtphotographie zunächst zurückgestellt werden. Diese werden am Beispiel der Arbeit New York, Thames Street 22 (1938) von Berenice Abbott illustriert (Abb. 4). Abbott setzt in ihrer Aufnahme ebenso wenig ein einzelnes Haus ins Bild wie einzelne Dinge (Feuertreppen, Straßenlaternen oder Caféhaus-Schilder), auch wenn all dies auf ihrer Photographie zu sehen ist. Vielmehr bringt sie eine – durch das langgestreckte Hochformat perspektivisch Anschauung überschreitet in ihrem geisteswissenschaftlichen Verständnis die visualistischen Grenzen des Sehens. Alle Erkenntnis muss – so Bollnow – bei der Anschauung beginnen, um von da zu den Begriffen aufzusteigen. Anschauung galt gerade in der Geschichte der Pädagogik lange Zeit, zum Beispiel bei Pestalozzi, als Fundament aller Erkenntnis; vgl. Bollnow, Philosophie der Erkenntnis, S. 70. Was später Rudolf zur Lippe als »progressive Regression der Wahrnehmung« fordern wird, war in einem allgemeinen Verständnis schon Bollnows Anliegen: der produktive Rückgang hinter die Routinen eingeschliffener Wahrnehmungsweisen und die von Begriffen (vor)gelernten Wahrnehmungserwartungen.

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Die Photographie und die Stadt – die Stadt und ihre Photographie

Abb. 4: New York, Thames Street 22 (1938)

verzerrte – städtische Szene zur Anschauung. Trotzdem photographiert sie Architektur. Dächte man sich alles Architektonische aus ihrem Bild gleichsam weg, bliebe ein leerer Himmel. Mit anderen Worten: Ihre Veranschaulichungsmethode ist durch einen Situationsbezug gekennzeichnet, in dessen Bedeutungsmitte die urbane Welt der gebauten Stadt steht. Das setzt einen bewussten Stil der 203 https://doi.org/10.5771/9783495823750 .

Die Stadt und die Photographie

Bildgebung voraus, der auf die Stadt mit ihren Bauten bezogen ist und weniger auf die Bauten einer Stadt. Sie widmet sich dem urbanen Leben, wie es sich tagtäglich facettenreich ereignet – in Nebenstraßen, Vorgärten, an Bus-Haltestellen und U-Bahn-Stationen, in den Kaufhäusern und nicht zuletzt in den turbulenten oder langweiligen Stadtstraßen. In besonderer Weise gelingt es den der Kunst zuzurechnenden Serien, urbane Szenen so ins Bild zu setzen, dass sie dank einer gewissen ästhetischen Anziehungskraft das Denken herausfordern. Anwendungsbezogene professionelle Photographie setzt oft andere Akzente, die der Syntax ganz spezifischer ästhetischer Schaukriterien folgen. Sie setzen auf Breitenwirkung und instrumentalisieren die Stadt als Kulisse. So praktizieren es die Akteure der Stadtwerbung und – ganz anders – die Redakteure der Lifestyle- und Modehefte. Sie suchen das Spektakuläre, noch wenn sie etwas eigentlich Banales in Bildern präsentieren. Für das Modemagazin Vogue arrangierte der amerikanische Modephotograph Clifford Coffin schon 1947 eine exaltierte Inszenierung mit dem seinerzeit bekannten Model Wenda Rogerson im Festkleid mit langer Schleppe vor der Wendeltreppe einer im Zweiten Weltkrieg zerbombten Villa. Das Bild steht beispielhaft für eine Ästhetisierungsmethode, in deren Mitte die instrumentelle Suche nach dem affizierenden Effekt steht. Weder Architektur noch Stadt spielen hier eine übers Dekorative und Kontrastierende hinausgehende Rolle. 2 Jedwede Stadt- und Architekturphotographie öffnet als spezifisch gebrauchswertorientiertes Verfahren Perspektiven einer phänomenologischen Ausdeutung spezifischer Gesten des Zeigens. Das Ziel kritisch-phänomenologischer Herangehensweisen konzentriert sich darauf, die Systemlogik einschlägiger ästhetischer Strategien in den Blick zu nehmen. Das schließt die Reflexion der Funktion kulturindustrieller Systeme der Bilderzeugung ein. 3 Das mit diesem Buch verfolgte Ziel liegt in der Suche nach produktiven Wegen der Aneignung des Mediums der Photographie (in der Bildgebung wie der Bildnahme) als Organ des Ausdrucks von Situationen wie deren verbesserten Verstehens. (Stadt-)Bilder können eine Stadt denkwürdig machen. Hier sollen sie als Ermöglichungsmedien der Anbahnung neuer Sicht- und 2 3

Vgl. dazu auch Hasse, Der Leib der Stadt, S. 154. Vgl. Böhme, Zur Kritik der ästhetischen Ökonomie.

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Die Photographie und die Stadt – die Stadt und ihre Photographie

Denkweisen diskutiert werden. Photographie ist dann kein Mittel der Dissuasion und subkutanen Affizierung. Vielmehr stellt sie sich als apparativ vermitteltes Medium eines mimetischen Projektes dar, das sich in die Oszillogramme des Urbanen verwickelt. 4 Die Werke großer Photographen illustrieren eindrucksvoll, in welcher Weise Photographien unter dem Vorzeichen einer seismographischen Teilhabe am rhythmischen Treiben der Stadt performativ-urbane Ströme zur Anschauung bringen können, um sie dem selbst- wie weltbezogenen Bedenken anzubieten. Zu den bekanntesten Repräsentanten einer in diesem Sinne für die Rhythmen der Stadt sensibilisierten Photographie gehören unter anderem John Thomson (1837–1921), Eugène Atget (1857–1927), Alfred Stieglitz (1864–1946), Jacob August Riis (1849–1914), Heinrich Zille (1858–1929), Alvon Langdon Corbun (1882–1966), Charles Sheeler (1883–1965), Lewis Hine (1874–1940), Albert Renger-Patzsch (1897–1966), Berenice Abbott (1898–1991), André Kertész (1894–1985) und – mit ausgeprägt revolutionspolitischem Programm in der Frühphase der UdSSR – Alexander Michailowitsch Rodtschenko (1891–1956). In jüngerer Zeit stehen unter anderem Bernd Becher (1931–2007) und Hilla Becher (1934–2015) sowie Thomas Struth (* 1954) für einen ausgeprägten Stil in der (Architektur)Photographie der Stadt. 5 »Die Stadt und die Photographie gehören zusammen.« 6 In der ihr eigenen »Stillstellung der Abwesenheit« 7 führt die Photographie Standpunkte vor – mehr in einem wahrnehmungstheoretischen als nur veranschaulichenden Sinne. Einer dieser Standpunkte erfasst den produktiven Wandel der Stadt: »Wenn es eine Übereinstimmung zwischen der Stadt und der Photographie gibt, dann wird ihre Intensität durch die Baustelle gesteigert. Die Baustelle verstärkt tatsächlich das Stadtsein der Stadt, sie versetzt dieses Stadtsein in gewisser Weise in eine Exaltation, so wie sie ihre Gestaltung in Bewegung versetzt.« 8

Aber in der (metaphorischen) Baustelle kommt nur ein Habitus zur Geltung, in dem die Stadt (methodologisch) ins Bild rückt. Die Photographie hat sich ja nicht nur mit der Geschichte der prosperierenden 4 5 6 7 8

Vgl. Busch, Fotografie/fotografisch, S. 521. Im Einzelnen vgl. dazu auch Hasse, Der Leib der Stadt, Kapitel 4.4. Nancy, Jenseits der Stadt, S. 96. Ebd., S. 97. Ebd., S. 100.

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Die Stadt und die Photographie

Stadt, der in einem produktiven Aufbau befindlichen urbanen Welt befasst, sondern ebenso mit ihrer an Problemen überbordenden dystopischen Wirklichkeit. John Thomson war in der Aufnahme seiner Photographien, die er Ende des 19. Jahrhunderts in den Straßen von London machte, regelrecht davon angetrieben, Grenzsituationen (geradezu im Jaspers’schen Sinne) anschaulich zu machen, um mit ihnen die sozialpolitische Überwindung der ärgsten Problemlagen der Menschen anzustoßen, die in prekären Verhältnissen lebten (s. auch Kapitel 5). Neben der Baustelle ist die Brache – in der Tatsächlichkeit ihrer atmosphärischen Rohheit und verlassenen Leere wie in ihrer metaphorischen Bedeutung – ein Raum, der dazu auffordert, den spürbar verlangsamten Puls der Stadt photographisch ins Bild zu setzen. Scheinbar entzieht sich die Brache als Bildsujet, täuscht ihr vermeintliches »Nichts« doch über eine verdeckte, jedoch höchst immersive Ästhetik des nur Spürbaren hinweg. Nur auf den schnellen, am Sensationellen geschulten Blick gibt es an ihr nichts (im Sinne des Wortes) zu sehen. Genauer betrachtet, intensiviert das Bild der Brache den Stillstand, der sich im Leeren und beinahe Öden auf provozierende Weise in einer gewissen Anti-Ästhetik verdoppelt. 9 Auch angesichts dessen, was in der Brache unterbrochen oder noch nicht ist, insistiert Barthes’ Geste der Photographie: »Seht mal! Schau! Hier ist’s!« 10 Im Fokus der Phänomenologie behält Roland Barthes auch in der Sache potentieller Brachen-Bilder Recht: Auch da, wo nichts passiert und scheinbar nichts ist, wo sich der Mensch aus der Nutzung von Orten und Bauten zurückgezogen hat, wo er alles – bis auf weiteres – aufgegeben zu haben scheint, zeigt sich in jedem Moment eine unendliche Mannigfaltigkeit von allem Möglichen in einem sich immerzu verändernden Gesicht. Photographien erklären nichts. Aber sie konfrontieren – mit Sichtweisen und darin vorscheinenden und zu denken gebenden Wirklichkeiten. Darin sieht Roland Barthes ihren subversiven Charakter. 11 Und so ist es in besonderer Weise die Brache in der Mitte des urbanen Raumes, die sich als Unort dem hoch komplexen System »Stadt« zwar entzieht, aber nicht der Ästhetik des Bildes. Gerade die das photographische Positiv atmosphärisch ausfüllende Leere proVgl. auch Hasse, Brownfields – Characteristics and Atmospheres. Barthes, Die helle Kammer, S. 13. 11 Vgl. ebd., S. 47. 9

10

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Die Photographie und die Stadt – die Stadt und ihre Photographie

voziert die Frage danach, was die (Über-)Fülle der Stadt ausmacht. Das (konventionelle) Gegenbild zur Brache ist das in seiner Lebendigkeit überschäumende metropolitane Zentrum, die hypernervöse Welt der schnellen Oszillogramme. Photographien der lebendigen Stadt veranschaulichen nicht nur Situationen der Dichte und Heterogenität, sie sind zugleich Medien der Explikation des Erlebens urbaner Leibesinseln. 12 Neben den überhitzten urbanen Hot Spots bieten sich die »infra-gewöhnlichen« Orte dem Erspüren und Verstehen einer facettenreichen und vieldimensionalen urbanen Welt an. In den Blick gelangen damit weniger bestimmte (städtische) Dinge oder Szenen als Muster des Werdens und Vergehens, Bleibens, Fortbestehens und Sich-Zersetzens. Die Brache ist nicht deshalb so vielsagend, weil sie die Aufmerksamkeit auf das Wenige lenkt, das es in ihrem Milieu gibt, sondern weil sie die latenten Kräfte des Urbanen repräsentiert. Das Bedenkliche schlummert im Übersehenen, und so folgt das Projekt der photographischen Mikrologien dem Ziel der hinsehenden Vertiefung ins Detail. Sie verdankt sich nicht allein der Vergrößerung des Maßstabes, sondern mehr noch der thematisch fokussierenden Perspektiven auf Dinge und Situationen. Dem kommt die formale Anordnung von Einzel-Photographien zu Serien entgegen. Erst die methodisch einem Thema bzw. Bildsujet gerecht werdende photographische Versenkung in die Binnenstrukturen eines oberflächlich Erscheinenden kann die gleichsam autopsierende Schau von Verdecktem vermitteln. Was sich im Einzelfall mikrologischer Reflexion herausstellt, ist nicht zuletzt von der Art der Beziehung abhängig, die sich im Prozess der Bildgebung zum einen (dem Moment der Aufnahme) und in der Bildnahme zum anderen (dem Moment der Bildrezeption) konkretisiert. Das photographische Bild leistet nicht allein die Obduktion eines Gegenstandes; es untersteht darin vor allem dem Ziel, die Schnittstelle zwischen etwas sichtbar Gemachtem und dessen Erleben der Erfahrung zur Verfügung zu stellen. Photographische Momentaufnahmen (zum Beispiel einer städtischen Situation) machen durch ihre methodische Präsentation dem Bewusstsein eine Beziehungsqualität zugänglich und erschließen so eine in Bildern erscheinende städtische Szene ihrem Bedenken (s. die Bildserie zum Niedergang der Fishdoc-Quartiere aus dem 19. Jahrhundert in Grimsby in Kapitel II.2).

12

Im Einzelnen vgl. dazu Hasse, Der Leib der Stadt, S. 221.

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Die Stadt und die Photographie

Wie die mit den Mitteln der wörtlichen Rede explizierten Mikrologien aufs Kleine zielen 13 (Bedeutung der Vorsilbe Mikro…) und, indem sie als »…logie« entworfen sind, eine gewisse Form der »Kunde« anstreben, so auch die photographischen Mikrologien. Sie sind »Erkundung des Kleinen«, Einzelnen und Besonderen städtischer Räume, Orte und Situationen. Was die »Autopsien« photographischer Bilder einer Stadt bedenklich machen, deckt ein weit größeres Feld ab, als das, was der sprichwörtlich »erste Blick« zu erfassen vermag. Der erste Blick bleibt insofern der Vertiefung gegenüber verschlossen, als er in einem Strom des Sehens und Erlebens aufgeht und sich schon im Moment seiner Aktualität in der überlaufenden Kontingenz aller (Begleit-)Eindrücke auflöst. Der fixierende Blick der Kamera hält aus der performativen Dynamik eines Ganzen nie »alles«, sondern nur »etwas« fest (das der Sichtbarmachung zugänglich ist), um es im Modus der Dauer der Betrachtung wie dem Bedenken zugänglich zu machen. Eine gegenüber Details und Nicht-Sichtbarem 14 aufgeschlossene Achtsamkeit der Wahrnehmung ist auf der Seite des Betrachters ebenso vorausgesetzt, wie die nachdenkliche und nachdenkende Sorgfalt im Umgang mit dem Ent–deckten. Diese methodologische Haltung zum Bild (in der Situation der Bildgebung wie der Bildnahme) ist sowohl Bedingung einer erkenntnistheoretisch gelingenden Praxis photographischer Mikrologien wie deren Ziel. Sensibilität, Aufgeschlossenheit und multisensorischer Spürsinn sind die Elemente eines (sich selbst übenden und verbessernden) Vermögens, genau hinzusehen und in diesem »Sehen« einem multireflexiven Denken verpflichtet zu sein. Phänomenologische Autopsien erfordern das Selbst-hinsehende und -hinspürende Finden von Mustern in der sinnlichen Welt. In Städten sind sie fließend und folgen einer vielarmigen Dynamik. Sie wird einerseits durch die typisch urbanen Kraftströme des Geldes, der Nachrichten, der Güter und sich in unaufhörlicher Bewegung befindlichen Menschen angetrieben. In das wechselhafte Gesicht der Stadt zeichnen sich andererseits permanente Naturprozesse (schon diesseits von Katastrophe und Wetterekstase) gleichsam von selbst ein, zum Beispiel über die Wechselhaftigkeit von Wind, Luftdruck und Niederschlägen. Vgl. auch Hasse, Die Aura des Einfachen sowie zur ergänzenden Konkretisierung ders.: Märkte und ihre Atmosphären. 14 Vgl. dazu auch das Kapitel über Photographie und Atmosphäre. 13

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Beispiele für photographische (Aufnahme-)Mikrologien bietet die Geschichte der Photographie in thematisch großer Breite. Der Vergleich einschlägiger Arbeiten könnte schnell zeigen, dass es in der Frage der erkenntnistheoretischen Freisetzung von Bedenklichkeit im produktiven Sinne weniger auf das Bild an sich ankommt, als auf dessen wahrnehmbaren Kontext – auf ästhetische Ordnungen, die nicht zuletzt infolge methodischer Arrangements erst sichtbar werden. 15 Zu Recht weist Hubert Damisch aber darauf hin, »daß das photographische Bild unter allen Bildern und abgesehen von seinem dokumentarischen Wert dasjenige ist, das sich am schnellsten abnutzt.« 16 Im Vergleich mit dem Gemälde scheint dies unter anderem daran zu liegen, dass es vielen Photographien an einer Aura mangelt. Was Walter Benjamin an der Aura festmachte, hat den Charakter einer Hülle, die einen nicht-reproduzierten Gegenstand umgibt. 17 Jede Photographie ist (als Bildträger) insofern a priori reproduziert, als das photographische Negativ (das Bildoriginal im engeren Sinne) im Prinzip für die Betrachtung unbrauchbar ist, weil es erst in Gestalt des in der Dunkelkammer angefertigten Abzuges ins Reich gewohnter Sichtbarkeit gelangt. Die digitale Photographie erhöht die Barriere zwischen Virtualität und Sichtbarkeit des Bildes noch einmal dadurch, dass es in ihrem technischen Rahmen gar kein sichtbares und taktil fassbares Negativ mehr gibt, sondern nur einen für die sinnliche Wahrnehmung in Gänze unbrauchbaren Datensatz, der erst als Folge einer erfolgreichen computertechnischen Transformation zu einem gedruckten Bild wird, das dem Fassungsvermögen des menschlichen Auges entspricht.

So geben die von August Sander im frühen 20. Jahrhundert angefertigten PorträtSerien Einblicke in die Gesellschaft jener Zeit. Auch Alfred Stieglitz hatte viele seiner Arbeiten dem Thema der Stadt gewidmet und hohe Sensibilität in der Veranschaulichung urbaner Atmosphären bewiesen. Zweifellos müssen diese Werke als epochale Beiträge zu einer photographisch-mikrologischen Autopsie der Stadt angesehen werden. Ähnliches ließe sich für das Lebenswerk von Eugéne Atget, Berenice Abbott oder – in neuerer Zeit – die »Düsseldorfer Schule« um Bernd und Hilla Becher sagen. Allen ist eigen, dass sie sich der Serie bedient haben, um zur Anschauung zu bringen, was das einzelne Bild viel begrenzter nur zu visualisieren vermag. 16 Damisch, Fünf Anmerkungen zu einer Phänomenologie des fotografischen Bildes, S. 138. 17 Vgl. auch Benjamin, Das Kunstwerk im Zeitalter seiner technischen Reproduzierbarkeit, S. 15. 15

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Die Stadt und die Photographie

Der technische Charakter der Photographie hebelt aber letztlich die Frage nach ihrem auratischen Potential nicht aus, denn – dank technischer Möglichkeiten der Reproduktion – kann auch vom »gefälschten« Kunstwerk eine Aura ausgehen. Dem auratischen Erscheinen ausdrucksstarker (aber lange nicht aller) Kunstwerke entspricht in der Lebenswelt und in zahllosen gesellschaftlichen Systemen die affizierende Macht unterschiedlichster Atmosphären (von der Werbung über das Arrangement der Waren in den Schauauslagen der Kaufhäuser, der Inszenierung öffentlicher Plätze in der Mitte der Stadt bis zu den Ritualen der Sepulkralkultur). Der Umstand, dass die Photographie in nahezu allen Anwendungsbereichen schon lange zu einem bevorzugten Medium der Emotionalisierung aufgestiegen ist, legt die These nahe, dass ihre Ausdruckspotentiale in der Praxis des Bildgebrauchs eine auratische Ausdrucksmacht entfalten können, wenn deren Wirksamkeit auch oft von kurzer Dauer sein mag. Angesichts einer weitgehenden Grenzüberwindung technisch beschränkter Ausdrucksmethoden photographischer Visualisierung – besonders im Zeitalter ihrer Digitalisierung – rücken konstruktive Vermögen in den Fokus, nicht nur etwas körperlich-materiell Existierendes ins Bild zu setzen, sondern weit darüber hinaus atmosphärische Milieus im städtischen Raum zu veranschaulichen. Walter Benjamin hebt zum Beispiel positiv die Arbeiten von Eugéne Atget hervor, der sich dem gigantischen Projekt der photographischen Archivierung von Orten, Räumen und Situationen der französischen Hauptstadt um 1900 gewidmet hatte (s. oben). Die Photographie muss heute als eine (massen-)mediale Schlüsseltechnologie der Verbildlichung der Stadt wie des Städtischen angesehen werden. Im Bestand der Archive des kulturellen Gedächtnisses einer Gesellschaft sind ihre Erzeugnisse ebenso unverzichtbar wie in der Dokumentation und Illustration der historischen Veränderung urbaner Räume im Allgemeinen. Sie dienen der Darstellung des Erhaltenswerten, leisten wichtige Dienste aber auch in der Illustration des durch und durch Langweiligen, das von einer Beschleunigung dahingerafft wird, die nur die Relevanz des Glatten, Funktionalen, Perfekten und Rentablen kennt. Sie bewährt sich schließlich in der Kommunikation über Prozesse eines sich performativ ereignenden stadtgesellschaftlichen Wandels. In der Gegenwart gerinnt beinahe alles, was das urbane Leben ausmacht (s. Abb. 5), über kurz oder lang in Bildern oder Bildsimulationen. Bilder sprechen das private Empfinden im Resonanzmilieu persönlicher Beziehungen zur Stadt (etwa 210 https://doi.org/10.5771/9783495823750 .

Die Photographie und die Stadt – die Stadt und ihre Photographie

Abb. 5: Bildinszenierung vor dem Bild der Stadt

als heimatlichem Lebensraum) ebenso an, wie sie das politisch Strittige dem öffentlichen Diskurs zugänglich machen. Deshalb bietet sie sich auch dem nicht-konventionellen Denken an – als Material einer subversiven Unterwanderung kulturindustriell gedrillter ReizReaktions-Muster im Konsum stereotyper Bilder, die das Denken nicht zur kreativen Selbstüberschreitung motivieren, sondern stillstellen sollen.

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Die Stadt und die Photographie

13.2 Die Photographie der Architektur und die Stadt der Architekturphotographie Innerhalb der Synthese von Stadt und Photographie leistet die Architekturphotographie ihren ganz spezifischen Beitrag zur Konstruktion von Bildern der Stadt. Wie und als was eine Stadt angesehen wird, ist zu beträchtlichen Teilen Produkt dessen, was die Photographie aus ihr macht. Es sind in besonderer Weise Städte und nicht ländliche bzw. dörfliche Siedlungen, die durch ihre Architektur beeindrucken. Zuvorderst erscheinen die sich ästhetizistisch überhöht repräsentierenden Metropolen in einem kaleidoskopischen Bilderkosmos des Gebauten. Aber auch die im Abseits der Magistralen der Aufmerksamkeit liegenden grauen und düsteren Städte kommen in ubiquitären Bilderwelten vor – wenn auch in einem ungleich geringeren Maße und in einer ganz anderen ästhetischen Präsenz. In der Theorie einer Photographie der Stadt spielt die Architekturphotographie ihre medientheoretisch spezifische Rolle. Ihr sollen in diesem Rahmen all jene Bildererzeugnisse zugerechnet werden, die Bauten aller Art für einen anonymen Rezipienten darstellen. Zur Architekturphotographie im engeren Sinne gehört dagegen nur jenes Spektrum von Aufnahmen architekturphotographisch spezialisierter Berufsphotographen. Daneben steht die Fülle der eher zufällig als nach einem ästhetischen Programm entstandenen Bilder aller nur erdenklichen architektonischen Objekte, vom Hühnerstall bis zur neogotischen Kathedrale, Banalem, gänzlich Unauffälligem und Schäbigem. In die kommunalen wie regionalen Archive wandern indes lange nicht allein »zertifizierte« Glamour-Photographien aus dem Genre der Architekturphotographie, sondern nahezu alles, in dem sich ein noch unbestimmbarer, aber potentieller Erinnerungswert zukünftiger Tage erahnen lässt. Die meisten Städte haben ihr eigenes Bildarchiv, in dem sich die Geschichte der Stadtentwicklung dokumentarisch widerspiegeln soll. Das Gros der abgelegten Erzeugnisse stammt nicht von Photographen, geschweige denn von Architekturphotographen, sondern gelangt auf oft unergründlichen Wegen aus privater Hand in die Kisten, Kartons und Karteischränke der Archive. Am Ende sind die Heimatforscher wie die kommunalen Archivare dankbar für alles, was ihnen detaillierte Blicke in die Geschichte ermöglicht. Aufnahmen von Bauten aller Art haben in der Präsentation und Repräsentation einer Stadt ihr eigenes Gewicht. Mit anderen Worten: 212 https://doi.org/10.5771/9783495823750 .

Die Photographie der Architektur und die Stadt der Architekturphotographie

Architekturphotographie im weiteren Sinne ist ein mächtiges Kommunikationsmedium in der Produktion von Images wie der Amalgamierung kommunaler Geschichtsbilder. Spätestens im 20. Jahrhundert wird die Photographie »das Kommunikationsmittel für Architektur schlechthin« 18. Der wohl größte Teil feuilletonistischer Diskussionsbeiträge zur Sache »guter« und »schlechter« Architektur basiert auf Photographien. Das Bild bietet sich als geradezu ideales Kommunikationsmedium an, weil es eine lebensnahe Vorstellung von Orten und Gegenden im gebauten Raum suggeriert, besonders von signifikanten Objekten, über die nicht selten heftig gestritten wird (Neubau des Rathauses, Abriss der Kirche etc.). Bedenklich ist die aus dieser Bedeutung der Bilder folgende Konsequenz. Wenn es der Mehrheit der Menschen auch gar nicht möglich ist, sich im Wege der eigenen sinnlichen Anschauung einen Eindruck dessen zu verschaffen, was sie bewegt und interessiert, so geben sie darüber trotzdem selbstbewusst entschlossene Urteile ab. Werturteile, die über politischen Erfolg oder Misserfolg städtischer Bauprojekte entscheiden können, basieren nicht selten allein auf Bildern. Weniger in sensibel erlebter Wirklichkeit als in Bildern gründen dann empathischer Zuspruch wie idiosynkratische Abwehr. Das kollektive Wissen einer Gesellschaft über signifikante Bauten einer Zeit, über aktuell herrschende Architekturstile und solche der Vergangenheit beruht außerhalb professioneller Zünfte sogar fast ausschließlich auf Bildern. Bilderfluten füllen jenes diskursive Vakuum, das sich schnell bildet, wenn über Dinge in der Ferne die Rede ist. Wie sollten die Menschen ohne Photographie aus eigener Anschauung auch eine Vorstellung von Bauten haben, die außerhalb ihrer sinnlich »erreichbaren« Umgebung liegen. Jedes Wissen über Dinge, Sachverhalte und Weltverhältnisse, die sich fern individueller Mobilitätsradien einschließlich touristischer Blasen befinden, stützt sich auf Beschreibungen, Mitteilungen und Bilder aus zweiter Hand. Seit Mitte des 19. Jahrhunderts ist die Photographie zu einem visuellen Kommunikationsmedium aufgestiegen, das »die Wahrnehmung, das Wissen und die Kommunikation der Menschheit verändern« 19 sollte. Das illustriert insbesondere die Architektur- und Stadtphotographie. Das Wissen um Architektur ist vom photographischen Bild nicht mehr zu trennen. Deshalb sagt Monika Melters: »Die Architektur, 18 19

Breuer, Einleitung, S. 11. Brauchitsch, Kleine Geschichte der Fotografie, S. 34.

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Die Stadt und die Photographie

wie wir sie vor allem im 20. Jahrhundert kennengelernt haben, wäre in diesem Sinne am treffendsten vielleicht aber als Hybrid von Architektur und Photographie zu beschreiben.« 20 In der programmatischen Inszenierung vor allem neuer Bauwerke erfüllt die Architekturphotographie eine medial unverzichtbare Aufgabe – nicht nur als Geste des Zeigens; sie steigert auch »den Marktwert von Architekturen und die Reputation von ArchitektInnen« 21 wie Bauherren. Die Logik der Bilder ist aber nicht so linear wie sie zu sein scheint; das Beispiel des Doppelturmes der Europäischen Zentralbank (EZB) in Frankfurt am Main pointiert das. Die Bilder des ekstatischen Doppelturms (Abb. 6) dürften zwar das Reservoir eher diffusen als präzisen kulturellen Wissens über dieses Gebäude nahezu in Gänze gefüllt haben. Ihre schier ungebremste Emission dürfte allerdings nur am Rande in der Eigenart des Bauwerkes begründet sein, viel mehr dagegen in seiner Funktion und globalen Bedeutung für die Finanzwirtschaft. In diesem ganz spezifischen und gänzlich architekturfreien Bedeutungsrahmen ist es beinahe von marginaler Bedeutung, in welch brachialer Weise die von Martin Elsaesser entworfene und 1928 eingeweihte Großmarkthalle nun (seit 2014) von dem Architekturbüro Coop Himmelb(l)au in die EZB »integriert« worden ist. Sogenannte Architekturphotographie hat nicht ausschließlich mit Architektur zu tun. Oft wird sie zum Vehikel der Kommunikation von allem möglichen, was mit der Funktion eines Bauwerkes zu tun hat. Ähnliches ließe sich über die Tierskulpturen vor der Frankfurter Börse sagen, um die es selbst nie geht, wenn sie in den TVMedien gezeigt werden, oder die Elbphilharmonie in Hamburg, die lange Zeit nicht wegen ihrer Ästhetik präsentiert wurde, sondern zur Illustration eines öffentlich-rechtlichen Planungsbankrotts und fiskalpolitischen Skandals. Bauwerke bilden mitunter infolge anhaltender öffentlicher Debatten sozialpsychologische Resonanzknoten. Dann verleihen sie mal einer Stadt, mal einer Institution, schließlich einer Idee, einem guten Zweck oder einem dystopischen Schatten der Geschichte eine im Bild sichtbar gemachte Identität. Was sich mit Signifikanz verbindet, verändert sich mit der politischen Umdeutung von Geschichte und Geschichten allerdings nicht selten von Grund auf. So ist es der Stadt Hamburg gelungen, das Bild der Elbphilharmonie zu »drehen«, so 20 21

Melters, Die Versuchungen des Realismus, S. 13. Otti, Jenseits der Repräsentation, S. 25.

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Die Photographie der Architektur und die Stadt der Architekturphotographie

Abb. 6: Neubau der Zentrale der Europäischen Zentralbank

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Die Stadt und die Photographie

dass sie nun nicht mehr für das eklatante Scheitern der Planungskompetenz staatlicher Institutionen steht, sondern für eine gelungene Synthese von Stadt, Kunst und Kultur. Die Bilder können dank ihrer Fixierung überdauern; aber die Bedeutungen können sich wandeln – vom Symbol der Dystopie zu dem der Utopie und umgekehrt. Weitgehend ungeachtet solch instrumentalisierender Automatismen des photographischen Bildes positioniert sich berufsmäßig betriebene Architekturphotographie über eigene Methoden der Bildgebung und Stile der Inszenierung des Gebauten zum Beispiel in Architekturjournalen oder auf den Prunkseiten großer Feuilletons. Wie die Taufe des Säuglings vom Pastor und die des Schiffes vom Eigner und nicht von irgendjemandem vollzogen wird, so ist auch die Architekturphotographie im engeren Sinne nur als solche anerkannt, wenn sie auf die Urheberschaft des »geweihten« Spezialisten einer Community zurückgeführt werden kann. Erst die doppelte Eindrucksmacht einer im Bild auratisierten Architektur und die Autorität eines zertifizierten Photographen versprechen erwünschte Repräsentationseffekte. Zum guten Bild wird eine Photographie erst durch ihr Erscheinen am »richtigen« Ort. So führen Stararchitekten und Starphotographen symbiotische Existenzen. Photographien signifikanter Architektur dienen nicht der Explikation von Eindrücken im hier diskutierten phänomenologischen Sinne, sondern der Kommunikation politischer, ökonomischer und kultureller Relevanz. Dass über die Sichtbarmachung von Architektur auch Effekte der Information in gewisser Weise am Rande abfallen, versteht sich aus der zeigenden Funktion des Mediums von selbst. Wenn in gewisser Weise auch jede Architekturphotographie das Erscheinen eines Bauwerkes im Raum der Stadt zum Gegenstand der Wahrnehmung macht, so ist dieses Erscheinen-Machen doch durch ein Charakteristikum der Architekturphotographie verzeichnet. Deren vorherrschender ästhetischer Abbildungsstandard präferiert nämlich die Darstellung von Bauwerken ohne sichtbar anwesende Personen. Diesem ästhetischen Dispositiv liegt die Idee voraus, das von jeder erkennbaren menschlichen Gegenwart »bereinigte« architektonische Objekt könne am wirkungsvollsten gleichsam »an sich« zur Geltung gebracht werden. Der Preis dieses formalästhetischen Prinzips ist offensichtlich: Die spezielle Bildästhetik fordert die symbolische Ent-stellung eines Gebäudes aus seiner lebendigen Nutzung und Aneignung. Der Schwund an Lebendigkeit wird durch symbolische Überhöhung aufgewogen. Dem kommt die Reduktion von 216 https://doi.org/10.5771/9783495823750 .

Die Photographie der Architektur und die Stadt der Architekturphotographie

Architektur auf ihre stofflich-materielle Körperlichkeit entgegen. Die photographische Darstellung von Bauten aller Art, die im Bild um ihre Nutzungspraxis bereinigt sind, läuft auf einen ästhetizistischen Abstraktionismus hinaus. Wenn der Zweck eines Gebäudes auch noch so evident sein mag (vom Straßenbahndepot bis zum Gewächshaus), so zeigen menschenfreie, gleichsam aseptische Photographien doch nichts vom Leben, das ein Bauwerk erst in einer Gesellschaft wirklich werden lässt. Die programmatische Auslassung des Lebendigen, das jedes Gebäude erst zu einem sozialen Ort macht, hat einen »reinigenden« Effekt. Das Bild beglaubigt Scheinevidenzen. Eine Aufgabe phänomenologischer Rekapitulation professioneller Verfahren der Bildgebung umfasst daher umso mehr die Reflexion von Darstellungsstilen und nicht nur die Kritik dessen, was ein Bild zur Anschauung bringt. Die trockene, gleichsam »unlebendige« Darstellung von Bauten fasziniert aber nicht nur anwendungsbezogene Berufsphotographen. Auch unter Künstlern, die sich einer soliden Reputation in akademischen Kulturen und Kunstakademien sicher sein können, reüssiert der Stil einer »toten« Inszenierung von Architektur. So stechen zum Beispiel die Arbeiten von Bernd und Hilla Becher zur Industriearchitektur durch eine ganz eigene aseptische Ästhetik heraus. Dennoch ist dem scheinbar so einfachen Prinzip der ästhetischen Isolierung von Fördertürmen und Kondensatoren eine ganz spezielle atmosphärische Komponente eigen. Beide Künstler zelebrieren zwar einen stereotypen Formalismus, den Boris von Brauchitsch auf der Kippe zum Absurden wie zur Komik sieht. 22 Angesichts der Banalität und InfraGewöhnlichkeit der abgebildeten Objekte ist eine Exzentrik indes unübersehbar. So verweisen die artifiziell wirkenden Ansichten geradezu immersiv auf eine der Sichtbarkeit entzogene Tiefenschicht, wodurch die Dinge fragwürdig werden. Wenn Bodo von Brauchitsch anmerkt, die Arbeiten vom Stile Bechers zeichnen sich durch einen monumentalen Detailreichtum aus, »ohne dass es ›etwas zu sehen‹ gegeben hätte« 23, so spielt er auf eine Grenze der Sichtbarkeit an, hinter der eine schwer präzisierbare Macht der Atmosphären geradezu »lauert«. Die stets in fahlem Licht und im rechten Winkel aufgenommenen Objekte standardisieren deren Wahrnehmungsweise. Dadurch entsteht ein Überschuss, der das Dokumentarische transzen22 23

Vgl. Brauchitsch, Kleine Geschichte der Fotografie, S. 241. Ebd.

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Die Stadt und die Photographie

diert und sich eindrucksmächtig dem Argument entgegenstellt, es mangele der Photographie an auratischer Ausstrahlung. Nur ist dies eine, die das Bild einer Wirklichkeit suggeriert, von der die lebensweltliche Erfahrung weiß, dass die Dinge im »wirklichen Leben« eben doch anders aussehen. Atmosphärische Potentiale haben viele Photographien schon deshalb, weil sie in der Fixierung der Zeit methodisch genau diese zum Thema machen. Das berührt nicht nur die technischen Verfahren, sondern auch und vor allem den ästhetischen Stil, der einen Gegenstand so oder so sichtbar macht (s. auch Kapitel 4). So steht jedes Bild eines städtischen Bauwerks in der Logik der Zeit, die zugleich das Gesicht des abgebildeten Objektes stimmt. Gerda Breuers Hinweis auf die Spiegelung des Zeitgeistes im photographischen Bild geht darüber hinaus und birgt eine Fußnote zu einem »erinnerungspolitischen« 24 Dokumentarismus der Photographie. Alle Bilder erzeugen insofern eine epistemische Spannung, als das fixierte Bild in einem asymmetrischen Verhältnis zur Aktualität subjektiven Erlebens steht. Was unser Gefühl für ein Hier-und-Jetzt ausmacht, gehört immer einer anderen Zeit an, als das im Bild sichtbar Werdende. Was wir von gegenwärtigen Dingen und Situationen wissen, liegt – bezogen auf die vergangene Referenzwirklichkeit der Bilder – stets in einem »Danach«. Photographien lassen uns auf »realistischere« Weise als es Gemälde vermögen, in die Vergangenheit blicken. Diese Rückblicke sind in ihrer Verankerung in der Jetzt-Zeit aber keine über die Zeit hinwegspringende Rück-Blicke im Sinne des Wortes. Aus der Kraft dieser Widersprüchlichkeit baut sich das Begehren eines Immer-mehr-sehen-Wollens auf. Es ist die historische Differenz, die den Sog einer ästhetisch paradoxen Nähe zum Bild generiert: Was es nicht mehr gibt (seit langem oder erst seit einigen Augenblicken), erscheint doch so »echt« vor unseren Augen. Affektiv unmittelbar berührende, geradezu magische Anziehungskräfte suggerieren eine illusorische Nähe, die jene Distanz erschwert, die das kritisch-reflektierende Bild-Verstehen fordert. 25 Das macht zwar die Situation einer jeden Bildnahme aus; aber Architektur-Photographien erinnern mehr als manche Bilder von alltäglichen Dingen an die Begrenztheit der Dauer von allem und damit auch des eigenen

24 25

Breuer, Einleitung, S. 41. Vgl. in diesem Sinne Minkowski, Die gelebte Zeit, Band 1, S. 27.

218 https://doi.org/10.5771/9783495823750 .

Die Photographie der Architektur und die Stadt der Architekturphotographie

Lebens. So birgt insbesondere der Blick auf alte Bauten ein existentialistisches Menetekel. Die »ferne Nähe« des sichtbar Gemachten hat einen schleichenden Bedeutungswandel architekturphotographischer Archivalien zur Folge, der nur mittelbar im Erscheinen der Bilder begründet ist. Tatsächlich liegt er am historischen Werden der abgelichteten Dinge und der ihnen anhaftenden Bedeutungen. Rolf Sachsse illustriert das am Beispiel der deutschen Ruinenphotographie der 1950er Jahre. 26 Im Wandel historisch sich schnell verändernder Rezeptionskulturen, Bilderwartungen und Sehroutinen liegt eine Herausforderung der Architekturtheorie im interpretierenden Umgang mit Architekturphotographien. Photographie hat nie nur ihre eigene Entstehungs-Zeit; sie hat auch eine ihr eigene Wirkungs-Zeit. Indem sie historisch je herrschenden ästhetischen Dispositiven folgt, steht sie unter der Macht des Zeitgeistes derer, die ein Bild betrachten, sehen und verstehen – oder für bestimmte (manipulative, ideologische oder dissuasive) Zwecke gebrauchen. Auch weil Photographien aus dem Boden des Zeitgeistes schießen, provoziert ihr ganz unvermeidbarer Inszenierungscharakter die verstehende Einbettung in aktuelle kulturelle Bedeutungswelten. An der Reibungskraft der Differenz arbeitet sich das Bildverstehen empor. Das Beispiel des Photographen Alexander Rodtschenko (1891– 1956), der den Stil des russischen Konstruktivismus mitprägte, zeigt mit Nachdruck die Macht des Zeitgeistes über die Produktion der Bilder. Als Avantgardekünstler wandte sich Rodtschenko den Zielen einer neuen Gesellschaft zu und setzte Bauten der Stalinzeit in Szene, um symbolisch mächtige Eindrücke einer für lebenswert gehaltenen Zukunft zu kommunizieren. So machte er für die Zeitschrift SSSR na stroike 1933 geradezu zahllose Aufnahmen vom Bau des WeißmeerOstsee-Kanals 27, der St. Petersburg mit Archangelsk am Weißen Meer verband (»Stalin-Kanal«). Zum Konstruktivismus passten seine verzerrenden Perspektiven, mit denen er seine Bilder dem gewohnten Blick entzog 28, um sie einem kreativen neuen Denken zugänglich zu Vgl. Sachsse, Ästhetischer Wiederaufbau. Siehe dazu auch das Umschlagbild der deutschen Ausgabe Nummer 32 aus dem Jahr 1933. Vgl. auch Noever, Alexander M. Rodtschenko – Warwara F. Stepanowa, S. 221. 28 Vgl. auch die Arbeiten zur Serie Das Haus an der Mjasnitzkaja ab 1925; vgl. ebd., S. 228–229. 26 27

219 https://doi.org/10.5771/9783495823750 .

Die Stadt und die Photographie

machen. Auf ganz andere Weise fügte sich das Motto »Lügt nicht! Photographiert, Photographiert« 29 in den Konstruktivismus ein, hatte er doch bei seinen Aufnahmen des Weißmeer-Ostsee-Kanals den Hinweis unterschlagen, dass zu dessen Bau im wesentlichen Zwangsarbeiter herangezogen wurden. Kaum anders werden Bedeutungsfacetten, die sich zwar fest mit der Entstehungssituation konkreter Aufnahmen verbinden, aber nicht in den Rahmen einer Zeit oder die Fenster politisch korrekter Sehweisen passen, in der Bildbetrachtung übersehen oder mit anderen Bedeutungen überlagert. Um im medientheoretischen Sinne mehr zu sein als nur ein lichttechnischer Abdruck von etwas, das es irgendwo und irgendwie gegeben hat, müssen die Bilder für eine gelingende Rezeption, für ein Bilderleben, das sich in aktuelle Aufmerksamkeits-Ordnungen einfädelt, den Nerv des Zeitgeistes treffen. Das leisten Photographien von architektonischen Objekten besonders dann, wenn sie Atmosphären zum Vor-scheinen bringen oder zumindest Facetten atmosphärisch vitaler Situationen in einem spürbaren Sinne veranschaulichen. Deshalb haben die Bilder von Bauten, die in einer Stadt für einen Geist und eine Wirklichkeit stehen, auch eine andere Macht als die Photographien von Kindergeburtstagen und Strandspaziergängen.

29

Vgl. ebd. S. 237.

220 https://doi.org/10.5771/9783495823750 .

14. Bilder verstehen – ein mimetischer Prozess

Bilder kommunizieren eindrücklich und unmittelbar komplexe Bedeutungen 1, auch wenn das, was sie zu sehen geben, auf den ersten Blick deutlicher erscheinen mag als das, was nach einbohrender phänomenologischer Reflexion beharrt. Sie sind Träger von Symbolen und Gefühlen, die sich leiblich und sinnlich zu verstehen geben. Die kommunikative Nützlichkeit von Bildern ist im Alltag ebenso evident wie ihre illustrative Rolle in vielen Anwendungsbereichen. Wenn es darüber hinaus jedoch einen erkenntnistheoretischen Nutzen des Mediums »Photographie« für eine Verbreiterung der Aufmerksamkeit sowie Steigerung von Sensibilitäten der Wahrnehmung gibt, sind bestimmte Methoden des Verstehens, der Interpretation bzw. der Aneignung von Bildern vorausgesetzt. In der Fortführung einer Reihe von theoretischen Akzentuierungen der vorausliegenden Kapitel soll die Photographie im Folgenden von der wahrnehmungstheoretischen Seite der Bildnahme her vertiefend reflektiert werden. Der Prozess der Bildaneignung ist auf keine aktuell herumwirkliche Referenzwirklichkeit gerichtet, wie sich der Photograph mit der Kraft seiner Wahrnehmungsvermögen einer um ihn herum ausgebreiteten Gegend (einer Stadt oder Landschaft) oder auch nur einem Gegenstand zuwendet. Dennoch unterliegt auch die Rezeption von Photographien einer kreativen und mimetischen Aneignungsdynamik, die im phänomenologischen Fokus wenig mit einem kognitivistisch verstandenen »Lesen« (bzw. semiotischen »Decodieren«) gemeinsam hat. Was in einem Bild sichtbar wird, ist strukturell der Les- oder Hörbarkeit gesprochener oder vorgelesener Texte nicht ähnlich. Wie sich ins photographische Bild gesetzte wirkliche Gegenden nicht auf Zeichen und Codes reduzieren lassen, so eine Photographie nicht auf ein textähnliches Erzeugnis. Zwar bereichert sie die dingliche Welt, in der ein Bildträger (picture) neben andere Gegenstände ähnlicher Größe und Materialität tritt. Aber das photogra1

Vgl. Wiggershaus, Bildhorizonte, S. 48.

221 https://doi.org/10.5771/9783495823750 .

Bilder verstehen – ein mimetischer Prozess

phische Bild erscheint als ästhetischer Ausdruck eines leiblichen Eindruckes in anderer Weise als die Gebrauchsanweisung eines Wasserkochers. Bereits an dieser Stelle sei angemerkt, dass in der Diskussion von Wegen der Annäherung an Sujet und Punctum von den konzeptionell ausgearbeiteten Methoden der Bildinterpretation, wie sie in den empirischen Sozialwissenschaften vorliegen, nur geringe Erträge erwartet werden. Die weitgehende Inkompatibilität interpretativer Methoden mit dem paradigmatischen Selbstverständnis der Phänomenologie ist im Wesentlichen darauf zurückzuführen, dass formal hoch regulierte Verfahren der Inhaltsanalyse auf der synthetischen Zerlegung eines Bildganzen aufbauen und bestenfalls wenig auf die Reflexion eines Eindrucksganzen setzen. Sie stehen insofern dem Positivismus nahe, als sie dem Verstehen primär solche »Stoffe« zugänglich machen, die sie (als »Erfolg« der Anwendung einer Methode) in Teile zerlegt haben. Damit ist ein Ganzes auch um jenen Horizont gebracht, vor dem es auch Einzelnes nur in übergreifenden und sinnstiftenden Bedeutungen gibt. Mehr noch bleibt bei solch abstrahierender Zerlegung der atmosphärische Ausdruck auf der Strecke, der über alles hinausschießt, was im engeren Sinne als definierbar gilt und sich deshalb auch nicht selektiv in Teilen fassen lässt. An wenigen Beispielen soll das illustriert werden, gleichwohl ohne in eine in der Sache dieses Buches unnötige wie abwegige methodologische Debatte um hermeneutische Reichweiten empirischer Methoden der Inhaltsanalyse zu entgleisen.

14.1 Die Photographie als Gegenstand der Interpretation Jede verstehende Annäherung an empirisches Material (vom Text über die ästhetischen Objekte der Kunst bis hin zu Photographien) hat dem Umstand gerecht zu werden, dass alles von Menschen Gemachte Produktcharakter hat und somit schon seit dem Beginn seines Werdens in Bedeutungen getränkt ist. Photographien werden in phänomenologischer Sicht nicht als symbolische Medien aufgefasst, die der Interpretation in ähnlicher Weise zur Verfügung stehen wie Texte. Während diese einer diskursiven Rationalität folgen, sind Bilder ästhetische Erzeugnisse. Auf die Subjektivität der Erkenntnis hatte Klaus Holzkamp im Zuge seiner kulturhistorischen Rekonstruktion der gesellschaftlichen 222 https://doi.org/10.5771/9783495823750 .

Die Photographie als Gegenstand der Interpretation

Funktion der Wahrnehmung schon im Allgemeinen hingewiesen. 2 Seine marxistische Denkstimmung rückte jedoch die Macht der Produktions- und Arbeitsverhältnisse in den Blick. Darin stand der vergesellschaftende Einfluss ideologisch bereits interpretierter Rahmenbedingungen eher kollektiver als individueller Formen der Existenz im Mittelpunkt. Im Fokus der Phänomenologie stehen dagegen nicht in erster Linie politische oder andere primär gesellschaftlich bedingte Verhältnisse, sondern Situationen, in denen sich Präferenzen der Wahrnehmung im Allgemeinen herausbilden. Das schließt die erkenntnistheoretische Aufmerksamkeit gegenüber einer Lenkung der Wahrnehmung durch Interessen oder praktische Bedingungen der Arbeit nicht aus. Diese rücken jedoch nicht aus Gründen der Ideologiekritik oder als Folge gesellschaftstheoretischer Erwägungen ins Zentrum, sondern weil Wahrnehmung a priori »eingestellt« und gestimmt ist. Schablonen und Masken der Selbst- wie Welterkenntnis werden wie alle Erkenntnisvermögen im Prozess der Sozialisation erworben und im Kontext sozialer Gefüge praktisch in Gebrauch genommen. Es kann somit keine Erkenntnis geben, die weder selektiv disponiert ist noch irgendwelchen mehr oder weniger bestimmten Erwartungen folgt und auf der Anwendung erlernten Wissens basiert. 3 Aber nicht nur die lebensweltliche Wahrnehmung ist selektiv. Mehr noch müssen die paradigmatisch tradierten Denkroutinen der Wissenschaften als Selektionsinstrumente aufgefasst werden. Das lässt sich konkret auch für methodologisch regulierte Formen hermeneutischer Interpretationsverfahren sagen. Und so bahnen sie, vor allem wenn sie hoch reguliert sind, (für richtig gehaltene) selektive Wege zum Verstehen eines Gegenstandes, der methodisch wie in der Sache auch anders erschlossen werden könnte. Deutungsmethoden unterwerfen die Wahrnehmung einem prozeduralen Programm. Sie fügen das in bestimmter Weise Verstandene in ein Baukastensystem des So-und-nicht-anders-Denkbaren ein. Wenn Andreas Diekmann das Problem solcher Selektivität aus dem Fokus empirischer Forschungsmethoden indes auf die Einflussmacht von Vorurteilen 4 oder

Vgl. Holzkamp, Sinnliche Erkenntnis. Diese Problematik habe ich in an anderer Stelle ausführlich diskutiert, so dass ich hier darauf verweisen kann; vgl. Hasse, Die Aura des Einfachen, besonders Kapitel 3. 4 Diekmann, Empirische Sozialforschung, S. 47. 2 3

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Bilder verstehen – ein mimetischer Prozess

auf die Disposition des Wahrnehmens durch Erwartungen konzentriert 5, so spricht er damit nur offensichtliche Herde der Kontamination der Erkenntnis durch Vorgefertigtes an. Auf viel subtilere Weise wird die szientistisch regulierte Wahrnehmung durch ihre prozedurale Selektivität selbst unterspült. Im Prinzip kann kein in der Sache begründeter Zweifel daran bestehen, dass eine methodisch regulierte und systematisch durchgeführte Interpretation von Photographien Erkenntnisgewinne verspricht und den sozialen Gebrauch des Mediums transparenter machen kann. 6 Jedoch hängt die Qualität der Erträge von der Art der Verfahren ab, die auf bestimmte ästhetische Typen von Photographien angewendet werden. Kein methodisch noch so differenziertes Analyseinstrument verspricht a priori wertvolle Forschungserträge. Spezielle methodologische Anforderungen an das Verstehen photographischer Medien sollen sich im gegebenen erkenntnistheoretischen Rahmen an der Phänomenologie orientieren. Dabei gilt es einem trivialisierenden Verständnis von Photographien zuvorzukommen, wonach diese als etwas »Einfaches« und Banales angesehen werden, das weit geringere hermeneutische Herausforderungen stellt als ein Gemälde oder ein 300 Jahre alter Holzstich. Wenn Rolf Wiggershaus bemerkt, »Fotos sind nicht weniger kontextabhängig und interpretationsbedürftig als Zeichnungen oder Gemälde, um verstanden zu werden« 7, so ist damit auch gesagt, dass ihnen mit einem medientheoretisch naiven Verständnis nicht gerecht zu werden ist. Sie sind so viel oder so wenig oberflächlich, wie Erzeugnisse der Kunst generell bedeutungsschwanger und mit »schwerem« Sinn beladen sind. Herausgehobene Anstrengungen des Verstehens von Situationen der Bildnahme reklamieren sich in besonderer Weise angesichts einer massenkulturellen Sozialisation apparativ vermittelten Sehens. Der geradezu besinnungslose Gebrauch digitaler Fotoapparate (speziell in der miniaturisierten Form der sogenannten »Foto-App« im Smartphone) steht zumindest in der Lebenswelt der kritischen Bildreflexion entgegen – bezogen auf den Prozess der Bildgebung wie der Bildnahme. Es ist nicht zuletzt die praktische und technische Leichtigkeit des Photographierens und ihre habitualisierte Verschweißung Ebd., S. 49. Eine Reihe methodischer und inhaltlicher Vorschläge macht z. B. Burkart, Günter: Die Welt anhalten. Oder wenigstens die Zeit. In: Burkart/Meyer, Die Welt anhalten. 7 Wiggershaus, Bildhorizonte, S. 48. 5 6

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Die methodisch hoch regulierte Interpretation von Photographien

mit arbiträren Alltagspraktiken, die die methodologische Unbewusstmachung der Produktion wie Betrachtung photographischer Bilder unterstützt. Schon die Masse der alltäglich ganz beiläufig »geschossenen« Aufnahmen sowie die Zirkulation nicht endender Bildströme im Internet stehen einem differenzierten Blick aufs Bild eher entgegen. Gerade Photographien bieten sich der blitzartigen wie unbedachten Verschlingung an. Schon der Begriff des Bilder-Konsums impliziert ein Verständnis der Einverleibung und damit einen Habitus des Bildgebrauchs, der kaum die Dauer der Betrachtung sucht, in der sich das Fixierte zumindest optional dem gedehnten Blick als »Denkstoff« anbieten könnte.

14.2 Die methodisch hoch regulierte Interpretation von Photographien Dass Wege des Bildverstehens immer nur mögliche Wege sind, die spezifische Ziele der Unterscheidung verfolgen, zeigt schon das folgende Zitat von Klaus Kraimer, der in der Interpretation von Photographien zwischen einer Deskriptions- und einer Interpretationsebene differenziert. 8 Die erstere besteht ihrerseits aus zwei Stufen – einer präikonographischen (den lebensweltlichen Blick betreffend) und einer ikonografischen Stufe, in der Wissen von außerhalb des Bildes einbezogen wird (»Motive, Situation des Photographen, Produktionsbedingungen, historische Voraussetzungen, aktuelle soziale Wissensbestände« 9). Der Umstand der gesellschaftlichen Disponiertheit der menschlichen Wahrnehmung ist für die forschungsmethodisch gängigen Verfahren der Interpretation von Photographien Grund genug für eine konstruktivistische Ausrichtung. So folgen auch bei Kraimer die beiden zur zweiten Ebene gehörigen Schritte einer Spur der gesellschaftlichen Verwurzelung des Photographierens. Im Rahmen der ikonografischen Stufe der Deskriptionsebene geht es um die »Analyse des Gemeinten/Vermeinten« 10, das heißt die »Logik des Wollens« oder des »Zweckes« 11. Die ikonologische In-

Vgl. Kraimer, Zur Einführung, S. 26 f. Ebd. 10 Ebd., S. 27. 11 Ebd. 8 9

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Bilder verstehen – ein mimetischer Prozess

terpretation »zielt auf die Ermittlung des faktischen Bildsinns« 12. Der zentrale Bedeutungsgehalt eines untersuchten Bildes soll auf diesem Wege fassbar gemacht werden. 13 Es wird schnell erkennbar, dass diese oder ähnliche Herangehensweisen kaum mit den erkenntnistheoretischen Präliminarien der Phänomenologie kompatibel sind. Es mag für sozialwissenschaftliche Deutungsverfahren charakteristisch sein, dass sie stets nach gesellschaftlich fundiertem Sinn suchen und nicht nach möglichen Bahnen des Bildverstehens Ausschau halten – mögen diese auch ganz abseits in Sinnprovinzen liegen, die weder ein Photograph je bedacht hat, noch ein »kritisch« interpretierender Geist je erwägen würde. Die so ausdrucksstarken Arbeiten von Alfred Stieglitz, die die Spannung von Natur und Technik um 1900 zum Thema gemacht haben, heben sich »nach« ihrer Zeit (etwa in der Gegenwart) von ihrem historischen Bedeutungsrahmen ab und münden in ganz andere Assoziationsfelder, in denen denkwürdig wird, was nie im Fokus des Photographen gelegen haben mag. Es ist jedoch Ausdruck der Zeitlichkeit einer Photographie, dass sie in aller Regel in einem »Danach« rezipiert wird und sich damit aus dem Rahmen einer Situation erschließt, die anders ist als die einer Aufnahme und sich deshalb auch von den Sinnbezügen unterscheidet, die ein Photograph möglicherweise einst mit seinem Bild verknüpft hat. Die Frage ist daher berechtigt, ob nicht das Spektrum denkbarer wie plausibler Sinngebungen in der Rezeptionspraxis eines Bildes von größerer Bedeutung ist als der einem Bild ursprünglich möglicherweise zugewiesene Sinn, der mangels verlässlicher und situations- bzw. erlebnisauthentischer Auskünfte durch den Urheber einer Aufnahme ohnehin fiktiv bleiben muss. Unabhängig davon dürfte die medienwissenschaftliche Aufgabe der Rekonstruktion ästhetischer, persönlicher und aller nur erdenklicher anderer Variablen der Einflussnahme auf historisch spezifische Praktiken der Bildgebung fortbestehen. Nur unterscheidet sie sich kategorial von der phänomenologischen Reflexion des Bildverstehens. Als Soziologe ist auch Ulrich Oevermann mit seiner Methode der Interpretation von Photographien auf der Suche nach gesellschaftlich vermitteltem Sinn. In seinem gleichwohl phänomenologisch orientierten Anspruch an die interpretative Arbeit mit Bildern 14 12 13 14

Ebd. Vgl. ebd. Vgl. Oevermann, »Get Closer«, S. 74.

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Die methodisch hoch regulierte Interpretation von Photographien

geht er zunächst davon aus, dass sie »Sinnstrukturen konstituieren« 15. Dies leisten sie für ihn zum einen als Texte, die ein Sujet zum Ausdruck bringen; zum anderen als Protokolle, die etwas wiedergeben, das es in der Realität gegeben hat. Am Beispiel eines Traumes stellt er zum Protokoll fest: »in diesem Fall ist die Erinnerung an den Traum im Wachzustand das Protokoll.« 16 Daraus folgt für ihn: »Nur wenn wir ein Protokoll haben, können wir methodologisch explizit die Geltung von Aussagen über die erfahrbare Welt überprüfen.« 17 Das Ziel besteht also darin, den Ausdruck eines Bildes an einer Referenzwirklichkeit zu messen und mit ihr in Beziehung zu bringen. Diese Deutung ist auf der Suche nach einem Sinn, der die Entstehungs- und Repräsentationsgeschichte eines Bildes plausibilisieren kann. Es darf jedoch nicht a priori vorausgesetzt werden, dass ein Photograph mit seinem Bild überhaupt etwas zu sehen geben wollte, das von irgendeinem bewussten Interesse gelenkt war. Und selbst wenn eine Aufnahme durch eine intentionale Sinngebung vermittelt war und nicht nur Resultat eines spontanen ästhetischen Impulses, so mündet die Frage nach dem Zusammenhang von Repräsentation und gesellschaftlichem Sinn schon deshalb ins potentiell Beliebige, weil die Überlagerung von ganz und gar persönlich-individualistischem Sinn und einem gesellschaftlich intendierten Gebrauchswert letztlich offen bleiben muss. Der Gebrauchswert einer Photographie entscheidet sich in Praktiken der Aneignung bzw. situativen Bildverwendung. Damit wird die Suche nach der einem Bild im Moment der Aufnahme beigegebenen Bedeutung zu einer akademischen Frage, die in Gänze auf hypothetischen, wenn nicht spekulativen Annahmen fußt. Der mögliche Sinn einer Aufnahme lässt sich – neben vielen anderen Deutungsaspekten – zwar plausibilisieren. Das Resultat einer Interpretation verweist letztlich aber doch nur in eine Richtung des Denkbaren. Wissenschaft, die nach den ihr vertrauten Methoden der Objektivierung und Segmentierung von Zusammenhängendem auch das Verstehen von photographischen Bildern anbahnt, endet schnell in einem interpretativen Maschinismus, der das Ganze eines Eindrucks

15 16 17

Ebd., S. 39. Ebd., S. 40. Ebd.

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Bilder verstehen – ein mimetischer Prozess

in Stücke zerlegt – wie ein Gebäude in einen Haufen aller möglichen Baustoffe. Was bei solch decodierender Segmentierung in besonderer Weise auf der Strecke bleibt, ist die Vielfalt sinnlicher Bezüge zu einer Aufnahme. Dies betrifft mehr noch die leiblich spürbar werdenden, affizierenden Berührungen, die sich im Bilderleben freisetzen. Die »Minderwertigkeit« des Sinnlichkeit und mehr noch der Leiblichkeit hat vor allem zivilisationshistorische Gründe, die zu einer atomisierenden Weltsicht führen, die nicht zuletzt den Interessen der Ökonomie entgegenkommt. So merkt Michel Henry kritisch an: »Was die Nichtbeachtung der Sinnlichkeit durch die Wissenschaft bedeutet, ist hiermit ganz klar geworden. Es handelt sich um das Zusammenstellen, […] ohne jene Gesetze zu berücksichtigen, die jedes mögliche Zusammenstellen letztlich gründen.« 18

14.3 Die phänomenologische Aus- und Eindrucksmacht der Photographie Die Photographien, die in diesem Band als ästhetische (und nicht als diskursiv ausgesagte) Mikrologien in einen phänomenologischen Fokus rücken, sollen nicht zu Objekten hoch regulierter Bildinterpretation werden, wie sie in den Methoden der qualitativen Sozialforschung etabliert ist. Intendiert ist vielmehr eine Annäherung an pathisch berührende Bildgehalte. Dieser Zugang zum Bild soll den »Sprung in eine neue Ebene der Reflexion« 19 bahnen. Schon deshalb kann keine systemisch kleinteilig zergliedernde Bildinterpretation zu einer profunden Annäherung an verborgenen Sinn führen, geschweige denn dem Eindruckserleben vom Charakter der Begegnung gerecht werden. Methoden, die die Ganzheit eines Bildes in abstrakte Fragmente zerlegen, verstellen eher die Möglichkeit der Konstitution spürbarer Beziehungen zu einem Erscheinenden, als dass sie ihr entgegenkämen. Der phänomenologische Weg der Mikrologien zielt allerdings seinerseits auf zwei Wege der Reflexion ästhetischen Bilderscheinens ab. Entweder zeigt sich das Kleine, Einzelne und Besondere des photographischen Bildes gewissermaßen schlagartig durch vorscheinende Evidenz, oder es bleibt (zum Teil) verdeckt und wird im

18 19

Henry, Die Barbarei, S. 49. Mersch, Sprung in eine neue Reflexionsebene, S. 139.

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Die phänomenologische Aus- und Eindrucksmacht der Photographie

Wege der Reflexion größerer Zusammenhänge erschlossen und damit aus einer Welt multipel vernetzter und ineinander gelagerter Bedeutungen herausgehoben. Die das Verstehen anstrebende Annäherung an ein Bild folgt auf einem zunächst intuitiven Wege dem ganzheitlichen Bildausdruck. Es versteht sich, dass in der Herstellung solch pathischer Beziehungen nicht Sachverhalte im Sinne eines »eindeutig« Sichtbaren, geschweige denn »sachdienliche Hinweise« erkenntnisleitend sind, sondern Bedeutungen und Gefühle, die sich situativ im ästhetischen Erscheinen eines Bildes brechen. Wo eine Photographie berührt und nachdenklich stimmt, weckt sie Gefühle und tangiert eine sich in Bedeutungen spiegelnde Welt. Dabei werden mimetische Beziehungen hergestellt, die nicht auf Kausalitäten basieren. Mimesis ist kreative Anverwandlung der subjektiven Aufmerksamkeit an etwas Erscheinendes. Die Kategorien des auf einen Bildeindruck bezogenen Denkens und sich anbahnenden Verstehens liegen aber nicht in abstrakten Konstruktionen schon vor. Ebenso wenig folgen sie aus theoretischen bzw. analytischen Begriffssystemen oder anderen abstrakten Mustern der Zuschreibung von Identität. 20 Die den Prozess der verstehenden Auseinandersetzung mit einem Bild lenkenden Aufmerksamkeiten generieren sich vielmehr aus dem Fundus einverleibten Bedeutungswissens, dessen Bestände die unwillkürliche Lebenserfahrung angelegt hat. 21 Die Abstraktionsbasis des Verstehens, woran sich emotionale Resonanzbeziehungen zu Bildern orientieren, liegt unterhalb kognitiv-szientistischer Modelle; sie lehnt sich an die Erlebnisqualitäten dessen an, was eindrücklich wird. »Die Phänomenologie gewinnt ihre Eigenart als Forschungsrichtung durch die Tendenz, die Abstraktionsbasis der Begriffsbildung näher an die unwillkürliche Lebenserfahrung heranzulegen, tiefer in diese einzudringen, sie in ihrer Fülle und Ursprünglichkeit besser zu begreifen.« 22

Das photographische Bild geht in seiner Essenz, das heißt in seinem Punctum, nie in dem auf, was sichtbar wird; zur Erscheinung kommt neben dem im engeren Sinne Sichtbaren stets auch ein Überhang an Bedeutungen, der auf imaginäre Weise ins Bild hineinragt und an

20 21 22

Vgl. auch Schmitz, Neue Phänomenologie, S. 18. Vgl. ebd. Ebd.

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Bilder verstehen – ein mimetischer Prozess

unsichtbaren Tiefenschichten gleichsam »klebt«. Zu seiner Referenzwirklichkeit steht es in einer schwer fassbaren Ferne-Beziehung. Das Projekt der Mikrologien folgt dem Ziel, dem ganzheitlichen Ausdruck eines Bildes gerecht zu werden. Was auf seinem physischen Träger sichtbar wird und beeindruckt, ist deshalb auch mehr als eine Summe von Segmenten. Damit rücken jene ästhetischen Implikationen des photographischen Bildes ins Zentrum, die sich gleichsam zwischen Ausdruck und Eindruck konstituieren und die Assoziation wie Erinnerung von Bedeutungen herausfordern. Diese in ihrer Rückbindung an das leibliche In-der-Welt-Sein sich lebendig einfühlende Bildnahme kann subjektiv virulente Beziehungen (nicht zuletzt gesellschaftlich vermittelte) bewusst machen, die mit einem Bildsujet greifbar werden. Bildrezeption geht damit nicht als aseptisch-rationale Decodierungsprozedur vor sich, sondern aktualisiert sich gefühlsmäßig spürend in mimetischen Beziehungen zu einem Bildsujet. Eine photographische Serie über Begräbnisplätze (s. auch Kapitel II.5) hätte im erkenntnistheoretischen Rahmen der Phänomenologie ihr Programm nicht darin, propositionales Wissen über die Vielfalt und gestalterische Variation von Friedhöfen zu generieren. Diese illustrative Aufgabe fiele eher dem dokumentarischen Bild zu, das (aus der Serie entnommen und neu kontextualisiert) mit einem einzelnen Bild der Serie durchaus identisch sein könnte. Was dann sichtbar würde, folgte jedoch, sofern der Mitteilungscharakter die Funktion einer Aufnahme bestimmen würde und nicht die subtile Wirkungsweise einer verborgenen Affektordnung, der Logik der Dokumentation. Wie ein Pissoir nur in einer Kunsthalle zum ästhetischen Objekt der Kunst wird, so die Photographie eines Begräbnisplatzes lediglich dann zum Medium der Dokumentation, wenn es um die Pragmatik von Friedhöfen geht und nicht ums leibliche Eintauchen in ihre abgründig numinosen Atmosphären. Die für diesen Band zusammengestellten Aufnahmen eines exzentrischen thanatologischen Raumes fungieren dagegen als Medien der Kommunikation von Gefühlen, deren ästhetische Spannung sich zwischen dem naturwissenschaftlichen Wissen über den Tod und dem Glauben an einen jenseitsweltlichen Mythos auflädt. Eine Photographie bzw. eine ganze Bildserie bietet sich so der Weckung von Bedenklichkeit an und damit der kritischen Reflexion subjektiver Beziehungen zu einer existenziellen »Grenzsituation« – dem Gefühl, das die abgründige Beängstigung durch den noch ausstehenden gleichsam »persönlichen« Tod aktualisiert. Damit gerät die Sache eines (speziellen) Begräbnisplatzes zwar 230 https://doi.org/10.5771/9783495823750 .

Die phänomenologische Aus- und Eindrucksmacht der Photographie

nicht aus den Augen; aber sie erscheint in einem ästhetischen Licht, in dem sich die dem Bild gleichsam anhängenden und assoziativ wachrufenden Gefühle und symbolischen Beziehungen dem Bewusstsein als Stoff nachspürenden Bedenkens anbieten. Die sich stellenden existenziellen Fragen berühren die Endlichkeit individuellen Seins – dies nicht als logische Folge der Explikation einer Aussage in der satzförmigen Rede, sondern durch die bewegende Kraft des ästhetischen Ausdrucks einer bzw. mehrerer Photographien. Wenn man die Anbahnung hermeneutischer Brücken nachspürenden Verstehens im Allgemeinen auch nicht – allzumal vor dem Hintergrund sozialwissenschaftlicher Forschungsmethoden – als einen empirischen Erkenntnisweg auffassen dürfte, so handelt es sich doch genau darum, wenngleich in keinem methodologisch konventionellen Sinne. Photographien sind in ihrer Vermittlung von Gefühlen insofern als empirische Objekte anzusehen, als sie die Atmosphäre einer Referenzwirklichkeit ins Bewusstsein bringen: »Es gibt eine zarte Empirie, die sich mit dem Gegenstand innigst identisch macht und dadurch zur eigentlichen Theorie wird.« 23 Es ist dies keine rationalistisch durchexerzierte Empirie, sondern eine »pathische« Exploration des leiblich Vernehmbaren. Nicht um Faktisches über einen Gegenstand zu erfahren, sondern um einen bewusst spürenden Zugang zu einer im Bild vorscheinenden Wirklichkeit zu entdecken, die es so oder in vergleichbaren Situationen ähnlich gegeben hat und wieder geben könnte. Emotional treffend sind nur solche Photographien (als Einzelbilder wie eingebunden in eine Serie), die nicht dem Ausdrucksprogramm propositionaler Wissensvermittlung folgen, sondern dem Ziel der Kommunikation von Atmosphären. Die Emission einer Atmosphäre gelingt einem Bild, wenn sein Punctum in seiner ästhetischen Präsenz auf insistierende Weise immersiv erlebt wird. Arbeiten, in denen Eugène Atget zahllose Pariser Orte in einer abgeschminkten 24 Aura ins Bild gesetzt hat, vermitteln solche Anschauungen, die auf einer verdeckten Ebene von Gravuren des tagtäglichen städtischen Treibens durchzeichnet sind. Atgets Räume sind jedoch frei von Menschen; wie ausgeräumt wirken sie, leer und öde. Es sind Orte mit einem ganz eigenen Genius Loci. Sie stellen Einblicke in Wirklichkeiten vor, deren lebendiges Dahinströmen eingeschlafen zu sein scheint. All diese Bilder sind weniger Dokumente 23 24

Goethe, zit. bei Benjamin, Kleine Geschichte der Photographie, S. 59. Ebd., S. 56.

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Bilder verstehen – ein mimetischer Prozess

einer Stadt, als Zeugnisse einer Begegnung mit scheinbar verlassenen Orten. Walter Benjamin hatte vom »optisch Unbewußten« 25 gesprochen, das im Gebrauch von Zeitlupe und Vergrößerung »hinter« dem sichtbar Gemachten etwas vom Wesen der Orte, Menschen oder Dinge wie Situationen der Natur zur Anschauung gebracht und damit dem Nachdenken zugespielt hat. Es war sicher keine rationale Haltung zum Erscheinenden, die zu dieser Methode des Photographierens motiviert hat, sondern pathische Sensibilität gegenüber dem, was hinter der Betriebsamkeit des Tagtäglichen versteckt war. Atget geht mit »seinen« Orten um wie mit einem Modell, das man nach Belieben platzieren und positionieren kann. Nur griff er nicht aktiv in seine Szenen ein, sondern ging zu seinen Aufnahmeorten, nachdem sich das Leben aus ihnen zurückgezogen hatte oder noch gar nicht erwacht war. So konnte er Bilder menschenfreier und wie ausgestorben wirkender Umgebungen schaffen, ohne auch nur den mindesten Aufwand irgendeiner rückfragenden und um Erlaubnis bittenden Kommunikation betreiben zu müssen. Was Benjamin über die Art des Erscheinens von Modellen in Photographien sagt, berührt indirekt auch den Stil, in dem Bauten, Plätze, Toreinfahrten oder Brücken auf Atgets Bildern sichtbar gemacht werden: »Der Beschauer [fühlt] unwiderstehlich den Zwang, in solchem Bild das einzige Fünkchen Zufall, Hier und Jetzt, zu suchen, mit dem die Wirklichkeit den Bildcharakter gleichsam durchsengt hat, die unscheinbare Stelle zu finden, in welcher, im Sosein jener längstvergangenen Minute das Künftige noch heut und so beredt nistet, daß wir, rückblickend, es entdecken können.« 26

Wo sollte der Platz für sinnerschließende Fragen sein, läge eine »ganze« Photographie nur noch als eine in Teile zergliederte (Un-) Ordnung von Bildsegmenten vor, als Produkt einer Fermentierung, die zur Herstellung von »Übersichtlichkeit« für eine forschungsmethodisch durchoperationalisierte Interpretation ins Werk gesetzt worden wäre? Vor allem in Photographien, die Rätsel aufgeben und die Sehroutinen verwirren, tun sich unerwartete Abgründe auf. An ihnen öffnen sich immer wieder neue Horizonte des Fragens. Vorausgesetzt ist indes, dass solche Bilder als Ausdruck situativen Erlebens

25 26

Ebd., S. 50. Ebd.; ein erweitertes Zitat findet sich in Kapitel 4.

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Die phänomenologische Aus- und Eindrucksmacht der Photographie

angeschaut werden und nicht als Rohstoff fragmentierender Analysen dienen. Als ansprechende »Partner« leiblicher Kommunikation werden sie zu Anlässen der Suche nach unbedachten Bedeutungen, die hinter übersehenen Mustern durchschimmern: »Bildwelten, welche im Kleinsten wohnen« 27. Was aus der mimetischen Beziehung zum Bild ins Nachdenken drängt, fordert die mikrologische Explikation in der Form der wörtlichen Rede heraus, um die Welt des Diskursiven um denkwürdige Momente zu bereichern. Interpretationen streben dem Ziel zu, ein deutbares Objekt schrittweise für das Verstehen aufzuschließen. Im Unterschied zu tradierten, routinisierten und von einer scientific community goutierten Methoden der Inhaltsanalyse stellen die Wege phänomenologischer Annäherung ans photographische Bild ganzheitliche Resonanzbeziehungen her. Phänomenologische Bild-»Annäherung« verfährt deshalb aber nicht zufällig und orientierungslos, ist vielmehr in einem tentativen Sinne als einfühlende Resonanz gestimmt. Der Habitus der Annäherung entspricht einer Berührung, die sich auf dem Wege des Bilderlebens in ein wahrnehmbar werdendes Sujet verwickeln lässt. Phänomenologische Bildreflexion geht den Weg der erinnernden Aktualisierung spürbarer Beziehungen zu einem Gegenstand und schafft so erkenntnistheoretische Zuwächse. Das Bild ist dabei Medium der Sichtbar- und Spürbarmachung von etwas, das im engeren Sinne nicht sichtbar ist. Wie man eine Speise aus der Perspektive der Herstellung und des Genusses, ihrer Bildhaftigkeit wie ihrer kulinarischen Qualitäten usw. betrachten und bewerten kann, so öffnet auch die Photographie in spezifischen Sichten ganz eigene Erscheinungs- und Erlebnisweisen und damit auch ganz unterschiedliche Ausgangs- wie Bezugspunkte des Denkens. Phänomenologisch ausgerichtete mimetische Bildbetrachtung ist als Bildung zu verstehen, die weniger in einem von sich aus gedeihenden Wachsen geschieht, als im Prozess eines »beständigen Ringen[s]« 28. Wenn ein Bild nicht unmittelbar etwas zum Vorschein bringt, sondern in seiner aisthetischen Tiefenstruktur auch Essentielles birgt (wie das Punctum im Sinne von Roland Barthes), so verlangt das sich selbst bildende Begreifen die tentative, sich schrittweise vortastende, feinfühlige Berührung.

27 28

Ebd. Guardini, Liturgische Bildung, S. 17.

233 https://doi.org/10.5771/9783495823750 .

Bilder verstehen – ein mimetischer Prozess

Bildlichkeit ist »der wichtigste Fall präsentativer Symbolik« 29. Sie bedarf einer sinnlich sensiblen und für die Erschießung möglicher Bahnen leiblicher Kommunikation offenen Denk- wie Verstehensweise. Phänomenologische Deutung kommt, mit Hermann Schmitz gesagt, nicht zuletzt aus der »anschauenden Versenkung« 30. Nur dann kann sie sich methodisch als geschärftes Instrument der Erkenntnis erweisen. Diese ist insofern methodisch offen, als sie bewusst auf die prozedurale Zergliederung des Wahrgenommenen durch viele Einschnitte verzichtet, jedoch nicht auf die lasche Aufmerksamkeit des »fahrigen« Blickes hinausläuft. Die sich in die Detailstruktur situativen Erlebens einbohrende phänomenologische Autopsie vermittelt dagegen systematisierbare und theoretisch facettenreich interpretierbare Befunde. Darin liegt kein Widerspruch zur Annäherung an ganzheitliche Situationen, weil auch, was im Kleinen und Besonderen liegt, Ganzheitliches zur Geltung bringt, wenn auch nun vom Charakter segmentierter Situationen. 31 Auch dabei folgt die sehende Berührung einem einfühlungsorientierten Modus der Anschauung. Solches »Selbst-Hinsehen« 32 ist kein (semiotisches) Lesen. Zum Gegenstand der Anschauung und des Interesses wird in der Bildbetrachtung nichts tatsächlich herumwirklich Erscheinendes, sondern etwas, das im Bild darauf verweist. Eine Photographie bringt als zweidimensionaler Gegenstand nichts zur Anschauung, wie es dies im tatsächlichen und gelebten Raum gibt. Sie setzt alles, was sich in permanenter Bewegung befindet, fixierend auf einem Bildträger fest. Umso mehr gebietet sich der Weg der anschauenden, unter die Haut seiner Oberfläche gehenden Versenkung ins Erscheinen einer verbildlichten Referenzwirklichkeit.

14.4 Die »weckende« Funktion überraschender Bilder Während die sozialwissenschaftlich-systematische Analyse den Pfad des Suchens geht, folgt der phänomenologische Weg zunächst der Inspiration entdeckenden Findens, bevor auch dann hermeneutische

Jung, Hermeneutik zur Einführung, S. 146. Schmitz, System der Philosophie, Band II/2, S. 3. 31 Zum Begriff »segmentierter Situation« vgl. auch Schmitz, Was ist Neue Phänomenologie, S. 91 f. 32 Gleixner, Lebenswelt Großstadt. 29 30

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Die »weckende« Funktion überraschender Bilder

Analysekategorien herangezogen werden, um verdeckte Bedeutungen und Verweise auf sozialen Sinn freizulegen. Damit kündigt sich kein polarer Gegensatz an, aber doch ein Spannungsverhältnis, in dem die Wege unterschiedlicher qualitativer Methoden auseinanderdriften. Ein durch hypothetische Vorannahmen bereits ausgestaltetes Analyseinstrumentarium schränkt das Feld ein, in dem Unerwartetes und Überraschendes noch vor Augen treten kann. Für das von der Erwartung Abweichende existieren bestenfalls Sonderräume, in denen sich Potentiale fruchtbarer Irritation entfalten könnten. Das heißt im Umkehrschluss aber nicht, dass der in Gänze Unvorbereitete und nichts Erwartende, der Klügere ist. Jedoch begünstigt der Verzicht auf kleinmaschige Operationalisierungen der Aufmerksamkeit die Konstitution einer achtsamen Grundhaltung der Wahrnehmung gegenüber Facetten im Erscheinenden sowie den sich damit zur Geltung bringenden leiblich-gefühlsmäßig vernehmbaren Vitaltönen. Pathisch sensibles und erwartungsoffenes Wahrnehmen-Können fällt aber nicht vom Himmel. Jede phänomenologisch geschärfte Aufmerksamkeit erfordert in der Annäherung an Photographien und das in ihnen Geborgene zunächst eine Übung genauen Bemerkens, das über nur gutes optisches Sehen-Können hinausgeht und ein Sensorium für das Lebendige verlangt. »Innerhalb der abendländischen Philosophie in ihrer Abhängigkeit von Griechenland, wo der Mensch durch das Denken definiert wurde, war das Leben in größtem Maße abwesend.« 33 In der »Abwesenheit des Lebens«, welche sich mit Macht in der paradigmatischen Orientierung der spätmodernen Sozialwissenschaften in der Kultivierung der Abstraktionen durchsetzt, sieht Michel Henry ein habituelles Moment in der Struktur der menschlichen Aufmerksamkeit im westlichen Kulturkreis. In der Folge hatte das Materielle den Vorrang vor dem Immateriellen, das geistige Derivat wog mehr als der sinnliche »Rohstoff« des Eindrücklichen, und die Reize der »höheren« Sinne versprachen weit bessere Brauchbarkeit als das, was die sogenannten »niederen« Sinne leiblich zu spüren geben. Oft vermitteln Photographien das Plötzliche, Unerwartete und Überraschende. Dank der davon ausgehenden affizierenden Macht motiviert es nicht selten sogar zur Aufnahme einer Photographie. Das Plötzliche irritiert; es bestätigt nicht – gleichsam beruhigend – das Gewohnte. »Erweckende« Aufnahmen sind aufmerksamkeitsevo33

Henry, Affekt und Subjektivität, S. 24.

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Bilder verstehen – ein mimetischer Prozess

zierende Medien und Katalysatoren der Neuordnung sicher geglaubten Wissens. Das Plötzliche, das den Affizierungscharakter des Unerwarteten ausmacht, zwingt das Individuum (und in der kollektiven Form ganze Gesellschaften), die Linien kognitiver wie affektiver Orientierung neu abzustecken. Nur dann kann es dem Individuum gelingen, auch unter sich verändernden Lebensbedingungen situativ anpassungsfähig zu bleiben. Jede Überraschung weckt, so unvermittelt sie in eine aktuelle Lebenssituation auch einbrechen mag, einen Anpassungsdruck, mit eindrücklich werdendem Neuen fertig zu werden. Nach Hermann Schmitz setzt das Plötzliche, das Unerwartete, das Irritierende und Neue das Individuum deshalb auch einem scheinbar widersprüchlichen Balanceakt aus. Wer von etwas überrascht und in der Folge verunsichert wird, kann sich als orientierter Mensch nur behaupten, »indem er zugleich auf künftige Situationen gefasst ist, die in die gegenwärtige Situation einbrechen und ihm das Heft, mit dem er diese im Griff hält, aus der Hand nehmen könnten.« 34 Bilder, die sich weniger als rational-verstandesmäßige, denn als emotionale Medien präsentieren, evozieren (allzumal bei unbekannten bis exotischen Sujets) das Staunen. Ins Staunen können zwar auch andere Medien und nicht zuletzt (vor allem poetische) Texte versetzen. Jedoch tingieren realistisch erscheinende Photographien das subjektive Befinden in der Art ihrer Affizierung doch auf eine ungleich immersivere, geradezu packende Weise. Was staunen lässt, verdankt sich der Eindrucksmacht des Unerwarteten und Überraschenden. Was irritiert, fügt sich nicht – jedenfalls nicht ohne Widerstände – in die orientierte und bis auf Weiteres verstandene Welt des Subjekts ein. Diese Welt nennt Hermann Schmitz »entfaltete Gegenwart« 35. Die prüfende Revision von allem schon Gewussten sichert dann (soweit es für die Bewältigung einer aktuellen Situation von Belang ist) die Synchronisierung des Eindrücklichen mit bereits existierenden Wissensbeständen. Was dann geschieht, ist zum einen ganz alltäglich, weil jedes Individuum in seinem situativen Mit-Sein nur lebensfähig bleiben kann, wenn es sich offen und flexibel gegenüber jenen Eindrücken zeigt, die in die Ordnung bewährten Wissens störend gleichsam einschneiden. Das Plötzliche birgt auch im existenzphilosophischen Sinne aporetische Potentiale und weckt die Denkwürdigkeit. »Der Mensch […] 34 35

Schmitz, Geschichte als Herausforderung durch das Unerwartete, S. 23. Vgl. Schmitz, Neue Grundlagen der Erkenntnistheorie, S. 110 ff.

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Die »weckende« Funktion überraschender Bilder

ist dafür empfänglich, im Sinne der ›Philosophie‹ vom Seienden in Staunen versetzt zu werden, d. h. sich staunend im Seienden zu finden« 36. Damit streicht Giampiero Moretti ein anthropologisches Moment in der Selbstkonstitution des Menschen heraus. Dieser kann in seinem lebensgeschichtlichen Werden nur vorankommen und immer wieder auch ein anderer werden, wenn er, was er wissend und durch Erfahrung im Griff zu haben glaubt, immerzu aufs Neue zur Disposition stellt und für Revision wie Korrektur öffnet. Seiner existenziellen (und viel weniger seiner biologischen) Lebendigkeit halber bedarf er der Überraschung, der Irritation und noch des Schrecks. Den sich damit stellenden, mitunter verwirrenden Situationen kann er nur gerecht werden, wenn er sein Gefühl der Sicherheit in einer verstanden geglaubten Welt verflüssigt und sich für die überraschungsbedingt notwendig werdende Neuordnung lebensweltlich richtungsweisender Bedeutungen bereit macht. Zahllose Photographien haben im phänomenologischen Rahmen der »Mikrologien« darin eine erkenntnisleitende Funktion, dass sie neben bzw. außerhalb der Welt der Sprache im Medium des Ästhetischen Denkwürdigkeit herstellen. Was eine Photographie »festhält«, hat im Moment einer Aufnahme bereits Aufmerksamkeit gefunden. Sonst wäre ein Bild gar nicht erst entstanden. Schließlich wird es aufgenommen, um etwas Eindrückliches zu einer späteren Zeit erneut der Anschauung zuzuführen und ein vergangenes Situationserleben affektiv aufzutauen. Die Methode der Photographie ist also von vornherein in eine Ökonomie der Aufmerksamkeit und damit auch in sujetspezifische Profile der Affizierung eingebunden. Schon in ihrem fixierenden Charakter bergen die Bilder ein Potential mikrologischer Details, das dem allein vom Selbstverständlichen gelenkten Hinsehen vorenthalten und dem Denken deshalb weitgehend entzogen bleibt. Es sind oft Details, die in ihrer Verborgenheit und überlaufenden Kontingenz selbst dem aufmerksamen Künstler entgehen können: »One advantage of the discovery of the Photographic Art will be, that it will enable us to introduce into our pictures a multitude of minute details which add to the truth and reality of the representation, but which no artist would take the trouble to copy faithfully from nature.« 37

36 37

Moretti, Ist (die) Philosophie (eine) Stimmung?, S. 453. Talbot: The Pencil of Nature, p. 33.

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Bilder verstehen – ein mimetischer Prozess

Wenn auch lange nicht alles, was wahrnehmbar ist, auch bewusst erfasst wird, so bietet sich doch auch das noch nicht Verstandene dem pathischen Begreifen an. Jede Bilderfahrung ist deshalb nach Bernhard Waldenfels medial, szenisch und pathisch im Prozess einer leiblichen Bilderfahrung verankert 38, die sich letztlich Wege bahnt, welche Hermann Schmitz mit dem Begriff »leiblicher Kommunikation« fasst. Diese bedarf keiner menschlichen oder tierischen Dialogpartner, sondern allein einer Korrespondenzwelt, auf die ein lebendes Wesen (ein Mensch wie ein zum leiblichen Spüren fähiges Tier) mit spezifischen Äußerungen »antworten« kann. In der Welt der Kunst und des Bildes kommt es nicht auf die (scheinbar) exakte prosaische Rede an, sondern auf die Eröffnung von Fühl- und Denkräumen der Imagination. Allzumal irritierende Photographien, die Unerwartetes präsentieren, wecken von sich aus die Aufmerksamkeit, evozieren Fragen und provozieren den (kontroversen) Dialog. Dieser konstituiert sich allerdings nicht zwangsläufig in der Form expressis verbis formulierter Sätze; den in einem weiteren Sinne dialogischen Austausch gibt es auch im Milieu des Ästhetischen. Aber eine Photographie »antwortet« anders auf eine eindrücklich werdende Situation als eine Äußerung in der satzförmigen Rede. Explikationen im Medium des Bildes sind weniger festgelegt als sprachliche Sätze, die aus Wörtern bestehen, denen kulturell fixierte Bedeutungen zugeschrieben sind. Die ein Bild umwebenden Bedeutungen öffnen sich dem tentativen Verstehen auf einer Grenze ästhetischer und diskursiver Rationalität. Was die Bilder in ihrer Sichtbarkeit transzendiert, verliert sich mitunter auf rätselhafte Weise ins Unbekannte und provoziert die Verständigung. Was schon verstanden zu sein scheint, kann auch anders verstanden werden als Sprach- und Deutungsroutinen es nahelegen. Umso mehr sind es die Bilder eigenartiger, ungewohnter, nicht-alltäglicher, seltener oder aus welchen Gründen auch immer Aufmerksamkeit weckender Objekte oder Sichtweisen, die in ihrem ästhetisch-immersiven Charakter den Dialog in einer lebendigen Gesellschaft evozieren – auch, um dem Diskurs in seinem »ersten« Milieu, dem der wörtlichen Rede neue Wege zu bahnen. Im Fokus der Phänomenologie bietet sich insbesondere die Photographie als Übungsfeld zur Verfeinerung der Wahrnehmung an, sowohl in der Situation der Bildproduktion wie der Bildrezeption. Nach Schmitz ist Phänomenologie ein »Lernprozess der Verfeinerung 38

Vgl. Waldenfels, Phänomenologie der Aufmerksamkeit, S. 205.

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Die »weckende« Funktion überraschender Bilder

der Aufmerksamkeit und Verbreiterung des Horizontes für mögliche Annahmen« 39. Wenn sich Bilder auch zunächst ganzheitlich zu verstehen geben, so sind sie doch gegenüber dem reflektierenden Nachdenken nicht versiegelt, nur weil sie sich ästhetisch präsentieren und der Zerteilung in Segmente nicht in ähnlicher Weise anbieten wie Äußerungen in der wörtlichen Rede. Der bewusste Umgang mit Photographien setzt weder Theorielosigkeit noch den Verzicht voraus, Einzelnes zu fokussieren und in der Folge zu explizieren. Was im Bild zunächst als Ganzes im Sinne eines Zusammenhängenden erscheint, fordert in der gleichsam zweiten Annäherung die Segmentierung sogar heraus, denn das Sagbare liegt nicht wie die Pointe eines leicht verständlichen Aussagesatzes ohne subtil hinterlegten Sinn offen zu Tage. »Eindrücke sind Situationen, die in einem Augenblick ganz zum Vorschein kommen, einschließlich ihres chaotisch-mannigfaltigen Hofes oder Hintergrundes der Bedeutsamkeit« 40. Ein noch so »einfach« erscheinender bildlicher Eindruck mag sich bei genauerer Reflexion im Modus der Dauer als Vorschein eines größeren und noch unverstandenen Zusammenhangs entpuppen. Solche verstehend sich vortastende Freilegung von mehr oder weniger plötzlich fassbarem Sinn erfordert je nach Art einer Photographie einen je eigenen Aufwand autopsierender Durchdringung von Bildoberflächen und -tiefenschichten. Bildverstehen ist nie linear, wie es mit erreichten Befunden weder schnell noch umstandslos an ein alles erklärendes Ende kommt. Die am besseren Verstehen orientierte Durchdringung eines Eindrucks folgt dem Ziel der Variation möglicher, wenn auch verdeckter Deutungslinien. Dabei sind »der Hellhörigkeit des Vergewisserungsstrebens« 41 keine Grenzen gesetzt. »Die Urteilsbildung muß durch aufgeschlossenes Einholen, Bedenken und Vergleichen von Zeugnissen jederlei Herkunft angeregt und durchgearbeitet werden.« 42 Die Methode der Neuen Phänomenologie bedient sich dabei einer analytisch-rekonstruktiven Methode »die mit einer Kennzeichnung von Phänomenbezirken in der geläufigen Sprache beginnt, dann die gewählten Bezirke nach wiederkehrenden Grundzügen durchforscht und mit dem an solchen Grund39 40 41 42

Schmitz, System der Philosophie, Band III/5, S. 14. Schmitz, Neue Grundlagen der Erkenntnistheorie, S. 77. Schmitz, Der unerschöpfliche Gegenstand, S. 32. Ebd., S. 33.

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Bilder verstehen – ein mimetischer Prozess

zügen terminologisch geeichten Alphabet, dessen Angemessenheit auf die Probe stellend, typische Phänomene aus diesen Bezirken gleichsam nachbuchstabiert« 43. Ein in diesem Sinne verstandenes Phänomen ist etwas zur Erscheinung Kommendes, das in seiner Evidenz an die willkürliche Lebenserfahrung zurückgebunden ist. Ich habe diese Methode auf die Autopsie zahlreicher Situationen des täglichen Lebens angewendet; sie sind in den Bänden 1 und 2 detailliert ausgearbeitet. 44 Die Produktion photographischer Aufnahmen folgt insofern keinem rationalen Plan, als sie nicht das Resultat eines (im Sinne von Roland Barthes) gleichsam »umgedrehten« studiums ist. In einem (bestenfalls) feinen Gespür fürs Darstellbare nimmt sie – auch wenn sich dieser Prozess in der mimetischen Situation der Aufnahme dem Bewusstsein weitgehend entziehen mag – das Punctum vorweg. Dieses ist es letztlich, das die Essenz der Explikation eines Erlebens im Medium des Bildes ausmacht und nicht irgendeine rationale Konstruktion. Was sich im studium wie im punctum offenbart, ist angesichts überlaufender Bedeutungsfülle nicht zuletzt vom Wissen des Betrachters abhängig. In der Aufnahme eines Bildes wie in dessen (späterer) Wahrnehmung aktualisieren sich Beziehungsqualitäten. Photographien, die als Ausdruck situativen Erlebens aufgenommen und (später) gedeutet werden, sind deshalb Spiegel der Macht der Subjektivität über die situative Selbstkonstitution des Menschen.

43 44

Schmitz, Neue Phänomenologie, S. 25. Vgl. Hasse, Die Aura des Einfachen – sowie Märkte und ihre Atmosphären.

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Teil II Das photographische Bild in der Phänomenologie: Autopsien in fünf Feldern

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Das photographische Bild in der Phänomenologie: Autopsien in fünf Feldern

Die im zweiten Teil dieses Bandes gezeigten Photographien dienen einem doppelten Zweck. Zum einen setzen sie Eindrücke subjektiven Situationserlebens ins Bild, zum anderen fungieren sie selbst als eindrücklich werdende Medien, indem sie einen Betrachter je nach dessen Sensibilität berühren. Sie sind in der Perspektive der Bildgebung ästhetische Ausdrucksgestalten subjektiven Erlebens. Deshalb folgen sie auch keiner Logik der Dokumentation im üblichen Sinne; dennoch können sie in Bezug auf das subjektive Erleben eines Photographen als Dokumentation leiblich individueller Verwicklung in eine Situation aufgefasst werden. In einem nachgeordneten Verständnis haben sie insofern einen realitätsbezogen dokumentarischen Wert, als sie etwas sichtbar machen, das es an einem Ort oder in einem Raum gegeben hat. Da jede Bildrezeption eine Haltung zum Medium impliziert, stellt sie auch eine erkenntnistheoretisch relevante Beziehung zur Referenzwirklichkeit einer Photographie her. In der Art und Weise der Hinwendung zu einem im Bild Erscheinenden wird dieses zu einem Medium der Dokumentation oder Illustration. In dem, was eine Photographie dann »dokumentiert«, ist sie begrenzt, weil sich das an einer Sache Dokumentationsbedürftige nie erschöpfend zur Geltung bringen kann. Es ist nicht mehr als ein Potential, dessen Erschließung am Faden der Reflexion verdeckter Tiefenstrukturen ent-deckt werden kann. Wenn den Photographien dennoch Nützliches zum besseren Verstehen von Wirklichem entnommen werden kann, so erschließt sich dieser Weg der Aneignung nicht zuletzt dank der kreativen Macht der Anschauung. Es gibt insofern kein authentisches Bild einer Realität, als sich diese (oder etwas von ihr) in einer Photographie »abbilden« würde. Sie fordert die Imagination heraus, indem sie eine (kognitive wie affektive) Brücke der Besinnung baut. Sie zeigt eine von möglichen Sichten auf etwas, ohne das Gezeigte in Gänze zu erhellen. Und so provoziert, was sichtbar wird, die denkend wie spürend wache und nach Unentdecktem fragende Reflexion. Diese vertieft sich »unter« der Oberfläche einer visuellen Darstellung in das darin Verborgene. Dabei ist die Stiftung von Denkwürdigkeit nicht nur von der Methode der Bildpräsentation (zum Beispiel in der Form der Serie) abhängig, sondern auch vom Bildsujet. Allzumal Schwarz-WeißPhotographien »entfernen« sich von sinnlicher Wirklichkeit, die es nie ohne Farben gibt. Die Entscheidung für die Aufnahme von Schwarz-Weiß-Photographien in diesem Band kommt dem Pro-

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Das photographische Bild in der Phänomenologie: Autopsien in fünf Feldern

gramm einer Verfremdung entgegen, so dass sich der Wahrnehmung umso eindringlicher präsentiert, was lebensweltlich doch ganz anders ist. In den folgenden Bildserien finden sich keine Objekte aus dem Spektrum »großer« Architektur (vom Theater über die Oper, dem Rathaus und Parlamentsgebäude bis hin zu Gerichtspalast und Gefängnis), sondern zum einen (beginnend mit einer Bildserie über Garagen) infra-gewöhnliche Gegenstände des täglichen Lebens. Es werden aber auch Milieuansichten gezeigt, die in der alltäglichen Wahrnehmung gar nicht vorkommen (wie die Innenräume eines Krematoriums), gemieden werden (wie im Verfall befindliche Stadtquartiere) oder – in der Wahrnehmungswelt der Dinge – eher gar nicht erst in den Radius der Aufmerksamkeit gelangen (wie die ausschnitthaften Ansichten von Schiffswänden). Wenn das photographische Bild auch zu einem Medium vielschichtiger wie einer in ihrem Ausgang offenen Kommunikation wird, so unter anderem deshalb, weil die Verläufe, in denen sich ein Betrachter zu einem Bild in Beziehung setzt, von immens vielen Wegen und möglichen Bifurkationen abhängig sind. Zunächst darf Verstehen insofern als ein sich affektiv wie kognitiv herausfordernder Prozess aufgefasst werden, als das im Bild Gezeigte immer nur aus einem individuell lebendigen Rahmen von Bedeutungen und Wissensfragmenten verstanden werden kann. Sich reflexiv verflechtende Sinngefüge sind zu einem beträchtlichen Teil Produkt biographisch verfügbarer Muster der Identifizierung. Identifiziert wird indes nicht nur, was in einem kognitiven und engeren Sinne gewusst wird und bewusst ist, sondern auch, was über leibliche Gravuren in eine Gefühlsmatrix eingeschrieben ist. Nicht nur durch das, was wir »kennen«, erkennen wir die Dinge und Situationen um uns herum als dieses oder jenes. Auch die emotionale Art und Weise, wie uns etwas eindrücklich wird – als angenehm oder widerwärtig, schön oder hässlich, gut oder schlecht –, erschließt uns die Welt. Die Reichweiten des Verstehens stoßen schließlich im kommunikativen Raum der Gesellschaft an multiple Grenzen. Begrenzt ist das Verstehen von subjektiven Vermögen, Bestimmtes überhaupt erfassen zu können; dazu gehört die Disposition der Aufmerksamkeit gegenüber dem, was man sehen oder nicht sehen will. Im lebensweltlichen Gebrauch von Bildern kommt es auf das schnelle, effiziente, relativ wenig spezialisierte wie intellektuell

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noch übungsbedürftige Verstehen an, mit anderen Worten, aufs unmittelbar anspringende intuitive wie ganzheitliche Erfassen. Von der philosophischen Methode des Verstehens – nach Gadamer im Unterschied zum naturwissenschaftlichen »Erklären« – unterscheidet sich diese alltagspraktische Sinnerschließung dadurch, dass sie eben keiner expliziten Methoden bedarf. 1 Was sich in der Lebenswelt zeigt und umstandslos als »Dieses« zu erkennen gibt, versteht sich eben von selbst. So geben sich auch die Aufnahmen der fünf Bildserien (mit Ausnahme der Bilder von Schiffswänden) auf den ersten Blick von selbst zu verstehen. Was gleichsam mit einem Schlage begreifbar zu werden scheint, ist jedoch lange nicht in Gänze verstanden. Für eine verschleiernde aber zugleich auch Empfindungen und Bedeutungen abrufende Wahrnehmungsweise sorgt der biographische Hintergrund persönlicher (wie kollektiver) Erinnerungsspuren und Relevanzordnungen. So gibt es subjektive Horizonte des Verstehen-Könnens, die wie imaginäre Schichten über- und ineinander liegen und nicht nur für eine Ordnung des Wissens, sondern auch eine Ordnung des Erkennens sorgen. Das Oszillieren in subjektiven (individuellen bis kollektiven) wie massenmedial zirkulierenden Bild- und Bedeutungswelten wird in der Rezeption der Bildserien beschleunigt. Was sich im Erscheinen eines Bildes zu spüren gibt, verdankt sich nie allein einer monadenartig subjektiven Resonanz auf eine mit gesellschaftlichen Bedeutungen überzogene Welt. Was ein Individuum an sich selbst spürt, ist von kollektiven Mustern des Wahrnehmens und emotionalen Erlebens überzeichnet. Die Findung gültiger (oder gar für »richtig« gehaltener) Wege des Bildverstehens ist eine Illusion. Es sind zuletzt die individuellen Wege der Vergesellschaftung, die jede Erwartung zerstreuen, auf eine (singulär) plausible Form verstehender Interpretation eines Bildes hoffen zu können, wenn man nur akribisch und systematisch genug nach theoretisch begründbaren Mustern der Wahrnehmung sucht. Wenn Phänomenologie die »Zurückführung aller Bedeutungen auf Anschauungen« 2 verlangt, so bietet hierbei das photographische Bild nur scheinbar einen sicheren Weg, denn das Sichtbare ist nicht das Anschauliche. Es kann nur Optisches zu sehen geben und bindet die Wahrnehmung an das Vermögen des Auges. Anschauung 1 2

Vgl. auch Scholz, Verstehen. Blumenberg, Phänomenologische Schriften 1981–1988, S. 465.

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geht aber weit über das Sehen mit den Augen hinaus und umfasst alle Formen der sinnlichen wie darüber hinaus noch der leiblichen Gewahrwerdung dessen, was eindrücklich wird. 3 Das schmälert den Wert der Photographie aber nicht als phänomenologisch brauchbares Medium. Im Wissen um die erkenntnistheoretischen Hypotheken, die im verstehenden Umgang mit visuellen Medien abgetragen werden müssen, entfaltet es umso mehr eine schrittweise voranschreitende Erweiterung des Wahrnehmungs-, Unterscheidungs- und Denkvermögens. Photographien sind Medien der Intensivierung des Nachdenkens und -spürens, und so führen sie in der so realistischen Ästhetik ihres Erscheinens in oft vergessene Gefilde zurückliegenden Erlebens. Das nur Sichtbare wird so zu einem die Aufmerksamkeit weckenden Impuls, zu einem Rohstoff der Reflexion, zu einem Medium der Bewusstwerdung längst begraben geglaubter Erinnerungen. Zu einem Terrain der Erfahrung wird das kryptisch archivierte Erleben in der reflexiven Durchquerung all dessen, was sich, aus verdecktem Wissen emporsteigend, erneut zu spüren gibt. Mit der Erinnerung von Sedimenten biographisch vorausliegender Geschichten eines Erlebens oder einer Begegnung werden leiblich residuelle Spuren vergangener Berührungen aufgetaut – dichte wie flüchtige, bedeutungstragende wie arbiträre. Dabei konstituieren und aktualisieren sich Beziehungen zu Fremdem, dem ganz unterschiedliche Farben der Erregung eignen können. Es ist dies zum einen das Fremde als dieses oder jenes Unbekannte, jenes Fremde also, das plötzlich in der Wahrnehmung auftaucht und zu ihrem Gegenstand wird. Bemerkenswerter ist indes, was als Ausdruck der persönlichen Fremdwelt in eine Spannung zur persönlichen Eigenwelt tritt. 4 Es ist insbesondere das befremdende und irritierende Fremde, das das Individuum in Zu- oder Abneigungen empfindet. Was in diesem Sinne im Sujet einer Photographie affizierend berührt, evoziert die pathische wie die nachdenkende Reflexion nahekommender Bedeutungen in den Facetten einer Sache wie denen einer Beziehung. Unter den fremden Eindrücken sind es insbesondere die befremdenden, die das differenzierende Nach- und Aufspüren von 3

Zum Begriff der Anschauung vgl. auch Hasse, Fundsachen der Sinne, Kapitel 3.3.4. 4 Vgl. dazu Schmitz, Das Fremde ist das Gegenteil des Eigenen, S. 36 f.

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Beziehungswissen anbahnen und das Bedenken dessen fördern, was in seinem fragmentarischen Charakter nur unscharf umrissen ist. Nachdenklichkeit evoziert aber auch jenes Fremde, das sich in einem neuen Sehen anders zeigt und eine noch nicht vertraute Sicht auf etwas freilegt. In der mikrologischen Betrachtung gibt das im fixierten Bild Festgestellte etwas von sich preis, das vom lebensweltlichen Blick verdeckt wird, denn darin gibt es keine letztendlich fixierten Dinge und Situationen; alles ist in allokativer, historischer, systemischer und emotionaler Bewegung. Zugleich ist es von mannigfaltigen Geschichten umgeben, die von jeder möglichen anderen Sicht und Art der Aneignung wie Verknüpfung mit Sinn ablenken. Das fixierte photographische Bild lässt alles gerinnen. Es spitzt das (befremdend) Fremde zu und kehrt die Potentiale produktiver Irritation heraus. Es ist diese produktive Macht des Fremden, die uns »außer uns selbst geraten und die Grenzen der jeweiligen Ordnung überschreiten läßt […]. Es ist nur zu denken als ein Pathos, das uns widerfährt.« 5 Die methodologische Konsequenz der in Kapitel II.1 gezeigten Serie von Garagenbildern liegt zum Beispiel in der ästhetischen »Modifikation des Gleichen«, in der wechselnden Sicht auf ganz unterschiedliche Gesichter ein und desselben Architektur-Typs, der nur scheinbar so selbstverständlich in seiner simplen Funktion aufgeht wie ein finsterer Kellerraum nur angsteinflößend oder nur langweilig und öde ist. Es ist gerade das auf den ersten Blick Langweilige und Fade, das sich in der ästhetischen Exploration sowie im kontemplativen Eintauchen in atmosphärische Vitalqualitäten einer Photographie zumindest als eigenartig und damit eines gewissen Interesses würdig erweist. Mit offenen und im Prinzip unendlich fortführbaren Bilderreihen thematisieren sich Unterschiede innerhalb eines architektonischen Bautyps gleichsam von selbst. 6 In der Vergegenwärtigung solcher Variationen liegt auch die Funktion der Serie. Nach Ulrike Gehring basiert sie »auf der Wiederholung einzelner Module, die in einem inhaltlichen, formalen oder ästhetischen Kontext zueinander stehen.« Die Serie »ist von indexikalischer Struktur und in der Folge beliebig teil- oder

5

Waldenfels, Grundmotive einer Phänomenologie des Fremden, S. 31. Vgl. Gehring, Das Prinzip der Serie in der zeitgenössischen Architekturfotografie, S. 49.

6

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Das photographische Bild in der Phänomenologie: Autopsien in fünf Feldern

erweiterbar.« 7 Sie fordert zwar das Unterscheidungsvermögen heraus, entzieht sich aber infolge ihres ästhetischen Charakters jedem aufs Detail gehenden Genauigkeitsanspruch. Wenn Benjamin Beil und andere herausstellen, die Ästhetik der Serialität folge der maschinistischen Logik der Moderne 8, so ist das eine kritizistisch verkürzte Sicht. Viel eher bringt sich die Figur der Serie bereits auf anthropologischem Niveau in jeder frühkindlichen Übung aufrechten Gehens zum Ausdruck. Bis zur immer besseren Wiederholung übt das Kleinkind in schier endlosen Bewegungsserien scheinbar einfachste Fertigkeiten, bis es ein gewisses Können einverleibt hat. Alle Übung basiert auf Wiederholung und Variation von Ähnlichem. Und noch die natürlichen Wellenbewegungen der See folgen dem Prinzip der Serie, einer Serie ohne Referenten. Keine Bewegung gleicht der anderen. Alle stehen aber in einem Verhältnis der Ähnlichkeit zueinander. Zur Erwartung einer bestimmten variationellen Breite gehört die Abweichung ins Diffuse und Flüchtige wie das Ausgleiten ins Ekstatische. Die Welle verliert sich einmal im flachen und weichen Dahin- und Ausrollen der Strömung; dann wieder gipfelt sie im tobenden Orkan in der ekstatischen Form des donnernd zum Himmel sich hochpeitschenden Gischtkamms. Solche serielle Dynamik der Bewegungen ist der »maschinistischen Logik der Moderne« in Gänze fremd. Die Serie fordert die ästhetische Aufmerksamkeit. Im Medium der Photographie rückt sie im Unterschied zu seriell produzierten Automobilen zwischen Wissenschaft und Kunst. Sie gibt in einem objektivierbaren Sinne etwas zu sehen und zerrt zugleich an der Imagination und der Kraft der Kreativität, aus dem sichtbar Werdenden etwas (vielleicht ganz anders) Vorstellbares erst zu bilden. Die kreative Rezeption der Bildserien verlangt und vermittelt ein Wissen um ein Bildsujet und das sich in ihm Repräsentierende. Sie verlangt pathisches Korrespondenzvermögen und ästhetische Sensibilität für das Punctum der Fälle wie den ästhetisch geregelten Abstand zwischen den Fällen, die als Elemente eine Serie erst bilden. Das ästhetische Muster abweichungsfreundlicher Ähnlichkeit ist in seinem Charakter unabschließbar. 9 Was sichtbar wird, fordert zur Fortsetzung ins Offene heraus. 7 8 9

Ebd., S. 41. Vgl. Beil u. a., Die Serie, S. 10. Vgl. ebd., S. 11.

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Das photographische Bild in der Phänomenologie: Autopsien in fünf Feldern

Zum Aufbau des zweiten Teiles Vor dem Hintergrund des theoretischen Teiles (s. Kapitel 1 bis 14) werden in den folgenden fünf Kapiteln bildliche Mikrologien räumlichen bzw. herumwirklichen Erlebens vorgestellt. Jedes thematisch eigenständige Feld wird von drei Texten begleitet, die spezifische Perspektiven in Bezug zum Bildsujet wie zu den Serien entfalten. Am Anfang stehen (erstens) jeweils einige wenige Anmerkungen zur Sache eines Bildsujets. Damit soll kein im üblichen Sinne zu verstehender dokumentarischer Rahmen pragmatischer Orientierung aufgespannt werden, wenn die zu treffenden Hinweise auch der Logik der im Bild vorscheinenden Sache zumindest in Umrissen nachgehen. Explizit wird keine »sachlich richtige« Verstehensweise angebahnt. Keine Anmerkung kann und soll der phänomenologischen Annäherung an die atmosphärische Potenz einer einzelnen oder seriell eingebetteten Aufnahme »klärend« zuvorkommen. Zweitens sind den Bildserien einige Kommentare zur Situation der Aufnahmen vorangestellt. Sie sollen den Rahmen zumindest nachspürbar machen, aus dem heraus aktuelles räumliches bzw. mitweltliches Erleben im Medium des photographischen Bildes Ausdruck gefunden hat. Insofern diese Photographien Mittel nichtsprachlicher Explikation von Eindrücken sind, stellen sie sich auch als spezifische Mikrologien dar. Sie können als Gesten des Zeigens verstanden werden, weshalb sich eine kurze Erhellung des Rahmens reklamiert, aus dem heraus sie aufgenommen worden sind. Drittens schließlich ist den Bildserien eine Reihe assoziativer Vertiefungen ins jeweilige Bildsujet der Serien nachgestellt, die in ihrem subjektiven Charakter a priori nur mögliche Verknüpfungen mit Erinnerungen und individuellem wie darin vorscheinendem kollektiven Sinn andeuten können. Was eine Photographie einem Betrachter letztlich zu spüren und zu denken gibt, wird – und darin unterscheidet sich die Bildnahme nicht prinzipiell von der Situation der Bildgebung mit der Kamera – von deren Ausdrucksmacht gelenkt. Von jedem szientistischen Programm und Anspruch einer methodologisch kleinteiligen und prozedural regulierten »Interpretation« von verborgenem Sinn wird explizit Abstand genommen (s. auch Kapitel 14). Solche Programme basieren oft auf der hybriden Selbstzuschreibung von hermeneutischer (Schein-)Kompetenz, die ihr Ziel meistens schon deshalb verfehlt, weil sie den ganzheit-

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lichen Ausdruck eines ästhetischen Gegenstandes zerlegen und deshalb am Punctum einer Reihe von Aufnahmen sowie einzelner Bilder allzu leicht vorbeilaufen. Jede Interpretation soll als subjektive Annäherung dem Rezipienten überlassen bleiben und nicht durch »besseres« Wissen vereitelt oder in bestimmte Deutungsbahnen gelenkt werden. Die bildund medientheoretischen Kapitel in Teil I haben eine Vielfalt von Rahmenbedingungen der Produktion wie der Rezeption photographischer Bilder umrissen. Diese stehen methodologisch jeder letztlich verfahrenstechnisch fein regulierten Ausdeutung entgegen, haben sie doch deutlich gemacht, inwieweit und wodurch das Wirklichkeits- wie Bildverstehen von der Haltung der Wahrnehmung zum einen wie vom Erscheinen eines Gegenstandes zum anderen disponiert, aber nicht determiniert wird. Die ersten beiden den Bildserien vorangestellten Texte begleiten die fünf einzelnen Themen gewidmeten Kapitel ebenso wie die am Ende einer jeden Serie folgenden phänomenologisch nachspürenden Bilddurchquerungen, die keiner möglicherweise ganz anders verlaufenden ästhetischen Reflexion im Wege stehen sollen. Gleichwohl illustrieren sie einen subjektiven Weg der aufspürenden Annäherung an Situationen, deren Bedeutungen eher in den Bildserien insgesamt vorscheinen als in einzelnen Aufnahmen. Alle drei Texte – insbesondere der dritte den Photographien nachgeordnete – stehen insofern »neben« den Bildserien, als ihre Rezeption in gewisser Weise optionalen Charakter hat. Die photographischen Serien erschließen sich auch unabhängig von den textlichen Annäherungen. Sie machen Orte und das leiblich befindliche Mit-Sein in ihren atmosphärischen Milieus denkwürdig. Sie bilden hermeneutische Brücken mehr zu den Bedeutungen, die mit Orten und Räumen verbunden werden können, als zu deren Wirklichkeiten im tatsächlichen Raum selbst. Die meisten Aufnahmen wurden mit einer Leica Monochrom gemacht, ältere mit einer Leica M 9. Verwendet wurden eine Normalbrennweite von 50 mm (Summilux-M 1 : 1,4), ein Weitwinkelobjektiv (Elmar-M 1 : 3,8/24) und ein Teleobjektiv mit kurzer Brennweite (Summarit-M 1 : 2,5/90). Wenige Photographien verdanken sich – mangels besserer technischer Möglichkeiten – der stets verfügbaren Foto-App des Smartphones. Die thematischen Felder der fünf Bildkapitel:

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Kapitel II.1: Eine Bildserie von Garagen stellt sich als Mikrologie der Variationen eines überaus einfach erscheinenden Typs architektonischer Bauten dar. Garagen für Personenwagen (aber auch für Lastwagen oder Spezialfahrzeuge) gelten im Allgemeinen als ganz und gar banale Bauten, die es in der Stadt wie auf dem Lande in zahl- wie bedeutungsloser Variation zu geben scheint. Und doch zeigt der mikrologische Blick auf diesen geradezu »ordinären« Architekturtyp eine tendenziell unendliche Vielfalt von Bauformen und -gesichtern. Es gibt nicht »die« Garage, denn sie repräsentiert insofern ein gesellschaftliches Bauwerk, als sie Stilen folgt, technische Standards widerspiegelt und soziokulturell wie -ökonomisch in charakteristischer Weise auf einem Grundstück platziert ist. Garagen dienen den »einfachen« Leuten ebenso wie den Angehörigen der distinktionsorientierten Upper Class. Es gibt sie für technisch ausrangierte und lange schon nicht mehr fahrtüchtige Automobile, wie für repräsentative Luxuslimousinen, es gibt sie als regelmäßig genutzte oder als aufgegebene Bauten. Garagen haben geradezu individuellen Charakter, wenn sie einem (individuellen) Fahrzeug dienen, sie haben kollektiven Charakter (etwa in der Form der Garagenhöfe), wenn sie vielen Fahrzeugen zur Verfügung stehen. Wie die Automobile, die sie beherbergen, sind sie selbst zerschlissen oder glamourös, alt oder neu, dem Verfall preisgegeben oder gerade in Betrieb genommen worden, Ausdruck des Faden und Langweiligen oder Gestalten des ekstatisch Aufregenden.

Kapitel II.2: Das Fishdoc-Quartier der englischen Ostküsten-Hafenstadt Grimsby ist der Gegenstand der zweiten mikrologischen Bildserie. Im thematischen Zentrum steht der Niedergang eines ganzen Stadtviertels. Wenn die Photographien in ihrem fixierten Bildcharakter auch nur Zustände zeigen können, so lassen die Bauten in ihrer Physiognomie doch zugleich den Prozess eines Verfalls erkennen. Diese Mikrologie rückt die in Einzelansichten aus einer undeutlich bleibenden Vergangenheit gleichsam vorscheinende Geschichte eines Standortes der multinationalen Fischökonomie wie die tragisch wirkende Transformation eines städtischen Quartiers in den

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Fokus. Der »Stoff« der Mikrologie ist das gestaltreiche Gesicht eines urbanen Stillstandes.

Kapitel II.3: Die dritte Bildserie gilt einem Material und Baustoff, der ein Schiff trägt, bzw. es erst zu einem schwimmfähigen Schiff macht: seine (hier aufs Metallene beschränkte) äußere Haut. Die Mikrologie widmet sich jedoch nicht dem Wesen des Tragenden, sondern jenen ästhetischen Gesichtern, in die sich verborgen bleibende Geschichten des Fahrens auf See und des Anlegens am Ende einer Fahrt an den Kaiwänden der Hafenbecken eingetragen haben: Geschichten touchierender Berührung, des Abriebs, der Alterns, wie der Beanspruchung durch die Elemente. Manchmal ist es aber auch die Funktion eines Schiffes, die sich ins Blech gleichsam eingraviert hat. Der Maßstab dieser Mikrologie ist ungleich größer als der aller anderen. Das Schiff selbst verliert sich im Bild der Schiffswände ästhetisch in einen thematisch unsichtbar bleibenden Hintergrund. Die visualisierten Eindrücke sind auf einem relativ hohen Niveau segmentiert. Dadurch scheinen Gesichter und Geschichten auf beinahe poetische Weise vor. Sie bleiben rätselhaft und fordern umso mehr das mimetische Spiel der Imagination heraus.

Kapitel II.4: Die letzten beiden Mikrologie widmen sich thanatologischen Orten; in der vierten Serie zunächst einem (stillgelegten) Krematorium und in der fünften einem niederländischen Naturbegräbnisplatz. Die Mikrologie zum Krematorium rückt eine Situation der mythisch verklärten »Entsorgung« Verstorbener in den Fokus. Die Aufnahmen werfen Blicke auf die hypertechnische Binnenstruktur eines Gebäudes und die darin aufgehobenen funktionalen Orte. Das gezeigte Krematorium ist aber kein »vitaler« heterotopologischer Ort des Todes mehr. Es ist selber tot, aus dem Verkehr gezogen, im Konkurrenzkampf auf einem boomenden Kremationsmarkt wegen mangelhafter Rentabilität aufgegeben. Mikrologischen Charakter hat die Serie vor allem in ihrer atmosphärischen Affizierung. Die Bilder verführen zu einer affektiven »Einbohrung« in die Stim-

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mungen einer unterirdischen Sonderwelt und vermitteln eine gefühlsmäßige Konfrontation mit jener Transversale »nach« dem Tod, in der Verstorbene in gewisser Weise entmaterialisiert bzw. stofflich transformiert werden.

Kapitel II.5: Die letzte Bildserie stellt einen semi-heterotopologischen Ort vor. Auch sie ist einem thanatologischen Raum und Orten individueller Toter gewidmet. Nur handelt es sich dabei um keinen in einem einfachen Sinne öffentlichen Raum. Die Aufnahmen eines niederländischen »Naturbegräbnisplatzes« bringen einen Raum zur Anschauung, der sich ästhetisch in seiner Funktion selbst bestreitet – einerseits ist er ein heterotoper Raum, andererseits ist er es auch nicht, weil seine Identität an den Rändern im verunkrauteten Umland verschwimmt. Er ist, als was er sich auf den ersten Blick nicht zu erkennen gibt. Die Mikrologie hat ein überaus hohes Irritationspotential, weil der Ort in viel fundamentalerer Weise an den Vorstellungen und Gefühlen in Bezug auf den Tod zerrt als jeder »ordentlich« strukturierte und bewirtschaftete oder gar »romantisch« angelegte Friedhof.

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II.1 Garagen

Garagen als umbaute Stellplätze Die erste Mikrologie in der Form einer photographischen Bildserie ist der Garage gewidmet. Damit werden nicht Hochgaragen, Tiefgaragen, Parkhäuser 1 oder Parkhallen im Freien zum Thema, sondern feste Bauten für »individuelle« Fahrzeuge. In aller Regel dienen die abgebildeten Bauwerke der Unterstellung von Personenwagen, manchmal auch von Lastwagen oder Spezialfahrzeugen. Zahlreiche Photographien lassen die Frage aber auch offen, was sich letztlich hinter einem Klapp-, Schwenk-, Pendel- oder Falttor verbirgt. Die meisten Bilder stellen sie in geschlossenem Zustand dar. In baurechtlicher Hinsicht sind Garagen Stellplätze für Kraftfahrzeuge; sie stehen in ihrer Funktion in einer Reihe neben »architekturfreien« Abstellflächen für Kraftfahrzeuge. Das sind einfache nicht überdachte und in ihrem Untergrund nicht speziell für diesen Zweck hergerichtete Flächen, die dennoch als solche baurechtlich ausgewiesen sind. 2 Davon sind die sogenannten »Carports« zu unterscheiden. Sie sind zwar überdacht, haben aber keine Seitenwände. 3 Im Unterschied dazu gelten Garagen im engeren Sinne als Bauten, die als Nebenanlagen baurechtlich auch in Allgemeinen Wohngebieten bei Wohngebäuden zulässig sind. Für mehrere Grundstücke können gemeinsame Einstell- oder Garagenflächen ausgewiesen werden (sog. Garagenhöfe). In vielen Regelungen ist die Reichsgaragenordnung von 1939 noch heute gültig. 4 Garagen scheinen schon ihrer Gewöhnlichkeit wegen jeden einführenden und in der Sache orientierenden Kommentar zu er1 2 3 4

Zur Kulturgeschichte des Parkhauses vgl. auch Hasse, Übersehene Räume. Vgl. dazu auch OVG NRW, Urt. v. 6. 2. 1964 – VII 644/63 –, BRS 15 Nr. 23. Vgl. OVG NRW, Urt. v. 25. 6. 2003 – 7 A 1157/02 –, BauR 2003, 1848 ff. Vgl. Verordnung über Garagen.

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Garagen

übrigen. Dennoch dürften gerade deshalb wenige dem Bildteil vorangestellte Bemerkungen das Verstehen dieses so infra-gewöhnlichen architektonischen Bautyps und Ortes in einen Zusammenhang stellen, in dem sich unter anderem städtebauliche und baurechtliche Marginalien zu bedenken geben. Während es schon aus Gründen der Brandschutzes eine Reihe von Bauvorschriften für die Errichtung wie den Betrieb von Garagen gibt, herrschen in der architektonischen und darüber hinausgehenden ästhetischen Gestaltung große Freiheiten, solange das Ortsbild nicht beeinträchtigt wird. 5 Als Folge großer Interpretationsspielräume in städtebaulichen, insbesondere aber in ästhetischen Belangen sowie als Folge des Umstandes, dass Garagen meistens Grundstücksgrenzen und damit die Interessen Dritter berühren, werden sie oft zum Anlass von Rechtsstreitigkeiten. 6 Bis in die 1960er und 1970er Jahre dienten Garagen besonders dem Schutz der Fahrzeuge vor der Einwirkung korrosionsfördernder Niederschläge der Schwerindustrie. In einem Fachjournal für den Garagenbau heißt es 1960: »Die Parkgaragen sind besonders für das witterungsunabhängige Unterstellen von Fahrzeugen bestimmt […].« 7 Technisch fortgeschrittene Verfahren der Fahrzeuglackierung haben das lange Jahre zu jedem Stadtbild gehörende verrostende Automobil zwischenzeitlich jedoch zu einer Rarität werden lassen. Trotz der weitgehenden Wetterresistenz der Fahrzeuge hat sich die Garage keineswegs erübrigt. Zwar dient sie auch weiterhin dem Schutz vor Wind und Wetter (und dem Marder) sowie der Vereitelung von Einbruch und Diebstahl. Indes ist die Garage (neben dem Wohnhaus und in sein Inneres integriert) in Zeiten eines konsolidierten Mittelschichtwohlstandes zu einem Objekt der Repräsentation avanciert. Während die größere Flächen beanspruchenden Garagenhöfe insbesondere im dicht besiedelten Raum der Großstädte anzutreffen sind, finden sich im Bereich aller anderen Siedlungsgebiete und noch im Außenbereich Einzelgaragen und Parkanlagen für zwei oder drei Fahrzeuge. Garagen dienen in der Gegenwart fast ausschließlich dem Automobil. Vor seiner Zeit gab es (in den westund einigen osteuropäischen Ländern) aber schon Garagen für 5 6 7

Vgl. Dirnberger, Garagen, Nebengebäude und Nebenanlagen, S. 21. Vgl. ebd., S. 15. N.N., Garagenanlagen, S. 212.

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Pferdekutschen und Pferdebahnen. Diese spielen im Stadtbild heute bestenfalls eine museale Rolle.

Anmerkungen zur Aufnahmesituation der Photographien Alle Aufnahmen sind in einem längeren Zeitraum von ca. 5 Jahren entstanden. Das Interesse am Bautyp der Garage wurzelt zum einen in einer Studie zur Kulturgeschichte des Parkhauses 8, zum anderen aber auch in der geradezu ubiquitären Präsenz von Garagen im Siedlungsbild der Städte wie der ländlichen Räume. Das den gezeigten Photographien zugrundeliegende Ausdrucksbedürfnis lag aber nicht in der systematischen Durchforstung der architektonischen und gestalterischen Variation eines Bautyps. Hinreichend motivierend war zunächst eine gewisse Faszination von der ästhetischen Gestaltvielfalt einer Gebäudeart. Da Garagen einem im Prinzip äußerst einfachen Zweck dienen, lässt sich die allenthalben beobachtbare Gestaltvielfalt in einer überaus großen Breite zunächst nicht erklären. So hat sich in den »sammelnden« Blick, der auf das allzu Normale, aber auch das Seltsame, Kuriose und Extravagante gerichtet war, im Laufe der Zeit und mit dem Größer-Werden der Bildbestände ein systematisierendes Interesse eingemischt. In das Bild einer geradezu unüberschaubar erscheinenden Vielfalt, die zunächst als Ausdruck einer eher zufälligen Variation von funktional Immer-Gleichem erschien, schrieb sich allmählich eine erkennbare Ordnung ein. Ein zu Beginn der Aufnahmen vornehmlich ästhetisches Interesse wurde somit durch eine Aufspürung formaler Abweichungen, Auffälligkeiten und Variationen erweitert, die im anfänglich gesicherten Bildbestand noch nicht vorkamen. Schließlich verband sich das an kategorialen Unterschieden orientierte Interesse mit einer Lust am Ästhetischen im Sinne des »Aufgehübschten« wie des Hässlichen. Das Sehen- und Wissen-Wollen war in seinem Antrieb somit zweifach affektiv begründet.

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Vgl. Hasse, Übersehene Räume.

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Garagen

Phänomenologische Durchquerung »Ganz normale« Garagen gibt es nicht oder genau so viel und wenig wie es »ganz normale« Wohnhäuser gibt. Die sich in den Randbereichen städtischer Wohngebiete befindenden Einzelgaragen bestehen meistens aus seriell produzierten Profilblechen oder Fertigbetonwänden und -dächern. Die aus der Frühzeit des Automobils erhalten gebliebenen Bauten machen darauf aufmerksam, dass »die Zeiten sich geändert haben«. Dieser Eindruck geht nicht nur von alten und aus der Zeit gefallenen Baustoffen wie Asbest aus. Dem für einen längeren Moment ausharrenden Blick gibt das Material über die offensichtlich alte Form und Gestalt hinaus etwas von der Kultur und Lebensweise der Menschen preis: einen Einblick in vergangene Lebenskulturen, in denen sich die Dinge noch dann in einem gleichsam persönlichen Wert zeigen, wenn sie zu seriellen Reihen verbaut sind. Während Profilbleche und Betonelemente aus industrieller Serienfertigung das Prinzip des Maschinistischen leiblich als kalt, unpersönlich und extrem langweilig vergegenwärtigen, erzählen alte hölzerne Türen mit aufgeschraubten Beschlägen, Blechschildern und emaillierten Nummern Geschichten von einer handwerklich geradezu individuellen Herstellung der Bauten an Ort und Stelle. Es ist der Rhythmus der Zeit, der sich im Langsamen wie im Schnellen ein Gesicht gibt. Für die »Freisteher« – als solche sollen einstweilen jene Garagen bezeichnet werden, die abseits eines Wohnhauses errichtet wurden – gilt, schon wegen ihrer psychologischen und nicht nur relationalräumlichen Distanz zu einem Haus, eine eigene Logik der Platzierung. Oft stehen sie an vergessenen Plätzen, mit denen sich sonst kaum Nützliches machen ließe – zwischen Felsen und Straße, am Waldrand oder Feldrain in der Nähe zu einem Wirtschaftsweg. Stehen sie in der Großstadt – in »besseren« Gegenden und auf teurem Grund –, so weisen sie oft eine repräsentative Note auf. Durchfahrten sind meistens durch ein Tor vom öffentlichen Raum der Straße bzw. des Gehweges getrennt. Tore schaffen Distanz, auch wenn sie einen Weg rein metrisch nicht kürzer machen. Solche Grenzen »sieht« man weniger mit den Augen, als dass man sie atmosphärisch zu spüren bekommt, vor dem Tor wie in seinem Durchschreiten. Die stutzende Aufmerksamkeit wecken schließlich solche Bauten, die an ihrer Fassade wie in ihrer Bauweise unschwer erkennen lassen, dass sie einst etwas ganz anderes waren.

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Zum Ort einer gleichwohl unauffälligen Ästhetik wird noch die gewöhnlichste Garage (es gibt auch palastartige Gebilde), wo immer sie auch stehen mag. Ein Betonkübel vom nächstgelegenen Gartencenter ziert genau diese Garage – wenn sie auch in der Sache ihrer Materialität wie in ihrem Aussehen von all den anderen, die links und rechts danebenstehen, nicht zu unterscheiden ist. Ein grober Blumentopf neben der Garage (allzumal im halböffentlichen Raum einer größeren Garagenanlage) ist nicht das gleiche wie eine schöne Blumenschale im eigenen (Vor-)Garten. Zwischen zwei Toren – da ist eigentlich kaum Platz für ein »Dazwischen« – ist und bleibt er ein eher bescheidenes Deko-Element. Er ästhetisiert nichts, weil es nichts zu ästhetisieren gibt. Vielmehr unterstreicht er noch die Vergeblichkeit aller Verbesserungsbemühungen und spitzt die beharrende Trostlosigkeit des funktionalen Ortes zu. Gegen die atmosphärisch so eindrucksmächtige Spürbarkeit nackter Nützlichkeit ist kein Kraut gewachsen und kein Mittel der Linderung opportun. Und doch steht der Topf wohl gerade deshalb da, um die atmosphärische Kälte und Härte des nüchternen Maschinenortes ins Wohnen einzupflegen. Zwischen den beiden Toren zweier anderer Garagen hängt eine Lampe am Trennfeiler – leicht schief montiert. Sie dient – zumindest auf den ersten Blick – dem allzu selbstverständlichen Zweck der Beleuchtung der Garageneinfahrt in der Dunkelheit. Indem sie etwas dichter am einen als am anderen Tor (des Nachbarn) montiert worden ist, deutet sich eine Symbolik an, die mit der Lampe nur noch mittelbar zu tun hat. Ein territorialer Selbstbehauptungswille wendet sich hier noch gegen den Nächsten. Illuminationstechnisch hat der Adressat des gestischen Gehabes nicht weniger Licht, nur weil der Spot ein paar Zentimeter von seiner Seite weg an der Wand hängt. Aber er bekommt wirkungsvoll zu spüren, dass er es eigentlich nicht ist, dem die technische Verbesserung des Ortes gilt. So ist das Licht nicht nur Mittel zum besseren Sehen, sondern auch Kampfmittel im nachbarschaftlichen Kleinkrieg. Ebenso dürfte die mutwillig unterschiedliche Lackierung der Tore einer Doppelgarage weder einem praktischen noch einem ästhetischen Zweck dienen. Unübersehbar erweist sie sich als Medium zur Markierung von Nutzungsansprüchen – neben dem, was einem anderen gehört. So werden (gemeinte) Rechte markiert, territoriale Orte erkennbar gemacht und im Sinne des Wortes eingefärbt – als wäre eine Unterschieds-Farbe ein taugliches Mittel der Beheimatung.

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Garagen

Selten künden ganz alte Garagen, die möglicherweise schon lange leerstehen, durch das Firmenschild eines Händlers oder gewerblichen Garagenaufstellers vom Nachhall längst vergangener Zeiten. Viel anachronistischer wirkt indes das darin sichtbar werdende archaische Bedürfnis der Selbstverewigung in Taten und Dingen, die uns heute höchst gewöhnlich bis antiquiert erscheinen (einem »individuellen« Schloss, einem Öko-Aufkleber aus den 1970er Jahren und vieles andere). Garagen scheinen auf der mikrologischen Ebene geradezu mimetischer Betrachtung ihrer Kleinigkeiten als Kaleidoskope einer äußerst bunten Welt der Dinge, derer sich die Menschen einst bedient haben, um sich selbst an etwas wiederzuerkennen. Eine alte Ziffer auf dem Frontblech einer Garage insistiert inmitten um- und zusammenfallender Bauten als Zeichen der Rationalität: Alles lässt sich verrechnen, alles hat seine Identität und Originalität, auch wenn es unter der Macht des Allgemeinen und Immer-Gleichen kaum jemand beachtet. Ganze Kosmen von ehemals Bedeutendem scheinen in dahingammelnden Garagen auf – auch wenn das schon beinahe satirisch aus der Zeit Fallende heute ganz unwichtig sein mag. Darin spiegelt sich die gegenwärtige Zeit, in der alle noch so entlegenen Orte der Stadt über kurz oder lang ins Fadenkreuz immobilienwirtschaftlicher Begehrlichkeiten geraten und zu Potentialflächen einer Erneuerung werden. Das Dahingammelnde widersetzt sich in seiner präsentativen Ästhetik einer überall vernehmbaren Symbolik schneller Erneuerungsrhythmen. So steht auf einer abgelegenen Brache, auf einem gänzlich verunkrautenden Grundstück, eine ganz und gar heruntergenutzte Garage, die niemand mehr will. Es ist das Morbide und spürbar aus der Zeit Gefallene, das die schnellen Zyklen der Aufrüstung der Städte in glamouröse Bühnenwelten so plastisch vor Augen führt. Es sind diese Bauten und Orte, die nur noch bis auf weiteres so sind wie sie jetzt erscheinen, weil die Planungs- und Baubehörden sie längst abgeschrieben und damit praktisch schon entwertet haben. So werden gerade alte dahinrottende Garagen auf städtischen Semibrachen zu Zerrbildern einer schönen neuen Gewinnerwelt.

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Das photographische Bild in der Phänomenologie: Autopsien in fünf Feldern

Verfallende Garagen Verfallende Garagen wirken öde und geradezu tragisch, weil sie noch warme Spuren vergangener Nutzungsgeschichten ausstrahlen. Emporschießendes Unkraut, verblichene Farben, verbeulte und verkratzte Bleche suggerieren keinen produktiven Wandel, zumindest keinen, der unmittelbar bevorsteht. Was sich da zeigt, ist ein Gesicht des Verblassens einer lebendigen Zeit. Diese Orte erscheinen auf einer ästhetischen Grenze zwischen etwas, das geht, und etwas, das noch nicht da ist. Im Prozess des Rückzuges ehemals vitaler Nutzungen beharrt das Material als sprechendes Medium: ein Riss im Blech einer Tür, Rattenkot neben einer Blechdose, ein dicker Ziegelstein vor einem Schwenktor. Der Zustand der Unkrautvegetation täuscht das Bild einer gelähmten wie lähmenden Ruhe vor. Das Stahlblech und noch die Farbe darauf halten weit länger als sie gebraucht werden. Die festen und resistenten Stoffe beharren im Modus der Dauer. Da ist was, das niemand mehr haben will – dennoch bleibt es, wenn auch nur vorerst. Die sich ins sieche Material einschreibende Spannung macht den abwärts gehenden Wandel so unübersehbar, besonders dann, wenn die Bauten schon in sich zusammenfallen, die Türen einstürzen und die Dächer versacken und alles vergeht wie Organisches. Das fortbestehende, geradezu »lebende« Material (manchmal scheinen die sedimentierenden Schichten des Verfalls ein eigenes Leben zu führen) weist in die Vergangenheit. Ein halblauter Vitalton des Tragischen verliert sich ins Antiquierte, Vergessene und Aufgegebene, nicht nur einer vergangenen, sondern anderen Zeit. An diesem Ort ist kaum zu erwarten, dass sich ein Tor öffnet und ein Blick in einen halbdunklen Innenraum fallen kann. Und doch geschieht genau dies immer wieder – Tore, die mit meterhohen, grell blühenden Zaunwinden und Disteln schon zugewuchert sind, wurden von jemandem, der sich dem mystisch verschlossenen Innenraum doch genähert hat, geöffnet. Was in Zeiten immobilienpolitischer Hochkonjunktur gegen den Druck gewinnbringender Verwertung beharrt, muss entweder einen unentdeckten oder unantastbaren Wert haben oder an einer Stelle stehen, die wie ein schwarzes Loch des Desinteresses abschreckt, wer sich aufmerksam nähert. Manche Asbestdächer abgewrackter Garagen sind dicht bemoost. Sie dienen den Singvögeln als Nahrungsgrund, auch wenn

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Garagen

sie in einem Material herumpicken, das nach hierzulande geltenden Gesundheits- und Sicherheitsstandards schon lange als Teufelszeug betrachtet wird. Im Kleinen, das an Türen und Toren hängt, gibt sich ein fahl bleibender Ausdruck der Biographie eines Eigentümers oder Mieters zu erkennen: ein Vorhängeschloss aus Messing oder ein neuer alter Türgriff. Aber da steckt nicht irgendein in die Jahre gekommener Griff aus dem Baumarkt in der Tür, sondern ein umfunktionierter, der offensichtlich von der Tür eines alten DKW stammt. Vielleicht ist die Klinke das einzige, was davon übrig geblieben ist und nun verklärend an das einst geliebte erste Auto erinnert. So werden die banalsten Dinge, die eigentlich Müll sind, zu Medien der Sentimentalisierung – für die, denen dies etwas bedeutet.

Doppelgaragen und Garagengruppen Noch solche Garagen, die in ihrer Verdopplung oder Vervielfachung nebeneinander stehen, sind – wenn sie auch lediglich dem höchst einfachen Zweck der Unterstellung von Fahrzeugen dienen – nicht zuletzt Spiegel soziokultureller bzw. sozioökonomischer Milieus: in Gestalt von Garagenhöfen im halböffentlichen Raum oder (im Kleinen) auf dem Grundstück neben dem gerade neu errichteten Einfamilienhaus. Auf privatem Grund und Boden sind die sozioökonomischen Symbole ganz andere als auf Garagenhöfen am innerstadtnahen Rand, auf denen verfallende Garagengruppen nur überdauern, weil sich noch keine immobilienwirtschaftlich lukrative Folgenutzung angebahnt hat. Auf dem Lande – sofern die Grundstücke dort preiswerter sind als in der Stadt – künden private Doppelgaragen nicht selten von gestischem Übermut im Streben nach distinktivem Zugewinn. Angesichts des absolut banalen Zweckes, dem eine Garage nur nachzukommen hat, lassen allzumal solche Bauten stutzen, die weit über die hinreichende Wetter- und Wasserdichtigkeit hinaus wie geradezu palastartige Objekte im Raum stehen. Wo die Investition von Ästhetisierungslust grenzenlos ins Kraut schießt, entstehen neben dem Eigenheim dann ganz eigenständige Bauten (mit Krüppelwalmdach und Dachfenstergardinen). In einer bemerkenswerten Präsenz stehen sie dann in einer Weise da, dass sich die Frage aufdrängt, ob die Wohnhäuser zu den Garagen gehören oder diese zu den Wohnhäusern. Es ist allerdings

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Das photographische Bild in der Phänomenologie: Autopsien in fünf Feldern

nicht nur die Art ihrer ganz offensichtlich überzogenen Bauweise, die sie zu etwas Besonderem macht, sondern zugleich ihre Positionierung im Mikroraum der individuellen Wohnparzelle. Einen Bau an einer bestimmten Stelle im Raum zu errichten, war selten nur Ausdruck rein allokativer Verortung; eine Standortwahl drückt meistens auch eine Affektbeziehung aus. Deshalb spielt bei der Errichtung von privaten Garagen(häusern) auch nicht nur der rein praktische Nutzen der umstandslosen Erreichbarkeit des Automobils eine Rolle. Mit zumindest gleichem Gewicht dürfte (zumindest in den monetär erstarkten Milieus der MittelschichtWohlstandsgesellschaft) ein mächtiger Trieb zur Repräsentation und Distinktion seinen Ausdruck suchen. Wo das noch mit einer Gaube verzierte Doppelgaragenhaus gar durch einen eigenen Gebäudetrakt mit dem Wohnhaus verbunden ist – wie das Gate des Airports über eine wettergeschützte Brücke mit dem Flieger –, wird das Gebaute zur symbolischen Geste. Solche Garagen sind weniger platziert als situiert. Genaugenommen ist es noch nicht einmal das Garagenhaus, das situiert wird, sondern sein Eigner, der sich im Schein des Ganz-Besonderen selber kokett in Stellung bringt, denn: Der ganze Aufwand soll in erster Linie anderen etwas bedeuten. Einen der ökonomischen Investition ins Überflüssige angemessenen Nutzen vermögen solche Inszenierungen kaum zu versprechen. Zur postmodernen Stadtvilla gehört geradezu zwingend der ästhetische Zuschlag einer Garage, die mit großem Repräsentationsgebaren arrangiert wird – wie das Wohnhaus selbst. Deshalb ist sie auch nur im weiteren Sinne zur Unterbringung eines Fahrzeuges da. Viel wirksamer kommt sie als Kulisse zur Geltung, vor oder neben der das nicht minder Respekt einflößende Automobil abgestellt werden kann. Dazu passt die in überdimensional großen Lettern an der Garage angebrachte Hausnummer, wenn sie auch keinem evidenten Zweck gerecht werden. Solche Bezeichnungswut erinnert an das Prinzip »Graffiti«, nun jedoch ästhetisch ins System der Repräsentation umprogrammiert. Extravagante Garagen dieser und ähnlicher Art sind vornehmlich ästhetische Objekte, deren Funktion im repräsentativen Zeigen aufgeht, denn Funktion war nie nur, was in einem unmittelbaren und naiven Sinne »funktionierte«. Während es sich selbst bei der »besseren« Doppelgarage neben dem Einfamilienhaus immer noch um eine Garage im eigentlichen

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Garagen

Sinne handelt, kennen die Eigentümer wahrer Luxusimmobilien eine höchst exklusive Art der Integration des Gefährts ins »offene Innere« des Hauses – in eine Weiche, die Grünraum und Wohnwelt zusammen- und zugleich auseinander hält. Im halb innen, halb außen liegenden Freiraum werden Fahrzeuge deshalb auch nicht »untergestellt«, viel mehr ins architektonische Milieu eingebettet. Solche Indoor-Schauplätze sind situierte Orte für sozial Zugehörige, für soziokulturelle Insider. Vom öffentlichen Weg aus sind sie oft nur mit Mühe einsehbar. Im oder unter dem Haus finden alle möglichen Garagen Platz – nicht nur die exklusiven, sondern auch die ganz einfachen, die allein ihrem engeren Zweck als Abstellraum für das Fahrzeug dienen. So vielfältig Bild und Ästhetik der Einzel- und Doppelgarage sind, so ist auch die Garagengruppe variantenreich und vielgestaltig. Solche Anlagen gibt es zum einen als einfach gebaute Abstellräume für Fahrzeuge, aber auch in geradezu herrschaftlicher Ausstrahlung auf der Fläche eines aristokratischen Weingutes. Dann haben sie etwas von der erhabenen Würde der alten Wagenburgen, in die bis ins späte 19. Jahrhundert die Kutschen und Pferdegespanne eingestellt wurden. Es gibt sie als einfache Bauten in der Mitte der Stadt und als Zeichen einer Zeit, in der das Automobil wegen seiner technischen Anfälligkeit und Reparaturbedürftigkeit besonderer Unterkünfte bedurfte. Die architektonische und kulturelle Besonderheit dieser größeren Bauten kommt in wenigen erhaltenen Objekten, die eigentlich Denkmale sein müssten, noch in einem Namensschriftzug an der Fassade zur Geltung. Solche eher seltenen Garagen mit »Überschriften« sind atmosphärisch so eindrücklich, dass sie als historische Orte schlagartig ins Bewusstsein treten. Gruppengaragen gibt es schließlich in der seriellen Form billiger Blechgehäuse von mittlerer Haltbarkeit mit Plastiknummern von 1 bis 50 oder 60, welche auf die Schwenktore geklebt sind. An diesen Orten des Immer-selben wird die Nummerierung zur beinahe unverzichtbaren Voraussetzung, das eigene Gefährt auch wiederfinden zu können. Solche Garagen gibt es in adretter Reihe, ebenso in der eher finster wirkenden Ordnung.

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Das photographische Bild in der Phänomenologie: Autopsien in fünf Feldern

Garagenhöfe Garagenhöfe sind das Gegenteil der noblen »Im-Haus-Garage« oder der an Remisen erinnernden architektonisch aufwendig gestalteten Anlagengruppen am Ende eines akribisch gepflegten Kiesweges in bester Innenstadtlage. Die nüchtern-funktionalen Garagenhöfe, die in den 1920er Jahren und noch nach dem Zweiten Weltkrieg in den Hinterhöfen nach dem Modell des Sozialen Wohnungsbaus in stumpfer Reihe gleichsam aufschossenen, machen die Garage zu einem Ort für die Masse. Diesem Bautyp mangelt es an jedem Individualitätsversprechen. Wer hier einen Stellplatz hat, besitzt etwas, das nicht das Mindeste mehr wert ist, als irgendein anderer Platz in der langen und unübersichtlichen Ordnung des Immer-Gleichen. Allenfalls die Erreichbarkeit einer Garage (vorne oder hinten in einer langen Reihe) begründet noch eine banale Hierarchie der Standortgunst und -ungunst. Zur Frühzeit der Automobilisierung der Stadtbewohner gab es diese Höfe noch mit einer Tankstelle. Die Zufahrten zu den Stellplätzen der Fuhrparks von Behörden oder größeren Unternehmen waren gelegentlich durch vorkragende Dächer besonders geschützt; das kommt den Fahrzeugen zugute, die vor den Einfahrten stehen. Die entlegensten der noch erhaltenen Anlagen sind oft enorm heruntergekommen, verdreckt und schlaglochreich. Außerdem spürt man im langen Raum zwischen den Boxen ein nicht ignorierbares Unbehagen. Allzumal in der Dunkelheit sind sie Angsträume par excellence. Am Hässlichen bis Grässlichen haftet zugleich aber eine ästhetische Ambivalenz, die sich auf den ersten Blick flüchtiger Aufmerksamkeit entzieht. So haben die in Auflösung befindlichen und nur noch vorübergehend betriebenen Garagenhöfe in der unübersehbaren Individualität ihres Gesamteindrucks insofern einen sensationellen Charakter, als sie einen hohen Wiedererkennungswert haben. Garagenhöfe sind – wie auch immer diese aussehen und auf den Benutzer oder den nur zufällig vorübergehenden Passanten wirken – eigene wie eigenartige innerstädtische Nischenmilieus. Selbst auf dem Lande sind sie in flächengefräßig und dicht bebauten Reihensiedlungen anzutreffen. Hier wie dort dienen sie der Organisation des Stillstandes der Automobilität und plakatieren in ihrem immensen Platzbedarf den Preis, den eine Individualität ver-

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Garagen

langt, die genaugenommen doch nur Ausdruck einer anonymen Industriekultur des beinahe von jedermann Bezahlbaren ist. Wo einzelne oder mehrere Garagen inmitten des städtischen Raumes geradezu versteckt in Hinterhöfen liegen, sind sie nur über eine Durchfahrt erreichbar. Dann sind es nicht nur die Garagen selbst, die in einer szenischen Beredsamkeit auf sich aufmerksam machen, sondern schon die Zufahrten. Tatsächlich und rein praktisch mögen sie nur ein Wegstück sein; im leiblichen Hindurch dagegen sind sie Passagen durchs beklemmende Halbdunkel. Oft genug glaubt man an den Wänden die Feuchtigkeit der alten Mauern schon zu sehen. Solche Quasi-Höhlen sind mehr als überbaute Wege, die eine Wohnung unterführen. Sie vermitteln die Einstimmung auf eine räumliche Vitalqualität, die am Ende des tatsächlich nur kurzen Weges im Gefühl einer bedrückenden Atmosphäre beengt. Angesichts der unerschöpflichen Vielfalt von Garagenbauten gibt es nicht nur finstere und deprimierende Durch- und Zufahrten, wie es nicht nur graue und triste Garagen gibt – samt ihren Vorplätzen und Höfen. Die »besseren« Zufahrten zu den »vornehmeren« Garagen wecken ästhetisch wie situativ angepasste Erwartungen und bereiten auf das Exzentrische und Besondere vor. Vor allem da, wo in den Metropolen um 1900 in den Höfen großbürgerlicher Geschosswohnhäuser Sammelgaragen für die ersten Limousinen einer gerade anbrechenden automobilen Ära gebaut worden sind, folgt auch die Ästhetik der Zufahrten noch heute dem besonderen Klima der sich vom Dunst des Gewöhnlichen abhebenden Orte – ornamentreich gepflastert, mit weißem Kies bedeckt, mit gepflegtem Grün umwachsen: architektonische Gesamtarrangements, Szenen und distinktionstaugliche Kulissen für Herrenfahrer. Die Höfe erinnern samt den dazugehörigen Auffahrten an die Staffagebauten, die die Aristokraten schon in der Renaissance in ihre aufwendig gestalteten Gärten und Parks stellten, um einen schönen Schein zu illusionieren und das davon getragene Gefühl des Erhabenen zu wecken. Es wäre naiv, solchen szenographischen Arrangements keine Funktion zuerkennen zu wollen, besteht diese doch gerade in der so wirkmächtigen Ästhetik und der sich darin zur Geltung bringenden Option soziokultureller Distinktion.

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Das photographische Bild in der Phänomenologie: Autopsien in fünf Feldern

Graffiti-Garagen Garagen scheinen wie Magnete auf Sprüher zu wirken und die Überschreibung durch Graffitis geradezu mit Nachdruck herauszufordern. Es mag an der Großflächigkeit der Tore, Seiten- und Rückwände liegen, dass sie sich für solche (illegalen) Aneignungspraktiken anbieten. In den Städten sind sie schon längst Ausdrucksmedien einer subkulturellen Belebung des öffentlichen und halböffentlichen Stadtraumes. Graffitis geben triviale bis kryptische Sonderschriftwelten zu erkennen. Immer sind sie Auf-schriften, weil sie an Blechen oder anderen Trägermedien haften wie Klebe. Wenn sie als Pseudo-Schriften auf den ersten Blick auch leer sein mögen und jeder Versuch, das scheinbar nur »Dahingeschmierte« lesen zu wollen, ins Leere läuft, so sind sie doch Lebensäußerungen des Ungehorsams wie der Abweichung von ästhetischen Normen und in der Sache Zwischenrufe und provokante Irritationen. Charakteristisch ist die Vermischung von Inhalt und Form. Das WAS hängt am WIE, das WIE wird zur Sache, um die es eigentlich gehen soll. Es war jemand da – wenn auch nicht wegen des Kraftfahrzeuges, das da möglicherweise hinter der Tür stand. Ein funktional abgestorbener Ort wird in der informellen Nutzung zu einem gelebten Raum arbiträrer, illegitimer bis illegaler Praktiken. In postkritischen Zeiten sind Graffitis längst nicht mehr selbstverständlich als Codes von und für Insider anzusehen. Oft genug sind sie höchst individuell motiviert oder einfach nur Ausdruck devianten Verhaltens. An diesem Punkt verläuft aber die Grenze auch zwischen Graffiti und urban art. Der Eigentümer einer Garage, der sein Schwenktor selbst bemalt, tut das in einer Geste der Selbstrepräsentation. Mit dem performativen Akt der Widersetzung gegen eine Mainstream-Ästhetik haben dekorative Besprühungen kaum zu tun. In aller Regel sind solche Motive lebensweltlich motiviert und stellen allein privat Bedeutsames in den öffentlichen Raum – wie Einträge in eine Art Hardware-Facebook für Nahbereiche: Übergroße Hauskatzen, Schiffe, die über zwei Tore gehen oder ein esoterisches Yin-Yang-Symbol. Die Unterschiede zu den von »echten« Graffitisten hinterlassenen Codes sind so groß, dass beide Typen je eigene Welten repräsentieren. Ursprünglich aus der New Yorker Protestkultur kommend, stehen die meisten Zeichen heute nicht mehr unter der Logik des Kampfes gegen die Welt der realen und analogen Zei-

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Garagen

chen. Vielleicht sind sie aber auch noch immer – zumindest hier und da, und das noch in der Provinz – hyperreale Chiffren, die nur »lesen« kann, wer über den Schlüssel der Gang verfügt. Schon die Präsenz der Schriftzüge, Buchstaben, Ziffern, bizarren oder langweiligen Formen, Sonderzeichen und Kleckse auf glatten bis profilierten Blechen sowie verklinkerten Seitenwänden von Garagen geben Rätsel auf. Es mag sein, dass von dieser Unlesbarkeit geradezu die eindrücklichste Macht des Ästhetischen ausgeht. Zwar machen Graffitis noch die unbedeutendste Fläche zu einem Skript, aber als eine Ordnung der Zeichen bleiben sie stumm – zumindest für die meisten Rezipienten aus dem öffentlichen Raum, die nicht zum Kreis von Insidern gehören. Damit geraten sie in Zeiten, in denen der coole Turnschuh schon längst zum Identitätsmedium geworden ist, auf einen Grat: zwischen Sachbeschädigung, Ästhetisierung und verschwommenem Underground-Deko. Jene Graffitis, die im eigentlichen Sinne gar keine mehr sind, unterlaufen in beinahe radikaler Weise die Codes »echter« Graffitisten. Was könnte hinter den Vorzeichen einer ubiquitären wie massenhaften Ausbreitung von Bedeutungslosigkeit mächtiger sein als ein in Gänze unentzifferbares Gebilde. Dessen Code läge dann darin, zu plakatieren, dass es nur noch disperse, lokale Codes gibt, zum Spott des Hegemonialanspruchs aller großen Erzählungen – Kritik mit den Mitteln der Simulation. Wie auch immer zu verstehen oder nicht zu verstehen ist, was am frühen Morgen eines nächsten Tages am Garagentor das erste Mal erscheint und stutzen lässt – es gibt den banalsten Gebilden in der Typologie architektonischer Bauten ein Gesicht, denn noch die »prächtigsten« unter ihnen sind doch nur Ställe für Automobile.

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II.2 Ein Stadtquartier im Niedergang

Das Fish Doc-Quartier in Grimsby (GB) Die zweite photographische Mikrologie thematisiert in einer Bildserie den historischen Niedergang eines Stadtquartiers im englischen Grimsby. Seit Mitte des 19. Jahrhunderts war die am Humber-Ästuar gelegene britische Seehafenstadt Grimsby für rund 100 Jahre der größte Fischereihafen der Welt. Schon im Mittelalter entwickelte sich Grimsby zu einer bedeutenden Hafenstadt. Im Zuge des Booms der Hochseefischerei wurden die Hafenbecken im 19. Jahrhundert nach den Anforderungen der Fischerei erweitert: 1857 durch die Fish Docks No. 1. Im Jahre 1878 entstanden die Fish Docks No. 2, und 1934 kamen die Fish Docks No. 3 hinzu. In Hochzeiten waren rund 500 Motor- wie Segelschiffe 1 als Fischereiboote registriert. 2 Diese Boom-Situation sollte sich mit dem Ausgang des sogenannten »Kabeljau-Krieges« grundlegend verändern. Die Ausweitung der isländischen Fischereizonen leitete den kontinuierlichen Niedergang des Fischereihafens ein. Im Januar 1977 endete ein seit 1952 andauernder und über mehrere Etappen ausgetragener Cod War mit dem Abschluss eines Seerechtsübereinkommens zugunsten von Island. Darin wurden dem Land die alleinigen Fischereirechte in einer 200 Seemeilen-Zone zugesichert. Diese Entwicklung hatte vor allem Großbritannien in eine tiefgreifende fischereiwirtschaftliche Krise gestürzt 3, die schließlich den Niedergang des Fischereihafens von Grimsby zur Folge hatte. 4 Davon war 1

Im Jahre 1970 waren in Grimsby noch 400 Trawler registriert, im Jahre 2013 nur noch 5; https://en.wikipedia.org/wiki/Grimsby#Food_industry (06. 02. 2019). 2 http://www.britishports.org.uk/our-members/grimsby-fish-dock-enterprisesltd (23. 01. 2017). 3 Vgl. auch Rupprecht, Der deutsch-isländische Fischereizonenstreit 1972–1976; zum Überblick vgl. https://en.wikipedia.org/wiki/Cod_Wars (06. 02. 2019). 4 Zum Konflikt zwischen Großbritannien und Island um Fischereirechte in der Nordsee vgl. Townsend, How climate change spells disaster for UK fish industry;

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Ein Stadtquartier im Niedergang

die Bedeutung von Grimsby als nationaler Schwerpunkt des fischverarbeitenden Gewerbes aber nicht in gleicher Weise betroffen. Schon in den 1970er Jahren wurden große Anstrengungen unternommen, um die Folgen des Cod War zu kompensieren. Im Jahre 1996 konnte nach der Investition von 15 Millionen Pfund 5 auf dem Gelände der Fish Docks No. 1 der privatwirtschaftlich betriebene Grimsby Fish Market eröffnet werden. 6 Der in den dortigen Auktionshallen versteigerte Fisch kommt heute aber zum größten Teil über den Seehafen Immingham. Der Transport nach Grimsby erfolgt fast in Gänze über die Straße. 7,8 Trotz des Niedergangs der mit dem Fischereihafen unmittelbar verbundenen Nutzungsstrukturen, die in den Gebäuden auf den Fish Docks ansässig waren, konnte sich bis in die Gegenwart eine differenzierte fischverarbeitende Industrie behaupten und als wichtigster nationaler Standort etablieren: »Since Iceland’s banking collapse of 2008 and its subsequent attempts to fish its way out of a crisis, Grimsby has boomed on the back of the surge of fresh white fish. Were the supply line to be cut, 70 % of the UK’s fish processing industry, along with Europe’s biggest concentration of cold storage facilities, would be at risk.« 9

Grimsby ist ein europäisches Zentrum der Lebensmittelindustrie mit fischverarbeitendem Schwerpunkt: »Grimsby has one of the largest concentrations of food manufacturing, innovation, storage and distribution in Europe. […] As ›Europe’s Food Town‹ we are the centre of the UK’s seafood industry.« 10 Zahlreiche Betriebe befinden sich in den alten Gebäuden des Fish-dock-Quartiers. Baukulturell wie industriegeschichtlich signifikante Bauten stehen unter Denkmalschutz, inklusive der im Inneren erhalten gebliebenen und zum Teil weiterhin nach historischem Vorbild genutzten technischen Einrichtungen.

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Vgl. http://www.grimsbyfishmarket.co.uk/index.html (23. 01. 2017). Vg. https://en.wikipedia.org/wiki/Port_of_Grimsby (23. 02. 2017). 7 Vgl. auch Cooke, Grimsby gains from Iceland’s woes; http://news.bbc.co.uk/2/ hi/uk_news/7959788.stm (06. 02. 2019). 8 Die Auktionen, die täglich in den Gebäuden des Grimsby Fish Markets durchgeführt werden, sind Gegenstand phänomenologischer Atmosphärenbeschreibungen in Band 2, vgl. Hasse, Märkte und ihre Atmosphären, Kapitel 4.4. 9 Townsend, How climate change spells disaster for UK fish industry. 10 https://investnel.co.uk/sectors/food-processing (06. 02. 2019). 6

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Das photographische Bild in der Phänomenologie: Autopsien in fünf Feldern

Anmerkungen zur Aufnahmesituation der Photographien Die Serie geht auf zwei Aufnahmereihen im Januar und im Juli 2017 zurück. Thematischer Gegenstand der in den Fish Docks aufgenommenen Photographien ist der Niedergang eines Stadtquartiers, das sich nun in einer offenen Übergangssituation befindet. Eine Zukunftsperspektive gibt sich im Bild des Quartiers nirgends zu erkennen, bleibt in möglichen Ausrichtungen vielmehr rätselhaft. Die Situation in den Straßen stellt sich in vielgestaltigen Übergängen dar. Die atmosphärische Ausstrahlung des architektonischen und städtebaulichen Niedergangs ist bestimmend. Die Bilder des Morbiden bahnen zwei Richtungen spontanen Verstehens. Zum einen präsentieren die dahinrottenden Bauten nur sich selbst; sie waren und sind Unikate, die in ihrer eigenen Geschichte ruhen. Zum anderen repräsentieren sie sich aber auch als fraktale Bilder eines Ganzen. Dann sind sie Ausdruck eines Allgemeinen, das sich ins Gesicht der konkreten Orte einschreibt. Das ändert nichts an der ästhetischen Einzigartigkeit aller bildlich erfassten Gebäude und Straßen. Sie geben Situationen des Wandels zu sehen, der zwischen Aktualität und Zuständlichkeit in der Schwebe ist. Was so zu einem Gegenstand der Photographie wurde, war zum einen immer nur Dieses in einer bestimmten Gegend. Erst in einem begleitenden, nachlaufenden wie reflexiven Blick setzt sich das Wissen durch, dass all dieses Besondere von einem Allgemeinen angetrieben wird. Daraus ergibt sich die halbwegs sichere Gewissheit, dass das Dahinrotten und Zerfallen des Quartiers in einer großen Mannigfaltigkeit und Vielfarbigkeit erwartet werden muss. Das Interesse an den Aufnahmen der Serie liegt auf einem Grat, einerseits durch ästhetische Attraktoren angetrieben, andererseits eingefasst vom Wissen um die Geschichte des Quartiers und die Gründe für seinen aktuellen Zustand. Die Photographien sind in den Straßen der Fish Docks No 1 und 2 östlich der Royal Docks aufgenommen worden. Die historischen Gebäude sind von deutlichem Verfall gekennzeichnet. Zum anderen setzt sich dieses Bild jedoch in keinem gänzlich homogenen Sinne durch. Restnutzungen beharren, und traditionsreiche Unternehmen werden fortgeführt, so dass die beinahe ubiquitär wirkende Atmosphäre des Niedergangs immer wieder durch zumindest punktuell sich behauptende Gebäudenutzungen verwirrt. Die folgenden phänomenologischen Annäherungen an die

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Ein Stadtquartier im Niedergang

gezeigte Bildserie stehen zwischen dem Eindruckserleben in der Situation der Aufnahmen wie der ihrer Betrachtung. Ohne den expliziten Bezug zu einzelnen Bildern zu suchen, werden die Reflexionen immer wieder durch konkrete wie spezifische Bild-Eindrücke gelenkt und akzentuiert. Auch in diesem Kapitel wird keine »Interpretation« im Sinne dessen angestrebt, wie sie qualitative Forschungsmethoden in Gestalt prozedural hoch regulierter und systematisch betriebener Analyse verstehen. Alle Kommentare sind in ihrem Charakter insofern »Durchquerungen«, als sie auf Berührungen reagieren bzw. diese im Sinne einer Explikation von Eindrücken in sprachlicher Form konkretisieren. Die Aufnahmen können daher auch als Stoffe einer bildlich evozierten Nachdenklichkeit verstanden werden.

Phänomenologische Durchquerung Es ist nicht nur Altes und Kaputtes, das die Aufmerksamkeit bindet; es ist vielmehr eine an diesen Dingen leicht erkennbare Alterung, die sich in einer weitgehenden Menschenleere als geradezu vitaler Prozess darstellt. Nichts bleibt wie es einmal war, auch dann nicht, wenn es offensichtlich »für immer« halten sollte. Technische Infrastrukturen an Hauswänden befinden sich bereits länger in einem Prozess schleichenden Verfalls: Rohre reißen, die Halterungen von Klimaanlagen knicken ein, eine Antenne fällt herunter, ein Holzverschlag vor einer Tür ist aus dem Lot gekippt. Auch Mauerwerk kann »leiden«, ohne dabei vorerst seine umfriedende Eigenschaft einbüßen zu müssen. Wo immer wieder Reparaturen ausgeführt und neue Farben über alte gestrichen wurden, wirkt der Untergrund wie eine geschundene Haut. Der aufreißende Fassadenputz hat fast keine Farbe mehr, unterstreicht aber dennoch eine Atmosphäre der Lebendigkeit. Was kaputt ist oder -geht, zeigt sich in einer morbiden Vitalität. Umso mehr, wenn es Dinge sind, die in einem unmittelbaren Sinne vom früheren Leben und Arbeiten der Menschen herrühren – wie ein zerschlissener Arbeitsschuh oder der Rest eines durchlöcherten Kleidungsstücks. Geschlossene Tore, Zäune, Gitter oder aufgerichtete Drahtgestelle geben auf den ersten Blick nur unbetretbare Grundstücke oder Gebäude zu erkennen, auf den zweiten Blick jedoch das Gesicht eines weiträumigen Siechtums. Ein ehemals in repräsentati-

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Das photographische Bild in der Phänomenologie: Autopsien in fünf Feldern

ver Geste erbauter portalartiger Eingang eines Gebäudes ist mit einfachsten Baustoffen zugemauert worden. Wo in so rüder Weise gebaute Ausdrucksgestalten einer ganz anderen Zeit zunichte gemacht werden, plakatiert sich die Not gleichsam von selbst. Fenster bieten nicht nur Ein- und Ausblicke; sie bieten auch Anblicke. So lange sie nur von Schmutz und Spinnennetzen überzogen sind, mögen sie an die Vernachlässigung einer Gebäudenutzung denken lassen. Wo sie aber zugemauert oder mit Brettern und Platten vernagelt sind, entsteht der Eindruck eines resignativen Rückzugs; Hoffnung ist darin nicht zu erkennen. Ein Gebäude ist hier an sein Ende gekommen. Zu den eindringlichsten Zeichen aufgegebener Gebäude zählen Gewächse aller Art, die vom Boden hochschießen, aus Mauerfugen und Löchern zwischen Fassadensteinen herauf- und herunterwachsen, aus schon rostenden und durchhängenden Dachrinnen herausklettern oder aus dem berstenden Pflaster emporranken. Alarmanlagen, deren Montage von einst akuter Sorge um Hab und Gut künden, werden zum Menetekel, wenn das abgerissene Stromkabel im Wind hin und her pendelt, weil es offensichtlich schon lange nichts mehr zu bewachen gibt. Ein noch vor 50 Jahren höchst vitales Stadtquartier, in dessen zahllosen Bauten das fischverarbeitende Gewerbe tagein, tagaus florierte, geht in eine posturbane Kulturlandschaft über. Diese erinnert daran, dass alles, was Menschen in und zu ihrer Umgebung machen, eine Unterwerfung von Naturkräften und -dingen unter eine erwünschte Ordnung verlangt – und wenn es nur die Abwehr der zersetzenden Wirkungen von Wind und Wetter ist. Wo nicht nur ein einzelnes Bauwerk und diese oder jene Straße in die Öde fällt, sondern ein ganzes Stadtquartier, entstehen mächtige Bilder des Verfalls. Wenn hier auch nicht alles tot und leer ist, so doch vieles, vielleicht das meiste. Häuser und Dinge stehen und liegen nutz- und schutzlos da. Wieder scheint in einem oft kaum wahrnehmbaren Dazwischen das gewerbliche Treiben in einem alt und müde gewordenen Traditionsbetrieb auf lebendige Weise weiterzugehen. Besonders packend drückt sich der Verfall in Situationen der Verlassenheit aus – wie im Bild verwaister Orte, die (wie leerstehende Cafés und Bars) den erholsamen Seiten des täglichen Lebens gegolten haben und das Salz in der Suppe wiederkehrender Routinen waren. Eine (Straßen-)Ecke kann im Sinne des Wortes nicht wirklich

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Ein Stadtquartier im Niedergang

»tot« sein; dennoch gibt es welche, die genau diese Atmosphäre ausstrahlen. Was ist es, das solche Stellen im Stadtraum so nachhaltig »betäubt«? Eine Leere in Gestalt ausbleibender Menschen, eine atmosphärisch zudringliche Ruhe, die sich zur Stille auswächst? Ein irgendwann angefahrenes und seitdem schief wie verloren dastehendes Verkehrsschild spitzt die Tragik des Niedergangs sowie den Charakter einer sich schon lange selbst überlassenen Gegend zu, vor allem dann, wenn fast alle Verkehrsströme versiegt sind. Ein funktionslos gewordenes Schild erzählt zwei Geschichten zugleich: eine vom ehemals lebendigen Hafentreiben und eine zweite von den Schleiern einer um sich greifenden Betäubung und Entleerung, die sich über Straßen, Freiflächen, Bauten und Brachen gelegt haben. Das begehbare Bild, in dem sich eine Gegend zeigt, rahmt sich situativ von selbst. Umso mehr stechen die Bauten hervor, die keinen verfallenden Eindruck machen, wenn sie auch sichtlich außer Betrieb genommen sind oder wider Erwarten doch einen Filetierbetrieb beherbergen, in dem Arbeiter in weißen Kitteln frisch angelieferten Fisch verarbeiten. Zwar geschieht auch dies in alten Gebäuden; und vielleicht unterscheiden sie sich nur dadurch von den beinahe substanziell schon aufgezehrten Bauten, dass sie in ihrer Vitalität nicht ganz ins Bild passen wollen. Aber es sind nicht nur die halbwegs regelmäßig genutzten Betriebe, die in einem Meer dahinrottender Bauten irritieren. Die Aufmerksamkeit wird ebenso von abgestelltem und vergessenem Zeug festgehalten, deren Spuren nur undeutlich auf Lebendigkeit verweisen. Manche Häuser stehen da, als wollten sie – gleich leidensfähigen Subjekten – »beklagen«, was an ihnen und um sie herum aufgehört hat zu sein. Es ist auch hier Einzelnes, das in seinem Zustand weniger auf sich selbst verweist, als auf die Fassung durch eine aktuelle Situation, zu der das alles gehört. Ein in zwei Teile zerbrochenes Firmenschild an der Fassade eines aufgegebenen Hauses hat seinen Zweck ganz offensichtlich hinter sich. Es verweist eigentlich auf nichts mehr. In dem was noch lesbar ist, dreht sich seine Botschaft herum: Es zeigt, was nicht mehr ist, kann als Spur einer vergangenen Geschichte und als Klage über eine lange gestorbene Lebendigkeit und wirtschaftliche Vitalität verstanden werden. Das Eine ist nicht wie das Andere, schon gar nicht in seinem atmosphärischen Ausdruck. Das Gesicht einer Hauswand, die für sich genommen eigentlich nur den bedeutungslosen Zerfall einer

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Das photographische Bild in der Phänomenologie: Autopsien in fünf Feldern

Sache sichtbar macht, erzählt facettenreiche Geschichten, denn im Wandel des Materials ist zugleich eine Resonanz auf Ereignisse und ehemals vielleicht turbulente Geschehnisse lebendig. Wie sich etwas zeigt, das selbst nicht lebt, teilt in seinem So-Sein etwas über die mit, denen es einst etwas bedeutete. Wie vor Gesichtern steht man auch vor Häusern und ihrer stofflichen Außenhaut in Gestalt von zerbröckelndem Putz, herabblätternden, gerissenen und sich schier endlos variantenreich wandelnden Farbaufträgen. Eine Fassade ist wie eine vielschichtige Haut; dieser Eindruck drängt sich in diesen Straßen an vielen Orten in einer von Zersetzung und Kollaps gezeichneten Hinfälligkeit auf. Letztlich blicken einen diese Gesichter wie Porträts an. Sie wirken in der Art, wie sie verletzt und abschreckend sind, zugleich anziehend. Sie berühren als etwas in seiner Rätselhaftigkeit Faszinierendes, sind in ihrem sinnlich spürbaren Dahinmodern zugleich aber auch abweisend. Manchmal riechen solche Wände – im tatsächlichen wie im übertragenen Sinne. Wo die Feuchtigkeit in ihnen sitzt, anstatt in Fallrohren »geordnet« herunterzulaufen, riecht es nach Fäulnis. Man erahnt schon das bevorstehende Herabrieseln von Putz, das Abplatzen von Mauerstücken und Abblättern alternder Farbschichten, auch wenn tatsächlich alles noch hinreichend fest zu sein scheint. Die Fenster halbtoter Häuser sind wie Augen – nicht, weil sie selbst etwas sehen könnten, sondern weil man durch sie hindurch in ein vorscheinendes Innen blicken kann, obschon die Sicht von beschlagenem, eingerissenem, verblichenem und fahl gewordenem Glas, kaputten Gardinen oder gar von Bretterverschlägen versperrt wird. Solche Fenster erzählen auf ihre Weise von der Geschichte eines Hauses. Was ein dahinrottendes Gebäude von sich, seinen Menschen und seiner Gegend preisgibt, ist jedoch stets auch Resultat dessen, was in der Imagination eines Anschauenden lebendig wird. Zwischen der tatsächlichen Geschichte eines Quartiers und dem, was man in ihrem atmosphärischen Erscheinen durch die Gestimmtheit des Da-Seins zu spüren bekommen kann, liegen kleine und große Differenzen. Ein halb offenstehendes Fenster entspricht ebenso seinem Zweck wie ein geschlossenes oder eines, das nur schräg gestellt ist. Steht es aber in einem verlassen wirkenden Haus auf Dauer offen, so bedeutet es etwas anderes. Der Blick ins Leere kündet von Aufgabe und resignativer Gleichgültigkeit. In einem tragischen Aus-

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Ein Stadtquartier im Niedergang

druck zeigt sich darin etwas vom Gesicht einer Fassade. Der Eindruck, der in einem verfallenden Haus von einem halb geöffneten oder geschlossenen Fenster ausgeht, ist ambivalent in dem, was er zu verstehen gibt. Er kann eine nachhallende Nutzung oder eine beginnende Revitalisierung bedeuten und damit auf einem Grat zwischen Utopie und Dystopie stehen. In der Leere und Öde eines ganzen Quartiers fällt die Aufmerksamkeit aufs Pflaster, den Asphalt, den Boden, mit dem man mit den Füßen, gehend und stehend, stets Kontakt hat. Wo das urbane Treiben – fahrende Automobile, hin- und herlaufende Menschen, auf Gabelstaplern transportierte Fischkisten etc. – zu einem weitgehenden Stillstand kommt, gibt sich der Boden nun selbst als etwas Eigenes zu erkennen. Er hat ein taktiles, mitunter olfaktorisches sowie mit den Augen und den Ohren erfassbares Gesicht. Es ist vielgestaltig und faltenreich, mal glatt, mal holprig, mal einfarbig, dann wieder bunt, mal hell und mal dunkel. Es hat viele Muster – aus Beton, Pflaster, blanker Erde, Kinkersteinen bis hin zu Resten ehemaliger Schienenstränge. Wenn der Blick an einem Kanaldeckel, dem Schraubverschluss eines Hydranten oder dem Gitter eines Gullys hängen bleibt, fühlt man sich wie von Augen angesehen. Dies sind keine Augen wie Fenster, die das Hineinsehen provozieren, es sind anblickende Augen. Der Boden – in Gestalt des Asphalts oder des Straßenpflasters – wird gerade da denkwürdig, wo er am bequemsten ist. Dann ist er nämlich ungewohnt – er geht glatt durch und es gibt keine lästigen Kanten und Stolperstufen, die die Straße vom Gehweg trennen, wie man es in den Städten erwartet. Es gibt auch Böden, die durch ihren offenen Freiflächen-Charakter auffallen. Auf ihnen kann man überall gehen und fahren. Asphalt ist nicht einfach nur das Andere einer Pflasterung oder ausgelegter Platten. Er ist, indem er sich im Straßenbau als zähflüssiges Medium für beliebige Flickereien anbietet, ein plastischer Stoff, in dem sich Geschichte annotiert. Im Flickwerk des früher und später Gemachten zeigt er sich farblich wie stofflich in mitunter wirren Mustern. Manchmal liegt noch ein Streifen Zement zwischen dem einen und dem anderen Stück, so dass das Bild des Bodens geradezu moduliert erscheint. Indem lebensweltlich ganz gewöhnliche Straßen in ihrer Eigenartigkeit ins Bewusstsein treten, machen sie auf etwas Unbedachtes im Gewohnten aufmerksam. In diesem Milieu des Verfalls geschieht so wenig,

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Das photographische Bild in der Phänomenologie: Autopsien in fünf Feldern

dass noch der abwechslungsreiche und unregelmäßige Boden zur Sensation wird. Eine enge Straße, die an beiden Seiten wie tot wirkt, strahlt eine beklemmende und beengende Macht aus. Was hier bevorsteht, erscheint ungewiss, obwohl doch das Gegenteil so präsent zu sein scheint: die allgegenwärtige Ödnis und das Ausbleiben menschlicher Umtriebe. Und wieder ist es viel weniger das Abgestorbene als das schon Verlassene, das beunruhigt. Dies bringt sich an zahllosen Zuständen zur Geltung, die allesamt auf einen lange schon vergangenen Rückzug der Arbeiter und ihrer Betriebe hinweisen: verrostende und durchhängende Rohre, verwitterte und schräg nach vorne gekippte Klimaanlagen, zerbrochene Lamellen blecherner Rolltore, eingeschlagene Scheiben, liegengelassene Dinge von irgendeiner schon Geschichte geworden letzten Handlung einer Person, die hier lange vor dem Hochschießen der Unkräuter war. Dieses Gefühl für den Ort verdankt sich in besonderer Weise dem Blick in die offene Leere am Ende der Straße. Da ist nichts als die Helle des Horizonts. Dieses »Nichts« drückt sich zwischen den Häuserreihen in einem ambivalenten Eindruck aus, der eine anziehende und eine zugleich zurückhaltende Seite hat. Die weiße Leere am Ende der Straße ist Perspektive möglicher aber noch ausstehender Geschichte, jedoch zugleich jener nichthafte Abgrund, in dem jeder geschichtliche Fortgang – der Straße wie des ganzen Quartiers – rätselhaft bleibt. Verlassenheit drückt sich nicht nur an Gebäuden aus, sondern auch an Dingen. Eine Fischkiste, die in einer Nische des Zugangs zu einem heruntergekommenen Gebäude abgestellt worden ist, kehrt in gewisser Weise den Eindruck eines eigentlich wie tot wirkenden Gebäudes atmosphärisch um. Das Bemerkenswerte an der dastehenden Kiste ist, dass sie an die Stelle einer Person tritt, die sie dort stehen gelassen hat. Damit wird ein (atmosphärisch wie tatsächlich) finsterer Eingang zu einem Milieu, das man schon deshalb eher zu Menschen in Beziehung setzt, weil ein beweglicher Gegenstand mehr auf die Aktivität einer Person verweist als auf den Zustand einer Immobilie. Was an einem solchen Ort auf höchst unbedeutende und vielleicht zufällige Weise »entsteht«, ist eine atmosphärisch vielsagende Situation. An sich deutet eine intakte Kiste weder auf Verfall noch auf andere Prozesse ästhetischer Degradierung hin. Aber es ist die spezielle Situation, die eine banale Kiste in der Dauer

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Ein Stadtquartier im Niedergang

der gelebten Zeit zu einem beharrenden und darin transzendierenden Medium macht. Der sich näher an die Falten des Gesichts einer Hausfassade vortastende Blick erschließt eine Binnen- oder Tiefenstruktur. Darin zerfällt ein Umgebungseindruck in Bruchstücke. In ihnen tritt das Bild eines ganzen Quartiers zurück. Aber zugleich hallen seine historischen Spuren umso deutlicher wider: ein Vorhängeschloss, das über einem Türschloss hängt, blinde Namensschilder neben Haustürklingeln, der spröde Holzrahmen einer Tür, herunterblätternde Farben, abgerollte Türjalousien, der verblichene und von Spinnennetzen überwucherte Name einer Bank, die es an diesem Ort schon lange nicht mehr gibt, und so weiter. Die Beeindruckung durch das Ganze des Quartiers verdankt sich immer wieder einzelnen Merkmalen des Niedergangs. Der das Quartier niederreißende Verfall ist an zahllosen Details erkennbar, die auf dem Erlebnishintergrund des von einer Straße ausgehenden Eindrucks verständlicher werden. Für sich genommen, sagen die sich endlos ergänzenden Details wenig, als Facetten eines eindrücklich werdenden Bildes dagegen alles: schon vor längerer Zeit abgestellte und dann irgendwann vergessene Behälter (von Unkräutern umwuchert), gerissene Stellen im Mauerwerk, die bereits zu Biotopinseln verwachsen sind, zerbrochene Glasscheiben, mit Holzplatten vernagelte und zugemauerte Fenster (das eine mit Kalksteinen und das andere daneben mit Klinker), vertrocknetes Holz mit tiefen scharfkantigen Spalten, fehlende Fugen im Mauerwerk, herunterbaumelnde halb verwitterte Schilder an Türen und Hauswänden, abgebrochene Fallrohre mit Enden, die ins Leere gehen, gekälkte Fassadenflächen mit schon lange verblichenen Firmenaufschriften, abgebrochene Plastikrohre (alte wie später ergänzte), Stromkabel, die um Masten, Gitter und Rohre gewickelt und zu Bündeln verknotet sind, wild wucherndes Gras zwischen Betonplatten, die früher einmal eine glatte Farb- und Abstellfläche gebildet haben mögen, herunterfallender Putz, hochschießendes Unkraut, herumliegender Schrott, Abfall, Müll … Wenn man alle einzelnen Merkmale, an denen man den Verfall von Bauten, das Sterben von Straßen und die sich schnell wie gravierend abschwächenden Lebens- und Arbeitsrhythmen einer Gegend erkennen kann, »theoretisch« zusammendenkt, so kommt dabei etwas beinahe zufällig Erscheinendes heraus. Im Ganzen dessen, was an einem Ort ist, zeigt sich jedoch eine zusammenhän-

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Das photographische Bild in der Phänomenologie: Autopsien in fünf Feldern

gende Geschichte. Der Vitalton der Ödnis bildet das atmosphärische Epizentrum einer Gegend. Aber nur selten kann er an diesem oder jenem Ort genau identifiziert werden. Auch das Sterben von Straßen lässt sich nicht am Immobilienzustand nebeneinander stehender Bauten erkennen, noch am Grad der Pflege von Grundstücksgrenzen »identifizieren«. Man muss sich mit wachen Sinnen und einer Bereitschaft für das atmosphärisch Spürbare einer leiblich gegenwärtigen wie vernehmbaren Wirklichkeit schon selbst zu einem Eindrucksmedium für das Erfassen eines herumwirklich packenden Eindrucks machen, der sehr viel mehr von einer Gegend ausstrahlt, als von einem kartographisch genau bestimmbaren Areal. Wo der Rückgang gewerblicher Nutzung nicht nur zum Verfall von Bauten führt, sondern gar zu deren beginnendem Einsturz, setzt sich Agonie ins Bild und trübt jede Hoffnung auf die Einkehr neuer Nutzungen. Was vom Einsturz bedroht ist, lädt Eindrücke der »Gebrechlichkeit« mit einem atmosphärischen Stoff auf. Was hier ist und geschieht, berührt in einem leiblichen Sinne und erinnert an eigenes Leiden. Im Übermächtig-Werden solchen herumwirklichen Ergehens stirbt jede mögliche Perspektive eines neuen und kraftvollen Weges ab, an die man angesichts einer vielleicht erst eben abgestellten Fischkiste noch glauben möchte. Der Wandel eines Quartiers mit seinen Straßen, Gassen, aufgegebenen und sich gerade noch selbst tragenden Bauten, aber auch seinen hier und da fortgeführten fischverarbeitenden Betrieben (der Räucherei, Filetierung, Konservierung usw.) bringt das eher undeutlich bleibende Bild eines Quartiers hervor. Das Nebeneinander von Dahinsiechen und Fortleben treibt den Wandel von allem Möglichen in die Denkwürdigkeit. Neben einer dystopisch so präsenten Macht ist eine utopische spürbar.

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II.3 Schiffshäute

Wände/Häute Die photographische Mikrologie von Schiffshäuten folgt einem doppelten Interesse; zum einen dem am Rumpf als einem prothesenartigen Tastorgan und zum anderen dem der Vergrößerung des Maßstabes der mikrologischen Annäherung, die im Grad der detaillierten Betrachtung nun aufs Kleinste geht. Sie will damit nicht zuletzt dem Schiff als Medium leiblicher Kommunikation näherkommen. Die folgende Mikrologie stellt sich zugleich als Aufgabe der Auslotung von Nähe- und Ferne-Verhältnissen, sind doch alle Beziehungen, die Menschen zu Schiffen haben, auch durch den Mythos des Schiffes überschrieben, das in einer unbekannten Ferne vom sicheren Heimathafen auf offener See seinem Kurs folgt. In ihrem großen Maßstab zeigen die Bilder Segmente vom Ganzen eines Schiffes, nie dagegen ein ganzes Schiff. Die Einschränkung des Sichtbaren auf sachverhaltliche, wie fragmentarische Facetten eines Schiffes mündet in einen segmentierten Ausdruck. Der Blick auf das (fraktale) Stück vom Rumpf versetzt das sinnlich gegenwärtige Schiff in eine widersprüchlich erlebte (taktile) Abwesenheit. Vom Schiff gibt auch der vergrößerte Anblick des Kleinsten seiner Haut wenig zu sehen. Umso mehr provoziert das Segmentierte die Imagination; das im Bild sichtbar Gemachte transzendiert ins Ferne der Bedeutungen des Schiffes, auch wenn es noch so nahe vor den eigenen Augen festgemacht ist. Eine Schiffswand ist ein trennendes und verbindendes Medium. Häute tun das auch; aber sie sind durchlässiger als eine Wand, die über eine Tür oder ein Fenster mit dem Draußen verbunden ist. Die Außenseite eines Schiffes darf jedoch nicht durchlässig sein wie ein Fenster. Das Trennende ermöglicht das Schwimmen erst; es gelingt, weil die Wand des Schiffes wie eine Membran dem Steuermann die Bewegung im Draußen zu spüren gibt – die Geschwindigkeit ebenso wie die Vibration der laufenden Maschinen, den Stoß

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beim Anlegen an der Kaimauer, das Vorbeistreifen an einer metallenen Boje, die mitunter das Scheitern des Schiffes einleitende Berührung eines Felsgrates unter der Wasseroberfläche und vieles mehr. Die »Häute« von Schiffen geben in ihren Gravuren und Zeichnungen etwas von der Zeit auf See und in den Häfen, in gewisser Weise vom »Leben« eines Schiffes zu sehen – wie die Haut eines Menschen etwas von dessen Biographie. Häute, die aus mehr oder weniger dicken Stahlblechen gefertigt sind, reagieren auf andere Weise auf das, was einem Schiff geschieht, als mehr oder weniger dünne Wände oder leichte Planken aus Holz. Während die Haut eines Tieres ein Medium der Schmerzwahrnehmung ist, sind physische Stoffe wie Bleche oder Hölzer nicht-pathische Materialien, keine Medien lebender Resonanz, aber doch solche, die auf lebendige Weise die Spuren von allem Möglichen in sich aufnehmen, was einem Schiff geschehen ist. Der metallene (oder hölzerne) Rumpf ist auch eine Art disperser Lautsprecher – ein taktiler Sensor, der die Seeleute leiblich mit ihrem Schiff und der See verbindet. Ist das Schiff erst in offenen Gewässern, konstituieren sich Nähe- und Ferneverhältnisse der Wahrnehmung, die allein für den Seemann von Bedeutung sind, zugleich aber zum Wesen des Schiffes dazu gehören. Nur für den auf offener See in der Welt des Schiffes lebenden Matrosen, Koch und Maschinisten wird dessen Haut zu einem Medium des Spürens der Schiffsbewegungen wie der Dynamik der Naturkräfte von Wind und Wasser (mehr in der alten als der neuen High-Tech-Seefahrt). Das Schlingern, Schwanken, Stampfen wie seichte Dahingleiten vermittelt sich dem leiblichen Spüren durch die rumpfbildende Haut des Schiffes. Die vom Seemann leiblich gelebte Synthese mit dem Schiffskörper erinnert an Sonde und Prothese. Das sind zwischen Nähe und Ferne vermittelnde Medien, die nach Blumenberg die eigene Bewegung in einem Dort zu spüren geben: »Eine Sonde ist aber nicht primär ein Instrument der Erkenntnis, sondern der Vergewisserung, es mit dem Widerstand des Reellen zu tun zu haben. 1 […] Sonden, obwohl Werkzeuge des haptischen Nahraumes, dringen zu dem vor oder in das ein, dem das hierbei vordergründige Optische den Zugang verweigert.« 2 So wird die Haut des Schiffes zu einem Medium, das das metrisch halbwegs Nahe in eine leiblich spürbare Nähe holt. 1 2

Blumenberg, Phänomenologische Schriften 1981–1988, S. 466. Ebd., S. 470.

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Schiffshäute

In der Vermittlung des räumlich Nahen mit dem eigenleiblichen Spüren reklamiert sich folglich die Imagination, muss doch für das Verstehen erst »übersetzt« werden, was der Rumpf zu »sagen« hat. Bei dieser Art der Imagination geht es mit Hermann Schmitz um eine Art leiblicher Intelligenz. Sie generiert aus dem spürbar Gemachten eine Einsicht (u. a. zur Bewertung dessen, was dem Schiff zugemutet werden darf, ein gutes Ende der Fahrt garantiert und den sicheren Halt der Ladung gewährleistet). Innerhalb leiblicher Kommunikation kommt es beim mit-spürenden Bedenken der Schiffsbewegungen auf leibliche Intelligenz an, auf das Vermögen, »mit einem Schlage […] neue impressive Situationen« 3 wahrnehmen zu können. »Während die leibliche Intelligenz ohne Einsatz der Sprache auskommt, sind die hermeneutische und die analytische auf Rede angewiesen.« 4 Will der erfahrene Steuermann seine Schlüsse aus den Bewegungen des Schiffes dem Kapitän mitteilen, damit der eine evtl. anstehende Entscheidung treffen kann, muss er sprechen. Der Hohlkörper verdankt sich als Schwimm-Gestell einer (Schiffs-)Wand. Unterhalb der Wasserlinie dehnt sich das schwimmende Gefährt in eine unsichtbare Tiefe aus. Tiefe hat aber auch die Oberfläche der Schiffshaut, wenn auch in ganz anderer Weise als ein metrisch nach »unten« weisender Tiefgang. Dabei offenbart der Blick »in« die Haut des Schiffes eine unerwartete Tiefe. Die Haut ist lange nicht so glatt wie es aus der Ferne zu sein scheint. Je näher das Schiff auf den Hafen zukommt, je mehr man sich ihm nähert, desto mehr entpuppt sich seine Haut – wie die eines Menschen – als dreidimensionale Oberfläche, die durch Poren, Runzeln, Risse und Löcher reliefiert wird. Tiefen »auf« der Haut bilden sich in Strukturen, die von sachten Berührungen wie von stärkeren Beschädigungen herrühren. Vom Gewicht eines Materials (Holz, Eisen, Aluminium) weiß man nur. Tatsächlich sieht das Schwimmende viel weniger schwer als leicht aus. Die Wand des Schiffes ist als Kontaktzone mediale Brücke in eine andere Welt. Es trennt die Elemente. Der Stahl ist eine Schwelle zwischen zwei Welten – einer der festen Dinge und einer des Fließenden. Das Schiff kommt aus dem Milieu der harten Stoffe. Und doch gehört es seinem Wesen nach ins Element des Wassers, 3 4

Schmitz, Bewusstsein, S. 88. Ebd., S. 90.

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worin es schwimmend von Ort zu Ort schwankt und dabei selbst ein Ort ist. Thema der Serie photographischer Annäherungen an Schiffshäute sind nie deren inneren Seiten, an denen der »Schiffsdunst« (oder »-schweiß« 5) hängen bleibt; die alte Seemannssprache nannte so die »Ausdünstung der Ladung, die sich an den Schiffswänden als Flüssigkeit niederschlägt« 6. Beulen im Stahlblech, Kerben in der Außenhaut des Rumpfes und tiefe Riefen im Stahl lassen im Außen des Schiffes auf Verletzungen seiner Haut schließen, die Ausdruck von Ereignissen und Zufällen sind. Daher entziehen sie sich auch der verstehenden Interpretation im engeren Sinne; an einem Zufall gibt es nichts zu verstehen. Er »passiert« und ist ein Ereignis; die Folge einer Verkettung ungünstiger Umstände oder der Unaufmerksamkeit eines Seefahrers. Auch dann, wenn sich eine Deutung beinahe selbstverständlich suggeriert, kann eine ganz andere (und wahre) Geschichte im Verborgenen liegen. Spuren auf der Haut eines Schiffes bilden in gewisser Weise die poetischen Oszillogramme vergangener Ereigniskurven ab. Häute aus Stahlblech sind scheinbar dünn, in ihrer tatsächlichen Dicke jedoch gegenüber der Wahrnehmung verschlossen. Jede Beule bestreitet die Festigkeit einer Wand und beglaubigt sie zugleich. Lacke, die das Gesicht eines Schiffes färben und in Szene setzten, sollen es (wie kosmetische Interventionen am menschlichen Gesicht) in ihrem Erscheinen als dieses von anderen unterscheiden. Vor allem an seinem aus dem Wasser herausragenden Rumpf soll es unzweifelhaft identifiziert werden können. Gestalt und Farbe sind ästhetische Medien der Produktion von Identität. Glänzende Farben suggerieren Eleganz, Modernität und Perfektion, Rostschutzfarben erinnern ans Altern des Materials. Abgekratzte Farbe und blank vorscheinendes Eisen erzählen Geschichten vom sprichwörtlichen Vorbeistreifen. Blanke Stellen am Eisen sind wie Wunden und Male unsanfter Kollisionen. Was mit einem Schiff getan wird (vom korrosionsschützenden Anstrich bis zu seinem Umbau), steht in einem anderen Verhältnis zu seinem Wesen als das, was ihm geschieht (vom Zerschellen der Sektflasche anlässlich der Schiffstaufe über die Verbiegung eines Bugblechs beim zu heftigen Anlegen an einer Kaimauer bis zum 5 6

Stenzel, Deutsches Seemännisches Wörterbuch, S. 352. Ebd., S. 351.

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Schiffshäute

kaum sichtbaren Abrieb der Farbe an einer Seite durch zu eilige Verladeaktivitäten). Jeder etwas heftigere Kontakt prägt sich in die Haut des Rumpfes ein. So verdankt sich das Gesicht eines Schiffes unter anderem all jenen Gravuren, Blessuren und technischen Interventionen an seinem Bauch, die oft wie ein Palimpsest übereinander liegen und sich als narrativer Stoffe der Phantasie anbieten. Ein viel gefahrenes Schiff birgt im quasifleischernen Gedächtnis seines Rumpfes eine Vielzahl von Geschichten, darunter höchst dramatische. Aber sie scheinen in dem, was im Blech von ihnen zurückgeblieben ist, noch nicht einmal vor; die Höhepunkte und Pointen all dessen, was ihm geschehen ist, bleiben im eigentlichen Sinne im Dunkeln. Keine Schiffshaut gelangt ohne »ihr« Schiff in den Fokus subjektiver Aufmerksamkeit. Das Schiff dürfte dagegen das erste sein, an was man denkt, wenn der Blick auf seine Haut fällt. Wegen der historischen Bedeutung der Schifffahrt, die für viele Völker seit dem Altertum den Transport lebenswichtiger Güter garantierte, ist das Schiff in mythischer wie kultischer Hinsicht kein gewöhnlicher Gegenstand. Es ist (neben dem Wagen) das Gefährt schlechthin, aber mehr noch die Fähre der Götter sowie der guten wie der bösen Geister, die die Mannschaft auf den Fahrten über die Weite einer abgründigen See begleiten, welche in der Antike als »Tummelplatz der Dämonen« 7 angesehen wurde. In vielen Mythen galt das Schiff als belebtes Wesen 8. In mittelalterlichen Darstellungen wird »das gut ausgerüstete Schiff […] zum Symbol der ›Ecclesia triumphans‹« 9 und noch in der frühchristlichen Ikonographie symbolisiert es »die Lebensfahrt der Verstorbenen zum Hafen der Ewigkeit« 10. Auf der Seite des Dystopischen steht der Schiffbruch, das Scheitern in Wind und Wetter, auf dass »die Wassergeister« das Schiff in ihre Gewalt bekommen und »es zerschellen oder als Gespensterschiff ohne Bemannung auftauchen« 11 lassen. Das Meer ist die Sphäre mythischer Ungeheuer, der Unsterblichkeit, des Gefahrvollen, Geisterhaften und Gespenstischen. Die von Blumenberg 7

Kirschbaum (LCI), Band 4, Sp. 62. Vgl. Bächtold-Stäubli, Handwörterbuch des deutschen Aberglaubens, Band 9, Sp. 156. 9 Kirschbaum [LCI], Band 4, Sp. 65. 10 Ebd., Sp. 63. 11 Bächtold-Stäubli, Handwörterbuch des deutschen Aberglaubens, Band 9, Sp. 154. 8

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dargestellte »nautische Daseinsmetaphorik« 12 erinnert daran, dass der Mensch lange Jahrhunderte als jemand galt, der nicht aufs Meer, sondern an Land auf festen Boden gehörte. Die Seefahrt war nicht nur ein Wagnis; sie war »ein frivoles, wenn nicht blasphemisches« 13 Unternehmen. Mit dem Schiff verbindet sich eine Fülle existenzieller Bedeutungen. Es ist ein fahrender Kosmos, jenes auf dem offenen Meer ganz auf sich gestellte Raumgebilde, das Foucault als die Heterotopie par excellence anspricht: »Und bedenkt man, dass Schiffe, die großen Schiffe des 19. Jahrhunderts, ein Stück schwimmender Raum sind, Orte ohne Ort, ganz auf sich selbst angewiesen, in sich geschlossen und zugleich dem endlosen Meer ausgeliefert, die von Hafen zu Hafen […] fahren, um das Kostbarste zu holen, […] dann wird deutlich, warum das Schiff für unsere Zivilisation zumindest seit dem 16. Jahrhundert nicht nur das wichtigste Instrument zur wirtschaftlichen Entwicklung gewesen ist, sondern auch das größte Reservoir für die Fantasie.« 14

Die Schifffahrt steht so immer in einer Spannung von Nähe- und Ferne-Beziehungen. Der sinnlich nächste (Greif-)Raum ist für Roland Barthes der proxemische Raum. 15 Greifraum ist das Schiff nur für den Seemann. Die Nahsinne des Tastens, Schmeckens und Riechens sagen, was sinnlich unmittelbar wirklich ist. Die Fernsinne (sehen und hören) erschließen ihrerseits nur einen nahen Fernraum, entzieht sich das am Horizont verschwindende Schiff trotz noch so guter Augen doch der Wahrnehmung in Gänze. Mit ihrem Verschwinden aus dem Gesichtskreis der an Land Zurückbleibenden tauchen die Schiffe in jenen Kosmos des Abgründigen ein, in dem uns die furchterregendsten Mythen eine erhabene Atmosphäre des Schönsten und zugleich Schrecklichsten vorstellen.

Anmerkungen zur Aufnahmesituation der Photographien Die Photographien von Schiffshäuten folgen einem mikrologischen Interesse am kleinen bis kleinsten Ausschnitt eines Ganzen. Diese 12 13 14 15

Blumenberg, Schiffbruch mit Zuschauer, S. 9. Ebd., S. 13. Foucault, Die Heterotopien, S. 21. Barthes, Wie zusammen leben, S. 184 ff.

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Schiffshäute

ästhetische Haltung wird letztlich durch eine Lust am Sammeln intensiviert. Eine tendenziell unabschließbare Vielfalt der Hautgestalten von Schiffen setzt sich doch erst in der großmaßstäblichen Annäherung in ein facettenreiches Bild, in dem sich das Schiff selbst tendenziell aus dem Fokus verliert. Lenkend ist nicht zuletzt die Frage, was die Falten im Gesicht eines Schiffes zu spüren und zu verstehen geben, wenn dabei auch immer wieder offen bleibt, was am Ende einer Geschichte ans Licht der Wahrnehmung tritt, am Material also den Zeithorizont von Ereignissen überdauert. Alle gezeigten Photographien sind in gewisser Weise Porträts von Gesichtern vergleichbar; sie geben Ansichten und Anblicke preis, eröffnen aber weder Durchsichten noch Einsichten. Im Spiel zwischen Nähe und Ferne, das sich schon in der Annäherung an Hautsegmente aktualisiert, fasziniert immer wieder die »Differenz von Nähe und Ferne […], von Vertrautheit und Fremdheit, von Gewißheit und Ungewißheit, von Schrecksamkeit und Bedrohlichkeit« 16. Es ist diese Differenz, die »damit den Horizont zu weiteren Horizonten und zu einem mindestens imaginativen Verkehr zu diesen« öffnet. Letztlich wird potentiell alles ›theoretisch‹, was »die genuine Qualität der Ferne hat.« 17 Die in die Serie dieses Kapitels aufgenommenen Photographien sind aus einem umfangreichen Bildbestand entnommen, der bei photographischen Arbeiten in Seehäfen des In- und Auslandes zusammengetragen worden sind.

Phänomenologische Annäherungen Das Flache In einer bildhaften Gestaltvielfalt variieren sich die unterschiedlichsten Schiffswände in mannigfaltig erscheinende Muster. Jeder noch so eindringliche Blick sitzt auf dem Flachen fest. Aber es ist trotz aller Flächigkeit nie plan wie eine Glasplatte. Oberflächen werden in der Nahsicht zu Mikrolandschaften (meistens) aus Stahl – verzeichnet durch Vertiefungen, hervorstehende Schweißnähte, Materialgrenzen, Rostgravuren, Reliefs, die an die Haut einer Zi16 17

Blumenberg, Phänomenologische Schriften 1981–1988, S. 464. Ebd.

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Das photographische Bild in der Phänomenologie: Autopsien in fünf Feldern

trone erinnern. Der Blick wird zum taktilen Werkzeug; das Flache des Ganzen eines Schiffsbauchs zeigt sich in großer Nähe als eine gestaltreiche Morphologie. So wird der Blick zum Fernfühler, denn der »Stoff des Schiffes« ist wegen der Wassergrenze zwischen Rumpf und Kai unantastbar. Dabei bieten sich glatte Flächen in ihrer bewegungssuggestiven Eindruckswirkung dem synästhetischen Fühlen anders an als unebene Flächen, die von Beulen und Schweißnähten überzogen sind. Auf je eigene Weise ziehen beide metallene Sphären die Aufmerksamkeit auf sich. Es gibt Unterschiede in der Art der mittelbaren Berührung. Das ganz Glatte suggeriert das gleitende Fühlen mit der flachen Hand wie das flächige Überstreichen. So auch das in Mustern unebener Farbaufträge einheitlich holprig Erscheinende, das aussieht, als läge unter der Farbschicht eine unübersichtliche Vielfalt kleiner Linsen. Dagegen fordern vorragende Schweißnähte (die wie Grenzen innerhalb ein und desselben Materials etwas zu verbinden scheinen) zur vorsichtigen Ertastung mit den Fingern heraus. Um der Linie und ihrer Richtung zu folgen, aber auch aus einer Lust am fühlenden Spiel mit dem Material. In seiner schiffsumspannenden Ausbreitung des Flachen bietet es der Berührung nicht nur eine lineare Struktur an, sondern zeigt sich auch in einer ganz eigenen Morphologie. Die erhaben vorstehende Linie, die das Glatte der Bleche konterkariert, suggeriert sich der Wahrnehmung als wellig. Das weite Glatte und Flache wird im Kontrast mit dem Welligen und Linearen zu einem virtuellen Tastfeld, zu einem Spielfeld der Imagination. Alle Photographien sind Bilder von Eindrücken, die erst in der anblickenden Annäherung bildlich geworden sind. An sich ist das erscheinende Material nur dieses selbst – Stahlblech, das so oder so aussieht. Nicht weil es dieses oder jenes bedeuten soll, sondern weil es infolge der Erhaltung und Reparatur eines Schiffes so oder so geworden ist. Zu szenischen Bildern werden Schiffswände schon durch den rahmenden Blick oder die isolierende Aufmerksamkeit, die etwas Bestimmtes aus einem größeren Zusammenhang herausschneidet. Sie sind somit auch nicht intentional mit Bedeutungen geladen. Wenn sie auch mitunter aussehen wie Werke der modernen Kunst, so fehlt ihnen doch ein ästhetischer Autor. Die in Photographien sichtbar gemachten Blicke auf Schiffswände beeindrucken in ihrer Ästhetik und fordern die Imagination heraus. Diese Eindrucksmacht geht nicht von ihnen aus, weil sie einen verborge-

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Schiffshäute

nen aber aufdeckbaren Sinn bei sich aufheben, sondern weil sie in ihrer relativen Ferne das dialogische Spiel von Frage und Antwort in Gang setzen. Fern sind die allein sichtbaren Flächen, weil sie nur gesehen und nicht berührt werden können. Damit wird der optische Fernsinn zu einem defizitären Nahsinn, denn das Material ist durch das Wasser unter der Kante der Kaimauer entfernt und kann daher auch tatsächlich nicht berührt werden. Es liegt aber darüber hinaus in einer (epistemischen) Ferne, weil die – gänzlich banale – Geschichte seines So-Seins und -Werdens unergründlich ist. Je mehr sich die Aufmerksamkeit in sie verliert, desto intensiver faszinieren die Flächen von Schiffshäuten in ihrer Flächigkeit und werden zu Rätseln. Gerade die Serie der Schiffswände illustriert, was Jean-Luc Nancy über die Kunst sagt: »Wir wissen, dass wir Kunst brauchen zu etwas wie einem Nicht-Brauchen, d. h. zu etwas, das keinen Nutzen hat.« 18 Darin schwingt nicht die Bedeutung der Abwesenheit von jedwedem Sinn, gleichwohl der starke Hinweis auf die Ferne der Kunst gegenüber allem Utilitaristisch-Nützlichen.

Spuren Spuren weisen auf Ereignisse hin, auf die Geschichte eines Schiffes, aber auch auf Geschichten, die in dem verborgen sind, was davon ins Material eingegangen ist. Als »lebend fahrende Wesen« haben Schiffe in gewisser Weise eine Biographie. Ihre materielle Hülle wird zu einer atmenden Haut. Die Spuren sind so unterschiedlich und vielgestaltig wie das, was einem Schiff widerfahren oder einfach nur mit ihm geschehen ist, während es seiner Bestimmung gemäß als Wasserfahrzeug betrieben wurde. Die »ersten« Spuren, die auf signifikante Ereignisse hinweisen, sind Beulen, Kratzer und alle möglichen Deformationen – mögen sie von einem unachtsam ausgeführten Anlegemanöver am Kai zurückgeblieben sein oder von der Kollision des Schiffes mit einem anderen (Gegenstand). Sie ziehen die Aufmerksamkeit geradezu in sich hinein, ins Tiefe und Kantige der verformten Bleche, anders als heruntergelaufene Farben, dahingeflossene Reste von Chemikalien oder nuancenreiche Schmutzbilder, die ihrerseits eine von oben- nach untengehende Richtung aufweisen. Neben den »Zeichnungen«, die sich mit dem 18

Nancy: Wozu braucht man Kunst?, S. 17.

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Material verbunden haben und Teil davon geworden sind, gibt es zahllose Spuren, die in ihrem reversiblen Charakter nur einen von mittlerer Dauer währenden Bestand haben. Die Vielfalt dieser je eigenartigen Schiffshautsignaturen weist auf Geschichte ebenso hin wie auf die unterschiedlichsten Geschichten, auf solche, die – vitalistisch gesagt – als tiefe Narben ins Fleisch des Schiffes eingegangen sind und auf Widerfahrnisse hindeuten und auf solche, die nur oberflächlich auf der Haut des Rumpfes liegen und mehr sein aktuelles denn sein zuständliches Gesicht prägen. Zur Geschichte eines Schiffes gehören die einen wie die anderen Ereignisse, von denen Spuren und Gravuren, Zeichnungen und Blessuren zurückgeblieben sind. Auf Geschichten verweisen die zufällig entstandenen Abdrücke eines Seiles am Bugblech oder jene Narben, die ihrer Schwere wegen schon an ein »Leiden« des Schiffes denken lassen: Kerben an der Bordkante, tiefe Dellen, Verformungen, aufgeschweißte Reparaturbleche oder andere Zäsuren im Stahl, die schon in ihrer Form an die Überwindung einer Situation der Not denken lassen. Kein Schiff weist keine Spuren auf. Selbst der neue, gerade zu Wasser gelassene Rumpf erzählt von seiner Entstehung. Das alte, vor seiner Abwrackung stehende Schiff ist schließlich ein einziges Palimpsest, auf seiner Haut zu einem vielsagenden Bild geworden – Biographie, verrätselte Ausdrucksgestalt eines Quasi-Subjekts.

Farben Farben geben Schwarz-Weiß-Photographien nicht zu sehen. Die Aufnahmetechnik hat sie in Grautöne verwandelt. Dennoch lassen sie diese in einer anästhesierten Ferne erkennen – nicht als dieses Rot oder jenes rostfarbene Orange, aber doch als unterschiedliche Farben. Sie bilden Muster – schon in der Art, wie sie übereinander gestrichen worden und dahingeronnen sind, als Collagen nebenund ineinander liegen, mit dem einen wie dem anderen Material verbunden sind, als Spur eines Anfluges von Schmutz die Farbe der Schiffshaut bewusst machen, als Abrieb einer Oberflächenfarbe bis hin zu chaotisch anmutenden Ausschüttungen von irgendwelchen Flüssigkeiten, die sich auf einem Stück Wand des Rumpfes gestaltreich wie sinnlos vermischen und übereinandergelegt, aber auch mit farbig erscheinenden Kratzspuren überlagert haben.

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Schiffshäute

Visuelle Muster geben unübersehbar zu erkennen, dass Farben auch selbst etwas Stoffliches sind. Sie rinnen als Flüssiges, Zähflüssiges oder Pastöses an der Haut des Bugs herunter, oder sie blättern von einer darunter liegenden Farbschicht ab. Kratzer und Riefen geben nicht nur in Abriebbildern alte tiefer liegende Farben dem Blick frei; sie bestehen selbst aus ganz eigenen (Kontakt-)Farben – als Übertragungen von anderen Farben. Als aufgetragene wie anund übereinander geratene Stoffe erzählen sie Geschichten, die in gewisser Weise auf die zurückliegenden Bewegungsoszillogramme eines Schiffes verweisen. Sie erzählen Geschichten von seinem Gebrauch und Reparaturen, von der Art und Weise, wie eine Farbe (sorgfältig einheitlich oder unachtsam hingehauen) aufgestrichen worden ist, von technischen Prozessen und dem Maschinenleben, das seine eigenen Ausscheidungen hat, die auf der Haut des Rumpfes enden. Eine über die Farblichkeit hinausgehende Ausdrucksmacht gewinnen Farben, die eigentlich Schriftzeichen sind oder – mehr noch – waren, weil sie durch eine andere Farbe überdeckt worden, aber an ihren fast kantigen Rändern noch erkennbar sind. Solche Farben sind in ihrer verdeckten Stofflichkeit an-»sprechender« als nur altersbedingt herabblätternde Farben – vielleicht weil sie als Schriftzeichen sprachliche Mittel sind. Sie geben sowohl in ihrer Stofflichkeit als auch in ihrer schichtartigen Dünnhäutigkeit zu denken. Rein stofflich sind Farbaufstriche beinahe »nichts«, und doch sind sie für den Fortbestand des Rumpfes (von Stahl bis Holz) ganz unverzichtbar.

Material In allen Photographien von Schiffshäuten zeigt sich (etwas von) deren Material. Meistens ist es Stahl. Nur wenige größere Schiffe sind heute noch aus Holz. Metalle zeigen sich in Formen, die von einem technischen Entwurf stammen oder als Verformung von einer Kollision herrühren. Stahl und Aluminium erscheinen damit – trotz ausgedehnter Oberflächen – in einer Tiefe, die besonders dort gestaltreich wie bildhaft wird, wo sie von der Kraft und Macht einer Berührung kündet. Im Moment des visuellen Kontaktes mit einem taktil fern bleibenden Material suggerieren sich Eigenschaften des Starken und Schwachen, Festen und Weichen, Widerständigen und

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Das photographische Bild in der Phänomenologie: Autopsien in fünf Feldern

Nachgebenden. Ähnlich einer Wachstafel hat das Material »Einträge« in sich aufgenommen, in denen sich harte oder weiche, weich gemachte oder nur scheinbar weiche Eindrucksqualitäten zeigen. Materialien bieten je nach ihrer Festigkeit mehr oder weniger Widerstand. Aber trotz aller Konkretheit einer Einkerbung, eines Abriebes oder einer zahnartigen und tief in den Stoff der Haut einschneidenden Verformung bleibt das auf der Haut eines Materials erscheinende Bild ein unlösbares Rätsel. Es hat eine nicht erzählte Geschichte, es ist der Nachhall eines Ereignisses, das im Dunkeln bleibt. Es sind die Formen und bildhaften Gestalten, die uns eine (vermeintliche) Eigenschaft des Materials verstehen lassen, das Scharfkantige anders als das Abgerundete, das Glatte anders als das Anoder Aufgefaltete. Holz erscheint verletzlicher als Stahl, ein glattes Blech wasserundurchlässiger als vernietete Stahlplatten am Rumpf eines alten Schiffes. Der am neu verschweißten und frisch geschliffenen Ersatzteil erkennbare Glanz von rohem Eisen verspricht eine Lebensdauer und Haltbarkeit, die jede reparaturbedingte Schweißnaht sogleich in Frage stellt. Es sind nie nur Oberflächen, an denen sich der Stoff einer Haut zu erkennen gibt, sondern auch Eigenschaften der Haltbarkeit, Belastbarkeit und Festigkeit, die sich aus lebensweltlichem Wissen um das eine wie andere Material ins eindrückliche Erleben übertragen. Oft sind es gerade tief eingedrungene Beschädigungen, die widersprüchlicherweise keine Schwäche bekunden, sondern die Erwartung einer gewissen Stabilität unterstützen. Die Tiefe einer Zäsur zeigt etwas von der substanziellen Mächtigkeit einer Haut, die als das tragende Medium eines Schiffes von »existenzieller« Bedeutung ist. Selbst das Flache hat seine eigene Morphologie des nur beinahe Ebenen. Zum einen funktionieren Schiffswände nur als glatte Flächen, sollen sie doch das weitgehend reibungslose oder -arme Gleiten im Wasser der Meere garantieren. Zum anderen pluralisieren sich in der mikrologischen Betrachtung die Formen und Gestalten oberhalb der Wasserlinie zu vielgestaltigen und formal heterogenen Figurationen. Technische Ein- und Auslässe deuten auf eine motor- wie bewegungsbedingte Dynamik des Schiffes, übereinander genietete Eisenplanken auf eine fragile Statik, zahllose einschlagartige Vertiefungen im Blech geben das Bild einer geschundenen Haut preis, ineinander verschweißte Reparaturbleche erzählen von einer Dramatik zurückliegender Ereignisse, die dem Schiff

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Schiffshäute

»an die Substanz« bzw. »unter die Haut« gegangen ist. In solchen Häuten repräsentiert sich das Gesicht eines Rumpfes. Dieser steht schließlich in einer nicht nur funktionalen, sondern auch ästhetischen Beziehung zu den Aufbauten eines Schiffes.

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II.4 Krematorium

Die folgende und die abschließende Mikrologie befassen sich mit thanatologischen Räumen und Atmosphären, die von der emotionalen Schwere und existenzphilosophischen Mächtigkeit des Todes gestimmt sind. Das zunächst folgende Kapitel ist einem technischen Milieu gewidmet: dem transversalen Raum des Krematoriums. In einem feuertechnisch komplexen Prozess wird in ihm die Einäscherung Verstorbener durchgeführt.

Das Krematorium: ein transversaler Raum Während Einäscherungen im Mittealter aus religiösen Gründen tabuisiert waren, setzte sich im Zuge des schnellen Wachstums der Städte und moderner hygienischer Vorstellungen um 1900 die Feuerbestattung als Alternative zur Erdbestattung durch. Das erste deutsche Krematorium entstand 1878 in Gotha. 1 Es waren nicht rituelle oder religiöse Motive, die zu dieser Innovation führten, sondern ökonomische und hygienische. Deshalb waren Krematorien in ihrem technisch-funktionalen Kern auch keine sepulkralkulturell inszenierten Räume. Eine praktische Begleiterscheinung »effizient« geführter kommunaler Betriebe lag darin, dass sakrale Atmosphären in den Hintergrund rückten, wenn nicht beinahe ganz aus dem Fokus der Organisation eines Prozesses rückten, in dessen Mitte eher eine technische Form der »Entsorgung« gestanden hat und keine rituelle Ausleitung Verstorbener aus der Welt der Lebenden. Sepulkralkulturelle Inszenierungen waren der Bestattung vorbehalten; die Kremation war als rein technischer Hintergrundprozess konzipiert.

1

Fischer, Die Technisierung des Todes. Feuerbestattung – Krematorium – Aschebeisetzung, S. 145.

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Krematorium

Fragen der Pietät sind in Zeiten der Ökonomisierung bzw. einer regelrechten »Bewirtschaftung« des Todes in den Hintergrund gerückt. Auf der Internetseite »Bestattungen.de« werden »in zwei Minuten passende Angebote« für eine Feuerbestattung in Aussicht gestellt. 2 Ein zu betätigender Button »Angebote erhalten« nivelliert den Unterschied zwischen einer Bestattung und einem Autokauf in bedenklicher Weise. Dies umso mehr, als eine Bestattung in ihrem Wesen – ganz gleich, ob Urnen- oder Sargbestattung – als transversale Situation verstanden werden muss, die mit einem je eigenen Ritus den Übergang von der sozialen Welt der »Irdischen« (Heidegger) in eine virtuelle, imaginäre und mythische Welt der »Göttlichen« inszeniert. Um das Geschäft der Kremation ist seit rund 20 Jahren ein Wettbewerb entbrannt, der in einem sepulkralkulturellen Trend von der Erdbestattung zur Urnenbestattung begründet ist. Dieser nicht zuletzt praktische Wechsel hat die vermehrte Schaffung privat betriebener Krematorien eingeleitet, die nach neuesten technischen Standards konzipiert sind. Sie sind sowohl (emissions-) technisch als auch quantitativ leistungsfähig und können, vor allem in der Konkurrenz mit öffentlichen Betrieben, gewinnbringend bewirtschaftet werden. Zeitweise gab es infolge fortgeführter, aber technisch veralteter kommunaler Krematorien und zugleich in Betrieb gegangener High-Tech-Anlagen privater Unternehmen ein deutliches Leistungsüberangebot auf dem sogenannten »Kremationsmarkt«. Diese Situation führte zu einem Verdrängungswettbewerb, der die von der öffentlichen Hand betriebenen Feuerbestattungsanlagen schon deshalb schwer benachteiligen musste, weil sie älter, kaum noch leistungsfähig und (emissions-)technisch überholt waren. Schließlich war bzw. ist ihr Betrieb an starre und kaum marktorientierte Gebührenordnungen gebunden. Im Unterschied dazu können private Unternehmen ihre Angebotspreise einer sich verändernden Wettbewerbssituation flexibel anpassen. Nicht zuletzt weisen kommunale Krematorien oft schwerwiegende Service-Defizite auf. 3 Ihre Verdrängung war somit nur eine Frage 2

Vgl. https://www.bestattungen.de/vergleich/angebotsuebersichtdaten.html? getAdvice=&webnameDistrict=frankfurt-am-main&angebotId=9846&bestat tungsart=1 (05. 03. 2019). 3 »Die machen zum Teil um 17 Uhr dicht, haben am Wochenende zu und die Einäscherung kann unter Umständen Wochen dauern.«; N.N.: »Der Leichentourismus nimmt zu«. In: FAZ vom 20. 01. 2014; https://www.faz.net/aktuell/rhein-

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Das photographische Bild in der Phänomenologie: Autopsien in fünf Feldern

der Zeit, zumindest so lange, wie sich die Trägerkommunen nicht zu einem Paradigmenwechsel kritischer Betriebsmodalitäten durchringen konnten. Gegenstand der Bildserie dieses Kapitels ist das zum Frankfurter Hauptfriedhof gehörende Krematorium, das die Stadt als einen kommunalen Betrieb geführt hat. Die Anlage entstand im Zuge der Erweiterung des Hauptfriedhofes zu Beginn des 20. Jahrhunderts, wurde im Juli 1912 eröffnet 4, in den 1970er Jahren vergrößert und rund 20 Jahre später renoviert. Unter anderem wegen einem technologischen Erneuerungsstau ließ sich das kommunale Krematorium nicht mehr mit der Perspektive hinreichender Rentabilität fortführen. Mit Beginn des Jahres 2014 war Frankfurt eine der wenigen deutschen Großstädte ohne eigenes Krematorium. 5 Der Betrieb war mit vier Öfen auf rund 8.000 Verbrennungen pro Jahr ausgelegt; die tatsächliche Auslastung ist aber seit Jahren gesunken: 2003 wurden 4.035 Einäscherungen verzeichnet, 2009 noch 1.870 6, zuletzt lediglich 800. 7 Der Betrieb konnte nur noch mit hohen Subventionen aufrechterhalten werden (pro Kremation musste die Stadt in der Schlussphase des Betriebs rund 1.000 Euro aus der kommunalen Steuerkasse zuschießen). Technische Probleme hatten den Betrieb zusätzlich erschwert. »Zuletzt funktionierte nur noch einer von ehemals vier Kremationsöfen.« 8

main/frank furt-ohne-krematorium-der-leichentourismus-nimmt-zu-12760513. html (05. 03.2019). 4 Stadt Frankfurt, Der Frankfurter Haupt-Friedhof, S. 364. 5 Vgl. N.N.: »Der Leichentourismus nimmt zu«. In: FAZ vom 20. 01. 2014; https:// www.faz.net/aktuell/rhein-main/frankfurt-ohne-krematorium-der-leichen tourismus -nimmt-zu-12760513.html (05. 03. 2019) 6 Feldmann, Matin: Der letzte Weg führt über den Main. In: Frankfurter Rundschau vom 15. 03. 2010; https://www.fr.de/rhein-main/letzte-fuehrt-ueber-main11638751.html (05. 03. 2019). 7 N.N.: »Der Leichentourismus nimmt zu«. In: FAZ vom 20. 01. 2014; https:// www.faz.net/aktuell/rhein-main/frankfurt-ohne-krematorium-der-leichen tourismus-nimmt-zu-12760513.html (05. 03. 2019) sowie Teutsch, Oliver: Frankfurt ohne Krematorium. In: Frankfurter Rundschau vom 16. 10. 2013; https:// www.fr.de/frankfurt/frankfurt-ohne-krematorium-11711759.html (05. 03. 2019). 8 Thadeusz, Frank: Bestattungstechnik – Finsteres Gewerbe. In: Spiegel online vom 09. 12. 2013; http://www.spiegel.de/spiegel/print/d-123679068.html (05. 03. 2019).

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Krematorium

Anmerkungen zur Aufnahmesituation Die Photographien wurden im August 2016 aufgenommen. Die entstandene Serie war (in einer anderen Zusammenstellung) bereits Gegenstand einer Ausstellung im Deutschen Werkbund, die vom 23. Juni bis 14. Juli 2017 in den Räumen des Frankfurter Werkbund-Forums gezeigt wurde. Zum Zeitpunkt der Aufnahme war das Krematorium schon mehr als zwei Jahre nicht mehr in Betrieb. Dennoch zeigen die Photographien keine »geordnet« zu Ende gegangenen Kremationsabläufe; sie spiegeln eher den gleichsam eingefrorenen Zustand einer scheinbar plötzlichen Betriebsaufgabe wider. So wurde die Situation der Aufnahmen auch stark von der immersiven Atmosphäre eines Stillstandes – beinahe vom Charakter einer Unterbrechung – gestimmt. Alles in diesem zur Ruhe gekommenen Krematorium machte den Eindruck, als sollten die üblichen Arbeiten an einem der nächsten Tage schon wieder aufgenommen werden. Der Innenraum stellte sich nicht erst in den Räumen der Abluftfilteranlagen als eine hypertechnische Welt dar, sondern schon in den Arbeitsbereichen der Kremationstechniker (in einem von der Decke durch Glasbausteine belichteten Raum unmittelbar vor den Öfen, eine halbe Etage darunter vor deren rückseitigen Türen mit den Ascheschüben oder in den zugeordneten Arbeitsräumen, die einst der Prozesssteuerung der Kremation gedient hatten). Der Aufenthalt in diesem atmosphärisch leeren und zugleich in seiner massiven Stille geradezu übervollen Raum gab unmissverständlich zu verstehen, dass ein Krematorium kein mythischer, sondern ein rein technischer Ort der Entsorgung ist. Er bildet den Gegenpol zur Sorge der Weiterlebenden um das Seelenheil der Verstorbenen. Das Ende eines menschlichen Lebens wird in einem Krematorium zu einer gänzlich desillusionierten Sache, der allein stofflichen Zersetzung und Auflösung von allem, was an die Gestalt eines Menschen erinnert. Der Ort steht in seinem Inneren dem Mythos des Sakralen entgegen. Sein technisches Milieu ist das Andere des heiligen Raumes, so dass sich keine (z. B. christlich-religiöse) Atmosphäre der Hoffnung, des Glaubens und der Liebe über den Tod hinaus aufspannt. Es ist sogar ein bitterer Raum, weil in ihm unübersehbar wird, dass er allein der stofflich tendenziell rückstandslosen Auflösung Toter dient. Wenn der Mythos rettet, was vom verstorbenen Menschen

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Das photographische Bild in der Phänomenologie: Autopsien in fünf Feldern

bleibt, dann ist der Raumtyp des Krematoriums der anti-mythische Ort par excellence, eine radikal naturwissenschaftlich-technische Sphäre weltlicher Erledigung. Er wird von keiner sentimentalen Geschichte überwölbt. Und kein ausgleichendes Gefühl findet hier angesichts der abgründigen Finalität aller physischen Transformation einen emotional sedierenden Halt. Die Photographien dokumentieren angesichts dieser eindrücklich werdenden Situation eines thanatologischen Raumes zum einen die räumliche und dingliche Ausstattung eines Krematoriums mit vier Öfen. Zum anderen dokumentieren sie aber (vielleicht viel mehr noch) die ganz spezifische Situation eines zum Stillstand gekommenen, gewissermaßen selbst abgestorbenen Betriebes. Dieser atmosphärische Rahmen war es auch, der den ästhetischen Prozess der Bildgebung nachhaltig akzentuiert und gelenkt hat – gleichsam überall thematisierte sich »hinter« technischen und baulichen Kulissen der Tod und färbte das gesamte Arrangement des Raumes spürbar ein. Keine Atmosphäre bleibt bei sich und stimmt nur die Sensibilität und ästhetische Aufmerksamkeit. Sie nimmt auch Einfluss auf das theoretische Bedenken dessen, was sich mit ihr verbindet. Und so war es auch in diesem thantalogischen Raum der Tod, dessen atmosphärisch vermittelte Gegenwart nicht ignoriert werden konnte. Er war in einer »thematischen« Überpräsenz auf untilgbare Weise anwesend. Die in einem thanatologischen Maschinenraum anstehenden Atmosphären machten den »Bevorstand« 9 des Todes in einem jeden individuellen Leben (was Heidegger das »Vorlaufen« 10 auf den Tod nennt) erbarmungslos bewusst. Der Akt des Photographierens entfernte sich so von seiner nur technischen Verwicklung in Apparateprogramme und wurde von dem vitalen Antrieb bestimmt, ins Bild zu setzen, was sich diesem doch so radikal entzieht. Aus der Struktur des Ortes und seiner Situation resultiert eine gewisse Ordnung der Aufnahmen. Der Charakter der Bildreihe spiegelt scheinbar allein den technischen und prozessualen Charakter eines Krematoriums wider – die maschinstische Serialität, in der individuelle Tote in Staub aufgelöst werden. Emotional berührend ist dabei der das Faktische umklammernde atmosphärische 9 10

Heidegger, Sein und Zeit, S. 250. Ebd., S. 265.

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Krematorium

Rahmen. Trotz der Unbestreitbarkeit des ästhetischen Charakters von Photographien, bietet das Sujet der Bildserie keine Spielräume für Ästhetisierungen. Der Zweck des aus vier Öfen bestehenden Krematoriums lässt sich nicht beschwichtigen. Es beherbergt eine thanatologische Apparatewelt, die die abgründige Bitterkeit des Todes vor Augen führt. Das Raumbild der Technik lässt in seiner Eindeutigkeit keinen Zweifel am herrschenden Imperativ technischer Effizienz. Die den Raum ausfüllende bildlich anstehende Präsenz rahmte atmosphärisch die gesamte Zeit und Stimmung der Arbeit mit der Kamera in den fahl belichteten Innenräumen des Krematoriums.

Phänomenologische Annäherungen Die Bildserie geht in ihrem emotional immersiven Charakter spürbar über die Grenze der Sprache hinaus. Sie macht sprachlos, zerrt aber doch zugleich an der Sprache. In der Rede über die Photographien lässt sich jedoch nur »sagen«, was sich in einem engeren Sinne nicht sagen lässt. Darin offenbart sich das Dilemma jeder pathischen Annäherung an den Ausdruck eines Bildes. Die Photographien lassen Bedeutungen vorscheinen, wecken Gefühle, Atmosphären, Ängste und machen Tabus bewusst. Zugleich bieten sie die Flucht in die nüchterne und fast teilnahmslose Objektbeschreibung an. Als Methode der Kompensation von Hilflosigkeit angesichts der Irritation durch die Macht des Bildes lässt sich wenigstens »objektiv« sagen, was wo und wie ist – wenn diese Scheinobjektivität auch die Situation verfehlt, deren tentative Erfassung sich in der ästhetischen Präsenz der Bildserie reklamiert. So kreisen alle Bemühungen um eine sprachliche Explikation dessen, was sich in der eigenartig visuellen Form der bildlichen Explikation zeigt: die kremationstechnische Transformation toter Körper. Das Feuer ist – wenn auch nur atmosphärisch – selbst nach seinem Erlöschen als das alles vernichtende und aufzehrende Element gegenwärtig – nachdem der Tod das Leben schon genommen hat. Die in den Bildern sichtbar gemachten Öfen liegen in einer unterirdischen Welt, an einem verborgenen Ort. Das Krematorium ragt optisch im Prinzip nur in Gestalt von vier eisernen und rostenden Schornsteinen in die lebensweltliche Wahrnehmung hinein. Noch der Anblick des abstrakten unterirdischen Raumes ist Vorü-

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Das photographische Bild in der Phänomenologie: Autopsien in fünf Feldern

bergehenden durch eine Decke aus Glasbausteinen entzogen. Die Betretung des Innenraumes ist allein jenen Menschen vorbehalten, deren Beruf mit der Herausschaffung der Toten aus der Welt der Lebenden zu tun hat (Bestatter, Kremationstechniker). Es gibt wenige Institutionen spätmoderner Gesellschaften, die sich in ihrer baulichen Anlage so radikal in einem unsichtbaren und eigenweltlichen Innen verdichten – ähnlich den Gefängnissen, den Operationssälen und den Kommandozentralen der Feldherren. Wenn auch erst die Serie in der Verklammerung aller zu ihr gehörenden Aufnahmen einen übergreifenden Eindruck vermittelt, in dessen emotionaler Mitte das Maschinistische und Technische des thanatologischen Ortes steht, so beeindrucken doch auch die einzelnen Photographien als Segmente eines Ganzen. Das einzelne Bild plakatiert – allzumal in der Situation des Stillstandes einer hoch komplexen Maschinenwelt – geradezu momentartige Prozessphasen, die wie einzelne Zahnräder eines großen Apparates ihre Aufgabe in der Bewerkstelligung einer postmortalen Schwelle erfüllen. Der Umstand, dass sich das in der Serie gezeigte Krematorium offensichtlich in einem (administrativ angeordneten) Stillstand befindet und seinem eigentlichen Zweck nicht mehr dient, intensiviert die übergreifende Atmosphäre des Todes im Moment eines sich mit Stille anfüllenden Nichts. In eine thanatologische Dienstleistung mischt sich der Tod in einem übertragenen Sinne selber ein, »wartet« die ganze brachliegende Architektur samt ihrer Apparate doch nur darauf, niedergerissen und ausgelöscht zu werden. Der letzte Ort der Toten ist selbst ein toter Ort. Die Photographien setzen – anders als eine textliche oder sprachliche Äußerung – das Denken einem Grat aus: Sie vermitteln das Bedenken des Todes, zugleich aber die Versuchung, sich selbst von der »universellen Sterblichkeit« auszunehmen. 11 Dieser widersprüchliche Akt wird dadurch erleichtert, dass da, wo die Toten sind, der Tod nicht auch ist, denn er findet nirgends statt. 12 Die photographische Serie macht bewusst, was sich in anderer Weise in philosophischen Bemerkungen zum Tod in der Rationalität und Form wörtlicher Rede zur Geltung bringt. So können die Aufnahmen zugleich als ästhetische Annäherung an das Unsagbare verstanden werden. In bildlicher Form zeigt das Gesicht einer 11 12

Vgl. Jankélévitch, Der Tod, S. 17. Vgl. ebd., S. 299.

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Krematorium

räumlichen Sonderzone den Tod als »die außerordentliche Ordnung par excellence.« 13 Was den Raum atmosphärisch noch in seiner photographischen Darstellungen umwebt, ist der Tod als »die eigenste, unbezügliche, unüberholbare Möglichkeit.« 14

13 14

Ebd., S. 14. Heidegger, Sein und Zeit, S. 250.

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II.5 Naturbegräbnisplatz

Die diesen Band abschließende Mikrologie setzt einen besonderen »Friedhof« ins Bild, jedoch keinen dem gewohnten Friedhof vergleichbaren Raum, wie man ihn als zwischenweltliche Sphäre seit dem Mittelalter kennt, sondern einen Naturbegräbnisplatz. Solche in einem weitgehend säkularen Charakter geprägte Plätze gibt es in Deutschland nicht. Das Beispiel bezieht sich auf die Niederlande.

Ein Naturbegräbnisplatz als semi-heterotopologischer Raum Niederländische Naturbegräbnisplätze sind keine im engeren Sinne heterotopen Räume. Sie weisen keine Grenzen auf, die sie von einem profanen Herum abheben. So sind sie auch nicht an umfriedenden Hecken, Mauern oder Wassergräben zu erkennen, die sie vom übrigen Raum als gesonderte »Innen«-Räume trennen. Es gibt kein besonderes »Hier« im Sinne eines atmosphärischen Milieus, das von einem eigenen Mythos beherrscht wird, wonach die Toten vor dem Hintergrund religiöser Narrative zu den Lebenden in ein spezifisches Verhältnis gesetzt werden. Es fehlen auch romantisierende und sentimentalisierende Bepflanzungen, zum Beispiel durch »Trauerbäume« (Trauerweide, Trauerbirke, Trauerbuche), deren herabhänge Zweige die niederdrückende Macht der Trauer auf synästhetischem Wege spürbar machen. Schließlich gibt es keine Grabeinfassungen mit Steinen oder Heckengewächsen. Erst recht sucht man Mausoleen oder Kolumbarien vergeblich, wie sie als typisch thanatologische Bauwerke auf jedem großen Friedhof aus der Zeit des 19. Jahrhunderts am Stadtrand zu finden sind. Einem Naturbegräbnisplatz mangelt es grundsätzlich an heterotopologischen Sonderungen, die eine sichtbare wie spürbare Grenze gegenüber einer profanen Welt des Draußen ziehen würden. »Annäherungsweise« ist er aus hygienischen Gründen abgegrenzt – am gegebenen Beispiel durch ein Gitter im Boden, das in

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Naturbegräbnisplatz

einem Zugangsbereich liegt. Der ist durch fünf hohe, nackte, krumm gewachsene Baumstämme quer zum Hauptweg gekennzeichnet. Die »Natursäulen« repräsentieren den Beginn eines im heterotopologischen Sinne bedingt anderen Raumes. 1 Wildlebende Tiere können aber an vielen Stellen des Raumes in das verwilderte Areal gelangen, denn es gibt keine tatsächlich trennenden Grenzmedien, die mehr als nur symbolisch auch in einem physischen Sinne Hindernisse bilden, die von Rotwild, Hase und Fuchs nicht überwunden werden könnten. Ein Naturbegräbnisplatz, der zum Thema der folgenden Bildserie wird, hat wenig Gemeinsamkeiten mit einer »Naturbestattung«, wie sie in Deutschland in sogenannten »Bestattungswäldern« praktiziert wird. In »Friedwäldern« oder »Ruheforsten« 2 sind ausschließlich Urnenbestattungen zulässig, die unter Bäumen stattfinden oder an einer Stelle, an der oft nach einer Bestattung ein Baum gepflanzt wird. Konzeptionell liegt den Friedwäldern, die man auch als säkulare Waldfriedhöfe verstehen kann und sich deutlich vom konventionellen christlichen Friedhof unterscheiden, ein pantheistisches Religionsverständnis zugrunde. Dabei kommt es weniger auf die Nähe zu Gott an, als auf die Rückführung der Toten in die Kreisläufe der Natur. Die Natur tritt in Friedwäldern in gewisser Weise an die Stelle Gottes. Der Baum wird zum Grabmal, und der Wald ist als Ökosystem eine mythische Einfassung des Raumes. Norbert Fischer spricht den Friedwald zu Recht als einen »naturnahen Begräbnisplatz« 3 an. Ein »Naturbegräbnisplatz« im engeren Sinne ist er jedoch nicht. Sogenannte Naturbestattungen folgen einer weitgehend säkularen Programmatik. Sie finden in Räumen statt, die sich kategorial von Begräbnisplätzen unterscheiden, welche in der christlichen Tradition in ihrer Ordnung und ästhetischen Gestalt als Friedhöfe angelegt sind. In der Schweiz wird (im Unterschied zur Situation in Deutschland) das Konzept »Naturbestattung« in einer relativ großen sepulkralkulturellen Variation an unterschiedlichen Bestattungsorten praktiziert (Wald-, Fels-, Baum-, Gletscher-, Wasser1

Zum heterotopologischen Charakter des Friedhofes vgl. vor allem Foucault, Die Heterotopien, S. 13. 2 Vgl. https://www.anternia-bestattungen.de/friedwald-bestattung?gclid=EAIaI QobChMIjbPJz-GI4QIViOR3Ch0t1wB0EAAYAiAAEgJ8tfD_BwE (17. 03. 2019); s. auch Hasse, Friedwald. 3 Fischer, Auf dem Weg zu einer neuen Bestattungs- und Friedhofskultur, S. 228.

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Das photographische Bild in der Phänomenologie: Autopsien in fünf Feldern

fall-, Bergwiesenbestattung). 4 Die Kremation ist jeweils vorausgesetzt. Das ist bei der englischen »Green Burials« anders. 5 Unter Einhaltung bestimmter Regeln (zum Beispiel Verbot der Einbalsamierung) sind auch Sargbestattungen erlaubt wie auf einem niederländischen Naturbegräbnisplatz. In einigen Bundesstaaten der USA ist darüber hinaus die Beisetzung von Särgen auf dem eigenen Grundstück zulässig. 6 Alle Naturbestattungen folgen dem Grundsatz der minimalsten Einwirkung auf die Landschaft und das Ökosystem. Grabsteine oder andere verzierte Markierungen im engeren Sinne sind deshalb nicht erlaubt. Die Kennzeichnung der Grabstelle erfolgt digital durch GPS-Daten auf einer virtuellen Karte. »Naturbegräbnisplätze« reichern das Spektrum aller »anderen« Bestattungsorte an, die es neben dem christlichen Friedhof gibt. In den Niederlanden gibt es derzeit ca. »20 Natuurbegraafplaatsen« 7; weitere 30 befinden sich in der Planung; die Flächen werden entweder kommerziell oder kommunal betrieben. Naturbestattungen nehmen in den Niederlanden stark zu. Im Jahre 2015 lag die Nachfrage bei 300. 8 Nach Angaben der Stiftung für Naturbegräbnisplätze liegt der derzeitige Anteil bei 5 bis 15 % bezogen auf alle Bestattungen. 9 »So einförmig der Tod sich aus biologischer Perspektive ausnehmen mag, so tausendfältige Formen nimmt seine kulturelle Überformung und Bewältigung an.« 10 Die folgende Bildserie ist auf dem Natuurbegraafplaats Reiderwolde bei Winschoten (Provinz Ostgroningen) entstanden. Die Grabmarkierung erfolgt auch dort nicht mit Hecken und anderen umfriedende Parzelleneinfassungen. Dennoch sind gelegentlich Markierungen durch die Setzung natürlicher Arten der Vegetation (Büsche oder Bäume) oder die Platzierung eines kleinen Findlings zu beobachten. Viele Grabstellen sind schon nach wenigen Jahren 4

Vgl. https://www.schweizer-naturbestattung.ch (17. 03. 2019). Vgl. https://www.everplans.com/articles/important-facts-to-know-aboutgreen-bur ials (17. 03. 2019) 6 Vgl. http://www.us-funerals.com/funeral-articles/directory-of-green-burialsites-in-the-united-states.html#.XI4OpC1oS3c (17. 03. 2019). 7 http://natuurbegraafplaats-waaromniet.nl/locaties-natuurbegraafplaatsen/ (17. 03.2019). 8 Vgl. https://nl.wikipedia.org/wiki/Natuurbegraafplaats (17. 03. 2019). 9 Vgl. http://natuurbegraafplaats-waaromniet.nl/gerealiseerde-locaties/ (17. 03. 2019). 10 Assmann, Der Tod als Thema der Kulturtheorie, S. 165. 5

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Naturbegräbnisplatz

allerdings nur noch mit Mühe oder gar nicht mehr zu erkennen. Zur Gewährleistung hinreichender Planungssicherheit bei der Durchführung zukünftiger Bestattungen erfolgt eine digitale GPSDokumentation der Standorte einzelner Gräber. Auf niederländischen Plätzen ist eine minimale Grabkennzeichnung zulässig, »mit einem Findling oder Holzschild mit dem Namen des Verstorbenen« 11. Ebenso werden Baumscheiben verwendet, in die biographische Daten eingeschnitzt werden dürfen. Auch diese sind in ihrer unbehandelten und der Verwitterung ausgesetzten Form schon nach wenigen Jahren verrottet, so dass eine Grabstelle schnell dem Erdboden wieder gleich ist. Auch Naturbegräbnisplätze sind – wie alle Bestattungsplätze – »Entbindungsstationen« 12 im Sinne von Vladimir Jankélévitch, wenn sie die Toten auch in einer ganz anderen Weise als auf kommunal oder kirchlich bewirtschafteten Friedhöfen von der Welt der Lebenden entbinden. Die atmosphärische Situation dieser Entbindung bleibt allein in der Erinnerung am Leben, der tatsächliche Ort eines Grabes verliert sich ins Virtuelle. Ebenso wenig gibt es – auf den ganzen Raum eines Bestattungsplatzes bezogen – ästhetische Investitionen in die Parkpflege, Wegeführung und Raumgestaltung. Diese besonderen »Friedhöfe« sind keine Langzeit-Schwellenräume der Ausleitung, wie sie im religiös gerahmten Friedhof für Generationen inszeniert werden. Vielmehr zeigen sie sich in einer beinahe »kalten« Ästhetik als ein im landschaftlichen Raum sichtbar werdender existenzieller Abgrund – als Vorschein des reinen Nichts.

Anmerkungen zur Aufnahmesituation Die Photographien der folgenden Serie sind im März und August 2018 auf dem Natuurbegraafplaats Reiderwolde aufgenommen worden. Die Motivation zu den Aufnahmen resultiert – wie schon der zum Krematorium – aus einem seit Jahren bearbeiteten Forschungsfeld zu raumbezogenen Fragen der Sepulkralkultur. 13 Der 11

Vgl. https://www.natuurbegraafplaats.nl/bergerbos/de/praktische-hinweise (17. 03. 2019). 12 Jankélévitch, Der Tod, S. 11. 13 Vgl. u. a. Hasse, Zur sepulkralkulturellen Bedeutung räumlicher Grenzen auf

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hier thematisierte Begräbnisplatz zieht die Aufmerksamkeit insofern mit besonderem Nachdruck auf sich, als er im engeren Sinne kein typischer Friedhof ist. In seinem beinahe informellen Charakter erinnert er eher an eine ökologisch »bewirtschaftete« Sonderlandschaft. Auf keiner der Begehungen mit der Kamera kam es auch nur zu einer einzigen Begegnung mit einer anderen Person. Die Abwesenheit von Trauernden war in den Aufnahmesituationen emotional mit bestimmend. Der Eindruck wurde noch dadurch unterstützt und intensiviert, dass alle Grabstellen – soweit sie überhaupt noch als solche erkannt werden konnten – die Ferne der Lebenden in einem ganz allgemeinen, existenziellen Sinne unterstrichen haben: Weder Blumen, noch andere »frische« Zeichen des Totengedenkens deuteten auf eine nicht allzu lange zurückliegende Anwesenheit von Hinterbliebenen oder der Toten Gedenkenden hin. Die aktuell spürbare, geradezu immersiv wirkende Atmosphäre der Leere drückte sich auf einer sachlichen Ebene im Spiegel einer programmatischen Naturraum-Gestaltung aus. Unmissverständlich insistierte der Raum in seinem Erscheinen dennoch als ein sepulkralkulturelles Milieu. Immer wieder nahmen gerade erst aufgeworfene Erdhügel von einer Sargbestattung die Aufmerksamkeit in Anspruch. Die ästhetischen Ausdrucksgestalten dieses »anderen« Bestattungsplatzes verstärkten den Gesamteindruck einer einsamen und menschenleeren thanatologischen MikroLandschaft. Es ist bemerkenswert, dass dieser Eindruck wetterunabhängig beharrte, sich also in kühlen April-Temperaturen wie in der Wärme eines Augusttages ähnlich zu spüren gab. Die synästhetischen Wirkungen, die über Klima und Wetter das atmosphärische Erleben landschaftlicher Milieus stimmen, hatten trotz deutlich unterschiedlicher »Lufttöne« 14 die Vitalqualität des Raumes nicht in unterschiedlicher Weise gestimmt. Die Atmosphäre des thanatologischen Milieus überspannte die Heiterkeit des anbrechenden Frühlings und die langsame wie schwere Stimmung eines schwül-sommerlichen Tages. Der Raum der Toten ist als verlassener Ort ebenso in der Frische und Leichtigkeit des Frühlings eindrücklich geworden wie in der drückenden Wärme sommerlichen Wetters. Friedhöfen, ders., Versunkene Seelen, und ders., La potenza emotiva degli ambienti tanatologici. 14 Vgl. Hellpach, Sinne und Seele, S. 60.

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Wenn ein (Über-)Lebender zu einem Verstorbenen auch keine andere als eine erinnernde, gedenkende und würdigende Beziehung haben kann, so war sie an diesem Ort doch durch einen Eindruck gänzlicher Verlassenheit akzentuiert – im Unterschied zu einem landschaftsästhetisch inszenierten und kultivierten Friedhof, dessen Erscheinen (von der völligen Verwilderung einzelner Gräber abgesehen) meistens von der prinzipiellen Nähe Lebender kündet. Diese atmosphärisch so spannungsreiche Präsenz des Begräbnisplatzes hat den Habitus der Bildgebung unmittelbar gestimmt. Die entstandenen Photographien setzen konkrete Orte der Bestattung deshalb auch nicht wertfrei und in der neutralen Haltung eines a-pathischen Beobachters ins Bild, sondern vor dem Erlebnishintergrund einer raumzeitlich wie situativ spezifischen Gestimmtheit. Die ästhetische Disposition der Bilder spiegelt über das optisch Sichtbare hinaus eine atmosphärische Beziehungsqualität wider.

Phänomenologische Annäherungen Die Bildserie thematisiert den Tod im Medium anästhetischen Erscheinens. Innerhalb des sepulkralkulturellen Spektrums unterschiedlicher Bestattungsformen und -räume wird eine lebensweltlich eher fremd erscheinende Bestattungskultur in Bildern sichtbar und konkret. Der ganze Bestattungsraum unterscheidet sich in seinem Aussehen eher krass als nur graduell von christlich geprägten Traditionen der Friedhofsgestaltung. Das machen schon die einzelnen Bilder sichtbar, mehr aber noch die sich im Spiegel der gesamten Serie ausdrückende Situation des nicht gewöhnlichen Umgangs einer noch relativ kleinen gesellschaftlichen Gruppe mit der Schwellensituation der Bestattung. Es ist vor allem der von der Bildserie ausgehende emotionale Eindruck, der das Denken über den Tod und die Bestattung der Toten intensiviert und verdichtet. Für den in der Konfrontation mit einem Naturbegräbnisplatz »ungeübten« Betrachter geht vor allem von den noch nicht allzu lange zurückliegenden Erdbestattungen eine Irritation sepulkralkultureller Erwartungen aus. Es sind zum einen die ohne ästhetischen »Aufwand« aufgeworfenen Erdhügel, die eine in gewisser Weise umstandslose Bestattungsmethode erkennen lassen. Zum anderen unterstreichen die auf einem Grab liegengelassenen und dem

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schnellen Verfall preisgegebenen Schnittblumen diesen Eindruck noch einmal mit Nachdruck. Die Vergänglichkeit des Menschen drückt sich an diesem Ort mit ungleich größerer Macht aus, als im Raum eines jeden »gewohnten« Friedhofs. Ohne jede landschaftsarchitektonisch wie friedhofsgärtnerisch beschönigende Rahmung wird unverstellt deutlich, dass ein Begräbnisplatz zwei Funktionen hat – eine pragmatisch-funktionale und eine atmosphärisch stimmende. Die nackt daliegenden Grabhügel präsentieren sich daher ihrerseits in einer doppelten Ästhetik: einer sachverhaltlichen der Rückgabe der Toten an die Kreisläufe der Natur und einer atmosphärischen, in der das Erlebnisbild einer Bestattung diesseits aller Inszenierung zum Ausdruck kommt. Eine ohne jede persönliche Betroffenheit von einem individuellen Todesfall hinzutretende Person wird von dieser Spannung doppelten Sich-Zeigens in die Situation einer existenziellen Betroffenheit versetzt. Sie verdankt sich einem irritationsbedingt plötzlichen Geworfen-Werden ins Nachdenken der Endlichkeit menschlichen Lebens, das a priori eine individuell spürbare Dimension hat. Der Naturbegräbnisplatz ist in seiner Außergewöhnlichkeit kein Ort des mythischen Weiterlebens von Verstorbenen, sondern ein atmosphärisch finaler Schwellenraum. Der bewusste Verzicht auf sakrale Atmosphären und jede sepulkralkulturell-traditionelle Rahmung, wie sie auf religiös besorgten Friedhöfen üblich ist, verweist auf eine naturimmanente Transversale. Zwar wachsen auch auf diesem Begräbnisplatz Bäume und Büsche; aber sie wachsen, weil sie als standorttypische Arten auf diesen Böden ohnehin anzutreffen sind. Wenn es dennoch symbolisch einschlägige Vegetation gibt (wie Ilex oder Eibe), die offensichtlich aus dem Spektrum der standorttypischen Gehölze »ausbrechen«, so sind sie doch schon nach ihrer Pflanzung am Ort eines Grabes sich selbst überlassen. Das erkennt man daran, dass solche Gewächse (sofern sie überhaupt gepflanzt worden sind) scheinbar nur noch auf sich selbst verweisen, denn ein Grab »unter« ihnen ist meistens schon lange nicht mehr erkennbar. Nur dem ökologisch aufmerksamen Betrachter, der die Pflanzung als nicht standorttypisch erkennt, oder Hinterbliebenen, die um einen Busch oder Baum an einer bestimmten Stelle wissen, bedeutet er etwas. Vor dem Erlebnishintergrund des ästhetisch unverstellten Verfalls (der sich in der Ästhetik eines Grabes nur vorwegnimmt) stellt

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sich die Frage der Beziehung Lebender zu den Verstorbenen in eigenartiger Weise, deutet die Ordnung des Raumes doch auf ein tendenziell säkulares oder pantheistisches Verhältnis zu den Toten hin. In den Bildern dieses Raumes erscheint – diesseits individueller Toter – der Tod in seiner abgründigen Finalität. Die Hinterbliebenen geben sich als Menschen zu verstehen, die keinem Wunsch nach religiösen Jenseits- und Wiedergeburtsutopien zuzustreben scheinen. Die Bilder dieses Ortes lassen auch erkennen, dass ästhetisch neutralisierte Bestattungsplätze wie dieser nur etwas Allgemeines über Hinterbliebene und ihren Totenkult zu spüren geben, meistens aber nichts über die darauf bestatteten individuellen Toten. Diese sich in Bildern widerspiegelnde Immersivität kann durch keine Sprache eingeholt werden. Gleichwohl tritt die Sprache dem Bildverstehen helfend zur Seite. Dennoch verbleibt eine Differenz, ist das im Bild Vernehmbare der Sprache doch strukturell entzogen. Umgekehrt gilt aber auch: die Sprache kann, was dem Bild versagt bleibt. Im Medium der Photographien zeigt sich etwas, das über die Ränder des Visuellen hinausläuft. Es entsteht ein Überschuss, der das Denken und das Sprechen herausfordert. Was sich über ein Bild sagen lässt, ist in zweifacher Weise begrenzt: zum einen durch das, was vor dem Hintergrund individueller Sprachvermögen expliziert werden kann, und zum anderen durch das, was sich mit diskursiven Mitteln überhaupt aussagen lässt. Die Bilder zerren im Medium des Ästhetischen am »Unsterblichkeitstrieb« des Menschen. 15 Und sie tun dies in anderer Weise als die Sprache, noch die poetische, wenn sich gerade diese auch ihrerseits der Bilder (Metaphern und Synästhesien) bedient, um affektiv den Rand der prosaischen Rede zu überspringen. Der Affizierungsgrad der Bilder ist ein von Grund auf anderer als der der Sprache. Was die Photographien der Serie nicht zu sehen geben können, stimmt dagegen in entscheidender Weise die Erlebnissituation der Aufnahmen. Es ist dies die mit der Stille ringende Ruhe des Raumes, es sind die wild lebenden Tiere (Hase, Reh, Krähe und Bussard) die über Gräber, die nicht (mehr) aussehen wie solche, fliegen oder laufen, es ist der Wind, der nicht nur die Pflanzen bewegt, sondern auch das Befinden dessen (einschnürend oder sich öffnend) um-

15

Assmann, Der Tod als Thema der Kulturtheorie, S. 36.

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weht, der vor einem Grab steht oder über einen Weg des ausgedehnten Begräbnisplatzes geht. Solche Stimmungen werden immer von dem Wissen begleitet, dass dieser Raum nicht umfriedet ist wie ein Friedhof, sondern sich neutral ins irgendwo weitergehende Umland verliert. Dieser Raum der Toten ist keine ästhetische, noch nicht einmal eine sichtbar herausgehobene Welt. Er hat deshalb bestenfalls einen pseudo-heterotopen Charakter. So wird auch der Mythos fraglich, welcher den Toten einen Platz im Denken und Fühlen der Lebenden gibt. Der Raum einer transzendentalphilosophisch gleichsam extramundan verstandenen Zukunft ist hier nicht im Himmel, sondern – im tatsächlichen wie im metaphorischen Sinne – im Boden. Was in den Photographien vom tatsächlichen Mit-Sein in diesem thanatologischen Milieu beharrt, ist das angreifende Moment einer existentiellen Begegnung (im Sinne von Romano Guardini) – eine Berührung, die durch das Bild vermittelt wird.

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Abschließende Bemerkungen

Die fünf Bildserien zu unterschiedlichen Themen und Arten der mikrologisierenden Vertiefung ins Erscheinende machen als Methode der Explikation von Eindrücken auf eine zweifache phänomenologische Aufgabe der Photographie aufmerksam. Sie kann (produktiv) etwas ins Bild setzen, das in situ erlebt worden ist, und sie kann dieses (rezeptiv) zu einem späteren Zeitpunkt der rekapitulierenden Durchquerung (wieder) zugänglich machen. Basis für beide Praktiken mimetischer Weltverwicklung ist eine ästhetische Beziehung zum Wirklichen, dem Wirklichen einer sinnlich mannigfaltig gegenwärtigen Umgebung sowie der visuellen Wirklichkeit eines Bildes. Medium der Explikation eines Eindruckes ist im Falle der Herstellung einer Aufnahme ästhetisches Ausdruckshandeln, im Falle der Bildrezeption die wörtliche Rede, die sich auf ein Bildmedium bezieht. Der Anspruch, das in einem Bild Geronnene (vom einfachen Gegenstand bis zur komplexen wie diffusen Atmosphäre) zu einem späteren Zeitpunkt wieder »auftauen« zu können, konfrontiert mit den erkenntnistheoretischen Grenzen der Photographie, kann sie doch nur die visuelle Dimension des Eindruckes einer Situation »festhalten« – und auch dies nur im Rahmen des technisch Möglichen. Was schließlich irgendwann (wieder) zu einem Gegenstand des Bedenkens wird, kann sich auf nichts im engeren Sinne »Aufgetautes« beziehen, das in Gänze wieder da wäre wie ein tiefgefrorenes Brot. Was im Bild von einer ehemals spürbaren und nicht nur sichtbaren Situation dem mimetischen Spiel zugänglich wird, mag dem ähnlich sein, was einmal war. Aber in der Dauer der Zeit und als Folge der Verbildlichung ist es doch etwas anderes geworden. So klafft die Differenz zwischen einer früheren und einer späteren Anschauung und den damit sich wachrufenden Bedeutungen. Es ist zum einen die Dauer der Latenz, in der eine Photographie diesseits ihres narrativ lebendigen Gebrauchs als Archivalie aus der gelebten Zeit fällt, so dass die Bedeutungen, die im Moment einer

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Abschließende Bemerkungen

Aufnahme mit dem entstehenden Bild verbunden wurden, zu verblassen drohen. Zudem sind es biographische Bedingungen der Wahrnehmung, die Bedeutungsreliefs mitunter plötzlich ein- oder umfärben. Das gelebte Leben ist das gleichsam universelle Resonanzmedium einer jeden Bildbeziehung. Jede Betrachtung einer Photographie ruft Erinnerungen wach. Bei selbst aufgenommenen Bildern anders als bei Aufnahmen, die Dritte gemacht haben. Diese wie jene Erinnerungen sind jedoch stets auf reflexive Linien und Punkte einer aktuellen persönlichen Situation bezogen. Deshalb wird die Methode der Photographie für die phänomenologische Durchdringung von Erlebtem wie Erscheinendem aber keineswegs unbrauchbar. Gleichwohl reklamieren sich plurale Wege der autopsierenden Durchquerung von Bild-Eindrücken. Dabei kommt es nicht darauf an, ob das in einem Bild sichtbar Werdende mit einem biographisch früheren Erleben verknüpft ist oder nicht. Alles, was aus einer anderen Zeit in der Gegenwart wieder aufscheint, reiht sich in gegenwärtige Bedeutungsordnungen ein. Fixierte Bilder, die aus einer Vergangenheit in eine Gegenwart aufsteigen, setzen das aktuelle Fühlen und Denken in einen tendenziell chaotischen Fluss, denn Bilder »speichern« neben sichtbaren Dingen auch oszillierende Gefühle (eines Bildgebenden wie des Zeitgeistes, der jeden ästhetischen Prozess der Bildgebung lenkt). Photographien differenzieren die aufmerksame Wahrnehmung auf produktive Weise, solange sie nicht in einem linearen und naiven Sinne als optische Reflexe verstanden werden, sondern als Ausdrucksgestalten, die eine mimetische Beziehung wiedergeben, diese aber auch herausfordern. In ihrer Wirkung sind sie nicht aufs Sichtbare beschränkt, vielmehr Katalysatoren der Selbstgewahrwerdung. Sie zerren an dem, was sich als ein »So ist es« präsentiert. Damit stehen sie auf einem Grat der Rationalitäten. Bilder zeigen nicht nur, was sich photographietechnisch chemisch oder digital darstellen lässt; sie bringen Gefühle in Bezug auf ein Bildsujet zur Anschauung (eines Photographen, eines Zeitgeistes oder eines Bildbetrachters). Damit fordern sie das in der Sache differenzierte Sprechen über bildlich vermittelte Eindrücke heraus. Gefühle können (wie Bilder) in ihrem eigenen Metier jedoch nur sehr begrenzt dem kritischen Denken bewusst und verfügbar gemacht werden. Die Praxis des Photographierens wird damit zu einem ästhetischen Bilden im Medium des Technischen, zu einem

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Abschließende Bemerkungen

gestalterischen Ausdrucksverhalten, das seine komplementär erweiternde Explikation in der wörtlichen Rede sucht. Dieser Schwelle des Sagbaren muss das Bild aber zugearbeitet werden. Die Methode der Mikrologien strebt daher dem Ziel zu, in der Bildreflexion die ganzheitliche Ausdrucksmacht einer Photographie zu wahren und nicht in einem szientistischen Habitus in Fraktale abgerissener Splitter zu zerlegen, um den so generierten gleichsam fermentierten Rohstoff gleich einem »Sampling« wieder zusammenzusetzen. Im phänomenologischen Sinne hat nicht die Zerspaltung eines Bildes in isolierte und fragmentierte Stücke mikrologischen Charakter, sondern die aufs Detail des Denkwürdigen gehende Durcharbeitung einer sichtbar und spürbar werdenden Bildessenz, die stets im unzerlegten Eindrucksganzen eines Bildes wurzelt. Der phänomenologische Gebrauch der Photographie ist eine Antwort auf den spätmodernen Boom der Bilder, die sich mehr als subkutane Botenstoffe der Gefühle bewähren denn als Medien der Aufklärung über einfache wie komplexe Sachverhalte. Nur fädelt sich die Phänomenologie mit ihrem Programm der Verfeinerung der Aufmerksamkeit wie des Vermögens differenzierten Wahrnehmen-, Denken- und Sprechen-Könnens nicht in die veroberflächlichende Beschleunigung des Visuellen ein. Sie tritt der Logik der Ablenkung und Verwirrung entgegen, indem sie die Vertiefung ins Sichtbare (wie generell ins Eindrückliche) kultiviert, um das sich darin Versteckende wie Verdeckende der Durcharbeitung seiner Bedeutungen der Aussprache zugänglich zu machen. Nicht nur (produktiv) aufgenommene Photographien spiegeln einen mimetischen Prozess der leiblichen Resonanz auf ein herumwirkliches Milieu wider. Auch der (rezeptive) Gebrauch von Photographien, die irgendjemand aufgenommen hat, von Bildern, die in der Welt zirkulieren und gesehen zu werden, die etwas bewirken oder nur gefallen, verwickelt sich schon im Moment der Betrachtung ins mimetische Spiel. Wo diese Beziehung ihrer kulturindustriell angelernten konsumistischen Eigenlogik entwunden wird, ändern sich auch die Machtverhältnisse. Nicht die Bilder haben dann Macht über ihre Betrachter, sondern diese über die Bilder. Auf ihre affizierenden Bedeutungen hin durchforstet, werden sie zu Medien der Übung des eigenen Selbst. Es sind schon die ganz unpolitisch erscheinenden Photographien einer Person, einer Landschaft, eines Gartenteichs oder eines technischen Artefakts,

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Abschließende Bemerkungen

die die Übung der mikrologisierenden Aufspürung von Beziehungen herausfordern, in denen Menschen als lebendige und weltgebundene Personen stehen.

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Abbildungsverzeichnis

Abb. 1: Das technische Bild als Erfahrungsmedium, Jürgen Hasse. Abb. 2: Seite aus dem privaten Photoarchiv eines Architekten (1960er Jahre), Sara F. Lewin Abb. 3: Von Schnecken aufgefressenes Dia, Anna Schuster. Abb. 4: New York, Thames Street 22 (1938), Berenice Abbott, Brooklyn Museum New York. Abb. 5: Bildinszenierung vor dem Bild der Stadt, Jürgen Hasse. Abb. 6: Neubau der Europäischen Zentralbank, Jürgen Hasse.

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Stichwortverzeichnis

Abbildung 129 Abbildungsausschnitt 78 Abbildungsmaschinismus 130 Abbildungsschärfe 76 Abbildungsstandard, ästhetischer 216 abgründige Finalität 371 Abgründiges 318 Abstraktionismus, ästhetizistischer 217 Achtsamkeit 62, 199 Affekt 34 Affekthaushalt, gesellschaftlicher 104 affektiven Kraft 152 Affektlogik 179 Affektordnungen 109 Affizierung 131 Ähnlichkeit 96, 142–143, 169 Akkord 146 Aktivität, ästhetische 145 Aktualität, vergangene 182 Amateur-Photographie 189 Analyseinstrument, differenziertes 224 Anamnesis 180 Aneignung, mimetische 118 Aneignungsdynamik 221 Annäherung 111, 130, 159 anschauende Versenkung 234 Anschauung 43–44, 66, 95, 117, 164, 199, 202, 234, 245 Anti-Ästhetik 206 Antrieb, vitaler 34, 164 Apparat, optischer 45 Apparat-Totalitarismus 80 Apparate-Automatismus 74 Apparatedispositiv 78, 80 Apparateprogramm 77

Architektur 244 Architekturjournal 216 Architekturphotographie 184, 202, 212, 214 Archivsysteme 186 Arten, natürliche 196 aseptische Ästhetik 217 aseptische Photographien 217 Ästhetik –, präsentative 265 –, unauffällige 264 ästhetisch 64 ästhetische Ambivalenz 274 ästhetische Essenz 111 ästhetische Ordnung 209 ästhetische Präferenz 183 ästhetische Praxis 50, 66 ästhetische Strategie 204 Ästhetisierungslust 271 Ästhetizismus 51 Atmosphären 34, 45, 55, 94, 102, 109, 148–149, 217, 220, 348 –, bedrückende 279 –, erhabene 318 –, numinose 230 atmosphärische Sichtbarkeit 154 Aufgeschlossenheit 208 Aufklärung 125 Aufmerksamkeit 60, 67, 244, 375 –, hinblickende 137 –, pathische 83 Aufmerksamkeits-Ordnung 220 Aufnahmesituation 138 Augenblick 59, 92, 156, 178 Aura 209, 231 –, künstlerische 160 Ausdruck 99, 120

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Stichwortverzeichnis Ausdrucksbedürfnis 34 Ausdrucksgestalt, ästhetische 243 Aussage, denotative 122 Ausschnitt 157 Ausstrahlung, herrschaftliche 273 authentisch 57, 98 Authentizität 81, 118 Autopsie, phänomenologische 121 Avantgardekünstler 219 Baukultur 155 Baustelle 205 Bedeutungen 33, 45, 47, 92, 113, 154, 169 Bedeutungsüberschuss 107, 174 Bedrohung, eindringliche 197 Begabung 195 Begegnung 51, 60, 114, 159, 177, 232, 246, 372 Beglaubigung 86 Begräbnisplätze 230 Belichtungszeit 36, 75, 141 Beredtheit, nicht-visuelle 134 Berufsphotographen 212, 217 Berührung 94 –, affektive 112 –, vergangene 246 Beschleunigung 70, 210 Beschwörung 125 Betrachtung, einbohrende 52 Betroffenheit 23, 167 –, existenzielle 370 Bewegt-Werden 61 Bewegung 36, 127 –, motorische 151 Bewegungsgestalten 169 Bewegungssuggestion 65, 170 Beweis-Erwartung 63 Bewusstsein 101 Beziehung –, affektive 157 –, mimetische 88, 158 –, pathische 229 –, transformative 197 Bild –, authentisches 243 –, begehbares 295

Bild-Begriffe 38 Bild-Berührung 106 Bild-Beziehung, mimetische 58 Bild-Erlebniserwartung 39 Bild-Interpretation 39 Bildaneignung 44, 54 Bildannährung 59 Bildarchive 186, 212 Bildatlas 190 Bildausschnitt 126 Bildbetrachtung 177, 183, 234 –, mimetische 233 Bildebenen 130 Bilder –, historische 186 –, innere 197 –, mentale 136 –, stereotype 211 –, überraschende 234 Bilderfahrung 238 Bilderflut, kulturindustrielle 174 Bilderfluten 213 Bilderleben 48, 58 –, emotionales 58 Bilderscheinen 112 Bilderwartung 36 Bildessenz, ephemere 131 Bildgebrauch, professioneller 183 Bildgebung 35, 44–45, 132 Bildgedächtnis, kollektives 181 Bildgläubigkeit 129 Bildhabitus 187 Bildhygiene 201 Bildinterpretation 59, 106, 115, 222 Bildjournalismus 98 bildliche Repräsentation 103 Bildnahme 44–45, 166 –, einfühlende 230 Bildoberfläche 90 Bildobjekt 54 Bildpräsenz 186 Bildrahmen 114 Bildrezeption 131 Bildschärfe 22 Bildserie 129, 155, 353 Bildsujet 55, 60, 115

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Stichwortverzeichnis Bildträger 54, 70, 136 Bildunterschrift 133, 172, 174 Bildverstehen 39, 58, 190 –, situationsbezogenes 133 Biographie 180 Blick 79, 136, 196, 326 –, ästhetischer 103 –, fixierender 65 –, flottierender 139 –, Kamera- 208 –, lebensweltlicher 187 –, photographischer 64 blicken 165 Blitz 62 Blitzschlag 152 Brennweite 36 Bromsilberschicht 136 Carport 254 Chaotische Mannigfaltigkeit 170– 171, 239 Daguerreotypie 71 Dämonen 317 Darstellung 100, 167 Datensatz 209 Dauer 150, 155, 208, 266 Decodierung 88, 221 Degradierung, ästhetische 304 Denken 200 –, nachspürendes 99 Denkmalpflege 174 Denkwürdigkeit 168 Detailreichtum 217 Deutung 250 –, ideologische 174 Deutungskonventionen 119 Deutungsprozeduren 112 Deutungsroutinen 238 Deutungsverfahren, sozialwissenschaftliche 226 Dialektik der Aufklärung 193 Differenz, befindliche 178 Digitalisierung 210 Diskursivität 42 Dispositiv –, ästhetisches 79

–, dissuasives 194 –, technisches 22, 73–74, 137 Dissuasion 29, 163, 193 Distinktion, soziokulturelle 279 Dokumentarismus 173, 218 Dokumentation 243 Donner 62 dunkle Orte 201 Dynamik, performative 208 Dystopie 303 Eigenwelt 246 Einbildung 160 Eindruck 99, 239 einfühlende Resonanz 233 Einklammerung 49 Einlassung, mimetische 112 empirisches Material 222 Entbergung 50, 69 Entbildung 194 Entkörperlichung 102 Entzifferung 112 Entzug 52, 92, 125 Erfahrung 105 Erfahrungswissen 122 Erfassen, intuitives 245 Ergehen 310 Erhabenes 62 Erinnerung 176 –, kollektive 191 –, situationsbezogene 184 Erinnerungen 136, 158 Erinnerungs-Erwartung 182 Erinnerungsbestände, existenzielle 181 Erinnerungsspuren 245 Erinnerungswert 212 Erinnerungswissen 182 Erleben 120 –, eigenleibliches 96 –, gefühlsmäßiges 100 Erscheinen 23, 63, 168, 198, 216, 232 –, ästhetisches 123 Erscheinendes 51 Erstmaligkeit 147 Erwartung 279 Europäische Zentralbank 214

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Stichwortverzeichnis Evidenz, atmosphärische 115 Explikation –, ästhetische 93, 119, 126 –, bildliche 120 –, diskursive 93 –, mikrologische 44 Exploration, ästhetische 247 Falten 325 Farben 332 Farbwiedergabe 78 Ferne 150 –, psychologische 129 Ferne-Beziehung 230 Fernes 128 Fernsinn 331 Feuilleton 216 Filmnegativ 209 Filmsequenz 149 Fish Doc 284 Fishdoc 251 Fixiertes 51, 149 Fixierung 36, 90 Flaches 325, 338 Formalismus 217 Forschungsmethoden, empirische 223 Foto-App 224 Fotokopie 111 Fotokritik 77, 80 Fotowissenschaft 38 Framing 173 Fremdwelt 246 Friedhof 253, 363 Friedwald 357 Funktionsgedächtnis 178 Gabe 195 –, aisthetische 199 Ganze eines Eindrucks 227 Ganzes 222 Ganzheit 52–53, 117, 239 Garagen 247, 251 Garagenhof 259 Geben und Nehmen 195 Gebrauchspraxis, besinnungslose 224 Gebrauchswert 227

Gebrauchswerterwartung 174 Gebrauchszweck 172 Gedächtnis 178 –, kollektives 178 Gedächtnisreinigung 180 Gedächtnisschichten, affektive 154 Gefühl 49 –, ausgebreitetes 151 Gefühle 96, 107, 136, 164, 182 Gefühlshygiene 179 Gefühlsordnungen 177 Gegengabe 199 Gegenwart 181 –, entfaltete 236 Gegenwartskunst 185 Geheimnis 58, 109 Gelassenheit, entspannte 196 Gemälde 185 Genauigkeit 82, 118 Genius Loci 231 Geräusch 154 Geruch 148, 154 Geschichte 178 Geschichten 178 Geschmacksurteil, persönliches 183 Geschwindigkeit 127 Gesicht 162, 206, 295, 325 Gestalten, bildhafte 338 Gestaltungskompetenz 80 Geste 45, 47, 67, 123, 165 –, selbstreferentielle 166 Gestimmtheit 148 Gewahrwerdung, leibliche 246 Glamour-Photographie 212 Gleichheit –, abgeschwächte 142 –, dehnungsfähige 143 Götterfähre 317 Göttlichen, die 345 Grabstelle 358 Grenzsituationen 89, 97, 151, 191, 206 Grimsby 251 Habitus 27, 162 Halbdinge 44, 65

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Stichwortverzeichnis Halbdunkel 201 Haut 338 Herumwirklichkeit 62 Heterochronizität 88 Heterotopie 252, 318 High-Tech-Medien 82 Hinsehen 63, 237 –, übendes 167 Hintergründiges 167 Hinweis, illustrativer 188 hinweisender Akt 165 Hochformat 78, 202 Hoffnung 294, 310 Holzschnitte 191 Hyperästhetisierung 202 Identität 142, 169 –, Zuschreibung 229 Ideologiekritik 29, 223 Illusion 185 Illustration 243 image 136 imaginär 53, 125 Imagination 52, 58, 70, 158, 315 Immersivität 371 Imperativ, technischer 353 Industriearchitektur 217 Industriekultur 279 Infra-Gewöhnliches 201, 207 Infra-Wissen 114 Inkommensurabilität 98, 108, 110, 135, 139 Innen 354 Innenwelten, seelische 149 Innerlichkeitsmetapher 198 Inszenierung, ästhetische 26 Intelligenz, leibliche 315 Intentionalität 165 Interpretation, kleinteilige 225 Interpretationsverfahren 46 –, hermeneutische 223 interpretativer Maschinismus 227 irrational 125 Irritation 106, 235, 247 Irritationspotential 253 Isolationismus 51–52, 156

Kabeljau-Krieg 284 Kaputtes 293 Kaufhäuser 210 Klischee 194 Knipserphotographie 29–30, 106, 183–184, 192 Koexistenz 109 Kommunikation, leibliche 43, 46 Kompetenz, künstlerische 37, 161 Können, handwerkliches 36 Konstruktivismus, russischer 219 Kontemplation 89 Körper 50, 102, 130 Körperschema 140 Kosmos 318 Kreativität 77, 107, 117, 121 Krematorium 252, 340 Kulturindustrie 81, 116, 125, 193 Kunst 32, 36, 67, 71, 98, 145 –, bildende 197 –, freie 116, 201 –, moderne 33 Kunstobjekt 230 Kunstsinn 146 Landschaft 61, 131 lautliche Eigenschaften 95 Leben 151 Lebendigkeit 151 Lebenserfahrung, unwillkürliche 229 Lebenskultur 263 Lebenswelt 98 Leere 206 Leib 130 Leibesinsel 207 leibliche Kommunikation 49, 140, 159, 169, 197, 238 leibliche Regungen 140 Lesen 221 Licht-Metapher 51 Lichtempfindlichkeit 141 Macht 173, 194, 217 Magie 111 Mainstream-Ästhetik 280 Malerei 185

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Stichwortverzeichnis Mannigfaltigkeit 127 Masse 25 Massengeschmack 201 Massengesellschaft 193 Massenkultur 41 massenmedial 67 Massenmedien 193 Massenpsychologie 181 Material 337 Medienkunst 49 Medium, tragendes 338 Meinungen 25 Membran 135 Memoria 180 Menetekel 191 Mensch und Tier 196 Methoden, interpretative 222 Mikro-Landschaft 364 Mikrologien 35, 39, 49, 119, 208, 228, 237 –, bildliche 249 –, photographische 208 Milieuqualität 159 Mimesis 221, 229 Mnemosyne-Projekt 190 Modell 26, 133 Moden, intellektuelle 23 Modephotographie 204 Mythen 318 mythischer Ort 347 Mythos 180, 372 –, jenseitsweltlicher 230 Nachdenklichkeit 63 Nähe 312 –, illusorische 218 Nähe-Ferne-Beziehungen 128 Nahes 128 Nahsinn 331 Naivität 83 Narrativ, religiöses 356 Narrativität 118 Naturalismus 172 Naturbegräbnisplatz 253, 356 Naturbestattungen 357 Neue Phänomenologie 48 Nicht-Ort 34

Nichts 50, 102 Niedergang 288 Oberfläche, visuelle 42 Objektiv 185 Objektivität 82 Objektivitätsverdacht 111 Ödnis 266 olfaktorische Eigenschaften 95 optische Eigenschaften 95 Ordnung, außerordentliche 355 Ort, abgestorbener 280 Ort der Entsorgung 347 Palimpsest 332 Pantheistismus 371 pathische Haltung 116 pathische Sensibilität 116 pathisches Vermögen 161 Performativität 104, 149, 205 Perspektiven 138 Pest 191 Phänomenologische Autopsie 208 phänomenologische Reduktion 49 Phantasie 136 Phantasiebilder 100 Photographie –, digitale 56 –, dokumentarische 28, 129, 171, 185–186 –, lebensweltliche 28 –, professionelle 30 –, segmentierende 42 –, technische 210 –, wissenschaftliche 28 Photographietheorie 28 picture 136 Plätze, öffentliche 210 Plötzliches 236 politische Hygiene 67 politische Korrektheit 81, 179 Porträtaufnahmen 141 Porträtphotographie 75 Positivismus 222 Prädimensionalität 148 Pränominales 117 Probleme 48

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Stichwortverzeichnis Problemlagen 206 Produktion 168 Programm, technisches 76 Programme 48 Programmzwänge, apparative 126 Propaganda, politische 194 Protentionen 182 Prothese 312 Protokolle 227 Prozess 156 Pseudoheterotopie 372 Psycholandschaft 53 Punctum 31, 34, 85, 110, 143–144, 160, 248

Reproduktion 74, 186 Resonanz 135–136 Resonanz-Erleben 144 Resonanz-Sprechen 144 Resonanzachsen 136 Resonanzvermögen, spürendes 146 Revolutionsphotographie 24 Rezeptionsreflex 22 Richtungsbewußstein 164 Richtungsraum, leiblicher 140 Romantizistismus 185 Ruhe 371 –, lähmende 266 Ruinenphotographie 219

Quartier, städtisches 251 Quartiersbild 310 Quartiersgeschichte 296 Querformat 78

sakralarchitektonischer 158 Sakralität 347 Satellitenbild 25 Schall 148 Scheinevidenz 187, 217 Schiffsdunst 316 Schiffshaut 311 Schlüsseltechnologie, mediale 210 Schnappschuss 31, 44 Schrift 135 Schwarz-Weiß-Photographie 243 Schwere 151 Seelenmetapher 161 Segmente 157, 230, 239 Segmentierung 228 Sehen, optisches 138 Seherwartungen 87 Sehroutinen 219 Selbstbegegnungen 181 Selbstbewusstwerdung 90 Selbstbildung 63 Selbstinszenierung 21 Selbstrepräsentation 280 Selbstverständliches 237 Selfy 26, 194 Semiheterotopie 356 Semiotik 33, 104 Sensibilität 208 Sensor 136 sepulkralkulturelles Milieu 364 Serialität 248 Serie 207, 243

Rahmung 28 rationale Decodierungsprozedur 230 Rationalität –, ästhetische 93, 170, 238 –, diskursive 93, 168, 238 Rätsel 338 Raum –, proxemischer 318 –, thanatologischer 230, 348 Raumwirkung, mystische 159 Rauschen 115, 172 –, ästhetisches 121 Realismus 41, 185 Realitätserwartungen 75 Realitätsnähe 186 Rede, zulässige 105 Reduktionismus –, ästhetischer 147 –, wissenschaftlicher 147 Referenzwelt, objektive 110 Referenzwirklichkeit 189, 230 Reflexion –, mikrologische 207 –, phänomenologische 48–49 Reportage 174 Repräsentation 227

395 https://doi.org/10.5771/9783495823750 .

Stichwortverzeichnis Sichtbarkeit 33, 37, 53–54, 102, 124, 163 Signifikationssysteme 105 Sinn, gesellschaftlicher 227 Sinne –, höhere 235 –, niedere 235 Sinnlichkeit 57 Sinnüberschuss 171 Situation 94 –, aktuelle 137 –, ganzheitliche 234 –, gemeinsame 153 –, lebendige 150, 171 –, persönliche 153 –, segmentierte 121, 234 –, zuständliche 156 Situationen 28, 239 –, gemeinsame 47, 132 Situationserleben 243 Situierung 59 Sonde 312 Sorge 167 Sozialforschung, qualitative 228 Sozialisation 224 Sozialpsychologie 104 Sozialwissenschaften 235 Speichergedächtnis 178 Sprache 122, 135, 168, 170 –, diskursive 170 Sprung 144, 228 spürbare Präsenz 115 Spuren 127, 331 –, historische 309 Spürsinn 161, 208 Stadt 201, 251 –, lebendige 207 Stadtbilder 204 Stadtimage 201 Stadtkulisse 204 Stadtphotographie 202 Stadtwerbung 204 Stararchitekten 216 Starphotographen 216 Steinkohlebergbau 175 Stellplatz 254 Sterblichkeit 354

Stiche 191 Stille 113, 354, 371 Stillstand 206, 354 stillstehenden Bildes 154 Stimmung 59, 94 Strömendes 156 Studium 31, 110, 143–144 Subjektivität, überschüssige 108 subtiles Abseits 113 subversiv 105 Suggestion 125 Symbolik, präsentative 234 Synästhesie 146, 170 synästhetische Sprünge 101 Tastsinn 154 Tausch 196 Täuschung 169 Technik 70 technischen Ablichtung 161 technischer Ort 347 Teile 222 Texte 227 Thanatologische Milieus 252 Tiefe 315 Tiefenschärfe 76 Tiefenstruktur, aisthetische 233 Tod 252 Tragik 188, 266 Transformation 94 –, physische 348 transversale Situation 345 Transzendenz 54, 127, 150, 152 Trauer 151 Trauerbäume 356 Trauma 180 Traurigkeit 168 TV- und Rundfunkanstalten 179 Typen-Zuschreibung 133 Übereinstimmung 142 Übergangssituation 288 Überraschendes 235 Übersehenes 207 Übersetzung 96 Übersichtlichkeit 232 Überwachungsmedien 139

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Stichwortverzeichnis Umwölkungen 148 Unbedeutendes 142 unbewusst Gemachtes 180 Unbewusstes 180 –, kollektives 101 Unbewusstmachung 225 Unbewußtes, optisch 232 Unerwartetes 235 Ungegenständlichkeit 153 Universalbetäubung 89 Unsichtbarkeit 102, 124 Unsterblichkeitstrieb 371 untere Schichten 193 Utopie 303 Verbildlichung, kreative 157 Verborgenes 134 Verbundmedien 67 Verdrängung 180 Verdünnung 142 Verfall 266 Verfremdung, bildliche 119 Verführung 124 Vergangenheit 181 Vergessen 190 Vergrößerung 232 Vernehmbares, leiblich 231 Veroberflächlichung 194 Versprachlichung 119 Verstehen 244 –, gefühlsmäßiges 169 –, leibliches 169 –, tentatives 238 verwackelt 141 Visiotyp 11, 24, 197 Visualität 45, 107 visuelle Kommunikation 213 Vitalität, städtische 160 Vitalqualitäten 109, 149 Vitalton 235 Vorstellung 100, 167 –, kollektive 132 Vorurteil 194

Wahrnehmen 46 Wahrnehmung –, antizipierte 141 –, gesellschaftliche 223 –, lebensweltliche 223 –, Lenkung 223 –, visuelle 137 Wandel, situativer 177 Wassergeister 317 Weltbeziehungen, ethische 136 Werbung 210 Wertkompensation 195 Wertschätzung 196 Widerstreit 110, 171 Wiedergeburtsutopien 371 Wissen 109 –, affektives 191 –, bewährtes 236 –, gesellschaftliches 185 –, pathisches 122 Wissenschaft 33, 98, 116 Wissensvermittlung 231 Wochenmarkt 156 wörtliche Rede 98–99, 164 wörtlichen Rede 168 Zeichen 33 –, ikonische 197 Zeichnungen 186 Zeige-Imperativ 166 Zeigen 93, 163 –, sprachliches 164 Zeit 85, 92 Zeitgeist 179, 218 Zeitgeistes 219 Zeitlichkeit 178 Zeitlupe 232 Zufälliges 142 Zukunft 181 Zustand 155–156 Zwischenräumen 149

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